Norm und Geschichtlichkeit der Dichtung: Klassisch-romantische Ästhetik und moderne Literatur [Reprint 2018 ed.] 9783110858327, 9783110082388


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German Pages 323 [324] Year 1983

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Inhalt
Einleitung
ERSTER TEIL: FREIHEIT ALS IMMANENTE NORM ÄSTHETISCHER ERFAHRUNG UND DER DICHTUNG Kants „Kritik der Urteilskraft" und das Problem literarischer Wertung
Α. Die Bedeutung von Kants Theorie für die Theorie der literarischen Wertung
Β. Kants Theorie ästhetischer Reflexion. Die Möglichkeit verbindlicher literarischer Wertung
ZWEITER TEIL: FRIEDRICH SCHLEGELS UND HEGELS KONZEPTIONEN MODERNER DICHTUNG
Α. Friedrich Schlegels Theorie einer universellen Dichtung
Β. Hegels Konzeption einer universellen Kunst in der Moderne
DRITTER TEIL: VERSUCH DES VERSTÄNDNISSES VON MODERNER KUNST AM BEISPIEL VON SAMUEL BECKETTS ROMANTRILOGIE VOR DEM HINTERGRUND DER ÄSTHETIK KANTS SOWIE SCHLEGELS UND HEGELS KONZEPTIONEN MODERNER KUNST
Α. Einleitung
Β. Samuel Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung
C. Becketts Trilogie als ,moderne' Kunst. Ein Versuch geschichtlicher literarischer Wertung in Beziehung auf die Konzeptionen von Kant, Schlegel und Hegel
Literaturverzeichnis
Personenregister
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Norm und Geschichtlichkeit der Dichtung: Klassisch-romantische Ästhetik und moderne Literatur [Reprint 2018 ed.]
 9783110858327, 9783110082388

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Götz Braun Norm und Geschichtlichkeit der Dichtung

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker Begründet von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer Neue Folge Herausgegeben von

Stefan Sonderegger

81 (205)

w DE

G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1983

Norm und Geschichtlichkeit der Dichtung Klassisch-romantische Ästhetik und moderne Literatur

von

Götz; Braun

w DE

G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1983

Gedruckt mit Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Förderer und Freunde der Freien Universität e. V.

D 188 ClP-KuTztitelaufnahme der Deutseben Bibliothek Braun, Götz: Norm und Geschichtlichkeit der Dichtung : klass.-romant. Ästhetik u. moderne Literatur / von Götz Braun. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1983. (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker ; N.F., 81 = 205) ISBN 3-11-008238-1

© Copyright 1983 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung - J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J. Trübner - Veit & Comp. - Printed in Germany - Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten. Satz und Drude: Walter Pieper, Würzburg Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin

Inhalt Einleitung

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Erster Teil: Freiheit als immanente Norm ästhetischer Erfahrung und der Dichtung Kants „Kritik der Urteilskraft" und das Problem literarischer Wertung A. Die Bedeutung von Kants Theorie für die Theorie der literarischen Wertung . . . . .

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B. Kants Theorie ästhetischer Reflexion. Die Möglichkeit verbindlicher literarischer Wertung

8

I. Die systematische Stellung der Theorie der ästhetischen Reflexion in Kants Philosophie

8

II. Die Theorie der reinen ästhetischen Urteile des Schönen und Erhabenen 1. Das Geschmacksurteil und das Schöne a) Analyse des Geschmacksurteils („Exposition") . . . α) Der Scheincharakter des Schönen (Qualität des GeGesdimacksurteils) ß) Die subjektive Allgemeinheit des Wohlgefallens am Schönen (Quantität des Geschmacksurteils) . . . γ) Subjektive Zweckmäßigkeit ohne Zweck als Grund des Geschmacksurteils und die Ableitung des Begriffs der Schönheit (Relation des Geschmacksurteils) . . δ) Die subjektive Notwendigkeit des Wohlgefallens am Schönen (Modalität des Geschmacksurteils) . . . b) Rechtfertigung des Verbindlichkeitsanspruches im Geschmacksurteil („Deduktion" des Geschmacksurteils) . . Die „Deduktion" des Geschmacksurteils . . . . Zusammenfassung: Die Argumentation in „Exposition" und „Deduktion"

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Inhalt c) Die Deutung der Erfahrung des Schönen („Dialektik der ästhetischen Urteilskraft") 44 α) Die Antinomie der Geschmackstheorien (Empirismus und Rationalismus) 45 ß) Die Erfahrung des Schönen: Das Übersinnliche als Grund der Einheit von Freiheit und Natur . . 47 γ) Schönheit als Symbol der Sittlichkeit . . . 49 2. Das „Geistesgefühl" des Erhabenen . . 5 3 a) Das Erhabene als ästhetische Reflexion 55 b) Die Idee der Unendlichkeit der Natur und personale Selbstbehauptung als Inhalt des Erhabenen . . . . 58 3. Ästhetische Reflexion und Autonomie. Der Begriff der Literaturwissenschaft im Allgemeinen . . . 63 III. Die Theorie der Beurteilung des Kunstwerks 1. Kants Begriff der schönen Kunst als Einheit von Schönheit und Geist a) Das Kunstwerk als Darstellung b) .Geist' als Vermögen künstlerischer Darstellung. Kants Lehre von den „ästhetischen Ideen" und der Begriff einer ästhetischen Vernunft . . . . . . . 2. Die ästhetische Reflexion im Kunstwerk als unendliche Interpretation. Ästhetische Vernunft: Darstellung des Absoluten und Kritik des empirischen Bewußtseins . . .

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Zweiter Teil: Friedrich Schlegels und Hegels Konzeptionen moderner Dichtung A. Friedrich Schlegels Theorie einer universellen Dichtung . I. Schlegels Kunstbegriff im Aufsatz „Über das Studium der griechischen Poesie" und die Konzeption einer .objektiven' modernen Dichtung 1. Schlegels Verständnis der Kunst aus dem Wesen des Menschen als seiner Bestimmung a) Wiedergewinnung der .Objektivität' in der Wechselbegründung von Kunstanschauung und Kunstphilosophie. — Kant und Fichte als Ausgangspunkte für eine .objektive' Philosophie der Kunst . . . .

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Inhalt b) Die „gesetzgebende Anschauung": Griechische Dichtung ist Darstellung .reiner Menschheit' als des ,echten Göttlichen' c) Schlegels Begriff des Schönen und der Kunst . . . . α) Der umfassende Begriff des Schönen: Schönheit als „angenehme Erscheinung des Guten" ist Einheit von Reiz, Schönheit und Erhabenheit ß) Normativer Sinn und geschichtliche Entwicklungsmöglichkeit in Schlegels Kunstbegriff: Die Begründung der Kunst aus der .Bestimmung des Menschen' . . γ) Die funktionale Fassung des Normativen als Grund der Bedeutsamkeit des Schlegelschen Kunstbegriffs für die Dichtungsgeschichte 2. Schlegels Verständnis der geschichtlichen Kunstformen und die Konzeption einer neuen objektiven Dichtung . .

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a) .Reine Menschheit' und .Freiheit' als Verständnishorizont für Kunst und .höhere' Geschichte. .Bildung' als der Grundbegriff von Schlegels Geschichtsphilosophie b) Schlegels geschichtsphilosophische Deutung der Antike und der Moderne als .natürliche' und .künstliche Bildung'. — Selbstbewußte Freiheit als normativer Ursprung moderner Kunst c) Schlegels Kritik an der .subjektiven' Kunst der Moderne. — Die neue objektive Dichtung als universelle Kunst, begründet in der „Natur" des Menschen. Schlegels Herder-Kritik d) Schlegels Konzenption der .objektiven Poesie' als Verbindung von Antike und Moderne. — .Objektive' Dichtung und „progressive Universalpoesie"

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II. Schlegels Konzeption der romantischen Poesie als „progressive Universalpoesie": Moderne Dichtung als „die Dichtkunst selbst"

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1. Schlegels Verständnis der Dichtung aus dem Wesen des Geistes

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a) Das Lyceums-Fragment 37: Beschreibung der künstlerischen Tätigkeit mit den Begriffen von Schlegels Geisttheorie. .Gut schreiben' als .Selbstbeschränkung' in der Folge von .Begeisterung' und .Besonnenheit' . . . . b) Schlegels Geisttheorie als Grund seiner Dichtungstheorie

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VIII

Inhalt

2. Die Konzeption der modernen .romantischen Poesie' als „die Dichtkunst selbst" a) Schlegels allgemeiner Formbegriff: „Korrekt" als Selbstbestimmtheit b) Romantische Poesie als „progressive Universalpoesie": Universelle und reflexive Poesie am Ursprung der Dichtung (116. Athenäums-Fragment) α) Progressive Universalpoesie als universelle enzyklopädische Dichtung ß) .Poetische Reflexion' als Entwicklungsgesetz des Werks und der modernen .romantischen' Dichtung. Progressivität und Reflexivität der romantischen Poesie . . y) Progressive Universalpoesie als reflexive Fundamentalkunst am Ursprung der Dichtung. Romantische Poesie als „die Dichtkunst selbst" 3. Die Konkretisierung von Schlegels Konzeption der „progressiven Universalpoesie" an der „Wilhelm MeisterKritik a) „Wilhelm Meisters Lehrjahre" als „Roman des Universums" b) .Universelles Bewußtsein' als Ziel und der „Weltgeist des Werks" als Subjekt der „poetischen Reflexion". Ironie als Werkstruktur c) „Wilhelm Meister" als Einheit von „Kunstwerk" und .historischer Philosophie der Kunst'. Selbstreflexion als Grundzug moderner Dichtung . III. Dichtung als „Mythologie" 1. Religion als Grund der Dichtung: „Mythologie" und die „Mysterien der Alten" als „Kern" und „Zentrum" der Poesie. Schlegels Ansatz einer ontologischen Dichtungstheorie in den „Ideen" 2. Dichtung als Erkenntnis des „wahrhaft" Wirklichen . . a) „Poesie" als das normativ Reale selbst b) Ontologisierung des Spielbegriffs. Dichtung als .ferne Nachbildung' des .Spieles der Welt' c) Schönheit und Dichtung als „Allegorie". „Allegorie" und „Bedeutung" als Begriffe der Bezeichnung des Realen im nicht empiristischen Sinn 3. Universelle Dichtung und „neue Mythologie". Schlegels Konzeption der modernen Dichtung im „Gespräch über die Poesie"

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Inhalt

a) „Neue Mythologie" als universelle Kunst am Ende der .Geschichte des Bewußtseins'. Dichtung als .Geschichte des Bewußtseins'

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b) Das Wesen der „Poesie" als „Mythologie" und die geschichtlichen Dichtungsformen als Formen der Mythologie α) Der Begriff der Mythologie als „Verklärung der umgebenden Natur" durch „Fantasie und Liebe" . . ß) Die geschichtlichen Dichtungsformen als Formen der Mythologie. Romantische Kunst als „indirekte Mythologie" 7) Der „Geist der Liebe" in der Sphäre der Erscheinung als Prinzip der romantischen Kunst. — Symbolisierung der .Natur' und des .Geists der Liebe' als Ziel der „neuen Mythologie"

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δ) Schlegels philosophische Bestimmung der Begriffe .Natur' und .Liebe'. — Dichtung als Darstellung der werdenden Identität

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4. Der ontologisch-utopische Sinn von Schlegels Dichtungstheorie . . . Der Roman im Übergang zur Mythologie Die Konzeption der kritischen „Transzendentalpoesie" .

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B. Hegels Konzeption einer universellen Kunst in der Moderne . I. Die Entstehung einer neuen Kunst in der .Auflösung' der .romantischen Kunstform' und der .Kunst selbst' 1. Die .Auflösung' der romantischen Kunst und der Kunst überhaupt: Zufälligkeit der Beziehung von .Bedeutung und Gestalt' 2. Der Rückgang .des Menschen in sich selbst' als Ursprung der neuen Kunstform II. Die nachromantische Kunst als Kunst des Humanen im Sinn des .sich selbst bestimmenden Menschengeists' . . . . 1. Moderne Kunst als Kunst am Ursprung der geschichtlichen Objektivationen 2. Darstellung des universellen Bewußtseins in der deutenden Wiederaufnahme geschichtlicher Formen und Stoffe

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Inhalt

I I I . Die Konzeptionen Hegels und Schlegels und ihre Beziehung zur modernen Kunst Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Hegels und Schlegels Theorien einer modernen universellen Kunst . . .

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Dritter Teil: Versuch des Verständnisses von moderner Kunst am Beispiel von Samuel Becketts Romantrilogie vor dem Hintergrund der Ästhetik Kants sowie Schlegels und Hegels Konzeptionen moderner Kunst A. Einleitung

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. . .

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I. Samuel Becketts Trilogie als reflexive und universelle Dichtung am Ursprung der Dichtung . . . .

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II. Selbsterfahrung als Gesichtspunkt der Analyse von Becketts Trilogie . . . .

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B. Samuel Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung .

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I. Der Ausgangspunkt der Erfahrungsbewegung in der Trilogie: „Molloy" 1. Aufbau des Werks. Ausgangspunkt der Trilogie. Moran und Molloy als Stufen des Bewußtseins . . . . . 2. Selbsterfahrung in der Auflösung des Sich-besitzen-Wollens (Todesbegegnung). Morans Bericht a) Scheinhafte Existenz und Aufnahme einer Selbstbeziehung b) Morans Reise als Bewegung auf sich selbst zu. — Selbsterfahrung als Auflösung der Verdeckungen des „bekannten und verleugneten" Selbst. Personale Identität als Resultat der Erfahrungsbewegung c) Die neue Selbst- und Weltbeziehung Morans nach seiner Rückkehr: Einheit mit der freien Natur und Beginn eines Aus-sich-Seins gegen alle „Autoritäten" der „Welt" . . Selbstbegründung des Berichts und Offenheit des Schlusses. Die Aufhebung des Berichts im Schlußsatz und die Struktur des .Setzens und Aufhebens' . d) Dichtung als reflektierte Selbstdarstellung im Spannungsfeld von Realität und Imagination, Sein und Vorstellung „Zweckmäßigkeit ohne Zweck" als „Atmosphäre" der Beziehung auf das Selbst. Die Antinomie von Schein

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XI

Inhalt

und Existenz. Objektive Gültigkeit der Beziehung in der Relativität der Glieder Allgemeine Subjektivität als Grund der Objektivität der Dichtung . . . . . . . II. Entwicklungssinn der Trilogie und Aspekte moderner Dichtung: „Molloy" Teil I und „Malone stirbt" 1. Ansatzpunkt der Interpretation . . 2. „Molloy" (Teil I) a) Lebensjenseitiger Standpunkt und Selbstgericht. Die Problematik des .Wissens' b) Vorbegriffliche Selbst- und Welterfahrung als Grund der Sprachkritik. Künstlerische Form und Chaos . . . . 3. „Malone stirbt": Erscheinungsselbst und unvorstellbarer Grund des Selbst a) Die Entgegensetzung von „Spiel" und „Ernst" b) Selbsterfahrung und .Dichtung' in „Malone stirbt" . III. „Der Namenlose". Freisetzung des normativen Grundes der Trilogie Kritik und Begründung von Dichtung 1. Die Entgegensetzung von Bewußtsein und Erscheinung gegenüber dem unnennbaren Selbst 2. Kritik des objektivierenden Sprechens. Dichtungskritik (I) . 3. ,Mahood' als das Ich des Lebens und des Geschichten Erzählens 4. ,Worm' als Verkörperung des ungeborenen Selbst . . a) Worm als Objektivierung des Normgrundes . . . . b) ,Nichts', .Leere', .Schweigen' als Grundbegriffe der Trilogie in Beziehung zu personaler Identität c) .Nidit-geboren-Sein' im Antagonismus von Sein mit Bedeutung (.Konzipiert'-Werden) und Unnennbarkeit . 5. Selbsterfahrung als ,νοη der Welt Abwesender' im „Schweigen" als Wahrheitsgrund der Trilogie. Unwißbarkeit des Ziels und Normativität der Suche Kritik und Begründung von Dichtung im „Namenlosen"

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C. Becketts Trilogie als .moderne' Kunst. Ein Versuch geschichtlicher literarischer Wertung in Beziehung auf die Konzeptionen von Kant, Schlegel und Hegel

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Literaturverzeichnis . Personenregister

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. . . . . .

Einleitung Die Arbeit will zu einer geschichtlichen Deutung und Wertung moderner Dichtung beitragen. Sie versucht deshalb, in einem ersten Teil den normativen Sinn ästhetischer Erfahrung und der Dichtung überhaupt zu klären und von ihm aus die verbindliche Norm und den Charakter literarischer Wertung zu bestimmen. Dabei ist Kants „Kritik der Urteilskraft" der Ausgangspunkt. In ihren konkreten Analysen des Sinnes ästhetischer Erfahrung wird deren Bedeutung wie die ihr eigene Verbindlichkeit durch eine ihr immanente Bezogenheit auf menschliche Freiheit verständlich gemacht. Mit der Darstellung des Kantischen Gedankens kann gezeigt werden, daß ästhetische Erfahrung wie die Kunst selbst und damit auch Verstehen und Interpretieren von Dichtung auf dieser Norm beruht und sie also eine notwendige Vorausssetzung der Literaturwissenschaft bildet. In einem zweiten Schritt soll auf der Grundlage dieser allgemeinen Theorie ein geschichtliches Verstehen moderner Kunst vorbereitet werden. Dazu legt die Arbeit in ihrem folgenden Teil die Versuche Friedrich Schlegels und Hegels dar, die Formen moderner Dichtung im Ausgang von dem modernen Freiheitsbewußtsein und in Beziehung auf die bisherige Kunstgeschichte zu bestimmen. In der Aufnahme und Weiterentwicklung des Kantischen Ansatzes haben sie methodisch in einer Verbindung von „Theorie und Empirie" (Fr. Schlegel), philosophischem Denken und Werkinterpretation eine geschichtliche Deutung und Wertung zu verwirklichen gesucht und dabei die Normativität moderner Kunst als „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" (Hegel) gedacht. Wenn auch ihre faktischen Wertungen und ihre Entwürfe einer Kunstform der Moderne an ihre systematischen philosophischen Positionen gebunden sind, so dürfen der genannte methodische Ansatz wie auch das Prinzip ihrer geschichtlichen Wertung, da sie als Konkretisierungen des auf Freiheit als Norm basierenden Kunstverständnisses angesehen werden können, von der Literaturwissenschaft, wenn sie ihrem Gegenstand gerecht werden will, nicht aufgegeben werden, wie auch in Schlegels und Hegels Konzeptionen moderner Dichtung wesentliche Momente für ein Verständnis der modernen Kunst angelegt sind. Dieser erhellende Charakter ihrer Theorien einer Kunstform der Moderne soll im dritten Teil der Arbeit sichtbar werden, in dem ausgehend von der dort versuchten Interpretation eines wichtigen Werkes der modernen Literatur selbst, Samuel Becketts Romantrilo-

2

Einleitung

gie, überlegt wird, inwieweit die zuvor entwickelten Theorien Kants, Schlegels und Hegels Deutungsmöglichkeiten für die Formen und den Inhalt moderner Kunst enthalten.

ERSTER TEIL: FREIHEIT ALS IMMANENTE NORM ÄSTHETISCHER ERFAHRUNG UND DER DICHTUNG Kants „Kritik der Urteilskraft" und das Problem literarischer Wertung

Α. Die Bedeutung von Kants Theorie für die Theorie der literarischen Wertung In der Frage nach der Möglichkeit verbindlicher literarischer Wertung sind zwei theoretische Probleme impliziert: einmal, ob es überhaupt die Möglichkeit gibt, allgemeingültige Werturteile zu formulieren, was insbesondere seit dem Historismus 1 und seiner soziologischen Ausformung in der Wissenssoziologie 2 umstritten ist, zum anderen, ob eine verbindliche literarische, bzw. ästhetische Wertung im Sinne eigener Kriterien und Normen existiert, und wenn dies der Fall ist, worauf deren normativer Anspruch sich stützen kann. Für beide Probleme ist es sinnvoll, von Kants „Kritik der Urteilskraft" auszugehen. In ihr ist eine Theorie entwickelt, die die Eigenständigkeit eines Bereichs reiner ästhetischer Erfahrung gegenüber theoretischer Erkenntnis und sittlichem Wissen aufweist und die damit Grundbegriffe auch der nachfolgenden Theorien der Kunst und Kunstkritik (,Form', .Spiel', .Gestalt', ,Geist' etc.) erarbeitet. Die Erfahrung des Schönen und des Erhabenen wird von Kant als eine besondere, ,ohne Begriffe' vollzogene Form der R e f l e x i o n verstanden, aus der das .Urteil' im Sinne einer .Bewertung' des Gegenstandes als .schön' oder .erhaben' entspringt. Gerade mit dem Aufweis einer solchen Eigenständigkeit der .ästhetischen Reflexion' in der Erfahrung des Schönen, des Erhabenen und auch des Kunstwerks hat Kant aber zugleich die Bedeutsamkeit dieser Phänomene, die durch die .ästhetische Reflexion' erschlossen sind, für die Bestimmung des Menschen unter dem Gesetz der Freiheit sichtbar gemacht. Das Schöne, das Erhabene und die Kunst stehen in einem notwendigen Zusammenhang mit der Sittlichkeit, d. h. menschlicher Freiheit, von der her sie erst ihre eigene Bedeutsam1

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W. D i 11 h e y hat versucht, alle normativen Bestimmungen in das sich verstehende Leben zurückzunehmen, das dann aber notwendig unbestimmt bleiben muß und nur formal als „Strukturzusammenhang" beschrieben werden kann. Für den entscheidenden Gedanken Diltheys sei eine Stelle angegeben: „Das h i s t o r i s c h e B e w u ß t s e i n von der E n d l i c h k e i t jeder geschichtlichen Erscheinung, jedes menschlichen und gesellschaftlichen Zustandes, von der Relativität von jeder Art von Glauben, ist der letzte Schritt zur Befreiung des Menschen" (W. Dilthey, Gesammelte Schriften Bd. VII, S. 290 f.). Eine relativistische Wissenssoziologie ist im Werk von K . M a n n h e i m in einer Radikalisierung des Ideologiebegriffes zu einem „totalen Ideologieverdacht" ausgeprägt. Vgl. dazu: H. J. Lieber, Philosophie — Soziologie, Gesellschaft, Berlin 1965, S. 82 ff. bes. S. 94 f.

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Α.

Kants Theorie und literarische Wertung

keit und Verbindlichkeit gewinnen, gerade indem sie einen Bereich eigener rein ästhetischer Gesetzlichkeit darstellen. Kant beantwortet so die beiden Probleme, ob eine verbindliche Wertung überhaupt und eine speziell rein-ästhetische Wertung möglich ist, aus e i n e m gedanklichen Zusammenhang. Weil die ästhetische Reflexion und damit die Kriterien einer literarischen Wertung auf dem, was allgemeingültig ist, einem „freien Spiel" der menschlichen Erkenntnisvermögen, beruht und deren zwecklos-zweckmäßiges Zusammenspiel mit der Idee der menschlichen Autonomie verknüpft ist, aus deren Unbedingtheit allein sich Normen gewinnen lassen, ist eine verbindliche ästhetische Reflexion und eine verbindliche Beurteilung auch literarischer Werke möglich. Das Schöne dokumentiert in der Lust aus der Reflexion im freien Spiel von Einbildungskraft und Verstand eine „Empfänglichkeit des Gemüts" für eine nicht empirisch-sinnliche Lust, eine Eigenschaft, die in dem Gefühl der „Achtung fürs Gesetz" die notwendige Bedingung sittlichen Handelns ist und steht deshalb nach Kant zum Sittlichen in symbolischer Beziehung. Das Erhabene, in dem die Unangemessenheit der Sinnlichkeit zu der übersinnlichen Bestimmung des Menschen als mit dieser Bestimmung selbst in Einklang erfahren wird, ist dadurch direkt mit dem Sittlichen verbunden. Beide rein-ästhetischen Sphären machen aber erst den Bereich der Kunst aus, in der audi noch, sofern sie dem „Ideal der Schönheit" nahekommen will, ein inhaltlicher Bezug auf sittliche Autonomie gegeben sein muß. Für die Bedeutung der Kunst hat Kant somit eine Theorie entwickelt, die jenseits der bekannten Alternative von .Engagement' und ,1'art pour l'art' liegt, da in ihr die positiven Momente dieser Theorieansätze verbunden sind. Ein Bezug zu Sittlichkeit und damit auch die gesellschaftliche Bedeutung der Kunst wird in Kants Theorie eben von dem aus gedacht, was die Selbständigkeit und .Autonomie' der ästhetischen Reflexion ausmacht. Dieser Gedanke kann gerade auch für neuere Versuche, Maßstäbe zu finden, die sich an der gesellschaftlichen Bedeutung der Kunst orientieren, von Interesse sein, da er die hier naheliegende Gefahr einer Wertung nach außerästhetischen Kriterien vermeidet, wie er andererseits in der literaturwissenschaftlichen Diskussion angebotene .ästhetische' Kriterien erst in ihrem Sinn und damit in ihrer Funktion als W e r t maßstäbe verständlich macht. Im Folgenden wird der Schwerpunkt darauf gelegt, die grundsätzlichen Bestimmungen der ästhetischen Reflexion am Schönen, Erhabenen und der Kunst ausgehend vom Kantischen Text schrittweise zu entfalten. Dabei soll die Argumentation Kants herausgearbeitet werden, um den Berechtigungsnachweis des Verbindlichkeitsanspruches ästhetischer Urteile in seiner Begründung sichtbar zu machen. Da Kant seine Theorie der Kunst und die ihrer Beurteilung in dem Rahmen, der durch die reine ästhetische Reflexion im Schönen und Erhabenen abgesteckt ist, ausgeführt hat, soll nach einer einleitenden Darstellung der systematischen Stellung der Theorie ästhetischer Re-

Α. Kants Theorie und literarische Wertung

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flexion in Kants Philosophie (I) zunächst Kants Theorie des Schönen und Erhabenen entwickelt werden (II). Vor diesem Hintergrund kann dann Kants Theorie der Beurteilung des Kunstwerks erarbeitet werden, in der die Darstellungsfunktion der Kunst den Vollzug der ästhetischen Reflexion gegenüber den reinen ästhetischen Urteilen modifiziert (III).

Β. Kants Theorie ästhetischer Reflexion. Die Möglichkeit verbindlicher literarischer Wertung I. Die systematische Stellung der Theorie der ästhetischen Reflexion in Kants Philosophie Für das Verständnis der Kantischen Theorien des Schönen, Erhabenen und der Kunst ist es entscheidend zu zeigen, warum Kant diese Theorien ausgehend von der reflektierenden Urteilskraft in einer „Kritik der Urteilskraft" entwickelt hat. Nur so kann der Ansatz Kants verstanden werden, der sich an einer Analyse der Urteile ,über' 3 das Schöne bzw. das Erhabene orientiert. Nur so wird aber auch der gerade in der Selbständigkeit des Schönen, Erhabenen und der Kunst gelegene immanente Bezug zu theoretischer Erkenntnis und Sittlichkeit, zum Wahren und Guten, verständlich. Denn die Urteilskraft ist als „reflektierende" nach der theoretischen Gesetzgebung des „Verstandes", die sich auf Natur bezieht, und der praktischen Gesetzgebung der „Vernunft", die Gesetze der Freiheit gebietet, das dritte Erkenntnisvermögen, von dem Kant zeigt, daß es ein apriorisches Prinzip enthält. Nach Kant verbindet die „Kritik der Urteilskraft" die „zwei Teile der Philosophie zu einem Ganzen",4 weil die reflektierende Urteilskraft als „Mittelglied" 5 den Übergang von dem Naturbegriif zum Freiheitsbegriff möglich macht. Um also die Autonomie des Schönen, Erhabenen und der Kunst wie ihren Zusammenhang mit Erkenntnis und Sittlichkeit aufzuweisen, ist es nötig, in einer Vorüberlegung den systematischen Ort der reflektierenden Urteilskraft im Zusammenhang der drei Kritiken zu bezeichnen. Kant zeigt in der „Einleitung" zur „Kritik der Urteilskraft", daß mit der Abteilung der generellen Naturgesetzlichkeit aus den apriorischen Verstandesbegriffen einerseits und der Ableitung der praktischen Gesetze der Freiheit für 3

Der weitere Gang der Arbeit zeigt, daß diese Formulierung deshalb unangemessen ist, weil die Wahrnehmung des Schönen und die des Erhabenen in sich selbst Reflexions- bzw. Urteilscharakter haben, so daß nicht ein Urteil ,über' das Schöne bzw. Erhabene gefällt wird, sondern diese Prädikate Gegenständen bzw. Vorstellungen zugesprochen werden. 4 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, ed. Karl Vorländer, Hamburg 1959, Philosophische Bibliothek Bd. 39a, Originalpaginierung S. XX. s Kant, a.a.O., S.XXI.

I. Die systematische Stellung der Theorie

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das Handeln andererseits das Ziel der kritischen Philosophie, die Möglichkeit autonomen Handelns in der Welt zu sichern und gegen skeptische Einwände wie dogmatische Verstellungen aufrechtzuerhalten, noch nicht erreicht ist. Denn in der vom Verstand notwendig geformten Natur im allgemeinen könnten die nur empirisch kennbaren besonderen .mannigfaltigen Formen der Natur' 6 in völliger Heterogenität zueinander stehen, so daß weder ein „durchgängiger Zusammenhang empirischer Erkenntnisse zu einem Ganzen der Erfahrung" 7 noch ein sie planvoll benutzendes Handeln, also audi kein Handeln unter Vernunftgesetzen, möglich wäre.8 Ein transzendentales Prinzip muß deshalb a priori angenommen werden, das einer Einheit der Natur in der Mannigfaltigkeit ihrer empirischen Gesetze, wodurch sie unseren (theoretischen) Erkenntnisvermögen zur Ermöglichung einer zusammenhängenden Erfahrung entgegenkommt und zugleich die Vereinbarkeit von Natur und Freiheit, sofern Freiheit sich in der Natur realisieren soll, zeigt. „.. . der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen, und die Natur muß folglich auch so gedacht werden können, daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme." ®

Die in diesem Prinzip gedachte Einheit der Natur in der Mannigfaltigkeit ihrer empirischen Gesetze ist für menschliche Einsicht im Gegensatz zur Verstandeseinheit zufällig. Soll eine solche Einheit verständlich gemacht werden, muß man sie gleichfalls als von einem Verstand — wenn auch nur fiktiv — abkünftig denken. Da eine solche verstandeserzeugte Einheit eine Einheit des Mannigfaltigen nach Z w e c k e n wäre, nennt Kant das gesuchte transzendentale Prinzip „ . . . d i e Z w e c k m ä ß i g k e i t d e r N a t u r in ihrer Mannigfaltigkeit. D. i. die Natur wird durch diesen Begriff so vorgestellt, als ob ein Verstand den Grund der Einheit des Mannigfaltigen ihrer empirischen Gesetze enthalte." 10

Durch dieses Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur wird also eine empirisch zusammenhängende Erfahrung möglich und damit die Möglichkeit des Handelns aus Freiheit in der Natur gesichert. Da eine solche Möglichkeit besteht, ist für Kant damit ein Hinweis gegeben, daß es einen „Grund der E i n h e i t des 6 Kant, a. a. O., S. XXVI. 7 Kant, a. a. O , S. XXXIII. 8 Diesen Gedanken hat F. Kambartel in seiner Analyse des Kantischen Erfahrungsbegriffes betont. F. Kambartel, Erfahrung und Struktur, Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und Formalismus, Frankfurt 1968. Vgl. bes. (S. 87 ff.) das Kapitel „Vernunft, Autonomie und das Problem einer verläßlichen Natur — Analysen zum Erfahrungsbegriff in Kants Kritik der reinen Vernunft." 9 Kant, a.a.O., S . X I X f . 10 Kant, a. a. O., S. XXVIII.

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Β.

Kants Theorie ästhetischer Reflexion

Übersinnlichen, welches der Natur zum Grunde liegt, mit dem, was der Freiheitsbegriff praktisch enthält, geben" 11 muß, der zwar nicht erkannt werden kann, aber in dem Prinzip der Zweckmäßigkeit als für empirische Erfahrung konstitutiv gedacht ist und deshalb unterstellt werden kann. In diesem Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur ist eine Beziehung des Besonderen in der Natur auf ein Allgemeines gedacht. Es muß deshalb ein transzendentales Prinzip der U r t e i l s k r a f t sein, denn sie ist „das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken" . 12 Das Besondere kann von der Urteilskraft aus dem Allgemeinen abgeleitet sein; sie verfährt dann deduktiv und gibt nach einem im Allgemeinen selbst enthaltenen Prinzip den besonderen Fall an. Dies ist ihre Funktion in der „Kritik der reinen Vernunft", wo unter dem Titel „Doktrin der Urteilskraft" die vom Verstand bestimmten Urteile a priori, die eine Natur überhaupt konstituieren, entwickelt werden.13 Es ist also der entgegengesetzte Fall, der, in dem das Besondere gegeben ist und ein Allgemeines erst gesucht wird, der jenes transzendentale Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur fordert; diesen Gebrauch der Urteilsksraft nennt Kant „reflektierend". Da nur in diesem Gebrauch der Urteilskraft ein eigenes apriorisches Prinzip angenommen werden muß, ist es auch nur die „reflektierende Urteilskraft", die eine „Kritik" möglich macht. Nur die reflektierende Urteilskraft ist also Gegenstand des Buches. „Ob nun die U r t e i l s k r a f t . . . auch für sich Prinzipien a priori habe; ob diese konstitutiv oder bloß regulativ sind . . . und ob sie dem Gefühle der Lust und U n l u s t . . . a priori die Regel gebe: das ist es, womit sich gegenwärtige Kritik der Urteilskraft beschäftigt." 1 4

Dabei ist die Beziehung auf das Gefühl der Lust, die vor allem für die Theorie der ästhetischen Reflexion wichtig ist, von der Zufälligkeit der Wirklichkeit einer solchen Naturordnung her verstanden 15 , die die Urteilskraft — anders als die Naturordnung im allgemeinen, die der Verstand erzeugt — nicht hervorbringt, sondern in Verfolg der „Absicht" unseres Erkenntnisvermögens auf ein zusammenhängendes Ganzes der empirischen Erfahrung ihrer Reflexion über die Natur zugrunde legt. Kant hat diesen Unterschied zu der Autonomie des Verstandes in dem Begriff der „Heautonomie" der Urteilskraf zum Ausdruck gebracht. Ihr Prinzip ist nur eine apriorische Regel der Reflexion, auf11 Kant, a. a. O., S. XX. π Kant, a. a. O., S. XXV.

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Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Tr. Elementarlehre, 2. Teil, I. Abteilung 2. Buch: Die Analytik der Grundsätze A 130 ff. und Kritik der Urteilskraft, S. X X V I : „Die bestimmende Urteilskraft unter allgemeinen transzendentalen Gesetzen, die der Verstand gibt, ist nur subsumierend; das Gesetz ist ihr a priori vorgezeichnet, und sie hat also nidit nötig, für sich selbst auf ein Gesetz zu denken, um das Besondere in der Natur dem Allgemeinen unterordnen zu können."

I. Die systematische Stellung der Theorie

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grund derer die Einheit des Mannigfaltigen in der Natur empirisch gesucht werden muß. Das Auffinden einer unserer Erkenntnisabsicht zufällig angemessenen Struktur der Natur ist lustvoll, weil die „Erreichung jeder Absicht . . . mit dem Gefühle der Lust verbunden" 16 ist. Wie in anderer Weise in der ästhetischen Reflexion ist diese Lust allgemeingültig, da sie auf dem, was allen gemein ist, den Vermögen der Erkenntnis und ihrer Absicht auf Einheit beruht. In der Beurteilung des Schönen und des Erhabenen ist es nun gleichfalls eine besondere Form der R e f l e x i o n , aufgrund derer die ästhetischen Urteile auf dem Prinzip a priori der Urteilskraft, der Zweckmäßigkeit einer Vorstellung für unsere Erkenntnisvermögen, beruhen. Die Möglichkeit dieser Urteile ist deshalb begründet in dem Beurteilungsvermögen einer ästhetisch reflektierenden Urteilskraft. Nur weil diese Urteile ebenfalls Reflexionsurteile sind, ist ihnen ein Anspruch auf Allgemeingültigkeit eigen und können sie Gegenstand einer kritischen Legitimation sein. Um zu klären, in welchem Sinn bei der Wahrnehmung des Schönen und Erhabenen Reflexion vollzogen wird und wie sie als spezifisch ästhetische Reflexion Grund eines verbindlichen ästhetischen Urteils sein kann, soll zunächst der Begriff eines ästhetischen Urteils in seinem Unterschied zu dem eines Erkenntnisurteils geklärt werden. „Ästhetisch" wird von Kant in zwei Bedeutungen gebraucht, die beide in der Theorie der ästhetisch reflektierenden Urteile impliziert sind. Einmal bedeutet „ästhetisch" die reine und empirische Sinnlichkeit (Anschauungsformen und Empfindung), 17 zum anderen die Beziehung einer Vorstellung auf das Gefühl der Lust und Unlust. Beide Bedeutungen haben ihre Einheit im Begriff des Subjektiven („ästhetische Beschaffenheit") im Unterschied zum Objektiven („logische Gültigkeit") der Erkenntnis. 18 Ihre Differenz ist, daß „ästhetisch" in der ersten Bedeutung „in dem Erkenntnisse eines Gegenstandes der Sinne" zusammen mit den Verstandeskategorien die Einheit der Erfahrungserkenntnis ausmacht, während „ästhetisch" in der zweiten Bedeutung „dasjenige Subjektive" ist, „was gar kein Erkenntnisstück werden kann" .19 " Kant, a. a. O., S. V. 15 „Die gedachte Übereinstimmung der Natur in der Mannigfaltigkeit ihrer besonderen Gesetze zu unserem Bedürfnisse, Allgemeinheit der Prinzipien für sie aufzufinden, muß nach unserer Einsicht als zufällig beurteilt werden . . ." (a.a.O., S. XXXVII). Die notwendige Verstandeseinheit der Natur bewirkt keine Lust. Vgl. a. a.O., S. XXXIX f. Kant, a. a. O., S. XXXIX 17 Vgl. die Benennung „Transzendentale Ästhetik" für den Nachweis der Subjektivität und Apriorität von Raum und Zeit als Formen der Anschauung in der „Kritik der reinen Vernunft". 18 Kant, a. a. O., S. XLII. 19 Kant, a. a. O., S. XLIII, ohne Kants Sperrungen.

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Β. Kants Theorie ästhetischer Reflexion

Beide Bedeutungen sind in der Theorie des Schönen und des Erhabenen wie audi der Kunst impliziert. Für die „Kritik der Urteilskraft" und ihre Theorie des ästhetischen Urteils steht aber zunächst die Beziehung einer Vorstellung auf das Gefühl der Lust und Unlust im Vordergrund, da diese Beziehung das Eigentümliche des ästhetischen Verhaltens gegenüber dem Erkennen ausmacht. „Um zu unterscheiden, ob etwas schön sei oder nicht, beziehen wir die Vorstellung nicht durch den Verstand auf das Objekte zum Erkenntnisse, sondern durch die Einbildungskraft (vielleicht mit dem Verstand verbunden) auf das Subjekt und das Gefühl der Lust oder Unlust desselben." 20 Ein ästhetisches Urteil ist also dadurch gekennzeichnet, daß die Vorstellung in einen Bezug auf das Subjekt gebracht wird, dessen Wirkung, Lust oder Unlust, keine Erkenntnis dieses Objekts bedeutet, so daß das Gefühl (Lust und Unlust) der unaufgebbare Grund des Urteils sein muß. Welche Bedeutung kann nun der Begriff Reflexion in einem Urteil haben, dessen Grund ein Gefühl ist und dessen Ziel nicht eine bestimmte Erkenntnis sein darf? In welchem Sinn kann das Prinzip a priori der Urteilskraft für die Reflexion bei einer Wahrnehmung leitend sein? Kants Gedanke, der sich im Verlauf der Analyse bewährt, ist, daß die Lust, die das Schöne empirisch in der Empfindung erweckt — im Gegensatz zu der Lust am Angenehmen —, nur verstanden werden kann, wenn man begreift, daß sie das Resultat einer Reflexion, genauer: selber die Reflexion ist, in der in der Wahrnehmung die Vorstellung als „zweckmäßig" für die menschlichen Erkenntnisvermögen beurteilt worden ist.21 „Die Lust ist also im Geschmacksurteile zwar von einer empirischen Vorstellung abhängig . . . ; aber sie ist doch der Bestimmungsgrund dieses Urteils nur dadurch, daß man sich bewußt ist, sie beruhe bloß auf der Reflexion ..." 22 Um den Ansatz Kants bei der Analyse der ästhetischen Urteile verständlich zu machen, soll dies zunächst im allgemeinen für das Schöne und das Erhabene gezeigt werden. Die „Auffassung der Formen" von Gegenständen der Anschauung „in die Einbildungskraft" kann nach Kant „niemals geschehen, ohne daß die reflektierende Urteilskraft, auch unabsichtlich, sie (diese Formen, G. B.) wenigstens mit ihrem Vermögen, Anschauungen auf Begriffe zu beziehen, vergliche." 23 Dieser Akt der Komparation einer Anschauung mit dem Vermögen der Urteilskraft, zu dieser Anschauung (Besonderes) einen Begriff (Allgemeines) zu ge20 Kant, a. a. O., S. 3 f. 21 Es handelt sich dabei um eine logische Priorität der Beurteilung vor dem Gefühl der Lust, wie im folgenden ausgeführt werden soll (vgl. unten S. 21 ff.). 22 Kant, a. a. O., S. XLVII. 23 Kant, a. a. O., S. XLIV.

I. Die systematische Stellung der Theorie

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winnen, ist die Voraussetzung dafür, daß Schönes gewahrt werden kann und stellt die Beurteilung im ästhetischen Verhalten dar. Wenn nämlich bei einer Anschauung in diesem Vergleich eine freie Übereinstimmung der Einbildungskraft mit dem Verstandesvermögen zustandekommt, so äußert sich dies in der Belebung der Erkenntnisvermögen zu gesteigerter, freier Tätigkeit als eine Lust, durch welche die subjektive Zweckmäßigkeit der Vorstellung unmittelbar, d. h. ohne Begriffe beurteilt ist. Diese Beurteilung ist Reflexion, weil in jener Beziehung das Besondere mit dem Vermögen des Allgemeinen verglichen wird. Die Vorstellung wird in dieser Reflexion als „zweckmäßig für die reflektierende Urteilskraft" 24 beurteilt, da deren Prinzip a priori die reflexive Einheit des Allgemeinen und Besonderen ist. In der Theorie vom freien Spiel der Erkenntnisvermögen, das Reflexion ist, liegt zugleich, daß die Reflexion nicht wie bei einem theoretischen Urteil in einem Begriff zur Ruhe kommt, sondern sich potenziert und darin als Steigerung der Tätigkeit des Subjekts erfahren wird. Mit diesem Ansatz einer nicht in einem Begriff sich schließenden tendenziell unendlichen Reflexion in der Wahrnehmung durch den Bezug einer Anschauung auf das V e r m ö g e n der Begriffe hat Kant die belebende Wirkung des Schönen und seine im Sinnlichen verharrende Transparenz zu erklären versucht. Durch ihn wird zugleich deutlich, daß die Frage nach dem „Geschmacksurteil" nicht eine äußerliche ist, die nach der Wahrnehmung des Schönen willkürlich erfolgt, sondern daß diese Wahrnehmung in sich den Charakter der Reflexion, d. h. in der Beziehung von Besonderem auf ein Allgemeines den Grundcharakter des Urteils hat. Es gibt nicht ein Schönes, über das man unabhängig ein Urteil fällen könnte, sondern im Schönen ist, wo es gewahrt wird, die Urteilskraft impliziert. Sie ist dasjenige, was an der Vorstellung des Schönen in ihrem Prinzip der Verknüpfung von Anschauung mit dem Vermögen der Begriffe die Oxymora konstituiert, die, wie „klare Tiefe", „sinnliche Transparenz" etc., zur Benennung des Schönen verwendet werden. Und es ist die Urteilskraft in demjenigen Gebrauch, in dem sie ein eigenes apriorisches Prinzip sich selbst als Gesetz vorschreibt, die das Phänomen des Schönen wahrnehmbar macht und die Eigengesetzlichkeit eines ästhetischen Bereichs begründet. Auch das zweite reine ästhetische Urteil, das Urteil ,über' das Erhabene, beruht auf einer reflektierten Wahrnehmung, in der eine Vorstellung, allerdings in uneigentlicher Weise, als subjektiv zweckmäßig beurteilt wird. Hier ist nicht die Vorstellung selber zweckmäßig, sondern, wie eine genauere Analyse zeigt, der „Gebrauch", der von ihr gemacht wird. Die Zweckmäßigkeit betrifft deshalb hier audi nicht die Zweckmäßigkeit der Natur für das Subjekt und seine Erkenntnisvermögen, sondern umgekehrt die des vernünftigen Subjektes gegenüber einer Natur, der es als vernünftiges Subjekt in seiner über2* Kant, a. a. O , S. XLIV.

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Β. Kants Theorie ästhetischer Reflexion

sinnlichen Bestimmung überlegen ist. Die systematische Bedeutung des Erhabenen ist deshalb, da es nicht auf eine besondere Form des Objekts bezogen ist und deshalb auch nicht einen besonderen Wesenszug der Natur sichtbar macht, geringer als die des Schönen,25 nicht aber seine Bedeutung für die Kunst. Denn diese gewinnt, wie zu zeigen sein wird, ihre eigentliche Tiefe aus dieser Form ästhetischer Reflexion. Wie im Schönen betrifft die Reflexion im Erhabenen das Vermögen der Sinnlichkeit bzw. der Darstellung, die Einbildungskraft und das Vermögen der Begriffe, stellt also auch eine begriffslose Beziehung des Besonderen auf das Allgemeine dar. Die sinnliche Anschauung tritt aber im Gefühl des Erhabenen in einen Bezug auf Vernunftbegriffe, auf Ideen, so daß in der Unangemessenheit der Anschauung zur Darstellung von Ideen die übersinnliche Bestimmung des Menschen gefühlt und das Versagen des Vermögens der Sinnlichkeit als zweckmäßig im Hinblick auf diese übersinnliche Bestimmung beurteilt wird. Auch die Wahrnehmung des Erhabenen hat also in sich die Struktur der Reflexion und der Beurteilung, so daß es nur als Prozeß der Reflexion der ästhetischen Urteilskraft aufgefaßt werden kann. Auch hier ist, wie im Schönen, eine Beurteilung, d. h. auch, wie zu zeigen sein wird, Wertung, in der reflektierenden Wahrnehmung selbst impliziert. *

*

*

Dieser systematische Zusammenhang, von dem aus Kant das Schöne, das Erhabene und die Kunst thematisiert, muß im Auge behalten werden, zumal dieser Zusammenhang erst im Verlauf der Kantischen Gedankenführung ausdrücklich erreicht wird (§ 35: „Das Prinzip des Geschmacks ist das subjektive Prinzip der Urteilskraft"), andererseits aber schon den Gang der Analyse im Problemansatz bestimmt, der sich am Urteils- bzw. Reflexionscharakter des Schönen und Erhabenen orientiert und diese Phänomene durch eine Analyse der Momente ästhetisch reflektierender Urteile zu bestimmen sucht. Die Autonomie des rein Ästhetischen, die Kant in dem Begriff einer ästhetisch reflektierenden Urteilskraft, deren Vollzug reine Lust ist, gesichert hat und die einen eigenen Bereich ästhetischer Wertung begründet, steht so in vielfachen Bedeutungszusammenhängen, die man in den systematischen Beziehungen der Kantischen Kritiken ausgedrückt sehen kann. Die Eigenständigkeit ästhetischer Reflexion verhindert nicht, daß das Schöne im Spiel von Einbil25 Kant, a. a. O., S. 78: „Zum Schönen der Natur müssen wir einen Grund außer uns suchen, zum Erhabenen aber bloß in uns und der Denkungsart, die in die Vorstellung der ersteren Erhabenheit hineinbringt; eine sehr nötige vorläufige Bemerkung, welche die Ideen des Erhabenen von der einer Zweckmäßigkeit der Ν a t u r ganz abtrennt und aus der Theorie desselben einen bloßen Anhang zur ästhetischen Beurteilung der Zweckmäßigkeit der Natur macht, weil dadurch keine besondere Form in dieser vorgestellt, sondern nur ein zweckmäßiger Gebrauch, den die Einbildungskraft von ihrer Vorstellung macht, entwickelt wird."

II. Die Theorie der reinen ästhetischen Urteile

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dungskraft und Verstand auf „Erkenntnis überhaupt" bezogen ist; in seiner Nähe zum theoretischen Vermögen des Verstandes verbleibt es innerhalb des Naturzusammenhanges. Zugleich besteht aber eine Beziehung auf Sittlichkeit, weil Natur gerade als bestimmbar durch das Gesetz der Freiheit im Schönen erfahren wird. Das Erhabene verläßt dagegen den Bereich der Natur, hat aber insofern eine kognitive Bedeutung, als es die übersinnliche Bestimmung des Menschen fühlbar macht. Darin ist es, obwohl ein ästhetisches Urteil und auf dem Gefühl der Lust gegründet, direkt auf das Gesetz der Freiheit bezogen. In den konkreten Analysen des Kantischen Gedankenganges sollen diese im allgemeinen angegebenen Bezüge konkreter ausgeführt werden.

II. Die Theorie der reinen ästhetischen Urteile des Schönen und Erhabenen Der Charakter der Erfahrung der reinen ästhetischen Phänomene des Schönen und Erhabenen ist, wie einleitend gezeigt wurde, wesentlich Reflexion, Beurteilung. Kant kann deshalb ihre Theorie durch die Bestimmung der ästhetischen Reflexionsurteile hinsichtlich der vier logischen Momente eines Urteils entwickeln. In der Darstellung von Kants Theorie sollen zunächst Kants Aufweis der subjektiven Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit des Urteils über das Schöne und die deduktive Entwicklung des Begriffes der Schönheit als Korrelat der ästhetischen Reflexion, aus dem sich Grundbegriffe der literarischen Wertung ergeben, verfolgt werden (1). Das Erhabene, dessen Bedeutung für die Beurteilung der Kunst — und gerade audi moderner Kunst — ebenso groß ist, soll dann in einem zweiten Schritt entwickelt werden (2). Damit ist dann eine Position erreicht, die ein Verständnis der Kunst und der Probleme ihrer Beurteilung ermöglicht. 1. Das Geschmacksurteil und das Schöne Kant hat die Theorie des Geschmacksurteils in einem A b l e i t u n g s g a n g aus dem Moment der „Qualität" über die anderen logischen Bestimmtheiten des Urteils in der „ E x p o s i t i o n " entwickelt. Durch sie wird der Nachweis, daß es sich beim Schönen um ein synthetisches Urteil a priori handelt, der in der „ D e d u k t i o n " geführt wird, entscheidend vorbereitet. a) Analyse des Geschmacksurteils („Exposition") α) Der Scheincharakter des Schönen (Qualität des Geschmacksurteils) Bei der Bestimmung der Q u a l i t ä t des Urteils über das Schöne unterscheidet Kant zunächst das Geschmacksurteil als ein ästhetisches Urteil von einem

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Β. Kants Theorie ästhetischer Reflexion

Erkenntnisurteil. W i e einleitend schon gezeigt, ist ein ästhetisches Urteil dadurch charakterisiert, daß die Vorstellung, über die das Urteil gefällt werden soll, auf das Gefühl des Subjekts bezogen wird und nicht, wie beim Erkenntnisurteil, auf das Objekt. 26 Die entscheidende Bestimmung des Schönen aus der Qualität des Geschmacksurteils ist nun, daß in dieser Beziehung dasjenige schön genannt werden kann, was Gegenstand eines Wohlgefallens ,ohne alles Interesse' ist. Aus diesem Gedanken wird später der Anspruch auf Allgemeinheit des Geschmacksurteils abgeleitet, der seinerseits zu der Theorie eines „freien Spiels" der Erkenntnisvermögen Einbildungskraft und Verstand führt. Wie ist aber zunächst die These, daß das Schöne Gegenstand eines uninteressierten Wohlgefallens sei, die eine wichtige Voraussetzung der späteren Argumentation ist, begründet, und was bedeutet sie? Im § 2 der „Kritik der Urteilskraft" gibt Kant die Definition von ,Interesse', die den Hintergrund der Bestimmungen darstellt: „Interesse wird das Wohlgefallen genannt, das wir mit der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbinden. Ein solches hat daher immer zugleich Beziehung auf das Begehrungsvermögen, entweder als Bestimmungsgrund desselben, oder doch als mit dem Bestimmungsgrund desselben notwendig zusammenhängend." 27 In der Frage nach der Schönheit ist aber, wie Kant einleuchtend zeigt, gerade die Frage nach der Existenz irrelevant geworden. An der Verflechtung historischer Werke der Kunst mit sozialer und politischer Herrschaft zeigt Kant, daß für das Wohlgefallen am Schönen die Überlegung, ob es einen „Palast" 28 , der unter Gewalt entstanden ist, überhaupt geben sollte oder besser nicht, keine Rolle spielt. W . Benjamin widerspricht dem nur zum Schein, wenn er in der Polemik gegen eine „Kulturgeschichte", die auch die Kunst als abgehoben vom realen Sozialprozeß begreift, schreibt: „. .. was er (der .historische Materialist', G. B.) an Kunst und an Wissenschaft überblickt, ist samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen betrachten kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der großen Genien, die es geschaffen haben, sondern in mehr oder minderem Grade auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein." 29 Kants Formulierung soll, da sie den Ausgangspunkt der Entwicklung der Theorie des reinen ästhetischen Urteils darstellt, hier noch einmal zitiert werden: „Um zu unterscheiden, ob etwas schön sei oder nicht, beziehen wir die Vorstellung nicht durch den Verstand auf das Objekt zum Erkenntnisse, sondern durch die Einbildungskraft (vielleicht mit dem Verstand verbunden) auf das Subjekt und das Gefühl der Lust oder Unlust desselben" (Kant, a. a. O., S. 3 f.). 27 Kant, a. a. O., S. 5. 28 Kant, a. a. O., S. 6. 29 Walter Benjamin, Eduard Fuchs, der Sammler und Historiker, in: Walter Benjamin, Ges. Schriften, Frankfurt 1972, Bd. II., S. 472. Wie später deutlich wird, 26

II. Die Theorie der reinen ästhetischen Urteile

17

Benjamin hat damit einen Wertkonflikt aufgedeckt, in dem die Kantische These gerade vorausgesetzt ist. Erst wenn Schönheit als Wert erkannt ist, ist die weitere Frage, unter welchen Bedingungen es solche Gegenstände geben solle, möglich. Der Desillusionseffekt, der bei der Reflexion dieser Zusammenhänge eintritt, besteht darin, daß es nicht einen einzigen Wert gibt, sondern antinomische. Die Schönheit des „Palastes" ist als ein Wert in der Überlegung, ob es ihn unter Bedingungen der Ausbeutung geben solle, als Argument schon eingesetzt. So führt Kant aus, indem er zugleich den Grund der Möglichkeit schöner Kunst als S c h e i n nennt: „Man will nur wissen: ob diese bloße Vorstellung des Gegenstandes in mir mit Wohlgefallen begleitet sei, so gleichgültig ich auch immer in Ansehung der Existenz des Gegenstandes dieser Vorstellung sein mag." 30

Kant nennt diese These, die die Voraussetzung seiner Theorie darstellt, einen Satz von „vorzüglicher Erheblichkeit" .31 Nur aufgrund dieses Sachverhaltes der Existenzunabhängigkeit ist Kunst als Schein, wie Kant sie definiert, als „schöne Vorstellung von einem Dinge" möglich.32 Dieselbe Bestimmung erschließt auch die eigentümliche Freiheit der ästhetischen Betrachtung eines schönen Gegenstandes, die auf die Selbstgesetzlichkeit der ästhetischen Lust führen wird: „Man sieht leicht, daß es auf das, was ich aus dieser Vorstellung in mir selbst mache, nicht auf das, worin ich von der Existenz des Gegenstandes abhänge, ankomme, um zu sagen, er sei s c h ö n . . ." 33

Die Definition des Schönen, die Kant aus dem ersten Moment des Geschmacksurteils, der ,Qualität', entwickelt hat, daß ,schön' der Gegenstand eines „Wohlgefallens" „ o h n e a l l e s I n t e r e s s e " 3 4 sei, bedeutet also, daß das Wohlgefallen frei gegenüber der Existenz des Gegenstandes sein kann. Dies ist beim Angenehmen und beim moralisch Guten, zwei Phänomenen, in denen das Gefühl eine verschiedene, aber gleich wichtige Rolle spielt, nicht der Fall, da im Angenehmen nur aus dem Gefühl sinnlichen Genusses des Gegenstandes, der an seine Existenz gekoppelt ist, geurteilt wird, während durch das Wohlgefallem am moralisch Guten, das als ,Triebfeder' der Handlung dient, die Existenz des Gegenstandes des Gesetzes geradezu geboten ist. In beiden Fällen ist dort das Wohlgefallen mit Interesse verbunden, wenn auch im Sittlichen gerade nicht aus einem Privatinteresse gehandelt wird. Da aber das Vernunftgesetz kann ein Werk, bei dem Herrschaft nicht nur Bedingung seines Entstehens ist, sondern in es selber hineinreicht, d a r i n gerade n i c h t als idealschön bezeichnet werden. 3 ° Kant, a. a. O., S. 6. 31 Kant, a. a. O., S. 7. 32 Kant, a. a. O., S. 188. 33 Kant, a. a. O., S. 6. 34 Kant, a. a. O., S. 16.

18

Β.

Kants Theorie ästhetischer Reflexion

seine eigene Verwirklichung gebietet, ist damit ein Interesse gesetzt, das als ,Vernunftinteresse' bezeichnet werden kann. 35 Der Sinn der Kantischen Bestimmung ist also nicht, wie fälschlich gemeint wird, daß das Schöne ohne Bedeutung ist, sondern daß es gerade darin seine Bedeutung hat, daß es das einzige „freie" Wohlgefallen ist, das „frei" ist, weil es weder durch Genuß noch Verpflichtung an die Realität gebunden ist. Es ist also der Schein- und Spielcharakter des Schönen, der dann vor allem durch Schiller hervorgehoben wurde, der den Sinn der Interesselosigkeit des Schönen ausmacht. Kant hat selber diese Deutung des Schönen gegeben, wie später noch genauer dargestellt werden soll: „Daß das Geschmacksurteil, wodurch etwas für schön erklärt wird, kein Interesse z u m B e s t i m m u n g s g r u n d e haben müsse, ist oben hinreichend dargetan worden. Aber daraus folgt nicht, daß, nachdem es als reines ästhetisches Urteil gegeben worden, kein Interesse damit verbunden werden könne." 3 6 Gerade durch den Kantischen Ansatz und seine Weiterentwicklung und Umformung durch Schiller ist ja die Bedeutung des Schönen und des Zustandes der ästhetischen Reflexion außerordentlich gesteigert worden, so daß Schiller den Bildungsprozeß einer „ästhetischen Erziehung" zur notwendigen Bedingung der Emanzipation der Menschheit machen konnte. Wie im Ansatz bei der Darstellung der Kantischen Gedankengänge noch gezeigt werden soll, wurde in ihren Theorien das Schöne gerade durch seine in den Begriffen „Schein" und „Spiel" bezeichnete Autonomie, wie in anderer Weise auch die ästhetische Erfahrung des Erhabenen, an das Vernunftinteresse der Sittlichkeit geknüpft, von dem aus eine vernünftige und befreiende Praxis allein möglich ist. 37 ß) Die subjektive Allgemeinheit Geschmacksurteils )

des Wohlgefallens

am Schönen (Quantität

des

Kant hat ein zweites Moment des Wesens des Schönen aus der Q u a n t i t ä t des Geschmacksurteils entwickelt. Von ihr aus hat er den Sinn von Schönheit durch die beanspruchte A l l g e m e i n h e i t des Wohlgefallens charakterisiert. Die Bestimmung, daß nur dasjenige schön genannt werden kann, was „ohne Begriffe als Objekt eines a l l g e m e i n e n Wohlgefallens vorgestellt wird" 3 8 , ergibt sich, bevor noch die Möglichkeit eines solchen Wohlgefallens geklärt ist, als F o l g e r u n g aus der Interesselosigkeit des Wohlgefallens am Schönen: Zur Konzeption eines .Interesses' der Vernunft an sich selbst im Rahmen der Kantischen Philosophie vgl. unten S. 63 f. Μ Kant, a. a. O., S. 161 f. 37 Vgl. dazu: J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1968, bes. Kap. I I I : Kritik als Einheit von Erkenntnis und Interesse, S. 234 f. 38 Kant, a. a. O., S. 17. 35

II. Die Theorie der reinen ästhetischen Urteile

19

„Denn das, wovon jemand sich bewußt ist, daß das Wohlgefallen an demselben bei ihm selbst ohne alles Interesse sei, das kann derselbe nicht anders als so beurteilen, daß es einen Grund des Wohlgefallens für jedermann enthalten müsse." 39

In der Interesselosigkeit, d. h. der Freiheit von privater Neigung, liegt, sofern an ein ästhetisches Urteil gedacht wird, d. h. an ein Urteil ohne Begriffe, daß der Urteilende das Wohlgefallen in „demjenigen begründet ansehen" muß, „was er auch bei jedem anderen voraussetzen kann" 40 In dieser beanspruchten Allgemeinheit liegt der Grund dafür, daß sich das Urteil über das Schöne im Gegensatz zu dem ästhetischen Sinnenurteil über das Angenehme einer objektiven Form der Aussage bedient: „Er (der Betrachter, G. B.) wird daher vom Schönen so sprechen, als ob Schönheit eine Beschaffenheit des Gegenstandes und das Urteil logisch wäre (durch Begriffe vom Objekte ein Erkenntnis desselben ausmache) . . . darum, weil es doch mit dem logischen die Ähnlichkeit hat, daß man die Gültigkeit desselben für jedermann daran voraussetzen kann . . . " 41

Dem Angenehmen, zeigt Kant, ist die subjektive Aussageform angemessen: „Daher ist er es gern zufrieden, daß, wenn er sagt: der Kanarieninsekt ist angenehm, ihm ein anderer den Ausdruck verbessere und und ihn erinnere, er solle sagen: er ist m i r angenehm . . . " 4 2

Audi vom Angenehmen sind Gemeinsamkeiten im Urteil möglich. Gerade dies kann Kant aber benutzen, um die Art der Allgemeinheit, die im Schönen beansprucht wird, zu erläutern. Die Einhelligkeit der Menschen in der Beurteilung des Angenehmen ist nur empirisch möglich und gibt nur „generale", nicht „universale" Regeln.43 Eine solche universale Allgemeinheit, die sich nur auf den eigenen Vollzug der Reflexion im ästhetischen Urteil gründet und aus dieser Erfahrung dennoch Allgemeinheit beansprucht, ist aber der ästhetischen Reflexion immanent. Da diese Allgemeinheit einem ä s t h e t i s c h e n Urteil eignen soll, kann sie nicht auf Begriffen beruhen. Daraus entnimmt Kant die für die Theorie der ästhetischen Reflexion zentrale These einer möglichen „subjektiven Allgemeinheit" 44, mit deren Anspruch das Geschmacksurteil verbunden sein muß. Es charakterisiert das Geschmacksurteil als ein ästhetisches Urteil, daß seine subjektive Allgemeinheit in der für ein ästhetisches Urteil unerläßlichen logi-

39 Kant, "0 Kant, « Kant, « Kant, « Kant, 44 Kant,

a. a. O., a. a. O., a. a. O., a, a. O., a. a. O., a. a. O.,

S. 17. S. 17. 17 f. S. 18 f, S. 20. S. 18.

20

Β.

