Der Druck der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung
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Siglenverzeichnis

Die Texte Herta Mullers werden in den Beitragen mit Sigle und Seitenzahl m Klammem zitiert Die jeweils benutzten Ausgaben sind dort im Literaturver­ zeichnis angegeben BF

Barfüßiger Februar

F

Der Fuchs war damals schon der Jager

H

Herztier

HaS Das Haar auf der Schulter

HS

Hunger und Seide

IF

In der Falle

LN

Das Land am Nebentisch

MF

Der Mensch ist em großer Fasan auf der Welt

N

Niederungen

R

Reisende auf einem Bem

TS

Der Teufel sitzt im Spiegel oder Wie Wahrnehmung sich erfindet

WK Der Wachter nimmt seinen Kamm

Der Druck der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung

09729023,2

Ralph Köhnen (Hrsg.)

Der Druck der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung Bildlichkeit in Texten Herta Müllers

PETER LANG Frankfurt am Main Berlin Bern New York Pans Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Der Druck der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung Bildlichkeit in Texten Herta Mullers / Ralph Köhnen (Hrsg ) Frankfurt am Main , Berlin , Bern , New York , Pans , Wien Lang, 1997 ISBN 3-631-30662-8 NE Köhnen, Ralph [Hrsg ]

ISBN 3-631-30662-8 © Peter Lang GmbH Europäischer Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 1997 Alle Rechte vorbehalten

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany 1

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Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Der Druck der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung : Bildlichkeit in Texten Herta Müllers / Ralph Köhnen (Hrsg.). Frankfurt am Main ; Berlin ; Bern ; New York ; Paris ; Wien : Lang, 1997 ISBN 3-631-30662-8

Inhaltsverzeichnis

Vorwort........................................................................................................................ 7

Bild-Auflösung: Einheit als Verlust von Ganzheit. Zu Herta Müllers Niederungen (Christian Dawidowski)............................................................................................ 13

NE: Köhnen, Ralph [Hrsg.]

Bildlichkeit und verschwiegener Sinn in Herta Müllers Erzählung Der Mensch ist ein großer Fasan in der Welt (Thomas Roberg)...................................................................................................... 27

„Hermetisches Rätselreich“? Das Suchen einer Reiseroute in Barfüßiger Februar (Holger Bösmann).................................................................................................... 43 Reisende auf einem Bein. Ein Mobile (Karl Schulte)...........................................................................................................53 V

SA A

Das Land am Nebentisch. Ansätze zu einer Poetik der Entgrenzung (Astrid Schau).......................................................................................................... 63 A(

„Im Hauch der Angst“. Naturmotivik in Herta Müllers Der Fuchs war damals schon der Jäger (Martina Hoffinann/Kerstin S chulz).......................................................................79

ISBN 3-631-30662-8 © Peter Lang GmbH Europäischer Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 1997 Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany 1

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Das Nicht-Sagbare schreiben im „Überdruß der Münze die auf den Lippen wächst“. Über Herta Müllers Der Wächter nimmt seinen Kamm (Ulrike Growe).......................................................................................................... 95 Herztier. Ein Titel/Bild inmitten von Bildern (Philipp Müller)...................................................................................................... 109

Über Gänge. Kinästhetische Bilder in Texten Herta Müllers (Ralph Köhnen)...........................................................................................

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

„Ich wollte in der Tiefe der Bilder verschwinden“ - Bildlichkeit als Lust am Text Em Versuch über Der Teufel sitzt im Spiegel (Markus Stemmayr)

139

Geschicke der Schrift als Strategien subjektiver Ohnmacht Zu Herta Mullers poetologischen Vorlesungen Der Teufel sitzt im Spiegel (Stephan Duppe)

155

„Was nicht faßbar ist, flattert hm, wo es will“ Poetologische und politische Aspekte von Hunger und Seide (Eckhard Gropp)

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Siglen

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Herta Muller einem engeren Fachkreis von Literaturwissenschaftlem oder einem breiteren Publikum von belletristisch oder politisch interessierten Lesern vorzu­ stellen, scheint mittlerweile kaum mehr notig 1 In der literarisch-politischen Dis­ kussion ist sie eine feste Große, wird aber mit gewisser Vorsicht wahrgenommen Und das erstaunt nicht sonderlich, denn weder die Autorin noch ihre Schrift scheinen irgendwie geeignet, von der Kultunndustne einverleibt zu werden An Versuchen einer hteraturhistonschen Einordnung hat es nicht gefehlt, doch sind sie mit Vorsicht zu genießen, weil die Kategorien aus der westlichen Ge­ schichtsschreibung kommen „Neue Subjektivität“ wird etwa angeboten, mit der Option, „im Einzigartigen das Grundlegende und Allgemeine sichtbar“12 zu ma­ chen - eine Formulierung, die so allgemein wie falsch ist Denn auch wenn Herta Muller in Rumänien Zugang zu Texten hatte von Autoren, die öfter darunter sub­ sumiert werden - handfester politischer Druck oder Repressalien, sieht man ein­ mal von einem mehr oder weniger ‘betroffenen’ allgemeinen Zivihsations- und Gesellschaftsekel ab, fehlte der westlichen Literatur der siebziger Jahre im Ver­ gleich zu Herta Muller Auch das Label ‘Expressionismus’, mit Blick auf die ex­ plosive Bildlichkeit der Texte bemüht,3 greift zu kurz und ist darüber hinaus stiltypologisch fraglich Ähnlich heikel, weil doch stark auf den kunstimmanenten Bereich fixiert, ist der Titel des Symbolismus, dem die Bilderwelt zugeordnet wird im Rahmen eines „universalen, analogischen Symbolismus, m dem Sinne, wie ihn, jenseits vom mittelalterlich theologischen Modell, Baudelaire, Mallarme, Maeterlinck und Breton konzipiert haben“45Man konnte jetzt noch nach Elemen-

1 Einen Überblick über die Auseinandersetzung in literaturwissenschaftlichen Zeitungen

und v a m den Feuilletons, ebenso eine Einordnung der Texte Herta Mullers in den hi­ storischen Kontext Rumäniens gibt Norbert O Eke m Die erfundene Wahrnehmung Annäherung an Herta Muller Paderborn 1991, S 7-21 bzw 107-130 7 Clemens Ottmers Schreiben und Leben Herta Muller, Der Teufel sitzt im Spiegel Wie Wahrnehmung sich erfindet In Paul Michael Lutzeler (Hg ) Poetik der Autoren Beitrage zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Frankfurt aM 1994, S 279-294, hier S 292 3 Claudia Becker Serapiontisches Prinzip in politischer Manier - Wirklichkeits- und Sprachbilder in „Niederungen" In Eke (Hg ) 1991, S 32-41, hier S 40

4 Stefan Gross Dem Schmied ist Glut ins Aug gespritzt Von realen und erfundenen Teufeln Zur Erzählung „Die große schwarze Achse“ In Eke (Hg ) 1991, S 60-73, hier 5 69

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Vorwort

ten des Surrealismus suchen und hierfür Anhaltspunkte m der Technik der Bildfugung finden, aber auch das trifft nur mit Einschränkung zu Schreiben unter den Bedingungen einer Diktatur, deren Harten für Westeuropäer kaum vorstellbar sind und deren noch harmlosere Seite wohl die ist, daß in Ru­ mänien (wie auch in anderen Ostblocklandem) Schreibmaschinen behördlich re­ gistriert werden mußten, macht auch für den Interpreten, der sich der verschiede­ nen ‘Ismen’ nur mit Vorbehalten bedienen kann, em etwas anderes Vokabular erforderlich Die Texte geben mit ihren BildernAufschlußjiber eine Archäologie des UnbewußtenTwFsie~nändic^ sehr realen Anlasse im politischen Alltag Rumäniens haben Und so sehr auch das Zusammentreffen von surrealistischen Motiven und Sozialismus unter Ceausescu erstaunt, ist doch der Bewußtsemspol in Texten Herta Mullers nicht strikt der Prosa der Verhältnisse gegenubergesetzt, etwa als Poesie des Herzens Das Konzept der ‘erfundenen Wahrnehmung’, wie Herta Muller es m Der Teufel sitzt im Spiegel entworfen hat, ist doppelt zu verstehen Zunächst ist damit die Willkür jeder Perzeption, die gestalthafte Ergänzung der Wahrnehmung als prin­ zipielle Täuschung über die Welt gekennzeichnet Daraus ergibt sich aber auch zweitens die Pointe, die wahrgenommene Welt als nur eine von vielen möglichen, als kontingente Weltversion auszuweisen, an der schließlich Literatur mitarbeitet Und insofern ergeben sich hier auf fiktionaler Ebene auch Nahen zur Erkenntnis­ theorie des Konstruktivismus - als poetische Weltenschopfung, m Erweiterung und Spezifikation des konstruktivistischen Ansatzes etwa von Humberto Maturana („Wir erzeugen die Welt buchstäblich, indem wir sie wahmehmen “5) Sy­ stemtheoretisch ausgedruckt, bieten die Texte gegen die festgefahrenen Versio­ nen der Alltagswahmehmung alternative Wahmehmungsweisen an, die auf der Kontingenz des Subjektiven beruhen oder doch dort alle Hoffnungen plazieren Hoffnungen und Wunsche namhch eines minontaren Sprechens, das sich der Systematisierbarkeit zumindest durch diejenigen entzieht, die die falschen Fragen stellen oder nur Antworten geben, was Machthaber bevorzugt tun Was die Einschätzung von Alltag und Allnacht im Ostblock, nachmalig aber auch im Westen angeht und was auch die ablehnende Haltung gegenüber jedweder Utopie betrifft, die bei ihr im Verdacht des fortgesetzten Totalitarismus steht, zeigt sich Herta Muller m ihren Essaybanden und in Diskussionen äußerst ener­ gisch und eindeutig Bei ihren fiktionalen Texten - oder gar den Postkartencolla­ gen - hegen die Dinge anders Und so problematisch auch diese Genretrennung sein mag, ließe sie sich doch nachgerade begründen mit dem schlichten Faktum, 5 Humberto Maturana Erkennen Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit Braunschweig 1982, S 269

Vorwort

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daß in ihren politischen Essays über die Welt gesprochen wird, wahrend die an­ deren Texte nicht zeigen wollen, wie diese Welt ist, sondern verbale oder opti­ sche Gestelle anbieten, mittels derer man die Welt probeweise sehen kann Und auch das ist noch zu grobschlächtig Demi gewiß sind die Essays nicht als expositonsche Gebrauchstexte zu erschöpfen - auch hier sind Politik und Poetik, um es mit Kleist zu sagen, zwei parallel laufende Rader an einer Achse Doch starker noch als hier gibt es m den fiktionalen Texten Wahmehmungsangebote, die aus den widerstandigen Bildraumen, aber auch aus den Spielen mit der Schrift als Material selbst entstehen Daß die Texte Herta Mullers vielstimmig und unerkennbar orakeln, ist em gängi­ ger Topos der feuilletomstischen Kritik, aber auch dei eher spärlichen literatur­ wissenschaftlichen Untersuchungen Hermetik ist das Zauberwort, ein ambivalen­ tes gleichwohl, mit dem man den Texten auch ihre Harte nehmen kann oder das andersherum dazu emladt, sie in Ruhe zu lassen Etwas präziser scheint nunmehr das Konzept der ‘Autofiktionahtaf, wie Herta Muller es von Georges-Arthur Goldschmidt entlehnt und in ihrer soeben ei schienen Essaysammlung In der Falle ausgefuhrt hat Damit ist eine doppelte Optik angegeben, wie sie auch em wichti­ ges Interesse der vorliegenden Interpretationen darstellt oder doch wenigstens em Spannungsfeld bezeichnet Auf der einen Seite der authentische Schreibanlaß, das biographisch fundierte Erleben, das sich in die Wörter einsenkt, dann aber als wichtiger Schritt die Verwandlung m die Schrift, die Autonomisierung der Texte, mit weiten Implikationen Dieser komplementären Bewegung der Zeichen, ihrem Oszillieren zwischen Autorbindung und Verselbständigung entspricht denn auch der Titel des Bandes mit einem Satz, der T S Ehot zugeschneben wird Der Druck der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung 6* Die Recherche der Autorin bezieht sich denn auch nicht streng auf Tatsachen­ wahrheiten, sondern auf Aussagewahrheiten, die ihrerseits wieder die Dinge konstruieren ’ Es ist seltsam mit dei Eunneiung Am seltsamsten mit dei eigenen Sie veisucht, was gewesen ist, so genau wie nui möglich zu lekonstruieren, aber mit der Genauigkeit dei Tatsachen hat dies nichts zu tun Die Wahiheit der ge­

