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German Pages 476 Year 2023
Romantische Thermodynamik
Band V
Herausgegeben von Frank Fehrenbach Cornelia Zumbusch
Cornelia Zumbusch
Romantische Thermodynamik Dichtung, Natur und die Verwandlung der Kräfte 1770–1830
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer FOR 2767
ISBN 978-3-11-125297-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-125320-6 ISSN 2698-7899 Library of Congress Control Number: 2023943547 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Metallhütte von 1815. Nastasic © Getty Images Reihengestaltung: P. Florath, Stralsund Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis
7 Zum Problem der Kraft 1770–1830
Konzeptuelle Grundlegungen: Kraft, Trieb, Energie
33 dynamis, energeia, entelecheia: Traditionslinien des Kraftdenkens 44 Mechanismus und Dynamismus: Der Ort der Kraft in der Natur (Newton, Leibniz, Kant) 72 Kräfte des Lebendigen: Bildungstrieb und Lebenskraft (Blumenbach, Kielmeyer, Reil) 98 Romantische (Meta-)Physik: Licht, Feuer, Verbrennung (Schelling, Ritter) 110 Thermodynamik: Wärmemaschine und proteische Energie (Carnot bis Helmholtz)
Diskursive Verbindungen: Natur und Dichtung
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Poetik und Rhetorik: enthousiasmos, energeia, movere (Platon bis Longin) Mechanik: ›Triebwerke‹ der Kunst und der Seele (Sulzer 1759–1774) Dynamik: ›Abwechselung von Formen und Gestalten‹ (Herder 1768–1791) Metabolismus: Natur als ›Kraft die Kraft verschlingt‹ (Goethe, Moritz 1772–1794) Lebenskraft: ›lebende Gestalt‹ und Form des Lebens (Schiller, A.v. Humboldt 1795) Thermometrik: ›gefräßige Flamme‹ und ›feurige Gesänge‹ (Hardenberg 1795–1800) Energeia: Zueignung und Arbeit (an) der Sprache (Goethe, Wilhelm v. Humboldt 1775–1835)
190 224 241 264
Literarische Verhandlungen: Phantasie und Maschinen
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377 398
Energiekulturen um 1800: Goethe, Hardenberg und die Dampfmaschine Licht und Gespräch: Energetische Konversionen in Goethes Märchen Fluide Formen: Spiel und Übung der Kräfte in Hardenbergs Die Lehrlinge zu Sais Maschinenphantasien: Heinrichs Traum und Fabels Arbeit in Hardenbergs Ofterdingen Feuer, Wasser, Dichtung: Formen der Kraft in Goethes Novelle Tätigkeit der Phantasie: Goethes Faust II als Schauspiel der Kräfte
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Kraft der Dichtung und Energien der Literatur
313 331 347
445 Literaturverzeichnis 475 Danksagung 476 Abbildungsnachweis
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Im letzten Kapitel seines Romans Heinrich von Ofterdingen (1800) lässt Friedrich von Hardenberg den fiktiven Dichter Klingsohr ein Märchen vortragen. Klingsohr erzählt davon, wie ein Kind namens Fabel ein wunderbares Erlösungsgeschehen vorantreibt, indem es gemeinsam mit zwei Figuren, genannt Zink und Gold, mehrere galvanische Ketten bildet. Dank der dabei hervorgerufenen Reaktionsbildungen, bei denen Körper elektrisiert, magnetisiert, erhitzt und geschmolzen werden, kann Fabel Unbewegtes bewegen, Totes beleben, Geschwächtes aufrichten und Getrenntes verbinden. Am Ende des Märchens dreht sie, singend über den Köpfen des neugekrönten Königspaars schwebend, eine Spindel in einer gleichförmigen Bewegung. Spätestens hier wird Fabel, die schon an der Brust der Amme Ginnistan zu plaudern begonnen hatte, als Figur einer textilen Dichtung lesbar, die Altes neu verwendet. Denn den Faden, den sie nun singend verspinnt, hatte sie zuvor den Parzen entwendet. Mit dieser Tätigkeit führt Fabel ebenjene »magische Gewalt« vor, die den »Sprüche[n] des Dichters« schon früher im Roman zugeschrieben worden waren, können Dichter doch »die gewöhnlichen Worte« derart »verwandeln«, dass sie mit ihren »reizenden Klängen« ihre Zuhörer bannen.1 Ähnlich verkleinerte Figuren der Dichtung finden sich auch in Texten des späten Goethe. In Goethes Novelle (1828) bändigt der kleine Sohn einer Schaustellerfamilie mit seinem Flötenspiel einen Löwen und singt zuletzt ein Lied, in dem er aus Psalmzitaten zusammengesetzte Zeilen »zu anderer Ordnung durcheinan derschob«.2 Diese aus anderen Texten entnommenen und durch Permutation 1 Friedrich von Hardenberg (Novalis): Heinrich von Ofterdingen. In: ders.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. v. Paul Kluckhohn/Richard Samuel. Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage in vier Bänden und einem Begleitband, Bd. 1. Darmstadt 1965–1988, S. 210. Texte aus dieser Ausgabe werden zitiert unter Hardenberg (Novalis) HKA Band, Seitenzahl. 2 Johann Wolfgang von Goethe: Novelle. In: ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände, hg. v. Friedmar Apel/Hendrik Birus u.a., Bd. 8. Frankfurt a.M. 1987– 1999, S. 551. Texte aus dieser Ausgabe werden zitiert unter Goethe FA Band, Seitenzahl.
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neu zusammengesetzten Verse und Strophen ergeben ein »beschwichtigendes Lied, dessen Wiederholung«, so gibt der Erzähler zu, »wir uns auch nicht entziehen können«.3 Im Faust II tritt schließlich ein Knabe namens Lenker auf, der sich selbst als »die Poesie« vorstellt und, »Schnippchen« und »Flämmchen« schlagend, glänzendes Gold unter die bezauberten Leute streut.4 Dabei bedient er sich aus dem reichen Schatz des Plutus, Gott der irdischen wie unterirdischen Fülle, dessen Wagen er lenkt. Das Gold vergeht jedoch unter den Händen der Beschenkten und verwandelt sich in Käfer und Schmetterlinge, die der haschenden Menge entlaufen. Fabel, der singende Junge und Knabe Lenker sind kindliche Figuren, die doch Beachtliches leisten. Der Junge zähmt ein wildes Raubtier mit einem aus Bibelversen montierten Lied; Fabel und Lenker, die als allegorische Figuren der Dichtung auftreten, verfügen über zauberhaft anmutende Kräfte der Verwandlung. Dabei operieren Fabel und Lenker an der Grenze zwischen belebter und unbelebter Natur und erzeugen spektakuläre Licht- und Wärmeerscheinungen, durch die Stoffe zu glühen oder zu schmelzen beginnen. Bei alledem scheinen beide niemals stillzustehen: »Doch wer mir folgt, hat immer was zu tun«, erklärt der Knabe Lenker im Abgehen.5 Mit diesen wunderbaren Tätigkeiten und unerschöpflichen Verwandlungskräften besetzen die drei kleinen Figuren einen besonderen Ort in den seit der Antike eröffneten Imaginarien poetischer Kräfte. Statt, wie dies aus der antiken Poetik und Rhetorik und ihren frühneuzeitlichen Reformulierungen vertraut ist, durch große Stärke und Intensität zu wirken, macht sich die in ihnen verkörperte Kraft der Dichtung auf spielerisch verkleinerte Weise geltend. Sie treten weniger als kinetische, zu ausgreifenden Bewegungen disponierende oder als formende, ein starres Material bezwingende Kräfte auf, sondern zeigen sich in sprunghaften Übergängen und flüchtigen Transformationen, mit denen sie ihr Publikum bannen, beschwichtigen oder auch täuschen. Indem sie Vorgefundenes in immer neue Zustände überführen, geben sie traditionellen Auffassungen von einer überwältigenden Gewalt oder auch von der schöpferischen Potenz der Dichtung eine eigenwillige Wendung. Ihre Kraft ist eine Kraft der Transformation, mit der sich Gemütszustände umlenken und vorgefundene Formen subtil verwandeln lassen. Auffällig ist nebenbei, dass mit Fabel und Lenker zumindest zwei dieser Figuren in Texten auftreten, in denen wichtige Debatten der zeitgenössischen Naturforschung Eingang gefunden haben. Heinrich von Ofterdingen wie auch Faust II verhandeln mit der Elektrizität und dem Galvanismus, dem Ursprung des Lebendigen und der Entstehung der Erde einige der Probleme, um deren Klärung sich die neu formierten Disziplinen der Physik, der Biologie oder der 3 Goethe: Novelle, Goethe FA 8, S. 554. 4 Goethe: Faust II, Vers 5573, Goethe FA 7/1, S. 234. 5 Goethe: Faust II, Vers 5704, Goethe FA 7/1, S. 238.
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Geologie bemühen. Dieser Zusammenhang der Figuren einer Kraft der Dichtung mit der eindringlichen Beobachtung natürlicher Kräfte in wissenschaftlichen und literarischen Texten gibt einige Fragen auf.6 Wo setzen die um und nach 1800 entworfenen Imaginationen einer Kraft der Dichtung mit ihrer Umschrift an? Wie fügen sie sich in die lange Geschichte ästhetischer und poetologischer Kraftreflexionen? Und wie verhalten sie sich zu den Umbrüchen, denen die Theoretisierung von Kräften in der Naturforschung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert unterliegen? Kraft, dynamis, vis: Konturen einer poetologischen Kategorie
Schon in der antiken Poetik und Rhetorik erhalten die Kräfte der Dichtung oder der Rede ein überaus vielseitiges Profil. Platon bestimmt im Dialog Ion die Wirkmacht der Kunst wie auch den göttlichen Grund ihrer Entstehung als göttliche Gabe einer Kraft (dynamis), die sich der techne im Sinn des handwerklichen Wissens und Könnens entzieht. Die göttliche Kraft des Enthusiasmus ergreift die Dichtenden, die vortragenden Rhapsoden wie auch die Zuhörenden mit einer unwiderstehlichen Gewalt. Auf Aristoteles’ zunächst ganz anders ansetzende Beschreibungen der enargeia und der energeia gehen rhetorische und poetische Konzepte einer als detaillierte Anschaulichkeit oder dramatische Vergegenwärtigung realisierten Darstellungsintensität zurück, die in der spätantiken Rhetorik und Dichtungstheorie eng mit der Vorstellung von einer überwältigenden Kraft der Rede verbunden werden. Als ausgezeichnete Weise, die Einbildungskraft und auf diesem Weg auch die Affekte der Zuhörenden zu aktivieren, werden energeia und enargeia in der lateinischen Rhetorik zur evidentia zusamengeführt, die wesentlich zur vis als der Überzeugungskraft der Rede beitragen soll. Die Kraft des Enthusiasmus nach Platon wie auch die Kraft der Rede mit und nach Quintilian und Pseudo-Longin betreffen besonders starke, alle Beteiligten mitreißende Kräfte. Ob sie nun auf göttliche Einwirkung zurückgeführt oder mit großen und gewaltsamen Natur-
6 Beschreibungen einer Ästhetik und Poetik der Kraft haben bislang um 1770 aufgehört, um dann am Ende des 19. Jahrhunderts bei Nietzsche oder Baudelaire wieder einzusetzen. Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt a.M. 2008. Zur Kontinuität zwischen antiken und frühneuzeitlichen Kraftpoetiken vgl. Dennis Borghardt: Kraft und Bewegung. Zur Mechanik, Ästhetik und Poetik in der Antikenrezeption der Frühen Neuzeit. Hamburg 2021. Zum Nachleben der Kantischen Kraft des Erhabenen in der literarischen Moderne vgl. Kevin McLaughlin: Poetic Force. Poetry After Kant. Stanford 2014. Zu Kraft und Dichtung um 1900 vgl. Sophie Wennerscheid: »Close your eyes«. Phantasma, Kraft und Dunkelheit in der skandinavischen Literatur. München 2014. Eine Ausnahme bildet der Sammelband von Adrian Renner und Frederike Middelhoff (Hg.): Forces of Nature. Dynamism and Agency in German Romanticism. Berlin/Boston 2022.
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erscheinungen verglichen werden – Konsens scheint zu sein, dass die Kraft der Rede und der Dichtung das Menschliche übersteigt. Die antiken Vorstellungen von den produktiven Potentialen der Inspiration wie auch von der bewegenden Wirkung der Affekte und der Einbildungskraft werden in der frühneuzeitlichen Kunsttheorie in unterschiedlichen Auslegungen des enargeia-Konzepts und der Lehre vom ingenium weiter angereichert.7 In dieser Tradition widmet man sich auch noch im ausgehenden 18. Jahrhundert der Beschreibung ästhetischer Kräfte. Johann Georg Sulzer verlegt 1773 unter dem Titel Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste den Zweck der Kunstwerke in ihre Fähigkeit, dem Publikum das Gute möglichst nachdrücklich einzuprägen. Die Künste sind für ihn »Triebwerke«, die zur Moral bewegen sollen.8 Goethe vermutet hinter Sulzers Doktrin allerdings eine falsche Auffassung von der Kunst als Nachahmung einer harmonischen Natur und setzt in seiner 1772 verfassten polemischen Sulzer-Rezension ein konkurrierendes Kraftmodell dagegen: »Was wir von Natur sehn, ist Kraft, die Kraft verschlingt [...]. Und die Kunst ist gerade das Widerspiel; sie entspringt aus den Bemühungen des Individuums, sich gegen die zerstörende Kraft des Ganzen zu erhalten«.9 Ein wichtiger Gesprächspartner für den jungen Goethe ist Herder, der 1769 in seinem Ersten Kritischen Wäldchen Energie und Kraft bereits als ästhetische Begriffe konturiert hatte. Orientiert an Lessings Laokoon-Schrift bestimmt Herder die Zeitkünste Musik, Theater, Tanz und Dichtung als Künste der Energie, weil sie, so impliziert es die deutsche Übersetzung des griechischen Worts energeia, in stetiger Tätigkeit begriffen sind. Wilhelm von Humboldt wird dies aufgreifen und in einer etwas anderen Wendung die Sprache als Tätigkeit oder energeia bestimmen.10 Herder verlegt das »Wesen der Poesie« allerdings sowohl in ihre vorandrängende Energie als auch in die besondere »Zauberkraft« der Worte, im
7 Valeska von Rosen: Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des Ut-pictura-poesis und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 27 (2000), S. 171–208; Vgl. auch die Beiträge in: Frank Fehrenbach/ Robert Felfe/Karin Leonhard (Hg.): Kraft, Intensität, Energie. Zur Dynamik der Kunst. Berlin/ Boston 2018; Frank Fehrenbach: Leonardo da Vinci. Der Impetus der Bilder. Berlin 2019. 8 Johann Georg Sulzer: Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste. In: ders.: Vermischte philosophische Schriften, Bd. 1. Leipzig 1773, S. 122–145, hier: S. 126. 9 Goethe: Rezension zu Sulzers Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1772), Goethe FA 18, Goethe FA 18, S. 96–101, hier: S. 99. 10 »Sprache ist kein Werk (ergon), sondern Thätigkeit (energeia)«. Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. In: ders.: Werke in fünf Bänden, hg. v. Andreas Flitner/Klaus Giel, Bd. 3. Darmstadt 51979, S. 418. Energeia oder Tätigkeit bezeichnet hier die Umformung der Sprache durch ihren Gebrauch.
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Medium der Phantasie innere Bilder erzeugen zu können.11 Wenn Herder in seinen Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit Natur und Geschichte als »Spuren« einer »großen bildenden Kraft«12 deutet, dann zielt seine Rede von ›organischen Kräften‹ weniger auf Wirkungswerte als vielmehr auf Bildungsprozesse im weitesten Sinn. Die Auffassung von den gestalt bildenden Kräften der Natur wie der Kunst steht auch im Zentrum von Karl Philipp Moritz’ 1788 publiziertem Text Über die bildende Nachahmung des Schönen, in dem er mithilfe des von Johann Friedrich Blumenbach geprägten Begriffs des Bildungstriebs dasjenige zu bestimmen versucht, was »das schaffende Genie zur immerwährenden Bildung treibt«.13 Die Rede vom Treiben oder Trieb bezeichnet ein an der Generativität organischer Naturen orientiertes Streben, mit dem künstlerische Kreativität und biologische Entwicklungsprozesse enggeführt werden. Was bei Moritz noch in eine Genielehre gehört, wird bei Schiller zu einem Formbegriff. In den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) bestimmt Schiller das Schöne als Produkt eines zwanglosen Zusammenwirkens von Stofftrieb und Formtrieb, die sich zum Spieltrieb verbinden und gemeinsam das Schöne als ›lebende Gestalt‹ hervorbringen. Beide Triebe sollen »als Energien gedacht werden«, insofern sie, so deutet Schiller an, einem Wechsel von An- und Abspannung unterliegen.14 Dabei bestimmt er die Natur mit ihrer »verschwenderischen Fülle« des Geschaffenen und mit ihrem »Luxus der Kräfte« als »Vorspiel« des ästhetischen Kräftegeschehens.15 Kraft, so lässt sich diesem kurzen Aufriss entnehmen, ist im ausgehenden 18. Jahrhundert zweifellos eine Leitvorstellung ästhetischer Reflexion.16 Zu 11 Johann Gottfried Herder: Erstes Kritisches Wäldchen (1769). In: ders.: Werke in zehn Bänden, hg. v. Martin Bollacher/Jürgen Brummack u.a., Bd. 2. Frankfurt a.M. 1985, S. 63–245, hier: S. 197. Texte aus dieser Ausgabe werden zitiert unter Herder FA Band, Seitenzahl. 12 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Herder FA 6, S. 23. 13 Karl Philipp Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen. In: ders.: Werke in zwei Bänden, hg. v. Heide Hollmer/Albert Meier, Bd. 2. Frankfurt a.M. 1997, S. 958–991, hier: S. 973. Texte aus dieser Ausgabe werden zitiert unter Moritz FA Band, Seitenzahl. 14 Friedrich Schiller: Über die Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Otto Dann/Axel Gellhaus u.a., Bd. 8, hg. v. Rolf-Peter Janz. Frankfurt a.M. 1992, S. 556–676, hier: S. 605. Texte aus dieser Ausgabe werden zitiert unter Schiller FA Band, Seitenzahl. 15 Schiller: Über die Erziehung des Menschen, Schiller FA 8, S. 669. 16 Wie Christoph Menkes Überlegungen zur Kraft als Grundbegriff ästhetischer Anthropologie sowie zu einer Kraft der Kunst zeigen, erhält der Begriff der Kraft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Rahmen einer ›anderen Ästhetik‹ ein bis heute anregendes Profil. Herder, so Menkes These, konturiere als erster eine ›dunkle Kraft‹ des Menschen, die sich von den Vermögen des Subjekts unterscheide, wie etwa Baumgarten sie im Blick habe. Während das Subjekt seine Vermögen üben, disziplinieren und beherrschen könne, mache sich die von
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einer konsistenten Ästhetik der Kraft fügen sich diese Überlegungen allerdings nicht. Denn gerade in der Persistenz, mit der die Rede von Kraft, Trieb oder Energie von Sulzer, Herder, Goethe, Moritz oder Schiller aufgegriffen wird, zeigt sich die Vielfalt der Probleme, für deren Lösung die Evokationen unterschiedlicher Kräfte eingespannt werden. Kraft als rhetorischer Nachdruck, mit dessen Hilfe sich moralische Gehalte emotional wirksam transportieren lassen (Sulzer); Kraft als animalischer wie auch menschlicher Trieb, sich bauend und bildend gegen die Natur zu behaupten (Goethe); Kraft als Verwandlung von gedichteten Worten in innere Bilder (Herder); Triebkräfte als belebender Hauch und Produktivität der Phantasie (Moritz); Trieb und Energie als Suchbegriffe für das Zusammenspiel der menschlichen Vermögen der Sinnlichkeit und des Verstands (Schiller) oder Energie als Tätigkeit der beständigen Umwandlung von Bestehendem (W. v. Humboldt) – hier ist von ganz unterschiedlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten der Sprache wie der Dichtung die Rede. Was die genannten Modellierungen ästhetischer und poetischer Kräfte verbindet, ist einzig ihre wiederkehrende Begründungsstrategie, werden sie doch durchweg im Vergleich oder aber im Zusammenspiel mit den Kräften der Natur entworfen. Goethe beschreibt Natur als Zusammenhang ›verschlingender‹ Kräfte, gegen die sich der menschliche Kunsttrieb behaupten muss; Herders in den 1780er Jahren entwickelte Vorstellung von den ›organischen Kräften‹ ist an einer von Kräften durchwirkten, in steter Bewegung begriffenen Natur gewonnen; Moritz greift um 1790 die von Blumenbach vorgeschlagene Theorie eines dem Lebendigen eigenen Bildungstriebs auf, und im Hintergrund der von Schiller 1795 formulierten Spieltheorie steht neben der Anthropologie auch das weniger beachtete Bild der Natur, in der Kräfte einander ausgleichen und balancieren sollen. Wenn sich eine Gemeinsamkeit der hier aufgeblätterten Vorstellungen einer Kraft der Kunst finden lässt, dann liegt sie also im Rekurs auf eine Natur, die als Ineinander und Miteinander verschiedener Kräfte gedacht wird. Anders als in den seit der antiken Rhetorik geläufigen Metaphern
Herder anvisierte vorsubjektive dunkle Kraft unwillkürlich geltend. Diese Kraft des Menschen sei weder mechanisch noch biologisch gedacht: Sie erfülle keine Zwecke und habe kein Ziel – sie sei eine genuin »ästhetische Kraft«. Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, S. 62. Mit dieser Darstellung legt Menke das Fundament, um eine eigene Ästhetik der Kraft zu entwickeln. Kunst, so formuliert er in dem 2013 erschienenen Buch Die Kraft der Kunst vor allem im Rekurs auf Friedrich Nietzsche und Paul Valéry, unterbricht gewohnte praktische Vollzüge und lässt den Menschen auf angenehme Weise in einen Zustand des Präreflexiven und Präsubjektiven regredieren: Es sei die »Rückkehr in den Zustand des Menschen, bevor er Subjekt wurde, in dem seine sinnlichen, dunklen Kräfte sich spielerisch entfalten«. Christoph Menke: Die Kraft der Kunst. Frankfurt a.M. 2013, S. 36. An Menkes These von der Kraft der Kunst als einem Unvermögen und damit der Kraft, etwas eigentlich nicht zu können, werde ich zum Teil anschließen.
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für die Kraft der Rede, so lautet die erste hier zu entfaltende These, orientieren sich Programme einer Kraft der Dichtung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts weniger an der besonders gewaltsamen Ausnahme als vielmehr an einer dynamisch gedachten Ordnung der Natur. Genau dies gilt auch für die kleinen Figuren der Dichtung, die Hardenberg und Goethe zwischen 1800 und 1830 entwerfen. Fabel, der löwenzähmende Junge sowie der Knabe Lenker greifen auf zwanglos anmutende Weise in natürliche Prozesse ein und machen sie sich zunutze. Dabei entfesseln sie keine außerordentlichen Naturgewalten, sondern können diese dank ihrer magisch anmutenden Kräfte steuern, binden und ordnen. Die von Fabel und Lenker erzeugten Blitze und Funken wie auch die davon angeregten Übergänge zwischen anorganischer und organischer Natur führen dabei in Beobachtungsbereiche, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in den Fokus der Naturforschung rücken und als Probleme der Lebenskraft, der Elektrizität und des animalischen Magnetismus, des Lichts, der Wärme und der Verbrennbarkeit diskutiert werden. Anders als in Sulzers seelenmechanischer Kunstlehre oder Moritz’ Beschreibung des Bildungstriebs durchqueren die Kraftanstrengungen von Fabel und Lenker also sehr unterschiedliche Bereiche der Naturforschung. Wo sie aktiv werden, greifen mechanische, lebendige und thermische Phänomene eng ineinander und lassen sich nur schwer unterscheiden. Nun wird aber im wissenschaftlichen Diskurs der Zeit gerade dort, wo man den Zusammenhang unterschiedlicher Kräfte erforscht, die Kraft als wissenschaftlicher Begriff selbst fragwürdig. Hardenbergs und Goethes literarische Figurationen einer Kraft der Dichtung, so lautet deshalb die zweite These, lassen sich als Symptome für eine Krise des Kraftbegriffs deuten, die sich im kraftfixierten 18. Jahrhundert anbahnt und die im 19. Jahrhundert mit der Formulierung des thermodynamischen Satzes der Energieerhaltung endet. Hier ist erneut begriffshistorisch weiter auszu holen – und zwar von der Geschichte rhetorischer, poetologischer und kunsttheoretischer Kraftbegriffe auf die Konjunkturen der Kraft als Leitkategorie der Naturforschung. Kraft und Energie: Begriffsverschiebungen in der Naturforschung
Kraft, erst griechisch dynamis, dann lateinisch potentia oder vis, dient seit der Antike als Grundbegriff der Weltbeschreibung. Göttliche Kräfte verantworten die Schöpfung und setzen all jene Naturkräfte ein, von denen die Bewegungen der Körper im Himmel wie auf der Erde reguliert werden. Diese Kräfte, die neben Bewegungen und Ortsveränderungen auch das Verhalten lebendiger Organismen von der Fortpflanzung über die Wahrnehmung bis zur Erkenntnis erklären sollen, lassen sich in technischen Vorrichtungen und Maschinen kanalisieren und nutzen. Als Anziehungskraft, Schwerkraft, Lebenskraft,
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ildungskraft, Vorstellungskraft oder Einbildungskraft rücken Kräfte in der B Neuzeit ins Zentrum der Erforschung, Bewirtschaftung und Benutzung nichtmenschlicher wie menschlicher Naturen. Die Konkretisierung einzelner Kraftbegriffe im Zeichen einer New Science, die auf die strenge empirische Erhebung und Mathematisierung ihrer Befunde setzt, soll die unterschiedlichsten Beschreibungsbereiche, darunter die Himmelsmechanik und die Fallgesetze, Phänomene des Magnetismus und der Elektrizität, das Ineinandergreifen von Muskelbewegung und Nerventätigkeit wie auch das Wahrnehmen und Vorstellen verbinden. Mit dem Wort Kraft bezeichnet man dabei den Grund oder die Ursache beobachtbarer Veränderungen in oder an einem Ding.17 Kräfte sorgen dafür, dass Körper bewegt oder beschleunigt, geformt oder verformt werden. Spätestens seit Newtons Mechanik ist jedoch klar, dass sich das Wesen dieser ursächlichen Kräfte der letztgültigen Erklärung entzieht.18 Die Variable der Kraft kann zwar das Verhältnis zwischen Masse, Gravitation und anderen Faktoren wie der zurückgelegten Strecke bezeichnen; ihre Ursache bleibt jedoch dunkel. Naturwissenschaftliche und naturphilosophische Kräftelehren operieren also an einer epistemischen Bruchstelle, die gerade dort aufklafft, wo der Begriff der Kraft seine klarste Formulierung zu erhalten scheint. Und so überrascht es kaum, dass das physikalische Kraftdenken im Zeitalter der Aufklärung keineswegs seine metaphysischen Wurzeln kappt. Nicht nur wird der Grund der vis gravitationis in der Newton-Rezeption zum Gegenstand reger philosophischer und theologischer Spekulation.19 Mit Leibniz tritt zur gleichen Zeit auch eine starke Metaphysik der Kraft auf den Plan. Leibniz fasst die vis insita als inneres Wirkprinzip, mithin als eine der Materie im Moment der Schöpfung eingepflanzte und sich in der Materie entfaltende Entelechie der Monade, über die more geometrico nichts ausgesagt werden kann. Mit dieser allen Dingen innewohnenden Kraft steht der Mechanik ein metaphysisches
17 Vgl. etwa die Grunddefinition in Zedlers Universallexicon: »Krafft, Lat. Vis, ist in dem allgemeinen Verstande dasjenige, welches den zureichenden Grund in sich hat, warum in einem Dinge der Zustand desselbigen geändert werde.« Krafft. In: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste 1731–1754, Bd. 15. Halle/ Leipzig 1737, Sp. 1662–1721, hier: Sp. 1662. 18 Newton formuliert dies in seinen Mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie mit aller Selbstverständlichkeit: »Diese Kräftetheorie ist natürlich rein mathematisch, denn die Ursachen der Kräfte und ihre physikalische Grundlage erwäge ich noch nicht«. Isaac Newton: Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie. Hamburg 1988, S. 42. 19 Zu Newtons späteren Aussagen im Umkreis der Opticks sowie zu seiner frühen Rezeption durch die Cambridge Platonists vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1981, S. 210–285; Alexandre Koyré: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum [1957]. Frankfurt a.M. 1980, S. 186–198.
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Paradigma eigentümlich monistischer Prägung an der Seite, das mit und nach Leibniz als Dynamismus bezeichnet wird.20 Newtons mathematische Konzeptualisierung der Kraft wird im 18. Jahrhundert zwar zum Maßstab einer Wissenschaftlichkeit, an der sich Beschreibungen der anorganischen wie auch der organischen Natur, der Psychologie wie auch der Ästhetik zu orientieren versuchen. Der Übergang zwischen me chanischen, mentalen und physiologischen Vorgängen gestaltet sich aber nicht unproblematisch. Kant etwa fragt sich, wie es »möglich [sei], daß die Kraft, die allein Bewegungen hervorbringt, Vorstellungen und Ideen erzeugen sollte?«21 Auch die Idee von einer für die organische Natur reservierten Lebenskraft – eine Auffassung, die über mehrere Dekaden das Nachdenken über die Ernährung und Bewegung, die Entstehung und die Fortpflanzung lebendiger Organismen beschäftigt – ist höchst umstritten.22 Während einige den Newton’schen Kraftbegriff auch zur Beschreibung des Lebendigen nutzen wollen, bestehen andere darauf, dass sich das Verhalten lebendiger Organismen nicht nach den Regeln der Mechanik beschreiben lasse. »Ein Newton [...], der auch nur die Erzeugung eines Grashalms« explizieren könne, werde wohl niemals auftreten können.23 Nicht zuletzt hegt man in der Chemie Zweifel, ob die Gesetze der Schwerkraft alle Ereignisse und Zusammenhänge in der materiellen 20 Gottfried Wilhelm Leibniz: Specimen der Dynamik zur Aufdeckung der bewundernswerten Gesetze der Natur bezüglich der Kräfte und der wechselseitigen Aktionen der Körper und zu deren Rückführung auf ihre Ursachen. In: Leibniz. Ausgewählt und vorgestellt von Thomas Leinkauf. München 2000, S. 241–269. Vgl. auch Daniel Garber/Tzuchien Tho: Force and Dynamics. In: Maria Rosa Antognazza (Hg.): The Oxford Handbook of Leibniz. New York 2018, S. 304–330; Bernhard Rang: Kraftbegriff und Weltmaschine. Die Überwindung des Cartesianismus durch Leibniz. In: Monika Fludernik/Ruth Nestvold (Hg.): Das 18. Jahrhundert. Trier 1998, S. 17–31. 21 Immanuel Kant: Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurteilung der Beweise, derer sich Herrn von Leibniz und andere Mechaniker in dieser Streit sache bedienet haben, nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen [1746]. In: ders.: Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 1. Frankfurt a.M. 1968, S. 13–218, hier: S. 29. 22 Zur Lebenskraftdebatte: John A. McCarthy/Stephanie M. Hilger u.a. (Hg.): The Early History of Embodied Cognition 1740–1920. The Lebenskraft-Debate and Radical Reality in German Science, Music, and Literature. Leiden/Boston 2016; John H. Zammito: The Gestation of German Biology. Philosophy and Physiology from Stahl to Schelling. Chicago/London 2018. 23 »Es ist nämlich ganz gewiß, daß wir die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Prinzipien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können; und zwar so gewiß, daß man dreist sagen kann, es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, daß auch noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde«. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: ders.: Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 10. Frankfurt a.M. 1968, S. 352.
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Welt beschreiben können. Zwar bemüht man sich durchaus, die Qualitäten und Reaktionsweisen von Stoffen nach Newton’schem Vorbild auf anziehende und abstoßende Kräfte zurückführen. Die auf der Mikroebene beobachtbare Verwandtschaft von Stoffen, ihre Auflösung und Verbindung oder ihre Verwandlung in feste, flüssige oder gasartige Zustände scheinen aber von anderen Gesetzen regiert zu werden.24 Bei der Erklärung von physiologischen, chemischen, elektrischen und thermischen Phänomenen gerät ein rein bewegungsmechanisch gefasstes Konzept der Kraft an seine Grenzen. Mit der Thermodynamik etabliert sich in den 1840er Jahren ein Ansatz, der die Regeln der Bewegung sowohl mit dem Magnetismus und der Elektrizität als auch mit der Verbrennung chemischer Stoffe und den Stoffwechselprozessen lebendiger Organismen verrechnen kann. Das schwingende Pendel, der fallende Hammer, das durch Wasserkraft bewegte Rad, die räumliche Ausdehnung von erwärmten Flüssigkeiten als Gase, der durch Elektrizität erzeugte Magnetismus, die anziehende und abstoßende Kraft des Magneten, die Muskelkraft von menschlichen und nichtmenschlichen Tieren, die Ernährung und Atmung aerober Organismen, der Stoffwechsel der Pflanzen – überall manifestiert sich eine unzerstörbare Kraft, die zwar ihre Erscheinungsform ändert, in der Summe aber konstant bleibt. Dank ausgreifender Messreihen gelingt es, die Phytochemie des Sonnenlichts, den Metabolismus lebendiger Organismen und die mechanische Bewegung physikalischer Körper aufeinander abzustimmen. Hermann von Helmholtz stellt diese das gesamte Reich der Natur durchquerende Äquivalenz der Kräfte in seinem epochemachenden Vortrag von 1847 als Gesetz der Erhaltung der Kraft vor.25 Die Erweiterung der klassischen Mechanik durch die Thermodynamik nährt jedoch den Zweifel an der begrifflichen Leistungsfähigkeit der Kraft. In einem 1848 publizierten Text über Lebenskraft und tierische Elektrizität erklärt Émil du Bois-Reymond die Kraft als Kategorie wissenschaftlicher
24 Zur Chemie als wichtiger Innovationswissenschaft um 1800 und ihrer Bedeutung für die Poetik der Romantik vgl. Peter Kapitza: Die frühromantische Theorie der Mischung. Über den Zusammenhang von romantischer Dichtungstheorie und zeitgenössischer Chemie. München 1968. 25 Hermann von Helmholtz: Über die Erhaltung der Kraft, eine physikalische Abhandlung, vorgetragen in der physikalischen Gesellschaft zu Berlin am 23sten Juli 1847. Berlin 1847. Unter demselben Titel hält Helmholtz diesen Vortrag auch als Einleitung zu einem Vorlesungszyklus, gehalten in Karlsruhe im Winter 1862/63. In: ders.: Philosophische und Populärwissenschaftliche Schriften, hg. v. Michael Heidelberger/Helmut Pulte/Gregor Schiemann, Bd. 1. Hamburg 2017, S. 208–248. Der Begriffswechsel von der Kraft zur Energie bahnt sich dann erst in der englischsprachigen Wissenschaftskommunikation an. Hermann von Helmholtz: Lectures on the Conservation of Energy, Vorträge gehalten an der Royal Institution of Great Britain im April 1864. In: ders.: Philosophische und Populärwissenschaftliche Schriften, hg. v. Michael Heidelberger/Helmut Pulte/Gregor Schiemann, Bd. 1. Hamburg 2017, S. 258.
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Weltbeschreibung für unbrauchbar. Bei der Kraft habe man es nicht mit etwas Gegebenem, sondern mit einer gedanklichen Abstraktion von Sachverhalten zu tun. Das Wort Kraft sei entsprechend nichts anderes als »ein rhetorischer Kunstgriff unseres Intellekts, der zur tropischen Wendung greift, weil ihm zum reinen Ausdruck die Klarheit der Vorstellung fehlt«.26 Und tatsächlich beginnt die Physik nach 1850 ihre zentralen Gesetze an die Variable der Energie zu binden, die man als quantitative und nicht, wie vom älteren Kraftdenken impliziert, als qualitative Kategorie fasst. Wenn energy um 1850 von englischen Physikern als »Standarddefinition« für die Fähigkeit, Arbeit zu verrichten, vorgeschlagen wird, dann hebt man die etymologische Verwandtschaft zwischen ergon und energeia, Arbeit und Energie hervor.27 Energie ist das, was ein bestimmtes Maß an Arbeit zu leisten imstande ist. In der Wissenschaftsgeschichte hat man zudem das interdisziplinäre Anwendungspotential des Worts Energie betont. Johann Bernoulli verwendet das Wort Energie schon im frühen 18. Jahrhundert, um Leibniz’ Beschreibung der Umwandlung zwischen vis viva und vis mortua zu kennzeichnen,28 während Energie in John Harris’ Lexicon technicum von 1704 als »Erregung oder Handlung der Lebensgeister und des Blutes«29 begegnet. Attraktiv ist das Wort Energie also auch deshalb,
26 »In bezug auf das Räthsel aber, was Materie und Kraft seien« müsse man »ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrspruch sich entschliessen: ›Ignorabimus!‹«. Émil du Bois-Reymond: Über die Grenzen des Naturerkennens. Leipzig 1872, S. 33. Vgl. dazu: Myriam Gerhard: Du Bois-Reymonds Ignorabimus als naturphilosophisches Schibboleth. In: Kurt Bayertz/dies./Walter Jaeschke (Hg.): Naturwissenschaft, Philosophie und Weltanschauung im 19. Jahrhundert, Bd. 3. Hamburg 2007, S. 241–252. 27 Norbert Schirra: Die Entwicklung des Energiebegriffs und seines Erhaltungskonzepts. Eine historische, wissenschaftstheoretische, didaktische Analyse. Thun/Frankfurt a.M. 1991, S. 6. 28 Johann Bernoulli spricht 1717 in seinem französischen Lehrbuch der Mechanik dort von Energie, wo er zur »Erklärung des Gleichgewichts virtueller Kräfte« beitragen möchte. Zit. nach Schirra: Die Entwicklung des Energiebegriffs und seines Erhaltungskonzepts, S. 5. Wie Max Jammer in seiner Geschichte des physikalischen Kraftbegriffs zeigt, hat Leibniz diesen modernen Kraft- oder eben Energiebegriff vorgeprägt. »With Leibniz the concept of force undergoes a radical change of meaning: from a mechanical mode of operation it becomes a principle of almost vitalistic activity. Strictly speaking, Leibniz’s concept of force is what we call today kinetic energy, but conceived as inherent in matter and representing the innermost nature of matter. Because of the great importance attached to this concept in Leibniz’s metaphysical and scientific outlook, he may rightly be considered as the first proponent of modern dynamism in natural science«. Max Jammer: Concepts of Force. A Study in the Foundation of Dynamics. Cambridge, MA 1957, S. 158. 29 Zit. nach Schirra: Die Entwicklung des Energiebegriffs und seines Erhaltungskonzepts, S. 5.
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weil es zur Beschreibung von Phänomenen herangezogen werden kann, die über die reine Kinetik von Körpern hinausgehen.30 Der nach 1850 vollzogene Wechsel vom Kraft- zum Energiebegriff zeugt nicht so sehr von einer klar erkennbaren begrifflichen Differenz als vielmehr vom Wunsch nach einem epistemischen Neueinsatz. Im Zeichen der Energie will man die metaphysisch-spekulativen Altlasten des Kraftbegriffs ablegen und die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Kräfte zurücknehmen. Dem Begriff der Energie traut man die Gesamterklärung einer Natur zu, in der nicht seltsam ortlose Kräfte eine unbewegte Materie mobilisieren müssen, weil nun die Materie selbst als Speicher von Energiequanten gedacht werden kann. Energie ist überall, und sie ist überall dieselbe. Sie geht nicht verloren, wechselt sie doch lediglich ihre Form.31 Dies hat Konsequenzen für das Bild der Natur. Dem energetischen Denken zeigt sich die Welt keineswegs nur als ein von außen in Gang gesetzter Mechanismus. Vielmehr erscheint sie als ein sich selbst organisierender Metabolismus, in dem geatmet und gegessen, verbrannt und verbraucht wird. Wenn Herder, Goethe, Moritz, Schiller und Hardenberg zwischen 1770 und 1830 die Leistungen der Künste über den Vergleich mit natürlichen Kräften zu bestimmen suchen, dann begeben sie sich also auf ein 30 Zur Genese des physikalischen Energiebegriffs vgl. Herbert Breger: Die Natur als arbeitende Maschine. Zur Entstehung des Energiebegriffs in der Physik 1840–1850. Frankfurt a.M./ New York 1982. Die ideengeschichtliche Entwicklung des Energiebegriffs ist bisher nur für den französischen Sprachraum verfolgt worden. Michel Delon: L’idée d’énergie au tournant des Lumières (1770–1820). Paris 1988; Danièle Ghesquier-Pourcin/Muriel Guedj u.a. (Hg.): Énergie, science et philosophie au tournant des XIXe et XXe siècles, Bd. 1: L‘émergence de l‘énergie dans les sciences de la nature; Bd. 2: Les formes de l‘énergétisme et leur influence sur la pensée. Paris 2010. Tatsächlich scheint der Energiebegriff für gegenwärtige literatur-, kunst-, theater- und musikwissenschaftliche Ansätze produktiver zu sein, vgl. etwa: Susanne Strätling: Energie – ein Begriff der Poetik?. In: Frank Fehrenbach/Robert Felfe/Karin Leonhard (Hg.): Kraft, Intensität, Energie. Zur Dynamik der Kunst. Berlin 2018, S. 373–393; Arne Stollberg/Katrin Eggers (Hg.): Energie! Kräftespiele in den Künsten. Würzburg 2021. Barbara Gronau (Hg.): Szenarien der Energie. Zur Ästhetik und Wissenschaft des Immateriellen. Bielefeld 2013. 31 Die Energetiker um 1900 setzen hier an, treiben die Thermodynamik aber über ihre Grenzen hinaus, wenn sie Energie zum Universalparadigma aller natürlichen, der körperlichen ebenso wie der seelischen Vorgänge erklären. Energie, so wird sich im ausgehenden 19. und dann im 20. Jahrhundert zeigen, ist entsprechend ebenso wenig wie der Begriff der Kraft vor okkultistischen Vereinnahmungen gefeit. Nebenbei ist zu bemerken: Cassirers Konstruktion einer Veränderung vom Substanz- zum Funktionsbegriff macht sichtbar, dass der Energiebegriff des 19. nicht derjenige des 20. Jahrhunderts ist: Energie wird um die Mitte des 19. Jahrhunderts durchaus als Substanz aufgefasst, im Rahmen der Quantenmechanik zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Poincaré) dann aber als mathematische Erhaltungsgröße reinterpretiert. Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik. Berlin 1910, S. 249–270. Diesen Schritt wird die vorliegende Studie nicht mehr verfolgen.
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multidisziplinär bestelltes Diskursfeld, dessen Grenzen gerade neu gezogen werden. Wie verhalten sich poetologische und literarische Imaginationen der Kraft zur naturwissenschaftlichen Kritik am Kraftbegriff und der sich anbahnenden Neudeutung der Phänomene unter dem Namen der Energie? Auf welche Naturvorstellungen beziehen sie sich, wenn sie Vergleiche der poetischen Kräfte mit den Kräften der Natur anstellen? Und zeichnet sich in poetologischen und literarischen Texten womöglich eine der Thermodynamik verwandte Vorstellung von ineinander überführbaren Kräften respektive Energien ab? Konversion der Energie und Poetik der Verwandlung
In der Wissenschaftsgeschichte besteht Konsens darüber, dass an der ›Revolution‹ oder auch ›Evolution‹ der Thermodynamik, die zum modernen Energiebegriff führt, eine Reihe von unterschiedlichen Akteuren beteiligt sind.32 Als wichtige Voraussetzung, ein Konversionsmodell der Kraft formulieren zu können, identifiziert Kuhn die Erfindung der Batterie durch Alexander Volta, in der die Verwandlungen von chemischen Verwandtschaften in Elektrizität sowie in Wärme beobachtbar werden.33 Ein zweites wichtiges Anschauungsmodell bilden die seit dem 17. Jahrhundert gebauten Dampfmaschinen, die Brennmaterial in mechanische Bewegung umwandeln. Mediziner und Chemiker wie Robert Julius Mayer oder James Prescott Joule können dann im 19. Jahrhundert zeigen, dass die Rechnung von der Erhaltung der Kraft auch bei der Ernährung und der Muskeltätigkeit von Lebewesen aufgeht.34 Eine erstaun liche Anzahl dieser Versuche, physikalische, physiologische und chemische
32 Kuhn spricht von Revolution, um die ›simultaneous discovery‹ des Energieerhaltungsprinzops in den 1830er und 1840er Jahren zu charakterisieren; Schirra hingegen hebt den langsamen, eher evolutiven Charakter hervor. Schirra: Die Entwicklung des Energiebegriffs und seines Erhaltungskonzepts; Thomas S. Kuhn: Energy Conservation as an Example of Simultaneous Discovery [1959]. In: ders.: The Essential Tension. Selected Studies in Scientific Tradition and Change. Chicago 1977, S. 66–104. 33 »According to the theory of galvanism most prevalent, at least, in France and England, the electric current was itself gained at the expense of forces of chemical affinity, and this conversion proved to be only the first step in a chain.« Kuhn: Energy Conservation as an Example of Simultaneous Discovery, S. 73. 34 Justus Liebig unternimmt es in seiner Tierchemie (1843), auch die Fortpflanzung lebendiger Organismen in diese Beschreibung physikalischer und chemischer Kraftverwandlungen zu integrieren. Er beschreibt Ei und Samen als Orte einer zunächst im Ruhezustand befindlichen »Tätigkeit«, die durch die Zeugung in Bewegung versetzt werde und sich dann »in einer Reihe von Formbildungen« äußere. Justus Liebig: Tierchemie. Braunschweig 1843, S. 468. Auch wenn sich seine Theorie der Lebenskraft nicht durchsetzen wird, bleibt bemerkenswert, dass die Entstehung des Lebendigen als Übergang einer latenten Kraft in den Zustand ihrer Manifestation gedacht werden soll. Vgl. auch Walter Botsch: Die Bedeutung des Begriffs Lebenskraft für die Chemie zwischen 1750 und 1850. Stuttgart 1997.
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Prozesse mathematisch zu korrelieren, operieren vor dem Hintergrund einer Vorstellung von der Einheit der Natur, für die aus Kuhns Sicht vor allem die Naturphilosophie Schellings steht.35 Die romantische Naturphilosophie bietet so betrachtet weniger das Residuum eines gegenaufklärerischen Denkens; stattdessen liefert sie die gedankliche Matrix einer wissenschaftlichen Innovation. Die Frage, ob und auf welche Weise ein proto-thermodynamisches Modell der Natur auch die naturphilosophisch inspirierte Kunst- und Dichtungsreflexion des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts geprägt haben könnte, hat man bisher jedoch nicht gestellt.36 Dies ist umso erstaunlicher, als Hermann von Helmholtz, der von den beteiligten Naturwissenschaftlern wohl am stärksten um die Verbindung der Teilbereiche wie um die Vermittlung ihrer Ergebnisse bemüht war, gerne auf die literarische Antizipation thermodynamischer Denkstücke hingewiesen hat. Goethe, mit dieser Überzeugung überrascht Helmholtz in einem seiner populärwissenschaftlichen Vorträge, habe das Gesetz von der Erhaltung der
35 Nicht die an Leibniz anschließende vis viva-Debatte, sondern die romantische Naturphilosophie bildet nach Thomas Kuhn eine der drei Voraussetzungen dafür, dass in den 1840ern eine Reihe von Akteuren, meistenteils in Unkenntnis der Arbeiten der anderen, zur These von der ›conservation of energy‹ kommen. Dabei gelingen die experimentellen Nachweise und schließlich die mathematischen Formalisierungen dieser Einheit der Natur einer Reihe von Forschern, deren Ausbildung im Kontext der romantischen Naturphilosophie stand. Tatsächlich kulminiert Kuhns Darstellung der rätselhaften Simultanentdeckung in der These, dass alle Forschenden ihre empirischen Versuche vor dem Hintergrund einer geteilten metaphysischen Annahme, mithin der etwa von Schelling vertretenen Vorstellung von einem »single unifying principle« in der Natur, angestellt haben. Kuhn: Energy Conservation as an Example of Simultaneous Discovery, S. 97. 36 Stattdessen wurden in kultur- und literaturwissenschaftlichen Studien eher die Auswirkungen der Thermodynamik auf die kulturelle Selbstreflexion um 1900 untersucht. Im Mittelpunkt stand meist das zweite Gesetz der Thermodynamik, demzufolge sich die Formen der Energie zwar ineinander verwandeln lassen, das Ergebnis der Transformationen aber nicht rückgängig gemacht werden kann. Ein verbranntes Holzscheit verwandelt sich in Wärme, die sich, sobald sie freigesetzt ist, nicht in ein Holzscheit rückverwandeln lässt. Die Welt ist kein perpetuum mobile. Robert Julius Emanuel Clausius hält 1850 einen Vortrag vor der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften mit dem Titel Über die bewegende Kraft der Wärme. 1865 als zweites Gesetz der Thermodynamik formuliert, präzisiert und korrigiert die Idee der Entropie den Optimismus des Helmholtz’schen ersten Gesetzes: Zwar bleibt die Summe der Energie erhalten; was aber in Wärme umgewandelt und ins System abgegeben wurde, lässt sich nicht mehr zurückverwandeln. Aus dem von Clausius in die Diskussion gebrachten Entropie-Gesetz finden die um 1900 proliferierenden Selbstbeschreibungen der Dekadenz, der Ermüdung und der Erschöpfung, die im Naturalismus um 1900 vielfältigen künstlerischen und literarischen Ausdruck finden, ihren Rückhalt. Zur Bedeutung dieses Entropiegesetzes für kulturelle Selbstbeschreibungen der Moderne: Elizabeth Neswald: Thermodynamik als kultureller Kampfplatz. Zur Faszinationsgeschichte der Entropie 1850–1915. Freiburg i.Br. 2003.
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Kraft vorweggenommen. Als Beleg verweist Helmholtz nicht auf Goethes naturwissenschaftliche Studien, sondern auf einen literarischen Text. Helmholtz zitiert den Auftritt des Naturgeistes im Faust I, der sich mit den Worten vorstellt: »In Lebensfluten, im Tatensturm / Wall’ ich auf und ab, / Wehe hin und her! / Geburt und Grab, / Ein ewiges Meer, / Ein wechselnd Weben, / Ein glühend Leben«.37 Dieses im dramatischen Dialog zwischen Faust und einer Geistererscheinung evozierte Bild einer Naturkraft, die permanent ihre Funktion und Gestalt ändert, liest Helmholtz als Hinweis auf die thermodynamische Neukonzeption der Kraft als Energie. So kommentiert er das Zitat aus Goethes Faust mit einer kurzen Zusammenfassung des ersten Gesetzes der Thermodynamik, das dergestalt als Aussage des literarischen Texts extrapoliert wird: Nun wissen wir jetzt, dass der Welt ein unzerstörbarer und unvermehrbarer Vorrath von Energie oder wirkungsfähiger Triebkraft innewohnt, der in den mannigfachsten, immer wechselnden Formen erscheinen kann, bald als gehobenes Gewicht, bald im Schwunge bewegter Massen, bald als Wärme oder chemische Verwandtschaft u.s.w.38 Noch expliziter findet sich die Grundintuition von einem derartigen Zusammenhang und der Verwandlung der Kräfte bei Friedrich von Hardenberg, der sich in seinen Freiberger Notizen zum Salinenbau, und zwar wohl nicht zufällig im Kontext von detaillierten Überlegungen zur Verbesserung der im Bergbau eingesetzten Dampfmaschinen, zu fragen beginnt: Weckt nicht eine Kraft alle Kräfte allmählich – oder geht nicht durch fortschreitendes Wachsthum jede Kraft unmercklich in die Andere über und umgekehrt? z.B. Erregung von Wärme – Electr[icitaet] – Magnetism – Expansivkraft – durch Schnelligkeit der Bewegung. Folge der Kräfte – Verwandtschaft derselben.39 Die aus der Beobachtung abgeleitete Vermutung, dass zwischen Elektrizität, Magnetismus, der wärmebedingten Ausdehnung von Stoffen und den mechanischen Bewegungen ein Verwandtschaftsverhältnis besteht, greift nicht nur dem erst später vom dänischen Physiker Ørstedt belegten Elektromagnetismus
37 Goethe: Faust I, Goethe FA 7/1, S. 37. 38 Hermann von Helmholtz: Goethe’s Vorahnungen kommender naturwissenschaftlicher Ideen. In: ders.: Philosophische und populärwissenschaftliche Schriften, hg. v. Michael Heidelberger/Helmut Pulte/Gregor Schiemann, Bd. 2. Hamburg 2017, S. 1154. 39 Hardenberg (Novalis): Technische und Mechanische Bemerkungen, Hardenberg (Novalis) HKA 3, S. 740.
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vor.40 Vielmehr schlägt Hardenberg eine mehrere Kraftarten übergreifende Verwandlungsregel vor, wie sie später in der Thermodynamik mathematisch beschreibbar wird und von Helmholtz als Gesetz formuliert wird. Eine jede Kraft, so vermutet schon Hardenberg, kann in eine andere übergehen. Was Helmholtz also nach 1850 im Gestus der wissenschaftlichen Überzeugung eines ›wir wissen jetzt‹ formulieren kann, haben Goethe und Hardenberg als poetische oder wissenschaftliche Spekulation um 1800 antizipiert. Diesen Befund möchte ich einerseits vertiefen, andererseits auf seine poetologischen und literarischen Konsequenzen befragen. Wie zu zeigen sein wird, macht sich die proto-thermodynamische Auffassung von Kraft als transformierbarer Energie um und nach 1800 sowohl in poetologischen Programmen als auch in literarischen Texten bemerkbar, die an den Verwandlungsmöglichkeiten der Kraft interessiert sind – und dies im mehrfachen Sinn. Herder, Moritz, Schiller und Humboldt entwickeln Theorien einer dynamischen Form, die weder allein am Mechanischen noch am Lebendigen orientiert sind. Vielmehr entwickeln sie Szenarien, in denen sich organische und nach deren Vorbild auch ästhetische Formen der Umlenkung und Umwandlung mechanischer Kräfte verdanken. Hier sind Kräfte Objekte von Transformationsleistungen. An thermodynamische Verwertungs- und Verwandlungslogiken erinnert, dass die Aktivität der Einbildungskraft und von dort aus auch die Tätigkeit der Dichtung bei Goethe und Hardenberg als Aneignung vorliegender Materialund Formrepertoires vorgestellt wird: sei es als Verspinnen abgerissener Fäden, als Rekombination von Gehörtem oder Gelesenem oder, voraussetzungs- und anspielungsreicher, als Übergang zwischen Stoffen und ihren Aggregatszuständen. Hier wird Dichtung selbst als transformative, anderes verwandelnde Kraft imaginiert. Will man diese Poetik der energetischen Konversion ihrerseits als Transformation älterer Kraftkonzepte kenntlich machen, dann lässt sich auf die lange Vorgeschichte der Verflechtung (meta-)physischer, rhetorischer und poetologischer Kraftreflexionen nur schwer verzichten.
40 Gabriele Rommel macht mit Gunnar Berg einerseits darauf aufmerksam, dass Hardenberg hier die erst durch die »Oerstedtsche Entdeckung, die Wirkung eines elektrischen Stromes auf eine Magnetnadel«, spekulativ vorweggenommen habe. Hardenbergs Idee von der Verwandtschaft und dem Übergang der Kräfte führt Rommel andererseits auf die Anregung Kielmeyers zurück. Gabriele Rommel: Friedrich von Hardenberg (Novalis) – Gedanken über die »die innre chiffrirende Kraft. Spuren derselben in der Natur«. In: Olaf Breidbach/Roswitha Burwick (Hg.): Physik um 1800. München/Paderborn 2012, S. 67–102, hier: S. 74 u. 76. Allerdings sind die Kräfte bei Kielmeyer nur die organischen Kräfte, die nach dem Vorbild der Metamorphose (Lebensalter, Blüte) gedacht sind. Eine thermodynamische, also unterschiedliche Formen der Energie ineinander überführende Regel der Verwandlung zeichnet sich bei Kielmeyer hingegen nicht ab.
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Der erste Teil dieser Studie rekonstruiert deshalb den Wandel der seit der Antike zwischen unterschiedlichen Bereichen der Weltbeschreibung hin- und hergereichten Kraftvorstellung. Hierher gehören die Konzeptualisierung von dynamis und energeia in Naturlehre und Metaphysik der Antike; die Spannung zwischen Newtons Mechanik und Leibniz’ Dynamik mitsamt den Kantischen Vermittlungsversuchen; die im 18. Jahrhundert in den Vordergrund tretenden Vorstellungen von Lebenskräften oder einem Bildungstrieb; die romantische Naturphilosophie, die nach einer alles verbindenden Urkraft sucht und sie im Licht findet, sowie die Herausbildung des thermodynamischen Denkens, das ebenfalls in erstaunlichem Maße um die energetischen Potentiale des Sonnenlichts kreist. Der skizzierte Bogen umfasst einige Höhe- und Tiefpunkte in der Karriere und Krise der Kraft, die langfristig zur Überführung älterer Kraftvorstellungen in den moderneren Energiebegriff führen. In der Vermessung dieses weiten ideen- und wissensgeschichtlichen Terrains interessieren mich insbesondere diejenigen Ansätze, die Kraft als quantitativ bestimmbare Erhaltungsgröße denken, dies mit der These von ihrer wechselseitigen Überführbarkeit der Kräfte ineinander begründen und an Vorgängen der Verbrennung, Verwertung und Verwandlung zu belegen versuchen. Der zweite Teil stellt den Untersuchungsradius enger ein, indem er Varianten des Ineinandergreifens von poetologischen und naturphilosophischen Konzeptualisierungen der Kraft zwischen 1770 und 1830 inspiziert. Auch dort lässt sich eine Verlagerung ablesen. Steht Kraft als Leitkategorie der Kunstund Dichtungstheorie bis 1770 im doppelten Zeichen der antiken Rhetorik und der neuzeitlichen Mechanik, so verlassen sich Herder, Goethe, Moritz, Schiller oder Hardenberg nicht mehr auf rhetorische Konzepte des In-BewegungSetzens. Im Gegensatz zu Sulzers Vorstellung von ästhetischer Kraft fügen sich schon Herders poetologische Bezugnahmen auf Kraftvorstellungen immer weniger in ein rein seelenmechanisches Paradigma.41 Denn mit und nach Herder wird die Kraft der Dichtung zu einer formgebenden Kraft, die in ihren dynamischen, teils schon thermodynamisch anmutenden Aspekten bedacht
41 Die Ästhetik des 18. Jahrhunderts baut auf einer stark mechanisch gefassten Modellierung von Wahrnehmungs- und Vorstellungsvorgängen auf. Die außerordentliche Produktivität der Mechanik für die Seelenlehre und die psychologische Ästhetik haben Caroline TorraMattenklott, Eric Achermann und jüngst noch einmal Dennis Borghardt nachgewiesen. Caroline Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert. München 2002; Eric Achermann: Im Spiel der Kräfte. Bewegung, Trägheit und Ästhetik im Zeitalter der Aufklärung. In: Simone de Angelis/Florian Gelzer/Lucas Marcus Gisi (Hg.): ›Natur‹, Naturrecht und Geschichte. Aspekte eines fundamentalen Begründungsdiskurses der Neuzeit (1600–1900). Heidelberg 2010, S. 287–320; Borghardt: Kraft und Bewegung.
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wird.42 In seinen zwischen 1776 und 1796 betriebenen botanischen Studien wie auch in zeitgleich verfassten Gedichten entwirft Goethe natürliche und poetische Formgenesen als Verschlingungen, die zwischen textilem Verflechten und metabolischem Verschlucken schwanken. Pflanzen wie Gedichte bilden nicht nur Knoten oder Texturen, sondern müssen sich auch von Äußerem ernähren. Wie sich in Goethes Abkehr vom Kraftbegriff und seiner Refor mulierung von Bildungskraft oder Bildungstrieb als ›heftige Tätigkeit‹ um 1820 zeigt, denkt er die (Ein-)Bildungskraft als gleichsam metabolische Verwertungs- und Umgestaltungsaktivität. In Hardenbergs Fragmenten und Aphorismen tritt die Einbildungskraft schon um 1800 als ›gefräßige‹ Flamme auf, die Vorgefundenes verzehrt. In diesen Szenarien realisieren sich formbildende Kräfte nicht als intrinsische, autonome und von anderem abgekoppelte Triebe. Vielmehr bleiben sie auf die jeweiligen Umgebungen verwiesen, aus denen sie sich speisen. Gerade dort, wo Goethe und Hardenberg das Formdenken in Szenarien des Verwertens, Verbrennens und Verwandelns überführen, zeichnet sich auch eine Faszination für Zustände und Vorgänge ab, die sich der gestalthaften Fixierung gerade entziehen und eine besondere Herausforderung an die Wahrnehmung wie auch die Darstellung bilden. Bei diesem doppelten Befund setzen die im dritten Teil besprochenen literarischen Verhandlungen thermodynamischer Kräftelehren an. In der Beschreibung von galvanischen Batterien, von Reaktionsbildungen wie Erhitzen und Verdampfen oder von Effekten des Leuchtens und Glühens evozieren Hardenbergs und Goethes Texte nicht nur das, was Hardenberg in Die Lehrlinge zu Sais »das große Schauspiel der Kräfte« nennt.43 Mit der eigenwilligen Aus gestaltung von unterirdischen Landschaften, von rad- und schwingenartigen Requisiten und maschinell ineinander greifenden Handlungssequenzen werden ihre Texte auch zu Schauplätzen, an denen die konkreten Verwendungsweisen von Kräften evoziert und befragt werden können. Dies betrifft in bislang kaum beachteter Weise auch Aspekte der technisch-industriellen Nutzungen von Wasser- und Windkraft wie auch von (fossilen) Brennstoffen. Wie sich Goethes amtlichen Schriften und Hardenbergs Aufzeichnungen aus der Berufstätigkeit entnehmen lässt, sind beide als Kenner zeitgenössischer Bergwerksbetriebe auch frühe Beobachter dessen, was Vaclav Smil in seiner globalen Geschichte der Energiekulturen als »great transition«, mithin als Übergang 42 Die Bedeutung eines dynamischen Denkens scheint am Rande der wichtigen Ausführungen von David Wellbery zum endogenen Formbegriff auf. David E. Wellbery: Form und Idee. Skizze eines Begriffsfeldes um 1800. In: Jonas Maatsch (Hg.): Morphologie und Moderne. Goethes ›anschauliches Denken‹ in den Geistes- und Kulturwissenschaften seit 1800. Berlin/ Boston 2014, S. 17–42. Zusammenhänge zwischen Kraft und Form hat Malika Maskarinec für kunsttheoretische und literarische Entwürfe um 1900 systematisch ausgearbeitet. Malika Maskarinec: The Forces of Form in German Modernism. Evanston, IL 2018. 43 Hardenberg (Novalis): Die Lehrlinge zu Sais, Hardenberg (Novalis) HKA 1, S. 103.
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zu fossilen Brennstoffen, bezeichnet hat.44 In Hardenbergs Aufzeichnungen aus der Berufstätigkeit kommen neben naturphilosophischen Fragen sehr konkrete technische und wirtschaftliche Interessen ins Spiel, die den Maschinenbau und die Erschließung von Kohlevorkommen betreffen. Auch Goethe war aus der Ilmenauer Bergbauunternehmung gut mit Dampfmaschinen bekannt, um deren Einsatz er sich, trotz aller Maschinenkritik im Faust II oder in Wilhelm Meisters Wanderjahren, bemüht hat.45 Die ökonomischen wie soziokulturellen Herausforderungen beim Umbau zum neuen fossilen Energie regime haben in Hardenbergs und Goethes literarischen Texten bisher kaum beachtete Spuren hinterlassen. Die durchaus rätselhaften Beschreibungen von maschinellen Kraftverwandlungen und metabolischen Verwertungskreis läufen in Goethes Märchen, seiner Novelle und den Faust-Dramen sowie in Hardenbergs Heinrich von Ofterdingen möchte ich deshalb auf ihr Interesse an maschinellen Energieverwertungen beziehen. Wendet man diese Szenarien wiederum poetologisch, dann geben sie sich zugleich als neuartige Reflexionen auf den produktiven Grund der Dichtung zu erkennen. Die Frage nach der Kraft der Dichtung wird bei Goethe und Hardenberg zur Frage nach ihren energetischen Ressourcen. ›Romantische Thermodynamik‹: Perspektiven
Was ich in dieser Studie als ›romantische Thermodynamik‹ rekonstruieren möchte, betrifft die Genese und die Varianten des energetischen Konversionsgedankens, der zwischen 1770 und 1830 das Verhältnis der Naturkräfte wie auch eine Poetik der Verwandlung zu charakterisieren beginnt. Mein Interesse richtet sich dabei sowohl auf die philosophischen und wissenschaftlichen Versuche, die Einheit der Natur als Konstanz und Umwandlung ihrer Kräfte zu denken, als auch auf die Imaginationen einer Dichtung, die ihren schöpfe rischen Grund weder im Göttlichen noch im Unbewussten, sondern in der Vielfalt vorliegender Formen sieht. Die sich wandelnden Konzepte von Kräften der Natur und der Dichtung zwischen 1770 und 1830 sind aber nicht allein von ästhetik- und ideengeschichtlichem Interesse. Mit der Frage nach der Herausbildung gegenwärtiger Energievorstellungen und der Integration älterer Kraftvorstellungen führen sie auch auf Probleme des Umgangs mit und der Be schreibung von Natur, die uns bis heute begleiten. Ausgemessen wird entsprechend der gemeinsame Problemhorizont naturphilosophischer Spekulation, wissenschaftlicher Erforschung, technischer Benutzung und literarischer 44 Vaclav Smil: Energy and Civilization. A History. Cambridge, MA 1994, S. 228. 45 Vgl. dazu Bernd Roeck: Goethe und die Entwicklung der Technik in Sachsen-Weimar: Das Ilmenauer Bergbauprojekt. In: Armin Hermann/Hans-Peter Sang (Hg.): Technik und Staat. Berlin/Heidelberg 1992, S. 77–94.
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Inszenierung von Kräften. Aus den Bezügen zwischen Naturforschung, Technik und Poetik eröffnen sich vier Perspektiven, die im rege beforschten Feld der wissen(schaft)sgeschichtlich interessierten Literaturwissenschaft oder einer Poetologie des Wissens neu orientieren können. Mit der Rekonstruktion einer Proto-Thermodynamik zwischen 1770 und 1830 lässt sich erstens ein Vorschlag zum Verhältnis unterschiedlicher, im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer weiter auseinandertretender Wissens bereiche machen. Denn die in Einzelstudien rekonstruierten Interessen der Literatur an der Physik, der Mechanik, der Elektrizitätslehre, der Chemie oder an Theorien der Lebenskraft gehören in ein Naturdenken, das trotz oder gerade wegen der beginnenden Differenzierung der Teilfächer und Disziplinen am Denken einer Einheit der Natur festhält, eine solche Ganzheit oder Einheit zu entwerfen und entsprechende Bilder ihres Zusammenhangs bereitzustellen versucht.46 Mit der Frage nach der Kraft lässt sich zweitens eine wichtige Denkvoraussetzung für ästhetische Formbegriffe um 1800 rekonstruieren. Dabei wird sich zeigen, dass sich das Formdenken weder allein an mechanischen noch an biologischen Paradigmata orientiert, sondern sich in auffälliger Weise am Übergang zwischen unterschiedlichen Kräften aufhält. Formgebungspotentiale, davon geht man in den Überlegungen zur lebendigen wie auch zur ästhetischen Form aus, zeigen sich gerade in den Transformationsprozessen, in denen Unbelebtes in Belebtes, Bewegung in Bildung, Flüssiges in Festes, Kaltes in Warmes oder Immaterielles in Materielles überführt wird. Hier setzt
46 Exemplarisch seien genannt: Maike Arz: Literatur und Lebenskraft. Vitalistische Naturforschung und bürgerliche Literatur um 1800. Stuttgart 1996; Helmut Müller-Sievers: SelfGeneration. Biology, Philosophy and Literature Around 1800. Stanford 1997; Andreas B. Kilcher: Ästhetik des Magnets. Zu einem physikalischen Modell der Kunst in der Frühromantik. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72 (3/1998), S. 463–511; Madleen Podewski: Ästhetik und Chemie. Frühromantische Experimente zwischen Kunst und Naturwissenschaft. Eine Problemskizze. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft 15 (2003), S. 13–26; Johannes Lehmann/Maximilian Bergengruen/Hubert Thüring (Hg.): Sexualität – Recht – Leben. Die Entstehung eines Dispositivs um 1800. München 2005; Dirk Oschmann: Zwischen Ästhetik und Mechanik. Frühromantische Visionen der Dynamisierung. In: Lothar Ehrlich (Hg.): Ereignis Weimar-Jena. Gesellschaft und Kultur um 1800 im internationalen Kontext. Köln/Weimar/Wien 2008, S. 129–143; Hubert Thüring: Das neue Leben. Studien zu Literatur und Biopolitik 1750–1938. München 2012; Olaf Breidbach/Roswitha Burwick (Hg.): Physik um 1800. Kunst, Naturwissenschaft oder Philosophie? München/Paderborn 2012; Michael Gamper: Elektropoetologie. Fiktionen der Elektrizität 1740–1870. Göttingen 2009; Benjamin Specht: Physik als Kunst. Die Poetisierung der Elektrizität um 1800. Berlin 2010; Benjamin Brückner/Judith Preiß/Peter Schnyder (Hg.): Poetologien des Lebendigen im langen 19. Jahrhundert. Freiburg i.Br./Berlin/Wien 2016; Christine Lehleiter: ›Wer weiß … welche wunderbaren Generationen uns noch … bevorstehen‹. Novalis’ Denken im Kontext der zeitgenössischen Biologie. In: Blütenstaub. Jahrbuch der Frühromantik 5 (2019), S. 137–152.
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die wesentliche Neubestimmung des alten Topos von der Kraft der Dichtung an. Denn in dem Maß, in dem sich die dichterische (Ein-)Bildungskraft nicht als Neuerfindung, sondern als Verwandlung zu verstehen beginnt, wird Dichtung als Verwertung von Vorliegendem imaginiert. Mit diesem Selbstentwurf lassen sich die besprochenen Kraftpoetiken drittens an die Debatte um die Geltung von Heteronomieästhetiken anschließen, die sich auch und gerade in der Hochphase autonomieästhetischer Programme nicht austreiben lassen. Entwürfe einer ästhetischen Autonomie, davon gehen etwa Irene Albers, Marcus Hahn und Frederic Ponten aus, sind bestenfalls eine Utopie, kritisch gesprochen eine Ideologie, da sich die Künste auch in Zeiten ihrer vermeintlichen Freisetzung von der mehrfachen Angewiesenheit an Politik, Ökonomie, Wissen und Körper keineswegs lösen können.47 Tatsächlich artikuliert sich in den hier verfolgten Szenarien einer anderes verwendenden und verwertenden Einbildungskraft genau diese Einsicht in die vielfachen Bindungen und Verbindungen der Künste.48 Die neuen Imaginationen poetischer Kräfte, so wird zu zeigen sein, entwerfen Modelle der Bezugnahme und des Angewiesenseins von Dichtung auf ihre Umgebungen. Über die literarische Thematisierung des Ineinandergreifens natürlicher, menschlicher, technischer und künstlerischer Kräfte lassen sich viertens exempla rische Probleme im Umgang mit ›Natur‹ erfassen. Darin liegt zuletzt die politische Aktualität der Studie. Bekanntlich hat die Thermodynamik die Berechnungsgrundlagen für die Fabrikation der gegenwärtigen technisierten und industrialisierten Welt geliefert, in der sich der Verbrauch von Brennstoffen mit der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft verzahnt hat.49 Hardenberg wie
47 Irene Albers/Marcus Hahn/Frederic Ponten (Hg.): Heteronomieästhetik der Moderne. Berlin/Boston 2022. 48 An diesen Bildern einer in komplexe Kräftehaushalte eingebundenen Kunst lässt sich das sehen, was der auf Schutz und reinliche Abgrenzung fixierte immunologische Subtext der klassischen Autonomieästhetik zu invisibilisieren versucht. Cornelia Zumbusch: Die Immunität der Klassik. Berlin 2011. 49 Die Folgen für die kulturelle Selbstbeschreibung des späteren 19. Jahrhunderts, in der sich ein veränderter Begriff der Arbeit mit dem Bild des menschlichen Körpers als Verbrennungsmotor verbindet, hat Anson Rabinbach unter dem Stichwort des Human Motor beschrieben. Anson Rabinbach: The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity. Berkeley 1990. Die ökologischen Folgen der fossilen Verbrennungskultur, die um 1850 an Fahrt aufgenommen hat, sind in den letzten Jahren auch in den Mittelpunkt der kulturhistorischen Forschung gerückt. Andreas Malm: Fossil Capital: The Rise of Steam Power and the Roots of Global Warming. London 2016. Auf welche Weise der englischsprachige Roman seit den 1830ern seine Erzählmuster auf das Problem der auf die Ausbeutung endlicher Ressourcen ausgerichteten Kultur zuwendet, hat jüngst Elizabeth Carolyn Miller gezeigt. Elizabeth Carolyn Miller: Extraction Ecologies and the Literature of the Long Exhaustion. Princeton, NJ 2021.
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Goethe sind Beobachter jenes Eintritts in die fossile Verbrennungskultur, aus der seit geraumer Zeit die Ausgänge gesucht werden. Die Frage nach den spezifischen Energiekulturen um 1800 bietet eine hervorragende Möglichkeit, Trajektorien gesellschaftlicher Naturverhältnisse im frühen 19. Jahrhundert zu beobachten. Orientiert an der philosophischen, wissenschaftlichen und literarischen Faszination für die Verwendung von Kräften bewegt sich die Studie an den unscharfen Grenzen zwischen spekulativer Naturphilosophie, empirisch-experimenteller Erkundung von Kräften und ihrer vor- und frühindustriellen Nutzung. Romantik wird dabei nicht als Name für eine literarische Epoche verwendet, zu der selbstverständlich auch eine Reihe anderer Vertreterinnen und Vertreter gezählt werden müssten. Statt dessen wird sie als retrospektiv vorgenommene Zuschreibung verstanden, mit der man eine alternative Tradition des Naturdenkens bezeichnet. Gerade an Hardenberg und Goethe hat man das Bild einer Romantik entwickelt, die sich von einer wissenschaftlich-technischen Aufklärung überholt sieht und gegen die Misere der Entfremdung von einer verdinglichten Natur ältere naturphilosophische Vorstellungen von einer beseelten, ganzen Natur reaktiviert. Den so formulierten Befund kann man dann als antimodernen, irrationalen Holzweg verabschieden oder als rettende Alternative begrüßen.50 Was von beiden Positionen aus aber übersehen wird, sind die überaus engen Verbindungen zwischen philosophischer Spekulation über Natur und dem pragmatischen Zugriff auf Natur. Wenn einerseits die Formulierung des Kraft- oder Energieerhaltungsgesetzes einer in der romantischen Naturphilosophie formulierten Auffassung von der Einheit der Natur aufruht, und sich andererseits literarische Modellierungen einer kraftdurchwirkten Natur an der praktischen Beobachtung von Dampfmaschinen und den damit verbundenen Erschließungsproblemen fossiler Brennstoffe schulen, dann greifen energietechnische Modernisierung und ›holistisches‹ Naturdenken enger ineinander als meist vermutet.
50 Cornelia Klinger diskutiert die romantische Hinwendung zur Natur, neben anderen Remythologisierungsversuchen, als Teil der Moderne. Cornelia Klinger: Flucht, Trost, Revolte. Die Moderne und ihre ästhetischen Gegenwelten. München 1995. Eine Rekonstruktion bietet auch Karen Gloy: Das Verständnis der Natur, Bd. II: Die Geschichte des ganzheitlichen Denkens. München 1996. Den Versuch einer ›gewaltfreien‹ wissenschaftlichen Annäherung an die Natur sieht Hartmut Böhme: Lebendige Natur. Wissenschaftskritik, Naturforschung und allegorische Hermetik bei Goethe. In: ders.: Natur und Subjekt. Frankfurt a.M. 1988, S. 145– 178. Vor dem Hintergrund neuerer Tendenzen der Naturphilosophie argumentiert Dalia Nassar: Romantic Empiricism after the ›End of Nature‹. Contributions to Environmental Philosophy. In: dies. (Hg.): The Relevance of Romanticism. Essays on German Romantic Philosophy. Oxford/New York 2014, S. 296–314. Zu Goethe vgl. auch Heather I. Sullivan: Goethe’s Concept of Nature: Proto-Ecological Model. In: Gabriele Dürbeck/Urte Stobbe u.a. (Hg.): Ecological Thought in German Literature and Culture. Lanham 2017, S. 17–29.