Kants Theorie ästhetischer Reflexion

sehen Quantität der Einzelheit impliziert sein muß. Denn durch diese ist es ein G e s c h m a c k s urteil und auf ein Besonderes bezogen: „In Ansehung der logischen Quantität sind alle Geschmacksurteile e i n z e l n e Urteile, Denn weil ich den Gegenstand unmittelbar an mein Gefühl der Lust und Unlust halten muß, und doch nicht durch Begriffe, so können jene nicht die Quantität objektiv-gemeingültiger Urteile haben . . 4 5

Die ästhetische Allgemeinheit (subjektive Allgemeinheit) ist also von der logischen Allgemeinheit verschieden. Ein logisch allgemeines Urteil verbände das Prädikat mit dem Begriff „des O b j e k t s , in seiner ganzen logischen Sphäre betrachtet" . 46 Ein subjektiv allgemeines Urteil urteilt nur über einen einzelnen Gegenstand, mit dem es das Prädikat verknüpft, dehnt aber das Prädikat für den einen Gegenstand „über die ganze Sphäre d e r U r t e i l e n d e n " 4 7 aus. Um die Differenz zur logischen Allgemeinheit bemerkbar zu machen, spricht Kant bei der ästhetischen Allgemeinheit von „ G e m e i n g ü l t i g k e i t " . 4 8 Für die logische Allgemeinheit und die objektiv allgemeingültigen Urteile gilt, daß sie immer auch subjektiv gelten müssen. Deshalb kann das logische bzw. objektive Urteil auch, weil es Gründe des Beweises anführen kann, die Zustimmung „postulieren". Dagegen kann das ästhetisch allgemeine Urteil nur mit Grund einen dem seinen analogen Vollzug der ästhetischen Reflexion in den anderen Subjekten erwarten. Kant sagt deshalb: „Das Geschmacksurteil selber p o s t u l i e r t nicht jedermanns Einstimmung . . . es s i n n t nur jedermann diese Einstimmung an, als einen Fall der Regel, in Ansehung dessen es die Bestätigung nicht von Begriffen, sondern von anderer Beitritt erwartet."

In diesem .Ansinnen' wird aber gleichwohl die grundsätzliche M ö g l i c h k e i t eines verbindlichen Geschmacksurteils, als deren Bedingung Kant eine „allgemeine Stimme" einführt, postuliert: „Hier ist nun zu sehen, daß in dem Urteile des Geschmacks nichts postuliert wird als eine solche a l l g e m e i n e S t i m m e in Ansehung des Wohlgefallens ohne Vermittlung der Begriffe; mithin die M ö g l i c h k e i t eines ästhetischen Urteils, welches zugleich als für jedermann gültig angesehen werden könne." 50

Da diese „allgemeine Stimme" zwar die Möglichkeit eines verbindlichen Geschmacksurteils konstituiert, der faktische Vollzug eines solchen Urteils sie aber verfehlen kann, nennt Kant sie eine „Idee" 51. Worauf sie beruht, wie ihre « Kant, Kant, 47 Ebd. « Kant, « Kant, 50 Kant,

a. a. O., S. 24. a. a. O., S. 24. a. a. O., S. 23. a. a. O., S. 26. a. a. O., S. 25 f.

II. Die Theorie der reinen ästhetischen Urteile

21

Möglichkeit selbst erklärlich ist, läßt Kant auf dieser Stufe der Analyse noch offen. Eine Antwort darauf enthält erst die entfaltete Theorie insgesamt. Kant hat aber, wie jetzt dargestellt werden soll, im Anschluß an die Analyse der Q u a n t i t ä t den Grundansatz einer solchen erklärenden Theorie gemacht, der in der weiteren Entwicklung zur Legitimation des Anspruchs des Geschmacksurteils in der „Deduktion" führt. Für die Theorie der literarischen Wertung kann hier schon festgehalten werden, daß Kant mit der Theorie der subjektiven Allgemeinheit trennt zwischen einem Bereich des möglichen normativen Vollzugs der ästhetischen Reflexion und der faktischen Realisierung, die hinter dieser Möglichkeit auch zurückbleiben kann. Kant hält in seiner Theorie also die Möglichkeit einer verbindlichen Wertung fest und begründet sie, macht aber andererseits die e m p i r i s c h e V i e l f a l t der Geschmacksurteile verständlich, da die ästhetische Reflexion von der Bewußtseinsstufe der Reflektierenden in ihrem Vollzug abhängig ist. „Daß der, welcher ein Geschmacksurteil zu fällen glaubt, in der Tat dieser Idee gemäß urteile, kann ungewiß sein; . . . Für sich selbst aber kann er durch das bloße Bewußtsein der Absonderung alles dessen, was zum Angenehmen und Guten gehört, von dem Wohlgefallen, was ihm noch übrig bleibt, davon gewiß werden . . . " 52 *

*

*

Die Lösung der Frage, ob und wie ein subjektives (ästhetisches) Urteil allgemeingültig, verbindlich, sein kann, wie also jener Anspruch der subjektiven Allgemeinheit begründet ist, ist das Ziel der Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Im P a r a g r a p h e n n e u n wird für die im Hinblick auf dieses Ziel entscheidende Verknüpfung von Schönem und subjektiven Bedingungen der Erkenntnis zunächst eine Voraussetzung geschaffen, die Kant als „Schlüssel zur Kritik des Geschmacks" 53 bezeichnet. Dadurch wird, im Gegensatz zum bisher aufweisenden Verfahren, die subjektive Allgemeinheit in allerdings noch vorläufiger Weise v e r s t ä n d l i c h gemacht. Wenn man den Allgemeinheitsanspruch verstehen will, kann das Wohlgefallen an einem Gegenstand nicht der letzte Grund eines Geschmacksurteils sein, da dieses sonst, in dem unmittelbaren Bezug auf den Gegenstand, mit dem Angenehmen identisch wäre. Vielmehr muß die Lust am Schönen selber die 51 Kant, 52 Kant, 53 Kant, st Kant,

a. a. O., a. a. O., a. a. O., a. a. O.,

S. S. S. S.

26. 26. 27. 27.

22

Β. Kants Theorie ästhetischer Reflexion

Folge der „allgemeinen Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes" sein, da nur auf diese Weise eine allgemeingültige Lust denkbar ist. „Also ist es die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes in der gegebenen Vorstellung, welche, als subjektive Bedingung des Geschmacksurteils, demselben zum Grunde liegen und die Lust an dem Gegenstand zur Folge haben muß." 54 Mit diesem Gedanken ist aber die Beziehung der Erfahrung des Schönen auf Erkenntnis notwendig geworden und zugleich der Ansatz, der zur Bestimmung des Schönen als Reflexion führt, gemacht, da allgemeine Mitteilbarkeit nur Erkenntnis eigen ist: „Es kann aber nichts allgemein mitgeteilt werden als Erkenntnis und Vorstellung, sofern sie zum Erkenntnis gehört. Denn sofern ist die letztere nur allein objektiv, und hat nur dadurch einen allgemeinen Beziehungspunkt, womit die Vorstellungskraft aller zusammenzustimmen genötigt wird." 55 Da nun bei der Ableitung der Allgemeingültigkeit die Subjektivität des Ästhetischen gewahrt werden muß, so ergibt sich der Ansatz, den man als den Grundgedanken der „Kritik der Urteilskraft" bezeichnen kann. Dem Schönen, das in grundsätzlichem Kontrast zum Erkenntnisurteil, der Vereinigung der Vorstellungen durch einen bestimmten Begriff, gedacht wird, liegt durch seine Subjektivität und Allgemeinheit eine Beziehung auf „Erkenntnis überhaupt" zugrunde: „Soll nun der Bestimmungsgrund des Urteils über diese allgemeine Mitteilbarkeit der Vorstellung bloß subjektiv, nämlich ohne einen Begriff vom Gegenstand gedacht werden, so kann er kein anderer als der Gemütszustand sein, der im Verhältnis der Vorstellungskräfte zueinander angetroffen wird, sofern sie eine gegebene Vorstellung auf E r k e n n t n i s ü b e r h a u p t beziehen." 56 Diese Beziehung der Vorstellung auf „Erkenntnis überhaupt" ist, wie noch genauer dargestellt werden soll, die ästhetische Reflexion und in ihr liegt die eigentliche Beurteilung der Vorstellung. Bei dieser Beziehung des Schönen auf Erkenntnis hält Kant aber streng daran fest, daß der Bestimmungsgrund des ästhetischen Urteils ein „Gemütszustand" ist, d.h. daß das Geschmacksurteil auf einem Gefühl, also auf einer Empfindung, die allerdings eine Beurteilung voraussetzt, beruht. Aus der Unabhängigkeit der ästhetischen Reflexion von einem bestimmten Begriff ergibt sich, daß die Erkenntniskräfte, da sie nicht von einer bestimmten „Erkenntnisregel" eingeschränkt sind, in einem f r e i e n Spiel sein müssen. Die Betonung im Kantischen Text liegt auf der Freiheit des Spiels, da Vorstel55 Kant, a. a. O., S. 27 f. 56 Kant, a. a. O., S. 28.

II. Die Theorie der reinen ästhetischen Urteile

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lungen immer Erkenntniskräfte ins Spiel setzen.57 Um aus dem „Gegebenen" Erkenntnis zu formen, sind nach Kant Einbildungskraft und Verstand nötig. Die E i n b i l d u n g s k r a f t ordnet innerhalb des Sinnlichen das Mannigfaltige zu einer Einheit der Anschauung. Hier ist zu bemerken, daß gegenüber den weitergehenden Bestimmungen der Funktion der Einbildungskraft in der Theorie der Dichtung diese Tätigkeit der Einbildungskraft für die Theorie des Schönen grundlegend ist und auch bei ihrer erweiterten Leistung in der Dichtung grundlegend bleibt. Der V e r s t a n d vereinigt die Vorstellungen durch die Kategorien in einer begrifflichen Einheit. Das freie Spiel der Erkenntnisvermögen muß also bei der Wahrnehmung des Schönen ein Spiel von Einbildungskraft und Verstand sein. Weil aber jede bestimmte Erkenntnis nur eine Realisierung dieses grundsätzlichen Verhältnisses einer E i n h e i t von Einbildungskraft und Verstand ist, das die subjektive Bedingung jeder bestimmten Erkenntnis ist, muß dieses Verhältnis, sofern es im Gemütszustand empfunden wird, allgemein mitteilbar sein. Abschließend kann festgehalten werden: „Diese bloß subjektive (ästhetische) Beurteilung des Gegenstandes oder der Vorstellung, wodurch er gegeben wird, geht nun vor der Lust an demselben vorher und ist der Grund dieser Lust an der Harmonie der Erkenntnisvermögen; auf jener Allgemeinheit der subjektiven Bedingungen der Beurteilung der Gegenstände gründet sich allein diese allgemeine subjektive Gültigkeit des Wohlgefallens, welches wir mit der Vorstellung des Gegenstandes, den wir schön nennen, verbinden." 58

Diese Übereinstimmung der Erkenntniskräfte kann aber in einem ästhetischen Urteil nicht gedacht, sondern nur lustvoll empfunden werden. Das Bewußtsein der Übereinstimmung und Harmonie der Erkenntnisvermögen an einer gegebenen Vorstellung kann deshalb nur durch die im freien Spiel stattfindende „Belebung", d. h. Steigerung der Tätigkeit der Erkenntnisvermögen, vermittelt werden, genauer durch deren „Wirkung" in der Empfindung, die die ästhetische Lust ist. Das hier noch offene Problem, wie ein freies Spiel von Erkenntnisvermögen und deren Belebung L u s t bewirken könne, wird bei der Analyse des Geschmacksurteils hinsichtlich der „Relation der Zwecke, die in ihm in Betracht gezogen werden", durch eine Analyse der teleologischen Struktur des Gefühls der Lust geklärt. Dabei ist die ziellos freie Teleologie des Spiels der Erkenntnisvermögen in Richtung auf „Erkenntnis überhaupt" der Identifizierungspunkt, der dazu führt, das Bewußtsein dieses freien Spiels als Lust zu verstehen. 57

Von hier aus wird verständlich, daß Schiller den Begriff des Spiels als normativen Begriff entwickelt hat. „. . . durch das Ideal der Schönheit, welches die Vernunft aufstellt, ist auch ein Ideal des Spieltriebes aufgegeben, das der Mensch in allen seinen Spielen vor Augen haben soll" (NA 20, S. 358, Z. 15—18). 58 Kant, a. a. O., S. 29.

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Β.

Kants Theorie ästhetischer Reflexion

y) Subjektive Zweckmäßigkeit ohne Zweck als Grund des Gescbmacksurteils und die Ableitung des Begriffs der Schönheit (Relation des Geschmacksurteils) Die durch die Analyse der R e l a t i o n der Zwecke im Gesdimacksurteil als seinem dritten Moment erarbeitete dritte Bestimmung des Schönen, in der es als .Zweckmäßigkeit ohne Zweck' gefaßt wird, enthält die konkretesten Bestimmungen im Hinblick auf Kriterien einer möglichen literarischen Wertung, da hier mit dem Begriff der Schönheit als „Form der Z w e c k m ä ß i g k e i t eines Gegenstandes, sofern sie o h n e V o r s t e l l u n g e i n e s Z w e c k s an ihm wahrgenommen wird" 5 9 , also als einer besonderen Form des Objektes, in gewissem Sinn ,objektive' Maßstäbe an die Hand gegeben werden. Es ist aber gerade der entscheidende Ansatz Kants, der, wie zu zeigen sein wird, ein Verständnis der Autonomie des ästhetischen Verhaltens erst möglich macht, daß diese objektiven Bestimmungen aus der Subjektivität des ästhetischen Bewußtseins und der Gesetzlichkeit der ästhetischen Reflexion abgeleitet werden 6 0 . Ihre Ableitung soll wegen dieser grundsätzlichen Bedeutung für die Theorie der literarischen Wertung ausführlicher dargestellt werden. Der § 9 hatte geklärt, daß vor dem Gefühl, auf dem das Geschmacksurteil beruht, eine Beurteilung stattfindet, als deren Folge die allgemeine Mitteilbarkeit des Gemütszustandes und der Lust erst verstanden werden kann. Dabei ist dies Vorhergehen logisch, nicht zeitlich zu verstehen, da Kant das freie Spiel der Reflexion mit der Lust identifiziert. J e t z t wird weiter nachgewiesen, daß die Vorstellung in jener Reflexion als subjektiv zweckmäßig beurteilt wird, ohne daß damit ein „Zweck" verbunden ist. Aus dieser ästhetisch reflektierenden Beurteilung wird dann deduktiv der Begriff der Schönheit als „Form der Zweckmäßigkeit" entwickelt, von dem aus Grundbegriffe literarischer Wertung, wie sie audi neueren Theorien zugrunde liegen, verstanden werden können. Der Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils als ästhetischem Urteil ist ein bestimmtes Wohlgefallen, ein Gefühl der nicht empirisch bewirkten, nicht sinnlichen Lust. Durch eine Analyse des Begriffs „Lust" zeigt Kant, daß das Gefühl der Lust teleologisch verstanden werden muß, da es eine Tendenz zur Selbsterhaltung enthält. „Das Bewußtsein der Kausalität einer Vorstellung in Absicht auf den Zustand des Subjekts, es in demselben zu e r h a l t e n , kann hier im allgemeinen das bezeichnen, was man Lust nennt, wogegen Unlust diejenige Vorstellung ist, die den Zu59 Kant, a.a.O., S.61. Vgl. unten S. 27 ff. Aus diesem Ansatz Kants können, wie noch gezeigt werden soll, scheinhaft objektive Kriterien literarischer Wertung, wie ζ. B. „Einstimmigkeit" im Kontrast mit „Spannungsfülle" (Kayser), verstanden werden.

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II. Die Theorie der reinen ästhetischen Urteile

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stand der Vorstellungen zu ihrem eigenen Gegenteile zu bestimmen . . . den Grund enthält." 6 1

Weil Lust eine solche „innere Kausalität" 6 2 enthält, wird der Begriff ,Zweck', der eine besondere Form der Kategorie Kausalität dargestellt, in der Theorie des Geschmacksurteils, das auf Lust gründet, notwendig thematisch. Vermittels einer „transzendentalen" Definition des Zweckbegriffes kann Kant zeigen, daß Lust ein Gemütszustand ist, der die S t r u k t u r des Zweckverhältnisses hat und so „Zweckmäßigkeit" ist. „Zweck" ist nach Kants Definition der „Gegenstand eines Begriffs", sofern der Begriff als die Ursache des Gegenstandes angesehen wird 63 . Die formalisierte Relation ergibt als „Kausalität eines Β e g r i f f s in Ansehung seines O b j e k t s " den Begriff der „Zweckmäßigkeit (forma finalis)". 64 Diese Formalisierung erlaubt, den Begriff des Zwecks auch dort zu Erkenntniszwecken heuristisch anzuwenden, wo in der Realität, im Sein der betreffenden Gegenstände, ein solches finales Kausalverhältnis gerade nicht angenommen werden kann oder wo unentscheidbar ist, ob ein solches anzunehmen sei. „Zweckmäßig aber heißt ein Objekt oder Gemütszustand oder eine Handlung auch . . . bloß darum, weil ihre Möglichkeit von uns nur erklärt oder begriffen werden kann, sofern wir eine Kausalität nach Zwecken, d. i. einen Willen, der sie nach der Vorstellung einer gewissen Regel so angeordnet hätte, zum Grunde derselben annehmen." 6 5

Ein solcher Gefühlszustand, der eine von einer Vorstellung ausgehende Tendenz zu seiner eigenen Reproduktion enthält und deshalb die Form des Zweckverhältnisses hat, ist das Gefühl der Lust. 66 Durch die abstrakte Definition, die ,Lust' unabhängig vom Begehrungsvermögen definiert, hat Kant die Möglichkeit vorbereitet, das Wohlgefallen am Schönen zu verstehen, das in gewisser Weise motivationslos und grundlos, „spielerisch", erscheint und in dem der Grund der Lust weder in empirischen noch sittlichen Zwecken besteht. Ebenso wie ein Gemütszustand der Lust als Zweckmäßigkeit ohne bestimmten Zweck so denkbar wird, besteht die Möglichkeit, in der Wahrnehmung von Gegenständen eine Zweckmäßigkeit aufzufassen, bei der kein bestimmter Zweck impliziert ist; dies ist möglich, sofern es sich um eine reflektierte Wahrnehmung handelt, die das Besondere auf das Allgemeine bezieht, das selber unbestimmt bleibt. „Die Zweckmäßigkeit kann also ohne Zweck sein, sofern wir die Ursachen dieser Form nicht in einen Willen setzen, aber doch die Erklärung ihrer Möglichkeit nur, indem wir sie von einem Willen ableiten, uns begreiflich machen können. Nun « Kant, a . a . O . , S. 33. " Kant, a. a. O., S. 37. « Kant, a. a. O., S. 32.

6+ Kant, a. a. O., S. 32. 65 Kant, a. a. O., S. 33. 6 6 Kant, a. a. O., S. 33 f.

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Β.

Kants Theorie ästhetischer Reflexion

haben wir das, was wir beobachten, nicht immer nötig durch Vernunft (seiner Möglichkeit nach) einzusehen. Also können wir eine Zweckmäßigkeit der Form nach, auch ohne daß wir einen Zweck (als die Materie des nexus finalis) zum Grunde legen, wenigstens beobachten und an Gegenständen, wiewohl nicht anders als durch Reflexion, bemerken." 6 7

Beide Gedanken, die Kant zunächst nur als Möglichkeiten entwickelt, der einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck und der der Möglichkeit eines .Bemerkens' der Form der Zweckmäßigkeit an einem Gegenstand durch reflektierte Wahrnehmung, werden nun in der Ableitung des Bestimmungsgrundes des Geschmacksurteils und des Begriffes der Schönheit verknüpft und als in der ästhetischen Reflexion wirklich aufgewiesen. Der Gemütszustand der ästhetischen Reflexion ist als eine Lust durch Zweckmäßigkeit charakterisiert. Es ist nun die Intention Kants zu zeigen, daß der Grund dieser Lust von jeder Form eines realen oder vorgestellten Zwecks unabhängig ist, so daß diese gleichsam grundlos mit der Vorstellung verbunden scheint. Wie Kant bei der Analyse der Qualität des Geschmacksurteils gezeigt hatte, ist eine Grundbestimmung des Schönen, ohne Interesse zu sein. Aus ihr kann jetzt gezeigt werden, daß der Grund des Wohlgefallens am Schönen kein „subjektiver Zweck", d. h. kein Zweck, in dem wie im Angenehmen eine empirische Lust des Genusses aus der Existenz des Gegenstandes erstrebt ist, der Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils sein kann. Denn „aller Zweck", so lautet Kants Argument, wenn er als Grund eines Wohlgefallens gedacht wird, ist immer an ein „Interesse", d. h. an die reale Existenz des Gegenstandes, gebunden.68 Aus dem subjektiven Zweck einer ,die Vorstellung begleitenden Annehmlichkeit' 6 9 ließe sich auch die aufgewiesene subjektive Allgemeinheit, die zu dem Theorem eines freien Spiels der Erkenntnisvermögen geführt hat, nicht verständlich machen. Ebenso war gezeigt worden, daß einem ästhetischen Urteil nicht ein Begriff zugrunde liegen kann. Daraus kann jetzt entwickelt werden, daß der Beurteilung des Schönen durch die Lust der Reflexion „keine Vorstellung eines objektiven Zwecks, d. i. der Möglichkeit des Gegenstandes selbst nach Prinzipien der Zweckverbindung, mithin kein Begriff des Guten" 7 0 , zugrunde liegen kann. Damit sind auch „Nützlichkeit" und „Vollkommenheit" als mögliche Gründe des Geschmacksurteils ausgeschieden,71 da eine Beurteilung nach der Vorstellung eines objektiven Zwecks eine Erkenntnis des Begriffs voraussetzen würde, im Hinblick auf den der Gegenstand beurteilt werden soll. 6 9 Kant, a. a. O., S. 36. 67 Kant, a. a. O., S. 33 f. 7 0 Kant, a. a. O., S. 34. « Kant, a. a. O., S. 34. 7 1 Vgl. dazu Kant, a. a. O., S. 44 f. Nützlichkeit ist eine „äußere" objektive Zweckmäßigkeit. Das Nützliche als „das mittelbar Gute" (Kant, a. a. O., S. 13) gefällt nur m i t t e l b a r in Beziehung auf einen ihm selbst äußeren Zweck und ist da-

I I . Die Theorie der reinen ästhetischen Urteile

27

Da aber der Gegenstand durch die Lust als zweckmäßig beurteilt worden war, ein subjektiver Zweck und die Vorstellung eines objektiven Zwecks aber ausscheiden, kann nur die „subjektive Zweckmäßigkeit in der Vorstellung eines Gegenstandes, ohne allen (weder objektiven noch subjektiven) Zweck . . . das Wohlgefallen . . . mithin den 'Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils ausmachen." 7 2 Bezeichnet diese Formulierung den subjektiven Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils, d. h., macht sie die Eigenart des Schönen als eine Lust, die aus einer für das Subjekt zwecklos-zweckmäßigen Vorstellung entspringt, verständlich, so wird in einem weiteren Schritt der Ableitung nun der Begriff der Schönheit erreicht. In solchem Sinn zweckmäßig für die Erkenntnisvermögen kann nämlich nur eine Vorstellung sein, die — nun in einem objektiven Sinne — eine z w e c k mäßige

Form

zeigt, d . h . eine Form, die das Mannigfaltige eines Dinges

so organisiert, daß es nur durch einen Zweck möglich scheint, wiewohl von einem bestimmten Zweck in seiner Betrachtung gerade abstrahiert wird. Denn im ästhetischen Verhalten kann sich die Lust nur auf die F o r m

einer Zweck-

verbindung beziehen, da von dem realen Zweck, von der „ M a t e r i e " 7 3 der Zweckverbindung als Grund eines Wohlgefallens gerade abgesehen wird. Aus dem Verständnis der reinen ästhetischen Lust als subjektive Zweckmäßigkeit

durch vom Schönen, das u n m i t t e l b a r gefällt, deutlich unterschieden, während nach Kant „eine objektive innere Zweckmäßigkeit, d. i. Vollkommenheit, dem Prädikate der Schönheit schon näher" kommt und deshalb „mit dem Beisatze, w e n n s i e v e r w o r r e n g e d a c h t w i r d " von „namhaften Philosophen" „für einerlei mit der Schönheit gehalten worden" ist. Kant denkt hier nach P. Menzer besonders an Alexander Baumgarten, der diesen über Wolff auf Leibniz zurückweisenden Gedanken aufnimmt. Vgl. P. Menzer, Kants Ästhetik in ihrer Entwicklung, Berlin 1952, S. 143 f. und S. 27. Den Begriff des Guten verwendet Kant in Zusammenhang mit Vollkommenheit in einem allgemeinen Sinn. Er bezeichnet die Zweckbeziehung, die in dem Begriff Vollkommenheit als .objektiver i n n e r e r Zweckmäßigkeit' (Hervorhebung G. B.) gedacht wird. Vgl. Kant, a. a. O., S. 50: Die Verbindung „des Guten (wozu nämlich das Mannigfaltige dem Dinge selbst, nach seinem Zwecke, gut ist) mit dar Schönheit" tut der „Reinigkeit" des Geschmacksurteils „Abbruch". In dieser den Zweck des Dinges unbestimmt lassenden Formulierung ist f ü r d e n M e n s c h e n .Vollkommenheit' und das moralisch Gute von seiner Fähigkeit zu vernünftiger Selbstbestimmung aus zu denken, in der er sich selbst verbindliche Zwecke setzt. — Kant bezieht die Vollkommenheit, die hier als Beurteilungsgrund des reinen Schönen ausgeschieden wird, da sie einen Begriff des Zwecks voraussetzt, in seine Theorie der Kunst über die Konzeption der .anhängenden Schönheit' wieder ein. Vgl. dazu unten S. 67 ff. 72 Kant, a. a. O., S. 35. 73 Kant, a. a. O. S. 34 (gesperrt G. B.).

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Β.

Kants Theorie ästhetischer Reflexion

ohne Zweck f o l g e r t Kant deshalb den möglichen Bezugspunkt einer solchen Lust: „Also kann nichts anderes als die subjektive Zweckmäßigkeit in der Vorstellung eines Gegenstandes, ohne allen . . . Zweck, f ο 1 g 1 i/C h die bloße Form der Zweckmäßigkeit in der Vorstellung, wodurch uns ein Gegenstand g e g e b e n wird . . . den Bestimmungsgrund des Geschmackurteils ausmachen." 74

In dieser Ableitung ist der Begriff der Schönheit erreicht, der, wie dargestellt, aus der ästhetischen Reflexion gewonnen worden ist. 75 Dabei kommt zu dem subjektiven Moment der ästhetischen Reflexion ein gegenständliches, objektives' insofern hinzu, als der schöne Gegenstand „gegeben" wird, so das es falsch wäre, von einer .Erzeugung' des Schönen durch die ästhetische Reflexion zu sprechen. Dieses gegenständliche Moment im Schönen wird anders als beim Erhabenen eine „Deduktion" nötig machen. In ihrer Verschränkung, wenn auch nicht mehr im Gang der Ableitung, stellt die in diesem Abschnitt gegebene Schönheitsdefinition das subjektive und gegenständliche Moment des Schönen dar: „ S c h ö n h e i t ist die Form der Z w e c k m ä ß i g k e i t eines Gegenstandes, sofern sie o h n e V o r s t e l l u n g e i n e s Z w e c k s an ihm wahrgenommen wird." 76

In diesen Bestimmungen ist abgeleitet und kann deshalb als Ergebnis für die weiteren Überlegungen festgehalten werden, daß sich das Geschmacksurteil nur auf die F o r m und nicht auf die M a t e r i e eines Dinges und nicht auf jede Form, sondern nur auf die Form der Z w e c k m ä ß i g k e i t beziehen kann und daß deshalb Schönheit nur die Form eines Dinges, sofern sie Form der Z w e c k m ä ß i g k e i t (d.h. zweckmäßig ohne einen materiellen Zweck) ist, sein kann. Andeutungsweise sollen im Folgenden die Konsequenzen dieser Bestimmung für eine mögliche verbindliche literarische Wertung entwickelt werden, die dann im weiteren Verlauf der Arbeit ausführlicher dargestellt werden. 71 Kant, a. a. O., S. 35. 75 W. Biemel, Die Bedeutung von Kants Begründung der Ästhetik für die Philosophie der Kunst, Kantstudien Ergänzungshefte Bd. 77, Köln 1959, S. 52, führt umgekehrt aus, die Lust als subjektive Zweckmäßigkeit sei in der Form der Zweckmäßigkeit des Gegenstandes begründet. Dies ist richtig, aber macht, indem es die umgekehrte Ableitung nicht zeigt, die Autonomie im Schönen nicht verständlich. Diese wird dadurch verstehbar, daß, obwohl ein Objekt gegeben sein muß, w a s dieses Objekt sein kann, allein aus dem Begriff einer interesselosen und allgemeingültigen ästhetischen Reflexion deduziert worden ist. (Vgl. unten S. 42.) Kant denkt vor diesem Hintergrund im weiteren Verlauf der Analyse diese Autonomie dadurch, daß die Urteilskraft im Schönen subjektiv „sich selbst . . . Gegenstand sowohl als Gesetz" ist (Kant, a. a. O . , S. 148). 76 Kant, a. a. O., S . 6 1 .

I I . Die Theorie der reinen ästhetischen Urteile

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Zuvor soll aber noch gezeigt werden, wie Kant die in der ästhetischen Reflexion stattfindende Beurteilung, die auf „Bedingungen a priori" beruht (§ 12), mit dem immer empirischen Gefühl der Lust verbindet, das in einem ästhetischen Urteil, das auf einem „unmittelbaren Wohlgefallen" beruht, der nicht aufgebbare Grund des Urteils bleiben muß. Die formale und teleologische Analyse der Lust, die diese als Selbsterhaltung versteht und eine gleiche Deutung des freien Spiels der Reflexion, die nicht in einem bestimmten Begriff zur Ruhe kommt, also tendenziell ebenfalls unendlich ist, ist die Voraussetzung dazu, beide miteinander zu identifizieren: „Das Bewußtsein der bloß formalen Zweckmäßigkeit im Spiele der Erkenntniskräfte des Subjekts bei einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, ist die Lust selbst, weil es einen Bestimmungsgrund der Tätigkeit des Subjekts in Ansehung der Belebung der Erkenntniskräfte desselben, also eine i n n e r e K a u s a l i t ä t (welche zweckmäßig ist) in Ansehung auf Erkenntnis überhaupt, aber ohne auf eine bestimmte Erkenntnis eingeschränkt zu sein, mithin eine bloße Form der subjektiven Zweckmäßigkeit einer Vorstellung in einem ästhetischen Urteil enthält." 77 Indem also die ästhetische Reflexion, die auf apriorischen Bedingungen beruht, eine Tendenz sich zu steigern und zu „beleben" hat, deren tendenzielle Unendlichkeit Kant als bezogen auf „Erkenntnis überhaupt" deutet, ist sie L u s t ohne Beziehung auf einen Zweck, da auch die Lust die Struktur, daß sie ihre „Ewigkeit" 78 w iH ; hat. Die tendenzielle Unendlichkeit der ästhetischen Reflexion, aus der Kant verständlich macht, daß wir beim Schönen „weilen" — „wir w e i l e n bei der Betrachtung des Schönen, weil diese Betrachtung sich selbst stärkt und reproduziert" 7 9 — wird auch für die literarische Wertung ein entscheidender Begriff sein. *

*

*

Was bedeutet nun die Kantische Ableitung des Begriffes der Schönheit als „Form der Z w e c k m ä ß i g k e i t eines Gegenstandes, sofern sie o h n e V o r s t e l l u n g e i n e s Z w e c k s an ihm wahrgenommen wird" 8 0 für die ästhetische Beurteilung und für eine mögliche literarische Wertung? Welche Kriterien können für sie daraus entwickelt werden? Die grundsätzliche Schwierigkeit dabei ist, daß Schönheit nach Kants Theorie gerade kein objektiver Begriff ist, dessen Bestimmungen auf ihre Gegeben77 Kant, a. a. O., S. 36 f. (Hervorhebung G. B.) 78 Vgl. Fr. Nietzsche, Das trunkene Lied: „Doch alle Lust will Ewigkeit — / — Will tiefe, tiefe Ewigkeit", in: Also sprach Zarathustra, Friedrich Nietzsche, Werke, München 1966, Bd. I I , S. 551 ff., zitierte Verse S. 558. 79 Kant, a. a. O., S. 37. so Kant, a. a.O., S. 61.

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Β. Kants Theorie ästhetischer Reflexion

heit an einem Objekt geprüft werden könnten. Dann wäre das Urteil kein ästhetisches mehr, sondern ein Erkenntnisurteil, und die Grundbestimmung Kants, daß das Schöne nur für die Reflexion bzw. das Gefühl ist, wäre übergangen. Dennoch hat die Schönheit auch ihren Grund im Objekt, insofern es als schönes jene Reflexion erst ermöglicht. Bestimmungen des Schönen können also nur insofern angegeben werden, als sie Bedingungen der ästhetischen Reflexion sind, die als subjektive Zweckmäßigkeit ohne Zweck nicht bei einem bestimmten Begriff endet, sondern in ihrer Absicht auf „Erkenntnis überhaupt" unendlich ist. Am Gegenstand kann aber nur, wie oben gezeigt wurde, die F o r m und nicht seine Materie das Korrelat der Reflexion sein, da die zwecklose Lust der Reflexion sich nicht an die Realität des Gegenstandes binden darf.81 Damit sind „Reiz" und „Rührung" als konstitutive Elemente des Schönen ausgeschieden.82 ,Rührung', für Kant ein Gefühl der Lust, das nur „vermittelst augenblicklicher Hemmung und darauf erfolgender stärkerer Ergießung der Lebenskraft erwirkt wird", ist mit dem Erhabenen wesensgemäß verbunden, gehört aber dem reinen Schönen nicht an.83 Der „Reiz", der eine unreflektierte Empfindung des Angenehmen meint, ist nur insofern ein positiver ästhetischer Wert, als er Kompositionselement ist. 84 So kann der Reiz zwar als mit dem Schönen „vereinbar" 85 angesehen werden und auch ein ,Interesse' am Kunstwerk erwek-

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Der Begriff ist deshalb so wichtig, weil sich an ihn Äquivokationen leicht anschließen. Wie Cohen richtig sieht, ist der Gegensatz Form — Inhalt „gedankenlos"; der Gegensatz ist Materie, so daß der Formbegriff neben der Bedeutung Normung' den der Irrealität, die Bestimmung des ,Scheins' enthält. „Der Unterschied von Form und Inhalt ist gedankenlos. Es gibt einen Unterschied zwischen Form und Stoff; aber nicht zwischen Form und Inhalt. Die Form ist die Form des Stoffs und als solche Inhalt. Solche Inhaltsform ist das Ideal" (H. Cohen, Kants Begründung der Ästhetik, Berlin 1889, S. 376 f.). So sagt Kant über ein Geschmacksurteil, man dürfe nicht „die Materie für die Form, Reiz für Schönheit" nehmen (Kant, a. a. O., S. 155). Kant, a. a. O., S. 39. Kant, a. a. O., S. 43; vgl. auch S. 75. Vgl. dazu Kant, a. a. O., S. 42 f.: „ . . . daß die Reinigkeit der Farben sowohl als der Töne oder auch die Mannigfaltigkeit derselben und ihre Abstechung zur Schönheit beizutragen scheint, will nidht soviel sagen, daß sie darum, weil sie für sich angenehm sind, gleichsam einen gleichartigen Zusatz zu dem Wohlgefallen an der Form abgeben, sondern w e i l s i e d i e s e l e t z t e r e n u r g e n a u e r , b e s t i m m t e r u n d v o l l s t ä n d i g e r a n s c h a u l i c h m a c h e n und überdem durch ihren Reiz die Vorstellung beleben, indem sie die Aufmerksamkeit auf den Gegenstand selbst erwecken und erhalten" (Hervorhebung G. B.). Kant, a. a. O., S. 75. Dies unterscheidet das Schöne vom Erhabenen, das als „negative Lust" (Kant, a. a. O., S. 76) mit Reizen nicht vereinbar ist. Vgl. unten S. 53 ff.

II. Die Theorie der reinen ästhetischen Urteile

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k e n 8 6 , kann aber auch, soweit er diese funktionale Bedeutung in Beziehung auf das Kunstwerk nicht hat, die Schönheit beeinträchtigen bzw. zerstören: „Aber sie tun wirklich dem Geschmacksurteile Abbruch, wenn sie die Aufmerksamkeit als Beurteilungsgründe der Schönheit auf sich ziehen." 87 Über die für die literarische Wertung grundsätzliche Bestimmung hinaus, daß sie auf die Form, die nach Kant in den verschiedenen Künsten „entweder G e s t a l t oder S p i e l " 88 ist, bezogen sein muß, ist in der Definition der Schönheit als „Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zweckes wahrgenommen wird" 89 dasjenige enthalten, was Schiller im Anschluß an Kant als „lebende Gestalt" 90 expliziert hat und worauf Begriffe wie „organische Form" 91 und (weniger einleuchtend, weil unbestimmter) „Struktur", schließlich auch noch der formale Begriff einer „Einstimmigkeit" im Kontrast zu „Spannungsfülle" 92 verweisen. Mit der Kantischen Formulierung ist eine in der A n s c h a u u n g präsente Einheit bezeichnet, wie sie nur von der Intention eines Verstandes her aufgrund einer Zweckverbindung gedacht werden könnte, durch die jedes Moment zum Ganzen in Beziehung gesetzt ist, allerdings hier in einer f r e i e n Einheit der Teile, da von der begrifflichen Einheit, dem Zweck, in der ästhetischen Reflexion gerade abstrahiert wird. W i e gezeigt wurde, wird aber bei Kant nicht das Schöne nach dem Modell eines selber unverstandenen Organischen gedeutet oder der

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Vgl. Kant, a. a.O., S.41. Ebd. Friedrich S c h l e g e l hat das ebenfalls funktional gebundene Moment des Reizes in seinen Begriff der Kunst aufgenommen. Vgl. dazu Teil II der Arbeit bes. S. 101 ff. Kant hat die Ο r i e η t i e r u η g an ,Reiz' und ,Rührung' gegenüber der in der ästhetischen Reflexion geforderten Beziehung auf die F o r m als für einen ,noch barbarischen' Geschmack charakteristisch beschrieben (Kant, a.a.O., S. 38). Kant, a. a. O., S. 42. Kant, a. a. Ο., S. 61 (ohne Kants Sperrungen). „Der Gegenstand des Spieltriebes . . . wird also l e b e n d e G e s t a l t heißen können; ein Begriff, der . . . dem, was man in weitester Bedeutung S c h ö n h e i t nennt, zur Bezeichnung dient" (NA 20, S. 355, Z. 18 f.). Vgl. ζ. B. Susanne Langer in dem Aufsatz „Living Form": „Another metaphor of the studio, borrowed from the biological realm, is the familar statement, that every art work must be organic." S. Langer, Problems of Art, New York 1957, S. 44. Auch in der deutschen Literaturwissenschaft war dieser Begriff einflußreich. W. Kayser, Die Vortragsreise, Bern 1958, S. 46 f. W. Ε m r i c h hat gezeigt, daß sich Kriterien wie Vieldeutigkeit, „ambiguity", Paradox, Ironie (New Criticsm) sachlich ergeben, wenn man Einstimmigkeit' und ,Spannungsfülle' zusammendenkt. W. Emrich, Bewußtseins- und Daseinsstufen der Dichtung, in: Geist und Widergeist. Wahrheit und Lüge in der Literatur. Studien, Frankfurt/Main 1965, S. 32.

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Β.

Kants Theorie ästhetischer Reflexion

Begriff der Struktur als ein Letztes hingenommen.93 Vielmehr ist es die ästhetisch reflektierende Urteilskraft, also die allgemeine Subjektivität des ästhetischen Bewußtseins, aus der der Begriff der Schönheit deduziert wird, so daß aus ihr und dem „Gemütszustand" im ästhetischen Verhalten die Bedeutung solcher Kriterien erst verstanden werden kann. Konsequenzen von Kants Theorie für die literarische Wertung über die hier gegebenen Hinweise hinaus zu explizieren, setzt den Begriff der Kunst voraus, der erst im nächsten Abschnitt dargestellt werden soll. Sie sollen deshalb erst in diesem Teil der Arbeit sichtbar gemacht werden. δ) Die subjektive Notwendigkeit des Geschmacksurteils)

des Wohlgefallens

am Schönen

(Modalität

Aus der Analyse des Geschmacksurteils hinsichtlich seiner M o d a l i t ä t gewinnt Kant ein letztes Moment des Sinnes von Schönheit. Nach Kant kann schön nur genannt werden, was Gegenstand eines n o t w e n d i g e n Wohlgefallens ist. Umgekehrt bedeutet dies, daß grundsätzlich ein ästhetisches Urteil mit Notwendigkeit und Verbindlichkeit für andere gefällt werden kann, wenn diese Möglichkeit auch aus der spezifischen Subjektivität der Notwendigkeit eine Einschränkung erfährt. Dennoch ist es gerade der Sinn ästhetisch reflektierender Beurteilung, ein solch verbindliches Urteil zu fällen. Denn die Notwendigkeit des Wohlgefallens an einem Gegenstand ist es gerade, die gemeint ist, wenn er schön genannt wird.94 Diese Eigentümlichkeit hebt das Schöne unter allen Vorstellungen heraus, mit denen grundsätzlich m ö g l i c h e r w e i s e ein Wohlgefallen verbunden sein kann, und unterscheidet es vom Angenehmen, das, als ein sinnlich bedingtes Wohlgefallen, nur jeweils w i r k l i c h mit einer Vorstellung verbunden ist. Vom Wohlgefallen am Guten, das ebenfalls n o t w e n d i g ist, unterscheidet das Schöne die Unbegrifflichkeit, weil hier die Notwendigkeit subjektiv und ästhetisch sein muß, da das Geschmacksurteil unmittelbar auf dem Gefühl der Lust beruht. Eine solche Notwendigkeit eines ästhetischen Urteils nennt

μ Im zweiten Teil der „Kritik der Urteilskraft" hat Kant den Begriff des Organischen und der „Struktur" ausgehend von der „teleologischen Urteilskraft", die eine Form der reflektierenden Urteilskraft ist, thematisiert. 94 Die Notwendigkeit des Wohlgefallens ist ein Moment, das zur subjektiven Allgemein noch hinzukommt, da es die Weise, in der im Geschmacksurteil eine Zustimmung aller beansprucht wird, expliziert. Beide Momente sind allerdings verbunden, so daß die Begründung der „allgemeinen Stimme" in diesem Abschnitt mit erfolgt.

II. Die Theorie der reinen ästhetischen Urteile

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Kant im Gegensatz zur apodiktischen Notwendigkeit, die auf Begriffen beruht und deshalb beweisbar ist, „exemplarisch", und erläutert sie als „.. . eine Notwendigkeit der Beistimmung a l l e r zu einem Urteil, was wie ein Beispiel einer allgemeinen Regel, die man nicht angeben kann, angesehen wird." 95 Gegenüber der Notwendigkeit eines Erkenntnisurteils, die besagt, daß etwas mit Notwendigkeit geschehen werde und der eines praktischen Urteils, die ausdrückt, daß auf eine bestimmte Weise gehandelt werden soll, besagt die Notwendigkeit des ästhetischen Urteils „daß jedermann dem vorliegenden Gegenstande Beifall geben und ihn gleichfalls für schön erklären s o l l e . " 96 Es wäre also ein Mißverständnis des Sinnes der These vom notwendigen Wohlgefallen am Schönen, würde man daraus entnehmen wollen, daß das Schöne allen gefallen w e r d e . Man hätte dann die ästhetische Notwendigkeit in eine theoretische umgedeutet. Kant hat aber keineswegs die empirische Vielfalt der Geschmacksurteile übersehen. Sie ist vielmehr insofern ein Bestandteil der Theorie als das Geschmacksurteil als eine subjektiv zu vollziehende Norm gefaßt wird, so daß wegen der Subjektivität dieses Vollzugs immer die Ungewißheit besteht, ob auch wirklich nach der Norm geurteilt worden ist. Dies hat Kant in die Formel gefaßt, daß das „Sollen" im Geschmacksurteil „nur bedingt" 97 ausgesprochen wird. „Man wirbt um jedes anderen Beistimmung, weil man dazu einen Grund hat, der allen gemein ist; auf welche Beistimmung man auch rechnen könnte, wenn man nur sicher wäre, daß der Fall unter jenem Grunde als Regel des Beifalls richtig subsumiert wäre." 98 Diese Einschränkung, die aus der Subjektivität, d. h. der Nichtbeweisbarkeit eines Geschmacksurteils entspringt, setzt aber das grundsätzliche Prinzip, „einen Grund", „der allen gemein ist", 99 voraus; die Ungewißheit besteht nur darin, ob „in der Tat dieser Idee gemäß" 100 geurteilt worden ist, wie Kant bei dem Aufweis der subjektiven Allgemeinheit des Geschmacksurteils formu95 Kant, a. a. O., S. 62 f. 06 Kant, a. a. O., S. 63. Hegels „Ästhetik" deutet im Zusammenhang der Darstellung der Kantischen Theorie die Kategorie Notwendigkeit' als Verweis auf ein „innerlich wesentliches Verhältnis zweier Seiten": „. . . wenn das Eine ist und weil das Eine ist, ist auch das Andere. Das Eine enthält in seiner Bestimmung zugleich das Andere . .." (Ästh. I, S. 68). ,Schön sein' und ,Wohlgefallen bewirken' implizieren sich in dieser Weise. 97 Kant, a. a. O., S. 63. 9 « Kant, a. a. O., S. 63. 99 Ebd. κ» Kant, a.a.O., S.26.

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Β. Kants Theorie ästhetischer Reflexion

liert hatte. Man kann diese Ungewißheit der richtigen Subsumtion in Abhängigkeit von individuellen Bewußtseinsstufen der Urteilenden sehen und davon die Frage nach der grundsätzlichen Möglichkeit eines normativen Urteils unterscheiden.101 Dasjenige subjektive Prinzip, von dem aus die Möglichkeit eines notwendigen ästhetischen Urteils denkbar wäre, müßte, da es sich um ein nicht über Begriffe vermitteltes Urteil handelt, nach Kant ein „Gemeinsinn" sein. „Wären sie (die Geschmacksurteile, G. B.) ohne alles Prinzip, wie die des bloßen Sinnengeschmacks, so würde man sich gar keine Notwendigkeit derselben in Gedanken kommen lassen. Also müssen sie ein subjektives Prinzip haben, welches nur durch Gefühl . . . doch aber allgemeingültig bestimme, was gefalle oder mißfalle. Ein solches Prinzip aber könnte nur als ein G e m e i η s i η η angesehen werden ..." 102 Grund des Geschmacksurteils nach der bisherigen Analyse ist das Gefühl. Es ist das Gefühl eines Gemütszustandes allgemeiner Mitteilbarkeit (des freien Spiels der Erkenntniskräfte), dessen Gehalt eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck ist. Jetzt führt Kant als Prinzip dieses Urteils einen „Sinn" ein, der dieses Gefühl bezeichnet. Unter Gemeinsinn versteht Kant so „keinen äußeren Sinn, sondern die Wirkung aus dem freien Spiel unserer Erkenntniskräfte". 103 Bei seinem Ursprung aus der harmonischen Integration der Erkenntniskräfte ist die Allgemeinheit eines Gefühls, die so gedacht ist, für ihn namengebend. Aus ihr läßt sich die Notwendigkeit der Beistimmung aller zu einem Geschmacksurteil verständlich machen, weil das Urteil individuell nach demjenigen Prinzip gefällt worden ist, was allen gemeinsam vorausgesetzt wird. Außer der für die literarische Wertung wichtigen Frage, wie die faktischen Urteile dem Ideal der ästhetischen Reflexion genügen können, die die Bewußtseinsstufe und Bildungsgeschichte von Individuen betrifft, muß grundsätzlich geklärt werden, ob ein solcher Gemeinsinn angenommen werden und wie eine nicht über Begriffe vermittelte Kommunikation eines „Gemütszustandes" gedacht werden kann. Kant zeigt die Berechtigung der Annahme eines Gemeinsinns dadurch, daß er aufweist, daß ein solcher Gemeinsinn eine „notwendige Bedingung der allgemeinen Mitteilbarkeit der Erkenntnis" ist. Er muß deshalb „in jeder Logik und jedem Prinzip der Erkenntnis, das nicht skeptisch ist, vorausgesetzt werden" ,10+ Im § 9 war aus der beanspruchten subjektiven Allgemeinheit des Geschmacksurteils abgeleitet worden, daß nur der Gemütszustand beim freien 101

Hegel sieht diese Voraussetzung ästhetischer Erfahrung im normativen Sinne in der Bildung des Geistes: „Um das Schöne zu würdigen, bedarf es eines gebildeten Geistes; der Mensch, wie er geht und steht, hat kein Urteil über das Schöne, indem dies Urteil auf eine allgemeine Gültigkeit Anspruch macht" (Ästh. I, S. 67). 10 2 Kant, a. a. O., S. 64. 103 Kant, a. a. O., S. 65. 10+ Kant, a. a. O., S. 66.

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Spiel der Erkenntnisvermögen Grund des Geschmacksurteils sein könne, da sich nur aus Erkenntnis allgemeine Mitteilbarkeit ableiten läßt. Jetzt zeigt Kant, wie ein allgemein mitteilbares Gefühl aus dem Spiel der Erkenntnisvermögen wirklich entspringen kann. Wenn nämlich Erkenntnis, wie schon ihr Begriff besagt, allgemein mitteilbar ist,105 müssen auch die subjektiven Bedingungen von Erkenntnis, d. h. ein bestimmtes Verhältnis, eine „Proportion" 106 der Erkenntnisvermögen Einbildungskraft und Verstand, die für „Erkenntnis überhaupt" konstitutiv ist, und das „Gefühl derselben" allgemein mitteilbar sein. „Sollen sich aber Erkenntnisse mitteilen lassen, so muß sich auch der Gemützszustand, d. i. die Stimmung der Erkenntniskräfte zu einer Erkenntnis überhaupt, und zwar diejenige Proportion, welche sich für eine Vorstellung (wodurch uns ein Gegenstand gegeben wird) gebührt, um daraus Erkenntnis zu machen, allgemein mitteilen lassen; weil ohne diese, als subjektive Bedingung des Erkennens, das Erkenntnis als Wirkung nicht entspringen könnte." 1 0 7

Die Stimmung der Erkenntniskräfte hat je nach Verschiedenheit der Objekte eine bestimmte Proportion, die durch ein Überwiegen des Abstrakten oder des Sinnlichen gekennzeichnet ist.108 Bei dieser Verschiedenheit der Proportion der Stimmung der Erkenntniskräfte Einbildungskraft und Verstand in Beziehung auf die Form der Objekte muß es aber nach Kant „.. . eine (soldie Proportion der Stimmung dieser Erkenntnisvermögen, G. B.) geben, in welcher dieses innere Verhältnis zur Belebung (einer durch die andere) die zuträglichste für beide Gemütskräfte in Absicht auf Erkenntnis (gegebener Gegenstände) überhaupt ist ..." 1 0 9

Für diese Stimmung, die auf „Erkenntnis gegebener Gegenstände überhaupt" bezogen ist, gilt, daß sie „nicht anders als durch das Gefühl (nicht nach Begriffen)" 110 beurteilt werden kann. Die Differenzierung, die Kant hier zwischen „Stimmung der Erkenntniskräfte" und „Gefühl" dieser Stimmung macht, entspricht dabei den beiden Elementen, die im Geschmacksurteil in Einheit sind, Reflexion und Empfindung. Mit der Ableitung eines allgemein mitteilbaren Gefühls derjenigen Proportion der Erkenntnisvermögen, die zur „Erkenntnis . . . 105 Vgl. dazu Kant, a. a. O., S. 65: „Erkenntnisse und Urteile müssen sich, samt der Überzeugung, die sie begleitet, allgemein mitteilen lassen; denn sonst käme ihnen keine Übereinstimmung mit dem Objekt zu; sie wären insgesamt ein bloß subjektives Spiel der Vorstellungskräfte, gerade so wie es der Skeptizism verlangt." 106 Kant, a. a. O., S. 66. 107 Kant, a. a. O., S. 65. los Als Beispiele können einerseits die bloße Regelmäßigkeit mathematischer Formen, die Kant nicht als schön bezeichnet, andererseits die Mannigfaltigkeit, in der keine Einheit zu finden ist und die deshalb ,regellos' ist, angegeben werden. Kant, a. a. O., S. 70 ff. 109 Kant, a. a. O., S. 66. no Kant, a.a.O., S. 66.

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überhaupt" tauglich ist, aus dem bloßen Begriff der Erkenntnis ist jetzt aber auch die Berechtigung erwiesen, einen G e m e i n s i n n anzunehmen, da „die allgemeine Mitteilbarkeit eines Gefühls . . . einen Gemeinsinn voraussetzt". 111 Kant hat also aus dem allgemein mitteilbaren Gefühl eines für Erkenntnis überhaupt geeigneten Verhältnisses von Einbildungskraft und Verstand, letztlich also aus dem Begriff der Erkenntnis, einen Gemeinsinn als berechtigt aufgewiesen, der seinerseits als ein subjektives Prinzip ästhetischer Urteile die Notwendigkeit des Wohlgefallens verständlich macht. Aufgrund dieses Prinzips kann das Geschmacksurteil sich als eine Norm verstehen, die verlangt, „daß jedermann dem vorliegenden Gegenstande Beifall geben und ihn gleichfalls für schön erklären s o l l e " . 1 1 2 Unter der Voraussetzung des Gemeinsinns wird die Notwendigkeit des Wohlgefallens am Schönen als „objektiv vorgestellt". 113 In ihm hat Kant auf der Ebene des Gefühls das subjektive Prinzip des Geschmacks angegeben, in dem die Einheit der bisher analytisch unterschiedenen Momente des Geschmacks gedacht ist. Nennt „Geschmack" vorzüglich die Subjektivität des Beurteilungsvermögens, so bezeichnet „Gemeinsinn" als Prinzip des Geschmacksurteils vorzüglich den Grund der Allgemeinheit und Notwendigkeit des Gefühls, das im Schönen als mit einem Gegenstand verbunden erfahren wird. Im Fortschritt der Kantischen Argumentation wird diese Stufe der Analyse dadurch überschritten, daß Kant das Beurteilungsvermögen des Geschmacks und sein Prinzip nun von dem R e f l e x i o n s m o m e n t her als „subjektive Urteilskraft" 1 1 4 bestimmt. Von diesem Argument aus wird dann der Nachweis der Allgemeinheit und Notwendigkeit des Geschmacksurteils geführt. Der normative Charakter des Geschmacksurteils, der sich in der beispielhaften Verbindlichkeit des eigenen Urteils für andere äußert, ist an den Gemeinsinn als an seine Voraussetzung gebunden. Da mit der prinzipiellen Rechtfertigung der Norm noch nicht der tatsächliche und richtige Vollzug ihrer Regel in den Individuen gesichert ist, die die ästhetische Reflexion möglicherweise nicht rein auf die Form bezogen vollziehen, ist es klar, daß der „Gemeinsinn" als Vermögen eine I d e e ist, die einer bestimmten Stufe im Bildungsprozeß des Individuums entspricht. So nennt Kant audi den Gemeinsinn eine „idealische Norm" 115 und eine „jedermann notwendige I d e e " 1 1 6 , wie er auch schon bei der Behandlung der subjektiven Allgemeinheit die beanspruchte „allgemeine Stimme", die, wie jetzt deutlich ist, ebenfalls auf dem Gemeinsinn beruht, eine „Idee" genannt hatte. Kant, a.a.O., >12 Kant, a.a.O., »3 Kant, a. a. O., nt Kant, a.a.O., "5 Kant, a.a.O., 111

S.66. S.63. S.66. S. 146. S. 67.

116

Ebd.

I I . Die Theorie der reinen ästhetischen Urteile

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Dennoch läßt Kant, weil auf dieser Stufe der Analyse die Voraussetzungen dafür noch nicht geschaffen sind, die Frage, ob der Gemeinsinn ein „natürliches" oder ideales Vermögen sei, offen: „Ob es in der Tat einen solchen Gemeinsinn als konstitutives Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung gebe, oder ein noch höheres Prinzip der Vernunft es uns nur zum regulativen Prinzip mache, allererst einen Gemeinsinn zu höheren Zwekken in uns hervorzubringen; ob also Geschmack ein ursprüngliches und natürliches, oder nur die Idee von einem noch zu erwerbenden und künstlichen Vermögen sei, so daß das Geschmacksurteil mit seiner Zumutung einer allgemeinen Beistimmung in der Tat nur eine Vernunftforderung sei, eine solche Einhelligkeit der Sinnesart hervorzubringen . . . das wollen und können wir hier noch nicht untersuchen, sondern haben für jetzt nur das Geschmacksvermögen in seine Elemente aufzulösen, um sie zuletzt in der Idee eines Gemeinsinns zu vereinigen." H7 Damit ist das Ziel der Exposition des Schönen in der Darstellung des Geschmacks als Gemeinsinn erreicht. Der Aufweis, daß ein solcher Gemeinsinn in der Tat eine Idee ist, vollzieht sich erst in der „Dialektik", in der im Bezug des Schönen auf das Intelligible gezeigt wird, daß die Wahrnehmung des Schönen und die ästhetische Reflexion auf einer Vernunftforderung, letztlich auf der Idee der Sittlichkeit beruht 1 1 8 , ohne daß dadurch jedoch die Eigenständigkeit des Schönen preisgegeben wäre. b) Rechtfertigung des Verbindlichkeitsanspruches im Geschmacksurteil („Deduktion" des Geschmacksurteils) Nach der „Exposition" des Sinnes, der im Urteil .schön* gemeint ist, stellt sich für Kant jetzt die Aufgabe zu zeigen, wie ein ästhetisches Urteil, das mit einer Vorstellung ein Gefühl in notwendigen Zusammenhang bringt und deshalb „synthetisch" ist, ein Urteil a priori sein kann. Denn nur aus dem Nachweis, daß das Urteil über das Schöne ein synthetisches Urteil a priori ist, lassen sich die aufgewiesenen Charaktere der universalen Allgemeinheit und Notwendigkeit begründen. Ausgehend von der subjektiven Allgemeinheit kann dieses Problem auch so formuliert werden, daß zu zeigen ist: „wie ist ein Urteil möglich, das bloß aus dem e i g e n e n Gefühl der Lust an einem Gegenstande, unabhängig von dessen Begriffe, diese Lust als der Vorstellung desselben Objekts i n j e d e m a n d e r e n S u b j e k t anhängig a priori, d. i. ohne fremde Beistimmung abwarten zu dürfen, beurteilte?" 1 " 117 Kant, a. a. O., S. 67 f. i· 8 Vgl. dazu das Urteil von H. Cohen: „Die Begründung, die Kant der Ästhetik gegeben hat, enthält die Antwort auf diese Frage, welche als eine der tiefsten Erwägungen, die je ein Systematiker der Vernunft angestellt hat, nicht genugsam bewundert werden kann." H. Cohen, a. a. O., S. 212. ι « Kant, a . a . O . , S. 148.

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Von der subjektiven Allgemeinheit aus zeigt sich also die Apriorität in der Möglichkeit einer keiner „fremden Beistimmung" bedürftigen Antizipation der Erfahrung anderer. Die Legitimation des Anspruches des Geschmacksurteils ist so ein spezieller Fall von Kants systematischem Grundproblem: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? 120 Das Ziel der Deduktion wird durch den Gedanken, der in der Analytik schon angesetzt worden war (§ 9 besonders) und der jetzt weitergeführt wird, erreicht, das Urteil über das Schöne, ohne dessen Grund im Gefühl preiszugeben, mit den subjektiven Bedingungen der Erkenntnis überhaupt zu verknüpfen, aus denen sich Allgemeinheit und Notwendigkeit ableiten lassen. Dabei wird der Reflexionscharakter des Geschmacksurteils weiter geklärt. Die Frage nach der Notwendigkeit des Geschmacksurteils ist die nach einem Prinzip, aus dem es gefällt wird. Daß es überhaupt ein solches Prinzip geben müsse und die Richtung, in der es gefunden werden kann, folgt aus den logischen Eigentümlichkeiten des Geschmacksurteils, die Kant zum „Leitfaden" der Aufdeckung dieses ,Rechtsgrundes' macht.121 Die „subjektive Allgemeinheit" hatte Kant schon als das Phänomen bezeichnet, das die Entdeckung eines neuen Prinzips a priori veranlaßt: „Die besondere Bestimmung der Allgemeinheit eines ästhetischen Urteils, die sich in einem Geschmacksurteile antreffen läßt, ist eine Merkwürdigkeit . . . für den Transzendentalphilosophen, welche . . . eine Eigenschaft unseres Erkenntnisvermögens aufdeckt, welche ohne diese Zergliederung unbekannt geblieben wäre." 122 Die subjektive Allgemeinheit erzeugt den Schein einer Objektivität des Geschmacksurteils, indem sie A11 g e m e*i η ih e i t ist und fordert damit ein Prinzip, nachdem das Urteil gefällt wird; andererseits erzeugt sie den Schein bloßer Subjektivität, weil sie als s u b j e k t i v e Allgemeinheit ein objektives Prinzip als Grund des Urteils ausschließt.123 Ein Urteil subjektiver Allgemeinheit muß also auf einem Prinzip beruhen, aber dieses Prinzip kann kein objektives Prinzip sein.124

121 122 123 124

Kant zeigt, a. a. O., S. 148 f., daß Geschmacksurteile synthetisch sind, da sie „über den Begriff und selbst die Anschauung des Objekts hinausgehen" und ein Gefühl der Lust zu der Vorstellung „hinzutun". Er fährt fort: „Daß sie aber, obgleich das Prädikat (der mit der Vorstellung empfundenen e i g e n e n Lust) empirisch ist, gleichwohl, was die geforderte Beistimmung von j e d e r m a n n betrifft, Urteile a priori sind oder dafür gehalten werden wollen, ist gleichfalls schon in den Ausdrücken ihres Anspruchs enthalten; und so gehört die Aufgabe der Kritik der Urteilskraft unter das allgemeine Problem der Transzendentalphilosophie: wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" Kant, a. a. O., S. 146. Kant, a.a.O., S.21. Vgl. Kant, a. a. O., §§ 32, 33. Kant, a. a. O., § 34.