6 Heiner Muller zitiert diesen Satz gelegentlich als für sein Schnftverstandms maßgeblich (z B in den Gesammelten Intimem) Belegt ist er dort nicht, auch bei T S Eliot wört­ lich nicht zu finden, hier nur der Hinweis, daß Eliot m seinem Essay über Baudelaire ei­ nen entsprechenden Zusammenhang zeigt, diesen allerdings eher in den nervösen Regun­ gen des modernen Lebens begründet sieht

Vorwort

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schriebenen Erinnerung muß erfunden weiden, schreibt Jorge Semprun Und Georges-Arthur Goldschmidt nennt seine Buchei „autofiktional“ 7 Es ist „das aus der Todesangst hinausgehetzte Wort“, das derart doppelsinnig lesbar ist Einerseits zieht das Wort „beim Lesen die gleichen Kreise wieder“,8 zugleich deutet die Bildfigur selbst schon die exzentrische Bewegung an, m der Sprache sich verselbständigt Die biographischen Anteile wandern ms kalte Me­ dium der Schrift Um der Verallgemeinerung zu entgehen, daß sich alle moderne Autobiographie aus Gründen der Selbstanonymisierung m die Sprachmaschme zuruckziehe und sich unkenntlich mache - um namhch dem polizeilichen Zugriff und den Archiven zu entkommen -, konnte man hier sagen daß es sich um stark sublimierte, uberformte Erfahrungen handelt, die den Texten zugrundehegen, dann aber Sprache hervorbringen, die in der Schnftform selbst strategisch wird und mit dem Material der Kommunikation spielt Das Angebot des vorliegenden Bandes besteht nun vor allem m seinen divergen­ ten Lesarten - was letztlich der Disposition der Texte entspricht, die in der Tat nicht tauglich sind für den einäugigen, polyphemischen Bhck irgendeiner Ideolo­ gie Die thematischen Interessen der Beitrage, m bezug auf Gattung und Chrono­ logie geordnet, lassen sich wie folgt skizzieren An den Niederungen wird das Recht des Bild- oder Wortdetails gegen logozentnstisch organisierte Machtstrukturen und Ganzheiten herausgearbeitet (Christian Dawidowski), es folgt eine Analyse der Bildstruktur als Parataxis und Metapho­ nzitat in Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt (Thomas Roberg) Daß Schweigen als Widerstandsarbeit fungiert, wird in Barfüßiger Februar gezeigt, wo aber zugleich eine ‘Reiseroute’ gesucht werden kann (Holger Bosmann) Die Collage scheint als Kunstprmzip m Reisende auf einem Bem die einzig mögliche Antwort auf den Werteverlust (Karl Schulte), Entgrenzungspraktiken von Das Land am Nebentisch suchen hingegen in der Identitatsdiffusion ihre Chancen (Astrid Schau) Die Konstruktion der Naturbilder in Der Fuchs war damals schon der Jager ist ambivalent als Restutopie und zugleich m der Unmöglichkeit, einem autoritären Regime zu entkommen (Martina Hoffmann/Kerstm Schulz), der Zusammenhang von Bildcollage und Text wnd als Chance des hermetischen Sprechens unter Bedingungen der Diktatur an Der Wachter nimmt seinen Kamm gezeigt (Ulrike Growe), und ebenso werden flüssige wie auch diskontinuierliche Bildstrukturen m Herztier als Gegengift zur Macht analysiert (Philipp Muller) An verstreuten Texthinweisen wird der kmasthetische Zusammenhang von Ge_____________________

Vorwort

hen, Denken, Sprechen und Bildwahmehmung untersucht (Ralph Kolmen) An den Essays m Der Teufel sitzt im Spiegel wird starker noch die Zeichenbewegung im Schriftmaterial als Bildraum jenseits der Syntax gezeigt, wie es ästhetisches Partisanentum ermöglicht (Markus Steinmayr), auf dieselben Texte bezieht sich die Deutung über das Verschwinden des Subjekts inmitten eines unberechenba­ ren, unruhigen Schriftmediums, das aber als Material einzig noch die Möglichkeit von Differenz bietet (Stephan Duppe) Anhand von Hunger und Seide wird schließlich erwogen, ob es bei aller Skepsis doch Chancen einer utopischen Les­ barkeit der Texte Herta Mullers gibt oder sie wenigstens gegen ihren eigenen Pessimismus angelesen werden können (Eckhard Gropp) Bei allen Bemühungen soll nicht vorgespiegelt werden, daß die Privatsprache Herta Mullers erschöpfend zu analysieren wäre Zu deutlich ist sie getragen von emer programmatischen Weigerung, verstanden zu werden, zu eindeutig die Ab­ sage an die eindeutige Dechiffrierung Und m diesem konspirativen Diskurs ge­ gen alle Pohzeiasthetik mag der Text der Autorin selber gelegentlich verschlüsselt bleiben, wie das bei aller Kunst der Fall ist, die das ihr Andere, Fremde m sich tragt Der ungeliebte Kollege Hemer Muller hat dies so salopp wie bündig formu­ liert, als gesuchte Krise der Repräsentanz „Em Text oder eine Aufführung wird erkennungsdiensthch behandelt, es geht darum, herauszufinden, wer was ist Das ist langweilig Jedes Kunstwerk hat em Geheimnis, und das muß erhalten bleiben Es muß etwas Unauflösbares da sein, bei aller analytischen Anstrengung, und wenn das nicht da ist, dann ist es eben parasitär “9 Dennoch werden die Unbestimmtheitsstellen, die Schwarzstellen noch interessanter, wenn man nicht mit dem weitläufigen Unbestimmtheitstopos alle Bemühungen erschöpft, sondern ge­ rade am Nichtverstehbaren die teilweise auch sehr harten und klaren Bilder Herta Mullers konturiert Gelegentlich hat man sogar den Eindruck, daß die Texte noch mißtrauisch gegen sich selber sind - und dies verunmöglicht, irgendeine Pnvatikonographie zu de­ chiffrieren oder Interpretation auf Motivhuberei zu verkürzen Vergleiche und Bilder, die sich selber nicht aushalten, die sich dementieren, Motive, die eme Weile lang enggeführt werden, dann aber paradox und ohne Auflösung fallenge­ lassen werden, Figuren, die sich insistent aufdrangen und dann wie durch zufälli­ ge Eingriffe marginalisiert werden - das sind em paar von den Strategien, die die Texte auch nach außen hm absichem Und erwartbar hat die Literaturkritik an den letzten Texten eine Mangelhste eröffnet Das Forcierte der Metaphern, die Übertreibungen, die hypertrophe Tendenz der Details, die allesamt auf einen gro­ ßen Zusammenhang hinweisen wollen und diesen so gerade nicht mehr erreichen

7 Herta Muller In der Falle Göttingen 1996, S 21

8 So Herta Muller in bezug auf Theodor Kramer (In der Falle Göttingen 1996, S 9)

11

9 Hemer Muller Gesammelte Irrtümer Frankfort a M 1990, S 44

Vorwort

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konnten - das alles war nicht genehm Und doch hegt gerade darin die offene Wunde der Texte, die das Dritte, die Versöhnung nicht m sich tragen, sondern als Wunschbild offenlassen, allenfalls die Chance bieten - mit den Worten von Wal­ ter Benjamin - den Pessimismus zu organisieren 10*

Der vorliegende Band ist entstanden im Anschluß an em Kolloquium über Herta Muller, das Professor Dr Harro Muller-Michaels anläßlich ihrer Gastprofessur an der Ruhr-Universität Bochum im Wintersemester 1995/96 veranstaltet hat So war auch der Versuchung zu widerstehen, allzuviel Auskünfte einzuholen und Äußerungen der Autorin zum Maßstab der Interpretation zu machen Aber Herta Muller zeigte nicht nur eine sympathische Distanz zu ihren Texten, sondern ent­ hielt sich auch der Wertungen über das Richtige oder das Falsche der vorgetrage­ nen Deutungen Von der Attitüde der Herrscher über ihre Produktion, wie sie sich rechthaberisch gebärden und meinen, sie konnten den Interpreten ihre Selbstbe­ obachtungen m die Tastatur diktieren, hat Herta Muller entschieden nichts Daß sie vielmehr m allen Diskussionen geduldig, auch neugierig abwartete, was da wohl an Interpretationen über ihre Texte wuchern wurde, machte das Unterneh­ men umso reizvoller - und riskanter Bochum, Dezember 1996

Ralph Köhnen

Bild-Auflösung: Einheitals Verlust von Ganzheit Zu Herta Müllers Niederungen (Christian Dawidowski) Wir lesen über DNS und Gentechnologie und schlurfen dazu unseren Kaffee 1

Wider die Rede von Herta Mullers Kindheitsbewaltigung, der Minderung des Leidensdrucks im Widerschein der verzehrenden Flammen eines Sozialismus un­ ter dem Etikett einer „angewandten Utopie“ (HS 50) spricht der Text für sich Aussage und sprachliche Reflexion erscheinen durch em Prinzip untrennbar verknüpft Mensch und Sprache verfließen unter dem Paradigma der Bild­ auflösung zu einer symbiotischen Einheit, die der Großteil der (oft zu stark hermeneutisch ausgerichteten) Rezensionen zugunsten einer eindimensionalen Perspektive verkannte Eine biographisierende und autorzentrierte Lesart präsentiert die Niederungen als Album, als Kompilation von (Impressionen emer dörfliche Lebensgemeinschaft im schwäbischen Banat Erst wenn der perennierende Blick des Kindes den ' Schleier der dörflichen Normalität und Rationalitat zum Zerreißen bringt, entbergen sich oft grauenhafte Details, die em Heranwachsen m unberührter Kindheit nicht ermöglichen Die Epigenese des Kindes vollzieht sich m der Aus- : ’ emandersetzung mit einer Umwelt, die ihm zunächst m der Gegenwart der Natur und der Familie, spater in Gestalt der Dorfgemeinschaft faßbar wird Am Hori­ zont seiner Wahrnehmung scheinen erste Ahnungen universeller Machtmecha­ nismen auf, politischer und religiöser Machtmißbrauch hinterlaßt deutliche Spu­ ren im Neuland der kindlichen Seele

Sprach- und bildtheoretisch finden sich Ansätze, die (meist von Herta Mullers Poetik-Vorlesungen ausgehend) zum einen den Komplex „Wahrnehmung“ fo­ kussieren,2 zum anderen sich auf die Eigenart der Bilder kaprizieren3 Im Folgen-

*Hofstadter 1992, S 306

2 Becker thematisiert in Anlehnung an E T A Hoffmann das „serapiontische Prinzip“

10 vgl Walter Benjamin Gesammelte Schriften Hg v R Tiedemann u H Schweppenhauser Frankfurt aM 1974, Bd I, S 1234

Mullers Innenwelt und Außenwelt stunden in einem „unauflösbaren reziproken Projek­ tionszusammenhang“, über eine spezielle Wahrnehmungsweise wnd das empirische Aus­ sen zum Ausloser for eine subjektive Innenwahrnehmung (1991, S 32f)