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In der vertieften Auseinandersetzung mit historischen Kraftdiskursen wird genauer zu bestimmen sein, was sich jeweils unter der ›Einheit‹ oder dem ›Ganzen‹ der Natur verstehen lässt. Meint man naturmagische, animistische, eher esoterisch anmutende Vorstellungen einer beseelten Natur? Bezieht man sich argumentationsstrategisch auf eine flache Ontologie, in der menschliche und nichtmenschliche Natur einander nicht als Gegensätze – sei es als Subjekt und Objekt, sei es als Geist und Materie – gegenübertreten sollen? Oder geht es um frühe Konzepte lokaler wie auch globaler ökologischer Zusammenhänge, Vernetzungen und Verwandtschaften, wie sie sich in Herders Weltgeschichte der Natur und ihrer Kulturen oder in Alexander von Humboldts Pflanzengeographie anbahnen? Trifft man dort, wo von Kräften der Natur die Rede ist, frühe Auffassungen vom entanglement der Natur-Kulturen an, also von der Verwicklung natürlicher und kultureller Sphären, um deren reinliche Trennung sich die Moderne laut Bruno Latour vergeblich bemüht hat? 51 Derartige Differenzierungen sind auch deshalb ein Desiderat, weil das Nachdenken über Kräfte im Kontext einer politischen Ökologie unvermindert attraktiv ist. Unter dem Schlagwort eines neuen Materialismus, der einen für ökologische Debatten brauchbaren Naturbegriff zu formulieren versucht, begegnen force, energy und power derzeit als Suchbegriffe, mit denen philosophische Konzepte einer inaktiven Materie kritisiert werden sollen.52 Unbestimmte Kräfte kehren hier wieder, um Vorstellungen von einer nichtmenschlichen agency zu plausibilisieren. Mit der Rekonstruktion der Krisen und Reprisen von Kraftvorstellungen
51 Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt a.M. 2008; genauer auf die hier auch interessierenden Verbindungen und Vernetzungen bezogen argumentiert Donna J. Haraway: When Species Meet. Minneapolis 2008 und noch einmal in Donna J. Haraway: Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene. Durham 2016. 52 Jane Bennett etwa geht es grundsätzlich darum, ein Konzept des Materiellen zu erarbeiten, das die »positive vitality possessed by nonhuman entities and forces« zu denken erlaubt. Jane Bennett: A Vitalist Stopover on the Way to a New Materialism. In: Diana Coole/Samantha Frost (Hg.): New Materialisms. Ontology, Agency, Politics. Durham/London 2010, S. 47–69, hier: S. 49. Deutlicher in dem politischen Anspruch ist Jane Bennett: Vibrant Matter. A Political Ecology of Things. Durham 2010. Insofern Bennett sich hier vor allem an Theorien des Lebendigen – allen voran an Drieschs Ausarbeitung des Entelechie-Begriffs – hält, setzt sie die zu überwindende Argumentationshürde allerdings eher niedrig an. Vergleichsweise ausgereift erscheinen die Versuche der Philosophin und Physikerin Karen Barad, eine an der modernen Physik (Relativität der Raumzeit, Atommodell der Quantenphysik) geschulte Theorie des Materiellen zu entwickeln. Karen Barad: Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. Durham/London 2007. Teile sind hier in deutscher Übersetzung greifbar Karen Barad: Agentieller Realismus. Berlin 2012. Vgl. auch: Diana Coole/Samantha Frost (Hg.): New Materialisms. Ontology, Agency, Politics. Durham/ London 2010.
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möchte ich neumaterialistische Ansätze indes nicht fortschreiben, sondern historisieren. Einen Leitfaden bieten Mythen und Metaphern, die bei der Besprechung von Kräften immer wieder aufgeboten werden. Im Zeichen des Prometheus stehen einerseits Szenarien, die den souveränen, teils gewaltsamen kultu rellen Zugriff auf natürliche Kräfte markieren, sei es als Lob des vielseitig verwertbaren ›prometheischen Funkens‹ oder einer mit dem Menschenmacher Prometheus assoziierten künstlerischen Formkraft, wie Goethe sie in der Prometheus-Ode mit großer Geste evoziert.53 Wenn in Mary Shelleys Frankenstein. Or the modern Prometheus ein Naturforscher menschenähnliches Leben hervorbringt, dann wird Prometheus im romantischen Imaginären zur Figur einer menschlichen Überhebung über die Natur, die auf ihn zurückschlägt. Insofern sich Prometheus, mythischer Feuerbringer und hybrisanfälliger Titan, hervorragend als Projektionsfigur kritischer Diskussionen gegenwär tiger Energiekulturen eignet,54 kann die Imaginationsgeschichte der Kraft zur Erschließung historischer Energiekulturen beitragen, wie sie in gegenwärtigen Ansätzen einer energy anthropology verfolgt werden.55 Die Vorstellung von den vielen Formen der Kraft bringt andererseits Bilder einer proteischen Natur hervor. Goethe spricht vom morphologischen Typus als einem sich entziehenden Proteus und kennzeichnet den generischen Reichtum seiner literarischen Produktion als Gabe seiner ›proteischen Natur‹.56 Schelling nennt die Kraft einen
53 Zur Entwicklung des Prometheus als Symbol des second maker vgl. Oskar Walzel: Das Prometheussymbol von Shaftesbury zu Goethe. München 1910. 54 Jean-Claude Debeir/Jean-Paul Deléage/Daniel Hémery (Hg.): Prometheus auf der Titanic – Geschichte der Energiesysteme. Frankfurt a.M. 1989; Claus Leggewie/Peter Risthaus/Ursula Renner (Hg.): Prometheische Kultur. Wo kommen unsere Energien her? München 2019. 55 Leitend ist hier ein vor allem in der Geschichtswissenschaft aber auch der Kulturanthropologie entwickelter Versuch, die Geschichte als Abfolge von Energiekulturen zu begreifen. Seine langjährigen Forschungen führt Smil zusammen in: Smil: Energy and Civilization. Seine Einleitung bietet auch einen Überblick über die Positionen von Alfred Lotka, Wilhelm Ostwald oder Leslie White, die um und kurz nach 1900 Verbindungen zwischen Energieverwendung, der Nutzung von Ressourcen und soziokultureller Evolution gesehen haben. Für eine kulturwissenschaftliche Gegenwartsdiagnose vgl. Sarah Strauss/Stephanie Rupp/ Thomas Love (Hg.): Cultures of energy: power, practices, technologies. Walnut Creek, CA 2013. Für eine konzise Zusammenfassuung vgl. auch Eva Horn/Hannes Bergthaller: Anthropozän. Zur Einführung. Hamburg 2019, S. 157–176. 56 Goethe: Notizen aus Italien, Goethe FA 24, S. 93; Über die Gattungsvielfalt seiner Texte schreibt Goethe 1796 an Schiller: »Das Angenehmste, was Sie mir aber melden können, ist ihre Beharrlichkeit am Wallenstein; denn nach dem tollen Wagestück mit den Xenien müssen wir uns bloß großer und würdiger Kunstwerke befleissigen und unsere proteische Natur, zur Beschämung der Gegner, in die Gestalten des Edlen und Guten umwandeln.« Goethe an Schiller, 15.11.1796, Goethe FA 31, S. 260.
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»Proteus der Natur«,57 Hardenberg bezeichnet sie als »phil[osophischen] Proteus«, den es »zu fixieren« gelte,58 und auch die naturwissenschaftlichen Beobachter des 19. Jahrhunderts assoziieren die Verwandlung der Energieformen mit dem mythischen Namen des Meeresgotts Proteus. »Quo teneam vultus mutantem Protea nodo?« – bei welchem Knoten soll ich die sich verändernde Gestalt des Proteus fassen, so fragt etwa der Thermodynamiker Robert Mayer.59 Helmholtz assoziiert den wandelbaren Charakter der Kraft ebenfalls mit dem mythologischen Meeresgott Proteus, der sich durch eine Fähigkeit zur Gestaltwandlung allen Zugriffen zu entziehen wusste. So schließt er seinen Vortrag Über die Wechselwirkung der Naturkräfte: So sehen Sie denn, dass der ungeheure Reichthum von immer neu wechselnden meteorologischen, klimatischen, geologischen und organischen Vorgängen unserer Erde fast allein durch die leuchtenden und wärmenden Strahlen der Sonne im Gange erhalten wird, und Sie haben daran gleich ein auffallendes Beispiel, wie proteusartig die Wirkungen einer Ursache in der Natur unter abgeänderten äusseren Bedingungen wechseln können.60 Die Metapher des Proteischen begegnet aber noch in gegenwärtigen Entwürfen, wenn etwa Jane Bennett ihren »Thing-power materialism« als Versuch bestimmt, Materialität als »protean flow of matter-energy« aufzufassen.61 Die Rekonstruktion naturphilosophisch inspirierter Poetiken der Kraft zwischen 1770–1830 kann also auch in denjenigen Debatten orientieren, in denen Kräfte derzeit neue Konjunkturen erleben. Prometheus oder Proteus? Der im doppelten Wortsinn geteilte – mithin widersprüchliche, unterschiedliche Kraftreflexionen gleichwohl verbindende – Bildgebrauch impliziert Kontinuitäten zwischen romantischer Naturphilosophie, wissenschaftlicher Thermodynamik und neuerer Natur-Kultur-Theorie und zeugt sowohl von der anhaltenden Faszination, die von Kraftvorstellungen ausgeht, als auch von der Ambivalenz, mit der sie behandelt werden. D ieser verwickelten Erbschaft zwischen Bildern einer proteischen, von Kräften 57 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Von der Weltseele – Eine Hypothese der höhern Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus (1798). In: ders.: Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, hg. v. Hans Michael Baumgartner/Wilhelm G. Jacobs u.a., Bd. 6, hg. v. Jörg Jantzen u. Mitwirkung v. Thomas Kisser. Stuttgart 2000, S. 67–271, hier: S. 78. Texte aus dieser Ausgabe werden im Folgenden zitiert unter Schelling HKA Bandangabe, Seitenzahl. 58 Hardenberg (Novalis): Das allgemeine Brouillon, Hardenberg (Novalis) HKA 3, S. 438. 59 Julius Robert Mayer: Ueber das Fieber. Ein iatromechanischer Versuch. In: Wunderlichs Archiv für Heilkunde 3 (1862), S. 385–394, hier: S. 385. 60 Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 37. 61 Jane Bennett: The Force of Things. Steps toward an Ecology of Matter. In: Political Theory 32 (3/2004), S. 347–372, hier: S. 349.
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durchwirkten Natur und ihrer prometheischen Benutzung gilt das Interesse dieser Studie. Wenn deshalb nicht nur eine, sondern mehrere Geschichten der Kraft erzählt werden, dann liegt genau darin eine methodische Pointe, die zuletzt als Lesehilfe mitgegeben sei. Kraft wird in dem vorliegenden Versuch nicht als operationalisierbarer Begriff behandelt, den es zu schärfen und für den kultur- oder literaturwissenschaftlichen Gebrauch bereitzustellen gälte. Im weiten Ausgriff auf Traditionen des Kraftdenkens soll vielmehr sichtbar gemacht werden, dass der Terminus Kraft vieles erklären soll, sich selbst aber der Erklärung recht konsequent entzieht. Kraft, so lässt sich aus ihren wechselnden Verhandlungen zwischen 1770 und 1830 lernen, ist selbst ein konzeptueller Proteus. Einige seiner Verwandlungen sollen in dieser Studie nach gezeichnet werden.
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dynamis, energeia, entelecheia: Traditionslinien des Kraftdenkens Am Anfang der uns bekannten Welt, so lässt Platon im Dialog Protagoras erzählen, dürfen Epimetheus und Prometheus alle von den Göttern geschaffenen Lebewesen mit Kräften (dynameis) beschenken. Epimetheus macht seine Sache zunächst gut. Manche Wesen erhalten Stärke (sthenos), andere bekommen Waffen wie Zähne oder Klauen, wieder andere stattet Epimetheus mit einer besonderen Schnelligkeit aus, die ihnen bei der Flucht vor Stärkeren hilft. Ihre jeweiligen Fähigkeiten sollen es den »sterbliche[n] Geschlechter[n]« erlauben, sich gegen andere Lebewesen durchzusetzen. Zusätzlich verleiht Epimetheus denen, die sich von anderen ernähren, »dürftige Zeugung«; hingegen jenen, die verzehrt werden, »eine vielerzeugende Kraft«.1 Ziel der epime theischen Kräfteverteilung ist also eine Balance, in der alle Lebewesen ihre Gattung erhalten können. Frank Egerton hat den Schöpfungsmythos des Pro tagoras deshalb als Beispieltext einer »providential ecology« behandelt, die bis zu Carl von Linnés balance naturelle gewirkt habe.2 Zugrunde liegt ihnen die Auffassung von einem in Zahlenverhältnissen organisierten und über die Zeit hinweg stabilen Gleichgewicht zwischen den Arten, das durch die jeweilig vergebenen Vermögen und Fähigkeiten garantiert wird. In Variation findet sich eine solche Balance-Vorstellung auch bei Aristoteles, der die Ausstattung einzelner Lebewesen als Verteilung endlicher Kräfte im Organismus beschreibt. Tiere, die über Hörner verfügen, haben nicht in beiden
1 Platon: Protagoras. In: ders.: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, hg. v. Gunther Eigler, Bd. 1. Darmstadt 62011, S. 114 (321a). Texte aus dieser Ausgabe werden im Folgenden zitiert mit Werktitel, Seitenzahl (Absatz). 2 Frank N. Egerton: Changing Concepts of the Balance of Nature. In: The Quarterly Review of Biology 48 (1973), S. 322–350, hier: S. 327.
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Kiefern Vorderzähne, mußte die Natur hier doch auf der einen Seite abziehen, was sie an anderer Seite aufgewendet hat. Aristoteles steht, so rekonstruiert Egerton, in der Tradition der Vorsokratiker, die nicht über ein Gleichgewicht zwischen den Spezies, sondern über ein kosmologisches Austarieren von »forces and elements« nachgedacht hätten.3 Eine solche Ökonomie der Kräfte prägt auch noch Goethes Morphologie und die dazugehörigen Kraftbegriffe. Dem »natürlichen Bildungstrieb«, so schreibt er in seinen frühen Entwürfen zu einem osteologischen Typus, sind »die Rubriken seines Etats, in welche sein Aufwand zu verteilen ist, [...] vorgeschrieben, was er auf jedes wenden will, steht ihm, bis auf einen gewissen Grad, frei«. So gilt, »daß keinem Teil etwas zugelegt werden könne ohne dass einem andern dagegen etwas abgezogen werde, und umgekehrt«.4 Der Dynamisierung dieses Prinzips in Goethes späten Überlegungen in den 1820er Jahren verdankt sich seine Reformulierung des Bildungstriebs als ›Tätigkeit‹, bei der weniger das intrinsische Drängen individueller Gestaltung als vielmehr der erst dem vergleichenden Blick ersichtliche Vorgang einer ständigen Umgestaltung erfasst ist. Kraft, so lässt sich dieser äußerst langlebigen Denkfigur der balance naturelle entnehmen, findet sich immer in komplexen Gefügen konkurrierender, einander begrenzender oder aufeinander wirkender Kräfte. Dies gilt sowohl für die Ordnung der Natur als auch für die schwierigen Verhandlungen zwischen Natur und Kultur. Denn Platon lässt im Schöpfungsmythos des Protagoras von der Ordnung unter den gerade geschaffenen natürlichen Lebewesen und von der anschließenden Gründung der menschlichen Kultur erzählen. Nachdem Epimetheus »alles übrige ausgleichend«5 verteilt hat, muss man feststellen, dass der Mensch leer ausgegangen ist. Er allein zeigt sich noch »nackt, unbeschuht, unbedeckt, unbewaffnet«.6 An dieser Stelle springt Prometheus ein, indem er den Menschen mit einer elementaren Naturkraft und dem besonderen Wissen um ihre Benutzung ausstattet. Prometheus stiehlt von Hephaistos das Feuer – in Hesiods Theogonie ist von der »Kraft unermüdlichen Feuers« die Rede – sowie von Athene die Kunst, mit diesem Element nutzbringend umzugehen.7 Auf diese Weise betätigt sich Prometheus als Stifter einer Kultur und ihrer Techniken, mit denen sich das vernachlässigte menschliche Tier nachträglich aufhelfen kann. Auch Prometheus ist aber nur bedingt erfolgreich. Um sich gegen andere Tiere verteidigen zu können, müssen sich die Menschen in
3 Egerton: Changing Concepts of the Balance of Nature, S. 328. 4 Goethe: Entwürfe zu einem osteologischen Typus 1795–1796, Goethe FA 24, S. 233. 5 Platon: Protagoras, S. 114 (321a). 6 Platon: Protagoras, S. 117 (321c). 7 Hesiod: Theogonie. Griechisch/Deutsch, übers. u. hg. v. Otto Schönberger. Stuttgart 1999, S. 47.
dynamis, energeia, entelecheia: Traditionslinien des Kraftdenkens
Gruppen zusammentun. Leider gelingt es ihnen noch nicht, in diesen Zweckverbünden eine gesellschaftliche Ordnung herzustellen. Von Zeus kommen deshalb zuletzt die Gaben des Rechts (dike) und der Ehrfurcht (aidos), mit deren Hilfe sich politische Gemeinwesen gründen und befestigen lassen. Die menschlichen Fähigkeiten (dynameis) umfassen seither, darauf wird im Protagoras später hingewiesen, Weisheit, Besonnenheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Frömmigkeit.8 Menschen sind damit Wesen, die der Wissenschaft wie auch der Tugenden bedürfen, um am Leben zu bleiben und ihre Gattung zu erhalten. Ihre Kräfte liegen nicht allein in ihrer körperlichen, physischen Ausstattung, sondern auch und gerade in ihren technischen, kulturellen und sozialen Fähigkeiten und Vermögen. Während sich im Protagoras Zeus und Prometheus in einem Verhältnis der Ergänzung befinden, tritt in anderen Bearbeitungen des Mythos ihr antagonistischer Charakter hervor. In der nur als Fragment überlieferten Tragödie Der gefesselte Prometheus lässt Aischylos gleich zu Beginn Kratos und Bia als Figuren auf die Bühne treten, die den Prometheus im Auftrag des Zeus im Kaukasus an einen Felsen schmieden sollen. Diese widernatürliche Gewalt (bia) und die in deutschen Übersetzungen meist als Kraft wiedergegebene Macht (kratos) gehören zwar ins weitere semantische Feld der deutschsprachigen Kraft, nicht aber der griechischen dynamis.9 Denn anders als in der dynamis, in der sich die Natur einer Sache und der Radius ihrer möglichen Aktions- und Reaktionsformen anzeigen, treten in kratos und bia Probleme der Dominanz, der Herrschaft und der Machtentfaltung und damit auch des Regelverstoßes und der über mäßigen Gewalt hervor. Zeus, so wird bei Aischylos ausgeführt, will mit den Mitteln der Gewaltherrschaft (tyrannis) sein neues Gesetz installieren. Wie Prometheus zuvor in seiner Rede an den Chor verraten hatte, verfügt er jedoch über eine besondere Fähigkeit, die ihn in eine überlegene Position versetzt. Denn er allein weiß, wie sich der unabwendbare Sturz, der auch dem gerade erst eingesetzten Zeus droht, vermeiden ließe: »Kein andrer Gott / Vermöcht es (dynait‘) außer mir ihm deutlich kundzutun«.10 Diese besondere dynamis des Prometheus ist eng mit seinem Wesen verbunden, das sich in seinem Namen, der Voraus-Wissende, ausspricht. Über den Konflikt zwischen Zeus und seinem entfernten Verwandten Prometheus verhandelt Aischylos hier auch das in der griechischen Theologie virulente Problem, Zeus’ Macht mit der Macht
8 Platon: Protagoras, S. 119 (322b). 9 Aischylos: Der gefesselte Prometheus. In: ders.: Tragödien, übers. v. Oskar Werner, hg. v. Bernhard Zimmermann. Düsseldorf/Zürich 62005, S. 469–539, hier: S. 473. Werner übersetzt kratos und bia mit Kraft und Gewalt. 10 Aischylos: Der gefesselte Prometheus, S. 527.
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des Schicksals zu vermitteln.11 Die Herrschermacht des Zeus ist derart von einer schicksalhaften Naturnotwendigkeit (ananke) überwölbt, dass er sich der Gewalt bedienen muss, um sich zumindest vorübergehend gegen den Lauf der Dinge zu behaupten. Dabei ist es vielleicht kein Zufall, dass sich die Macht des Zeus nur indirekt in der Befehlsgewalt über Kratos und Bia wie auch in den von ihm gesteuerten Naturgewalten von Blitz und Donner zeigt, mit deren »Gewalt« das Stück schließt.12 Nur die Wirkungen, nicht aber die Kräfte selbst lassen sich auf die Bühne bringen. Die zwischen Platon, Hesiod und Aischylos etablierte Ordnung prometheischer Kräfte verändert sich in modernen Mythenbearbeitungen auf bezeichnende Weise. In den antiken Erzählungen springt Prometheus ein, um die Kräfteverteilungen unter den Wesen zu korrigieren, die Menschen in Schutz zu nehmen oder der gewaltsamen Machtübernahme des Zeus ein Wissen um den schicksalhaften Gang der Natur entgegenzustellen. Zwar ist Prometheus, am deutlichsten wohl bei Hesiod, durchaus ein Frevler und Verbrecher, der bestraft werden muss. Erst in modernen Nacherzählungen des Mythos wird Prometheus aber zu demjenigen, in dessen Zeichen die Menschen die Grenzen ihrer eigenen Natur zu überschreiten versuchen. Statt Balanceversprechen steht hier die Drohung von Übermacht und Hybris im Vordergrund. Inspiriert von Ovids Metamorphosen, in denen Prometheus vom bloßen Ausstatter des Menschen zu seinem Schöpfer wird, bietet sich Prometheus in neuzeitlichen Adaptionen als Reflexionsfigur für die Künste und Wissenschaften an, in der sich immer wieder die schmerzhafte oder selbstbewusste Trennung von einer vorgefundenen Natur artikuliert.13 Plastisch tritt dies in Goethes früher (Anti-) Hymne Prometheus hervor, der sich von seinem Schöpfergott lossagen will und sich selbst zum Menschenschöpfer erklärt: Er habe dem Gottvater nichts zu verdanken und forme nun Menschen nach seinem eigenen Bild.14 In der romantischen Imagination Mary Shelleys, die ihren Frankenstein im Untertitel als The Modern Prometheus annonciert, führt der Traum, selbst Leben zu erzeugen, jedoch in einen Schauerroman.15 Das aus Leichenteilen zusammengesetzte und durch Elektrizität zum Leben erweckte monströse Wesen verfolgt den Wissenschaftler bis zum Ende als dessen Nemesis. In der Tradition romantischer Wissenschaftskritik verkörpert Prometheus bis heute eine menschliche 11 Zeus, darauf hat Max Jammer hingewiesen, steht zwar »for the all-pervading force of nature«, ist aber insofern nicht allmächtig, als moira noch über ihm steht. Max Jammer: Concepts of Force. A Study in the Foundation of Dynamics. Cambridge, MA 1957, S. 22. 12 Aischylos: Der gefesselte Prometheus, S. 537. 13 Ovid: Metamorphosen, Lateinisch/Deutsch, hg. v. Michael von Albrecht. Stuttgart 1994, S. 28–35. 14 Goethe: Prometheus, Goethe FA 1, S. 203–204. 15 Mary Shelley: Frankenstein or The Modern Prometheus, hg. v. Marilyn Butler. Oxford 1993.
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Macht über die Natur, die den neuzeitlichen Forschungsdrang wie ein Schatten begleitet. Überlebensgroß, übermächtig und entsprechend überheblich steht Prometheus für Kraftdemonstrationen, die im Zeichen kultureller Verstärkungen aus den Ordnungen der Natur austreten. An der hier nur mit wenigen Strichen umrissenen Figur des Prometheus lassen sich wichtige Traditionslinien des aus der Antike in das 18. und frühe 19. Jahrhundert führenden Kraftdenkens einzeichnen, die sich langfristig als dessen Bruchlinien erweisen werden. Denn was sich als wichtige Differenz zwischen den begrifflichen Profilen des deutschen Worts Kraft und der griechischen dynamis herausstellen wird, ist in antiken Kraftsemantiken als Spannung zwischen dynamis, energeia und entelecheia, weiter gefasst auch zwischen kratos (Herrschaft) und deinos (Schrecken, Gewalt) enthalten. Kraft, so informiert das Grimm’sche Wörterbuch, bedeutet im alltagssprachlichen Gebrauch in erster Linie »muskelkraft, leibeskraft, körperkraft, manneskraft, heldenkraft, riesenkraft«.16 Abgeleitet sei dies von der lebensweltlichen Erfahrung der »kraft des armes«. Für die sich steigernden Variationen leistungsstarker Kräfte vom Muskel über den Helden zum Riesen stehen die modernen Bilder vom Titan Prometheus. Von dieser ersten, vor allem mit Stärke und Gewalt assoziierten Bedeutung von Kraft wird bei Grimm eine zweite, »mehr ins seelische übergehend[e]« Bedeutungsdimension unterschieden. Diese zeige sich in Redeweisen wie »kraft der ganzen persönlichkeit, lebenskraft, jugendkraft, spannkraft, thatkraft, arbeitskraft, urkraft, vollkraft, als äuszerung der natur, naturkraft«. Entscheidend sei, dass für diese weiteren, im Grunde übertragenen Bedeutungsmöglichkeiten die lexikalischen Varianten »stärke oder macht oder gewalt unbrauchbar« als Umschreibungen seien.17 Grundsätzlich sei Kraft also »theils als kraftvoller zustand, theils als fähigkeit oder trieb zu einer wirkung« aufzufassen. Der zweite hier identifizierte Bedeutungsbereich der Kraft kommt weitgehend mit der griechischen dynamis zur Deckung, zeigen die Komposita doch meist dasjenige an, zu dem die besondere Kraft disponiert und wohin sie drängt, sei es zur Tat, zur Arbeit oder zum Leben. Während sich die prometheischen Kräfte der Moderne eher mit punk tuellen Überschreitungsphänomenen assoziieren, wird unter dynamis im antiken Denken das grundsätzlich gegebene Vermögen oder die Möglichkeit verstanden, etwas zu tun. Wenn es neben einer Sehkraft, Muskelkraft oder Fortpflanzungskraft auch eine dynamis der Mathematik, der Sternkunde, der Baukunst oder der Medizin gibt, dann betrifft dies außer natürlichen Anlagen
16 Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 11, Sp. 1931, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, , abgerufen am 28. 05. 2021. 17 Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 11, Sp. 1935.
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auch kulturelle Praktiken.18 In diesem Sinn wird im Phaidros die »Kraft (dynamis) der Rede« besprochen, die sich einer besonderen Kunst (techne) der »Seelenleitung« verdankt und wie die Medizin auf dem Wissen um die Seele beruht. 19 Unterschiedliche Kräfte haben aber nicht nur Menschen oder Tiere, wenn sie in einer Sache eine besondere Tüchtigkeit an den Tag legen. Vielmehr verfügt alles in der Natur über eigene Möglichkeiten. So haben neben Lebewesen auch Dinge, Materialien und Elemente wie die Planeten, das Holz oder das Feuer je eigene Vermögen. In einer dynamis, davon geht Platon aus, komme das Wesen einer Sache zum Tragen, sei doch jedes Vermögen »eine gewisse Art des Seienden«.20 Anders als das deutsche Wort Kraft, das sich nur mit aktiven Leistungen und Tätigkeiten verbindet, umfasst die dynamis in diesem Zusammenhang auch die Möglichkeit, zum Gegenstand einer Einwirkung zu werden. Es gehört zum Wesen des Feuers, etwas verbrennen zu können, wohingegen das Wesen oder eben die dynamis des Holzes darin besteht, verbrannt zu werden. Dieser Doppelaspekt von Aktivität und Passivität wird bei der sinnlichen Wahrnehmung relevant, wenn sich die Fähigkeit zu sehen als Empfänglichkeit für die Einwirkung des Lichts bestimmen lässt, weil hier inneres und äußeres Feuer interagieren.21 An die Diskussion der dynamis knüpfen sich schon bei Platon epistemische Fragen, die das Kraftdenken weiter begleiten werden. Die Kräfte, so wird in der Politeia besprochen, lassen sich nur indirekt erkennen. Denn [...] an einem Vermögen sehe ich weder Farbe noch Gestalt, noch etwas dergleichen, wie an vielem anderen, worauf ich nur sehen muß, um mir bei mir selbst einiges zu unterscheiden, daß das eine dieses ist, das andere jenes. Bei einem Vermögen aber sehe ich lediglich danach, worauf es sich bezieht und was es bewirkt, und danach pflege ich ein jedes Vermögen als ein einzelnes zu benennen [...].22
18 Platon: Hippias II, Werke, Bd. 1, S. 51–55 (366b–c). 19 Platon: Phaidros, Werke, Bd. 5, S. 165 (271b). 20 Platon: Politeia, Werke, Bd. 4, S. 457 (477d). Die Argumentation zielt eigentlich darauf, die Vermögen der Erkenntnis und der Vorstellung (episteme und doxa) und damit ihre jeweiligen Gegenstände zu unterscheiden. Im Sonnengleichnis im Buch VI wird das Verhältnis der Ideen zu den Vorstellungen über die Analogie zur Beziehung des Sehvermögens zur Sonne entwickelt. Platon: Politeia, S. 535–545 (507e–509a). 21 Platon: Timaios, Werke, Bd. 7, S. 77 (45c). Aus dieser bei Aristoteles ausgearbeiteten Passgenauigkeit von Wahrnehmungsorganen und wahrgenommener Welt, die sich auch als Anpassung von Lebewesen an ihre Umwelt beschreiben lässt, begründet Wolfgang Welsch gegen konstruktivistische Argumente die Weltrichtigkeit der Wahrnehmung. Vgl. Wolfgang Welsch: Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der aristotelischen Sinneslehre. Stuttgart 1987; Wolfgang Welsch: Wahrnehmung und Welt. Berlin 2018. 22 Platon: Politeia, S. 457 (477d).
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Weil die Vermögen der Wahrnehmung nicht zugänglich sind, muss man sich zu ihrer Einteilung an dem orientieren, was sie jeweils bewirken und worauf sie sich richten. Das Problem der Beobachtbarkeit wird die neuzeitlichen Kraftreflexionen nachhaltig prägen. Ontologischer Charakter, epistemische Entzogenheit sowie die Doppelung von Aktivität und Passivität bestimmen nicht nur die Bestimmungen der dynamis bei Platon. Sie prägen auch die aristotelischen Begriffsprägungen der energeia und der entelecheia. Die Abgrenzung zwischen dynamis und energeia, die auf den indirekten Einspruch des Aristoteles gegen Platons Metaphysik der Kraft zurückgeht, ist äußerst folgenreich für die Geschichte der Kraft.23 Im neunten Buch der Metaphysik behandelt Aristoteles zwei Begriffe, aus deren Beziehung der neuzeitliche Kraftbegriff einen Gutteil seiner inneren Spannung bezieht. Abgeleitet von dem Wort ergon, das grundsätzlich sowohl Arbeit als auch Werk heißen kann, bezeichnet der vermutlich von Aristoteles geprägte Neologismus energeia den Vorgang, der zu einem solchen Werk führt. In einem Dreischritt aufgefasst meint dynamis wie schon bei Platon die Möglichkeit oder das Vermögen, etwas zu tun; unter energeia versteht Aristoteles die »wirkliche Tätigkeit« in Gestalt einer Realisierung oder Aktualisierung dieser Möglichkeit, die ihrerseits abgeschlossen ist, sobald sie zu einem Werk (ergon) geführt hat. Dynamis wird dabei grundsätzlich definiert als »Prinzip der Veränderung in einem anderen oder in ein und demselben, insofern es ein anderes ist«.24 Mit der Betonung der Veränderung – oder wörtlicher: des Umschlags (metabole) – findet der Aspekt der Zeit Eingang in die Definition, lassen sich Veränderungen doch nur im Vergleich zwischen zwei Zeitpunkten ablesen. Während energeia als Zustand der Aktualisierung an einen zeitlichen Verlauf gebunden ist, in dem sich eine Veränderung vollziehen kann, scheint die dynamis als Prinzip oder Ursprung dieser Veränderung der Zeit entzogen zu sein. Insofern verhalten sich beide zueinander wie Ursache und Wirkung – ein Verhältnis, das in den neuzeitlichen Diskussionen um die Kraft als verborgener Grund oder aber als offen zutage liegende Wirkung nachwirkt. Aristoteles expliziert den Begriff der dynamis, indem er die bei Platon in unterschiedlichen Argumentationszusammenhängen aufscheinenden Eigenschaften zusammenführt. Auch bei Aristoteles hat die dynamis einen aktiven wie einen passiven Aspekt, insofern sie gleichermaßen dazu disponiert, etwas zu tun, wie auch dazu, etwas zu erleiden. Beide Aspekte lassen sich, so systematisiert Aristoteles, als negative und als positive Qualität ausdrücken, so
23 Dazu grundsätzlich Christof Rapp (Hg.): Aristoteles’ Metaphysik. Die Substanzbücher (Ζ, Η, Θ). Berlin 1996; Jonathan Beere: Akt und Potenz. In: Christof Rapp/Klaus Corcilius (Hg.): Aristoteles Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 22021, S. 193–198. 24 Aristoteles: Metaphysik. Griechisch-Deutsch, übers. v. Hermann Bonitz, hg. v. Horst Seidl. Hamburg 1991, S. 103 (1046a).
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dass nicht nur von einem Vermögen, sondern auch von einem Unvermögen die Rede sein kann. Anders als in Platons Ion impliziert, können die Vermögen aus Aristoteles’ Sicht entweder angeboren – wie etwa die Sinne – oder aber durch Übung oder Unterricht erworben sein. Eine hier anzuschließende Unterscheidung betrifft die dynamis im Vernünftigen und die dynamis im Unvernünftigen. Künste und Wissenschaften sind vernünftige Vermögen, insofern man sich entscheiden kann, sie auszuüben oder nicht auszuüben. Die Wärme etwa ist eine unvernünftige, im Unbeseelten anzutreffende dynamis. Sie muss wärmen, weil sie nicht nicht wärmen kann, und sie kann nur wärmen, weil sie nicht kühlen kann. Die Heilkunst hingegen ist ein vernünftiges, da nur im Beseelten anzutreffendes Vermögen, in dem ein Moment des inneren Antriebs und der Volition enthalten ist: »ich meine hierbei das Strebungsvermögen oder den Vorsatz. Denn was das vernünftige Vermögen entscheidend erstrebt, das wird es tun, falls dies dem Vermögen gemäß vorhanden ist und es sich dem des Leidens Fähigen nähert«.25 Anders als ein neuzeitlich reduzierter, stark an ein Kausalitätsdenken geknüpfter Begriff der Kraft als Ursache einer Wirkung sind bei Aristoteles Strebungen, Absichten und Zwecke, mithin Vorstellungen von Finalität entscheidend für seine Konzeptualisierung von dynamis und energeia. Vor allem aber will Aristoteles der energeia die logische, chronologische wie ontologische Priorität vor der dynamis einräumen.26 Insofern in jedem Tun weniger Ursprung und Idee als vielmehr Ende, Zweck und Ziel Priorität haben, hat die energeia aus der Sicht des Aristoteles Vorrang vor der dynamis. Die
25 Aristoteles: Metaphysik, S. 115 (1048a). 26 Dabei ist wichtig, dass Aristoteles zwar einerseits gegen die Megariker darauf besteht, dass dynamis von energeia insofern unabhängig ist, als es das Vermögen ohne gerade gegebene Ausübung geben kann. Schließlich sei es richtig, von einem Baumeister zu sagen, dass er im Prinzip bauen kann, auch wenn er gerade nichts baut. Begreift man dynamis als modale Beschreibung eines Sachverhalts, so ist sie im Sinne der Möglichkeit der energeia als Wirklichkeit nachgeordnet. Epistemologisch ist dies ebenfalls einleuchtend, kann der Begriff von einem Vermögen doch nur aus der Anschauung einer Wirklichkeit gewonnen werden. Aristoteles macht aber auch ein zeitliches Argument geltend. Nur wer schon einmal gebaut, sich also im Bauen geübt hat, erwirbt das Vermögen zu bauen. Wenn das Tun vor dem Können Vorrang hat, dann kommt hier die teleologische Ausrichtung des aristotelischen Denkens zum Ausdruck. Einen genauen Kommentar wie auch eine kritische Einschätzung (›is it a good theory?‹) der Passagen bietet Ludger Jansen: Ein systematischer Kommentar zu Aristoteles’ Theorie der Vermögen im neunten Buch der Metaphysik. Wiesbaden 22016. Zum modallogischen Möglichkeitsbegriff vgl. auch die Neuauflage von Ursula Wolf: Vermögen und Möglichkeit. Die Lehre des Aristoteles und die Debatte in der analytischen Philosophie [1979]. Wiesbaden 22020; Zu dynamis und energeia als ontologischen Begriffen des uneigentlichen und eigentlichen Seins vgl. Josef Stallmach: Dynamis und Energeia. Untersuchungen am Werk des Aristoteles zur Problemgeschichte von Möglichkeit und Wirklichkeit. Maisenheim am Glan 1959.
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energeia und nicht die dynamis wird damit zur arche, zum begründenden Prinzip der Metaphysik. Als reine Tätigkeit (actus purus) des unbewegten Bewegers hat diese Hervorhebung der energeia (lateinisch: actus) vor der dynamis (lateinisch: potentia) die mittelalterliche Scholastik und noch die neuzeitliche Metaphysik beschäftigt.27 Bemerkenswert und überaus anregend für die neuzeitlichen Kraftvorstellungen war schließlich auch der von Aristoteles benutzte, wenn auch in den aristotelischen Schriften selbst nicht besonders intensiv diskutierte Begriff der entelecheia. Wörtlich aufgefasst als das, was sein Ziel in sich hat, konnte sich im Entelechie-Begriff das aus dem neuzeitlichen Kraftbegriff eher herausgehaltene teleologische Denken konzentrieren. Für ästhetische Kraftvorstellungen war nicht zuletzt die Verbindung von Entelechie und Formbegriff inspirierend, die zunächst vor allem Formen des Lebendigen meint, von hier aus aber auch zur Reflexion auf künstlerische Formprobleme einlädt. Im neunten Buch der Metaphysik führt Aristoteles den Begriff der entelecheia ein, um die aus dem Stoff verwirklichte Form (eidos) zu bezeichnen. Unterschieden wird zwischen denjenigen Dingen, deren Möglichkeiten durch etwas von außen Hinzutretendes realisiert werden, sowie denjenigen Dingen, die in sich »selbst das Prinzip des Entstehens« haben, die also »durch sich selbst« werden.28 Entelechie erscheint in diesem Zusammhang als eine Kraft, die nicht so sehr Bewegung als vielmehr Formbildungen verantwortet. Grundsätzlich ordnet Aristoteles den Stoff (hyle) dem Vermögen der dynamis zu, der dann in der Tätigkeit der energeia oder der vollendeten Wirklichkeit der entelecheia zur Form (eidos) kommt.29 Dabei sei es aber nicht so, dass die Erde bereits »der Möglichkeit nach eine Bildsäule sei; denn sie müßte erst durch Veränderung Erz werden«.30 Der Stoff erscheint als begrenzte und begrenzende Matrix, aus der sich nicht alle, sondern nur bestimmte Formen verwirklichen lassen. Erst zum Erz verwandelt kann Erde also ein Standbild werden, Holz hingegen trägt die Möglichkeit, zu einem Kasten zu werden, bereits in sich. Gleichwohl ist dieser Kasten dann aber hölzern, und nicht Holz – mit dieser Beobachtung
27 Eine umfassende Ideengeschichte der dynamis von den Aristoteleskommentaren des Mittelalters über die Geschichte der Metaphysik von Hegel, Hartmann über Heidegger bis Agamben liegt nicht vor und wäre wohl eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Zu einzelnen Stationen und Aspekten vgl.: Giorgio Agamben: Die Macht des Denkens. In: ders.: Die Macht des Denkens. Frankfurt a.M. 2005, S. 313–330. 28 Aristoteles: Metaphysik, S. 121 (1049a). 29 So schließt er seinen Gedanken ab »Hieraus erhellt also, daß das Wesen und die Form (eidos) wirkliche Tätigkeit ist«. Aristoteles: Metaphysik, S. 127 (1050b). 30 Aristoteles: Metaphysik, S. 121 (1049a). In der Kunsttheorie der frühen Neuzeit wird man diese Gegenstellung neu interpretieren, mithin als im Stoff bereits angelegte, zur Verwirklichung drängende Formen. Michel Jeanneret: Perpetual Motion. Transforming Shapes in the Renaissance from da Vinci to Montaigne. Baltimore/London 1997.
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argumentiert Aristoteles für den Vorrang des Aktualisierten vor der Möglichkeit. Formen verdanken sich nicht schon der dynamis des Stoffes, da sie erst in der Tätigkeit und Vollendung, der energeia und entelecheia, als solche hervortreten.31 Als einem der Seele oder aber dem Lebendigen inhärenten Drang zur Formgewinnung wird die entelecheia von der mittelalterlichen Naturphilosophie bis zu Theorien der inneren Form (Buffon) und des nisus formativus (Blumenbach) weiter diskutiert. In Leibniz’ Monadenlehre gewinnt sie, interpretiert als das in einer Sache angelegte Streben nach Vervollkommnung, begriffliche Kontur und liefert für Herders wie auch für Goethes Denken der Natur wichtige Stichworte – die Weiterentwicklungen und Korrekturen an dem teleologischen Grundzug der Entelechie werden noch zu diskutieren sein.32 Wie sich die als Vorgang gedachte energeia auf der einen Seite von den Zielzuständen des Werks und der Vollendung (ergon und entelecheia) unterscheidet, in denen sie endet, so grenzt sie sich auf der anderen Seite von der kinesis als Veränderung oder Bewegung ab.33 Kennzeichen der kinesis ist es für Aristoteles nicht nur, grundsätzlich unvollendet zu sein, sondern sich auch gar nicht auf ein Ziel zu richten, in dem sie aufgehen könnte. Über die kinesis, die neben der Ortsveränderung geworfener Steine auch das Gesund- oder Krankwerden oder das Wachsen und Schwinden lebendiger Wesen bis hin zu mentalen Vorgängen wie etwa das Lernen betreffen kann, informiert Aristoteles’ Über die Seele genauer.34 Dort vertritt Aristoteles die Ansicht, dass die Seele
31 Auch in der Schrift Über die Seele fasst Aristoteles die Seele als entelecheia, die der Materie zur realisierten Form verhilft. Der Vergleich mit einer aus Wachs geformten Figur soll hier den Umstand veranschaulichen, dass zwar der Stoff die Möglichkeiten der Formgewinnung vorgibt, die Seele aber das eigentliche Formprinzip und damit die Vollendung (entelecheia) des Körpers bildet. Aristoteles: Über die Seele. Griechisch-Deutsch, hg. v. Horst Seidl, übers. v. Wilhelm Biehl u. Otto Apelt. Hamburg 1995, S. 61 u. 62 (412a). 32 Während der bei Aristoteles ohnehin nicht systematisch ausgearbeitete Bedeutungs unterschied zwischen energeia und entelecheia in der mittelalterlichen Scholastik ganz verloren geht, wird er in medizinischen und pharmazeutischen Texten des späten Mittelalters und der der Frühen Neuzeit aufgegriffen, von wo aus er dann im 17. und 18. Jahrhundert vor allem im Zusammenhang von Problemen des Lebendigen eingesetzt wird. Vgl. Winfried Franzen/ Konstantin Georgulis: Entelechie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J oachim Ritter, Bd. 2. Basel 1972, S. 506–508. Grundlegend dazu Uwe Arnold: Die Entelechie. Systematik bei Platon und Aristoteles. Oldenburg 1965; Zu den vitalistischen Spielarten Alwin Mittasch: Entelechie. München 1952; Klaudia Hilgers: Entelechie, Monade und Metamorphose. Formen der Vervollkommnung im Werk Goethes. München 2002. 33 Die Unterscheidung zwischen energeia und kinesis rekonstruieren und problematisieren: John Ackrill: Aristotle’s Distinction between Energeia and Kinesis. In: Renford Bambrough (Hg.): New Essays on Plato and Aristotle. London 1965, S. 121–142; Michael Thomas Liske: Kinesis und Energeia bei Aristoteles. In: Phronesis 36 (1991), S. 161–178. 34 Hier werden vier Typen der Bewegung unterschieden: »Ortsbewegung, Veränderung, Schwinden und Wachstum«. Aristoteles: Über die Seele, S. 25 (406a). Die hier mit Bezug auf
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»von den sinnlich wahrnehmbaren Dingen bewegt« werde.35 Deshalb wird die kinesis bei Aristoteles auch dort relevant, wo die ineinander greifenden Verfahrensweisen der Wahrnehmung und der Vorstellung (phantasia) beschrieben werden. Im fünften Kapitel des dritten Buchs fasst Aristoteles die phantasia als denjenigen Vorgang, bei dem Wahrnehmungen als Vorstellungen vor das innere Auge (pro ommaton) gebracht werden. Dabei soll »die Vorstellung eine Bewegung sein, welche durch die in Wirklichkeit sich vollziehende Wahrnehmung entsteht«.36 Das von den Objekten in Tätigkeit (energeia) versetzte Wahrnehmungsvermögen regt also seinerseits die Vorstellung an und setzt diese in Bewegung (kinesis). Dieses Modell wird sich als wichtig für jene Dichtungsund Redelehren erweisen, die sich mit den Möglichkeiten einer Mobilisierung der Vorstellungskraft befassen. Die bei Platon und Aristoteles entfalteten Semantiken von dynamis, energeia und entelecheia entpuppen sich somit als durchaus komplex. Die dynameis sind Vermögen, die zur Bezeichnung von physischen und mentalen Fähigkeiten über Tugenden bis hin zu besonderen kulturellen Fertigkeiten dienen. Dabei bezeichnen sie neben mechanischen Ursachen auch zweckorientierte Strebungen und Neigungen. Vor allem aber ist die dynamis in den Grundlegungen bei Platon und Aristoteles nicht zwingend mit Assoziationen des besonders Starken, Intensiven, Mächtigen oder Gewaltsamen ausgestattet. Anders als bia, die gegen Widerstände aufgebrachte, widernatürliche Gewaltsamkeit, meint die dynamis ein in den Dingen angelegtes Vermögen. Die innere Spannung des deutschen Worts Kraft, das zwischen prinzipiellem Vermögen und besonderer Stärke schwankt, führt zu einem engeren Verhältnis der Kraft zu den Nachbarund Gegenbegriffen Herrschaft, Gewalt, Schrecken, Bewegung (kratos, bia, deinos, kinesis). Denn das deutsche Wort Kraft meint eben nicht nur das Vermögen im Sinne einer Fähigkeit (dynamis), die dazu disponiert, etwas zu tun. Vielmehr bezeichnet Kraft auch den Fall ihrer Aktualisierung (energeia), die sich als besondere Macht oder Stärke – im noch aufzuzeigenden rhetorisch-poetischen Extremfall auch als Erschütterung, Überwältigung und Destruktion – manifestieren kann. Die von Platon und Aristoteles konturierten Konzepte von dynamis, energeia und entelecheia gehen über die lateinischen Rhetoriken und Dichtungslehren in die neuzeitlichen Kunst- und Dichtungslehren ein, wo sie sowohl Fragen emotionaler Mobilisierung als auch der Formbildung zu diskutieren helfen. Diese enger auf Fragen der Kunst- und Dichtungsreflexion bezogenen
die Seele diskutierte Differenz zwischen einer natürlichen und einer widernatürlichen Bewegung (bia) wird insbesondere in der Physik relevant. 35 Aristoteles: Über die Seele, S. 27 (406b). Dies wird später noch einmal aufgegriffen, Aristoteles: Über die Seele, S. 151 (427a). 36 Aristoteles: Über die Seele, S. 165 (429a).
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Diskurslinien, die schließlich auch ins Zentrum der kunsttheoretischen Kraft reflexionen des 18. Jahrhunderts führen, werden im zweiten Teil dieser Studie weiterverfolgt. Zuvor ist zu zeigen, wie die Vielfalt antiker Kraftvorstellungen zu gedanklichen Komplikationen führt, die in der Naturlehre des 17. und 18. Jahrhunderts hervortreten. Einen Kernpunkt der naturphilosophischen und naturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen, in denen Kraft einerseits als Möglichkeit, etwas Bestimmtes herbeizuführen, andererseits als berechenbare, mathematisch bestimmbare Größe gefasst wird, bildet weniger der Widerspruch zwischen Disposition und Disruption. Vielmehr stellt sich in der Naturkunde die Frage, ob man mit dem Wort Kraft eine hinter den Phänomenen liegende verborgene Ursache und in letzter Instanz eine qualitas occulta bezeichnen will, oder ob man Kraft (vis) nicht eher als Wirkung und damit als eine in ihren messbaren und formalisierbaren Effekten erfassbare Größe behandeln soll. Wenn im Folgenden Positionen von Newton, Leibniz und Kant diskutiert werden, dann geht es um die Darstellung eines Konflikts, der in den Begriffen vis und Kraft angelegt ist und der sich in den Begriffsdebatten nicht restlos auflösen lässt.
Mechanismus und Dynamismus: Der Ort der Kraft in der Natur (Newton, Leibniz, Kant) Das 18. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert Newtons. Indem er die auf der Erde geltenden Fall- und Stoßgesetze mit der Theoretisierung der Planeten bewegungen zusammenführt, setzt Newton einen neuen Standard für die mathematische Behandlung physikalischer Probleme und weckt zugleich Hoffnungen auf ein einheitliches Erklärungsmodell der Natur. Allen beobachtbaren Naturerscheinungen, davon ist der Verfasser des 1737 publizierten Artikels »Krafft« in Zedlers Universallexicon überzeugt, liegen Kräfte zugrunde, die sich idealerweise nach den von Newton formulierten Gesetzen beschreiben lassen. Die Aufgabe der Naturforschung liege darin, diese Kräfte aufzu finden, sie nach Ähnlichkeiten zu ordnen und zu klassifizieren, um »sich einen allgemeinen Begriff von ihnen zu machen«.37 Damit verbindet sich das Versprechen, sowohl anorganische als auch organische Naturen und deren 37 Krafft. In: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste 1731–1754, Bd. 15. Halle/Leipzig 1737, Sp. 1662–1721, hier: Sp. 1664. Ihr Wirken lässt sich aus dem Grundprinzip des Widerstreits begreifen, insofern jede Kraft in ihrer Wirkung nur durch eine andere Kraft aktiviert und bemerkbar wird. In der Sprache des Zedler-Artikels sind dies die Phänomene von Anziehung und Repulsion, die sich als zusammenbringende »Vires Cohaesionis, attractiva« und auseinandertreibende »Vires fugae, repellentes« zeigen. Diese Dualität der Kräfte, die strenggenommen nicht unterschiedliche Kräfte, sondern unterschiedliche Betrachtungsweisen der Interaktion zwischen bewegten Körper betreffen, will man für kinetische wie für chemische Kräfte geltend machen. Kräfte zeigen
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Seelentätigkeiten als geordnete, bestimmbaren Regeln folgende Bewegungen zu beschreiben. Dabei soll es nicht nur um ausgedehnte Körper gehen, die einander anstoßen oder ablenken, beschleunigen oder bremsen. Im Artikel werden auch einige Möglichkeiten vorgeschlagen, die »Kräfte der Repräsentation« oder vires metaphysicae – also Wahrnehmung, Einbildung und Vorstellung – nach derartigen Bewegungsgesetzen aufzufassen: Wenn wir sehen sollen, so muß ein Liecht-Strahl die Retinam unsers Auges in eine vibratorische Bewegung setzen, und dieser respondieret die Repraesentation eben desselbigen Objecti, so in das Auge strahlet, in unseren [sic] Seele. Wir empfinden einen Schall, wann ein vibrirender Cörper die Lufft in eine Wellenartige Bewegung bringet, welche das Tympanum unser Ohrs tremulirend machet, und mit einer solchen verschiedenen Tremulation harmoniret, auch eine verschiedene Empfindung des Schalls in unserer Seele. Sollte sich hier nicht eine Aehnlichkeit zwischen denen Kräfften der Seelen und denen bewegenden Kräfften finden?38 Die Antwort auf diese Frage muss der Verfasser schuldig bleiben, berührt sie doch das keineswegs geklärte Problem des Leib-Seele-Verhältnisses (influxus physicus), das als gelegentliche Wechselwirkung (›Okkasionalismus‹) oder mit Leibniz als ›prästabilierte Harmonie‹, also als eine im Moment der Schöpfung ideal eingestellte Korrespondenz gedacht werden kann. Die Auseinandersetzungen betreffen den problematischen Ursprung und damit das Wesen der Kraft. Wirken immaterielle Kräfte von außerhalb auf eine gleichsam tote Materie ein? Ist die Materie selbst kraftbegabt? Sind in der Materie womöglich sogar eigengesetzliche, selbsttätig strebende Kräfte anzusetzen? Mit den Namen Descartes, Newton und Leibniz sind drei im 17. Jahrhundert ausgearbeitete Varianten einer Situierung der Kraft mal innerhalb und mal außerhalb der Materie aufgerufen, von denen die Kräfteauffassungen des 18. Jahrhunderts geprägt sind. Die Positionen reichen von einem mit dem cartesianischen Dualismus assoziierten Mechanizismus, demzufolge eine als res extensa gedachte Materie von außen bewegt werden muss, bis zu einem an Leibniz, in beschränktem Maß auch an Newton anschließenden Dynamismus, in dem Materie und Raum entkoppelt und das Maß der Kraft aus der Masse, mithin einer Eigenschaft der Materie abgeleitet wird. Denn schon Newtons Physik eröffnet eine Perspektive auf die Natur, die mehr ist als eine allein durch ihre räumliche Ausdehnung bestimmte res extensa. Natur ist das Gefüge schwerer Körper, denen ein an ihre Masse gebundenes Kraftquantum mitgegeben sich immer im Zusammenspiel, sei es in den Gegenbewegungen des Verbindens und Scheidens, Ausdehnens und Zusammenziehens, Erwärmens und Abkühlens. 38 Zedler: Krafft, Sp. 1666.
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ist.39 Während Newton diese eingepflanzte Kraft als Trägheit auffasst, möchte Leibniz den Geltungsbereich der vis insita derart ausdehnen, dass sowohl die Selbsttätigkeit lebendiger Organismen als auch die Verhaltensweisen einer als Monade verstandenen Seele darunterfallen kann. Die Theoretisierung unbelebter und belebter Körper teilt sich dabei noch nicht auf die heute unterschiedenen Felder der Physik, Chemie und Biologie auf, sondern durchquert die unterschiedlichen Bereiche dessen, was unter den Namen der Naturkunde, Naturgeschichte oder auch der Physik in einem sehr allgemeinen Sinn behandelt wird. Und so wie Planeten oder Billardkugeln einmal als Massen mit den ihnen eigenen Kräften, einmal als von außen bewegte ausgedehnte Körper beschrieben werden können, so zeigt sich auch das Lebendige den einen als unendlich fein austarierte Maschine, den anderen als Produkt intrinsischer Entwicklungskräfte. So lässt sich mit dem Verfasser des Zedler-Artikels fragen, ob »diese angeführten Kräffte dem Cörper vor sich beywohnen oder anders woher ihren Ursprung haben«?40 Wo also ist der Ort der Kraft? Die Begriffe Mechanik und Dynamik sowie Mechanismus und Dynamismus, deren Bedeutungsextension sich je nach Fragerichtung verschieben, können hier zunächst orientieren. Im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit arbeitet man mit der Begriffstrias Mechanik, Kinetik und Dynamik, um eine Bewegungswissenschaft im Allgemeinen, eine Mechanik, von einer Wissenschaft von den Ursachen dieser Bewegungen, einer Dynamik, zu unterscheiden. Für die Situation des 14.–17. Jahrhunderts ist dabei entscheidend, dass der Physik als Wissenschaft von der physis im weiten Verständnis die Untersuchung all jener Dinge obliegt, »die den Ursprung der Bewegung in sich selbst haben«.41 Die Mechanik befasst sich demgegenüber mit dem eingeschränkten Bereich nichtnatürlicher, mithilfe von Geräten und Vorrichtungen (mechanai) hervorgerufener Bewegungen. Als Teilbereich der Mechanik befasst 39 Die Kontroversen um die Auslegung des Newton’schen Kräftedenkens zieht sich bis in die geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Darstellung. So betont Panajotis Kondylis eher diejenigen Aspekte, die gerade in der Newton-Rezeption Argumente für eine Situierung der Kraft in der Materie sammeln. Während Newton selbst nur die vis inertia als vis insita, also als eine in der Materie wirkende Kraft betrachtet, wollen Newton-Nachfolger wie etwa Maupertuis oder Voltaire »die Anziehungskraft als reale physische Eigenschaft der Materie« betrachten. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1981, S. 222. Alexandre Koyré hingegen rekonstruiert ein in seinen publizierten Schriften freilich schwer greifbares theologisches Weltbild, das eine »nicht zur Materie gehörende nicht-mechanische, immaterielle und sogar ›geistige‹ Energie« annimmt. Alexandre Koyré: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum [1957]. Frankfurt a.M. 1980, S. 190. 40 Zedler: Krafft, Sp. 1680. Zedler behilft sich hier mit der Unterscheidung in eine vis primitiva als erste Ursache und eine derivative Kraft als eine davon abgeleitete zweite Ursache. 41 Michael Wolff: Geschichte der Impetustheorie. Untersuchungen zum Ursprung der klassischen Mechanik. Frankurt a.M. 1978, S. 24.
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sich die Dynamik also zunächst nur mit der Ursachenforschung nichtnatürlicher Bewegungen.42 Im 18. Jahrhundert bildet sich jedoch eine veränderte Auffassung von Mechanik heraus. Hatten es die mechanischen Künste seit dem Mittelalter mit »widernatürlichen, erzwungenen, künstlichen Bewegungen zu tun, die nicht eigentlich zur Physik gehören«, so verändert sich diese Auffassung in der neuzeitlichen Naturforschung dahingehend, dass nun »gerade die Mechanik« als Anhalt für eine »adäquate Naturerkenntnis« gilt.43 Blickt man von der Frühen Neuzeit auf das 18. Jahrhundert, so scheint eine so gefasste Mechanik das wichtigste Leitmodell für die Ästhetik der Kraft zu bilden. Nimmt man jedoch die Gemengelage zumal des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts in den Blick, dann taugt der Begriff der Mechanik kaum als Paradigma für die zunehmend verwickelte Diskussion um das Wesen der Kräfte und ihren Ort in einer Natur, die man in geistes- und ideengeschichtlichen Darstellungen sowohl als mechanistisch als auch als dynamistisch beschrieben hat. Panajotis Kondylis hat im Rahmen seiner These von der Aufwertung der Sinnlichkeit in der Aufklärung das Kräftedenken des 18. Jahrhunderts zwischen den Radikalpositionen des cartesianischen Dualismus und eines in unterschiedlichen Schattierungen vertretenen Monismus rekonstruiert und als geistesgeschichtliche Verschiebung »von der Mechanik zur Dynamik« beschrie ben.44 Unter Dynamik versteht er das Leibniz’sche Programm vom »inneren Zusammenhang aller Naturkräfte«, in das nicht zuletzt auch teleologische
42 »Die Mechanik, als Lehre von der Bewegung der Körper auf Bahnen, zerfällt nach herkömmlicher Auffassung in zwei Hauptstücke: in Kinematik und Dynamik. Die Kinematik stellt die verschiedenen Formen von Bewegungen nach Zeit und Raum dar, wie sie am Himmel und auf der Erde zu beobachten sind; die Dynamik dagegen soll den Zusammenhang dieser Bewegungsformen mit Ursachen erklären.« Wolff: Geschichte der Impetustheorie, S. 16. 43 Mechanik als Naturphilosophie ist dabei insofern »eine Schöpfung des 18. und 19. Jahrhunderts«, als sie sich eigentlich erst in der Newton-Rezeption konsolidiert. Wolfgang Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel. Mathematische versus spekulative Naturphilosophie. Frankfurt a.M. 1997, S. 26. 44 Bei der Abwendung vom Cartesianismus wandle sich der Kraftbegriff von einem immateriellen Prinzip zu einer Eigenschaft der Materie selbst: »Der Kraftbegriff, und zwar als ›motus et quietis causale principium‹ tritt gerade im Kontext des Auseinanderfallens von Materie und Ausdehnung in Erscheinung, und seine geistesgeschichtliche Wirkung wird darin bestehen, das bereits vor sich gehende Zusammenführen von Geist und Materie zu verstärken.« Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 213. Voraussetzung der »radikalen Rehabilitierung der Sinnlichkeit« in der Aufklärung seien Ansätze zu einer »ontologischen Aufwertung der Materie«, die »immer mehr als autonome Trägerin von Bewegung betrachtet« werde. Dadurch erübrige sich nach und nach auch ein göttlicher erster Beweger im Denken.
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Vorstellungen von der entelecheia der Monade integriert sind.45 Wenn auch Max Jammer in seiner Begriffsgeschichte der Kraft das ausgehende 18. Jahrhundert als Phase eines sich neu formierenden Dynamismus bespricht, dann meinen Mechanik und Dynamik Auffassungen vom Naturganzen, wie sie sich um 1900 als Gegensatz von Mechanizismus und Dynamismus zu verschiedenen naturphilosophischen Positionen verfestigen.46 Lassen sich Mechanik und Dynamik im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Umgang mit Maschinen also noch als komplementäre und systematisch aufeinander bezogene Arbeitsprojekte verstehen, so werden sie mit und nach dem 18. Jahrhundert zu Modi der Weltbeschreibung. Statt zwei methodische Herangehens weisen an künstlich erzeugte Bewegungsphänomene bezeichnen Mechanik und Dynamik nun konkurrierende Konzepte von Natur.47 Diesen Zusammenhängen zwischen Kraftbegriff und Konzeptualisierung der Natur ist genauer nachzugehen. Die Frage, ob man es bei Kräften mit außerhalb der Erscheinungswelt angesiedelten Ursachen – etwa in Gestalt eines im Moment der Schöpfung der Kreation mitgegebenen Bewegungsimpulses – oder mit immanenten Wirkprinzipien der Körper zu tun hat, betrifft nicht zuletzt auch ihren ontologischen Status. Handelt es sich um substantielle Eigenschaften der Dinge, womöglich sogar um Fähigkeiten und Vermögen belebter, empfindender und denkender Wesen? Oder hat man es lediglich mit Abstraktionen von Erscheinungen zu tun, die sich messen und bestenfalls in mathematische Formeln bringen lassen? Mit diesen Fragen ist die Herausforderung an eine Epistemik der Natur bezeichnet, für die das Nachdenken über die Kräfte der Natur gerade keine Lösung, sondern vielmehr das Problem darstellt. In den physikalischen und philosophischen Begründungen der Kraft bei Newton, Leibniz und Kant ist eine Doppelstrategie von argumentativer Überlastung und Kritik des Kraftbegriffs angelegt, die es im Folgenden herauszupräparieren gilt. Während über die mechanizistische Grundrichtung des cartesianischen Denkens der Natur ebenso wenige Zweifel bestehen wie über Leibniz’ Rolle als wichtiger Stichwortgeber der Dynamik, ist Newtons Position schwieriger zu bestimmen. Einerseits liefert er entscheidende Formeln zur quantitativen Bestimmung von Kräften, die sich rechnerisch aus Eigenschaften der Materie herleiten lassen. Seine mathematische Kraftkonzeption ist andererseits 45 Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel, S. 27. 46 Jammer: Concepts of Force, S. 155–188. 47 Ein weiteres Konkurrenzprogramm bilden schließlich atomistische Entwürfe, die sich im 19. Jahrhundert durchsetzen und die eine wichtige Voraussetzung für die Wärmetheorie der Thermodynamik bilden. Eine großartige Rekonstruktion des insbesondere in einer LukrezRezeption versteckten Atomismus der Goethezeit findet sich in Jo Amanda Goldstein: Sweet Science. Romantic Materialism and the New Logics of Life. Chicago/London 2017.
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gerahmt durch die in den publizierten Schriften nur angedeutete Auffassung von einer ersten, außerhalb der materiellen Welt angesiedelten immateriellen Kraft. In Newtons Arbeiten wird die epistemische Krise der Kraft deshalb exemplarisch fassbar. Die Unterscheidung zwischen Kräften als ungreifbaren Ursachen und Kräften in oder als beobachtbare Wirkungen prägt Newtons grundlegendes Werk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1687). Die wesentlichen Innovationen der Principia liegen in der Bestimmung der vis gravitationis, der als Anziehung gefassten Schwerkraft, sowie der vis inertia als einer der Materie innewohnenden Trägheit. Beide Kräfte werden in den ersten Paragraphen definitorisch an den Begriff der Masse gebunden.48 Trägt man dies in die später eingeführte Formel von der Kraft als Produkt aus Masse und Beschleunigung ein, dann ist impliziert, dass eine Verdichtung der Materie durch Zusammendrücken oder Verflüssigen zu einer Erhöhung des Kraftbetrags führt. An die Stelle des cartesianischen Einheitsbegriffs einer ausgedehnten und undurchdringlichen, also allein geometrisch bestimmten Materie wird über den Begriff der Dichte eine physikalische, nach stofflichen Qualitäten ausdifferenzierte Masse gesetzt. Diese Masse verfügt laut der dritten Definition über eine »eingepflanzte Kraft«, die den Körper entweder verharren oder aber in einer gleichförmigen Bewegung begriffen sein lässt.49 Aufgefasst als vis inertia macht sich diese vis insita entweder als »Widerstandskraft« gegen einen einwirkenden Körper oder als selbst einwirkende »Bewegungskraft« (vis impresa) bemerkbar. Erkenntnisleitend sind Beobachtungen an mindestens zwei Körpern, die aufeinandertreffen und einander in Bewegung setzen, be schleunigen, bremsen oder auf eine andere Bewegungsrichtung umlenken.50 Denn Kräfte zeigen sich, so legt Newton in den Axiomen fest, immer nur im Widerspiel. Dabei sind strenggenommen beide Körper als Akteure aufzufassen, mag auch einer von ihnen in einem Ruhezustand begriffen sein. Schiebt ein Finger einen liegenden Stein, so drückt nicht nur die schiebende Hand auf den Stein – vielmehr wird das Gewicht des undurchdringlichen Steins auch als Druck für den Finger spürbar. Die in der vierten Definition behandelte eingedrückte Kraft (vis impresa) ist ein Effekt, der unterschiedliche »Ursprünge« haben kann: Er kann sich einem plötzlichen »Stoß« wie etwa Sturz und Zusammenprall, länger anhaltendem »Druck« wie etwa Schieben und Ziehen oder aber der »Zentripetalkraft«
48 Die erste Definition bestimmt die Masse als Produkt aus Dichte und Volumen, die zweite Definition bestimmt die Bewegung als Produkt aus der Geschwindigkeit und der Menge der Materie. Isaac Newton: Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie. Hamburg 1988, S. 37. 49 Newton: Mathematische Grundlagen, S. 38. 50 Newton: Mathematische Grundlagen, S. 38
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v erdanken.51 Anders als noch in der Impetustheorie des späten Mittelalters meint Newtons vis impresa eine Kraft des Anpralls, die nicht von einem bewegenden auf einen anderen, dadurch bewegten Körper übergeht, da sie an die Masse des bewegenden Körpers gebunden bleibt. Während sich die in den ersten vier Definitionen behandelten Kräfte und Bewegungen allesamt in einer Welt der aufeinandertreffenden Billardkugeln zeigen könnten, öffnet die in der fünften Definition erläuterte Zentripetalkraft den Beobachtungsraum auf einen Kosmos, in dem statt temporärer und vor allem geradlinig verlaufender Bewegungsereignisse diejenigen fortdauernden Rotationsbewegungen zu theoretisieren sind, von denen die Himmelsmechanik gekennzeichnet ist: Von dieser Art ist (1) die Schwere, durch welche die Körper zum Mittelpunkt der Erde hinstreben; (2) die magnetische Kraft, durch die das Eisen zum Magneten zu kommen sucht, und (3) jene Kraft, wie sie auch beschaffen sein mag, durch die die Planeten beständig von geradlinigen Bewegungen nach innen abgelenkt und gezwungen sind, auf gekrümmten Bahnen umzulaufen.52 Die unter Zentripetalkraft gefassten Phänomene der Schwerkraft, des Magnetismus wie auch der zwischen Planeten wirksamen Anziehungskräfte haben gemeinsam, dass sie nur indirekte Schlüsse auf ihre Größe zulassen. So ist die Kraft, mit der Körper zum Mittelpunkt der Erde hingezogen werden, nur aus der Kraft bestimmbar, die aufgewendet werden muss, um einen Körper vom Fall abzuhalten. An dieser Stelle springt Newton – und dies mag im Rahmen seiner rein definitorischen Bemühung der ersten fünf Paragraphen durchaus überraschen – mit einem Gleichnis ein. Ein Planet verhalte sich wie ein in einer Schleuder herumgewirbelter Stein, der unweigerlich in einer geradlinigen und gleichförmigen Bewegung von der schleudernden Hand wegstreben müsste, wenn ihn nicht ebendiese Hand mit einem bestimmten Kraftaufwand auf eine Kreisbahn bringen und dort halten würde. Die von dieser Hand eingesetzte Kraft nennt Newton Zentripetalkraft, bezeichnet sie doch den Zug zu einem Mittelpunkt, durch den die auseinanderstrebenden Körper »gebändigt« und »gehalten« werden.53 Der Vergleich mit der Hand, die eine Schleuder schwingt, macht die universelle Anziehungskraft nicht nur über eine Körper erfahrung evident.54 Die gekrümmte Linie einer abgeschossenen Kanonenkugel
51 Newton: Mathematische Grundlagen, S. 38. 52 Newton: Mathematische Grundlagen, S. 39. 53 Newton: Mathematische Grundlagen, S. 39. 54 Newtons Himmelsmechanik reagiert nicht zuletzt auf die Herausforderung des antiken Sphärenmodells durch die Beobachtung von Kometen, die sich auf irregulären Bahnen bewegen und die gedachten kugelförmigen Schalen durchstoßen würden. Die Vorstellung von
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oder die vom Mond beschriebene Kreisbahn um die Erde werden in diesem Bild auch als Effekt eines Zwangs fassbar. Im Newton’schen Kosmos fügen sich die widerstreitenden Kräfte nur durch Zwang zur Ordnung. 55 Kernstück und wesentliche Innovation von Newtons Beschreibung werden meist in der Bestimmung dieser vis gravitationis gesehen. Zugleich bildet sie für die Rezeption die größte Herausforderung.56 Den grundsätzlichen Einwänden gegen die Annahme einer nicht auf unmittelbare Berührung von Körpern gegründeten actio in distans kommt Newton später entgegen, indem er die Theorie des Äthers als einer subtilen, im Universum in unterschiedlichen Dichten und Schichtungen verteilten Substanz anbietet. Newtons 1675 erschienene erste Untersuchung über Licht und Farben, die den Nukleus der 1704 publizierten Opticks bildet, geht von Ätherteilchen aus, die sich mechanischen Gesetzen folgend verhalten. Allerdings bleibt Newton hier den Beweis schuldig und kennzeichnet die Äthertheorie als Hypothese. Nun hatte schon Kepler, anknüpfend an William Gilberts Idee vom Magnetismus als kosmischer Grundkraft, die Beobachtung formuliert, dass die Anziehung mit der Masse zunehme, und daraus gefolgert, dass die Materiemassen als Quellen der Gravitation zu gelten haben.57 Auch Kepler besteht darauf, dass diese vis – ins Deutsche
einem leeren Raum, in dem die Bewegungen der Himmelskörper durch unsichtbare Kräfte reguliert werden, kann entsprechend das Störmoment der Kometen integrieren. Mit dem Konzept der Zentripetalkraft ersetzt Newton zumindest auf der Ebene der Veranschaulichung einen alten Anthropomorphismus durch einen neuen. Die Antike verfügte über keinen Begriff von Gravitation, konnte sie doch Phänomene des Zueinanderstrebens als Eigenschaften der Elemente und den ihnen zugeordneten Lokalen auffassen. So strebt etwa der Stein zur Erde oder der Dampf in die Luft, weil sie an ihren angestammten Ort zurückkehren wollen. Erst im Rahmen neuzeitlicher Naturbeobachtung beginnt man, die Gravitation als eine Eigenschaft der Materie aufzufassen. So bestimmt Kopernikus die Schwere als das Streben der Materieteilchen, sich zu Kugeln zusammenzuballen, konzipiert den Kosmos allerdings in gut aristote lischer Tradition nach dem Modell der ineinander gepassten Schalen, in die alle Himmels körper gebettet seien. Eine Gravitation, die alle Himmelskörper in ihren Bahnen hält, muss hier nicht gedacht werden. Stephen F. Mason: Geschichte der Naturwissenschaft in der Entwicklung ihrer Denkweisen. Stuttgart 1961, S. 230. 55 Newton: Mathematische Grundlagen, S. 40. 56 Max Jammer hat die Newton-Rezeption, die den theologischen Grund der Mechanik nachzuliefern versucht, ausführlich dargestellt. Dies beginnt bereits mit dem Newton-Herausgeber Samuel Horsley, der den göttlichen Ursprung der Gravitationskraft hervorhebt. Wie Jammer ebenfalls aufzeigt, ist Newtons Auffassung vom Wesen dieser Schwerkraft noch in der wissenschaftsgeschichtlichen Forschung umstritten. Debattiert wird insbesondere der Einfluss neoplatonischer, gnostischer und mystischer Strömungen, etwa über Newtons Lektüre Jacob Böhmes. Jammer: Concepts of Force, S. 147–154. 57 Mason: Geschichte der Naturwissenschaft, S. 229–236.
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übersetzt als Kraft – nicht »in ihrem Wesen zu bestimmen« sei.58 In dieser Tradition liefert Newton die Mathematisierung einer Ursache-Wirkungs-Relation. Kraft ist eine theoretische »Verhältnisbestimmung«.59 Die präzise gezogene Grenzlinie zwischen einer mathematischen und einer physikalischen Betrachtung der Kräfte, die deren Ursache zu klären hätte, will N ewton selbst nicht überschreiten: »Diese Kräftetheorie ist natürlich rein mathematisch, denn die Ursachen der Kräfte und ihre physikalische Grundlage erwäge ich noch nicht«.60 Gerade mit dieser Zurückhaltung, wie sie höchst zitabel dann auch in der Formel des hypotheses non fingo enthalten ist, öffnet Newton die Tür für theologische Lesarten, die dann über die Physikotheologie auch für die Dichtung der Frühaufklärung prägend werden. Die Schwerkraft als das, was die Welt buchstäblich zusammenhält, verbürgt als göttliche Kraft die schöne Ordnung, als die das Naturganze nun wahrgenommen werden kann.61 Ein Blick in Johann Samuel Traugott Gehlers Physikalisches Wörterbuch (1796) zeigt, dass sich das epistemologische Problem des Newton’schen Kraftbegriffs am Ende des 18. Jahrhunderts verschärft und nicht etwa erledigt hat.62 Bewegung, davon geht Gehler aus, ist das wohl umfassendste, zugleich aber auch das unerklärlichste Phänomen der Erscheinungswelt. Dabei sei Kraft als dasjenige, was Bewegungen verantwortet, strenggenommen gar kein Begriff im engen Sinn. Vielmehr handelt es sich um eine bloße »Benennung«, der immer eine Verwechslung zugrunde liegt. Kraft ist für Gehler eine von der 58 Olaf Breidbach: Kraft. In: Heinz Thoma (Hg.): Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe – Konzepte – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2015, S. 300–309, hier: S. 300. 59 Auch wenn hier aus Olaf Breidbachs Sicht noch einige terminologische Unentschiedenheiten zu verzeichnen sind, etwa wenn Galileo von »Moment, Impuls oder Energie« spricht, so sei doch nicht zu übersehen, dass bereits vor Newton eine gewisse Einigkeit darüber besteht, dass Kraft nicht mehr ist als »Maßzahl, die ein Zuordnungsbestimmung verschiedener Körper erlaubt«. Breidbach: Kraft, S. 300 u. 301. 60 Newton: Mathematische Grundlagen, S. 42. Kondylis hat die Stellen betont, an denen Newton zu den theologischen, neoplatonischen oder hermetischen Lesarten einlädt, wie sie die Platoniker von Cambridge vorlegen: »Newton stellte dagegen wenigstens die absolute Gültigkeit des Mechanizismus in Frage, indem er Kräfte annahm und darüber hinaus deren nichtmechanische bzw. göttliche Herkunft geltend machte. Das Durchlöchern der Materie durch Kräfte gestattete auch sein Durchlöchern durch die Ursache dieser Kräfte – durch Gott.« Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 239. Hier sieht Kondylis die für die Frühaufklärung so wichtige »anfängliche Eintracht von Newtonscher Naturwissenschaft und reformierter Theologie« im Zeichen der Physikotheologie begründet. Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 242. 61 Karl Richter: Literatur und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Lyrik der Aufklärung. München 1972; Holger Steinmann: Absehen – wissen – glauben. Physikotheologie und Rhetorik 1665–1747. Berlin 2008. 62 Johann Samuel Traugott Gehler: Kraft. In: ders.: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornemsten Kunstwörter der Naturlehre, Bd. 3. Leipzig 1798, S. 796– 819, hier: S. 797.
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menschlichen Körpererfahrung abgeleitete Behelfsbezeichnung, die so lange keine feste begriffliche Kontur gewinnen wird, wie ihre wahren Ursachen im Unbestimmten liegen.63 Über das Wort Kraft bleibt vorerst also nur zu sagen: Das Wort Kraft drückt im eigentlichen Verstande das aus, was wir in uns fühlen, wenn wir ruhende Körper bewegen, oder bewegte aufhalten wollen. Die Empfindung, die wir alsdann haben, ist jederzeit mit einer Veränderung der Ruhe oder Bewegung des Körpers, auf den wir wirken, begleitet. Wir können uns nicht enthalten, das was in uns ist, für die Ursache dieser Veränderung anzunehmen. Sehen wir nun ähnliche Veränderungen ohne unser Zuthun erfolgen, so sind wir geneigt, eine ähnliche Ursache davon, eine Kraft, außer uns zu vermuthen. Man übersieht leicht, wie undeutlich diese Vorstellung ist. Inzwischen giebt sie einen bequemen Namen für die Ursache jede Entstehung und Veränderung der Bewegung eine Ursache voraussetzt, so behelfen wir uns mit dem Worte: Kraft, um dadurch alle diese Ursachen zu bezeichnen, die wir so oft nennen müssen, obgleich ihre Natur ein unerforschliches Geheimniß bleibt.64 Die Rede von der Kraft verdankt sich einer Übertragung, die Momente der eigenen Körperwahrnehmung als Anhaltspunkte für die Erklärung von Bewegungen in der äußeren Natur nimmt: »So sagen wir, daß unsere Hand Kraſt anwende, um Körper zu bewegen, wir schreiben dem Stoße des bewegten Körpers gegen andere eine Kraſt zu, und nennen die Schwere, die die Körper fallen macht, die Cohäsion, die der Trennung der Theile widersteht u. s. w., eine Kraſt«.65 In Newtons Vergleichen mit der schleudernden und schiebenden Hand, die er zur Veranschaulichung der Zentripetalkraft wie auch der Trägheit benutzt, hatte sich diese Intuition schon angedeutet. Als übertragene Redeweise ist die Kraft deshalb eine nach dem Gesetz der Ähnlichkeit gebildete Metapher und kein Begriff. Wird der Gleichnischarakter der Kraft vergessen und die Rede von natürlichen Kräften zu wörtlich genommen, so droht der Rückfall in animistische oder panpsychistische Modelle eines belebten und beseelten Universums, wie sie aus der Naturphilosophie der Renaissance insbesondere in ihren hermetischen Traditionslinien bekannt sind. Mit dieser Analyse kann Gehler dem Wort Kraft sowohl seine erkenntnistheoretische Nachrangigkeit attestieren als auch erklären, warum es sich den-
63 Kraft sei ein »allgemeiner Name alles dessen, was Bewegung hervorzubringen, zu ändern oder zu hindern strebt. Daß diese Ursachen der Bewegung in der tieffsten Dunkelheit verborgen liegen, und ihr erster Ursprung außer der Körperwelt gesucht werden müsse«, ist für Gehler unhintergehbar. Gehler: Kraft, S. 797. 64 Gehler: Kraft, S. 797. 65 Gehler: Kraft, S. 798.