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Beide Bedingungen erfüllt das „ s u b j ' e k t l i ( v e P r i n z i p d e r U r t e i l s k r a f t überhaupt" 125, das als das Prinzip des Geschmacks von Kant eingeführt wird. Im „Gemeinsinn" hatte Kant dies Prinzip auf der Ebene des Gefühls thematisiert. Die „ästhetische Urteilskraft" kann nach Kant nämlich „eher als die intellektuelle den Namen eines gemeinsdiafdichen Sinnes führen . . . wenn man ja das Wort Sinn von einer Wirkung der bloßen Reflexion auf das Gefühl braudien will; denn da versteht man unter Sinn das Gefühl der Lust" . 126 Der „Gemeinsinn" als „Wirkung" der Reflexion hat diese zur Voraussetzung. Jetzt verläßt Kant die Ebene des Gefühls und bestimmt als Vorbereitung der Deduktion das Prinzip des Geschmacksurteils von seinem Reflexionsmoment her, das gegenüber der Gefühlsbestimmung des Gemeinsinns logische Priorität hat. Kant verfolgt diesen Gedankengang: Im Geschmacksurteil wird anders als im Erkenntnisurteil nicht eine Vorstellung unter Begriffe eines Objektes gebracht: sonst würde aus diesem Begriff, unter den die Vorstellung als schöne subsumiert würde, ihre Schönheit beweisbar sein. Trotzdem gibt es eine Allgemeinheit vor, die, weil nicht objektiv, d.h. auf Begriffen vom Objekt beruhend, nur subjektiv sein kann und auf einem subjektiven Prinzip beruhen muß. Sie kann sich also, da von den Begriffen als dem Inhalt eines Urteils abstrahiert worden ist, nur als Konsequenz aus der „subjektiven formalen Bedingung eines Urteils überhaupt" 127, d. h. dem Vermögen zu urteilen oder der Urteilskraft selbst, ergeben. Die Regel, die als subjektives Prinzip der Urteilskraft bezeichnet werden kann, ist die Einheit von Einbildungskraft und Verstand in abstracto, die in den jeweils konkreten Urteilen realisiert wird. Die Urteilskraft erfordert nach Kant „in Ansehung einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, gebraucht" „zweier Vorstellungskräfte Zusammenstimmung: nämlich der Einbildungskraft (für die Anschauung und Zusammensetzung des Mannigfaltigen derselben) und des Verstandes (für den Begriff als Vorstellung der Einheit dieser Zusammenfassung)." 128 Im ästhetischen Urteil aber, dem nun kein Begriff, dem das Mannigfaltige untergeordnet wäre, zugrunde liegt, ist die stattfindende Reflexion, die Beurteilung, deshalb nur die „Subsumtion der Einbildungskraft selbst . . . unter die Bedingung, daß der Verstand überhaupt von der Anschauung zu Begriffen gelangt .. ,".129 125 Kant, a. a. O., 126 Kant,, a. a. O., 127 Kant, a. a. O., 128 Ebd. 129 Kant, a.a.O.,

S. 145. S. 160. S. 145. S. 145f.

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Daß dabei der Ausgangspunkt vom Vermögen der Anschauung, des Besonderen: der Einbildungskraft, genommen wird, macht dieses Urteil zu einem Urteil der ästhetischen Reflexion. In der so unabhängig vom Begriff zustande kommenden Einigung der Vermögen liegt das Besondere dieses Urteils; denn nur, wenn das Mannigfaltige einer Vorstellung nicht durch die Regel des Begriffs vorbestimmt ist, ist die Einbildungskraft in ihrer F r e i h e i t im Urteil impliziert. Weil die Einbildungskraft frei ist, die hier „ohne Begriff schematisiert" ,130 kann das Urteil seinen Grund in der „Empfindung" der wechselseitig sich belebenden und steigernden Vermögen und deshalb in einem Gefühl haben, das die Vorstellung, sofern sie schön ist, für die Erkenntniskräfte als zwedkmäßig beurteilen läßt. Aus demselben Grund, daß die Einbildungskraft in diesem Urteil „frei" ist und darin mit der „Gesetzmäßigkeit" des Verstandes harmoniert, kann man im Geschmack ein besonderes Prinzip des Subsumtion auffinden, das von dem aller speziellen Urteile, die auf Begriffen oder dem subjektiven Zweck des Angenehmen beruhen, eben durch die Freiheit der Einbildungskraft verschieden ist: „. . . der Geschmack, als subjektive Urteilskraft, enthält ein Prinzip der Subsumtion", d. h. eine Regel, wonach das Urteil gefällt wird, „aber nicht der Anschauungen unter B e g r i f f e , sondern des V e r m ö g e n s der Anschauungen oder Darstellungen (d. i. der Einbildungskraft) unter das V e r m ö g e n der Begriffe (d. i. den Verstand), sofern das erstere in s e i n e r F r e i h e i t zum letzteren in s e i n e r G e s e t z m ä ß i g k e i t zusammenstimmt." 131 Damit hat Kant das zentrale Argument, das im Mittelpunkt der eigentlichen Deduktion (§ 38) steht, erreicht.132 Die ästhetische Kontemplation, das „freie Spiel" von Einbildungskraft und Verstand, hat i n s i c h den Charakter der R e f l e x i o n , insofern als in ihm die Vorstellung nach einer eigenen Regel, dem subjektiv formalen Prinzip der Urteilskraft (d. i. die freie Einheit von Einbildungskraft und Verstand als Vermögen) als zweckmäßig für die reflektierende Urteilskraft beurteilt wird. 133 Es ist aber eine ä s t h e t i s c h e Reflexion, da diese Beurteilung nur durch ein Gefühl der Lust in der als Belebung empfundenen Subsumtion der freien Einbildungskraft unter die Gesetzmäßig-

130 Kant, a. a. O., S. 146. 1 31 Kant, a. a. O., S. 146. 132 Diese Argumentationsstruktur sieht auch Menzer gegeben. Paul Menzer, Kants Ästhetik in ihrer Entwicklung, Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Klasse für Geisteswissenschaften, 1950, Nr. 2, S. 158. 133 In dieser Selbstbezüglichkeit der ästhetischen Urteilskraft ist, wie noch genauer gezeigt wird, die vielzitierte „Eigengesetzlichkeit" des Ästhetischen konzis ausgewiesen.

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keit des Verstandes (die Streben nach „Erkenntnis überhaupt" ist), also ohne Begriffe, geschieht.134 Die „Deduktion" des Geschmacksurteüs Die e i g e n t l i c h e D e d u k t i o n (§ 38) verbindet jetzt den Gedanken, daß das Prinzip des Geschmacks das subjektive Prinzip der Urteilskraft ist, mit dem, daß diese in ihrem formalen Gebrauch als eine Bedingung von Erkenntnis überhaupt „dasjenige Subjektive" ist, „welches man bei allen Menschen . . . voraussetzen kann" 135, denn hinsichtlich der Formalität ihres Gebrauchs im ästhetischen Urteil ist sie weder auf einen bestimmten Begriff, noch auf eine besondere Sinnesart, aus der sich Besonderheiten erst ergeben würden, eingeschränkt. Daraus folgt dann, daß die Ubereinstimmung einer Vorstellung mit den subjektiven Bedingungen der Urteilskraft a priori als für alle verbindlich angenommen werden kann. Diese Übereinstimmung macht sich aber durch die Lust oder subjektive Zweckmäßigkeit kenntlich, die demzufolge ebenso Allgemeinheit beanspruchen kann. 136 Die Argumentation geht dabei von der Voraussetzung aus, daß das Wohlgefallen an der F o r m allein stattfindet, eine Voraussetzung, die durch die „Exposition" begründet ist. Nur unter dieser Voraussetzung kann nämlich bei einer Vorstellung subjektive Zweckmäßigkeit ohne Zweck für die reflektierende Urteilskraft empfunden werden. Denn nur in bezug auf die Form kann die Urteilskraft in der Beurteilung „ohne alle Materie (weder Sinnenempfindung 134

Kant formuliert diese Harmonie der Einbildungskraft in ihrer Freiheit und des Verstandes in seiner Gesetzmäßigkeit, die im Gegensatz zu ihrem Verhältnis in einer begrifflich bestimmten Vorstellung das Wesen des Schönen ausmacht, in folgender Weise: „. .. daß die E i n b i l d u n g s k r a f t f r e i und dodi v o n s e l b s t g e s e t z m ä ß i g s e i , d.i. daß sie eine Autonomie bei sich führe, ist ein Widerspruch. Der Verstand allein gibt das Gesetz. Wenn aber die Einbildungskraft nach einem bestimmten Gesetze zu verfahren genötigt wird, so wird ihr Produkt, der Form nach, durch Begriffe bestimmt, wie es sein soll; aber alsdann ist das Wohlgefallen . . . nicht das am Schönen, sondern am Guten (der Vollkommenheit, allenfalls der bloß der formalen), und das Urteil ist kein Urteil durch Geschmack. Es wird also eine Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz, und eine subjektive Übereinstimmung der Einbildungskraft zum Verstände ohne eine objektive, da die Vorstellung auf einen bestimmten Begriff von einem Gegenstande bezogen wird, mit der freien Gesetzmäßigkeit des Verstandes (welche auch Zweckmäßigkeit ohne Zweck genannt worden) und mit der Eigentümlichkeit des Geschmacksurteils allein zusammen bestehen können" (Kant, a. a. O., S. 69. Hervorhebungen durch Kursivdrude G. B.). Eine A u t o n o m i e kommt im Bereich der ästhetischen Reflexion, in der Form der Heautonomie, nur der reflektierenden Urteilskraft, nicht der Einbildungskraft, zu. »5 Kant, a. a.O., S. 151. 136 Daß dies das zentrale Argument der Deduktion ist, zeigt Kants Anmerkung, die er an den Schluß der Deduktion stellt (a. a. O., S. 151). Vgl. unten S. 44, Anm. 141.

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noch Begriff)" und damit „nur auf die subjektiven Bedingungen des Gebrauchs der Urteilskraft überhaupt (die weder auf die besondere Sinnesart noch einen besonderen Verstandesbegriff eingerichtet ist) gerichtet sein" . 137 Die Autonomie des Schönen, die in dieser Selbstbezüglichkeit der Urteilskraft liegt, die in Kants Worten „sich selbst, subjektiv, Gegenstand sowohl als Gesetz ist" 1 3 S , ist also nur durch die Formbezogenheit des ästhetisch reflektierenden Verhaltens möglich. Denn nur indem die Urteilskraft die Form der Zweckmäßigkeit ohne Zweck an einem Gegenstand (Schönheit) beurteilt, ist sie frei von subjektiven und objektiven Zwecken und beurteilt nur das Vorliegen einer freien Einheit von Einbildungskraft und Verstand in einer Vorstellung, die das Gegenbild der Regel ihrer Reflexion ist. So verweist die „Deduktion" zurück auf den Gang der „Exposition", unter deren Voraussetzung sie Gültigkeit beanspruchen kann. Denn nur durch die Formbezogenheit des ästhetischen Verhaltens ist letztlich gesichert, daß nach dem subjektiven Prinzip der Urteilskraft geurteilt werden kann, also nach demjenigen, was die Allgemeingültigkeit des Urteils für alle Menschen begründet. Um diese Argumentationsstruktur, die über die prinzipielle Möglichkeit eines verbindlichen ästhetischen Urteils entscheidet, zu klären, soll das Verhältnis von „Exposition" undn „Deduktion" im Hinblick auf den Begründungsgang in einem Überblick bestimmt werden. Zusammenfassung: Die Argumentation in „Exposition" und „Deduktion" Vergegenwärtigt man sich den gesamten Gedankengang von Kants Theorie des Schönen bis zur „Deduktion" einschließlich, so fällt auf, daß eine Umkehr der Argumentation in ihm erfolgt. So war in der „Exposition" aus der beanspruchten Allgemeinheit die Formbezogenheit des ästhetischen Urteils abgeleitet worden (§ 10 f. Relation des Geschmacksurteils), während in der „Deduktion" (§ 38) aus der Formbezogenheit und subjektiven Zweckmäßigkeit die Allgemeinheit und Notwendigkeit der reinen ästhetischen Lust als Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils begründet wird. Dies hat seinen Grund darin, daß Kant in der Deduktion nur zeigen will, wie ein Urteil, das auf Form bezogen ist, allgemein und notwendig sein kann, nicht aber, daß das Geschmacksurteil notwendig auf Form bezogen ist. Dies war im Abschnitt über die „Relation" des Geschmacksurteils entwickelt worden, vermittelt über den Gedanken des Allgemeinheitsanspruches (Quantität), der selber aus dem S c h e i n diarakter des Schönen gefolgert worden war. Das Argument, das die Deduktion mitträgt, obwohl es in ihr nicht mehr erscheint, ist also, daß die Indifferenz gegen die Wirklichkeit im Geschmacksurteil ein .interesseloses', allgemeines und 137 Kant, a. a. O., S. 150 f. 138 Kant, a. a. O., S. 148.

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freies Verhalten ermöglicht, das sich so erst auf die schöne Form eines Gegenstandes beziehen kann. Die „Deduktion" erklärt dann, diesen Gegenstandsbezug vorausgesetzt, wie aus solchem Gegenstandsbezug in der ästhetischen Reflexion ein allgemeingültiges Gefühlsurteil entspringen kann. Man kann jetzt den Gedankengang im ganzen folgendermaßen nachzeichnen: Die „ E x p o s i t i o n " entwickelt in einem Ableitungsgang von den vier „Momenten" des Geschmacksurteils aus die Bestimmungen, die den Sinn von .Schönheit' ausmachen, und vereinigt die analysierten „Elemente" des Geschmacksvermögens' 139 in der Idee des Gemeinsinns. Zunächst zeigt Kant: Das Geschmacksurteil erfordert nicht die Wirklichkeit des Gegenstandes; es ist Wohlgefallen am Schein, deshalb ohne alles Interesse. (Erstes Moment.) Da es ohne Interesse ist, kann es weiter mit Grund subjektive Allgemeinheit beanspruchen. (Zweites Moment.) Da es als ästhetisches Urteil begrifflos vollzogen wird und allgemeingültig zu sein beansprucht, ist die subjektive Zweckmäßigkeit der Vorstellung ohne Zweck als Lust sein Bestimmungsgrund. Ihr Korrelat ist Schönheit als Form der Zweckmäßigkeit des Gegenstandes. (Drittes Moment.) Die Allgemeinheit und Notwendigkeit der ästhetischen Reflexion und ihres Urteils setzt aber einen „Gemeinsinn", der als „subjektive Bedingung des Erkennens" 140 angenommen werden kann, als das subjektive Prinzip des Geschmacksurteils voraus. (Viertes Moment.) Die „ D e d u k t i o n " begründet das subjektive Prinzip des Geschmacks, „den Gemeinsinn", in einer weiteren Vertiefung von der Analyse der Reflexion her, deren „Wirkung" der Gemeinsinn ist. In ihr wird für die subjektive Allgemeinheit und Notwendigkeit des Geschmacksurteils (Momente II und IV) eine Erklärung dadurch gegeben, daß die subjektive Zweckmäßigkeit ohne Zweck als Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils (Moment III) auf die subjektive Bedingung der Urteile als einer Bedingung möglicher Erkenntnis, die „subjektive Urteilskraft" und ihr Prinzip a priori, zurückgeführt wird (§ 35—38). Die „Wirkung" aus der nach ihrem Prinzip vollzogenen Reflexion ist dann der „Gemeinsinn". Eine solche ästhetische Reflexion bleibt aber ihrerseits durch die Interesselosigkeit des ästhetischen Verhaltens und den Scheincharakter des Schönen begründet (Moment I). Die Bestimmung des Schönen und der Verbindlichkeitsanspruch eines Urteils über das Schöne beruhen also auf zwei Grundgedanken: Der erste ist, daß für das Geschmacksurteil nicht die Existenz, sondern nur die Vorstellung eines Gegenstandes von Bedeutung ist, daß es Lust am Schein ist. Der zweite fordert, »9 Kant, a. a. O., S. 68. uo Kant, a. a. O., S. 65.

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daß die subjektiven Bedingungen der Urteilskraft, auf deren Prinzip die ästhetische Reflexion beruht, in allen Menschen gleich sind. 141 Über diesen Gedankengang hinaus hat Kant durch die Verankerung des Schönen im Übersinnlichen dem Geschmacksurteil eine tiefere Begründung und der Erfahrung des Schönen eine Deutung in der „Dialektik der ästhetischen Urteilskraft" gegeben. c) Die Deutung der Erfahrung des Schönen („Dialektik der ästhetischen Urteilskraft") Kant hat gezeigt, daß aus der Subjektivität des Geschmacksurteils, aus seiner Gefühlsgebundenheit, mit Notwendigkeit zwei einander widersprechende Theorien des Geschmacks, die eine „Antinomie" 142 bilden, hervorgehen, deren jede zugleich richtig — weil notwendig aus Vernunft — und falsch ist, weil zu einem Widerspruch mit ihrer Gegen these führend. Es ist die Aufgabe der „Dialektik", diesen notwendigen und unvermeidlichen Schein aufzudecken und die scheinhaften Geschmackstheorien zu kritisieren, so daß von einer dritten Position aus die Intention beider in einer neuen Theorie eingelöst werden kann. Wie in der kritischen Philosophie überhaupt ist es der Begriff des Übersinnlichen, aufgrund dessen die Antinomie gelöst werden kann. Dabei erhält das Schöne zugleich eine neue Bestimmung hinsichtlich seiner Bedeutung: Kant zeigt, daß seine Erfahrung schließlich nur von dem Bereich des Intelligiblen her gedeutet werden kann und so in Beziehung zur sittlichen Freiheit, dem Bereich, durch den das Intelligible erschlossen ist, steht. Das Schöne gründet nach Kant auf dem Begriff des Übersinnlichen, aus dem, als einem theoretisch nicht bestimmbaren, „überschwenglichen" Begriff, der aber praktische Realität in der Gesetzgebung der praktischen Vernunft hat, nichts bewiesen werden kann, der aber doch erforderlich ist, um die allgemeine Mitteilbarkeit im Gefühl des Schönen in einer weiteren Stufe der Begründung zu sichern. Dieser Begriff des Übersinnlichen als Grund des Schönen kann von dessen W i r k l i c h k e i t aus gedeutet werden und enthüllt sich in seiner Erfahrung als der „eines Grundes überhaupt von der subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur für die Urteils141

142

Vgl. dazu Kant: „Um berechtigt zu sein, auf allgemeine Beistimmung zu einem bloß auf subjektiven Gründen beruhenden Urteile der ästhetischen Urteilskraft Anspruch zu machen, ist genug, daß man einräume: 1) bei allen Menschen seien die subjektiven Bedingungen dieses Vermögens, was das Verhältnis der darin in Tätigkeit gesetzten Erkenntniskräfte zu einem Erkenntnis überhaupt betrifft, einerlei; welches wahr sein muß, weil sich sonst Menschen ihre Vorstellungen und selbst das Erkenntnis nicht mitteilen könnten; 2) das Urteil habe bloß auf dieses Verhältnis (mithin die f o r m a l e B e d i n g u n g der Urteilskraft) Rücksicht genommen und sei rein, d. i. weder mit Begriffen vom Objekt noch Empfindungen als Bestimmungsgründen vermengt" (Kant, a.a.O., S. 151, Anmerkung). Kant, a. a. O., S. 232.

II. Die Theorie der reinen ästhetischen Urteile

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kraft" 143 , d. h. als der notwendig unbestimmt bleibende Begriff eines unerkennbaren, aber im Schönen wirklichen Bezuges von Welt und vernünftiger Freiheit, der nur aus der — unerkennbaren — Abkunft aus einem gemeinsamen Grund verstehbar ist. Diese Beziehung auf das Übersinnliche im Sinnlichen selbst (durch dessen Transparenz) stellt für Kant die eigentliche Bedeutung der Erfahrung des Schönen dar. Von ihr aus gelingt es nun, Schönheit und Sittlichkeit, deren Zusammenhang zu verstehen für die Theorie literarischer Wertung von entscheidender Wichtigkeit ist, als so verknüpft aufzuweisen, daß die Bedeutung des Schönen für die Sittlichkeit gerade in der Eigenständigkeit des Schönen liegt. Das Schöne wird von diesen Zusammenhängen aus von Kant als „Symbol der Sittlichkeit'' 144 verstanden; seine Notwendigkeit und Allgemeinheit gründet, wie gezeigt werden soll, zuletzt in dieser Beziehung. Kants Gedankengang nimmt folgende Entwicklung: Die Antinomie der ästhetischen Urteilskraft in den Geschmackstheorien nötigt, über das Erfahrbare hinauszugehen; so wird eine Deutung der Erfahrung des Schönen vom Intelligiblen her notwendig; darin sind Schönheit und Sittlichkeit verknüpft, Schönheit ist Symbol des Sittlichen. α) Die Antinomie der Geschmackstheorien (Empirismus und Rationalismus) Anders als in der „Kritik der reinen Vernunft" betrifft die „Dialektik" nicht die Urteile des Vermögens selbst, hier des Geschmacks, sondern die „ K r i t i k des Geschmacks . . . in Ansehung ihrer P r i n z i p i e n " , 1 4 5 weil nicht in dem Geschmacksurteil selbst, sondern in seiner Begründung „widerstreitende Begriffe natürlicher- und unvermeidlicherweise auftreten" ,146 Kant entnimmt die Antinomik einer Analyse von ,Gemeinorten' 147 des Geschmacks, die von der entwickelten Theorie der subjektiven Allgemeinheit aus interpretiert werden; in ihnen kann man auch Lehrmeinungen damaliger Ästhetik sehen, denen Kant also Vernunftnotwendigkeit zubilligt. Die Tatsache, daß man über den Geschmack „ s t r e i t e n " 148 kann, d . h . daß bei aller Subjektivität ein Bewußtsein möglicher Übereinkunft besteht, ohne „ d i s p u t i e r e n " 149 , d . h . durch Begriffe eine solche Übereinkunft herbeiführen zu können, muß, soll sie verstanden werden, zu den antinomischen Urteilen, daß das Geschmacksurteil auf Begriffen und n i c h t auf Begriffen beruht, führen. Aus der Subjektivität folgt, wie schon öfter behandelt, die These der Nichtbegrifflichkeit; die Allgemeinheit dagegen kann nur aus einem Begriff verständlich i« '44 1« 1« it7 1« 1«

Kant, Kant, Kant, Ebd. Ebd. Kant, Ebd.

a. a. O., S. 236. a. a. O., S.254 ff. a. a. O., S. 232. a. a. O., S. 233.

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Β.

Kants Theorie ästhetischer Reflexion

gemacht werden. Das Faktum des Streits des Geschmacks wird nicht verstanden, wenn, wie es in den Theorien des Empirismus und Rationalismus geschieht, die eine Seite unterschlagen wird: der Empirismus begreift das Schöne allein vom Subjektiven, d. h. dann von der unreflektierten Empfindung, dem Irrationalen, aus; 1 5 0 der Rationalismus der Ästhetik wird der Subjektivität und Autonomie des Geschmacks nicht gerecht, wenn Schönheit nur als „verworren" gedachte Vollkommenheit aufgefaßt wird. 151 Kant hält an beiden Bestimmungen fest, macht sie aber dadurch miteinander übereinstimmend, daß er, wie in der „Dialektik" der Vernunftkritik, den Begriff des Übersinnlichen einführt und nun zeigt, daß beide Thesen aufrechterhalten werden können, wenn man sieht, daß die Antinomie auf einem unreflektiert differenten Gebrauch des Terminus Begriff beruht. Reflektiert man diesen Gebrauch von der Kantischen Philosophie her, so kann man die antinomischen Thesen vereinbaren und die Antinomie somit lösen. Denn der Begriff des Übersinnlichen ist von einem Verstandesbegriff dadurch unterschieden, daß er für die Erkenntnis u n b e s t i m m b a r ist und daß aus ihm deshalb nichts a b g e l e i t e t werden kann. Die Antinomie ist gelöst, wenn man sieht, daß das Geschmacksurteil zwar auf keinem bestimmten Begriff gründet, denn sonst ließe es sich durch Beweise entscheiden, aber daß es doch auf einem unbestimmten Begriff beruht, nämlich dem unbestimmten, „von dem Übersinnlichen, das dem Gegenstande (und auch dem urteilenden Subjekte) als Sinnenobjekte, mithin als Erscheinung, zum Grunde liegt" 152, denn sonst eignete ihm keine Verbindlichkeit.153 Kants Kritik der empiristischen Theorie ist auf Β u r k e bezogen (Kant, a. a. O., 128 f.). Vgl. dazu Ρ. Μ e η ζ e r , der zu Burkes Buch: Philosophical Enquiry into the origin of our ideas of the Sublime und Beautiful, 1756, ausführt: „Bedeutsam ist, daß Burke den reinen Gefühlscharakter im Erlebnis des Schönen betont und deshalb eine Theorie, die die Proportionen und die Zusammenstimmung der Teile eines Gegenstandes als Ursache (als Grund des Schönen, G. B.) annimmt, ablehnt, da damit eine Verstandeseinsicht eingeführt wird" (Menzer, a. a. O., S. 42). K a n t s Argument gegen Burke ist, daß sich die Allgemeinheit und Verbindlichkeit des Geschmacksurteils aus dieser Theorie nicht verständlich machen läßt. „Wenn also das Geschmacksurteil nicht für e g o i s t i s c h , sondern seiner inneren Natur nach .. . notwendig als p l u r a l i s t i s c h gelten muß . . . so muß ihm irgendein (es sei objektives oder subjektives) Prinzip a priori zum Grunde liegen, zu welchem man durch Aufspähung empirischer Gesetze der Gemütsveränderungen niemals gelangen kann ..." (Kant, a. a. O., S. 130). Damit ist jede Theorie getroffen, die .Gefühl* und ,Rationalität' als einander ausschließend entgegensetzt und das Schöne so nur als irrationales' versteht. 151 Die Kritik an dieser Theorie ist in der „Kritik der Urteilskraft", ohne daß sie Namen nennt, nach P. Menzer insbesondere auf die diesen Wölfischen Gedanken aufnehmende Ästhetik Baumgartens bezogen. Vgl. oben S. 26, Anm. 71. 15 2 Kant, a. a. O., S. 236. 1 5 3 H.-E. Hass, Das Problem literarischer Wertung. In: Studium Generale 12, 1959, S. 727 ff., verfehlt das Problem grundsätzlich, wenn er die „Dialektik der ästhe150

II. Die Theorie der reinen ästhetischen Urteile

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Durch die Realität des Schönen, die er verstehbar machen soll, wird der Begriff des Übersinnlichen als der Begriff „eines Grundes überhaupt von der subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur für die Urteilskraft" 154 enthüllt. Aus ihm, als einem .unbestimmten Verstandesbegriff' 155 , läßt sich kein Beweis des Geschmacksurteils führen; er ist aber notwendig, weil er dessen allgemeine Verbindlichkeit sichert, indem er das Geschmacksurteil hinsichtlich seines Bestimmungsgrundes mit demjenigen verbindet, „was als das übersinnliche Substrat der Menschheit angesehen werden kann". 156 Diese Beziehung des Schönen auf den Grenzbegriff des Übersinnlichen ist erst letzter Grund der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit des Geschmacksurteils, da dessen Gesetz der Reflexion, die freie Einheit von Einbildungskraft und Verstand, nur vom Übersinnlichen i n u n s her, das eine solche Einheit, die für die theoretische Erkenntnis unzugänglich bleibt, im Praktischen fordert, verstanden werden kann. „Das subjektive Prinzip, nämlich die unbestimmte Idee des Übersinnlichen in uns, kann nur als der einzige Schlüssel der Enträtselung dieses uns selbst seinen Quellen nach verborgenen Vermögens angezeigt, aber durch nichts weiter begreiflich gemacht werden." 157 ß) Die Erfahrung des Schönen: Das Übersinnliche als Grund der Einheit Freiheit und Natur

von

Mit dieser tieferen Begründung der Allgemeinheit und Notwendigkeit ist aber auch eine neue Bestimmung der Bedeutung der Erfahrung des Schönen gegeben, insofern in ihm das Sinnliche als E r s c h e i n u n g auf seinen i η t e 11 i g i b l e n G r u n d hin durchsichtig wird und dadurch die Möglichkeit der Freiheit innerhalb seiner für ein sinnlich-vernünftiges Wesen sichtbar macht. Das Schöne ist aus dem durch die Kategorie Kausalität bezeichneten Naturzusammenhang herausgenommen und erscheint in dem Begriff der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck" in seiner schönen Gestalt nach Gesetzen organisiert, die, als tischen Urteilskraft" als „aus der Verschiedenheit der Vorzugsrichtungen des subjektiven Geschmacks stammende Divergenz der Geschmacksurteile" begreift (a. a. O., S. 728). Nach Kant eignet die Dialektik gerade nicht dem Geschmack als Vermögen, sondern der „Kritik" des Geschmacks, also seiner T h e o r i e . Ihre Antinomie hat Vernunftnotwendigkeit und ist nur durch die Theorie des Übersinnlichen als einem unbestimmten Begriff* aufzulösen. Die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der e m p i r i s c h e n G e s c h m a c k s u r t e i l e entsteht, wie gezeigt, daraus, daß nicht immer von der subjektiven Bewußtseinsstufe aus, die in der ästhetischen Reflexion gefordert ist, geurteilt wird; die A n t i n o m i e aber entspringt in dem Versuch der B e g r ü n d u n g d e s n o r m a t i v e n ä s t h e t i s c h e n U r t e i l s mit seiner s u b j e k t i v e n Allgemeinheit selbst. ist Kant, a. a. O., S. 236. 155 Kant, a. a. O., S. 75. 156 Kant, a. a.O., S. 236 f. 157 Kant, a. a. O., S. 238.

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Β. Kants Theorie ästhetischer Reflexion

Gegenbild der reflektierenden Urteilskraft, andere Deutungsschemata der Natur eröffnen und auf eine im Übersinnlichen begründete, geheime Identität von Natur und Freiheit hindeuten. 158 Die reflektierende Urteilskraft folgt in der ästhetischen Reflexion nur ihrem eigenen Gesetz, hinsichtlich dessen sie eine gegebene empirische Vorstellung als „zweckmäßig" für sich selber, d. h. als in ihrer Einzelheit den Bedingungen der Allgemeinheit angemessen, als dem Verstände gemäß, beurteilt. „In diesem Vermögen (dem Geschmack, G. B.) sieht sich die Urteilskraft nicht, wie sonst in empirischer Beurteilung, einer Heteronomie der Erfahrungsgesetze unterworfen: sie gibt in Ansehung der Gegenstände eines so reinen Wohlgefallens ihr selbst das Gesetz, so wie die Vernunft es in Ansehung des Begehrungsvermögens tut; und sieht sich, sowohl wegen dieser inneren Möglichkeit im Subjekte, als wegen der äußeren Möglichkeit einer damit übereinstimmenden Natur auf etwas im Subjekte selbst und außer ihm, was nicht Natur, auch nicht Freiheit, doch aber mit dem Grund der letzteren, nämlich dem Übersinnlichen, verknüpft ist, bezogen, in welchem das theoretische Vermögen mit dem praktischen auf gemeinschaftliche und unbekannte Art zur Einheit verbunden wird." 159 In dieser Deutung des Schönen vom Intelligiblen her zeigt es sich in einer Beziehung zum Sittlichen, die Kant als eine symbolische Beziehung faßt. Denn im Schönen wird eine mögliche Einheit von Mensch und Natur unter der Bedingung der Autonomie des Menschen erfahren, d. h.: daß Autonomie als vernünftige Selbstbestimmung des Subjekts innerhalb des Naturzusammenhangs möglich ist. Im Gedanken vom „Idealismus der Zweckmäßigkeit der Natur sowohl als Kunst" 160 hat Kant gezeigt, daß es allein die Deutung des Schönen vom subjektiven Prinzip der reflektierenden Urteilskraft her ist, die gegenüber einer realistischen Deutung der Zweckmäßigkeit, bei der der Mensch rezeptiv sein müßte, die Autonomie des ästhetischen Verhaltens verstehen kann. Denn nur so kann die Apriorität des Geschmacksurteils und die Spontaneität der ästhetischen Lust gedacht werden. 161 Nur auf Grund dieser Deutung ist es 158

Schillers Definition der Schönheit als „Freiheit in der Erscheinung" (Schillers Briefwechsel mit Körner, III. Teil, 1773—76, Leipzig 1859, S. 22 f.) ist von hier aus konzipiert; ebenso Hegels Begriff des Schönen als „sinnliches Scheinen der Idee". Ästh. I, S. 117. >6» Kant, a. a. O., S. 258 f. im Kant, a. a. O., § 58. 161 In Kants Theorie ist die Erfahrung des Schönen so Steigerung, gesteigerte Tätigkeit in der Erfahrung des Menschen von der Harmonie seines Wesens. Außer der Entfaltung dieser aufgegebenen Harmonie unter dem Gesetz der Vernunft ist dem Menschen in Kants Philosophie kein Ziel gesetzt. Damit sind Theorien kritisiert, die das Wesen des Schönen in einer ,Versenkung' sehen. Ihre realistische Deutung der Zweckmäßigkeit hat entweder theologische oder metaphysisch-materialistische Implikate. Beidesmal ist aber die Erfahrung des Schönen als Spontaneität verfehlt.

II. Die Theorie der reinen ästhetischen Urteile

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auch möglich, dasjenige, was in der Erfahrung des Schönen die Beziehung zum Sittlichen ausmacht, zu würdigen: daß an einem Gegenstand eine mögliche Harmonie des Wesens des Menschen in einer Vereinigung von Spontaneität und Rezeptivität, intellektuellem Vermögen und Sinnlichkeit erfahrbar ist. 162 Wenn es als Ziel der Bestimmung des Menschen angesehen werden kann, eine Organisation der Sinnlichkeit nach dem ,Endzweck' unter den Bedingungen der empirischen Naturgesetze zustandezubringen, was Kant in seiner Geschichtsphilosophie konkret als Herbeiführung des „ewigen Friedens" bestimmt hat, 163 so ist dies im Schönen durch das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft formal als möglich erfahren, da Erscheinung und gesetzgebende Freiheit im Schönen nicht fremd gegeneinander sind. An einer besonderen Erscheinung ist also in beispielhafter Weise in der grundsätzlichen Möglichkeit der f r e i e n Übereinstimmung der V e r m ö g e n dasjenige erfahren, was die reflektierende Urteilskraft in ihrem apriorischen Prinzip der „Zweckmäßigkeit der Natur (in der Mannigfaltigkeit ihrer empirischen Gesetze)" 1 6 4 als Bedingung auch für eine „durchgängig zusammenhängende Erfahrung" 165 und somit für vernünftiges Handeln transzendental voraussetzt. 166 γ) Schönheit als Symbol der Sittlichkeit Daß die Beziehung von Schönheit und Sittlichkeit eine s y m b o l i s c h e Beziehung ist, kann als ein charakteristischer Gedanke der Kantischen Theorie gesehen werden. Durch ihn wird die kontemplative 167 Eigenständigkeit des Schönen gewahrt und zugleich der Bezug zum Sittlich-Guten hergestellt. 168 Schillers Deduktion des Spielbegrifis als dem Ideal der Vollkommenheit des sinnlichen Vernunftwesens aus einer an Begriffen Reinholds und Fichtes orientierten Triebtheorie bedeutet eine Weiterentwicklung dieses Gedankens. Vgl. NA 20, S. 358 f. t« Kant, Zum ewigen Frieden, in: Werke, ed. Weischedel, Bd. VI, S. 195 ff. im Kant, Kritik der Urteilskraft, S. XXX. 1« Kant, a. a. O., S. XXXIV. 166 Vgl. oben Teil Β, I, S. 8 ff. 167 Die ästhetische „Kontemplation" ist als „Belebung", Steigerung, selbst Tätigkeit, aber als Tätigkeit der E r k e n n t n i s v e r m ö g e n spezifisch von P r a x i s unterschieden. 168 Vgl. dazu p a u l Menzer, a. a. O., S. 186 f.: „Der Satz von der Schönheit als einem Symbol der Sittlichkeit kann als die klassische Formel bezeichnet werden, durch die der Charakter der Kantischen Ästhetik ausgesprochen wird. Daß die Schönheit nur Symbol der Sittlichkeit genannt wird, sichert ihre Autonomie. Die Lust an der Form der Gegenstände verfällt nicht der sittlichen Beurteilung. Die Lust ist aber andererseits nicht ein passives Aufnehmen, vielmehr das Gefühl von der Spontaneität der Erkenntniskräfte. Hier ist der Punkt, wo das ästhetische Gefühl sich mit dem moralischen berührt, da beide ihren Grund im Bewußtsein der Freiheit haben." 162

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Β. Kants Theorie ästhetischer Reflexion

Wie gezeigt wurde, ist es die Beziehung beider auf den Begriff des Übersinnlichen als Grund ihrer Möglichkeit, die die Einheit stiftet; die Verschiedenheit eines durch die Spontaneität der Erkenntniskräfte in ihrer freien Einheit veranlaßten Gefühls der Lust und einer auf einen zu realisierenden Zweck bezogenen Lust im moralischen Gefühl macht, daß es sich nur um eine symbolische Beziehung handelt. Eine symbolische Beziehung ist für Kant eine Beziehung, die bei inhaltlicher Verschiedenheit der Gegenstände eine gemeinsame Regel der Reflexion enthält. So kann der Mechanismus des despotischen Staates symbolisch in einer Maschine vorgestellt werden. 169 Die dem Schönen eigene symbolische Beziehung auf das Sittlich-Gute besteht in der Analogie, die in der S e l b s t b e s t i m m u n g in der Lust am Schönen und der S e l b s t b e s t i m m u n g in einer vernünftigen Handlung gelegen ist. In beiden ist eine Unabhängigkeit von der Rezeptivität der Sinnlichkeit, allerdings in verschiedener Weise, erreicht. In beiden erscheint das Sinnliche durch eine freie Spontaneität — durch Verstand im Schönen, praktische Vernunft im Sittlichen — geordnet, und in beiden bezieht sich das Wohlgefallen auf die Form — im Schönen auf die Form des Gegenstandes, im Sittlichen auf die von der Vernunft gebotene Form der Allgemeinheit der Handlung. Auf dieses Moment, die Unabhängigkeit von der Sinnlichkeit durch die Idee einer möglichen Selbstbestimmung, lassen sich auch die verschiedenen Aspekte der Analogie, die das Schöne mit dem Guten verbindet, wie sie Kant im einzelnen aufgeführt hat, beziehen.170 In den gemeinsamen Zügen beider ist die Möglichkeit einer Bestimmung des Gefühls durch nichtsinnliche Energien bezeichnet, die die Selbstgesetzlichkeit des Gemütszustandes beim Schönen und bei der Realisierung des Sittlich-Guten verständlich macht. Denn audi in Kants Theorie des Sittlichen spielt das Gefühl als

ι « Kant, a. a. O., S. 256 f. 170 Kant, a. a. O., S. 259 f. Kant hat vier „Stücke dieser Analogie" angegeben, die, da Kant den Sinn von Schönheit in Beziehung auf das Gute und das Angenehme entwickelt hat, zum Teil schon dargestellt wurden. 1) Schönes und Gutes gefallen „unmittelbar", d.h. ,für sich selbst', nicht in Beziehung auf anderes; das Schöne in der „reflektierenden Anschauung", Sittlichkeit dagegen „im Begriffe". 2) Schönheit und Sittlichkeit gefallen ,ohne Interesse' als Grund des Wohlgefallens, sind also im Rahmen empirischer Motivation .grundlos'; im Guten wird aber durch das Wohlgefallen an ihm ein Interesse an der Existenz des Gesollten „bewirkt". 3) Im Schönen stimmt die Freiheit der Einbildungskraft mit der Gesetzmäßigkeit des Verstandes zusammen wie der freie Wille „mit sich selbst nach allgemeinen Vernunftgesetzen" im Guten zusammenstimmt. 4) Schönes und Gutes beruhen auf allgemeingültigen Prinzipien, wobei das „objektive Prinzip der Moralität" anders als das „subjektive Prinzip der Beurteilung des Schönen" durch „einen allgemeinen Begriff kenntlich" ist.

I I . Die Theorie der reinen ästhetischen Urteile „moralisches Gefühl" der „Achtung fürs moralische Gesetz

51 171

eine entschei-

dende und strukturell vergleichbare Rolle. Dort ist nämlich das Gefühl als einzige „Triebfeder"

172

des guten Willens für das Verständnis einer Hand-

lungsmotivation, die allen Kräften der Natur überlegen ist, unentbehrlich, da nur durch seine Vermittlung reine Vernunft praktisch sein kann. In dem Begriff der Achtung für das Gesetz, der das Wohlgefallen am Guten bezeichnet, sind rationale und emotionale (also auch empirische) Momente faktisch zusammengedacht, deren Einheit gleichwohl nicht begriffen werden kann. 1 7 3 Auch in der Ethik ist es Kants Leistung gegenüber dem englischen Empirismus ganz wie in der Ästhetik gezeigt zu haben, daß das Gefühl als logische (nicht zeitliche) Folge eines Rationalen gesehen werden muß, als dasjenige, durch das das Rationale sich kenntlich macht. Als Triebfeder ist jenes reine Wohlgefallen am Guten die subjektive Vermittlung, durch die der Wille durch Vernunft bestimmt wird. „Um das zu wollen, wozu die Vernunft allein dem sinnlich affizierten vernünftigen Wesen das Sollen vorschreibt, dazu gehört freilich ein Vermögen der Vernunft, ein G e f ü h l d e r L u s t oder des Wohlgefallens an der Erfüllung der Pflicht e i n z u f l ö ß e n , mithin eine Kausalität derselben, die Sinnlichkeit ihren Prinzipien gemäß zu bestimmen." 1 7 4 Auf dieser — unbegreiflichen — Eigenschaft des Gemüts einer Empfänglichkeit für eine Lust aus der Übereinstimmung unserer Handlungen mit dem moralischen Gesetz gründet sich die Möglichkeit reiner Vernunft praktisch zu sein, d. h. die Möglichkeit der Sittlichkeit. Weil das Sittliche eine solche Lust an der vernünftigen Form einer Handlung als Triebfeder voraussetzt, hat das Schöne eine Beziehung auf Sittlichkeit. Denn das Schöne zeigt eine Empfäng1 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Kant, Werke, Bd. IV, ed. Weisdiedel, Wiesbaden 1958, S. 195, (A 133). 1 7 2 Ebd., S. 191, (A 127). 173 Dies ist der Sinn der Kantischen Lehre von dem kategorischen Imperativ als einem „Faktum der Vernunft" (a. a. O., S. 141, A 56). Vgl. dazu: Dieter Henrich: Das Problem der Grundlegung der Ethik bei Kant und im spekulativen Idealismus, in: Sein und Ethos. Untersuchungen zur Grundlegung der Ethik, Mainz 1963, S. 350 fi. Der Begriff der „Achtung", führt Henrich aus, schließt Kants Moralphilosophie zusammen. „Die Lehre von der Unerkennbarkeit der Freiheit führt zu der Theorie von dem kategorischen Imperativ als einem F a k t u m der Vernunft. Wer seine Faktizität begreifen will und zugleich an der Unbedingtheit und Rationalität dieses V e r n u n f t f a k t u m s festhalten will, gelangt zu der Lehre von der Achtung fürs Gesetz. Denn sie zeigt, auf welche Weise dieses Faktum vom freien Wesen gewußt und zur Grundlage seiner Willensbestimmung gemacht werden kann" (a.a.O., S.371). Diese Theorie macht Kants Ansatz, wie gezeigt werden soll, gerade für das Verständnis der modernen Kunst fruchtbar. 1 7 4 Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, in: Kant, Werke, ed. Weisdiedel, Wiesbaden, Bd. IV, S. 98, BA 123. 17

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Β. Kants Theorie ästhetischer Reflexion

lichkeit des Gemüts für eine reine, nicht empirisch bedingte Lust in der Reflexion über die Form der Dinge. Deshalb kann es nach Kant auch den Übergang zum Sittlichen ermöglichen: „Der Geschmack macht gleichsam den Übergang vom Sinnenreiz zum habituellen moralischen Interesse ohne einen zu gewaltsamen Sprung möglich, indem er die Einbildungskraft audi in ihrer Freiheit als zweckmäßig für den Verstand bestimmbar vorstellt und sogar an Gegenständen der Sinne auch ohne Sinnenreiz ein freies Wohlgefallen finden lehrt." 175 So ist es audi die Idee der Autonomie als Pflicht, die letztlich die Lust der Reflexion im Schönen als W e r t erleben lehrt und auf der die Allgemeinheit und Notwendigkeit des Geschmacksurteils beruht: „Nun sage ich: das Schöne ist Symbol des Sittlichguten; und auch nur in dieser Rücksicht (einer Beziehung, die jedermann natürlich ist, und die audi jedermann anderen als Pflicht zumutet) gefällt es mit einem Anspruch auf jedes anderen Beistimmung . . . " 176 Dies führt zu der letzten Bestimmung, die Kant im Anschluß an die Symboltheorie dem Geschmack gegeben hat. Er ist „ . . . im Grund ein Beurteilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen (vermittelst einer gewissen Analogie der Reflexion über beide) . . . , wovon auch, und von der darauf zu gründenden größeren Empfänglichkeit für das Gefühl aus den letzteren (welches das moralische heißt) diejenige Lust sich ableitet, welche der Geschmack als für die Menschheit überhaupt, nicht bloß für eines jeden Privatgefühl gültig erklärt . . 1 7 7 Da Kant gezeigt hat, daß so das Wohlgefallen am Schönen letztlich aufgrund seiner Analogie mit dem Sittlichen allgemeinverbindlich und notwendig ist, ist audi geklärt, in welchem Sinn der G e m e i n s i n n als subjektives Prinzip des Geschmacks eine ,Idee' ist: er setzt jene Emanzipation aus der nur sinnlichen Sphäre des Genusses und des natürlichen Egoismus voraus, die erst das Gewahren des Schönen und sittlich-gutes Handeln möglich macht. Nach der Darstellung des zweiten möglichen Urteils reiner ästhetischer Reflexion, des Urteils über das Erhabene, dessen Verbindlichkeit in noch direkterer Weise auf der Idee der Autonomie beruht, soll die grundsätzliche Konse-

175 Kant, Kritik der Urteilskraft, S.260. 176 Kant, a. a. O., S. 258. In objektiver Wendung spricht Schiller vom Schönen als „Symbol seiner (des Menschen, G. B.) a u s g e f ü h r t e n B e s t i m m u n g " . NA 20, S. 353, Z. 23. Schiller akzentuiert damit die dem Schönen schon in Kants Theorie eigene utopische Bedeutung. Bei Kant zeigte sich im Schönen ja die grundsätzliche M ö g l i c h k e i t der Vereinbarkeit von Natur und Freiheit und damit die M ö g l i c h k e i t des „Endzwecks". Vgl. oben S. 48 f. 177 Kant, a. a. O., S. 263 f.

II. Die Theorie der reinen ästhetischen Urteile

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quenz dieser Kantischen Begründung für die literarische Wertung und die Literaturwissenschaft umrissen werden. 2. Das „Geistesgefühl" des Erhabenen Mit dem Urteil über Schönheit, dem Geschmacksurteil, macht ein zweites Urteil der ästhetisch reflektierenden Urteilskraft, das Urteil über das Erhabene, den Bereich reiner ästhetischer Urteile vollständig, d. h. also der Urteile, die eine e i g e n e ä s t h e t i s c h e und damit audi literarische Wertung begründen und die Möglichkeit einer v e r b i n d l i c h e n Wertung in ihrer subjektiven Allgemeinheit implizieren. Gegenüber dem Beurteilungsvermögen des Schönen, dem ;Geschmack', nennt Kant das Beurteilungsvermögen des Erhabenen aus noch anzuführenden Gründen ein „Geistesgefühl". 178 Wie beim Schönen handelt es sich auch hier um ein Gefühlsurteil, das durch seinen Grund in einer Reflexion allgemein und notwendig ist. Auch dieses Urteil bezeichnet als Urteil der ästhetisch reflektierenden Urteilskraft eine Zweckmäßigkeit, anders als beim Schönen aber, wo die Zweckmäßigkeit „eine Zweckmäßigkeit der Objekte in Verhältnis auf die reflektierende Urteilskraft, gemäß dem Naturbegriffe am Subjekt" war, eine Zweckmäßigkeit „des S u b j e k t s in Ansehung der Gegenstände ihrer Form, ja selbst ihrer Unform nach, zufolge dem Freiheitsbegriffe". 179 Im Folgenden soll das Gefühl des Erhabenen als Phänomen der ästhetisch reflektierenden Urteilskraft aufgewiesen und aus dem ästhetischen Grundbegriff der Reflexion die mögliche Allgemeinheit und Notwendigkeit dieses ästhetischen Urteils nach Kants Theorie dargelegt werden. Wie aus Kants obiger Charakterisierung schon zu ersehen ist, besteht die entscheidende Differenz zum Schönen darin, daß sich dieses Urteil direkt auf die Norm, die durch das sittliche Bewußtsein gesetzt ist, gründet, so das im Erhabenen nicht nur eine symbolische, sondern eine inhaltliche Beziehung zur Sittlichkeit besteht. Dennoch ist auch es, obwohl es das moralische Gefühl direkt zur Voraussetzung hat, ein ästhetisches, nicht auf einem Begriff gründendes Urteil, das, wie das Urteil über das Schöne, auf einer ästhetischen Reflexion a priori beruht. Beide reinen ästhetischen Urteile zusammen erschöpfen den Bereich reinästhetischer Beurteilung. Dabei hat das Schöne insofern einen gewissen Vorrang, als in der Kunst die „ V o r s t e l l u n g des Erhabenen doch an sich schön sein" „kann und soll"; sie ist nach Kant sonst „rauh, barbarisch und geschmackswidrig".180 „Schönheit" ist also in gewisser Weise die Grundbestim178

Kant, a. a. O., S. XLVIII, vgl. den Abschnitt: Β III, 1: Kants Begriff der schönen Kunst als Einheit von Schönheit und Geist, S. 67 ff. 179 Kant, a. a. O., S. XLVIII (Hervorhebung G. B.). 180 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Werke, ed. Weischedel, Bd. VI, S. 567.

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Kants Theorie ästhetischer Reflexion

mung der Kunst, in deren Rahmen auch das Erhabene vorgestellt wird. So ist in der idealistischen Kunstphilosophie ausgehend von Kant der BegriS der Kunst durch Erhabenheit und Schönheit zusammen erst bestimmt worden. Diese Entwicklung ist, aus Kantischen Ansätzen, 181 innerhalb der Kunstphilosophie bei Schiller eingeleitet. In der Abhandlung „Über das Erhabene" hat Schiller die Kunst als Einheit beider und die „ästhetische Erziehung" als notwendig auf beide bezogen von dem „ganzen Umfang" der menschlichen „Bestimmung" her gedacht: „Das Schöne macht sich bloß verdient um den M e n s c h e n , das Erhabene um den r e i n e n D ä m o n in ihm; und weil es einmal unsere Bestimmung ist, auch bey allen sinnlichen Schranken uns nach dem Gesetzbuch reiner Geister zu richten, so muß das Erhabene zu dem Schönen hinzukommen, um die ä s t h e t i s c h e E r z i e h u n g zu einem vollständigen Ganzen zu machen, und die Empfindungsfähigkeit des menschlichen Herzens nach dem ganzen Umfang unserer Bestimmung, und also auch über die Sinnenwelt hinaus, zu erweitern." 1 8 2 Ist also „Schönheit" die Grundbestimmung der Kunst, die ihre Form betrifft, so gewinnt sie, wie aus Schillers Unterscheidung erhellt, aber auch noch genauer zu zeigen ist, durch das Erhabene erst die ihr eigene Tiefendimension, da dieses über die Erscheinungswelt, die das Schöne nur transparent macht, hinausverweist. Im Zusammenhang der Problemstellung der Arbeit einer möglichen li-

isi Vgl. unten den Abschnitt: Kants Begriff der schönen Kunst als Einheit von Schönheit und Geist, S. 67 ff. A d o r n o s Behauptung, daß Kant das Erhabene nicht als Moment der Kunst behandelt habe (vgl. T. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt 1970, S. 31, S. 293 ff. u. ö.), ist nicht zutreffend. Schon bei der Analyse der ästhetischen Erfahrung des Erhabenen, also noch vor der Entwicklung seiner Kunsttheorie, bezieht Kant Beispiele aus der Kunst, so ζ. B. die Peterskirche (Kant, a. a. O., S. 88) und die Pyramiden (Kant, a. a. O., S. 87) mit ein. 182 Fr. Schiller, NA 21, S. 52, Z. 28 ff. In der Abhandlung „Über die ästhetische Erziehung . . ." faßt S c h i l l e r das Idealschöne als Einheit von „schmelzender" und „energischer Schönheit", eine Unterscheidung, die sachlich den Unterschied von ,schön' und .erhaben' beinhaltet. Die Abhandlung „Über das Erhabene" läßt sich von diesem Gedanken aus als die Darstellung der in den Briefen „Über die ästhetische Erziehung . . . " unausgeführten näheren Bestimmung der „energischen Schönheit" verstehen. Vgl. dazu B. v. Wieses Erläuterungen zu dieser Abhandlung, ebd., S.332. Neben Schiller hat auch Friedrich S c h l e g e l einen solchen umfassenden Kunstbegriff entwickelt. Vgl. dazu Teil I I der Arbeit bes. S. 101 ff.; 120 f. u. ö. Ferner hat G. W. F. Η e g e 1 die klassische griechische Kunst als Einheit von Schönheit und Erhabenheit begriffen: „Das reine Insichsein und die abstrakte Befreiung von jeder Art der Bestimmung würde zur Erhabenheit führen; indem das klassische Ideal aber zum Dasein, das nur das seinige, das Dasein des Geistes selber ist, heraustritt, so zeigt sich auch die Erhabenheit in die Schönheit verschmolzen und in sie gleichsam unmittelbar übergegangen. Dies macht für die Göttergestalten den Ausdruck der Hoheit, der klassisch s c h ö n e n Erhabenheit notwendig" (Ästh. I, S. 466).

II. Die Theorie der reinen ästhetischen Urteile

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terarischen Wertung ist es also von entscheidender Bedeutung, die Theorie des Erhabenen zu klären. a) Das Erhabene als ästhetische Reflexion Wie beim Schönen ist das Urteil, in dem einem Gegenstand das Prädikat .erhaben' zugesprochen wird, ästhetisch, d. h. in einem Gefühl der Lust begründet. Auch dieses Urteil steht also in grundsätzlichem Kontrast zum Erkenntnisurteil, und ,erhaben' ist genausowenig wie ,schön', ein objektives Prädikat, durch das der Gegenstand erkannt würde. Wie das Urteil über Schönheit, aus demselben Grund möglicher Irrealität und seinem Charakter der Existenzunabhängigkeit, ist das Urteil über Erhabenheit frei von Interesse. Seine Unabhängigkeit von der Empfindung gründet ebenfalls in einer Reflexion, die sich, da es als ästhetisches Urteil nicht auf Begriffen basiert sein kann, wieder als eine Beurteilung im Spiel der Vermögen, der Einbildungskraft und des Vermögens der Begriffe, hier aber nicht des Verstandes, sondern der V e r n u n f t , darstellen muß. 183 In dieser Reflexion gründet, wie beim Schönen, wieder Allgemeinheit und Notwendigkeit des Urteils. „Daher sind audi beiderlei Urteile e i n z e l n e und doch sich für allgemeingültig in Ansehung jedes Subjektes ankündigende Urteile, ob sie zwar bloß auf das Gefühl der Lust und auf kein Erkenntnis des Gegenstandes Anspruch machen." 184

Mit dem Schönen hat das ,Geistesgefühl' des Erhabenen also den Charakter gemein, daß es nur im V o l l z u g einer Reflexion an einer sinnlichen Vorstellung erfahren werden kann und hinsichtlich einer möglichen ästhetischen Wertung diesen Vollzug fordert, also eine Implikation des Subjekts in die Erfahrung des zu beurteilenden Gegenstands verlangt, da dieses sich bei einem ästhetisch reflektierenden Urteil nicht auf vorgegebene Begriffe zurückziehen kann. Der wesentliche Unterschied gegenüber dem Schönen ist, daß das Erhabene nicht auf die Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes für die reflektierende Urteilskraft, somit nicht auf die Begrenzung durch schöne Form, sondern auf die „Unbegrenztheit" 185 am Gegenstand, ja auf die Anschauung des „Chaos" 186 bezogen ist. An der Zweck W i d r i g k e i t der Form einer Anschauung für die Urteilskraft wird „eine von der Natur ganz unabhängige Zweckmäßigkeit in uns selbst" 187 erfahren. Es ist also nicht eine bestimmte Form der Natur, wie sie im Schönen aus dem Gesetz der ästhetischen Reflexion, dem subjektiven Prinzip der Urteilskraft, abgeleitet wurde, was das Erhabene 183 Vgl. Kant, a.a.O., S . 7 4 f .

im Ebd.

iss Vgl. dazu Kant, a. a. O., S. 75. Kant, a. a. O., S. 78. 187 Kant, a. a. O., S. 78.

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Β. Kants Theorie ästhetischer Reflexion

ausmacht. Die Zweckmäßigkeit bezieht sich hier in der Konfrontation mit dem Gegenstand auf das Subjekt, so daß nur uneigentlich von einem Erhabenenen der Natur gesprochen werden kann, da nur das Subjekt in dem zweckmäßigen „Gebrauch" 188 der Vorstellung durch ihre Beziehung auf das Vermögen der Freiheit Quell des Gefühls des Erhabenen ist. Kant zeigt, daß diese Überlegung „die Ideen des Erhabenen von der einer Zweckmäßigkeit der N a t u r ganz abtrennt ..., weil dadurch keine besondere Form in dieser vorgestellt, sondern nur ein zweckmäßiger Gebrauch, den die Einbildungskraft von ihrer Vorstellung macht, entwickelt wird." 189 Für den Problemzusammenhang der literarischen Wertung ist entscheidend, daß das Erhabene ein notwendiger Bestandteil eines Werks, das auf Bedeutung Anspruch macht, ist, da sonst in dem betreffenden Werk nicht der .ganze Umfang' 190 menschlicher Bestimmung dargestellt wäre.191 ,Kriterien' der Bewertung in Form eines Begriffes, der dem Vollzug der Reflexion vorangeht, können wie beim Schönen auch hier nicht gegeben werden; aber anders als dort können auch nicht Kriterien bestimmter Art a u s d e r R e f l e x i o n entwickelt werden, wie es beim Schönen als einer bestimmten Form eines Objektes nach Kant doch der Fall war, da das Erhabene nur eine negative Bestimmung des Gegenstandes („Unbegrenztheit") enthält. Kant unterscheidet zwei Formen des Erhabenen durch den jeweiligen Erfahrungsbereich, auf den die Anschauung bezogen wird. Die Beziehung der Vorstellung durch die Einbildungskraft auf das „Erkenntnisvermögen" ergibt das „Mathematisch-Erhabene", die Beziehung auf das „Begehrungsvermögen" das „Dynamisch-Erhabene." 192 Zunächst sollen die gemeinsamen „Züge beider Formen dargestellt werden. Die Bedeutung des Begriffs .erhaben' selbst bestimmt Kant in der „Namenserklärung des Erhabenen" (§ 25) durch die Vorstellung „schlechthin groß", „über alle Vergleichung groß", „absolut" groß und umschreibt diese Form von Größe als „eine Größe, die bloß sich selber gleich ist." 193 „Größe" kann nun in Zusammenhang mit einer Vorstellung der Erscheinungswelt nur relativ vorgestellt werden. Der Anspruch im Gefühl des Erha188

Kant, a. a. O., S. 78. Ebd. 19 ° NA 21, S. 52. 191 Vgl. unten: Kants Begriff der schönen Kunst als Einheit von Schönheit und Geist, S. 67 ff. 192 S c h i l l e r hat in der Abhandlung „Vom Erhabenen" diese beiden Formen das „Theoretisch- und Praktisch-Erhabene" genannt, um die Vollständigkeit der Erfassung der „Sphäre des Erhabenen" durch diese „Eintheilung" auszudrücken (NA 20, S. 172). 193 Kant, a. a. O., § 25, S. 81 ff. Die ersten beiden Formulierungen bei Kant gesperrt. 189

II. Die Theorie der reinen ästhetischen Urteile

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benen ist aber, etwas als „schlechthin groß" zu beurteilen. Kant kann daraus folgern, daß das Erhabene nicht in den Dingen der Natur gelegen sein könne, die alle, als Erscheinungen, der Relativität der Größenschätzung unterworfen sind, sondern daß es „allein in unseren Ideen zu suchen sei" . 194 In der Formulierung „Erhaben ist das, mit welchem in Vergleichung alles andere klein ist" 195 , soll gerade dies gezeigt werden, insofern kein sinnlicher Gegenstand dem der Einbildungskraft eigenen „Bestreben zum Fortschritt ins Unendliche" Einhalt gebieten kann, also immer noch Größeres vorstellbar ist. Die „schlechhinnige Größe" eignet also dem „Gebrauch", den die reflektierende Urteilskraft von dem Gegenstande macht, da in ihrer Reflexion im Scheitern des Vermögens der Sinnlichkeit, der Einbildungskraft, bei der Realisierung einer solchen Größe die Vernunftsbestimmung des Menschen bewußt wird. 196 Dieser Gegensatz des Begriffes des Erhabenen zu Erscheinung, der eine Differenz zum Begriff der Schönheit ausmacht, wird in einer neuen Definition des Erhabenen festgehalten: „Erhaben ist, was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüts beweist, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft." 197 Da das Erhabene auf einem „zweckmäßigen Gebrauch" der Vorstellung beruht, ist der Nachweis der apriorischen Vermögen, die beim Erhabenen konstitutiv sind, die „Exposition", auch ihre „Deduktion". In dieser Implikation der Deduktion in der Exposition kommt zum Ausdruck, daß sich das Urteil im Erhabenen nicht a priori auf die Form eines Objektes bezieht: Im Erhabenen wird man sich einer „Denkungsart oder vielmehr der Grundlage zu derselben in der menschlichen Natur" bewußt. 198 Im M a t h e m a t i s c h - E r h a b e n e η denkt die Vernunft nun, durch das Scheitern der Einbildungskraft veranlaßt, eine solche das Vermögen der Sinnlichkeit übertreffende absolute Größe (α). In anderer Weise wird ein schlechthin großes Vernunftvermögen des Widerstands gegen die Macht der Sinne in Beziehung auf die Vorstellung

194

Kantj a. a. O., S. 84. 5 Kant, a. a. O., S. 84; bei Kant gesperrt. 196 Vgl. Kant, a. a. O., S. 85: „... der Gebrauch, den die Urteilskraft von gewissen Gegenständen zum Behuf des letzteren (des „Gefühls eines übersinnlichen Vermögens in uns", G. B.) natürlicherweise macht, nicht aber der Gegenstand der Sinne ist schlechthin groß, gegen ihn aber jeder andere Gebrauch klein." 197 Kant, a. a. O., S. 85; bei Kant gesperrt. 198 Vgl. Kant, a. a. O., S. 132 f. Zu dem im Gefühl des Erhabenen erweckten Bewußtsein der Vernunftbestimmung „gibt die Auffassung eines sonst formlosen und unzweckmäßigen Gegenstandes bloß die Veranlassung, welcher auf solche Weise subjektiv zweckmäßig g e b r a u c h t , aber nicht als ein solcher f ü r s i c h und seiner Form wegen beurteilt wird. . . . Daher war unsere Exposition der Urteile über das Erhabene der Natur zugleich ihre Deduktion." 19

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Β. Kants Theorie ästhetischer Reflexion

einer Bedrohung der physischen Existenz im erfahren (ß).

Dynamisch-Erhabenen

b) Die Idee der Unendlichkeit der Natur und personale Selbstbehauptung als Inhalt des Erhabenen α) Kant zeigt, daß jede Größenschätzung, auch die des Verstandes mit Hilfe von Zahlen, auf der Annahme eines ,Grundmaßes' der Einbildungskraft beruht, also letztlich .ästhetisch' ist. Mit Hilfe der Zahl des Verstandes kann aber progressiv jede Größe gedacht werden; für sie gibt es „kein Größtes, denn die Macht der Zahlen geht ins Unendliche".199 Für die ästhetische Größenschätzung, also für die Annahme eines Grundmaßes, gibt es aber ein Größtes, insofern die Zusammenfassung des Mannigfaltigen zur Einheit durch die Einbildungskraft nur beschränkt zu leisten ist. Auf diesem Sachverhalt beruht die Möglichkeit, daß durch den Verstand und durch Zahlen denkbare und wißbare Größen einer progressiven Reihe und das Unendliche selbst nicht mehr ,faßbar' sind, d. h. nicht mehr durch die Einbildungskraft in eine Anschauung zusammengefaßt werden können. Diese Größen aber als g a n z g e g e b e n in einer Anschauung der Einbildungskraft vorzustellen, ist nach Kant eine Forderung der Vernunft, da sie Totalität der Erkenntnis fordert. Das Unendliche als ganz gegeben vorzustellen, ist aber insofern die Bedingung des Erhabenen, als es dasjenige ist, das allein „schlechthin groß" ist. In dem Scheitern der Einbildungskraft bei dem Versuch, Totalität in der Anschauung zu realisieren, wird diese Totalität nun im Noumenon g e d a c h t und die Vorstellung schlechthinniger Größe, das Erhabene, erzeugt. Das Unendliche in dem Scheitern der Einbildungskraft beim Versuch, dieses vorzustellen, „als e i n G a n z e s auch nur denken zu können" 20°, weist durch den Begriff des Noumenon auf ein übersinnliches Vermögen im Menschen hin, das „allen Maßstab der Sinnlichkeit übertrifft" und „über alle Vergleichung selbst mit dem Vermögen der mathematischen Schätzung groß" ist.201 Das M a t h e m a t i s c h - E r h a b e n e , das das Vorstellungsvermögen betrifft, kann also ästhetisch veranlaßt im Scheitern der Einbildungskraft erfahren werden, sofern sie durch die Vernunft aufgefordert ist, Totalität in der Anschauung zu realisieren: „Erhaben ist also die Natur in derjenigen ihrer Erscheinungen, deren Anschauung die Idee ihrer Unendlichkeit bei sich führt." 202 199 Kant, a. a.O., S. 86. 200 Kant, a. a. O., S. 92. 201 Kant, a. a. O., S. 93. 202 Kant, a. a. O., S. 93. Kant nennt als Beispiele dieser Erfahrung u. a. den „bestirnten Himmel . . . als ein weites Gewölbe, das alles befaßt" oder „den Ozean

II. Die Theorie der reinen ästhetischen Urteile

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In dem immer erneuten Scheitern mit einem Grundmaß jene Größen zu realisieren, wird die Einbildungskraft zum Grundmaß eines ,absoluten Ganzen' getrieben, das für die Natur als Erscheinung „zusammengefaßte Unendlichkeit" ist 2 0 3 , und damit zu einem Widerspruch, da eine absolute Totalität eines Progressus ohne Ende nicht möglich ist. Durch diesen Widerspruch wird im Gefühl des Scheitern im Gedanken des übersinnlichen Substrates jenes die Sinnlichkeit übersteigende Vermögen der Ideen ausgehend von dieser freigelegt. Am Mathematisch-Erhabenen wird also einerseits eine subjektive U n z w e c k m ä ß i g k e i t , .Unlust', erfahren: Durch die Umkehrung der progressiven Bewegung der Auffassung in der Z u s a m m e n f a s s u n g übt die Einbildungskraft auf den ,inneren Sinn' „Gewalt" 204 aus, und ihr Streben, die gegebene Vorstellung zu f a s s e n , gelangt nicht zum Ziel. Diese negative Erfahrung ist aber z u g l e i c h auch z w e c k m ä ß i g , somit ,Lust' für das Subjekt, sofern es vernünftiges Wesen ist, also „ f ü r d i e g a n z e B e s t i m m u n g des Gemüts" 205 , da in ihr die Vernunft als ein Vermögen intellektueller Zusammenfassung' 206 erweckt wird, und die Vernunft selbst die Unangemessenheit sinnlicher Größenschätzung in Beziehung auf ihre Idee als „Gesetz" enthält. „Es ist nämlich für uns Gesetz (der Vernunft) und gehört zu unserer Bestimmung, alles, was die Natur als Gegenstand der Sinne für uns Großes enthält, in Vergleichung mit Ideen der Vernunft für klein zu schätzen; und was das Gefühl dieser übersinnlichen Bestimmung in uns rege macht, stimmt zu jenem Gesetze zusammen." 207 . . . wenn er in Ruhe betrachtet wird," als ein klarer „Wasserspiegel, der bloß vom Himmel begrenzt ist" (a. a. O., S. 118 f.), ferner das .Weltgebäude' selbst (a. a. O., S. 95 f.). M3 Kant, a. a. O., S. 94. 204 Kant, a. a. O., S. 100. 2 05 Kant, a. a. O., S. 100. 206 Kant, a.a. O., S. 101. 207 Kant, a. a. O., S. 97 f. Das Gefühl des Erhabenen ist also durch ein Nacheinander von U n l u s t und L u s t charakterisiert, wobei die negative Erfahrung den Ausgangspunkt darstellt. Kant hat diese Doppelung im Gefühl des Erhabenen, die ebenso vom Dynamisch-Erhabenen gilt und die es von der Erfahrung des Schönen unterscheidet, als vergleichbar „mit einer Erschütterung" beschrieben, „d. i. mit einem schnellwechselnden Abstoßen und Anziehen ebendesselben Objekts" (Kant, a.a.O., S. 98). Das Gefühl des Erhabenen wird so von Kant als „Rührung" bezeichnet, als „eine Lust . . . welche nur indirecte entspringt, nämlich so, daß sie durch das Gefühl einer augenblicklichen Hemmung der Lebenskräfte und darauf sogleich folgenden desto stärkeren Ergießung derselben erzeugt wird . . . " (Kant, a. a. O., S. 75). Obwohl es ebenfalls einem „Spiel der Gemütskräfte (Einbildungskraft und Vernunft)" (Kant, a. a. O., S. 99) entspringt, ist der Charakter des Gefühls des Erhabenen anders als der des Schönen „als Rührung kein Spiel,

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Β.