Christian Dawidowski

Einheit als Verlust von Ganzheit (Niederungen)

den soll demgegenüber der Versuch unternommen werden, die erwähnten Kom­ plexe unter dem Aufweis einer ihnen zugrundeliegenden gemeinsamen Struktur zusammenzudenken, wobei dies statt einer Uniformierung eher eine Öffnung des Werkes zur Folge hat Das Werk dokumentiert die Scheu vor der Macht - vor der Ausübung von Suppression ebenso wie vor der Erduldung derselben Die Abwehr logozentnstisch organisierter Machtstrukturen impliziert die Tendenz zur graduell fortschreitenden Dissoziation Diesen Prozeß bemüht sich Herta Muller zu illu­ minieren Das Ganze verblaßt, in einer komplementären Reaktion erstarkt das Detail, das nun sowohl als Element der poetischen Sprachbildhchkeit (das singu­ lare Bild dominiert über das Werkganze) als auch im lebenswelthchen Miteinan­ der menschlicher Ordnungsstrukturen (Rehabilitation des Individuums) zu seinem vollen Recht kommt Die Fraktahsierung jedoch kreiert em neues und dynami­ sches Ganzes, das Sinn in den Leerstellen und Übergangen erstehen laßt und seine uneinholbare Offenheit durch die größtmögliche Einbeziehung des Lesers garantiert, an dieser Schwelle ermöglicht die hohe Bildauflösung glasklare Sicht Schlaglichtartig soll die Konzentration auf einige zentrale Momente der Erzäh­ lung diese These konsolidieren, bevor der Schluß des Kommentars die Faden aufhimmt und im Sinne der nun umrissenen thematischen Annäherung verknüpft

aufzugreifen, muß dieser Vorgang in einem ersten Schritt ms Zentrum der Erörterung rucken, denn nur durch die Einsicht m die Mikrostruktur von Mullers Schreibe kann ihre Scheu vor dem Ganzen plausibel werden In einem parataktischen Reihungsstil werden für den Bruchteil eines Augenblicks Dinge illuminiert, die als Fraktale dastehen und die Welt spiegeln, die Welt ent­ halten, die sie bisher enthalten hat, aus der sie herausgefallen sind, ohne ihren Verweischarakter emzubußen Die Aufgabe, die sich Herta Muller stellt, ist, das Unsichtbare über eine neue Form der Bildlichkeit zur Sichtbarkeit zu bringen Das Unsichtbare ist hier nicht etwa (im Sinne einer romantisierend verherrlichten Innerlichkeit) eine verschüttete Gefuhlserfahrung, für die es gelte, m ästhetizisti­ scher Manier em Bild zu finden, das m mystischer Haltlosigkeit und Bedeutungsuberfulle sich selbst emhole und überhole, bevor es sich (wenn man es gut mit ihm meint) transzendiert und neue Horizonte eröffnet Oder aber - in einer neuen Nichtigkeit - die Schwelle überschreitet, an der das Alles-Sagen sich zum NichtsSagen verkehrt Das Unsichtbare Mullers ist demgegenüber das Alltägliche, das nur-mchts-sagende Utensil der dörflichen Lebensgemeinschaft, das nicht em Et­ was ist, sondern em Etwas-um-zu, das mit einem Verweischarakter behaftet ist Häufig smd es Mittel des Hantierens und Werkens, die im Schlaglicht der kindli­ chen Wahrnehmung aufsässig werden und sich im Text redend verlauten lassen Was so sichtbar wird, verlaßt die Ebene der empirischen Konstatierbarkeit, um die Subjektivität der Erzählerin zu ergreifen, was so sichtbar wird, ist die Welt eines Subjekts, die - völlig autonom dem Außen gegenüber - für sich gilt Im Text findet sich eine signifikante Passage, die den Prozeß der Generierung des Bildes aus unverbundenen Wahrnehmungen besonders illustriert Die Charakteri­ sierung des Großvaters erscheint m der Sicht des Kindes untrennbar mit dem Werkzeug des alten Mannes verknüpft

14

Koharenzverlust Eine Form von Wahrnehmung, die das Detail bomsiert, steht unter dem Diktum der kindlichen Logik, der Zerfallsprozeß des Außen generiert das singulare Bild im Innen, das m der Fixierung der Schreibe als Element des Sprachmatenals nicht mehr auf eine Bedeutung festzulegen ist „Die Dinge sind doch auch m der Wahrnehmung, in der Wirklichkeit zerhackt Sie ergeben erst im nachhinein em Bild Das sogenannte Ganze entsteht erst m der Projektion, m der Übersicht, die man danach hat“34 Ohne hier die Rede von den gleitenden Signifikaten5

3 so geschehen bei Gunther (1991, S 43) „aus den einzelnen, zunächst zusammenhanglos erscheinenden Impressionen [ergibt sich] das eindringliche und komplexe Bild einer überwiegend grausamen ländlichen Kindheit “

15

Großvater kommt aus dem Hmterhof und hat Dreck und Gras an den Schuhen kleben In semen Rocktaschen rasseln die Nagel Großvater hat alle Kleider voller Nagel, selbst die Taschen seiner Sonntags­ kleider stecken nut Nageln voll Einmal fand Mutter emen Nagel sogar in sei­ nem Schlafanzug, worauf sie sehr böse wurde und das Haus vollschne (N 87)

4 Herta Muller m einem Spiegel-Gespräch, Der Spiegel, 46 Jg 1992, S 266 5 vgl Lacan 1975, S 27 - Eine psychoanalytisch beeinflußte Deutung Lacanscher Pro­ venienz fände in den Niederungen die odipale Dreieckskonstellation durch das Kind, die Natur und den Großvater repräsentiert Die dyadische Mutter-Kind-Totahtat konkre­ tisiert die Erzählung im intimen Naturbezug des Kindes, die Natur erscheint als das l’autre (a) Der Beginn der Niederungen dokumentiert den Eingang des odipalen Dra­ mas, des Durchbrechens der Dyade durch den Vater, der das Kind in die soziale und sprachliche Ordnung einfuhrt, die symbolische Funktion des Vaters als Name-des-Vaters, als purer Signifikant, wird umso mehr offenbar, als die symbolische Kastration, der Aus-

gang aus dem Paradies der Symbiose, durch den Großvater verursacht wird Das Ich des Kindes ist durch den Mangel gekennzeichnet, es richtet sein Begehren auf das verlorene „a“, das als Signifikat unter den materiellen Signifikanten gleitet Der Text als Aus­ drucksmittel hatte somit einen metapoetischen Sinn durch den Aufweis von ubertextuellen Kommentaren, die prophylaktisch referentiellen Kurzschlüssen des Rezipienten ent­ gegenwirken Die poststrukturahstische Trennung von Signifikat und Signifikant verhin­ dert vorschnelle Substanzannahmen und richtet die Aufmerksamkeit auf das Begehren des Anderen

Christian Dawidowski

Einheit als Verlust von Ganzheit (Niederungen)

Es wird deutlich, inwieweit sich die Welt des Kindes aus überhöhten Details zu­ sammensetzt, die Auflösung des Ganzen laßt Dingstrukturen hervortreten, die die alltägliche Wahrnehmung verkehren und m einer pars-pro-toto-Funktion komple­ xere Strukturen erschließen (hier die Person des Großvaters) Was hier jedoch noch im Außen verbleibt, wird in einem nächsten Schritt zum imitatorischen Mo­ ment für die kindliche Innenwahmehmung, die mit einer subjektiven Umdeutung des Außen korreliert

Ich öffnete die Kuchentur, zitterte noch eine Weile, und Mutter fragte, ob es kalt sei draußen, ob es wieder kalt sei di außen Sie betonte das Wort wieder, und ich dachte mir, daß es kalt ist draußen, aber nicht wieder kalt, weil es je­ den Tag eine andere Kalte ist, immer eine andere Kalte, täglich eine neue Kalte voller Rauhreif Aber es war nicht kalt, es war nur feucht Wieder hast du dich gefürchtet, sagte sie 8

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In jeder Hausecke stehen Kisten und Schachteln mit Hammern und Nageln Wenn Großvater hämmert, hort man zwei Tone auf einmal, einen von dem Hammer und einen aus dem Dorf Der ganze Hof mit seinem stemharten Boden widerhallt Den Kamillen fallen die feinen weißen Zahne aus Ich fühle, wie schwer der Hof mir auf den Zehen hegt, der Hof lastet mir auf den Fußen, der Hof schlagt mir beim Gehen in die Knie Der Hof ist hart und groß und wild verwachsen Ich rede, so laut ich nur kann, und das Hammern reißt mir die Satze vom Gesicht (N 87) Nachdem die Mitwelt der Protagonistin über die Erfahrung des Kindes phänome­ nologisch erschlossen wurde, wird die Ebene der Erfahrung überstiegen und die Innenwahmehmung zu einem Bild verdichtet,6 m dem die Angst des Kindes an­ gesichts der Repression, die von der Gemeinschaft ausgeht, adaquaten Ausdruck findet „Manchmal ist das Dorf eine riesengroße Kiste aus Zaun und Mauer Großvater klopft seine Nagel hinein “7 Die kindliche Logik zeichnet sich durch selektive Wahrnehmung aus Einzelnes wird bedeutsam, isolierte Elemente werden aus dem Strom des visualisierten Ganzen herausgegnffen, das Detail reiht sich jedoch nicht zur Serie, denn die kindliche Logik ist nicht linear, sondern erlebt im Neben- und Ineinander die Ge­ burt von Wahrnehmung mit, die jeder kategorialen Überformung oder Subsumtion noch widersteht Auf poetischer Ebene spiegelt sich dies m synasthetischer Wahmehmungsvermengung Der Hof hegt schwer auf den Zehen oder wird als hart empfunden Die Schranken zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Innen und Außen fallen, und das Kmd erscheint unfähig, das Ganze semer Welt zu überblicken, die im subjektiven Erleben atomisiert wird Wenn so das Detail auf­ scheint, wird die Hilflosigkeit des Kindes innerhalb der Systeme von Ordnung und Logizitat durch den Erhalt der Einmaligkeit des Ereignisses kompensiert, damit steht es im krassen Gegensatz zur Welt der Erwachsenen

6 vgl Gunther 1991, S 51f

7N 87 - ähnlich auch S 91 „Das Dorf steht wie eine riesengroße Kiste aus Zaun und Mauer in der Gegend “

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Konnte somit Dispersion als konstitutives Merkmal Mullerscher Poetizitat aus­ gemacht werden, muß die Erörterung auch die inhaltliche Ebene berücksichtigen, die ebenfalls m wesentlichen Momenten das Element „Auflösung“ thematisiert Die Niederungen stellen die Frage nach der Möglichkeit fester Ich-Grenzen9 Das natürliche Ich (hier als das von der linearen Logik unbeeinflußte Ich des Kin­ des gedacht) kann nicht als monolithischer und homogener Block unter der Herr­ schaft des Bewußtseins vorstellig werden, Natur und das Selbst des Kindes stel­ len eine vorgängige umo dar, die allmählich durch die Restriktionen der Mitwelt m zwei Pole - Subjekt und Objekt - zerfallt Die Hingabe des Kindes und sein Sinn für die singulären Erscheinungen der Natur wird so usurpiert durch den Zwang nach Ordnung und Ganzheit

Der Großvater, der sagte, vom Ringelgras wird man dumm, das darf man nicht essen Und du willst doch nicht dumm werden Der Käfer, der mir ms Ohr kroch Großvater schüttete mir Spiritus ms Ohr, damit mir der Käfer nicht m den Kopf knecht [ ] Das muß man tun, sagte Großvater, sonst wird dir der Käfer m den Kopf knechen, und dann wirst du dumm [ ] Die Akazienbluten darf man nicht essen, sagte Großvater, es sitzen kleine schwarze Fliegen drin, und wenn die dir in den Hals kriechen, dann wirst du stumm Und du willst doch nicht stumm werden (N 17) Das intime Verhältnis des Kindes zur Natur wird durch den Großvater, der als präventive Instanz wirksam ist, destruiert, Denken und Sprechen werden m semer Argumentation als Stützpfeiler der linearen Logik instrumentalisiert, und das teil­ weise Einssein (Einverleibung des Grases, der Bluten, des Käfers) wird als Ge­ fährdung gekennzeichnet10 Diese Opposition zwischen dem Weltverstandms des Kindes und dem der Dorfbewohner wird in zahlreichen Episoden verschärft Der g

N 65f In diesen Momenten der Vermengung von Innen und Außen beherrscht das Bild das Kind in Opposition zur linearen Logik der Erwachsenen „Mutter steht mit den Fußsohlen über mir Sie zerquetscht mir das Gesicht Mutter stellt sich auf meine Augen und druckt sie ein Mutter tritt mir die Pupillen ms Weiße der Augen“ (N 75) Q vgl Gunther 1991, S 47 10 vgl Gunther 1991, S 45

Christian Dawidowski

Einheit als Verlust von Ganzheit (Niederungen)