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noch so beharrlich behauptet. Das Wort Kraft bezeichnet den Ort eines Geheimnisses, das mit den Mitteln der Naturbeobachtung wohl nicht zu lüften sein wird, das uns gleichwohl hilft, »unsere Unwissenheit [zu] verstecken«.66 Gehler spricht im Folgenden durchaus von Kräften. So widmet sich sein Artikel der alphabetisch geordneten Aufzählung unterschiedlicher Spielarten der Kraft: absolute Kraft, anziehende Kraft (Attraktion), ausdehnende Kraft (vis expansiva), beschleunigende Kraft (vis acceleratrix), bewegende Kraft (vis motrix), darunter die bewegenden Kräfte der Maschinen (potentiae moventes), die Kraft der Gewichte (Schwerkraft), die Kraft der Federn (Elastizität) sowie die von Newton eingebrachten Begriffe der Zentripetalkraft und der Trägheit. Eine längere Diskussion widmet er der von Leibniz ins Spiel gebrachten Vorstellung von einer ›lebendigen Kraft‹ (vis viva, force vive), die aus der Sicht Gehlers zwar im Spektrum der ohnehin schon obskuren Kraft ein »sehr dunkler und am Ende entbehrlicher Begriff« 67 sei, aus dem Johann Bernoulli jedoch das wichtige Gesetz einer sich im Universum immer in gleicher Quantität erhaltenden Kraft abgeleitet habe.68 In diesem »principium conservationis virium vivarum« hat man in der Wissenschaftsgeschichte einen Baustein gesehen, der sich im 19. Jahrhundert an entscheidender Stelle in das neu errichtete Gebäude der Thermodynamik fügen wird.69 Die Erhaltung der Kraft, von der vor Bernoulli schon Leibniz ausgeht, bildet das Prinzip, das im 17. und 18. Jahrhundert die Einheit der Natur zu denken erlaubt. Als steter Übergang zwischen lebendiger und toter Kraft steht das Gesetz der Krafterhaltung im Zentrum seiner Dynamik, in der Leibniz im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts sowohl ein Projekt der Physik als auch die vorrangige Aufgabe der Metaphysik sieht. Im §17 seines Discours de la métaphysique 66 Gehler: Kraft, S. 797. 67 Gehler: Kraft, S. 813. 68 Seither weiß man: »in der Körperwelt wird immer einerley Summe lebendiger Kräfte erhalten. Man nennt diesen Satz den Grundsatz der Erhaltung lebendiger Kräfte (principium conservationis virium vivarum)«. Gehler: Kraft, S. 813. Interessant am Begriff der lebendigen Kraft ist also, dass aus ihm die »beständige Gleichheit der Totalsumme lebendiger Kräfte nothwendig folge«. Gehler: Kraft, S. 814. 69 Vgl. die zusammenfassende Darstellung von Norbert Schirra: Die Entwicklung des Energiebegriffs und seines Erhaltungskonzepts. Eine historische, wissenschaftstheoretische, didaktische Analyse. Thun/Frankfurt a.M. 1991, S. 45–48. Eine Vorformulierung des Energieerhaltungssatzes – wenn auch nicht unter dem Namen der Energie – sieht Schirra bereits bei Galileo, dann Huygens, korrekt formuliert dann bei Leibniz. Jakob Bernoulli komme schließlich das Verdienst zu, mit der Unterscheidung zwischen positiven und negativen Energien so etwas wie den Energieerhaltungssatz vorformuliert zu haben. In einem bei Varignon in der Nouvelle Mechanique abgedruckten Brief spricht Bernoulli davon, dass sich negative und positive Energien ausgleichen müssen, damit Körper im Gleichgewicht seien. Laut Schirra enthält die Begriffsverwendung hier zum ersten Mal die Kennzeichen des modernen Energiebegriffs. Schirra: Die Entwicklung des Energiebegriffs und seines Erhaltungskonzepts, S. 45.
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(1686) stellt Leibniz als Leitgedanken fest, es sei »vernunftgemäß, daß sich im Universum stets dieselbe Kraft erhält«.70 Gestützt wird dies durch eine Interpretation der Fallgesetze, derzufolge gilt, […] daß ein von einer bestimmten Höhe herabfallender Körper die Kraft erhält, zurückzusteigen, wenn die Bewegungsrichtung ihn dahin führt, wenigstens, sofern sich nicht irgendwelche Hindernisse einstellen: z.B. würde ein Pendel wieder vollkommen zu der Höhe zurücksteigen, von der es herabgefallen ist, wenn nicht der Luftwiderstand und einige andere kleine Hindernisse seine erlangte Kraft etwas verringerten.71 Leibniz führt dies gegen Descartes an, der lediglich von der Erhaltung der Bewegungsgröße ausgegangen sei. Anders als Descartes zielt Leibniz auf die hinter dieser messbaren Bewegung anzunehmende Kraft, die eben durch das bezeichnet wird, was sie zu heben oder zu bewegen imstande sei. Hier ist der Begriff der Arbeit vorgedacht, der für den Energiebegriff des 19. Jahrhunderts zentral werden wird. Entscheidend für den Kontext der Leibniz’schen Metaphysik ist nun, dass er Kraft und Bewegungsgröße terminologisch streng unterscheidet. Dies wird dort relevant, wo neben der Größe auch die »Wirkursachen« dieser Bewegungen angegeben werden sollen, die – so sieht es Leibniz – nirgendwo anders als in »einer vernunftbegabten Ursache der Körper« zu sehen sind.72 Angetrieben von diesem Interesse an den Ursachen der Bewegung ergänzt Leibniz die Mechanik durch eine Dynamik und entwirft eine Kräftelehre im engen Sinn.73
70 Gottfried Wilhelm Leibniz: Discours de la métaphysique / Metaphysische Abhandlung. In: Leibniz. Ausgewählt und vorgestellt von Thomas Leinkauf. München 2000, S. 147–192, hier: S. 166. Bemerkenswert scheint Schirra dabei, dass Leibniz zur Bestimmung der vis activa als einem ›substantiellen Sein‹ auf Aristoteles’ Vorstellung der entelecheia zurückgeht. Aus seiner Sicht handelt es sich deshalb um »eine Methodologie, die uns zeigt, daß trotz der neuzeitlichen Bestimmung der Naturwissenschaft als Experimentalphilosophie weiterhin Metaphysik in die Theoriebildung hineingewirkt habe.« Schirra: Die Entwicklung des Energie begriffs und seines Erhaltungskonzepts, S. 60. 71 Leibniz: Metaphysische Abhandlung, S. 166–167. 72 Leibniz: Metaphysische Abhandlung, S. 173 u. 174. 73 Zur Entwicklung des Leibniz’schen Kraftbegriffs vgl. Daniel Garber/Tzuchien Tho: Force and Dynamics. In: Maria Rosa Antognazza (Hg.): The Oxford Handbook of Leibniz. New York 2018, S. 304–330. Tzuchien hat die Konturen und inneren Verwerfungen des »DynamikProjekts« auch in monographischer Form nachgezeichnet, das von 1676 bis etwa 1700, also von Leibnizens anfänglichen Motivationen und seiner methodologischen Reifung bis zu seiner wichtigen Konvergenz mit der systematischen Metaphysik seiner späteren Schriften reicht. Die erste Phase verlegt Tzuchien in Leibniz’ frühe Herangehensweise an physikalische Fragen in Paris (1672–1676), eine zweite Phase wendet sich dann der entstehenden Theorie der Kraft von den späten 1670er bis zu den späten 1680er Jahren zu. Im Jahr 1689 prägt Leibniz den
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Leibniz gründet seine Dynamik auf die Leitunterscheidung zwischen lebendiger und toter Kraft, die sachlich der heute geläufigen Differenz von potenzieller oder auch latenter sowie kinetischer Energie entspricht. In seinen Specimen der Dynamik (1695) stellt er der vis viva als der aktivierten und entsprechend beobachtbaren Kraftwirkung die vis mortua gegenüber, die sich jederzeit in vis viva verwandeln kann: Daher ist auch die Kraft zweifach: die eine elementar, die ich auch tot nenne, denn in ihr existiert noch keine Bewegung, sondern lediglich die Anregung zur Bewegung, wie es die der Kugel in der Röhre ist, oder eines Steins in der Schleuder, solange er noch durch das Band gehalten wird; die andere aber ist die gewöhnliche Kraft, mit wirklicher Bewegung verbunden, die ich lebendig nenne.74 Neben der Schleuder wird dieses Verwandlungsgeschehen auch im gespannten Bogen oder der zusammengedrückten Feder anschaulich, also an Fällen, in denen zusätzlich zu Volumen und Dichte auch die Elastizität der beteiligten Körper mit ins Kalkül zu ziehen ist.75 In diesen Versuchsanordnungen wird Kraft aufgewendet, dann gespeichert und zuletzt wieder freigesetzt. Bemerkenswert an Leibniz’ Bestimmung seiner komplementären Begriffe ist, dass er statt der lebendigen vielmehr die Vorstellung von einer toten Kraft für ungewöhnlich und entsprechend innovativ hält. Und tatsächlich erscheint es als wichtiger Perspektivenwechsel gegenüber der cartesischen Bewegungsgeometrie, auch dort eine im Körper akkumulierte Kraft anzusetzen, wo sich dieser Körper gerade nicht bewegt. Die auf einem erhobenen Ort abgelegte Kugel verfügt aus Leibniz’ Sicht über eine tote, also momentan nicht als Bewegung wahrnehmbare Kraft – und das nicht als eine an die Schwere gebundene vis inertia, sondern vielmehr im Sinn einer zu einem bestimmten Zeitpunkt in den Körper investierten Kraft, die sich jederzeit wieder in lebendige Kraft umsetzen kann.
Begriff ›Dynamica‹ und verfasst die beiden bedeutendsten Texte des Projekts. In der Zeit nach 1690 schließlich entwickelt Leibniz nicht nur die innere Struktur der Dynamica, sondern setzt ihre Ergebnisse auch für eine Konvergenz zwischen seiner naturwissenschaftlichen Arbeit und seiner systematischen Metaphysik der substantiellen Formen ein. Tzuchien Tho: Vis Vim Vi. Declinations of Force in Leibniz’s Dynamics. Cham 2017. 74 Gottfried Wilhelm Leibniz: Specimen der Dynamik. In: Leibniz. Ausgewählt und vorgestellt von Thomas Leinkauf. München 2000, S. 241–270, hier: S. 246. 75 Auf das Problem der Elastizität von Körpern und dem Fehler eines Cartesianers wie Malebranche, die Bewegungsgesetze nur an vollkommen harten Körper zu erweisen, weist Leibniz an anderer Stelle deutlich hin. Gottfried Wilhelm Leibniz: Ein allgemeines Prinzip, das nicht nur in der Mathematik, sondern auch in der Physik von Nutzen ist. In: Leibniz. Ausgewählt und vorgestellt von Thomas Leinkauf. München 2000, S. 192–206, hier: S. 198.
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Die Idee einer vis mortua hat Folgen für die Physiognomie des Kraftbegriffs. Wenn Leibniz Kraft als Größe in einem permanenten Übersetzungsprozess beschreibt, in dem jede Wirkung die potenzielle Ursache einer neuen Wirkung bildet, dann ist die Dunkelheit der Kraft weniger die einer grundsätzlichen epistemischen Entzogenheit. Vielmehr gewinnt sie gleichsam episodischen Charakter. Was gerade verborgen und als tote Kraft nicht wahrnehmbar ist, kann sich im nächsten Moment in lebendige Kraft verwandeln, deren Tätigkeit unübersehbar ist. Denn der Zustand der vis mortua meint keine Abwesenheit von Bewegung und Kraft, sondern fasst den Zustand der Ruhe als denjenigen einer unendlich kleinen Bewegung auf.76 Der programmatische Einsatz der Specimen der Dynamik impliziert eine besondere Auffassung von einer kraftdurchwirkten Natur. Es sei, so erläutert Leibniz im Eingangspassus, von einer »überall vom Schöpfer eingegebenen Kraft der Natur« auszugehen, die mit einem besonderen »Streben und Drang ausgestattet« sei.77 Anders als Newton adressiert Leibniz unter dem Namen der vis insita ein den Dingen mitgegebenes Aktionspotential des conatus oder nisus. Die allen Dingen eingepflanzte Kraft ist somit ein in den Dingen angelegtes, selbsttätig vorwärtsdrängendes Streben und keineswegs nur die Trägheit und der Widerstand einer schweren Masse. Diese Vorstellung von einer in die Natur gelegten, zum Ausdruck drängenden Kraft prägt Leibniz’ Kennzeichnung einer Schöpfung, in der sich alles von selbst balanciert, ohne dass, wie die Okkasionalisten dies vermuten, eine göttliche Instanz hier und da durch ein Wunder eingreifen und einen neuen Kraftimpuls setzen müsste. So bestimmt Leibniz in dem Text Über die Natur an sich oder über die den erschaffenen Dingen innewohnende Kraft und Tätigkeit (1698): Sofern aber das von Gott erlassene Gesetz eine in den Dingen sich ausdrückende Spur hinterlassen hat und die Dinge durch den Auftrag so gebildet worden sind, daß sie befähigt wurden, den Willen des Gebietenden zu erfüllen, so muß man zugeben, daß den Dingen eine gewisse Wirksamkeit, Form oder Kraft eingepflanzt wurde, die wir mit dem Namen Natur
76 Bernstein hat auf die Bedeutung des Hobbes’schen conatus-Begriffs für Leibniz’ Konzept der vis mortua hingeweisen: »Leibniz found the elastic view of impact perfectly consistent, in fact, supportive of his later metaphysical dynamicism. Conatus also affected an unbroken transition into Leibniz’s mature physics to surface again as dead force [vis mortua]«. Howard R. Bernstein: Conatus, Hobbes, and the Young Leibniz. In: Studies in History and Philosophy of Science 11 (1980), S. 25–37, hier: S. 36. 77 Leibniz: Specimen der Dynamik, S. 241.
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zu benennen pflegen, und aus der die Reihe der Erscheinungen nach Vorschrift des ersten Befehles folgt.78 Die Kopplung der Kraft an den Begriff der Form weist auf die Affinität der Leibniz’schen vis insita zu Vorstellungen von einer plastischen oder bildenden Kraft hin, wie sie dem 17. Jahrhundert aus der Naturphilosophie der Renaissance und der scholastischen Aristoteles-Rezeption bekannt ist. Wenn Leibniz sich von den naturphilosophischen Konzepten eines Hippokrates oder Avicenna wie auch von der vis formativa Scaligers distanziert, dann wohl nicht, weil er der Idee substantieller Formen nichts abgewinnen könnte. Vielmehr hegt er methodische Vorbehalte gegen deren philosophische Begründung.79 Die Lehre von den substantiellen Formen geht davon aus, dass in der Materie bereits ihre möglichen Formen und die Regeln ihrer Entfaltung angelegt sind.80 In den Betrachtungen über die Prinzipien des Lebens und über die plastischen Naturen (1705) erläutert Leibniz sein Verhältnis zu dieser Theorie der substantiellen Formen, auf deren cartesianische Fassung er sich einlassen kann, von deren nacharistotelischer Fassung als einer in der Materie angelegten
78 Gottfried Wilhelm Leibniz: Über die Natur an sich oder über die den erschaffenen Dingen innewohnende Kraft und Tätigkeit. De ipsa natura sive de vi insita actionimusque creaturarum (1698). In: Leibniz. Ausgewählt und vorgestellt von Thomas Leinkauf. München 2000, S. 289–306, hier: S. 294. 79 So Max Jammer: »Leibniz rejected the doctrine of ›plastic nature‹ not because of its contents but because of its method«. Jammer: Concepts of Force, S. 158. 80 Thomas Leinkauf verweist in seinem Kommentar auf die Ähnlichkeit der Leibniz’schen vis insita mit der plastischen Kraft als ein »in der Naturtheorie des 16. und vor allem 17. Jhds angesetztes Prinzip, das physikalische Prozesse, vor allem aber biologische Bildungen vor dem Hintergrund letztlich metaphysischer Prinzipien, als ›Tätiges‹ (agens) erklären will.« Leibniz war die vis oder virtus plastica wohl aus den »medizinischen und naturtheoretischen Abhandlungen von Marcus Marci« sowie von den Cambridger Platonikern H. More oder R. Cudworth vertraut, die er »alle intensiv studiert hat«. Thomas Leinkauf: Kommentar. In: Leibniz. Ausgewählt und vorgestellt von Thomas Leinkauf. München 2000, S. 477. In den Specimen der Dynamik war bereits von der Lehre der Peripetiker, also von den in der Aristoteles-Schule angenommenen »Formen und Entelechien« die Rede, die Leibniz einer rationalen philosophischen Erklärung zuführen wolle. Leibniz: Specimen der Dynamik, S. 242. Wie Rang argumentiert hat, geht Leibniz bei der Erarbeitung seines Kraftbegriffs auf die aristotelische entelecheia zurück, weil ihm die scholastische Rezeption der Unterscheidung zwischen potentia und actio zu kurz gegriffen habe. Rang zitiert hier eine »kleine Abhandlung zur Kritik Descartes’: ›Die aktive Kraft darf nicht begriffen werden als das einfache Vermögen (potentia) der üblichen Schulphilosophie oder eine Fähigkeit zur Tätigkeit (actio), sie schließt vielmehr das Streben zur Tätigkeit ein‹«. Nur wenn Kraft nicht nur als Vermögen, sondern auch als eine »dem Vermögen innewohnenden Tendenz« gedacht wird, kann sie ohne Anstoß von außen von selbst wirken. Bernhard Rang: Kraftbegriff und Weltmaschine. Die Überwindung des Cartesianismus durch Leibniz. In: Monika Fludernik/Ruth Nestvold (Hg.): Das 18. Jahrhundert. Trier 1998, S. 17–31, hier: S. 26 u. 27.
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Form er jedoch Abstand halten möchte. Zwar gibt er zu: »Ich erkenne in der Tat die in der ganzen Natur verbreiteten und unvergänglichen Lebensprinzipien an, denn sie sind unteilbare Substanzen oder besser Einheiten, so wie die Körper Vielheiten sind, durch die Auflösung ihrer Teile dem Untergang preisgegeben«. Diese »Lebensprinzipien«, so erläutert Leibniz weiter, »haben Vorstellung und Begehren« und, so wird kurz darauf nachgeliefert, sie sind »nur organischen Körpern eigen«.81 Die formgebenden Kräfte sind der Materie eingepflanzt worden. Der Schöpfergott, so sieht es Leibniz, hat bei seiner weisen Einrichtung eine Kraft in die Materie gesetzt, die erst die Anleitung zu allen möglichen Formwerdungen enthält.82 Diese »den Dingen innewohnende, erschaffene, tätige Kraft« könne entweder ruhen oder sich betätigen, aber weder verloren gehen noch sich vermehren.83 Diesen Gedanken wird Leibniz dann in der Monadenlehre weiter ausführen. Leibniz’ Monadologie (1714) setzt mit der grundlegenden Definition der Monade als einfacher Substanz ein, die sich von den zusammengesetzten Substanzen, den Aggregaten, durch ihre Unteilbarkeit unterscheidet. Monaden, denen Leibniz später im Text »den Namen Entelechien« gibt,84 sind mit der
81 Gottfried Wilhelm Leibniz: Betrachtungen über die Prinzipien des Lebens und über die plastischen Naturen, von dem Autor des Systems der prästabilierten Harmonie (1705). In: Leibniz. Ausgewählt und vorgestellt von Thomas Leinkauf. München 2000, S. 346–355, hier: S. 347. 82 Entsprechend bezieht Leibniz auch Position für die Präformationslehre und nicht für eine Epigenesisvorstellung, derzufolge durch Zeugung Neues in die Welt käme. Stattdessen sei es vernünftig anzunehmen, dass »Tod und Zeugung nichts als Gestaltwandel desselben Lebewesens sind, das bald vergrößert und bald verkleinert wird.« Leibniz: Betrachtungen über die Prinzipien des Lebens, S. 352. 83 Leibniz: Über die Natur an sich oder über die den erschaffenen Dingen innewohnende Kraft, S. 290. Später noch einmal deutlicher: »so darf man schließen, daß in der körperhaften Substanz eine erste Entelechie oder ein erster Ort der Tätigkeit sein muß, d.h. eine ursprüngliche bewegende Kraft, die neben der Ausdehnung (oder dem rein Geometrischen) und der Masse (oder dem rein Materiellen) immer tätig ist, aber nichtsdestoweniger infolge des Zusammentreffens der Körper mannigfach durch Anläufe und Anstöße verändert wird. Ebendies aber ist das substantielle Prinzip, das bei den Lebewesen Seele, bei den übrigen substantielle Form genannt wird und, sofern es mit der Materie wahrhaft eine einzige Substanz bildet, das ausmachet, was ich Monade nenne; denn nimmt man diese wahrhaften und wirklichen Einheiten weg, so bleiben nur noch durch Ansammlung gebildete Dinge, ja, wie daraus folgt, überhaupt nichts wahrhaft Seiendes in den Körpern übrig.« Leibniz: Über die Natur an sich oder über die den erschaffenen Dingen innewohnende Kraft, S. 299–300. 84 Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Prinzipien der Philosophie oder die Monadologie (1714). In: Leibniz. Ausgewählt und vorgestellt von Thomas Leinkauf. München 2000, S. 406–424, hier: S. 409. Eine umfassende Rekonstruktion der Monadenlehre hat Richard Arthur vorgelegt: Richard T.W. Arthur: Monads, Composition, and Force: Ariadnean Threads through Leibniz’s Labyrinth. Oxford 2018.
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Schöpfung und nicht erst danach entstanden – vor allem aber sind sie unsterblich. Denn es sei nicht einzusehen, wie sie »in ihrem Inneren von irgendeinem anderen Geschöpfe verändert oder gewandelt werden könnte, da man in sie nichts übertragen« könne.85 An dieser Stelle fällt der bekannte Satz von den fensterlosen Monaden, in die nichts hinein- und aus denen nicht heraustreten könne.86 Jede Monade sei grundsätzlich und von Beginn an von allen anderen verschieden und könne sich nach eigenen inneren Gesetzen, einem inneren Prinzip verändern. Leibniz geht so weit anzunehmen, »daß diese Veränderung sogar in jeder Monade fortdauernd vor sich geht«.87 Mit dieser Grundüberlegung ist vorbereitet, was Leibniz dann als Unterschiede und Stufungen unterschiedlicher Typen von Monaden vorstellt. Grundsätzlich ist eine Monade dadurch bestimmt, dass sie über Streben und Perzeption verfügt. Aber nur diejenigen Monaden, »deren Perzeption deutlicher und mit Erinnerung verbunden ist«,88 will Leibniz als Seele verstehen. Hier kommt seine Theorie der kleinen Perzeptionen als unbewussten Wahrnehmungen, wie wir sie aus dem tiefen Schlaf kennen, ins Spiel. Während auch Tiere eine solche Seele haben, indem sie als Empiriker ihre Erfahrungen speichern und auswerten können, verfügen Menschen über eine »vernünftige Seele« oder auch einen Geist, der zur Erkenntnis seiner selbst, zur Erkenntnis Gottes und zu einer über jede Empirie hinausreichenden »Erkenntnis der notwendigen Wahrheiten« taugt.89 Gott selbst sei nun als der letzte zureichende Grund der Dinge die »höchste Substanz«90 und damit die Meistermonade. Die Pointe dieser gradierten Lehre von den nackten Monaden über die Tierseelen und die vernunftbegabten Geist-Seelen-Monaden der Menschen bis hin zu Gott als oberster Monade besteht nicht nur darin, eine allseits beseelte, dennoch in sich stufenweise differenzierte Natur zu denken. Vielmehr soll die Natur des menschlichen Bewusstseins ergründet werden. So erscheint das bekannte Mühlengleichnis vor allem dazu geeignet, den nicht-mechanischen Charakter der seelischen Tätigkeit vor Augen zu führen: 17. Übrigens ist man gezwungen zuzugestehen, daß die Perzeption und das, was davon abhängt, durch mechanische Gründe, das heißt durch Figuren und Bewegungen, nicht erklärbar ist. Und denkt man sich aus, daß es eine Maschine gäbe, deren Bauart es bewirke, zu denken, zu fühlen und Perzeptionen zu haben, so wird man sie sich unter Beibehaltung der
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Leibniz: Monadologie, S. 407. Leibniz: Monadologie, S. 407. Leibniz: Monadologie, S. 408. Leibniz: Monadologie, S. 410. Leibniz: Monadologie, S. 412. Leibniz: Monadologie, S. 413.
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gleichen Maßstabsverhältnisse derart vergrößert vorstellen können, daß man in sie wie in eine Mühle einzutreten vermöchte. Dies gesetzt, wird man in ihr, sobald man sie besucht, nur Stücke finden, die einander stoßen, und niemals etwas, das eine Perzeption erklären möchte. So muß man die Perzeption in der einfachen Substanz und nicht in dem Zusammengesetzten oder in der Maschine suchen.91 Deutlicher lässt sich die Grenze mechanischer Erklärungsmodelle nicht bezeichnen. Das Bild vom Bewusstsein als eine aus Teilen zusammengesetzte Maschine kann die Tätigkeit der Perzeption eben gerade nicht erklären. Die Seele, so fährt Leibniz fort, sei vielmehr ein »dauernder lebendiger Spiegel des Universums«.92 Die Spiegelmetapher ist interessant gewählt. Insofern die Seele als Monade keine dunkle Kammer ist, in die von außen etwas einstrahlt, sondern als polierte Fläche vorgestellt wird, die das von außen Kommende reflektiert, variiert und bestätigt die Rede vom Spiegel das zuvor schon eingeführte Bild von der Fensterlosigkeit. Das Bild vom Spiegel impliziert zugleich die perspektivische Sichtbeschränkung einer jeden Monade. Zwar könne jede Monade »die Welt darstellen«, dies aber jeweils nur in einem Teil. Denn es gelte, dass »diese Darstellung in den Einzelheiten des ganzen Universums nur verworren ist und deutlich nur in einem Teil der Dinge sein kann«. Dies unterscheidet die geschaffenen Wesen von der göttlichen Monade.93 Mit den konkurrierenden Metaphern von Mühle und Spiegel begrenzt Leibniz also die Reichweite des Maschinenvergleichs: Das Bewusstsein entzieht sich einer rein mechanischen Erklärung. Eine ähnliche Abgrenzung trifft Leibniz für die Bestimmung lebendiger Körper. Zwar benutzt Leibniz den Maschinenvergleich dort, wo er die von Gott geschaffenen organischen Körper beschreiben möchte: So ist jeder organische Körper eines Lebewesens eine Art göttlicher Maschine oder so etwas wie ein natürlicher Automat, der alle künstlichen Automaten unendlich übertrifft, weil eine durch die Kunst des Menschen geschaffene Maschine nicht in jedem ihrer Teile Maschine ist.94
91 Leibniz: Monadologie, S. 409. 92 Leibniz: Monadologie, S. 416, noch einmal S. 421. 93 Leibniz: Monadologie, S. 417. Auch sich selbst könne die Monade nie ganz erfassen: »Eine Seele kann aber in sich nur das lesen, was auf deutliche Weise in ihr dargestellt ist, sie kann nicht alle ihre Falten mit einem Schlage auseinanderwickeln, denn sie gehen bis ins Unendliche.« Leibniz: Monadologie, S. 418. 94 Leibniz: Monadologie, S. 419.
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Genau gelesen ist dieser Maschinenvergleich aber nicht ganz eindeutig, unterscheidet Leibniz doch natürliche oder auch göttliche Maschinen von künstlichen Maschinen. Der Vergleich des organischen Körpers mit einer natürlichen Maschine (›so etwas wie‹) bestimmt Organismen gerade nicht als Maschinen. Vielmehr erscheinen sie ihm unter einem gewissen Aspekt mit Maschinen vergleichbar. Dabei wird vor allem ein Unterschied zwischen gleichsam natürlichen und künstlichen Maschinen hervorgehoben. Alle Teile einer organischen Maschine seien, anders als bei einer künstlichen Maschine, wiederum »noch im kleinsten ihrer Teile bis ins Unendliche Maschinen«.95 Dabei finde sich in jedem ihrer Bestandteile wiederum eine »Welt von Geschöpfen, Lebewesen, Tieren, Entelechien, Seelen«, so wie ein See voller Fische oder ein Garten voller Pflanzen sei. Dieses Gleiten der Bilder von der Maschine zum Garten und damit vom Mechanischen ins Organische ist bemerkenswert, stellt Leibniz das Lebendige doch zuletzt als wimmelndes Biotop und nicht als ausgetüfteltes Räderwerk vor Augen. In seiner Unterscheidung zwischen natürlichen und künstlichen Maschinen führt er also gerade die lebendige Fülle der materiellen Welt und nicht die mechanische Einrichtung des lebendigen Körpers vor. Diese Welt ist nun in einer stetigen Bewegung der Selbstorganisation begriffen: »Denn alle Körper sind wie Ströme in einem dauernden Fluß, und dauernd gehen Teile in sie ein und verlassen sie wieder«.96 In dieser Auffassung von der Natur als beweglicher und sich selbst bewegender Ordnung erscheinen Geburt, Wachstum und Tod eher als sukzessive »Einhüllungen und Verminderung[en]« statt als diskrete Einschnitte. 97 Dieser Entwurf des Organischen zeigt sich von Leibniz’ geschichtsphilosophischem »System der prästabilierten Harmonie«98 gestützt, das, wie er dann in der Theodizee ausbuchstabiert, die gute Einrichtung der Welt ebenfalls als Abfolge von immer neuen Ausgleichsbewegungen denkt. Alles Übel, so will Leibniz die Einrichtung der besten aller möglichen Welten begründen, werde irgendwann mehr als kompensiert. Leibniz denkt das allgemeine Gute, das aus dem beobachtbaren Übel folgen soll, weder als stabiles Gefüge noch in der Logik des ausge glichenen Aufwiegens. Stattdessen folgt seine Betonung des ›mehr als‹ einer Steigerungslogik. So sei der Sündenfall insofern eine felix culpa, eine glückliche Schuld, als sie in Gestalt des christlichen Erlösers bereits mit »unermess-
95 Leibniz: Monadologie, S. 419. 96 Leibniz: Monadologie, S. 420. Dies ist eines der Argumente, das Justin Smith in seiner Rekonstruktion der Leibniz’schen Philosophie der Biologie macht – hier mit direktem Bezug auf den Vergleich der Welt mit einem Teich. Justin E.H. Smith: Divine Machines. Leibniz and the Sciences of Life. Princeton, NJ 2011, S. 5. 97 Leibniz: Monadologie, S. 420. 98 Leibniz: Monadologie, S. 422.
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lichem Vorteil wieder ausgeglichen« worden sei.99 Leibniz reproduziert eine eschatologische Denkfigur, die den Geschichtsverlauf von ihrem erlösenden Ende aus zu denken erlaubt. Die Vorstellung von einer nicht statisch balancierten, sondern sich stets dynamisch balancierenden, sich also schrittweise gleichsam aufschaukelnden Schöpfung wird das Naturdenken des ausgehenden 18. Jahrhunderts entschieden prägen. Der ebenso theologische wie teleologische Grundzug des Leibniz’schen Naturdenkens führt – wieder über einen Maschinenvergleich – schließlich zur genaueren Bestimmung mechanischer Modelle. Wie Leibniz bereits am Ende der Monadologie erklärt, hat Gott die Weltmaschine so gebaut, dass sie mittels ihrer mechanischen Wirkursachen den moralischen Zweck, den der väterliche Fürst als ihr Ziel vorgesehen hat, erreichen werde: Die Welt wandelt »auf den Wegen der Natur selbst zur Gnade«.100 Harmonie und Gleichgewicht werden nicht durch gelegentliche Eingriffe und Korrekturen realisiert. Garantiert werden sie vielmehr von einem allwissenden Gott, der im Moment der Schöpfung mit den Naturgesetzen auch die Kausalketten von Ursache und Wirkung ins Werk gesetzt hat. Allen nicht-göttlichen Beobachtern kann sich dies erst am Ende der Welt als zweckmäßige Einrichtung enthüllen. Die Mechanik der Natur ist also in ein heilsgeschichtliches Narrativ eingepasst, in dem sich Kausalität und Finalität gerade nicht ausschließen, weil der Mechanismus kausaler Wirkungsketten im Dienst eines zu erreichenden Endes steht. Die Kraftvorstellung, wie sie sich in den Begriffen der vis visa, der vis activa und der vis insita abzeichnet, wird bei Leibniz zur tragenden Größe einer Naturphilosophie, die sowohl zwischen mechanischem und dynamischem Weltbild als auch zwischen dualistischen und monistischen Positionen zu vermitteln versucht. Einerseits formuliert Leibniz scharfe Kritik an der Substanzentrennung eines Descartes, der die Natur als grundsätzlich geistlose res extensa definiert. Andererseits möchte Leibniz sich aber auch nicht auf reine Immanenzkonzepte wie etwa Spinozas Lehre vom deus sive natura einlassen, bleiben Gott und Natur für Leibniz doch durchaus unterschieden. Lebendig sein heißt, eine von Gott mitgegebene Seele zu haben, die sich als tätiges, der Materie eingelegtes Prinzip entfaltet, aber nicht mit ihr zusammenfällt und deshalb auch nicht einzig aus ihr erklärbar wäre: »Diese ursprüngliche aktive Kraft« so lässt Leibniz in dem fiktiven Lehrdialog zwischen Philarete und Ariste erläutern, »die man das Leben nennen könnte, ist [...] in dem, was wir eine Seele nennen, oder in der einfachen Substanz eingeschlossen«. Als eine
99 Gottfried Wilhelm Leibniz: Kurzer Abriss der Streitfrage in formgerechten Schlüssen. In: ders.: Philosophische Schriften in 4 Bänden, hg. v. Herbert Herring/Hans Heinz Holz/Wolf von Engelhardt, Bd. 2.2: Die Theodizee, hg. und übers. v. Herbert Herring. Frankfurt a.M. 1996, S. 286–313, hier: S. 289. 100 Leibniz: Monadologie, S. 423.
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in der Substanz ›eingeschlossene‹, ihr also zugesetzte Kraft ist dieses Prinzip aber selbst mehr als Materie: »Es ist eine immaterielle, unteilbare und unzerstörbare Realität«.101 Zu den unhintergehbaren Eigenschaften dieser Kraft gehört es schließlich, nur durch den Verstand statt durch die anschauliche Vorstellung erfasst werden zu können. Es sei ihr Manko, dass die den Dingen eingepflanzte »Wirkkraft« eben »nicht aus dem anschaulich Vorstellbaren hergeleitet werden kann«.102 Die der primären Materie mitgegebene und diese gestaltende immaterielle Kraft der ›ersten Entelechie‹ mag der Anschaulichkeit entzogen bleiben – die Vernunft gebietet gleichwohl, sie zu denken.103 In seinen vorkritischen Schriften nimmt Kant diese Herausforderung an. Auch wenn er in seinen 1746 publizierten Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, die den von Leibniz geprägten Begriff der vis viva im Titel tragen, eigentlich auf die Widerlegung der von Leibniz vorgeschlagenen mathematischen Berechnungsgrundlage zielt – aus seiner Sicht ist die Kraft nach cartesischem Kalkül aus Masse und Geschwindigkeit statt aus dem Produkt aus Masse und Beschleunigung zu errechnen –, so scheint ihm Leibniz’ Metaphysik der Kraft doch eher einzuleuchten als die cartesianische Bewegungsgeometrie. Denn wie Leibniz nähert sich auch Kant dem physikalischen Problem der korrekten mathematischen Bestimmung der Kraft nicht allein auf dem Weg der Physik. Vielmehr nimmt Kant im ersten Hauptstück seiner Schrift den Weg über die Metaphysik. Die Grundfrage nach dem Ort der Kraft erfasst er hier sehr exakt. Leibniz sei der erste gewesen, der nicht bei der trügerischen Information durch die »Sinne« stehengeblieben sei, denen es so erscheint, als würde einem Körper die bewegende Kraft »ganz und gar von draußen mitgetheilet«.104 Stattdessen habe Leibniz eingesehen, dass »dem 101 Gottfried Wilhelm Leibniz: Unterhaltung zwischen Philarete und Ariste, die auf eine vorangegangene Unterhaltung zwischen Ariste und Theodor folgt. In: Leibniz. Ausgewählt und vorgestellt von Thomas Leinkauf. München 2000, S. 222–240, hier: S. 233. 102 Leibniz: Über die Natur an sich oder über die den erschaffenen Dingen innewohnende Kraft, S. 295. 103 Zu Leibniz’ produktiver Rezeption des bei Aristoteles skizzierten Begriffs der entelecheia vgl. Enno Rudolph: Die Bedeutung des aristotelischen Entelechiebegriffs für die Kraftlehre von Leibniz: In: Albert Heinekamp (Hg.): Leibniz’ Dynamica. Stuttgart 1984, S. 49–54. 104 Immanuel Kant: Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurteilung der Beweise, derer sich Herrn von Leibniz und andere Mechaniker in dieser Streit sache bedienet haben, nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen. In: ders.: Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 1. Frankfurt a.M. 1968, S. 13–218, hier: S. 26. Schirra hat den im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts geführten Streit um das Kraftmaß als ›Logomachie‹, mithin als Streit um Worte beschrieben, der daran krankt, dass hier eigentlich gar keine konkurrierenden Formeln für denselben Fall, sondern verschiedene Sachverhalte beschrieben werden. Kants Schlichtungsversuch in Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1746) besteht darin, dass er streng genommen zwischen (aristotelisch gedacht) freier und unfreier Bewegung unter-
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Körper eine wesentliche Kraft beiwohne, die ihm sogar noch vor der Ausdehnung zukomme«.105 Leibniz’ Interesse an der »dunkele[n] Entelechie« des Aristoteles, der als einziger vor Leibniz die Kraft in die Körper selbst verlegt habe, sei von den Schulphilosophen zu lange missverstanden worden.106 Mit dieser Eröffnung vollzieht auch Kant den für Leibniz’ Überlegungen grundlegenden Denkschritt einer Entflechtung von Kraft und sichtbarer Bewegung. Dieser Perspektivenwechsel soll es nebenbei erlauben, das Kräftespiel im influxus physicus, also den wechselseitigen Einfluss von Körper und Seele aufeinander, besser zu beschreiben. Denn nur wenn man die Wechselwirkung von Körper und Seele als Zustandsveränderungen durch ihre jeweiligen Kräfte fasst, lässt sich die Bildung von Vorstellungen über die Welt begreifen: »dahero ändert die Materie, vermittelst ihrer Kraft, die sie in der Bewegung hat, den Zustand der Seele, wodurch sie sich der Welt vorstellet«.107 Nicht die Bewegungen selbst sind das erste, sondern die sie verantwortenden Kräfte. Die Kraftreflexionen treibt Kant in seiner 1755 erschienenen Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels weiter. Mit ausdrücklichem Bezug auf Newton entfaltet Kant seine kosmogonische Erzählung aus dem Mit- und Gegeneinander zweier Grundkräfte, die er in der Attraktion und der Repulsion sieht. Hier steht Kant in der Tradition einer Newton-Rezeption, die das Grundprinzip von actio und reactio als Gegeneinander von zwei verschiedenen Kräften interpretiert. Eine Dualität der Kräfte macht man schon vor Kant für scheidet, der Diskussion aber eigentlich nichts Neues hinzufügt. Schirra: Die Entwicklung des Energiebegriffs und seines Erhaltungskonzepts, S. 65 u. 67. 105 Kant: Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, S. 26. Ein Körper, der sich aufgrund von Widerständen nicht bewegt, verfügt aus Kants Sicht zweifellos über eine ihm eigene Kraft: »Die Bewegung ist nur das äußerliche Phaenomenon des Zustandes des Körpers, da er zwar nicht würket, aber doch bemühet ist zu würken«. Kant: Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, S. 27. Damit ist ziemlich genau der innovative Einsatz umrissen, den Leibniz mit der Prägung der vis mortua begrifflich fixiert hatte. Kant schlägt auf dieser Grundlage vor, den Begriff der vis motrix ganz aufzugeben und stattdessen von der vis activa einer Substanz zu sprechen. Kant: Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, S. 28. 106 Kant: Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, S. 26. 107 Kant: Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, S. 31. Brigitte Falkenburg hat das Problem des vorkritischen Kant grundsätzlich darin gesehen, dass hier Wolff’sche Erkenntnistheorie und Newtons Physik zusammengebracht werden sollen: »Sein Systematizitätskriterium führt ihn für die empirischen Naturwissenschaften zu dem Reduktionsprogramm, alle Phänomene der anorganischen Natur letztlich auf eine einheitliche Grundkraft zurückzuführen, die den Gesetzen der Newtonschen Mechanik unterliegt.« Dazu kommt aber eine Neubestimmung der Metaphysik als einer Wissenschaft, die diese naturwissenschaftlichen Prinzipien auf sich selbst – also auf die Vernunft als ihr Vermögen – bezieht. Auf diese Weise wird sie zur »Metatheorie der exakten Wissenschaften«. Brigitte Falkenburg: Kants Kosmologie. Die wissenschaftliche Revolution der Naturphilosophie im 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2000, S. 264 u. 269.
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kinetische wie für chemische Prozesse geltend, in denen sie Verbinden und Scheiden, Ausdehnen und Zusammenziehen, Erwärmen und Abkühlen als Wirkungen einander entgegengesetzter Kräfte erfassen sollen.108 Diese Unterscheidung zwischen zwei einander entgegengesetzten Kräften trifft Newton selbst allerdings nicht. Wenn bei Newton gemäß dem Gesetz der actio-reactio-Korrespondenz Kraft dort sichtbar wird, wo zwei Körper mit ihren entsprechenden Kraftpotentialen aufeinandertreffen, dann verdanken sich die einander entsprechenden Kräfte der durch ihre Masse jeweils mitgebrachten Trägheit und nicht einer rätselhaften Abstoßungskraft. Die vis inertia des zweiten Axioms der Newton’schen Prinzipien ist strenggenommen keine vis fugae oder vis repellens. Kant unterscheidet zwischen anziehenden und abstoßenden Kräften, weil ihm das Wesen der Materie anders nicht denkbar erscheint. Gäbe es nur die Attraktion, dann müssten alle Materieteilchen aufeinandertreffen und sich zum Klumpen ballen. Nur der Gegenwirkung einer Abstoßungskraft sei es zu verdanken, dass sich überhaupt von einander unterschiedene Körper herausbilden und aufeinander reagieren können. Aus dieser Theorie einer dynamischen Materie heraus versucht sich Kant nur ein Jahr später an einer Explikation der Leibniz’schen Monadenlehre mitsamt seiner Konzeptualisierung einer vis insita. In seinen Überlegungen zu den Monadologia Physica will sich Kant auf die »hohe See« der Metaphysik begeben, habe man sich doch allzusehr angewöhnt, nur »am Ufer« der Erscheinungswelt entlangzusegeln, an dem sich lediglich die »Gesetze der Natur«, nicht aber der »Ursprung und die Ursachen der Gesetze« erforschen lassen.109 Diese Spannung zwischen Metaphysik und Physik betreffe insbesondere das Wesen der Kraft. Denn während die Transzendentalphilosophie genau bewiesen habe, dass »die Anziehung oder allgemeine Schwere aus mechanischen Ursachen kaum zu erklären sei, sondern von innewohnenden Kräften der Körper ausgehe«, halte die mathematisch argumentierende Physik eine solche vis insita für eine der vielen »leeren Spielereien der Einbildungskraft«.110 Hier scheint Kant es aber mit Leibniz zu halten, liefert er doch eine Reformulierung der Monadenlehre, in der er, ähnlich wie Leibniz, die kleinsten Teile oder Substanzen, aus denen die Körper zusammengesetzt sind, über die »Sphäre ihrer Wirksamkeit« definiert.111 Die 108 Zedler: Krafft, Sp. 1664. 109 Immanuel Kant: Der Gebrauch der Metaphysik, sofern sie mit der Geometrie verbunden ist, in der Naturphilosophie, dessen erste Probe die physische Monadologie enthält. In: ders.: Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 1. Frankfurt a.M. 1968, S. 515–563, hier: S. 517. 110 Kant: Physische Monadologie, S. 519. 111 Kant: Physische Monadologie, S. 537. »So ist ersichtlich, daß sie eine Tätigkeit äußert und zwar in einem nach allen Seiten hin bestimmten Raum, daher muß man zugeben, daß sie diesen Raum durch eine Sphäre ihrer Wirksamkeit erfüllt«.
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Verhältnisse zwischen diesen Teilen stellen sich für Kant vor dem Hintergrund seiner dynamischen Materiekonzeption als Effekte einer »wechselweise[n] Tätigkeit« dar,112 in der die jeweils in den Substanzen agierenden Kräfte der Zurückstoßung und der Anziehung aufeinander wirken. Die Elastizität der Körper, also die Tatsache, dass sie je nach Beschaffenheit durch wachsende und schwindende Kompression verdichtet und verkleinert oder gelockert und vergrößert werden können, leitet er aus dem Widerspiel dieser beiden Kräfte ab und reformuliert sie als die »elastische Kraft« oder auch »Springkraft« der Körper.113 Auch wenn Kants Beweisgänge nicht in jedem Detail überzeugend sein mögen, haben seine Beschreibungen doch entscheidend auf die Kraftreflexionen um 1800 eingewirkt.114 Dies betrifft neben seiner Theorie einer von inneren Kräften gebildeten Materie vor allem die in der romantischen Naturphilosophie weiter entwickelte Vorstellung von einer Polarität der Kräfte.115 Festhalten ließe sich ein weiterer Umstand. Zwar kommt Kant durchaus immer wieder auf die Bewegung als Grundphänomen von Kraftwirkungen zu sprechen und versucht auch, die Beharrungskräfte der Trägheit miteinzubeziehen. Dennoch interessieren ihn in seiner Theorie der dynamischen Materie vor allem die Verschiedenheit von Stoffen und Medien wie etwa die Beschaffenheiten »des Äthers, der Luft, des Wassers, des Goldes«.116 Mit Elastizität ist dabei eine Eigenschaft angesprochen, aus der sich neben den Bewegungen von Körpern vor allem die Möglichkeit ihrer Formierung und Deformierung ergibt. Von dieser eigenwilligen Akzentuierung einer mit Newtons Physik versöhnten Monadologie lässt sich der Bogen schlagen zu dem, was im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft in den Mittelpunkt rückt: mithin zu Kants Interesse an einer »bildenden Kraft der Natur«.117
112 Kant: Physische Monadologie, S. 545. 113 Kant: Physische Monadologie, S. 561. 114 Auch seinen größer angelegten Versuch einer Systematisierung in Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft ist der hier entwickelte Begriff einer dynamischen, also durch innere Kräfte konstituierten Materie grundlegend. Für eine außerordentlich genaue Rekonstruktion der Annahmen, Übernahmen und zum Teil nicht ganz überzeugenden Schlüsse vgl. Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel, S. 72–94. 115 Vgl. dazu die Beiträge in: Anastasia Klug/Olaf L. Müller u.a. (Hg.): Goethe, Ritter und die Polarität. Geschichte und Kontroversen. Paderborn 2021. 116 Kant: Physische Monadologie, S. 557. Der Text endet mit dem befriedigten Vermerk, den Ursprung eines Ursprungs ausgemacht zu haben: »Daher der Ursprung der ursprünglich elastischen Körper oder Medien – es sei erlaubt, den Äther oder den Feuerstoff im voraus unter sie zu zählen.« Kant: Physische Monadologie, S. 563. 117 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: ders.: Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 10. Frankfurt a.M. 1968, S. 379.
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Im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft befasst sich Kant mit dem Problem einer teleologischen Deutung der Natur, die er als Prinzip der reflektierenden Urteilskraft durchaus zulässt. Die Funktionsweise lebendiger Organismen, so entfaltet Kant ausführlich, sei nicht allein nach den linearen Kausalketten mechanischer Begründungen zu denken, würden sie doch eine zweckmäßig erscheinende Einrichtung suggerieren. Bereits in seiner Vorrede zur Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels hatte er Zweifel angemeldet, ob sich die Entstehung des Lebendigen allein aus dem mechanisch beschreibbaren Verhalten einer von Anziehung und Abstoßung geregelten Materie ableiten lasse. Vielmehr erlaubt er sich hier zu behaupten, daß eher die Bildung aller Himmelsköper, die Ursache ihrer Bewegungen, kurz der Ursprung der ganzen gegenwärtigen Verfassung des Weltbaues, werde können eingesehen werden, ehe die Erzeugung eines einzigen Krauts oder eine Raupe, aus mechanischen Gründen, deutlich und vollständig kund werden wird.118 Die anklingende Auffassung von der Eigengesetzlichkeit des Organischen arbeitet Kant dann im Rahmen seiner Analytik der teleologischen Urteilskraft aus. Grundsätzlich stellt er sich dort die Frage, mit welchem Recht wir Teile oder Zusammenhänge der Natur als zweckmäßig eingerichtet auffassen dürfen. Denn so unwissenschaftlich es einerseits gelten muss, den Erscheinungen der Natur zu unterstellen, ein Teil erfülle für den anderen einen Zweck, so wenig lassen sich bestimmte Teile der Natur aus dem »bloße[n] Mechanism«119 oder auch »blinde[n] Mechanisms«120 reiner Kausalketten erlären. Kants Lösung lautet nun, dass teleologische Denkmuster dort ein Recht haben, wo sie von einer reflektierenden Urteilskraft bemüht werden, die zu den gegebenen Erscheinungen eine Regel zu finden versucht. Nicht erlaubt sind sie hingegen als Operationen der bestimmenden Urteilskraft, bei deren Anwendung gesetzte Regeln auf Phänomene angewandt werden.121 Die Betrachtung der
118 Immanuel Kant: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt. In: ders.: Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 1. Frankfurt a.M. 1968, S. 237. Reto Rössler hat in einer außerordentlich genauen Lektüre der Allgemeinen Naturgeschichte nachgezeichnet, wie Kant, von mechanischen Prämissen ausgehend, zu Vorstellungen von einem »kosmischen Organismus« gelangt. Reto Rössler: Weltgebäude. Poetologien kosmologischen Wissens der Aufklärung. Göttingen 2020, S. 295–317, hier: S. 316. 119 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 306. 120 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 307. 121 In teleologischen Urteilen der reflektierenden Urteilskraft werden Naturerscheinungen also unter Anwendung eines »Vernunftprinzip[s]« betrachtet, »ohne sich anzumaßen, sie
Mechanismus und Dynamismus: Der Ort der Kraft in der Natur
Natur unter dem Aspekt finaler Ursachen soll die Beschreibung als mechanischem Gefüge rein kausaler Ursachen deshalb ergänzen und nicht ersetzen. Sein Grundargument bezieht Kant aus der These von der Autonomie des Lebendigen: »ein Ding existiert als Naturzweck, wenn es von sich selbst (obgleich in zweifachem Sinne) Ursache und Wirkung ist«.122 Evident wird dieses ›Zugleich‹ von Ursache und Wirkung an drei Eigenschaften des Lebendigen, sind Lebewesen doch dort, wo sie sich fortpflanzen, sich ernähren oder sich bei Abtrennung oder Verpflanzung weiterhin selbst erhalten, ihre eigene Ursache. Die Annahme von Endursachen – Kant spricht vom nexus finalis – ist also dort erlaubt und geraten, wo sich ein Ganzes als Verbindung von Teilen beschreiben lässt, die »einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind«.123 Der Formbegriff kommt hier nicht zufällig ins Spiel, führt Kant die Differenz zwischen unbelebter und belebter Natur doch auf die Aktivität von bildenden Kräften zurück. Dies führt zu der wichtigen Feststellung: Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine: denn die hat lediglich bewegende Kraft; sondern sie besitzt in sich bildende Kraft, und zwar eine solche, die sie den Materien mitteilt, welche sie nicht haben (sie organisiert): also eine sich fortpflanzende bildende Kraft, welche durch das Bewegungsvermögen allein (den Mechanism) nicht erklärt werden kann.124 Im Reich organischer Formen, so hatte es schon Leibniz gesehen, reichen mechanische Beschreibungen nicht aus. Während Kant seine dynamische Theorie der Materie innerhalb eines mechanischen Modells einer anziehenden und einer abstoßenden Kraft entwickelt, geht er in seiner Beschreibung des lebendigen, zweckmäßig organisierten Lebens über den Bereich der bewegenden Kräfte hinaus und rekurriert auf bildende Kräfte, die sich der mechanischen Beschreibung entziehen.125 darnach zu erklären«. Wenn Teleologie derart als »regulatives Prinzip« begriffen wird, dann ist die dabei festgestellte Zweckmäßigkeit immer nur »formal«, nicht »material«. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 306. 122 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 321. 123 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 321. 124 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 322. Im §67 wird dies zu dem wichtigen Schluss geführt: »Es mag immer sein, daß z.B. in einem tierischen Körper manche Teile als Konkretionen nach bloß mechanischen Gesetzen begriffen werden könnten (als Häute, Knochen, Haare). Doch muß die Ursache, welche die dazu schickliche Materie herbeischafft, diese so modifiziert, formt, und an ihren gehörigen Stellen absetzt, immer teleologisch beurteilt werden, so, daß alles in ihm als organisiert betrachtet werden muß, und alles auch in gewisser Beziehung auf das Ding selbst wiederum Organ ist«. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 326. 125 Gemeint ist hier die Tradition der vis plastica und vis formativa der aristotelischen Tradition, auf die sich auch Leibniz bezieht. Was Kant hier für seine Präzisierung teleologischer Denkmuster gebraucht, hat er – diese Rezeptionslinie ist über einen Briefdialog ausgewiesen
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Die Annahme von Endursachen oder finalen Ursachen ist aber nicht nur dort hilfreich, wo man sich auf die zweckmäßig erscheinende Einrichtung einzelner Organismen beziehen möchte. Sie hilft auch dort weiter, wo das Ganze der Natur zur Debatte steht. Denn so, wie in einem lebendigen Wesen alle Organe einander wechselseitig Mittel und Zweck sind, so scheint auch das Weltganze wohleingerichtet zu sein. Zumindest lässt sich als subjektives Prinzip der Vernunft und damit als »Maxime« formulieren: »Alles in der Welt ist irgendwozu gut; nichts ist in ihr umsonst; und man ist durch das Beispiel, das die Natur an ihren organischen Produkten gibt, berechtigt, ja berufen, von ihr und ihren Gesetzen nichts, als was im Ganzen zweckmäßig ist, zu erwarten«.126 Damit sei jedoch allen trivialen Festlegungen von Lebewesen auf ihren Zweck für andere durchaus vorgebeugt. Auch wenn Fichten von den sandigen Böden Norddeutschlands profitieren, so sind die Sandböden doch nicht für die Fichten da. Statt von Zweck wäre hier von Nutzbarkeit oder Zuträglichkeit zu sprechen, denen gemäß sich etwas als »Mittel zum zweckmäßigen Gebrauche anderer Ursachen ansehen« lässt.127 Menschen können also zweckmäßigen Gebrauch von Fichten machen, die Fichten gehen aber nicht in diesem Zweck für die Menschen auf. Kant stellt derartige Begründungsmodelle an anderer Stelle auch unter einen Fiktionsvorbehalt: Es scheint etwas »so beschaffen […], als ob es für unseren Gebrauch absichtlich so eingerichtet wäre«.128 Teleologische Begründungen fügen sich dergestalt zu einem Gedankenspiel, in dem sich neben dem Nützlichen auch Störendes und zuletzt ganz Überflüssiges wie etwa das von uns als schön Empfundene integrieren lässt. Unangenehme Erscheinungen will Kant etwa als »Stacheln der Tätigkeit«129 würdigen. Treffen Menschen in einem Landstrich zu viele Mosquitos an, dann legen sie Sümpfe trocken und lichten Wälder. Das Schöne hingegen sei eine »Gunst«,130 ein »über das Nützliche« hinaus ausgeteiltes Gut, das uns gerade diese »Unermeßlichkeit« ihres besonderen luxurierenden Überschusses wegen erfreut: »gerade als ob die Natur ganz eigentlich in dieser Absicht ihre herrliche Bühne aufgeschlagen und ausgeschmückt habe«.131 Mit diesem in der »innern Form«132 der Naturerscheinungen anzutreffenden Anschein von – der (Fehl-)Lektüre von Johann Friedrich Blumenbachs Schrift über den Bildungstrieb entnommen. Vgl. Dazu Robert J. Richards: Kant and Blumenbach on the Bildungstrieb: A Historical Misunderstanding. In: Studies in History and Philosophy of Science Part C: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 31 (1/2000), S. 11–32. 126 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 328. 127 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 314. 128 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 309. 129 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 328. 130 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 329. 131 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 330. 132 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 332.
Mechanismus und Dynamismus: Der Ort der Kraft in der Natur
Zweckmäßigkeit, in der die Figur der Zweckmäßigkeit ohne Zweck als Kategorie ästhetischer Urteile noch einmal nachhallt, ist deshalb auch keine von einem Schöpfergott verantwortete absichtsvolle Einrichtung des Naturganzen gemeint. Teleologische Begründungen, so macht Kant im §68 unmissverständlich klar, sind keine theologischen Begründungen. Er sieht seine Leistung vielmehr darin, teleologische Betrachtungen aus der Metaphysik – gedacht ist hier nicht zuletzt an die Physikotheologie des 18. Jahrhunderts – herauszulösen, ohne umgekehrt die im Zeichen der experimentellen Wissenschaften vollzogene Ausgrenzung teleologischer Modelle aus der Naturbetrachtung rückgängig zu machen.133 Vielmehr dient die Teleologie insofern der »Kritik der Urteilskraft«, als sie die Grenze bezeichnet, an der mechanische Erklärungen an ihr Ende gelangen und in Metaphysik übergehen.134 Dabei ähnelt das teleologische Urteil weitgehend dem ästhetischen Urteil, als dessen Pendant es in der Systemarchitektur der Kritik der Urteilskraft ja auch auftritt.135 Als Konsequenz vertieft Kant den Graben zwischen unbelebter und belebter Natur, der sich dann auftut, wenn man die jeweils zuständigen Kräfte klar auseinanderhält. Dies habe nun als erster »Herr Hofr. Blumenbach« geleistet: Denn, daß rohe Materie sich nach mechanischen Gesetzen ursprünglich gebildet habe, daß aus der Natur des Leblosen Leben habe entspringen, und Materie in die Form einer sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit sich von selbst habe fügen können, erklärt er mit Recht für vernunftwidrig; läßt aber zugleich dem Naturmechanism unter diesem uns unerforschlichen Prinzip einer ursprünglichen Organisation einen unbestimmbaren, 133 Denn in die Naturforschung dürfe nicht nur das gehören, was Forschende experimentell erzeugen können, sondern müsse auch dasjenige gezählt werde, was sich – wie die Erzeugung und Erhaltung lebendiger Wesen – nicht künstlich herstellen lässt. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 334. 134 Die naturphilosophischen Dimensionen entfaltet Kant in der abschließenden Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft. Hier diskutiert er die konkurrierenden Vorschläge des Atomismus, der nur den blinden Zufall walten lässt, des Hylozoismus, der von einer lebendigen Materie und einer Weltseele ausgeht, bis hin zum Theismus, in dem ein göttliches, von seiner Schöpfung aber durchaus unterschiedenes Wesen als ›Urgrund des Weltalls‹ angenommen wird. Alle diese Erklärungen, so muss Kant feststellen, reichen zur Begründung teleologischer Urteile nicht hin. 135 Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel, S. 101. Die Systemstelle ist hier die eines Scharniers zwischen den Reichen der Natur und der Freiheit: »In der Natur wird gleichsam etwas entdeckt, das nicht mehr mit den Mitteln der Natur erklärt werden kann, das auf einen übersinnlichen Bestimmungsgrund verweist, d.h. auf das Reich der Freiheit«. Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel, S. 109. Bonsiepen verweist unter anderem auch darauf, dass Kant dem von ihm kritisierten Theismus durchaus nahesteht.
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zugleich doch auch unverkennbaren Anteil, wozu das Vermögen der Materie (zum Unterschiede von der, ihr allgemein beiwohnenden, bloß mechanischen Bildungskraft) von ihm in einem organisierten Körper ein (gleichsam unter der höheren Leitung und Anweisung der ersteren stehender) Bildungstrieb genannt wird.136 Kants terminologische Verdopplung von Bildungskraft und Bildungstrieb, die in Blumenbachs Entwurf kein Vorbild hat, impliziert eine Unterscheidung zwischen mechanischen und nicht-mechanischen Prozessen, die im Lebendigen gleichermaßen zum Zuge kommen.137 Im Lebendigen sind auch, aber eben nicht nur mechanische Gesetze am Werk. Ihnen muss ein als Trieb annoncierter Faktor zur Seite treten, der bei der Bildung von Organismen die ›Leitung‹ übernimmt. Die Rolle der Kraft in der Wissenschaft vom Lebendigen, die sich um 1800 unter dem Namen der Biologie formiert, gilt es genauer zu untersuchen. Denn wie sich zeigen wird, tritt das ›als ob‹, dessen man sich laut Kant bei der Formulierung teleologischer Urteile bedienen sollte, bei der Annäherung an das »uns unerforschliche [...] Prinzip« des Lebendigen in den Vordergrund.138 So wird sich gerade in den Debatten um eine Lebenskraft wie auch in der Bestimmung von Alternativbegriffen wie Trieb, Streben oder Energie besonders deutlich herausstellen, dass die Annahme von Kräften zur Explikation von Vorgängen in der Natur zwar hilfreich sein mag, diese aber einer letzten Begründung entzogen bleiben.
Kräfte des Lebendigen: Bildungstrieb und Lebenskraft (Blumenbach, Kielmeyer, Reil) Die Frage nach dem Ort der Kraft stellt sich in verschärfter Weise dort, wo man neben Bewegungen und Ortsveränderungen auch Vorgänge wie Wachstum, Ernährung oder Fortpflanzung als Kraftwirkungen zu verstehen versucht. Der bereits zitierte Verfasser des Artikels ›Krafft‹ in Zedlers Universallexicon entfaltet diese Problematik in einer Fülle von Fragen: Wo gehören aber diejenigen Kräffte hin, die wir bey denen Thieren, Pflanzen, Mineralien und andern irdischen Cörpern wahr nehmen, Vermöge 136 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 381. 137 Timothy Lenoir sieht in Kant den Begründer einer besonderen Variante der Biologie, in der mechanische und teleologische Erklärungsmuster verbunden werden: »Kant explained clearly and forcefully why this was not an ad hoc stratagem; how biological explanations could be both teleological and mechanical without being occult.« Timothy Lenoir: The Strategy of Life. Teleology and Mechanics in Nineteenth Century Germany. Dordrecht/Boston 1982, S. 24. 138 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 381.
Kräfte des Lebendigen: Bildungstrieb und Lebenskraft
welcher sie Actiones zu verrichten, ingleich zu wachsen und andere Dinge von ihrer Art zu erzeugen in den Stande seyn? Was ist der Spiritus animalis, welcher die Musceln eines thierischen Cörpers der Gestallt dirigiret, daß so vielerley Arten der Bewegung in denen organis desselbigen erfolgen, und Vermöge welcher die Thiere allerhand Bewegungen in andern Cörpern hervorzubringen vermögend sind, von welchen man saget, sie wären dann von den viribus animalibus erreget worden? Was ist dasjenige in einem thierischen Cörper, wodurch derselbige, wenn er von äusserlichen Dingen unterhalten wird, wächset und zunimmet; und was vor eine Kraft lieget in ihnen verborgen, Vermöge welcher sie in dem Stande sind, Dinge von ihrer Art zu erzeugen, daß nehmlich Menschen wiederum Menschen, Hunde ebenfalls Hunde, u.s.w. zeugen? Was ist die Anima vegetativa bey denen Pflanzen, durch welche dieselbigen wachsen und Frucht bringen, in welchen wiederum Saamen enthalten, aus welchen Pflanzen von änlicher Art wieder erzeuget werden können? Was ist dasjenige bey denen Metallen und andern Mineralien, wodurch solche in der Erde erwachsen? Was ist der von denen Chymicis sogenannte Spiritus Rector, welchen man bey jeglichen Thieren, bey jeglicher Pflanze, bey jeglichen Cörper von besonderer Beschaffenheit antrifft, und wodurch sich das Genie eines ieglichen Cörpers von dem andern genau distinguiret? Sind dies nicht alles Kräffte der Natur?139 Obwohl, so impliziert die abschließende Frage, alle Erscheinungen der unbelebten und belebten Natur auf Kräfte zurückzuführen sein sollten, versteht sich die Anwendbarkeit eines an Newton anschließenden Kraftdenkens bei der Beantwortung der aufgelisteten Teilfragen nicht von selbst. Lässt man die Tatsache beiseite, dass auch den Gesteinen und Mineralien ein pflanzenähnliches Wachstum zugestanden wird, dann werden die Fragen noch dringlicher. Denn verantwortet die Anziehungskraft auch die Eigenschaften und Möglichkeiten lebendiger Wesen, wie sie sich im Zusammenspiel von Nerven und Muskeln, im Metabolismus und in der Atmung, im Wachstum und in der Fortpflanzung zeigen? Lässt sich die alte Naturforschung mit ihren aristotelischen animae und spiriti, also den Tier- und Pflanzenseelen, tatsächlich in wissenschaftliche Beschreibungen überführen? Oder ist die Eigenaktivität des Lebendigen nicht eher in entelechetischen oder teleologischen Konzepten zu erfassen, wie sie in Leibniz’ Überlegungen zum Streben der Monaden oder in Kants Theorie des Organischen als Anschein einer inneren Zweckmäßigkeit vor liegen? Auf dieses Arbeitsprogramm reagieren die Naturforschenden des 18. Jahrhunderts unterschiedlich. Dass Kraft als Grundbegriff der Naturlehre gelten 139 Zedler: Krafft, Sp. 1667.
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soll, bleibt zwar Konsens. Ob man es in den Reichen des Unorganischen und des Organischen aber allein mit Entfaltungen mechanischer Grundkräfte wie Druck und Stoß oder mit Geltungsbereichen von unterschiedlichen, nicht auseinander ableitbaren Kräften zu tun hat, wird zum Gegenstand komplexer Kontroversen, die im ausgehenden 18. Jahrhundert an Fahrt gewinnen. Wenn die neue Physiologie der Nerven den tierischen Organismus aus dem Zusammenspiel von Muskelbewegung und Nerventätigkeit oder, mit Albrecht von Haller gesprochen, von Irritabilität und Sensibilität begreift und die bis zu Reil fortgeführte Reizphysiologie begründet,140 wenn Caspar Friedrich Wolff und Johann Friedrich Blumenbach die Fortpflanzung, Ausbildung und Regeneration lebendiger Organismen als Effekte einer besonderen Zeugungskraft oder eines Bildungstriebs beschreiben,141 oder wenn Karl Friedrich Kielmeyer dieses Spektrum unterschiedlicher Kräfte des Lebendigen im Anschluss an Johann Gottfried Herder als ›organische Kräfte‹ zusammenfasst und syste matisiert,142 dann folgen sie zum Teil durchaus mechanischen Modellen. Sie versuchen, die Eigenschaften und Vorgänge des Lebendigen in UrsacheWirkungs-Zusammenhängen zu denken, die gemäß eines von Kant gerne als ›blind‹ bezeichneten Mechanismus ablaufen. Die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts insbesondere unter deutschsprachigen Forschenden entfachte Debatte um eine vis vitalis, vis essentialis oder auch eine Lebenskraft speist sich jedoch aus dem Verdacht, dass die nach Gattungen und Funktionen aufgeteilten vires animalibus oder vires vegetativa nicht auf die physikalische Anziehungskraft zu reduzieren sind und auch nicht ganz in den Gesetzen der Mechanik aufgehen. Was sich rückblickend als vergleichsweise kurze Phase erweist, markiert einen beachtlichen diskurspolitischen Einschnitt, legitimiert sich die Einsetzung der Biologie als autonome Wissenschaft vom Lebendigen doch nicht zuletzt über die Bestimmung einer derart eigengesetzlichen Kraft, obwohl der Biologie mit demselben Argument auch abgesprochen werden kann, es je zu einer Wissenschaft im strengen Sinn bringen zu können.143 Der von deutschen Naturforschenden eingeschlagene Sonderweg, auf dem man sich von rein mechanistischen Modellen cartesianischer oder La Mettrie’scher Prägung entfernt, ist gut aufgearbeitet. Wie dabei 140 Albrecht von Haller: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Aus dem Lateinischen übersetzt v. Johann Samuel Halle, 8 Bde. Berlin 1759–1776. 141 Caspar Friedrich Wolff: Theorie von der Generation, in zwei Abhandlungen erklärt und bewiesen. Berlin 1764; Johann Friedrich Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb. Göttingen 2 1791. 142 Karl Friedrich Kielmeyer: Ueber die Verhältniße der organischen Kräfte unter einander in der Reihe der verschiedenen Organisationen. Stuttgart 1793. 143 Zur Bedeutung der Lebenskraft-Debatte für die Begründung der Biologie vgl. Ilse Jahn: Biologische Fragestellungen in der Epoche der Aufklärung (18. Jh.). In: dies. (Hg.): Geschichte der Biologie, 3., neubearbeitete Auflage. Jena/Stuttgart 1998, S. 231–273.
Kräfte des Lebendigen: Bildungstrieb und Lebenskraft
gezeigt worden ist, lässt sich eine für den Bereich des Lebendigen reservierte Kraft durchaus unterschiedlich begründen. So kann man die Lebenskraft grundsätzlich als dasjenige bestimmen, was die Materie selektiert und zum Organismus arrangiert. Mit dieser Beschreibung ist aber noch nicht entschieden, ob eine solche Lebenskraft in der Materie bereits enthalten ist oder ob sie auf eine besonders disponierte Materie zutreten muss, um diese zu animieren oder zu beleben. Eine irreduzible Kraft des Lebendigen kann also, wie etwa Johann Christian Reil dies tut, als materialistisches oder aber mit Georg Ernst Stahl als spiritualistisches Prinzip gedacht werden. Diese Differenzen innerhalb der Diskussionen um eine Lebenskraft hat man mit leichten Verschiebungen der Perspektive als Teleomechanik und vitalen Materialismus,144 als Spaltung der Lebenskraft in eine physikalischmechanizististische und eine vitalistische Spielart,145 als Entgegensetzung von Animismus und vitalem Materialismus,146 oder aber als Maschinendenken beschrieben, das Lebewesen mal als göttlich bewegte, mal als selbstbewegte Maschinen auffasst.147 Sehr differenziert hat Zammito jüngst noch einmal das Spektrum der Positionen dargestellt, wobei ihm das Prinzip der Selbst organisation, das dem cartesianischen Denken des Körpers als mechanische Maschine entgegengesetzt wird, als Leitfaden dient. An Zammitos Hinweis, dass die Revisionen der Lebenskraft nicht zuletzt von einer gewissen Unruhe im Begriff der Kraft selbst angetrieben wurden, knüpfe ich hier an.148 Denn es ist wohl kein Zufall, dass Émil du Bois-Reymond seine Kritik der Kraft zuerst 144 So hat Lenoir in seiner wegweisenden Arbeit Formen teleologischen Erklärens rekon struiert, die sich zwischen Vitalismus und mechanischem Reduktionismus bewegen. Die Positionen von Blumenbach und Kielmeyer beschreibt Lenoir als »vital materialism«, insofern sie die Lebenskraft als eine »emergent property dependent upon the specific order and arrangement of the components« sehen. Lenoir: The Strategy of Life, S. 10. 145 Walter Botsch setzt im Begriff der Lebenskraft einen Spalt zwischen Mechanizismus und Vitalismus an. Lebenskraft wird zum einen als »eine physikalische Kraft, als eine dem Mechanismus zugehörige Kraft«, zum anderen als »ein mystisches Vermögen« gefasst. W alter Botsch: Die Bedeutung des Begriffs Lebenskraft für die Chemie zwischen 1750 und 1850. Stuttgart 1997, S. 3. 146 Robert Richards betont, dass sich von Blumenbach über Kant, Kielmeyer und Reil bis Schelling die Ansicht verdichtet, dass sich die Bildung und Aktivität lebendiger Organismen nicht mechanisch erfassen lassen. Robert J. Richards: The Romantic Conception of Life. Science and Philosophie in the Age of Goethe. Chicago/London 2002, S. 307–312. 147 Jessica Riskin unterscheidet auf der Suche nach Konzepten der agency zwischen göttlich bewegten und eigenbewegten Maschinen. Wenn sie eine solche agency in einem »vital, mechanical striving« sieht, dann stellt sie diesen vitalen Materialismus in einen aktualisierten Begriffsrahmen. Jessica Riskin: The Restless Clocks. A History of the Centuries-Long Argument over What Makes Living Things Tick. Chicago/London 2016, S. 199. 148 »[F]orce was the concept that animated revision in the natural philosophy of the eighteenth century«. John H. Zammito: The Gestation of German Biology. Philosophy and Phy siology from Stahl to Schelling. Chicago/London 2018, S. 245.
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in einer Auseinandersetzung mit den um 1800 artikulierten Lebenskraftvorstellungen formuliert. Lebenskraft, so setzt er in den Vorüberlegungen zur tierischen Elektrizität an, sei als wissenschaftlicher Begriff »zu dunkel und zu unbestimmt«: Im allgemeinen laufen sie darauf hinaus, eine Lebenskraft als Ursache und obersten Ordner aller Lebenserscheinungen anzunehmen. Diese Kraft bewohnt den ganzen Körper, ihr unbewußt-bewußtes Wesen treibend auf dem geheimnisvollen, ja übersinnlichen Hintergrunde eines Schauplatzes, auf dessen äußerster Vorbühne allein alles sinnlich Erreichbare, Erklärliche spielt.149 In ihrer Rolle als alchemistische Alleskönnerin – »ihr ist gegeben, zu binden und zu lösen, wie es ihr gefällt« – soll sie Nahrung verstoffwechseln, dem Verfall entgegenwirken, sich per Fortpflanzung auf andere Organismen übertragen, dort Wachstum und Entwicklung steuern; auch ist sie für Muskelkraft und tierische Wärme, für Metabolismus und Ausscheidung, für Heilung und Regeneration zuständig. Eine mit all diesen Funktionen beauftragte Lebenskraft ist aber, so scheint für du Bois-Reymond klar, nichts als ein »Phanta siegebilde«.150 Nun werden bei der Erforschung des Lebendigen in Medizin, Anthropologie, Botanik und Zoologie des 18. Jahrhundert neben überlieferten Kraftbegriffen wie der vis vitalis oder der vis essentialis durchaus andere Begriffe ins Spiel gebracht. Zu Vorstellungen von Trieb, Drang oder Streben, die an Leibniz’ Vorstellungen von conatus und Entelechie erinnern, tritt etwa der Begriff der Energie, der in der Thermodynamik des 19. Jahrhunderts zentral werden wird. Die Fülle der Alternativbegriffe ist symptomatisch für die epistemische Krise der Kraft, die von Newtons Unterscheidung in eine mathematisch bestimmbare ›force‹ und eine leider ungreifbare Ursache ›cause‹ mitausgelöst wurde und die in der Auseinandersetzung um die Potentiale und Aktivitäten des Lebendigen besonders scharf hervortritt. Von Lebenskraft spricht Johann Friedrich Blumenbach nicht, wenn er seine 1781 zuerst erschienene Abhandlung Ueber den Bildungstrieb als Versuch einführt, die immer noch verbreitete Meinung von der Präformation lebendiger Wesen endgültig zu widerlegen. Mit der Rede von der Zeugung als »wiederholte Schöpfung«151 fällt gleich zu Beginn das Stichwort, mit dem Blumenbach seine
149 Émil du Bois-Reymond: Über die Lebenskraft. Aus der Vorrede zu den ›Untersuchungen über tierische Elektrizität‹ vom März 1848. In: Reden von Émil du Bois-Reymond in zwei Bänden, Bd. 1. Leipzig 1912, S. 1–26, hier: S. 10. 150 Du Bois-Reymond: Über die Lebenskraft, S. 11. 151 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 10.