Kants Theorie ästhetischer Reflexion

An diesem Punkt kann Kant zeigen, daß das Wohlgefallen am Erhabenen der Vorstellung auf dem „Subjektiven des moralischen Gefühls", der „Achtung" für das moralische Gesetz beruht. Denn in dieser Form des Erhabenen wird ein Scheitern in einem Versuch erfahren, der zugleich als Gesetz durch die Vernunft vorgeschrieben ist. „Das Gefühl der Unangemessenheit unseres Vermögens zur Erreichung einer Idee, d i e f ü r u n s G e s e t z i s t , ist A c h t u n g . " 208

ScTkann der Gehalt des Mathematisch-Erhabenen, der an einer bestimmten Vorstellung erfahren wird, interpretiert werden: „Also ist das Gefühl des Erhabenen in der Natur Achtung für unsere eigene Bestimmung, die wir einem Objekte der Natur durch eine gewisse Subreption (Verwechslung einer Achtung für das Objekt, statt der für die Idee der Menschheit in unserem Subjekte) beweisen, welches uns die Überlegenheit der Vernunftbestimmung unserer Erkenntnisvermögen über das größte Vermögen der Sinnlichkeit gleichsam anschaulich macht." 2 0 9

ß) In noch unmittelbarerer Weise gründet das Gefühl des D y n a m i s c h E r h a b e n e n , sofern es durch die Macht der Natur über den Menschen als Sinnenwesen geweckt wird, auf dem Gefühl der .Achtung' und der Idee der Selbstbestimmung. Die Unzweckmäßigkeit eines Gegenstandes für das Begehrungsvermögen und für den Selbsterhaltungstrieb eines sinnlichen Wesens äußert sich in der F u r c h t vor einer Macht, die eine Selbsterhaltung unmöglich zu machen scheint. Eine solche M a c h t , die das Vermögen zu widerstehen vernichtet, bezeichnet Kant als G e w a l t . Im ästhetischen Urteil über die Natur, sofern sie als „Macht" betrachtet wird, „die über uns keine Gewalt hat" 21 °, zeigt sich nach Kant das Dynamisch-Erhabene. Daraus erhellt, daß das Vermögen der Selbstbehauptung sofern die Natur als Macht und Gegenstand der Furcht für den natürlichen Selbsterhaltungstrieb vorgestellt wird, ein nicht sinnliches sein muß. Anläßliche der Erfahrung der physischen Schwäche gegenüber der Natur wird ein Vermögen des Widerstandes „entdeckt", das gegen alle Macht der Natur sich selbst behauptet und insofern ein Selbsterhaltungsvermögen der Personalität genannt werden kann. Das Dynamisch-Erhabene beruht also in der Bewegung des Gemüts von sinn-

sondern E r n s t in der Beschäftigung der Einbildungskraft" (Kant, a. a. O., S. 75; Hervorhebung G. B.). Da es das sinnliche Vermögen aufhebt, ist es „mit Reizen unvereinbar" (ebd.); in seinem ,Ernst' zeigt sich die in ihm gegebene Beziehung auf das „Gesetz" der Vernunft. 208 Kant, a. a. O., S. 96. 2t» Kant, a. a. O., S. 97. 2io Kant, a. a. O., S. 102.

II. Die Theorie der reinen ästhetischen Urteile

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Hcher Ohnmacht zum M u t der Selbsterhaltung der Menschlichkeit gegen alle Macht der Natur. „. . . so gibt auch die Unwiderstehlichkeit ihrer Macht (der Macht der Natur, G. B.) uns, als Naturwesen betrachtet, zwar unsere physische Ohnmacht zu erkennen, aber entdeckt zugleich ein Vermögen, uns als von ihr unabhängig zu beurteilen, und eine Überlegenheit über die Natur, worauf sich eine Selbsterhaltung von ganz anderer Art gründet, als diejenige ist, die von der Natur außer uns angefochten und in Gefahr gebracht werden kann, wobei die Menschlichkeit in unserer Person unerniedrigt bleibt, obgleich der Mensch jener Gewalt unterliegen müßte." 2Π Diese „Überlegenheit über die Natur" ist in der Überlegenheit über die „Natur in uns selbst" 2 1 2 , also in der Möglichkeit der Distanzierung des Selbst von den Interessen seiner sinnlichen Existenz, begründet. I n der Anschauung der vernichtenden Macht der Natur wird „unsere K r a f t " zur Relativierung der Werte empirischer Existenz insgesamt: „Güter, Gesundheit, L e b e n " , die gegenüber dem Wert personaler Selbstbehauptung als „klein" erscheinen, in uns aufgerufen' und damit das Bewußtsein einer möglichen Selbstbehauptung unserer „Persönlichkeit" gegen diese Macht, „wenn es auf unsere höchsten Grundsätze und deren Behauptung oder Verlassung ankäme", erreicht. 2 ! 3 Sofern in der Natur 211 Kant, a. a. O., S. 104 f. 212 Kant, a. a. O., S. 117; vgl. auch S. 109. 213 Kant, a. a. O., S. 105. Für Kant ist so, wiewohl das Schöne das Gute s y m b o l i s i e r t , gerade das Erhabene die e i g e n t l i c h e D a r s t e l l u n g der Freiheit als eines Nichtsinnlichen. Da das „moralische Gesetz in seiner Macht . . . über alle und jede v o r i h m v o r h e r g e h e n d e n Triebfedern des Gemüts" sich nur „durch A u f o p f e r u n g e n ästhetisch kenntlich macht (welches eine Β e r a u b u η g , obgleich zum Behuf der inneren Freiheit ist . . . " (Kant, a. a. O., S. 120; Hervorhebungen im zweiten Teil des Zitats G. B.) ist das ä s t h e t i s c h n e g a t i v e Erhabene sein bestimmter Ausdruck. Bei der Erörterung der praktischen Bedeutung der ästhetisch notwendig negativen „Darstellung des Unendlichen" durch die „Wegschafiung der Schranken" der Sinnlichkeit hat Kant auf das jüdische Bilderverbot, d. h. die Ablehnung des Bilderkultes in der mosaischen Religion und auf die analoge Ablehnung im Islam hingewiesen. „Vielleicht gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden als das Gebot: Du sollst Dir kein Bildnis machen noch irgendein Gleichnis, weder dessen, was im Himmel, noch auf der Erden noch unter der Erden ist usw. Dieses Gebot allein kann den Enthousiasmus erklären, den das jüdische Volk in seiner gesitteten Periode für seine Religion fühlte, wenn es sich mit anderen Völkern verglich, oder denjenigen Stolz, den der Mohammedanism einflößt. Ebendasselbe gilt auch von der Vorstellung des moralischen Gesetzes und der Anlage zur Moralität in uns" (Kant, a. a. O., S. 124 f.). — Gerade in der Negativität der Darstellung des Normativen hat Kant ein gegenüber jeder Form von Manipulation und Beherrschung schützendes Moment gesehen, ein Gedanke, der auch für das Verständnis moderner Kunstformen bedeutsam ist. So haben nach Kant „Regierungen" die Ausstattung der „Religion" mit für die Sinnlichkeit anziehenden „Bildern und kindischem Appa-

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Β.

Kants Theorie ästhetischer Reflexion

etwas als .erhaben' bezeichnet wird 2 1 4 , ist es diese reflexive Beziehung des Gegenstandes der Einbildungskraft auf das Vermögen der praktischen Vernunft und ihrer Ideen, ein „Gebrauch", der insofern zweckmäßig ist, als durch die Unzweckmäßigkeit für die sinnliche Natur das unbegrenzte Vermögen des Widerstandes entdeckt wird, das Vermögen der Freiheit. 215 Als ästhetisches Urteil bezieht sich das Urteil zum Dynamisch-Erhabenen in dieser Reflexion auf die Größe des Widerstandes. In ihr wird wie beim Mathematisch-Erhabenen das „schlechthin Große" der menschlichen Vernunftbestimmung, hier seiner praktischen Bestimmung, erfahren. Wie beim Schönen ist der Scheincharakter Voraussetzung für die Erfahrbarkeit jener Zweckmäßigkeit im Erhabenen, weil das wirkliche Gefühl der Furcht genauso wie das wirkliche Gefühl des Reizes von einer reinen ästhetischen Beurteilung ausgeschlossen werden muß. Das Reflexionsurteil, das einen Gegenstand als .erhaben' vorstellt und beurteilt, ist, da es auf dem im „Kontrast" noch harmonischen „Spiel" des Vermögens der Sinnlichkeit und der Vernunft 2 1 6 beruht, ein subjektiv-allgemeingültiges Urteil. Da in der Erfahrung des Dynamisch-Erhabenen die Vernunftbestimmung des Menschen zu personaler Selbstbehauptung gegen alle Macht fühlbar wird, beruht das Gefühl des Erhabenen unmittelbar auf dem moralischen Gefühl, der „Achtung fürs moralische Gesetz" 2 1 7 als der subjektiven Bedingung der Moralität. Wie das Geschmacksurteil bleibt es aber dennoch ein ästhetisches Urteil, in dem eine im Widerstreit zweckmäßige Einheit der V e r m ö g e n erfahren wird und das, anders als ein moralisches Urteil, nicht auf einem bestimmten Begriff gegründet ist. Die .Modalität' des Erhabenen, seine Notwendigkeit, steht deshalb unter der Bedingung der Existenz des moralischen Gefühls. Obgleich dieses sich entwickeln muß, ist das Erhabene nach Kant den-

rat", „gern erlaubt" und damit „dem Untertan die Mühe, zugleich aber auch das Vermögen zu benehmen gesucht, seine Seelenkräfte über die Schranken auszudehnen, die man ihm willkürlich setzen, und wodurch man ihn, als bloß passiv, leichter behandeln kann" (Kant, a. a. O., S. 125). 2 1 4 Kant denkt dabei an „Kühne, überhangende, gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken . . . Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurücklassenen Verwüstung, der grenzenlose Ozean in Empörung gesetzt . . . " (a. a. O., S. 104). 2 1 5 Vgl. Kant, a. a. O., S. 105: „Also heißt die Natur hier erhaben, bloß weil sie die Einbildungskraft zu Darstellung derjenigen Fälle erhebt, in welchen das Gemüt die eigene Erhabenheit seiner Bestimmung, selbst über die Natur, sich fühlbar machen kann." 2 " i Vgl. Kant, a. a. O., S. 99. 2 1 7 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Werke, ed. Weischedel, Wiesbaden 1958, S. 195, A 133.

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noch nicht als Konvention zu verstehen, sondern in seiner Entwicklung ist etwas nur e r r e i c h t , was a n s i c h den Begriff des Menschen ausmacht: „Darum aber, weil das Urteil über das Erhabene der Natur Kultur bedarf (mehr als über das Schöne), ist es doch dadurch nicht eben von der Kultur zuerst erzeugt und etwa bloß konventionsmäßig in die Gesellschaft eingeführt; sondern es hat seine Grundlagen in der menschlichen Natur, und zwar in demjenigen, was man mit dem gesunden Verstände zugleich jedermann ansinnen und von ihm fordern kann, nämlich in der Anlage zum Gefühl für (praktische) Ideen, d.i. zu dem moralischen." 218

In dieser direkten Beziehung auf das moralische Gefühl der Achtung vor dem Gesetz, die sich von der symbolischen des Schönen unterscheidet und die Vernunft in zweckmäßigem Widerspruch zu den Vermögen der Sinnlichkeit zeigt, liegt die Differenz zum Schönen, das Freiheit als möglich in der Erscheinungswelt und der Sinnlichkeit darstellt. Friedrich Schiller hat diesen Unterschied, Kant folgend, so formuliert: „Zwar ist schon das Schöne ein Ausdruck der Freyheit; aber nicht derjenigen, welche uns über die Macht der Natur erhebt und von allem körperlichen Einfluß entbindet, sondern derjenigen, welche wir innerhalb der Natur als Menschen genießen." 219

3. Ästhetische Reflexion und Autonomie. Der Begriff der Literaturwissenschaft im Allgemeinen Führt man sich rückblickend die Beziehung der beiden ästhetischen Grundbegriffe des Schönen und Erhabenen auf die Idee der Autonomie vor Augen — das Schöne wurde als ihre symbolische, das Erhabene als ihre direkte Darstellung im Widerstreit der Vernunft gegen die Sinnlichkeit aufgewiesen — wird noch einmal deutlich, in welchem Sinn die ästhetische Beurteilung allgemeinverbindlich ist und warum ihre Urteile zugleich „Werturteile" sind. In der Idee der Autonomie ist ein „reines", allgemeines und notwendiges „Interesse" an dieser selbst gedacht, insofern als der Mensch ein solches an einem vernunftbestimmten Handeln nimmt. Dieses Interesse, das sich in dem Gefühl der Achtung für das moralische Gesetz ausspricht, ist nach Kant unerklärlich 220 , aber dennoch wirklich: „Die subjektive Unmöglichkeit, die Freiheit des Willens zu e r k l ä r e n , ist mit der Unmöglichkeit, ein I n t e r e s s e ausfindig und begreiflich zu machen, welches der Mensch an moralischen Gesetzen nehmen könne, einerlei; und gleichwohl nimmt er wirklich daran ein Interesse; wozu wir die Grundlage in uns das mora218 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 111 f. 219 NA 21, S. 41 f. 220 Vgl. oben Anm. 51 S. 173. Die Unerklärlichkeit findet ihren Ausdruck in der Kantischen Lehre vom kategorischen Imperativ als ,Faktum der Vernunft'.

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Kants Theorie ästhetischer Reflexion

lische Gefühl nennen, welches . . . als die s u b j e k t i v e Wirkung, die das Gesetz auf den Willen ausübt, angesehen werden muß, wozu Vernunft allein die objektiven Gründe hergibt" 221 Aus diesem allgemeinen Interesse, einem Begriff p r a k t i s c h e r

Vernunft,

sind in der Kantischen Philosophie alle Normen begründet. „Die Vernunft, als das Vermögen der Prinzipien, bestimmt das Interesse aller Gemütskräfte, das ihrige aber sich selbst." 2 2 2 So werden aus dem höchsten Interesse der Vernunft, dem an Autonomie, das Schöne und Erhabene aufgrund ihres Zusammenhanges mit dieser als

Werte

geschätzt. Die Kantische Argumentation ist dabei den Einwänden von Historismus und Wissenssoziologie überlegen, da diese beiden Theorien von einem theoretisch-objektivistischen Begriff der Wahrheit als Norm ausgehen, jegliches Interesse als Verfälschung beschreiben und so zu ihrem Relativismus gelangen. 223 Dagegen ist von dem Begriff eines Vernunftinteresses aus, d. h. ausgehend von der Idee menschlicher Autonomie, eine Möglichkeit gegeben, Erkenntnis und Interesse zusammenzudenken und zuletzt jene in diesem zu begründen. Die Erarbeitung des Zusammenhanges von autonomer ästhetischer Reflexion und sittlicher Autonomie hat Kant auch als das Ergebnis seiner Analysen in der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft" gesehen: „Ich habe midi damit begnügt, zu zeigen: daß ohne sittliches Gefühl es für uns nichts Schönes oder Erhabenes geben würde: daß sich ebendarauf der gleichsam gesetzmäßige Anspruch auf Beifall bei allem, was diesen Namen führen soll, gründe, und daß das Subjektive der Moralität in unserem Wesen, welches unter den Namen des sittlichen Gefühls unerforschlich ist, dasjenige sei, worauf, mithin nicht auf objektive Vernunftbegriffe, dergleichen die Beurteilung nach moralischen Gesetzen erfordert, in Beziehung, urteilen zu können, Geschmack sei: der also keineswegs das Zufällige der Empfindung, sondern ein (obzwar nicht diskursives, sondern intuitives) Prinzip a priori zum Grunde hat." 2 2 4 In dieser durch die Idee der Autonomie begründeten Normativität reiner ästhetischer Beurteilung liegen Konsequenzen für die Theorie literarischer Wertung, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke, ed. Weisdiedel, Bd. IV, S. 97 f., BA 122 f. 2 2 2 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, a. a. O., S. 249. 223 Vgl. dazu: J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1968. Dort ist neben der grundsätzlichen Reflexion des Zusammenhanges von Erkenntnis und Interesse in Verbindung mit einer Theorie der Wissenschaften diese Kritik an Dilthey als einem Vertreter des Historismus geübt. Ebenso: H. J . Lieber, Geschichte und Gesellschaft im Denken Diltheys, Festschrift für Otto Stammer, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 17 (1965), S. 703—42. 224 Kant, Brief an Reichhardt, 15.10.1790, in: Kants Briefe, ed. F. Ohmann, Leipzig 1911, S. 201 f. 221

III. Die Theorie der Beurteilung des Kunstwerks

65

die in Verbindung mit der Darstellung des Kantischen Begriffs der Kunst noch aufgezeigt werden sollen. Sie betreffen die subjektive Bewußtseinsstufe des Beurteilenden, da das Schöne und Erhabene, wie dargestellt, nur durch subjektive Leistungen ästhetischer Reflexion erschlossen sind, und die mögliche Begründung einer Interpretations- und Kritikkonzeption aus der vermittelten Identität ästhetischer und sittlicher Normen. Die in der Idee der Freiheit fundierte Werthaftigkeit des Ästhetischen erlaubt, einen Ansatz der Literaturinterpretation und Kritik zu begründen, für den es die Aufgabe der Interpretation ist, im Vollzug der ästhetischen Reflexion, die durch die Bestimmungen ihrer Eigenart am Kunstwerk freilich noch modifiziert wird, gerade die befreiend-sittliche und damit auch die gesellschaftliche Bedeutung des Kunstwerks zu erarbeiten. Mit dem Kantischen Aufweis des Grundes der Normativität des Ästhetischen in der Idee der sittlichen Autonomie ist somit klargelegt, daß sich die Literaturwissenschaft grundsätzlich nicht als nur empirische Wissenschaft verstehen darf, da ihr Gegenstand nur von der Idee menschlicher Freiheit her zu bestimmen ist.225 Daß sie gleichwohl Regeln folgt, die sie zu einer Wissenschaft machen, und welchen Status diese beanspruchen können, soll im folgenden über den hier dargestellten Nachweis möglicher Verbindlichkeit reiner ästhetischer Urteile hinaus noch aufgezeigt werden.

I I I . Die Theorie der Beurteilung des Kunstwerks Zu Schönheit und Erhabenheit tritt in Kants Theorie der Beurteilung der Kunst ein neues spezifisch ästhetisches Prädikat hinzu: „Geist". 226 Mit ,Geist', der als Qualität eines Kunstwerkes subjektiv als „Belebung" der Gemütsvermögen erfahren wird, beschreibt Kant den Sachverhalt, daß über die freie Vereinigung von Einbildungskraft und Verstand in der schönen Gestalt hinaus die sinnlichen Erscheinungen im Kunstwerk in Beziehung auf I d e e n d e r V e r n u n f t stehen. Von diesem Begriff des Geistes aus hatte Kant das Erhabene auch ein „Geistesgefühl" 227 genannt, so daß man auch ,Schönheit' und ,Geist' einander gegenüberstellen kann. 225

Damit ist nicht gesagt, daß empirische Forschungen soziologischer, psychologischer oder sprachwissenschaftlicher Art nicht eine große Bedeutung haben können. Allerdings kann diese innerhalb der Literaturwissenschaft nur eine relative Bedeutung sein. Für die Psychologie und Soziologie als selbständige D i s z i p l i n e n gilt freilich dasselbe. Vgl. J. Habermas, a. a. O. 226 Vgl. Kant, a. a. O., S. 192: „Man sagt von gewissen Produkten, von welchen man erwartet, daß sie sich, zum Teil wenigstens, als schöne Kunst zeigen sollten: sie sind ohne G e i s t ; ob man gleich an ihnen, was den Geschmack betrifft, nichts zu tadeln findet." m Kant, a. a. O., S. XLVIII.

66

Β.

Kants Theorie ästhetischer Reflexion

Daß für „schöne Kunst" Geist das entscheidende Wertkriterium über die Schönheit hinaus ist, ist in der D a r s t e l l u n g s f u n k t i o n der Kunst begründet. Kunst stellt in ihren Werken einen besstimmten Inhalt — also einen „Begriff" 228 — als „schöne Kunst" nicht nach der Regel dieses Begriffs, sondern im freien Spiel der Einbildungskraft dar. Für die Theorie einer ästhetischen Beurteilung von Kunst stellt sich deshalb das Problem, wie es zu denken ist, daß Kunst nicht durch diesen Begriff, sondern durch seine Realisierung in der Einbildungskraft gefällt, obwohl Kunst gerade in ihrem Rang von dem begrifflich zu fassenden Gehalt abhängt, von dem aus, nach Kants Theorie, allein bedeutende und weniger bedeutende Kunst zu unterscheiden sind. Mit dem Begriff des G e i s t e s ist Kant diesem Problem gerecht geworden, insofern in ihm als dem .belebenden Prinzip im Gemüte' 229 ein spezifisch ästhetisch reflektierender Erkenntnisprozeß gedacht ist, in dem die sinnlichen Erscheinungen des Kunstwerks, als eine vom Verstand nicht zu erfassende Totalität, auf Ideen der Vernunft bezogen werden, so daß die grundsätzliche These einer autonomen ästhetischen Beurteilung durch ein subjektiv-allgemeines Gefühl der Belebung und Steigerung auch für die Kunst beibehalten ist. Die Modifikation gegenüber der Lust am reinen Schönen, daß diese Reflexion in Beziehung auf ein D a r g e s t e l l t e s stattfindet, macht diesen unendlichen Erkenntnisprozeß, wie genauer gezeigt werden soll, zur I n t e r p r e t a t i o n . Wie die Beurteilung des Schönen ist auch die Beurteilung der Kunst nicht ein nachträglicher Akt, sondern vollzieht sich in der Reflexion selber als tendenziell unendliche Interpretation. So kann aus diesem subjektiv-allgemeinen Gefühl der Belebung eine Rangordnung literarischer Werke entwickelt werden, insofern sie eine verschiedene Tiefe der Interpretation zulassen bzw. erzwingen, die in den größten Werken, da sie die intelligible Freiheit zum Gegenstand haben, deren Möglichkeit unbegreiflich ist, nicht zu Ende kommen kann. Um diesen spezifisch ästhetischen Erkenntnisprozeß eines Bezugs der sinnlichen Erscheinungen auf Vernunft in der ästhetischen Reflexion als Interpretation zu entwickeln, der zugleich ein subjektiv-allgemeines Kriterium der Bedeutung der Kunst ist, soll zunächst Kants Begriff der schönen Kunst in seiner Bestimmtheit durch Geist dargestellt werden.

8 Kant, a. a. O., S. 190: „Soviel von der schönen Vorstellung eines Gegenstandes, die eigentlich nur die Form der Darstellung eines Begriffs ist, durch welche dieser allgemein mitgeteilt wird." 2 2 9 Kant, a. a. O., S. 192.

22

I I I . Die Theorie der Beurteilung des Kunstwerks

67

1. Kants Begriff der schönen Kunst als Einheit von Schönheit und Geist a) Das Kunstwerk als Darstellung Kant gewinnt den Begriff der ,schönen Kunst' in einem Gefüge von Entgegensetzungen. Zunächst wird „Kunst" im allgemeinsten Sinn von „Natur" unterschieden, ein Gegensatz, den Kant durch die dazu parallelen Entgegensetzungen der Begriffe „Tun (facere)" und „Handeln oder Wirken überhaupt (agere)" sowie „Werk" und „Wirkung" 2 3 0 erläutert. Kunst ist so gegenüber Natur durch ihren Ursprung aus Freiheit, durch ihre Vernünftigkeit charakterisiert: „Von Rechts wegen sollte man nur die Hervorbringung durch Freiheit, d. i. durch eine Willkür, die ihren Handlungen Vernunft zum Grunde legt, Kunst nennen." 231

Durch diese Bestimmung wird es ausgeschlossen, ζ. B. „das Produkt der Bienen" ein Kunstwerk zu nennen. Ihr Wirken, das nicht Tun ist, kann Wirkungen zeitigen, aber sich nicht zum Werk erheben, da die Bedingung einer Zwecktätigkeit, daß ein Begriff der Grund der Wirklichkeit des Objektes 2 3 2 ist, nicht erfüllt ist. Damit ist schon die These einer grundsätzlichen Irrationalität der Kunst, durch die sie in einem ausschließenden Gegensatz zur Vernunft stünde, ausgeschieden. Ziel der Argumentation Kants ist, analog zur Theorie der reinen ästhetischen Urteile im Unterschied zur Erkenntnis ein s u b j e k t i v - a l l g e m e i n e s Prinzip der Vernunft als Regel der ästhetischen Produktion und Reflexion auf zuweisen. Innerhalb des Bereichs von zweckbestimmten und so vernünftigen Tätigkeiten differenziert deshalb Kant zwischen . m e c h a n i s c h e r ' Kunst, die nach einem bestimmten Begriff den durch diesen vorgestellten Gegenstand produziert, und , a e s t h e t i s c h e r Kunst', die das „Gefühl der Lust zur unmittelbaren Absicht" 233 hat. Zur Definition ästhetischer Kunst' ist also eine bestimmte Absicht in der Bestimmung des Produzierten notwendig, aus der sich ihre spezifische Zweckmäßigkeit und ihre Regel bestimmen. Nach diesem Zweck differenziert Kant erneut zwischen , a n g e n e h m e r ' und . s c h ö n e r ' Kunst, wobei für angenehme Kunst charakteristisch ist, daß die „Lust die Vorstellungen als bloße E m p f i n d u n g e n " begleitet, für schöne Kunst, daß die Lust die Vorstellungen als „ E r k e n n t n i s a r t e n " begleitet. 234 Schöne Kunst ist also gekennzeichnet einmal durch eine Produktion aus Freiheit, zum anderen dadurch, daß in ihren Werken die Absicht realisiert ist, daß eine Lust 230 Kant, a . a . O . , S. 173 f.; „Kunst", „Natur" und „Werk" bei Kant gesperrt. 1 Ebd. 23 2 Vgl. § 10 ff., Relation des Geschmacksurteils. 2 3 3 Kant, a. a. O., S. 177 f. 23-t Kant, a. a. O., S. 178. 23

68

Β.

Kants Theorie ästhetischer Reflexion

die produzierten Vorstellungen als Erkenntnisarten begleitet, d.h., daß die Lust aus der gekennzeichneten ästhetischen Reflexion entspringt. Kant entwickelt die Theorie der Kunst und ihrer Beurteilung weiter so, daß er, von der Differenz der Kunstschönheit und der Naturschönheit ausgehend, zunächst den B e g r i f f der Kunst entwickelt, um dann nach den Bedingungen der Möglichkeit ihres wirklichen Vorliegens zu fragen und sie aus ihnen — den spezifischen Fähigkeiten des Genies — verständlich zu machen. Zunächst stellt Kant den verschiedenen Realitätscharakter von Naturschönheit und Kunstschönheit fest, der Konsequenzen audi für die Beurteilung eines Werks hat. „Eine Naturschönheit ist ein s c h ö n e s D i n g ; die Kunstschönheit ist eine s c h ö n e V o r s t e l l u n g von einem Dinge." 23'

Damit ist gesagt, daß das Produziertsein, d. h. der vernünftige Kunstcharakter, in der Beurteilung berücksichtigt werden muß und eine veränderte Reflexion hervorbringt. „Wenn aber der Gegenstand für ein Produkt der Kunst gegeben ist und als solches für schön erklärt werden soll, so muß, weil Kunst immer einen Zweck in der Ursache (und deren Kausalität) voraussetzt, zuerst ein B e g r i f f von dem zum Grund gelegt werden, was das Ding sein soll; und da die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen in einem Dinge zu einer inneren Bestimmung desselben als Zweck die Vollkommenheit des Dinges ist, so wird in der Beurteilung der Kunstsdiönheit zugleich die Vollkommenheit des Dinges in Anschlag gebracht werden müssen; wonach in der Beurteilung einer Naturschönheit (als einer solchen) gar nicht die Frage ist." 2 3 6

Von hier aus ist in Kants Theorie der Kunst der ,Stoff', das Darzustellende, integriert. Kant nennt Schönheit, sofern sie in Zusammenhang mit dem Begriff eines Dinges aufgefaßt wird, „anhängende Schönheit" 237; das Urteil über sie ist kein „freies und reines Geschmacksurteil" ,238 So können die an sich schönen Ornamente einer Tätowierung an einem Menschen häßlich erscheinen, weil sie dem Begriff des Menschen nicht entsprechen.239 Nur ausgehend von diesem Begriff und einer möglichen Vollkommenheit ist von Kant her eine R a n g o r d n u n g des Schönen denkbar. Bedeutende Kunst hat aus diesen Gründen die Autonomie des Menschen zum Gegenstand. Denn nur vom Menschen läßt sich nach Kant, sofern er Selbstzweck ist, ein Ideal der Vollkommenheit mit Bestimmtheit aus reiner praktischen Vernunft angeben.240 Kunst ist also dann 235 Kant, a. a. O., S. 188. Kant, a. a. O., S. 188 (Hervorhebung G. B.). 237 Kant, a. a. O., § 16. 238 Kant, a. a. O., S.51. 239 Kant, a. a. O., S. 50. 240 Schiller hat daraus den Begriff der Kunst abgeleitet. Vgl. oben: Das Geistesgefühl des Erhabenen, S. 53 ff.

III. Die Theorie der Beurteilung des Kunstwerks

69

große Kunst, wenn sie das ,Ideal der Schönheit' 2 4 1 darstellt, d. h., wenn sie ζ. B. in der bildenden Kunst im Sinnlichen der menschlichen Gestalt „die Zwecke der Menschheit, sofern sie nicht sinnlich vorgestellt werden können, zum Prinzip der Beurteilung seiner Gestalt macht, durch welche, als ihre Wirkung in der Erscheinung, sich jene offenbaren." 2 4 2

Diese hier von Kant im Blick auf die bildenden Künste entwickelte Theorie des Ideals des Schönen läßt sich auf literarische Werke übertragen, deren Gesichtspunkt die H a n d l u n g (im Dramatischen, Epischen) oder ein i n n e r e r Z u s t a n d bzw. eine i n n e r e B e w e g u n g (im Lyrischen) ist 2 4 3 , an denen sich Autonomie in veränderter Weise — aber auch in sinnlichen Erscheinungen — manifestiert. Das Urteil über ein Kunstwerk ist insofern nicht ein .reines', sondern, wie Kant sagt, ein ,zum Teil intellektuiertes Geschmacksurteil' 2 4 4 , d. h. auf die Bedingung des Begriffs, dessen Gegenstand schön gefunden wird, eingeschränkt. Insofern ist die Bezeichnung „Ideal der Schönheit" freilich nicht ganz treffend; denn nach Kants Meinung „gewinnt weder die Vollkommenheit durch die Schönheit, noch die Schönheit durch die Vollkommenheit; sondern weil es nicht vermieden werden kann, wenn wir die Vorstellung, wodurch uns ein Gegenstand gegeben wird, mit dem Objekte (in Ansehung dessen, was es sein soll) durch einen Begriff vergleichen, sie zugleich mit der Empfindung im Subjekte zusammenzuhalten, so gewinnt das g e s a m t e V e r m ö g e n der Vorstellungskraft, wenn beide Gemütszustände zusammenstimmen." 2 4 5

In Kants Theorie der Kunst wird also eben der Begriff der Vollkommenheit wieder eingeführt, den er in seiner Theorie des Schönen in der Kritik der rationalistischen Schule der Ästhetik gerade als möglichen Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils ausgeschieden hat, weil von ihm aus eine Autonomie des Ästhetischen nicht denkbar ist. Vom Darzustellenden her ist der Begriff menschlicher Autonomie notwendige Bedingung des Ideals der Schönheit. Dies bedeutet aber nicht, daß Kant für die Kunst eine autonome, spezifische Beurteilung ausgeschlossen hat. Denn a l s e i n B e g r i f f ist menschliche Autonomie nicht Gegenstand der Kunst und ihrer Beurteilung. Auf der neuen Stufe ästhetischer Wirklichkeit und ästhetischer Beurteilung ist der spezifisch ästheti1 Kant, a. a. O., S. 53 ff., § 17. Kant, a. a. O., S. 56. 243 Diese hier nur zur Unterscheidung von der bildenden Kunst vorgenommene Charakterisierung orientiert sich an Hegels Ästhetik, die epische „Begebenheit", dramatische „Handlung" und das lyrische „Sichaussprechen des Subjekts" in seiner .Erfüllung und innerlichen Bewegung' bei der Darstellung der „Gattungsformen" einander gegenüberstellt. Vgl. Ästh. II, S. 400. 2 4 4 Vgl. Kant, a. a. O., S. 55. 2 « Kant, a. a. O., S. 51 f. 24

242

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Β.

Kants Theorie ästhetischer Reflexion

sehe Wertbegriff G e i s t . Im Unterschied zur Schönheit bezieht sich auf ihn ein ,zum Teil intellektuiertes' Wohlgefallen, in das das „gesamte Vermögen der Vorstellungskraft" einbezogen ist. ,·Geist' bezeichnet deshalb auch diejenige p r o d u k t i v e Fähigkeit, die Kunst definiert, dadurch, daß in diesem Begriff das Vermögen der D a r s t e l l u n g e i n e s B e g r i f f e s durch die f r e i e Einbildungskraft gedacht wird. Denn durch die Bestimmung der anhängenden Schönheit allein war Kunst noch nicht hinreichend bestimmt. Dies zeigt Kant an der Tatsache, daß es Produkte menschlicher Kunst gibt, die nicht als schöne Kunst bezeichnet werden können, obwohl sie sowohl ,künstlich', als auch dem Geschmack angemessen sind. Kant zählt hierher Kunsthandwerk („Tischgeräte"), ,zur Wissenschaft gehörige Produkte' und rhetorische Formen der Literatur („Predigt", „moralische Abhandlung"). Sie sind nicht schöne Kunst, obwohl sie die „Form der schönen Kunst" haben, weil sie an einen realen Zweck gebunden bleiben: „Die gefällige Form aber, die man ihnen gibt, ist nur das Vehikel der Mitteilung und eine Manier gleichsam des Vortrages, in Ansehung dessen man noch in gewissem Maße frei bleibt, wenn er doch übrigens an einen bestimmten Zweck gebunden ist." 246 Selbst die Bestimmung der anhängenden Schönheit ist also nicht hinreichend, um den vollen Begriff der schönen Kunst zu gewinnen. Sie grenzt die Kunst nicht ab gegenüber Kunsthandwerk, Rhetorik und einem wissenschaftlichen Essay, denen ein realer Zweck trotz ihrer schönen Form und ihres bedeutenden Inhalts eigen bleibt (Benutzung, Beeinflussung, Erkenntnis), zu dem die Einbildungskraft nur Mittel ist und in dessen Rahmen sie gebunden bleibt. „Geschmack ist . . . bloß ein Beurteilungs- nicht ein produktives Vermögen, und was ihm gemäß ist, ist darum eben nicht ein Werk der schönen Kunst." 247 In der ,schönen Kunst' muß also auch das produktive Vermögen, die Einbildungskraft, völlig frei sein; ihre Darstellungsfunktion muß selber zwecklos, gleichsam rücksichtslos hinsichtlich bestimmter Zwecke sein und spielerisch bleiben, wenn der Begriff schöner Kunst erfüllt sein soll. Der Begriff der Kunst ergibt sich so aus der zwecklos-spielerischen Darstellung eines Begriffs durch die produktive Einbildungskraft. Die produktive Einbildungskraft gewinnt in der Theorie der Kunst gegenüber ihrer Funktion in der Theorie des Schönen eine weitere Bedeutung. Während sie dort — ebenfalls als produktive — das Mannigfaltige einer g e g e b e n e n Erscheinung zur Einheit in der Anschauung, zur schönen Gestalt, zusammenfaßt und darin 246 Dieser Gedanke insgesamt findet sich bei Kant, a. a. O., S. 191. 247 Kant, a. a. O., S. 191. Es ist also verfehlt, Kants Leistung für ein Verständnis der Kunst, wie zuweilen geschieht, nur von seiner Theorie des Geschmacks her zu beurteilen.

III. Die Theorie der Beurteilung des Kunstwerks

71

spielt, muß sie in dem künstlerischen Gestaltungsprozeß sinnliche Anschauungen in ihrem f r e i e n Spiel s c h a f f e n , die geeignet sind, das Darzustellende zu versinnlichen. Diese Erscheinungen werden im Schaffensprozeß selber durch die reflektierende Urteilskraft des Künstlers hinsichtlich der Ubereinstimmung zu dem Begriff, den sie darstellen sollen, u η d zu dem Vermögen der Begriffe beurteilt. Die schöpferische Funktion der Einbildungskraft in ihrem Verhältnis zu dem Begriff, den sie frei darstellt, nennt Kant „ G e i s t " , oder auch „Genie" ,248 die Beurteilung der produzierten Erscheinungen hinsichtlich des V e r m ö g e n s der Begriffe, die das zweite Moment des Gestaltungsprozesses ist, „ G e s c h m a c k " 249 . Beide zusammen machen aber erst in ihrer Vereinigung den Begriff der Kunst vollständig. Kant hat den Begriff des .Genies' entgegen seiner bloßen Verherrlichung als Bedingung der Möglichkeit eines solchen Produktes gedacht. Er soll verständlich machen, wie Schönheit als Zweckmäßigkeit o h n e Z w e c k in der Darstellung eines .Begriffs' durch ein ,Tun' hervorgebracht wird, das als ein vernünftiges gerade durch Freiheit und Z w e c k m ä ß i g k e i t definiert ist. Kants grundsätzliche Bestimmung des Genies ist: „ G e n i e ist die angeborene Gemütsanlage (ingenium), d u r c h w e l c h e die Natur der Kunst die Regel gibt." 250 Seinem Handeln gibt „ N a t u r" die Regel, sofern sie als unverfügbar zweckmäßige Einheit der Erkenntnisvermögen selbst Erkenntnis noch möglich macht; diese zweckmäßige Einheit kann nur im Gefühl, in der reflektierenden Beurteilung erreicht, also nicht zweckhaft angestrebt werden. Andererseits ist es aber ein subjektives Prinzip der „ V e r n u n f t " , das dieses Tun leitet, indem diese eine zweckmäßige Übereinstimmung aller Vermögen unter dem Begriff der Freiheit als letzten, „durch das Intelligible unserer Natur" gegebenen „Zweck" 251 fordert. Diese mögliche Einheit von sittlicher Freiheit und Natur im Begriff des Übersinnlichen, d. h. die Möglichkeit von Autonomie innerhalb eines Naturzusammenhanges, ist aber gerade der Gedanke, der die systematische Bedeutung der „Kritik der Urteilskraft" bezeichnet, die das Übersinnliche als Grund der Einheit von Natur und Freiheit vorstellt. So beruht die künstlerische Produktion und ihr Werk seiner Möglichkeit nach, wie schon das Schöne, auf dem, was hier unter dem Begriff des Übersinnlichen gedacht wird, d. h. auf der Vereinbarkeit von Natur und Freiheit aus der Idee ihrer unerkennbaren Abkunft aus einem Grunde. Wurde zunächst die eine Bedingung der Kunst, Schönheit, als subjektive Zweckmäßigkeit für die reflektierende Urteilskraft entwickelt, wurde dann fer2

« Vgl. ζ. B. Kant, a. a. O., S. 202 f. 2« Ebd. »ο Kant, a a. Ο., S. 181. Z5i Kant, a.a.O., S.242.

72

Β. Kants Theorie ästhetischer Reflexion

ner der Begriff der schönen Kunst als Darstellung in seiner Einheit v o n S c h ö n h e i t u n d G e i s t dargelegt, wodurch auch das Erhabene als wichtiges Moment der Kunst aufgewiesen ist, so soll jetzt der Begriff G e i s t selber, der nach Kant dem Genie zukommt und seine produktiven Fähigkeiten bezeichnet, konkreter als der zweite auf die Kunst bezogene autonom ästhetische, d. h. subjektiv-allgemeine Wertbegriff verständlich gemacht werden. b) ,Geist' als Vermögen künstlerischer Darstellung. Kants Lehre von den „ästhehetisdien Ideen" und der Begriff einer ästhetischen Vernunft Wie .Schönheit' bedeutet ,Geist' eine — in der Kunst produzierte — Qualität eines Werks, die subjektiv durch eine ,Belebung' erfahren wird. „ G e i s t , in ästhetischer Bedeutung, heißt das belebende Prinzip im Gemüte. Dasjenige aber, wodurch dieses Prinzip die Seele belebt, der Stoff, den es dazu anwendet, ist das, was die Gemütskräfte zweckmäßig in Schwung versetzt, d. i. in ein solches Spiel, welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt." 252 In der E r f a h r u n g des Kunstwerks vollzieht sich, sofern es ein bedeutendes Kunstwerk ist, eine Belebung aller „Gemütskräfte" in ihrer zweckmäßigen Beziehung aufeinander, in der die menschlichen „Kräfte" in ihrer ganzen Möglichkeit bewußt werden. 253 In der P r o d u k t i o n des Kunstwerks, in der die oben gegebene Bestimmung der Qualität des Kunstwerks begründet sein muß (wobei allerdings der Begriff dieser Produktion sich erst aus dem Begriff des Kunstwerks ergab), zeigt sich ,Geist' in dem „Vermögen der Darstellung ä s t h e t i s c h e r I d e e n " , 2 5 4 In diesem Begriff hat Kant, wie aufgewiesen werden soll, eine Bestimmung der sinnbildlichen Realität des Kunstwerks gegeben, von der aus die Belebung, die ,lebensgebende' (Grimm) Wirkung des Kunstwerks verständlich gemacht werden kann und gleichzeitig als kritische Reflexion und Interpretation sichtbar wird. Von dieser Theorie des Geistes als Vermögen des Ausdrucks ästhetischer Ideen her kann der zunächst paradox scheinende Begriff einer „ästhetischen Vernunft" konkret gedacht werden. 255 252

Kant, a. a. O., S. 192; vgl. zu dieser Verwendung von ,Geist': J. und W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, 2659, II, 14: „ . . . für unsere gewöhnung im 19. Jahrhundert" ist „nachdrücklich zu bemerken, dasz g e i s t begrifflich eigentlich nicht das denkende in uns ist . . . sondern das lebendige, lebengebende, lenkende, wirkende . .. entsprechend der ersten bed. atem, lebenshauch und zeichen . . . " . Der Zusammenhang von Genie, Geist, Genius ist bei Kant ebenfalls gegeben. 25 3 Umgekehrt kann von dieser Erfahrung auf die Bedeutung eines Werks geschlossen werden. Vgl. unten S. 82 ff. 254 Kant, a. a. O., S. 192. 255 Vgl. dazu W. E m r i c h s Aufsatz „Persönliches für Bremen: Wandel der Literaturwissenschaft aus der Sicht einer Generation", in: Polemik. Streitschriften, Pressefehden und kritische Esssays um Prinzipien, Methoden und Maßstäbe der

I I I . Die Theorie der Beurteilung des Kunstwerks In den .Reflexionen zur Anthropologie'

256

73

hat Kant zu dem Begriff ,Geist'

Bemerkungen gemacht, die geeignet sind, den Begriff, sofern er Belebung impliziert, zu erhellen. Man kann in diesen Aufzeichnungen Kants mehrere Momente des Geistbegriffes unterscheiden. Zunächst wird die absolute Spontaneität und Unbedingtheit der dadurch gedachten ,Belebung' festgehalten, die den Begriff ,Geist' mit dem Intelligiblen und dem Begriff der unbedingten praktischen Freiheit verbindet. „Unter dem eigentümlichen Geiste verstehen wir nicht die Seele selbst, sondern [was] den Geist, der gleichsam unseren Kräften Beystand leistet und durch dessen Eingebung wir etwas thun könen, wozu uns Fleiß und Nachahmung nicht würden verholfen haben. Es ist das principium der Belebung unserer Gemüthskräfte. Diesen eigenthümlidien Geist kennt man selber nicht und hat dessen Bewegung nicht in seiner Gewalt" 2 5 7 und ferner: „Geist ist das innere (belebende) Principium der B e l e b u n g der (Gemüthskräfte) Gedanken. Seele ist, was belebt wird. Folglich belebt Geist alle Talente. Er fängt aus sich selbst eine neue Reihe der Gedanken an. Daher ideen. Geist ist die ursprüngliche Belebung, die nämlich aus uns selbst komt und nicht abgeleitet ist. (Naturel ist die receptivitaet der Gemüthskräften, Talent die spontaneitaet)." 2 5 8

256

257 258

Literaturkritik, S. 17 ff. Emridi sieht T. W. Adorno in der von der „Kritik der Urteilskraft" inaugurierten Tradition: „Adornos Gedanke, daß die ästhetische Vernunft ein Erkenntnismittel ersten Ranges ist, durchaus überlegen der empirischen und wissenschaftlichen Vernunft, ist bis heute in der Literaturwissenschaft kaum realisiert worden, obgleich dieser Gedanke so alt ist wie die klassische deutsche Ästhetik seit Immanuel Kants „Kritik der Urteilskraft" (a.a.O., S.27). W. Emrich hat in Verbindung Kantischer Gedanken mit Friedrich Schlegels Verständnis der Dichtung als einem ,in sich unendlichen Kontinuum der Reflexion' konkret die Bedeutung von Dichtung und die Möglichkeit literarischer Wertung und Rangordnung aufgezeigt. Zu Emrichs Konzeption der literarischen Wertung vgl. unten S. 84 Anm. 305. In Aufsätzen zum Problem der Symbolinterpretation hat Emridi die Idee der „ästhetischen Vernunft" in der Analyse der dichterischen Wahrheit des Symbols als ,Sinnbild' konkretisiert. Vgl. W. Emrich: Das Problem der Symbolinterpretation im Hinblick auf Goethes Wanderjahre und: Symbolinterpretation und Mythenforschung, in: Protest und Verheißung, Studien zur klassischen und modernen Dichtung, 2. Auflage, Frankfurt 1963. Kant, Reflexionen zur Anthropologie, in: Kants handschriftlicher Nachlaß, Bd. II, 1; Kant's ges. Schriften, Akademieausgabe Bd. XV, 1, Berlin 1913. Kant, a. a. O., Refl. 932. Eckige Klammern bedeuten: von Kant wieder gestrichen. Kant, a. a. O., Refl. 934. Die Klammern bedeuten in diesem Zitat Zusätze Kants zum ursprünglichen Text.

Β.

74

Kants Theorie ästhetischer Reflexion

Durch eine Analyse dieser .Belebung' weist Kant weiter die Verbindung zur Allgemeinheit, zu Ideen auf, wie er sie andererseits, ähnlich wie bei der Lust am Schönen, von nicht auf Allgemeinheit bezogener Sinnlichkeit abgrenzt. „Ich forsche zuerst hinter die Benennung . . . Es giebt in uns Anreitzende (von außen wirkende, ideenlose Sinnlichkeit, G. B.) und Treibende (von innen, G. B.), aber auch belebende Ursachen der Gemüthskräfte; dies principium hat seine ganz eigentümliche Natur und Gesetze. Es belebt nichts dem Geiste nach, als ein gewisses allgemeine, was das Gemüth vor allem besonderen auffaßt, und woraus es seine Aussicht oder seine Produkte formirt. Daher besteht das genie in diesem Vermögen, das Allgemeine und das ideal zu schaffen." 259 „Empfindungen bewegen, ideen beleben aus einem principio, weil sie einen allgemeinen Grund der thatigkeit bey sich führen." 260 Neben der Verbindung mit Ideen, die Kant hier aufdeckt, für welchen Zusammenhang auch steht, daß Kant das Erhabene ein .Geistesgefühl' genannt hat, ist interessant, daß Kant hier die „eigenthümliche Natur und Gesetze" des Geistes betont. Sie dienen ihm in den .Reflexionen' zu dem Ansatz seiner Theorie der Kunst, insofern sie sich von Nachahmung durch den Begriff der Darstellung absetzt. Kunstwerke müssen diesen ,Gesetzen' des Geistes, der nicht außerhalb vorfindlich ist und nachgeahmt werden kann, gemäß sein. Dabei ist gerade die Verbindung von Sinnlichkeit und Ideen nach diesen Gesetzen dasjenige, was den Begriff der Kunst und ihre ästhetische Autonomie gegenüber der Philosophie ausmacht, die selbst von Geist als dem „Erzeugungsgrund der Ideen"

261

getragen ist.

„Philosophie ist das wahre Mutterland der ideen, aber nicht der Belebung derselben. Aber Natur (Menschenkenntnis) und ihr wetteifernde (Nachschöpfung) Kunst, welche iene, was Anschauung betrift, zu übertreffen sucht, ist das Feld der Ideen, die zugleich belebend sind. Daher Künste des genies, die Natur zwar zum Urbilde, aber Gesetze der Belebung beym Menschen zur Bedingung haben und diesen Gemäß eine neue Schöpfung machen, welche auch ihre Gesetze hat." 262 260 A. a. O., Refl. 946. 25? A. a. O., Refl. 932. 261 A. a. O., Refl. 933. 262 Kant, a. a. O., Refl. 943. Die zweite Klammer enthält einen Zusatz Kants zum ursprünglichen Text. Friedrich Schiller hat, ausgehend von Kant, die Autonomie der Kunst in dieser Belebung nach den Gesetzen des Geistes gesehen. Als „freies Vergnügen" hat er diese Belebung bestimmt. Er hat sich aus diesem Grund gegen Bestimmungen der Kunst, die nicht Vergnügen (als freies Vergnügen) zu ihrem Wesen machen, gewandt. „Die Mittel, wodurch die Kunst ihren Zweck erreicht, sind so vielfach, als es überhaupt Quellen eines freyen Vergnügens gibt. F r e y aber nenne ich dasjenige Vergnügen, wobei die Gemütskräfte n a c h i h r e n e i g e n e n G e s e t z e n affiziert werden, und wo die Empfindung durch eine Vorstellung erzeugt wird; im Gegensatze von dem physischen oder sinnlichen Vergnügen, wobey die Seele, dem Mechanismus unterwürfig, nach fremden Gesetzen bewegt wird, und die Empfindung unmittelbar auf die pyhsische Ursache erfolgt." (NA 20, S. 135. Hervorhebung „nach ihren eigenen Gesetzen" G. B.).

III. Die Theorie der Beurteilung des Kunstwerks

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Nach den Ausführungen Kants zu den Begriffen ,Geist' und ,Belebung' ist es verständlich, daß Kant dasjenige, vermittels dessen der „Geist" die „Seele" belebt, als eine „ästhetische Idee" einführt und „Geist" als das Vermögen des „Ausdrucks ästhetischer Ideen" bestimmt wird. In der ästhetischen Idee sind nämlich die beiden Momente einer geistigen Belebung, Sinnlichkeit und Allgemeinheit (Ästhetisches und Ideales) enthalten. In dem Begriff einer ästhetischen Idee, die eine nach den Gesetzen des Geistes erzeugte sinnliche Anschauung sein muß, hat Kant, wie gezeigt werden soll, den Begriff einer „ästhetischen Vernunft" konkret entwickelt. Kant führt die ästhetische Idee als eine Anschauung ein, die sich den Bedingungen möglicher empirischer Erfahrung, Übereinstimmung von Sinnlichkeit und Begriff unter dem Verstandesgesetz, wie Kant sie in der „Kritik der reinen Vernunft" entwickelt hat, entzieht. „... unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. B e g r i f f adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann." 263 In der Vernunftkritik waren die Produkte der Vernunft, durch ihre Funktion des Schließens gewonnene Begriffe, I d e e n genannt worden, weil sie Raum und Zeit als Bedingung möglicher Erfahrung übersteigen. Sie haben die absolute Einheit der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten zum Gegenstand. Kann einer Vernunftidee, ζ. B. der der intelligiblen Freiheit, keine sinnliche Erscheinung zugeordnet werden, ist es also unmöglich, sie positiv darzustellen, so kann umgekehrt die ästhetische Idee als eine innere Anschauung nicht auf einen bestimmten Begriff gebracht werden. Solche Anschauungen, wie sie etwa objektiviert in einer Dichtung vorliegen, sind deshalb ebenfalls Ideen zu nennen. „Ideen in der allgemeinsten Bedeutung sind nach einem gewissen (subjektiven oder objektiven) Prinzip auf einen Gegenstand bezogene Vorstellungen, sofern sie doch nie eine Erkenntnis desselben werden können." 264 Dieses Prinzip macht die Ideen gegenüber „bloßen Ideen" im Sinne von willkürlichen Vorstellungen zu notwendigen Vorstellungen der menschlichen Vernunft, die im theoretischen Erkenntnisprozeß eine r e g u l a t i v e Funktion, im Praktischen a b s o l u t e R e a l i t ä t v o n F o r d e r u n g e n und in der Kunst als ästhetische Ideen k r i t i s c h e G e g e n w a r t 265 haben. Ge2« Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 192 f. 264 Kant, a. a. O., S. 239. 265 Mit „kritischer Gegenwart" soll versucht werden, die noch darzustellende, alle empirisch bedingten Vorstellungen sprengende Erkenntnisbedeutung der Kunst anzudeuten. Vgl. unten den Abschnitt: Die ästhetische Reflexion im Kunstwerk

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Β. Kants Theorie ästhetischer Reflexion

genüber dem objektiven Prinzip, das die theoretischen und praktischen Ideen ergibt, ist die ästhetische Idee, wie gezeigt wurde, nach einem subjektiven Prinzip der Vernunft, dem einer zweckmäßigen Einheit der Vermögen unter dem Gesetz der Freiheit, erzeugt. Kant nennt die ästhetische Idee ein „Gegenstück (Pendant) von einer V e r n u n f t i d e e " 266, weil beide Formen der Ideen dem Bezugspunkt Bedingung möglicher Erfahrung, aber auf entgegengesetzte Weise, widersprechen. „Eine ä s t h e t i s c h e I d e e kann keine Erkenntnis werden, weil sie eine A n s c h a u u n g (der Einbildungskraft) ist, der niemals ein Begriff adäquat gefunden werden kann. Eine V e r n u n f t i d e e kann nie Erkenntnis werden, weil sie einen B e g r i f f (vom Übersinnlichen) enthält, dem niemals eine Anschauung angemessen gegeben werden kann." 267 Damit ist gesagt, daß in der Erfahrung der Kunst eine am Sinnlichen vollzogene Erfahrung einer Realität vorliegt, die die Sphäre der Verstandeserkenntnis, des Endlichen und Bedingten, übersteigt. Inwiefern diese absolute Realität, die freilich für Kant nie im theoretischen Sinn Erkenntnis werden kann, dennoch Bedeutung und auch eine Erkenntnisbedeutung hat, soll im folgenden weiter entwickelt werden. Die Einbildungskraft führt in ihrer produktiv-schöpferischen Funktion noch in einer anderen Weise als der bisher dargestellten zu Ideen. In ihrer künstlerischen Funktion faßt die Einbildungskraft nicht Gegenständliches auf, um es .nachahmend' wiederzugeben. Sie bildet vielmehr als produktive Einbildungskraft den Stoff der wirklichen Natur um zu einer „anderen Natur", die wiederum „Natur übertrifft" 268 In dieser Umarbeitung verfährt die Einbildungskraft „nach analogischen Gesetzen" 269, d. h. bleibt dem Verstand gemäß, andererseits wird der Erfahrungsgehalt nach Prinzipien der Vernunft verwandelt. Im Kantischen Text kehrt dabei an dieser Stelle der Naturbegriff, wie er auch bei der Bestimmung des Genies verwendet worden war, also der der „Kritik der Urteilskraft" eigene Begriff der Natur im Kontrast mit der empirischen Natur, wieder: „Die Einbildungskraft (als produktives Erkenntnisvermögen) ist nämlich sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer anderen Natur aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt. Wir unterhalten uns mit ihr, wo uns die Erfahrung zu alltäglich vorkommt; bilden diese audi wohl um; zwar noch immer nach analogischen Geals unendliche Interpretation. Ästhetische Vernunft: Darstellung des Absoluten und Kritik des empirischen Bewußtseins, S. 82 ff. zw Kant, a.a.O., S. 193. 267 Kant, a. a. O., S. 240. 268 Kant, a. a. O., S. 193. 269 Ebd. Vgl. Kritik der reinen Vernunft, A 176, Β 218.

III. Die Theorie der Beurteilung des Kunstwerks

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setzen, aber doch auch nach Prinzipien, die höher hinauf in der Vernunft liegen (und die uns ebensowohl natürlich sind als die, nach welchen der Verstand die empirische Natur auffaßt) . . 2 7 0 Daraus gewinnt Kant einen zweiten Grund, die Produktionen der Einbildungskraft als ästhetische Ideen zu bezeichnen. Sie sind Ideen, „weil sie zu etwas über die Erfahrungsgrenze hinaus Liegendem wenigstens streben und so einer Darstellung der Vernunftbegriffe (der intellektuellen Ideen) nahe zu kommen suchen, welches ihnen den Anschein einer objektiven Realität gibt ..." 271 Indem die Einbildungskraft nach Prinzipien der Vernunft, dem Vermögen, das alles Bedingte aufs Unbedingte bezieht, ihre Erfahrungsgehalte umbildet, kann sie Sinnliches also zum Ausdruck von Ideen figurieren, die empirisch nie erfahrbar sind oder empirisch zwar Erfahrbares zu solcher Vollständigkeit und Totalität umbilden, „für die sich in der Natur kein Beispiel findet" P 1 Diese Theorie Kants steht wieder im Zusammenhang des Umdenkens der Theorie der Nachahmung der Natur in eine solche der „Nachschöpfung". Dabei ist Kunst der .Natur', sofern unter Natur der Naturbegrifi der Verstandeserfahrung, also auch der der modernen empirischen Wissenschaft, verstanden wird, überlegen, bleibt aber an Natur in einem anderen, umfassenderen Sinne als Darstellung gebunden, sofern auch Vernunft zur menschlichen Natur gehört. Das Kantische Modell löst also die Theorie der imitatio naturae, die eine vorkritische Erkenntnistheorie impliziert, nicht einfach ab. In der Doppelbedeutung des Naturbegriffes löst es vielmehr deren Intention eines Wirklichkeitsbezuges der Kunst ein, wenn es auch .Wirklichkeit' anders, nämlich als vom Subjekt in Beziehung auf das Ding-an-sich geformte, begreift. Dies wird daran deutlich, daß die Vernunftgesetze, nach denen die Einbildungskraft Wirkliches umbildet, uns nach Kant „ebensowohl natürlich sind als die, nach welchen der Verstand die empirische Natur auffaßt." 273 Man kann darin den Grundansatz einer Theorie der Darstellung sehen, die Kunst gegenüber einer einfachen Widerspiegelungstheorie 274 als Darstellung und Produktion sieht, durch die in ästhetischer Weise Wahrheit erst e n t h ü l l t wird, die nicht vorher schon g e g e b e n war. Eine Widerspiegelungstheorie kann, als ein „Realism der ästhetischen Zweckmäßigkeit der Natur" 275, die spezifische Autonomie der ästhetischen Reflexion nicht verstehen, während das Kantische Modell die 270 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 193. 1 Kant, a. a. O., S. 193 f. 272 Kant, a. a. O., S. 194. 27 3 Kant, a. a. O., S. 193. 274 Eine solche wird bekanntlich von marxistischen Kritikern und Ästhetikern vertreten. Vgl. ζ. B. G. Lukacs, Ästhetik, Werke, Bd. 11 und 12, Luditerhand o. J. 27 s Kant, a. a. O., S. 247. 27

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Β.

Kants Theorie ästhetischer Reflexion

Darstellungsfunktion der Kunst sehr wohl integrieren kann. Für die literarische Wertung ist diese Bestimmung hinsichtlich der Werkbezogenheit (,Immanenz') der ästhetischen Reflexion von Bedeutung; nur aufgrund ihrer kann die Kunst für den Aufnehmenden eine eigene Erkenntnisbedeutung haben. In der literarischen Wertung darf die Kunst deshalb nicht an einer empirisch-äußeren Wirklichkeit gemessen, sondern nur durch die im Werk sich bewegende Reflexion, in der sich ein normativer Wirklichkeitsbezug herstellt, beurteilt werden, weil sich in ihr, auf ästhetische Weise, menschliche Vernunft darstellt. 276 Für die Umbildung der Erfahrung durch die Einbildungskraft in Bezogenheit auf die Vernunft hat Kant Beispiele gegeben, die das theoretisch Gewonnene veranschaulichen sollen. „Der Dichter wagt es, Vernunftideen von unsichtbaren Wesen, das Reich der Seligen, das Höllenreich, die Ewigkeit, die Schöpfung u. dgl. zu versinnlichen; oder auch das, was zwar Beispiele in der Erfahrung findet, ζ. B. den Tod, den Neid und alle Laster . . . über die Schranken der Erfahrung hinaus, vermittels einer Einbildungskraft, die dem Vernunft-Vorspiele in Erreichung eines Größten nacheifert, in einer Vollständigkeit sinnlich zu machen, für die sich in der Natur kein Beispiel findet . . 277 Für die Bestimmung des Begriffes einer ästhetischen Vernunft kann man festhalten, daß die Anschauungen der schöpferischen Einbildungskraft, die ästheti276 Jmmanenz' der ästhetischen Reflexion bedeutet in diesem Verständnis den Vollzug der Logik des künstlerischen Werks, das, sofern es ein bedeutendes Werk ist, nach den .Gesetzen des Geistes' aufgebaut ist, insofern also g e r a d e n i c h t eine ,Isolierung' des Werks vom .Leben' bzw. der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit. Im Begriff des .Geistes' bzw. der Vernunft ist das Allgemeine und .Lebendige' im normativen Sinne, dasjenige, was eine faktisch individuelle oder gesellschaftliche .Wirklichkeit' negativ bzw. positiv qualifiziert und so als .werthafte' erst konstituiert, dem bedeutenden Werk . i m m a n e n t ' und wird im Aufnehmenden durch das Werk, da dieses Bewußtseinerweiterungen hervorbringen kann, gerade erst freigesetzt. Ebensowenig ist die geforderte Werkbezogenheit bzw. ,Immanenz' der ästhetischen Reflexion mit einer Ablehnung der Erforschung geistesund sozialgeschichdicher Zusammenhänge als Voraussetzung des Verständnisses eines Werks verbunden. Zu einem Ansatz der Interpretation, der die Erforschung historischer ,Sachgehalte' einschließt, aber in deren Reflexion in Beziehung auf die Formgesetzlichkeit des Werks den „Wahrheitsgehalt" des Werks herauszuarbeiten strebt vgl. W. Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaft, in: W. Benjamin, Ges. Schriften, Frankfurt 1972, Bd. I. 1, S. 123 ff. und: ders., Ursprung des deutschen Trauerspiels, ebd. Bd. 1.1, S. 357 f. Von einem allerdings gegenüber dem Kantischen Ansatz verschiedenen — sprachphilosophischen — Begründungszusammenhang her formuliert Benjamin: „Es ist Gegenstand der philosophischen Kritik zu erweisen, daß die Funktion der Kunstform eben dies ist: historische Sachgehalte, wie sie jedem bedeutenden Werk zugrunde liegen, zu philosophischen Wahrheitsgehalten zu machen" (a. a. O., S. 203.). Die Erschließugn der Sachgehalte nennt Benjamin im Unterschied zur „philosophischen Kritik" den „Kommentar" der Werke. 277 Kant, a. a. O., S. 194.