Vater lebt in der Angst vor der Auflösung der Korpergrenze und zeigt eine unan­ gemessene Reaktion auf den unbeabsichtigten Griff ms Gesicht (N 66f), die Beziehung der Dorfbewohner zur Natur verbleibt in der Diesseitigkeit einer utili­ taristischen Gebrauchsethik, die den Prinzipien von Umgestaltung und Verfug­ barmachen gehorcht Die Schlachtung des Kalbs (N 55ff) wird ebenso wie die sinnlose Vielfalt der mütterlichen Besen (N 72f) zur Metapher dieser Zweckra­ tionahtat Im kollektiven Einvernehmen wird dem gesunden Kalb das Bem gebrochen, um das Einverständnis des Tierarztes zur Schlachtung zu erschlei­ chen Der Schmerz des Kindes ist sichtbarer Ausdruck eines gebrochenen Welt­ bezugs Die zwanghafte Ökonomie der Mutter gerinnt zur Groteske, wenn sie für jeden Teil des Hauses einen eigenen Besen benutzt und dieser m der kindlichen Lebenswelt einen jeweils besonderen Namen erhalt11

die Wahrnehmung des Kindes, das Unverbundenes neu synthetisiert und - Bruche ignorierend - Zusammenhänge konstituiert, die den Dingen m der Sicht der Er­ wachsenen nicht eignen Lehrte spätestens die erkenntnisskeptische Wende der Philosophie die Aufhebung der Entsprechung von Dmg und Perzeption, so radikalisiert Herta Muller diese Einsicht Das Sehen, der Blick wird in seiner Problematik bewußt gemacht, das Visuelle wird fraglich, Realität wird im Innen erschaffen Die Tatsache, daß die Dinge nicht so sind, wie sie sich der Erscheinung darbieten, ist spätestens seit Kant mcht neu, dennoch entsteht bei Herta Muller über die Verschränkung einer subjektiven Form von Wahrnehmung im Diskurs des Alleinseins, einer im Licht dieser erfundenen Wahrnehmung erstehenden Bildlichkeit und dem verknappenden und beiordnenden Reihungsstil em Novum Die Außenwelt wird m zwei Schritten atomisiert11 12 Zunächst zerfallt sie m kindli­ cher Perspektive zu einer Vielzahl von Details, von denen sich manche absetzen an diesem Ort entstehen die eindringlichen Bilder, die trotz sklavischer Detail­ treue das Ganze erschließen Der zweite verfremdende Prozeß setzt im Schreibvorgang em Unter all diesen sedimentierten Erfahrungsbildem selektiert die Autonn, um einen assoziativen Sinnzusammenhang herzustellen Die Vorbe­ halte gegen Logizitat und Lmeantat - die sich zeitlich im chronologischen Nach­ einander, räumlich in der Ordnung der Dinge manifestieren - zeitigen den Verlust des kohärenten Weltverstandmsses und den scheinbaren Zerfall epischen Zusammenhangs durch die Auflösung m lyrische Symbolstrukturen Der kindliche Blick wird in Retrospektive beobachtet, sein sich selbst überstei­ gender, sich transzendierender Charakter erfaßt und m der sprachlichen Fixierung erhärtet Die Trennung von Bild und Satz erschemt signifikant (und laßt den Signifikanten erschemen) Von emer unmittelbaren Umsetzung des Bildes im Satz oder emes sich im Geflecht der Bedeutungen generierenden Bildes im Sinne von Autopoiesis kann keine Rede sein Das Bild erschemt als ursprüngliches, seit frühester Kindheit immer schon vorhandenes, von seinen Sinnzuweisungen, den Bedeutungen, und seinen Ubermittlem, den Worten, isoliert Die auf das Not­ wendige verkürzte Form sprachlicher Direktheit dokumentiert den Endzustand einer Entwicklung, m der die materialen Trager der zu Stilisierungen geschwäch­ ten Sinnbildungsprozesse aufgespurt werden Statt emer vereindeutigenden Unterstellungshermeneutik ist es hier das Sprachmatenal, das die Bilder produziert, als Auteur-Dieu13 den Worten usurpatonsch Sinn zu oktroyieren, ist

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Der Machtanspruch des Menschen gegenüber der Natur entbirgt jedoch die wohlverschleierte Kehrseite tyrannischer Herrschsucht die Furcht vor dem Un­ geordneten, vor der Wiederkehr des Regellosen, vor dem sich jeglichem Logozentnsmus entziehenden Chaotischen Tatsächlich ist die Scheu vor dem Anderen der Natur mehrfach m der Erzählung präsent Die Schlange wird zum Sinnbild einer animistisch beseelten Natur, eine Frau, die mit ihr im Einvernehmen zu ste­ hen scheint, wurde m der Vergangenheit des Dorfes als Hexe verflucht (N 3 8f)

Lid-schläge. Kindlicher Blick und Auge der Macht Der bisherige Fortgang der Untersuchung konnte deutlich machen, inwieweit das Moment der Dispersion sowohl auf sprachlicher als auch auf inhaltlicher Ebene als konstitutiv für die Erzählung erachtet wird, in der Rehabilitierung kindlicher Wahrnehmung wird das Detail großer als das Ganze, und das Kmd erfaßt die Ei­ genart des Dinglichen und des Natürlichen Umgesetzt erscheint dies auf textli­ cher Ebene m einer Collage verselbständigter Bilder, der Blick formiert die Achse zwischen Detail und Bild Hier wird jedoch eine radikale Innenwendung vollzo­ gen, das Innen soll zur Sprache (und zum Sprechen) gebracht werden Wahrneh­ mung ist rem subjektive, situiert im Diskurs des Alleinseins Paradigmatisch gilt 11 Die Namensgebung ist prinzipiell metaphorisch im Sinne von Diesseitigkeit und Überwindung des Nummosen, der Geworfenheit des Menschen zu verstehen Das dem Absolutismus der Wirklichkeit ausgelieferte Individuum ersetzt Unvertrautes durch Ver­ trautes und kompensiert die Ohnmacht durch die Illusion der Herrschaft der Namen Das Übermächtige wird so depotenziert (vgl dazu die Studien von Blumenberg 1983) Mullers Skepsis einer nominalistisch eindimensionalen Zuordnung Name-Ding gegenüber wird hier offenbar Dem festgefugten Bezeichnenden mhanert die Tendenz zu Verdinglichung und Erstarrung der Bezeichnungsfunktion Es ist sicher kein Zufall, daß das Kmd keinen Namen tragt

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12 vgl Becker 1991, S 37 13 vgl Barthes 1968 - „Barthes hat [ ] gegen die Ohnmacht des Autors die Macht der

Sprache (und des Schreibens) ausgespielt“ - so Japp 1988, S 233

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Herta Mullers Sache nicht „Bei diesem ersten Buch habe ich die Sprache als etwas Konkretes empfunden, nicht als etwas Abstraktes, als etwas, was ist wie em Gegenstand, an dem man sich festhalten kann “14 So geht es um eine Zuruckweisung von sprachlichen Herrschaftsverhaltnissen, die durch eindimensionale Smnbildung gefestigt wurden und die Verdrängung des Geschriebenen zugunsten der Auslegung bedeuteten Erscheint „Wahrheit“ als eindeutig zuschreibbare, so begründet dies die Herrschaft des Autors über das Geschriebene, Herta Mullers Schreibe jedoch begünstigt die Dissolution des Au­ tors hinter dem Gerüst der Sprache und der Schrift 15

gen kann und will Denn dies stilisierte die Utopie zu einer neuen Wahrheit, die für Herta Muller prinzipiell mit dem Ruch des Repressiven belastet ist18

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Denn beherrschen wird sie das Thema nie Sie will es nicht Wie sie auch die Sprache letztlich nicht behen sehen will oder kann im Sinne eines allmächtigen Autor-Diktators Deshalb verfugt sie beim Schreiben über kein ‘Konzept’ Sie weiß nicht, wohin sie die Sprache tragt16 Die Scheu vor dem Absolutismus sprachlich eindeutig fixierter Sinnzuweisungen laßt Schreiben m einen Gegensatz zu Leben und Denken treten Dennoch thema­ tisiert die Erzählung Niederungen gerade die entmenschlichte Realität einer Gemeinschaft im Übergang vom national deutschen Faschismus zum sozialisti­ schen Totalitarismus Die Ablehnung des Anderen wird kollektiv praktiziert, indem die Bedürfnisse des Einzelnen der Ökonomie der Dorfgemeinschaft untergeordnet werden?7 die nur als geschlossenes Ganzes dem Unvertrauten trot­ zen kann Die Heirat (N 20) wird von der Braut als Opfer für das Wohl der Ge­ meinschaft erachtet und als Zwangshandlung enttarnt Im Kollektiv des Dorfes greift die unsichtbare Mechanik der Sujektivitatsenteignung Dem Einzelnen bleibt die Wahl zwischen Unterordnung oder Flucht m das Refugium eigener In­ nerlichkeit im Bruch mit dem Außen Der Druck der Erfahrung produziert den kindlichen Blick, der die Subjektivitatsenteignung zwar decouvriert, aber im Sta­ tus von Virgmitat und Nativismus keine Projektion besseren Lebens hervorbnn-

14 Herta Muller in einem Interview im Feuilleton der Frankfurter Rundschau Nr 159 1995, S 7 15 Der Derndismus der Posthistoire hat auch bei Muller unauslöschliche Spuren hinterlas­ sen Ihr Werk wäre lesbar als Anwendungsmoglichkeit einer auf Differe(a)nz aufbauen­ den Konzeption, denn bewußt vollzieht sie die Trennung von Vorstellung, Sprache und Schrift und überlaßt sich im Schreibvorgang der Anziehungskraft des Geschriebenen „Der Schrecken des Satzes und der Sog des Satzes sind der Impuls für das Fortschreiben des Gedankens“ (Muller, zitiert im Feuilleton der SZ, Nr 14409, 1992)

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Jede Utopie, die das Papier verlaßt und sich zwischen die Menschen stellt, uniformiert die nackte Unzahligkeit der Versuche, em Leben zu finden, das man aushalt Jeder von uns besteht aber aus diesen Versuchen, die er fortsetzt, bis er stirbt Wer diese Versuche mit Formulierungen umstellt, grenzt sie schon em und zwingt sie zu entsprechen (HS 50) Dennoch Der sozialistische Impetus ihres Werkes ist dominant Diskordiert die­ se Intention nicht zum einen mit (gewollter) Utopiefeme, zum anderen mit einer Absage an die literature engagee, wenn das bloße Hier-Sem von Sprachmatenal, Buch und Literatur den Charakter des Unhmtergehbaren zugewiesen bekommt? Es können jedenfalls in den Niederungen keine versöhnenden Momente utopi­ schen Charakters jenseits der Dorfgrenzen aufscheinen, es zeigt sich bloß das, was ist, und was seit jeher ist Schreiben heißt Trennungsarbeit vollziehen, heißt die Disparitat von Logos und Poiesis handelnd auszufuhren Schreiben ist aber auf existentieller Ebene, was also die Auseinandersetzung des Subjekts mit der Welt betrifft, auch Schreiben m der Diktatur Wollte man in einschränkenden Dualismen denken, wäre zu konsta­ tieren, daß neben den Antagonismus von objektiv Gegebenem und subjektiver Wahrnehmung der der politischen Macht und des Ich der Dichterin getreten ist Schreiben wird zum Druckregler, der das Überschreiten des Leidensdruckes über eine bestimmte Grenze verhindert und den stoßfreien Betrieb des Denkens er­ möglicht So erhalt der Schaffensprozeß auch eine ganz konkrete Funktion in Le­ ben und Denken, und es stellt sich die Frage, ob diese beiden Funktionen - das Schreiben im Dissens, das die Trennung von Bild und Satz vollzieht, und das Schreiben in der Diktatur - überhaupt vereinbar sind Em Rettungsweg aus dem Dilemma des fehlenden Konsens ergäbe sich durch den Eskapismus eines subjektivistischen Relativismus, einer Art philosophischer Entspannungshaltung m Ruckenlage Das wäre das Emstnehmen der Einsicht „es gibt Bucher, das ist alles“ Daß dies aber nicht alles sein kann, zeigt sich an einem Zitat aus den Niederungen „Mutter bringt im Weinen lange Satze zustande, die nicht mehr abreißen wollen, und wenn sie mich nichts angingen, waren sie schon “ (N 86) Hier offenbart sich em zweiter Weg Herta Mullers urteilslose Beschreibungs­ kunst hebt den Abgrand zwischen Ästhetik und Moral ohne eine Bevormundung des Lesers Die bohrenden Fragen werden nicht prajudiziert, sie werden durch die poetische Form, durch die Appellstraktur des Textes gestellt19 Der Blick Herta

16 Jenny in Neue Zurcher Zeitung Nr 164 1995, S 35

18 vgl Herta Muller im Feuilleton der Frankfurter Rundschau 1995, Nr 159, S 7

17 vgl Gunther 1991, S 56

19 vgl Gunther 1991, S 58

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Müllers erscheint somit in Abkehr vom Auge der Macht, das weder den demütig­ ergebenen Augenniederschlag, noch auch den vertröstet-höffenden Augenauf­ schlag, sondern nur den kämpferischen Lid-Schlag des Weitblicks hervorrufen konnte.