Kräfte des Lebendigen: Bildungstrieb und Lebenskraft
Position im Streit um »Evolution« oder auch »Präformation« und »Epigenese«152 markiert. Er vertritt die These, dass ein Lebewesen erst im Moment der Zeugung entstehe, wobei ein mit der Zeugung erregter Bildungstrieb die Formwerdung des Lebendigen verantwortet. Diesen Bildungstrieb unterscheidet er von anderen Lebenskräften wie etwa der von Haller beschriebenen Irritabilität, Sensibilität und Kontraktibilität, indem er sie als »die erste wichtigste Kraft«153 bezeichnet. Eine derart primäre Kraft sei der Bildungstrieb, weil er alle anderen Vorgänge und Kräfte des Lebendigen fundiere. Für präformationistische Szenarien von Keimen, die schon im Augenblick der Schöpfung in ihrer Gesamtheit erschaffen worden seien, hat Blumenbach nur Spott übrig, hält er sie doch insgesamt für »abentheuerlich romanhaft« und keineswegs für wissenschaftlich.154 Allerdings kann der polemische Grundzug seines Texts kaum darüber hinwegtäuschen, wie schwer sich ein Bildungstrieb streng wissenschaftlich begründen lässt. Blumenbachs Argumentation gibt deshalb nicht nur Aufschluss über eine neue Auffassung vom Lebendigen. Sie lässt zugleich ein wachsendes Problembewusstsein für die Kategorie der Kraft erkennen. Wohl um möglichen Einwänden gegen den spekulativen Charakter seiner Begriffssetzung zu entgehen, führt sich Blumenbach schon auf den ersten Seiten seines Texts als strenger Empiriker ein. Er berichtet von Experimenten mit Armpolypen, die er bei schönstem Sommerwetter an einem Mühlbach gefunden und verschiedenen Versuchen unterzogen habe. Den »verstümmelten Thieren« wachsen die amputierten Glieder nach, wenn auch kleiner, kürzer und dünner als zuvor. Besonders scheint sich Blumenbach an der vorzüglichen Beobachtbarkeit dieses Geschehens zu freuen – dass also »die Wiederersetzung gleichsam zusehends vonstatten zu gehen schien«.155 In der Narbenbildung, die er bei einem am »Winddorn« (spina ventosa, einer Entzündung der Knochen und des umliegenden Gewebes) erkrankten Freund beobachtet, sieht er »mutatis mutandis«156 den gleichen Fall. Und so kommt er zu der vielzitierten These,
152 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 13. Präformationisten beharren darauf, dass die Keime zu allen Lebewesen bereits im Moment der göttlichen Schöpfung angelegt sind und sich nur noch zum richtigen Zeitpunkt entfalten müssen. Konzepte der Epigenese hingegen gehen davon aus, dass Organismen durch Zeugung, also nachträglich, in die Welt kommen. Wolff entwirft entsprechend eine »Generationstheorie, deren Gegenstand die Entwicklung von Formen aus dem Formlosen ist«. Ohad Parnes/Ulrike Vedder/Stefan Willer: Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte. Frankfurt a.M. 2008, S. 75–81, hier: S. 77. 153 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 32. 154 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 26. 155 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 28. 156 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 30.
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dass in dem vorher rohen ungebildeten Zeugungsstoff der organisirten Körper, nachdem er zu seiner Reife und an den Ort seiner Bestimmung gelangt ist, ein besonderer, dann lebenslang thätiger Trieb rege wird, ihre bestimmte Gestalt anfangs anzunehmen, dann lebenslang zu erhalten, und wenn sie ja etwa verstümmelt worden, wo möglich wieder herzustellen. Ein Trieb, der folglich zu den Lebenskräften gehört, der aber eben so deutlich von den übrigen Arten der Lebenskraft der organisierten Körper (der Contractibilität, Irritabilität, Sensibilität etc.) als von den allgemeinen physischen Kräften der Körper überhaupt, verschieden ist; der die erste wichtigste Kraft zu aller Zeugung, Ernährung, und Reproduction zu seyn scheint, und den man um ihn von andern Lebenskräften zu unterscheiden, mit dem Namen des Bildungstriebs (nisus formativus) bezeichnen kann.157 Der am Ende der Passage eingeführte Begriff des nisus formativus, also des Formtriebs oder, mit Blumenbach gesprochen, des Bildungstriebs, trägt im Namen, worum es gehen soll. Mit Bildungstrieb bezeichnet Blumenbach das eigenwillige Streben lebendiger Organismen, eine gewisse Gestalt auszuprägen und diese auch nach Beeinträchtigung und Verletzung wiederherzustellen. So bündig diese Bestimmung des Bildungstriebs daherkommt, so unbestimmt bleibt sie gerade an den entscheidenden Punkten. Denn wie lassen sich eigentlich Versuche mit verstümmelten Armpolypen und Heilungsprozesse beim Menschen, also Vorgänge, von denen sich strenggenommen nur Regeln der Regeneration ableiten lassen, als Beleg für die Generation, also für die Hervorbringung neuer Geschöpfe werten? Wo war der Trieb, bevor er rege wurde: war er bereits in den Zeugungssäften oder auch im Zeugungsstoff enthalten oder musste er zu diesem hinzutreten?158 Und was veranlasst den Trieb dazu, seine Tätigkeit irgendwann aufzugeben? Auf die rätselhafte Herkunft und das weitere Schicksal des Bildungstriebs finden sich im Text keine Hinweise. Vielmehr rettet sich Blumenbach mit dem Verweis auf Newtons Lösung aus der epistemischen Problematik der Kraft. So wie Newton ›force‹ und ›cause‹ unterschieden habe, wolle auch er das Wort 157 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 31–32. 158 Blumenbach verweist später noch einmal auf die »Vorbereitung der Zeugungssäfte, bevor der Bildungstrieb in ihnen rege werden kann«, um dann »in seiner vollen Stärke, in aller seiner noch ungetheilten Thätigkeit die Grundlage der Bildung des neuen Geschöpfs« zu bewirken. Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 105. Lenoir hat dieses Begründungsproblem genau herausgearbeitet: So bewege sich Blumenbach zwischen der »Scylla of materialistic reductionsm and the Charybdis of vitalism«: »For Blumenbach the Bildungstrieb did not exist apart from its material constituents, but it could not be explained in terms of those elements.« Lenoir: Strategy of Life, S. 20–21.
Kräfte des Lebendigen: Bildungstrieb und Lebenskraft
Kraft nur als Bezeichnung für die empirisch beobachtbare »constante Wirkung« gelten lassen.159 Die Ursache hingegen sei eine »qualitas occulta«, über die sich im Rahmen wissenschaftlichen Arbeitens keine Aussagen machen lassen. Oder mit Ovid gesprochen: »causa latet, vis est notissima« – die Ursache liegt im Verborgenen, die Kraft ist bestens zu bemerken.160 Blumenbach stellt sich hier in eine durch Voltaire und d’Alembert abgesicherte Tradition der Aufklärung, der gemäß man das »Studium dieser Kräfte« darauf beschränkt hat, die beobachtbaren Wirkungen zu sammeln, zu systematisieren und auf »allgemeinere Gesetze« zu bringen.161 Blumenbach will die Wissenschaft vom Lebendigen in diesem Sinn als Erfahrungswissenschaft betreiben, die auf die Erklärung der ersten Ursachen verzichtet. Anders als Newton hat Blumenbach es bei seinen Bobachtungen an lebendigen Organismen allerdings mit Vorgängen zu tun, die sich nur schwer messen und entsprechend auch kaum mathematisch formalisieren lassen. Dennoch unternimmt er den Versuch, sich im Darstellungsgestus der Newton’schen Axiomatik anzunähern. Trieb und Tätigkeit, so argumentiert Blumenbach, unterliegen zeitlichen Mustern und Konjunkturen.162 Sie bedürfen der Vorbereitung, bevor sie sich zu voller Stärke entfalten können, und sie nehmen im Verlauf einer Lebensspanne auch wieder ab. Der Bildungstrieb stehe dabei in umgekehrt proportionalem Verhältnis zum Alter eines Organismus. Eine weitere Gesetzmäßigkeit hält Blumenbach für den Unterschied zwischen Tier- und Pflanzenarten fest. Hier beobachtet er, dass sich Säugetiere in den ersten Tagen und Wochen nach der Befruchtung weit schneller ausbilden als etwa die Küken in Eiern. Es sei also im höher entwickelten Tier, gemessen an der verstrichenen Zeit, ein stärkerer Bildungstrieb am Werk. Ein derart proportionales Verhältnis zwischen Zeit und Kraft erinnert an die Grundgesetze der Mechanik, an deren Formulierung sich Blumenbach hält, ohne damit die Differenz zwischen Organischem und Unorganischem einzuebnen. Überzeugt »von der mächtigen Kluft« zwischen
159 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 33. 160 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 34. 161 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 38. Symptomatisch ist nebenbei die Abqualifizierung von Vorgängerkonzepten einer Formkraft, insbesondere der »vis plastica der Alten (besonders der peripatetischen Schule)«. Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 36–37. Die Wolff’sche vis essentialis, die als Kraft zur hydraulisch gedachten Säfteverteilung im Pflanzenorganismus gedacht sei, fungiere hingegen nur als »Requisit« des Bildungstriebs. Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 40. 162 Janina Wellmann hat herausgearbeitet, dass hier weit über die bloße Diagnose von Dynamisierung und Verzeitlichung hinaus auch über zeitstrukturierende Modelle nachgedacht wird. Im Rhythmus identifiziert sie ein ›Dispositiv‹, in dem sich künstlerische, kulturelle und wissenschaftliche Zeitstrukturierung treffen. Janina Wellmann: Formen des Werdens. Eine Kulturgeschichte der Embryologie, 1760–1830. Göttingen 2010.
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der »belebten und unbelebten Schöpfung«163 und damit von der Eigengesetzlichkeit des Lebendigen konturiert Blumenbach einen Bildungstrieb, der die epistemische Herausforderung des Kraftdenkens annimmt, ohne die Kräfte des Lebendigen einzig und allein aus den von Newton beschriebenen Kräften der Trägheit und der Anziehung abzuleiten.164 Anders als bei Albrecht von Haller bleiben die Ergebnisse der Embryologie, in der sich regelförmige Entwicklungen von Organismen beobachten lassen, in Blumenbachs Texten eher marginal. Stattdessen entwickelt Blumenbach im umfangreichen zweiten Teil des Aufsatzes sein Argument fast ausschließlich an pathologischen Fällen. Der Stich der Gallwespe, der eine besondere Art von Apfel hervorbringt; eine moosartige Flechte, die sich bei Rosen als Reaktion auf Parasitenbefall zeigt; Wucherungen und Geschwulste an tierischen Organismen; falsch, aber erstaunlich funktional verheilte Brüche – all diese Reaktionsbildungen, so Blumenbach, können wohl kaum vom Moment der ersten Schöpfung an angelegt gewesen sein.165 Auch im dritten Teil, in dem Blumenbach seine Gesetze vorstellt, befassen sich nur die ersten drei Gesetze mit dem Normalfall, während ab dem vierten Gesetz »Abweichungen des Bildungstriebs von seiner bestimmten Richtung« diskutiert werden.166 Eingeschlossen sind hier Monstren und Wunder wie etwa Hasen mit Rehgeweih, Erlen mit Eichenblättern, Zwitter bei Menschen und anderen Säugetieren sowie weitere »rätselhafte Abweichung[en]«.167 Das von Blumenbach angeführte Zitat aus Ovids Metamorphosen – »causa latet, vis est notissima« – ist in diesem Zusammenhang doppelt passend, wird in der Geschichte von Salmacis und Hermaphroditus doch von einer Quelle erzählt, um deren geschlechtsverändernde Wirkung alle wissen, auch wenn deren Ursache verborgen bleibt.168 Blumenbach gewinnt seine Beobachtungen also fast ausschließlich am »Nothfall«,169 den er entweder vorfindet oder aber in sorgfältig gesetzten Schnitten an lebendigen Organismen selbst herstellt. 163 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 79. 164 Weil man nur mit einem »etwas gewagten Sprung« von Unorganischen zum Organischen gelangen könne, sei es wenig zielführend, die Vorgänge in lebendigen Organismen auf die im Anorganischen wirksamen Kräfte zurückzuführen. Gleichwohl sieht er »auch im unorganischen die Spuren von bildenden Kräften«, ein Beispiel ist hier die Kristallisation. Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 81. 165 Die erstaunlich zahlreichen Wunder- und Kuriositätenberichte von Kindern oder Tieren, die ohne jede Zeugung einen weiteren Organismus in sich getragen oder gar geboren haben sollen, zitiert Blumenbach nur, um sie als Beleg gegen seine These zu nutzen. Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 59–64. Das außerordentlich seltene Phänomen ist in der heutigen Medizin unter dem Begriff der fetalen Inklusion (oder fetus in fetu) beschrieben. 166 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 109. 167 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 109. 168 »causa latet, vis est notissima fontis«. Ovid: Metamorphosen, S. 194 (Buch IV, Vers 287). 169 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 99.
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Ein weiteres aufschlussreiches Argument ist neben den Störfällen auch der Eingriff des Menschen in Gestalt von Züchtungsbemühungen.170 Die aufgereihten Beispiele betreffen Fälle gezielter Intervention mit dem Ziel, besonders geartete Zuchtpflanzen herzustellen. Ein gewisser Stolz klingt an, wenn Blumenbach die Mühen beim Tabakanbau beschreibt und schließlich die »[g]änzlich vollbrachte Verwandlung einer natürlichen Pflanzengattung in die andere« vermeldet.171 Zugleich ist die durchaus kritische Beobachtung, dass unter den Haus- und Zuchttieren weit mehr »Misgeburten« zu verzeichnen seien, keineswegs zu überlesen.172 Denn neben Generation und Regeneration hat Blumenbach auch Phänomene der Degeneration im Blick, die er nicht als Fehler der ersten Schöpfung sehen muss, kann er sie doch als Folgen der ›wiederholten Schöpfung‹ interpretieren. In Blumenbachs Fixierung auf die zufällige oder gezielt hergestellte Abweichung statt auf den Regelfall spielen einige Faktoren eine Rolle. So erklärt sich die empirische Annäherung an die Grundkraft des Lebendigen auf dem Weg ihrer Störung ganz aus dem Handlungsfeld der Medizin, die sich ja meist mit der pathologischen Ausnahme befasst. Blumenbachs Argumentationsgang wird zudem aus einer Wissenschaftspraxis verständlich, die in anatomischen Sammlungen gerade die Anomalien, ja sogar die »vielen Arten von Monstrositäten« aufbereitet und ausstellt.173 Blumenbachs Auffassung, dass jede Zeugung etwas Neues, noch nicht im göttlichen Schöpfungsakt Präformiertes in die Welt zu bringen vermag, lässt sich dabei zweifellos als Hinweis auf ein bislang kaum zugelassenes Moment der Kontingenz lesen.174 Interessant ist nun das an diesen kontingenten Abweichungen entwickelte Denkmuster. Denn was Blumenbachs Besprechung der herangezogenen Fälle verbindet, ist sein wiederholter Hinweis auf Kompen sationsbildungen, die schon im Leibniz’schen theologisch-teleologischen Naturbild eine Rolle spielen. Für die im letzten Teil des Aufsatzes aufgereihten Gesetze, die den Vor gängen der Regeneration eine verlässliche Proportionalität unterstellen, ist die Ersetzung als Grundfigur leitend. So hebt Blumenbach hervor, dass »das
170 Blumenbach spricht hier von »Zeugung der Bastarde«. Blumenbach: Ueber den Bildungs trieb, S. 74. 171 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 76. 172 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 114. Wie Blumenbach vermutet, hat die »Unterjochung der Hausthiere« zu einer Verminderung des Bildungstriebs geführt, »wodurch ihr ganzes Naturel gleichsam umgeschaffen worden, ihre ganze körperliche Oekonomie so viele Veränderung erlitten« habe. Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 114. 173 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 112. 174 So hat es etwa Pfotenhauer gedeutet. Helmut Pfotenhauer: Apoll und Armpolyp. Die Nachbarschaft klassizistischer Kreationsmodelle zur Biologie. In: Christian Begemann/David E. Wellbery (Hg.): Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit. Freiburg i.Br. 2002, S. 203–224.
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kürzlich verstümmelte Thier fast im gleichen Maasse um etwas kleiner [ward], so wie es seine neuen Arme oder seinen neuen Hinterleib hervortrieb. Man sah offenbar, wie die Natur eilte, dem verstümmelten Geschöpfe nur sobald als möglich seine bestimmte Bildung wieder zu ersetzen«.175 Weil es in der Krisensituation der gewaltsamen Verletzung schnell gehen muss, kann die Bildungskraft offenbar nur ein reduziertes Ersatzglied hervorbringen. Wo eine solche Regeneration nicht möglich ist, etwa weil der Körper einen besonderen »Stoff«, wie etwa den Knochen, »nicht vollkommen hätte ersetzen können«, versuche der Organismus das Fehlende »mittelst einer einfachern etwa knorplichten oder knochichten Substanz zu vergüten«, also gleichsam in eine andere Währung umzurechnen.176 Der Bildungstrieb zeigt sich dem wissenschaftlichen Beobachter offenbar vor allem dort, wo es eine vorsätzliche Verletzung, eine zufällig gerissene Lücke oder einen mitgegebenen Mangel auszugleichen gilt. Bemerkenswert ist an diesem Denkmodell, dass sich Störungen und Abweichungen nicht nur problemlos integrieren lassen, sondern sogar zu herausgehobenen Anhaltspunkten für eine Ordnung werden, die sich stets neu herstellen muss. Damit setzt sich in Blumenbachs Beschreibung eine Denkweise durch, die anders als in Leibniz’ Theodizee keinen eschatologischen Optimismus ausstrahlt. Vielmehr ließe sie sich mit einem Begriff der gegenwärtigen Ökologie als ›stabiles Ungleichgewicht‹ beschreiben.177 Indem der Bildungstrieb eine Ökonomie der Natur unterhält, in der Fehlendes ersetzt und Verlorenes vergütet werden muss, wird er zum wichtigen Agenten eines dynamisch gedachten Naturganzen. Mit der Vorstellung vom Organismus als einer Form, die sich den Ausgleichsbemühungen eines Bildungstriebs verdankt, will Blumenberg einen quantifizierten Kraftbegriff für die Bereiche der Medizin, Anthropologie, Botanik und Zoologie bereitstellen. Selbst wenn von einem mal stärkeren, mal anhal tender wirksamen Bildungstrieb die Rede ist, so wird das Lebendige doch auch in dieser Beschreibung nicht mathematisierbar. Denn wie sich messbare Größen wie die Zeit einerseits gegen stoffliche Qualitäten und andererseits gegen mehr oder weniger komplexe Organisationsformen und Gestaltbildungen aufrechnen lassen, bleibt letztlich ungeklärt. So ist es vielleicht auch kein Zufall, dass in Blumenbachs Darstellung offenbleibt, ob die vom Bildungstrieb bereitgestellten Ersatzbildungen wirklich glücklich sein können. Denn immerhin 175 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 92. 176 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 100. 177 In der Natur gibt es keine Homöostase und damit auch kein stabiles ökologisches Gleichgewicht, sondern höchstens eine Stabilität des Ungleichgewichtigen. Ökologie habe sich deshalb auf das in der Thermodynamik entwickelte Prinzip der Fließgleichgewichte zu besinnen, das permanente Veränderung statt Stillstand zu denken erlaubt. So das Argument von Josef H. Reichholf: Stabile Ungleichgewichte. Die Ökologie der Zukunft. Frankfurt a.M. 2008, S. 132.
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fallen die abgeschnittenen und nachwachsenden Arme deutlich kleiner und nicht etwa besser und stärker aus. Auch mag ein knochenartiger Knorpel eine erstaunliche Regenerationsleistung sein, ein Knochen ist er deshalb noch nicht. Diese in Blumenbachs Entwurf aufscheinenden Grenzen der Kompen sation lassen sich auch in Karl Friedrich Kielmeyers Beitrag zur Lebenskraft debatte ablesen. Anders als der Mediziner und Anthropologe Blumenbach interessiert sich der vergleichende Anatom und Morphologe Kielmeyer nicht für das große Rätsel der Entstehung und Formgewinnung lebendiger Organismen. Seine Leiden schaft gilt, so verrät er in seiner 1793 an der Hohen Karlsschule gehaltenen Rede, den »gegen sieben Millionen verschiedene[n] Körperformen«, die sich im Reich der Pflanzen und Tiere befinden, und die ihrerseits aus einer schier unüberschaubaren »Menge verschiedener Organe zusammengesezt« sind.178 Kielmeyer behandelt die Frage nach der Kraft des Lebendigen deshalb grundsätzlich im Plural. Wie vor ihm schon Herder, spricht er durchgehend von organischen Kräften.179 Statt eine primäre, alles fundierende Lebenskraft anzusetzen, fragt er unter diesem Namen nach denjenigen Kräften, die in allen Arten des Lebendigen vorhanden sind.180 In seiner Antwort unterscheidet er die Kräfte der Sensibilität und der Irritabilität, der Reproduktionskraft, der Sekretionskraft sowie der Propulsionskraft als Verteilung und Umtrieb der Säfte. Kraft, dies wird insbesondere in der Sensibilität und Irritabilität deutlich, denkt er gemäß der antiken dynamis als ein zur Aktivität wie auch zur passiven Empfänglichkeit disponierendes Vermögen.181 Leben bestimmt Kielmeyer nun als ein Zusammenwirken dieser Vermögen, die er, wie Kant es in seiner Diskussion teleologischer Urteile entwickelt, als reziprokes Verhältnis von Ursache 178 Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 3. 179 Ein wichtiger Stichwortgeber war hier Johann Gottfried Herder, der in seinen Allgemeinen Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit eine groß angelegte Geschichte der Erde, ihrer geologischen Gestaltung und der sie bewohnenden Wesen zu erzählen versucht. Zur Prägung und dem Gebrauch des Ausdrucks ›organische Kräfte‹ vgl. Thomas Bach: Organische Physik als vergleichende Phänomenologie des Organischen. Anmerkungen zum wissenschaftshistorischen Ort von Carl Friedrich Kielmeyers System der organischen Kräfte. In: Olaf Breidbach/Roswitha Burwick (Hg.): Physik um 1800. Kunst, Naturwissenschaft oder Philosophie? München/Paderborn 2012, S. 187–222. Für eine differenzierte Einschätzung des Verhältnisses zwischen Kielmeyer und Herder vgl. Wolfgang Proß: Herders Konzept der organischen Kräfte und die Wirkung der ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹ auf Carl Friedrich Kielmeyer. In: Kai Torsten Kanz (Hg.): Philosophie des Organischen in der Goethezeit. Studien zu Werk und Wirkung des Naturforschers Carl Friedrich Kielmeyer (1765– 1844). Stuttgart 1994, S. 81–99. 180 »Welches sind die Kräfte, die in den meisten Individuen vereinigt sind«? Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 7. 181 Die »Zweige des Vorstellungsvermögens« würden durchaus auch dazu zählen, Kielmeyer möchte sie jedoch vorerst beiseitelassen. Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 11.
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und Wirkung und nicht nur als lineare Abfolge denkt. Ein Organismus ist für Kielmeyer dasjenige, in dem alle Organe »wechselweise Ursache und Wirkung der andern« werden können.182 Anders als Kant beschreibt Kielmeyer diese Wechselwirkungen dort, wo weniger der einzelne Organismus als vielmehr das Ganze der Schöpfung mit ihrer Fülle der Formen zur Debatte steht. Dabei lässt er sich, wie Leibniz und Blumenbach, vom Modell eines kompensatorischen Ausgleichs leiten. Im Text ist die Rede von der »Vertheilung«, die an einem Ort in großer Menge »auswerfen« könne, an anderem Ort hingegen »am sparsamsten umgieng«.183 Die unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten des Organischen entwickelt Kielmeyer etwa an der Ausbildung des Sehsinns und des Gehörsinns, die er vom Menschen über das Insekt zum Wurm zunächst als Verlust beschreibt. Allerdings gelte, dass »gerade da, wo ein Sinnorgan verloren geht, und also die Mannigfaltigkeit der Empfindung vermindert wird, nur ein freierer Raum für eines der übrigen gewonnen werde, und da wo eines weniger entwickelt dasteht, das andere desto ausgearbeiteter erscheine«.184 So sei bei den »des Augs und Ohrs größtentheils beraubte[n] Insekten und Würmer[n]« der Tastsinn – Kielmeyer spricht von »Tastungsmaschinen« – besonders stark ausgeprägt.185 In der grammatikalischen und vor allem gedanklichen Fügung des ›je weniger – desto mehr‹ scheint eine Ökonomie der Natur auf, die nicht mit Steigerungen rechnet, sondern Umstellungen innerhalb einer in der Summe konstant bleibenden Kräfte vornimmt. Damit soll erklärt werden, warum in unterschiedlichen Arten und Lebewesen einige Organe weniger, andere dafür umso differenzierter entwickelt sind. Dies besagt dann auch das erste der Gesetze, die Kielmeyer formuliert: »die Mannigfaltigkeit der möglichen Empfindungen nimmt in der Reihe der Organisationen ab, wie die Leichtigkeit und Feinheit der übrigen Empfindungen in einem eingeschränkten Kreise zunimmt«.186 In der Festlegung seiner Gesetze zeichnen sich mindestens zwei Probleme ab. Zum einen reflektiert Kielmeyer, anders als Blumenbach, ausdrücklich auf die Notwendigkeit, ein einheitliches »Maaß« für diese qualitativ ganz unterschiedlichen Vermögen zu finden. Die Grenzen einer Quantifizierbarkeit des Lebendigen werden also klar markiert. Denn wo lässt sich der »Maaßstab« auffinden, mit dem sich die unterschiedlichen Kräfte und die von ihnen eingegangenen Verhältnisse angemessen beschreiben lassen?187 Zum zweiten 182 Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 4. 183 Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 13. 184 Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 16. 185 Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 16. 186 Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 17. 187 »Wenn von Verhältnissen der Kräfte die Rede ist, so hat man sich zuerst über den Maßstab zu vergleichen, nach dem ihr Gemeinsames die Größe gemessen und verglichen werden kann. Zahl oder Häufigkeit der Wirkungen in gleichen Zeiten, Mannigfaltigkeit derselben,
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formuliert Kielmeyer sein erstes Gesetz nur, um es sogleich auszuhebeln, muss er doch zugeben, dass »die Abnahme der Mannigfaltigkeit der Empfindungen [...] in ungleich größeren Maaße als der Ersaz durch Feinheit und Leichtigkeit [erfolgt]«.188 Die Ausgleichsgesetze versprechen nur wenig Verbindlichkeit. Die Reproduktionskraft, die schon Blumenbach für den primären, alle anderen Kräfte fundierenden Trieb hielt, behauptet auch bei Kielmeyer eine herausgehobene Stellung. Sie sei sowohl die »eigenthümliche und karakteristische, die von anderen Produktionen der Natur unterscheidende Kraft« als auch die »am meisten verschwendete«, also am großzügigsten ausgeteilte.189 Obwohl sich hier ein Moment des Überschießenden und Luxurierenden andeutet, bindet Kielmeyer ihre quantifizierbaren Eigenschaften, wie sie in der numerisch erfassbaren Produktivität einer jeden Spezies greifbar sind, weiterhin an eine strikte Verhältnismäßigkeit. So sei die Fruchtbarkeit dort geringer, wo sich die Zusammensetzung des Körpers komplexer gestalte, wo die Jungen ausgebildeter auf die Welt kommen, und wo die Natur insgesamt »bei weitem am meisten Zeit braucht«.190 Ähnlich wie bei Blumenbach scheint insbesondere der Faktor der Zeit dazu geeignet zu sein, aus den Beobachtungen ein entsprechend verallgemeinerbares »Gesez« abzuleiten.191 Anders als bei Blumenbach tritt dies bei Kielmeyer auch als eine protoevolutionistisch gedachte Entwicklungszeit der Arten und Gattungen hervor. Kielmeyer überführt die seit der Antike weitergegebene Vorstellung von einer balance naturelle in eine Erzählung, mit der die Unterscheidung der Spezies als Nacheinander gedacht wird. Die Rede ist vom »Gang«, der sich aus den Prozessen des Ausgleichens und Aufwiegens ergibt, »sofern die einander aufwägende[n] Kräfte jedesmal andere, auf andere Art sich äussernde sind«.192 Die Leitvorstellung der Stufenleiter, die alle Wesen entsprechend ihrer jeweiligen Nähe zu Gott in aufsteigender Reihe anordnet, wird durch die Vorstellung von
und die Größe des Widerstandes, den andere Kräfte ihnen entgegensezen, oder Permanenz der Wirkungen unter übrigens gleichen Umständen scheinen, so lange wir einen allgemeinen Maasstab, der und die Intensität dieser Kräfte näher angäbe, entbehren müssen, auch hier vorzüglich geschickt, die Stelle desselbigen zu vertreten.« Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 12. 188 Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 18. 189 Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 24. 190 Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 29. 191 Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 30. Das zuletzt formulierte Gesetz bezieht hier mehrere Faktoren ein: Körpergröße, Komplexität des Körperbaus, Länge der Entwicklungsphase, allgemeine Lebenserwartung und Wiederholbarkeit der Reproduktion eines Individuums. Dabei scheint sich das Gesetz, zu dem er auf den folgenden Seiten eine Reihe von Ausnahmen ergänzen muss, unter seinen Händen zu zersetzen. 192 Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 40.
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einer in der Zeit verlaufenden Entwicklung überblendet. Imaginiert wird hier eine vielfache Vernetzung der Wesen statt einer einfachen Kette.193 Hinterfangen ist dieses Bild von dem für die Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts grundlegenden, nun aber nicht nur auf die menschliche Gattung bezogenen Fortschrittsgedanken, demgemäß alles »in einer Entwicklungsbahn fortschreitet«.194 Das in sich differenzierte Leben der organischen Welt erscheint als große, äußerst komplexe Maschine – die Rede ist von der »Maschine der organischen Welt« –, von der sich zweierlei sagen lässt. Zum einen soll auch diese Maschine »in einer Entwiklungsbahn fortschreiten«, die man sich nach dem Vorbild »einer in sich selbst kreisenden Parabel« vorstellen könne. Und zum zweiten sei es durchaus erlaubt, dieser offensichtlichen »Verkettung von Wirkung und Ursache« eine Zweckmäßigkeit zu unterstellen.195 Die Natur erscheint nicht nur als ›blinder Mechanismus‹, ist sie doch, so weit sich dies aus der beschränkten menschlichen Perspektive sagen lässt, auf höhere Zwecke abgestimmt. Besonders interessant ist, dass dieser zweckmäßig erscheinende Gang als Vorgang einer allmählichen Verdrängung erfasst wird.196 Vorstellungen von Ausgleich, wie in Platons Protagoras, oder gar der Überkompensation, wie in Leibniz’ optimistischer Geschichtsphilosophie, verschärfen sich stellenweise zum Szenario einer antagonistischen Verdrängung konkurrierender Kräfte, etwa wenn Kielmeyer im »Verschwinden der einen« Kraft zuletzt »die Ursache des Hervortretens der andern« sehen möchte.197 Den Schlusspassagen ist anzusehen, welche Mühe es Kielmeyer kostet, das Bild vom »Gleichgewichte der zerstöhrenden und erhaltenden Kräfte« aufrechtzuerhalten, wenn neben
193 Die Vielfalt des Lebendigen, so sieht es Kielmeyer, verdankt sich einem in der Zeit verlaufenden Interaktionsgeschehen: »Kindheit, Jugend, Alter und Todt bieten einander bei jedem wechselweise die Hände; und in jedem dieser Zustände stehen die Wirkungen dieses Individuums mit den Wirkungen anderer Individuen der nehmlichen Gattung wieder von neuem in ein größeres System von Wirkungen verbunden, Kindheit des einen hängt an dem Alter des andern, und Jugend des einen an der Jugend des andern, und auch diese Verbindung ist so enge, daß wir nach unserer Redens- und Vorstellungsart glauben sollten, die Natur hätte die Nerven des einen Individuums mit denen des andern in ein Nez verschlungen, und die Eindrücke des einen würden im Sensorium des andern gefühlt.« Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 4–5. 194 Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 5. 195 Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 6. Es seien durchaus »höhere uns unbekannte Zwecke« zu vermuten. 196 »[D]ie Empfindungsfähigkeit wird in der Reihe der Organisationen allmählig durch Reizbarkeit und Reproduktionskraft verdrängt, und endlich weicht auch die Irritabilität der letzern, je mehr die eine erhöht ist, desto weniger ist es die andere, und am wenigsten vertragen sich Sensibilität und Reproduktionskraft zusammen«. Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 35. 197 Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 38.
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dem »Bestand« vor allem auch ein »Gang« gedacht werden soll.198 So zieht er zuletzt die Möglichkeit einer gewissen »Überwucht in den Zerstöhrungskräften« in Betracht, die zur Vernichtung einzelner Arten führen könnte – entschieden wird die Frage nicht.199 Ebenso offen bleibt, ob im »Plan der Natur« nicht auch »eine allmähliche Verminderung der Summe der Kräfte« anzusetzen sei.200 In diesen Überlegungen erweisen sich die Vermögen und Tätig keiten von Menschen als entscheidend. Wie Kielmeyer an den Menschen hervorhebt, verfügen diese mit der Vernunft über ein Vermögen, das ihnen die Augmentierung der natürlich gegebenen Sinne erlaubt. Der Gebrauch von Werkzeugen und insbesondere die Entwicklung von technischen Apparaten wie Mikroskopen und Fernrohren haben zur Erhöhung, Verstärkung und Vermehrung der sensorischen und motorischen Fähigkeiten geführt.201 Auf diese Weise aber haben die Menschen ein »entschiedenes Übergewicht über die meisten andern Thiergattungen und deren Erhaltungskräfte« erlangt und seien dabei, die herrschenden Kräfteverhältnisse mit bleibenden Folgen zu verändern: Auch hat er wirklich Thiergattungen verdrängt, ihnen kleine Bezirke als Fremdlingen angewiesen, während er die übrige Erde als die seinige ganz in Besitz nahm, ja ganze Gattungen hat er sich unterjocht, und, daß er mehrere vom Schauplatz völlig abzutreten noch zwingen werde, um ihm, als einem auf der andern Seite wieder ersezenden Organ in der großen Maschine, Plaz zu machen, ist mehr als blos wahrscheinlich. 202 Wenn die Menschen also aufgrund ihrer Vermögen in den Kräftehaushalt der Natur eingreifen, dann ist hier ein Naturverhältnis angelegt, das sich eigentlich nur als »Kampf gegen« die »übrige Natur« auslegen lässt.203 Auch wenn Kielmeyer sich im Schlussabsatz bemüht, in der Kultivierung der menschlichen Vermögen auch ein wohltuendes Element zu sehen, so trägt sein Bild der großen Weltmaschine doch durchaus dunkle Züge. Die Krise der Kraft zeichnet sich auch in Kielmeyers Entwurf ab. Hatte Blumenbach mit Newton zwischen ›cause‹ und ›force‹ unterschieden und dann als Leitbegriff seiner Beschreibung des Lebendigen den Trieb statt der 198 Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 40. 199 Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 41. 200 Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 41. 201 Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 42. 202 Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 43. 203 Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 46. Gleichwohl bemüht sich Kielmeyer, der menschlichen Kultur zugleich eine korrigierende, ›pflegende‹ und ›erziehende‹ Funktion einzuräumen: so sei die Vernunft selbst nur als »Anlage« vorhanden, die »erst der Pflege und Erziehung bedarf«. Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 46.
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Kraft gewählt, bleibt Kielmeyer bei der Kraft als einem Hilfsbegriff, auf den man sich vorerst verständigt habe: Sondern wie [wir?] nemlich die Wirkungen, die wir an den einzelnen Organisationen wahr nehmen, je nach ihrer Aehnlichkeit und Verschiedenheit in Klassen ab, belegen diese oder ihre Ursache, so lange sie nicht näher bekannt sind, mit dem Behelfswort von Kräften, und mit dem Namen von unterschiedenen Kräften, so lange die Unterschiede der Klassen durch einen höhern Wiz nicht aufgehoben, und in Aehnlichkeiten verkehrt sind, so lassen sich für jetzt folgende unterscheidbare und allgemeinere Klassen von Wirkungen, oder verschiedene Kräfte vestsetzen [Hvh. C.Z.].204 Was der Klärung dienen soll, unterstreicht gerade die Schwierigkeit. Kraft wird zwar als arbiträre terminologische Setzung ausgewiesen, als solche soll Kraft aber sowohl die wahrgenommenen ›Wirkungen‹ als auch die nicht näher bekannten ›Ursachen‹ bezeichnen. Verständlich wird diese Aufhebung aus einer grundsätzlichen Auffassung von Kraft als dem Vermögen, etwas zu tun oder zu erleiden. Damit aber geht Kielmeyer vor die Physik der Neuzeit zurück auf eine an die dynamis erinnernde Vorstellung von in Dingen angelegten, ihnen wesensmäßig zukommenden Fähigkeiten, aus denen alle ihre Tätigkeiten entspringen können. Zugleich aber verwischt Kielmeyer die von Blumenbach mit Newton so deutlich herausgestellte Unterscheidung zwischen Ursache und Kraft als causa und vis. Mit seiner Abhandlung Von der Lebenskraft (1795) tritt Johann Christian Reil mit geschärftem Problembewusstsein und einem dezidiert kritischen Gestus in die Lebenskraftdebatte ein. Im Paragraph sieben mit der Überschrift »Was ist Kraft der Natur?« legt er sich die Frage nach der Reichweite des Kraftbegriffs in der Naturforschung eigens vor. Seine Antwort fällt präziser aus als diejenige Blumenbachs oder Kielmeyers. Statt Kraft als ›force‹ und nicht ›cause‹ zu begreifen oder aber in der Zuordnung zwischen Ursache und Wirkung zu schwanken, bestimmt Reil die Kraft als Verhältnisbegriff: »Kraft ist ein subjektiver Begriff, die Form, nach der wir uns die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung denken«.205 Wenn er Kraft als eine relationale Kategorie fasst, die weder eine Ursache, noch eine Wirkung, sondern deren Verbindung bezeichnen soll, dann schwebt Reil – wie auch Blumenbach und Kielmeyer – eine Zurückführung von Erscheinungen auf Gesetze vor, die sich gemäß der Newton’schen Axiomatik ausdrücken lassen. Deutlicher als Blumenbach
204 Kielmeyer: Über die organischen Kräfte, S. 9. 205 Johann Christian Reil: Von der Lebenskraft [1795]. In: Klassiker der Medizin, hg. v. Karl Sudhoff, Bd. 2. Leipzig 1910, S. 23.
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entfernt sich Reil aber ausdrücklich von der Möglichkeit, Kräfte als Substanzen zu begreifen: Ich werde daher die Vorstellungen in der Naturlehre der Tiere als Phänomene eigener Art und als Kräfte in der Kette der Naturkräfte betrachten, die für uns in der Erfahrung keinen weiteren absoluten Grund haben, und denen ich daher auch keine Substanz, in der sie gegründet sein sollen, andichten kann. Eine Seele, als Substanz betrachtet, die den absoluten Grund der Vorstellungen enthält, ist ein Ding, für welches wir in der Erfahrung keinen Beweis haben.206 Ein ›absoluter Grund‹, so wird hier wiederholt, wird sich allein aufgrund empirischer Beobachtungen nicht angeben lassen. Mit dieser Richtigstellung wendet sich Reil ebenso gegen alte panpsychistische wie gegen neuere vitalistische Vorstellungen. Denn der Vitalismus des 18. Jahrhunderts ist für Reil nur die Spielart eines mythischen Bewussteins, das in den feinen Materien der Luft und des Atems einen belebenden und beseelenden Geist erkennen will. Der für die deutschsprachige Diskussion so wichtige Vitalist Georg Ernst Stahl kommt hier in einer Reihe mit antiken Vorstellungen von Baumgeistern und Helmonts Archaeus-Lehre zu stehen. Später im Text wird er auch Platner und Herder in die Nähe dieser animistischen Vorstellung rücken, insofern sie davon ausgehen, dass »ein allgemeiner Weltgeist alles in der Natur belebe«.207 Statt Kraft als eine die Welt durchwirkende, von der Materie unterschiedene eigene Substanz aufzufassen, entwickelt Reil die Kraft in aller Konsequenz als Eigenschaft der Materie: Das Verhältnis der Erscheinungen zu den Eigenschaften der Materie, durch welche sie erzeugt werden, nenne ich Kraft. Kraft kann also so allgemein, besonders und individuell gedacht werden, als sich die Verhältnisse der Wirkungen zu den Ursachen und die Erscheinungen zu den Eigenschaften der Materie denken lassen. Kraft ist also etwas von der Materie Unzertrennliches, eine Eigenschaft derselben, durch welche sie Erscheinungen hervorbringt.208 Kraft wird hier noch einmal als eine von den in der Wahrnehmung gegebenen Erscheinungen und Vorgängen abstrahierte Relation bestimmt, die ihre
206 Reil: Von der Lebenskraft, S. 1–2. »Die Vorstellungen sind übrigens mit einer bewegenden Kraft begabt, wirken auf die Materie und nehmen Wirkungen von der Materie an.« Reil: Von der Lebenskraft, S. 2. 207 Reil: Von der Lebenskraft, S. 12. 208 Reil: Von der Lebenskraft, S. 23.
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Anhaltspunkte, so die weitere Bestimmung, allein den Verhaltensweisen der Materie entnimmt. Kraft scheint ihm insofern ein gefährlicher Begriff zu sein, als er dazu einlädt, die Ursache von Vorgängen in einem »sinnlichen oder übersinnlichen Substrat« zu suchen.209 Reil betont deshalb: Wir sind geneigt, die Kraft als etwas von der Materie Verschiedenes zu denken, und die Materie gleichsam als das Vehikel der Kraft anzusehen, obgleich ihre Erscheinungen von ihr unzertrennlich und Resultate ihrer Eigenschaften sind. Die Materie ist nichts anders als eine Kraft, ihre Akzidenzen sind ihre Wirkungen, ihr Dasein ist Wirken, und ihr bestimmtes Dasein, ihre bestimmte Art zu wirken.210 Obwohl er in einer Fußnote vorschlägt, »das Wort Eigenschaft« statt Kraft der Materie zu verwenden, stellt er seinen Text unter den Titel der Lebenskraft.211 Er tut dies, weil er Worte für willkürliche Zeichen hält, die benutzt werden, um sich über eine Sache zu verständigen. Wenn er eine physische, chemische und mechanische Kraft, eine davon unterschiedene Lebenskraft, eine den Pflanzen eigene vegetative Kraft, eine den Tieren zugehörige animalische Kraft und schließlich das den Menschen auszeichnende Vernunftvermögen ansetzt, dann dienen ihm diese Kategorien dazu, unterschiedliche Materien und deren je eigene Möglichkeiten auseinanderzuhalten. In jedem Reich der unbelebten und belebten Natur lassen sich Ursache-Wirkungs-Relationen beobachten, in denen das jeweils Eigene dieses Bereichs aufscheint. Dabei sind es aus seiner Sicht die jeweiligen Eigenschaften der Materie, die aufgrund ihrer spezifischen Beschaffenheiten die jeweils beobachteten Effekte zeitigen können.212 209 Reil: Von der Lebenskraft, S. 24. 210 Reil: Von der Lebenskraft, S. 24. 211 Reil: Von der Lebenskraft, S. 25. Diesen funktionalen Begriff der Lebenskraft setzt er in einer anderen Fußnote vom Wortgebrauch seiner Kollegen ab: »Die gewöhnlichen Bestimmungen der Lebenskraft sind meinem Gefühle nach zu dunkel, zu eng oder unrichtig. Lebenskraft, sagt man, sei die nächste Ursache der Empfindungen und Bewegungen im tierischen Körper. Allein eben diese Ursache der Empfindungen und Bewegungen ist auch schwer, haftet zusammen, hat eine eigene Verwandtschaft, erzeugt sich, bildet sich usw.« Reil: Von der Lebenskraft, S. 27. Dabei wendet sich Reil sowohl gegen den Begriff der Lebenskraft, wie ihn Alexander von Humboldt exponiert hat, als auch gegen Kants These vom Organismus als einem aus Teilen gebildeten Ganzen, in dem jeder Teil Mittel zum Zweck des Ganzen sei. 212 Reil: Von der Lebenskraft, S. 5. Die jeweilige »Form der Materie« sei dabei eine »Wahlanziehung der Grundstoffe und ihrer Produkte« (6), das heißt also, dass »Form, Struktur, Bildung, Organisation der Materie [...] Folge ihrer Eigenschaft« ist (7). Es gebe nur wenige allgemeine Eigenschaften, darunter »Kohärenz, Schwere und Expansivkraft« (8). Reil geht davon aus, dass die unterschiedlichen Kräfte – hier offenbar als Vermögen oder Möglichkeiten aufgefasst – ihren Ursprung in der Materie haben: »Eine Veränderung der Materie verursacht eine Veränderung ihrer sämtlichen Kräfte, und wir haben keine Mittel, wie mancher Arzt wohl
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Ausgehend von einer Grunddefinition der Materie als »dem beweglich Ausgedehnten« denkt Reil Materie also keineswegs als etwas, das von außen aktiviert werden muss. Stattdessen können Materien aufgrund ihrer jeweiligen Eigenschaften selbst in Aktion treten. 213 Diese Einsicht lässt sich vor allem an Phänomenen des Lebendigen gewinnen. Das zeitweise Weiterleben abgetrennter Gliedmaßen etwa ließe sich nicht erklären, wenn die lebendige Materie nicht über Eigenschaften verfügen würde, die der unorganischen Materie nicht gegeben sind. Denn die selbst unteilbare Seele könne sich bei der Aufteilung des Körpers nicht vervielfältigen. Reil verweist zudem darauf, dass besondere Leistungen der Materie auf anderen Feldern, etwa bei der Beschreibung der besonderen magnetischen Eigenschaften des Eisens, bisher kein Denkproblem dargestellt habe. Nichts anderes habe er vor, wenn er das Publikum »mit der thierischen Materie und mit ihren vielfachen Kräften« bekannt machen möchte.214 Die Ursache aller »Erscheinungen thierischer Körper« liegt also in einer Materie, die man »in der ursprünglichen Verschiedenheit ihrer Grundstoffe und ihrer Mischung und Form derselben« aufzuschlüsseln habe.215 An Blumenbach und Kielmeyer erinnert die Hervorhebung der Bildungsprozesse als dem »allgemeinste[n] Merkmal, durch welches sich die organische Natur charakterisiert«. In ihrer »Fähigkeit derselben zu einer eigentümlichen Bildung« sieht auch Reil die Grundeigenschaft lebendiger Materie, aus der alle anderen Funktionen wie die der Zeugung, des Wachstums, der Ernährung und der Reproduktion hervorgehen.216 Anders als Blumenbach verlegt Reil diese Bildungsfähigkeit aber nicht allein in das jeweils sich entwickelnde Wesen. Vielmehr nimmt er eine Wechselbeziehung zwischen inneren Gestaltungsfaktoren und äußeren Einflüssen an. So geht er davon aus, dass »die organischen Wesen beständig sich selbst durch äußere Reize und durch ihre eigenen Wirkungen abändern, und daher immerfort andre Erscheinungen äußern« können.217 Aus diesem Verhältnis des intrinsischen Triebs und der jeweiligen Bildungsumgebung sind Kontingenz und Abweichung nicht nur impliziert, sondern expliziert: es sind ›immerfort andre Erscheinungen‹, die hervorgebracht werden. Während Reil bei aller Kritik am Kraftbegriff festhält, denken mag, die allein auf die Lebenskräfte, und andre, die allein auf die toten Kräfte wirken. Warum leben nicht auch die Steine, die Vaucansonschen Automaten und die Kempelschen Schachspieler, wenn zum Leben nichts weiter gehört, als daß man eine Seele oder einen Lebensgeist in die tote Materie hineinpflanzt? Warum hat nie ein Mensch Kürbisse getragen, nie ein Esel geweissagt, und nie die Eiche ihre Äste nach Willkür bewegt, wie das Tier seine Glieder?« Reil: Von der Lebenskraft, S. 11. 213 Reil: Von der Lebenskraft, S. 2. 214 Reil: Von der Lebenskraft, S. 3. 215 Reil: Von der Lebenskraft, S. 3. 216 Reil: Von der Lebenskraft, S. 30. 217 Reil: Von der Lebenskraft, S. 31.
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schleicht sich gerade in der Beschreibung dieser endogenen und exogenen Faktoren eine begrifflich nicht näher definierte Vorstellung von Energie ein. So erläutert Reil: »Eigentlich bildet und erhält ein jeder Teil sich selbst, durch seine eigene Energie, seine Verbindung mit den übrigen Teilen ist nur die äußere Bedingung, unter welcher seine Kräfte wirksam sein können«.218 Kommt der Begriff der Energie hier als kommentierende, komplettierende oder konkurrierende Kategorie ins Spiel? Wie sich an anderen Stellen andeutet, sollen mit dem Wort Energie besondere Materialeigenschaften bezeichnet werden, die sich deutlicher als Kraft mit quantitativen Vorstellungen verbinden. So ist neben den unterschiedlichen Arten vor allem von Graden der Energie die Rede: Vorzüglich ist aber die plastische Eigenschaft dem tierischen Stoff eigen. Gewiß ist es, dass die Materie nicht zu berechnender Grade von Veredlung fähig ist, und dass ihre Energie mit dem Grade ihrer Veredlung zunimmt. Man denke nur an die Wirkungen der Elektricität, des Magnets, der permanent elastischen Flüssigkeiten, die besonders in einer schicklichen Verbindung mit andern Stoffen Erscheinungen erzielen, die wir nicht glauben würden, wenn wir sie nicht sähen.219 Offensichtlich ist die Chemie für die Auffassung energetischer Materie eine Leitwissenschaft.220 Mit ihrer Hilfe müsste es gelingen, immer feinere Stoffe zu finden, ohne an einer Stelle zu der Annahme zu springen, man habe es auf einmal mit einem Geist zu tun. Unter die besonders feinen Stoffe, die aus Reils Sicht das Leben und Absterben von Wesen verantworten, zählt er »Elektrizität, Luft, Feuer«, die er für »weit wirksamer« hält »als die groben und trägen Massen in der Natur«.221 Kurz darauf ist noch einmal die Rede von »Wärme, Elektrizität, Oxygen«222 als denjenigen feinen Stoffen, die bevorzugt auf organische Körper wirken. Zentral ist neben den elektrischen und galvanischen Reaktionen organischer Körper die Wirkungsfähigkeit des »Wärmestoff[s]«, der wohl »die sonderbarsten Veränderungen« in Organismen hervorbringe.223 Reil führt die Entstehungs- und Entwicklungsdynamiken im bebrüteten Ei, bei der Metamorphose der Schmetterlinge und überhaupt im Wiederaufleben von Pflanzen und Tieren im Frühling an, die sich allesamt den Wechselwirkungen zwischen organischen Stoffen und den Imponderabilien wie Wärme und Licht zeigen.
218 219 220 221 222 223
Reil: Von der Lebenskraft, S. 30. Reil: Von der Lebenskraft, S. 5. Reil: Von der Lebenskraft, S. 25. Reil: Von der Lebenskraft, S. 14. Reil: Von der Lebenskraft, S. 15. Reil: Von der Lebenskraft, S. 15.
Kräfte des Lebendigen: Bildungstrieb und Lebenskraft
Diese veränderte Optik auf die Interaktion von unterschiedlichen Stoffen führt ihn schließlich zur charakteristischen Abwandlung einer sonst auf die Kräfte gemünzten Redeweise. Wer sich für den organischen Körper interessiere, der habe »das freie Spiel seiner unsichtbaren Stoffe«224 zu beobachten und zu erforschen. Materialismus und Mechanismus scheinen dabei zunächst Hand in Hand zu gehen. Grundsätzlich sei der Organismus als Maschine zu denken, für dessen Mechanismus sich Reil durchaus begeistern kann: Es ist ein bewundernswürdig-künstlicher, in seinen Prinzipien einfacher und in der Verknüpfung höchst mannigfaltiger Bau im tierischen Körper, der die Struktur in der toten Natur und in den Werken der Kunst weit übertrifft. Nicht bloß etwa der ganze Körper oder seine groben Glieder, sondern auch die kleinsten Teile desselben sind Maschinen; alles löst sich an ihm bis zur kleinsten Faser in lauter zweckmäßig gebildete Körper auf.225 Was diesem offenkundigen Bekenntnis zum »regelmäßigen Mechanismus des tierischen Körpers«226 zuwiderläuft, ist die schon von Leibniz hervorgehobene Unterscheidung zwischen künstlichen, natürlich-unbelebten und natürlichbelebten ›Maschinen‹. In der Annahme der zweckmäßigen Bildung von Organismen deutet sich jedoch das Zugeständnis an teleologische Begründungsmuster an. Die Funktionsweise belebter Körper unterscheide sich von der Mechanik des Unbelebten durch seine Komplexität, insofern hier neue, aus einfachen Kräften »zusammengesetzte Kräfte« am Werk seien. Zwar will Reil seinen eigenen Gebrauch der Begriffe Organ und Organisation von demjenigen Kants unterschieden wissen.227 Reils Differenzierungen zwischen einfachsten Organen (Fasern), zusammengesetzten Organen (Nerven, Gefäßen) und vollendeten Organen (Eingeweide, Sinnesorgane) zieht jedoch deren Konstruktion »nach einem zweckmäßigen und bestimmten Verhältnis« durchaus in Betracht.228 Der Begriff der Energie bezeichnet nun diese Zweckmäßigkeit, die ein Differenzkriterium des Lebendigen darstellt: »Eigentlich bildet und erhält jeder Teil sich selbst, durch seine eigene Energie«.229 Eine selbstgesetzliche, sich selbst organisierende Materie, die ihren Zweck in sich selbst findet, verfügt 224 Reil: Von der Lebenskraft, S. 20. Reil gibt hier noch eine wichtige Warnung mit, dass »man nämlich nicht glauben müsse, diese feinen Stoffe seien allein die Kraft, oder wenigstens das Substrat der Kraft der organischen Wesen. Der Grund des Lebens liegt in der sämtlichen Materie, in der Mischung und Form alles dessen, was sichtbar und unsichtbar ist.« 225 Reil: Von der Lebenskraft, S. 20. 226 Reil: Von der Lebenskraft, S. 20. 227 Reil: Von der Lebenskraft, S. 21. 228 Reil: Von der Lebenskraft, S. 22. 229 Reil: Von der Lebenskraft, S. 30.
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über Energie. In Reils Entwurf verbindet sich die programmatische Orientierung an der Mechanik also mit der Teleologie als Beschreibungsmuster lebendiger Bildungen und mit der Präzisierung der dynamischen Materietheorie. Während sich Blumenbach im Zeichen der Kraft für die Bildungsgesetze lebendiger Organismen interessiert, die er als Effekte intrinsischer Triebe begreift, will Kielmeyer die Formenvielfalt der organischen Natur dadurch erklären, dass er die im Naturganzen aufgeteilten Vermögen in ein Verhältnis setzt. Reil geht mit seiner Theorie der energetischen Materie über diese morphologisch orientierten Zugriffe Blumenbachs und Kielmeyers hinaus. Aus Reils Perspektive treten schließlich Prozesse in den Blick, die in der Physiologie des frühen 19. Jahrhunderts einer genaueren experimentellen Forschung unterzogen werden. Es sind die Phänomene und Wirkungen des Lichts, der Luft und der Wärme, die bei der Entwicklung, Ernährung und Atmung lebendiger Wesen eine zentrale Rolle spielen. Reil nutzt das Konzept der Lebenskraft zur Unterscheidung zwischen einer zwar nicht statischen, aber nur von außen bewegten toten und trägen Materie sowie einer durch Eigenaktivität gekennzeichneten lebendigen Natur: Allein die organische Natur ändert sich in jedem Augenblick: jedes Individuum folgt dem Triebe seiner eigenen Regsamkeit und läuft am Rade der Veränderung seinen abgemessenen Bogen vom Punkte des Werdens bis zum Punkte des Sterbens ab. Es lebt, bewegt sich, wird, wächst, zeugt seinesgleichen, vergeht. Es müßte ein vortreffliches Schauspiel sein, wenn wir in einem durchsichtigen Tiere das Klopfen zahlloser Gefäße, den Forttrieb der Säfte, die Wirkung der Reize, das Spiel aller Muskeln, die ewige Regsamkeit der Nerven bis in das Innerste seines Baues auf einen Blick anschauen könnten. Und noch interessanter müßte der Anblick sein, wenn wir auch die ununterbrochene Veränderung aller dieser Erscheinungen und die Ursache derselben, nämlich die beständige Abänderung der Kräfte aller Organe durch ihre eignen Handlungen sinnlich wahrnehmen könnten.230 Wie sich hier zeigt, stellt die Beobachtung des Lebendigen als etwas, was ständig in Bewegung begriffen ist, erhöhte Anforderungen an die wissenschaftliche Beobachtung wie auch an die Techniken ihrer Visualisierung. Das Problem der Beobachtbarkeit soll sich zum einen durch die Bevorzugung möglichst transparenter Lebewesen lösen lassen. Wie Reil wendet sich auch Blumenbach mit besonderer Begeisterung den fast durchsichtigen Lebewesen zu. An der »einfachen Wasserpflanze«231 etwa 230 Reil: Von der Lebenskraft, S. 31. 231 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 83.
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lobt er das »schnelle Wachsthum« wie auch ihre »durchsichtige Textur«.232 An ihr könne »die würksame Thätigkeit des Bildungstriebes« mit einer besonders »anschaulichen Klarheit«, also »aufs deutlichste« erkannt werden.233 Am durchsichtigen Armpolypen ist ebenso positiv hervorzuheben, dass hier »dem beobachtenden Auge nichts dunkel oder versteckt bleibt«:234 [A]us dieser ungeformten, aber durchsichtigen kleinen Geschwulst wird gleichsam unter unsern Augen zuerst der cylindrische Leib des jungen Polypen und dann auch seine Arme ausgebildet, wie von unsichtbaren Händen aus der durchsichtigen körnichten, aber übrigens ungeformten Gallerte modelirt; und das alles gleich in einer so ansehnlichen, schon dem blossen Auge so deutlich erkennbaren Grösse, die, in Verbindung mit allen den angeführten Umständen, doch auch keinen Schatten von wahrscheinlicher Vermuthung eines präformierten Keims gestattet der da vorräthig gelegen habe und sich nun entwickele.235 In dieser Betonung der Klarheit und Deutlichkeit, mit der etwas zu sehen sein soll, zeigt sich Blumenbach als Kind einer Zeit, die als ›Epoche der Evidenz‹ und wichtiges Kapitel in der Entwicklungsgeschichte der wissenschaftlichen Objektivität beschrieben worden ist.236 Blumenbachs wie Reils Vorliebe für weitgehend durchsichtige Lebewesen erschließt sich aber nur zu einem Teil aus Vorstellungen von Evidenz, Objektivität und Deutlichkeit. Denn anders als die im 17. und 18. Jahrhundert etablierten Modelle wissenschaftlicher, philosophischer, rhetorischer oder ästhetischer Evidenz es vorsehen, haben Blumenbach und vor allem Reil keine Fälle vor sich, in denen sich ein »Aufscheinen der Präsenz im Augenblick« ereignet.237 Ihre Aufmerksamkeit gilt vielmehr ausgedehnten Prozessen und Verläufen, die sich nicht im Nu überblicken lassen. Was Blumenbach zu sehen wünscht, sind keine Umrisse oder inneren Strukturen, sondern Entwicklungen, die wie von einer ›unsichtbaren Hand‹ bewerkstelligt werden. Noch ausführlicher evoziert Reil die Kennzeichen einer lebendigen Natur, in der sich »Regsamkeit«, »Veränderung« und »beständige Abänderung der Kräfte« zeigen. Wenn Reil also vermutet, dass den Forschenden 232 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 85. 233 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 88. 234 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 88. 235 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 90. 236 Rüdiger Campe: Epoche der Evidenz. Knoten in einem terminologischen Netzwerk zwischen Descartes und Kant. In: Sibylle Peters/Martin Jörg Schäfer (Hg.): »Intellektuelle Anschauung«. Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen. Bielefeld 2006, S. 25–43. Lorraine Daston/Peter Galison: Objektivität. Frankfurt a.M. 2007. 237 Campe: Epoche der Evidenz, S. 27.
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im durchsichtigen Tier »ein vortreffliches Schauspiel«238 gezeigt werden könne, dann übersteigt diese Aussicht die Leistung des Bildes hin zur Leitvorstellung des theatralischen Spiels. Um Kräfte zu beobachten, bedarf es mehr als nur einer Momentaufnahme – ihre Wirkungen lassen sich nur in der Tätigkeit, und das heißt eben zugleich, im zeitlichen Verlauf sehen. Eine solche Epistemik der bewegten Evidenz könnte an die aristotelischen Konzepte der enargeia (Deutlichkeit) und der energeia anknüpfen, in denen ja die Planung dramatischer und epischer Handlungsverläufe (enargeia) wie auch die gesteigerte Aktivität (energeia) als Kennzeichen besonders wirksamer Metaphern gedacht sind. Hier treten Handlungsbezug wie auch die Tätigkeit stärker hervor als in der evidentia-Rezeption der Frühen Neuzeit, die stärker auf das Konzept der detaillierten Anschaulichkeit und Bildlichkeit zugeschnitten war.239 Wie unter anderem an Herder zu zeigen sein wird, konzipieren Dichtungstheorien um 1800 die Kraft und Energie der Darstellung tatsächlich konsequent als Tätigkeit und nicht als augenblickshafte bildliche Stillstellung, mithin eher als ein ›Vor Augen Bewegen‹ statt als ein ›Vor Augen Stellen‹. Daran werden Hardenberg und Goethe mit ihrer Auffassung von der Dichtung als Schauspiel der Kräfte anschließen. Für das Kräftedenken in Naturforschung und Naturphilosophie lässt sich vorerst dreierlei festhalten. Erstens bleibt der mechanistische Kraftbegriff über das gesamte 18. Jahrhundert hinweg in einem Spannungsverhältnis zu einem unter anderem auf Leibniz zurückgehenden, meist als dynamisch bezeichneten Kraftbegriff, der organische Vorgänge und Aktivitäten einschließen will. Kraftreflexionen im 18. Jahrhundert sind dabei Kompromissbildungen zwischen Newtons Kausalitätsdenken, das sich mit dem Verhältnis von Ursachen und Wirkungen befasst, und einer an Leibniz erinnernden Teleologie, die eher zu Begriffen wie Streben und Trieb greift, um Neigungen, Absichten und Zwecke unterstellen zu können. Zweitens vertieft sich der von Newton markierte Graben zwischen der Kraft als einer mathematischen Abstraktion und der Kraft als dem Namen für eine der Anschauung entzogene qualitas oder facultas occulta. Nicht nur in den Überlegungen zur Reizbarkeit organischer Materie oder zur Lebenskraft als Prinzip der Selbstorganisation, sondern auch in den Beobachtungen der Trägheit schwerer Körper, der magnetischen Anziehung bestimmter Metalle, der durch Reibung erzeugten Elektrizität oder der chemischen Reaktionsbildungen zwischen Stoffen wird die cartesianische Unterscheidung zwischen starrer Materie und darauf wirkenden Kräften neu bestimmt, wenn nicht sogar obsolet. Die Vorstellung von einer in der Materie 238 Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb, S. 31. 239 Vgl. Valeska von Rosen: Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des Ut-pictura-poesis und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 27 (2000), S. 171–208, hier: S. 197.
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enthaltenen und sich darin auch erhaltenden Kraft, die am Ende des 19. Jahrhunderts Energie heißen wird, deutet sich sachlich an. Man macht sich auf die Suche nach einem ›Maß‹ der Kraft und versucht, Kräfte rein quantitativ und nicht als (okkulte) Qualitäten zu fassen. Drittens wird der begriffliche Status der Kraft schon im 18. Jahrhundert prekär. Entsprechend wird es beinahe zum Gemeinplatz, die Kraft als Variable oder Hilfsbegriff für das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung zu erfassen und entsprechend zu formalisieren. Kaum mehr akzeptabel hingegen erscheint es schon um 1800, mit Kraft diese Ursache selbst oder gar eine von der Materie unabhängige Substanz zu bezeichnen. So fügt du Bois-Reymond in seiner eingangs bereits zitierten Kritik von 1848 der Diskussion um die Lebenskraft eigentlich kaum Neues hinzu. Interessant sind seine Ausführungen aber dort, wo er den Charakter der Kraft als Tropus und Metapher betont: Die Kraft in jenem Sinne ist nichts als eine versteckte Ausgeburt des uns eigenen unwiderstehlichen Hanges zur Personifikation, gleichsam ein rhetorischer Kunstgriff unseres Intellekts, das zur tropischen Wendung greift, weil ihm zum reinen Ausdruck die Klarheit der Vorstellung fehlt. In den Begriffen von Kraft und Materie kehrt derselbe Dualismus wieder, der in den Vorstellungen von Gott und Welt, von Seele und Leib sich zu erkennen gibt. Es ist, nur verfeinert, immer noch dasselbe Bedürfnis, welches einst die Menschen trieb, Busch und Quell, Fels, Luft und Meer mit Geschöpfen ihrer Einbildungskraft zu bevölkern.240 Das Wort Kraft verdankt sich also genau jener Operation, die Aristoteles im Metaphernkapitel der Rhetorik im Rückgriff auf seine Wortprägung der energeia beschreibt. Kraft ist eine Metapher, in der ein mechanischer Vorgang oder ein unbelebtes Ding mit der Anmutung von Eigenaktivität ausgestattet und zum wollenden, begehrenden und strebenden Wesen personifiziert wird. Mit der immer schärfer formulierten Einsicht in seinen metaphorischen Charakter ist der Kraftbegriff jedoch dabei, sich als Schlüssel zu einer ganzen Natur abzuschaffen. Sieht man von den heute noch angenommenen vier Grundkräften der Physik – Gravitation sowie elektromagnetische, starke und schwache Wechselwirkung – ab, dann bezieht sich Kraft als konkrete physikalische Größe heute nur noch auf das Bewegungsverhalten träger Körper: als Variable ist Kraft in der an Newton erinnernden Formel (F = m · g) als das Produkt aus Masse und Gravitation enthalten. Den Beobachtern des 19. Jahrhunderts scheint der Begriff der Energie besser dazu geeignet zu sein, um die höchst unterschiedlichen Eigenschaften einer wirkungsfähigen Materie zu beschreiben. 240 Du Bois-Reymond: Über die Lebenskraft, S. 14.
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Neben den Beobachtungen am Lebendigen bildet die Neubeschreibung der Wärme als Kraft das wohl wichtigste Feld, um zu der Vorstellung energetischer Materie zu gelangen. Dies bereitet sich in der romantischen Naturphilosophie vor.
Romantische (Meta-)Physik: Licht, Feuer, Verbrennung (Schelling, Ritter) Anders als sein Titel vermuten ließe, ist Schellings Schrift Von der Weltseele keine schwärmerische Beschwörung einer von einem übersinnlichen Prinzip durchwirkten Natur. Vielmehr präsentiert sie sich als detaillierter Versuch, empirische Befunde aus der Chemie, Biologie und Physik in eine philosophische Argumentation zu integrieren. Erklärtes Ziel der darin entworfenen »höhern Physik« ist es, den allzu lange aufrecht erhaltenen »Gegensatz zwischen Mechanismus und Organismus« aufzuheben, um endlich die »Idee der Natur als eines Ganzen« entwickeln zu können.241 Von der Weltseele gehört damit in das Projekt, das Schelling auch in den kurz aufeinander folgenden und argumentativ eng miteinander verbundenen Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797) und Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799) verfolgt. Alle drei Schriften greifen Kants dynamische Materietheorie auf und entwickeln sie im gewagten Mehrfachbezug auf Fichtes Subjektphilosophie, Spinozas substanzphilosophische Vorstellung einer produktiven natura naturans sowie Leibniz’ Monadologie weiter.242 In Gestalt einer ›höheren‹ oder auch ›spekulativen Physik‹ möchte Schelling die »Grundkräfte« der Natur
241 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Von der Weltseele – Eine Hypothese der höhern Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus [1798]. In: ders.: Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, hg. v. Hans Michael Baumgartner/Wilhelm G. Jacobs u.a., Bd. 6, hg. v. Jörg Jantzen unter Mitwirkung v. Thomas Kisser. Stuttgart 2000, S. 67–271, hier: S. 68. Texte aus dieser Ausgabe werden im Folgenden zitiert unter Schelling HKA Bandangabe, Seitenzahl. 242 Mit ihrer Hilfe baut sich Schelling das, was er selbst eine ›dynamische Atomistik‹ nennt. Wie Bonsiepen ausführlich gezeigt hat, betrifft dies »vor allem die von Kant vernachlässigte Chemie«. Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel, S. 186. Grundsätzlich unterscheidet Schelling in den Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797) chemische insofern von mechanischen Prozessen, als er die Verbindung und Auflösung chemischer Stoffe als ›freies Spiel‹ begreift und in die Nähe von geistigen Prozessen rückt – ganz so »als ob in jenem etwas dem Geist Analoges existierte«. Allerdings bleibe, so kritisiert Bonsiepen, Schellings »eigene Theorie vage«. Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel, S. 207. Der in der Weltseele entwickelte Gegensatz zwischen einer ersten, positiven, die Bewegung anfachenden Kraft und einer negativen, hemmenden, die Bewegung in sich zurücklenkenden Kraft ruht auf dem Versuch der Ideen auf, »die Grundkräfte der Materie mit den ursprünglichen Tätigkeiten des Geistes – der unbeschränkten und beschränkenden Tätigkeit – zu parallelisieren. Der Geist soll sich in seiner unendlichen, unbeschränkten Tätigkeit in einer ihm verwandten ersten positiven
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rekonstruieren, um den »letzten Bewegungs-Quell« und damit das »innere Triebwerk« der Natur zu erfassen.243 Für seine Auffassung von der Natur als reine Produktivität, in der auch dasjenige, was als beharrendes Produkt erscheinen mag, genau besehen »ein continuirliches und gleichförmiges Wiederentstehen« ist, 244 benutzt Schelling den um 1800 wohl vor allem mit Goethe assoziierten Begriff der Metamorphose: »Das Product«, so formuliert Schelling, »wird erscheinen, als in unendlicher Metamorphose begriffen«.245 Was Goethe in seiner Metamorphosen-Schrift zunächst nur als Bildungsgesetz des Lebendigen konzipiert hat, wird bei Schelling zum Programm eines regelgeleiteten Werdens, das als Übergang zwischen chemischen Stoffen und Aggregatszuständen zuallererst das Unorganische und erst von dort aus auch das Verhältnis zwischen organischer und unorganischer Natur betrifft. Grundsätzlich bezieht sich Schelling dabei auf Kants Bestimmung der Organisation als etwas, was »von sich selbst zugleich Ursache und Wirkung« ist.246 Während der Mechanismus physikalischer Kräfte als lineare Verkettung von Ursache und Wirkung zu denken sei, zeichnet sich die Organisation und damit der Organismus des Lebendigen durch die Hemmung dieser mecha nischen Wirkungskette aus, die auf sich selbst zurückgebogen wird: »Organisation ist mir überhaupt nichts anders, als der aufgehaltne Strom von Ursachen und Wirkungen. Nur wo die Natur diesen Strom nicht gehemmt hat, fließt er vorwärts (in gerade Linie). Wo sie ihn hemmt kehrt er (in einer Kreislinie) in sich selbst zurück«.247 Der Mechanismus bietet eine nach vorne gerichtete Verlaufsform, die sich blind und ohne Variationsmöglichkeiten vollzieht. Im Organismus hingegen wird diese Bewegung selbstbezüglich und beginnt, so impliziert Schellings Vorstellungsbild, in sich zu kreisen. In der Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799) spricht Schelling vom Kraft der Natur wiederfinden.« Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel, S. 273. Der daraus folgende nächste Schritt, so Bonsiepen, sei die im Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799) entwickelte Vorstellung von der Natur als Subjekt, deren Grundlage eine besondere Deutung des Seins als »reine Tätigkeit« ist. Schelling amalgamiert hier Spinozas Auffassung von der Gottnatur als absolute Substanz bzw. reine Tätigkeit der natura naturans mit dem absoluten Ich, das Fichte in Vom Ich als Prinzip der Philosophie (1795) entwickelt. Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel, S. 73. 243 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. Oder: Ueber den Begriff der speculativen Physik und die innere Organisation eines Systems dieser Wissenschaft, HKA 8, S. 32. 244 Schelling: Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, HKA 8, S. 41. 245 Schelling: Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, HKA 8, S. 55. 246 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 209. 247 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 69.
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Unorganischen als erster, dem Organischen als zweiter Potenz, um den Übergang von einem Reich zum anderen als eine mit und an sich selbst vollzogene Steigerung des unorganischen Mechanismus zu fassen. Den derart auseinandergehaltenen Bereichen des Mechanismus und der Organisation widmet sich die Weltseele in zwei separaten Teilen, »wobei der erste die Kraft der Natur, die in den allgemeinen Verändrungen sich offenbart, der andre das positive Princip der Organisation und des Lebens aufzusuchen unternimmt«.248 Um die Bereiche der Natur trotz dieser Zweiteilung des Textes nicht ganz auseinanderfallen zu lassen, kündigt Schelling aber schon in der Vorrede an, dass »Ein und dasselbe Princip die anorganische und die organische Natur verbindet«.249 Die Vorstellung von einer Weltseele, die er als ursprüngliche Einheit und koordiniertes Zusammenwirken scheinbar konkurrierender Kräfte bestimmt, soll verklammern, was sonst auseinanderfallen müsste.250 In diesem Auseinandersetzungs- und Verwandlungsgeschehen hat das Licht eine Sonderstellung, die Schelling im kleinteiligen Bezug auf Ansätze und Ergebnisse der zeitgenössischen Wissenschaften darlegt. Schellings Syntheseversuch geht dabei weniger von den Erscheinungen als vielmehr von deren Interpretationen aus, entfaltet er seine Idee von einer in sich einigen, gerade im Konflikt vereinten Natur doch in einer breit angelegten Auswertung zeitgenössischer Arbeiten. So versucht er Phänomene der Wärmeleitung, der Lichtbrechung und der Verbrennung unter anderem im Rekurs auf die Sauerstoffchemie Lavoisiers, auf die Elektrizitätstheorien Franklins, Symners und Delucs oder auf die Magnetismustheorie Prevosts zu beschreiben.251 Diese Theorien des Lichts, der Wärme, der Elektrizität und des Magnetismus legt Schelling sich jeweils so zurecht, dass sie seine Grundauffassung von einem aus einer Einheit hervorgehenden Dualismus in der Natur bestätigen. Das Licht hält er für die erste positive Kraft der Natur, die sich in 248 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 70. 249 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 70. 250 Beide Bereiche sollen im Namen der Weltseele zusammengehalten werden. »Diese beyden streitenden Kräfte zusammengefaßt, oder im Conflict vorgestellt, führen auf die Idee eines organisirenden, die Welt zum System bildenden, Princips. Ein solches wollten vielleicht die Alten durch die Weltseele andeuten.« Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 77. Denn wie später präzisiert wird, sind nicht zwei Kräfte anzunehmen, sondern eine ursprünglich homogene Kraft, »die nur in entgegengesetzten Richtungen wirkt«. Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 85. 251 Mit dem neuzeitlichen Empirismus meint er sowohl den philosophischen Idealismus als auch die antike Naturphilosophie verbinden zu können. So lobt Schelling die experimentelle Physik, habe sie doch »allmählig alle verborgne Ursachen verbannt«. Das Verhältnis von Empirie und Idealismus wird hier als höchst harmonisch entworfen: »Wenn man sieht, wie die Erfahrung freywillig gleichsam unsern Ideen entgegen kommt, muß man aufhören in seinen Behauptungen furchtsam zu seyn.« Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 123. Zugleich hält er seine Philosophie der Natur für »den ersten Anfang der Rückkehr zu dem ältesten und heiligsten Naturglauben der Welt«. Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 128.
Romantische (Meta-)Physik: Licht, Feuer, Verbrennung
einem beständigen Streit mit der Schwere oder Trägheit der Materie befindet. Aus diesem Konflikt leitet er dann untergeordnete Phänomene wie den Magnetismus und die Elektrizität ab. Ein Schlüsselbegriff bildet derjenige der Verwandtschaft, die sich zwischen den Kräften beobachten lasse.252 Die Erklärungsnöte, in die Schelling aufgrund der widersprüchlichen Theoretisierungen der besprochenen Phänomene gerät, sind gut rekonstruiert.253Auch die bestens aufgearbeitete Stellung seiner Naturphilosophie im Gefüge des philosophischen Idealismus muss hier nicht weiter kommentiert werden.254 Was mich im Folgenden interessieren wird, sind Schellings Strategien im Umgang mit der Wahrnehmbarkeit von Kräften, seine argumentative Funktionalisierung der Phänomene Licht und Feuer und nicht zuletzt sein Gebrauch der Begriffe Kraft und Energie. An Schellings Verwendung des Kraftbegriffs sind drei Punkte hervorzu heben. Erstens will er Kräfte »ganz und gar nicht als Erklärungen, sondern nur als Gränzbegriffe der empirischen Naturlehre« auffassen.255 Kräfte müssen angenommen werden, um die Gesetzmäßigkeit bestimmter Erscheinungen bezeichnen zu können. Zweitens gibt es keinen Zustand, in dem keine Kräfte am Werk sind. Es gibt keine absolute Ruhe, weil jeder scheinbare Zustand der Beharrrung aus der Tätigkeit von zwei entgegengesetzten Kräften hervorgeht, die sich momentan im Gleichgewicht befinden. Dabei gilt: »Die positive Kraft erst erweckt die negative«.256 Und drittens wird die »ursprünglich-positive Kraft«, die alle Bewegung »anfacht«, erst dann wahrnehmbar, wenn sie sich an einer entgegengesetzten Kraft bricht.257 Alle drei Parameter lassen sich mehr oder weniger leicht mit den Prämissen der Newton’schen Mechanik verbinden: Kraft ist ein Grenzbegriff, der zwischen Wirkung und unbekannter Ursache vermittelt, Kräfte wirken auch dort, wo ein Körper in Ruhe zu sein scheint, und Kräfte zeigen sich nur im Widerspiel. Wenn Schelling im ersten Teil der 252 So seien etwa die »Electricitäten dem Licht verwandt«. Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 133. 253 In seinem Rekurs auf die experimentell gestützte Wissenschaftspraxis seiner Zeit wendet er sich einerseits gegen atomistische Erklärungsmodelle, die er als mechanistische Verengung der Naturforschung empfindet. Andererseits stützt er sich aber auf die Ergebnisse atomistischer Theorien des Lichts, die er vor dem Hintergrund von Kants Auffassung von einer dynamischen Materie umzudeuten versucht. Dazu genauer Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel, S. 222. 254 Karen Gloy: Das Verständnis der Natur, Bd. II: Die Geschichte des ganzheitlichen Denkens. München 1996, S. 74–103; Eckart Förster: Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion. Frankfurt a.M. 2011, S. 226–251; Dalia Nassar: The Romantic Absolute. Being and Knowing in Early German Romantic Philosophy, 1795–1804. Chicago/London 2014, S. 157–256. 255 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 81. 256 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 90. 257 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 77.