III. Die Theorie der Beurteilung des Kunstwerks

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sehen Ideen, aus zwei Gründen Ideen genannt werden können, weil die Einbildungskraft auf doppelte Weise auf Vernunft bezogen ist. Erstens entziehen sie sich als innere Anschauungen durch ihre Fülle dem Begriff, den sie darstellen, also einer Bedingung möglicher Erfahrungserkenntnis. Sie sind also als Ideen darin das „Gegenstück" 278 zu Vernunftideen; die Einbildungskraft verfährt nach subjektiven Prinzipien der Vernunft. Zweitens verfährt die Einbildungskraft aber auch nach objektiven Prinzipien der Vernunft als dem Vermögen der intellektuellen Ideen. Die ästhetischen Ideen kommen so der „Darstellung der Vernunftbegriffe (der intellektuellen Ideen) nahe" 279 und sind Ideen auch im s e l b e n Sinn wie eine Vernunftidee. Beidesmal sind aber in der ästhetischen Idee sinnliche Anschauung und Idee verbunden, so daß sie das Absolute an den sinnlichen Erscheinungen selbst auffaßbar und die empirische Verstandeserkenntnis als eine nur relative Bewußtseinsstufe kenntlich macht. Kant hat dabei das erste Argument als das „hauptsächlich" 280 heranzuziehende bezeichnet, wohl deshalb, weil es eine über die Erfahrungserkenntnis hinausführende Bestimmung aus dem Wesen der Einbildungskraft selber ist, und so das Argument darstellt, das eine eigene Gattung von Ideen begründet. Beide Bestimmungen in ihrem Zusammenhang stellen aber erst den Sinn des künstlerischen Gebildes dar. Dieses Verhältnis von darzustellender Idee als einem Begriff (Vernunftidee) und seiner künstlerischen Realisierung innerhalb der sinnlichen Erscheinungen als Anschauung (ästhetische Idee) hat Kant in der Theorie der ä s t h e t i s c h e n A t t r i b u t e ' 2 8 1 näher ausgeführt. Durch sie wird die ästhetische Idee bzw. das Kunstwerk als Darstellung von Vernunftideen erstens als s i n n b i l d l i c h , sofern die ästhetische Idee aber jeden bestimmten Begriff durch ihre Fülle sprengt und übersteigt, zweitens als ein u n e n d l i c h e r V e r w e i s u n g s z u s a m m e n h a n g bestimmt. In diesem Theorem erläutert Kant, wie das ästhetische Gebilde auf Ideen der Vernunft, die ihrem Begriff nach im Sinnlichen nicht darstellbar sind, dennoch bezogen sein kann. Die Einbildungskraft erfaßt in ihrer Produktivität „Formen, welche nicht die Darstellung eines gegebenen Begriffs selber ausmachen, sondern nur, als Nebenvorstellungen der Einbildungskraft, die damit verknüpften Folgen und die Verwandtschaft desselben mit anderen ausdrücken .. ." 282 Um den Bezug zu dem intendierten Vernunftbegriff anzuzeigen, nennt Kant diese „Formen" in Anlehnung an die theoretische Explikation eines Begriffes durch seine logisdien Attribute ästhetische „ A t t r i b u t e . . . eines Gegenstandes, dessen Begriff als Vernunftidee nicht adäquat dargestellt werden 278

Kant, a. a. O., S. 193. » Kant, a. a. O., S. 193 f. 280 Vgl. Kant, a. a. O., S. 194. 2 « Vgl. Kant, a. a. O., S. 195 ff. 282 Kant, a. a. O., S. 195. 27

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Β.

Kants Theorie ästhetischer Reflexion

kann." 283 Als Beispiel hat Kant einmal die sinnbildliche Darstellung von Majestät und Erhabenheit der Schöpfung im „Adler Jupiters mit dem Blitze" als einem Attribut des „Himmelskönigs" und im „Pfau" als einem Attribut der „Himmelskönigin" 284 angeführt. Als Beispiel aus der Dichtung nennt Kant ein Gedicht Friedrichs des Großen, in dem die Idee „weltbürgerlicher Gesinnung noch am Ende des Lebens" sinnbildlich in einer untergehenden Sonne dargestellt wird, die die Welt noch mit Licht erhellt.285 Die Bedeutung des Kantischen Gedankens liegt darin, daß er die sinnlichen Erscheinungen des Kunstwerks als in einer bestimmten Weise auf eine intendierte Idee bezogen erfaßt und damit als s i n n b i l d l i c h versteht. Die Art der Bezogenheit ist dabei nach Kant „Verwandtschaft" bzw. besteht in „damit verknüpften Folgen",286 die durch die Einbildungskraft in schöpferischer Weise, d. h. in Freiheit von den Gesetzen der Assoziation und der Gewohnheit, aufgefunden werden.287 Kant hat deshalb das ästhetische Gebilde weiter als einen sinnbildlichen V e r w e i s u n g s z u s a m m e n h a n g beschrieben, der im spezifisch rein ästhetischen, d. i. freien Spiel der Einbildungskraft in der Darstellung des Begriffes begründet ist. W. Biemel hat darauf hingewiesen, daß die Einbildungskraft traditionell als das Vermögen, Verwandtschaften zu entdecken gilt. 288 Als dieses Vermögen ist sie Grund der Beziehung, in der durch die Metaphorik Verweisungsbezüge gestiftet werden, die sich der begrifflichen Sprache entziehen. Kant definiert in der „Anthropologie" bei der Behandlung der Einbildungskraft in ihrer Funktion als .sinnliches Dichtungsvermögen der Verwandtschaft' 289 Verwandtschaft als „die Vereinigung aus der Abstammung des Mannigfaltigen von einem Grunde". 290 Darin ist ein Hinweis auf die ästhetische Einheit des künstlerischen Werkes gelegen, die dem Verweisungszusammenhang der Erscheinungen zugrunde liegt, wie sie im folgenden noch dargestellt werden soll. 284 Ebd. 283 Ebd. 285 Kant, a. a. O., S. 196. 285 Ebd. 13

226

Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

scheint. Aber der eine, der herkommt, ist immer derselbe. Das werden Sie alles später tun, meint er." 16

Mit diesem Hinweis, dem in der den Bericht unterbrechenden Reflexion noch weitere folgen 17 , ist das Thema des zweiten Bandes der Trilogie, „Malone stirbt", angedeutet, dessen Beginn lautet: „Ich werde endlich doch bald ganz tot sein." 18 Dagegen verweist die zitierte Feststellung Molloys, daß er „ein wenig wie früher" arbeitet wie das Schreiben in Verbindung mit einer ihn bestimmenden Instanz auf den z w e i t e n T e i l d e s M o l l o y - R o m a n s . Diesen zweiten Teil („II", ebenfalls ohne Titel) bildet der Bericht einer Figur, die von ,anderen' Moran genannt wird. Sie stellt in diesem Bericht ihre Suche nach Molloy dar, die ihr von einer Instanz, für die sie arbeitet, aufgetragen wurde. Beide Teile des Romans sind nun durch zahlreiche Beziehungen verknüpft, die Identitäten nahelegen.19 Die ,Instanz' ist durch identische Details im Verhalten ihres Boten (er kommt nur sonntags, hat immer Durst) in beiden Teilen gekennzeichnet; Moran ist auf seiner Suche nach Molloy begleitet von seinem Sohn; Molloy erinnert sich dunkel an die Existenz eines Sohnes von ihm usw. Am entschiedensten kommt die genannte Struktur aber darin zum Ausdruck, daß Moran, für den Molloy zudem ein ihn aus sich selbst heraus Heimsuchendes ist 20 , sich im Verlauf der Suche äußerlich und innerlich an Molloy angleicht. Bei aller Offenkundigkeit der Bezüge ist die Identität beider aber nicht ausgesprochen. In den folgenden Ausführungen soll versucht weren, beide Momente, Identität und Verschiedenheit, festzuhalten und diese Struktur aus dem Gesamten der Trilogie zu verstehhen.21 Ohne über den Text von „Molloy" hinauszugehen, kann man vorläufig zwei Bewußtseinsformen in dem Roman unterscheiden, die durch die Teile I und II repräsentiert sind, wobei die zweite, die Morans, aus Ansätzen in ihr selbst heraus, wie gezeigt werden soll, zerstört i«f S. Becke«, a. a. O., S. 7. ' 7 Solche Hinweise sind ζ. B. der auf ein zu erstellendes „Verzeichnis meiner Güter und Besitztümer" (a. a. O., S. 174 f.), das erst am „Ende" gemacht werden kann; ferner der, daß Molloy, obwohl er sich als „nicht mehr" lebend bezeichnet, in der Tatsache, daß audi seine „Auflösung" noch „Leben" ist, die Möglichkeit der Verfälschung seines intendierten ,Selbstgerichts' sieht. (Vgl. unten S. 247 ff.) is S. Beckett, Malone stirbt, Frankfurt 1958, S. 7. ι» Dies gilt für die gesamte Trilogie. So erscheint der Geburtsort Molloys („Bally") wieder als der des Namenlosen; Macmann, die Gestalt, in der Malone sich darstellt, hat ein Messerbänkchen in Besitz; Molloy hatte ein solches Messerbänkchen bei einem Aufenthalt im Haus einer Frau an sidi genommen. 20 Vgl. unten S. 228 f. 21 Von ihrem Ende her kann man sagen, daß diese Identität und Differenz darin ihren Grund hat, daß die Figuren verschiedene B i l d e r desselben, sich schließlich als nicht benennbar — L'I η η ο m m a b 1 e ist ja der Titel des letzten Bandes der Trilogie — erkennenden Selbst sind, die verschiedene Stufen der Selbstreflexion darstellen.

I. Ausgangspunkt der Erfahrungsbewegung: „Molloy"

227

und auf die erste, die Molloys, zugeführt wird. Man kann so in der von Beckett gewählten Anordnung, die die in noch zu bestimmendem Sinn ,höhere' Bewußtseinsstufe, also den Molloy-Teil, v o r die weniger entwickelte Bewußtseinsform, die Morans, stellt, eine nachträgliche Deutung des in Molloy Dargestellten durch den Aufweis seiner Herkunft aus einem ,normalen' Bewußtsein sehen. Um die Genese des im Roman in Molloy intendierten Bewußtseins aus der Vertrautheit eines .normalen', alltäglichen Weltverhaltens, in dem man den Ausgangspunkt der Trilogie sehen kann, und damit den Sinn und die Richtung ihrer Entwicklung deutlich zu machen, die eine „Geschichte des Bewußtseins" (Schlegel) darstellt, soll in der Interpretation des Bandes „Molloy " mit Teil II begonnen werden. 2. Selbsterfahrung in der Auflösung des Sich-besitzen-Wollens (Todesbegegnung). Morans Bericht a) Scheinhafte Existenz und Aufnahme einer Selbstbeziehung Der zweite Teil des ersten Bandes der Trilogie enthält den ,Bericht' des Moran über seine Suche nach Molloy. Moran lebt in einem kleinen Ort mit seinem Sohn, ist Besitzer eines Hauses mit Garten, eine Hausangestellte ist anwesend, er ist praktizierender Christ; in ihm ist also eine durchaus alltägliche — und wie der Bericht zeigen wird — scheinhafte Bewußtseins- und Existenzform dargestellt. Er erhält nun von einer Instanz, für die er als ,Agent' arbeitet, „den Befehl", sich „um Molloy zu kümmern".22 Diese Instanz, die, wie erwähnt, audi im ersten Teil des Bandes für Molloy existiert, trägt in Morans Bericht mit „Youdi" für den „Chef" und „Gaber" für den ,Boten' verformte Namen der Transzendenz, die die ursprünglichen Formen, Jehova und Gabriel 23 , zugleich assoziieren und negieren. Sie kann aber nun n i c h t durch Wiedereinsetzung der religiösen Bedeutung dieser Namen verstanden werden; vielmehr ist in diesem für Beckett charakteristischen, noch zu analysierenden und auf seinen Grund zu verfolgenden Verfahren der Ursprung dieser Instanz als Objektivierung aus dem Wissen des Selbst dargestellt, das dieses Wissen zugleich scheut, weil es „Leid" und völlige Selbstverantwortlichkeit bedeutet 24 . So nimmt Moran in einer Reflexion, die die Instanz zunächst zu einem „riesigen Netz" dessen „Glieder" 25 er und Gaber sind, ausbaut, diese schließlich — an 22

S. Beckett, Molloy, a. a. O., S. 199. Die offenkundige Beziehung wird audi dadurch gestützt, daß Youdi in Zusammenhang mit dem Alten Testament gebracht wird (S. Beckett, a.a.O., S.254). Vgl. audi Birkenhauer, a. a. O., S. 95. 24 Dieser Grund ist im „Namenlosen" erreicht. Schon hier wird aber deutlich, daß Beckett aus dem „Quellpunkt" der Dichtung und Religion schreibt. 2 5 S. Beckett, a.a.O., S.231. 23

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

einer einzigen Stelle des Textes — völlig zurück. Nachdem Moran die Annahme einer Vielzahl von Agenten und Boten daraus erklärt hat, „daß geteiltes Leid halbes Leid ist", fährt er fort: „Doch wenigstens mir, der ich der Fistelstimme der Vernunft zu lauschen wußte, war es klar, daß wir vielleicht die einzigen unserer Art waren. Jawohl, in meinen lichten Augenblicken hielt ich das für möglich. Und um Ihnen nichts zu verbergen: Diese Klarheit erreichte bisweilen eine solche Schärfe, daß in mir sogar Zweifel an Gabers Existenz aufstiegen. Und wenn ich mich nicht schnell wieder ins Dunkele geflüchtet hätte, hätte ich es vielleicht sogar fertiggebracht, den Chef verschwinden zu lassen und einzig und allein midi selbst für mein unglückliches Dasein verantwortlich zu machen." 2 6

Das in dem ,Befehl' von außen an ihn Herantretende ist so als ein Aufbrechen einer Dimension des Selbst sichtbar gemacht, die nur in der .Klarheit' des Hörens auf die „Fistelstimme der Vernunft" als solche erkannt und nicht abwehrend als fordernde und sanktionierende Instanz objektiviert wird. — Der durch Gaber übermittelte Auftrag beendet für Moran idyllisch gezeichnete Momente des „Glücks und des Friedens" 27 , die er im Umkreis seines Hauses und Gartens zu verbringen gewohnt war. Er will die ihm zugewiesene Aufgabe sofort ablehnen; dies ist aber unmöglich, da die ,Agenten' in dieser Beziehung nicht frei sind. Darüberhinaus kann, wie der ,Chef' nach Auskunft des ,Boten' formulierte, nur Moran diesen Auftrag erfüllen, „Gott weiß warum" 28 . Er löst in Moran, der zunächst ganz alltäglich weiter handeln will, Unruhe, „Angst" 29 , ,Verstörtheit' 30 , eine „tiefe Verwirrung" 31 aus. Für Moran ist dabei Molloy, wie er sich nach einiger Zeit getraut, bewußt zu machen — in genauer Entsprechung zu der oben dargestellten Rücknahme der Instanz — „kein Unbekannter", ohne daß er allerdings weiß, wie „seine Existenz" ihm „bekannt geworden war" 32 . Moran nennt sie so „vielleicht" durch sich selbst „erfunden", schränkt dies aber auch wieder ein, indem er präzisierend, fortfährt „ich meine, fertig in meinem Kopf vorgefunden".33 Uber die Tatsache hinaus, daß er sich Molloy willentlich vergegenwärtigen kann, erleidet Moran „in sehr großen Abständen" Heimsuchungen von Molloy 34 . Sie machen Moran, der sich im Bericht als .peinlich sorgfältig' und ,ruhig' cha26 S.Beckett, a. a. Ο.,IS. 231 f. 27 S. Beckett, a. a. Ο., S. 200. 28 S. Beckett, a. a. Ο., S. 203. 29 S. Beckett, a. a. O., S. 208. 30 S. Beckett, a. a. O., S. 210. 51 S.Beckett,a. a . 0 . , S . 211. 32 S. Beckett, a. a. O., S. 240. 33 Ebd. 3 4 S. Beckett, a. a. O., S. 244. E. Franzen übersetzt hier .visiter' (frz. S. 175) m.E. angemessen durch ,heimsuchen'.

I. Ausgangspunkt der Erfahrungsbewegung: „Molloy"

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rakterisiert, als einen „Mann . . . der in seinem Denken die Grenzen des Berechenbaren nie überschritt, weil er vor dem Ungewissen solches Entsetzen empfand", ja als „Fabrikat" 35, zum „Gegenteil" seiner selbst: „Dann war ich nur noch Getöse, Schwere, Zorn, Ersticken, unaufhörliche, rasende und vergebliche Anstrengung, kurz das Gegenteil von mir selbst. Ich war verwandelt. Wenn ich ihn mit einer Art Aufschrei des ganzen Körpers verschwinden sah, bedauerte ich es fast." 36 In Molloy ist also eine innere Möglichkeit von Moran selbst zu sehen, die er aus seiner Existenz ausgeklammert hat, gegen die er sich in ambivalenter Einstellung einerseits wehrt und die ihn deshalb in Aufruhr versetzt, deren SichEntziehen er andererseits aber auch bedauert. 37 Mit der Vorstellung der .Verwandlung' der empirischen, im Ungewissen sich berechnend sichernden Existenz durch die Berührung einer anderen Bewußtseinsform, die in jene zerstörend eingreift, ist ein Motiv thematisch, das für moderne Literatur (vgl. ζ. B. F. Kafka, „Verwandlung") charakteristisch ist. b) Morans Reise als Bewegung auf sich selbst zu. — Selbsterfahrung als Auflösung der Verdeckungen des „bekannten und verleugneten" Selbst. Personale Identität als Resultat der Erfahrungsbewegung Im Verlauf der nun folgenden Suche nach Molloy, die eine Reise in dessen „Land" nötig macht, auf der ihn, gemäß der Anordnung, sein Sohn bis zu einem gewissen Zeitpunkt begleitet, nähert sich Moran nun, wie in der Literatur zum Roman oft beobachtet worden ist, dem aus dem ersten Teil bekannten Erscheinungsbild und der Bewußtseinsform Molloys immer mehr an (so wird ein Bein Morans steif; er benutzt am Ende Krücken wie Molloy etc.; an die Stelle der vorher exact planenden und berechnenden Haltung Morans tritt völlige I η t e n t i o n s l o s i g k e i t und G l e i c h m ü t i g k e i t ) . Dabei wird der Verwandlungsprozeß von Moran als in Beziehung auf sein eigentliches Selbst stehend charakterisiert. An seinem Beginn, nachdem das Knie Morans steif wurde, verbringt Moran drei Tage allein, während sein Sohn ein Fahrrad zur Fortsetzung der Reise kauft. In dieser Zeit verändert sich Morans Selbsterfahrung: „Und ich beugte midi audi über midi selbst, über das, was sich seit einiger Zeit in mir geändert hatte. Und ich glaubte, mich sehr schnell altern zu sehen, gleich einer Eintagsfliege. Und genau genommen war es nicht die Vorstellung des Al35 S. Beckett, a. a. Ο., S. 245. S. Becke«, a. a. Ο., S. 244. 37 Dieser ambivalenten Haltung entspricht, daß Moran trotz der Angst, trotz des ,Zorns' über das „Joch" der Suche nach Molloy sein Haus „ein paar Takte" pfeifend und „im Grunde wohl froh" verläßt (S. Beckett, a. a. Ο., S. 268 f.).

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung terns, die mir dabei durch den Kopf ging. Was ich sah, glich vielmehr einem Prozeß der Auflösung, einem jähen Zusammenbruch alles dessen, was mich seit jeher davor bewahrt hatte, der zu sein, der ich seit jeher zu sein verdammt war." 3 8

Damit ist ein Zentralmotiv der Trilogie, das des Alterns, das Bewußtsein der Vergänglichkeit („Eintagsfliege"), das der A u f l ö s u n g erreicht, die hier schon in ihrer positiven Bedeutung als F r e i l e g u n g d e s e i g e n t l i c h e n ' , v o r h e r v e r s t e l l t e n S e l b s t sichtbar wird. (Sie ist also nicht Darstellung, sondern gerade Kritik der Entfremdung von sich, als welche vielmehr die Anfangsidylle Morans in seinem Dorf erscheint.) Dieses eigentliche, seit jeher bestehende Selbst ist im Text als das „bekannte und verleugnete" gekennzeichnet. Der Text fährt unmittelbar fort: „Oder es (das, was Moran sah, G. B.) glich einer Art von Bohren, das mit immer größerer Geschwindigkeit auf ich weiß nicht welches bekannte und verleugnete Licht und Gesicht vordrang." 39

Im Gegensatz zu den früheren ,rasenden' Heimsuchungen erscheint ihm hier das Bild seiner selbst als aus dem Wasser steigende „Kugel", die sich allmählich zu einem Gesicht u n b e s t i m m t e n und vielleicht ruhigen Ausdrucks formt. Das Antlitz entsteht für Moran „ . . . ohne daß man erkennen konnte, ob es das Gesicht eines Mannes oder einer Frau, ob es jung oder alt sei, noch ob es seinen ruhigen Ausdruck nicht dem Wasser verdankte, das zwischen ihm und dem Licht lag." 4 0

Audi in dieser Vorstellung eines durch den zeitlichen Gegensatz (jung/alt) und den des Geschlechts nicht bestimmbaren Wesens des Selbst ist ein Bewußtsein erreicht, das im Verlauf der Trilogie weitergeführt 41 und zur Unbestimmbarkeit im „Namenlosen" gesteigert wird. Für die neue Bewußtseinshaltung Morans ist nun charakteristisch, daß er dieses Bild und ähnliche ,jammervolle' Bilder nicht festzuhalten und zu ergründen versucht, ihnen nur eine zerstreute Aufmerksamkeit widmet 42 Wiederum vorausweisend auf den „Namenlosen" kennzeichnet er sie, die, wie er formuliert, „etwas Klarheit" in die „dunkle Bewegung, die mich einnahm" bringen, als „ohne Zweifel nur dazu bestimmt... das Gefühl meines Zusammenbruchs aufzufangen" 4 3 , also gerade n i c h t als 38 S. Beckett, a. a. Ο., S. 318 f. 39 S. Beckett, a. a. Ο., S. 319. « Ebd. 4 1 Vgl. dazu die Äußerung Malones, der über eine zu schreibende .Geschichte' ausführt: „Vielleicht bringe ich den Mann und die Frau in derselben Geschichte unter, der Unterschied ist so gering zwischen einem Mann und einer Frau, zwischen meinen, meine ich" (S. Beckett, Malone stirbt, a. a. O., S. 11). « S.Beckett, a . a . O . , S . 3 1 9 . 4 3 Hier wurde von Franzens Übersetzung von „obscure agitation" (frz. S. 231) durch „trübe Gemütsbewegung" (S. Beckett, a. a. O., S. 320) abgewichen.

I. Ausgangspunkt der Erfahrungsbewegung: „Molloy"

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d e f i n i t i v e Bilder dessen, auf das er sich zubewegt. Für Moran ist diese Haltung Ausdruck dafür, wie „gleichgültig" es ihm geworden ist, sich „zu besitzen" 44 . Sie zeigt sich auch darin, daß Moran „teilnahmslos" seinen baldigen Erschöpfungstod voraussieht, der aus Mangel an Nahrungs eintreten muß, wenn er sich nicht wieder neue Vorräte beschaffen kann. 45 Diese Selbsterfahrung wird nun im Folgenden weitergeführt und dabei weiter bestimmt. Aus ihr wird sowohl die Beziehung auf die veräußerlichte Autorität Youdis im Vernehmen einer inneren „Stimme" überwunden, also eine freie Selbstbeziehung erreicht, wie auch eine neue Weltbeziehung entwickelt. Moran gelangt schließlich, von seinem Sohn gefahren, auf dem Gepäckträger des neu erworbenen Fahrrads ins „Land" Molloys, das den Namen „Ballyba" trägt und sieht dessen Stadt „Bally" — der Name ist wichtig, weil er auch der der Herkunftsstadt des Namenlosen ist, also einen der Punkte darstellt, die die Identität des sprechenden Subjektes in der Trilogie markieren — am Horizont liegen. Schon auf der Fahrt dahin denkt Moran nicht mehr an seine bisherige Beunruhigung, die darin bestand, daß er nicht weiß, was er mit Molloy „anfangen" soll, wenn er ihn gefunden hat; dagegen denkt er viel an sich selbst und tut „sozusagen gar nichts mehr" 46 . Schließlich, als ihn sein Sohn nach der Ankunft in Molloys Land im Anschluß an einen Streit zum zweiten Mal und für die Reise definitiv verlassen hat, erreicht Moran einen Zustand völliger Handlungsunfähigkeit: „... ich war u n f ä h i g zu handeln oder vielleicht endlich s t a r k genug, um nicht mehr zu handeln. Denn ich war r u h i g , ich wußte daß alles bald zu 44

Audi hier folge ich nicht Franzens Ubersetzung, „wie gleichgültig es mir wurde, ein Ich zu besitzen" (S. Beckett, a. a. Ο., S. 320) für „combien il me devenait indifferent de me posseder" (frz. S. 231), da eine Annäherung an sein Selbst (,Ich'; vgl. unten S. 234) gerade im Aufgeben des sich besitzen wollenden Ich Ziel bleibt. 45 S. Beckett, a. a. Ο., S. 321. Dieser Abschnitt, in dem man die erste Gewinnung der eigentlichen Selbsterfahrung beschrieben sehen kann, ist umrahmt von einem Erscheinen von zwei,Fremden' an Morans Lagerplatz, wo er allein auf die Rüdekehr seines Sohns wartet. Im ersten Fremden, einem alten Mann mit einer Keule, sieht Moran ein positives Bild seiner selbst: „... sein Blick war von äußerster Kälte und Kraft. Sein Gesicht war bleich und schön; ich wäre damit zufrieden gewesen" (a. a. O., S. 313). Im zweiten, nach der im Text der Arbeit analysierten Selbsterfahrung erscheinenden Mann, sieht er demgegenüber einen seinem t a t s ä c h l i c h e n Aussehen Ähnelnden, den er in einer Auseinandersetzung tötet (a. a. O., S. 321—326). In der Tatsache, daß Moran sich anschließend denkt, der Verdacht der Tötung werde auf den ersten Mann fallen, kann man ein Bild dafür sehen, daß das eigentliche Selbst das tatsächlich-wirkliche zerstört, ,getötet' hat. In dieser Beziehung haben, wie schon angeführt, die Deformationen ihren Grund. Vgl. dazu auch den Roman „Murphy", in dem das Selbst, das Murphy ,liebt', sein wirkliches, das er jiaßt', deformiert (S. Beckett, Murphy, Hamburg 1959). S. Beckett, a. a. Ο., S. 340.

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

Ende ging, oder wieder aufflackerte, es lag wenig daran wie. Ich hatte nur zu warten." w

In diesem Bewußtseinszustand sind Schwäche und Stärke paradox verbunden, wobei Handeln als Fluchtbewegung erscheint, während im gleichmütigen Ruhigen' „Warten" und Sein ein Bewußtsein der Offenheit für das, was ist, gesehen wird. 48 Moran überläßt sich in dieser Situation spielerisch Wunscherfüllungsvorstellungen, die um seinen Auftrag kreisen und ihm seine Aufgabe erleichtern (sein Sohn soll wiederkommen; Molloy soll zu ihm kommen, sein „Vater und Freund" werden, so daß Youdi ihn nicht wegen der Nichterfüllung des .Befehls' bestraft), um dann diese Vorstellungen „angewidert" zu zerstören und „mit Genugtuung die Leere" zu betrachten, „die sie beschmutzt hatten". 49 Diese „Leere" erscheint so — auch dies ist ein bleibendes Motiv der Trilogie — selber als ein Positives, in dem sich das Selbst „mit Genugtuung" eher als in Wunscherfüllungen erfassen kann.50 Schließlich wird in einem „ungeheuren Lachen", das ihn .schüttelt', das aber lautlos ist und bei dem das Gesicht nur „stille Trauer" ausdrückt, die Vorstellung der „Strafe" Youdis beantwortet und diese äußere Autorität so negiert. Dabei wird auch die Bezeichnung .Lachen' für diesen Vorgang wieder problematisiert: „Ein seltsames Lachen, das kann man wohl sagen. Bei näherer Überlegung glaube ich, daß ich es vielleicht nur aus Faulheit oder Unwissenheit so nenne." 51

Es kann vielleicht — auch vom Blick auf das Gesamte der Trilogie her — als Ausdrude eines zugleich trauernden und befreienden Bewußtseins gedeutet werden, in dem T r a u e r über die Unmöglichkeit der definitiven Erfüllung des Auftrags der Selbstfindung und B e f r e i u n g von der kindlichen Strafvorstellung verbunden sind. Die von Moran erfahrene Annäherung an sich selbst Folgender Abschnitt des Originaltextes wurde abweichend übersetzt: „.. . je savais que tout allait finir, ou rebondir, peu importait, et peu importait de quelle maniere, je n'avais qu'ä attendre" (frz. S. 250; vgl. S. Beckett, a . a . O . , S. 348; Hervorhebungen G. B.). 48 Das Motiv der Ablehnung des Sich-Verstehens nur aus dem Handeln weist zurück auf „Murphy" (vgl. Murphy, a. a. O., S. 25). Es bedeutet sicher nicht, daß Handeln insbesondere sittliches Handeln, s i n n l o s ist, wohl aber, daß ein Sich-Verstehen aus ihm allein, insofern es ein S e i n voraussetzt, nicht zureichend ist. Das ,Warten' in „Warten auf Godot" hat dagegen nicht diesen hier gemeinten überlegenen, bewußten Charakter. (Vgl. dazu M. Enßlin, Das Theater des Absurden, Frankfurt 1965, S. 42 f., wo das .Warten' auf Godot in Anschluß an E. Metman als Ausdruck der Bewußtlosigkeit verstanden wird.) « S. Beckett, a. a. Ο., S. 349. 50 Vgl. dazu „Der Namenlose", wo — mit der Relativierung „meinetwegen, es sind Worte" — der Ort, an dem der Namenlose ist, als „offen zur Leere, offen zum Nichts . . . offen zum Schweigen" beschrieben ist (Der Namenlose, a. a. O., S. 261). si S. Becke«, a. a. O., S. 350. 47

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wird nun in dem für Becketts Dichtung charakteristischen Setzen und Aufheben des gesetzten Bildes reflektiert. Obwohl Moran kaum mehr an sich denkt, scheint ihm zuweilen, daß er „nicht mehr sehr weit" von sich selbst entfernt ist, daß er sich selbst .nähert', ein Vorgang, den er in folgender Weise beschreibt: „Aber in manchen Augenblicken schien es mir . . . , daß ich mich ihm (seinem Selbst, G. B.) näherte, wie der Strand der Woge, die aufsteigt und aufschäumt, ein Bild, das wenig zu meiner Situation paßt, die eher die des Dreckhaufens in Erwartung der Spülung war." 52 In diesem Doppelbild, das in seinem ersten Teil in der Umkehr der natürlichen Bewegung Woge — Strand das eigentliche Selbst als ,beweglich', das scheinhafte als ,fest' kennzeichnet,53 ist die zweifache Bedeutung der Annäherung für Moran aufgenommen. Es formuliert die immer zunehmende „Schwäche", in der Moran sich sagt, daß er bald „das Bewußtsein ganz verlieren" wird — die ganze Reise ist eingerahmt durch das Vorbeigehen am Friedhof, auf einem Weg, auf dem man „tiefer als die Toten liegen" 54 geht —, wie auch die zunehmende „Zufriedenheit" und Bejahung seiner selbst: Moran beschreibt sich gleichzeitig als „außerordentlich zufrieden, beinahe begeistert und entzückt" von seinem „eigenen Wesen" 55 . Darüberhinaus ist aber auch mit der Wahl des zweiten Bildes die dichterische Sprache des ersten, wiewohl dessen Gehalt festzuhalten bleibt, der das Ich als unfestes,,flüssiges' faßt, negiert. In dieser äußersten Situation erscheint,Gaber' und gibt Moran die Instruktion, die Reise abzubrechen und nach Hause zurückzukehren. Diese Rückreise, zu der Moran, da er wegen seines steifen Beins durch den Schnee nur schwer gehen kann, den ganzen Winter benötigt, wird von ihm als Weiterführung der Bewegung verstanden, in der er lebt und die noch über das Ende seines Berichts hinaus in die Fortsetzung der Trilogie verweist: „Ich bahnte mir durch ihn (den Schnee, G. B.) einen Weg auf etwas hin, das ich meinen U n t e r g a n g (frz. „perte"; Verlust, Untergang, G.B.) genannt haben würde, wenn ich imstande gewesen wäre, mir vorzustellen, w i e i c h n o c h 52

„Mais par moments il me semblait... que je m'en approdiais comme la greve de la vague qui s'enfle et blanchit, figure je dois dire peu appropriee ä ma situation, qui etait plutot celle de la merde qui attend la chasse d'eau" (frz. S. 252, vgl. S. Beckett, a. a. O., S. 350). 53 Damit ist die Metaphorik der ersten Annäherung aufgenommen (vgl. oben S. 229 ff.) in der, in dem Bewußtsein des Zusammenbruchs der Scheinexistenz, der „Wandel des Empfindens" in der Selbsterfahrung als „Ubergang vom Finsteren, Schweren, Knirschenden und Steinichten zum Fließend-Flüssigen" (S. Beckett, a. a. Ο., S. 319) beschrieben ist, auf den dann das aus dem Wasser aufsteigende — vorläufige — Selbstbild folgt. st S. Beckett, a. a. Ο., S. 289. 55 S. Beckett, a. a. Ο., S. 350 f.

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

t i e f e r u n t e r g e h e n könnte (frz. „... ce que j'avais ä perdre", wörtl. „... was ich zu verlieren hatte", G. B.). Inzwischen habe ich es mir vielleicht vorgestellt, vielleicht habe ich es mir noch nicht bis ins Letzte vorgestellt; mit der Zeit gelangt man zwangsläufig dahin, ich werde dahin gelangen." 56 Der französische Text nimmt dabei mit ,perte' und ,perdre' negativ das, wovon sich Moran gelöst hat, ,sich besitzen', ,se posseder' auf 5 7 und zeigt so den „Untergang" und seine Vorstellung als Bewegung auf sich selbst zu, die in Molloys Bericht und „Malone stirbt" ihre Fortsetzung findet, um im „Namenlosen" in eine völlig ungegenständliche, außerhalb der Erscheinung befindliche Sphäre zu gelangen. Auf dieser Rückreise hört Moran eine innere „Stimme" 58, die er zunächst nicht beachtet, die aber als bleibendes Ergebnis seiner Fahrt Organ eines neuen Selbst- und Weltverständnisses wird und deshalb noch eingehender interpretiert werden soll. Morans Körper verändert sich auf der Rückreise immer mehr, „bis zur Unkenntlichkeit", ohne daß er aber bei der wiederholten Geste des sich mit den Händen über das Gesicht Streichens, obwohl Hände und Gesicht jeweils andere sind, aufhörte, sich zu erkennen. 59 Ja, es verstärkt sich gerade das G e f ü h l s e i n e r I d e n t i t ä t , demgegenüber Moran sich, wie er rückblickend formuliert, im Vergleich zu seinen anderen „Kenntnissen" auf einem „eindeutig niedrigeren" Niveau des Wissens 60 befand. „... ich hatte ein lebhafteres und klareres Gefühl meiner Identität als zuvor, trotz ihrer inneren Verletzungen und der Wunden, mit denen sie sich bedeckte." 61 Hier wird also ganz deutlich, daß es in dem Auflösungs- und Erfahrungsprozeß gerade um eine Annäherung an das eigentliche Selbst, das in allem Veränderlichen Identische, geht. 56 S. Beckett, a. a. Ο., S. 357; frz. S. 256 f. 57 Vgl. oben S. 231. 58 S.Beckett, a. a.Ο., S. 366. 59 S. Beckett, a. a. Ο., S. 366. 60 „Et ä ce point de vue (bezogen auf das Gefühl der Identität, G. B.) j'etais trfes nettement en etat d'inferiorite vis-ä-vis de mes autres connaissances. Je regrette que cette derniere phrase ne soit pas pas mieux venue. Elle meritait, qui sait, d'etre sans ambigu'iti" (frz. S. 263). Hier löst Franzens Übersetzung, die für „connaissances" gekannte' setzt und so zu einer „Unterlegenheit Morans" gegenüber seinen „Bekannten" in Beziehung auf das Gefühl der Identität kommt (S. Beckett, a.a.O. S. 366), die Ambiguität in „connaissances" (Kenntnissse, Bekannte) auf, ohne die zentrale Bedeutung, die eine wachsende Selbsterfahrung des sich zunächst selbst fremden, nach außen orientierten Moran anzeigt, aufzunehmen. 61 „ . . . j'avais de mon identity un sens plus net et vif qu'auparavant, malgre ses 1έsions intimes et les plaies dont eile se couvrait" (frz. S. 263; vgl. S. Beckett, a. a. Ο., S. 366).

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c) Die neue Selbst- und Weltbeziehung Morans nach seiner Rückkehr: Einheit mit der freien Natur und Beginn eines Aus-sich-Seins gegen alle „Autoritäten" der „Welt" Wieder angekommen in seinem Haus, das er verödet vorfindet (seine Haustiere, Bienen und Hühner, sind gestorben, der Strom abgestellt), beginnt Moran ein Leben, das durch eine neue Weltbeziehung gekennzeichnet ist. Diese war schon auf der Reise selbst parallel zu der Neugewinnung eines Selbstverhältnisses vorbereitet worden. Moran hatte nämlich am Beginn der ersten, dann als „Zusammenbruch" erlebten Annäherung an das eigentliche Selbst 62 die ihn umgebende schöne Natur betrachtend „für einen Augenblick" geglaubt, „das Schweigen zu empfinden" 63 , von dem nach einer vorausgehenden Formulierung Morans, auf die er in diesem Zusammenhang verweist, „das All erfüllt ist" und das erst „jenseits des absurden Getöses" des Redens wahrgenommen werden kann. 64 Dieses „Schweigen" bleibt in der Trilogie, wie noch gezeigt werden soll, ein der zu gewinnenden Selbstbeziehung verbundenes zentrales Motiv. Nach der Rückkehr lebt nun Moran in seinem Garten in einer neu gewonnenen Einheit mit der Natur. Seine frühere Bindung an die christliche Religion, also an eine institutionalisierte und von ihrem Gehalt her versöhnende Transzendenzvorstellung 65 , wird als endgültig aufgelöst dargestellt: Moran entgegnet dem Geistlichen, als dieser ihn besucht, „er solle nicht mehr" auf ihn „rechnen". 66 Dabei hat aber Moran nicht alle Sozialbeziehungen aufgegeben; so spricht er einmal mit Hanna, der Köchin der Nachbarn 67 . Im Gegensatz zur Zeit vor seiner Reise, in der Moran, wie bereits erwähnt, Haustiere hielt, — man kann darin den Versuch einer Einbeziehung der Natur in die Welt des sich besitzen wollenden Ichs sehen —, lebt Moran jetzt mit den .wilden Vögeln', zu denen eine Beziehung des vielleicht wechselseitigen Wiedererkennens besteht und deren „Sprache" Moran „besser zu verstehen" sucht, „ohne", wie er formuliert, die „eigene zu Hilfe zu nehmen" 68 Moran beginnt hier audi, die zunächst nicht weiter beachtete „Stimme", die er auf der Rückreise erstmals vernahm, bewußt aufzunehmen. Da in ihr eine gegen alle nur äußeren „Autoritäten" gerichtete innere Normquelle und somit 62

(Vgl. oben S. 229 ff.) Der genaue Zeitpunkt liegt vor der Ankunft des Fremden, der für Moran ein positives Selbstbild repräsentiert. ω S. Beckett, a. a. Ο., S. 312. Μ S.Beckett, a. a. 0.,S.261. 65 Moran hatte nach dem ersten Besuch Gabers, der ihn die Messe versäumen ließ, den Geistlichen des Orts, Pater Ambrosius, aufgesucht, um das Abendmahl zu empfangen. (Vgl. S. Becke«, a. a. O., S. 214 ff.) 66 S. Beckett, a. a. Ο., S. 378. 67 S.Beckett, a. a. Ο., S. 378. 68 S.Beckett,a. a. 0.,S. 379.

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

der Grund einer möglichen Selbstbestimmung (Freiheit) aufgewiesen ist, soll dieser Zusammenhang noch ausführlicher entwickelt werden. Bezogen auf sein Leben nach der Rückkehr im Garten seines Hauses schreibt Moran: „Ich habe von einer Stimme gesprochen, die mir dies oder das anbefahl. Damals begann ich, mich mit ihr zu vertragen, zu begreifen, was sie wollte. Sie bediente sich nicht der Worte, die man den kleinen Moran gelehrt und die er später seinen eigenen Sohn gelehrt hatte. Daher wußte ich anfangs nicht, was sie wollte. Aber am Ende verstand ich diese Sprache. Ich habe sie verstanden, ich verstehe sie, wenn vielleicht auch falsch. Darauf kommt es nicht an. Auf ihr Geheiß schreibe ich den Bericht." »

Drei Momente sollen dabei als bedeutsam festgehalten werden. Zunächst ist in der Stimme die Nötigung zum Bericht ins Innere verlegt, wie noch näher ausgeführt werden soll. Ferner — und darin ist ein in der Fortsetzung der Trilogie weiter entwickeltes Motiv zu sehen 70 — ist diese Stimme als ein Übermitteln von Bedeutungen jenseits der tradierbaren und lernbaren Sprachen aus dem Selbst heraus gekennzeidinet, also als Grund eines möglichen a u s s i c h s e l b s t S e i n s , so daß in ihr n i c h t internalisierte Normen gesehen werden können. Schließlich wird die Möglichkeit eingeräumt, diese Stimme „vielleicht falsch" zu verstehen, aber diese Tatsache, die sie problematisiert und ihre Absolutheit bricht, dennoch als weniger bedeutsam als die neu gewonnene Beziehung auf sie angesehen. Moran sieht in der von ihm erfahrenen Stimme in einer früh schon den Bericht unterbrechenden Reflexion, die er allerdings durch die Bemerkung, er habe „heute abend, heute morgen" etwas „mehr getrunken als sonst", und möge „morgen anderer Meinung sein" 71 , wieder relativiert, eine Quelle u n b e d i n g t e r V e r b i n d l i c h k e i t , eine i n n e r e O b j e k t i v i t ä t , die gegen das subjektiv-beliebige empirische Bewußtsein gerichtet ist.72 In ihr ist, wie durch Morans Äußerung, daß er auf ,ihr Geheiß' den Bericht schreibe, der andererseits von Youdi brieflich angefordert wird 73, schon belegt wurde, die zunächst von außen an ihn herantretende Forderung in sein Bewußtsein aufgenommen. „Und die Stimme, auf die ich höre, brauchte Gaber mir nicht erst zu übermitteln. Denn sie ist in mir und sie mahnt mich, bis ans Ende der treue Diener zu sein, der ich stets gewesen bin, Diener einer Sache, die nicht die meine ist, und ge-

» Ebd. 70 Vgl. unten S. 272 f. 71 S. Beckett, a. a. Ο., S. 284. 72 Sie setzt damit fort, daß die sie ermöglichende Selbsterfahrung gerade durch den Zusammenbruch dieses Ich freigesetzt wurde. 73 S. Beckett, a. a. Ο., S. 377.

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duldig bis zur letzten Bitterkeit und bis zum Äußersten meine Rolle zu erfüllen, ganz so, wie ich es von anderen wollte, in der Zeit meines Wollens."

74

Der eigene Wille ist also der Hingabe an diese Stimme gewichen, deren Befolgen als ,Dienst' an einer, wiewohl nur in ihm sich bekundenden, objektiven „Sache" verstanden wird, die nicht .seine' im Sinn des empirisch-willkürlich wollenden Ich ist. Dementsprechend bleibt die Haltung Morans ihr gegenüber, die er in ihrer Bedeutung für ihn „eine ziemlich doppelsinnige Stimme" („une voix assez ambigue") 7 5 nennt, widersprüchlich: E r ist dieser „treue Diener" nur „voller Haß" gegen seinen „Herrn und voller Verachtung für seine Absichten"

76

, aber er folgt ihr andererseits unbedingt:

„Und ich habe die Empfindung, daß ich midi von nun an nach ihr richten werde, was sie mir auch vorschreiben mag. Und daß ich, wenn sie verstummt und mich im Zweifel und im Dunkel läßt, warten werde, bis sie wiedererklingt, bevor ich irgend etwas unternehme, selbst wenn die ganze Welt durch den Mund ihrer unzähligen, vereinten und einstimmigen Autoritäten mir unter Androhung unbeschreiblicher Foltern dies oder jenes befiehlt." 7 7 Sie enthüllt ihm dabei eine Zukunft der Unseßhaftigkeit, das Verlassen seines Hauses und Gartens, die ihm geholfen haben, es „auszuhalten zu können, ein Mensch 211 sein"; ferner, daß die „Erinnerung" an die „sorgfältig bis zum Ende durchgeführte Arbeit" seines Berichts ihm eine Hilfe sein werde, „das lange Grauen der Freiheit und des Herumstreifens zu ertragen" 7 8 Ihre Folge ist also eine schreckliche' F r e i h e i t , die aus dem Ich selbst entspringt, andererseits aber seiner Tendenz, sich in einer gewohnten Welt zu begrenzen und zu verbergen, fremd und gefährlich ist. Aus dieser Struktur lassen sich sowohl „Haß und Verachtung" Morans für die „Absichten" dessen, dem er dient, wie auch die Hingabe verstehen, da diese ,Absichten' ihn ins Freie und Ungewisse führen und so dem berechnend planenden, sich sichern und „besitzen" wollenden Ich entgegenlaufen 7 9

Verändert wurde die Übersetzung des folgenden Abschnitts des Originaltextes: „. . . et de remplir patiemment mon röle jusque dans ses dernieres amertumes et extremites, comme je voulais, du temps de mon vouloir, que les autres fissent" (frz. S. 204; vgl. S. Beckett, a. a. Ο., S. 283). 75 Frz. S. 204; vgl. S. Bedcett, a. a. O., S. 238. 76 S. Bedcett, a. a.O.,S. 283. 7 7 S. Beckett, a. a.O.,|S.283 f. 78 S. Beckett, a. a. Ο., S. 284. 7 9 (Vgl. oben S. 228 f.) Es war gerade das Ungewisse, das Moran fürchtete und bekämpfte. Im Roman „Watt" zitiert Beckett bruchstückhaft aus Hyperions Schicksalslied: „ . . . Klippe zu Klippe geworfen Endlos ins hinab" (S. Beckett, Watt, Frankfurt 1972, S. 255; Textveränderung gegenüber dem Hölderlinschen Gedicht: „Endlos" statt „Jahr lang"; Änderung der Zeilengliederung.) 74

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

Selbstbegründung des Berichts und Offenheit des Schlusses. Die Aufhebung Berichts im Schlußsatz und die Struktur des ,Setzens und Aufhebens'

des

Der Bericht Morans ist, um einen Zusammenhang der Arbeit aufzunehmen, der später noch weiter verfolgt werden soll, insofern „Poesie der Poesie" (Fr. Schlegel), reflektierte Dichtung, als in ihm d i e B e d i n g u n g e n , d i e z u i h m f ü h r e n , m i t d a r g e s t e l l t sind. In dem Vernehmen und Verstehen der Stimme, die Moran zum Bericht auffordert, ist der Beginn eines Aus-sidb-Seins, die Beziehung zu einem Selbst, durch dessen Abwehr die vorige Existenzform bestimmt war, die sich in einem eingerichteten Lebenszusammenhang und äußeren Formen und Symbolen der Transzendenz (Kirche, Youdi, Gaber) bewegte, als Voraussetzung des Berichts in ihm selbst entwickelt. Diese neue Existenzform ist durch den Zusammenbruch der vorherigen (Beginn der Todeserfahrung) und durch eine so freigewordene, von „jeher" bestehende Selbst- und Weltbeziehung gekennzeichnet, in der Moran sich selbst, seiner „Identität", sich annähert. Am Ende des Berichts sind nun in die Darstellung des Erreichens dieser Stufe bei der Rückkehr und während seines Lebens im „Garten" in der Zeitform der Gegenwart Äußerungen des Bewußtseins eingeflochten, das Moran beim Beenden des Berichts eignet, die also den abschließenden Bewußtseinsstand charakterisieren. Sie zeigen dieses bisherige Ende der Entwicklung als S t u f e i n e i n e r o f f e n e n B e w e g u n g , nehmen dem Erreichten also allen abschlußhaften Charakter. So wird, die Vorausdeutung der „Stimme" aufnehmend, die Äußerung „Ich gehe weg" 80 zweimal wiederholt, einmal verbunden mit der Hoffnung, vielleicht Molloy zu treffen. In diesem Zusammenhang findet sich auch die Formulierung „Ich werde es nicht mehr ertragen, ein Mensch zu sein, ich werde es nicht mehr versuchen" 81, die die Deutung des Romans als ,antihuman' provozieren kann. 82 Sie muß aber im Gesamtzusammenhang zunächst des Romans selbst, dann der Trilogie und des Werks Becketts gesehen werden. Schon die unmittelbar im Text folgende Äußerung Morans, er werde nach dem Bericht die „Lampe" nicht mehr anzünden, sie „auslöschen" und in den „Garten" gehen, also an den Ort, an dem er die neue Selbst- und Weltbeziehung bewußt aufnahm 8 3 , problematisiert diese Deutung, da sie zeigt, daß es bei dieser Abwendung gerade um die Ge-

80 S. Beckett, a. a. Ο., S. 377 f. si S. Beckett, a. a. Ο., S. 378. 82 So hat G. A. Astre unter dem Titel „Humanisme de la pourriture" (Action. 7—13 mai 1951) in diesem Satz in seiner „Freimütigkeit" die „Entwertung" der „Literatur des Verfalls" (für ihn u. a. Sartre, Kafka, Joyce, Proust) gesehen. Dabei sieht er durchaus, daß in Morans Bericht in der Suche nach Molloy die Beziehung auf ein .tieferes' Selbst „Phomme profond que chacun porte en soi, et craint de couvrir" thematisiert ist. 83 Vgl. oben S. 236.

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winnung einer verbindlichen Norm im Selbst, um eine gegenüber einer scheinhaften Existenz ursprünglichere Selbst- und Weltbeziehung geht. Im Bericht Morans selbst ist diese ursprünglichere Weltbeziehung weiter dadurch bestimmt, daß Moran schon in seiner früheren Existenzform über die Unverstehbarkeit des Lebens seiner Bienen „entzückt" war. Ihr Tanz ist für ihn ein Phänomen, dem, da er es niemals meint „ergründen" zu können, seine „verständigen Überlegungen eines Menschen wider willen" „nichts anhaben können" ,84 Hier ist also der Begriff Mensch von verständiger' Welterklärung her aufgefaßt und eine Verbundenheit mit dem, was dieser unzugänglich ist, auch schon für die Zeit, in der Moran noch ,versuchte', „ein Mensch zu sein", im Entzücken bzw. in der „Freude" 85 festgehalten. Aus dem Gesamtzusammenhang der Trilogie läßt sich der Sinn des ,Nicht-mehr-Mensch-sein-Wollens' aber noch weiter deuten, insofern im „Namenlosen" eine Sphäre jenseits der Erscheinung überhaupt— dem Ort des .Lebens' der .Menschen' — als Grund des Selbst erreicht ist. Schon von Morans Bericht aus läßt sich aber sagen, daß in der negativen Formulierung Morans eine Abwendung von seinem vorherigen, von Verstand, Planen und Sich-besitzen-Wollen beherrschten Leben bezeichnet ist, der eine Hinwendung auf eine innere, objektive 86 , also nicht durch das empirische Selbst bestimmte Selbsterfahrung entspricht, für deren nicht planbaren und bestimmbaren Verlauf Moran nunmehr offen ist.87 Diese Unabgeschlossenheit der Bewegung und die Offenheit des Bewußtseins kommt auch, verbunden mit einer überraschenden Wendung, die noch interpretiert werden soll, in den letzten Sätzen des Berichts von Moran, die zugleich den Schluß des gesamten Romans bilden, zum Ausdruck. Nachdem Moran berichtet hat, daß er die Stimme ,versteht', also die Möglichkeit, aus sich selbst zu sein, genetisch entwickelt und die Stimme als zum Bericht Aufforderndes genannt hat, schließt der Bericht in den Anfang mündend und ihn gleichzeitig aufhebend: „Soll das bedeuten, daß ich jetzt freier bin? Ich weiß es nicht. Es wird sich zeigen. Dann ging ich in das Haus zurück und schrieb: „Es ist Mitternacht. Der Regen peitscht gegen die Scheiben." Es war nicht Mitternacht. Es regnete nicht." 88 Die erreichte Stufe wird also n i c h t als frei bezeichnet, selbst eine graduelle Annäherung wird nicht behauptet, diese vielmehr als Erfahrung für die Zu-

84 S.Beckett, a. a.O.,S. 365. 85 S. Beckett, a. a. Ο., S. 365. Vgl. oben S. 236. 87 Gegenpol gegen die Bedingtes setzende Kategorie des ,Verständigen', die in Morans Bericht mit dem Begriff .Mensch' verbunden ist, ist die der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck". (Vgl. unten S.241.) 88 S. Beckett, a. a. Ο., S. 379.

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kunft offengelassen, so daß g r ö ß e r e F r e i h e i t als Richtungssinn der Bewegung aber doch festgehalten ist, wie s i e ja auch in den Andeutungen der Stimme über die „Erinnerung" an die Ausarbeitung des Berichts als Hilfe, „das lange Grauen der F r e i h e i t . . . zu ertragen" 89, als Zukunft Morans genannt worden war. Durch die im obigen Zitat enthaltene Abschlußwendung, mit der der Text in den Anfang des Berichtes von Moran einmündet und die ersten Sätze negiert, ist die Struktur des S e t z e n s u n d A u f h e b e n s , die schon an Teilen des Textes aufgewiesen worden war 9 0 , potentiell auf das Ganze des Textes des Berichts bezogen. In dieser Struktur ist wieder ein über Becketts Werk hinausweisendes, für die moderne Literatur kennzeichnendes Phänomen zu sehen, das deshalb genauer analysiert und in seiner Bedeutung zu verstehen versucht werden soll. d) Dichtung als reflektierte Selbstdarstellung im Spannungsfeld von Realität und Imagination, Sein und Vorstellung Vom bisher Erarbeiteten her soll zunächst ein Ausgangspunkt für die weitere Interpretation gewonnen werden. Als Sinn und Thema des Berichts war oben schon die Aufnahme einer Bewegung auf sich selbst zu, die in ihm nicht zum Abschluß kommt, aufgewiesen worden, als seine Ermöglichung, ausgehend von der Darstellung seiner Bedingung in ihm selbst, eine veränderte Selbsterfahrung. Insofern der Bericht so seinen eigenen Ursprung mitthematisiert, wurde er mit Schlegels Begriff als ,Poesie der Poesie', als reflektierte Dichtung, bezeichnet. An seinem Ende wird der Bericht nun durch die Aufhebung seiner Anfangssätze in jedem seiner Teile als potentiell ,gesetzt' charakterisiert und damit der ,Wirklichkeit' entgegengesetzt, als i m a g i n a t i v enthüllt. Die Authentizität, die dem Bericht durch die Ich-Form der Darstellung zukam, ist ihm damit wieder entzogen; paradox wird er, der gerade die .Wirklichkeit' des Selbst entfalten soll, durch diese Aufhebung als im Gegensatz gegen das .Wirkliche' stehend, um eine Formulierung Molloys vorgreifend aufzunehmen, als .erfunden' kenntlich gemacht.91 Darüberhinaus ist aber in der Negation der 89

S. Beckett, a. a. Ο., S. 284. So ζ. Β. für die ,Instanz'; vgl. oben S. 227. 91 „Sprechen ist Erfinden" (S. Beckett, a.a.O., S. 63). Diese Bestimmung, die oft mißverstanden wird, darf nicht aus dem Textzusammenhang herausgenommen werden. Denn auch sie wird sofort wieder negiert: „Sprechen ist erfinden. Falschganz wie zu erwarten war. Man erfindet nichts, man glaubt zu erfinden, sich zu entkommen, aber man stammelt nur seine Lektion herunter, kleine Brocken einer Strafarbeit, die man gelernt und wieder vergessen hat ..." Es zeigt sich hier also dieselbe Doppelung von .erfinden' und .darstellen', die auch für Moran dem Wissen um Molloy zukam, dessen Existenz er „erfunden, ich meine fertig in meinem 90

I. Ausgangspunkt der Erfahrungsbewegung: „Molloy"

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Anfangssätze am Ende ein Resultat erreicht, das in einer Erzählung Becketts durch das in ihr sprechende Subjekt in folgender Weise gekennzeichnet wird: „Alles, was ich sage, hebt sich auf, ich werde nicht gesagt haben." 92 Von der Gestalt des Namenlosen her, für die das Nichts als dasjenige erscheint, in dem das Selbst sich gegenwärtig ist, aber auch schon von Moran aus, für den dessen Erscheinungsformen, dem „Schweigen" und der „Leere", diese Bedeutung zukommt, kann so diese Negation als Aufhebung jeder imaginativen Setzung, da sie als je einzelne das Selbst nicht trifft und deshalb wieder zurückgenommen werden muß, verstanden werden. So ist der Sinn des ,Berichtes' von Moran die Selbstfindung in einem imaginativen Zusammenhang, der andererseits von der selben Zielsetzung her wieder aufgehoben werden muß. Dies zeigt eine Beziehung zwischen Selbstfindung und ästhetischer Sphäre, die positiv und negativ zugleich ist; sie wird im Bericht — als „Poesie der Poesie" — selbst thematisiert und soll jetzt noch näher untersucht werden. Dabei wird auch in der Kategorie der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck", die Moran verwendet, der Gegenpol zur verständig-planenden und sich sichernden Existenz, der im vorherigen entwickelt worden war, noch deutlicher bestimmt.

„Zweckmäßigkeit ohne Zweck" als „ Atmosphäre" der Beziehung auf das Selbst. Die Antinomie von Schein und Existenz. Objektive Gültigkeit der Beziehung in der Relativität der Glieder Schon die erste Annäherung Morans an Molloy nach dem Besuch Gabers und der Entgegennahme des „Befehls" sich um Molloy „zu kümmern", in der er sich bewußt macht, daß Molloy ihm „kein Unbekannter" 93 ist, geschieht in einem besonderen Bewußtseinszustand. Im Bett liegend, „lang ausgestreckt, schön warm zugedeckt, im Dunkeln" und „Fern der Welt, fern ihrem Lärmen und Treiben, ihren Bissen und Stichen und ihrer grausigen Helle . . . " , bildet sich Moran, wie er formuliert, „ein Urteil über sie" und „über alle, die, wie ich, ohne Rettung in ihr untergegangen sind, und über den, den ich befreien soll, ich, der ich mich selbst nicht befreien kann." 94 Diesen weltfernen Bewußtseinszustand, in dem er sich Molloy vergegenwärtigt, bezeichnet Moran nun als eine „Atmosphäre — wie soll ich es ausdrücken — der Zweckmäßigkeit ohne Kopf vorgefunden" nannte (vgl. oben S. 228), und die, wie im folgenden genauer ausgeführt wird, für die Problematik der Darstellung des Selbst in der Trilogie charakteristisch ist. 92 S. Beckett, Erzählungen und Texte um Nichts, Frankfurt 1962, S. 34. Vgl. audi unten die Darstellung des „Schweigens" als Selbstausdruck Molloys, S. 255 f. » S. Bedke«, Molloy, a. a. 0 „ S. 240. S. Beckett, a.a.O.,S. 237 f.

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

Zweck" („finalite sans fin")95, also durch den Grundbegriii der ästhetischen Erfahrung in Kants „Kritik der Urteilskraft", der die Bewußtseinsform kennzeichnet, in der eine unbedingte Selbst- und Welterfahrung jenseits des verständigen Denkens und die Kunst als ihre Repräsentation gründet. 96 Hier wird nun die oben berührte Problematik weitergeführt, die als eine positive und negative Beziehung des Mediums der Dichtung zur Selbstfindung charakterisiert worden war. Denn Moran ,wagt' die von ihm verlangte Aufgabe nur in einer „Atmosphäre" „der Zweckmäßigkeit ohne Zweck" in Angriff zu nehmen, weil Moran und Molloy nicht in ihr „sein" können: „Denn dort, wo Molloy nicht sein konnte, Moran übrigens ebensowenig, konnte Moran sich über Molloy neigen." 97 Weil die Atmosphäre der Zweckmäßigkeit ohne Zweck im Gegensatz zur E x i s t e n z die des S c h e i n s ist 9 8 , betont Moran, daß er auf diese Weise Molloy „von Anfang an in ein Fabelwesen" verwandelt hat — in Dichtung. Obwohl die Bezugsglieder, er, Moran, selbst und Molloy, so Schein sind, glaubt Moran dennoch eine gültige B e z i e h u n g aufgebaut zu haben: „Denn soviel ich weiß, zieht die Falschheit der Werte nicht unbedingt die der Beziehung nach sich." 99 Die Atmosphäre der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck" ermöglicht so die Repräsentation des inneren Selbst, aber verwandelt es zugleich in ein der Vorstellung Angehörendes, Anderes, wobei der Sinn des Romans als Suche

« S. Beckett, a. a. 0., S. 239; frz. S. 172. Beckett hat in seinem frühen Aufsatz über Proust S c h o p e n h a u e r s Ästhetik aufgenommen und in der Befreiung der Dinge aus dem Zusammenhang des ^rundes' die Vergegenwärtigung einer absoluten Sphäre gesehen. (Vgl. Kant-Teil der Arbeit S. 83 f.) Neben der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck" erscheint, wie später dargelegt wird, auch die Antithese von ,S ρ i e 1' und . E r n s t ' (bei K a n t ,schön' und .erhaben') in der Trilogie. Im Proust-Aufsatz ist das „freie Spiel aller Fähigkeiten", in dem wieder ein Anklang an die „Kritik der Urteilskraft" liegt, mit dem „Leiden zu sein" gleichgesetzt. Schopenhauer verwendet die Kategorie der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck" nicht systematisch, obwohl seine Kunstphilosophie, für die in der Loslösung vom „Willen" und seinen Zwecken die ästhetische Erfahrung des , r e i n e n . . . S u b j e k t s d e r E r k e n n t n i s ' gründet, sachlich dasselbe intendiert. (Vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung I, besonders § 34; A. Schopenhauer, Sämtliche Werke, hrsg. v. Wolfgang Frhr. v. Löhneysen, Frankfurt 2 1968, reprogr. Nachdr. Darmstadt 1974—77, Bd. I 1974, S. 256 fi. Obgleich aus den mir zugänglichen Texten nicht belegbar, ist doch eine Übernahme der Kategorie von Kant her durch Beckett möglich; ihre Bedeutung soll aber aus der Trilogie selbst entwickelt werden. 97 S. Beckett, a. a. Ο., S. 239 f. 98 Vgl. die Bestimmung des ,Scheins' als Charakter des Ästhetischen in Zusammenhang mit der .Interesselosigkeit' des reinen ästhetischen Wohlgefallens im KantTeil der Arbeit. 99 S. Beckett, a. a. Ο., S. 340. 96

I. Ausgangspunkt der Erfahrungsbewegung: „Molloy"

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bzw. als Herstellen einer Beziehung bei der Scheinhaftigkeit der Bezugsglieder dennoch g ü l t i g ist. In „Malone stirbt" hat Beckett dieses Problem der Nichtidentität von Sein in der Vorstellung und wirklicher Existenz, das ebenfalls ein Problem moderner Kunst überhaupt ist 10°, in der Antinomie von „Spiel" und „Ernst", Bewußtseinsformen, denen das ,Sich-Geschichten-Erzählen' (Spiel) bzw. die ,formlose' Existenz (Ernst) zugeordnet sind, weiter reflektiert 101 . In dem Aufweis, daß es nur in dieser „Atmosphäre . . . der Zweckmäßigkeit ohne Zweck" gelingt, sich um Molloy zu kümmern, d. h. sich dem eigentlichen Selbst zu nähern, eine gültige Selbstbeziehung trotz der der Vorstellung verhafteten Bilder der Bezugsglieder einzugehen, ist so das .Schreiben' im Leben selbst in seiner Notwendigkeit begründet. Das .Schreiben' — wiederholt wenden sich die Figuren im ersten Roman anders als der Autor in dem folgenden, „Malone stirbt", dagegen, daß sie .Literatur' hervorbringen — ist Resultat derjenigen Bewußtseinsbewegung, in der das Subjekt auf sich zugeht. Diese vollzieht sich in einer „Atmosphäre" der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck", d. h. sie ist ohne einen g e s e t z t e n Z w e c k zu haben doch z w e c k m ä ß i g in Beziehung auf die Darstellung der Einheit des Subjekts 1 0 2 , die seine Selbstbestimmung erst ermöglicht, insofern frei und zugleich gerichtet, wenn auch nicht auf ein b e s t i m m t e s Ziel. Die Aufhebung des in dieser Bewegung Formulierten, wie sie am Schluß des Berichts in seiner Negation zum Ausdruck kam, kann so von hier aus als Rücknahme der Verwandlung des Selbst „in ein Fabelwesen" gedeutet werden, die aber als Repräsentation in der Vorstellung für eine bewußte Beziehung auf die — wie im „Namenlosen" gezeigt wird, unabbildbare —· Wirklichkeit des Selbst gleichwohl notwendig war. Allgemeine Subjektivität

als Grund der Objektivität

der Dichtung

Die doppelte Bedeutung von Relativität u n d Objektivität (allgemeine Gültigkeit, Notwendigkeit) von Morans Darstellung — und damit der Dichtung — wird im Bericht noch weiter ausgeführt. Indem Moran das ihm eigene, in seinem ,Kopf vorgefundene' Wissen über Molloy zu einem Bild zusammenfügt, wird dieser, dessen Alter als unbestimmbar, dessen Ende als „schwer vorstellbar" erscheint, als Moran möglicherweise überlebend vorgestellt: „Doch würde mein natürliches Ende, das zu erleben ich fest entschlossen war. nicht auch das seine bedeuten? Bescheiden, wie ich bin, hielt ich das nicht für sicher." «» •oo In der bildenden Kunst zeigt sich dies ζ. B. in der Sprengung des Rahmens des Bildes. 101 Vgl. unten S. 256 ff. Zur Bedeutung des Begriffs der Zweckmäßigkeit ohne Zweck' vgl. die Kantdarstellung oben S. 24 ff. iw S. Beckett, a. a. Ο., S. 244 f.