In den Niederungen setzt sich das Kind mit einer Reihe von Figuren auseinander, die als Repräsentanten eines absoluten Wahrheitsanspruchs auf interpersoneller Ebene als der eine Pol einer antithetischen Konstellation instrumentalisiert sind. Erzähltechnisch gehorcht die Chronologie der Präsentation dieser Figuren den Prinzipien von Ausweitung und abschließender Konzentration in einem Bild: Es findet sich somit ein identisches Prinzip in der Konstitution der einzelnen Bildelemente und auf der Metaebene der Textkonstitution als Ganzes; der Text schließt mit dem Bild des Frosches. Zu Beginn zentriert sich der Antipol zum kindlichen Erleben in der Gestalt des Großvaters, der der Tendenz zur Dissozia­ tion mit starrer Wahrheitslogik entgegentritt; als pädagogische Leitinstanz antizi­ piert er im Plädoyer für das „Denken“ und „Sprechen“ die wesentlichen Ingredi­ enzen eines sich hier am Horizont der kindlichen Wahrnehmung erst sanft ab­ zeichnenden Systems im Zeichen aufklärerischer Denkart, die Wahrheitsmonopolismus und repressive Machtstrukturen zu einer fruchtbaren Synthese bringt. Das groteske Nützlichkeitsdenken der Mutter, deren Hände „nur beim Geldzäh­ len [...] glatt und gelenkig wie Spinnen“ sind (N 20), und der brutale Utilitarismus des trinkenden Vaters, der Jeden Tag etwas kaufen [will] und jeden Tag Geld“ verlangt (N 20), treten die Nachfolge der durch den Großvater präformierten Zweckrationalität an, die in der Dorfgemeinschaft ihren unaufhaltsamen Siegeszug durch die Vergewaltigung des Einzelnen zelebriert. Sogar die Religion zieht klare und kalte Grenzen in das heterogene und diffuse Leben der Individuen, die auch hier nicht zu ihrem Recht kommen; der Pfarrer behauptet so seine gesellschaftliche Vormachtstellung:

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De(kon)struktion? Es ist deutlich geworden, inwieweit die poetische Ausgestaltung der bedrücken­ den Realität in der Diktatur nicht von sprachtheoretischen Reflexionen isoliert werden kann:

Es gibt nur Menschen. Und es passiert selbstverständlich mit der Sprache ge­ nau das, was mit den Menschen auch passiert. Mißbrauch von Sprache ist für mich überhaupt nicht isoliert denkbar. [...] Und wenn der Mißbrauch von Spra­ che geschmerzt hat, dann hat er mich nur geschmerzt, weil der Mißbrauch von Sprache der Mißbrauch von Menschen war.20 Das Verfließen von Mensch und Sprache ereignet sich im Widerstand gegen die Vormachtstellung eines Totalitarismus, der sich der Details entledigt und die Tat­ sache entstellt zugunsten fetischisierter synthetischer Begriffe, denen erstarrte Bedeutungen im nachhinein zwecks Durchsetzung ideologischer Machtansprüche zugewiesen werden. Im Zuge dieser vorschnellen Apriorisierung findet sich das Subjekt in Abstrakta aufgelöst; statt aus Individuen zusammengesetzter realer Gruppen werden Kollektive gesetzt, die - dem Druck des Wahrheitsanspruchs nachgebend - diesen schließlich internalisieren und zur Marionette des Systems degenerieren. Die Macht steht im Zeichen des Logozentrismus - hier bedient sich Herta Müller des geistigen Allgemeinguts in der Folge der Dialektik der Aufklärung. Dies gilt jedoch nicht nur für die Wahrheit des Sozialismus (und des Faschismus), sondern ebenfalls für den überkommenen (Alp-)Traum vom Autor als Herrscher über die Bedeutungen. So schreibe Kertesz,

daß der Romancier in dem Moment, in dem er seinen Roman schreibt, der Diktator seiner literarischen Figuren ist, weil er bestimmt, welche Figuren da entstehen und was diese Figuren tun. Mir ist beim Schreiben dieser Gedanke noch nie gekommen. Ich habe den Eindruck, ich stehe so tief drin. Macht haben heißt ja, daß man eine Übersicht haben muß und daß man das Ganze überschaut, daß man eindeutig darüber steht, und ich stehe nicht darüber.21

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Der Pfarrer rasselt mit dem Weihrauchfaß an der Kirche vorbei, denn manche Toten, die nicht ergeben warten, bis Gott ihnen das Leben nimmt und den Tod schenkt, sondern sich ohne Gottesfurcht das Leben nehmen, trägt man nicht in die Kirche hinein. Der Pfarrer räuspert sich vor Zufriedenheit. (N 63) Der Schluß erweitert die Perspektive auf die heimliche Verbindung des stummen Mechanismus der Subjektivitätsenteignung mit einem fanatisierenden Deutsch­ tum, das sich im krampfhaften Bewahren kultureller Identität in der Fremde äußert;22 das Dorf wird als Enklave und Reservat faschistischen Gedankenguts ent­ tarnt.23 Der Übergang vom Faschismus zum sozialistischen Totalitarismus hat sich in der politischen Realität bruchlos vollzogen; die Wirksamkeit der Zwänge des Außen auf das Erzähler-Ich und die bedrückende Wirklichkeit der dörflich­ kollektivistischen Überwachungsstrategie sind nicht nur ländlich-naive Modemitätsscheu oder unschuldiges Deutschtümeln, sondern hier fünktioniert der Mikro-

20 Herta Müller im Feuilleton der Frankfurter Rundschau 1995, Nr. 159, S.7

22 vgl. Günther 1991, S.57

21 ebd.

23 vgl. Becker 1991, S.39

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kosmos eines totalitären Uberwachungsstaates reibungslos Der Text zeitigt eine eindringliche Appellstruktur in Form von zahlreichen Leer- und Unbestimmt­ heitsstellen, in denen der Ruf nach der Präsenz des Regimes im Dorf laut wird So wird der deutsche Frosch zur absoluten Metapher, die die Ohnmacht des der Observation ündTConfrolle ausgeheferten Individuums greifbar werden laßt, die oTfentliche^Meinung wird wie der Vorwand der Konservierung kultureller Identi­ tät zum Baustein im sich selbst futternden Triebwerk des Staatsapparates

des Subjekts angesichts der Plurahtat und Beliebigkeit ästhetischer oder szientifi­ scher Einsichten wäre die Folge Wie es aber em Selbst gibt, das, Texte über atomisierte Innenansichten, über DNS und Gentechnologie rezipierend, von die­ sen Erkenntnissen handelnd Gebrauch macht, ohne vom Maelstrom human-biologischer Mikrostrukturen verschlungen zu werden, gibt es auch bei Herta Muller noch em Ich, das als empfindendes Selbst in einer Passage sogar juber den Rah­ men der Erzählung hinaus konstant bleibt „Spater, als ich in die Stadt kam, sah ich das Sterben auf der Straße, ehe es noch fertig war “ (N 27) Ebenso erschließt sich der Text als Einheit nur über seine Offenheit, über den Verlust von Ganzheit und die Destruktion vereinheitlichender Smnstrukturen, ohne es zu einer Apotheose des Beliebigen kommen zu lassen Wie ein Mosaik setzt sich das Ganze allmählich aus unzähligen partes pro toto zusammen, die in empirischer Teilhaftigkeit das Panorama des Ganzen anschaulich Inachen Die beiden Reprasentationsebenen - die Punktstruktur der Details und die prasumptive Einheit des Ganzen - kommen nicht zur Deckung, sind aber verklammert wie die Streuung der Farbpunkte und die visuelle Einheit des Fernsehbildes Die Zu­ gänglichkeit und prinzipielle Unabschheßbarkeit des Textes ist das Produkt seiner hohen Bild-auflosung, die die Deutlichkeit und Prägnanz des Bildes nur m der Präsenz von Zerfall24 zu denken imstande ist

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Die Frosche quakten aus allen Lebenden und Toten dieses Dorfes Jeder hat bei der Einwanderung einen Frosch mitgebracht Seitdem es sie gibt, loben sie sich, daß sie Deutsche sind [ ] Auch Mutter hatte aus Rußland einen Frosch mitgebracht Und ich horte Mutters deutschen Frosch bis hinter meinen Schlaf (N 94) Wird Herta Mullers Schreiben in der Defensivstellung gegen Autorzentnsmus, Bedeutungsmonopohsmus und politische Machtkonzentration, deren Funktionali­ tät durch die Einheit eines übergeordneten Prinzips garantiert bleibt, zum Para­ digma eines radikalen Postmodemismus? Wird Dekonstruktion hier zur Destruk­ tion, zum Zerfall nicht nur des Subjekts m ständiger Zirkulation der Persönlich­ keit, sondern auch zur Agonie des Textes, der zum Konglomerat loser Kindheits­ erinnerungen degeneriert, deren sich übersteigende Verweisungsstrukturen auf sich selbst zuruckfallen, implodieren? Wie die Hinnahme einer sich in unaufhörli­ cher Rollen-Metamorphose befindlichen Persönlichkeit unter dem drohenden Blick des Auges der Macht, mußte auch die Dispersion des epischen Zusam­ menhangs zu Reihung und Serie akzeptiert, Variabilität als formales Prinzip und die Wiederkehr des Zyklischen im Zustand der Trance gefeiert, werden - Redun­ danz wurde zur Maxime Daß Herta Muller sich einem vereinheitlichenden Umversahsmus entzieht, ist ebenso gewiß wie ihr Sinn für die Leerstelle, die sich erst im Vorgang der Re­ zeption füllt Sie macht sich für die Übergänge stark Dennoch setzt sie sich der drohenden Absenz von Einheit nicht vollständig aus Der Abschluß der Lektüre laßt em Bild erstehen, das offen, dynamisch und flexibel bleibt Der Bannkreis des Dorfes erscheint als geschlossener Kosmos, in den einzelne schwach erleuch­ tete Wege gebahnt sind und der nun erforscht werden kann Die Erfahrungswelt des Kindes laßt dieses Areal vorstruktunert zuruck Die Ganzheit emer m sich abgeschlossenen erzählten Welt ist verloren, segmentiert ersteht das Bild emer erfahrenen Welt m mannigfachen Details, die monadisch für sich Schemen und im Gang durch die Tiefen kindlicher Perzeption schonungslose Wahrheiten offenba­ ren Die mit szientifischer Observationsfreude verfahrende Detailversessenheit bringt em Spektrum von Wahrheiten ans Licht, die sich alsbald m der ermüden­ den Unendlichkeit epischer Langatmigkeit zu verlieren drohen, die Dissoziation

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Literaturverzeichnis Muller, Herta 1987 Alles was ich tat, das hieß jetzt warten Gespräch nut Klaus

Hensel m FR Nr 181 vom 8 8 87, Zeit und Bild dies 1992 „So eisig, so kalt, so widerlich“, über die Aktion deutscher Autoren gegen

Fremdenhaß Gespräch m Der Spiegel Nr 46 vom 9 11 92, S 264-268 dies 1993 Niederungen Rembek [N] dies 1994 Hunger und Seide Rembek [HS] dies Der Wmd spricht nicht, sondern die Menschen sprechen Gespräch in FR Nr 159 vom 12 7 95

So wird m der Erzählung das Leben nur m der Gegenwart von Tod und Auflösung verstanden, vgl S 25 die Angst des Kindes vor dem Mann, der sein Skelett dem Museum verkauft und dafür monatlich entlohnt wird, und S 27 „Und man halt sie noch lange im Haus, die Toten Erst wenn ihre Ohren an den Rändern grünlich werden vor Verwesung, hort man mit dem Weinen auf und tragt sie aus dem Dorf hinaus “

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Apel, Friedmar 1991 Schreiben, Trennen Zur Poetik des eigensinnigen Blicks bei

Herta Muller, In Eke, Norbert Otto (Hg) Die erfundene Wahrnehmung Annäherung an Herta Muller Paderborn Barthes, Roland 1968 La mort de l’auteur In ManteiaNr 5 Becker, Claudia 1991 ‘Serapiontisches Prinzip’ in politischer Manier - Wirklichkeitsund Sprachbilder in „Niederungen“, in Eke, Norbert Otto (Hg ) Die erfundene Wahrnehmung Annäherung an Herta Muller Paderborn Blumenberg, Hans 1979 Arbeit am Mythos Frankfurt a M Gunther, Michael 1991 Froschperspektiven Uber Eigenart und Wirkung erzählter Erinnerung m Herta Mullers „Niederungen“, in Eke, Norbert Otto (Hg) Die erfundene Wahrnehmung Annäherung an Herta Muller Paderborn Hofstadter, Douglas R 1992 Godel Escher Bach Em Endloses Geflochtenes Band München Japp, Uwe 1988 Der Ort des Autors in der Ordnung des Diskurses In Fohrmann, Jurgen/Muller, Harro (Hgg) Diskurstheonen und Literaturwissenschaft Frankfurt/M Jenny, Charitas 1995 Herta Muller em Gesicht und em Thema In Neue Zurcher Zeitung Nr 164 vom 18 7 95 Lacan, Jacques 1975 Schriften II Olten und Freiburg Staudacher, Cornelia 1992 Schwabin, Rumänin, Deutsche In SZ Nr 14409 vom 13 12 92

Bildlichkeit und verschwiegenerSinn in Herta Müllers Erzählung Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt (Thomas Roberg) Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schreiben (Th H Macho, Todesmetaphern)