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Weltseele das Problem der »ersten Kraft in der Natur« entwickelt, dann gewinnt er seine Beschreibungen aber an dem Verhalten des Lichts und nicht, wie Newton, an der Schwerkraft.258 Dies ist insofern entscheidend, als es sich beim Licht wiederum weniger um eine Kraft als vielmehr um eine mit Kraft begabte Materie handelt. Als Grundsatz wird zwar bündig formuliert: »Das erste Phänomen der allgemeinen Naturkraft, durch welche Bewegung angefacht und unterhalten wird, ist das Licht«.259 Das Licht bestimmt Schelling jedoch als außerordentlich feine Materie, die über besondere Kraft verfügt. Licht sei ein Fluidum, das »von der Sonne ausströmt« und sich dank der »außerdordentlichen Intensität seiner ausbreitenden Gewalt durch eigne Kraft bis zur Erde fortpflanzt«.260 Schelling begreift Licht als zusammengesetzte Materie, in der ein sehr elastisches, positives Fluidum an eine weniger elastische, »negative (ponderable) Materie« gebunden ist.261 Newtons Opticks mit der zeitgenössischen Sauerstoffchemie kombinierend, bezeichnet Schelling das positive Prinzip als Äther, das negative Prinzip als Oxygene.262 Damit bezieht Schelling Position in der Debatte um die Immaterialität oder Materialität des Lichts, die der um 1800 bereits überholte Begriff der imponderablen Materie nur suspendiert hatte.263 Besonders interessant ist diese Lichtmaterie, weil sie sich auflösen und neu verbinden kann: Was wir Licht nennen, ist nun selbst das Phänomen einer höhern Materie, die noch vielfacher andrer Verbindungen fähig ist, und mit jeder neuen Verbindung auch eine andre Wirkungsart annimmt. Im Licht, obgleich es das einfachste Element zu seyn scheint, muß nichts destoweniger eine ursprüngliche Duplicität angenommen werden, wenigstens scheint das Licht der Sonne die einzige Ursache zu seyn, die alle Duplicität auf Erden anfacht und unterhält.264
258 Schellings Text Von der Weltseele (1798), trägt in der dritten Ausgabe von 1809 einen erweiterten Titel »Nebst einer Abhandlung über das Verhältnis des Realen und Idealen in der Natur oder Entwicklung der ersten Grundsätze der Naturphilosophie an den Principien der Schwere und des Lichts«. Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 66. 259 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 90. 260 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 153. 261 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 81. 262 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 94. 263 Mit seiner Hypothese von einer Lichtmaterie, die sich »durch Erschütterung eines leicht zersetzbaren Mediums fortpflanze«, versucht er konkurrierende Konzepte des Lichts, darunter Newtons, Eulers und Herschels Auffassungen, zu verbinden. Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 83. 264 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 85.
Romantische (Meta-)Physik: Licht, Feuer, Verbrennung
Diese Lichtmaterie zeichnet sich durch eine besondere Wandlungsbereitschaft aus. Die Fähigkeit des Lichts, verschiedene »chemische[] Verhältnisse«265 einzugehen, erfasst Schelling an einigen Stellen im Terminus der Energie. Wenn etwa davon die Rede ist, dass Sonnenstrahlen in der dünnen Luft des Hochgebirges »energischer wirken«,266 dann springt hier Energie als Größe ein, mit der sich unterschiedliche Grade der Intensität bezeichnen lassen. Die in einer Materie herrschende Kraft soll sich quantitativ über ihre Energie erfassen lassen.267 So geht er etwa davon aus, dass es neben dem Licht noch eine Reihe von uns unbekannten Materien gebe, »die man doch nicht für erdichtet ausgeben kann, sobald nur der Grad ihrer Energie als proportional mit wirklich beobachteten Erscheinungen angenommen wird«.268 Der Begriff der Energie wird im Rahmen einer dynamischen Materietheorie sinnvoll, in der Kräfte als konstitutive Bestandteile der Materie und nicht als äußere Impulse, die auf eine gleichsam tote Materie wirken, gedacht werden. Mit den Worten Energie und energisch lassen sich die quantifizierbaren Vermögen und Wirkungen besonders gearteter und in flexible Verhältnisse tretender Materie bezeichnen. Attraktion und Repulsion, jene Grundkräfte, aus denen Kant seine dynamische Materietheorie entwickelt hat, bleiben auch für Schellings Theoretisierung und Differenzierung unterschiedlicher physikalischer und chemischer Vorgänge verbindlich. Der allgemeine »Dualismus der Natur« zeigt sich für Schelling im Gegensatz von Licht und Schwere, in den positiven oder negativen elektrischen Ladungen, in den Polen des Magneten wie auch in der Erd atmosphäre und den dort gemischten Luftarten.269 Die Verbindung zwischen diesen Phänomenen stiftet die Wärme: »Wir sehen, daß die Wärme die allgemeine Ursache ist welche allen Dualismus anfacht und unterhält, daß wir also recht hatten, sie gleichsam als das vermittelnde Zwischenglied positiver und negativer Principien in der Welt anzusehen«.270 Die im Energiebegriff implizierte Verlagerungstendenz von Qualitäten hin zu Quantitäten deutet sich 265 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 82. 266 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 96. 267 »Im Licht, so wie es von der Sonne ausströmt, scheint nur Eine Kraft zu herrschen, aber ohne Zweifel tritt es in der Nähe der Erde mit entgegengesetzten Materien zusammen, und bildet so, da es selbst einer Entzweyung fähig ist, mit ihnen zugleich die ersten Principien des allgemeinen Dualismus der Natur.« Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 85. 268 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 82. In diesem Sinn bestimmt Schelling später noch einmal die Wärmekapazität verschiedener Körper dadurch, dass »das absolute Wärmeprincip des Einen Körpers ursprünglich energischer ist, und durch geringere Quantitäten mitgetheilter Wärme in gleiche Bewegung gesetzt wird«. Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 104. 269 »Wenn das positive Princip der Bewegung mit dem Licht zu uns strömt, und die negativen Principien der Erde eigen sind, so ist zum voraus zu erwarten, daß das allgemeine Medium, das unsern Erdkörper umgiebt, eine ursprüngliche Heterogeneität der Principien andeuten werde.« Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 123. 270 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 168.
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auch schon in Schellings Bestimmung des Zusammenwirkens von Positivem und Negativem als mathematisches Plus und Minus an, wenn er etwa die sogenannte »Wärmecapacität« als ein »Minus von Zurückstoßungskraft, das er gegen fremde Wärmematerie äußert«, erklärt.271 Die Möglichkeit von Glas, Wasser oder Eisen, sich in unterschiedlichem Maße von der Sonne erwärmen zu lassen, liegt also in einem Mehr oder Weniger ihrer Kräfte. Als Minus und Plus sind die positiven und negativen Kräfte einander in Richtung und Stärke entgegengesetzt, nicht aber substantiell verschieden. Wenn sich alle Phänomene als Ergebnisse einer Auseinandersetzung zwischen Positivem und Negativem, zwischen Plus und Minus beschreiben lassen, dann werden »Wechselverhältniß«, »Conflict« und »Gleichgewicht« zu entscheidenen Kategorien der Beschreibung: »Da in der Natur ein allgemeines Bestreben nach Gleichgewicht ist, so erweckt jedes erregte Princip nothwendig und nach einem allgemeinen Gesetze das entgegengesetzte Princip, mit welchem es im Gleichgewicht steht«.272 Dualismus und Gleichgewicht sind indes so gedacht, dass sich die Natur als ein Streben statt als statische Ordnung auffassen lässt. Dabei steht das Gleichgewicht sowohl für die Zielstellung einer noch zu erreichenden Homöostase als auch für eine in den aufeinander bezogenen Kräften gegebene Voraussetzung. Auf ihrem Weg zu einer Wiedergewinnung eines Gleichgewichts befindet sich die gesamte Natur in einem Prozess der Verwandlung und Umbildung. Ihre Quelle hat diese Dynamik in dem von der Sonne ausgesandten, mit außerordentlicher Kraft ausgestatteten Äther. Die Sonne sei »ohne allen Zweifel [...] die Ursache [...], welche den beständigen Conflict positiver und negativer Principien in der Atmosphäre unterhält«,273 denn die Sonnenwärme sei die »continuierlich wirkende Ursache«, die den Magnetismus »anfachte«.274 Wie die im Text wiederkehrende Rede vom ›Anfachen‹ impliziert, sind die Phänomene des Magnetismus und der Elektrizität,
271 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 105. Schellings Entscheidung, dennoch an der Bezeichnung Phlogiston für ein solches »negatives Wärmeprincip« festzuhalten, ist in diesem Zusammenhang durchaus missverständlich. Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 108. Denn als Ursache der Brennbarkeit soll gerade kein isolierbarer Stoff angenommen werden, sondern eine in unterschiedlichen Körpern mehr oder weniger stark ausgeprägte »Zurückstoßungs kraft«. Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 108. Schelling hebt es gleichwohl als seine Leistung hervor, »Worten, die bisher nichts als dunkle Qualitäten ausgedrückt haben (wie dem Wort Capacität) durch Zurückführung der Wirkung, die sie bezeichnen, auf physikalische Ursachen reale Bedeutung verschafft zu haben.« Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 122. Im hier artikulierten Bestreben, dunkle Qualitäten in regelförmig artikulierbare Verhältnisse zwischen Ursachen und Wirkungen zu überführen, stellt sich Schelling auch methodisch in die Tradition der Newton’schen Physik. 272 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 125. 273 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 165. 274 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 179.
Romantische (Meta-)Physik: Licht, Feuer, Verbrennung
der atmosphärischen Luftarten, der meteorologischen Erscheinungen und der geologischen Bildung der Erdoberfläche dem Licht nicht nur ähnlich. Vielmehr gehen sie aus ihm hervor. Indem Schelling die Leitmetaphern von Druck und Stoß durch die mit dem Licht assoziierte Metapher vom entfachten Feuer ersetzt, übernehmen Licht, Wärme und Verbrennung rhetorisch eine Leitfunktion. Alles in der Welt scheint vom Licht und der Wärme angetrieben zu werden. Das komplexe Verhältnis dieser vom Licht ausgehenden Kräfte zur organischen Natur untersucht Schelling im zweiten Teil der Weltseele. Dort stellt er die in der Naturforschung des ausgehenden 18. Jahrhunderts so dringlich gewordene Frage nach dem »Ursprung organisierter Körper«275 als Frage nach dem Ursprung einer Form, die nicht vor oder außerhalb der Materie da ist. In seinem Versuch, zwischen den zu Argumentationszwecken zugespitzten mechanistischen und vitalistischen Erklärungsansätzen zu vermitteln, erhält das Problem des Gleichgewichts nun eine überraschende neue Wendung: Gleichwohl überlässt die Natur die organische Materie nicht ganz den todten Kräften der Anziehung, sondern in diesem Streben und Widerstreben der trägen, nach Gleichgewicht verlangenden Materie, und der belebenden, das Gleichgewicht hassenden, Natur, wird die todte Masse gezwungen, wenigstens in bestimmter Form und Gestalt anzuschießen, welche eben deßwegen der menschlichen Urtheilskraft als Zweck der Natur erscheint, da diese Form nicht entstehen konnte, als indem die Natur die entgegengesetzten Elemente so lange wie möglich auseinanderhielt, und sie so zwang, ihren Händen nicht anders, als unter einer bestimmten (ihren Zwecken scheinbar angemeßnen) Form gleichsam zu entwischen.276 Das Organische scheint gerade nicht nach Gleichgewicht zu streben, ist es doch weit mehr darauf aus, der Fixierung in einem bestimmten Zustand zu entgehen. Organische Formen verdanken sich also dem Versuch, den nach Gleichgewicht strebenden Kräften der Natur für einen begrenzten Zeitraum (›so lange wie möglich‹) zu entkommen (›gleichsam zu entwischen‹). Jede organische Form ist somit eine Übergangsform, in der sich der Streit der Kräfte für einen begrenzten Zeitraum beilegen ließ: Sie ist im doppelten Sinn flüchtige Form. Zugleich assoziiert sie sich mit einem durchaus harten Zwang, insofern sie den Kräften der unbelebten Natur entgegenwirkt und deren Ziele durchkreuzt. Diesen Formzwang der Natur kontrastiert Schelling mit künstlerischen Formbemühungen, die weit hinter der Natur zurückzustehen scheinen. An den Fragmenten und Ruinen menschlicher Artefakte lasse sich sehen, dass die 275 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 215. 276 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 204.
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von Menschen hergestellten Formen nicht bis ins Kleinste durchorganisiert seien. Während bei »Naturproducten« wie chemischen Stoffen oder organischen Geweben die »Erkennbarkeit des Ganzen aus dem Theil [...] ins Unend liche« gehe, gelange man bei kleinen Scherben und Bruchstücken etwa einer antiken Skulptur an die Grenzen der Identifizierbarkeit. Hier zeige sich »die Unvollkommenheit menschlicher Kunst«, die eben anders als die Natur nicht »durchdringende sondern nur oberflächliche Kräfte in der Gewalt hat«.277 Schelling ist ensprechend der Ansicht, dass erst die Philosophie die Einsicht in die »Unzertrennlichkeit von Materie und Form« verbreiten und sich »endlich ganz über das Gebiet der todten Physik [...] erheben« könne. 278 Während Schelling die Kunst an dieser Stelle gegenüber der Natur herabsetzt, ist das am Organischen hervorgehobene innige Verhältnis von Form und Materie in ästhetischen Formreflexionen von Moritz, Goethe und Schiller, wie noch zu sehen sein wird, schon längst zum Vorbild geworden. Dabei wird zu fragen sein, ob und auf welche Weise sich auch ästhetische Kraftreflexionen von mechanischen Modellen abwenden und auf die von Schelling umrissene W ärmelehre verlegen. Alles, was in Schellings produktiver Natur getan wird, verdankt sich einem fortgesetzten ›Anfachen‹ statt einem mechanischen Anstoß. Hier hat der spekulative Naturphilosoph Schelling Rückhalt in der Experimentalphysik eines Johann Wilhelm Ritter, der auf der Suche nach einem einheitsstiftenden Prinzip der Natur ebenfalls bei der Beobachtung von Verbrennungsphänomenen fündig wird. Denn wo, so fragt Ritter, ist der Ausgangspunkt für »die Gleichung zwischen der Natur und Sich« für den Menschen zu finden? Ritters Antwort ist eindeutig: Es ist » – das Feuer«.279 Wie Ritter bereits im ersten Absatz seines 1806 in der bayerischen Akademie der Wissenschaften gehaltenen Vortrags Physik als Kunst erklärt, sind Leben und Brennen, Licht und Leben eins. Schon die früheste Naturphilosophie sei vom Feuer ausgegangen »in fester Überzeugung, das Leben hier an seiner Quelle zu belauschen«.280 Neueste Forschungen hätten nun gezeigt, dass der organische Körper »nichts als der Feuerheerd [ist], auf dem, was Nahrung hieß, durch eingesognes Lebensgas, nur mit nach innen gekehrter Gluth, verbrannte«.281 Derart ermutigt, schließt Ritter sogleich zum gegenwärtig erreichten Spektrum empirisch erfasster Kräfte auf und identifiziert in der Elektrizität als »Quelle des Feuers« ein neues Paradigma, an dem sich die herausragende Bedeutung von Feuer, Hitze und Brennen bestätigt.282 277 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 208. 278 Schelling: Weltseele, HKA 6, S. 211. 279 Johann Wilhelm Ritter: Die Physik als Kunst. Ein Versuch, die Tendenz der Physik aus ihrer Geschichte zu deuten. Zur Stiftungsfeier der Königlich-baierischen Akademie der Wissenschaften am 28sten März 1806. München 1806, S. 25. 280 Ritter: Die Physik als Kunst, S. 26. 281 Ritter: Die Physik als Kunst, S. 34. 282 Ritter: Die Physik als Kunst, S. 29.
Romantische (Meta-)Physik: Licht, Feuer, Verbrennung
Insofern sich die Elektrizität auch als tierische Elektrizität zeige – Alexander von Humboldt hat hierfür den an Galvani angelehnten Begriff des Galvanismus geprägt –, habe die gegenwärtige Forschung die »Lebenswissenschaft« zur »Feuerwissenschaft« gemacht.283 Diese Erweiterung des Wissens erhebt Ritter zu einem prometheischen Kultursprung: Wie ein zweyter Prometheischer, den ersten selbst noch übertreffender Raub, wurde dieses Feuer von den Sterblichen empfangen. Nicht Donner und Blitz dem Himmel abgelernt zu haben, war, deß man sich erfreute: die große Frage um das Leben erhielt jetzt neues Leben. Denn nicht nur Einiges, wie vormals, Alles war im Stande, in Feuer aufzugehen und zu brennen. Ein Licht und Leben schien die ganze Schöpfung zu erfüllen, und wo man es nicht sah, nur im Verborgenen zu glühen. Der Erdgeist Selbst trat aus des alten Hauses Schranken, und mit Entsetzen nahm sein Kündiger das angetastete Geheimniß wahr.284 Prometheus hat den Menschen einmal das Feuer gebracht, mit dem sie sich, so lautet der geläufige Mythos der Kulturgründung, aus einem ersten Naturzustand herausbewegen konnten. Das Versprechen, sich im Verständnis der ganzen Natur nun einer solchen Einheit mit der Natur auf höherer Ebene wieder anzunähern, wird erneut ins Zeichen des Prometheus gestellt. Die im Blitz angedeutete Entdeckung der Elektrizität gibt den Hinweis auf den inneren Zusammenhang, ja auf das von einem mythischen Erdgeist gehütete Geheimnis der Natur. Wenn also alles in der Natur brennt, dann bietet eine Theorie der Verbrennung die Möglichkeit einer integrierenden Naturphilosophie: Zu ergründen ist also das »Gesetz des Feuers«.285 Mindestens zwei Problemen muss sich der Umbau der Naturwissenschaft zur Feuerwissenschaft allerdings stellen. Zum Ersten hat man es nicht nur mit sichtbaren Phänomenen zu tun, sondern etwa in Gestalt der Elektrizität auch mit einem Feuer, das dem Auge entzogen ist. Zum Zweiten kann die Fülle der beteiligten Phänomene in ihren Wechselbeziehungen noch kaum systematisiert werden. Feuerartiges findet sich in der Welt »so unendlich vielfach, nur in seiner Summe eins«.286 Für diese Doppelproblematik schlägt Ritter eine interessante Lösung vor, indem er die Arten des Feuers gerade über die Möglichkeiten ihrer Wahrnehmung aufschlüsselt:
283 284 285 286
Ritter: Die Physik als Kunst, S. 27. Ritter: Die Physik als Kunst, S. 29. Ritter: Die Physik als Kunst, S. 31. Ritter: Die Physik als Kunst, S. 33.
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Ein und dasselbe Feuer ward dem Auge Licht, dem Ohre Ton, sodann den übrigen Organen nach der Reihe Geruch, Geschmack, Gefühl, Bewegung, Wärme; je was und wie es diese Sinne in jedem andern Fall nur vernehmen mögen. Ja man kann sagen, [...] daß Alle Sinne nichts als Feuersinne, und Alle Vernehmung durch sie nur Feuervernehmung ist.287 Ritter verzichtet zwar darauf, diese wechselseitige Verwiesenheit von menschlicher Wahrnehmung und Natur genauer zu beschreiben. Mit dem Hinweis, dass menschliche und nichtmenschliche Natur auch deshalb eng verwoben sind, weil die Wahrnehmungsorgane der (menschlichen) Tiere von ihrer jeweiligen natürlichen Umgebung geformt worden sind, steht Ritter in einer spätestens mit Herder prominent gewordenen Tradition, die auch Goethes Lehre vom Farbensehen entscheidend prägt. Hier geht die alte Vermögenslehre in eine neuere, an den Phänomenen der (tierischen) Elektrizität interessierte Reizlehre über. Die entscheidende Wende im Text bringt Ritter im Verweis auf die erst neuerdings gemachte Entdeckung zustande, dass das Feuer sogar das Wasser hervorbringe. Das mit dem Oxygen assoziierte Feuer mache Körper brennbar, bereits Verbranntes werde durch Hydrogen wieder in den Zustand der Brennbarkeit zurückversetzt. Und so gilt nicht nur, alles sei Feuer – in vielleicht noch stärkerem Maße lasse sich sagen, dass alles Wasser sei. Mit dieser Beschreibung steht Ritter aber vor einem neuen Rätsel. Denn was genau ist es, was das bloße Wasser »modificierte, was die unendlichen Gestalten ihm eingeprägt, in denen die bunte Natur, so wunderbar geordnet, es ringsum zeigt«?288 Eine mögliche Lösung deutet Ritter an, wenn er Oxygen und Hydrogen als Produkte eines ständigen Verwandlungsprozesses beschreibt. Beide seien Stoffe, die unterschiedliche, sich ineinander auflösende und ineinander übergehende Formen annehmen. Und so schlägt er in eher tentativem Ton vor: Wenn nur das Hydrogen das [...] die allgemeine Form Verlassende, und in unendliche andre besondre Formen sich Kleidende, wäre – während das Oxygen erst im Proceß die Allgemeinheit seiner Form verließe und [...] sich der nun auch, und zwar von neuem, entfaltenden Form des Hydrogens [...] anschlöße.289 In diesem Wechsel von Form- und Formlosigkeit meinen Hydrogen und Oxygen weniger chemische Stoffe als vielmehr Katalysatoren, die wechselnde, ein ander ablösende Formzustände verantworten. Was sich in Schellings 287 Ritter: Die Physik als Kunst, S. 38. 288 Ritter: Die Physik als Kunst, S. 43. 289 Ritter: Die Physik als Kunst, S. 47.
Romantische (Meta-)Physik: Licht, Feuer, Verbrennung
Entwurf dem Gegeneinander von Licht und Schwere, Oxygen und Phlogiston verdankt, schreibt Ritter also wenige Jahre später einem Wechselspiel von Feuer und Wasser, Oxygen und Hydrogen als Agenten des beständigen Formwechsels zu. Der Akzent liegt dabei weniger auf Programmen einer zweckmäßigen Form als vielmehr auf einem Denken des »Proceßes«.290 Feuer und Wasser erscheinen demnach weder als Stoff noch als Form, sondern vielmehr als Prozesse, deren Erforschung der Chemie aufgegeben ist. In den fortgesetzten Erkundungen dieser Verbindungs- und Entbindungsprozesse sieht Ritter die Möglichkeit, die Vielfalt der Natur zu erklären, ohne sich auf Modelle einer zweckmäßigen Entwicklung irgendwo bereits angelegter organischer Gestalten zu verlassen. Der »Organismus der Natur« beruht vielmehr auf Vorgängen, wie sie auch in der neueren Geognosie beschrieben werden.291 Der geologischen Betrachtung erscheint die Erde als etwas vormals Lebendiges, nunmehr aber Ausgebranntes: Unsere Erde sehe aus »wie ein großer verloschner Feuerbrand, an dem nur selten hie und da noch einzelne Funken sichtbar werden«.292 Spekulationen über die bei der Erdentstehung beteiligten chemischen Kräfte prägen auch die Kraftreflexionen Herders, Hardenbergs und Goethes und werden besonders in Hardenbergs Heinrich von Ofterdingen und in Goethes späten literarischen Texten wie etwa der Novelle oder dem Faust II als zentrale Reflexionsmodelle poetischer Kräfte wiederkehren. In ihnen zeigt sich, in welchem Maße organische Formmodelle auf Verhältnisse und Prozesse im Unorganischen rückbezogen werden. Wie sich bei Ritter und Schelling zeigt, vollzieht sich der Übergang vom Kraftdenken zur Theoretisierung von Energie und den energetischen Potentialen unterschiedlicher Stoffe um und nach 1800 in der Erschließung altbekannter und neu abgesteckter Phänomenbereiche, für die insbesondere die Chemie zuständig wird. Das Wirken von Energien, mithin das, was Reil das ›freie Spiel der Stoffe‹ nennt, wird an der Wende zum 19. Jahrhundert vorzugsweise an den flüchtigen Phänomenen des Lichts und der Wärme beobachtet. Die dort gewonnenen Einsichten bestätigen und befestigen die energetische Konzeption der Materie und bilden die Grundlage für die thermodynamische Lehre vom regelförmigen Zusammenhang zwischen Wärme und Bewegung. Zum Schauplatz dieser neuen Wärmelehren wird neben der Natur nun auch die Welt der Maschinen.
290 Ritter: Die Physik als Kunst, S. 50. 291 Ritter: Die Physik als Kunst, S. 46. 292 Ritter: Die Physik als Kunst, S. 51.
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Thermodynamik: Wärmemaschine und proteische Energie (Carnot bis Helmholtz) Das vom 18. ins 19. Jahrhundert weitergegebene Wissen um Kräfte akkumuliert und verfeinert sich sowohl in der Naturphilosophie und der experimentellen Naturforschung als auch im Bereich technischer Anwendungen und der sie begleitenden Ingenieurswissenschaften. In Gehlers Physikalischem Lexikon nimmt die Diskussion der bewegenden Kräfte, der potentiae moventes als »diejenigen Kräfte, deren man sich in der Ausübung bedient, um die Maschinen in Bewegung zu setzen«,293 eine entschieden praktische Wendung. Grundmodell der Ausführungen bietet die leider sehr schwache Kraft der Menschen, die sich zwar grundsätzlich zum »Heben, Tragen, Ziehen, Drücken, Stoßen, Treten, Drehen« eignet, dabei aber weit weniger zu leisten imstande ist als eine Maschine. Weil man zumindest im aufgeklärten Europa die Arbeitskraft von Sklaven nicht mehr einsetzt, so Gehler, ist mit der menschlichen Kraft schonend umzugehen. Auf die ausführliche Schätzung des Wenigen, was ein Mensch zu heben oder zu tragen imstande ist, eröffnet Gehler bereits ein erstaunlich breites Spektrum an nichtmenschlichen Ressourcen, die sich zum Gebrauch in Maschinen einspannen lassen. Neben den längst bekannten Muskelkräften der Tiere und den ebenfalls in Antike und Früher Neuzeit genutzten Kräften des Wassers und des Windes rückt die »Kraft des Feuers« in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: Die Kraft des Feuers, oder weit richtiger: Der Druck der Atmosphäre auf einen durch Erkaltung und Verdichtung elastischer Dämpfe plötzlich hervorgebrachten leeren Raum. Man ist erst in neuern Zeiten auf den Gebrauch dieser sehr vortheilhaften bewegenden Kraft gekommen, s. Dampfmaschine.294 Spricht man von der Kraft des Feuers, dann verfehlt man strenggenommen die Ursache der Bewegung, hat man es doch mit einem komplexen Vorgang der Erhitzung, Ausdehnung und dem dadurch ausgeübten Druck zu tun, der die Bewegungsveränderungen erst verantwortet. An die Erläuterung dieses kulturund technikgeschichtlich erst erstaunlich spät genutzten Vorgangs schließt Gehler mit Überlegungen zu den bewegenden Kräften der Maschine an, die er auch Potenzen (potentiae, puissances, forces mouvantes) nennt. Er endet mit der prophetisch anmutenden Aussicht:
293 Gehler: Kraft, S. 807. 294 Gehler: Kraft, S. 810.
Thermodynamik: Wärmemaschine und proteische Energie
Ohne Zweifel liegen noch andere bisher unbekannte oder ungebrauchte Kräfte in der Natur, welche vielleicht die Nachwelt zur praktischen Mechanik wird anwenden lernen. So lassen sich schon jetzt allerley Spielwerke durch Elektricität und Magnetismus in Bewegung setzen. Wie wenig möchten wohl unsere Vorfahren erwartet haben, daß man beträchtliche Wasserkünste vermittelst der Dämpfe des kochenden Wassers umtreiben werde? Eben so wenig können wir voraussehen, welche Vortheile noch die Zukunft in dem unermeßlichen Felde der Natur entdecken werde.295 Wasserkünste und Spielwerke – was Gehler noch für feudale Parkanlagen, urbane Architekturen oder Salons reserviert, treibt im Hintergrund bereits die ersten frühindustriellen Produktionsstätten an. Die Reihung ›unbekannt oder ungebraucht‹ verbindet die theoriegeleitete Erforschung mit der praktischen Benutzung von Kräften. Kräfte werden vom geheimnisvollen Schlüssel zur Natur zur Ressource für den technischen Gebrauch. Ebenso unüberhörbar ist der Optimismus, mit dem im Zeichen der Dampfmaschine das Unwissen der Vorfahren durch die künftig noch zu machenden Entdeckungen überschritten werden soll. An der Schwelle zum 19. Jahrhundert klingt eine energietechnische Euphorie an, der die Natur als Ort vielfältiger Möglichkeiten der Bewegungserzeugung erscheint. Seinen kurzen Abriss der Geschichte und Funktionsweisen der Dampfmaschine entnimmt Gehler dem Standardwerk des 18. Jahrhunderts, Jacob Leupolds Theatrum machinarum generale von 1724, das einen Überblick über ihre gängigen Typen und Verwendungsmöglichkeiten gibt. Wenn Leupold ab dem Paragraph 364 die »Krafft des Feuers bey der Mechanic« behandelt, dann dominiert wie bei Gehler der Gestus des Neuen und der vielversprechenden Aussichten. Das Feuer sei zwar ein »sehr kräfftiges und gewaltiges Element«, es werde aber bisher nur sehr wenig, fast ausschließlich in England und Frankreich, genutzt.296 Grundsätzlich kennt Leupold vor allem Maschinen, die durch Feuer Wasser heben sollen, etwa um Grubenwasser in Bergwerken abzupumpen. Er beschreibt einige entsprechende Apparaturen, beginnend mit der 1649 von Thomas Savery vorgestellten Maschine, die mit einem Hebel operiert, bis hin zu einer zu Beginn des 18. Jahrhunderts von einem unbekannten Erfinder vorgestellten Maschine, in der die Übertragung zwischen Kolben und Saug röhre durch ein Rad bewerkstelligt wird. Grundsätzlich machen sich diese Feuermaschinen oder auch Dampfmaschinen die Eigenschaft der Luft zunutze, sich bei Erhitzung auszudehnen und bei Abkühlung wieder zu kontrahieren. Diese Ausdehnung der Luft in einem mit Wasser gefüllten und von unten 295 Gehler: Kraft, S. 811. 296 Jacob Leupold: Theatrum machinarum generale, oder: Schauplatz Des Grundes Mechanischer Wissenschaften. Leipzig 1724, S. 147.
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angeheizten Kessel treibt in einem Gefäß einen Kolben in die Höhe, der wiederum in einem anderen Gefäß den Druck erhöht und dort Wasser nach oben drückt. Der Kolben ist mit einem Hebel verbunden, der den Deckel des Kessels schließen und wieder öffnen kann. Insofern die Erhitzung den Kolben hebt und dadurch einen Regulator auslöst, der wiederum zur Abkühlung führt, verfügt die Maschine über einen Rückkopplungsmechanismus. Sie kann sich in beschränktem Maß selbst steuern. Beim Umgang mit der Dampfmaschine, in der thermische und mechanische Vorgänge ineinandergreifen, drängt sich die Ausweitung des mechanischen Erhaltungssatzes zum ersten Gesetz der Thermodynamik nachgerade auf. Statt, wie in Leibniz’ Formel von der vis mortua und der vis viva, lediglich potentielle in aktuelle Bewegung zu überführen, sind die in der Dampfmaschine genutzten Verwandlungen ungleich weitreichender. Hier führen Brennstoffe wie Holz zu Hitze, Hitze zur Ausdehnung von Flüssigkeiten und Gasen und diese wiederum zu mechanischen Rotations- und Vorwärtsbewegungen. Allerdings werden diese mehrfach vermittelten Prozesse in der Maschinenwirklichkeit niemals ohne Verluste durchlaufen. Statt einer Energieerhaltung lässt sich hier eher die lästige Verschwendung von Energie beobachten.297 Die Konstanz der sich verwandelnden Kraft ist in der Realität also nur schwer zu sehen. Eine theoretische Voraussetzung für den ersten Satz der Thermodynamik bildet daher ein präziseres Verständnis vom Zusammenhang zwischen Wärme und Bewegung. Der französische Ingenieur Sadi Carnot, der sich mit der praktischen Verbesserung der noch allzu ineffizienten Wärmemaschinen befasst, wird zu einem wichtigen Stichwortgeber einer solchen neuen Wärmelehre. Der Energetiker Wilhelm Ostwald, der Carnots 1824 erschienene Schrift Réflexions sur la puissance motrice du feu et sur les machines propres à développer cette puissance in seiner Reihe Klassiker der exakten Wissenschaften herausgegeben hat, preist ihn als wegweisenden Text für die Herausbildung des modernen Energiebegriffs.298 Carnots Text empfiehlt sich nicht nur, weil er als Meilenstein auf dem Weg der thermodynamischen Theoriebildung gelten kann. Vielmehr treten hier auch die ideologischen Prägungen des frühen Industriezeitalters hervor. Der Praktiker Carnot beginnt beim Alltagswissen: »Jedermann weiß, dass die Wärme die Ursache der Bewegung sein kann, dass sie
297 Darauf verweisen M. Norton Wise/Crosbie Smith: Work and Waste. Political Economy and Natural Philosophy in Nineteenth Century Britain. In: History of Science 27 (1989), Teil I, S. 263–301; Teil II, S. 391-449; Teil III, 28 (1990), S. 221–261. 298 So will er darauf »verweisen, dass [die Betrachtungsweise Carnots] den wesentlichen Inhalt dessen bildet, was als der zweite Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie bezeichnet wird.« Wilhelm Ostwald: Anmerkungen. In: Sadi Carnot: Über die bewegende Kraft des Feuers und die zur Entwicklung dieser Kraft geeigneten Maschinen (1824), übers. und hg. v. Wilhelm Ostwald. Leipzig 1892, S. 70.
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sogar eine bedeutende bewegende Kraft besitzt«.299 Der Grund, warum jedermann das weiß, ist die Dampfmaschine, von deren Kenntnis aus offenbar auch die Natur neu beschreibbar wird. So skizziert Carnot noch im Einleitungspassus das Bild einer von Wärme durchwirkten und geprägten Erde: Der Wärme müssen die grossen Bewegungen zugeschrieben werden, welche uns auf der Erdoberfläche ins Auge fallen; sie verursacht die Strömungen der Atmosphäre, den Aufstieg der Wolken, den Fall des Regens und der anderen Meteore, die Wasserströme, welche die Oberfläche des Erdballes furchen und von denen der Mensch einen kleinen Theil für seinen Ge brauch nutzbar zu machen gewusst hat; auch Erdbeben und vulkanische Ausbrüche haben gleichfalls die Wärme zur Ursache.300 Mit seiner Aufzählung der von der atmosphärischen Wärme miterzeugten meteorologischen Erscheinungen des Winds und der Wolkenbildung sowie der geothermischen Ereignisse wie etwa dem Vulkanismus lenkt Carnot die Aufmerksamkeit auf Bewegungen und Zusammenhänge, deren komplexe Interaktionen in der heutigen Erdsystemforschung verhandelt werden.301 Carnot hat nun freilich rein ökonomische Ziele und nicht im modernen Sinn klimatologische oder ökologische Zusammenhänge im Blick. Mit ihrem »ungeheuren Reservoir« an Wärme könne die Natur alle »Bedürfnisse« der Menschen befriedigen.302 Als Wärmequellen käme neben der nicht genannten Sonne auch die im Erdinneren gespeicherte Hitze infrage, die ebenfalls nicht weiter thematisiert wird. Stattdessen rückt Carnot das von der Natur bereitgestellte und in der zeitgenössischen Technik bereits nutzbare »Brennmaterial« in den Mittelpunkt, das die für unterschiedlichste Zwecke anzupassenden Wärmemaschinen antreibt.303 Und so bildet ein Lob des industriellen Zeitalters den Auftakt des ingenieurstechnischen Traktats, das in erster Linie auf die Optimierung der Produktionsmittel zielt. Die Begeisterung, mit der Carnot sich und seinem Publikum eine durch die Dampfmaschine ins Werk gesetzte »grosse Umwälzung in der Culturwelt« prophezeit, mag naiv anmuten.304 Die sachlichen Argumente leuchten freilich ein. In der Dampfmaschine lässt sich bereits um 1820 der »Motor« erkennen,
299 Sadi Carnot: Über die bewegende Kraft des Feuers und die zur Entwicklung dieser Kraft geeigneten Maschinen (1824), übers. und hg. v. Wilhelm Ostwald. Leipzig 1892, S. 3. 300 Carnot: Über die bewegende Kraft des Feuers, S. 3. 301 Hans Joachim Schellnhuber/Paul J. Crutzen u.a. (Hg.): Earth System Analysis for Sustainability. Cambridge, MA/London 2004. 302 Carnot: Über die bewegende Kraft des Feuers, S. 3. 303 Carnot: Über die bewegende Kraft des Feuers, S. 3. 304 Carnot: Über die bewegende Kraft des Feuers, S. 3.
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der den Nationen durch »rapide Entwicklung« ihrer »Industrie« zu wirtschaftlichem »Aufschwung« verhilft und ihnen die Grundlagen ihres Wohlstands und ihrer politischen Macht sichert.305 Denn anders als Wind- oder Wassermühlen lässt sich die mobile Dampfmaschine auch für den Transport und Verkehr von Gütern und Menschen einsetzen, die Leistungsbereitschaft der Maschinen ist dabei keinen tages- oder jahreszeitlichen Schwankungen unterworfen und sie scheinen auch niemals dazu gezwungen zu sein, »ihre Arbeit zu unterbrechen«.306 Die sprachliche Form, in der Carnot die ortsunabhängige, unermüdliche und vielgestaltige Arbeitsfähigkeit der Wärmemaschinen beschreibt, betont die Macht einer Maschine, die vom bloßen Mittel zu einer mit beinahe unheimlicher Eigenaktivität ausgestatteten Produktionsmacht wird: Schon beutet die Wärmemaschine unsere Minen aus, bewegt unsere Schiffe, vertieft unsere Häfen und Flüsse, schmiedet das Eisen, gestaltet das Holz, mahlt das Getreide, spinnt und webt unsere Stoffe, schleppt die schwersten Lasten u.s.w.. Sie scheint eines Tages der allgemeine Motor werden zu sollen, welcher den Vorzug über die Kräfte der Thiere, den Fall des Wassers und die Ströme der Luft erhält.307 In den Aktivbildungen der Verben – sie beutet aus, bewegt, vertieft, schmiedet, gestaltet, mahlt, spinnt, webt, schleppt – wird die Maschine zur autonomen Akteurin. Wenn die Wärmemaschine in Zeiten des sich erschöpfenden Holzes dabei hilft, Steinkohle abzubauen, dann bedient sie sich nebenbei selbst, indem sie sich ihr eigenes Verbrennungsmaterial sichert. Was in dieser Darstellung des allgemeinen und allmächtigen Motors unsichtbar gemacht wird, sind die in die Maschinen eingespannten Arbeitenden, ohne die sich der industrielle Aufschwung nicht hätte vollziehen können. Diese Invisibilisierung ist symptomatisch für den neuen Arbeitsbegriff der Thermodynamik. Arbeit wird nicht mehr als dasjenige verstanden, was Menschen zur Selbsterhaltung tun; stattdessen wird Arbeit als quantifizierbare Größe für eine an der Maschine orientierte Leistungsfähigkeit gedacht. Diese Resemantisierung der Arbeit von einem anthropologisch-ethischen zu einem technologisch-ökonomischen Konzept ist aus kulturhistorischer Sicht sehr gut untersucht. Anson Rabinbach etwa hat die zwischen Helmholtz und Marx aufgespannte Geschichte der thermodynamischen Neukonzeption der Arbeitskraft erzählt, die durch ihre physikalische Formalisierung dazu 305 Entzöge man England die Maschinen, dann »hiesse dies, diese colossale Macht vernichten«. Carnot: Über die bewegende Kraft des Feuers, S. 5. 306 Carnot: Über die bewegende Kraft des Feuers, S. 4. 307 Carnot: Über die bewegende Kraft des Feuers, S. 3–4.
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geeignet wird, die gesellschaftliche Organisation von Arbeit und Produktion zu theoretisieren und schließlich auch den menschlichen Körper als Verbrennungsmaschine aufzufassen.308 Andreas Malm hat diese Analyse um eine ökokritische Lesart erweitert, indem er die scheinbare Alternativlosigkeit der fossilen Verbrennungskultur als Konsequenz kapitalistischer Ausbeutungs logiken beschreibt, die neben der menschlichen Arbeit eben auch die Natur betrifft.309 Aus wissensgeschichtlicher Sicht erweist sich die Befassung mit der von Dampfmaschinen verrichteten Arbeit schließlich als wichtigster Anstoß, den Kraftbegriff durch den Energiebegriff zu ersetzen. So schlägt der englische Ingenieur Thomas Young schon 1802 vor, das Wort ›energy‹ zu verwenden, um die von einer Maschine aufgewendete Arbeit zur Erzeugung von Bewegung zu bezeichnen. 310 Energie ist etwas, das zur Verrichtung von mechanischer Arbeit bereitliegt. Mehr noch: Energie, dies klingt in der Wortwurzel erg- (griech: ergon, Arbeit, Werk) an, ist Arbeit. Sadi Carnot nimmt mit seiner Definition des Begriffs Kraft (puissance) als »nutzbare Wirkung«311 diese physikalische Vorstellung von Energie als Arbeit vorweg. Der in der Dampfmaschine beobachtbare Zusammenhang zwischen thermischen und mechanischen Phänomenen führt aber nicht nur zu einer Neubeschreibung von Arbeit und Energie. Sie bildet darüber hinaus einen entscheidenden Anstoß zur Neufassung der Wärme, die als Kraft begriffen werden muss, wenn man sie systematisch mit mechanischen Bewegungen in Verbindung bringen möchte. So lässt sich die Auffassung von der Umwandelbarkeit von Wärme in Bewegung strenggenommen erst auf der Grundlage einer Krafttheorie der Wärme gewinnen. Tatsächlich wurde Wärme bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein als eine mess- und wägbare Flüssigkeit behandelt, die alle Körper in mehr oder weniger hoher Konzentration durchdringt. Dieser Wärmestoff – Georg Ernst Stahl gibt ihm den Namen Phlogiston – sorgt aus der Sicht der sogenannten ›Phlogisten‹ für die Verbrennung der Körper, in denen er sich angelagert hat, und entweicht im Verbrennungsvorgang. Erwärmung und Abkühlung von Körpern sollen sich entsprechend dergestalt vollziehen, dass der Wärmestoff von einem wärmeren auf einen kühleren Körper übergeht. 308 Rabinbachs Untersuchung kreist um die zentrale Metapher vom menschlichen Motor, die von Wissenschaftlern und Sozialreformern gleichermaßen genutzt und bearbeitet wird. Im Mittelpunkt von Rabinbachs Rekonstruktion steht die Neubestimmung des menschlichen Körpers nicht mehr nur als Automat, sondern als Verbrennungsmotor. Anson Rabinbach: The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity. Berkeley 1990. 309 Andreas Malm: Fossil Capital: The Rise of Steam Power and the Roots of Global Warming. London 2016. 310 Schirra: Die Entwicklung des Energiebegriffs und seines Erhaltungskonzepts, S. 89. 311 »Wir brauchen hier den Ausdruck bewegende Kraft (puissance motrice), um die nutzbare Wirkung zu bezeichnen, welche ein Motor hervorbringen kann«. Carnot: Über die bewegende Kraft des Feuers, S. 6.
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Wie in seiner Rede von den »Reservoirs von Wärmestoff« deutlich wird, folgt Carnot grundsätzlich dieser Auffassung von der Wärme als einem flüssigen Stoff.312 In der atomistisch fundierten Thermodynamik hingegen wird Wärme als eine mehr oder weniger schnelle Bewegung innerhalb der Moleküle aufgefasst. Lavoisier und de Laplace ziehen bereits in den 1780er Jahren gegen den herrschenden Konsens der Wärmestofftheorie die Möglichkeit in Betracht, Wärme als eine »innere Bewegung« von Teilchen zu beschreiben.313 Eine Formel zur Bestimmung dieser Bewegungsquantitäten, so schlagen sie vor, könnte sich an dem von Leibniz vorgeschlagenen »Gesetz der Erhaltung der lebendigen Kräfte« orientieren.314 Nach diesem Modell ließe sich Wärme als »lebendige Kraft« auffassen, wobei sich die »unmerklichen Bewegungen der Moleküle« aus dem »Producte der Masse jedes Moleküls in das Quadrat seiner Geschwindigkeit« errechnen ließe.315 Lavoisier und de Laplace möchten sich in ihren Abhandlungen allerdings für keine der beiden Hypothesen entscheiden: ob es sich bei der Wärme um einen Stoff oder um eine Kraft handelt, lassen sie offen. Sie müssen sich insofern auch gar nicht entscheiden, als sich in beiden Modellen erfassen lässt, worum es ihnen eigentlich geht – mithin um die »Erhaltung der freien Wärme« beim Zusammentreffen unterschiedlich temperierter Körper.316 Das Wechselspiel von Erhitzung und Abkühlung denken sie im Bild eines Pendels, wobei sich freie Wärme erst in gebundene Wärme – in späteren Texten ist auch von latenter Wärme die Rede – verwandelt und dann wieder in freie Wärme zurückverwandelt. Weil dem Wärmestoff immer daran gelegen sei, einen bestehenden Temperaturunterschied aufzuheben, gehe er so lange von einem Körper auf den anderen über, bis beide gleich temperiert seien. Von dieser Vorstellung lässt sich 1824 auch noch Sadi Carnot leiten, wenn er in der »Wiederherstellung des Gleichgewichts des Wärmestoffs« den entscheidenen Umstand sieht, den man bei der Konstruktion von Wärmemaschinen bedenken sollte.317 Wie bei Lavoisier und de Laplace bleibt bei Carnot das Modell des Pendels mit seinem an einem Faden fixierten Gewicht verbindlich. Erwärmung und Abkühlung sollen sich nach dem Vorbild der mechanischen Transformation von lebendiger in tote Kraft als Hin und Her zwischen Fallen und Steigen, Höhe und Geschwindigkeit vollziehen. Carnot beschreibt die
312 Carnot: Über die bewegende Kraft des Feuers, S. 12. 313 Antoine L. Lavoisier/P.S. de Laplace: Zwei Abhandlungen über die Wärme (1780 und 1784), hg. v. J. Rosenthal. Leipzig 1892, S. 5. 314 Lavoisier/de Laplace: Zwei Abhandlungen über die Wärme, S. 5. 315 Lavoisier/de Laplace: Zwei Abhandlungen über die Wärme, S. 6. 316 Lavoisier/de Laplace: Zwei Abhandlungen über die Wärme, S. 7. 317 Carnot: Über die bewegende Kraft des Feuers, S. 7.
Thermodynamik: Wärmemaschine und proteische Energie
Dampfmaschine als Vorrichtung, in der sich statt bloßem »Verbrauch« der »Übergang« von Wärme vollzieht.318 Erst diese Leitvorstellung des stets angestrebten Gleichgewichts erlaubt es, von den unerschöpflichen Reservoirs der Natur zu sprechen. Das naheliegende Wunschbild des perpetuum mobile wird jedoch gerade im Zeichen dieser Gleichgewichtsvorstellung abgewiesen. Denn ein perpetuum mobile würde seine Bewegung nicht nur bis in alle Ewigkeit fortsetzen, sondern müsste sich auch selbst in Gang gesetzt haben. Damit wäre es von einem Überschuss geprägt, durch den sich die Kräfte selbst hervorbringen müssten. Eine »Erschaffung« von Kraft im perpetuum mobile würde es jedoch überflüssig machen, »die bewegende Kraft in den Strömungen des Wassers und der Luft, in den Brennmaterialien zu suchen«.319 Und so geht es in Carnots Darstellung vorrangig um die bestmögliche Ausnutzung der vorgefundenen und zu benutzenden Brennstoffe, die aus seiner Sicht in der genauen Untersuchung und Auswahl von Gasen und nicht allein in der Verwendung von Wasserdampf besteht. Als wichtiges Ergebnis seiner ingenieurstechnisch verwertbaren Forschung gelten deshalb auch die eingerückten »Tabelle[n] der specifischen Wärme der Gase«.320 Wie sich hier andeutet, steuert die Chemie, die sich anders als die Physik mit Stoffen statt mit Kräften befasst, wesentliche Einsichten für die Beschreibung thermodynamischer Prozesse und damit für die Neukonturierung der Konzepte Kraft und Energie bei. Leitend ist dabei die Einsicht in den nicht-elementaren Charakter von Luft und Wasser, die sich im 18. Jahrhundert durchsetzt. Luft, so zeigt die sogenannte ›pneumatische Chemie‹, lässt sich in eine Reihe von gasförmigen Stoffen aufspalten, wie etwa dem brennbaren Sauerstoff, auch ›Lebensluft‹ oder ›Feuerluft‹ genannt, dem nichtentzündbaren Stickstoff oder der ›Stickluft‹, und dem Kohlendioxid, zunächst ›fixe Luft‹ genannt.321 Lavoisier deutet den Verbrennungsprozess auf dieser Grundlage als Verbindung des Sauerstoffs mit den brennbaren Stoffen der jeweils verbrannten Körper: Verbrennung ist Oxydation. Was sich als Spezialdiskurs abtun ließe, spielt im Imaginären der Thermodynamik wie auch der romantischen Naturphilosophie eine auffällig wichtige Rolle. Denn nicht nur stützen ›romantische‹ Naturforscher und Philosophen wie Ritter oder Schelling ihre Vorstellungen von der Einheit der Natur gerade auf eine Theoretisierung von Hitze und Verbrennung – auch Helmholtz entwirft das Bild einer von der 318 Carnot: Über die bewegende Kraft des Feuers, S. 8. 319 Carnot: Über die bewegende Kraft des Feuers, S. 15. 320 Carnot: Über die bewegende Kraft des Feuers, S. 28–29. Auf dieser Grundlage votiert er zuletzt für »Hochdruckmaschinen«, in denen sich der Wärmestoff am besten ausnutzen ließe. Carnot: Über die bewegende Kraft des Feuers, S. 56. 321 Zu Begrifflichkeiten und Entwicklungen der Verbrennungstheorien siehe das Kapitel »Die Phlogistontheorie und die chemische Revolution«, in: Mason: Geschichte der Naturwissenschaft, S. 360–374.
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Wärme und dem Licht der Sonne angetriebenen Natur. Das gemeinsame Interesse empirisch-experimenteller und theoretisch-spekulativer Entwürfe an Licht und Wärme als den großen Kräften der Natur tritt hervor, wenn man das gewohnte disziplinengeschichtliche Narrativ von der Überwindung der romantischen Naturphilosophie in der Thermodynamik verlässt und in den Texten der frühen Thermodynamiker gerade die produktiven Rekurse auf romantische Denkstücke aufsucht. Dies betrifft die eben nicht nur romantische Auffassung vom Licht und der dadurch erzeugten Wärme als einer (ersten) Kraft. 1837 publiziert Carl Friedrich Mohr seine Ansichten über die Natur der Wärme, in der er die alte Stofftheorie der Wärme endgültig für überwunden erklärt. Es sei nun kein »leeres Spiel der Phantasie« mehr, die Erscheinungen der Wärme als »eine oscillatorische Bewegung der kleinsten Theilchen« zu begreifen, die sich wie Schall oder Licht in Vibrationen fortpflanzen kann.322 Die Aufwärmung oder Abkühlung von Körpern erschließt sich demgemäß über das mechanische Modell eines Anstoßes. Die unhandliche Theorie der Imponderabilien, der eigenartig unwägbaren Stoffe, hat sich, so vermerkt Mohr befriedigt, mit dieser Vibrationstheorie der Wärme erledigt: »Die Wärme erscheint als Kraft«.323 James Prescott Joule macht sich an die experimentelle Überprüfung der These, dass es sich bei »heat« nicht um eine »substance«, sondern um einen »state of vibration« handelt, indem er das Beobachtungsspektrum auf elektromagnetische Vorgänge erweitert.324 Seine Versuchsanordnung ist so angelegt, dass er das Verhältnis zwischen magnetisch oder aber mechanisch induzierter Elektrizität und der Erwärmung von Wasser erfassen kann. Wie Joule zeigt, ist die erzeugte Hitze sowohl proportional zum Quadrat des jeweils wirkenden elektrischen Stroms als auch zur jeweils aufgewendeten mechanischen Kraft.325 So gelingt es, »to connect heat with mechanical power in absolute numerical relations«.326 Diese Verbindung – connection – lässt sich in weiteren Versuchsreihen zum Gesetz ihrer Umwandlung – convertibility – pointieren.327 Diese Einsicht weiß sich getragen von der naturphilosophischen
322 Carl Friedrich Mohr: Ansichten über die Natur der Wärme. Annalen der Pharmacie 24 (1837), S. 141–147, hier: S. 142. 323 Mohr: Ansichten über die Natur der Wärme, S. 142. Interessant, aber weiterhin ungeklärt scheint Mohr das Verhältnis zwischen Licht und Wärme. Zwar lässt sich beobachten, dass extrem erhitzte Körper zu leuchten beginnen, dennoch möchte Mohr zwischen Lichtund Wärmestrahlen unterscheiden. 324 James Prescott Joule: On the Calorific Effects of Magneto-Electricity, and on the Mechanical Value of Heat (1843). In: ders.: Scientific Papers. London 1884, S. 123–159, hier: S. 123. 325 Joule: On the Calorific Effects of Magneto-Electricity, S. 137. 326 Joule: On the Calorific Effects of Magneto-Electricity, S. 146. 327 Joule: On the Calorific Effects of Magneto-Electricity, S. 156.
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Vorstellung von der Unzerstörbarkeit der Kräfte: »the grand agents of nature are, by the Creator’s fiat, indestructible«. Wo auch immer mechanische Kraft aufgewendet wird, erhalte man deshalb das »exact equivalent of heat«.328 Ähnlich wie bei Schelling kann diese Auffassung von Wärme die Reiche des Organischen und des Unorganischen verbinden. Denn die Wärme als große Agentin der Natur ist nicht nur in physikalischen Vorgängen wie dem Magnetismus und der Elektrizität, sondern auch in physiologischen Vorgängen am Werk. Bereits Lavoisier konnte zeigen, dass sich bei atmenden Lebewesen wie auch bei brennenden Kerzen die freigesetzte Wärmemenge proportional zum dabei freigesetzten Kohlendioxid verhält. Dies legt weiterhin nahe, dass die Körperwärme tierischer Organismen ebenfalls aus der Verbrennung von Nahrung stammt.329 Julius Robert Mayer stellt bei seiner Tätigkeit als Schiffs arzt auf Java fest, dass der Sauerstoffgehalt im venösen Blut in den Tropen höher ist als in Mitteleuropa. Er führt diesen Überschuss auf eine geringere Verbrennung wegen der höheren Umgebungstemperatur zurück. Auf der Grundlage weiterer Experimente beweist Mayer die rechnerische Äquivalenz zwischen Wärmemenge und Menge mechanischer Energie. Als Arbeitsleistung menschlicher Körper interpretiert, bezieht er die derart quantifizierte metabolische Tätigkeit in seiner 1845 publizierten Schrift Die organische Bewegung in ihrem Zusammenhange mit dem Stoffwechsel auf die im Körper vor sich gehenden physiologischen Verbrennungsprozesse und formuliert als Leitsatz: »Das Blut, eine langsame brennende Flüssigkeit, ist das Oel in der Flamme des Lebens«.330 Hermann von Helmholtz, zunächst Physiologe, dann Professor für Physik, bringt die von Mohr, Mayer und Joule vorgetragenen Ergebnisse systematisch mit dem bereits seit dem 17. Jahrhundert bekannten Gesetz von der Erhaltung der mechanischen Kraft in Verbindung. In den Texten und Reden von Helmholtz, wie etwa dem 1847 in der Sitzung der physikalischen Gesellschaft zu Berlin präsentierten Vortrag Über die Erhaltung der Kraft, tritt dieser synthetisierende Anspruch besonders plastisch hervor. Noch mehr Raum nehmen naturphilosophische Ausblicke in einem Vortrag von 1854, Über die Wechsel wirkung der Naturkräfte und die darauf bezüglichen neuesten Ermittelungen der Physik ein. Dieser Text empfiehlt sich nicht nur durch seine Kombination von Vermittlung und populärwissenschaftlicher Vereinfachung, mit der er eine kleine Geschichte der Entdeckung der Thermodynamik schreibt. Aufschlussreich für die Neukonzeption der Wärme als Kraft und der ersten Kraft als
328 Joule: On the Calorific Effects of Magneto-Electricity, S. 158. 329 Mason: Geschichte der Naturwissenschaft, S. 580. 330 Julius Robert Mayer: Die organische Bewegung in ihrem Zusammenhange mit dem Stoffwechsel. Heilbronn 1845, S. 79.
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Wärme ist Helmholtz’ eher nebenbei entworfene Kosmogonie, die auf dem Bild einer von Wärme durchwirkten Welt beruht. Helmholtz erklärtes Anliegen ist es, der Öffentlichkeit ein »neues allgemeines Naturgesetz« vorzustellen, das aus seiner Sicht »das Wirken sämmtlicher Naturkräfte in ihren gegenseitigen Beziehungen zu einander beherrscht, und eine ebenso grosse Bedeutung für unsere theoretischen Vorstellungen von den Naturprocessen hat, als es für die technische Anwendung derselben von Wichtigkeit ist«.331 Ähnlich wie Carnot setzt auch er beim Wunschbild des perpetuum mobile an, das er als moderne Spielart des alchimistischen Wunsches deutet, Gold zu machen – sei die unbegrenzte, sich selbst erhaltende Arbeitskraft unter den Bedingungen der modernen Produktion doch eigentlich gleichbedeutend mit Geld. Den lebendigen Organismus, den man weder antreiben oder aufziehen müsse, habe man lange für das einzige Beispiel eines solchen perpetuum mobile gehalten, da man den »Zusammenhang zwischen der Nahrungsaufnahme und der Kraftentwickelung« noch nicht herstellen konnte.332 Nahrung wurde nur als Mittel zur Regeneration angesehen, nicht als Antrieb: »Krafterzeugung aus sich selbst schien die wesentlichste Eigenthümlichkeit, die rechte Quintessenz des organischen Lebens zu sein«.333 Die Vorstellung von einem autonomen, sich selbst antreibenden Organismus habe man seither aber aufgeben müssen. Stattdessen entwirft Helmholtz das Bild einer die Menschen einbegreifenden Natur, die von einer ständigen Weitergabe, Übertragung und Verwandlung von Kräften gekennzeichnet ist. Die Einheit der Kräfte wird im ersten Teil des Vortrags über die Suche nach einer Maßeinheit entwickelt, mit deren Hilfe sich die beispielreich entwickelten mechanischen Vorgänge des Fallens, Hebens und Bewegens mit elektromagnetischen und thermodynamischen Prozessen vergleichen lassen, die in der Dampfmaschine, der Spaltung des Wassers in Wasserstoffgas und Sauerstoffgas durch elektrischen Strom oder bei der Erzeugung von Licht und Wärme beobachtet werden. Das Argumentationsziel besteht darin, die »Verbindung« und vielfältigen »Verwandtschaften« dieser Kräfte zu belegen.334 Helmholtz spricht vom »verwickelten Netze von Wechselwirkungen der Naturkräfte«, in dem man immer noch auf der Suche nach einem perpetuum mobile
331 Hermann von Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte (1854) und die darauf bezüglichen neuesten Ermittelungen der Physik. Ein populär-wissenschaftlicher Vortrag gehalten am 7. Februar 1854. Königsberg 1854, S. 4. 332 Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 7. 333 Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 7. 334 »Es ist unnöthig, noch mehr Beispiele zu häufen. Sie entnehmen aus den gegebenen schon, in wie enger Verbindung Wärme, Elasticität, Magnetismus, Licht, chemische Verwandtschaften mit den mechanischen Kräften stehen.« Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 17.
Thermodynamik: Wärmemaschine und proteische Energie
sei, um »irgend einen Cirkelweg durch chemische, electrische, magnetische, thermische Processe wieder zu mechanischen zurückzufinden«.335 In einer kurzen Entdeckungsgeschichte der Thermodynamik, die er mit Sadi Carnot beginnen lässt, treten neben Julius Robert Mayer vor allem Ludwig Arnold Colding und James Prescott Joule auf, die mit ihren unterschiedlichen disziplinären Expertisen dazu beigetragen hätten, die »Beziehungen zwischen den verschiedenen Naturprocessen aufzusuchen«. Er selbst habe diese Bemühungen 1847 in seiner Schrift mit dem Titel Über die Erhaltung der Kraft zusammengeführt und als theoretisches Gesetz der Krafterhaltung fixiert. Auf der Suche nach Möglichkeiten, mechanische Arbeitsprozesse zu optimieren, habe man unversehens ein »allgemeines Naturgesetz« gefunden.336 Im zweiten Teil des Textes wird die These vom gemeinsamen Maß der Kraft in Überlegungen eingefügt, die das Gesetz der Krafterhaltung für ein neues Denken des Naturganzen nutzen. Dabei schält sich als Erkenntnis heraus, dass Kraft zwar innerhalb von anwendungsbezogenen Prozessen wie etwa der Wärmemaschine verloren gehen kann, dass sie im Naturganzen dennoch konstant bleibt. Zu dieser Auffassung konnte man gelangen, weil sich die durch Reibungswiderstände scheinbar verlorene Kraft neu als Wärme beschreiben ließ, wobei »immer eine genau bestimmte Menge Wärme entsteht«.337 Erst auf dieser Grundlage lässt sich dann mit voller Sicherheit sagen, »dass das Naturganze einen Vorrath wirkungsfähiger Kraft besitzt, welcher in keiner Weise weder vermehrt, noch vermindert werden kann, dass also die Quantität der wirkungsfähigen Kraft in der unorganischen Natur eben so ewig und unveränderlich ist, wie die Quantität der Materie«.338 Nun ist es aber ebenso wenig von der Hand zu weisen, dass bereits verwandelte Arbeitskraft irgendwann »für menschliche Zwecke unanwendbar«339 wird. Die von diesen Prozessen beschriebene Linie, so beschreibt es Helmholtz, kann sich eben nicht in Gestalt eines Zirkels am Ende einer Verwandlungskette wieder berühren:
335 Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 18. 336 Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 20. 337 Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 20. Entscheidend für die Einsicht in »das mechanische Äquivalent der Wärme« sei die Neubeschreibung der Wärme nicht als »feiner unwägbarer Stoff«, sondern »vielmehr ähnlich dem Lichte und Schalle, eine besondere Form zitternder Bewegung der kleinsten Körpertheile«. Denn bei »Reibung und Stoss geht nach dieser Vorstellungsweise die scheinbar verlorene Bewegung der ganzen Massen nur in eine Bewegung ihrer kleinsten Theile über, und bei der Erzeugung von Triebkraft durch Wärme geht umgekehrt die Bewegung der kleinsten Theile wieder in eine solche der ganzen Massen über.« Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 21. 338 Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 22. 339 Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 22.
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Daraus folgt also, dass der erste Theil des Kraftvorraths, die unveränderliche Wärme, bei jedem Naturprocesse fortdauernd zunimmt, der zweite der mechanischen, electrischen, chemischen Kräfte fortdauernd abnimmt; und wenn das Weltall ungestört dem Ablaufe seiner physikalischen Processe überlassen wird, wird endlich aller Kraftvorrath in Wärme übergehen und alle Wärme in das Gleichgewicht der Temperatur kommen. Dann ist jede Möglichkeit einer weitern Veränderung erschöpft, dann muss vollständiger Stillstand aller Naturprocesse von jeder nur möglichen Art eintreten. Auch das Leben der Pflanzen, Menschen und Thiere kann natürlich nicht weiter bestehen, wenn die Sonne ihre höhere Temperatur und damit ihr Licht verloren hat, wenn sämmtliche Bestandtheile der Erdoberfläche die chemischen Verbindungen geschlossen haben werden, welche ihre Verwandtschaftskräfte fordern. Kurz das Weltall wird von da an zu ewiger Ruhe verurtheilt sein.340 Nicht nur wird es nie gelingen können, eine sich selbst antreibende Maschine zu konstruieren – noch nicht einmal die von den Menschen bewohnte Erde ist ein perpetuum mobile. Ihre von der Sonne bezogenen Möglichkeiten werden sich erschöpfen. Mit den Konsequenzen dieser Einsicht in den »Haushalt des Weltalles in Bezug auf die Vorräthe wirkungsfähiger Kraft«341 befasst sich die zuletzt vorgetragene kosmische Spekulation, die der ehemalige Königsberger Professor Helmholtz in Referenz und Reverenz an den anderen Königsberger, den Philosophen Immanuel Kant, entwirft. Diese Geschichte erzählt Helmholtz als Geschichte der Kräfte. Das Universum in seinem Anfangszustand habe man sich als »eine ungeheure nebelartige Masse vorzustellen, die den Teil des Weltraums ausfüllte«.342 Durch die allgemeine Anziehungskraft der Materie hätten sich diese weit ausgedehnten Massen aufeinander zubewegt, verkleinert und verdichtet, wobei die im ersten Nebelzustand noch eher langsame Rotationsbewegung den allgemeinen mechanischen Gesetzen zufolge in eine immer schnellere Bewegung überführt worden sei. Die rotierenden Massen hätten nun »unserem neuen Gesetze gemäß auch den ganzen Vorrath von Arbeitskraft, der einst darin seinen Reichthum von Wirkungen entfalten sollte« enthalten.343 Dies gilt nicht nur für die Anziehungs- und Gravitationskraft, sondern auch für die
340 Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 23–24. 341 Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 25. 342 Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 27. Später legt er die Gewährsmänner seiner Erzählung offen: »Hypothetisch ist übrigens in dem bisher vorgetragenen nur die Annahme von Kant und de Laplace, dass die Massen unseres Systems anfangs nebelartig im Raume vertheilt waren«. Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 30. 343 Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 27.
Thermodynamik: Wärmemaschine und proteische Energie
chemischen Kräfte, die allesamt schon vorhanden sein mussten: »aber da diese Kräfte erst bei der innigsten Berührung der verschiedenartigen Massen in Wirksamkeit treten können, musste erst Verdichtung eingetreten sein, ehe ihr Spiel begann«.344 In Helmholtz’ Geschichte der Kräfte befindet sich das Universum in einem permanenten Zustand der Verdichtung, die Wärme produziert, die wiederum in den Weltraum abgegeben wird. Einen Beleg bilden geologische Modelle, denen zufolge die Erde zumindest in ihrem Kern noch aus »einer rotirenden flüssigen Masse« besteht.345 Der auch in anderen Kosmogonien gegebene Hinweis auf das langsame Erkalten des Erdballs lässt sich in der neuen Terminologie zur These fügen, »dass der Rest des alten Kraftvorraths, welcher als Wärme im Innern des Erdkörpers aufgespeichert ist, fast nur noch in den vulcanischen Erscheinungen auf die Vorgänge der Oberfläche von Einfluss ist«.346 Tatsächlich zwingt das Gesetz von der Verwandlung der Kraft, in letzter Konsequenz die Erschöpfung und eben keinen Zugewinn an Kraft zu denken: »so weisen doch unerbittliche mechanische Gesetze darauf hin, dass diese Kraftvorräthe, welche nur Verlust, keinen Gewinn erleiden können, endlich erschöpft werden müssen«.347 So werde sich der »Vorrath mechanischer Kraft« durch die Reibungseffekte derart verringern, dass sich zuletzt wohl auch die Achsendrehung der Planeten abbremsen muss. In dem Maße, in dem die Erde hier zum alternden, sich abkühlenden und seine Kräfte langsam verlierenden Körper wird, tritt die Sonne als eigentliche Kraftspenderin hervor. Sie verantwortet eine ungleichmäßige Erwärmung der Luft, durch die Winde entstehen, sie erwärmt das Wasser, in dem sich Strömungen mit entsprechenden klimatischen Effekten bilden, und sie treibt den aus Verdampfung, Wolken, Regen, Quellen, Bächen und Flüssen zusammengesetzten Wasserkreislauf an, der wiederum Mühlen bewegt oder auch geologische Erosionen verantwortet. Ohne die Sonne, so schließt Helmholtz, gäbe es nur noch die vom Mond regierten maritimen Großbewegungen von Ebbe und Flut. Die Energien aerober Lebewesen lassen sich bruchlos in dieses solare Szenario integrieren. So wendet sich Helmholtz zuletzt »den Bewegungen und der Arbeit der organischen Wesen« zu,348 die er als Verbrennungsmaschinen darstellt. Nahrungsmittel sind verbrennliche Substanzen, die »in den Lungen einer langsamen Verbrennung unterworfen werden, und schliesslich fast ganz in dieselben Verbindungen mit dem Sauerstoffe der Luft übergehen, welche bei einer Verbrennung in offenem Feuer entstehen würden«.349 Die »Quelle der
344 345 346 347 348 349
Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 27. Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 29. Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 32. Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 41. Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 33. Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 33.
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Kraft« für tierische Organismen sind Eiweiß, Zucker, Stärke und Fett, die, so der nächste Schritt, »aus dem Pflanzenreiche« kommen.350 Hier schließt sich insofern ein »Cirkel«, als die Pflanzen den bei der Atmung »verbrannten Kohlenstoff, [...] den verbrannten Wasserstoff als Wasser, den Stickstoff […] als Ammoniak« aufnehmen und mithilfe anderer Stoffe aus dem Boden die »zusammengesetzten verbrennlichen Substanzen, Eiweiss, Zucker, Oel« erzeugen, von denen wiederum »das Thier lebt«.351 Was wie ein geschlossener Kreislauf und ein sich selbst tragendes perpetuum mobile wirken könnte, ist allerdings selbst nur ein Teil in einer weit größeren Wirkungskette, in die noch das Sonnenlicht einzutragen ist. Pflanzen brauchen neben dem Kohlendioxid noch das Sonnenlicht, da erst die Sonnenstrahlen »die mächtige chemische Verwandtschaft des Kohlenstoffs der Kohlensäure zum Sauerstoffe« spalten helfen und zum Teil an die Atmosphäre abgeben, zum Teil »als Holzfaser, Stärkemehl, Oel oder Harz in der Pflanze« anreichern.352 Hier fehlt zwar noch der rechnerische Nachweis der Äquivalenz, mit dem sich belegen ließe, dass »die lebendige Kraft der verschwundenen Sonnenstrahlen auch dem während derselben Zeit angehäuften chemischen Kraftvorrathe entspricht«.353 Dennoch wird deutlich, dass das thermodynamische Weltbild sein Zentrum in der Sonne als größter und primärer Kraftquelle hat. So erklärt Helmholtz am Ende des Vortrags ausdrücklich, dass »alle Kraft, vermöge deren unser Körper lebt und sich bewegt, ihren Ursprung direct aus dem reinsten Sonnenlichte herzieht«.354 Das kopernikanische heliozentristisch-mechanische Weltbild wird durch das thermodynamische Denken entschieden angereichert, wenn man in der Sonne, die vormals nur als physikalisches Gravitationszentrum der planetarischen Umlaufbahnen ins Kalkül gezogen wurd, nun auch als phytochemische Quelle fast aller auf der Erde verfügbaren Energien anerkennt. Zweifellos befasst sich Hermann von Helmholtz ausführlich mit den technischen Möglichkeiten der zunehmend mit Kohle betriebenen Dampfmaschine, die Menschen als Verbrennungsmaschinen zu denken erlaubt und nebenbei die industrielle Produktion auf den Abbau und Verbrauch fossiler Brennstoffe festlegt.355 Darin ist Helmholtz’ Text ebenso symptomatisch wie wegweisend für eine Epoche, die aus der physikalisch aufgefassten Größe der Arbeitskraft und dem Betrieb von Dampfmaschinen das Vokabular ihrer Selbstbeschreibung gewinnt und sich zugleich auf den alternativlos erscheinenden
350 351 352 353 354 355
Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 34. Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 35. Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 36. Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 36. Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte, S. 36. Rabinbach: The Human Motor.
Thermodynamik: Wärmemaschine und proteische Energie
Weg in die moderne Verbrennungskultur begibt. Den heimlichen Mittelpunkt der Thermodynamik, wie Helmholtz sie hier entwirft, bildet trotz allem die Sonne als ältester und größter Energiequelle. Helmholtz’ Überlegungen zur Theorie der Wärme kreisen gleichsam um die Sonne, die zwar zweifellos immer noch als schwerer Körper in Betracht kommt, von dessen Anziehungskraft die Planeten auf ihre kreisförmigen Bahnen gezwungen werden. Zugleich stellt sich die Sonne aber auch als Ursprung und Quelle der auf der Erde nutzbaren, immateriellen Kraft der Wärme dar. Die von der Sonne ausstrahlende Wärme kann zwar noch nicht zum Antrieb der neuen Maschinen genutzt werden, sie wird aber als die entscheidende Triebkraft der Natur identifiziert.356 Dass sich das in den 1840ern von unterschiedlichen Forschenden vorgeschlagene Einheitsmodell der Thermodynamik nur zögernd durchsetzt, hat man meist auf ebendiesen Vereinheitlichungs- und Synthetisierungsanspruch zurückgeführt, den schon die kritischen Zeitgenossen als unangenehme Nähe zur Naturphilosophie der Romantik auslegen. Poggendorf, der Herausgeber der Annalen der Physik und Chemie, in dem Mayer und andere ihre Vorschläge publizieren, ordnet diese Beiträge mit einem gewissen Unbehagen der »spekulativen Richtung der Naturphilosophie« zu.357 Tatsächlich bemühen sich die frühen Protagonisten der Thermodynamik zwar vordergründig nur um Mathematisierbarkeit ihrer Befunde; dahinter steht aber das unverändert verlockende Versprechen der Vereinheitlichung eines Weltbildes, das die im 18. Jahrhundert aufgefächerten Kräfte der Natur auf eine einzige Kraft zurückführen könnte. Sowohl in diesen Integrationsversuchen als auch in der solaren Orientierung hat das thermodynamische Weltbild einen wichtigen Vorläufer im romantischen Naturdenken. Die untergründige Verbindung zwischen einer durchaus technikfixierten, grundsätzlich mechanistisch argumentierenden Thermodynamik der 1840er Jahre und dem spekulativen Naturdenken wird sich um und nach 1800 auch in den literarischen Texten Goethes und Hardenbergs wiederfinden. Mit den Beobachtungen zur Kraft des Feuers, so war an den Arbeiten von Carnot, Mohr, Mayer und Helmholtz zu sehen, geht die Mechanik des 18. also in die Thermodynamik des 19. Jahrhunderts über. Wie sich in Ritters Auffassung vom Galvanismus als ›Feuerwissenschaft‹ wie auch in Schellings spekulativer Physik gezeigt hat und in Hardenbergs Notizen zur Kraft der Wärme weiter vertiefen lässt, gewinnen Licht und Wärme schon in der romantischen Naturforschung eine Sonderstellung, mit der das erweiterte Forschungsfeld
356 Dies ist nur konsequent angesichts einer veränderten Bewertung von Wärmephänomenen, über die man sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts einig geworden ist, hatte doch Carnot selbst die Wärme schon für diejenige Kraft gehalten, die fast alle Veränderungen in der Natur verantwortet. Carnot: Über die bewegende Kraft des Feuers, S. 3. 357 Mason: Geschichte der Naturwissenschaft, S. 582.
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der Thermodynamiker am Ende des 18. Jahrhunderts eröffnet wird. Obwohl diesem Wärmewissen vor allem in der Chemie, so etwa bei Lavoisier, vorgearbeitet wird, entsteht daraus keine neue Subdisziplin. Vielmehr integriert die Theoretisierung von Licht, Wärme und Feuer unterschiedlichste Erscheinungen und bahnt Verbindungen zwischen den Bereichen des Unorganischen und des Organischen. Und so wird das Synthesebegehren der idealistischen Philosophie in den 1840er Jahren von einer Naturwissenschaft eingeholt, die einige der längst vermuteten Äquivalenzen zwischen Wärme und Bewegung nun auch experimentell nachweisen und mathematisch beschreiben kann. Dabei gilt sowohl in der Naturphilosophie als auch in der Thermodynamik die Sonne als zentrale Quelle der auf der Erde beobachtbaren Kräfte – oder Energien. Im Zuge dessen wandelt sich schließlich auch das, was man unter den Begriffen Kraft und Energie verstehen will. Denn bemerkenswerterweise schiebt sich gerade dort, wo die Sonne als himmlischer, alles Lebendige durchdringender und alle Kräfte der Natur vereinigender Geist aus Licht und Feuer imaginiert wird, das Wort energeia in den Vordergrund – und zwar schon lange bevor sich die thermodynamische Auffassung von der Energie als Arbeit andeutet. Am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit wählt Kepler das Wort energeia dort als begriffliche Alternative zu dem sonst von ihm verwendeten Wort Kraft (vis), wo er die Erscheinung dieser Weltseele als Licht, Leuchten und Lodern verbildlicht: So leuchtet daher auch in der Erdseele das Bild des sinnlichen Tierkreises, sowie des ganzen Firmaments, als Band der Sympathie zwischen den Dingen am Himmel und auf Erden wider. Es leuchten aber auch ganz besonders in ihr wider die Urbilder aller ihrer Obliegenheiten und aller Bewegungen, nach denen sie ihren Körper mir irgendeinem Sinn bewegt. Gewöhnlich spricht man von dieser Seele als von einer ›Kraft‹ (dynamis), ich möchte lieber ›Aktualität‹ (energeia) sagen. Denn in dieser besteht das Wesen der Seelen, sie ist gleichsam das Lodern (physis) dieser Flamme, weil die Seelen für und in sich immer so ausgestattet sind, wie wenn sie das ausrichten würden, wozu sie geschaffen sind, mögen sie aktual im Gebrauch der Werkzeuge des Körpers sein oder nicht.358 Was Kepler mit dieser Wortverwendung in den Blick rücken möchte, ist die beobachtbare Wirkung ihres ›Loderns‹ statt eines hinter den Erscheinungen verborgenen Wesens der ›Flamme‹. Für diese Tätigkeit schlägt Kepler das Wort energeia als begriffliche Alternative zur vis vor.
358 Johannes Kepler: Harmonices Mundi. Linz 1619; zit. n. Schirra: Die Entwicklung des Energiebegriffs und seines Erhaltungskonzepts, S. 41.