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

Damit ist die Figur Molloy, die, wie entwickelt worden war, für Moran eine ausgeklammerte ,eigentliche' Existenzform repräsentiert 104 , als Bild des Allgemeinen des Menschen selbst verstanden, zu der sich die tatsächliche, verformte Existenz — Moran — in Beziehung setzen muß, die sie, wie Morans Auftrag lautet, „befreien" 105 soll. Der Bildcharakter der Figur Molloy, also die Relativierung, die die Symbolisierung dieses Wesensbereichs mit sich bringt, wird nun dadurch betont, daß Moran von fünf und mehr „Molloys" 106 spricht. Dem Molloy seines „Innersten" steht nach Moran „die Karrikatur, die ich daraus machte", d.h. also der Molloy seiner aktuellen Vorstellung, gegenüber. Die Beziehung beider kennzeichnet Moran dadurch, daß seine Vorstellung zwar dem Molloy seines „Innersten" in wesentlichen Zügen ähnlich ist, aber als willentliche durch JHinwegnehmen' und .Hinzufügen' auch verfälscht. Ferner spricht Moran von dem Molloy Youdis, dem Gabers und schließlich von dem wahren, real existierenden Molloy, „der seinen Schatten begleitet", den er vielleicht für identisch mit dem Molloy Youdis hält, wobei auch diese Vorstellung, die die Assoziationen, die mit dem Namen Youdi verbunden sind (Jehova als Gottesname), aufnimmt, wieder problematisiert wird, da ,Youdi' „seine Ansichten mit großer Leichtigkeit ändert". Schließlich wird die Existenz ,noch anderer' hinzugefügt, die es „natürlich" gibt. Gegenüber dieser so entwickelten Problematik des Bildes wird nun aber die Objektivität der Beziehung des Empirischen aufs Allgemeine als überzeitlich gültig und als der bestimmten Form, in der sie sich vollzieht, überlegen vorgestellt. Moran faßt seine Aufgabe, wie oben bei der Rücknahme des Auftrags in die innere „Stimme" schon entwickelt worden war, als eine objektive Arbeit, die ihre „Ausführenden" hinter sich läßt, die in ihrer b e s t i m m t e n F o r m ihr gegenüber vergänglich und gleichgültig sind: „Denn was ich tat, tat ich weder für Molloy, der mir völlig gleichgültig war, noch für mich, denn ich galt mir nichts mehr, sondern ich tat es im Interesse einer Arbeit, die sich zwar ohne uns nicht erledigen ließ, die jedoch ihrem Wesen nach unpersönlich (frz. „anonyme", G . B . ) war und fortbestehen und im Geist der Menschen lebendig sein würde, wenn ihre elenden Handlanger längst verschwunden wären." 1 0 7

Hier ist also das Tun Morans, das Herstellen der Beziehung zu dem, dessen Bild Molloy ist, als ein Allgemeinstes, von den individuellen Erscheinungen, in denen es sich realisiert (vgl. oben: die Bezugsglieder der Relation), sich Unterscheidendes, „im Geist der Menschen" Fortlebendes charakterisiert, als eine

i°4 Vgl. oben S. 229. 105 S. Beckett, a. a. Ο., S. 238. 106 Vgl. dazu S. Beckett, a. a. Ο., S. 247 f. 107 s. Beckett, a. a. Ο., S. 246 f.; frz. S. 177.

I. Ausgangspunkt der Erfahrungsbewegung: „Molloy"

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„unpersönliche" bzw. ,überpersönliche'108 Arbeit, die allerdings, wie mehrfach aufgewiesen, da sie letztlich in der „Stimme" gründet, nur aus dem „Innersten" des Subjekts heraus vollzogen werden kann. Der Ursprung des Berichts und damit, da er ja Dichtung der Dichtung ist, der Ursprung gültiger Kunst ist so also in eine dem Subjekt immanente Allgemeinheit und Objektivität zurückverlagert, die von Kant her (vgl. die Kategorie der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck") als a l l g e m e i n e S u b j e k t i v i t ä t verstanden werden kann.109 Die nicht definitive Formulierbarkeit dieses Ursprungs, wie sie im vorherigen erarbeitet worden war, seine Verwandlung in ein nur ähnliches' Bild, das als V o r s t e l l u n g auch ,S c h e i n' ist, löst dabei die Bewegung aus, die schließlich in fortwährender Erneuerung von Darstellung und Kritik im „Namenlosen" endet, bzw. noch über dessen Ende hinaus als fortlaufend zu denken ist. — Von der nur vorläufigen, nie definitiven Formulierbarkeit dieses Grundes her sind auch die früheren Romane Becketts in den Moran-Teil von „Molloy" einbezogen und damit demselben Ursprung und derselben Bewegung zugeordnet. Dies geschieht dadurch, daß Moran, wenn er von seinen früheren Aufträgen' spricht, auch Titelfiguren früherer Beckettscher Romane nennt, eine Struktur, die dann aus noch darzustellenden Gründen o h n e die metaphorische Bezeichnung in „Malone stirbt" und dem „Namenlosen" weitergeführt wird: „Ich interessierte mich nicht mehr für meine Patienten, wenn der Eingriff einmal vorgenommen war . . . Oh, ich könnte Ihnen Geschichten erzählen, wenn ich in ruhiger Verfassung wäre. Welch ein Gesindel lebt in meinem Kopf, welch ein Panoptikum lebender Leichen. Murphy, Watt, Yerk, Merrier und so viele andere . . . Geschichten über Geschichten. Ich habe sie nicht erzählen können. Ich werde diese hier nicht erzählen können." 1 1 0

Wieder ist also in der Formulierung der Identität von Auftrag der Suche, die, wie oft dargelegt, Selbstsuche ist, und dichterischem Schaffen eine Differenz zwischen Erfahrung und ihrer Darstellung gemacht, wenn Moran die Unerzählbarkeit dieser „Geschichten" für sich feststellt und damit die Geschlossenheit

108 E. Franzen versucht die Einheitlichkeit von ,anonyme' und ,anonymat' im originalsprachlichen Text (vgl. das Zitat unten S. 252 f.) durch die beidesmalige Verwendung von unpersönlich' wiederzugeben. Die heftige und der Verzweiflung entspringende Religionskritik im Teil Moran des Romans Molloy zeigt, daß, wie noch genauer zu entwickeln ist, bei Beckett eine Aufhebung dieser allgemeinen Subjektivität in eine .werdende Gottheit' oder ,unendliche Ichheit' (Schlegel, vgl. oben S. 182 ff. und S. 185 ff.), deren Moment sie ist, nicht gedacht ist. In der i n n e r e n A l l g e m e i n h e i t v o n S u b j e k t i v i t ä t ist aber bei allen Differenzen ein gemeinsamer normativer Bezugspunkt beider Autoren zu sehen, da mit ihr notwendige Bedingungen von Freiheit gesetzt sind. (Vgl. dazu den Schlußabschnitt der Arbeit, S. 233 ff.) no S. Becke«, a. a. O., S. 294 f.

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

des Textes auf ein durch ihn hindurch Gemeintes hin aufhebt, das in ihm nur unzulänglich repräsentiert ist und auf das er verweist. Diese Problematik soll nach der Analyse des Ausgangspunkts der Trilogie nun in deren Entwicklung weiter verfolgt werden.

I I . Entwicklungssinn der Trilogie und Aspekte moderner Dichtung: „Molloy" Teil I und „Malone stirbt" 1. Ansatzpunkt der Interpretation Der Versuch der Arbeit ist es, am Werk Becketts Züge aufzuweisen, die über es hinaus die moderne Kunst kennzeichnen, und sie ausgehend von grundsätzlichen Überlegungen zu einer geschichtlichen literarischen Wertung normativ zu verstehen. Nach der ausführlichen Analyse des Beginns der Bewegung der Selbstsuche und der in dieser begründeten Problematik von sprachlicher Darstellung und ihrer Aufhebung im Moran-Teil von „Molloy", sollen jetzt, beginnend bei der Figur Molloy selbst bis zur Erreichung des Schlußbandes der Trilogie „Der Namenlose", der wieder ausführlicher interpretiert werden wird, lediglich umrißhaft der Fortgang und der weitere Richtungssinn der Trilogie herausgearbeitet und dabei die für die Absicht der Arbeit bedeutsamen Problemzusammenhänge genauer untersucht werden. Vorgreifend und vor dem Hintergrund der bisher Entwickelten kann man dabei die Gesamtbewegung der Trilogie als einen Prozeß immer stärkerer A u f l ö s u n g in den parallelen Formen von ,Sterben' und Reflexion, die sich immer mehr aus der Identifikation mit Weltlichem befreit, sehen, der ein immer selbstkritischeres Bewußtsein gegenüber jeder Form des sich Sehens und sich Darstellens hervorbringt und damit eine grundsätzliche Form der D i c h t u n g s k r i t i k i m M e d i u m d e r D i c h t u n g s e l b s t zur Folge hat. Dabei sollen folgende Problemzusammenhänge, die beide schon in dem Moran-Teil des Romans gegenwärtig sind, besonders herausgehoben werden: Im ersten Teil des Romans „Molloy" Molloys r a d i k a l e S p r a c h k r i t i k , die in einem Sein jenseits tradierter Bedeutungszusammenhänge gründet, und in „Malone stirbt" die Weiterentwicklung des Problems von W i r k l i c h k e i t u n d D a r s t e l l u n g im „ S c h e i n " , das dort in der Antithese von „Ernst" und „Spiel" aufgenommen wird.

II. „Molloy" Teil I und „Malone stirbt"

247

2. „Molloy" (Teil I) a) Lebensjenseitiger Standpunkt und Selbstgericht. Die Problematik des ,Wissens' Morans Reise zur Suche nach Molloy, wie interpretiert wurde, eine Suche nach dem allgemeinen, überindividuellen Selbst, war von Passagen am Friedhof seines Dorfs, auf dem sich Moran eine Grabstelle erworben hatte, beim Aufbruch und bei der Rückkehr eingerahmt. Moran folgt dabei einem Weg, der sich, am Friedhof entlang führend, unter dessen Niveau senkt, so daß man auf ihm „tiefer, als die Toten liegen" 1 1 1 geht. Dieser Begegnung und Antizipation des Todes vor der Rückkehr in sein Haus — sie wird dadurch bestätigt, daß Moran bei der Schilderung der Ausreise hinzufügt „Manchmal lächelte ich, als sei ich schon tot" 1 1 2 — entsprachen im Bericht selbst das Aufgeben des sich besitzen Wollens, das Altern, die Selbsterfahrung als „Eintagsfliege", die symbolisierte Selbsttötung in der Tötung des ihm ähnelnden Fremden, deren der zweite, das positive Selbst symbolisierende Fremde verdächtigt wird. 113 Im Teil I des Romans, Molloys Bericht, ist dieses Eindringen der Todeserfahrung noch verstärkt. Daß es Molloys eigentlicher Wunsch war, von dem zu schreiben, was ihm zu tun bleibt, „Abschied nehmen, aufhören zu sterben", war schon zitiert worden. 114 So bezeichnet sich Molloy auch in einer seinen Bericht unterbrechenden Reflexion als „nicht mehr" gebend' und sein Schreiben als dadurch ermöglichtes „Selbstgericht" dieses Lebens, wobei diese Vorstellung in für die Trilogie charakteristischer Weise wieder problematisiert wird. Die Reflexion nimmt dabei von einer durch die Polizei monierten Handlung Molloys, die er im Bericht beschreibt — er hatte sich nach der Einfahrt in seine Stadt in offenbar störender Weise auf seinem Fahrrad ausgeruht 115 — ihren Ausgang und bleibt rein äußerlich im Rahmen ähnlicher .Verfehlungen', an denen aber ein Allgemeines sichtbar gemacht wird. Sie bringt nun ironisch seine ,Manieren', von Molloy umrissen durch die Formulierung „wenn ich mich immer wie ein Schwein benommen habe" 1 1 6 , mit dem Fehlen einer „„vernünftig aufgebauten Theorie" in Zusammenhang, die zeigen würde, wie man „ohne sich selbst zu betrügen" von den „Prinzipien" zu den „guten Manieren" übergehen kann. Er sieht den Grund seines Verhaltens also in mangelndem Wissen, nicht in fehlendem Wol-

S. Beckett, a.a.O.,S. 289. Π2 S. Beckett, a. a. Ο., S. 290. "3 Vgl. oben Anm. 231 zu S. 45. 1 1 4 Vgl. oben S. 225. Π5 S. Beckett, a. a. Ο., S. 36 £Ε. S.Beckett, a. a.O.,S.48. 111

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

len, da er von dem „gesteigerten guten Willen der Verängstigten im Überfluß" besaß.117 Molloy führt dann weiter aus: „Doch erst, seit ich nicht mehr lebe, denke ich an solche und andere Dinge. In der Stille, in der meine langsame Auflösung sich vollzieht, schaue ich zurück auf die lange, wilde Erregung, aus der mein Leben bestanden hat, und halte Gericht darüber, so wie geschrieben steht, daß Gott über uns Gericht halten wird und mit der gleichen Anmaßung." 118 Das dem Leben Entrücktsein ermöglicht so eine Beurteilung des Lebens, die nicht von dessen Interessen verblendet ist. Entsprechend war ja schon die Bewegung Morans auf sich selbst zu von der Todeserfahrung gekennzeichnet gewesen, wie sich audi der Aufbau der Beziehung zum eigentlichen Selbst' in der — nicht durch Interessen bestimmten — Atmosphäre der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck" und „fern der Welt" vollzogen hatte. Mit den letzten Worten des zitierten Textes, die zugleich die christliche Vorstellung des gerechten Gerichts zerstören, ist aber die Möglichkeit eines solchen Selbstgerichts, das den Sinn von Molloys Erinnerungsbericht ausmacht, die Möglichkeit der Einnahme eines solchen absoluten Punktes, der, um es zu beurteilen, außerhalb des Lebens liegen müßte, wieder problematisiert. Der Text fährt, indem er einen darauf bezogenen, vermuteten Einwand des Lesers aufnimmt und teilweise entkräftet, unmittelbar fort: „Sichauflösen, audi das ist Leben, ich weiß, ich weiß, ermüden Sie midi nicht damit, a b e r m a n i s t n i c h t i m m e r g a n z d a b e i b e t e i l i g t . Im übrigen werde ich vielleicht die Güte haben, Sie eines Tages auch von diesem Leben zu unterhalten, an dem Tage, an dem ich wissen werde, d a ß , während ich zu w i s s e n glaubte, ich nur e x i s t i e r t e ; daß mein unaufhörliches gesichtsloses Leiden mich am Ende bis auf mein eifriges Fleisch verzehrt haben wird; und daß ich, wenn ich dies weiß, nichts weiß, daß ich nur schreie, wie ich immer nur geschrieen habe, lauter oder leiser, insgeheim oder ganz ohne Scham." 119 „Leben" und „existieren" einerseits und „wissen" andererseits sind also entgegengesetzt, so daß alle Rede Molloys nur ,Schrei', bewußtloser Ausdruck von Leiden, nicht wissendes Urteil sein könnte, wobei — wie in der Trilogie noch weiter entwickelt wird ·— im zuweilen ,nicht ganz Beteiligtsein' doch die Möglichkeit der Distanzierung liegt.120 Dabei ist aber gleichzeitig an der möglichen uz ;)£t pour ce qui est de la bonne volonte, j'en debordais de la bonne volonte exasperee des anxieux" (frz. S. 35; vgl. S. Beckett, a. a. Ο., S. 48.). "8 S. Beckett, a. a.O., S.49. H9 S. Beckett, a. a. O., S. 49 (Hervorhebungen G. B.). Frz. „... mais on n'y est pas toujours tout entier" (frz. S. 36). Die französische Fassung ist bedeutsam, weil sich aus ihr eine Korrespondenz zzu dem weiteren Text der Trilogie ergibt, in dem ,fern sein', ^Abwesenheit' (.absence') im Gegensatz zu ,hier-' bzw. ,da sein' entscheidende Motive sind.

II. „Molloy" Teil I und „Malone stirbt"

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Scheinhaftigkeit solchen Wissens festgehalten und auf die Fortsetzung der Trilogie in „Malone stirbt" vorausgedeutet. Ihre Notwendigkeit ist als verbunden mit der Einsicht aufgewiesen, daß das in Molloys Erinnerungsbericht gelegene Wissen als Grundlage des Selbstgerichts tatsächlich noch Lebensausdruck ist, noch nicht das ,Wissen' von dem, was er in einem normativen Sinne ,ist', darstellt.121 Der Beginn von „Malone stirbt" nimmt dies auf, insofern, wie noch eingehender gezeigt werden soll, der sich „Malone" Nennende, „eine andere Art von Geschichten" erzählen, nicht mehr, wie er formuliert, über sich selbst „lügen" will und tatsächlich die Ich-Form der Geschichte aufgibt. 122 Es charakterisiert darüberhinaus die Trilogie insgesamt, daß sie eine positive Formulierung solchen Wissens nicht enthält, wohl aber eine nicht in distanzierender Form realisierbare positive Selbsterfahrung aufzeigt, die das Motiv des .Sterbens' und ,nicht Beteiligtseins' in dem der ,Abwesenheit' fortsetzt und als „Schweigen" den eine universelle Kritik aller „Lüge" ermöglichenden Grund darstellt. b) Vorbegriffliche Selbst- und Welterfahrung als Grund der Sprachkritik. Künstlerische Form und Chaos Der Bericht Molloys kann im Rahmen der Arbeit nicht in seiner Ganzheit, seiner Folge und den komplizierten Verweisungszusammenhängen seiner Bildlichkeit interpretiert werden. 123 Statt dessen soll, wie aus der Intention der Arbeit bereits begründet, ein Aspekt, der über Becketts Werk hinaus Bedeutung für die moderne Literatur hat, die r a d i k a l e S p r a c h k r i t i k Molloys und 121 Vgl. d a z u schon die Äußerung Morans in Beziehung auf die Verwendung des Präsens in seinem Bericht, das er für noch jetzt Gültiges einsetzen will und das von daher problematisch ist: „Denn meistens bin ich nicht sicher, vielleicht ist es nicht mehr so, ich weiß noch nicht, weiß überhaupt nicht, werde vielleicht niemals wissen" (S.Beckett, a.a.Ο., S. 227). — Man kann darin dasjenige V e r b l e i b e n i n e i n e m e n d l i c h e n B e w u ß t s e i n — gegenüber einem absoluten Wissen — sehen, das die Unabschließbarkeit der Trilogie bedingt. Entsprechend formuliert Molloy in einem anderen Zusammenhang: „Nur für das Ganze scheint es keine Zauberformel zu geben. Vielleicht gibt es aber audi kein Ganzes oder erst nach dem Tode" (S. Beckett, a. a. Ο., S. 53). 122 Vgl. dazu unten S. 256 if. 123 Er beinhaltet einen Aufbruch Molloys, ein von immer neuen Impulsen, seine „Mutter" aufzusuchen, begleitetes sich seiner Stadt Nähern und sich Entfernen von ihr; währenddessen verfällt er physisch immer mehr, so daß er schließlich kriechend in Sichtweite seiner Stadt gelangt, wo er endlich „bleiben" kann. Seine jetzige Anwesenheit im Zimmer seiner toten Mutter erklärt er durch die Hilfe Dritter, möglicherweise durch die des ihn in Beziehung auf sein Schreiben besuchenden Mannes, in dem Morans .Instanz', deren ,gesetzter* Charakter schon oben (vgl. S. 227 f.) aufgewiesen worden war, fortgeführt ist. — L. J a η -

250

Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahiung

der Zerfall der Beziehung zur Sprache verfolgt und ihr Grund in der Öffnung für ein vorbegriffliches, vorsprachliches und nicht bewertendes Selbst- und Welterleben, also in der Gewinnung einer ursprünglicheren Dimension

vor

der schon .gedeuteten' Welt, aufgewiesen werden. Molloy faßt seine Sprachkritik, die den gesamten Bericht begleitet, gegen Ende in einem großartigen Abschnitt seines Berichts zusammen, der, weil sich in ihm wieder die nur approximative Erfassung der Realität in der künstlerischsprachlichen Darstellung zeigt, ausführlich zitiert werden soll. Zunächst beschreibt Molloy seinen Gebrauch sprachlicher Formen auf folgende Weise: „Oh, ich habe mir das nicht in so klaren Worten gedacht. Und wenn ich sage „ich sagte mir usw.", meine ich nur: ich ahnte, daß es so war, ohne genau zu wissen, um was es sich handelte. Und jedesmal, wenn ich sage, „ich sagte mir das", und wenn ich von einer inneren Stimme spreche, die mir sagte „Molloy . . . " , mit einem schönen, mehr oder weniger klaren und einfachen Satz dahinter, oder wenn ich midi gezwungen sehe, Dritten verständliche Worte zuzuschreiben, oder wenn für die Ohren eines anderen in einigermaßen schicklicher Form artikulierte Laute aus meinem eigenen Mund herauskommen, so füge ich mich nur den Forderungen einer Konvention, die verlangt, daß man lügt oder den Mund hält. Denn die Dinge haben sich ganz anders zugetragen." 1 2 4 Molloy versucht nun darzustellen, wie sich die Dinge „in Wirklichkeit" „zugetragen" haben, also auf die vor der traditionellen Sprache liegende ursprüngliche Erfahrung zurückzugehen und diese auszudrücken, wobei, wie gleich noch zitiert werden soll, diese Versuche nach ihrer Formulierung wieder relativiert werden. „In Wirklichkeit sagte ich mir überhaupt nichts, aber ich vernahm ein Raunen, irgendeine Veränderung im Schweigen, und ich lauschte, ganz wie ein Tier, stelle ich vor, das zusammenfährt und sich totstellt. Und manchmal dämmerte in mir

v i e r sieht in dem die Reise Molloys immer wieder von neuem bestimmenden „Imperativ" (in dem die .Stimme' aus Moran wieder erscheint), die Mutter aufzusuchen — wie Molloy formuliert, hat dieser Imperativ bereits sein ganzes Leben bestimmt — , den Versuch zum Ursprung zurückzukehren. So äußert Molloy auch, er müsse hier beginnen, wenn er einen „Sinn" in seinem Leben finden wolle. Die im Text belegbare Übernahme der Rolle seines Vaters in der Beziehung zur Mutter versteht Janvier als den Versuch, gegenüber dem natürlichen Abhängigsein (Erzeugimg durch den Vater) symbolisch ein Durdi-sich-selbst-Sein zu realisieren, was der Gesamtkonzeption der Trilogie entspricht. Er weist ferner daraufhin, daß auf die Rückkehr zum Zimmer der Mutter in „Molloy" in „Malone stirbt" das Problem des .geboren Werdens' folgt. L. Janvier, Beckett par lui meme, Paris 1969, S. 122 ff. So hat Beckett audi die Problemsituation, die die ständige Selbstsuche bedingt, im Roman „Watt" in dem nicht mehr in den Roman eingearbeiteten „Material", das ihm unter dem Titel „Addenda" angefügt ist, als „nie richtig geboren zu sein" (S. Beckett, Watt, a. a. O., S. 263 u. 264) charakterisiert. S. Beckett, a. a. Ο., S. 188 f.

II. „Molloy" Teil I und „Malone stirbt"

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dann eine Art von Bewußtsein, was ich durch die Worte ausdrückte „Ich sagte mir usw." oder „Molloy, tue es nicht!" oder „Ist das der Name Ihrer Mutter, sagte der Kommissar", ich zitiere aus dem Gedächtnis." 125 Nach der Fortsetzung dieses Versuchs der Beschreibung, in dem die Entstehung solcher Bedeutungen im Bewußtsein aus dessen Immanenz in den Gesamtzusammenhang des Universums im Bild der „Galileischen Röhren" zurückverlagert wird 126 , formuliert nun Molloy die Rücknahme: „ . . . und ich könnte sie ohne Zweifel anders und besser ausdrücken, wenn ich mir Mühe gäbe. Und eines Tages werde ich sie vielleicht besser ausdrücken, wenn die Mühe mich weniger schreckt als heute. Aber ich glaube nicht.127 Der Prozeß der sprachlichen Aufnahme der Erfahrung ist dabei zwar als bezogen auf diese selbst gesehen; die erfahrene Wirklichkeit ist aber, wie die Möglichkeit besserer Formulierung zeigt, nicht ganz in den sprachlichen Ausdruck eingebracht und hebt sich gerade durch den zurückgenommenen Versuch der Formulierung als ,anders' ab. Hier ist im Formen und Zurücknehmen der Formung ein Bewußtsein realisiert, für das der Schein einer Deutbarkeit der Erfahrung aufgehoben ist und das Malone als das „im Unfaßbaren zu leben" 128 charakterisieren wird. Losgelöst vom interpretierten Textzusammenhang, der aber als Beispiel für das Gemeinte gelten kann, hat Beckett diese Doppelung von Formulierung und Aufhebung des Formulierten in der Forderung einer k ü n s t l e r i s c h e n Form, die Form und Chaos b e i n h a l t e t , verdeutlicht.129 12

5 S. Beckett, a. a. Ο., S. 189. 126 Das ,dämmernde' Bewußtsein des letzten Zitats als Ursprung einer sprachlichen Form aufnehmend fährt der Text unmittelbar fort: „Oder ich drücke es (dieses Bewußtsein, G. B.) aus, ohne dabei so tief zu sinken wie in der oratio recta, indem ich andere, genau so lügnerische Sprachfiguren gebrauche, wie zum Beispiel „Es schien mir, daß usw." oder „Ich hatte den Endruck, daß usw.", denn mir schien nicht das geringste, und ich hatte keinerlei Eindruck irgendwelcher Art, sondern es hatte sich einfach irgendwo etwas geändert, was bewirkte, daß ich mich auch ändern mußte, oder daß die Welt sich audi ändern mußte, damit nichts geändert würde. Und diese kleinen ausgleichenden Vorgänge — wie zwischen den . . . Galileischen Röhren — kann ich nur ausdrücken, indem ich zum Beispiel sage „Ich fürchtete, daß" oder „Ich hoffte, daß" oder „Ist das der Name Ihrer Mutter, sagte der Kommissar ..." (S.Beckett, a.a.O., S. 189f.) Die Entstehung einer Bedeutung ist so als ,Entsprechen' aus der isolierten Subjektivität herausgenommen, wobei dieses Entsprechen den Sinn hat ,abzugleichen', „damit nichts geändert würde". 127 S. Beckett, a. a. Ο., S. 190. 128 S. Beckett, Malone stirbt, a. a. O., S. 14. 129 In seinem Interview mit Tom F. Driver geht Beckett vom Chaos (im französischen Text ,gächis', eigentlich Mörtel, von da aus Schmutz, Schlamm, Zerbrochenes und Zerstörtes, im übertragenen Sinn Durcheinander, Unordnung, und .desordre', ,con-

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

Die Öffnung für eine ursprünglichere Erfahrung innerer und äußerer Wirklichkeit, die der Sprachkritik Molloys und seiner Destruktion sprachlicher Formen positiv zugrundeliegt, wird im Bericht selbst in der Beschreibung, die Molloy von seinem Erleben gibt, weiter ausgeführt. Dieses ist nämlich dadurch im allgemeinen charakterisiert, daß es sich in einer Dimension v o r aller b e s t i m m t e n B e d e u t u n g bewegt. Molloy kennzeichnet sein Erleben in der Sprachferne, die es auszeichnet, durch einen Begriff, der im Moran-Teil des Romans schon für die „Arbeit" der Erstellung einer objektiv gültigen, der Individualität der vorgestellten Bezugsglieder überlegenen B e z i e h u n g des empirischen zum eigentlichen Selbst im Schreiben des ,Berichts' verwendet worden war, durch den des . A n o n y men': „Ich hatte mich seit langem der Sprache so entfremdet (wörtlich: es war so lange, daß ich fern der Wörter lebte, G. B.), verstehen Sie, daß ich zum Beispiel nur meine Stadt — wenn sie es wirklich war — zu erblicken brauchte, um nicht imstande zu sein, Sie verstehen (nicht imstande zu sein, ihren N a m e n zu nennen, G. B.) . . . Ebenso umgab sich die Empfindung meiner selbst (frz. „de ma personne", G.B.) mit einer u n p e r s ö n l i c h e n S c h i c h t , (frz. „anonymat", Anonymität, G.B.) die oft kaum zu durchbrechen war, wie wir gesehen haben, glaube ich.130 Und so verhielt es sich mit all den anderen Dingen, die Spott mit meinen Sinnen trieben. Ja, sogar in jener Epoche meines Lebens, als schon

130

fusion') als einer g e g e b e n e n V o r a u s s e t z u n g aus. Es .eindringen zu lassen' ist für Beckett der Weg zur Erneuerung; dabei muß seine .Unverständlichkeit' beibehalten werden: „Die einzige Chance einer Erneuerung besteht darin, die Augen zu öffnen und das Chaos zu sehen. Es ist kein Chaos das man verstehen könnte. Ich habe vorgeschlagen, daß man es herein lasse, weil es die Wahrheit ist." In diesem Zusammenhang wird die Formkonzeption, die für Becketts Werk und darüberhinaus für m o d e r n e K u n s t konstitutiv ist, begründet: „Das, was ich sage, bedeutet nicht, daß es von nun an keine Form mehr gebe. Es bedeutet nur, daß es eine neue Form gibt und daß die neue Form so ist, daß sie das Chaos (.desordre') zuläßt und nicht behauptet, es sei im Grunde etwas anderes . . . Eine Form zu finden, die das Chaos aufnimmt, das ist heute die Aufgabe des Künstlers . . ( Z i t i e r t bei Pierre Melese, Samuel Beckett, a. a. O., S. 138 f.; Übersetzung G. B.) — Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang, daß für Schlegel die „Unverständlichkeit", wie für Kant und von ihm ausgehend Schiller und Schelling das Chaos, die Aufhebung der Gültigkeit der verständigen Welterfahrung, die die Welt in einen endlichen Zusammenhang verwandelt, darstellt. Molloy spielt hier auf einen Vorgang an, in dem er, nach seinem schon erwähnten ,Vergehen' auf die Polizeidienststelle mitgeführt, sich seines Familiennamens nicht mehr entsinnt und dieser ihm erst in Zusammenhang mit der „Erinnerung an längst entschwundene Zeiten" (S. Beckett, a. a. O., S. 48), in denen er sich noch setzen konnte, beim Wunsch sich niederzulassen — was ihm jetzt wegen seines Beins unmöglich ist — wieder einfällt.

II. „Molloy" Teil I und „Malone stirbt"

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alles sich verwischte, Wellen und Partikel, war das Wesen des Objekts, ohne Namen zu sein und umgekehrt." 131 Die Erfahrung Molloys ist also durch ein sich selbst und der benannten Welt fremd Werden, eine Trennung von Ding und Bedeutung (in Beziehung auf ihn selbst, seine Heimatstadt, das Objekt überhaupt), gekennzeichnet 132 . Audi darin ist ein Moment zu sehen, das der modernen Literatur seit ihrem Beginn eigen ist (Hofmannsthal Chandos-Brief; Rilke, Trakl) und das deshalb weiter verfolgt werden soll. — Beckett hat diesen Vorgang des sich Ablösens der Namen ganz detailliert in seinem Roman „W a 11" entwickelt. Er ist hier von einem gesteigerten Bewußtsein des so von den aufgesetzten Bedeutungen befreiten und „unaussprechlich" gewordenen 133 Realen begleitet. Auch ist dieser Ablösungsvorgang ebenso wie in „Molloy" auf die Titelfigur des Romans, auf Watt selbst, dem die Bezeichnung .Mensch' für sich fragwürdig wird und der sich „ebensogut für eine Schachtel oder Urne" 134 gehalten hätte, wie auf die umgebende Welt bezogen. Hier ist auch der Zusammenhang dieser Loslösung mit der Bewegung auf sich selbst zu deutlich gemacht, in der Watt „die Wiederherstellung der Dinge und seiner selbst in ihrer relativen Harmlosigkeit" immer weniger wünscht und seine „Verlassenheit" von Bedeutungen fast mit „Genugtuung" betrachten kann. 135 In Beziehung auf alltägliche Vorgänge, die sich in Knotts Haus, in dem Watt sich befindet, ereignen — ein Klavierstimmen —, führt das sich Entziehen des Wirklichen gegenüber allen Deutungsversuchen zu der Einsicht, „weder über sie nachdenken noch über sie sprechen", sondern sie „nur ertragen" zu können. 136 Zu dieser von allen Bedeutungen befreiten Realität gelingt es Watt, im „Ertragen" eine positive Beziehung zu gewinnen: „Watt lernte gegen Ende seines Aufenthalts in Mr. Knotts Haus einzusehen, daß nichts geschehen war, daß ein Nichts geschehen war, er lernte es zu ertragen und sogar, es schüchtern liebzugewinnen." 137

131

S. Beckett, a. a. Ο., S. 62 f. (Hervorhebung G. B.). Die fraglichen Passagen des Zitats lauten im Originaltext: „II y avait si longtemps que je vivais loin des mots ..." und: „De meme la sensation de ma personne s'enveloppait d'un a n o n y m s t souvent difficile ä percer ..." (frz. S. 45, Hervorhebung G. B.). 132 Dies ist aber nicht gleichbedeutend mit Orientierungslosigkeit. So berichtet Molloy, daß er die Adresse seiner Mutter, die er in der Stadt sucht, nicht kennt, die Wohnung aber „selbst in der Dunkelhheit" finden würde (S. Beckett, a. a. Ο., S. 41). 133 S. Beckett, Watt, a. a. O., S. 87. 134 S.Beckett, a. a.O., S.85. 133 S. Beckett, a. a. O., S. 86. 136 S.BeckettU· a. O., S. 80. ™ S. Beckett, a. a. O., S. 81.

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

In dem ,Nichts' des Ereignisses ist also dessen sich allem Deuten Entziehen, seine gänzliche Unbestimmbarkeit gemeint — ein Motiv, das bezogen auf das eigentliche Selbst' im „Namenlosen" wieder aufgenommen wird 1 3 8 —, in seinem . E r t r a g e n * und , l i e b g e w i n n e n ' eine durch Abwehr aller die .relative Harmlosigkeit' wieder herstellenden Deutungsversuche positive und als .Leiden' gekennzeichnete Selbst- und Weltbeziehung. Auch aus diesem Zusammenhang ist also die „Anonymität" des Erlebens von Molloy, wie für den Begriff des .Anonymen' schon an Morans durch ihn bezeichneter .Arbeit' des Schreibens seines Berichts entwickelt, als eine objektivere, hinter die individuell bzw. gesellschaftlich gesetzten, die Realität verstellenden Bedeutungen zurückgehende Erfahrung zu verstehen, die eine .Entfremdung' also nur von dem, was n i c h t er selbst ist, darstellt. Audi in „Molloy" steht dem Herausgetretensein aus der Welt der ,Namen' ein gesteigertes Wahrnehmen des von den Bedeutungen befreiten Realen gegenüber. In der Reflexion eines Vorfalls — Molloy hatte die Worte „Einigen Dank", die ein Junge, dessen Murmel er aufgehoben hatte, ihm zusprach, ausnahmsweise „blitzartig" verstanden — charakterisiert Molloy sein Hören: „Das heißt nicht, daß ich schwerhörig gewesen wäre, denn ich hatte ein ziemlich gutes Gehör, und Geräusche, mit denen sich kein klar bestimmter Sinn verband, vernahm ich vielleicht besser als irgendeiner. Um was handelte es sich also? Vielleicht um eine Schwäche meines Auffassungsvermögens, das erst nach mehrfachem Anklopfen einen Widerhall gab, oder das möglicherweise einen Widerhall gab, aber auf einer niedrigeren Stufe als die Urteilskraft, wenn sich das begreifen läßt . . . " υ »

Die Unbestimmtheit kennzeichnet also wieder dasjenige, für das die Erfahrung Molloys geöffnet ist; die Eindrücke werden vor der Stufe der Urteilskraft aufgenommen und nicht zum Urteil, in dem sie unter Verstandeskategorien gedeutet, geordnet und beherrscht würden, weiterverarbeitet. Molloy erscheinen so die .Worte', die er in Gesprächen hört, beim ersten- zweiten- „und oft sogar beim drittenmal, als reine Laute, die kein Sinn belastete" 14°, und seine eigenen Worte, die „fast immer" ,geistiger Anstrengung' entspringen, kommen ihm oft vor „wie das Gesumme von Insekten", so daß eine Verständigung „viel Geduld" erfordert.141 — Denselben Sachverhalt beschreibt Molloy für das Sehen: „Und auch mein Auge — das gute — schien mit den Spinnweben des Denkens nur schlecht verbunden zu sein, denn für das, was sich oft sehr deutlich darin

138 Vgl. unten S. 273 ff. 139 S. Beckett, Molloy, a. a. O., S. 103 f. 1 « S. Beckett, a. a. Ο., S. 104. Hl Ebd.

II. „Molloy" Teil I und „Malone stirbt"

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widerspiegelte, konnte ich schwer eine Bezeichnung finden. Und wenn ich audi nicht so weit gehen will, zu sagen, daß ich ein umgekehrtes Bild der Welt gesehen hätte (das wäre zu einfach), so sah ich sie doch ganz zweifellos in übertriebener Weise auf ihre Form hin an, ohne deswegen im geringsten ein Ästhet oder Künstler zu sein." 142 Der ironische Abweis des Schlusses hat dabei die Aufgabe, die A l l g e m e i n h e i t dessen, was gemeint ist, zu erhalten und damit auch — ein Thema der Trilogie insgesamt — den Ursprung der Kunst im Leben selbst aufzudecken; denn die ästhetische Erfahrung, die ja vor ihrer Repräsentation in der Kunst und vor der speziellen Haltung des Ästheten ein allgemeines Phänomen des Lebens darstellt, ist, wie aufgewiesen wurde, durch Vorbegrifflichkeit und Formbezogenheit gekennzeichnet.143 Wie für das Hören „reine Laute, die kein Sinn belastet", ist also auch hier für das Sehen das Bedeutungslose, die „Form", der Bezugspunkt der Molloyschen Wahrnehmung. Dieselbe Bedeutungsferne zeigt Molloy schließlich noch an seiner Geruchs- und Geschmackserfahrung auf, die frei davon ist, ihre Gegenstände zu identifizieren und zu bewerten, die die Phänomene als individuelle aufnimmt: „Und wenn ich es recht bedenke, so stand es um meine Versuche auf den Gebieten des Geschmacks und Geruchs nicht viel besser, ich roch und schmeckte, ohne genau zu wissen was, ja nicht einmal ob es gut oder schlecht war, und selten roch und schmeckte ich zweimal hintereinander die gleiche Sache." 144 In Molloys sich Aussetzen und Ertragen einer nicht durch Ordnung und Bewertung reduzierten Wirklichkeit, gegenüber der das Bewußtsein aufgehört hat, sich durch Identifikationen zu sichern, ist also die „Anonymität" seiner Erfahrung, und das Leben „fern der Wörter" gelegen, von dem seine Sprachkritik ausgeht. Dieser Erfahrung des Unbestimmbaren und Unaussprechlichen der Realität korrespondiert — ein Motiv, das in der Analyse des Moran-Teils des Romans schon in Zusammenhang mit dem Wissen von sich selbst gesehen worden war und das von diesem Wissen her für den Namenlosen zentral sein wird — die Ablehnung der Sprache und Rede als möglicher Selbstausdruck. An dem dies belegenden Text, der wieder ausführlich zitiert werden soll, zeigt sich im Ursprung des .Schweigens' und Verstummens aus Wahrheitstrieb noch einmal die für die Selbstfindung p o s i t i v e Bedeutung dieses Verlassens der sprachlichen Welt. Im Zusammenhang einer Episode, in der Molloy einer Frau,

1« S.Beckett,a. a.Ο.,S. 104f. i+3 Vgl. den Kant-Teil der Arbeit. 144 S. Beckett, a. a.O.,S. 105.

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

Lousse, erklärt, ihrer nicht zu bedürfen, führt er, da er andererseits doch seiner Mutter bedarf, aus: „Hier liegt einer der Gründe, warum ich das Reden soviel wie möglich vermeide. Denn ich sage immer entweder zu viel oder zu wenig, und das schmerzt mich, derart bin ich auf die Wahrheit versessen (tellement je suis epris de verite; die ,Wahrheit* ist das ihn Einnehmende, G. B.). . . . zu der Zeit, als ich noch sprach, ist es mir oft passiert, daß ich zuviel gesagt habe, während ich glaubte, zu wenig gesagt zu haben, und daß ich zu wenig gesagt habe, während ich glaubte, zu viel gesagt zu haben. Ich will sagen, daß bei nachdenklicher Betrachtung, vielmehr mit der Zeit, mein übermäßiges Reden sich als lauter Armut enthüllte und umgekehrt. . . . Anders ausgedrückt: was ich auch sagen mochte, es war nie genug, nie wenig genug. Ich schwieg nicht, das war es; was ich auch sagte, ich schwieg nicht. Himmlische Analyse. Möge sie euch helfen, euch zu erkennen, und damit alle euresgleichen, falls ihr solche Leute kennt." 145 Wie einleitend in diesem Abschnitt gezeigt wurde 146, ist dieses „Schweigen" aber nur durch Rede, d. h. — wie Beckett eine Form forderte, die Form und Chaos verbindet — durch Formulierung und ihre Destruktion erreichbar. Dieser Wechsel von Position und Negation, Darstellung und ihrer Kritik, der die Grundstruktur von Becketts Dichtung ausmacht und der schon in dem Morans Bericht gewidmeten Teil der Arbeit in Beziehung auf das undarstellbare Selbst gesehen worden war, soll anschließend vom „Namenlosen" her noch genauer interpretiert werden. Zunächst soll aber noch die weitere Reflexion der Problematik von wirklicher Existenz und Sein in der Vorstellung, eigentlichem Selbst und seiner Darstellung, im zweiten Roman der Trilogie, „Malone stirbt", verfolgt werden. 3. „Malone stirbt": Erscheinungsselbst und unvorstellbarer Grund des Selbst a) Die Entgegensetzung von „Spiel" und „Ernst" Der Beziehung von Selbstsuche und ästhetischer Sphäre war im Roman „Molloy" bereits nachgegangen worden. In „Malone stirbt" wird sie nun, entsprechend der Gesamtbewegung der Trilogie, die mit Schlegel eine „Geschichte des Bewußtseins" genannt wurde, in einer höheren Reflexionsstufe wiederaufgenommen. Der Roman, der ähnlich den Teilen I und II des Bandes „Molloy" wieder durch identische Details mit dem vorhergehenden, „Molloy", verknüpft ist — so befindet sich im Besitz der Gestalt, in der sich Malone selbst darstellt ein 145 S. Becke«, a. a. O., S. 68 f.; frz. S. 50. H6 Vgl. oben S. 250 f.

II. „Molloy" Teil I und „Malone stirbt"

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.silbernes Messerbänkchen', Molloy hatte ein solches an sich genommen — soll wieder nicht als ganzer detailliert interpretiert werden, es soll aber sein T h e m a und die B e w u ß t s e i n s s t u f e , die ihn und die Neuaufnahme der Problematik wirkliches Selbst und seine Repräsentation bedingt, umrissen werden. Auf beide war, wie bereits gezeigt wurde, im Roman „Molloy" schon vorausgewiesen worden. So kündigte sich dort das T h e m a des neuen Romans darin an, daß Molloy nach Anweisung der ,Instanz' erst „später" von dem sprechen sollte, „was ihm übrigbleibt", „Abschied nehmen, aufhören zu sterben" ,147 Die ihn kennzeichnende R e f l e x i o n s s t u f e war im vorherigen Roman als diejenige angegeben, für die sich das Bewußtsein, das Molloys Selbstgericht zugrundelag, nicht als „Wissen" sondern als „Existieren" erweist; sie war als Bedingung dafür genannt worden, daß Molloy die „Güte" haben werde, von seinem jetzigen Leben, der „Stille" in der seine „langsame Auflösung sich vollzieht" zu sprechen.148 „Malone stirbt" beginnt so mit dem Satz, der diesen Auflösungsprozeß noch weiter fortgeschritten zeigt: „Ich werde endlich doch bald ganz tot sein". Physisch zeigt sich dieses Fortschreiten der „Auflösung" daran, daß Malone gegenüber Molloy, der sich noch immer Zimmer bewegen kann, sein Bett nicht mehr verläßt und seinen Tod in Kürze erwartet. Auch Malones Bewußtsein hat jenes Moment, das Molloys Situation als Nicht-Leben auswies, das ,nicht ganz dabei Sein', gesteigert. Malone nimmt sich vor, „unbeteiligt und reglos" zu sein, er will daran arbeiten, sich nicht mehr „ungeduldig" .aufzulehnen' und dies „ruhig weinend und lachend" tun.149 Die Einsicht, daß seine Selbstdarstellung noch nicht von „Wissen" geleitet war, bewirkt, daß er sich nicht „beim Sterben . . . zusehen" will, denn „das würde alles verfälschen" 15°. Dagegen plant Malone, sich in der Zeit, die ihm bleibt, „Geschichten" zu „er-

147 Vgl. oben S. 225. H8 Vgl. oben S. 248. L. Janvier hat darauf hingewiesen, daß gegenüber dem vergangenheitsorientierten Bericht Molloys in „Malone stirbt" Gegenwart und Zukunft des sterbenden Malone thematisch sind (L. Janvier, Malone meurt, in: Materialien zu Samuel Becketts Romanen, a. a. O., S. 126 ff.). Für die Idee des Buchs kann ebenfalls diese Arbeit Janviers herangezogen werden. Janvier betont die zentrale Bedeutung des Motivs des im Sterben G e b o r e n - W e r d e n s und sieht im Krankenzimmer Malones eine Weiterführung des „Mutter-Zimmers" Molloys, wie dieses Zimmer für den sterbenden Malone sich tatsächlich in das ihn endlich ,durchlassende' Organ der Geburt verwandelt. Der Ort a u s d e m er geboren wird, ist dabei die ,Welt' schlechthin — das bereits zitierte Bruchstück aus den „Addenda" zu „Watt" „nie richtig geboren zu sein" (a. a. O., S. 264) kennzeichnet für Beckett die Existenz —, der ,Ort', an den er g e l a n g t , kann als der des ,Namenlosen' jenseits der Erscheinung gesehen werden. H9 S. Beckett, Malone stirbt, S. 8. 150 S. Beckett, Malone stirbt, S. 8.

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

zählen" 151, die andere als die früheren sein sollen, die ja als nicht letztgültig erkannt sind. Die Möglichkeit, eine andere Art „Geschichten" zu erzählen, wird nun von einer Veränderung des Bewußtseins her verstanden. Malones teilnahmsloses Bewußtsein, das aus einer weiteren Lebensablösung entspringt, scheint ihm nämlich jetzt endlich die Möglichkeit des „Spiels" zu eröfinen: „Es ist jetzt ein Spiel, ich werde spielen. Ich habe bis jetzt nicht spielen können. Ich hatte Lust dazu, aber ich wußte, daß es unmöglich war. Ich habe mich trotzdem darum bemüht, oft. Ich machte überall Licht, ich schaute gut um mich, ich fing mit dem, was ich sah, zu spielen an." 1 5 2

Dieses „Spielen" brachte Malone in die Gemeinsamkeit mit anderen, scheiterte aber daran, daß Malone nach kurzer Zeit „wieder allein war, ohne Licht" 153. Aufgrund dieses Scheiterns ergibt sich für Malone eine Gegensphäre als die ihm eigene, die des .Ernstes', die in ihrem Widerstreit zum Leben im „Licht" als das konstituierende Moment der Beckettschen Dichtung anzusehen ist. „Deshalb (auf Grund des Scheiterns, G.B.) verzichtete ich darauf, spielen zu wollen, und machte mir für immer das U n g e s t a l t e t e u n d U n a u s g e s p r o c h e n e zu eigen, die ziellosen Hypothesen, die D u n k e l h e i t , die lange Wanderung mit ausgestreckten Armen, das Versteck. Das ist der E r n s t , dem ich seit fast einem Jahrhundert sozusagen nie entsagt habe. Es ist jetzt vorbei ich will nichts anderes mehr tun als spielen. Nein, ich will nicht mit einer Übertreibung beginnen. Aber ich werde einen großen Teil der Zeit spielen, hinfort, den größten Teil, wenn ich kann." 1 5 4

Dem „Spiel" und „Licht" ist also der „Ernst" entgegengesetzt, der negativ charakterisiert ist durch seinen Gegensatz zu Form, Rede und Zielorientiertheit und für den das „Dunkel" steht. Das Problem, an dem das frühere Spielen scheiterte, möchte Malone so lösen, daß er dann „ganz allein" spielen will, mit sich: „ . . . ich werde so tun, als sähe ich mich" 155. So entwickelt er das Programm, sich nach einer kurzen Vergegenwärtigung seiner „jetzigen Lage" einerseits als „ S p i e l " Geschichten zu erzählen, andererseits, dem E r n s t zugeordnet, ein „Inventar" seiner Habseligkeiten anzufertigen, ein Motiv, das auch schon für Molloy, dort allerdings noch als ein zukünftiges Vorhaben, für den „Anfang vom Ende", bedeutsam war, wie es Malone seinerseits als .uralten Plan' bezeichnet.156 Gegenüber der Authentizität des Selbstberichts in „Mol151 S. Becke«, a. a. O., S. 8 f. 152 S. Beckett, a. a.O., S.9. 153 S. Bedke«, a. a. Ο., S. 10. 154 S. Becke«,|a. a. Ο.,δ. 10 (Hervorhebung G. Β.). 155 S. Becke«, a. a. Ο., S. 10. 156 S. Beckett, Molloy, a. a. O., S. 174; Malone stirbt, a. a. O., S. 11. Hier zeigt sich, daß Becketts Dichtung b e i d e Momente umfaßt, nicht allein „Spiel" ist. (Vgl. S. 262, Anm. 165.)

II. „Molloy" Teil I und „Malone stirbt"

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loy" (bei Moran und bei Molloy), der sich gerade gegen .Literatur' absetzte, liegt also jetzt ein distanziertes Verhältnis von ,Autor' und .Geschichte' vor. In der Beschreibung dieser neuen Art von .Geschichten', die die Ich-Erzählung vermeiden und anders sein sollen als die früheren, erscheint nun auch das Bedeutungsfeld .Dichtung', wie Malone ferner vermerkt, daß er die „Ästhetik", zumindest „eine gewisse Ästhetik" bei dieser Trennung auf seiner Seite habe.157 „Es wird nicht dieselbe Art Geschichten wie früher sein, das ist alles. Es werden weder schöne noch scheußliche Geschichten sein, sondern ruhige, es wird darin keine Häßlichkeit, keine Schönheit und kein Fieber mehr geben, sie werden beinahe leblos sein w i e d e r D i c h t e r . Was habe ich da gesagt? Das macht nichts." 158

Der Gegensatz der Bereiche „Spiel" und „Ernst" wird nun noch weiter in seiner Bedeutung dadurch bestimmt, daß, wie gleich gezeigt werden soll, der Sphäre des ,Spiels' „ l e b e n " — in einem noch zu bestimmenden Sinn — und „e r f i n d e n " (also ,Geschichten' der neuen Art zu erzählen) zugeordnet werden, während die Sphäre des,Ernstes' als die einer davon verschiedenen, aber ihnen zugrundeliegenden Selbsterfahrung, die also n i c h t , l e b e n ' bzw. ,erfinden' ist, beschrieben wird. „Leben und erfinden. Ich hab's versucht. Ich muß es versucht haben. Erfinden. Es ist nicht das richtige Wort. Leben auch nicht. Das macht nichts. Ich hab's versucht. Während in mir das große Raubtier des Ernstes, wütend, brüllend und mich zerfetzend hin und her schlich. . . . Ich habe nicht spielen können . . 1 5 9

Nach einer Rückverfolgung des nicht spielen Könnens in die Kindheit wird nun diese Erfahrung des .Ernstes', der .Leben' und .Erfinden' gegenüberstehn, genauer beschrieben: „Ich wurde ernst geboren, wie andere syphilitisch. Und ernsthaft habe ich versucht, es nicht mehr zu sein, zu leben, zu erfinden, ich weiß, was ich meine. Aber bei jedem neuen Anlauf verlor ich den Kopf, stürzte mich in meine Finsternis, als wäre sie mein Heil, und warf mich dem zu Füßen, der weder leben noch dieses Schauspiel bei anderen ertragen kann." 160

In der Selbsterfahrung des Scheiterns ist also das Sein von etwas wahrgenommen, das sprachlich personal bezeichnet wird. Im folgenden wird es nun noch näher und auf den „Namenlosen" vorausweisend als ein auf das „leben und erfinden" wollende Selbst sich Beziehendes, für dieses Verstehbares, das dennoch ein ihm Entgegengesetztes, Anderes ist, das nicht ins Leben eingehen kann, be157 S. Beckett, a. a. Ο., S. 13. iss Ebd. (Hervorhebung G. B.). 159 S. Beckett, a. a. Ο., S. 39. S. Bedcett, a. a.O., S. 39 f.

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

stimmt. In der Fortführung der Entwicklungsgeschichte des Problems führt Malone aus, wie seine Versuche des ,Lebens' und ,Erfindens' allmählich für ihn einen anderen Sinn annehmen: „Ich begann wieder. Aber nach und nach mit einer anderen Absicht. Nicht mehr, um zu gewinnen, sondern um zu scheitern. Es ist nicht genau dasselbe. Was ich erreichen wollte, indem ich mich zunächst aus meinem Loch und dann ins peitschende L i c h t unerschwinglichen Nahrungen entgegen schwang, waren die Ekstasen des Schwindels, des Loslassens, des Sturzes, des Untergangs, der Rückkehr zum D u n k e l , zum N i c h t s zum E r n s t , n a c h H a u s e , zu dem, der mich stets erwartete, der mich brauchte, und den ich brauchte, der mich in seine Arme nahm und mir sagte, ich solle nicht mehr fortgehen, der mir seinen Platz überließ und mich behütete, der jedesmal litt, wenn ich ihn verließ, den ich viel leiden ließ und kaum zufrieden stellte, den ich nie gesehen habe. Ich fange ja an mich zu ereifern." 161 Hier ist also ,leben und erfinden' als Herausgehen „ins . . . Licht" beschrieben, dem als Gegenpol, der im Zurückgehen, im ,Sturz', erreicht wird, ein Behütendes und zugleich Forderndes, eine eigentlich vertraute Dimension des Selbst gegenübergestellt wird, die dadurch als personal erscheint, daß sie verstehbares Sein und Bedeutung für das heraus- und zurückgehende Selbst hat, die aber gleichzeitig — ein zum „Namenlosen" führendes Motiv — als ,Nichts' .Dunkel', ,nie gesehen' bezeichnet wird. Sieht man die zitierten und herausgearbeiteten Entgegensetzungen, so kann das „ins . . . Licht" heraus- und zurückgehnde, „leben" und „erfinden" wollende Selbst als das der E r s c h e i n u n g , die Dimension, wohin es zurückkehrt (Dunkel, Nichts, nach Hause), als e i g e n t l i c h e r G r u n d des jeweils raum-zeitlichen Erscheinens und somit als das eigentliche, den jeweiligen Versuchen zu ,leben' und zu .erfinden', die immer beschränkt und bestimmt sind, zugrundeliegende Selbst verstanden werden. Damit ist ein zentrales Motiv erreicht: Dasjenige, was positiv den scheiternden Versuchen des Erscheinens in „leben und erfinden", im „Spiel" und „im Licht" entgegensteht, bzw. vorausliegt, kann nur — obwohl w i r k l i c h und f o r d e r n d , wie andererseits auch b e h ü t e n d — als „ N i c h t s " , formlos', „Dunkel" formuliert werden. Dieser Dimension, die wie der zitierte Text zeigte, nur in der Trennung von ihr und deren Wiederaufhebung spürbar wird — so erfolgte das spätere Verlassen ja um der Erfahrung des Mißlingens willen — korrespondiert die in den Teilen Moran und Molloy herausgearbeitete Bedeutung des Schweigens und damit der Prozeß von Setzen und Rücknahme des Gesetzten, da das Schweigen nur in diesem produktiv-reflexiven Prozeß als b e s t i m m t e r Ausdruck des Selbst gegenwärtig wird. In „Malone stirbt" ist also erstmals in der Trilogie e x p l i z i t im .Ernst' die Grunddimension der Selbsterfahrung als dem .Leben' und ,Erfinden' entS. Beckett, a. a. Ο., S. 40 f. (Hervorhebung G.B.).

II. „Molloy" Teil I und „Malone stirbt"

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gegengesetzt thematisch, in der die für Becketts Dichtung charakteristische Struktur, der Prozeß von Setzen und immer erneuter Rücknahme, begründet ist und von der aus der Prozeß als Bewegung auf dieses undarstellbare Selbst zu positiv verstanden werden kann, da in ihr gegenüber der Beschränktheit und dem Wechsel des Erscheinungsselbst das eigentlich Identische des Selbst zu sehen ist. 162 Es kennzeichnet, wie schon angedeutet, den Schlußband der Trilogie, „Der Namenlose", der jetzt anschließend interpretiert werden soll, daß er von diesem ,Ort' des eigentlichen Selbst a u ß e r h a l b d e r E r s c h e i n u n g her geschrieben ist. Die Ausführungen zu „Malone stirbt" abschließend, in denen vor allem diese Entgegensetzung von eigentlichem Selbst und Erscheinungsselbst für den Gesamtzusammenhang herauszuarbeiten beabsichtigt war, soll noch kurz das gegenüber „Molloy" komplizierter gewordene Verhältnis von Selbst und ästhetischer Sphäre, Selbstsuche und Dichtung skizziert werden. b) Selbsterfahrung und .Dichtung' in „Malone stirbt" Man kann das reflektiertere Verhältnis von Selbsterfahrung und ästhetischer Sphäre im zweiten Roman der Trilogie dadurch bezeichnen, daß jetzt erstmalig die ästhetische Sphäre als ,Dichtung* in der Reflexion des Schreibenden thematisch wird. Für den Autor Malone stellt seine Niederschrift nicht mehr nur wie für Moran und Molloy einen betont nichtliterarischen Bericht über das eigene Leben dar, in dem die ästhetische Sphäre als Phänomen des Lebens, als Erfahrung einer eigentlichen Selbst- und Wirklichkeitsbeziehung anwesend und notwendig war, sondern das Produzierte erscheint nun einerseits als erfundene' Geschichte, wobei der „Dichter" sich andererseits als ihren Grund in seiner gegenwärtigen Existenz mitdarstellt, die Geschichte durch seine Reflexionen begleitet und sie so als Setzung kenntlich macht. Insofern nennt sich Malone auch direkt, nicht nur in einer metaphorischen Weise wie Moran, dessen

'62 Sie lag so schon Morans Suche zugrunde, dessen Identitätsgefühl ja gerade im Aufgeben des sich Sicherns in der Erscheinungssphäre sich verstärkte. — Iser setzt in seinen Interpretationen zu .Malone Dies' .leben' und .erfinden' einander gegenüber und versucht, aus dieser Entgegensetzung fiktionale Darstellung und ihre Kritik als Grundstruktur von Becketts Werk zu verstehen (vgl. Iser, 1972, S. 259 f.). Als verbunden in ihrer Beziehung zu ,Spiel' und ,Licht' sind .leben' und .erfinden' aber im Roman parallel geordnet und der Dimension des .Ernstes', des .Dunkels', des .Nichts' entgegengesetzt, dem Bereich, dem die Erfahrung des Grundes des Selbst zuzuordnen ist, die weder in .leben' noch .erfinden' voll eingehen kann. Die Dimension des Grundes, die Iser verfolgt, darf also gerade nicht mit der Vorstellung .leben' bezeichnet werden, da auch diesem, wie dem .erfinden', als Heraustreten in die Erscheinung Bestimmtheit und Partialität eignet.

262

Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

Setzung einer Instanz, für die er arbeitet, so interpretiert worden war

163

, als

Autor der Beckettschen Romane. In einer Reflexion, die einen versteckten Hinweis auf die Fortsetzung der Trilogie im „Namenlosen" enthält und sich mit Malones Ende beschäftigt, formuliert dieser: „Dann wird es aus sein mit den Murphy, Mercier, Molloy, Moran und Malone und so weiter, es sei denn, daß es jenseits des Grabes weitergeht." 1 6 4 Malone versucht sich in der Doppelung von wirklicher Existenz und Imagination (.erfundene' Geschichte, Dichtung) zu erfassen und setzt so das Thema von Schein und Imagination als Ort der Selbstgegnung, dort, wo dies Selbst in Realität n i c h t ist, fort, indem er beide Momente für sich zu realisieren versucht. 165 Dabei wird die Figur der G e s c h i c h t e , in der Malone sich selbst darzustellen sucht 1 6 6 , zunächst „Sapo" (ihr Ziel in der Jugend ist zu „wissen"), dann „Macmann" genannt (in der Symbolik des Romans, die reich an christlichen Motiven i s t 1 6 7 , ist die Bedeutung .Menschensohn' polemisch aufgehoben und fortgeführt). In dieser Gestalt, die im Rahmen der Arbeit nicht näher interpretiert werden kann, ist also, wie von der Namensgebung her deutlich wird, menschliche Existenz in höchster Allgemeinheit repräsentiert. Die Selbstdarstellung in der ,Geschichte' wird von Malone nun mit der Darstellung seiner w i r k l i c h e n E x i s t e n z verbunden und konfrontiert. Im Unterschied zum späteren Namenlosen beschreibt er diese aber von der raum-zeitlichen Er-

i « Vgl. oben S. 245. i«4 S. Beckett, a. a. Ο., S. 126. 1 6 5 Dabei wird die a b s o l u t e Trennung des Anfangs, die die Spielsphäre („Licht") und Wirklichkeit entgegensetzt, im Verlauf des Buchs in komplizierter Vermittlung aufgehoben: So dringt in die .Geschichte' der „Schatten", das „Dunkel" wieder ein, sie wird auch als Selbstdarstellung, nicht nur, wie anfangs, als Darstellung eines anderen, reflektiert, wie andererseits der Plan, sich nicht beim Sterben zu beobachten, weil dies alles „verfälschen" würde, aufgegeben wird und so in die Realitätsdarstellung wieder Imagination eindringt. Schließlich vermischen sich am Ende beide bis dahin noch getrennt gehaltenen Sphären. 1 66 „Oui, j'essaierai de faire, pour tenir dans mes bras, une petite creature ä mon image, quoique je dise" (frz. S. 96). E. Tophoven gibt folgende Übersetzung: „Ja, ich werde versuchen, um sie in meinen Armen zu halten, eine kleine Kreatur zu machen, nach meinem Ebenbild, was immer ich auch sagen mag" (S. Beckett, a. a. Ο., S. 104). Ebenbild' müsste aber für das entworfene Bild, nicht für das Modell des Entwurfs, das er selbst ist, stehen, so daß „nach meinem Bilde" als Übersetzung vorzuschlagen wäre. 1 6 7 So heißt das „Asyl", in das Macmann letztlich aufgenommen wird, St. Jean; es wird von einem Mann geleitet, der durch einen „schütteren Bart" „wahrscheinlich" seine Christusähnlichkeit hervorhebt (a. a. O., S. 169). Das Ende von Malones Geschichte über Sapo-Macmann, dem die Beschreibung des eigenen Sterbens zugeordnet ist, spielt „wahrscheinlich" am „Osterwochenende, das Jesus in der Hölle verbrachte" (a. a. O., S. 219), etc.