Roetizität und ästhetische Erfahrung Herta Muller verdankt ihren Ruhm als „eine feste Große der Gegenwartslitera­ tur“1 in erster Lime ihrer charakteristischen Schreibweise einer Sprache, deren Wirkungspotential sich angesichts ihrer markanten, zuweilen zwischen Lakonis­ mus und Manierismus schwankenden Bildlichkeit im Grenzbereich von Faszina­ tion und Irritation bewegt In Rezensionen immer wieder wenig trennscharf als eigenwillig und unverbraucht beschrieben,1 2 mit dem Prädikat „poetische Prosa“ ausgezeichnet,3 mitunter jedoch auch als „Pinzetten-Prosa“4 kritisiert, stellt Mullers Sprache mit ihrem „hartnäckigen Hang zur Wort-Kunst“5 eine Heraus­ forderung für die Literaturwissenschaft dar, die bislang nur zögerlich angenom­ men worden ist6 Ungeachtet Herta Mullers Ruf als „Sprachvirtuosm und lyrische Prosaistin“7 ist eme kohärente Struktur- und Funktionsbestimmung der „poetischen“ Qualität ihrer Sprache, zumal mit Blick auf die in ihr begründete Spezifik ästhetischer Erfahrung, noch em Desiderat der Forschung Diesem Erkenntmsmteresse ist der vorliegende Aufsatz verpflichtet, wobei im Sinne einer Verknüpfung von ästhetischer Theone und textanalytischer Praxis wie folgt verfahren wird Zunächst soll Herta Mullers Poetik der „erfundenen Wahr­ 1 Krauss 1993, S 69 2Vgl Eke 1991c, S 118 3 So hebt etwa Spietschka 1990, S 469 die „lyrische Qualität“ der Prosa Mullers hervor, Eke 1991a, S 15 spricht von „poetischer Sprache“, Apel 1995, S 103fvon „poetischer Prosa“ 4Raddatz 1992 5 Krauss 1993, S 71 Einzig die Beitrage in dem von Eke herausgegebenen Band Die erfundene Wahrnehmung Annäherung an Herta Muller (Paderborn 1991) liefern dazu einen ersten Ansatz Zu Recht beklagt Eke „eine auffallende Zuruckhaltung der Literaturwissenschaft dem Werk Herta Mul­ lers gegenüber“ (ebd , S 125) 7 Zierden 1995, S 3

Thomas Roberg

Bildlichkeit - verschwiegener Sinn (Del Mensch ist em großer Fasan auf der Welt)

nehmung“ als eine Ästhetik fragmentierter Bildtexturen betrachtet werden, an­ schließend ist die zentrale Bedeutung der Strukturprinzipien Metaphonzitat und Parataxis zu erörtern, die die Grundlage für die Realisierung von Mullers Poetik in ihren Texten bilden und für die Poetizitat8 ihrer Sprache konstitutiv sind, schließlich soll am Beispiel der Erzählung Der Mensch ist em großer Fasan auf der Welt (1986) gezeigt werden, auf welche Weise Mullers metaphonsch und parataktisch verfaßte Sprache eine ästhetische Erfahrung ermöglicht, die durch die Sensibilisierung des Lesers für das in den Bildern aufschemende Nichtidenti­ sche em neues Sehen motivieren will

sucht etwas der Wahrnehmung, auch der erfundenen Wahrnehmung, Fremdes Man nimmt statt des Bildes das Wort Man nimmt statt des Bildes die Be­ schreibung, meist die Umschreibung des Bildes Das quält die erfündene Wahrnehmung diese Umsetzung vom Bild ms Wort Ich glaube, die erfundene Wahrnehmung verlaßt sich m ihrer Ganzheit auf Bilder Ich glaube auch, daß die erfundene Wahrnehmung Worte gar nicht mag Daß es deshalb so lange dauert, bis ich weiß, wie der Satz, den ich schreibe, sich selber sieht (TS 83f) Bilder sind für Herta Muller die Grundlage, „das Eigentliche“ der Wahrnehmung und damit zugleich die Bedingung der Möglichkeit des Schreibens Zum Problem wird es ihr dabei, daß die auf unmittelbarer Anschauung beruhende Bedeutungs­ fülle der Bilder, m denen sich Subjektives und Objektives, oft auch Traum und Realität vereinen,1011bei der Transposition m Sprache notwendig eine Verarmung erfahrt Im Bild scheint Bedeutung unvermittelt auf und wird erfaßt von einem authentischen, „eigensinnigen“11 Blick, der sich vom Identitatszwang der kollek­ tiven Anpassung, wie er das Leben m den diktatorischen Verhältnissen Rumäni­ ens prägt, befreit hat und das Differente, „das Begriffslose, Einzelne und Beson­ dere“12 erfassen will

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Herta Müllers Bild-Asthetik der Risse und Aussparungen In ihren - stilistisch ihrer Erzahlprosa angenäherten9- Poetikvorlesungen Der Teufel sitzt im Spiegel hat Herta Muller mit dem Programmwort der „erfundenen Wahrnehmung“ das Fundament ihres Schreibens als eine konsequente BildAsthetik gekennzeichnet Ich habe oft den Eindruck, alles besteht aus einzelnen Bildern Auch das Schreiben vollzieht sich in Bildern Das Fort-Schreiben der Gedanken, das Fort-Schreiben m Worten, ist ein Umsetzen der Bilder m Satze Es ist ein Ent­ kleiden der Wahrnehmung Man nimmt ihr das Eigentliche, das Bild [ ] Man

8 Vorab ist zu klaren, daß dieser mißverständliche Begriff im vorliegenden Aufsatz - im Unter­ schied zum Gros der Rezensionen von Mullers Werken - nicht m einem normativen Sinne ge­ braucht wird, um etwa Mullers Prosa eine besondere - eben „poetische“ - Wertigkeit zu be­ scheinigen Vielmehr wird er, wie noch darzustellen ist, im Sinne der Poetizitatstheone Roman Jakobsons als Funktionsbegnff verwandt, dadurch wird es möglich, die metaphorische Verfaßtheit der Mullerschen Sprache als Dominanz der poetischen Sprachfunktion zu deuten, die durch die „Ausrichtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen [ ] das Augenmerk auf die Spürbarkeit der Zeichen richtet“ (Jakobson 1993b, S 92f) und deren ,,empinsche[s] hnguistischefs] Kriterium“ in der Projektion des ,,Pnnzip[s] der Äquivalenz von der Achse der Selekti­ on auf die Achse der Kombination“ (ebd , S 94) besteht Zu betonen ist dabei, daß diese Appli­ kation der Jakobsonschen Theorie auf die Sprache Herta Mullers nicht Selbstzweckhaft betrie­ ben wird, sondern in engem Zusammenhang mit dem Parataxis-Begriff dazu dienen soll, die für diese Sprache spezifische Form ästhetischer Erfahrung vor dem Hintergrund von Mullers BildPoetik der „erfundenen Wahrnehmung“ zu analysieren Diesem Erkenntnisinteresse gemäß liegt es dem vorliegenden Aufsatz fern, Herta Mullers „poetische“ Prosa m positivistischer Manier auf der Grundlage linguistisch-funktionaler Kriterien von Formen „nichtpoetischer“ Sprache abgrenzen zu wollen Daß eine solche Dichotomisierung von „poetischer“ und „nichtpoetischer“ Sprache, literaturtheoretisch betrachtet, äußerst problematisch ist, ist in Auseinandersetzung mit der Poetik Jakobsons aus semiotischer (vgl Link 1995a, S 23f) und rezeptionsasthetischer Sicht (vgl Stanzel 1990, S 20ff) langst herausgestellt worden 9 Zu Recht schreibt Eke, Mullers Poetologie bewege sich „im Grenzbereich zwischen ästheti­ scher Theorie und künstlerischer Praxis“ (1991a, S 18), vgl dazu auch Ottmers 1994, S 280

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Die Bilder geraten also m einen Konflikt mit den Worten Daß literarische Kom­ munikation als potenzierte Form sprachlicher Mitteilung notwendig Mittelbarkeit bedeutet, scheint mit dem Anspruch Herta Mullers, die Bilder selbst unmittelbar zum Sprechen zu bringen, unvereinbar 13 Vom Erfahrungsdruck der diktatorischen Lebenswelt gezeichnet, ist Herta Muller in ganz eigener Weise mit dem moderne­ typischen14 Problem konfrontiert, für die Singularität und Inkommensurabihtat

10 Die subtile Überlagerung von Subjekt und Objekt, Traum und Realität in den Bildern ist der

Grund dafür, daß Herta Mullers Sprache mitunter surrealistische Zuge aufweist, vgl Spietschka 1990, S 469, Bary 1990, S 119, Eke 1991a, S 17 Herta Muller selbst betont die Wichtigkeit des Traums als poet(olog)ischer Kategorie in TS 62ff Vgl auch unten, Anm 56 11 Vgl Apel 1991, S 22ff zu Herta Mullers Poetik des „eigensinnigen Blicks“, Eke 1991a, S 14 spricht von einer „Wahrnehmungsoptik des subjektiven (authentischen, fremden) Blicks“, im­ plizit auf Christa Wolfs Programmwort der „subjektiven Authentizität“ anspielend 12 Bormann 1987, S 266 13 Vgl Adorno 1965, S 184 „Aber die Sprache ist, vermöge ihres signifikativen Elements, des Gegenpols zum mimetisch-ausdruckhaften, an die Form von Urteil und Satz und damit an die synthetische Funktion des Begriffs gekettet “ 14 Vereinzelt hat man Herta Mullers Poetik vor dem Horizont der ästhetischen Moderne zu

betrachten versucht, vgl Apels Feststellung, daß sich Mullers Schreiben „m Form und Inhalt auf das Epizentrum der europäischen Moderne zubewegt“ (1995, S 104)

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Thomas Roberg

Bildlichkeit - verschwiegener Smn (Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt)

subjektiver15 Erfahrung - die sich bei ihr in erster Lime m Bildern vollzieht - eme Sprache zu finden Vor diesem Hintergrund wird erst die stilistische Eigenwillig­ keit ihrer Prosa als eine Sprachform einsichtig, die sich selbst als „der ganz ande­ re Diskurs des Alleinseins“ (TS 57) begreift Für das ganz Andere dieses Diskurses ist - als em Kernpunkt von Mullers Poetologie - das konstruktive Spannungsverhaltnis zwischen Sprache und Schweigen, Mitteilung und Auslassung konstitutiv Angesichts der diskursiven Unuberbietbarkeit der Bilder kann sich deren metaphorische Beschreibung nicht auf den se­ mantischen Gehalt der Satze verlassen, sondern ist auf das Ausgesparte, Ver­ schwiegene angewiesen Auch dann zeigt sich Mullers Poetik einer genuin mo­ dernen Problematik affin,16 bedenkt man die „wesenhafte Alliance der Sprache mit dem Schweigen“17 im Diskurs der ästhetischen Moderne, wonach erst „die Absenz von Zeichen das Bezeichnete vor[stellt]“, d h „das Unbedeutete [ ] das Bedeutete wie das Bedeutete das Unbedeutete“18 birgt Herta Muller formuliert dies so Der geschnebene Satz muß behutsam mit dem verschwiegenen Satz umgehen Der verschwiegene (ausgelassene) Satz muß mit der gleichen Lautstarke spre­ chen wie der geschnebene Satz Wenn der geschnebene Satz lauter ist als der verschwiegene Satz, ist er schon schrill Er will den verschwiegenen Satz ver­ decken Doch er wird dadurch so schrill, daß er daran zerbricht Seme Laut­ starke ist Fälschung [ ] Nur wenn der geschnebene Satz seine Wahrheit halt, nur wenn er behutsam mit dem verschwiegenen Satz umgeht, kann er den nächsten Satz erfinden (TS 36) Unterhalb des Mitgeteilten besteht somit „eme Tiefe, die nicht abzugrenzen und mcht abzumessen ist “ (TS 40) Herta Muller prägt für diesen Uberschuß an äs­ thetischem Sinn den Begriff „Unmaß“, mit dem sie letztlich „das, was die erfun­ dene Wahrnehmung von der Wahrnehmung unterscheidet“ (TS 41), zu erfassen versucht Durch das „Unmaß“ konstituiert sich m ihren Texten „eme Wirklich­

keit, die sich ständig überspringt Die ihre Grenzen schon im Ansatz überschrei­ tet“ (ebd)19

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15 Die Frage, inwieweit in Mullers Erzählungen überhaupt von einem Subjekt die Rede sein kann, inwieweit also das moderne Prinzip Subjektivität durch das postmoderne Primat der Sprache ersetzt worden ist, gäbe Raum für eine eigene Untersuchung 16 Ebenso ließen sich postmoderne Zuge aufzeigen, denkt man etwa an Lyotards Ästhetik des Erhabenen 17 Lenzen 1994, S 185 18Ebd, S 183 Vgl Macho 1987, S 14ff, außerdem die treffende Beobachtung George Steiners (1970, S 48) „This revaluation of silence [ ] is one of the most original, charactenstic acts of the modern spint [ ] In much modern poetry silence represents the Claims of the ideal, to speak is to say less “