Thermodynamik: Wärmemaschine und proteische Energie
Das Wort Energie drängt sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert angesichts von Phänomenen auf, die zwischen Materie und Kraft schwanken. Dabei wird die epistemische Entzogenheit der Kraft, die als Ursache hinter den Erscheinungen liegt, in das Modell einer in der Materie latenten und jederzeit aktivierbaren Energie überführt. Wie Georg Helm in seiner 1887 publizierten Lehre von der Energie nachzeichnet, etabliert sich, angestoßen von William John Macquorn Rankine und William Thomson (später der erste Baron Kelvin), die Unterscheidung in »aktuelle« und »latente Energie«.359 Latente Energie oder auch »Eigenenergie« wird dabei als disponibler, einem Körper »eigentümliche[r] Energievorrat« gedacht.360 Derartige Vorräte von Energie (»stores of mechanical energy«), so habe Thomson gezeigt, seien »gravitierende, elektrische, brennbare, bewegte, erwärmte, durchstrahlte Stoffe«.361 Hatte man Kräfte als deutsche Übersetzung der griechischen dynamis und der lateinischen vis in der Naturforschung und der Naturphilosophie als verborgene Ursachen sinnlich wahrnehmbarer Wirkungen aufgefasst, so wird Energie im Rahmen der Thermodynamik zur Größe in einem Verwandlungsgeschehen, das sich auf der Oberfläche der beobachtbaren und messbaren Erscheinungen abspielt. Diese Vorstellung von einem aus der Sonne bezogenen Energievorrat erinnert nur noch von Ferne an Leibniz’ Modell des Übergangs zwischen vis viva und vis mortua, vervielfachen sich mit ihr doch die Möglichkeiten, sowohl die unterschiedlichen Erscheinungsweisen als auch die Verwandlungswege der Kräfte zu beschreiben. Die Abkehr von einem Kraftbegriff, der grundsätzlich die Ursache von Veränderungen bezeichnen sollte, fällt jedoch schwer. Mayer etwa bestimmt in seinen 1842 publizierten Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur die Kraft sowohl als Ursache wie auch als Wirkung, da sich Kräfte wie Fallkraft und Bewegung oder aber Bewegung und Wärme zueinander »verhalten wie Ursache und Wirkung, Kräfte, die in einander übergehen, zwei Erscheinungsformen eines und desselben Objekts«.362 Kräfte sollen hier als wechselnde Er scheinungsformen von etwas gefasst werden, das sich seinerseits nicht näher bestimmen lässt und deshalb ersatzweise mit dem Wort ›Objekt‹ bezeichnet 359 Georg Helm: Die Lehre von der Energie, historisch-kritisch entwickelt. Nebst Beiträgen zu einer allgemeinen Energetik. Leipzig 1887, S. 42. 360 Helm: Die Lehre von der Energie, S. 34. Die kurz darauf gebrachte Definition lautet: »Die Eigenenergie eines Körpers in einem gegebenen Zustande soll also den mechanischen Wert aller Wirkungen bezeichnen, welche der Körper beim Übergange aus dem gegebenen Zustande in den Normalzustand erzeugen würde, der den mechanischen Wert der ganzen Leistung, die nötig wäre, um den Körper aus dem Normalzustande in den gegebenen zu bringen.« Helm: Die Lehre von der Energie, S. 35. 361 Helm: Die Lehre von der Energie, S. 36. 362 Julius Robert Mayer: Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur. In: Annalen der Chemie und Pharmacie von Wöhler und Liebig, Bd. XLII (1842), S. 233–240, hier: S. 235.
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Konzeptuelle Grundlegungen: Kraft, Trieb, Energie
wird. Der Däne Ludwig Arnold Colding gibt in einem 1863 auf Englisch publizierten Bericht einen Abriss seiner zwischen 1840 und 1860 angestellten Versuche und Überlegungen, in dem die Begriffe force und energy nebeneinander herlaufen. Dabei habe er bereits 1843 festgestellt, dass die in der gesamten Natur enthaltene Kraft als eine immaterielle Größe unzerstörbar sei: »and therefore, when and wherever force seems to vanish in performing certain mechanical, chemical, or other work, the force then merely undergoes a transformation and reappears in a new form, but of the original amount as an active force«.363 Kräfte verschwinden nicht, sondern werden verwandelt. Die Vorstellung von einer Kraft als Ursache, wie sie in Gestalt von Newtons vis gravitationis zum prägenden Paradigma für alle Zweige der Naturforschung geworden war, die nun die unterschiedlichsten Kräfte auffinden wollen, ist damit obsolet geworden. Die vielen Kräfte der alten Naturkunde werden im Rahmen der Thermodynamik zu wechselnden Gestalten einer einzigen Kraft. Kraft – oder eben Energie – erscheint in vielen Formen. Der Übergang vom Kraft- zum Energiebegriff verdankt sich also nicht nur dem ökonomisch interessierten Blick der Maschinenbauer, die eine physikalische Einheit für die von Menschen und Maschinen geleistete Arbeit brauchen. Kraft und Energie dienen auch der Beschreibung einer Natur, die nicht zwischen unbewegter träger Materie und immateriellen Akteuren unterscheidet, kann sie doch deren wechselnde Verbindungen und proteische Verwandlungen denken. Im Bild der Sonne verdichtet sich das Verständnis von Wärme als einer in spezifischen Körpern und Stoffen enthaltenen und bei richtiger Behandlung freigesetzten Potenz, das über den alten Begriff von Kraft als einer Ursache von Bewegung hinausschießt und in einem neu gefassten Begriff von Energie eingefangen wird.364 Und so soll am Ende des 19. Jahrhunderts der 363 Ludwig August Colding: On the History of the Principle of the Conservation of Energy. In: Philosophical Magazine and Journal of Science 27 (1864), S. 56–64, hier: S. 58. In dieser Entdeckung sei das nun allerseits anerkannte »new principle of the perpetuity of energy« bereits enthalten. Im Schlusspassus entwirft Colding ähnlich wie Helmholtz eine Geschichte der Erdentstehung, in der das intellektuelle Leben der Menschen auf das Leben der Tiere, dieses wiederum auf die Existenz von Pflanzen, dieses auf das Wirken chemischer Kräfte, diese wiederum auf die »energy generated by the original power of gravity« zurückgeführt wird. Colding: On the History of the Principle of the Conservation of Energy, S. 58. 364 Wenn man, wie an Lavoisier und Carnot zu sehen war, bis ins 19. Jahrhundert eine Stoffund eine Bewegungstheorie der Wärme nebeneinander herlaufen lässt, dann liegt dies wohl nicht zuletzt daran, dass die eigentlich ›falsche‹ Stofftheorie der Wärme einen leichteren Weg zu dieser Vorstellung von einer energetischen Materie bietet. Die Disziplingeschichte der Physik sieht im Übergang von der Stofftheorie zur Krafttheorie der Wärme zwar den entscheidenden Schritt, um die Thermodynamik zum wissenschaftlich belastbaren Paradigma zu machen. Dennoch ist die Stofftheorie der Wärme dem Energiekonzept näher. In diese Richtung argumentiert Schimank mit Bezug auf Robert Mayer: »Robert Mayer war zwar ein unbedingter Anhänger von Lavoisier, erkannte dessen ungeachtet aber mit sicherem Blick, daß der
Thermodynamik: Wärmemaschine und proteische Energie
Sammelbegriff der Energie die proliferierenden Differenzierungen zwischen unterschiedlichen Kräften, wie sie in Handbüchern und Lexika im 18. Jahrhundert katalogisiert worden sind, zurücknehmen. Diese Tendenzen – die Verlagerung von Bewegungsphänomenen hin zu Erscheinungen des Lichts und der Verbrennung, der Versuch einer systematischen Verbindung der vielgestaltigen Kräfte der Natur im Doppelprinzip von Erhaltung und Verwandlung und schließlich die terminologische Verschiebung von der Kraft zur Energie – betreffen auch die ästhetischen und poetologischen Kraftreflexionen des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts. An diesen Verschiebungen partizipieren Herder, Moritz, Schiller, Goethe und Hardenberg insofern, als sie in ihren Reflexionen auf eine nach der Natur modellierte Kraft der Dichtung die Mechanik bloßer Bewegung sowohl durch die Faszination für bildende Belebungen, für metabolische Verwertungen als auch für die flüchtigen Phänomenen der Erhitzung und Verbrennung, des Glühens, Schmelzens und Verdampfens ergänzen. Dabei arbeiten sie an den Vorstellungen von der Konstanz oder Erhaltung der Kräfte weiter, wie sie in der tradierten Vorstellung von einer balance naturelle vorliegen und im 18. Jahrhundert im Anschluss an Leibniz weiterentwickelt werden. Vor allem aber verlagert sich das naturphilosophische wie auch das poetologische Interesse immer weiter von den verborgenen Kräften hin zu den offen zutage liegenden Tätigkeiten, die Herder und mit ihm Wilhelm von Humboldt mit dem aristotelischen Begriff der energeia bezeichnen. Dabei können Poetiken der Kraft um 1800 auf Modelle der dynamis, energeia und vis zurückgreifen, wie sie bereits in der antiken Rhetorik und Poetik entwickelt worden sind.
Phlogistontheorie gewisse, gleichsam energetische Züge anhaften und sprach dies auch aus. Wir stimmen ihm darin bei und glauben, daß man in den Phlogistontheorie eine Art Vorstufe zur späteren Thermodynamik sehen kann.« Hans Schimank: Julius Robert Mayer (1814–1878). Sein Weg zur Erkenntnis und Darstellung des Energieprinzips. In: Deutsches Museum, Abhandlungen und Berichte 33 (3/1965), S. 25–61, hier: S. 30.
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Diskursive Verbindungen: Natur und Dichtung
Poetik und Rhetorik: enthousiasmos, energeia, movere (Platon bis Longin) Fragt man nach Konzepten von Kraft, dann stößt man nicht zuerst auf naturwissenschaftliche Disziplinen, deren Wissensbestände dann auf die Literatur übertragen werden. Vielmehr hat man es mit Überlieferungsdynamiken zu tun, die der Unterscheidung der Disziplinen vorausliegen. Im antiken Denken beanspruchen dynamis und energeia, in der späteren philosophischen Reflexion als potentia und actus oder Vermögen und Tätigkeit weitergeführt, in Metaphysik, Medizin, Kosmologie, Astronomie oder Atomistik gleichermaßen Geltung. Dabei ist nur bedingt von einem Wissenstransfer aus einem primär zuständigen in einen weniger kompetenten Funktionsbereich zu sprechen: Das Nachdenken über Kräfte ist nicht ›eigentlich‹ in der Physik angesiedelt, um dann in andere Bereiche übertragen zu werden. Vielmehr lässt sich gerade dort, wo man die Konturen einer Kraft der Rede oder der Dichtung entwickelt, eine produktive Spannung zwischen physikalischen und metaphysischen Kraftvorstellungen finden. Entsprechend schwer lässt sich noch in der Neuzeit eine Ursprungs- oder zumindest eine Leitdisziplin identifizieren, in der eine Definition der Kraft in verbindlicher Weise ausformuliert worden wäre. Vielmehr begegnet Newtons physikalischer Fassung der vis den Überresten der antiken dynamis-Lehre, wie sie in der von Leibniz favorisierten aristotelischen entelecheia, aber auch in lebenswissenschaftlichen und psychologischen Vermögenslehren überdauert. Hinzu kommt, dass in Gestalt der antiken Rhetorik eines Quintilian oder Pseudo-Longinus, die ihrerseits platonische und aristotelische Andeutungen aufgreifen und weiter ausarbeiten, ein eigenes Repertoire an Kraftbegriffen bereitliegt: enthousiasmos, energeia und movere sind nur einige der Namen, in denen die besondere Kraft oder Energie der Dichtung wie der Rede behandelt werden. Ihre Genese und Reichweite ist zu bestimmen, um die Komplexität der nach 1770 entwickelten poetisch-ästhetischen Kraftvorstellungen entwirren zu können.
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Diskursive Verbindungen: Natur und Dichtung
Wie gesehen, geraten Konzepte von Kraft und Energie in der Naturforschung und Naturphilosophie des 18. Jahrhunderts in Bewegung. Der im 18. und frühen 19. Jahrhundert lexikalisch vermerkte Stand der Dinge bleibt derart uneindeutig, dass Energie und Kraft in Lexika und Nachschlagewerken oft wechselseitig füreinander einspringen müssen. Johann Jacob Woyt bestimmt zu Beginn des 18. Jahrhunderts Energie, oder noch näher an der griechischen Wortbildung orientiert, »Energeia«, als »die Würckung oder Krafft eines Dinges«.1 Auch im Brockhaus von 1809 wird Energie als »(a. d. Griech.): die Kraft, Vollkraft, Fülle, Nachdruck« geführt, und noch im Damen-Conversationslexikon von 1835 findet sich zur Erläuterung von Energie die Begriffsreihe »Kraftanstrengung, Geistesstärke, Aufschwung«.2 Erstaunlich präsent ist in den Konversationslexika gerade die rhetorische Vergangenheit des Begriffs Energie. Das Wort Energie sei zwar kaum gebräuchlich, wenn doch, so »nur in figürlichem Sinne, besonders in der Redekunst gebraucht von einem, der mit Nachdruck und Kraft spricht; daher auch energisch: kraftvoll, nachdrücklich«.3 Während Kraft deutlicher mit Fragen der Physik, insbesondere der Mechanik assoziiert wird, dominiert im Alltagsverständnis die Vorstellung von Energie als einer besonders kraftvollen oder nachdrücklichen Rede. Was aber heißt es, energisch oder eben mit Kraft zu sprechen? Die im ausgehenden 18. Jahrhundert erarbeiteten Antworten auf diese Frage verbinden zeitgenössische Kraftreflexionen mit Vorgaben, die bereits in der antiken Rhetorik und Poetik formuliert werden. Denn in Gestalt der göttlichen Kraft der Begeisterung bei Platon, der energetischen Metapher bei Aristoteles und ihren komplexen Vermittlungsformen in der spätantiken Rhetorik erhält die Kraft schon früh ein rhetorisches und poetologisches Profil. Die in Platons Dialog Ion formulierte Lehre von der Begeisterung (enthou siasmos) als einer göttlichen Kraft (theia dynamis) der Dichtung kann in ihrer Bedeutung für die neuzeitlichen Kunstdiskussionen kaum überschätzt werden, enthält sie doch Anregungen, die über mittelalterliche Vorstellungen von Inspiration und ingenium bis zu Shaftesburys Rede vom second maker und dem in Goethes Prometheus-Hymne artikulierten Selbstentwurf des Künstlers als zweiter Schöpfer reichen.4 Womöglich ist die Rezeptionsdynamik so schwer 1 Johann Jacob Woyt: Gazophylacium Medico-Physicum, Oder Schatz-Kammer Medicinisch- und Natürlicher Dinge. Leipzig 91737, S. 322. 2 Damen Conversations Lexikon, Bd. 3. [o.O.] 1835, S. 404. 3 Brockhaus Conversations-Lexikon, Bd. 7. Amsterdam 1809, S. 318. 4 Zur Geschichte der Inspirationstheorien siehe Eike Barmeyer: Die Musen. Ein Beitrag zur Inspirations-Theorie. München 1968; Christoph J. Steppich: Numine afflatur. Die Inspiration des Dichters im Denken der Renaissance. Wiesbaden 2002; zu Vorstellungen von Kreativität und Genie siehe Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, 2 Bde. Darmstadt 1985. Zur Vorstellung vom Künstler als second maker immer noch grundlegend Oskar Walzel: Shaftesbury und das deutsche
Poetik und Rhetorik: enthousiasmos, energeia, movere
stillzustellen, weil Platon der Kraft der Dichtung eine Ambiguität mitgegeben hat, die für die griechische dynamis zwar charakteristisch, der deutschen Vokabel Kraft aber durchaus fremd ist. Einerseits bezeichnet die dynamis der Dichtung eine Macht, die andere in ihren Bann zieht, begeistert und beherrscht. Andererseits besteht die Pointe im Ion darin, den Dichter im Verweis auf die göttliche Kraft der Begeisterung nicht als eigenmächtigen, sich über die Schöpfung erhebenden Helden zu zeigen. Vielmehr weist er ihn gerade in seine Grenzen, meint die dynamis der Dichtung doch vor allem die Empfänglichkeit für einen begeisternd und inspirierend wirkenden göttlichen Einfluss. Diese Doppelbewegung von Ermächtigung und Entmächtigung der Dichter und Rhapsoden wird dank der sokratischen Gesprächsführung auf subtile Weise hervorgetrieben. Ion ist der Name eines preisgekrönten Sängers, den Sokrates über den Grund seines Erfolgs aufklären will. Worin, so lautet seine Frage, besteht Ions von allen gefeierte Kunst (techne)? In einer schrittweisen Demontage dessen, was Rhapsoden können, erklärt Sokrates die Fähigkeit, etwas zu dichten oder Gedichtetes packend vorzutragen, zu einer göttlichen Gabe: Nämlich dies wohnt dir nicht als Kunst bei, gut über den Homeros zu reden, wie ich eben sagte, sondern als eine göttliche Kraft (dynamis), welche dich bewegt (kinei), wie in dem Steine, der vom Euripides der Magnet, gewöhnlich aber der Herakleiische genannt wird. Denn auch dieser Stein zieht nicht nur selbst die eisernen Ringe, sondern er teilt auch den Ringen die Kraft mit, daß sie eben dieses tun können wie der Stein selbst, nämlich andere Ringe ziehen, so daß bisweilen eine ganze lange Reihe von Eisen und Ringen aneinanderhängt; allen diesen aber ist ihre Kraft von jenem Stein angehängt. Ebenso auch macht zuerst die Muse selbst Begeisterte, und an diesen hängt eine ganze Reihe anderer, durch sie sich Begeisternder.5
Geistesleben des 18. Jahrhunderts. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 1 (1909), S. 416–437. Zur Ideengeschichte des Enthusiasmus siehe Eugen Fink: Vom Wesen des Enthusiasmus. Essen 1947; Abraham Ph. Persky: The Changing Concepts of Enthusiasm in the 17th and 18th Centuries. Stanford 1959; Josef Pieper: Begeisterung und göttlicher Wahnsinn. München 1962; Franz-Joseph Meissner: Wortgeschichtliche Untersuchungen im Umkreis von französisch ›Enthousiasme‹ und ›Génie‹. Genf 1979; Mit Blick insbesondere auf den Enthu siasmus als kollektivem, politischem Affekt: Jürgen Schramke: Das Prinzip Enthusiasmus. Wandlungen des Begriffs im Zeitalter der Aufklärung und Französischen Revolution. Göttingen 2018. 5 Platon: Ion. In: ders.: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, übers. v. Friedrich Schleiermacher, hg. v. Gunther Eigler, Bd. 1. Darmstadt 62011, S. 15 (533 d–e).
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Diskursive Verbindungen: Natur und Dichtung
Im Bild vom magnetischen Stein wird die Dichtung als eine Kraft konzipiert, die sich eigentlich nicht erschöpfen kann, da sie sich in einem vielgliedrigen Übertragungsgeschehen erhält und sogar vermehrt. Indem sie alles, was sie berührt, ihr selbst ähnlich macht, kann sie sich weiterverbreiten und immer längere Reaktionsketten bilden. Die Begeisterung erfasst die Zuhörenden, so wie sie zuvor den Rhapsoden und auch den Dichter ergriffen hatte. Fasst man das Wort kinesis also nicht nur im modern verengten Sinn als Bewegung, sondern begreift sie, dem antiken Wortgebrauch entsprechend, als Veränderung im weiteren Sinne, dann verwandelt die Kraft der Dichtung alle, die mit ihr in Berührung kommen. Interessant ist die Textbewegung, die dem Bilde vom Magneten weitere Gleichnisse anhängt. Die Dichter seien »den Bakchen« ähnlich, weil sie, wie vom tanzenden Wahnsinn erfasst, »als Begeisterte und Besessene« sprechen.6 Von den Bacchanten geht es weiter zu den Bienen, denen die Dichter ähneln, weil sie »aus honigströmenden Quellen aus gewissen Gärten und Hainen der Musen pflückend, diese Gesänge uns bringen wie die Bienen, auch ebenso umherfliegend«. Nicht nur ist die Dichtung Ergebnis periodischer Absenzen, wenn Dichter und Rhapsoden »den Bakchen ähnlich« werden. Der besessene, bewusstlose und wahnsinnige Dichter erscheint zuletzt als fleißige Biene, die im Musengarten Nektar sammelt und herbeiträgt.7 Dieser Bildbruch in der Gleichnisreihe ist bedenkenswert, gehen in Platons Rede von der Kraft der Kunst doch Aufwertung und Abwertung Hand in Hand. Einerseits verdankt sich die Dichtung einer kultischen Teilhabe am Göttlichen, andererseits wird der Dichter in seine Grenzen gewiesen und unversehens zum kleinen Insekt herabgestuft: »Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewußtlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt«.8 Dichtende verfügen wie »Orakelsänger und die göttlichen Wahrsager« selbst über keine aktive Kraft – als Medium einer anderen, ihnen weit überlegenen göttlichen Kraft sind sie lediglich Vermittler dessen, was ihnen eingegeben wird.9 Ihre dynamis besteht offenbar in der Empfänglichkeit für die göttliche dynamis. Damit ist der Kraft der Dichtung als Gegenbild die Passivität der poetischen Produktion mitgegeben: Die konstitutive Schwäche der Dichtenden besteht darin, dass sie über diese Kraft selbst nicht souverän verfügen können. Die Kraft der Dichtung ist nicht allein die ihre. Ion stimmt zunächst zu – wohl auch deshalb, weil Sokrates selbst eine besondere Überzeugungskraft entwickelt: »Ja, beim Zeus, mich dünkt es 6 7 8 9
Platon: Ion, S. 15 (534a). Platon: Ion, S. 17 (534b). Platon: Ion, S. 17 (534b). Platon: Ion, S. 17 (534d).
Poetik und Rhetorik: enthousiasmos, energeia, movere
gewiß. Denn du ergreifst mir recht die Seele mit deinen Worten, Sokrates; und ich glaube wohl, daß durch göttliche Schickung die rechten Dichter und dies von den Göttern überbringen«.10 Zum Rhapsoden als hermeneus, mithin als Vermittler oder Dolmetscher, tritt die empirische Beobachtung der unmittelbaren Affektwirkungen, die Gedichtetes haben kann. Hier bietet die Selbst affektation des Vortragenden, von der Ion zu berichten weiß, einen wichtigen Anhaltspunkt: »Wenn ich nämlich etwas Klägliches vortrage, so füllen sich mir die Augen mit Tränen, wenn aber etwas Furchtbares und Schreckliches, so sträuben sich die Haare aufwärts vor Furcht, und das Herz pocht«.11 Derartige Techniken der Affekterzeugung werden in der Rhetorik und Poetik der Spätantike und Frühen Neuzeit weiter verfeinert werden: Bei Quintilian und auch bei Horaz kehrt diese Beobachtung in Gestalt ausführlicher Anleitungen wieder, sich selbst in bestimmte Gefühlslagen zu versetzen, um die Gefühle anderer zu mobilisieren. In der von Platon skizzierten Wirkungskette kommt indes neben der Kraft (dynamis) auch ein Moment der Gewalt oder des Schrecklichen (deinos) zum Tragen. Denn Sokrates hat zuletzt den Grund der ergreifenden Wirkung vorgetragener Dichtung gefunden: »durch göttliche Schickung so gewaltig bist als ein Verherrlicher des Homeros«.12 Hier aber distanziert sich Ion, der sich vom Argument zuerst hatte mitreißen lassen, von der angebotenen Konsequenz. Obwohl Sokrates seinerseits sehr gut spreche, könne er Ion doch nicht davon überzeugen, er spräche als Rhapsode allein durch »Eingeistung und Wahnsinn«.13 Sokrates bricht daraufhin die Gleichniskette ab und setzt mit einer Diskussion darüber an, was Rhapsoden denn eigentlich wissen und können. Insofern sie in den Gesängen von allerlei Künsten (techne) zu sprechen vermögen, berühren sie unter anderem die Bereiche der Heilkunst, der Sterndeutung, der Mathematik bis hin zur Kriegsführung. Sei Ion also mal Arzt, mal Mathematiker und mal ein Heerführer? Könne er in unterschiedliche Rollen schlüpfen? Dann sei er, so unterstellt Sokrates, wie der gestaltwandelnde Gott Proteus: »[...] ordentlich wie Proteus vervielfältigst du dich und drehst dich von oben nach unten, bis du mir endlich ganz entschlüpfst und mir als Heerführer wieder erscheinst, um nur nicht zu zeigen, wie stark du bist in der Weisheit über den Homeros«.14 Dieser Vergleich ruft nun bei Ion einen noch stärkeren Widerspruch hervor und bildet das Argument, mit dem Sokrates am Ende des Dialogs seinen Gesprächspartner doch überzeugen kann. Lieber als ein Formenwandler, der vorgibt etwas zu sein, was er nicht ist, möchte Ion sich offenbar als ein von eigenem Verstand
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Platon: Ion, S. 19 (534a). Platon: Ion, S. 19 (534a). Platon: Ion, S. 23 (536b). Platon: Ion, S. 23 (536d). Platon: Ion, S. 39 (542a).
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entleertes Gefäß göttlich eingegebener Rede verstanden wissen. Seine Gewalt (deinos), darauf können sich beide einigen, entfaltet der dichterische Vortrag dank einer göttlichen Krafteinwirkung (dynamis). Wenn die dynamis der Dichtenden in der Möglichkeit liegt, zum Gegenstand göttlicher Einwirkung zu werden, dann ist die Kraft der Dichtung und des rhapsodischen Vortrags eine gleichsam schlummernde Potentialität, die auf eine Aktivierung wartet. Wie das neunte Buch der aristotelischen Metaphysik mit seiner begriff lichen Unterscheidung zwischen dynamis und energeia implizit auf Platons Metaphysik der Kraft reagiert, so lässt sich das Kapitel 17 der aristotelischen Poetik als verdeckter Einspruch gegen Platons Enthusiasmuslehre lesen. Die Dichtung, so erklärt Aristoteles dort eher im Vorübergehen, sei die Domäne entweder »von phantasiebegabten oder von leidenschaftlichen Naturen« (manikous): Die einen können sich verwandeln, indem sie sich in Situationen hineinversetzen, die anderen seien emotional besonders »stark erregbar«.15 Was in Platons Ion den göttlichen Grund der Dichtung bezeichnet, wird in Aristoteles’ Poetik zu einer Psychologie der Produktion. Denn Aristoteles spricht im Kapitel 17 eigentlich nicht von den Voraussetzungen der Dichtung, sondern von der Zusammensetzung der Handlung (mythos) in Drama und Epos. Dabei erteilt er den Dichtenden einen praktischen Ratschlag für die erfolgreiche Konzeption der dramatischen wie narrativen Ereignisfolge wie auch für die überzeugende Ausgestaltung einzelner Szenen: Man muß die Handlungen zusammenfügen und sprachlich ausarbeiten, indem man sie sich nach Möglichkeit vor Augen stellt. Denn wenn man sie so mit größter Deutlichkeit erblickt, als ob man bei den Ereignissen, wie sie sich vollziehen, selbst zugegen wäre, dann findet man das Passende und übersieht am wenigsten das dem Passenden Widersprechende. [...] Außerdem soll man sich die Gesten der Personen möglichst lebhaft vorstellen. Am überzeugendsten sind bei gleicher Begabung diejenigen, die sich in Leidenschaft versetzt haben, und der selbst Erregte stellt Erregung, der selbst Zürnende Zorn am wahrheitsgetreuesten dar.16 Das probeweise Vor Augen Stellen der sprachlich evozierten Handlungsabläufe kann der Dichtung zu ›größter Deutlichkeit‹ verhelfen. Angesprochen wird hier der innere Sinn der Vorstellung, der dann aktiv wird, wenn man sich einzelne Situationen ausmalt und deren stringente Verkettung in einer durchlaufenden Handlung innerlich durchprobiert. Mit dem altgriechischen Wort enargeia, das wörtlich übersetzt so viel heißt wie Klarheit oder Deutlichkeit, ist die 15 Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch, übers. und hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 55. 16 Aristoteles: Poetik, S. 53–55.
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besondere Qualität dieser vor dem inneren Auge durchgespielten Handlungsabläufe gemeint.17 Wo in Fuhrmanns Übersetzung von einer ›möglichst lebhaften‹ Vorstellung die Rede ist, hat man es, wörtlicher gelesen, mit Haltungen oder Gesten (schemasin) zu tun, die ›der Möglichkeit nach‹ (dynaton) das bereits genannte Ziel mitbewirken oder verstärken sollen (syn-apergazomenon). Ein stringenter Handlungsverlauf lässt sich demnach planen, indem man sich die Ereignisse wie auch die einzelnen Haltungen der handelnden Figuren möglichst genau vorstellt. Die enargeia wird in der aristotelischen Poetik also keineswegs eingeführt, um Wirkungsdimensionen der Dichtung zu beschreiben. Relevante Aussagen werden lediglich über die technische Seite des Dichtens gemacht, an deren Rand verbannt sich die besondere, mit der mania verwandte dichterische Disposition andeutet. Folgenreich für neuzeitliche Konzepte einer Kraft der Kunst wird die enargeia der Poetik erst durch ihre Fusion mit dem Begriff der energeia, den Aristoteles in der Metaphernlehre seiner Rhetorik gebraucht.18 Im zehnten Kapitel des dritten Buchs liefert Aristoteles eine Systematik der Metapher, deren Spielarten er über die unterschiedlichen Modi ihrer Herstellung differenziert. Im anschließenden elften Kapitel weist er dann auf eine besondere Wirkmöglichkeit metaphorischer Rede hin. Eine Metapher könne »Augenscheinlichkeit« erzeugen oder, in der Übersetzung Sievekes, etwas »Vor-Augen-Führen«.19 Aristoteles definiert: »Unter Augenscheinlichkeit verstehe ich nun, (beim Zuhörer) eine Vorstellung hervorzurufen, die etwas Tätiges bezeichnet«.20 Das 17 Unter en-argeia findet sich hier »Klarheit. Deutlichkeit; insb.: a) klares Verständnis, klare Vorstellung von etw. b) klare und lebendige Darstellung, Anschaulichkeit«. Langenscheidts Großwörterbuch Griechisch Deutsch, hg. v. Hermann Menge. Berlin u.a. 261987, S. 236. Für eine grundlegende Darstellung der Deutlichkeit als rhetorischem Begriff vgl. Davide Giuriato: »klar und deutlich«. Ästhetik des Kunstlosen im 18./19. Jahrhundert. Freiburg i.Br. 2015, S. 21–49. 18 Die in der Rhetorik entwickelte Beschreibung der Wirkungsweisen der Phantasie ist vor allem in der Bildwissenschaft aufgegriffen worden. Ausnahmen, die den Problemkomplex aus (literatur-)historischer Perspektive beleuchten: Sophie Wennerscheid: »Close your eyes«. Phantasma, Kraft und Dunkelheit in der skandinavischen Literatur. München 2014; Susanne Strätling: Energie – ein Begriff der Poetik? In: Frank Fehrenbach/Robert Felfe/Karin Leonhard (Hg.): Kraft, Intensität, Energie. Zur Dynamik der Künste zwischen Renaissance und Gegenwart. Berlin/Boston 2017, S. 373–393. 19 Als »Augenscheinlichkeit« übersetzt Krapinger: Aristoteles: Rhetorik, übers. und hg. v. Gernot Krapinger. Stuttgart 1999, S. 176 (1411b); Vom »Vor-Augen-Führen« spricht Sieveke. Aristoteles: Rhetorik, übers. und hg. v. Franz G. Sieveke. München 51995, S. 193 (1411b). Für eine Rekonstruktion dieser Passagen, in denen Aristoteles Metapher und ›Vor Augen‹ Stellen auseinanderhält, um sie zuletzt wieder zusammenfallen zu lassen, siehe Rüdiger Campe: Vor Augen stellen: Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung. In: Gerhard Neumann (Hg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Stuttgart/Weimar 1997, S. 208–225, hier: S. 212–217. 20 Aristoteles: Rhetorik, übers. und hg. v. Gernot Krapinger. Stuttgart 1999, S. 176 (1411b).
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von Aristoteles gebrauchte Wort energeia, das Krapinger hier als ›Tätiges‹ übersetzt, gibt Sieveke vielleicht etwas weniger treffend mit »Wirksamkeit« wieder.21 Denn es ist ja die Evokation von tatsächlichen Aktivitäten, die dazu dienen soll, die Anschaulichkeit der sprachlichen Darstellung zu steigern. Die Effektivität dieses Mittel zeigt sich für Aristoteles besonders dort, wo Unbelebtes als Belebtes, und auf diese Weise als etwas Tätiges, dargestellt würde. Als Vorbild zitiert er Homer: Er ist doch berühmt dafür, in allem Tätigkeit darzustellen, wie z.B. in folgendem: ›und der tückische Stein rollt’ wieder zu Tale‹, ›es flog der Pfeil dahin‹, ›heranzufliegen begierig‹, ›standen empor aus der Erde, voll Gier, im Fleische zu schwelgen‹, und schließlich: ›Daß vorne die Brust das stürmende Erz ihm durchbohrte‹. In all diesen Versen scheint Tätigkeit zu bestehen eben dadurch, daß etwas belebt wird.22 Die energeia wirkt als Verstärker, um Bewegungsvorgänge besonders plastisch hervortreten zu lassen. Dabei assoziieren sich ihre Effekte mit einem hohen Grad von Aktivität, der dadurch erreicht werden kann, dass den Bewegungsformen unbelebter Gegenstände – dem Rollen des Steins, dem Fliegen des Pfeils, dem Bohren des Speers – affektive Einstellungen belebter Wesen unterlegt werden: Der Stein rollt tückisch, der Pfeil fliegt begierig und das Erz stürmt. Im metaphorischen Sprechen werden Begierden (orexis), die für Aristoteles neben Ernährung und Bewegung ein wichtiges Kennzeichen des Lebendigen darstellen, auf mechanisch bewegte Gegenstände übertragen. Eine Voraussetzung dafür, dass Steine, Pfeile oder Speere derart beseelt oder belebt erscheinen können, ist ihre Darstellung im Zustand der Bewegung oder, allgemeiner gesprochen, der Veränderung (kinesis).23 Die Rhetorik rät mithin dazu, Dinge so darzustellen, als hätten sie, modern gesprochen, agency. Insofern die energeia der aristotelischen Rhetorik im Dienst einer gesteigerten Anschaulichkeit steht und als Verfahren des Vor Augen Führens aufgefasst werden kann, verbindet sie sich mit der in der Poetik eigentlich nur im Vorübergehen kommentierten, in der Rezeption aber umso folgenreicheren Beschreibung der enargeia als idealer Eigenschaft des innerlich vor Augen 21 Aristoteles: Rhetorik, übers. und hg. v. Franz G. Sieveke. München 51995, S. 193 (1411b). 22 Aristoteles: Rhetorik, übers. und hg. v. Gernot Krapinger. Stuttgart 1999, S. 176 (1411b). Noch einmal in der Übersetzung von Sieveke: »In allen diesen Beispielen nämlich erscheinen die Dinge in Wirksamkeit begriffen, weil sie beseelt sind«, denn Homer »dichtet dies alles in Bewegung und lebendig seiend«. Aristoteles: Rhetorik, übers. und hg. v. Franz G. Sieveke. München 51995, S. 194 (1411b). 23 »In-Wirksamkeit-begriffen-sein aber ist Bewegung«. Aristoteles: Rhetorik, übers. und hg. v. Franz G. Sieveke. München 51995, S. 194 (1411b). Kinesis lässt sich aber nicht nur mit Bewegung, sondern viel allgemeiner mit Veränderung übersetzen.
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Gestellten. Diese beiden in der Poetik und in der Rhetorik getrennt voneinander skizzierten Modelle einer besonders gelungenen dichterischen und rhetorischen Darstellung – mithin die enargeia als Eigenschaft der in der Vorstellung durchgespielten Handlungsverläufe sowie die energeia als metaphorische Evokation tätiger und gleichsam lebendiger Dinge – werden in der lateinischen Rhetorik als evidentia weiter besprochen und wirken über die Kunsttheorie der Frühen Neuzeit bis zu den Gründungstexten der philosophischen Ästhetik nach.24 Die bei Aristoteles in der Poetik eher schwach angedeutete Lebhaftigkeit, mit der man sich Gesten der Personen vorstellen soll, vermischt sich mit der rhetorischen energeia der Lebendiges aufrufenden Metaphern. Wenn die Lebendigkeit in der Rezeption der enargeia mehr und mehr in den Vordergrund rückt, dann führt dies nicht zuletzt zu dem, was als Konzept der ›lebendigen Darstellung‹ und als ein von der ›rhetorischen Lebendigkeitsdevise‹ abgeleitetes Konzept ästhetischer Lebendigkeit für die Poetik und Ästhetik des 18. Jahrhunderts zum Maßstab literarischer Illusionsbildung und schließlich zum zentralen Qualitätskriterium des Ästhetischen wird.25 Der bei Aristoteles in der Poetik dominante Fokus auf Verläufe und Tätigkeiten tritt in dieser Rezeptionslinie eher zurück. Umgekehrt interessiert sich die Aristoteles-Rezeption der lateinischen Rhetorik weniger für die unter dem Stichwort der energeia entwickelte metaphorische Belebung von Gegenständen, sondern konzentriert sich weit mehr auf die am Rand der enargeia diskutierte Affektsteigerung durch eine erhöhte Deutlichkeit der Darstellung. Die rhetoriktypische Aufmerksamkeit auf Wirkungsaspekte führt schließlich auch zur Integration einiger Momente der platonischen Enthusiasmus-Lehre, mit denen die dynamis oder dann die vis der Dichtung wie der Rede mit Assoziationen von Herrschaft und Gewalt angereichert und als Überwältigung gefasst wird. Die bereits in der Antike vorgenommenen Verbindungen zunächst getrennt entwickelter
24 Die rhetorische enargeia/evidentia-Lehre, die auf Fülle, Detailliertheit und Merkmalsreichtum setzt, informiert Baumgartens Bestimmung der ›extensiven Klarheit‹ der cognitio sensitiva in entscheidender Weise. David E. Wellbery hat hier das wichtige Kennzeichen ästhetischer Repräsentation bei Baumgarten, Meier und Mendelssohn gesehen. David E. Wellbery: Lessing’s Laocoon. Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason. Cambridge/New York 1984, S. 43–98. Zur Rezeption der antiken enargeia und energeia und dem von Baumgarten entwickelten Konzept einer lebendigen Erkenntnis in Caroline Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert. München 2002, S. 133–185. Zur Deutlichkeit als ästhetischer Kategorie vgl. Giuriato: »klar und deutlich«, S. 99–112. 25 Inka Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der ›Darstellung‹ im 18. Jahrhundert. München 1998; Winfried Menninghaus: »Ein Gefühl der Beförderung des Lebens«. Kants Reformulierung des Topos »lebhafter Vorstellung«. In: Armen Avanessian/Winfried Menninghaus/Jan Völker (Hg.): Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit. Berlin 2009, S. 77–94.
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Konzepte gilt es zu entflechten, will man den um 1770 vorgefundenen dichtungstheoretischen Stand der Dinge genauer umreißen. Cicero und nach ihm Quintilian übersetzen die enargeia als illustratio und evidentia, mit der die bei Aristoteles beschriebene Technik des Vor Augen Stellens von einem Produktionstrick auf die Ebene einer besonders anschaulichen und wirkungsvollen Darstellung gehoben und als besondere Qualität der Rede gefasst wird. Im zweiten Kapitel des vierten Buchs ist von der enargeia die Rede, die Quintilian bereits durch die Linse von Ciceros Übersetzung als evidentia wahrnimmt und sich entsprechend als »Anschaulichkeit« zurechtlegt: »Andere fügen den Vorzügen auch die Anschaulichkeit hinzu, die auf griechisch enargeia heißt«.26 Dass diese enargeia/evidentia im Kapitel zur narratio, also zur Erzählung, ihren ersten Auftritt hat, ist zwar noch als Reminiszenz ihrer aristotelischen Einführung im 17. Kapitel der Poetik und damit im Kontext des mythos, also der Anordnung der Ereignisse in der Fabel, zu werten. Eine wesentliche Differenz besteht aber darin, dass Quintilian die evidentia als Eigenschaft der Darstellung auffasst und auf die Wirkungsdimension der Rede ausrichtet: etwas soll den Rezipierenden »gewissermaßen vorgeführt« statt »nur ausgesprochen« werden.27 Insofern Quintilian die Anschaulichkeit der evidentia zur perspicuitas (Klarheit, Deutlichkeit) rechnet, die sich tatsächlich bestens zur Übersetzung des griechischen Worts enargeia eignet, versieht er die evidentia mit dem Doppelanspruch der klaren Verständlichkeit, die wohl eher durch eine direkte Benennung gegeben wäre, und dem mit theatralen Effekten assoziierten Kunstgriff des indirekten Vorführens statt der expliziten Benennung – es sei zu zeigen (»ostendendum«) und nicht zu sagen (»dicendum«).28 Die Kapitel zur Figurenlehre schlüsseln dieses in sich durchaus spannungsreiche Anforderungsprofil weiter auf. Die enargeia wird zunächst als besondere »virtus«, also als Tüchtigkeit oder »Leistung« der Rede ausgewiesen: Eine große Leistung ist es, die Dinge, von denen wir reden, klar und so darzustellen, daß es ist, als sähe man sie deutlich vor sich. Denn die Rede leistet noch nicht genug und übt ihre Herrschaft noch nicht völlig, wie sie es muß, wenn ihre Kraft nur bis zu den Ohren reicht, und der Richter von dem, worüber er zu Gericht sitzt, glaubt, es werde erzählt, nicht vielmehr, es werde herausmodelliert und zeige sich vor dem geistigen Auge.29
26 Marcus Fabius Quintilianus: institutio oratoria/Ausbildung des Redners. Lateinisch/ Deutsch, hg. u. übers. v. Helmut Rahn. Darmstadt 1988, Bd. 1, S. 461. 27 Quintilianus: institutio oratoria/Ausbildung des Redners, Bd. 1, S. 463. 28 Quintilianus: institutio oratoria/Ausbildung des Redners, Bd. 1, S. 460. 29 Quintilianus: institutio oratoria/Ausbildung des Redners, Bd. 2, S. 177. Den in der Übersetzung benutzten Vokabeln »Herrschaft« und »Kraft« fehlen im lateinischen Original die
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Eine klare und deutliche Darstellung gelingt, wenn man »in Worten ein Ge samtbild der Dinge abzuzeichnen« versucht und die Dinge bildhaft auffasst.30 Die Struktur dieses Vorgangs, der in doppelter Weise auf die Vorstellungskraft setzt, übernimmt Quintilian von Aristoteles. Phantasiert man sich mithilfe der eigenen Vorstellungskraft in eine fiktive Situation, dann werden einem auch die richtigen Worte einfallen; umgekehrt können Worte die Phantasie zu bildlichen Vorstellungen anregen.31 Diese ekphrastische Seite der enargeia, dergemäß die Rede selbst ein Bild zeichnet (»imago modo verbis depingere«),32 buchstabieren die Kunsttheorien der Frühen Neuzeit aus.33 In den Bemerkungen zum rhetorischen ornatus entfaltet der Aspekt der möglichst detaillierten, hyperrealistischen Beschreibung jedoch eine gewisse Paradoxie. Der ornatus soll einerseits durchsichtig und einleuchtend (perspicuus und probabilius), andererseits besonders glanzvoll (nitior) sein.34 Rückt die prächtige Wortoberfläche aber derart blendend in den Vordergrund und stellt sich selbst zur Schau, dann kann sie wohl kaum den Durchblick auf das Beschriebene freigeben. Dieses von Quintilian selbst benannte Problem führt auf den Kern der enargeia, die ja gerade den rätselhaften Vorgang der Übersetzung von materiellem Zeichenmaterial in immaterielle innere Vorstellungen bezeichnet. Für die Redelehren wie auch für die Poetiken des 18. Jahrhunderts bleibt die Herausforderung, diesen von Quintilian gewiesenen Weg der Sprache vom Ohr zum geistigen Auge, mithin von der sinnlichen Wahrnehmung zur Aktivierung der Einbildungskraft nachzuzeichnen. Herders Konzeptualisierung einer besonderen Kraft der Dichtung im Ersten Kritischen Wäldchen reagiert auf dieses Problem, wenn er von der rätselhaften »Zauberkraft« spricht, die dazu in der Lage sei, gehörte oder gesehene Sprachzeichen in innere Vorstellungen zu übersetzen.35
entsprechenden Substantive – die Rede ist hier lediglich von »dominare«, also Herrschaft ausüben; das Korrelat für eine Kraftvorstellung fehlt in der Formel »ad aures valet« indes ganz. Hier scheint in der Übersetzung schon durch, was Quintilian erst später als vis der Rede entwickelt. 30 Quintilianus: institutio oratoria/Ausbildung des Redners, Bd. 2, S. 177. 31 Anders als bei Aristoteles angelegt, wird die Gefühlswirkung mit Empathiefähigkeit in Verbindung gebracht: Wir sollen den »Schmerz für eine Weile zum unseren machen«. Quintilianus: institutio oratoria/Ausbildung des Redners, Bd. 1, S. 713. Hier weiß sich Quintilian in Cicero-Tradition, der sich wiederum auf Horazens si vis me flere, dolendum est bezieht. 32 Quintilianus: institutio oratoria/Ausbildung des Redners, Bd. 2, S. 176. 33 Valeska von Rosen: Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des Utpictura-poesis und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 27 (2000), S. 171–208. 34 Quintilianus: institutio oratoria/Ausbildung des Redners, Bd. 2, S. 175. 35 Cornelia Zumbusch: ›es rollt fort‹. Kraft und Energie in Herders Erstem Kritischen Wäldchen. In: Poetica 49 (2017/2018), S. 337–358.
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Bei Quintilian tritt die enargeia weniger als Mittel des Hyperrealismus, als vielmehr unter der Perspektive ihrer besonderen Gefühlswirkungen in den Blick. Denn ihre Beschreibung im Rahmen der Affektenlehre würdigt den Sprung, in dem sich die Sprache selbst übersteigt und als Medium zum Verschwinden bringt, vor allem als Mittel der Affekterzeugung: Daraus ergibt sich die enargeia (Verdeutlichung), die Cicero ›illustratio‹ (Ins-Licht-Rücken) und ›evidentia‹ (Anschaulichkeit) nennt, die nicht mehr in erster Linie zu reden, sondern vielmehr das Geschehen anschaulich vorzuführen scheint, und ihr folgen die Gefühlswirkungen so, als wären wir bei den Vorgängen selbst zugegen.36 Die Wirklichkeitssuggestion wird nicht um ihrer selbst willen erzeugt, dient sie doch vielmehr dazu, ganz bestimmte Emotionen hervorzurufen. Quintilian bündelt in den genannten Passagen ein aus unterschiedlichen Quellen bezogenes Wissen darüber, wie sich Emotionen zum Zweck der Überzeugung gezielt mobilisieren, gestalten und verwandeln lassen.37 Indem die Technik der evidentia die Voraussetzung dafür bildet, besondere und vor allem besonders starke Gefühle zu erzeugen, gehört sie in den Kern der Rhetorik. Tatsächlich bildet die zur evidentia umgeschmolzene enargeia einen exemplarischen Ausschnitt der rhetorischen Kraftlehre, konturiert Quintilian doch die vis, die er als Übersetzung der griechischen dynamis anbietet, als Antwort auf die grundlegende Frage nach dem Wesen und Ziel der Rhetorik. Im 15. Kapitel des zweiten Buchs schreitet er bekannte Topoi der Rhetorikkritik ab: Wie verträgt sich die Rhetorik mit der Ethik? Ist die Rhetorik eine von Natur und Gott geschenkte Gabe (facultas) besonders talentierter Einzelner oder vielmehr eine lehrbare Wissenschaft? Als Grunddefinition liefert Quintilian eine Kraftformel: Die Rhetorik sei die vis persuadendi, mithin die Kraft, das Vermögen oder die Fähigkeit, andere zu überzeugen. Diese Überzeugungskraft zielt darauf, die Gemüter der Hörenden in Bewegung zu setzen (movere). Dort, wo sich Quintilian nun ausdrücklich der Affektmobilisierung als rhetorischer Kernkompetenz zuwendet, kommen Bedeutungsnuancen zum Tragen, die der aristotelischen dynamis eher fremd sind. Zwar weist die Rede von der vis oder auch der virtus der Rede noch in die Richtung einer Leistung und Tüchtigkeit, wie sie im Begriffsgebrauch der dynamis als Fähigkeit enthalten ist. Allerdings will Quintilian unter vis auch dasjenige verstanden wissen, was andere Rhetoriker vor ihm als potestas bezeichnet haben, also die Macht im Sinn einer
36 Quintilianus: institutio oratoria/Ausbildung des Redners, Bd. 1, S. 711. 37 Die Verben lauten movere, formare, transfigurare, Quintilianus: institutio oratoria/Ausbildung des Redners, Bd. 1, S. 696.
Poetik und Rhetorik: enthousiasmos, energeia, movere
Herrschaft oder Dominanz über andere. Dazu passend stattet er die vis der Rede mit auffälligen Gewaltassoziationen aus. Im zweiten Kapitel des sechsten Buchs, in dem Quintilian die Grundauffassung des movere in einer Einteilung der Gefühlswirkungen ausbuchstabiert, zeigt sich dies in dem zugrunde gelegten Affektkonzept. Während das griechische ethos (lat. mores) habitualisierte Gefühlseinstellungen meint, die durch lange Einübung der Seele eingesenkt und entsprechend zu ethischen Dispositionen abgemildert und verstetigt sind, zeichnet sich das lateinische adfectus (griech. pathos), abgeleitet von adficere oder adferre (herantreten, angreifen), durch die Vorstellung einer plötzlichen und gewaltsamen Einwirkung aus. Auf das Wesen der menschlichen Affekte ist nun die wiederholt als impetus bezeichnete Stoßkraft der Rede abgestimmt, die Quintilian gezielt auch als vis adferre – mithin als eine Kraft, anderen Gewalt anzutun – bezeichnet.38 Diese ›Kraft zur Gewalt‹ evoziert er über unterschiedliche Bewegungsformen. Die Verben rapere, perducere und abducere (reißen, rauben und entführen) bezeichnen allesamt gewaltsame Ortsveränderungen. Der Gewaltcharakter einer derart mitreißenden Kraft der Rede wird im Übertritt auf das Bildfeld der Naturgewalten verstärkt: »Die Flut packt ihn, und er überläßt sich gleichsam einem reißenden Strom«.39 Diese zunächst nur rhetorisch angedeutete Gewalt der Rede bringt Quintilian schließlich auf den Begriff der deinosis: Denn darin liegt die Kraft der Beredsamkeit, den Richter nicht nur zu dem zu treiben, wohin ihn auch die Natur des Vorgangs von selbst führen wird, sondern Erregung der Leidenschaft, die noch nicht vorhanden ist, zu schaffen oder sie über das Vorhandene hinaus zu steigern. Das ist die berühmte deinosis genannte Form der Rede: unwürdige, schwierige, Unwillen erregende Vorgänge zu gewaltiger Wirkung zu bringen.40 Meint die enargeia in der Grundlegung durch Aristoteles also die Qualität von Vorstellungen, die ein Dichter in sich erzeugen muss, um die Verkettung der Ereignisse im Sinne des mythos besser planen zu können, so wird die evidentia in der lateinischen Schulrhetorik bei Cicero und Quintilian eng auf das Wirkungsziel der persuasio als prinzipiell gewaltsamer Kraft der Rede bezogen. Ihre Wirkung wird zwar als Anstoß und Anregung der Phantasie und ihrer inneren Bilder beschrieben, die dann aber der plötzlichen und gewaltsamen Affizierung der Leidenschaften zuarbeiten soll. Über die phantasiai – die ›visiones‹ oder wie es später heißt: die imagines – werden pimär die Gefühle
38 Quintilianus: institutio oratoria/Ausbildung des Redners, Bd. 1, S. 698. 39 Quintilianus: institutio oratoria/Ausbildung des Redners, Bd. 1, S. 699. 40 Quintilianus: institutio oratoria/Ausbildung des Redners, Bd. 1, S. 707.
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angesteuert.41 Der in der Quintilian’schen Affektenlehre hervortretende Aspekt des Gewaltsamen, der sich an eine Intensität bildlicher Vorstellungen und der dadurch ausgelösten Affekte bindet, verselbständigt sich in der spätantiken Rhetorik und Dichtungslehre. Ein eindringliches Beispiel bietet das lange dem Longinus zugeschriebene Traktat Über das Erhabene (peri hypsous), dessen aus der Rhetorik gewonnene Dichtungslehre sich bekanntlich als außerordentlich prägend für die kunsttheoretischen Diskussionen des 16.–18. Jahrhunderts erweist.42 Bereits die einleitenden Passagen des Pseudo-Longin’schen Traktats bieten eine beispiellose Ballung von Kraftvorstellungen, deren metaphorische Beschreibung die Rezeptionsgeschichte des Erhabenen prägen wird: Das Großartige nämlich überzeugt die Hörer nicht, sondern verzückt sie; immer und überall wirkt ja das Erstaunliche mit seiner erschütternden Kraft (kratei) mächtiger als das, was nur überredet oder gefällt, hängt doch die Wirkung des Überzeugenden meist von uns ab, während das Großartige unwiderstehliche Macht und Gewalt (dynastheian kai bian) ausübt und jeglichen Hörer überwältigt; auch sehen wir die Kunst der Erfindung und die kluge Ordnung des Stoffes nicht an einer oder zwei Stellen, sondern im ganzen Gewebe der Rede kaum eben hervorschimmern, während das Erhabene, wo es am rechten Ort hervorbricht, den ganzen Stoff wie ein plötzlich zuckender Blitz zerteilt und schlagartig die geballte Kraft (athroan dynamin) des Redners offenbart.43
41 Quintilianus: institutio oratoria/Ausbildung des Redners, Bd. 1, S. 711 u. 713. 42 Zu Grundfragen der Autorenzuschreibung, Datierung und Argumentation vgl. Manfred Fuhrmann: Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles, Horaz, Longin. Darmstadt 1992, S. 162– 184. Zur Übersetzungsgeschichte siehe Bernhard Weinberg: Translations and Commentaries of Longinus, On the Sublime, to 1600. A Bibliography. In: Modern Philology 47 (1950), S. 145– 151. Die Bedeutung der Longinrezeption für eine Ideengeschichte des Erhabenen ist bestens aufgearbeitet. Vgl. etwa Klaus Ley: Das Erhabene als Element frühmoderner Bewußtseinsbildung. Zu den Anfängen der neuzeitlichen Longin-Rezeption in der Rhetorik und Poetik des Cinquecento. In: Heinrich F. Plett (Hg.): Renaissance-Poetik/Renaissance Poetics. Berlin/New York 1994, S. 241–259; Carsten Zelle: Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2006; Caroline van Eck/Stijn Bussels u.a. (Hg.): Translations of the Sublime. The Early Modern Reception and Dissemination of Longinus’ »Peri Hupsous« in Rhetoric, the Visual Arts, Architecture and the Theatre. Leiden/ Boston 2012. Die religiöse Signatur des aus der Longin-Rezeption hervorgegangenen Erhabenen hat aus theologischer Perspektive Martin Fitz herausgearbeitet; Martin Fitz: Vom Erhabenen. Der Traktat ›Peri Hypsous‹ und seine ästhetisch-religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert. Tübingen 2011. 43 Longinus: Vom Erhabenen. Griechisch/Deutsch, übers. und hg. v. Otto Schönberger. Stuttgart 1988, S. 7.
Poetik und Rhetorik: enthousiasmos, energeia, movere
Die Kraft (dynamis) der Rede zeigt sich erst dort, wo sie über das von Quintilian gesteckte Überzeugungsziel hinausschießt und Erfahrungen der Verzückung, Erschütterung und Überwältigung provoziert. Die auf das Erhabene gerichtete Rede ist eine Form der extremen emotionalen Manipulation, die sich gezielter Überraschungsmomente bedient. Die hohe Rede, die hier mit dem plötzlich einschlagenden, das Gewebe durchreißenden Blitz verglichen wird, präsentiert sich auch an anderen Stellen des Textes als inkalkulable Naturgewalt. Zu den Beispielen zählen Donner und »zuckende Blitze«, große Flüsse wie Nil, Donau und Rhein, der Ozean, der Sternenhimmel oder »die Krater des Ätna, dessen Ausbrüche Steine und ganze Felsmassen aus der Tiefe emporschleudern und manchmal Ströme des erdgeborenen, elementaren Feuers ergießen«.44 Diese großen und gewaltsamen Erscheinungen der Natur sollen veranschaulichen, was zweifellos der in Platons Ion entfalteten Lehre von der göttlichen Begeisterung folgt: Denn ich wage getrost zu behaupten, daß nichts so sehr wie echtes Pathos am rechten Ort einen erhabenen Eindruck macht, daß es wie aus Ent zückung und Eingebung einen Hauch von Begeisterung verströmt und die Rede gleichsam mit prophetischer Macht erfüllt.45 Die Kraft der Rede, so implizieren die aufgerufenen Naturphänomene Blitz und Vulkanausbruch, ist den Redenden selbst unverfügbar. Anders als dies in Platons Fassung des Enthusiasmus als göttlicher Kraft angelegt ist, verschieben Pseudo-Longins Beschreibungen der dynamis die Begeisterung in die Richtung einer Gewalt, die sich teils einfach zu ereignen scheint, teils aber durchaus geschickt manipuliert werden kann. So lässt sich die Kraft der Rede etwa zusammenballen (athroichon), so wie man Heerscharen erst zusammenzieht und verdichtet, um sie dann gezielt und für den Hörenden überraschend losschlagen zu lassen.46 Diese Kombination aus Evokationen einer Naturkraft und den Techniken ihrer Steigerung und Steuerung ist zentral für das Argument des Textes. Denn so fulminant die Kraft der hohen Rede eingeführt wird, so kühl werden im weiteren Verlauf ihre Erzeugungsregeln dargelegt. Um das Erhabene hervorbringen zu können, ist zwar eine Naturanlage vonnöten, gleichwohl muss das Erhabene Methode haben. Will man es mit 44 Longinus: Vom Erhabenen, S. 87 u. 89. Wie Carsten Zelle gezeigt hat, leitet die Longin-Auslegung diese Metaphern auf die Tradition eines Erhabenen in der Natur über. Carsten Zelle: Angenehmes Grauen. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert. Hamburg 1987. 45 Longinus: Vom Erhabenen, S. 21. 46 Vgl. athroichon »sammeln, versammeln, vereinigen (ein Heer), zusammenbringen, zusammenschieben«. Langenscheidts Großwörterbuch Griechisch Deutsch, hg. v. Hermann Menge. Berlin u.a. 261987, S. 16.
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Maß und richtigem Timing einsetzen, dann braucht man sowohl entsprechende Kenntnisse als auch ausreichende Übung. Weit ausführlicher als die außergewöhnlichen Möglichkeiten verzückender Rede behandelt der Autor deshalb in den äußerst klar gegliederten Kapiteln die Frage, wie sich eruptions artige Erschütterungen technisch hervorbringen lassen. Anders als Platons Sokrates interessiert er sich sehr wohl dafür, wie Rede und Dichtung handwerklich gemacht sind. Denn die Gefahr, auf das Hohe zu zielen, dann aber im Schwulst und Bombast zu enden, ist leider allgegenwärtig. Grundlage der fünf separat verhandelten Eigenschaften besonders erhebender Rede ist die Kraft der Sprache (legein dynameos),47 die dann in die als Talent mitgegebenen großen Gedanken und Gefühle sowie die technischen Aspekte der Sprachbehandlung, der Figurenlehre, der Wortwahl und der syntaktischen Verknüpfung aufgegliedert wird.48 Der fragmentarischen Überlieferung des Textes ist es geschuldet, dass sich über die beiden ersten Komplexe nichts Genaues sagen lässt. Die erhaltenen Bemerkungen zu den Tropen wie auch zu den Satzfiguren reichen aber aus, um eine Neuausrichtung der Kraftvorstellung erkennen zu lassen, die sich nicht zuletzt im eigenen Bildgebrauch des Textes abzeichnet. Kapitel 14 und 15 bieten eine eigenwillige Akzentuierung der enargeiaLehre. Die »rhetorischen Phantasiebilder«, so heißt es hier, »überwältigen den Hörer«, so dass das, was »als Bild erschüttert« zugleich »mit seinem Glanz den Sachbeweis überstrahlt«.49 Weil aber die Rhetorik anders als die Dichtung auf Deutlichkeit (enargeia) statt auf Erschütterung (ekplexis) zu setzen habe, sind strahlende Bilder in der nicht-dichterischen Rede sparsam einzusetzen. Sie würden grundsätzlich die Aufmerksamkeit auf sich lenken, so wie in der Natur gelte: Es »zieht immer das Stärkere die Kraft des anderen an sich«.50 Vergleicht man das hier aufgerufene Referenzmodell der magnetischen Anziehung mit Platons Rede von der magnetischen Kraft der Dichtung im Dialog Ion, dann zeigt sich ein aufschlussreicher Unterschied. Denn anders als im Ion soll der Verweis auf die Anziehungskraft in Über das Erhabene (peri hypsous) nicht den äußerst weiten Wirkungsradius der Dichtung bezeichnen. Vielmehr soll sie zum sparsamen Umgang mit Überwältigungsmomenten in der Rede anleiten. Die Dichtung darf die gleichsam magnetische Wirkung erschütternder Bilder zwar nutzen, sie muss dies aber in abgemessener Weise tun. Das Bild von der Konkurrenz der Anziehungskräfte ist insofern bemerkenswert, als Kraft damit als quantifizierbare Größe in den Vordergrund rückt. Fassbar wird ihre jeweilige Stärke in der Konkurrenz aufeinander einwirkender Kräfte.
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Longinus: Vom Erhabenen, S. 19 u. 18. Longinus: Vom Erhabenen, S. 18. Longinus: Vom Erhabenen, S. 49. Longinus: Vom Erhabenen, S. 51.
Poetik und Rhetorik: enthousiasmos, energeia, movere
Von Kräftekonflikten zeugt ein weiteres der Naturbeobachtung entnommenes Gleichnis. Eine verbindungslose Rede, so heißt es über die rhetorische Figur des Asyndeton, bewahrt das Pathos, während Füll- und Bindeworte den Lauf der Rede bremsen: Denn wie man Läufern, bände man sie aneinander, ihren Schwung raubt, so fühlt sich die Sprache der Leidenschaft durch die Bindewörter und andere Zusätze unerträglich gehemmt; verliert sie doch ihren freien Lauf und den Schwung eines vom Katapult fliegenden Geschosses.51 Die Vergleichsflucht von den aneinander geketteten Läufern zum fliegenden Geschoss ist charakteristisch für die Tendenz des im Traktat grundsätzlich verfolgten Arguments wie auch für das dabei implizierte Kraftkonzept. Suggeriert die Rede von der Laufkraft ein natürliches Vermögen, das von künstlichen Hemmnissen freizuhalten ist, so steht das Katapult für die Ausübung einer widernatürlichen Gewalt, wie sie in der aristotelischen Physik als bia ver handelt wird. Damit inszeniert der Text nicht nur die mitlaufende Problematik von natürlicher Begabung und technischer Handhabung der aufs Hohe zielenden Rede. Es zeichnet sich auch eine Verschiebung von einer Metaphysik der Vermögen zur Physik von Kraftbeträgen ab, die sich gegeneinanderhalten und aufeinander abstimmen lassen. Die von Schwung und Wurf ausgelösten Bewegungsformen enthalten als Problem die in der antiken Physik unterschiedlich konzeptualisierte actio in distans.52 Der Schwung, der einem Wurfgeschoss mitgegeben wird und dieses in einem Bogen durch die Luft trägt, ohne dass die werfende Hand das Geworfene noch berührt, bildet eine Herausforderung an die Physik der Antike wie der Frühen Neuzeit.53 Als Aufschwung, den die Rede in den Hörenden auslösen soll, steht ein verwandtes Problem auch im Zentrum der Überlegungen zur hohen und erhebenden Rede des Traktats peri hypsous. In den als physikalisch beschreibbare Bewegungsformen ins Bild gesetzten Wirkungsmöglichkeiten wird die an die dynamis der Dichtung und der Rede gerichtete Frage allerdings verschoben. Denn weder an der Laufkraft der Athleten noch an der Schwungkraft des Katapults interessiert, was sie im Prinzip tun können, sondern in welcher Stärke und Intensität sie dies im konkreten Fall tun. Die psychologische 51 Longinus: Vom Erhabenen, S. 61. 52 Für die Problemstellung und die von Aristoteles vorgeschlagenen Lösungen vgl. Mary B. Hesse: Forces and Fields. The Concept of Action at a Distance in the History of Physics. London 1961, S. 51–73. 53 Im Spätmittelalter wird sich die Lehre vom Impetus als einer dem Objekt mitgegebenen Kraft etablieren, die Michael Wolff als Vorform der Newton’schen Mechanik beschrieben hat. Michael Wolff: Geschichte der Impetustheorie. Untersuchungen zum Ursprung der klassischen Mechanik. Frankfurt a.M. 1978.
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Bewegungslehre tritt als Physik der Rede auf. Das auffällige Interesse an einer Bewegungsmechanik der Dichtung setzt sich auch in den Überlegungen zum Rhythmus als gewaltsamer Richtungsänderung vollends durch. Der Satzfigur des Hyberbaton, in der eigentlich aufeinander folgende Satzglieder auseinandergerissen und durch eingeschobene Worte getrennt werden, schreibt Longin eine besondere Naturkraft zu: Man befinde sich »wie von einem Wirbelwind rasch umschlagen hin- und hergetrieben«.54 Die scheinbare Regellosigkeit des nicht geradeaus, sondern vortexartig wirbelnden Windes wird hier zum geeigneten Bild einer nicht regelkonformen Syntax und damit einer Dichtung, die ihre Rezipierenden zum Durchleben wechselnder Affekte zwingt. Es sei Demosthenes, so hebt Longin wie schon Quintilian hervor, der es hier zu besonders großen Gewaltwirkungen (deinotatos) gebracht habe.55 Grundsätzlich richtet sich die im Pseudo-Longin’schen Traktat Über das Erhabene angestellte Betrachtung der Kraft unter dem Aspekt der mechanischen Bewegung und, damit verbunden, der quantifizierbaren Stärke auf die Intensität der erzeugten Affektwirkungen. So soll etwa der in der Syntax realisierte Sprachrhythmus der Musik ähneln, weil er wie sie »in Bewegung setzt und zugleich durch Mischung und Vielfalt ihrer Klänge die im Redner herrschende Leidenschaft den Seelen der Hörer einflößt und sie stets zum Miterleben zwingt«.56 An einigen Stellen kommen neben der grundsätzlichen Wirkungsfixierung aber auch Stilfragen sowie Formaspekte zur Sprache. In der Diskussion einer allgemeinen Dichterkraft findet sich in Bemerkungen über die Odyssee das Beispiel für einen Altersstil, dem gleich einer untergehenden Sonne zwar »Glut« und damit »Energie«, nicht aber die Größe fehle. Neben der besonderen Fabulierkunst und dem Hang zum Märchenhaften, die am späten Homer hervorgehoben werden, ist die in diesem Zusammenhang thematisierte »Fähigkeit« der Auswahl besonders charakteristischer Einzelheiten interessant, »durch deren Verbindung« es gelingt, »einen gleichsam einheitlichen Organismus zu gestalten«.57 Der dem Erhabenen grundsätzlich zugeordnete Aspekt der starken Wirkung tritt hier hinter ein Prinzip der Produktivität zurück, das die poetische Gestaltung dem Schöpfungsakt des Demiurgen angleicht. Damit ist nicht gesagt, dass die Dichtung Figuren als lebendige Gestalten vor Augen stellt. Stattdessen kann das Gedichtete selbst, den Kriterien der Auswahl und Zusammenfügung folgend, als in sich stimmiger Körper wahrgenommen werden. In der Diskussion der Satzfiguren schält sich dieses formbezogene Argument noch deutlicher heraus:
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Longinus: Vom Erhabenen, S. 61. Longinus: Vom Erhabenen, S. 63. Longinus: Vom Erhabenen, S. 95. Longinus: Vom Erhabenen, S. 31.
Poetik und Rhetorik: enthousiasmos, energeia, movere
Nichts nun verleiht der Rede mehr Größe als die Wortstellung. Wie den Körper die Zusammenfügung seiner Glieder aufbaut, von denen keines allein, getrennt von den anderen, Wert besitzt, alle zusammen aber einen vollkommenen Organismus bilden, so ist es auch in der Rede: Werden die großen Wendungen auseinandergerissen, zerstreuen sie mit sich selbst auch das Erhabene nach allen Seiten; sind sie aber zu einem lebendigen Organismus vereint und zudem durch das Band des Wohllautes verbunden, dann verleiht ihnen die Rundung vollen Klang.58 Die richtig gefügte Rede gleicht einem lebendigen Körper, an dem teils seine übermenschliche Größe, teils aber auch die Funktionstüchtigkeit seiner Organisation interessiert. In der Dichtungstheorie des peri hypsous finden sich somit drei Dimensionen poetischer Kraft, die kaum je getrennt auftreten, werden sie doch stets in unterschiedlichen Kombinationen besprochen. Vordergründig scheinen Kraft vorstellungen auf die starken Affektwirkungen hinzuweisen, wie sie von der inhaltlich nicht weiter differenzierten göttlichen Begeisterung als Produktionsimpuls bis zum ausgefeilten Emotionsmanagement des Publikums reichen. Die Evokation besonders detaillierter oder lebendig wirkender Bilder und Handlungen, die von der Funktionsweise der phantasia abgeleitet sind, wird jedoch nur zum Teil in den Dienst dieser affektiven Wirkungen genommen. Denn sie kann auch, wie in Aristoteles’ Besprechung einer durch Vorstellungen von Aktivität (energeia) erzeugten Metapher, als besondere Anschaulichkeit sprachlicher Verfahren beschrieben werden, die Tätigkeiten evoziert und auf diese Weise Dinge als Akteure erscheinen lässt. Hier kommt der illusionsbildende Aspekt der (dichterischen) Rede ins Spiel. Ein dritter Aspekt betrifft schließlich die von diesen Wirkungsfragen abgelösten Konsequenzen für die formale Organisation sprachlicher Artefakte, sei es der Rede oder der Dichtung. Die aus der Bewegung hervorgehende und Bewegung generierende Verknüpfung von Worten in der Syntax wie auch die syntagmatische Fügung von Worten und Sätzen in der Rede vergleicht Longin zwar einerseits mit einem lebendigen Organismus. Die Form der dichterischen Rede, so sehr sie auch als simultane Ganzheit imaginiert wird, verdankt sich aber einer unausgesetzten kinesis, die als Bewegung und Veränderung in der Zeit aufzufassen ist. Im Zeichen der Kraft werden Konzepte eines in sich geschlossenen Werks ausgehöhlt und hin zu einer anhaltenden Beweglichkeit und Tätigkeit geöffnet. Wenn also die leitende Auffassung von einer dynamis der Sprache oder der Dichtung sowohl im enthousiasmos konkretisiert als auch in Bezug auf
58 Longinus: Vom Erhabenen, S. 97.
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kraftaffine Begriffe wie energeia oder kinesis expliziert wird, dann verschiebt sich der Fokus vom unverfügbaren Grund der Dichtung in einer göttlichen Kraft hin zu den poetischen Techniken. Auffällig ist dabei zunächst, wie die dynamis gerade in der Rhetorik auf Extremwerte der Gewalt und Macht hin befragt wird: die von Quintilian hervorgehobene deinosis wie auch die wort reich evozierten Wirkungen der Rede als bia, als schreckliche, gewaltsame und widernatürliche Einwirkungen auf die Seele weisen in diese Richtung. Bemerkenswert ist aber auch die mechanisch-physikalische Konkretion einer kinesis, die sich von der Metaphysik der Vermögen (dynamis), wie sie bei Platon und Aristoteles angelegt ist, zu entfernen beginnt. Die Kräfte der Dichtung bezeichnen bei Pseudo-Longin kaum mehr den entzogenen Ursprung der Dichtung, die auf eine göttliche Inspiration angewiesen ist. Stattdessen wird höchst eindringlich danach gefragt, welchen Regeln und handwerklichen Kniffen die Dichtung folgen muss, um ihre überwältigenden Wirkungen hervorzubringen. Dabei bezieht die Abhandlung Über das Hohe ihre produktive Frage an der Oberfläche aus dem Verhältnis zwischen Regel und Regelbruch, Maß und Übermaß. Darunter zeichnet sich schließlich ein Verständnis von dynamis ab, das die Kräfte aus ihrem Widerspiel zu bestimmen sucht. Sein Grundszenario ist dasjenige eines agonalen Kräftemessens, das auf ständige Überbietung statt auf Ausgleich setzt. Als gottgegebene Fähigkeit steht die dynamis im Ion in einem Spannungsverhältnis zur techne als demjenigem, was gelernt, gewusst und geübt werden kann. Dieses Vermögen verweist neben der Fähigkeit, auf etwas anderes ein zuwirken, auch auf die Möglichkeit, zum Gegenstand einer solchen Einwirkung zu werden. Von der schreckenerregenden Gewalt (deinos) und damit auch der durchschlagenden Wirkung, wie sie bei Quintilian als Rhetorik der deinosis zur Technik wird, bleiben die poetische und rhetorische dynamis und vis deshalb nicht unberührt. In besonderen Fällen kann eine Kraft eine besondere Macht oder Herrschaft über andere (griechisch: kratos; lateinisch: potestas) entfalten, etwa wenn der göttlich inspirierte Vortrag alle Zuhörenden ergreift und sie in passive Träger einer göttlichen Kraft verwandelt. In der hellenistischen Rhetorik des Pseudo-Longin wird die Kraft der Rede zu einer Gewalt umgeschrieben, die in ihren Erscheinungsformen der Entzückung und Ekstase den Bogen zu Platons Lehre von der Begeisterung (enthousiasmos) als besonderer dynamis der Dichtung schlägt, diese aber in rhetorischen Begrifflichkeiten als Techniken der Rede aufschlüsselt. Wenn sich in seinen Vergleichen mit gefesselten Läufern, abgeschossenen Pfeilen oder den Menschen herumwirbelndem Sturmwind Kräfte unterschiedlicher Intensitäten gegeneinander behaupten und aneinander messen, dann scheint in der dynamis neben dem leitenden Aspekt der Qualität – also etwas Bestimmtes tun zu können – eine quantitative Perspektive durch, die eher in den Blick rückt, mit welcher Stärke etwas getan wird.
Mechanik: ›Triebwerke‹ der Kunst und der Seele
Im Gebrauch des Worts Kraft in der Ästhetik und Poetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die eng an die Entwürfe der antiken Rhetorik und Poetik anschließen, sammeln sich Möglichkeiten und Nuancen an, die in antiken Reflexionen unter unterschiedlichen Namen entwickelt worden sind. Kraft präsentiert sich einerseits als Kategorie, die auf Steigerungsphänomene ausgerichtet ist und vor allem diejenigen Momente ansteuert, in denen das Erwartbare und Regelförmige überstiegen oder gar gesprengt wird. Diese Seite des Kraftdenkens kommt im 18. und 19. Jahrhundert dort zum Vorschein, wo ästhetische Zustände der Erschütterung, der Überwältigung oder des Rausches beschrieben oder die ästhetischen Potentiale der Gewalt oder Grausamkeit ausgelotet werden. Kraft bietet andererseits einen Ordnungsbegriff, über den sich regelhaft wiederkehrende Vorgänge denken und nicht zuletzt kalkulieren lassen. Denn Kräfte interessieren in poetologischen und ästhetischen Über legungen nicht nur als Exzess und Transgression. Vielmehr garantieren sie ebenso subtile wie stabilisierende Effekte. Dies zeigt sich etwa in der Reflexion auf die bewegliche und bewegende Einbildung oder auch auf Formbildungsprozesse, für die man sich in der Ästhetik und Poetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts verstärkt zu interessieren beginnt. Die im Folgenden rekonstruierten Poetiken der Kraft, wie Sulzer, Herder, Moritz, Schiller, Hardenberg und Goethe sie entwickeln, reizen dabei die Mehrdeutigkeit eines Kraftbegriffs aus, der neben Elementen der zeitgenössischen naturphilosophischen Kraftreflexion auch unterschiedliche Aspekte der in Rhetorik und Poetik ausdifferenzierten Bedeutungsmomente des Enthusiasmus, der enargeia/energeia wie auch der entelechetischen Formentwicklung in sich aufgenommen hat. In den folgenden Kapiteln wird nachzuzeichnen sein, wie nach 1770 die rhetorischen Anteile bewegender und überwältigender Rede abgebaut und in produktionspoetische Modelle überführt werden, in denen die Spannung des platonischen Enthusiasmusbegriffs weiter wirksam bleibt: Die Kraft der Dichtung wird als Arbeit einer Einbildungskraft gefasst, von der unklar ist, wovon sie angetrieben wird.