III. „Der Namenlose". Freisetzung des normativen Grundes

263

fahrung her, so daß er sich in seinem Zimmer, als Sterbender, repräsentiert. Im „Namenlosen" ist darüberhinaus der Versuch gemacht, von dort aus zu sprechen, was als die undarstellbare Dimension des eigentlichen Selbst aufgewiesen worden war, die, wie in „Malone stirbt" audi in den vorhergehenden Romanen (Murphy, Watt, Molloy) präsent ist, hier aber noch nicht als der ,Ort', von dem her gesprochen wird, erscheint, und die im „Namenlosen" nicht mehr raum-zeitlich charakterisiert ist, wie ja auch das mit der raum-zeitlichen Darstellung verbundene sich Benennen Malones mit einem selbstgegebenen ,Namen'168 die Doppelstruktur von ,Geschichte' und ,Realität' des Romans wieder insgesamt zur ,Dichtung' macht. Insofern ist erst im „Namenlosen" der Punkt radikaler Dichtungskritik erreicht, auf den vorausweisend hingedeutet worden war.

I I I . „Der Namenlose". Freisetzung des normativen Grundes der Trilogie. Kritik und Begründung von Dichtung Im letzten der drei Romane, „Der Namenlose", ist der Grund der bisherigen Bewegung erreicht, so daß die Romane als Darstellung von Reflexionsstufen in einem sich nicht mehr abschließenden Prozeß der Selbstsuche erscheinen. Da in ihm dieser Produktion und Kritik ermöglichende Grund und damit die den Prozeß beherrschende Norm ins Bewußtsein gehoben und so auch der Sinn von ,Dichtung' in dieser Bewegung endgültig bestimmt wird, soll dieser Roman, wie zuvor der Beginn des Prozesses der Selbsterfahrung in Morans Bericht, wieder ausführlicher interpretiert werden. Der Roman bietet von seiner äußeren Form her zwei Teile. Der erste ist in Abschnitte gegliedert und wird im Text selbst als „Präambel" bezeichnet, der zweite ist ein fortlaufender, formal nicht mehr unterteilter Text.169 Von dem in ihm Entwickelten her kann man diesen Text gliedern in einen Teil, in dem der Namenlose sich noch einmal in Figuren objektivierend darstellt, die die Namen >Mahood' (er setzt die Gestalt des ,Basilius' der Präambel fort) und ,Worm' tragen, und einen Teil, in dem er ihre Geschichten endgültig verwirft und ohne die distanzierende Objektivation in Figuren nur noch von s i c h zu sprechen beabsichtigt. 168 Im Problem der N a m e n spiegelt sich der Fortgang zu einer selbstgegebenen Identität: Moran wurde von ,anderen' so genannt; Molloy trug den Namen seiner Mutter; Malone läßt einfließen, daß er sich „jetzt so" nenne. Im „Namenlosen" wird ein sich Benennen zugleich als unmöglich und notwendig festgehalten. 169 Die deutsche Ubersetzung macht einen im französischen Original nicht vorhandenen Einschnitt nach einem von der .Präambel' zu dem von Mahood und Worm handelnden Teil überleitenden Text.

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung 1. Die Entgegensetzung von Bewußtsein und Erscheinung gegenüber dem unnennbaren Selbst

Nach dem Beginn des Romans, durch den die Neuheit der Reflexionsstufe und des Selbstverständnisses hervorgehoben ist: „Wo nun? Wann nun? Wer nun? Ohne es mich zu fragen. Ich sagen. Ohne es zu glauben" 170, wird, wie schon Morans Entwicklung durch das Zerfallen der Verstellungen als ein Werden zu dem, was er „seit jeher zu sein verdammt war", verstanden wurde, diese Neuheit als ein .Dableiben', also als eine Vermeidung einer Bewegung von sich selbst weg, und als Akzeptieren einer „alten Tatsache" — wenn auch in der Form einer Hypothese, die zudem zum Teil wieder aufgehoben wird — gedeutet 171. „Sollte ich eines Tages, nun mal los, einfach dageblieben sein, wo, statt einer alten Gewohnheit folgend, auszugehen, um Tag und Nacht möglichst weit von mir zu verbringen, es war nicht weit. Vielleicht hat dies so begonnen. . . . Vielleicht tat ich nichts anderes, als eine alte Tatsache billigen. Ich tat jedoch nichts." 172 Die partielle Aufhebung, die sich auf das ,Tun' bezieht, läßt dabei die formulierte Bedeutung in ihrem Gehalt unangetastet, sagt nur, daß sich das Bewußtsein des Seins in dem neuen Selbstverständnis nicht durch ein Tun erklären läßt. Dieser ,Ort', durch den die neue Bewußtseinstufe gekennzeichnet ist, wird nun — das Motiv der Entgegensetzung gegen die Sphäre des .Lebens und Erfindens' „im Licht" aus „Malone stirbt" fortsetzend, durch das dort der Grund des Erscheinungsselbst charakterisiert war — n e g a t i v bestimmt dadurch, daß er der Welt „unter den Menschen, im Licht" (bzw. später „droben im Licht") entgegengesetzt wird, eine Entgegensetzung, die der Roman in seinem ganzen Verlauf festhält. 173 Gleichzeitig wird das Sein des Namenlosen in ein Selbst-Sein und ,Delegierte' dissoziiert, durch die er von dieser Welt „im Licht" weiß, mit der er selbst, wie es ihm scheint, „nichts zu tun hatte": „Warum habe ich midi unter den Menschen im Licht vertreten lassen? Es scheint mir, daß ich nichts damit zu tun hatte. Lassen wir das. Ich sehe sie noch, meine Delegierten. Sie haben mir was erzählt von den Menschen, und vom Licht." 17* 170 S. Beckett, Der Namenlose, S. 7. 171 Vom Gesamtprozeß der Trilogie her gesehen bedeutet dies, daß man in ihr eine Struktur des Rüdegangs in den Grund belegen kann, derart, daß der Fortgang und die Reflexion mehr und mehr das freisetzt, was anfangs — durch das Bewußtsein selbst, das nicht selbsthafte Formen aus Angst festhält — noch verdeckt war. 172 S. Beckett, a. a. O..S.7. 173 Darüberhinaus bleibt sie in den Werken nach dem „Namenlosen", „Textes pour rien" ( „ T e x t e um Nichts") und „Comment c'est" („Wie es ist"), thematisch. i7t S. Becke«, a. a. O., S. 20.

III. „Der Namenlose". Freisetzung des normativen Grundes

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Gegenüber Malone, der sich noch in der Bewegung des Heraus- und Zurückgehens verstanden hatte und für den die Tiefendimension des Selbst noch ein Anderer war 1 7 5 , auf den das erscheinende Selbst bezogen ist, ist also hier der radikale Rückgang in die Dimension des eigentlichen Grundes des Selbst vollzogen, der jetzt als Ort des Sich-Verstehens und Sprechens gilt und von dem aus das gebende' und .erfindende' Selbst der Erscheinung, das ja jeweils bedingt, bestimmt und so ein Vielfaches ist gegenüber der Identität des Grundes, als ,Delegierte' verstanden wird, durch die das Tiefenselbst von „den Menschen", dem „Licht" überhaupt weiß.176 Alles Wissen über sich selbst, seine Mutter, seinen Geburtsort „Bally" — es ist derselbe wie der Molloys, so daß die Identität des Subjekts in der Trilogie noch einmal festgehalten ist —, über „Gott", die „Liebe", die „Intelligenz", ja die Fähigkeiten zu „urteilen" und zu „rechnen", stammt von diesen .Delegierten'. Die zuletzt genannten Vermögen sind für den Namenlosen nur unter der Bedingung einer vorherigen Störung seiner als ruhig vorgestellten Existenz von Wert, wie dies Wissen überhaupt für ihn nur relativ Bedeutung hat: „Es sind Kniffe, die mir Dienste geleistet haben, ich werde nicht das Gegenteil behaupten, Dienste, deren ich nicht bedurft hätte, wenn ich in Ruhe gelassen worden wäre." 1 77

In Beziehung auf das Sein des Namenlosen, sein Selbstsein, wird also nicht nur alles weltliche Wissen, es werden auch die Idee „Gott", die Vorstellung der „Liebe" und die Methoden des Rechnens und Denkens als durch andere, seinem Selbst fremde, vermittelt angesehen und so insgesamt als nicht ,er selbst' gesetzt. Es besteht vielmehr geradezu, wie schon im obigen Zitat dadurch zum Ausdruck gebracht wurde, daß er jene „Kniffe" nicht gebraucht hätte, wenn man ihn „in Ruhe" gelassen hätte (so daß assoziiert werden kann, sie würden gebraucht, um sie wieder herzustellen), die Gefahr des von dort her Bestimmtwerdens: „Seit wann hat diese Hirnausstopfung aufgehört? Hat sie überhaupt aufgehört? Noch ein paar Fragen, die letzten. Ist es nur eine Atempause? Vier oder fünf fielen über midi her, unter dem Vorwand, mir Bericht zu erstatten. Besonders einer von ihnen namens Basilius (frz. „Basile", G. B.), glaube ich, flößte mir starken Widerwillen ein. Ohne den Mund zu öffnen, nur dadurch, daß er mich mit seinen vom vielen Sehen erloschenen Augen anstarrte, machte er midi jedesmal Vgl. oben S. 259 ff. 176 Von hier aus wird der Sinn der Bemerkung Morans, er werde es nicht mehr ertragen, „ein Mensch zu sein", es „nicht mehr versuchen", positiv verstehbar, insofern in ihr ein hinter die Sphäre der Erscheinung und des „Lichts" zurückgehendes Selbstverständnis angekündigt ist. (Vgl. dazu auch weiter unten S. 269 ff. und S. 275.) 1 77 S.Beckett, a . a . O . , S . 2 1 .

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

ein wenig mehr zu dem, den er haben wollte. Schaut er mich aus der Finsternis, in der er hockt, immer noch an? Maßt er sich immer noch meinen Namen an, den sie mir angehängt haben, in ihrem Jahrhundert (frz. „siecle", G. B.), beharrlich, von Saison zu Saison? Nein, nein, hier bin ich in Sicherheit, hier wo ich mich damit amüsiere, herauszubekommen, wer mir diese unbedeutenden Wunden schlagen konnte." 1 7 8 Das Bewußtsein des Namenlosen, .hier', an dem Ort, an dem er ist, ist also durch eine Ambivalenz von möglicher weiterer Fortdauer der Gefahr des Bestimmtwerdens und sich in „Sicherheit" Wissen gekennzeichnet, wobei dieses Wissen damit begründet wird, daß er jetzt das Bestimmtwerden, jene „unbedeutenden Wunden" r e f l e k t i e r t . Die Gefahr der Verformung erscheint dabei in der Figur des Basilius verdichtet, da er den Namenlosen durch sein Sehen zu dem macht, den er .haben will'. Basilius maßt sich dabei den Namen an, der von seinen „Delegierten" dem Namenlosen „angehängt" wurde, „beharrlich" „in ihrem Jahrhundert", wobei fr2. ,siecle' auch mit .Zeitalter' übersetzt werden könnte. Der sich als „L'Innommable" unbenennbar weiß, sollte also von seinen ,Vertretern' mit diesem Namen belegt werden. Wie kann Basilius näher interpretiert werden? Der Name Basilius ist, worauf H . Engelhardt in verwandtem Zusammenhang hinweist, der desjenigen Kirchenlehrers, der die Lehre der Arianer bekämpfte, welche die Wesensgleichheit von Gott Vater und Christus verneint. 179 Basilius bejaht diese Wesensgleichheit also und sieht damit keinen Unterschied zwischen Allgemeinheit und Einzelheit, d. h., für ihn ist die Dimension der Erscheinung von der des Absoluten nicht wesensverschieden. Die Gefahr, die von Basilius im Text des „Namenlosen" für diesen ausgeht, kann so von hier aus als Verdecken und Schließen der im Abschnitt eröffneten Differenz einer Welt der Erscheinung „im Licht", „unter den Menschen", des Wißbaren, und der des ,Ortes', an dem der Namenlose ist, als dem Grund jener, interpretiert werden. Daß diese Interpretation dem Text nidit fremd ist, geht außer aus dem Gesamtzusammenhang, in den sie sich einfügt, aus einem anderen Abi 7 « S. Beckett, a. a. Ο., S. 22; frz. S. 22. m H. Engelhardt, Einige Bemerkungen zu Samuel Becketts „Der Namenlose" in: Materialien zu Samuel Becketts Romanen, Frankfurt 1976. Engelhardt verfolgt den Aspekt von Schöpfer und Gesdiöpf, deren Wesensgleichheit negiert ist, in Parallele zu Autor und Figur (a. a. O., S. 315). Der Name ,Basile' wird im Französischen auch im Sinn von Schleicher, Verleumder gebraucht. Vgl. Rotteck-KisterDenis, Dictionnaire Allemand-Frangais, Frangais-Allemand, Paris o. J . — P. Robert erklärt die Entstehung dieser Bedeutung aus einer Figur dieses Namens in Beaumarchais' Stück Le Barbier de Seville (P. Robert, Dictionnaire alphabetique et analogique de la Langue frangaise, Paris, Bd. I 1960, S. 422). — Auch diese Vorstellung würde auf den Basilius von Becketts Roman zutreffen. Basilius verleumdet, indem er den Namenlosen zu dem, was er will, macht, indem er also sein wirkliches Sein verfälscht.

III. „Der Namenlose". Freisetzung des normativen Grundes

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schnitt der „Präambel" hervor, in dem über die ,Ankunft' des Namenlosen an den ,Ort' folgendes ausgeführt wird: „Wie vermag ich unter diesen Umständen zu schreiben, um nur den manuellen Aspekt dieses bitteren Wahns zu erwähnen? . . . Ich bin es der schreibt . . . Ich bin Matthäus, und ich bin der Engel, ich, der ich v o r d e m K r e u z , v o r d e r S c h u l d kam, auf die Welt kam, hierher kam." i 80 Hier, im „Namenlosen", wird gegenüber dem gesamten Werk Becketts, das vielfach, so in „Watt", „Molloy", in „Malone stirbt" (dort in Macmann) die Christusfigur vor allem hinsichtlich eines rein zu .ertragenden' Leidens in Beziehung zu seinen Gestalten setzt 181 , eine Dimension „vor dem Kreuz, vor der Schuld", d. i. vor der Menschwerdung, explizit thematisch, die — bezogen auf die Erscheinung — nur n e g a t i v , als „undurchdringliche Leere" 182, beschrieben werden kann und in der das Unbenennbare des Selbst ist. Die beiden Existenzmomente, Bewußtsein und Erscheinung einerseits und zeitlose nichterscheinende Tiefendimension des Selbst, sind so in eine im Rahmen des Werks nicht aufgehobene Differenz gesetzt, die das Ganze der Selbsterfahrung ausmacht. Ihre Antithese läßt sich, wobei sie weiter bestimmt und expliziert wird, durch den gesamten Roman verfolgen.

2. Kritik des objektivierenden Sprechens. Dichtungskritik (I) Der ,Ort', an dem der Namenlose ist, der das Gegenbild zu ihm selbst darstellt — beide sind, wie er formuliert, füreinander „im gleichen Augenblick" 183 gemacht worden — war in der ,Präambel' außer durch die Anwesenheit von Basilius und den »Delegierten' noch durch die Präsenz der „Puppen" Murphy, Molloy, Malone, also durch die der früheren Romangestalten, charakterisiert worden. In der weiteren Entwicklung der .Präambel', die mit dem Entschluß, n u r v o n s i c h s e l b s t z u s p r e c h e n und mit der Bezeichnung des Ortes, an dem der Namenlose ist, als „schwarz und leer" endet 184 , wird nun zunächst die dargestellte Dissoziation in objektive Figuren und einen Selbst-

180 S. Beckett, a. a.O., S. 28 (Hervorhebung G. B.). 181 So audi im „Namenlosen", wenn die Erscheinungswelt symbolisiaert wird. L. Janvier hat auf diesen Zusamlenhang hingewiesen und das Leid des Namenlosen, nicht im vollen Sinne des Wortes ,s e i n' zu können, als davon noch verschieden bezeichnet (L. Janvier, Beckett par lui meme, a. a. O., S. 117 ff.). 182 S. Beckett, a. a. Ο., S. 34. 183 S. Beckett!, a. a. O., S. 18. 184 S. Beckett, a. a. O., S. 34. Später wird auch die Vorstellung .schwarz' als Charakteristik des Ortes wieder zurückgenommen.

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

bereich wieder zurückgenommen, dabei aber in verwandeltem Sinn aufrechterhalten: „Und Basilius und Konsorten? Gibt es nicht, erfunden, um ich weiß nicht mehr was zu erklären. Oh ja. Lauter Lügen. Gott und die Menschen, das Tageslicht und die Natur, die Herzensergüsse und die Mittel, um zu begreifen, habe ich feige erfunden, ohne Hilfe von irgend jemand, da niemand da ist, nur um die Zeit, von mir zu sprechen, hinauszuzögern. Das kommt nicht mehr in Frage." 1 8 5 Die „Basilius und Konsorten" übertragene Funktion des Delegierten und Stellvertreters wird so als zu kritisierende Tendenz des Ich in das Ich selbst zurückgenommen, wobei sie, die wieder das Bewußtsein im gesamten Umfang (über Erscheinendes überhaupt, über Gott, Erkenntnisverfahren, Gefühl) umfaßt, als Tendenz des bei anderem, nicht bei sich selbst Seins verstanden ist: durch sie wird die Zeit, um von sich zu sprechen, .hinausgezögert'. Das Selbst ist also als nicht erfaßbar durch solch o b j e k t i v i e r e n d e s , selbst theologisches Sprechen ( „ G o t t

und die Menschen . . . " ) vorgestellt. Hier ist der Grund der

fundamentalen Mythologie- und Dichtungskritik der Trilogie, die auch noch die Dichtung im klassischen und romantischen Sinn trifft, erreicht, insofern ,Dichtung', die ihre Bedeutung ζ. B. bei Schlegel daraus gewann, daß sie gegenüber der empirischen Erfahrung in der Darstellung der „Bedeutung" der Phänomene eine ,objektive' Wirklichkeit, in deren Gesamtzusammenhang das Selbst sich verstehen kann, sichtbar macht 1 8 6 , jetzt selbst noch, insofern sie ,objektiv' darstellt, aus der Fluchtbewegung des Nicht-von-sich-selbst-sprechen-Wollens verstanden ist. 1 8 7 Dieser Ansatz soll in der Interpretation des Romans noch weiter verfolgt werden.

iss S. Beckett, a. a. Ο., S. 34 f. 186 Vgl. für Schlegel insbesondere S. 167 if. Auch von Kant war die Erfahrung schöner Natur, die ja Voraussetzung ihrer Darstellung in der Kunst ist, als auf einen gemeinsamen Grund von Natur und Freiheit verweisend gedeutet, d. h. also in einem .objektiven', die Möglichkeit von Freiheit implizierenden Sinn verstanden worden. 187 Vgl. dazu einen weiteren Text der Einleitung („Präambel"): „Vergeblich immer kleiner Geist, die Liebe habe ich erfunden, die Musik, den Duft der blühenden wilden Johannisbeeren, um mir zu entgehen. Organe, ein Äußeres, das kann man sich leicht einbilden, andere, einen Gott, das ist unvermeidlich, man bildet sie sich ein, das ist leicht, es lindert das Schlimmste, es schläfert ein, einen Augenblick." (S. Beckett, a. .a. Ο., S. 37). Jede Beziehung auf Objektives ist hier als .erfinden* kritisiert und als Flucht vor sich selbst verstanden.

III. „Der Namenlose". Freisetzung des normativen Grundes

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3. ,Mahood' als das Ich des Lebens und des Geschichten-Erzählens Nach dieser an einem völlig ungegenständlichen Punkt endenden „Präambel", in der alles vorher Gesetzte wieder zurückgenommen wird —: „Es gibt nichts als midi, von dem ich nichts weiß, es sei denn, daß ich nie von ihm gesprochen habe, und dieses Schwarz, von dem ich audi nichts weiß, es sei denn, daß es schwarz ist und leer" 188 — beginnt die eigentliche „Abhandlung", die, wie der Namenlose zuvor formulierte, über ihn „bestimmen wird" .189 Sein Grundproblem ist es dabei, i η d e r R e d e und f ü r d a s B e w u ß t s e i n sein Sein an diesem beiden entgegengesetzten Ort darzustellen, „obgleich ich sage, wer ich bin, und wo ich bin, mich nicht zu verlieren, nicht von hier wegzugehen, hier zu enden" 19°. In dieser „Abhandlung" stellen sich aber nun beim Beschreiben seiner Situation wieder objektive Bestimmungen ein, ja, in der Bezeichnung der Dauer eines von im realisierten „Schweigens" mit „Jahre" 191 und in der Charakterisierung der besonderen Form des Schweigens, in der er auf seine „Stimme" „gelauscht" hat 1 9 2 durch Bilder aus der Erscheinungswelt, der Welt des „Lichts", sieht der Namenlose sich wieder unter dem Einfluß des Basilius. Im Zusammenhang der Beschreibung dieser Form des ,Schweigens', deren Charakteristik als ,Lauschen' auf seine Stimme für den Fortgang des Romans entscheidend wichtig ist, da eine andere Art des Schweigens, wie noch aufgezeigt wird, das ,Ziel' des Namenlosen darstellt, wird ,Basilius' nun mit einem neuen Namen belegt und die so entstehende Figur als Subjekt des ,Geschichten-Erzählens' — also auch der .Dichtung' — und des ,Lebens' bestimmt: „Ich hörte angespannt auf das, was immer noch meine Stimme sein mußte, so leis, so fern, daß sie wie die See war, wie die Erde, wie eine ruhige ferne See, sterbend — nein, das nicht, kein Strand, kein Gestade, die See genügt, ich habe genug vom Geschiebe, genug vom Sand, genug von der Erde, auch genug von der See. Ohne Frage, Basilius macht sich wichtig. Ich will ihn darum doch Mahood nennen, es ist mir lieber, ich bin eigen. Er war es, der mir Geschichten über mich erzählte, für midi lebte, aus mir herausging, wieder zu mir kam, wieder in midi ging, mich mit Geschichten überhäufte." 193 Mit dem neuen Namen Mahood, der .manhood', Menschheit, assoziieren läßt, ist auch eine veränderte Beziehung der Figur zum Namenlosen verbunden. Während Basilius nur a u ß e r h a l b seiner war und ihn durch seinen Blick 188 S. Beckett, 189 S.Beckett, ι » S.Beckett, i»i S.Beckett, S.Beckett, »3 S. Beckett,

a. a. Ο., a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O., a. a. O.,

S. 34. S.31. S.32. S.44. S.44f. S. 45.

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

zu bestimmen versuchte, ist in Mahood, als demjenigen, der für ihn .lebte' und ihm .Geschichten' erzählte, der Versuch der Bestimmung, des Auslöschens der Differenz Wesen-Erscheinung, in die Existenz des Namenlosen zurückgenommen. Wie in „Malone stirbt", dort im Gegensatz von ,leben und erfinden' als „Spiel" gegenüber dem „Emst", ist also hier in der Figur des Mahood das Ich des Lebens und Geschichten Erzählens dem eigentlichen Selbst konfrontiert. Gegenüber dem Sein des Namenlosen v o r der Erscheinung kann dieses Ich von dem neuen Namen her als seine .Menschheit' — im Sinne des .Menschseins' i n d e r Erscheinungswelt — verkörpernd gedeutet werden. Die Beziehung Mahoods zum Namenlosen wird dabei genauer als ,aus ihm Herausgehen' und ,zu ihm Zurückkommen', ,in ihn Gehen', bestimmt, 194 eine Bewegung, die sich, wie weiter ausgeführt wird, in der „Stimme" des Namenlosen vollzieht. Die Präsenz Mahoods, in der er den Namenlosen mit .Geschichten überhäuft', ist dabei wieder als ein Verdecken von dessen eigener Stimme, eine Behinderung des Versuchs, sich zu finden, verstanden: „Es war seine Stimme, die sich oft, immer, der meinen beimischte, manchmal so sehr, daß meine ganz übertäubt wurde, bis zu dem Tage, an dem er mich für immer verließ, oder mich nie mehr verlassen wollte, ich weiß nicht. Ja, ich weiß nicht, ob er in diesem Moment hier ist . . . Immer wenn er abwesend war, versuchte ich, mich wieder zu fassen, zu vergessen, was er mir gesagt hatte, über mich, über meine Mißgeschickte, lächerliche Mißgeschicke, schrullige Schmerzen, angesichts meiner wahren Situation, abscheuliches Wort. Aber seine Stimme hört nicht auf, für ihn zu zeugen, als ob sie mit meiner verflochten wäre, und sie hinderte mich so, zu sagen, wer ich war, was ich war, um schweigen zu können, und nicht mehr zu lauschen." 195 Die Stimme Mahoods, der ja für den Namenlosen ,lebte' und ihr Bericht über die „Mißgeschicke" und „Schmerzen" des empirischen Lebens sind also der .eigenen' Stimme des Namenlosen entgegengesetzt, so daß dieser nur in der „Abwesenheit" Mahoods versuchen kann, sich „wieder zu fassen", sich und seine „wahre Situation" zu erkennen, die, da ihr gegenüber das Leiden des Lebens in der Erscheinungswelt als „lächerlich" und „schrullig" erscheint, in ihrem 194 An diesem Punkt wird noch einmal deutlich, daß der Namenlose den .Ort', von dem aus Malone sprach und der der des Weggehens von sich und Zurückkommens zu sich ist, verlassen hat. .Menschheit' ist hier also gerade anders als bei Kant, wo es das intelligible Sein des Selbst bezeichnet, als Sein in der Erscheinung bestimmt; von hier aus ist noch einmal Morans Problem des Mensch-Seins „wider willen" positiv verstehbar, da es von einer Selbsterfahrung jenseits der Erscheinung ausgelöst ist. Ähnlich verwendet ζ. B. Hegel den Begriff „Mensch" im „System der Bedürfnisse" gegenüber „Person", „Subjekt" etc. als das „Konkretum der Vorstellung", G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hamburg 1955, S. 170 f., (§ 190). i « S. Beckett, a. a. Ο., S. 45.

III. „Der Namenlose". Freisetzung des normativen Grundes

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Charakter gesteigerten Leidens sichtbar wird. Als verbunden mit der zu realisierenden Selbsterkenntnis ist hier die vorher angedeutete zweite Form des Schweigens, die nicht mehr Lauschen auf seine Stimme und Ziel des Namenlosen ist, genannt. Das Motiv der Abwesenheit Mahoods muß dabei festgehalten werden, weil es in verwandelter Form gegen Ende des Romans wieder erscheint und in ihm das positive Moment in der Selbstsuche zu sehen ist. Der Prozeß des Romans ist dabei als Prozeß der Annäherung an sich selbst durch Sprechen im allmählichen Vernichten von Mahoods Stimme, die in E r s c h e i n u n g s k a t e g o r i e n über die Existenz des Namenlosen spricht, vorgestellt, eine Annäherung, die aber ständig vom Wiedereinbruch dieser weltorientierten Stimme bedroht ist: ,,'Und noch heute, um immer noch zu sprechen wie er (denn ,heute' ist Zeitund damit Erscheinungskategorie, G. B.), ist seine Stimme, wenn er mich audi nicht mehr stört, immer noch hier, in meiner, aber weniger, weniger. Und da sie nicht mehr erneuert wird, wird sie eines Tages verschwinden, wie ich hoffe, aus meiner, restlos. Aber damit das geschieht, muß ich sprechen, sprechen. Und derweil, ich mache kein Hehl daraus, kann er zurückkommen, oder er kann wieder weggehen und dann wieder zurückkommen." 196 So führt auch die auf die .Präambel' folgende eigentliche „Abhandlung" wieder zu einer .Geschichte', einer Geschichte extremsten Leidens, die den Namenlosen als Mahood (es waren ja Geschichten über ihn, sein Leben, die Mahood erzählte) in zwei Stadien des Verfalls zeigt. Da hier keine Einzelinterpretation des Romans versucht werden kann, vielmehr ein bestimmtes Problem in der gesamten Trilogie verfolgt wird, muß sie übergangen werden. Wichtig für das in der Trilogie untersuchte Problem der Selbsterfahrung und damit der Entgegensetzung von Dasein als Erscheinung und Selbst, das nicht in jene eingeht, ist aber eine zweite .Geschichte', weil in ihr nämlich nun nicht das s t e r b e n d e und im Versinken dargestellte L e b e n s moment der Gesamtexistenz, sondern das Stumme, sich selbst Unbewußte des e i g e n t l i c h e n S e l b s t Thema wird, das i n s L e b e n e i n g e h e n , erst g e b o r e n werden soll. Die Figur dieser Geschichte, die den Namen ,Worm' erhält, wird als „Antimahood" 197 bezeichnet, stellt also dessen Gegenpol, die nicht .weltliche', .erschienene', aber erscheinen sollende Existenz dar, wobei der Versuch, dieses Selbst zu erfassen, paradox selbst wieder durch das Bewußtsein, in einer .Geschichte' geschehen muß. Die Einführung dieser Figur und ihre Bestimmung soll jetzt dargestellt werden, bevor die Dialektik dieser Existenzmomente im letzten Teil des Romans aus der sie in Figuren repräsentierenden Form des Sprechens wieder ins Sprechen des Namenlosen, wie dieser formuliert, „nur noch über mich" 198 zurückgenommen verfolgt werden soll. S. Beckett, a. a. Ο., S. 46. 197 S. Beckett, a. a. O., S. 124.

198 S. Beckett, a. a. O., S. 236.

272

Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung 4 . ,Worm' als Verkörperung des ungeborenen Selbst

a) W o r m als Objektivierung des Normgrundes Bevor der Name für die neue Figur eingeführt wird, wird das, was in ihr vorgestellt ist, entwickelt. 1 9 9 Gegenüber der V i e l h e i t ,

durch die die Dimen-

sion des Erscheinens vertreten ist (.Basilius und Konsorten'), steht, wie oben dargestellt, das eigentliche Selbst, das durch jene ,verdeckt' wird und sich in ihrer . A b w e s e n h e i t ' wieder zu ergreifen sucht. An diesem Punkt einsetzend wird nun das selbsthafte Moment der Erfahrung durch die Frage nach ihm distanziert und für sich zur Figur erhoben, so daß jetzt die Selbsterfahrung des Namenlosen in drei Momente dissoziiert erscheint, das der Erscheinung (,sie', Mahood), dasjenige, das in der Abwesenheit jener etwas von ihm „erwartet", und dasjenige, das sich in diesen Antagonismus gestellt sieht: „. . . jenseits von ihnen ist jener, der midi nicht eher freigeben wird, als sie mich als unbrauchbar aufgegeben und mir selbst zurückgegeben haben. Dann werde ich mich endlich daran machen, zu sagen, was ich und wo ich während der langen verlorenen Zeit war. Wer ist es aber, der dies von mir erwartet, wenn ich richtig geraten habe? Und wer sind die anderen mit ganz anderen Absichten? Und deren Spiel ich spiele, wenn ich solche Fragen stelle. Tue ich das?" 200 I n der einzuführenden Figur ist also ein F o r d e r n d e s

gemeint, dasjenige

in ihm, das „erwartet", daß er er selbst sei und sich im Sprechen erfasse, wobei diese Forderung als Grund des Selbstseins dieses zwar in der Tat real ermöglicht, aber die Reflexion darüber — anders als das bloße Betroffensein — wieder in die Sphäre der ,anderen' und deren „Spiel", in die des Bewußtseins, führt, wie ja die „Mittel des Begreifens" als von ,ihnen' stammend hergeleitet worden waren. 2 0 1 I n der einzuführenden Figur kann also, wie noch genauer gezeigt werden soll, der Versuch einer Objektivierung des N o r m g r u n d e s

selbst

gesehen werden. Sie soll deshalb ausführlich dargestellt werden. Beide Tendenzen, die bezogen auf den sie Hörenden als dem dritten Moment der Selbsterfahrung als ,Stimmen' verstanden werden, werden gemäß dem Vorherigen bestimmt, einmal als eine Stimme, die, wie der Namenlose formuliert, „will, daß ich am Leben sei"

202

— Mahood ,lebte' ja für ihn — , also daß

er erscheine „bei ihren Billionen von Lebenden, ihren Trillionen von T o t e n "

203

,

zum anderen als eine Stimme, „von dem, der nicht diese Leidenschaft für das Tierreich hat, die N e u e s

1 99 200 201 202 2M

S. Beckett, a. a. Ο., S. Beckett, a. a. O., Vgl. oben S. 264 f. S. Beckett, a. a. O., S. Beckett, a. a. O.,

von mir erwartet . . . Denn über mich, im eigent-

S. 102 S. S. 91 f. S. 101. S. 102.

III. „Der Namenlose". Freisetzung des normativen Grundes

273

liehen Sinne, ich weiß, was ich meine, scheint man mir noch nichts gesagt zu haben" 204 . Dabei wird selbst ihre Charakterisierung als „Stimmen" wieder zurückgenommen, in einer Gedankenbewegung, die noch einmal die Folge von Setzung, Rücknahme und relativierter Weiterverwendung deutlich macht: „Diese ganze Geschichte über die Stimmen ist übrigens zu überprüfen, zu korrigieren, zu widerrufen. Ohne etwas zu hören, werde ich doch von Mitteilungen betroffen. So was Stimmen nennen! Warum eigentlich nicht, sobald man weiß, daß es nicht stimmt." 205

In der zweiten, den Namenlosen zu sich selbst aufrufenden „Stimme" ist dabei auch der Grund der von Moran erfahrenen „Stimme" zu sehen, denn sie, der Moran gegen alle „Autoritäten" der „Welt" zu folgen bereit war, enthielt ja gerade nicht das, was ihm „gelehrt", von anderen übermittelt wurde, war also vom Reflexionsstandpunkt des Namenlosen her gesehen gegen die „Stimme" Mahoods konzipiert. 206 Gegenüber der Flut der ,Geschichten' der weltlichen Stimme, die von ihm, aber zugleich audi nicht von ihm handeln, sind die Mitteilungen dieser Stimme kein zusammenhängender Bericht', nur „leise Rufe, dann und wann", die ihn zu sich selbst aufrufen: „Hör mich an! Sei wieder du selbst!" 207 und die, wie schon dargelegt, Forderungscharakter haben. Der Ursprung dieser ihn aufrufenden Stimme erhält nun, zum Subjekt erhoben, nach einer in die Schulzeit zurückführenden Erinnerung, in der der Mensch als „ein höheres Säugetier" 208 bezeichnet wird, den Namen „Worm", der ein vorgeburtliches Sein assoziieren läßt. „Aber ich werde ihm einen Namen geben müssen, diesem Einsamen. Ohne Eigennamen kein Heil. Ich werde ihn also Worm nennen. Es wurde höchste Zeit. Es wird auch mein Name sein, wenn es an der Zeit ist, wenn ich midi nicht mehr Mahood zu nennen brauche, wenn ich je dazu komme." 2 0 9

b) ,Nichts',,Leere', .Schweigen' als Grundbegriffe der Trilogie in Beziehung zu personaler Identität Nach der Entwicklung der Figur aus der Selbsterfahrung heraus wird sie in einem äußerst dichten Text, der ihre „Grundbegriffe" 210 enthält, als objektive 20t S.Beckett, a.a.O., S. 102f. (Hervorhebung G.B.). 205 S.Beckett, a.a.O., S. 103. 206 Die Idee eines Aus-sich-selbst-Seins gegen alle „Autoritäten" der „Welt" ist also auch im „Namenlosen" das zentrale Motiv und wird in der Untersuchung verschiedener „Stimmen" auf komplizierterer Reflexionsstufe weiterverfolgt. 207 S. Beckett, a. a. Ο., S. 103. 208 S. Beckett, a. a. O., S. 105. 209 S. Beckett .ι a. a. O., S. 106. 210 S. Beckett, a. a. O., S. 126.

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

Gestalt bestimmt. In diesem Text sind nun bezogen auf die Figur des Worm als Bild des Ursprungs des Aufrufs zum Selbstsein die Trilogie leitende Grundund Zielbegriffe, wie .Schweigen', ^Nichts', ,Leere' 211 explizit zum Thema und so in ihrem Sinn weiter verstehbar gemacht. Er soll deshalb ausführlicher behandelt werden. In Worm ist die unbestimmbare, nie objektive, aber gleichwohl wirkliche Identität des eigentlichen Selbst gedacht. Er ist „Was man, weil es so unveränderlich in einem ist, für das Wirklichste in einem hält. Der, außerhalb des Lebens, der man letztlich immer, dem langen vergeblichen Leben gemäß, gewesen ist." 212

Die eigentliche Wirklichkeit des Selbst wird also in dessen Unveränderlichem gesehen, das, da alles Erscheinende wechselt, wie noch weiter zu zeigen ist, nicht ,sein' (im Sinne von erscheinen') kann, also, obwohl es das eigentlich Wirkliche ist, „außerhalb des Lebens" bleibt. Diese Existenzform als Sein „außerhalb des Lebens" und Nichtsein im Sinne des Erscheinens ist in der Metaphorik des ,Ungeboren-in-der-Welt-Seins' festgehalten: „Ungeboren zur Welt gekommen, ohne zu leben dort verweilend, ohne Hoffnung auf Tod, Epizentrum der Freuden, der Leiden, der Ruhe." 213

,Epizentrum' bezeichnet die senkrecht über dem Herd eines Erdbebens gelegene Stelle auf der Erdoberfläche. Als „Epizentrum der Freuden, der Leiden, der Ruhe" ist das Sein dieses Selbst metaphorisch als nicht identisch mit dem eigentlichen Ursprung der Bewegung des Gemüts (Leiden, Freuden) und seiner Ruhe (die als Gegensatz zur Bewegung noch in Beziehung auf diese gedacht ist) gedeutet, d. h. als unterschieden von diesen gleichwohl in ihm erscheinenden Gegensätzen gekennzeichnet. Vom menschlichen Bewußtsein her ist dieses eigentliche Selbst nur negativ charakterisiert: „Worm, sagen, daß er nicht weiß, was er ist, wo er ist, was geschieht, das wäre zu wenig gesagt. Was er nicht weiß, ist, daß es etwas zu wissen gibt. Seine Sinne lehren ihn nichts, weder über ihn noch über den Rest, und diese Unterscheidung ist ihm fremd." 214

In Worm ist also — als Grund der Aufforderung zum Selbstsein — die Idee eines Seins ohne Gegensatz von Selbst und Welt und damit auch ohne Wissen

21· Vgl. oben S. 260, wo insbesondere ,Nichts' als ,Wirkliches', als G r u n d S e l b s t aufgewiesen war und die Analysen zu Moran und Molloy. 212 S. Becke«, a. a. O., S. 125. 213 Ebd. 214 S. Beckett, a. a. Ο., S. 124 f.

des

III. „Der Namenlose". Freisetzung des normativen Grundes

275

und Wissenwollen und, wie weiter ausgeführt wird, ohne Selbstbewußtsein beschrieben: „Nichts empfindend, nichts wissend, existiert er doch, aber nicht für sich selbst, sondern für die Menschen, es sind die Menschen, die ihn erdenken und die sagen, Worm ist da, weil wir ihn erdenken, als ob es keine andere als erdachte Existenz geben könnte, sei es auch nur von dem, der sie führt." 215 Dieses Sein des identischen Selbst ist also sich selbst unbewußt und bewußt nur für und in Beziehung auf das durch den Gegensatz eines Nicht-Ich bedingte menschliche Bewußtsein, so daß für dieses der Anschein eines durch es selbst Erdachtseins Worms entsteht, ein Schein, der im zitierten Text ausdrücklich kritisiert ist. Die Beziehung der „Menschen" zu Worm, also der tatsächlichen Existenz zum eigentlichen Selbst, wird dabei wie folgt beschrieben: „Die Menschen. Ein einziger, dann andere. Ein einziger dem All-Ohnmächtigen, dem All-Unwissenden zugewandt, der ihn heimsucht, dann andere. Zu jenem, dessen Nahrung er sein will, er, der Hungrige, und der, da er nichts Menschliches hat, nichts anderes hat, nichts hat, nicht ist." 216 Das Bewußtsein der Menschen wird als potentiell von dieser Identität ,heimgesucht' und ihr „zugewandt" vorgestellt. Da sie ja ohne Selbstbewußtsein ist und insofern „nichts Menschliches hat", muß sie für das menschliche Bewußtsein, für das nur Bestimmtes existiert, als N i c h t s erscheinen. Hier wird noch einmal der Sinn des ,nicht mehr Mensch sein Wollens' von Moran als Bewegung auf diese Identität hin deutlich. Dabei ist diese Zuwendung paradox als die des „Hungrigen", des empirischen Menschen, zu einem, dessen „Nahrung" er sein will, charakterisiert, d. h., der .Hunger' der wirklichen Existenz wird gelöscht im Sich-verzehren-Lassen in Beziehung auf die Identität des Selbst. In dieser Beschreibung der normativen Selbstbeziehung als zerstörende und befreiende ,Heimsuchung' durch ein ^licht-Menschliches' wie als Zuwendung zum ,Nichts' ist dabei der zentrale Zusammenhang in Becketts Werk aufgenommen und auf seinen Grund zurückgeführt. Er wurde im Rahmen der Trilogieinterpretation an Moran (seine Beziehung zu Molloy als die zu seinem Selbst war als ,Heimsuchung' durch diesen beschrieben und in ihrer Konsequenz lag jenes nicht mehr Mensch sein Wollen; ferner die positive Bedeutung der „Leere"), an Molloy (seine Entfernung von der Sprache als Ort des Bestimmten) und an Malone (der G r u n d des Erscheinungsselbst, der ,vor' diesem liegt, war dort als „Nichts" bezeichnet worden) verfolgt, kennzeichnet aber auch ζ. B. den Aufbau des Romans „Watt" m . In der obigen Beschreibung 215 S. Beckett, a. a. Ο., S. 125. 216 Ebd. 217 Bei der Einführung von Worm erinnert der Namenlose an Watt: „Worm, ich hätte beinahe Watt gesagt, Worm, was ist über Worm zu sagen, der nicht das Zeug hat, sich verständlich zu machen?" (S. Beckett, a.a.O., S. 109f.).

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

des gegensatzlosen Seins des eigentlichen Selbst vom menschlichen Bewußtsein her als N i c h t s , was notwendig ist, da alle seine Bestimmungen vom Gegensatz bedingt sind, ist dieses Selbst als unbestimmbar formuliert 2 1 8 . Seine, d. h. hier Worms, Äußerungsform ist deshalb als Antithese zum Sprechen Mahoods, das ja Bestimmen ist, „Schweigen", seine Existenz ist, obwohl er dasjenige repräsentiert, was das „Wirklichste in einem" ist, wie schon oben aufgewiesen, Sein „außerhalb des Lebens", Sein „ungeboren zur Welt gekommen", da innerhalb der Erscheinungswelt, d. h. für ein Bewußtsein, real nur Bestimmtes sein kann, obwohl das Bemühen der normativen tatsächlichen Existenz um ihn kreist. Worm ist „Der weder von der Wut zu sprechen verschont wird, noch von der Wut zu denken, zu wissen, was man ist, was man war, während des wilden Traums, droben unter den Himmeln, im Schutze der Nacht. Jener, der nichts von sich weiß und schweigt, was nicht wissend er verschweigt, und da er nicht sein konnte, es nicht mehr versucht. Der sich mit jenen umgibt, die sich in ihm erkennen und ihnen die gleiche Grimasse wie immer erwidert." 219 Hiermit ist auch die normative Bedeutung des S c h w e i g e n s in Moran und Molloys Aufzeichnungen, gegenüber dem alles Reden als je Bestimmtes und Einzelnes als ,Lüge' erscheint, auf ihren Grund in der Selbsterfahrung, aus der ja Worm entwickelt ist, zurückgeführt, da keine einzelne Äußerung den Gehalt der Idee dieses Seins erschöpfen kann.

c) ,Nicht-geboren-Sein' im Antagonismus von Sein mit Bedeutung (,Konzipiert'Werden) und Unnennbarkeit Die Darstellung der eigentlichen .Geschichte' Worms zeigt ihn nun in einem gegenüber dem bisherigen Zustand des nicht Fürsichseins veränderten Existenzzustand, wobei der Text eine Identität sowie die Nichtidentität der Figur in diesen Zuständen behauptet. „Schnell einen Ort. Ohne Zugang, ohne Ausweg, einen sicheren Ort. Nicht wie Eden. Und Worm darin. Nichts fühlend, nichts wissend, nichts könnend, nichts wollend. Bis zu dem Moment, in dem er das Geräusch hört, das nicht mehr aufhören wird. Dann ist es zu Ende, Worm ist nicht mehr." 220

218 Vgl. unten, wo es als „undenkbar, unsagbar" bestimmt wird (S. 279 f. und S. 284 f. der Arbeit). 219 S. Beckett, a. a. Ο., S. 125 f. 220 S. Beckett, a. a. Ο., S. 130.

III. »Der Namenlose". Freisetzung des normativen Grundes

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Dieser Feststellung, daß Worm mit diesem „Geräusch" „nicht mehr" ist, wird unmittelbar die entgegengesetzte Vorstellung gegenübergestellt. Der Text fährt in Anschluß an das obige Zitat fort: „Man weiß es, aber man sagt es nicht, man sagt, es sei das Erwachen, der Anfang von Worm, denn man muß jetzt sprechen, man muß über Worm sprechen, man muß es können. Es ist nicht mehr er, aber tun wir so, als ob er es immer noch wäre, dessen Ohr erzittert, indem es ihn dem Unglück ausliefert, den Mitteln, es zu beschwören, dem lauernden Auge, dem sich mühenden Kopf." 221

Eingeführt wird diese Veränderung also, weil man über Worm „sprechen muß". Für das Sein des Namenlosen, der sich ja in Worm in einem Aspekt seiner Existenz zu repräsentieren versucht, gilt dieselbe Doppelung: „Ich bin Worm, das heißt, ich bin es nicht mehr, da ich plötzlich höre. Aber das werde ich vergessen in der Hitze der Misere . . . Als Worm höre ich dies nie verstummende, wenngleich einer gewissen Abwechslung nicht entbehrende Geräusch in der Tiefe einer namenlosen Monotonie. Am Ende ich weiß nicht welcher Ewigkeit . . . ist meine Intelligenz davon genügend überreizt, um zu begreifen, daß es eine Stimme ist . . . " 222

In diesem modifizierten Sein, dem des Worm, über den man sprechen kann, sind dem Namenlosen aber Erinnerungen an dessen ersten Zustand, der bezogen auf ihn selbst dem entspricht, bevor er „ihnen" und der ihnen zugeordneten „Stimme" ausgeliefert wurde, geblieben. Diese Erinnerungen sind, obwohl sie andererseits wieder als „unmöglich" erkannt sind, von der Idee der möglichen Rückkehr dieses durch seine Klarheit ausgezeichneten Zustande begleitet: „Und doch scheint es mir, daß ich mich daran erinnere und daß ich nie vergessen werde, wie ich war, als ich er war, bevor alles verworren wurde. Aber das ist natürlich unmöglich, da Worm weder wissen konnte, wie er war, noch wer er war, so zu räsonnieren verlangen sie (Basilius, Mahood — das Bewußtsein, G. B.) von mir. Und mir scheint auch, was noch bedauernswerter ist,223 daß ich wieder er werden könnte, wenn man mich nur in Frieden ließe." 224

Dabei stellt aber audi ,Worm', durch den „sie" ihn bestimmen wollen, eine Gefahr für den Namenlosen dar, insofern der, der er ist, nämlich derjenige, der ,unbenennbar' ist, über den man nicht sprechen kann, in der Gestalt des Worm Z2i S. Beckett, a. a. Ο., S. 130. 222 S. Beckett, a. a. O., S. 131. 223 Nicht die Idee der Rückkehr, sondern dem Schein ihrer Möglichkeit ausgesetzt zu sein, ist ,bedauernswert'; .bedauernswerter' als Steigerung ist so darauf bezogen, daß er schon gezwungen ist, auf diese Weise zu denken, zu „räsonnieren." 224 Vgl. S. Beckett, a. a. Ο., S. 135; frz. S. 131. Tophoven übersetzt „ . . . comment j'etais quand j'etais l u i . . . " abweichend durch „ . . . wie ich war, als ich es war . . . " .

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

nur in der Perspektive von Vergangenheit und Zukunft (er gewesen sein, wieder er sein) erscheint. „ . . . sie werden mit meiner Müdigkeit rechnend, während sie mir immer härter zusetzen, darauf warten, daß ich den ganz und gar vergesse, der nicht zu dem gemacht werden kann, zu dem sie mich gemacht haben, ohne von gestern zu sprechen, ohne von morgen zu sprechen." 225

Während in ,Mahood' der Sprechende des Romans sich als Lebenden, Existierenden zu erfassen suchte, ist in Worm der Versuch zu sehen, sich an jenem Ort und als jener vorzustellen, nach dem am Beginn des Romans („Wo nun? Wann nun? Wer nun? . . . " ) gefragt ist, also der Versuch, nach dem Sehen auf sich als Erscheinung aus dem Zentrum der ungegenständlichen Selbsterfahrung heraus zu aus ihr legitimierten objektiven Momenten zu kommen. So kehren in der Figur des Worm (in seinem zweiten Existenzzustand) Bestimmungen aus der „Präambel", in der der Sprechende sein Sein an einem Ort jenseits der Gegenständlichkeit zu bestimmen versuchte, wieder. In der Figur des Worm, „als Worm", ,hört' der Namenlose — auch die Vorstellung des Hörens wird als „nicht das richtige Wort" 226 wieder zurückgenommen — jenes „Geräusch" 227 , das als „Stimme" und auch als „das Leben" 228 bezeichnet ist und das mit zwei Ausnahmen, in denen es als von ihm selbst hervorgebracht erkannt ist,229 immer wieder objektivierend anderen zugeschrieben wird. Worm ,fühlt' in diesem Existenzzustand, er ,leidet' unter diesem zerreißenden' Geräusch, „das ihn hindert, so zu sein, wie er vorher war, eine Nuance" 230 , wie unter dem an seinem Ort herrschenden „Grau" 231, den Richtern' (damit erscheinen Momente der anfänglichen Situationsbeschreibung durch den Sprechenden wieder), ihm werden so Ohr, Auge, Kopf zugeschrieben. Insofern jetzt ein Anderes und damit Wahrnehmen und Fühlen vorhanden sind, befindet er sich in einer Existenzform, die zwar n a c h seinem ursprünglichen, als gegensatz- und bewußtseinslos vorgestellten Existenzzustand, aber noch v o r dem Dasein im „Tageslicht" 232 liegt. Zu diesem soll er gerade durch sein Leiden an der „Stimme" und den „Lichtern" gebracht werden, dadurch, daß er sich aus der „Mitte" des als lebensfern dargestellten Ortes, in der er sich „festge-

225

S. Beckett, a. a. O., S. 135. S. Beckett, a . a . O . , S. 151. 22 ? Vgl. oben S. 276. 22 « S. Becke«, a. a. O., S. 163. 2 2 9 S. Beckett, a. a. O., S. 144,152. 230 S. Beckett, a. a. Ο., S. 157. Vgl. zur Darstellung dieser zweiten Existenzform des Worma. a.O., S. 130 ff. 231 S. Beckett, a. a. O., S. 165. 232 S. Beckett, a. a. O., S. 142. 22 6

III. „Der Namenlose". Freisetzung des normativen Grundes

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schmiedet" befindet, weg- und auf sie, die ihn herauslocken wollen, zubewegt. Sich wegbewegen würde in dieser Vorstellung bedeuten, zum „Leben" zu gelangen: „Und es ist ein Glück für ihn, daß er sich nicht rühren kann, selbst wenn er darunter leidet, denn es hieße sein Lebensurteil unterschreiben, sich von dort zu rühren, wo er ist, auf der Suche nach ein wenig Ruhe, nach ein wenig Schweigen von ehemals." 233 Worms Existenzform ist so als Leben „ohne leben zu können" 234 vorgestellt, in der Spannung, das „Leiden" auszuhalten oder in der Flucht vor sich selbst, auf „sie" zuzugehen, sich von ihnen bestimmen zu lassen, um „Frieden" zu erreichen. Worm stellt also in dieser Existenzform das nicht erscheinen könnende Selbst des Namenlosen dar, das der „Stimme" an jenem Ort jenseits des .Lebens im Licht' ausgesetzt, sich nicht rühren kann, weil es in dem Gesagten nicht als es selbst bewußt sein kann. Insofern wird im Gegensatz zu der Figur des Mahood Worms Problem als das des Geboren-Werdens bezeichnet. „Als Mahood habe ich nicht zu sterben vermocht. Werde ich als Worm kapabel sein, geboren zu werden? Es ist das gleiche Problem. Aber vielleicht trotz allem nicht die gleiche Person." 235 ,Mahood' als „Reisender" im „Licht", als empirisch Lebender also, kann, solange er lebt, die Vorstellung des Nichts nicht realisieren, da das Bewußtsein immer die Differenz offenhält; umgekehrt kann das eigentliche Selbst, das unveränderliche, identische, unbestimmbare, nicht als solches im wirklichen Leben, im Bewußtsein erscheinen, weil darin nur B e s t i m m t e s wirklich ist. Entsprechend hatte der Namenlose doppelsinnig von sich selbst formuliert, G e b u r t und S e i n m i t B e d e u t u n g , bestimmtes Sein, gleichsetzend: „Gewiß, gewiß, ich der unterwegs ist, mit wortgeblähten Segeln, ich bin auch der undenkbare Ahn, von dem man nichts sagen kann. Aber ich werden vielleicht über ihn sprechen und über die undurchdringlichen Zeiten, als ich er war, wenn sie einmal schweigen werden, endlich davon überzeugt, daß ich nie geboren werde, weil ich midi nicht konzipieren ließ." 236 ,Geboren-Werden' und ,Sein' im Sinne des .Erscheinens' ist also ,Konzipiertsein', Bestimmtsein durch eine Bedeutung, die dem eigentlichen Sein des Namenlosen als u n d e n k b a r e m (weil vor der Entgegensetzung liegend) widerspricht, das als unbestimmbares nur im Schweigen ist. Dieses eigentliche

233

S. Beckett, S. Beckett, 23 5 S. Bedcett, S. Beckett, 234

a. a. Ο., a. a. O., a. a. O., a. a. O.,

S. 149. S. 150. S. 137. S. 138.

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

Sein wird dabei in der unmittelbaren Fortsetzung des zitierten Textes, obwohl es nicht erscheinen kann und in Gefahr ist, vergessen bzw. bestimmt zu werden, als noch fortdauernd bezeichnet. „Ja, ich werde wahrscheinlich eine Weile darüber sprechen, echohaft spottend, bevor ich ihn wieder treffe, ihn, von dem man mich nicht zu trennen vermochte." 237 Diese in den Figuren Mahood und Worm dargestellten Antinomie, die ein wirkliches Sein im Ubergang zum Nicht-Sein (.Sterben') einem Noch-nicht-Seienden im Übergang zum Sein (.Geboren-Werden') konfrontiert, umschreibt die Existenz, in der jedes Wirkliche, weil bestimmt, nicht man selbst ist, und umgekehrt dieses Selbst nicht im Sinne des Gewußten wirklich werden kann. 238 Der Text beschreibt so das aus diesen Momenten bestehende Sein, dem gerade ein sich Wissen als es selbst und damit ein wirkliches Selbstsein, das Ziel, unter dem es steht, nicht gegeben ist, als „nicht leben, sterben, geboren werden können" 2 3 9 . In einem Gedicht aus dem Zeitraum der Trilogie hat Beckett ein solches wirkliches Selbstsein für einen „Augenblick", den des Sterbens, ermöglicht gesehen 2 4 0 , in der Trilogie, wie jetzt in der Interpretation des Schlußabschnittes gezeigt werden soll, als nicht wißbar bestimmt und von daher den Prozeß der Annäherung im Sprechen und ,Weitermadien' selbst als das Normative festgehalten.

5. Selbsterfahrung als ,νοη der Welt Abwesender' im „Schweigen" als Wahrheitsgrund der Trilogie. Unwißbarkeit des Ziels und Normativität der Suche Im abschließenden Teil des Romans werden nun die im Vorherigen dargestellten Objektivationen in Figuren (Mahood und Worm), die jeweils nur einen Aspekt der Gesamtexistenz erfassen und so auch „Lügen" sind und wieder verworfen werden müssen, in die nicht mehr distanzierend erfaßte Selbsterfahrung 237 S. Beckett, a. a. Ο., S. 138 f. 238 Beckett hat dies in späten Werken für das Theater aufgenommen. In dem Stück „Not-I" weigert sich die Person beharrlich zu der, deren Geschichte sie erinnernd erzählt und die im gewöhnlichen Verständnis ,sie selbst' ist, ,Ich' zu sagen. Im Stück „Damals" fragt sich die Gestalt „ . . . um Gottes willen sagtest du je ich zu dir selber in deinem Leben na komm ( . . . ) wagtest du je ich zu sagen in deinem Leben . . . " Damals (That Time, deutsch), in: Spectaculum 28, Frankfurt am Main 1978, S. 10. 239 S. Beckett, a. a. Ο., S. 176. 240 Die Trilogie wurde 1948—49 geschrieben; das Gedicht gehört zu einer Gruppe von Gedichten mit der Bezeichnung „Six poemes Sechs Gedichte 1947—1949". Samuel Beckett, Gedichte, München 1976, S. 79 ff. Es lautet in der Übersetzung

III. „Der Namenlose". Freisetzung des normativen Grundes

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zurückgenommen. Die beiden Gestalten versteht der Namenlose dabei als Versuche, ihn aus seiner Unnennbarkeit zu „locken", für das Bewußtsein zu sein, wobei er die Bedeutsamkeit der Figur des Worm, in der ja zunächst der Normgrund, das unbestimmbare Selbst, und in seinem zweiten Existenzzustand das nicht sein Können, nicht geboren werden Können unter dem Einfluß der „Stimme" vorgestellt ist, noch einmal betont: „ . . . ich habe midi nicht gerührt, alles was ich sagte, was ich getan zu haben, gewesen zu sein sagte, haben sie mir gesagt, ich habe nichts gesagt, ich bin nicht herausgewesen . . . nicht Mahood wird mich dazu bringen, daß ich herausgehe, auch Worm nicht, sie setzten große Stücke auf Worm, um mich herauszulocken, er war nicht wie die anderen, angeblich, das ist möglich, für mich sind sie alle gleich . . 2 4 1

Wie schon bei der Einführung der Figur des Worm gefragt wurde, ob in der Vergegenständlichung des Normgrundes zu einer Figur nicht „ihr Spiel" gespielt, d. h. also das nur im S e i n reale, zum Selbstsein Auffordernde in eine Vorstellung für das Bewußtsein verwandelt werde, verwirft der Namenlose nun audi diese Gestalt, die von dem genannten Gesichtspunkt aus tatsächlich audi nichts anderes, sondern „gleich" mit allen ,anderen' ist. Statt solchen sich in Figuren objektivierenden Sprechens geht es ihm jetzt um seine „eigene" Geschichte 242, wobei diese Wendung zu sich selbst in genauer Entsprechung zu dem Gegensatz von „Spiel" und „Ernst", Erscheinung und Grund des Selbst in „Malone stirbt" durch die Begriffe „ernst" und „formlos" 243 begleitet ist. Dabei wird aber die in Mahood (Bewußtsein, Sprache, Leben, Erscheinung) und Worm (sich unbewußt Sein, Sein vor der Erscheinung, ungeboren Sein, Schweigen) formulierte Antithese von Existenzmomenten in verwandelter Form festgehalten. Sie erscheint jetzt als Gegensatz von ,Hörendem' und .Sprechendem', der h i e r ist einerseits, dem also Momente der Erfahrung zukommen, und dem Wissen von sich als . A b w e s e n d e m ' andererseits, das, wie der Text zeigt, selbsthaften Charakter hat: „ . . . so tun, also ob ich allein auf der Welt wäre, während ich ihr einziger Abwesender bin, oder mit anderen, was ändert es . . . man braucht nur irren und irren zu lassen, von Wort zu Wort, nur dieser langsame grenzenlose Wirbel und von E. Tophoven: „ich bin der Sandstreifen der sich / zwischen dem Geschiebe und der Düne hinzieht / der Sommerregen regnet auf mein Leben / auf midi mein Leben das midi flieht mir folgt / und enden wird am Tag seines Beginns / / teurer Augenblick idi sehe didi / in dem weichenden Nebelvorhang / wo ich nicht mehr die langen treibenden Schwellen zu betreten brauche / und leben werde solange eine Tür / sich öffnet und wieder schließt" (a. a. O., S. 87). 2« S. Beckett, a. a. Ο., S. 191 f. 2« S.Beckett, a.a.O., S. 196. Schon vorher hatte der Namenlose festgestellt: „ich bin also dran" (a. a. O., S. 186). 2« S.Bedcett, a.a.O., S.189f.