Für diese Poetik der Grenzuberschreitung spielen die Schnittstellen m der kom­ plexen Bildtextur, die strukturellen „Abbruche und Umwege“ (TS 41), die „Risse“ (TS 81) innerhalb des Textes eine fundamentale Rolle Herta Muller zieht hier eme ästhetische Konsequenz aus dem erkenntmstheoretischen, langst auch von Neurobiologen und Himforschem untersuchten Faktum,20 daß einheitli­ che Wahmehmungsbilder stets aus einer Fülle unzusammenhangender Emzelemdrucke konstruiert sind, Ganzheitlichkeit also nur „um den Preis der Täuschung“ (TS 76) existiert Mullers poetologischem Programm hegt die Intention zugrunde, die Risse und Bruchstellen, an denen die heterogenen Elemente aneinandergrenzen, mcht zu überdecken, sondern transparent zu machen, der ästhetische Blick der erfundenen Wahrnehmung zielt als „em aktiver, dynamischer, zusammenge­ setzter Vorgang“21 darauf ab, „den Verblendungszusammenhang aufzulosen Er zerschneidet und trennt und setzt neu zusammen “22 Die Risse werden so der ge­ nuine Ort, an denen die Sprache sich auf das Verschwiegene hm öffnet, wodurch erst die Authentizität der erfundenen Wahrnehmung garantiert wird

Man zerrt am Geflecht der Satze, bis sie durchsichtig werden, bis in der Rei­ henfolge der Worte im Satz und in der Reihenfolge der Satze im Text die Risse durchscheinen Bis die verschwiegenen Satze zwischen den geschriebenen Sät­ zen überall ihr Schweigen hinhalten Bis man das Gefühl hat beim Schreiben, daß der Text jetzt atmet, daß der Satz, jeder, so ist, wie er sich selber sieht23

19 Bary 1990 analysiert die Problematik von Grenze und Entgrenzung im Fasan 20 Vgl z B die Ausführungen von Gerhard Roth zum Problem der Distnbutivitat des neurona­

len Wahmehmungssystems „dasjenige, was wir z B im visuellen System als einen zusammen­ hängenden, vielgestaltigen und sinnvollen Sinneseindruck wahrnehmen, [wird] im Gehirn in zahllosen Einzelaspekten verarbeitet [ ] Nirgendwo im Gehirn lauft dies alles in einem ‘Wahmehmungszentrum’ zu einer lokalisierten neuronalen Aktivität zusammen, die der sub­ jektiv empfundenen Einheit der Wahrnehmung entspräche “ (1992, S 146) 21Apel 1991, S 27 22

Ebd So heißt es in TS 25 „Der Eindruck, daß genaues Hinsehen zerstören heißt, verdichtet sich mehr und mehr Der Satz ‘Der Teufel sitzt im Spiegel’ wußte das “ 23 TS 81 Dann hegt wiederum em deutlicher Reflex der Ästhetik der Moderne, vgl Lenzen 1994, S 184 zum modernetypischen Problem der Sinnkonstitution im Spannungsfeld von Spra­ che und Schweigen „Die Sprache erreicht das Sagbare erst, wenn sie sich wundreibt am Un­ sagbaren, Ungesagten und Unsäglichen, das sich ihr versagt und doch durch die Ritzen und Risse des Gesagten schimmert [meine Hervorh, T R ], in den weißen Lucken und Leerzeilen zwischen der Lettemschwarze, im schweigenden Horenkonnen der Rede und ihrem akusti­ schen Verstummen “

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In wirkungsasthetischer Sicht geben die Lucken und Aussparungen, die sich auch in der graphischen Gestaltung des Textes spiegeln,24 dem Leser Raum, wie Eke ausfuhrt, „sich in den Metaphern emzunchten und die fehlenden Verknüpfungen zu (re-)konstruieren zu einem hypothetischen Bild des Ganzen “25 Wird der Le­ ser dergestalt an den Bruchstellen aktiv, dann avanciert der Akt des Lesens zu einem produktiven „Wahr-Nehmen“26 der erfundenen Wahrnehmung, aus der der Text hervorgegangen ist Der Leser soll sich auf das ästhetische „Unmaß“ einlassen und dabei die Bilder in ihrer Unmittelbarkeit als Moghchkeitsgrund des Tex­ tes erfahren

Wiederholung, Alliteration, Parallehsmus, Chiasmus, Antithese, Anapher und Epiphora28 Der Begriff Parataxis bezeichnet m der Syntaxlehre die strukturelle Gleichordnung von (Haupt)Satzen durch syndetische oder asyndetische Reihung, auf Herta Mullers Sprache mit ihrem „Hang zur knochendürren Parataxe“29 an­ gewandt, laßt sich mit diesem Terminus das dominierende Formpnnzip erfassen, das ihrer Prosa auf syntagmatischer Ebene ihre typische Gestalt gibt Wie am Beispiel des Fasans gezeigt werden soll, ermöglichen die Konzepte Me­ taphonzitat und Parataxis vor dem Hintergrund der skizzierten Poetik Herta Mullers eine über die bloße Strukturanalyse hmausgehende kohärente Beschrei­ bung der spezifischen Form ästhetischer Erfahrung, die für Mullers Prosa produktions- wie auch rezeptionsasthetisch prägend ist Der Begriff der Metaphonzi­ tat gestattet erst eine adaquate Bestimmung des poetischen Charakters ihrer Pro­ sa, von dem m Rezensionen und Aufsätzen oft m vagen Umschreibungen die Re­ de ist Im Sinne des Projektionsmodells Roman Jakobsons kann ihr dezidiert metaphonscher Stil als eine von der poetischen Funktion dominierte,30 uberstruktunerte31 Sprachform bezeichnet werden, die die syntagmatische Organisation des narrativen Textes vielfältig anreichert mit, m F K Stanzels Worten, „the heightened complexity of significance which we are mchned to associate with poetic texts “32 Der Begriff der Parataxis, der demgegenüber dazu dient, die syntagmatische Ge­ stalt des Textes als solche zu spezifizieren,33 beleuchtet aus einer zusätzlichen

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Es ist eine falsche Vorstellung, wenn der Leser meint, er sei nur mit dem Ferti­ gen, mit dem Resultat konfrontiert Der Autor kann nichts verstecken Kem einziger Text laßt das zu Wer lesen kann, sieht auch den Vorgang des Schrei­ bens beim Lesen die Umwege, die Abbruche Er spurt auch die Vielzahl der Boden unter den Gedanken (TS 44) Metaphorizität und Parataxis als strukturale und funktionale Realisierun­ gen von Herta Müllers Poetik Die konsequente Realisierung von Mullers poetologischem Ansatz vollzieht sich auf der Basis zweier Strukturpnnzipien, die für den Stil ihrer Prosa konstitutiv sind Metaphonzitat und Parataxis Mit Metaphonzitat ist hier nicht die Metapher im rhetorischen Verständnis als Stilmittel gemeint, vielmehr wird der Terminus im Sinne der strukturalistischen Poetik Roman Jakobsons zur Bezeichnung des Aquivalenzpnnzips verwandt, das m Form von Similantats- und Kontrastbezie­ hungen die paradigmatische Ebene der Sprache kennzeichnet und im Falle der poetischen Sprachfunktion auf die syntagmatische Ebene projiziert wird27 Unter Metaphonzitat werden demnach alle Strukturen in Mullers Prosa subsumiert, die auf der Rekurrenz ähnlicher oder der Kontrastierung unähnlicher Einheiten basie­ ren, also neben der Metapher im traditionellen Sinne auch Figuren wie einfache

24 Der mit ästhetischem Kalkül eingesetzte Zellenumbruch dient zur Markierung der Lucke

(vgl Eke 1991a, S 17) und als ein Rezeptionssignal, das dem Leser eine „poetische“ Lesart nahelegt So nähert sich Mullers Prosa dem rezeptionsasthetischen Ideal einer poetischen Lesedisposition, das Stanzel 1990 an Formen zeitgenössischer Kurzprosa untersucht, vgl ebd, S 23 „Reading (short) short stones approaches the readmg of poetry m shifting the attention to spatial, configurational pattems of textual orgamzation, the single word or phrase, the line or sentence, to their symbohc or metaphoncal rather than their referential rneanmg “ 25 Eke 1991a, S 17, vgl auch Ottmers 1994, S 289f 26 Zum Problem der Wahrnehmung als Akt des (retrospektiven) Wahr-Nehmens vgl TS 38 u 52ff 27 Vgl Jakobson 1993b

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28 Im Jakobsonschen Sinne laßt sich die „rhetorische“ Metapher als Manifestation von Me­ taphonzitat auf der Signifikat-Ebene begreifen, wahrend sich m den übrigen Strukturen Metaphonzitat auf der Signifikanten-Ebene zeigt An dieser Stelle sei darauf hmgewiesen, daß in Mullers Prosa auch Bildstrukturen vorkommen, die nicht metaphorisch, sondern metonymisch funktionieren, eine vergleichende Analyse der zwei Modi von Bildlichkeit lieferte Stoff für eine eigene Untersuchung 29 Krauss 1993, S 73 30 Vgl Jakobson 1993a, S 79 und 1993b, S 94 31 Vgl Link 1995b, S 87ff 32 Stanzel 1990, S 23 Zu bedenken ist dabei freilich, daß Onentiertheit am Syntagma ein not­ wendiges Gattungsmerkmal narrativer Prosa ist, vgl dazu Jakobson 1980, S 95f „The pnnciple of similanty underhes poetry [ ] Prose, on the contrary, is forwarded essentially by contiguity Thus, for poetry, metaphor, and for prose, metonymy is the line of least resistance“ Daraus zieht Lodge 1991, S 493 die Konsequenz „prose fiction is mherently metonymic and cannot be displaced towards the metaphonc pole without turmng into poetry“ 33 Das bedeutet jedoch nicht, daß er, bezogen auf das Jakobsonsche Modell, sich mit dem

Kontiguitatspnnzip deckt Strenggenommen sind Metaphonzitat und Parataxis keine korrelati­ ven Begriffe, da die gehäuft auftretende Parataxe als gereihtes Syntagma selbst auf Rekurrenz

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Perspektive die von Muller intendierte Ermöglichung eines neuen Sehens 34 Im Anschreiben gegen ideologisch reduzierte Wahmehmungsmuster - vor allem ge­ gen den „Druck der IdentitatsWährung“3 5 im banatschwabischen Dorf - schärft sich Mullers poetischer Bhck am „Bewußtsein von Nichtidentitat“ 36 Sich von vor-geschnebenen Modellen der Welt- und Selbsterfahrung emanzipierend, will die „erfundene Wahrnehmung“ den Schein von Identität auf der Oberfläche der Bilder destruieren und die Unscharfen offenlegen, in denen die diskursiv nicht einholbare Altentat der Dinge aufscheint37 Aus dieser Sicht gibt sich die para­ taktische „Verwandlung der Sprache m eine Reihung“38 als ein stnngentes pro­ grammatisches Pnnzip zu erkennen, geht es Herta Muller doch darum, „der logi­ schen Hierarchie subordinierender Syntax aus [zu] weichen“39 und em ästhetisches Sprechen zu entfalten, das sich zum „Anwalt des Anderen“40 macht, indem es seinen Sinn erst aus den Aussparungen, den „verschwiegenen Sätzen“ (TS 81) bezieht Das metaphorische und das parataktische Prinzip überlagern und durchdringen einander Einzelne Metaphern werden durch parataktische Reihung unvermittelt aneinandergefugt, entsprechend Herta Mullers Poetik der Risse und Aussparun­ gen findet keine Integration m einen ganzheitlichen Smnentwurf statt, die gereih­ ten Bildkomponenten stehen vielmehr isoliert nebeneinander oder überlappen sich Die Synthese bleibt aus, ist allenfalls vom Leser zu realisieren, der an den Aussparungen eigene Erfahrungen anlagem und so die fehlenden Verbindungen schaffen soll Auf einer weiteren Ebene sind die parataktisch gereihten Metaphern ihrerseits wiederum durch die erwähnten metaphorischen Figuren Parallehsmus,