Mechanik: ›Triebwerke‹ der Kunst und der Seele (Sulzer 1759–1774) Von der Langlebigkeit rhetorischer Kernvorstellungen zeugen die Poetiken des ausgehenden 18. Jahrhunderts paradoxerweise gerade dort, wo sie die Bezeichnung Energie von der rhetorischen energeia im engen Sinn ablösen und zur allgemeinen Signatur der Künste erklären. Ein hervorragendes Beispiel ist Johann Georg Sulzers über mehrere Texte hinweg entwickelte, durchaus mehrdeutige Theorie ästhetischer Kraft, die er in signifikant schwankendem Begriffsgebrauch mal als Kraft, mal als Energie der Kunst bezeichnet. Sulzer gilt als »Übergangsfigur zwischen Früh- und Spätaufklärung« und damit als »Grenzgänger zwischen Rationalismus und Empirismus«, der sich schwer auf eine
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einheitliche Position festlegen lässt.59 Auf frühe Interessen an der Naturforschung folgt der Wechsel zu Fragen der Psychologie sowie der Ästhetik, die in dem späten enzyklopädischen Projekt Allgemeine Theorie der Schönen Künste zusammenfinden. In dieser Allgemeinen Theorie findet sich ein Eintrag zur »Kraft«, in dem Sulzer den Grundgedanken eines bereits 1765 auf Französisch erschienenen Essays De l’énergie dans les ouvrages des Beaux-Arts, in der deutschen Version Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste (1773), weiterentwickelt.60 Ein Scharnier zwischen der frühen Naturforschung und der späten Ästhetik der Kraft bildet Sulzers Interesse an einer empirischen Psychologie, die, so verlangt Sulzer in unterschiedlichen Zusammenhängen, als »Experimentalphysik der Seele« zu verfahren habe.61 Über die psychologische Fundierung seines Programms der ästhetischen Kraft ist man sich in der Forschung grundsätzlich einig. Diese These wurde meist aus Sulzers Theorie der Seelenkräfte entwickelt, die von der Leibniz- Wolff’schen Schulphilosophie mit ihren Erkenntnisstufen der dunklen, verworrenen, klaren oder deutlichen Vorstellungen sowie von Baumgartens Bestimmung der Ästhetik als einer auf den unteren Stufen angesiedelten cognitio sensitiva ausgeht.62 Es bleibt jedoch genauer danach zu fragen, von welchen 59 Wolfgang Riedel: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer. In: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1994, S. 410–439, hier: S. 411. 60 Johann Georg Sulzer: De l’énergie dans les ouvrages des Beaux-Arts. In: Jahrbücher der Berliner Académie Royale 1765. Berlin 1767, S. 475–492; Johann Georg Sulzer: Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste. In: ders.: Vermischte philosophische Schriften, Bd. 1. Leipzig 1773, S. 122–145. 61 Von einer »Experimentalphysik der Seele« spricht Sulzer bereits im §204 der zweiten Auflage seines Versuchs, das Wissen seiner Zeit in enzyklopädischer Form zu erfassen. Johann Georg Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften. Erste (1745) und zweite (1759) Auflage. In: ders.: Gesammelte Schriften. Kommentierte Ausgabe, hg. v. Hans Adler/Elisabeth Décultot, Bd. 1. Basel/Berlin 2014, S. 140. 62 Zu Sulzers Psychologie nach wie vor grundlegend ist die Darstellung von Riedel, der zeigt, wie weit sich Sulzer bei Themen wie »[d]unkle Vorstellungen, Dysfunktionen der Vernunft und psychophysischer Kommerz« der spätaufklärerischen Erfahrungsseelenkunde annähert. Vgl. Riedel: Erkennen und Empfinden, S. 414. Darstellungen der psychologischen Schriften Sulzers und ihrer Überführung in eine Theorie der Einbildungskraft sowie einer emotionstheoretisch fundierten Ästhetik finden sich bei Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750. Tübingen 1998, S. 135–139; Ernst Stöckmann: Anthropologische Ästhetik. Philosophie, Psychologie und ästhetische Theorie der Emotionen im Diskurs der Aufklärung. Tübingen 2009, S. 201– 250. Dennis Borghardt hat für Sulzers Ästhetik der Kraft noch einmal präzise festgehalten: »Es geht Sulzer vorwiegend um ein mechanistisches Modell des Seelischen, wobei das Augenmerk auf dem besonderen Kraftfeld, das von den unteren Seelenregionen ausgeht, liegt.« Diese »Widerspenstigkeit« der dunklen Seelenteile – und hier gehe Sulzer über die Vorgaben
Mechanik: ›Triebwerke‹ der Kunst und der Seele
naturphilosophischen Kraftkonzepten sich Sulzer bei der Formulierung seines sinnesphysiologisch fundierten Programms ästhetischer Kraft leiten lässt. Anlass dazu mag ein spielerischer Vergleich bieten, mit dem Sulzer seinen Artikel »Ästhetisch (Schöne Künste überhaupt)« schließt: Blos in der körperlichen und sittlichen Natur einige angenehme Blumen auszusuchen, das Gefällige, das Belustigende, das Ergötzende aus allen Quellen hervor zu bringen, ist eine sehr geringe Veranstaltung zur Herbeyschaffung des aesthetischen Stoffs. Eine Sammlung von Schmetterlingen und schön gefärbten Muscheln macht kein Cabinet aus, aus welchem der Reichthum und die allmächtige Kraft der Natur könnte bewiesen werden.63 Sulzers anhaltendes Nachdenken über ästhetische Kraft gibt sich als Begleitprojekt zu einer Naturforschung zu erkennen, die alles Natürliche auf eine in ihm wirksame ›Kraft der Natur‹ zurückführen möchte. Vergleicht man den in der Naturforschung angesetzten Kraftbegriff mit demjenigen der Sulzer’schen Seelenlehre, dann lässt sich eine kontextbezogene Differenz erkennen: Während die materielle Welt der Dinge von den Newton’schen Kräften der Schwere, Trägheit und Anziehung regiert wird, gesteht Sulzer der immateriellen Seele eine eher an Leibniz’ conatus orientierte Tätigkeit zu. Die immer wieder vermerkten Inkonsistenzen in Sulzers Auffassung von einer Kraft der Kunst sind so gelesen nicht nur einer Unentschiedenheit zwischen rationalistischen und sensualistischen Positionen am Übergang zur Spätaufklärung geschuldet.64 Vielmehr lassen sie sich als unmittelbare Konsequenz der Spannung zwischen einem physikalischen und einem metaphysischen Kraftbegriff verstehen, die sich auf dem Feld der Künste begegnen und komplexe Allianzen eingehen. In dem Text Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste verlegt Sulzer den Zweck der Kunstwerke schon in den programmatischen ersten Absätzen in ihre Fähigkeit, dem Publikum das rational Erkannte möglichst intensiv einzuprägen. Die Künste seien in der Lage, »die Lehren der Philosophie dem Gemüthe mit einer Kraft einzudrücken, dergleichen die nackte Wahrheit
von Wolff wie auch von Baumgarten hinaus – finde in seiner ästhetischen Krafttheorie ihren Ort. Dennis Borghardt: Kraft und Bewegung. Zur Mechanik, Ästhetik und Poetik in der Antikenrezeption der Frühen Neuzeit. Hamburg 2021, S. 688 u. 690. 63 Johann Georg Sulzer: Aesthetisch (Schöne Künste überhaupt). In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1. Leipzig 1771, S. 22–23, hier: S. 23. 64 Caroline Torra-Mattenklott spricht am Ende ihrer eingehenden Rekonstruktion der seelenmechanisch fundierten Rührungsästhetik von einer »uneinheitlichen Bewertung« und »Unvereinbarkeiten«, die sich zwischen sensualistischem Fundament und ethischer Zielsetzung seiner Rührungsästhetik auftun. Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung, S. 293.
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niemals hat«.65 Es sei deshalb die Aufgabe der Künstler, einen »nützlichen Gegenstand« mit »aller Kraft und Energie, dessen er fähig ist«, auszudrücken und auf diese Weise »bleibende Wirkungen in dem Verstande und dem Herzen des Menschen« zu hinterlassen.66 Die daraus abgeleitete Regel formuliert Sulzer nun nicht mit Bezug auf die Kraft, sondern auf die Energie der Künste: »Wenn wir die Sachen auf diese Art betrachten, so wird das, was ich Energie nenne, ein Grundbegriff in der Theorie der schönen Künste«.67 Was aber nennt Sulzer Energie? Energie, so definiert Sulzer, ist grundsätzlich dasjenige, was »die Bewegung hervor[bringt]«. Mit Bewegung meint Sulzer nun neben den Emotionen im Sinn von Leidenschaften und Affekten auch all jenes, was sich beim Wahrnehmen und Empfinden in den unteren Seelenregionen abspielt.68 Bewegung ist aber nicht dort, wo sich die Seele mit sich selbst und ihren eigenen Vorstellungen befasst. Vielmehr findet sie sich nur da, wo sie von außen affiziert wird und entsprechende Sinnesreize zu verarbeiten hat. Bewegung und damit Energie ereignen sich also an der Kontaktstelle zwischen der Seele und der materiellen Welt sinnlich wahrnehmbarer Dinge. Sobald die Ästhetik die »Ursachen« für diese Bewegung der unteren Seelenkräfte identifiziert habe, könne sie die Künste genauer dazu anleiten, »verschiedene Arten der Energie« gezielt zu erzeugen. Damit ist die Aufgabe umrissen, die sich Sulzer in dem Aufsatz Von der Kraft (Energie) stellt. Drei Ursachen oder Erzeugungsmöglichkeiten von Energie macht Sulzer in seinen Überlegungen aus. Dazu gehört erstens die »schnelle Unterbrechung« gewohnter Gedankengänge, zweitens die Ausstattung von Vorstellungen mit »neue[r] Stärke« und drittens ein »merklicher Reiz von einer Sache«.69 Wie sich in den Erläuterungen zu diesen drei Stufen herausstellt, orientiert sich Sulzer bei seinem Versuch einer Systematisierung ästhetischer Energien vor allem an den dadurch angesteuerten Vermögen oder Seelenkräften. Momente der Bestürzung und Überraschung, des Schrecks und der Begeisterung können uns aus einem gleichförmig dahinfließenden Zustand der »Geschäfftigkeit« herausreißen, in dem sich die »Folge unserer Vorstellungen« gewöhnlich befindet.70 Energie lässt sich also durch die Unterbrechung der ständig ablaufenden Gedankenassoziationen erreichen, mit denen unsere kognitiven Kräfte beschäftigt sind. Davon unterscheidet Sulzer auf der zweiten Stufe eine mit erhöhter Deutlichkeit, Lebhaftigkeit und Bewegung ausgezeichnete Steigerung 65 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 123. 66 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 123. 67 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 123. 68 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 124. Sulzer unterscheidet hier drei ›Zustände‹– »den Zustand des Nachdenkens, den Zustand der Betrachtung (contemplation) und den Zustand der Bewegung (emotion)«. 69 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 124. 70 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 124.
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der mentalen Tätigkeit, die sich bei der Wahrnehmung von »Schönheit« und, so erläutert Sulzer an Beispielen der bildenden Kunst, einer besonders detailreichen und dadurch illusionsbildenden Darstellung einstellen kann. Durch das Schöne soll die Seele aus einem alltäglichen Zustand der Gleichgültigkeit, in dem ihr »nichts mehr deutlich bewußt« ist und sie nichts »lebhaft zu empfinden« vermag, in Bewegung geraten.71 Nun sind lebhafte Darstellung und aktivierte Einbildungskraft, mit der sich auch die in der Rhetorik entwickelte energeia/enargeia-Lehre befasst, immer noch flüchtige Phänomene, die nicht ganz dazu geeignet zu sein scheinen, die von Sulzer geforderten starken Wirkungen hervorzurufen.72 In eine dritte Kategorie der Energie fasst Sulzer deshalb diejenigen Werke, die »Verlangen« oder »Abscheu«, allgemeiner gesprochen also fundamentale Reaktionen der Lust oder Unlust provozieren.73 Damit ist er bei den unteren Seelenkräften angekommen, die er für die stärksten Kräfte hält.74 Lust und Unlust, so verrät Sulzer, sind die »wahren Bewegungskräfte« und können als »erste Triebfedern« unserer Seele gelten.75 Das im Titel enthaltene Schwanken zwischen Kraft und Energie entscheidet Sulzer in seinem Aufsatz nicht.76 Statt beide Begriffe trennscharf voneinander abzusetzen oder gar zu komplementären Kategorien auszubauen, spricht er in Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste auffallend beharrlich von Energie und nicht von Kraft. Dies ist umso überraschender, als er zur Begriffsbestimmung einleitend eine Referenzstelle zur vis anführt. In einer dem Titel hinzugesetzten Fußnote erläutert Sulzer seine terminologische
71 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 127–128. 72 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 130. 73 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 135. 74 Aus Sulzers Sicht sind die sinnlichen Empfindungen in »Hinsicht auf die Kriterien der Intensität und der Geschwindigkeit [...] effizienter als die intellektuellen und moralischen Empfindungen.« Élisabeth Décultot: Die Schattenseiten der Seele. Zu Johann Georg Sulzers Theorie der dunklen Vorstellungen. In: Hans Adler/Rainer Godel (Hg.): Formen des Nichtwissens der Aufklärung. Paderborn 2010, S. 263–278, hier: S. 267. 75 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 136. Diesen Grundsatz formuliert Sulzer bereits in seiner Schrift über das Bewusstsein: »Die wahren antreibenden Kräfte der Seele sind vors erste die sinnlichen Empfindungen, dann so wohl die klaren, aber sehr verworrenen, als auch die bis zu einem gewissen Grade dunkeln Vorstellungen. Keine einzige deutliche Idee kann bewegen; sie kann bloß die Aufmerksamkeit leiten.« Johann Georg Sulzer: Von dem Bewußtseyn und seinem Einflusse in unsre Urtheile. In: ders.: Vermischte philosophische Schriften, Bd. 1. Leipzig 1773, S. 199–224, hier: S. 213. 76 Guglielmo Gabbiadini hat darauf hingewiesen, dass sich diese Begriffsverdopplung zwischen dem französischsprachigen Entwurf, der 1765 in den Jahrbüchern der Berliner Académie Royale erschienen ist, und dem deutschsprachigen Titel von 1773 vollzieht. Guglielmo Gabbiadini: Energie – Schöne Künste – Tugend. Ein Versuch über Johann Georg Sulzer und Wilhelm von Humboldt. In: Élisabeth Décultot/Philipp Kampa/Jana Kittelmann (Hg.): Johann Georg Sulzer – Aufklärung im Umbruch. Berlin/Boston 2018, S. 117–142, hier: S. 136.
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Unschlüssigkeit und aktiviert, eingespielt über ein Horaz-Zitat, den zunächst aus der antiken Rhetorik bekannten Vorstellungsbereich einer Kraft der Rede: ich bin, aus Mangel eines andern Ausdrucks, genöthigest, mich dieses Wortes zu bedienen, um dadurch überhaupt eine gewisse vorzügliche Kraft, nicht nur in der Rede, sondern in allen anderen Dingen, die zum Geschmacke gehören, anzuzeigen. Es ist eben das, was bey dem Horaz (serm. I.4) acer spiritus et vis in verbis et rebus heißt.77 An der angegebenen Stelle verlegt Horaz die hervorragende Eigenschaft der Poesie in den besonderen Scharfsinn und eine Kraft (vis) der Worte wie der von ihnen bezeichneten Dinge statt nur in das formale Kennzeichen der gebundenen Rede. Denn laut Horaz macht nur die besondere Durchschlagskraft der mit den Worten aufgerufenen Vorstellungen die bloße Prosa zum poema, mithin zum Gedicht. Die Kraft, die in den Worten und ihren Bedeutungen stecken soll, ist wohl nicht zufällig mit dem Scharfsinn (acer spiritus) verschwistert, mit dem die poetische Rede auf eine besondere gedankliche Schärfe und Zuspitzung verpflichtet wird.78 In welchem Maß Sulzers Entwurf einer Kraft oder Energie der Kunst nicht nur auf die Kraft der Worte, sondern der dadurch bezeichneten Ideen gerichtet ist, tritt im Verlauf seiner Argumentation immer wieder klarer hervor. Ziel der Künste sei es, so gibt Sulzer etwa zu verstehen, die »Wahrheiten« aufzugreifen und ihnen »gleichsam einen Körper zu ge ben«.79 Erst in materialisierter Form können Gedanken auf Seelen wirken und sich »mit den verschiedenen Triebwerken der Seele« verbinden.80 Sulzers Vorliebe für möglichst starke Eindrücke leitet ihn auch dort, wo er sich um eine vergleichende Bestimmung der Künste und ihrer je eigenen Möglichkeiten der Krafterzeugung bemüht. So schließt er seinen Aufsatz mit einer gradierenden Anordnung der Kunstformen, in denen der Wettstreit der Künste als quantifizierendes Kräftemessen ausgetragen wird. Seinen Ausgangspunkt hat der Vergleich bei der Analyse der jeweils adressierten Sinne. Das Gehör, so Sulzer, liefert grundsätzlich schwächere Eindrücke als der Sehsinn: »Die Energie der sichtbaren Gegenstände hat etwas weniger innere Stärke«.81 Ent77 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 122. 78 Die Stelle lautet bei Horaz: »idcirco quidam comoedia necne poema / esset, quaesivere, quod acer spiritus ac vis / nec verbis nec rebus inest, nisi quod pede certo / differt sermoni, sermo merus.« Q. Horatius Flaccus: Sermones I,4. In: ders.: Opera Omnia, hg. v. Bernhard Wyss. Frauenfeld 91989, S. 169 (Vers 45–47). Das Adjektiv acer bezeichnet hier einen Geist, der sich als besonders »scharf, stark, heftig, hart« zeigt. Vgl. acer. In: Der kleine Stowasser. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch. München 1969, S. 34. 79 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 131. 80 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 131. 81 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 138.
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sprechend bringe die Musik grundsätzlich die »stärksten Wirkungen auf das Herz« hervor.82 Malerei wie auch Schauspielerei haben jedoch den Vorteil, dass sie neben den menschlichen Leidenschaften auch »Charaktere« und deren »Gesinnungen« zeigen können.83 Die Dichtung schneidet im Vergleich zunächst schlecht ab, seien die Worte und dadurch vermittelten Gedanken doch »nur Schatten der Dinge selbst«.84 Besonders effektiv sei aber die Kombination der Mittel; etwa wenn zum dramatischen Text dessen Aufführung auf dem Theater tritt.85 Besonders hebt Sulzer zuletzt die Oper hervor, weil sich in ihr die Kräfte der beteiligten Künste – Dichtung, Musik, Bühnenbild und Schauspiel – zur höchsten Summe addieren können. In einer überraschenden Wendung liefert Sulzer jedoch ein Argument, mit dem die Dichtung auch ohne sinnliche Verstärkung durch visuelle oder auditive Mittel mit den sinnlicheren Künsten gleichziehen könnte. Denn auch in der immateriellen Welt der Ideen, so verrät er zuletzt, gäbe es »Energie«, und über diese »Kräfte der geistigen Welt« können nur die Redekunst und die Dichtung verfügen.86 Gerade die Dichtung sei in der Lage, »das Herz der Menschen in ihre[] Gewalt« zu bringen.87 Entsprechend zielt die Energie der Werke nicht auf Beweglichkeit um ihrer selbst willen. Vielmehr nutzt sie diese als Mittel, die Leitgedanken und Leitsätze des Wahren und Guten »der Einbildungskraft und dem Herzen tief ein[zu]prägen«.88 »Vollkommenheit«, so informiert Sulzer, kommt erst den jenigen Werken zu, die »unauschlöschliche Eindrücke machen«.89 Dabei unterscheidet Sulzer zwei Schritte: »Nachdem er [der Künstler, C.Z.] die Ein bildungskraft gerühret hat, wendet er sich an den Verstand und hält ihm die Wahrheit vermittelst jenes starken eindringenden Ausdrucks vor, welcher gleichsam die Aufschrift des Gemäldes ist«.90 Die Mobilisierung der Einbildungskraft endet mit der möglichst starken Einprägung von etwas, das den Bereich der bildlichen Vorstellung verlässt. Der Anstoß zur flüchtigen Bewegung geht im Ziel einer bleibenden Prägung auf, die als subscriptio des Emblems, mithin als schriftsprachlich fixierter Leitsatz imaginiert wird. Die Mobilisierungsmöglichkeiten der Künste dienen paradoxerweise der Stabilisierung moralischer Auffassungen, die uns immer dann, wenn wir sie brauchen, »mit 82 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 138. 83 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 138. 84 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 140. 85 »So groß auch die Energie des Gedichtes seyn mag, so wird doch diejenige, welche der Schauspieler bloß durch seine Handlung noch hinzuthun kann, jene allemal übertreffen«. Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 139. 86 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 142. 87 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 142. 88 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 133. 89 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 130. 90 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 132.
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überzeugender Stärke wieder einfallen« sollen.91 Die von Sulzer beschriebenen »Triebwerke der Kunst«92 sind also nicht allein Motoren der sinnlichen Empfindung, sondern ethische Prägemaschinen. Andere, mit dieser Fundamentalthese eng verbundene Artikel der Allgemeinen Theorie setzen einen ähnlichen Akzent. Besonders in Sulzers Überlegungen zum Nachdruck, einer Erbin rhetorischer Emphase-Figuren, ist das ästhetische Ideal möglichst starker Eindrücke leitend. Rhetorik und Ästhetik des Nachdrucks
Grundsätzlich stellt der Nachdruck als besonders starke, klare und einleuchtende Darstellung eine exemplarische Spielart dessen dar, was Sulzer als ästhetische Kraft bezeichnet. Im Artikel »Nachdruck« in der Allgemeinen Theorie der schönen Künste verbinden sich ästhetische Kraft und Nachdruck entsprechend eng: »Jede Art der ästhetischen Kraft kann den Nachdruk bewürken«.93 Im ersten Satz des Artikels definiert Sulzer den Nachdruck als dasjenige, was »eine vorzügliche Kraft« habe, »den Geist oder das Herz lebhaft anzugreifen«.94 In der Rede, der Musik oder auch der Malerei macht sich der Nachdruck durch ein gewisses Mehr bemerkbar, sei es durch die Begleitung eines Worts mit »vielbedeutenden Nebenbegriffen«, sei es durch »mehr Stärke« im Ton oder sei es durch »ein besonderes Leben, eine besondere Kraft der Deutung«.95 In dieser Formulierung weist Sulzers Definition des Nachdrucks zunächst auf Baumgartens Metaphysik zurück, in der die zwischen Dunkelheit und Deutlichkeit, mithin zwischen Sinnlichkeit und Begrifflichkeit stehenden »verworrenen« Vorstellungen als »EMPHATICI« eingeführt werden. §17 Je mehr Merkmale eine Vorstellung in sich enthält, desto stärker ist sie. Daher ist eine dunkle Vorstellung, die mehr Merkmale enthält als eine klare, stärker als diese, und eine verworrene, die mehr Merkmale enthält als eine deutliche, ebenfalls stärker als diese. Vorstellungen, die mehr (Merkmale) in sich enthalten, werden vielsagend genannt. Vielsagende Vorstellungen sind also stärker. Daher haben Vorstellungen von Einzeldingen eine große Stärke. Begriffe von vielsagender Bedeutung sind nach-
91 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 132. 92 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 126. 93 Johann Georg Sulzer: Nachdruk. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2. Leipzig 1774, S. 800–803, hier: S. 801. 94 Sulzer: Nachdruk, S. 801. 95 Sulzer: Nachdruk, S. 801.
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drücklich (hervorhebende Ausdrücke). Deren Wissenschaft heißt Emphaseologie.96 Die Emphaseologie befasst sich nach Baumgarten mit dem, was das Gedicht als cognitio sensitiva perfecta ausmacht. Gemeint sind die Fülle und der Reichtum an sinnlichen Vorstellungen, die gleichwohl vor der Schwelle zur deutlichen Bestimmtheit begrifflicher Erkenntnis haltmachen müssen. Baumgartens Ästhetik als Lehre von der cognitio sensitiva erschließt bekanntlich diesen Be reich der klar-verworrenen Vorstellungen (clare et confusa), die so genannt werden, weil sie über eine besondere Merkmalsfülle (dem Reichtum der ubertas) und einer daraus resultierenden Prägnanz oder eben Emphase verfügen.97 Hier liegt ein vermögenspsychologisch fundiertes erkenntnistheoretisches Programm der Emphase vor, dem Sulzer fraglos verpflichtet ist. Die bei Sulzer ebenfalls angedeutete physikalische Dimension der nachdrücklichen als einer eindrücklichen, sich dem Gemüt buchstäblich eindrückenden Rede findet sich bereits in frühaufklärerischen Poetiken. Johann Jacob Breitinger etwa befasst sich in seiner Critischen Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse (1740) mit dem, was er nachdrückliche Gleichnisse nennt. Grundsätzlich geht es um diejenigen Vergleiche, die dazu geeignet sind, »einem Gedancken Nachdruck und Gewicht, und einen mercklichen Zusatz an Kraft und Leben mitzuteilen, dergestalt daß derselbe sich in das Gemüth tief genung eindrücket«.98 Die physikalische Leitmetaphorik von Gewicht und Druck baut Breitinger seinerseits zu einem Gleichnis aus: »Ein Gedancke setzet sich durch eine gedoppelte Vorstellung in dem Gemüthe desto tiefer und fester, wie ein Nagel durch einen verdoppelten Schlag desto tiefer in das Holz hineingeht«.99 Das ›Nach‹ im Wort Nachdruck erhält einen besonderen Sinn, wird dem nachdrücklichen Gleichnis doch die Aufgabe zugesprochen, etwas bereits Gesagtes durch einen weiteren Schlag zu verstärken. Das vor dem inneren Auge erzeugte Bild soll einen begrifflich
96 Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica. Lateinisch/Deutsch. In: Texte zur Grundlegung der Ästhetik, übers. u. hg. v. Hans Rudolf Schweizer. Hamburg 1983, S. 8 u. 9. 97 Für eine ausführliche Darstellung der Baumgarten’schen Ästhetik unter dem Aspekt der Kraft, wie er sich in der Ausdifferenzierung seelenmechanischer Vorstellungen als incitatio oder impetus, mithin als mechanistisch gedachter Anstoßkraft, geltend macht, vgl. Borghardt: Kraft und Bewegung, S. 542–557 u. 573–587. Borghardt verweist hier auch auf die »Kraft des sinnlichen Eindrucks«, der »mit Nachhaltigkeit auf die Seele wirken« soll. Borghardt: Kraft und Bewegung, S. 576–577. Diese am Rand vermerkte Verbindung von Nachdruck und nachhaltiger Wirkung scheint mir für Sulzers Konzept ästhetischer Kraft zentral zu sein. 98 Johann Jacob Breitinger: Critische Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740. Stuttgart 1967, hier: S. 66–67. 99 Breitinger: Critische Abhandlung, S. 68.
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bereits bezeichneten Sachverhalt noch einmal mit besonderer Intensität ausstatten. Als deutliche und einprägsame Darstellung von Begriffen, darauf weist Breitinger hin, hat der Nachdruck eine enge Verwandtschaft mit der rationalen Bezeichnungsform der Allegorie: »Man kann’s als eine Allegorie ansehen«.100 Diesen Bezug des Nachdrucks zur Allegorie rückt auch Sulzer in den Vordergrund. Der Zweck allegorischer Bildlichkeit, so erläutert er in seinem Artikel zur Allegorie in der Allgemeinen Theorie der Künste, besteht darin, »die Sache stärker und nachdrüklicher zu sagen, zugleich aber ihr auch ein größeres Licht zu geben«.101 Allegorien werden gebraucht, um »der Vorstellung vermittelst des Bildes mehr Klarheit, oder mehr Nachdruk, oder überhaupt mehr ästhetische Kraft« zu verleihen.102 Was Sulzer in den Artikeln zum Nachdruck und zur Allegorie als ästhetische Kraft bezeichnet, verdankt sich demnach auch den auf Moraldidaxe ausgerichteten frühaufklärerischen Poetiken, die Sulzer für eine psychomechanische Fundierung der Leistungsfähigkeit der Kunstformen nutzen kann.103 Einen Hinweis auf die überlegene Kraft der Ideen gibt Sulzer schließlich auch im Eintrag »Poetisch; Poetische Sprache«.104 Sulzer fragt hier nach Differenzkriterien zwischen gewöhnlichem und poetischem Sprachgebrauch, die er, ähnlich wie der bereits zitierte Horaz, nicht allein in der Versform als künstlich geregelter Sprachverwendung sehen will. Der Artikel versammelt nun Versatzstücke poetologisch-rhetorischer Kraftvorstellungen, wie sie aus den antiken Konzepten des dichterischen Enthu siasmus und der energetischen Metapher vertraut sind. Die dichterische Rede sei eine feurig-begeisterte, besonders bilderreiche und dadurch lebhafte Rede, in der man das, was man auch auf gewöhnliche Weise hätte sagen können, in verwandelter Form antrifft. Entsprechend fehlt auch hier nicht der Verweis auf die bereits im ersten Aufsatz Von der Kraft (Energie) zitierte Horazstelle, in der das, was ein poema sei, an die Kraft (vis) der Worte und der dadurch gesagten Dinge gebunden wird.105 Angesichts der Versammlung bekannter Krafttopoi
100 Breitinger: Critische Abhandlung, S. 52. 101 Johann Georg Sulzer: Allegorie. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1. Leipzig 1771, S. 27–43, hier: S. 30. 102 Sulzer: Allegorie, S. 28. 103 Tatsächlich steht Sulzer mit seiner Vorstellung von ästhetischer Kraft auf einem Boden, den Gottsched wie auch dessen Schweizer Konkurrenten Bodmer und Breitinger in ihren rhetorikaffinen Poetiken bereits gründlich bestellt haben. Vgl. dazu ausführlicher Cornelia Zumbusch: ›erhöhte Kraft‹. Nachdruck und nachdrückliche Schreibart von Gottsched bis Herder. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, Beiheft ›Stildiskurse im 18. Jahrhundert‹, vorauss. 2023 (In Vorbereitung). 104 Johann Georg Sulzer: Poetisch; Poetische Sprache. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2. Leipzig 1774, S. 910–913. 105 Sulzer: Poetisch; Poetische Sprache, S. 912.
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überrascht aber die Wendung, die Sulzer seiner Bestimmung der poetischen Rede zuletzt gibt: Aber wir müssen nicht vergessen, anzumerken, daß das Poetische der Sprache nur das Kleid der Gedanken sey, dessen nur die Gedanken, die in ihrer nakenden Gestalt nicht genug ästhetische Kraft hätten, bedürfen; daß die Vorstellungen, die ohne diesen poetischen Schmuk Lebhaftigkeit genug haben, auch ohne Poesie der Sprache poetisch sind; daß insonderheit die Sprache eines innigst gerührten Herzens, der geradeste einfacheste Ausdruk starker Empfindungen, diesen Schmuk verschmähen. Wo schöne Gesinnungen, starke Empfindungen, oder auch wahre Machtsprüche der gemeinen Vernunft stehen, bewegen sie für sich selbst, auch in dem einfachesten Ausdruk, hinlänglich.106 Das Poetische erscheint zuletzt als äußerliche Zutat, die jene Gedanken, die selbst schon eine »ästhetische«, mithin die Empfindungen aktivierende Kraft mitbringen, gar nicht brauchen. Über ästhetische Kraft verfügen ethische Regungen, Einstellungen und Maximen offenbar auch ohne eine bilderreiche und entsprechend sinnlich anregende Form. Der Nachdruck bietet eine hervorragende Möglichkeit, sensualistisch-seelenmechanische Fundierung und rationalistisch-ethisches Leistungsprofil zu integrieren. Schwieriger gestaltet sich dies dort, wo Kraft sowohl als Eigenschaft der Künste betrachtet wird als auch die mitgebrachten Kräfte der Seele bezeichnen soll. Seelen Bewegen: conatus oder actio und reactio
Der Eintrag zur »Kraft« im 1774 publizierten zweiten Band seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste, in den die Grundthese des Aufsatzes Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste in leicht veränderter Form eingegangen ist, besteht auf einer strengen ethischen Einbindung ästhetischer Kräfte. Ästhetische Kraft – die Rede von der Energie ist hier in den Hintergrund getreten – habe zwar grundsätzlich alles, was eine sinnliche Wirkung auf das menschliche Gemüt entfalten könne.107 Die in dem Aufsatz Von der Kraft (Energie) noch ausführlich besprochenen sinnlichen Empfindungen, die sich durch Neues, Unerwartetes, Großes oder Wunderbares hervorrufen lassen, werden gleichwohl in einem einzigen Satz abgetan, um mehr Raum für eine ausführliche
106 Sulzer: Poetisch; Poetische Sprache, S. 912 107 »Wir schreiben jedem Gegenstand des Geschmaks eine ästhetische Kraft zu, in so fern er vermögend ist eine Empfindung in uns hervorzubringen«. Johann Georg Sulzer: Kraft. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2. Leipzig 1774, S. 602–605, hier: S. 602.
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Diskussion der »wesentlichen Kräfte« der Künste zu gewinnen.108 In den neu zugeschnittenen Bereichen der ästhetischen Kraft, die Sulzer in aufsteigender Reihe in der Vollkommenheit, in der Schönheit und im Guten sehen möchte, gewinnen die Möglichkeiten ethischer Prägung überragende Bedeutung. Die wichtigste ästhetische Kraft lokalisiert Sulzer im »Guten«, da erst diese Spielart der ästhetischen Kraft imstande sei, »das Gefühl unsrer innerlichen Kraft und Würksamkeit« zu »stärken« und zu »üben«.109 Grundsätzlich gilt aus Sulzers Sicht: »Das Gute bewürkt die antreibenden, und das Böse die zurücktreibenden Kräfte: und je mehr wir diese Kräfte für die Erlangung des Guten und Vermeidung des Bösen üben, je mehr stärken sie sich«.110 An die Stelle der Auffassung von möglichst starken Einprägungen tritt hier die Vorstellung von einem Training der Seelenkräfte, die auf die richtigen Ziele auszurichten sind. Die Rede von den in der Seele bereits angelegten Kräften, die durch die Künste gestärkt werden sollen, verschiebt das moraldidaktische Modell einer von außen bewirkten Einprägung jedoch in Richtung einer Eigentätigkeit einer ›innerlichen Kraft‹. Wo also ist in Sulzers ästhetischer Theorie der Ort der Kraft? Sulzers Rede von Eindruck und Einprägung, wie sie den ersten Aufsatz Von der Kraft (Energie) durchzieht und sich in der Poetik des Nachdrucks exemplarisch verdichtet, evoziert eine Seelenmechanik, in der durch Kollisionen von Körpern erzeugte Ereignisse wie Druck und Stoß im Vordergrund stehen. Tatsächlich nutzt Sulzer gerade dort, wo er das Projekt einer »Physik der Seele« anspricht, eine an Newtons Mechanik orientierte Kraftkonzeption. Wenn Sulzer auf die Notwendigkeit einer »guten Naturlehre der Seele« hinweist,111 dann meint er eine Theorie der Seele, mit der sich die Fülle empirischer Beobachtungen und Fakten erst gewinnbringend systematisieren lasse.112 Leitend für eine solche Metaphysik der Seele sei eine Analyse des Bewusstseins, das, so Sulzers Prämisse, in grundlegender Weise auf sinnliche Reize angewiesen sei. Denn die Seele könne nur »vermittelst des Körpers und einer gewissen
108 Sulzer: Kraft, S. 602. 109 Sulzer: Kraft, S. 605. 110 Sulzer: Kraft, S. 605. 111 Sulzer: Von dem Bewußtseyn, S. 199 u. 200. 112 Stefanie Buchenau hat dafür argumentiert, dass für Sulzers ›Physik der Seele‹ nicht die Mathematik, sondern die Medizin zuständig sei. Stefanie Buchenau: Sulzers ›Physik der Seele‹ zwischen Medizin und Philosophie. In: Élisabeth Décultot/Philipp Kampa/Jana Kittelmann (Hg.): Johann Georg Sulzer – Aufklärung im Umbruch. Berlin/Boston 2018, S. 36–50. Gleichwohl sind in Sulzers Erläuterungen die Vergleiche der Seelenkräfte mit physikalischen, und das heißt für Sulzer, mit mathematisierbaren Kräften durchaus aufschlussreich. Vgl. etwa Daniel Dumouchel: ›Tiefen der Seele‹. Veränderte Zustände und psychologische Paradoxe. In: Élisabeth Décultot/Philipp Kampa/Jana Kittelmann (Hg.): Johann Georg Sulzer – Aufklärung im Umbruch. Berlin/Boston 2018, S. 14–35.
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Wirkung, welche andere Körper auf das Nervensystem haben«, etwas empfinden.113 Diese Überlegung veranschaulicht Sulzer in einem aufschlussreichen Vergleich: Die Seele würde also ohne die materialistische Welt nichts anders als eine todte Kraft seyn, die in einer ewigen Unwirksamkeit bleiben würde. Wenn sie wirken soll, muß sie schlechterdings von außen gereitzt werden. Es findet sich hierinnen eine große Ähnlichkeit zwischen der Seele und der Materie. In jeder Masse von Materie liegen Kräfte, welche schlechterdings todt sind, bis eine andere Masse auf dieselben wirket. Dann zeiget sich erst die Materie durch ihren Widerstand, und durch die Veränderung, die sie in der andern Masse hervorbringt, wirksam. Höret die Wirkung von außen auf, so verfällt die Masse, die sich kurz vorher so wirksam zeigte, sogleich wieder in einen Zustand, wo alle Wirksamkeit gänzlich zernichtet zu seyn scheint.114 Obwohl Sulzer die Kraft der Seele als ›todte Kraft‹ bezeichnet, ist sie von Leibniz’ vis mortua durchaus zu unterscheiden. Nach Leibniz verwandelt sich die in einer gespannten Feder oder in einem angehaltenen Pendel enthaltene vis mortua dann in eine vis viva, wenn die jeweilige Hemmung aufgehoben wurde. Nun sei aber aus Sulzers Sicht die »Kraft des Schießpulvers, die Kraft der gespannten Feder, die Kraft eines Körpers in Bewegung«115 gerade nicht dazu geeignet, die Kraft der Seele zu veranschaulichen. Denn die genannten Kräfte könnten sich zwar ebenfalls nur durch äußere Einwirkungen in Gang setzen und entfalten, sie müssen sich aber nach einer Weile erschöpfen: sie werden sich »durch das Wirken verzehren, und durch ihre Aeußerung gänzlich zerstören«.116 Ein Häufchen Schießpulver lässt sich nicht zwei Mal entzünden, eine Feder muss erneut gespannt werden. Offenbar verhält sich die Kraft der Seele aus Sulzers Sicht eher wie jene vis inertia, die Newton in ruhenden Körpern beobachtet. Ein Stein hat allein durch sein Gewicht eine eingepflanzte Kraft (vis insita), die der Erfahrung zwar erst zugänglich wird, wenn dieser Stein geschoben oder gehoben wird. Vorhanden ist diese vis insita aber auch, wenn sie sich nicht geltend macht – vor allem aber ist sie an die Masse des Körpers gebunden und kann sich nicht erschöpfen. Newton bezeichnet diese Trägheit von Massen, die sich erst beim Widerstand gegen andere Kräfte bemerkbar macht, als vis inertia. Die Kraft der Seele, so
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Sulzer: Von dem Bewußtseyn, S. 203. Sulzer: Von dem Bewußtseyn, S. 203. Sulzer: Von dem Bewußtseyn, S. 203. Sulzer: Von dem Bewußtseyn, S. 204.
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bestimmt Sulzer, ist ebenfalls eine »Kraft der Gegenwirkung (reactio)«, die gleichwohl immer vorhanden ist und sich nie erschöpft:117 So ist z. B. die Kraft der Gegenwirkung (reactio) einer Masse von Materie immer dieselbe, sie mag sich tausendmal geäußert haben, oder niemals in Thätigkeit gesetzt worden seyn; sie wird durch eine andere Anordnung der Theile der Masse in keinem Stücke verändert. Eben so verhält es sich mit den Kräften der Seele.118 Erst wenn die Kraft der Seele in Analogie zu einer solchen Trägheit oder Beharrungskraft gedacht wird, dann kann man auch von ihr annehmen, dass sie grundsätzlich »unzerstörbar« ist. Die Prämissen dieser Kräftelehre erschließen sich beim Blick in die wissenschaftliche Propädeutik, die Sulzer 1759 unter dem Titel Kurzer Begriff aller Wissenschaften in zweiter Fassung publiziert. Sulzer orientiert seine Naturlehre an der mathematischen Mechanik Newtons. Die Physik, verstanden als allgemeine Naturlehre, betreffe alles, »was durch die Kräfte der Natur in der körperlichen Welt hervorgebracht oder verändert wird«.119 Wenn er im Folgenden »die Schwere, die anhangende Kraft der Materie, die Wärme und Kälte« aufzählt, dann gehören für Sulzer die von Newton beschriebene vis gravitationis wie auch die vis inertia zu den ersten Grundkräften der Natur. Ebenso genau folgt Sulzer dem methodischen Vorbehalt, unter den Newton seine mathematische Physik stellt. Auch wenn die Wirkungen der »Schwere«, der »anziehende[n] Kraft der Materie« wie auch der »Elastizität« gut zu beobachten seien, könne man über ihre »eigentliche Ursache« doch immer noch nichts aussagen. Die ersten Ursachen bleiben dem forschenden Blick »verborgen«.120 Die Mechanik als Lehre von den Bewegungen wird zur Leitwissenschaft für die Erforschung einer Natur, die auch die »Natur der Seele« betrifft.121
117 Sulzer: Von dem Bewußtseyn, S. 204. 118 Sulzer: Von dem Bewußtseyn, S. 204. 119 Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften, S. 113. Schon in der ersten Fassung von 1745 heißt es: »Die Natur geht überall nach gewissen von dem Schöpfer aller Dinge festgestellten Regeln. Z.E. daß ein jeder Körper so lange still liegt oder in Bewegung ist, bis ihn ein anderer außer der Ruhe oder Bewegung ist. Daß alle Körper, wenn sie in angemessener Weite neben einander sind, entweder an einander oder von einander gestoßen werden«. Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften, S. 26. 120 Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften, S. 115. Die wesentlichen Grundlagen der Physik, verstanden als allgemeine Naturforschung, verlegt Sulzer entsprechend in die zuvor schon abgehandelte Mathematik: »da in der Natur alle Veränderungen durch die Bewegung geschehen, so ist die Theorie der Bewegung einer der wichtigsten Theile der Mathematik; sie wird insgemein die Mechanik genannt.« Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften, S. 100. 121 Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften, S. 85.
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Dabei ist festzuhalten, dass Sulzer in seinem Vergleich der Seelenkraft mit der Kraft der Masse die Seele keineswegs mit der Materie gleichsetzt, weist er doch lediglich auf Parallelen in ihrem Verhalten hin. Die Ähnlichkeit der Seele mit ›einer Masse von Materie‹ sollte deshalb nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sulzer grundsätzlich eine antimaterialistische Position bezieht. Die Seele, so lässt sich in seinen Gedanken über einige Eigenschaften der Seele nachlesen, ist unteilbar und unsterblich.122 Tatsächlich legt Sulzer in seiner Seelenlehre den Begriff einer inneren Kraft (vis insita) zugrunde, die nicht, wie in Newtons Physik, in der Schwere und Trägheit von Massen liegt, sondern, ähnlich wie bei Leibniz, als inneres Streben (conatus) gedacht ist. Die Vermittlung zwischen Newtons Modell von actio und reactio und Leibniz’ Auffassung intrinsisch strebender Kräfte stellt für Sulzers Seelenlehre eine zentrale Herausforderung dar: Wir fühlen eine Kraft, eine Energie in uns, welche sich beständig bestrebt, in uns oder außer uns eine Veränderung hervorzubringen [...] und es setzt uns nichts in eine stärkere Bewegung, als alles dasjenige, was sich eben dieser wesentlichen Thätigkeit, entweder in uns selbst, oder außer uns zu widersetzen scheint.123 122 Johann Georg Sulzer: Gedanken über einige Eigenschaften der Seele, in sofern sie mit den Eigenschaften der Materie eine Aehnlichkeit haben, zur Prüfung des Systems des Mate rialismus. In: ders.: Vermischte philosophische Schriften, Bd. 1. Leipzig 1773, S. 348–376. 123 Sulzer: Gedanken über einige Eigenschaften der Seele, S. 349–350. Guglielmo Gabbiadinis Vorschlag, Sulzers Verwendung des Begriffs Energie im Rekurs auf Leibniz zu verstehen, lässt sich entsprechend nur für seine Seelenlehre bestätigen: »Mit dem Wort ›Energie‹«, so Gabbiadini, »scheint Sulzer eine besondere Form der vis activa zu umschreiben. Ein Kernstück seiner Auffassung besteht in der Idee der Selbsttätigkeit der Kraft, die bei Leibniz ebenfalls zentral ist. [...] Bezogen auf die Kunstwerke, als ›energische Gegenstände‹ betrachtet, bedeutet dies, dass mit Kraft bzw. Energie sowohl die konkrete Beschaffenheit des Werks (sein statisches Element) als auch die potentielle, ja, virtuelle Wirkungsmöglichkeit desselben (das dynamische) gemeint sind – und nicht zuletzt die selbsttätige Freiheit der ästhetischen Erfahrung.« Dies bezieht er dann, recht weit entfernt vom Text, auf die ethische Funktion der Kunst: »Die energische Kraft der Kunst erweckt im Menschen schließlich den Sinn für seine Bestimmung. Sie weist ihm den Weg zu einer besonderen Form von Tugend als einer frei gewählten Grundhaltung, die mit Tätigkeit gleichzusetzen ist. [...] Solch energische Lebensführung im Zeichen der Tugend als virtus lässt sich zunächst einmal nicht auf einen festgefügten Katalog von bürgerlichen Tugenden, Pflichtenkreisen oder göttlichen Geboten reduzieren, sondern sie erweist sich als eine verbindliche Bereitschaft, allgemein tätig zu sein und damit an der unendlichen Schöpfungskraft der Natur teilzuhaben.« Gabbiadini: Energie – Schöne Künste – Tugend, S. 136–137. Tatsächlich hat eine freie Selbsttätigkeit in Sulzers Modell der ästhetischen Kraft wie auch der ethischen Formierung keinen festen Platz. Darauf verweist schon Riedel, wenn er die Differenz zwischen Sulzers und Schillers Konzepten einer ästhetischen Erziehung pointiert herausstellt, Kunst als »psychogogisches Herrschaftsmittel«, das, anders als Schiller, kein Moment der Freiheit vorsieht. Riedel: Erkennen und Empfinden,
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Die Selbstwahrnehmung führt zunächst zu der Annahme, dass wir bereits eine in uns aktive Kraft mitbringen, die sich zwar auch mit sich selbst beschäftigt, die vor allem aber auf anderes zu wirken versucht. Denn anders als in Leibniz’ Monadologie ist dieses beständige innere Streben einer Außenwelt ausgesetzt, die der seelischen Betätigung vielfältige Widerstände entgegensetzt. Äußere Kräfte kollidieren mit der Kraft einer Seele, die »sich einigen Eindrücken widersetzt, andere hingegen vermittelst einer gewissen Harmonie aufnimmt«.124 Zu beobachten ist also ein »Wirken und Zurückwirken dieser beyden Kräfte«, mithin der strebenden Seelentätigkeit wie auch der materiellen Kräfte von Druck und Stoß. Wenn erst aus der Interaktion innerer und äußerer Kraft dasjenige »entstehe«, was sich »Empfindung« nennen lasse,125 dann ergeben sich die Wirkungen von Kunstwerken wohl erst aus dem Zusammentreffen von mechanisch gedachten Kräften der Kunst und den selbst schon tätigen Kräften der Seele. Wenn Sulzer in seinem Aufsatz Von der Kraft (Energie) sowohl von den »Triebwerken der Seele« als auch von den »Triebwerken der Kunst« spricht, dann sind hier offenbar zwei verschiedene Funktionszusammenhänge angesprochen.126 Während die ›Triebwerke der Seele‹ eher die Triebe und Tätigkeiten im Sinn des Leibniz’schen conatus meinen, sehen die ›Triebwerke der Kunst‹ Maschinen ähnlich, die sich mit Newtons Physik beschreiben lassen. In dem Artikel »Aesthetisch (Schöne Künste überhaupt)« der Allgemeinen Theorie, in dem Sulzer mehrere Querverweise auf den Artikel »Kraft« setzt, sind beide Perspektiven zusammengeführt.127 Den Geltungsbereich des Ästhetischen stecken neben der Einbildungskraft und dem Verstand vor allem die »Begehrungskräfte« ab.128 Allerdings sollen die Künste auf die Erregung all jener Leidenschaften und Empfindungen verzichten, die nicht auf moralische Zwecke bezogen sind. Ein wichtiges Kriterium für die Auswahl eines ästhetischen Gegenstands ist neben der »Stärke der durch ihn veranlaßten Empfindung« das Kriterium des »Guten, das durch selbige[s] bewürkt wird«.129 Diese Einschränkung bindet die Ästhetik mit äußerster Konsequenz an die Ethik. Auf Steuerungsmomente und Zielvorgaben kann Sulzers Programm ästhetischer Kraft deshalb an keiner Stelle verzichten. Die Kraft der Kunst mag grundsätzlich in der Möglichkeit der Seelenkräfte liegen, durch äußere Eindrücke bewegt zu werden. Sie erschöpft sich aber keineswegs in einer bloßen Mobilisierung, S. 329. Auf die Notwendigkeit, das Empfindungsvermögen möglichst streng zu leiten und zu erziehen, verweist auch noch einmal Décultot: Die Schattenseiten der Seele, S. 275. 124 Sulzer: Gedanken über einige Eigenschaften der Seele, S. 353. 125 Sulzer: Gedanken über einige Eigenschaften der Seele, S. 353. 126 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 131 u. 126. 127 Sulzer: Aesthetisch (Schöne Künste überhaupt), S. 22–23. 128 Sulzer: Aesthetisch (Schöne Künste überhaupt), S. 23. 129 Sulzer: Aesthetisch (Schöne Künste überhaupt), S. 23.
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zielt sie doch auf die dadurch bewirkte Stärkung der moralischen Empfindungen. Indem die Künste die »Begierde« für das Gute und »Abscheu« gegen das Böse erzeugen, regen sie die Seele zur richtigen und keineswegs zu irgendeiner beliebigen Tätigkeit an.130 Die »Triebwerke der Kunst«,131 so ließe sich zusammenfassen, machen aus regen, gerne pausenlos tätigen Seelen auch in die richtige Richtung, mithin ethisch strebende Seelen. In Sulzers Ausrichtung der ästhetischen Kraft auf eine derartige ethische Formierung wird der Stand einer Diskussion kenntlich, die um 1770 bereits viele Stimmen und Positionen versammelt. Sulzer nimmt die Herausforderung einer philosophischen Ästhetik an, die sich mit Baumgarten als Lehre von den unteren Seelenkräften und den dort produzierten ›dunklen‹ Vorstellungen etabliert hat. Wie für Baumgarten bildet für Sulzer das alte Manual rhetorischer Figuren und Verfahren immer dort einen Leitfaden, wo die Leistungen der Dichtung beschrieben werden sollen. Beim Vergleich der Kraft der Künste mit den mechanischen Gesetzen der Materie evoziert Sulzer zugleich Bilder einer Natur, die vor allem von der Schwerkraft regiert zu sein scheint. Auch wenn er in seiner Seelenlehre Leibniz’ Vorstellung von einem in die Seele gelegten eigentätigen Trieb oder Streben (conatus) aufgreift und in Bezug auf die Künste ab und an von »Leben und Kraft« spricht,132 so evoziert er doch selten Bilder einer lebendigen, mithin selbstbewegten Natur. Den Vorstellungsbereich schwerer Körper, die in kontingenten Kollisionen aufeinander reagieren, überschreitet erst Herder, der in seinen Reflexionen auf die Kraft wie auch die Energie der Dichtung Kennzeichen des Lebendigen wie Selbstbewegung und Formgenese in den Horizont einer poetologischen Konzeption der Kraft stellt.
Dynamik: ›Abwechselung von Formen und Gestalten‹ (Herder 1768–1791) Noch während Sulzer an der Kompilation und lexikalischen Fixierung einer auf Einprägung und Verstärkung ausgerichteten Dichtungslehre arbeitet, entwirft Johann Gottfried Herder in seinen frühen dichtungstheoretischen Versuchen mithilfe der Begriffe Kraft und Energie eine literarische Ästhetik, die sich jenseits der engen Grenzen einer rationalistischen, allein auf ethische Zielsetzungen verpflichteten Dichtungslehre ansiedelt. Herders Konzeptualisierungen von Energie und Kraft der Dichtung gehen Hand in Hand mit Beschreibungen einer Natur, die nicht in den Termini der Newton’schen Mechanik gefasst werden können. Dies zeigt sich sowohl in den metaphysischen und psychologisch-anthropologischen Kraftmodellen als auch in dem Interesse an einem 130 Sulzer: Kraft, S. 605. 131 Sulzer: Von der Kraft (Energie), S. 126. 132 Sulzer: Allegorie, S. 28.
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außerordentlich breiten Spektrum natürlicher Phänomene, die über die Mechanik undurchdringlicher Körper hinausreichen. Vor diesem Hintergrund erhält die bei Sulzer leitende Vorstellung von einer Seelenmechanik der Künste grundlegend neue Züge. Denn statt der nachdrücklichen Einprägung wird die Dichtung, die Herder aus dem Kreis der Kunstformen heraushebt, zum Medium einer sich selbst erhaltenden und tendenziell auch sich selbst genügenden Tätigkeit. Wenn im Folgenden Zusammenhänge zwischen Herders poetolo gischen und seinen naturphilosophischen Konzepten von Energie und Kraft rekonstruiert werden sollen, dann auch, um die umstrittene Rolle des Herder’schen Kraftdenkens im ideengeschichtlichen Panorama psychologischer, physikalischer und metaphysischer Kraftbegriffe zu präzisieren.133 Wie ich zeigen möchte, erarbeitet sich Herder bereits früh recht eigenwillige Begriffe von Kraft und Energie, die in Variationen dann auch seiner Seelenlehre, seiner Metaphysik wie auch seiner Naturphilosophie zugrunde liegen. Dabei wird sich seine produktive Rezeption der Leibniz’schen inneren Kraft als Weg erweisen, auf dem er den physikalischen, auf eine reine Bewegungsmechanik verengten Kraftbegriff erweitern und zur zentralen Kategorie der Natur- wie auch der Geschichtsdeutung ausbauen kann. Ihren Ausgangspunkt haben Herders Kraftreflexionen in den früh publizierten Kritischen Wäldern, in denen er sich mit zeitgenössischen kunst- und literaturtheoretischen Positionen befasst. Im Ersten Kritischen Wäldchen von 1768 greift Herder den im Zentrum des Lessing’schen Laokoon stehenden Wett-
133 Nisbets etwas harsches Urteil über Herders allzu diffusen Kraftbegriff stand einer genaueren Auseinandersetzung wohl lange im Weg: »Herder’s conception of ›Kraft‹ [...] has no scientific status whatsoever, and is part of his own private metaphysic«. Hugh B. Nisbet: Herder and Scientific Thought. Cambridge 1970, S. 9. Robert Norton hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich Herders Gebrauch des Kraftbegriffs genau darin aber gar nicht von dem seiner Zeitgenossen unterscheidet: »although Kraft was an essential component of most ontological and psychological theories of the Enlightenment, most of the philosophers who used it also struggled to find an adequate determination of its meaning«. Robert E. Norton: Herder’s Concept of ›Kraft‹ and the Psychology of Semiotic Functions. In: Wulf Koepke (Hg.): Johann Gottfried Herder. Academic Disciplines and the Pursuit of Knowledge. Columbia, SC 1997, S. 22–31, hier: S. 24. Eine schlüssige Darstellung der Kraft als naturphilosophische Kategorie findet sich bei Nigel DeSouza: Herder’s Theory of Organic Forces and its Kantian Origins. In: Daniel O. Dahlstrom (Hg.): Kant and his German Contemporaries. Volume 2: Aesthetics, History, Politics, and Religion. Cambridge 2018, S. 109–127. Tatsächlich lässt sich auch ohne den Rekurs auf die Kantischen Urprünge zeigen, wie konsistent Herder sein Kraftdenken auf den Feldern der Poetik, der Psychologie und Erkenntnistheorie, der Theologie und Metaphysik sowie der Natur- und Geschichtsphilosophie ausformuliert. In allen diesen Kontexten macht Herder sich allerdings eher Leibniz’ Vorstellungen von einer den Körpern eingepflanzten vis insita sowie von der sich im Universum erhaltenden Summe der Kraft zunutze, um sein Bild einer von Kräften durchwirkten, in ständiger Tätigkeit begriffenen Natur zu entwerfen.
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streit der Künste auf. Dabei reformuliert er Lessings Unterscheidung zwischen Malerei als Raumkunst und Poesie als Zeitkunst in den Termini ›Werk‹ und ›Energie‹: »Jedes Werk der bildenden Kunst ist, wenn wir uns die Einteilung des Aristoteles gefallen lassen, ein Werk und keine Energie. Es ist in allen seinen Teilen auf einmal da: sein Wesen besteht nicht in der Veränderung, in der Folge aufeinander, sondern im Koexistieren nacheinander«.134 Über Dichtung, Musik und Tanz hingegen heißt es: Die schönen Künste und Wissenschaften dagegen, die durch die Zeit und Abwechselung der Augenblicke wirken, die Energie zum Wesen haben, müssen keinen einzelnen Augenblick ein Höchstes liefern, nie auch unsere Seele in das augenblicklich Höchste verschlingen wollen; denn sonst wird eben die Annehmlichkeit gestört, die in der Folge, in der Verbindung und Abwechselung dieser Augenblicke und Handlungen beruhet, und jeden Augenblick nur also als ein Glied der Kette, nicht weiter nutzet.135 Aus dieser Beschreibung leitet Herder seine systematische Unterscheidung zwischen den einzelnen Kunstformen ab: »wir reden nicht mehr, von Bild hauerei und Poesie, sondern von Künsten überhaupt, die Werke liefern, oder durch eine [ununterbrochene] Energie wirken«.136 Dichtung, Musik und Tanzkunst realisieren sich als Verbindung von Elementen, die, so weit ist Lessings Argument bekannt, in einem zeitlichen Nacheinander arrangiert werden müssen. Aus Herders Sicht zeichnen sich diese temporal organisierten Kunstformen durch eine Energie aus, die sich der lückenlosen Verkettung nicht gleichförmiger, sondern verschiedener Elemente verdankt. Wenn keines dieser Teilmomente so extrem sein darf, dass es aus dem Ablauf herausragt und ihn unterbricht, dann verfahren die energetischen Künste als wohlausgewogener Wechsel. Zur Rechtfertigung seines Begriffsgebrauchs verweist Herder auf Aristoteles, der in der Nikomachischen Ethik zwischen ergon und energeia, Werk und Tätigkeit, unterscheidet.137 Der Rekurs auf die aristotelische Unterscheidung zwischen ergon und energeia muss insofern verwundern, als Herder bei seiner 134 Herder: Kritische Wäldchen, Herder FA 2, S. 135. 135 Herder: Kritische Wäldchen, Herder FA 2, S. 136. 136 Herder: Kritische Wäldchen, Herder FA 2, S. 138. 137 Die Übertragung dieser in der Ethik besprochenen Kategorien auf die Ästhetik verdankt sich ebenfalls keinem Einfall Herders. Vielmehr bezieht sich Herder auf die Termini work und energy, die James Harris, ein Neffe Shaftesburys, in seinem Discourse on Music, Painting and Poetry vorschlägt. Harris strengt in dieser 1744 publizierten Abhandlung noch einen Wettstreit im traditionellen Sinn an. Dabei unterliegt die Dichtung der Malerei, weil sie mit »artificial« und nicht mit »natural signs« arbeitet, weil sie nicht allgemeinverständlich ist, da sie sich nur an die Sprecher der jeweiligen Sprache richten kann, und weil sie in der Nachahmung
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Bestimmung einer Energie der Dichtung die rhetorische Bedeutungstradition der mit der enargeia verschwisterten energeia zunächst vollständig auszublenden scheint. Mit Energie umschreibt Herder ja das Kennzeichen der Dichtung, sich in der Zeit zu realisieren und gerade nicht ihre Fähigkeit, lebhafte Bilder sprachlich zu evozieren. Dieser Primat des actus, mithin des Tätigen und Voranschreitenden bildet vielmehr eine besondere Herausforderung für die dichterische Evokation von Bildlichkeit. Denn, so behauptet Herder gegen Lessings Verabschiedung des ut pictura poesis-Gebots, auch die Dichtung könne Gemälde entwerfen. Sie tut dies aber im Modus der Tätigkeit, mit Herder eben der Energie, indem sie einzelne Elemente immer wieder aufgreift und so den Effekt des Gleichzeitigen im linear Ablaufenden erzeugt. Herder erläutert: Exempel mögen mich erklären. Der zornige Apollo steigt vom Olympus: ergrimmt: Köcher und Bogen auf der Schulter – ist das Bild aus? Nein! Es rollt fort, aber um die schon gelieferten Züge uns im Auge zu erhalten, scheint es die folgenden bloß aus den vorigen zu entwickeln. Köcher und Bogen auf der Schulter? Ja! Die Pfeile erklangen auf der Schulter. Ergrimmt stieg Apollo nieder? Ja! Sie erklangen auf der Schulter des Zornigen! Er stieg nieder – er ging? Sie klangen also mit jedem Tritte des Ganges. Nun ist Homer da, wo er ausging: er schritt fort, indem er zurücktrat: er hat jeden vergangnen Zug erneuert: noch haben wir das Ganze vor Augen. Auf eben die Art rollet er sein Bild weiter.138 Obwohl sich Herder an dieser Stelle keinen ausdrücklichen Hinweis auf die Rhetorik des Aristoteles erlaubt, führt er wohl doch eine verdeckte Auseinandersetzung mit der energeia und ihrer Auslegungstradition. Denn wie Aristoteles greift auch Herder Homer-Passagen auf, in denen Metaphern durch die Evokation von Tätigkeit und Lebendigkeit, mithin von den Dingen unterlegten menschlich anmutenden Begierden und Affekten erzeugt werden. Zugleich versucht Herder sich klarzumachen, auf welche Weise die energisch voranschreitende Dichtung überhaupt etwas deutlich, also den später formulierten Anforderungen der enargeia genügend, vor Augen stellen kann. Seine Lösung setzt, so gibt die Rede vom weiter rollenden oder weiter gerollten Bild zu verstehen, auf Wiederholungsstrukturen. Noch einmal über Homer heißt es: »Sein Gemälde ist ein Kreisbild, wo ein Zug in den andern fällt, wo das Vorige zurück kehrt, um das Folgende zu entwickeln«.139 Dichtung kann dann Bilder im Sinne großer Gemälde erzeugen, wenn sie sich im Voranschreiten auf sich der Wirklichkeit auf den Umweg der sprachlichen Beschreibung angewiesen ist. James Harris: Discourse on Music, Painting and Poetry. In: ders.: Three Treatises. London 1744, S. 49–103. 138 Herder: Kritische Wäldchen, Herder FA 2, S. 188. 139 Herder: Kritische Wäldchen, Herder FA 2, S. 188.
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selbst zurückbiegt, sich in ihren zentralen Elementen und Motiven wiederholt und das zuerst nur vage Skizzierte mit immer neuen Merkmalen anreichert. Wenn Herder also von der Energie der Dichtung spricht, dann präzisiert er Lessings These von der Dichtung als einer der Sukzession verpflichteten Zeitkunst durch die Beschreibung ihrer besonderen energetischen Verdichtungsund Intensivierungsmöglichkeiten. Es überrascht wohl kaum, dass Herder in diesem Zusammenhang auch an Konzepte einer nachdrücklichen Rede und insbesondere der nachdrücklichen Gleichnisse anknüpft, wie sie bei Bodmer, Breitinger und Sulzer diskutiert werden. Breitinger hatte für die Wirkungen nachdrücklicher Rede selbst ein bemerkenswert eindrückliches Bild gefunden: »Ein Gedancke«, so erklärt Breitinger in seiner Erläuterung nachdrücklicher Gleichnisse, »setzet sich durch eine gedoppelte Vorstellung in dem Gemüthe desto tiefer und fester, wie ein Nagel durch einen verdoppelten Schlag desto tiefer in das Holz hineingeht«.140 Herder greift diese Vorstellung auf, wendet sie aber in einer Weise, die mechanische Vorstellungen von Schlag, Stoß oder Druck in den Hintergrund treten lässt. So heißt es bei Herder über Homers zusammengesetzte Bilder: »er webt wiederholende Züge ein, die zum zweitenmal das Bild tiefer einprägen, eindrücken, und einen Stachel in der Seele zurücklassen«.141 Zwar gehört die Rede von der Prägung und dem verstärkten Eindrücken von Vorstellungen durchaus noch in die Emphase-Programme der Rhetorik, aus denen auch Sulzer seine Vorstellung von einer einprägenden Kraft (oder Energie) der Kunst bezieht.142 Anders als Breitinger oder Sulzer assoziiert Herder die Intensivierung durch Wiederholung aber nicht mit einer erhöhten Schlagkraft oder einer durch Häufung erzielten Steigerung des Gewichts. Vielmehr evoziert er die physiologische Vorstellung von einem in der Seele versenkten Stachel, der lebendige – und das heißt für Herder: reizbare – Gemüter zur anhaltenden Aktivität treibt. An die Stelle des Einzelworts, das wie ein Nagel in die Wand zu treiben sei, tritt in Herders Auslegung die Vorstellung von einer kontinuierlichen Rotationsbewegung. Die auf »Gang« programmierte »fortschreitende Manier« Homers verdanke sich, so sieht es Herder, immer wiederkehrender Reizmomente: »er weckte jede zur rechter Zeit wiederholend wieder auf: das
140 Breitinger: Critische Abhandlung, S. 68. Nachdrückliche Gleichnisse und Metaphern verfahren durch die Ergänzung oder Ersetzung eines Wortes mit oder durch andere, um der Rede ihre besonders eindringliche Wirkung zu verschaffen. Indem die bildliche Rede das Gemüt mit einem Reichtum an Vorstellungen anfülle, sorge sie für die besondere Einprägsamkeit des Gesagten. Diese luxurierende Bildlichkeit mache sich im Gemüt als Kraft, Gewicht und Nachdruck bemerkbar. 141 Herder: Kritische Wäldchen, Herder FA 2, S. 189. 142 Zum Konzept des Nachdrucks und des nachdrücklichen Stils vgl. Cornelia Zumbusch: ›erhöhte Kraft‹.
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Bild rollet zirkelnd weiter«.143 Die Energie der Dichtung liegt entsprechend in ihrer nicht abreißenden, immer wieder erneuerten Aktivierung der Einbildungskraft. Die hervorragende Bewegungsform der Dichtung folgt dem zugleich voranrollenden wie auch kreisend in sich zurückkehrenden Rad. In den kreisförmig wiederkehrenden Bildern, so bemerkt Herder am Ende des 15. Teilstücks, lasse sich auch die Ähnlichkeit der Dichtung zur Tonkunst sehen. Denn die besondere »Energie der Manier«, wie sie sich bei Homer zeige, begegne auch in der Eigenart der Musik, »mittelst jeden Augenblick schwindender, aber wiederkommender Töne das Ganze eines Eindrucks zu liefern«.144 Das Muster energetischer Künste bietet für Herder nicht das Einhämmern von Leitsätzen durch Wortwiederholungen, sondern das Auf- und Abschwellen von sich wiederholenden Ton-, Wort- oder Bildfolgen. Dies führt zu einer Dichtungsauffassung, die gerade auf eine durch das »Gehen und Kommen« von Zeichen und Vorstellungen erzeugte »Schnelligkeit« setzt, mit der die Dichtung, so schließt Herder mit einem überraschenden Neologismus, sich »energesieret«.145 Statt sich einen von Breitinger so genannten »Zusatz an Kraft«146 zu verschaffen, lädt sich das Sprachkunstwerk mit Figuren der Wiederholung gleichsam energetisch auf. Damit ist Herders Argumentation aber noch nicht am Ende. Während Sulzer bis zuletzt ratlos bleibt, ob besser von Energie als von Kraft zu sprechen sei, und selbst keine entsprechend semantische Unterscheidung vornimmt, schlägt Herder eine klare Aufteilung zwischen energischen Künsten und einer für die energische Dichtung noch einmal eigens reservierten Kraft vor. Weil auch die Musik und der Tanz voranschreitende und damit gemäß der Herder’schen Definition energische Kunstformen sind, muss er nach einem weiteren Differenzkriterium suchen. Die Abgrenzung von der Musik führt im 16. Teilstück des Ersten Kritischen Wäldchens zum kategorialen Neuansatz, der zugleich den Rahmen des Vergleichs der Künste sprengt. Die Poesie sei mit anderen Kunstformen schlechthin nicht zu vergleichen, weil sie mit sprachlichen, und das heißt, mit arbiträren Zeichen operiert. Hier greift Herder den von Lessing im 17. Stück der Laokoon-Schrift thematisierten Umstand auf, dass sich die Dichtung willkürlicher statt natürlicher Zeichen bedient. Lessing hat aus dieser Tatsache sein Verdikt über die Beschreibungskunst abgeleitet, die er in den Bereich der Prosa verweist. Der Naturforscher könne den Enzian zwar bis in seine kleinsten Einzelheiten schildern, aus dieser Aufzählung von Merkmalen werde sich aber keine lebendig wirkende Täuschung und deshalb
143 Herder: Kritische Wäldchen, Herder FA 2, S. 189. 144 Herder: Kritische Wäldchen, Herder FA 2, S. 190. 145 Herder: Kritische Wäldchen, Herder FA 2, S. 195. 146 So Breitingers Formulierung zu den nachdrücklichen Gleichnissen. Breitinger: Critische Abhandlung, S. 66–67.
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auch keine Poesie ergeben.147 Die Dichtung als Zeitkunst habe sich hingegen auf die Darstellung von Handlung zu konzentrieren, statt Minderes bei der Beschreibung von Dingen im Raum zu leisten. Herder sieht das anders. Und mit seiner These vom zirkulären Rückbezug einer progredierenden Rede, die Einzelheiten zu einem gleichsam energetisierten Ganzen verbinden kann, hatte er dafür auch schon das zentrale Argument geliefert. Um auf dieser Grundlage die besonderen Leistungen der Poesie zu erfassen, bringt Herder einen weiteren Begriff ins Spiel, der es ihm erlauben soll, Lessings Unterscheidung zwischen Zeit und Raum zu übersteigen:148 Ließe sich nicht das Wesen der Poesie auch auf einen solchen Hauptbegriff bringen, da sie durch willkürliche Zeichen, durch den Sinn der Worte auf die Seele wirkt? Wir wollen das Mittel dieser Wirkung Kraft nennen: und so, wie in der Metaphysik Raum, Zeit und Kraft drei Grundbegriffe sind, wie die mathematischen Wissenschaften sich alle auf einen dieser Begriffe zurückführen lassen; so wollen wir auch in der Theorie der schönen Wissenschaften und Künste sagen: die Künste, die Werke liefern, wirken im Raume; die Künste, die durch Energie wirken, in der Zeitfolge; die [...] Poesie, wirkt durch Kraft.149 Herder sieht das entscheidende Charakteristikum der Dichtung darin, dass wir die sinnlich wahrgenommenen Sprachzeichen mit dem Verstehen eines Sinns beantworten, der wiederum auf die enger mit dem Sinnlichen verbundenen Seelenkräfte, insbesondere auf die Einbildungskraft, einwirkt. Oder wie es im 18. Teilstück noch einmal zusammenfassend heißt: Die Dichtung vermag es, »durch den Sinn der Worte auf die untern Seelenkräfte, vorzüglich die Phantasie zu wirken«.150 Wenn Herder ›Kraft‹ sagt, dann meint er weder die in der lateinischen Rhetorik mit vis bezeichneten Extremwerte der Überwältigung und des außergewöhnlich Mitreißenden noch die von Breitinger oder Sulzer beschriebene Möglichkeit der Künste, Wahrheiten besonders nachdrücklich
147 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: ders.: Werke, hg. v. Herbert Göpfert, Bd. 6. Darmstadt 1996, S. 7–187, hier: S. 110–111. 148 Das Vierte Kritische Wäldchen revidiert diese Unterscheidung, indem es die Zusammenfassung der Künste unter einer Analyse des Schönen leistet. Hier schlägt Herder allerdings eine Differenzierung der Künste nach den jeweils angesprochenen Sinnen vor, wie sie auf die Baumgarten-Kritik von 1767 zurückgeht und dann auch die Sprachursprungsschrift prägt. Zu Herders Auseinandersetzung mit Baumgarten vgl. Hans Dietrich Irmscher: Zur Ästhetik des jungen Herder. In: Gerhard Sauder (Hg.): Johann Gottfried Herder 1744–1803. Hamburg 1987, S. 43–76. 149 Herder: Kritische Wäldchen, Herder FA 2, S. 194. 150 Herder: Kritische Wäldchen, Herder FA 2, S. 215.
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einzuprägen. Vielmehr beschreibt er mit ›Kraft‹ den Normalfall der dichterischen Aktivierung der Phantasie. Dichtung beruht auf der Arbeit der Phantasie, die sich wiederum eine besondere Kraft der Sprache zunutze macht: dies sei »die Kraft, die dem Innern der Worte anklebt, die Zauberkraft, die auf meine Seele durch die Phantasie und Erinnerung wirkt: sie ist das Wesen der Poesie«.151 Aber warum nennt Herder diese Transformationsleistung von sprachlichen Zeichen in Vorstellungen Kraft und nicht, wie es die rhetorische enargeia/ energeia-Lehre nahelegen würde, Energie? Eine Antwort bietet ein Referenztext von James Harris, den Herder im Ersten Kritischen Wäldchen zitiert und für seine eigenen Zwecke neu verwendet. In seinem ersten treatise mit dem allgemeinen Titel Concerning Art widmet sich Harris dem Problem der Kunst im Allgemeinen, die er über den Begriff power zu bestimmen versucht. Dabei grenzt er power und energy streng voneinander ab: »[...] Faculties, Powers, Capacities (call them as you will) are in themselves […] obscure and hidden things. On the contrary, Energies and Operations lie open to the Senses, and cannot but be observed«.152 Diese Passage folgt sehr genau den Begriffsdefinitionen von dynamis und energeia, wie sie seit Aristoteles’ Schrift Über die Seele im Nachdenken über natürliche Kräfte tradiert worden waren. Power oder dynamis ist ein Vermögen oder eine Fähigkeit, energy oder energeia ist deren jeweilige Aktualisierung oder Realisierung. Nicht zu überlesen ist in Harris’ Bestimmung der ›faculties, powers, capacities‹ der Umstand, dass power versteckt und dunkel sei (›hidden and obscure‹), während sich die Aktivität der energy den Sinnen zeige (›lie open to the senses‹). Die Ursachen sind dunkel, nur ihre Wirkungen lassen sich beobachten – diese Formel ist ebenfalls aus der (Meta-)Physik der Kraft bekannt. Wenn Harris die Kunst zuletzt als »a power of acting« aber »without actually operating«153 bezeichnet, dann verlegt er ihr Wesen in einen den Sinnen entzogenen Bereich der dynamis als jederzeit realisierbarer Möglichkeit.
151 Herder: Kritische Wäldchen, Herder FA 2, S. 195. Gérard Raulet vertritt die These, dass Herder im Kritischen Wäldchen mit einem metaphysischen Kraftbegriff operiert, der »immer noch in vorkritischen Kategorien« gedacht sei. Gérard Raulet: Die Kunst, ›an die Seele zu gehen‹ – Kraft und energeia in Herders erstem Kritischen Wäldchen. In: Élisabeth Décultot/ Gerhard Lauer (Hg.): Herder und die Künste. Ästhetik, Kunsttheorie, Kunstgeschichte. Heidelberg 2013, S. 33–62, hier: S. 53. Hetzel argumentiert eher reduktiv, wenn er Herders Kraftdenken von dessen Naturphilosophie ablöst und allein als sprachtheoretisches Problem zu erfassen versucht. Andreas Hetzel: Kraft und Struktur. Spuren rhetorischen Sprachdenkens Herders Vom Geist der ebräischen Poesie. In: Ralf Simon (Hg.): Herders Rhetoriken im Kontext des 18. Jahrhunderts. Heidelberg 2014, S. 275–291. 152 James Harris: Concerning Art. A Dialogue. In: ders.: Three Treatises. London 1744, S. 1–45, hier: S. 13. 153 Harris: Concerning Art, S. 17.
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Herder löst nun Harris’ Definition aus ihrem generalisierenden Kontext und reserviert den Begriff der Kraft für die Poesie. Die Möglichkeit der Kunst ist hier die besondere Möglichkeit der Dichtung. Zugleich entkleidet Herder die bei Harris als verborgen und dunkel annoncierte Kraft ihrer mystischen Anklänge und unterzieht sie einer Begriffskritik, die an Newtons Unterscheidung zwischen Ursache und Kraft geschult ist. So gibt Herder gar nicht vor, auf das Wirken einer verborgenen Kraft gestoßen zu sein. Stattdessen legt er mit definitorischem Gestus offen, dass er den Begriff der Kraft versuchsweise einführt: »Wir wollen das Mittel dieser Wirkung Kraft nennen«.154 In der Rede vom Mittel, mit der Herder auf den Vermittlungscharakter der Kraft hinweist, wird die Vorstellung von der Kraft als Grund und Ursache einer Veränderung verschoben. Denn wenn Kraft und Sinn stellenweise synonym verwendet werden, dann ist die Kraft eher auf der Seite des Effekts angesiedelt: »Die Seele muß nicht das Vehikulum der Kraft, die Worte, sondern die Kraft selbst, den Sinn, empfinden«.155 Kraft als der von den Worten transportierte Sinn bezeichnet so gefasst eine Wirkung und keinen absoluten Grund. Eingespannt in einen komplexen Wirkungszusammenhang erweist sich Kraft bei Herder als ein Beziehungsbegriff, der ein Übertragungsgeschehen reguliert. Ein sinnliches Zeichen erzeugt Sinn, der seinerseits die Phantasie zur Bildung von Vorstellungen anregt, und dieser Vorgang braucht Zeit: »Der Dichter [wirkt] durch die geistige Kraft der Worte während der Sukzession, bis zur vollkommenen Täuschung der Seele«.156 Herders Kraft der Dichtung fällt deshalb weder mit einem spezifischen Vermögen wie etwa der Einbildungskraft, noch mit einer Kraft der Seele oder einer verallgemeinerten Kraft des Menschen zusammen.157 Vielmehr bezeichnet Kraft als relationale Kategorie den Wirkungszusammenhang von Wort und Sinn, aus dem auf rätselhafte, ja magisch anmutende Weise innere Bilder hervorgehen können. Die Kraft der Dichtung ist demnach eine Kraft der Verwandlung von sinnlichen Zeichen in Vorstellungskomplexe, die zwar im nur eingeschränkt beobachtbaren Dunkeln des menschlichen Gemüts agiert, die sich aber, insofern sie sich prozessual vollzieht, von der offen zutage liegenden Energie der Dichtung nicht trennen lässt. In dieser Konzeptualisierung einer von der Dichtung angetriebenen, gleichsam energetisierten Ein bildungskraft unterhält Herders poetologischer Kraftbegriff, dies wird sich zuletzt erweisen, die engste Verbindung zur Natur. Eine Brücke zwischen 154 Herder: Kritische Wäldchen, Herder FA 2, S. 194. 155 Herder: Kritische Wäldchen, Herder FA 2, S. 195. 156 Herder: Kritische Wäldchen, Herder FA 2, S. 215. 157 Für Ulrike Zeuch ist ›Kraft‹ deshalb ein Verlegenheitsbegriff, der in der Anthropologie der Spätaufklärung in dem Maße attraktiv wird, in dem »man über das, was die menschliche Seele eint, kaum mehr Bestimmtes sagen kann«. Ulrike Zeuch: ›Kraft‹ als Inbegriff mensch licher Seelentätigkeit in der Anthropologie der Spätaufklärung (Herder und Moritz). In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 43 (1999), S. 99–122, hier: S. 99.