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

jedes seiner Stäubchen zu sein, es ist unmöglich. Jemand spricht, jemand hört, es ist nicht nötig weiter zu gehen, es ist nicht er, ich bin es, oder ein anderer, oder andere, was kann das ändern, der Fall ist klar, es ist nicht er, von dem ich weiß, daß ich es bin, das ist alles, was ich weiß, von dem ich nicht sagen kann, daß ich es sei, ich kann nichts sagen, ich habe es versucht, ich versuche es . . . " 244

Mit der Vorstellung des von der „Welt" „Abwesenden" als normativem Moment der Selbsterfahrung ist hier ein die gesamte Trilogie durchziehendes Motiv aufgenommen und in seinen Ursprung zurückverfolgt.245 Im „Namenlosen" konnte die Titelgestalt im figürlich darstellenden Teil nur in der „Abwesenheit" Mahoods, der ja was jetzt ,hören und sprechen' ist, verkörperte, versuchen, wieder zu sich selbst zu kommen.246 Später wird das Motiv vom vergangenen welthaften Erleben des Sprechenden her am Beispiel der Erfahrung von Landschaft als nicht „dabei" Sein des „Herzens" zusammen mit der Vorstellung des ,sich fern Fühlens' aufgenommen.247 Für den ,hier' Hörenden und Sprechenden bedeutet es ein Ausfallen von Sätzen 248 bzw. ein ,nicht Achtgeben' auf das Sprechen.249 Im oben zitierten Text wird nun die Vorstellung des „Abwesenden" dem Hörenden und Sprechenden entgegengesetzt. Der Text spielt mit den Bedeutungen des Personalpronomens ,ich', das sowohl das Ich der empirischen Selbsterfahrung, des hier Sprechenden, als auch die Erfahrung des eigentlichen Selbst bezeichnet. Nur dem letzteren kommt aber die Bedeutung ,Ich' in vollem und ausschließendem Sinne zu.250 Das Wissen des Namenlosen besteht so erstens darin, daß der Hörende und Sprechende (,ich',,jemand', andere'), dieser „Wirbel" von Worten, nicht „er, von dem ich weiß, daß ich es bin", nicht das eigentliche Selbst ist; es ist ihm also auch ein positives Wissen von diesem eigen. Ferner hat er das Bewußtsein, von diesem eigentlichen Selbst nicht sagen zu können „daß ich es sei", denn damit würde, wie man interpretieren kann, in der Identifizierung mit dem sich in der empirischen Erfahrung gegenwärtigen Ich des Hörenden und Sprechenden die Unbestimmtheit des eigentlichen Selbst verendlicht.251 Schließlich .versucht' er, obwohl er über dieses normative Selbst „nichts sagen" kann, sein Wissen von ihm zu bestimmen, S. Beckett, a. a. Ο., S. 243. Ihm war in „Molloy" und „Malone stirbt" im Aufgeben des empirischen Selbst und in der Weltablösung („nicht ganz dabei Sein"; oben S. 248, S. 257) nachgegangen worden. 246 Vgl. oben S. 270 f. 2t7 S.Beckett, a . a . O . , S.239. 248 S. Beckett, a. a. Ο., S. 172. 249 S. Beckett, a. a. O., S. 267. 250 Dies zeigt im Text die Formulierung „jemand spricht, jemand hört . . . ich bin es oder ein anderer", der für den „Abwesenden" die Bestimmung „einziger . . . oder m i t anderen" (Hervorhebung G. B.) gegenübersteht. 25 1 Diese Differenz begründet jene Scheu zu sich ,ich' zu sagen, an die oben (S. 280) in Beziehung auf späte Stücke Becketts erinnert wurde. 244 245

III. „Der Namenlose". Freisetzung des normativen Grundes

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wobei er, wie die unmittelbare Fortsetzung des oben zitierten Abschnitts zeigt, die Momente verwendet, die der Figur des Worm eigen waren. So fährt der Text fort: „... er weiß nichts, kennt nichts, weder was sprechen ist, noch was hören ist, was nichts wissen ist, nichts können, und versuchen müssen . . 2 5 2 Gleichsinnig wird wenig später, allerdings hier mit der relativierenden Bezeichnung der Bestimmungen als „Hypothesen", die entwickelt werden, weil der Namenlose ,weitermachen' muß, formuliert: „. . . es handelt sich um ihn, der nichts weiß, nichts will, nichts kann, wenn man nichts wollend nichts können kann, der weder sprechen noch hören kann, der ich ist, der nicht ich sein kann, über den ich nicht sprechen kann, über den ich sprechen muß, dies alles sind Hypothesen . . . es handelt sich nicht darum, Hypothesen aufzustellen, es handelt sich darum, weiterzumachen . . 2 5 3 Das eigentliche Selbst, die Erfahrung von sich als dem ,Abwesenden', ist so nur im ,Schweigen'. Es bezeichnet, wie schon aufgewiesen 254, den N o r m g r u n d der Trilogie und verweist auf das in ihr selbst nicht erreichte Z i e l w i r k l i c h e r S e l b s t b e g e g n u n g . Gegen Schluß des Romans wird dieser Zusammenhang, der die gesamte Trilogie durchzieht (vgl. oben: Molloys Sprachkritik, Schweigen als Selbstausdruck Molloys; Morans Erfahrung des Schweigens im Kosmos; Worm, der .schweigt'), ausdrücklich thematisch. Der Text, der, bevor der Roman mit dem Konstatieren des Niditerreichens und der Äußerung des Willens, weiterzumachen endet, die I d e e e i n e r V e r e i n i g u n g von B e w u ß t s e i n s - I c h und eigentlichem Selbst im S c h w e i g e n formuliert, soll, zur Interpretation in kurze Abschnitte gegliedert, vollständig zitiert werden 255 Im Zusammenhang einer Darstellung seines ,Erzählens' von ,Geschichten' kommt der Namenlose auf die Möglichkeit eines ,nicht dabei' Seins beim Erzählen zu sprechen: „. . . oder aber ich gebe nicht acht, ich bin so daran gewöhnt, ich tue es ohne achtzugeben, oder als ob ich woanders wäre, da bin ich wieder fern, wieder der Abwesende, er ist an der Reihe, er, der weder spricht noch lauscht, der weder Körper noch Seele hat, er hat etwas anderes, er muß etwas haben, er muß irgendwo sein, er besteht aus Schweigen, das ist eine feine Analyse, er ist im Schweigen, er ist es, den man suchen muß, der man sein muß, über den man sprechen muß,

252 S. Beckett, a. a. Ο., S. 243. 253 S. Beckett, a. a. O., S. 249. 2 54 Vgl. oben S. 272 fi. 255 S. Beckett, a. a. O., S. 267 f.

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Β. Bedcetts Romantrilogie als Geschichte der Selbstetfahrung

er kann jedoch nicht sprechen, dann könnte ich aufhören, ich werde er sein, ich werde das Schweigen sein, ich werde im Schweigen sein, wir werden vereint sein ..." 256 Das Bewußtseins-Ich ist normativ bezogen auf den ,Abwesenden', der selbst .Schweigen' ist („er besteht aus Schweigen"); es ist er, den man „suchen", „sein", „über den" man „sprechen" muß. In der Vereinigung von BewußtseinsIch und 4hm* ist die Idee eines möglichen Endes, also das Z i e l , das, wäre es erreicht, ein ,Aufhören' ermöglichen würde, formuliert. Das BewußtseinsIch steht also im Dienst des ,eigentlichen Selbst' und will ihm in der Suche, im Sprechen für es zur Existenz verhelfen 257 und darin — als dem Bewußtsein von seinem wahren Selbst — e s „sein", mit ihm „vereint" bei sich selbst sein.258 Die Idee einer möglichen künftigen Vereintheit ist dabei von der Vorstellung einer ursprünglich gewesenen und aufgehobenen Einheit begleitet. Der Text fährt nach dem obigen Zitat, die Notwendigkeit des über ,ihn', den Abwesenden, Sprechens in die des Erzählens „seiner . . . Geschichte", der „Geschichte des Schweigens", überführend, fort: „... es ist seine (des Abwesenden, G. B.) Geschichte, die man erzählen muß, er hat jedoch keine Geschichte, er ist nicht in der Geschichte gewesen, das ist nicht sicher, er ist in seiner eigenen Geschichte, undenkbar, unsagbar, das macht nichts, man muß versuchen in meinen alten ich weiß nicht von woher gekommenen Geschichten die seine zu finden, sie muß darin sein, sie muß meine gewesen sein, bevor sie seine war, ich werde sie wiedererkennen, ich werde sie schließlich wiedererkennen, die Geschichte des Schweigens, die er nie verlassen hat, die ich nie hätte verlassen dürfen ..." 259 Die Genese des Bewußtseins-Ich ist also als „verlassen" der „Geschichte des Schweigens", als Trennung von ihr beschrieben, Trennung von einer ursprünglichen Identität, durch die die Doppelung von ,Hiersein' (Hören, Sprechen: Bewußtsein) und . A b w e s e n h e i t ' (Schweigen) entsteht. Dieses Ursprung und Ziel in der Vereintheit bedeutende Sein des Selbst, aus dem es als Bewußtsein .kommt' und auf das es normativ bezogen bleiben muß, ist „undenkbar, unsag256 S. Beckett, a. a. Ο., S. 267 f. 257 Watts Beziehung zu Knott, in der er als .Zeuge* für Knott, der .nicht von sich weiß', verstanden ist, kann von diesem Versuch her gedeutet werden. Im Roman „Mercier und Camier", in dem Watt wieder erscheint, formuliert er: „Er wird geboren, er ist aus uns geboren ..., derjenige, der nichts habend nichts haben will, außer daß man ihm das Nichts, das er hat, läßt" (S. Beckett, Mercier und Camier, Frankfurt 1972, S. 178). 258 In „Malone stirbt" wird an der Gestalt des Sapo gezeigt, daß diese Selbstbeziehung auch die zu anderen einschließt, daß man, solange sie fehlt, „unter Fremden" (Malone stirbt, a. a. O., S. 35) ist. Die ,Selbstsuche' hat, wie evident, über das einzelne Selbst hinausreichende, a l l g e m e i n e Bedeutung. 259 s. Beckett, a. a. Ο., S. 268.

III. „Der Namenlose". Freisetzung des normativen Grundes

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bar", und deshalb nur im .Schweigen' erreichbar. In ihm ist der Grund, der jede einzelne Äußerung als ,Lüge' wieder aufhebt, zu sehen. Dabei nimmt, ausgehend von dem Bewußtsein, daß v o r der Trennung in Bewußtseins-Ich und ,Abwesenden' eine Identität bestanden hat, die Haltung zu den eigenen Produktionen eine Wendung: sie werden nicht mehr nur als ,Lüge' bezeichnet, sondern i n i h n e n muß die „Geschichte des Schweigens" enthalten sein, da, wie der Namenlose formuliert, diese Geschichte des Schweigens „meine gewesen sein" muß, „bevor sie seine (die des Abwesenden, G. B.) war" ,260 Das Wiedererkennen dieser Geschichte ist dabei als der Ort der wahren Selbstbegegnung gekennzeichnet, der Identität von Tod und Neugeburt, Ende und Anfang bedeutet. 261 Der Text fährt auf jene Geschichte bezogen fort: „... die ich vielleicht nie wiederfinden werde, die ich vielleicht wiederfinden werde, dann wird es er sein, es wird idi sein, es wird der Ort sein, das Schweigen, das Ende, der Anfang, der Wiederanfang, wie soll ich es sagen, es sind Worte, ich habe nichts anderes ..." 262 Der Roman endet in der U n g e w i ß h e i t einer erreichten Annäherung an diese Selbstbegegnung im Schweigen, ja in der Erkenntnis ihrer n i c h t d e f i n i t i v e n W i s s b a r k e i t und mit der Z u s t i m m u n g zu dem vorher als ,Tatsache' („fait") 263 bezeichneten Zwang des Sprechenmüssens, mit der Zustimmung, .weiterzumachen'. Dabei wird das zuvor in Ursprung und Ziel auseinandergelegte .eigentliche Selbstsein' im ,Schweigen' noch neben seinem alleinigen Sein in diesen gedachten Zuständen in paradoxen Formulierungen als doch auch dem Bewußtsein g e g e n w ä r t i g erkannt, so daß jene Ursprung- und Zielvorstellung vielmehr aus dieser dem Sprechenden präsenten Erfahrung verstanden werden kann, insofern sie r e i n nur mit dem Nichtsein bzw. Verlöschen des Bewußtseins erreicht ist, dessen Grund und Ziel sie darstellt. Das Schweigen, das „verlassen" wurde und dessen Geschichte gesucht wird, wird nämlich zugleich im Hören und Reden des Bewußtseins als f o r t d a u e r n d , , w ä h r e n d ' erkannt, so daß in ihm die in der Figur des Worm objektivierte und im ,Abwesenden' als das andere seiner selbst (als des Hierseienden) erkannte eigentliche Selbsterfahrung, mithin der Normgrund, als eine dem hörenden und sprechenden Ich — obwohl es sie im Formulieren verstellt — andererseits doch auch wiederum präsente Erfahrung verstanden ist, deren 260 S. Beckett, a.a.O., S.268. 261 Damit ist die Idee eines ,Endens' am ,Tag des Beginns' des eigentlichen Lebens, die das zitierte Gedicht Becketts bestimmt (vgl. oben S. 280 f.), aufgenommen. Die Trilogie entwickelt sie in der doppelten Verwandlungsthematik von .Sterben' und .geboren Werden' als ein .anderer'. 2 « S.Beckett, a.a.O., S.268. 263 S. Beckett, a. a. Ο., S. 56: „ . . . es ist ein Zufall, es ist eine Tatsache"; „... c'est un accident, c'est un fait" (frz. S. 55).

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

Aussprechen zwar scheitert, die sich aber gerade auf diese Weise als bleibendes Schweigen erweist. Weil darin der dem hörenden und sprechenden Ich selbst gegenwärtig zugängliche Erfahrungspunkt liegt, der eine Beurteilung des Gesprochenen als „Lüge" ermöglicht, und so, wenn auch selbst nicht positiv formulierbar, doch das ist, was man den W a h r h e i t s g r u n d nennen kann, soll dieser Zusammenhang abschließend noch belegt werden. In ihr, der fortdauernden Präsenz des Schweigens, ist audi die Möglichkeit gelegen, wie in der Zustimmung ,weiterzumachen' zum Ausdruck kommt, den Prozeß des Sprechens selbst, der permanenten Produktion und Reflexion, Darstellung und Kritik, nicht nur sein Ziel als normativ zu verstehen. Der Schluß des Romans stellt die beiden schon erwähnten und im Roman zuvor immer wieder thematischen Formen des Schweigens einander gegenüber. Die erste Form wird dabei negativ charakterisiert als Schweigen das jedoch nicht währt, in dem man lauscht, in dem man wartet, auf daß es gebrochen werde, auf daß die Stimme es breche, es ist vielleicht das einzige, ich weiß nicht, es hat keinen Wert, das ist alles, was ich weiß, es ist nicht ich, das ist alles, was ich weiß, es ist nicht meines, es ist das einzige, das ich gehabt habe Dieser ,wertlosen', auf das Bewußtsein bezogenen (,lausdien', .warten') negativen Form wird unmittelbar anschließend die zweite, positive, konfrontiert und nun gegenüber der vorher entwickelten Vorstellung es ,verlassen' zu haben, seine Fortdauer realisiert: „ . . . das ist nicht wahr, ich muß das andere gehabt haben, jenes, das währt, es hat jedoch nicht gewährt, ich begreife nidit, das heißt doch, es währt nodi immer, ich bin noch immer darin, ich habe mich darin gelassen . . 265 Die Paradoxic von zugleich Sein und Nichtsein d e r Erfahrung, in der für das bewußte Ich das eigentliche Selbst als ein gegenüber allem sich Darstellen überlegenes Schweigen wirklich ist, wird wenig später in einem Abschnitt, in dem die Dramatik des Schlusses in der Ungewißheit über die Form des aktuellen Schweigens sich zeigt, so formuliert: „.. . es sind Worte, es gibt nichts anderes, man muß weitermachen, das ist alles, was ich weiß, sie werden aufhören, ich kenne das, ich fühle, daß sie mich loslassen, es wird das Schweigen sein, eine kurze Weile, eine ganze Weile, oder es wird meines sein, das währt, das nicht gewährt hat, das immer noch währt, es wird ich sein . . . " 266

2M S. Beckett, a. a. Ο., S. 270. 265 S. Beckett, a. a. O., S. 270. 266 S. Beckett, a. a. O., S. 270.

III. „Der Namenlose". Freisetzung des normativen Grundes

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Die dramatische Bewegung des Romanendes entsteht so aus der Ungewißheit, ob im Verstummen der Worte das eigentliche Schweigen erscheint, oder ob die Worte wieder von neuem beginnen, so daß sich ein zweimaliges — aber als fortwährend zu denkendes — Umschlagen von vermuteter Annäherung und vermutetem Erreichen einerseits und Zwang zum ,Weitermachen' andererseits ergibt, v e r m u t e t e m Erreichen deshalb, weil, wie schon für die Figur des Worm und für die Erfahrung von sich als Abwesendem entwickelt und jetzt für das (positive) Schweigen wieder aufgenommen, man „im Schweigen" nicht „weiß" 267 . Daraus, aus der Unwißbarkeit des Ziels, ergibt sich die Unendlichkeit der Bewegung und ihrer Dialektik; die Bewegung bleibt ohne Abschluß, weil sie das Wissen (das ja für ein Bewußtsein ist) dieses Schweigens erstrebt. Dennoch schließt der Roman in dieser Ungewißheit in dem Sinn positiv, daß, wie schon angedeutet, in der Absichtsäußerung ,weiterzumachen' eine Zustimmung zu dem Prozeß des Sprechens selbst erfolgt, Der Roman endet: „ . . . ist ist vielleicht schon geschehen, sie (die Worte, G. B.) haben es mir vielleicht schon gesagt, sie haben mich vielleicht bis an die Schwelle meiner Geschichte getragen, vor die Tür, die sich zu meiner Geschichte öffnet, es würde mich wundern, wenn sie sich öffnete, es wird ich sein, es wird das Schweigen sein, da wo ich bin, ich weiß nicht, ich werde es nie wissen, im Schweigen weiß man nicht, man muß weitermachen, ich werde weitermachen." 268 Diese Zustimmung zu einem Prozeß, dessen Ziel, ein r e i n e s Selbstsein, obwohl notwendig, gleichwohl als nicht wissbar erscheint, gibt diesem P r o z e ß — entsprechend der Erkenntnis des ,Währens' der Selbsterfahrung als Schweigen in ihm als Grund der Kritik alles Redens — s e l b s t n o r m a t i v e n C h a r a k t e r , insofern als er durch die permanente Produktion und Reflexion diesen Grund spürbar macht und auf dieses Ziel verweist, während sowohl eine Nichtproduktion, also ein Nichtheraustreten ins Bewußtsein, wie auch eine kritiklose Produktion, die den Namenlosen mit einer Geschichte identifizierte, sie nicht ins Bewußtsein bringen würde. Kritik und Begründung von Dichtung im „Namenlosen" Die in der Trilogie enthaltene radikale Kritik und Neubegründung von Dichtung soll in einem abschließenden Gedankengang dargestellt werden, der die Momente, die zu diesem Thema in der Interpretation der Trilogie bezogen auf 267 „ . . . im Schweigen weiß man nicht . . . " (S. Beckett, a. a. Ο., S. 269 und 271). 268 S. Beckett, a. a. Ο., S. 271. In der Charakterisierung der Annäherung an sich selbst durch die Metapher des vor der „Tür" Seins ist dieselbe Vorstellung wie in dem zitierten Gedicht aufgenommen, in dem das sich Öffnen und wieder Schließen der Tür als „Augenblick" des „Lebens" gekennzeichnet war. (Vgl. oben S. 280 f.)

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die Genese einer unbedingten Selbsterfahrung in einer „Geschichte des Bewußtseins" entwickelt wurden, zusammenfaßt. Dabei sollen die ausführlich dargelegten Zusammenhänge aus „Molloy" und „Malone stirbt" nur kurz erinnert werden. In „M ο 11 ο y" erschloß, wie an Morans Bericht herausgearbeitet wurde, die ästhetische Erfahrung eine „Atmosphäre" der Selbstbegegnung gerade im Gegensatz zur tatsächlichen Existenz. Dabei ist die ästhetische Sphäre hier als Phänomen des Lebens selbst Thema, so daß der „Bericht" sich nicht als .Literatur' versteht, ja sich von ihr absetzt. Weil in dieser ästhetischen Sphäre der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck" das eigentliche Selbst, so war interpretiert worden, als „Fabelwesen" erfahrbar ist, gerade weil es r e a l nicht dort ist, mußte der Bericht geschrieben, als ganzer aber auch wieder aufgehoben werden. — In Molloys Aufzeichnungen, dem ersten Teil des Bandes, war diese .ästhetische', vorbegriffliche Weltbeziehung jenseits b e s t i m m t e r Bedeutung ebenfalls als ein Moment des Lebens, als Heraustreten aus jeder begrenzten Weltbeziehung im Zusammenhang mit einer gegenüber Moran fortgeschrittenen Bewegung auf das normative Selbst zu verstanden worden. — In „ M a l o n e s t i r b t " erscheint der Gegensatz von Schein und tatsächlicher Existenz in veränderter Form, insofern hier „leben und erfinden" als „Spiel" dem „Ernst", dem unformulierbaren Grund des Selbst, gegenüberstehen, so daß jetzt erstmals die ästhetische Sphäre als .Dichtung' thematisch wird. Malone versteht sich dabei in der Doppelung von ,Geschichte' und .wirklichem Sein', wobei er dieses wirkliche Sein — in seinem Zimmer, als Sterbender und Geboren-Werdender — als E r s c h e i n u n g zu gestalten sucht. In der Bewegung auf das eigentliche Selbst zu, die die Trilogie kennzeichnet, war so in „Malone stirbt" erstmals der Grund als solcher im „Ernst" (Dunkel, Nichts, das Formlose) bewußt geworden, aber noch das Herausgehen aus ihm in „leben" und „erfinden" und die Rüdekehr 2x1 ihm der Ort des Selbstverständnisses.269 Im „ N a m e n l o s e n " ist nun ein weiterer Schritt gemacht und der Grund dieser Bewegung erreicht. Sind die beiden vorherigen Romane der Trilogie von einem Punkt her niedergeschrieben, der auf dieses Unnennbare sich zubewegte, in B e z i e h u n g auf es, so ist „Der Namenlose" von diesem ,Ort' des eigentlichen Selbst v o r d e r E r s c h e i n u n g aus geschrieben, der, wie die anfängliche Gegenwart aller Hauptfiguren der Beckettschen Romane, einschließlich Malones, zeigt, als Ursprung der Beckettschen Dichtung gelten kann. Da diese in sich, wie an Motiven jüdisch-christlicher Religion (Youdi, Gaber, Jesus, Asyl St. Jean etc.) gezeigt wurde, darüberhinaus aber auch für Motive anderer Mythologien gilt, frühere Symbolisierungen der Transzendenz in sich aufgenommen und dabei einer Neudeutung unterzogen hat, insofern sie sie als Momente im Selbst ver-

269 Vgl. oben S.259 ff., 264.

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steht, kann dieser Ort zugleich als der Ursprung aller Dichtung und Religion gelten. In der Setzung und Wiederaufhebung dieser Motive war dabei, wie herausgearbeitet wurde, die Kritik an einem Aufheben des einzelnen Selbst in einen allgemeinen Sinnzusammenhang gelegen, in der man die grundsätzliche mythos- und dichtungskritische Bedeutung der Beckettschen Dichtung sehen kann. 270 Über diese Präsenz der eigenen früheren Dichtung wie anderer Formen religiöser und dichterischer Symbolik hinaus, die den ,Ort' des „Namenlosen" als Grund der Dichtung zeigen, macht der Roman den Ursprung der Dichtung nun in zweifacher Weise selbst zum Gegenstand. Zunächst wird in dem noch figürlich darstellenden Mittelteil des Romans in der Gestalt des Mahood das ,Geschichten' Erzählende, das Bewußtsein selbst und in der Worm genannten Figur dasjenige, was sich selbst unbewußt, in der Zuwendung der Menschen zu ihm zum Bewußtsein gebracht werden soll, thematisch. Als objektivierte Momente der Existenz eines Selbst sind diese Momente zugleich als das Bewußte und sich selbst Unbewußte E l e m e n t e der Dichtung, deren Normativität so aus dem Sein eines eigentlichen Selbst, das erst ,wirklich', ,bewußt', .geboren werden' soll, verstanden ist. Ferner wird über die Darstellung der Elemente der Dichtung hinaus die G e n e s e d e r D i c h t u n g im Roman als Versuch der Formulierung dieses Unbewußten im abschließenden Teil des „Namenlosen", in dem dieser auf Objektivationen in Figuren verzichten will 271 , sichtbar gemacht. Der Text, in dem dies geschieht, geht von dem Bewußtseinsstand aus, in dem die Grundantinomie Bewußtsein, Leben, Erscheinung gegenüber Sein im Unvorstellbaren in der Antithese von ,hier' Seiendem, Hörendem und Sprechen270

C l a u d e L e v i - S t r a u s s beschreibt in „Strukturale Anthropologie", daß es die Wirkung des Mythos ist, „zufällige" und „willkürliche" Schmerzen annehmbar zu machen, indem ihnen mit seiner Hilfe durch den Schamanen ein „ P l a t z i n e i n e m G a n z e n " zugewiesen wird, „in d e m a l l e s s i n n v o l l a u f e i n a n d e r a b g e s t i m m t " ist. Der Mythos wird so in Heilverfahren eingesetzt (Claude Levi-Strauss, Strukturale Anthropologie, Frankfurt 1967, S. 217, Hervorhebung G. B.). Gerade die Erfüllung des Leids mit Sinn, die es rechtfertigt, indem sie es aus einem Allgemeinen versteht, ist im Werk Becketts als Ausweichen' nicht von sich selbst Sprechen, kritisiert. So hat Beckett auch in einem Interview auf die entsprechende Frage j e d e religiöse Bedeutung seiner Stücke verneint („il n'y en a vraiment aucune"), aber eine sachliche Gemeinsamkeit seines Theaters und der Religion darin gesehen, daß seine Dichtung von der Verzweiflung, Not („d&resse") handelt. Anders als in der Religion ist die Verzweiflung aber bei Beckett nicht nur Durchgangsmoment (Interview mit Tom F. Driver, Columbia University Forum, ete 1961, zitiert bei Pierre Meiose, S. Beckett, a. a. Ο., S. 140). 271 Solche Formen stellen sich dennoch immer von neuem im Sprechen, das sie wieder aufhebt, ein, wenn auch die Figuren jetzt keinen Namen mehr tragen.

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dem einerseits und ,νοη der Welt Abwesendem', ,fern' Seiendem, der im Schweigen ist, andererseits gefaßt ist. Dabei wird das Subjekt des Sprechens an dieser Stelle als ,er' in Gegensatz zum Namenlosen gesetzt, der als ,idi' redet 2 7 2 und über das Sprechen des ,anderen' berichtet: „.. . er ist es, der spricht, er sagt, daß ich es sei, dann sagt er, es sei nicht so, ich bin fern, man höre ihn, er sucht mich, ich weiß nicht warum, er ruft mich, er will, daß ich herauskomme, er glaubt, daß ich hinauskann, er will, daß ich er sei, oder ein anderer, seien wir gerecht, er will daß ich steige, daß ich in ihn steige, oder in einen anderen, er glaubt, daß es soweit sei, er fühlt mich in sich, also sagt er ich, als ob ich er wäre, oder in einem anderen, also sagt er Murphy, oder Molloy, ich weiß nicht mehr, als ob ich Malone wäre . . . " 273 Wie schon bei Moran, dort noch für diese Bewußtseinsstufe als ein reales Geschehen entworfen, ist Dichtung als ,Suchen' des Selbst aufgefaßt (in Morans Bericht war ja das ,in ihn Steigen' als Heimsuchung Morans durch Molloy in der „Atmosphäre . . . der Zweckmäßigkeit ohne Zweck" verstanden worden), wobei der dichterische Gestaltungsprozeß mit dem zu sich selbst ,ich' Sagen genau parallelisiert ist. Der „Sprechende", der ,hier' ist, ist in Beziehung auf das eigentliche Selbst des Namenlosen, den der „fern" ist, vorgestellt, das er ,sucht', ,ruft', als etwas ,in sich Steigendes' fühlt und so ins Bewußtsein hebt; das Ergebnis ist einmal ein ,ich' Sagen — ein anderes als das der unmittelbaren empirischen Selbsterfahrung — dann eine ,Gestalt', die als Bild dieses unnennbaren Tiefen-Ich gelten kann (Murphy, Molloy). — In diesem Vorgang ist also die Entstehung der Dichtung als Bild dessen, was selbst das — schließlich als solches erkannte — u n n e n n b a r e Tiefen-Ich ist, dargestellt. Der Stand der Reflexion im „Namenlosen" repräsentiert gegenüber den anderen Romanen das volle Bewußtsein dieser Wirklichkeit, insofern der Sprechende die Form der Selbstfindung in einer Gestalt überwunden hat. 274 Der Text fährt so unmittelbar fort: „. .. es ist jedoch vorbei mit den anderen, er will nur noch sich, für mich, er glaubt, es sei die letzte Chance, man hat ihn gelehrt zu glauben, dies und das, es ist immer er, der spricht, Mercier hat nie gesprochen, Moran hat nie gesprochen, ich habe nie gesprochen, ich scheine zu sprechen, weil er ich sagt, als ob 272

Die Darstellung der Ich-Momente durch Pronomina wechselt im Text; so war zuvor die umgekehrte Bezeichnung verwendet worden, als gerade das normative Moment als ,er' eingeführt wurde. (Vgl. dazu das Zitat oben S. 281 f.) 273 S. Beckett, a. a. Ο., S. 247. Ε. Tophoven übersetzt „il me sent en lui, alors il dit je . . . ou dans un autre, alors il dit Murphy, ou Molloy" (frz. S. 239) durch „er fühlt mich in sich, also sagt er ich . . . oder in einen anderen, also sagt er Murphy, oder Molloy"; die dativische Konstruktion „er fühlt mich in sich . . . oder in einem anderen" scheint mir den im Text gestalteten Vorgang besser zu treffen. 274 Es ist in allen Romanen gegenwärtig, aber nicht in seiner ganzen Konsequenz durchgeführt. Schon M o r a n formuliert, daß er seine Geschichte, wie die der anderen, Murphy, Watt etc. nicht wird erzählen können. (Vgl. oben S. 245.) Für

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ich es wäre, ich hätte es beinahe sogar selbst geglaubt, man höre ihn, also ob er ich wäre ..." 275 Mercier (aus dem Roman „Mercier und Camier") und Moran, die in den betreffenden Romanen tatsächlich natürlich doch sprechen', sind als solche Gestalten gefundene Bilder des Sprechenden für den Namenlosen („Puppen", wie es rückblickend kritisch heißt), s i e s e l b s t a l s B i l d e r d i e s e s G r u n d e s haben in dieser Bedeutung nicht gesprochen, sondern der Sprechende in ihnen. Ebenso hat das eigentliche unnennbare Selbst des Namenlosen, das, wie aufgewiesen worden war, nur im „Schweigen" ist, „nicht gesprochen", obwohl der Sprechende ,ich' sagt, da es eben nicht identisch mit dem Lebens-, Erscheinungs- und Bewußtseins-Ich des Sprechenden ist. In der unmittelbaren Fortsetzung des zitierten Textes wird diese Differenz des Ich des Sprechenden zum Namenlosen weiter entwickelt und dabei die ,Namenlosigkeit' und .Unbenennbarkeit' dieses Selbst formuliert: ich, der ich fern bin, der sich nicht rühren kann, den man nicht finden kann, ihn jedoch audi nicht, er kann nur sprechen, wenn überhaupt, er ist es vielleicht nicht, es ist vielleicht eine ganze Bande, einer nach dem anderen, wie verwirrt das ist, jemand spricht von Verwirrung, ist es eine Sünde, alles hier ist Sünde, man weiß nicht warum, man weiß nicht von wem, jemand sagt man, es ist der Fehler der Pronomen, e s g i b t k e i n e N a m e n f ü r m i c h , k e i n P r o n o m e n f ü r m i c h , alles kommt daher, m a n sagt das, es ist eine Art Pronomen, das ist es auch nicht, das bin ich auch nicht . . 2 7 6 Für das sprechende Ich, für das zunächst im Kontrast zum Ich des Namenlosen „er" steht, wird, wie schon früher aufgezeigt wurde, wieder die mögliche Vielheit angesetzt. In einem weiteren Schritt der Reflexion wird aber nun für das zunächst als ,ich' sich Bezeichnende und vom ,Ort' des Namenlosen aus Sprechende auch dieses Pronomen ,ich' aufgehoben und durch jemand' und ,man' ersetzt, welches letztere selbst wieder als eine „Art Pronomen" verworfen wird, und zwar von dem Wissen des Namenlosen von sich selbst her, das nicht in „Namen" und „Pronomen" darstellbar ist. (Im zweiten Schritt ist also ein Standpunkt eingenommen, der den ersten als ,Sprechen' wieder reflektiert hat.) Dabei bildet aber, wie der Schluß des zitierten Textes zeigt — und auch das oben interpretierte Ende des Romans — das Pronomen ,ich' in seiner Doppelbedeutung 277 eine Ausnahme. Es ist, insofern es die empirische Wahrnehmung

Μ ο 11 ο y wurde das Wissen, daß Sprechen „Lüge" wie daß Realitätsdarstellung teilweise .erfinden' ist, aufgewiesen. (Vgl. oben S. 280 f., S. 249 ff.) Μ a 1 ο η e bewegt sich in einem Bewußtsein, das Dichtung und Leben dem Grund des Selbst, der unformulierbar ist, konfrontiert. (Vgl. oben S. 256 ff.) 27 5 S.Beckett, a.a.O., S.247. 27 6 S. Beckett, a. a. Ο., S. 247 f. (Hervorhebungen G. B.). 277 Vgl. dazu oben S. 282.

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Β. Becketts Romantrilogie als Geschichte der Selbsterfahrung

von sich als Sprechendem bezeichnet, zwar einerseits ersetzbar durch Jemand' bzw. /nan'; dieses Sprechen hat also als Tatsache („fait") un- oder vorpersönlichen Charakter. Dasselbe Pronomen ,ich' bleibt aber andererseits als Z i e l b e g r i f f und als N o r m d e r K r i t i k („das bin ich auch nicht") erhalten. Das Sein des Namenlosen ist so in der Vorstellung ,ich' doch auch enthalten, wenn auch nur im Gegensatz zu allem in der Erfahrung Bewußten. In der Spannung dieser Doppelbedeutung kann man den Prozeß der Trilogie begründet sehen. Dichtung ist so im „Namenlosen" als der fortschreitende, aber immer scheiternde Versuch dargestellt, dieses Unformulierbare des Selbst ins Bewußtsein zu bringen, wie die Bedeutung der Romangestalten Becketts daraus resultiert, daß sie auf dieses bezogen, seine, wenn auch überholbaren Bilder sind. Obwohl immer scheiternd, ist dieser Versuch dennoch notwendig, weil das eigentliche Selbst nur durch ihn für das Bewußtsein ist, insofern ,da' sein könnte, wiewohl es gerade durch ihn auch verfälscht wird und die hervorgebrachten Formulierungen also wieder negiert werden müssen. Dabei ist, wie am Romanende oben schon aufgewiesen, der Prozeß des ,Dichtens' bzw. sich Suchens selber das Normative; so war schon im Bericht des Moran die O b j e k t i v i t ä t d e r B e z i e h u n g bei der R e l a t i v i t ä t d e r G l i e d e r (empirisches und eigentliches Selbst, für die .Bilder' stehen) als das überzeitlich Gültige festgehalten worden. Das diesen Prozeß Leitende ist dabei ein p o s i t i v e s Wissen von sich, das dadurch charakterisiert ist, daß es sich von jeder empirischen Selbsterfahrung 2 7 8 und jeder sprachlich objektivierbaren Erfahrung 279 unterscheidet und im Roman selbst als „undenkbar, unsagbar" bezeichnet ist. Bewußtgemacht wurde dies durch den dargestellten Prozeß von Produktion und Reflexion, so daß dieses Selbstwissen in der u n i v e r s e l l e n Kritik — sie ist deshalb universell, weil sie sich im „Namenlosen" auf das P r i n z i p des Lebens und Bewußtsein selbst bezieht — vergegenwärtigt wird als der Punkt, den Beckett selbst durch die „vollständige Desintegration" alles Sprachlichen charakterisiert hat, an dem nur noch „Staub: das Nennbare" 2 8 0 und somit .Schweigen' ist. — Von hier aus, dem ,Ort' einer undenkbaren, unsagbaren S e l b s t erfahrung, die also zugleich bestimmt (weil das S e l b s t ) und unbestimmt (weil unbestimmbar, „Nichts") ist und die als der Grund der Erfahrungsbewegung der Trilogie aufgewiesen wurde, können nun Beziehungen zu dem in Teil I und I I der Arbeit Entwickelten aufgezeigt werden, da bei K a n t wie bei S c h l e g e l ein solches nicht positiv darstellbares und von der Selbsterfahrung im empirischen Sinne verschiedenes Selbstwissen als Grund der Kunst gedacht ist.

278 Vgl. die Scheu, zu sich jch' zu sagen, oben S. 280 u. S. 282. 279 Vgl. die Dichtungskritik oben S. 267 f. 280 Zum Beleg dieser Äußerungen Becketts vgl. das vollständige Zitat oben S. 223.

C. Becketts Trilogie als ,moderne' Kunst. Ein Versuch geschichtlicher literarischer Wertung in Beziehung auf die Konzeptionen von Kant, Schlegel und Hegel Der eigentliche Kern von Becketts Romantrilogie ist also, wie aufgewiesen, entgegen der Interpretation, die in Becketts Dichtung nur den Ausdruck der Entfremdung in der Moderne sieht bzw. sie als nihilistisch deutet, in einem positiven, wenn auch nicht formulierbaren Selbstwissen zu sehen, das sich nur in der Suche als Prozeß der Produktion und Reflexion bzw. im dadurch sich herstellenden und den Prozeß begleitenden „Schweigen" manifestiert. In diesem positiven, aber nicht objektivierbaren Selbstwissens ist also der Grund des Wiederaufhebens des Gesetzten, der Formzerstörungen in der Romantrilogie gelegen, die so jenes Wissen vermitteln und auf das Ziel wirklicher Selbstbegegnung verweisen.281 Da diese Selbsterfahrung im Text der Trilogie selbst als „undenkbar, unsagbar" bezeichnet und vom endlichen Bewußtsein her negativ als „Nichts", „Leere" beschrieben und so als wirklich, aber unbestimmbar charakterisiert worden war, kann ihre Lebensbedeutung nur aus dem nachgezeichneten Prozeß ihres sich Erfassens und seinen positiven und negativen Bestimmungen verstanden werden. Verkürzend soll hier nur noch einmal er281

Vgl. zu diesem Ergebnis W. Ε m r i c h s Interpretation in dem Aufsatz „Dichterischer und politischer Mythos. Ihre wechselseitigen Verblendungen": „Es ist daher verfehlt, obgleich es immer wieder geschieht, zu erklären, daß bei Samuel Beckett und anderen Autoren wie Kafka, Ionesco u. a. der Zerfall der Person beschrieben werde. Was an und in der Person bei diesen Autoren zerfällt, sind gerade die allgemeinen, kollektiven Phänomene. Dagegen setzt sich im und durch diesen Zerfall des Allgemeinen personales Bewußtsein durch" (W. Emrich, Geist und Widergeist, a. a. O., S. 95). — In dieser Freilegung von personalem Bewußtsein als unbedingtem Wert, die am Abschlußroman der Trilogie, „L'Innommable", „Der Namenlose", bzw. wie Emrich vorschlägt „Der Unbenennbare", aufgezeigt wird, sieht Emrich die Auflösung mythischer Bewußtseinsformen: „Bei Samuel Beckett ist dieser Mythos der Dichter, Philosophen, Theologen und Politiker endgültig zerstört. Denn es ist, wenn man in die Grundstruktur blickt, nur ein einziger Mythos, der in allen differierenden Mythenbildungen der Menschheit sich durchhielt, vom delphischen Orakel, das die Politik der Griechen dirigierte, bis zur Gegenwart, der Mythos vom Menschen, der von über- und unterirdischen Mächten bestimmt sei, selbst dort noch, wo er wähnt, frei verantwortlich nur seiner eigenen, autonomen Vernunft zu folgen" (a. a. O., S. 94).

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innert werden, daß diese Erfahrung, da sie die immer bestehende Identität betrifft, eine Selbsterfahrung vor dem Handeln, das ja ein Verändern des Äußeren und im normativen Sinn ein Realisieren dieser Identität ist, meint und daß sie bei Beckett auf eine im Rahmen der Trilogie nicht überschrittene unformulierbare p e r s o n a l e I d e n t i t ä t bezogen ist.282 So war im Moran-Teil von „ Molloy " die Bedingung des sich Annäherns an sie die „Atmosphäre . . . der Zweckmäßigkeit ohne Zweck", also jener vor dem Handeln als Zwecksetzung gelegene Zustand des Lebens, in dem, wie die Trilogie selbst aufweist, die Kunst als Repräsentation der Bewegung auf das personale Selbst zu gründet. Da diese Bewußtseinsstufe erst durch die Negation empirischer Subjektivität eröffnet ist, war sie in der Trilogie von Anfang an und bleibend mit der Todeserfahrung verbunden. — Daß diese personale Identität in der Trilogie nicht überschritten wird zu einer „werdenden Gottheit" oder „unendlichen Ichheit" 283, als deren Moment bzw. „Darstellung" das Einzelne verstanden wird (Schlegel), bzw. zu der Idee des „Geistes" als Prinzip dessen, was überhaupt ist (Hegel), also auch nicht in diesem immanenten Sinn überschritten wird zu einem Göttlichen hin 284, macht die Differenz zu Hegels und Schlegels Entwürfen moderner Kunst aus, die im Rahmen einer — verschieden gefaßten — universellen und so als Transponierung der Religion verstandenen Identität konzipiert sind. Dennoch ist in a l l g e m e i n e r S u b j e k t i v i t ä t , die sowohl bei Beckett 285 wie auch bei Schlegel und Hegel, hier als Bedingung der Aufhebung des individuellen, empirischen Ich in eine „unendliche Ichheit" bzw. in die Allgemeinheit des „Geistes" 286, gefordert ist, das normative Moment gelegen, das von Schlegels und Hegels Entwürfen einer modernen Kunst her auch bestimmte Strukturen an Becketts Kunst als notwendig, weil in Zusammenhang mit allgemeiner Subjektivität stehend, verstehbar macht. Dies war vorausdeutend am U n i v e r s a l i s m u s und an der R e f l e k t i e r t h e i t (Selbstreflexion) der Kunst aufgewiesen worden, die dann notwendig sind, wenn das

282

Vgl. oben S. 234 (Morans Bericht), dann die Figur des Worm, S. 273 ff. 283 Schlegel verwendet die Begriffe .unendliche Ichheit' bzw. .unendliches Ich' für die Idee der „werdenden Gottheit" in seinen Kölner Vorlesungen. Vgl. ΚΑ XII, S. 338 f. 284 Vgl. hierzu die Religionskritik in der Trilogie (ζ. B. oben S. 245, Anm. 109) und die Bemerkung Becketts vom nicht religiösen Sinn seiner Dichtung, die nur insofern in der Gemeinsamkeit mit Religion steht, als sie „Verzweiflung" thematisiert. 28 5 Zu Becketts Fassung von allgemeiner Subjektivität als Norm der Kunst vgl. oben S. 243 ff., bes. 244 f. 286 So formulierte Schlegel „ . . . das wahre Leben ist nur im Tode" (vgl. oben S. 187 Anm. 331); vgl. dazu auch seine Konzeption der Ironie. Hegel beschreibt die positive Selbsterfahrung in der Negation des empirischen Selbst ζ. B. an der christlichen Kunst.

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normative Selbst sich in freier Reflexion als Grund der bisherigen Bewußtseinsformen in Kunst, Mythologie, Religion und Philosophie erfaßt. Dabei war es insbesondere Friedrich Schlegel gewesen, der Universalismus und Selbstreflexion in das Einzelwerk aufnahm, während Hegel beide zwar auch für das moderne künstlerische Bewußtsein forderte, das Einzelwerk aber nicht als Vereinigung der bisherigen Dichtungsformen in kritischer Selbstreflexion der Dichtung dachte, so daß sich für ihn das universelle moderne Bewußtsein nur indirekt in der Wiederaufnahme geschichtlicher Formen der Kunst mitdarstellen konnte. Schlegel hat damit an moderner Kunst Strukturen, die Kant und Hegel analog nur für die Philosophie entwickelt haben, daß nämlich die moderne Kunst als „Geschichte des Bewußtseins" die früheren Kunstformen umfaßt, sie kritisch reflektiert und sich in dem in ihr erreichten Bewußtseinsstand selbst begründet, in ihrer normativen Bedeutung verständlich gemacht. Ihre Normativität kann als unabhängig von dem speziellen Sinn der Schlegelschen Gesamtkonzeption gesehen werden, denn sie gründet in der Freiheit des Selbstbewußtseins, das sich nicht mehr in geschichtlichen, unbewußt produzierten und immer beschränkten Formen der Kunst verstehen kann, sondern diese als Produkte seiner Geschichte als der des allgemeinen Selbst erfassen und kritisch neu reflektieren muß. — Die Differenz der Beckettschen Dichtung zur Konzeption Schlegels ist dabei dennoch deutlich und, wie gezeigt werden soll, charakteristisch für die Moderne. In S c h l e g e l s Konzeption einer „progressiven Universalpoesie" war die Offenheit und Unvollendbarkeit des Werks auf das nur einer ,divinatorisdien Kritik' zugängliche „Ideal" der romantischen Poesie, auf die undarstellbare „unendliche Einheit und unendliche Fülle" einer universellen Identität bezogen, die im Wirklichen selbst im .Werden' ist und von der aus die Dichtung, indem sie sie antizipiert, ein Einzelnes in seiner „Bedeutung" als bezogen auf sie und als ihre „Allegorie" erst verstehen kann. Demgegenüber realisiert das Selbst bei Beckett zwar in der Auflösung aller verendlichenden Selbst- und Weltdeutung das Bewußtsein „im Unfaßbaren zu leben" (Malone stirbt), kann sich aber, da für es alle metaphysischen Deutungen ebenfalls aufgelöst sind, auch nicht mehr aus dem kosmischen Gesamtprozeß einer werdenden „unendlichen Ichheit" (Schlegel) verstehen. Damit ist neben dem veränderten Bewußtseinsstand, der noch weiter entwickelt werden soll, auch der Universalismus Schlegels in seinem enzyklopädischen Sinn, wie er den „Roman" bzw. die „progressive Universalpoesie" kennzeichnet, bei Beckett eingeschränkt auf die universelle Kritik von Formen des Bewußtseins, da die in der Konzeption einer universellen Identität gelegene ontologische Klammer, die ,Natur' und .Subjekt' verbindet, nicht mehr besteht und so auch das Sprechen über ,Natur' in der Dichtung als Flucht vor sich selbst der Kritik verfällt.287 In

287 Vgl. oben S. 267 f., Dichtungskritik I.

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einem allgemeineren Sinn kann diese Differenz daran verdeutlicht werden, daß bei Schlegel die Grundkategorien des Kunstwerks „Zweckmäßigkeit ohne Zweck" und „Spiel" anders als bei Beckett, wo der Bezug auf personale Identität herausgearbeitet wurde, auf das Ganze des Universums bezogen sind, dessen A l l e g o r i e das Kunstwerk ist. 288 Innerhalb der Dichtungsformen selbst kann der Gegensatz aber noch detaillierter daran deutlich gemacht werden, daß die für Schlegel zentrale Vorstellung der Allegorie bzw. des Symbols (Schlegel gebraucht die Termini noch gleichsinnig) in den Texten Becketts gerade negiert ist, d. h., daß das Einzelne nicht bzw. nicht mit Gewißheit in einen es transzendierenden Bedeutungszusammenhang aufgenommen wird, wiewohl der negative Teil, nämlich die Negation endlichen Sinnes als Ort des Selbstverständnisses in beiden Konzeptionen identisch ist. So findet sich ζ. B. in Becketts vor der Trilogie geschriebenem Roman „Watt", einem Werk, das seine Produziertheit und Unvollendetheit durch einen Anhang von „Material" („Addenda") demonstriert, dessen Einarbeitung nur „Müdigkeit und Überdruß" „verhinderten" 2 8 9 , als abschließendes Fragment die Formulierung „Weh dem der Symbole sieht!" 2 9 0 , die eine Deutung des Textes (vor allem die Figur des Knott und seines Hauses, das Watt aufsucht und wieder verläßt) in einem traditionellen Sinn verbietet. Im „Endspiel" ist dieses Nichtaufgehen des Seins in .Bedeutung' in einer Szene zwischen Hamm und Clov gestaltet, in der für den Zuschauer eine ähnliche Anweisung wie für den Leser des Romans in „Watt" liegt, in der sich aber darüberhinaus die Not der spielenden Personen darstellt. Clov hält dabei, von einem Ausblick durch die nur mit einer Leiter erreichbaren Fenster des Raums zu Hamm zurückgekehrt, ein Fernglas in der Hand: „Hamm: Clov! Clov: (gereizt): Was ist denn? Hamm: Wir sind doch nicht im Begriff, etwas zu . . . zu . . . bedeuten? Clov Bedeuten? Wir, etwas bedeuten? (Kurzes Lachen.) Das ist aber gut! Hamm: Ich frage es mich. (Pause.) Ich frage es midi. (Pause.) Wennn ein vernunftbegabtes Wesen auf die Erde zurückkehrte und uns lange genug beobachtete, würde es sich denn nicht Gedanken über uns machen? (Mit der Stimme des vernunftbegabten Wesens.) Ah, ja, jetzt versteh' ich, was es ist, ja jetzt begreife ich, was sie machen! (Clov zuckt zusammen, läßt das Fernglas fallen und beginnt sich mit beiden Händen den Unterleib zu kratzen. Normale Stimme.) Und ohne überhaupt so 288 Vgl. dazu oben bes. S. 167. Erinnert sei noch einmal an Schlegels Bestimmung „Alle heiligen Spiele der Kunst sind nur ferne Nachbildungen von dem unendlichen Spiele der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk" (ΚΑ II, S. 324). 2 8 9 S. Beckett, Watt, a. a. O., S. 263. 290 Ebd., S. 271.

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weit zu gehen, machen wir selbst... (gerührt) wir selbst... uns nicht manchmal . . . (Ungestüm.) Wenn man bedenkt, daß alles vielleicht nicht umsonst gewesen sein wird!" 2 9 1 In drastischer Entgegensetzung des „Endlichen" zeigt sich in der Fortsetzung ein Floh, nicht Hamms Perspektive als Grund von Clovs Zusammenzucken. — Der Sinn bleibt, anders als bei Schlegel, bei dem die Dichtung gerade dadurch bestimmt ist, daß sie in der Negation jedes beschränkten Sinns das Einzelne in Beziehung auf das werdende Unendliche setzt, als dessen ,Bild' und „Allegorie", als seine „Darstellung" sieht 2 9 2 , ungewiß. Die Offenheit und Unabschließbarkeit der „progressiven Universalpoesie" in der Konzeption Schlegels, ihre Verbindung von Produktion und Reflexion, ihr verweisender Charakter in der negativen, ironischen Darstellung und Werkauflösung hat also einen anderen Sinn als bei Beckett, insofern in ihr auf eine universelle Identität verwiesen wird, stellt aber doch in der Betonung der nicht positiven Formulierbarkeit des Normativen (Ironie) gegenüber Hegel, der gerade dieses Moment überhaupt und besonders an den zudem von ihm als subjektiv' mißverstandenen Konzeptionen Schlegels kritisiert hat, das verbindende Moment dar, das Schlegel ermöglichte, diese in der Moderne allgemein gewordenen Strukturen zu thematisieren.293 In dem Verbleiben in einer personalen Identität, die in Differenz zur Erscheinung steht und in der als „undenkbar, unsagbar" sich diese Formstrukturen in der Trilogie begründet erwiesen, zeigt die Trilogie dagegen eine Nähe zu K a n t s Denken, das die Wirklichkeit des personalen „intelligiblen" Selbst ebenfalls jenseits der Erscheinung und der Vorstellung faßt und dieses Selbst — das Bewußtsein des moralischen Gesetzes ist ein „Faktum der Vernunft" — als für das Denken nicht weiter ableitbar, als ästhetisch im Erhabenen nur negativ darzustellen und als nur im unendlichen Prozeß zu verwirklichen begreift. 294 So war auch die Grundkategorie der 291 S. Beckett, Fin de partie. Endspiel, Frankfurt 1964, S. 55. Vgl. dazu auch W. Iser, Ist das Ende hintergehbar? Fiktion bei Beckett, in: W. Iser, Der implizite Leser, München 1972, S. 412. 2 9 2 In seiner "Transcendentalphilosophie" von 1800/1801 formuliert Schlegel: „Gott hat die Welt hervorgebracht, um sich selbst darzustellen . . . Die Individua sind da, das Ganze darzustellen. Das Individuum ist also auch unendlich, weil es das Unendliche darstellen soll" (ΚΑ XII, S.39). Der „Begriff d e s B i l d e s oder D a r s t e l l u n g , A l l e g o r i e " ist für Schlegel der Mittelbegriff zwischen den Begriffen „unendliche Substanz" und „Individua", (ebd.). Schlegel versteht so „die Menschen" als „Reflexionen Gottes". (Vgl. oben S. 182 ff.) 293 Dies gilt für die Literatur, aber auch für die bildende Kunst, wo ebenfalls in verschiedener Weise das JBild' aufgelöst wird. 294 T. W. A d ο r η ο hat in seiner „Ästhetischen Theorie" (Frankfurt, 1970) moderne Kunst in der Auseinandersetzung mit Kant, insbesondere der Theorie des Erhabenen, zu bestimmen versucht. Er deutet aber — bei Mißverständnissen in der Interpretation der Kantischen Kunsttheorie (vgl. oben S. 54) — die Negativität

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„Kritik der Urteilskraft", „allgemeine Subjektivität", in der Interpretation der Trilogie von der Sache her als in ihr gültige Norm der Dichtung aufgewiesen worden 2 9 5 , wie die Beziehung der in der Trilogie verwendeten Begriffe „Zweckmäßigkeit ohne Zweck", „Spiel" und „Ernst" auf die personale Identität ebenfalls sachlich der „Kritik der Urteilskraft" entspricht, die die Begriffe „Spiel" und „Ernst" in der Theorie der Erfahrung des Schönen bzw. des Erhabenen gleichfalls auf die Erscheinungsphäre bzw. den Grund des unvorstellbaren intelligiblen Selbst bezieht. Auch die Begriffe „Nichts", „Leere", „Schweigen" zur Bezeichnung dieser personalen Identität, die also in ihrer Unbestimmtheit zugleich bestimmt sind, weil auf das Selbst bezogen, können von der „Kritik der Urteilskraft" her verstanden werden, da, wie dort entwickelt, das Selbst in der ästhetischen Erfahrung — anders als in der konkreten sittlichen Erfahrung des Sollens, die immer in Beziehung auf eine Maxime b e s t i m m t ist — sich in a l l g e m e i n e r Weise als frei und als es selbst (im Schönen in Beziehung zur Erscheinung, im Erhabenen im absoluten Gegensatz zu ihr) erfährt. Denn die ästhetische Erfahrung liegt ja gerade vor und jenseits des bestimmten Begriffs und beruht in ihrer gleichwohl gegebenen Notwendigkeit und Allgemeinheit, wie die „Dialektik der ästhetischen Urteilskraft" entwickelt, auf einem „ u n b e s t i m m t e n " und unerkennbaren Begriff, der Idee des Intelligiblen als Grund einer zweckmäßig-freien Einheit der Subjektivität in allen ihren Vermögen, eine Einheit, die also, weil sie die Grunddimension darstellt, nicht durch eine Bestimmtes bezeichnet werden kann, wiewohl ihre Erfahrung mit der unbestimmten und bestimmten Bedeutung ,Selbstsein' verbunden ist. Insbesondere in der Erfah-

moderner Kunst eher von einem romantischen Motiv her als Verweis auf eine „Natur", die „noch gar nicht ist". So bestimmt Adorno das Naturschöne durch den Bezug zur Utopie: „Die Grenze gegen den Fetischismus der Natur jedoch, die pantheistische Ausflucht, die nichts als affirmatives Deckbild von endlosem Verhängnis wäre, wird dadurch gezogen, daß Natur, wie sie in ihrem Schönen zart, sterblich sich regt, noch gar nicht ist. Die Scham vor dem Naturschönen rührt daher, daß man das noch nicht Seiende verletze, indem man es im Seienden ergreift" (a. a. O., S. 115). Die Kunst bleibt für Adorno auf die Idee eines „herrschaftslosen Zustande", dessen die Naturerfahrung „eingedenkt" (a. a. O., S. 104), bezogen, wenn sie auch diese Idee im Gegensatz zum positiven, aber .scheinhaften' Naturschönen nur negativ darstellen kann: „Natur hat ihre Schönheit daran, daß sie mehr zu sagen scheint, als sie ist. Dies Mehr seiner Kontingenz zu entreißen, seines Scheins mächtig zu werden, als Schein ihn selbst zu bestimmen, als unwirklich auch zu negieren, ist die Idee von Kunst" (a. a. O., S. 122) und: „Das Bild von Natur überlebt, weil seine vollkommene Negation im Artefakt, welche dies Bild errettet, notwendig gegen das sich verblendet, was jenseits der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Arbeit und ihrer Waren wäre" (a. a. O., S. 108). 295 Vgl. oben S. 243 ff.

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rung des Erhabenen, in der, wie im Kant-Teil entwickelt, das Selbst sich im G e g e n s a t z zur Erscheinung gewinnt, insofern es sich seiner anläßlich einer rein n e g a t i v e n Darstellung bewußt wird, ist der Begriff des „Nichts", der „Leere" in einem normativen, auf das Selbstsein bezogenen Sinn immanent. Bei ihrer Deutung hatte Kant deshalb auch auf das Bilderverbot der jüdischen Religion verwiesen 296 , von dem her eine Beziehung von Kants Theorie zur Trilogie, die, wie dargestellt, ihre höchste Reflexionsstufe im „Namenlosen" erreicht, ganz deutlich wird. Von hier aus läßt sich die Dichtung Becketts nach ihrer geschichtlichen Wertung als universelle, in das Selbstbewußtsein als ihren Grund zurückgehende Reflexionskunst, wie sie in den Entwürfen besonders Schlegels konzipiert worden war, noch in einer anderen Hinsicht als ,modern' geschichtlich und im Gegensatz zu ihrer Deutung als nihilistisch' bzw. als bloßer Ausdruck der Selbstentfremdung verstehen. Sie realisiert ein Bewußtsein, das ,metaphysische' Konzeptionen skeptisch und auf der Basis eines personalen Bewußtseins aufgelöst hat, das sich nicht mehr in einem allgemeinen Sinnzusammenhang des Kosmos begreift, vielmehr jede allgemeine Setzung wieder mythoskritisch reflektiert und auf das ,aufgegebene' Selbst verweist. Es wird also an dem Zentralbegriff des Selbst (allgemeine Subjektivität) als Grund der Kritik alles empirischen Lebens und seiner endlichen Sinnsetzungen wie des Nihilismus festgehalten, ohne eine formulierte Sinngewißheit dagegen zu stellen. Insofern sind Becketts Dichtung Züge, die auch sonst modernes Bewußtsein kennzeichnen, die aber gerade positiv als Erkenntnisfortschritt zu werten sind, eigen. 297 Daß nämlich dieses Selbst sich nicht mehr in einem ihm gewis-

Vgl. Kant-Teil, S. 61, A. 213, Kritik der Urteilskraft, S. 124. In diesem Zusammenhang kann daran erinnert werden, daß, wie dargestellt (vgl. oben S. 227 f.), die vorläufige und wieder zurückgenommene Setzung der Nonninstanz des eigentlichen Selbst als ,Youdi' in Morans Bericht gerade die j ü d i s c h e Gottesvorstellung assoziiert, was sich in der späteren Unnennbarkeit des Selbst, das sich als Normgrund weiß, fortsetzt. 297 Ausgehend von dem analogen Sachverhalt in der modernen lyrischen Dichtung seit Baudelaire hat H u g o F r i e d r i c h die Moderne mit dem Begriff einer ,leeren Transzendenz' zu kennzeichnen versucht. H. Friedrich, Die Struktur der der modernen Lyrik, Hamburg, 1 1956. Diese Bezeichnung hat aber den Nachteil, daß sie die in der Beziehung auf eine personale Identität gelegene N o r m a t i v i t ä t , durch die ,Leere' als Fortschritt gesehen werden kann, nicht sichtbar macht und so eher die Vorstellung eines Verlustes gegenüber dem Früheren nahelegt. — Zum Festhalten des Selbstbegriffs (Kant, Fichte bes.) losgelöst von einem metaphysischen Sinnzusammenhang vgl. W. S c h u l z , „Philosophie in der veränderten Welt", Pfullingen 1972, insbes. S. 701 ff. In dem zitierten Aufsatz „Dichterischer und politischer Mythos. Ihre wechselseitigen Verblendungen" hat W. Ε m r i c h an moderner Dichtung gerade diesen Bezug auf ein „personales Bewußtsein" und damit ihre Normativität aufgezeigt. 296

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sen metaphysischen Sinnzusammenhang begreifen kann, ist ihre bleibende Negativität, kann aber auch positiv als radikale Kritik an allen Weltdeutungen, die das Sein des freien Selbst in einem normativ in der Weltentwicklung sich manifestierenden Sinnzusammenhang zurücknehmen und damit faktisches Leiden in ihm rechtfertigen, verstanden werden.

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2. Darstellungen und Werke zum Problemzusammenhang der Arbeit

303

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2. Darstellungen und Werke zum Problemzusammenhang der Arbeit

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Personenregister Kursiv gesetzte Seitenzahlen beziehen sich auf in den Anmerkungen auftretende Namen. Adorno, T. W. 54, 73, 157, 297 Anstett, J.-J. 185 Astre, G. A. 223, 238 Basilius d. Große 266 Baumgarten, A. 27, 46 Beaumarchais, G. A. 266 Becke«, S. 1, 80, 84, 196, 213, 219—300 Behler, E. 111 f., 121, 128, 165, 173,

180

Benjamin, W. 16, 78, 87, 144, 151 Berkeley, G . 195 Bernhard v. Clairvaux 193 Biemel, W. 75, 80 Birkenhauer, K. 227 Blanchot, M. 220 f. Blumenberg, H. 84, 87 Bocaccio, G. 155 Böhme, J . 164 Brinkmann, R. 111, 104, 121 Broch, H. 85 Burke, E. 46 Calderon de la Barca, P. 155 Cassirer, E. 128, 166 Cervantes, Miguel de 155 Cohen, H. 30, 37 Dante, A. 111, 145, 154, 192 f., 204 Diderot, D. 201 Dilthey, W. 5,64 Driver, T .

251,289

Eichendorff, J . 164 Eichner, H. 122, 130, 143 f., 157, 166 f., 169,

185

Emrich, W. 299

31, 72 f., 84 f., 191,

293,

Engelhardt, H. 266 Esslin, M. 232 Fichte, J . G. 49, 96 ff., 102 ff., 111, 127—28, 137, 145, 153, 162, 165, 167, 169, 173, 174, 183 Forster, G. 123, 130 Franzen, E. 219, 228, 230, 231, 234, 245 Friedrich, H. 115, 236, 299 Gadamer, H.-G. 81 Goethe, J . W. 136 f., 143—157, 158, 162, 168, 171, 173, 191, 192 f. 195, 197, 201, 204, 206, 208 ff., 212 f. Habermas, J . 18, 64, 65 Hass, H.-E. 46 f., 85 Hegel, G. W. F. 1, 33, 34, 48, 54, 69, 90, 103, 109, 116, 119 f., 146, 160, 165 f., 167, 170, 174, 192, 196, 197—215, 219, 221 f., 224, 270, 293—300 Heine, R. 195 Henrich, D. 51, 224 Herder, J . G. 110 Heselhaus, C. 193 Hölderlin, F. 191, 237 Hoffmann, Ε. Τ. A. 195 Hofmannsthal, H. v. 253 Homer 99 Iffland, A. W. 201 Ionesco, E. 293 Iser, W. 224, 261, 297 Janvier, L. 249, 257, 267 Jean Paul 202 Joyce, J . 238

312

Personenregister

Kafka, F. 223, 229, 238, 293 Kambartel, F. 8 Kant, I. 1—91, 96 ff, 102 f., 107, 119, 129, 153, 162 f., 184, 192, 195, 206, 219, 221, 241—246, 252, 268, 292, 293—300 Kayser, W. 24, 31 Kluckhohn, P. 185, 190 f. Körner, J. 102, 135, 159 Kotzebue, A. 201 Kulenkampff, J. 102 Langer, S. 31 Leibniz, G. W. 27 Leonhard, K. 193 Levy-Strauss, C. 289 Lieber, H . J. 64 Lukacs, G. 77, 222 Mähl, H.-J. 147 Mannheim, K. 5 Melese, P. 223, 252, 289 Menzer, P. 27, 40, 46, 49 Merleau-Ponty, M. 224 Metman, E. 232 Mollenhauer, K. 125 Nietzsche, F. 29 Novalis 143, 158, 159, 161, 189 ff., 195 Ostade, A. van 201

Rilke, R. M. 253 Robert, P. 266 Rousseau, J. J. 134 Sartre, J.-P. 238 Scharbe, H. 153 f., 193 Schelling, F. W. J. 167, 168, 173, 182 f., 252

Schiller, F. 23, 31, 48, 49, 52, 54, 56, 63, 68, 74, 86, 90 f., 111, 130, 169, 179, 189, 190, 192 ff, 201, 209, 252 Schlegel, A. W. 107 f., 168,190 Schlegel, Fr. 1 i.,31, 54, 73, 82, 90, 91, 92—196, 197 f , 202, 207, 211—15, 219, 221 f , 227, 245, 252, 268, 292, 293—300 Schleiermacher, F. D. 139, 158 Schopenhauer, A. 242 Schulz, W. 295» Schumann, D. W. 164 Shakespeare, W. 117, 131, 145, 154, 177, 192 Shenker, J. 223 Spinoza, B. de 128, 153, 162, 173, 193, 195 Steen, Jan 201 Sterne, L. 179, 202 Stöcklein, P. 164 Strich, F. 190

Petrarca, F. 155 Pindar 195 Piaton 164 Preisendanz, W. 168, 405 Proust, M. 80, 238, 242

Teniers, D. d. J. 201 Tieck, L. 189 Tolstoi, L. 223 Tophoven, E. 219, 262, 277, 281, 290 Trakl, G. 253

Raffael 204 Reinhold, K. L. 49

Winckelmann, J. J. Wolff, C. 27,46

99, 146