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Dichtungs- und Naturtheorie bilden die in den 1770er und 1780er Jahren angestellten Überlegungen zur Seelenlehre und zur Metaphysik, in denen Herder den Begriff der Kraft einer genauen Prüfung unterzieht. Versuche über die Kraft: Psychologie, Theologie, Metaphysik
Wo Herder über den Begriff der Kraft nachdenkt, dort wendet er sich keineswegs allein an Newton. Vielmehr entfaltet er in einer Reihe von Texten und Textentwürfen die heterogene philosophische Provenienz des Kraftbegriffs, um ihn für seine Zwecke brauchbar zu machen. Unter den schematischen Entwürfen zu seiner über mehrere Dekaden hinweg verfolgten Geschichts- und Naturphilosophie findet sich ein Versuch über die Kräfte: nach Hume, Leibniz, Spinoza, in dem sich Herder den Grundbegriff seiner natur- und geschichts philosophischen Untersuchung zurechtzulegen versucht.158 Kraft, so referiert Herder zunächst Humes kulturanthropologischen Einsatz, ist grundsätzlich das, worauf Menschen schließen, wenn sie irgendwo in der Welt eine Wirkung wahrnehmen. Während »die Orientalen überall Gott« sehen, unterstellen die »Wilde[n] überall Kräfte«.159 Das Problem dieser menschheitsgeschichtlich frühen Auffassung von Kraft sieht Herder weniger in einer anthropomorphen Belebung der Welt, als vielmehr in der Tatsache, dass sich dieser Verknüpfung von Wirkung und Kraft die kontinuierliche Existenz von Kräften notwendig entzieht: »wo keine Wirkung, da für uns keine Kraft, wenn sie gleich schlafend ist«.160 Für die ›Wilden‹ gibt es mithin keine ruhenden Kräfte. Hier greift der Verweis auf Leibniz, der ein »immer wirkendes conatus«, mithin ein Streben angenommen habe, das als »innerliche Determination immer und ewig« sei.161 Anders als Leibniz, der die Monaden als Kraftpunkte eines solchen Strebens allein intrinsischen Trieben folgen lässt, versetzt Herder sie jedoch in eine produktive Interaktion mit den umgebenden Kräften. Ihm scheint diejenige
158 Johann Gottfried Herder: Versuch über die Kräfte: nach Hume, Leibniz, Spinoza. In: ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, Bd. 14. Berlin 1909. Nachdruck. Hildesheim 1967, S. 605–608. 159 Herder: Versuch über die Kräfte, S. 605. 160 Herder: Versuch über die Kräfte, S. 605. 161 Herder: Versuch über die Kräfte, S. 605–606. Zu Herder und Leibniz, unter anderem mit einer Auflistung der Stellen, an denen sich Herder auf Leibniz bezieht, siehe Beate Monika Dreike: Herders Naturauffassung in ihrer Beeinflussung durch Leibniz’ Philosophie. Wiesbaden 1973. Auf die zentrale Bedeutung des Leibniz’schen Denkens für Herder, der zuvor meist als Spinozist behandelt worden war, hat Günter Arnold hingewiesen. Günter Arnold: »... der größte Mann den Deutschland in den neuern Zeiten gehabt« – Herders Verhältnis zu Leibniz. In: Studia Leibnitiana 37 (2/2005), S. 161–185.
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»Kraft die beste, die in sich perdurab[el] – aber Eindrücke annimmt«.162 Als eigenes Wort in der Sache lässt sich wohl der letzte Absatz lesen. Ursprüngliche Kräfte in der Welt: Leben: Licht: Liebe: a) wie bringt eine Kraft die andre hervor: Leben, Leben: b) wie wirkt eine auf die andre: c) wie stärkt sie die andre: Licht: Elektricität: Magnetismus scheint einzig Alles Körperliche Analogie der Seele p., alle Kraft Gottes.163 In diesem Schema entwickelt Herder ein Szenario von Kräften, die nicht allein der eigenen Determination folgen. Stattdessen stehen sie in wechselnden Wirkungszusammenhängen. Sei es in der Trias Leben, Licht und Liebe oder weiter unten in der nur an Naturphänomenen orientierten Reihung Licht, Elektrizität und Magnetismus – der Zusammenhang der Kräfte bildet immer die interpretatorische Matrix. Grundsätzlich ist damit die Annahme formuliert, dass alle Kräfte einander hervorbringen, aufeinander wirken und einander stärken, auch wenn noch im Einzelnen zu erforschen wäre, auf welche Weise dies vonstatten geht. Mit dem in den gedrängten Notizen implizierten Arbeitsprogramm geht Herder über Kants dynamische Materietheorie hinaus und weist auf Schellings Versuch einer Vermittlung zwischen mechanischen und organischen Kräften voraus. Denn anders als es Kants Dualität von anziehenden und abstoßenden Kräften impliziert, sieht Herder die ursprünglichen Kräfte nicht in den mechanischen Gesetzen von Attraktion und Repulsion, sondern in den diffuseren Wirkungsspektren von »Leben«, »Licht« und »Liebe«,164 mit denen die Bereiche der Physik, der Physiologie und der Psyche nicht so sehr auseinandergehalten, als vielmehr ineinander verwoben werden. Gleichgültig also, welche begrifflichen Differenzierungen angelegt werden, so sind doch alle physischen und physikalischen Kräfte in Analogie zu einer göttlichen Kraft zu denken, die ihrerseits gleichbedeutend mit der Seele sei. Diese Annahmen entwickelt Herder in seinem Aufsatz Vom Erkennen und Empfinden in ihrem menschlichen Ursprung und den Gesetzen ihrer Wirkung von 1775 weiter. Bevor er in diesem Text über das Verhältnis der menschlichen Erkenntniskräfte zueinander nachdenkt, klärt er einleitend die epistemischen Grundlagen und damit auch die Grenzen einer jeden philosophischen Rede von der Kraft, die zunächst die Kräfte der Natur zu betreffen scheint. Kraft, davon geht Herder zunächst aus, sei nichts als eine Vorstellung, auf die wir von
162 Herder: Versuch über die Kräfte, S. 607. 163 Herder: Versuch über die Kräfte, S. 608. 164 Herder: Versuch über die Kräfte, S. 608.
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der eigenen körperlichen Erfahrung in der Welt schließen.165 Oder wie er im ersten Satz programmatisch formuliert: In Allem, was wir tote Natur nennen, kennen wir keinen innern Zustand. Wir sprechen täglich das Wort Schwere, Stoß, Fall, Bewegung, Ruhe, Kraft sogar Kraft der Trägheit aus, und wer weiß, was es, inwendig der Sache selbst, bedeute? Je mehr wir indes das große Schauspiel würkender Kräfte in der Natur sinnend ansehn, desto weniger können wir umhin, überall Ähnlichkeit mit uns zu fühlen, alles mit unserer Empfindung zu beleben. Wir sprechen von Würksamkeit und Ruhe, von eigner oder empfangener, von bleibender oder sich fortpflanzender, toter oder lebendiger Kraft völlig aus unserer Seele. Schwere erscheint uns ein Sehnen zum Mittelpunkte, zum Ziel und Ort der Ruhe: Trägheit die kleine Teilruhe auf seinem eignen Mittelpunkte, durch Zusammenhang mit uns selbst: Bewegung ein fremder Trieb, ein mitgeteiltes fortwürkendes Streben, das die Ruhe überwindet, fremder Dinge Ruhe störet, bis es die Seinige wieder findet.166 Herder demaskiert die in der Naturforschung übliche Rede von der Kraft als eine nach der Regel der Analogie erzeugte Metapher, bei deren Bildung man über äußere Vorgänge und Veränderungen nach Maßgabe der eigenen Erfahrungen urteilt. Die Kraft hat ihren Ort also zuallererst in der Psychologie, die sich mit der Natur der menschlichen Empfindungen befasst, und wird von dort mittels einer metaphorischen Übertragung in den Bereich der Naturforschung exportiert. Insofern dem Inneren der Natur das eigene Innere mit seinen lebendigen Strebungen und Neigungen unterlegt wird, ließe sich der Terminus Kraft mit Aristoteles gesprochen als Sonderfall einer mit energeia ausgestatteten, verlebendigenden Metapher auffassen. Aber Herder geht noch weiter. Kraft ist ein Gegenstand der Erfahrung und gehört als solcher in den Bereich der Dichtung und nicht einer Schulphilosophie, die mit abstrakten
165 Diese Vorstellung findet sich in Gehlers Physikalisches Wörterbuch am Ende des 18. Jahrhunderts präzise festgehalten: »Das Wort Kraft drückt im eigentlichen Verstande das aus, was wir in uns fühlen, wenn wir ruhende Körper bewegen, oder bewegte aufhalten wollen. Die Empfindung, die wir alsdann haben, ist jederzeit mit einer Veränderung der Ruhe oder Bewegung des Körpers, auf den wir wirken, begleitet. Wir können uns nicht enthalten, das was in uns ist, für die Ursache dieser Veränderung anzunehmen. Sehen wir nun ähnliche Veränderungen ohne unser Zuthun erfolgen, so sind wir geneigt, eine ähnliche Ursache davon, eine Kraft, außer uns zu vermuthen.« Johann Samuel Traugott Gehler: Kraft. In: ders.: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornemsten Kunstwörter der Naturlehre, Bd. 3. Leipzig 1798, S. 796–819, hier: S. 797. 166 Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden in ihrem menschlichen Ursprung und den Gesetzen ihrer Wirkung, Herder FA 4, S. 329–393, hier: S. 329.
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Begriffen hantiert.167 Deshalb sei nicht nur die Dichtung eine wesentliche Quelle des Wissens über die menschlichen Seelenkräfte; strenggenommen lasse sich über Kräfte auch in der Philosophie nur poetisch sprechen: »So ward Newton in seinem Weltgebäude wider Willen ein Dichter, wie Buffon in seiner Kosmogonie, und Leibniz in seiner prästabilierten Harmonie und Monadenlehre«.168 Seiner eigenen, äußerst suggestiven und wenig systematisch erscheinenden Darstellung hat Herder damit jede Lizenz erteilt. Kernstück der Herder’schen Überlegungen zu den Seelenkräften ist in Vom Erkennen und Empfinden das aus der Anthropologie Albrecht von Hallers übernommene Konzept des Reizes, der lebendige Nervenfasern zur Kontraktion bringt und, beim Nachlassen des Reizes, deren entspannte Ausdehnung erlaubt. Herder lässt die Frage nach einer möglichen Kontinuität zwischen mechanischen und lebendigen Kräften zwar offen, legt aber durchaus nahe, dass sich aus dem mechanischen Dualismus von Anziehen und Abstoßen auch die komplexe Reaktionsweise von Nervenfasern entwickelt habe: »Das gereizte Fäserchen zieht sich zusammen und breitet sich wieder aus; vielleicht [...] das erste glimmende Fünklein zur Empfindung, zu dem sich die tote Materie durch viele Gänge und Stufen des Mechanismus und der Organisation hinaufgeläutert«.169 Der in lebendigen Organismen wirksame Reiz entspricht dem Anstoß, der im Reich der unbelebten Natur die mechanische Bewegung von Körpern verantwortet. Allerdings wird im organischen Zweitakt von Zusammenziehen und Ausbreiten deutlich, dass die Kraftwirkungen in der lebendigen Materie einem gewissen Rhythmus von Störung und darauf reagierender Wiederherstellung unterliegen. Aus dieser Erhaltungstendenz leitet sich die im Ersten Kritischen Wäldchen vermerkte Notwendigkeit zur zyklischen Erneuerung von Reizen ab, wie sie in Herders Lob der über mehrere Verse hinweg entwickelten Bilder hervortritt, in denen Homer gleichsam einen Stachel im Fleisch der Rezipierenden versenke. Zu Herders zentralen Überzeugungen gehört es nun, dass Menschen über ihre Sinne in eine Welt eingebettet sind, von der sie sich schlicht nicht abschließen können: »Überhaupt ist in der Natur nichts geschieden, alles fließt durch 167 Die Kritik an der schulphilosophischen Terminologie der Erkenntnisstufen formuliert Herder etwas später im Text: »Vor solchem Abgrunde dunkler Empfindungen, Kräfte und Reize graut nun unsrer hellen und klaren Philosophie am meisten: sie segnet sich davor, als vor der Hölle unterster Seelenkräfte und mag lieber auf dem Leibnitzischen Schachbrett mit einigen tauben Wörtern und Klassifikationen von dunklen und klaren, deutlichen und verworrenen Ideen [...] spielen«. Herder: Vom Erkennen und Empfinden, Herder FA 4, S. 340. 168 Herder: Vom Erkennen und Empfinden, Herder FA 4, S. 330. Wenig später bekennt Herder, er »glaube übrigens, daß Homer und Sophokles, Dante, Shakespear und Klopstock der Psychologie und Menschenkenntnis mehr Stoff geliefert haben, als selbst die Aristoteles und Leibnitze aller Völker und Zeiten.« Herder: Vom Erkennen und Empfinden, Herder FA 4, S. 331. 169 Herder: Vom Erkennen und Empfinden, Herder FA 4, S. 331.
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unmerkliche Übergänge auf- und ineinander; und gewiß, was Leben in der Schöpfung ist, ist in allen Gestalten, Formen und Kanälen nur Ein Geist, Eine Flamme«.170 Alle Formen des Lebendigen sind Umformungen eines mit sich einigen ›Geistes‹, der sich dennoch in ständiger Produktivität zu entäußern scheint. Die erläuternde Bebilderung dieses sich materialisierenden Geistes mit einer Flamme werden Schelling und Hardenberg aufgreifen. Wie sich in Vom Erkennen und Empfinden andeutet, ist Herders Seelenlehre, die Kontinuitäten und Wechselverhältnisse zwischen Mechanischem und Organischem wie auch zwischen Leben und Geist zu erfassen versucht, von einem metaphysischen Kraftbegriff getragen. Diesen, trotz aller Leibniz-Kritik doch stark von Leibniz’ Monadenlehre inspirierten Kraftbegriff lässt Herder von den Protagonisten seines 1787 zuerst publizierten Lehrdialogs Gott. Einige Gespräche ausführen. Wie Herder dort bereits in der Vorrede mitteilt, habe man es mit der Ausarbeitung früher Versuche zu tun, die sich mit dem Dreigestirn Spinoza, Shaftesbury und Leibniz befasst haben.171 In der vorliegenden Form widmen sich die Gespräche aber vor allem der Aufgabe, Spinozas Denken gegen die im Diskurs der Zeit reflexartig reproduzierten Vorwürfe des Atheismus wie auch des Pantheismus zu verteidigen, dessen cartesianisches Denksystem begrifflich zu modernisieren und seine Grundintuitionen für die Naturphilosophie fruchtbar zu machen.172 Im Mittelpunkt steht ein Begriff der Substanz, der Gott und Welt, Geist und Natur als ursprüngliche Einheit statt als unüberbrückbare Differenz denken lassen soll.173 Herders wichtiger Einsatz besteht nun darin, sich Spinozas Begriff der Substanz, von Leibniz inspiriert, als innere Kraft zurechtzulegen und als Lehre von den substanziellen Kräften zu reformulieren. Theophron, der seinem noch zweifelnden Freund Philolaus das spinozistische Denken näherzubringen versucht, führt ihn über die Aufforderung zur genauen Naturbetrachtung vorsichtig an diesen Gedanken heran: Erwägen Sie die innere Fülle der Kraft, die sich in jedem lebendigen Wesen zeiget, wie es durch eine ihm eingepflanzte ungeheure Wirksamkeit entstehen und sich nicht anders als durch solche erhalten und fortpflanzen konnte. Betrachten Sie die Kräfte, die im Bau eines Tieres so verschwiegen 170 Herder: Vom Erkennen und Empfinden, Herder FA 4, S. 338. 171 Johann Gottfried Herder: Gott. Einige Gespräche, Herder FA 4, S. 679–794, hier: S. 680. 172 Zum sogenannten Spinoza-Streit und zur produktiven Spinozarezeption durch Herder und Goethe vgl. Kurt Christ: Jacobi und Mendelssohn. Eine Analyse des Spinozastreits. Würzburg 1988; Rüdiger Otto: Studien zur Spinozarezeption in Deutschland im 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1994. 173 Hier liegt, wie Eckart Förster noch einmal ausgeführt hat, die Attraktivität Spinozas für den deutschen Idealismus. Eckart Förster: Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion. Frankfurt a.M. 2011, S. 87–111.
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wirken! Mit welcher Macht hangen seine Teile zusammen! welch ein Räder- und Triebwerk gehört dazu, daß es sich bewege, sich seinen Lebenssaft bereite, alle die Handlungen ausübe, dazu es bestimmt ist, endlich daß es aus seiner Natur gleichartige Wesen, Bilder seiner selbst, lebend und wirkend, aus eigner Kraft und nach gleicher Anlage hervorbringe und erzeuge. In der Generation allein liegt das Wunder einer eingepflanzten, einwohnenden Macht der Gottheit, die sich, wenn ich so kühn reden darf, in das Wesen jeder Organisation gleichsam selbst beschränkt hat und in diesem Wesen nach ewigen Gesetzen unverrückt und unwandelbar, wie die Gottheit allein wirken kann, wirket. In der Materie, die wir tot nennen, streben auf jedem Punkt nicht minder und nicht kleinere göttliche Kräfte [...].174 In diesen scheinbar unsystematisch hingeworfenen Exhortationen lässt sich unschwer der Katalog der Kräfte erkennen, dessen Erschließung man sich in der Naturforschung des 18. Jahrhunderts zur Aufgabe gemacht hat. Dies geschieht bei Herder allerdings in einer signifikanten Umkehr der Blick- und Argumentationsrichtung. Denn statt die von Newton formalisierten physikalischen Grundkräfte auf die lebendige Natur zu übertragen, schließt Theophron umgekehrt von den Phänomenen der Bewegung, Ernährung und Fortpflanzung lebendiger Wesen auch auf die Anwesenheit von ›strebenden‹ Kräften in der unbelebten Natur. In allem, was in der Natur anzutreffen sei, wirke eine vis insita, eine ›eingepflanzte‹ göttliche Kraft, die unablässig zur Verwirklichung strebe. Oder wie Theophron in seiner Erläuterung noch einmal pointiert formuliert: »Alle Dinge« sind »Ausdrücke der göttlichen Kraft«.175 Derart instruiert erinnert sich Philolaus an eine Lehre, die ihm Theophron schon früher erteilt habe. Es handelt sich um ebenjene, die Leibniz’sche Monadenlehre variierende Auffassung von den substanziellen Kräften, die noch in den kleinsten Teilen der Materie enthalten seien und das ordnungsgemäße Verhalten des Erschaffenen bestimmen. Nichts in der Welt ist also ohne Kräfte. Wie aber wirken sie? An dieser Stelle springt Herder nun mit seiner Rede von den organischen Kräften ein. Mit dieser Begriffsprägung meint er nicht die in Organismen zu beobachtenden Kräfte des Lebendigen, sondern reagiert vielmehr auf das grundlegende Problem, wie sich Kräfte zu Körpern verhalten.176
174 Herder: Gott. Einige Gespräche, Herder FA 4, S. 712. 175 Herder: Gott. Einige Gespräche, Herder FA 4, S. 713. 176 Herders Rede von den ›organischen Kräften‹ hat dennoch vor allem auf die Begriffsbildung der frühen Biologie gewirkt. Die Karriere von Herders Begriff der ›organischen Kräfte‹ zeichnet Thomas Bach an Kielmeyers Herder-Rezeption nach. Thomas Bach: Organische Physik als vergleichende Phänomenologie des Organischen. Anmerkungen zum wissenschaftshistorischen Ort von Carl Friedrich Kielmeyers System der organischen Kräfte. In: Olaf
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Substanzielle sind aus Herders Sicht insofern organische Kräfte, als sie den Körpern als Werkzeuge (griech. organon) dienen.177 Organische Kräfte sind gewissermaßen verkörperte, in und durch Körper wirkende Kräfte. So gefasst sind aber eigentlich alle Kräfte, die wir in uns wie auch in der Natur antreffen, organische Kräfte. Die Dynamisierung von Spinozas Substanzbegriff kulminiert schließlich in der Idee von der Erhaltung und Verwandlung der Kräfte, die zu denken erlaubt, was sich als Grundgedanke der Schrift herausstellt. Systeme, so lautet das »Hauptgesetz«, sind auf ihre Erhaltung aus.178 Dieses Gesetz wird aus einer grundlegenden Polarität von Hass und Liebe, Anziehung und Abstoßung entwickelt, die sich in der gesamten (menschlichen) Natur finden und unablässig ineinander übergehen: Oft wechseln die Kräfte rasch: ganze Systeme verhalten sich anders, als einzelne Kräfte des Systems unter einander: Haß kann Liebe, Liebe kann Haß werden; alles aus Einem und demselben Grunde, da Jedes System nämlich in sich selbst Beharrung sucht und darnach seine Kräfte ordnet.179 Hier formuliert Herder mit überraschender Klarheit die beiden wesentlichen Punkte des Krafterhaltungsgesetzes, dessen mathematische Geltung für fast alle Naturkräfte erst die Thermodynamiker liefern werden. Während aus Herders Sicht das System, mithin die Ordnung der Kräfte sich selbst gleichbleibt, können und müssen sich einander entgegengesetzte Kräfte ineinander verwandeln. Daraus folgt als zweite Regel, die Herder unter dem Begriff der »Palingenesie« fasst, die Notwendigkeit der ständigen »Verwandlung« ihrer einzelnen Elemente in einer »rastlosen Arbeit«.180 Obwohl das aus der vorso kratischen Naturphilosophie bekannte Kräftepaar Hass und Liebe vorerst noch als passe par tout für alle anderen Naturkräfte steht, geht Herders Beobachtung doch bereits weit über die von und nach Leibniz formulierte Erhaltung und Verwandlung der mechanischen Kräfte – mithin der vis mortua und der vis viva – hinaus und macht gedanklich den Weg für ein umfassendes Gesetz der Krafterhaltung frei. Im fünften, den Text abschließenden Gespräch tritt Theano auf, die sich als Frau bisher im Hintergrund gehalten hatte. Nun regt sie mit gezielt gestellten Fragen zur komprimierten Darstellung des Besprochenen an. Die zuletzt festgehaltenen Leitsätze fügen sich zum Bild einer Welt, in der nichts verloren-
reidbach/Roswitha Burwick (Hg.): Physik um 1800. Kunst, Naturwissenschaft oder PhilosoB phie? Paderborn 2012, S. 187–222. 177 Herder: Gott. Einige Gespräche, Herder FA 4, S. 774. 178 Herder: Gott. Einige Gespräche, Herder FA 4, S. 784. 179 Herder: Gott. Einige Gespräche, Herder FA 4, S. 783–784. 180 Herder: Gott. Einige Gespräche, Herder FA 4, S. 790.
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geht, weil alles in etwas anderes übergeht. Die Formel von der Erhaltung durch Verwandlung wird über die »große Haushaltung« plausibilisiert, in der sich jede Zerstörung dadurch, dass sie anderes ermöglicht, als produktiv erweist.181 Das konkrete Argument bildet der gegenseitige Verzehr lebendiger Wesen, das Herder in der Beschreibung sich selbst verzehrender Pflanzen auf die Spitze treibt: Sehen Sie die Blume an, wie sie zu ihrer Blüte eilet. Sie ziehet den Saft, die Luft, das Licht, alle Elemente an sich und arbeitet sie aus, damit sie wachse, Lebenssaft bereite und eine Blüte zeige; die Blüte ist da und verschwindet. Sie hat alle ihre Kraft, ihre Liebe und ihr Leben daran gewandt, damit sie Mutter werde, damit sie Bilder ihrer selbst zurücklasse und ihr kräftiges Dasein vermehrend fortpflanze. Nun aber ist auch ihre Erscheinung hin: Sie hat solche im Rastlosen Dienst der Natur verzehret und man kann sagen, daß sie vom Anfange ihres Lebens an auf ihre Zerstörung gearbeitet habe.182 In welchem Maß sich Goethe, den Herders Schrift auf seiner Italienreise erreicht, in seinen dort intensiv betriebenen Pflanzenstudien bestätigt sehen kann, wird sich noch zeigen. Für Herders Kraftdenken ist vorerst festzuhalten, dass die Vorstellung von einer »dauernden Kraft« in der Lage ist, eine »Natur« zu kennzeichnen, die »keinen Augenblick müßig sein, stille stehn, untätig bleiben« könne.183 Theano ist es, die schließlich die entscheidende Frage nach der Richtung dieser rastlosen Tätigkeit stellt: »Ob diese Verwandlung aber auch Fortrückung wäre?«.184 Um eine genaue und vor allem wissenschaftlich gesättigte Antwort auf diese Frage bemüht sich Herder in seinen Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit. Erhaltung und Verwandlung der Kräfte: Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit
In den vier zwischen 1784 und 1791 publizierten Bänden der Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit befördert Herder die Kraft zum zentralen Interpretament der Natur wie der Geschichte, die von den »durch unser
181 Herder: Gott. Einige Gespräche, Herder FA 4, S. 787. Später ist auch in deutlichem Hinweis auf Leibniz’ Geschichtstheologie von einer »Theodizee der Notwendigkeit« die Rede. Herder: Gott. Einige Gespräche, Herder FA 4, S. 792. 182 Herder: Gott. Einige Gespräche, Herder FA 4, S. 788. 183 Herder: Gott. Einige Gespräche, Herder FA 4, S. 789. 184 Herder: Gott. Einige Gespräche, Herder FA 4, S. 790.
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ganzes Weltall sich erstreckenden Kräften«185 der Natur bis zu den auf die natürlichen Gegebenheiten abgestimmten »Seelenkräfte[n]« des Menschen reichen.186 Herder, so zeigt sich schon im ersten Band, sieht Kräfte nicht allein als Anstoß zu linearen oder kreisförmigen Ortsveränderungen. Vielmehr begreift er sie als Faktoren in komplexen Formbildungsprozessen. Natur, die Menschen und ihre Geschichte lassen sich als »Spuren jener großen bildenden Kraft« deuten, in der Herder grundsätzlich eine göttliche Kraft der Natur am Werk sieht.187 Was in Gott. Einige Gespräche trotz der dialogischen Offenheit der Thesenbildung zuletzt in die Form philosophischer Leitsätze gegossen wird, entfalten die Ideen in erzählerischem Gestus, der eine Fülle zeitgenössischer Wissensbestände zu integrieren erlaubt. Das Interesse an den inneren Kräften der Natur führt auf Phänomene wie Magnetismus, Elektrizität, Licht und Wärme, die als Kräfte noch besser erforscht werden müssten, um eine möglichst weit zurückreichende und vielleicht sogar in die Zukunft zu verlängernde Geschichte der Erde zu rekonstruieren. Entscheidend wären aus Herders Perspektive die von einer erweiterten Physik und einer beginnenden Chemie bereitgestellten Möglichkeiten, bei der Beschrei bung der Erdgeschichte über die von Newton vorgeschlagene mechanische Modellierung hinauszugehen: Die neuen Entdeckungen, die man über Wärme, Luft, Feuer und ihre mancherlei Wirkungen auf die Bestandteile, auf Komposition und Dekomposition unsrer Erdwesen gemacht hat, die simplen Grundsätze, auf die die elektrische, zum Teil auch die magnetische Materie gebracht ist, scheinen mir dazu wo nicht nahe, so doch entferntere Vorschritte zu sein, daß vielleicht mit der Zeit durch Einen neuen Mittelbegriff es einem glücklichen Geist gelingen wird, unsre Geogonie so einfach zu erklären, als Kepler und Newton das Sonnengebäude darstellten. Es wäre schön, wenn hiemit manche als qualitates occultae bisher angenommene Naturkräfte auf erwiesene physische Wesen reduziert werden könnten.188 Über den aus seiner Sicht noch ausstehenden ›Mittelbegriff‹ weiß Herder an dieser Stelle zwar nichts weiter zu sagen. Dennoch geht es vielleicht nicht zu weit, Herders Wunsch in dem um die Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführten Begriff der Energie, der zwischen elektrischer, thermischer, chemischer, kinetischer oder potenzieller Energie vermitteln wird, eingelöst zu sehen.
185 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Herder FA 6, S. 21. 186 Herder: Ideen, Herder FA 6, S. 21. 187 Herder: Ideen, Herder FA 6, S. 23. 188 Herder: Ideen, Herder FA 6, S. 30.
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Obwohl Herder die historischen, künftig hoffentlich aufzuhebenden Grenzen des Wissens klar einzeichnet, entwirft er aufgrund der noch lückenhaften Daten bereits ein Narrativ der Erdgeschichte. Die Geschichte der Natur, der die Geschichte der Menschheit eingelagert ist, verfährt Herders Rhetorik gemäß in »Revolutionen des Einen in das Andre«, in »Entwicklungen und Revolutionen« oder auch in »Umwälzungen«.189 Die Rede von den Revolu tionen als Umkehrungen und Umwendungen ist nicht zufällig, geht Herder doch wie schon in Gott. Einige Gespräche davon aus, dass jede Bildung auch eine Zerstörung voraussetzt: Sobald in einer Natur voll veränderlicher Dinge Gang sein muß: so bald muß auch Untergang sein; scheinbarer Untergang nehmlich, eine Abwechselung von Gestalten und Formen. Nie aber trifft dieser das Innere der Natur, die über allen Ruin erhaben, immer als Phönix aus ihrer Asche ersteht und mit jungen Kräften blühet.190 Was Herder hier im mythologischen Bild des aus seiner eigenen Asche wieder entstehenden Phönix’ vor Augen führt, wird in Karl Philipp Moritz’ wie auch Goethes Adaptionen des Bildungstriebs als Kennzeichen natürlicher wie künstlerischer Produktivität wiederkehren. Herders Entwurf einer Rhythmik von Entstehen und Vergehen ist von der Auffassung getragen, dass diese Veränderungen keineswegs regellos sind, weil sie sich zu einem ›Gang‹ fügen. Diese Vorstellung beruht wiederum auf der Überzeugung, dass die Natur in ihrem inneren Wesenskern trotz aller Veränderungen intakt bleibt. Die immer ›jungen Kräfte‹ können sich nicht erschöpfen. Im Inneren der Natur, so fasst es Herder ähnlich wie Leibniz, werden keine Kräfte verbraucht.191 Sowohl in der Konzeption einer Energie der Dichtung als auch in den sich umwälzenden, in der zerstörenden Veränderung sich erhaltenden Kräften der Natur zeigt Herder eine gewisse Vorliebe für Kreisformen. Was in seiner Homerlektüre als das ›fortrollende‹, in einer selbstbezüglichen Rückwendung voranschreitenden Dichtung hervortrat, kehrt in der Naturphilosophie in der Hervorhebung von Rotationsbewegungen wieder. Die Erde hat Kugelgestalt, sie umkreist sowohl die Sonne als auch sich selbst, während sie ihrerseits vom Mond umkreist wird. Und so muss sich Herder wundern: »Unbegreiflich ists, wie Menschen so lange den Schatten ihrer Erde im Monde sehen konnten,
189 Herder: Ideen, Herder FA 6, S. 30 u. 31. 190 Herder: Ideen, Herder FA 6, S. 32. 191 Oder wie Leibniz im §17 seines Discours de la métaphysique (1686) festhält: Es ist »vernunftgemäß, daß sich im Universum stets dieselbe Kraft erhält.« Gottfried Wilhelm Leibniz: Discours de la métaphysique / Metaphysische Abhandlung. In: Leibniz. Ausgewählt und vorgestellt von Thomas Leinkauf. München 2000, S. 147–192, hier: S. 166.
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ohne zugleich tief zu fühlen, daß alles auf ihr Umkreis, Rad und Veränderung sei«.192 Die große, alles umfassende Bewegung der Natur ist aus seiner Sicht eine alles umwälzende Drehbewegung. Dabei zeigt sich Herder ebenso fasziniert von der Regularität von Kugel und Kreis wie auch von den kleinen Abweichungen, allen voran von der schräg gelegten Achse der Erde, die erst für Abwechslung der Jahreszeiten und damit für die uns bekannte Vielfalt der Pflanzen- und Tierwelt sorgt. So gelingt es Herder, im Bild des Zirkels und des Rollens unveränderte Bewegung und Veränderungspotentiale zusammenzudenken. Diese in sich kreisende und gerade dadurch voranschreitende Natur hat ihr Kraftzentrum in der Sonne. Denn von der Sonne und ihren »durch unser ganzes Weltall sich erstreckenden Kräften« erhalte die Erde »ihre Beschaffenheit und Gestalt, ihr Vermögen zur Organisation und Erhaltung der Geschöpfe«, von ihr kämen »Licht, Wärme, Leben und Gedeihen«.193 In der Entfaltung dieser These tritt die mechanische Beschreibung der Sonne als größtem Masse punkt und Urheberin der Gravitation hinter ihrer besonderen Qualität als Licht- und Lebensquelle zurück. Die Sonne hält nicht nur alle Planeten im Sonnensystem auf ihren Bahnen, sondern verantwortet auch die klimatischen Verhältnisse auf der Erde und unterhält alle davon abhängigen Lebensformen. Dabei ist sie nicht zuletzt an der Gestaltung der besonderen Wahrnehmungsund Erkenntnisorgane der Menschen beteiligt, die auf die besonderen Umweltbedingungen abgestimmt sind: »Mein Auge ist für den Sonnenstrahl in dieser und keiner andern Sonnenentfernung, mein Ohr für diese Luft, mein Körper für diese Erdmasse, alle meine Sinnen aus dieser und für diese Erdorganisation gebildet: dem gemäß wirken auch meine Seelenkräfte«.194 Die »Mitregentin« der Erde sei neben der Sonne die Luft, deren genaue Zusammensetzung in Gestalt der besonderen Dunsthülle der Erde – Herder spricht bereits von »Atmosphäre« – noch der genaueren Erforschung bedarf.195 Anziehung und Abstoßung als Eigenschaften und Erzeugungsprinzipien schwerer Materie werden also nicht nur durch den Blick auf Effekte und Formen des Lebendigen erweitert, sondern zumindest prospektiv auch an eine Reihe anderer, vor allem chemischer Prozesse gebunden, die für die Formulierung der 192 Herder: Ideen, Herder FA 6, S. 33. 193 Herder: Ideen, Herder FA 6, S. 21. 194 Herder: Ideen, Herder FA 6, S. 23. 195 »Wie manche einst unbekannte Dinge sind in den neuern Jahren entdeckt worden, die alle im Medium der Luft wirken. Die elektrische Materie und der magnetische Strom, das Brennbare und die Luftsäure, erkältende Salze und vielleicht Lichtteile, die die Sonne nur anregt: lauter mächtige Prinzipien der Naturwirkungen auf der Erde; und wie manche andere werden noch entdeckt werden!« Herder: Ideen, Herder FA 6, S. 37. Sehr erhellend ist das Kapitel »Kraft und Klima. Johann Gottfried Herders Ideen« in Hanna Hamel: Übergängliche Natur. Kant, Herder, Goethe und die Gegenwart des Klimas. Berlin 2021, S. 107–146.
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Thermodynamik zentral werden: »Beobachtungen [...] über Hitze und Kälte, Elektrizität und Luftarten, samt andern chemischen Wesen« seien, so fordert Herder von künftigen Forschergenerationen, »zu Einem Natursystem« zusammenzustellen.196 Herder entwirft die Natur als Gefüge und Produkt »wirkender« und »strebender Kräfte«, deren Komplexität sich rein mechanischen Beschreibungen schlicht entzieht.197 Unter Kräften, dies hatte sich in Vom Erkennen und Empfinden angedeutet und war in Gott. Einige Gespräche genauer entfaltet worden, versteht Herder Größen, die das Verhalten der Materie regieren, überall Veränderungen anstoßen, auf vielfältige Weise in Erscheinung treten und sich dabei in komplexe Wirkzusammenhänge fügen. In den Ideen geht Herder bei der Ausführung dieser Grundideen noch einen Schritt weiter, fasst er die Entstehung der Erde und der sich darin ausbildenden menschlichen Natur doch als Prozess einer langsamen, aber stetigen Verwandlung der Kräfte: Wie bei uns unsere Gedanken und Kräfte offenbar nur aus unsrer ErdOrganisation keimen und sich so lange zu verändern und zu verwandeln streben, bis sie etwa zu der Reinigkeit und Feinheit gediehen sind, die diese unsre Schöpfung gewähren kann: so wird’s, wenn die Analogie unsre Führerin sein darf, auf andern Sternen nicht anders sein.198 Die in den Urzeiten der Erde noch überaus gewaltig wirkenden Kräfte, die Planeten und Monde abgesprengt, ganze Gebirgszüge geformt und Weltmeere trockengelegt haben, sind ruhiger und sanfter geworden. Diese Vorstellung von einer langsamen Verwandlung der Kräfte wird in den naturphilosophischen Passagen von Hardenbergs Heinrich von Ofterdingen wie auch in Goethes Überlegungen zu geologischen Kräften wieder begegnen. Herder versteht die Erdund Menschheitsgeschichte als Vorgang, bei dem sich Kräfte »mit anderen entgegengesetzten Kräften [...] zu mischen und zu mildern«199 scheinen. Seine Beschreibungen fügen sich zum Bild einer »sanftere[n] Natur«,200 die sich gerade dort geltend macht, wo das Verhältnis zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren zu bestimmen ist. Gemäß dem seit der Antike tradierten, mit und nach Leibniz etwa bei Carl von Linné neugefassten Gedanken 196 Herder: Ideen, Herder FA 6, S. 38. 197 Herder: Ideen, Herder FA 6, S. 39. Wie Wetzels zeigt, schließen sich Mechanismus und Organismus bei Herder nicht aus. Vielmehr »arbeitet er unentwegt an der Integration des Mechanischen in das Organische«. Walter D. Wetzels: Herders Organismusbegriff und Newtons Allgemeine Mechanik. In: Gerhard Sauder (Hg.): Johann Gottfried Herder 1744–1803. Hamburg 1987, S. 177–185, hier: S. 181. 198 Herder: Ideen, Herder FA 6, S. 27–28. 199 Herder: Ideen, Herder FA 6, S. 40. 200 Herder: Ideen, Herder FA 6, S. 48.
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einer balance naturelle übernimmt in Herders Entwurf die Natur ein Verteilungswerk, das in Platons Protagoras an die Brüder Epimetheus und Prometheus delegiert wurde. Die Beobachtung, dass alles in der Natur einander bekämpft und tötet, um zu leben, versucht Herder folgendermaßen aufzufangen: Warum tat die Natur dies? Warum drängte sie so die Geschöpfe aufeinander? Weil sie im kleinsten Raum die größteste und vielfachste Anzahl der Lebenden schaffen wollte, wo also auch Eins das andre überwältigt und nur das Gleichgewicht der Kräfte Friede wird in der Schöpfung. Jede Gattung sorgt für sich, als ob sie die Einige wäre; ihr zur Seite steht aber eine andre da, die sie einschränkt und nur in diesem Verhältnis entgegengesetzter Arten fand die Schöpferin das Mittel zur Erhaltung des Ganzen. Sie wog die Kräfte, sie zählte die Glieder, sie bestimmte die Triebe der Gattungen gegen einander; und ließ übrigens die Erde tragen, was sie zu tragen vermochte.201 Interessanterweise nutzt Herder die Vorstellung vom Gleichgewicht als »Erhaltung des Ganzen« aber eben dazu, kein statisches Tableau der Arten und ihrer Verteilungen zu entwerfen, sondern eine Geschichte der sukzessiven Wanderung, Verdrängung und Verlagerung von Tiergattungen und menschlichen Kulturen zu erzählen. Ein Gleichgewicht der Natur ist nicht einfach gegeben, ergibt es sich doch erst aus der ständigen Neuverteilung innerhalb eines Ganzen, das durch die wechselnden Übergriffe und Einschränkungen seiner Teile gekennzeichnet ist. Was unter Natur zu verstehen ist, zeigt sich also nicht in der Verfestigung einzelner Bildungen. Stattdessen lässt sich Natur als ein Kräftespiel erfassen, in dem alles ständig neu abgewogen und austariert wird. Diese Denkfigur eines prekären Gleichgewichts wird in Karl Philipp Moritz’ wie Goethes Konzepten der Bildungskraft noch genauer zu diskutieren sein. Was als permanenter Widerstreit erscheinen könnte, gewinnt in Herders Erzählung jedoch ein erstaunlich friedliches Gesicht. In der Hervorhebung der glücklichen Mitteldistanz, die der Erde im Sonnensystem angewiesen wurde, wie auch in der darauf fußenden Beobachtung, dass die menschlichen Kulturen meist von gemäßigten Klimazonen profitiert hätten, vor allem aber in der grundsätzlichen Auffassung vom Menschen als »Mittelgeschöpf«202 setzt sich bei Herder ein Kraftdenken durch, das nicht auf die Extreme des besonders Großen, Starken und Mächtigen setzt. Dabei scheint sich die Dynamik der Natur nicht nur eines kontingenten Spiels von aufeinander wirkenden Kräften zu verdanken, sondern soll sich als Ergebnis eines durchaus richtungsgeleiteten Strebens interpretieren lassen. Herders Auffassung von der »physischen 201 Herder: Ideen, Herder FA 6, S. 68. 202 Herder: Ideen, Herder FA 6, S. 74.
Dynamik: ›Abwechselung von Formen und Gestalten‹
Kräfte-Welt«203 ist insofern metaphysisch geprägt, als die »lebendige Kraft der Natur« von Herder zuletzt als »Organ der göttlichen Macht, als eine tätig gewordene Idee seines ewigdaurenden Entwurfs der Schöpfung« aufgefasst wird.204 Wie in Leibniz’ Geschichtsmetaphysik folgt auch in Herders Konstruktion die Geschichte der Natur und der Menschen einem Plan, in dem sich die Wechselwirkung der Kräfte zu einem regelgeleiteten Fortgang fügen. Wenn es also über die Natur heißt, »Nichts in ihr steht still: alles strebt und rückt weiter«,205 dann bleibt diesem Streben und Weiterrücken ein verhalten teleologisches Moment eingeschrieben. Dies wird sich, so ist noch zu zeigen, bei Goethe ändern. Die Auffassung von der Natur als einem durch stets tätige und strebende Kräfte gekennzeichneten Verwandlungszusammenhang hatte bereits Herders Dichtungstheorie der Kritischen Wäldchen grundiert: »In der Natur ist alles übergehend, Leidenschaft der Seele und Empfindung des Körpers: Tätigkeit der Seele und Bewegung des Körpers: jeder Zustand der wandelbaren endlichen Natur«.206 Bewegung ist Übergang, wobei sich dieser Transitus von einem Ort zum anderen, von einem Zustand in den anderen und sogar von einer Kraft zu einer anderen vollziehen kann. Gegen Lessing gerichtet fragt Herder: aber was ist denn eigentlich, was in der Natur nicht transitorisch, was in ihr völlig permanent wäre? Wir leben in einer Welt von Erscheinungen, wo eine auf die andere folgt, und ein Augenblick den anderen vernichtet; alles in der Welt ist an den Flügel der Zeit gebunden, und Bewegung, Abwechselung, Wirkung ist die Seele der Natur.207 Wenn das Bildungsgesetz der Dichtung den hier entworfenen Gesetzen der natürlichen Erscheinungswelt entspricht, dann bietet Herders Dichtungstheorie das Experimentierfeld für seine Weltbeschreibung: Dichtung macht die Dynamik der Natur erfahrbar. Für die eingangs gestellte Frage nach der Kraft oder Energie der Dichtung bleibt also festzuhalten: Anders als bei Sulzer, mit dem Herder die Grundauffassung von den mobilen und mobilisierenden Kunstformen teilt, stehen Emotionalisierung und Illusionsbildung in Herders Konzeptualisierung einer Kraft der Kunst nicht im Dienst der besonders nachhaltigen Einprägung moralischer Auffassungen. Vielmehr bettet Herder die rhetorische evidentia-Lehre in dasjenige ein, was die Rhetoriktradition eher ausgeblendet hat: Es ist das bei
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Herder: Ideen, Herder FA 6, S. 40. Herder: Ideen, Herder FA 6, S. 175–176. Herder: Ideen, Herder FA 6, S. 175–176. Herder: Erstes Kritisches Wäldchen, Herder FA 2, S. 133. Herder: Erstes Kritisches Wäldchen, Herder FA 2, S. 131.
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Aristoteles zentrale Interesse an Tätigkeit und Aktivität, für das er in seiner Metaphernlehre selbst das Wort energeia benutzt. Dabei trifft sich das Ordnungsprinzip der Natur mit der Arbeit der Einbildungskraft in der zugrundeliegenden Vorstellung von einer Erhaltung und Verwandlung ihrer Kräfte. Diese Tätigkeit, die sich sowohl in der Dichtung als auch in der Natur zeigt, deutet Herder als Realisierung einer göttlichen Ordnung. Was Herder als durch Energie erzeugte Kraft der Dichtung konzipiert, zielt also nicht auf Grenzwerte, sei es auf eine Regression ins Präreflexive oder auf affektive Überwältigung. Vielmehr entspricht die stets in Bewegung begriffene, fortlaufende Bilderfolgen evozierende Dichtung sehr genau der Natur des Menschen wie auch der Natur, in der sie leben. In ihnen werden durch ständiges Austarieren produktive Mittellagen garantiert. So wie sich Dichtung nicht im Stillstand realisieren kann, so ist auch die Natur nur in der ständigen »Abwechselung von Formen und Gestalten« fassbar.208 Herders naturphilosophisch inspirierte Poetik der Kraft enthält damit alle Zutaten für einen dynamischen Formbegriff, wie er für Goethes Natur- und Dichtungsverständnis prägend sein wird.
Metabolismus: Natur als ›Kraft die Kraft verschlingt‹ (Goethe, Moritz 1772–1794) Auf Sulzers Aufsatz Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung, der die Artikel der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste konzeptuell zusammenhalten sollte, reagiert der junge Goethe mit heftiger Ablehnung. In seiner 1772 verfassten Rezension wirft er Sulzer vor, sich eine Kunst zu wünschen, die nach dem Vorbild einer »Annehmlichkeiten« austeilenden und den Menschen zu »Sanftmut und Empfindsamkeit bilden[den]« Natur operiert.209 Dieser Auffassung von der Natur als einer »zärtlichen Mutter« setzt Goethe das von Rousseau geborgte Bild einer strengen Mutter Natur entgegen, die »ihre echten Kinder« gegen alle »Schmerzen und Übel« abhärtet.210 Zur Natur gehöre neben dem Angenehmen, Sanften und Schönen eben auch all das, was eigentlich schon seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert als Erhabenes in die Kunstlehre integriert werden konnte. So fragt Goethe mit einiger Ungeduld: Gehört denn, was unangenehme Eindrücke auf uns macht, nicht so gut in den Plan der Natur, als ihr Lieblichstes? Sind die wütenden Stürme, Wasserfluten, Feuerregen, unterirdische Glut, und Tod in allen Elementen 208 Herder: Ideen, Herder FA 6, S. 32. 209 Goethe: Rezension zu Sulzers Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1772), Goethe FA 18, S. 96–101, hier: S. 98. 210 Goethe: Rezension zu Sulzer, Goethe FA 18, S. 98.
Metabolismus: Natur als ›Kraft die Kraft verschlingt‹
nicht eben so wahre Zeugen ihres ewigen Lebens, als die herrlich aufgehende Sonne über volle Weinberge und duftende Orangenhaine?211 Was als unangenehme Überforderung unserer beschränkten Auffassungsgabe erscheinen oder uns sogar physisch bedrohen könnte, ist zugleich ein Hinweis auf das, was Goethe als ›ewiges Leben‹ bezeichnet. Beide Aspekte sind nicht voneinander zu trennen. Denn: Was wir von Natur sehn, ist Kraft, die Kraft verschlingt nichts gegenwärtig alles vorübergehend, tausend Keime zertreten jeden Augenblick tausend geboren, groß und bedeutend, mannigfaltig ins Unendliche; schön und häßlich, gut und bös, alles mit gleichem Rechte neben einander existierend.212 Anders als es die Aufzählung von Beben, Fluten oder Vulkanen nahelegt, meint Kraft für Goethe nicht nur die Gewalt außerordentlicher Naturerscheinungen. Vielmehr fallen unter Kraft all jene Faktoren, die dafür sorgen, dass die von verschwenderischer Fülle geprägte Natur niemals die Produktion einstellt. Goethe verbindet Ansichten von einer bedrohlichen wie auch einer angenehmen Natur zum Bild einer agonalen Verstrickung, in der nichts entsteht, ohne etwas anderes zu verdrängen. Natur erscheint dabei als ein flexibler Zusammenhang von Kräften, an dem wertende Zuschreibungen wie etwa Kategorien des Geschmacks (schön oder nicht schön) oder der Moral (gut oder nicht gut) abgleiten. Diese Indifferenz der Natur erfasst die Formel von der ›Kraft, die Kraft verschlingt‹ in der semantischen Unentschiedenheit zwischen Entstehen und Vergehen, kann das deutsche Wort Verschlingen doch sowohl das lateinische flectere, also das konstruktive Flechten, Knotenschlingen oder Weben, als auch das glutire im Sinn eines eher destruktiven Verzehrens und Verschluckens bezeichnen.213 In diesem Doppelbild der Natur als produktiver Textilität und verwertendem Metabolismus zeichnet sich ein Kraftbegriff ab,
211 Goethe: Rezension zu Sulzer, Goethe FA 18, S. 98. 212 Goethe: Rezension zu Sulzer, Goethe FA 18, S. 98. 213 Wie dem entsprechenden Lemma in Adelungs Wörterbuch zu entnehmen ist, tritt das deutsche Wort Verschlingen eine doppelte Erbschaft an. Es verbindet die Semantiken des lateinischen flectere mit dem glutire: »1. Von schlingen, flectere, ist verschlingen, in einander schlingen. Der Faden hat sich verschlungen. Ein verschlungener Knoten. 2. Von schlingen, glutire, ganz hinab oder hinunter schlingen. Der Wallfisch verschlang Jonam. Die Erde verschlang die Rotte Korah, 4 Mos. 16, 13. Von dem Meere, von dem Wasser, von den Wellen, von einem Raubthiere verschlungen werden.« Johann Christoph Adelung: Lemma »Verschlingen«. In: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Bd. 4. Wien 1811, Sp. 1123–1124.
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der sowohl Goethes Naturauffassung als auch seine Kunstlehre und Dichtungsreflexion durchzieht. Die disziplinären Provenienzen und argumentativen Funktionalisierungen der Begriffe Kraft und Trieb, Bildungskraft und Bildungstrieb möchte ich im Folgenden – teils in Seitenblicken auf die beginnende Biologie und auf die Kunsttheorie von Karl Philipp Moritz – nachzeichnen. Goethes Kraftreflexionen erweisen sich als Feld, auf dem er nicht zuletzt die Verhältnisse von Natur und Kultur aushandelt. In seiner Sulzer-Rezension will Goethe auf eine genauere Bestimmung des Verhältnisses zwischen natürlichen und künstlerischen Kräften hinaus. Dabei leitet er als Pointe seiner Wendung gegen Sulzers Kunsttheorie die Notwendigkeit der Kunst direkt aus seiner These von den ›verschlingenden‹ Kräften der Natur ab: Und die Kunst ist gerade das Widerspiel, sie entspringt aus den Bemühungen des Individuums, sich gegen die zerstörerische Kraft des Ganzen zu erhalten. Schon das Tier durch seine Kunsttriebe scheidet, verwahrt sich; der Mensch durch alle Zustände befestigt sich gegen die Natur, ihre tausendfache [sic] Übel zu vermeiden, und nur das Maß von Gutem zu genießen.214 Die Kunst verdoppelt nicht nachahmend eine äußere Natur, spielt sie doch selbst im produktiven Widerstreit der Kräfte mit. Eingeführt als Gegenkraft, mit der sich die Menschen vor der Natur schützen wollen, agiert der menschliche Kunsttrieb deshalb zunächst nicht außerhalb der Natur. Vielmehr begreift Goethe ihn als Weiterführung eines bereits bei den Tieren anzutreffenden Bau- und Kunsttriebs.215 Als Kraft unter Kräften sind die animalischen und humanen Kunsttriebe von der Natur keineswegs kategorial geschieden, gehen sie doch aus den Naturkräften hervor, folgen ihren Regeln und bleiben entsprechend eng mit ihnen verbunden. Wenn die natürlichen Triebe dazu genutzt werden, sich ›gegen‹ die Natur zu behaupten, dann wird das Verhältnis menschlicher Tiere zu ihrer Umgebungsnatur passgenau zu einer zerstörerischen, agonal verstrickten Natur entworfen. 216 214 Goethe: Rezension zu Sulzer, Goethe FA 18, S. 99. 215 Mit den Kunsttrieben der Tiere, die zwar grundsätzlich im Zeichen der Selbsterhaltung stehen, aber schon eine bemerkenswerte Geschicklichkeit (etwa im Spinnennetz) an den Tag legen, hat sich schon Reimarus befasst. Es handelt sich dabei, so Reimarus, um »von Natur [...] angeborene Künste«. Hermann Samuel Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe. Zum Erkenntniß des Zusammenhangs der Welt, des Schöpfers und unser selbst. Hamburg 1762, S. 95. 216 Hier ähnelt Goethes Entwurf zunächst den flat ontologies neuerer Ansätze. Seit Latour und Haraway sind Textilmetaphern (Netzwerk, entanglement) für die Beschreibung der nicht getrennten und analytisch kaum abtrennbaren Sphären von Natur und menschlicher Kultur
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Goethes Gebrauch des Kraftbegriffs durchquert und verbindet auch die Reiche der unbelebten und der belebten Natur. Das Wissen um den menschlichen Kunsttrieb, den Goethe in der Sulzer-Rezension exponiert, hat seine Basis in den »geheimnisvollen Kräften« der Attraktion, jener Kraft, durch die in der Welt des Lebendigen »jedes zu seines Gleichen gezogen wird, alles unter der Sonne sich paart«.217 Wenn die sexuelle Anziehung mit der vis gravitationis überblendet wird, dann ist sie ins Reich des Lebendigen transponiert und auf die dort geltenden Regeln der Annäherung und Verbindung bezogen. Das hieraus bezogene Argument der Lebendigkeit und Natürlichkeit färbt die Beschreibungen künstlerischer Kreativität, mit denen Goethe seinen Text schließt. Weil Sulzer nur zu »ängstlicher mechanischer Ausübung« der Künste anleiten könne, stehe, so Goethe, eine »lebendige Theorie« der Kunst noch aus.218 Allerdings stellt Goethe den Kunsttrieb nicht als Akt der Epigenesis, der Zeugung oder Prokreation,219 sondern als elementare Kraft vor, die verzehrt und zerstört. Die geforderte lebendige Theorie der Kunst müsse »den Künstler grade angehen« und »seinem natürlichen Feuer Luft machen«, so »daß es um sich
verbreitet. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt a. M. 2008; Donna J. Haraway: When Species Meet. Minneapolis 2008; Mit dem Fokus auf Symbiopoiesis, Koevolution und Kollaboration (Gilbert, Hird, Tsing) oder ›kinship‹ (Haraway) zeigen kulturwissenschaftliche Perspektivierungen bei aller Einsicht in die ruinierte Natur des Anthropozäns aber eine erstaunliche Tendenz, die freundschaftlichen, zumindest konstruktiven Formen dieses verwobenen Zusammenlebens hervorzuheben. Donna J. Haraway: Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene. Durham 2016; Scott F. Gilbert/Jan Sapp/Alfred I. Tauber: A Symbiotic View of Life: We have never been Individuals. In: The Quarterly Review of Biology 87 (2012), S. 325–341. Myra J. Hird: Coevolution, Symbiosis and Sociology. In: Ecological Economics 69 (2010), S. 737–742; Anna. L. Tsing: The Mushroom at the End of the World: On the Possibility of Life in Capitalist Ruins. Princeton 2015. Eine Ausnahme bildet Timothy Morton, der die Netzmetapher (›mesh‹) aufnimmt, im Rahmen seiner ›dark ecology‹ aber düsterer grundiert. Timothy Morton: Dark Ecology. For a Logic of Future Coexistence. New York, NY 2016. Heather Sulllivan hat im methodischen Rekurs auf Morton in Goethes Werther ein ›dark pastoral‹ herausgearbeitet. Heather Sullivan: Nature and the ›Dark Pastoral‹ in Goethes Werther. In: Goethe Yearbook 22 (2015), S. 115–132. 217 Goethe: Rezension zu Sulzer, Goethe FA 18, S. 98. 218 Goethe: Rezension zu Sulzer, Goethe FA 18, S. 101. 219 Zu biologischen Modellierungen von Generativität und künstlerischer Kreativität vgl. Helmut Müller-Sievers: Self-Generation. Biology, Philosophy and Literature Around 1800. Stanford 1997; Christian Begemann/David E. Wellbery (Hg.): Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit. Freiburg i.Br. 2002. Den hybriden, zur gleichen Zeit in Biologie, Sprachwissenschaft, Philosophie und Literatur vorangetriebenen Diskurs um Epigenesis als Autopoeiesis hat Müller-Sievers noch einmal in verdichteter Form vorgestellt. Helmut Müller-Sievers: Formative Forces. Biological, Philosophical, and Linguistic Generativity. In: ders.: The Science of Literature. Essays on an Incalculable Difference. Berlin/Boston 2015, S. 15–33. Nach dem epistemischen Status der Kraft wird dort allerdings nicht gefragt.
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greife und sich tätig erweise«.220 Wenn das besonders ausgezeichnete Künstlertalent, das spätestens seit den 1770ern als Naturgenie diskutiert wird, wie ein alles ergreifendes Feuer in unaufhaltsamer Tätigkeit begriffen sein soll, dann scheint es sowohl textile Gebilde zu knüpfen als auch vorliegendes Material zu verbrennen. Die Sulzerkritik gehört fraglos in die für den Sturm und Drang typischen und topischen Kraftrhetoriken, wie Goethe sie etwa auch zur Beschreibung des titanischen Shakespeare aufbietet und in seinen frühen Oden und Dramen, allen voran dem Prometheus, in stilistische und figurative Kraftexperimente überführt.221 Die 1772 gefundene Formel von der Natur als ›Kraft, die Kraft verschlingt‹, führt aber auch ins Zentrum der über die 1770er Jahre hinaus verfolgten naturwissenschaftlichen Interessen. Dabei spielt der Begriff der Kraft in Goethes Annäherungen an vegetabile Naturen, mit denen er nach seiner Rückkehr aus Italien erst eine Metamorphosenlehre, dann nach 1800 eine Morphologie begründen will, eine bislang kaum gewürdigte und entsprechend auch nicht systematisch erfasste Rolle. Statt, wie in der Forschung meist angenommen, in Goethes Epistemik der Natur eine Abwendung von Lebenskraftvorstellungen zugunsten der Leitkategorien Form oder Gestalt zu sehen, möchte ich nach den Präzisierungen und Verschiebungen innerhalb einer Kraftkonzeption fragen, ohne die sich, so meine These, weder die Arbeit der dichterischen Einbildungskraft noch die daraus hervorgehende poetische Form denken lässt.222
220 Goethe: Rezension zu Sulzer, Goethe FA 18, S. 100. 221 Hubert Thüring hat den Werther als »das literarische Kraftexperiment« gelesen, in dem Goethe das in der Sulzer-Rezension entworfene Kraftkonzept kritisch überprüft. Thüring folgt der These, dass »Goethe die Aporie der auf eine monistische Kraft bauende Lebens-Kraft-Theorie zugunsten einer dialektischen Kraft-Gestalt-Beziehung« aufzuheben versucht, bis er das Begriffspaar Leben und Kraft spätestens nach 1800 zugunsten des Begriffs der Gestalt aufgibt. Hubert Thüring: Das neue Leben. Studien zu Literatur und Biopolitik 1750–1938. München 2012, S. 69–70. Zu den Kraftgenies als Figurentypus der frühen Dramen siehe Martin Blawid: Von Kraftmenschen und Schwächlingen. Literarische Männlichkeitsentwürfe bei Lessing, Goethe, Schiller und Mozart. Berlin 2011, S. 162–217; Roland Krebs: Herder, Goethe und die ästhetische Diskussion um 1770. Zu den Begriffen ›énergie‹ und Kraft in der französischen und deutschen Poetik. In: Goethe-Jahrbuch 112 (1995), S. 83–96; Helmut Schmiedt: Merkwürdige Helden. Zum Typus Kraftgenie im Sturm und Drang. In: Lenz-Jahrbuch 12 (2002–2003), S. 139–154. 222 Wie Thüring folgt auch schon Maike Arz der These, dass der Gestaltbegriff an die Stelle eines problematischen Begriffs der Lebenskraft rückt. Maike Arz: Literatur und Lebenskraft. Vitalistische Naturforschung und bürgerliche Literatur um 1800. Stuttgart/Weimar 1996, S. 107–187.
Metabolismus: Natur als ›Kraft die Kraft verschlingt‹
Weben der Kräfte und Textilität der Dichtung
Obwohl Goethe die epistemischen Schwächen der Kategorie Kraft sehr deutlich sieht und benennt, verzichtet er keineswegs ganz auf ihren Einsatz. Vielmehr überführt er die Rede von der Kraft in Begriffsalternativen, von denen, dies wird in späteren Kapiteln noch genauer zu zeigen sein, sich erst der Trieb, dann vor allem die Tätigkeit empfiehlt. Zunächst gilt es jedoch die epistemischen Voraussetzungen dieser anhaltenden Begriffsarbeit zu klären. Orientiert am Doppelsinn der verschlingenden Kräfte, die sich als flectere und glutire einerseits in proliferierenden Textilitätsmetaphern, andererseits in Bildern eines metabolischen Stoffwechsels durch Goethes naturwissenschaftliche wie auch durch seine poetologischen und literarischen Texte zieht, wird Kraft zur Leitkategorie eines Naturverständnisses, das Goethe auch bei der Reflexion auf seine literarische Produktion leitet. Das Weben, und genauer noch: das Weben von Kräften bringt es in Goethes Naturdenken zu einer Leitmetapher, die sich bestens zur Reflexion auf poetologische Probleme eignet. Sie begegnet bereits in den frühen Faustentwürfen der 1770er Jahre.223 Als Faust in der ersten Szene des frühen Fragments »[d]ie Kräffte der Natur enthüllen« will, lässt ihn das auf einer Buchseite abgebildete »Zeichen des Makrokosmos« schon ahnen, »[w]ie alles sich zum Ganzen webt / Eins in dem andern würkt und lebt / Wie Himmels kräffte auf und nieder steigen / Und sich die goldnen Eimer reichen!«.224 Wie gezeigt worden ist, verbinden sich in diesen Versen die Bibelerzählung vom Traum Jakobs von der Himmelsleiter mit der Vorstellung von der catena aurea, der goldenen Kette der Wesen.225 Goethes Rede vom Verschlingen, Knüpfen oder Weben der ›Himmelskräfte‹ beerbt die bis ins 18. Jahrhundert hinein verbindlichen Vorstellungen von einer scala naturae oder great chain of being.226 Und so bestätigt der Erdgeist die von Faust geäußerte visionäre Einsicht in die ›würkenden und lebenden‹, ›auf und nieder steigenden‹ Kräften, wenn er erklärt: Webe hin und her Geburt und Grab Ein ewges Meer Ein wechselnd Leben! 223 Hier zitiert nach der »Niederschrift des Hoffräuleins Luise von Göschhausen«, die zwar nicht die Urfassung, wohl aber die älteste erhaltene Fassung darstellt. Vgl. Kommentar Goethe FA 7/2, S. 827. 224 Goethe: Faust. Frühe Fassung, Vers 85 u. Vers 94–96, Goethe FA 7/1, S. 471 u. 472. 225 Die Provenienz dieses Bildprogramms und Goethes Rezeption hermetischer Schriften sind gut rekonstruiert. Vgl. Kommentar Goethe FA 7/2, S. 838. 226 Die Geschichte dieser Vorstellung hat Lovejoy rekonstruiert. Arthur O. Lovejoy: The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea [1936]. Cambridge, MA 1964.
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So schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit Und würke der Gottheit lebendiges Kleid227 Ob es einem Lese- oder Schreibfehler des Hoffräuleins von Göchhausen oder einer späteren Umarbeitung geschuldet ist, wenn aus dem »wechselnd Leben« der frühen Fassung im Faust I ein »wechselnd Weben / glühend Leben« wird, muss offenbleiben.228 Erhalten bleibt in beiden Versionen das Bild von der Natur als einem textilen Erzeugnis, in dem sich die lineare Kette der Wesen in einen flächigen Stoff, ja sogar in ein ›lebendiges Kleid‹ verwandelt. Denn was Faust als Auf und Nieder und damit als leiterartige vertikale Bewegung imaginiert, überführt der Erdgeist in seiner Replik geschickt in ein horizontales Hin und Her, das keine himmlische Transzendenz mehr braucht. Damit liegt er, anders als der in seine verstaubte Studierstube eingesperrte Faust, auf der vom jungen Goethe eingezeichneten Linie einer spinozistischen Gott-Natur, der gemäß sich das Göttliche in der Natur finden lassen soll.229 Das Weben ist bekanntlich eine in der Antike geprägte, vielseitig verwendbare Metapher für das Dichten und die daraus entstehenden Texte.230 Goethe nutzt diesen Bildbestand häufig und in durchaus heterogener Weise, um verschiedene Aspekte der Produktionsweise wie auch des fertigen Produkts der Dichtung zu bezeichnen. Im Torquato Tasso ist die unwillkürliche, aus dem Schmerz geborene Einbildungskraft der Dichter als etwas konzipiert, das pathologisch-paranoide ›Gespinste‹ wie auch das ›köstliche Gewebe‹ der Dichtung hervorbringt.231 In dem Gedicht Zueignung (1784) – das wohl eher zufällig den gleichen Titel trägt wie die noch zu besprechende Zueignung zum Faust (1797/1808) – stellt Goethe dem ›lebendigen Kleid‹ der Natur die Gabe der Dichtung zur Seite, die den Menschen als »Schleier aus der Hand der Wahrheit«
227 Goethe: Faust. Frühe Fassung, Vers 151–156, Goethe FA 7/1, S. 473–474. 228 Goethe: Faust I, Vers 506–507, Goethe FA 7/1, S. 37. 229 Die Spinoza-Rezeption Goethes und seines Umfelds ist bestens erforscht, vgl. etwa Martin Bollacher: Der junge Goethe und Spinoza. Studien zur Geschichte des Spinozismus in der Epoche des Sturms und Drangs. Tübingen 1969; David Bell: Spinoza in Germany from 1670 to the Age of Goethe. London 1984; Eckart Förster/Yitzhak Y. Melamed (Hg.): Spinoza and German Idealism. Cambridge 2012. 230 Diese Bildtradition, die sich in der Dichtung der archaischen Antike etabliert und nicht zuletzt über Ovid in die poetologische Reflexion Eingang findet, ist bestens aufgearbeitet. Vgl. John Scheid/Jesper Svenbro (Hg.): The Craft of Zeus, Myths of Weaving and Fabric. Cambridge, MA 1996; Henriette Harich-Schwarzbauer (Hg.): Texts and Textiles in the Ancient World. Materiality – Representation – Episteme – Metapoetics. Oxford 2015; Erika Greber: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Köln/Weimar/Wien 2002. 231 Cornelia Zumbusch: Weimarer Klassik. Zur Einführung. Stuttgart/Weimar 2019, S. 143.
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geschenkt wird.232 Das Bild von der Dichtung als Schleier gewinnt Goethe aus einer Szene, die den Licht- und Farbstudien entstammt, besteht der am Ende des Gedichts evozierte Schleier doch aus einem nebelhaften Dunst, in dessen trübem Medium das blendende Licht erst sinnlich erfasst werden kann. Der Schleier, so erläutert die allegorische Figur der Wahrheit, sei »[a]us Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit«.233 In Wilhelm Meisters Wanderjahren legt Goethe das Bild vom Gewebe, nun als Produkt aus angezettelten Gegebenheiten und zufälligen Einschüssen, schließlich zum Bild des Romantexts zurecht. Dabei kehren die teils handwerklichen, teils maschinellen Herstellungsprozesse des Spinnens und Webens derart angereichert wieder, dass sie Beschreibungen von Webereibetrieben, weiblicher Handarbeit und Maschinenproduktion, Romantext und Schicksalsmetaphorik assoziativ verbinden können.234 Textilität dient bei Goethe aber nicht nur als Reflexionsmodell für den Vorgang des Dichtens oder für die Textur des Gedichteten, sondern auch für eine Natur, die als natura naturans begriffen werden soll. In den wiederkehrenden Rekursen auf eine webende Natur verlagert sich der Fokus vom Produkt auf den Vorgang des Produzierens, mithin vom Schleier auf den Webstuhl. In den 1817–1820 zusammengestellten Heften zur Morphologie entwirft Goethe dort, wo er sich vor den Fragen nach dem Verhältnis von Idee und Erfahrung »in die Sphäre der Dichtkunst flüchten« will, die Natur als eine »Weberin«: So schauet mit bescheidnem Blick Der ewigen Weberin Meisterstück, Wie ein Tritt tausend Fäden regt, Die Schifflein hinüber herüber schießen, Die Fäden sich begegnend fließen, Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt. Das hat sie nicht zusammen gebettelt, Sie hats von Ewigkeit angezettelt; Damit der ewige Meistermann
232 Goethe: Zueignung, Goethe FA 1, S. 11. Zum Gedicht Zueignung siehe Ulrike Landfester: Der Dichtung Schleier. Zur poetischen Funktion von Kleidung in Goethes Frühwerk. Freiburg i.Br. 1995, S. 297–312. Zum ›Gespinst‹ und den poetologisch aufgeladenen Textilmetaphoriken der Meteorologie in Zueignung vgl. Oliver Grill: Die Wetterseiten der Literatur. Poetologische Konstellationen und meteorologische Kontexte im 19. Jahrhundert. Paderborn 2019, S. 42–47. 233 Goethe: Zueignung, Goethe FA 1, S. 11. 234 Cornelia Zumbusch: Dämonische Texturen. Der durchkreuzte Wunsch in Goethes Wanderjahren. In: Lars Friedrich/Eva Geulen/Kirk Wetters (Hg.): Das Dämonische. Schicksal einer Kategorie der Zweideutigkeit. München 2014, S. 79–96. Vgl. auch Carina Gröner: Text gewebe. Goethes Erzähler in den Wilhelm-Meister-Romanen. Bielefeld 2019.
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Getrost den Einschlag werfen kann.235 Das Bild vom Weben erlaubt es, die Welt sowohl als fertiges Textil zu denken als auch den unabgeschlossenen Vorgang des Verschlingens und Verwebens zu evozieren. Der Meister und die Weberin finden in einer fortdauernden Tätigkeit zusammen, die sich sprachlich in den Verbformen ›regt‹ und ›schlägt‹, ›schließen‹ und ›fließen‹ realisiert. Das präzise durchgeführte Gleichnis vom Webstuhl, in dem ein fest angelegter ›Zettel‹ von einem bewegten ›Einschlag‹ durchschossen und beide in hoher Geschwindigkeit verwoben werden, soll die tätige Verbindung von Gott und Natur, Idee und Empirie vor Augen führen. Dasselbe Gedicht platziert Goethe, nun unter dem Titel Antepirrhema, in der Sammlung von 1827, wo es in der Rubrik Gott und Welt mit anderen naturphilosophischen Gedichten wie etwa den beiden Metamorphose-Elegien oder dem Gedicht Urworte, orphisch gruppiert wird. In diesem Publikationskontext wird die früh formulierte Vorstellung von einer webenden Gott-Natur in einen epistemologischen Horizont gestellt. Zur Debatte steht die Frage nach dem Ort der Kraft in der Natur, wie sie das 18. Jahrhundert beschäftigt. Den unter Gott und Welt zusammengestellten Gedichten setzt Goethe ein Proömion voran, das auf die cartesianische, von der Newton’schen Mechanik gerade nicht beantwortete Frage Bezug nimmt, wer die Weltmaschine wohl in Gang gesetzt haben mag: Was wär’ ein Gott, der nur von außen stieße, Im Kreis das All am Finger laufen ließe! Ihm ziemt’s, die Welt im Innern zu bewegen, Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen, So daß was in Ihm lebt und webt und ist, Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermißt.236 Der Rekurs auf den Kraftbegriff, der in engster Nachbarschaft zum ›Geist‹ auftritt, ohne jedoch eine transzendente Ursache von Bewegungen bezeichnen zu wollen, ist aufschlussreich. Wenn Kraft in mehr oder weniger enger Anlehnung an Spinoza und ähnlich wie bei Leibniz für ein immanentes Prinzip der Natur steht, dann erschöpft sich die Kraft Gottes nicht in einem von außen gegebenen Bewegungsimpuls. Vielmehr bezeichnet Kraft das innere Prinzip der Schöpfung, das, so suggeriert die stabreimende Rede vom ›Leben und Weben‹, mit dem von ihm Geschaffenen untrennbar verflochten bleibt und weiter in ihm wirkt. Das Bild von einem Gott, der in der Natur ›lebt und webt‹, erweist sich als strategische Erweiterung eines mechanischen Weltbilds, in dem Gott
235 Goethe: Zur Morphologie, Goethe FA 24, S. 450. 236 Goethe: Proœmion, FA 2, S. 489.
Metabolismus: Natur als ›Kraft die Kraft verschlingt‹
nur den ersten Anstoß zur regelmäßigen Bewegung der Körper gegeben hat.237 Denn wo sich Weben auf Leben reimt, sind Phänomene des Lebendigen integriert; wo ein Gespinst zugleich als Duft oder Dunst erscheint, sind die Nuancen atmosphärisch bedingter Farbwahrnehmungen mit im Spiel. Das epistemologische Problem der Wahrnehmbarkeit von Kräften wird noch zu besprechen sein. Zuvor ist zu zeigen, wie Goethe im Vorfeld der Metamorphose-Schrift die Kräfte des Lebendigen als Kräfte eines Hervorbringens konzipiert, das in gesteigertem Maße auf die Aufnahme von Äußerem angewiesen ist. Denn hier tritt neben die oft kommentierte Webmetapher die aus konkreten Beobachtungen hervorgegangene Vorstellungen von einem Metabolismus der Natur, ohne den sich aus Goethes Sicht weder Formgenese noch Formwandel denken lassen. Produktive Kräfte: Form und Verschlingung (Notizen aus Italien)
Von den im ersten Weimarer Jahrzehnt angelegten Versuchsreihen zur Anzüchtung sogenannter Aufguss- oder Infusionstiere über die Skizzen zu den Keimlingen oder Kotyledonen bis zu den Notizen aus Italien umkreist Goethe die Möglichkeit des Lebendigen, etwas ihnen Gleiches hervorzubringen. Die Fortpflanzungsfähigkeit lebendiger Körper stellt Goethe ausdrücklich ins Zeichen einer Kraft: An allen Körpern die wir lebendig nennen bemerken wir die Kraft ihres gleichen hervorzubringen. Wenn wir diese Kraft geteilt gewahr werden bezeichnen wir sie unter dem Namen der beiden Geschlechter. Diese Kraft ist diejenige welche alle lebendige Körper mit einander gemein haben, da sonst ihre Art zu sein sehr verschieden ist. Die Ausübung dieser Kraft nennen wir das Hervorbringen.238
237 In diese 1827 zusammengestellte Gedichtreihe gehört auch die unter dem Titel Allerdings geführt Anrede an die Physiker, die als eigentliche Adresse Albrecht von Haller und dessen im Lehrgedicht gezogenen Grenzen des Wissens hat. Es sei philisterhaftes Geschwätz zu behaupten, ›Ins Innre der Natur‹ dringe »kein erschaffner Geist«, sei doch die Vorstellung von Innen und Außen, Kern und Schale selbst schon fehlgeleitet. Hier zeigt sich der monistische Grundzug der Goethe’schen Naturauffassung, der sich Gesetze nicht hinter, unter oder in einem verborgenen Inneren der Natur zeigen, sondern in den Phänomenen offen zutage liegen sollen. Goethe: Allerdings, Goethe FA 2, S. 507. Zu Hallers Lehrgedicht im Kontext der Newtonrezeption siehe Simone de Angelis: Von Newton zu Haller: Studien zum Naturbegriff zwischen Empirismus und deduktiver Methode in der Schweizer Frühaufklärung. Tübingen 2003, S. 109–113. 238 Goethe: >Notizen aus ItalienNotizen aus ItalienNotizen aus ItalienNotizen aus ItalienNotizen aus ItalienNotizen aus ItalienNotizen aus ItalienNotizen aus ItalienNotizen aus ItalienBotanik als WissenschaftBotanik als WissenschaftBotanik als WissenschaftBotanik als WissenschaftBotanik als WissenschaftZur VergleichungslehreZur VergleichungslehreZur VergleichungslehreZur VergleichungslehreZur VergleichungslehreZur VergleichungslehreZur VergleichungslehreZur VergleichungslehreZur VergleichungslehreStudie nach SpinozaAuf dem SeeAuf dem SeeAuf dem SeeAuf dem SeeAuf dem SeeAuf dem SeeAn Riese 28.4.1766An Riese 28.4.1766Botanik als WissenschaftBotanik als WissenschaftBotanik als WissenschaftBotanik als WissenschaftBetrachtungen über Morphologie< erklärt er mit Bezug auf die Lebenskraftdebatte: »mit völliger Befugnis legte man diesem Leben, um des Vortrags willen, eine Kraft unter; man konnte, ja man mußte sie annehmen, weil das Leben in seiner Einheit sich als Kraft äußert die in keinem der Teile besonders enthalten ist«.487 Kraft fungiert als der Newton’sche Schwellenbegriff zwischen Metaphysik und Physik, der eine grundsätzlich unbeobachtbare Ursache messbarer Bewegungsveränderungen bezeichnen soll. Als epistemologisches Scharnier reguliert die Variable der 485 Goethe: Galvanismus, Goethe FA 24, S. 168–175, hier: S. 170. 486 Goethe: Galvanismus, Goethe FA 24, S. 170. 487 Goethe: >Betrachtungen über MorphologieBotanik als Wissenschaft