Anapher, Chiasmus etc syntagmatisch organisiert, dann hegt kein Widerspruch zum parataktischen Prinzip, da die Bruchstellen zwischen den gereihten Gliedern auf diese Weise nicht ausgefiillt, sondern durch rhetorisches foregroundmg wirkungsasthetisch noch forciert werden sollen Diese komplexen Wechselbeziehungen zwischen Metaphonzitat und Parataxis sind bei der formalasthetischen Analyse von Herta Mullers Prosa zu berücksichti­ gen, sofern es um eine präzise strukturale und funktionale Bestimmung der vielbeschworenen Poetizitat ihrer Sprache gehen soll Am Beispiel des Fasans soll dies im Folgenden versucht werden, der Rahmen dieses Aufsatzes gebietet dabei die Beschränkung aufs Exemplansche

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(d h Metaphonzitat) beruht und somit die Projektion des Aquivalenzpnnzips schon voraus­ setzt 34 Ohne die historisch-systematischen Differenzen der Gegenstandsbereiche einzuebnen, lassen sich hier Bezüge zu den formalasthetischen Kategonen herstellen, die Adorno unter dem Pro­ grammwort der „parataktischen Auflehnung wider die Synthesis“ (1965, S 191) m seiner gegen Heidegger polemisierenden Holderhn-Interpretation entwickelt hat 35 Apel 1991, S 24, vgl dazu Herta Mullers autobiographisch motivierte Bemerkungen m TS 20f 36 Adorno 1965, S 199 37 Vgl Apel 1991, S 30 zu Mullers „Verfahren der Destruktion der Oberfläche der Bilder“ 38 Adorno 1965, S 185 39 Ebd 40 Bormann 1987, S 277, mit Bhck auf die Poetizitat der Mullerschen Sprache kann man in ihr jenen bescheidenen Gestus des Verweisens“ (ebd ) aufspuren, der nach Bormann die deutsche Gegenwartslyrik, insbesondere ihre hermetischen Ausprägungen, als „Anwalt des Anderen“ kennzeichnet Zur Problematik des Anderen aus philosophisch-ästhetischer Perspektive vgl die übrigen Beitrage m dem von Heinz Kimmerle herausgegebenen Band

Metaphorizitat und Parataxis im Fasan - Epiphanien des Endes Die strukturbildende Funktion des metaphorischen Prinzips wird zunächst auf der Motivebene erkennbar Hier dienen direkte Similantats- und Kontrastbeziehungen dazu thematische Oppositionen zu fokussieren, die für den Gesamtkontext des Fasans von Bedeutung sind Im Kapitel „Die Nadel“ wird so bei der Beschrei­ bung des Beischlafs des Tischlers und seiner Frau die leitmotivische Symbiose von Sexualität und Tod konnotiert Die Frau stellt die Schenkel und biegt die Knie Ihr Bauch ist aus Teig Ihre Beine stehen wie em weißer Fensterrahmen auf dem Bettuch / Uber dem Bett hangt em Bild m einem schwaizen Rahmen Die Mutter des Tischlers lehnt mit dem Kopftuch am Hutrand ihres Mannes Das Glas hat einen Fleck Der Fleck ist auf ihrem Kinn Sie lächelt aus dem Bild Nahverstorben lächelt sie In em knappes Jahr (MF llf) Aus der voyeuristischen Perspektive Windischs, der die Liebenden von der Stra­ ße aus durch das Fenster beobachtet, wird hier eine Ähnlichkeit zwischen den „wie em weißer Fensterrahmen“ verwinkelten Bemen der Frau und dem „schwarzen Rahmen“, m den die Photographie der verstorbenen Mutter des Tischlers eingefaßt ist, gestiftet Durch die Bmaropposition von weiß und schwarz verknüpft, addieren sich zwei disparate Bilder zu jener „Semantik des Endes“41, die, wie Eke aufzeigt, „das Dorf als absterbenden Lebens- und Kultur­ zusammenhang“42 kenntlich macht Entscheidend ist dabei das unvermittelte, pa­ rataktische Aufemanderprallen der beiden Bildeindrucke, wodurch sich plötzlich

41 Eke 1991b, S 78 Ebd , S 85 Als ein weiteres Beispiel für die Verknüpfung von Sexualität und Tod mag der Liebesakt Windischs und seiner Frau auf dem Friedhof im Kapitel „Zwischen den Grabern“ (MF 46ff) angeführt werden

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(Bohrer)43 die Einsicht in die Verwobenheit von Eros und Thanatos eröffnet, man mag hier von einer Epiphanie des Endes sprechen Die Erfahrung von Endlichkeit, aus der einzig die zur Obsession gewordene Utopie der Ausreise eine Befreiung verspricht, findet im Leitmotiv der „stehenden Zeit“ ihren prägnantesten Ausdruck, gleich im Emgangskapitel heißt es „Seit Wmdisch auswandem will, sieht er überall im Dorf das Ende Und die stehende Zeit, für die, die bleiben wollen Und daß der Nachtwachter dableibt, sieht Wm­ disch, über das Ende hinaus “ (MF 5) Zu Recht konstatiert Bary m diesem Zu­ sammenhang, daß „Dableiben und Tod eins“ sind und daß „es nur drei mögliche Antworten auf die Tragik des Lebens in diesem Banatdorf gibt fortgehen wie Wmdisch, sterben wie Dietmar oder die alte Kroner oder verrückt werden wie Rudi “44 Die Option der Ausreise impliziert somit die Entscheidung für em selbstbestimmtes und erfülltes Leben, das, so Wmdischs Hoffnung, m der Bun­ desrepublik realisierbar sei Das melancholisch gestimmte Schlußkapitel des Fasans suggeriert jedoch das Scheitern der Utopie Nach der Ausreise als Besucher ms Dorf zuruckgekehrt, tragen die Wmdischs einige Insignien westlichen Wohlstands zur Schau (Mercedes, Ritter-Sport-Schokolade), Symbole einer oberflächlichen Integration m die neue Lebenswelt, sind aber zur Kommunikation mit den Dorfbewohnern nicht mehr fähig Die Wmdischs haben ihre alte Heimat verloren, ohne eme neue gefünden zu haben, darin scheinen Herta Mullers eigene Erfahrungen mit der Übersiedlung in die BRD im Jahre 1987 prafigunert zu sein, die sie 1989 in Rei­ sende auf einem Bein verarbeitet hat und vor deren Hintergrund ihre ernüchternde Bestandsaufnahme m Der Teufel sitzt im Spiegel zu lesen ist „Hier in der Bun­ desrepublik sehe ich den Frosch der Freiheit Freiheit, die immer schon aufhort, wenn sie beginnt Es ist em binnendeutscher Frosch Ich suche ihn nicht Er findet mich “ (29)45 Wmdisch wird sich der Statik und Fmahtat des Lebens im Dorf am schmerzlich­ sten in seinen zahlreichen Gesprächen mit dem Nachtwachter bewußt, der sich zum Bleiben, also für das Ende entschieden hat Im Kapitel „Das Bethaus“ etwa unterhalten sich die beiden anläßlich eines Briefes, den der inzwischen ausge­

wanderte Kürschner aus Stuttgart geschrieben hat, über die Vorzüge der bundes­ republikanischen Gesellschaft

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43 Seit Bohrer 1981 (vgl insbes S 43ff) gilt die epiphamsche Plötzlichkeit als zentrale Katego­

rie (moderner) ästhetischer Erfahrung 44 Bary 1990, S 118 45 Zum Scheitern der Utopie m Reisende auf einem Bem, Mullers „Text über das Wegfahren und Nicht-Ankommen“, vgl Eke 1991b, S 88f, zum Motiv des Frosches, wie es schon in den Niederungen vorkommt, vgl außerdem TS 20 sowie Apel 1991, S 24

„Der Kürschner hat eine schone Rente“, sagt Wmdisch „Seme Frau ist Raum­ pflegerin m einem Altersheim Dort ist gute Kost Wenn einer von den Alten Geburtstag hat, wird getanzt“/ Der Nachtwachter lacht „Das war was für mich“, sagt er „Gute Kost und em paar junge Weiber “ Er beißt ms Gehäuse emes Apfels Die weißen Kerne fallen auf seinen Rock „Ich weiß nicht“, sagt er, „ich kann mich nicht entschließen, einzureichen “/ Wmdisch sieht die ste­ hende Zeit im Gesicht des Nachtwachters Wmdisch sieht das Ende auf den Wangen des Nachtwachters und daß der Nachtwachter dableibt, über das Ende hinaus / Wmdisch schaut ms Gras Seme Schuhe sind weiß vom Mehl „Wenn man mal angefangen hat“, sagt er, „dann geht’s von selbst “/ Der Nachtwachter seufzt „Wenn man allem ist, ist das schwer“, sagt ei „Es dauert lange, und wir werden alter und nicht junger “ (MF 78f)

Inmitten dieses Gesprächs kommt einmal mehr das zum Vorschein, was sich der Logik der Sprache versagt und nur im Bild erfahren werden kann Die Negativität der „stehenden Zeit“, die sich Wmdisch plötzlich zu erkennen gibt, ist dem Nachtwachter buchstäblich ms Gesicht geschrieben, seine Physiognomie wird zum sichtbaren Zeichen der „Faktizität des Endes“46 Die Metapher der „stehenden Zeit“ wird parataktisch m den Gang des Gesprächs eingefugt, als eme Momentaufnahme, durch die sich der Fokus von der äußeren szenischen Darstel­ lung auf das innere Erleben Wmdischs verschiebt, so entsteht unvermittelt em intensiver Eindruck von Vergeblichkeit, der, auf den Gesamtrahmen der Erzäh­ lung als „Parabel des Absterbens und des Untergangs“47 verweisend, unterhalb des von den Gesprächspartnern Verbahsierten den eigentlichen Smn dieses Ge­ sprächs ausmacht Darm spiegelt sich em poetologisches Prinzip Herta Mullers In der erfundenen Wahrnehmung realisiert sich die Sinnkonstitution in Gesprächen als parataktische Reihung von Aussagen, wobei erst die Unscharferelation zwischen dem Mitgeteilten und Verschwiegenen über die Bedeutung des Gesprächs entscheidet

Es geht in den geschriebenen Gesprächen um das gleiche Fortschreiben des Gedankens wie in den anderen Textpassagen Es werden Gespräche, es redet die eme Person, dann die andere Es bleibt bei der Aussage neben der Aussage Es wird nicht Aussage auf Aussage [ ] Und was aus den beiden Gesichtem kommt, das Gegenemanderreden, darf sich nicht zusammenfugen [ ] Das Zusammenfinden ist nicht Zusammenfugen Das Zusammenfmden der Aussagen ist da, um die Unruhe, die Verzerrung des Gesagten und Verschwiegenen zu Eke 1991b, S 78 47Ebd,S86

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halten Wenn das Gespräch zu Ende ist, muß die Aussichtslosigkeit überall sein (TS 67, 69) In fiktiven Gesprächen ist eine ausgeglichene Verständigung der Figuren somit nicht möglich, da deren Aussagen stets über sich hinaus auf em Anderes verwei­ sen, das zwar das Gespräch im Sinne des „Fortschreibens des Gedankens“ moti­ viert, selbst aber der Kommunikation, die zum „Gegeneinanderreden“ wird, ent­ zogen bleibt Als leitmotivisches Mythologem des Endes fungiert im Fasan die Eule, die dem Aberglauben der Dorfbewohner zufolge demjenigen den Tod bringt, auf dessen Haus sie sich niederlaßt48 An der folgenden dichten Beschreibung des Flugs der Eule im Kapitel „Schwarze Flecken“ laßt sich die Verschaltung des metaphori­ schen und parataktischen Prinzips in aufschlußreicher Weise funktional bestim­ men „Die Eule fliegt über die Garten Ihr Schrei ist hoch Ihr Flug ist tief Voll mit Nacht ist ihr Flug “ (MF 20) Dem Ideal bildlicher Unmittelbarkeit verpflich­ tet, erfolgt die Beschreibung synasthetisch Dem akustischen Smnesemdruck (Tonhohe des Schreies) folgt unvermittelt der optische (Flughohe der Eule), wo­ bei die Antithese von hoch und tief durch die asyndetische Fugung der parallehstischen Kurzsatze em foregroundmg erfahrt Wiederum hegt der Sinn dieser Bildtextur im Ausgesparten, im „verschwiegenen Satz“, der zwischen den Ele­ menten der parataktischen Reihung hindurchschimmert Die jähe Kontrastierung der beiden Eindrücke erweist deren Sinnlichkeit als vordergründig und beladt das Attribut „tief“ mit einer Bedeutungsschwere, in der sich die absolute Negation von Smn, i e der Tod ausspncht, einmal mehr werden die Bilder so zur „Thanatographie“ 49 Diese semantische Grenzuberschreitung wird im folgenden Satz fortgefiihrt, dessen invertierte Syntax (Voranstellung der Tod-Metapher „voll mit Nacht“) mit dem vorhergehenden Satz eine chiastische Konstellation emgeht „Ihr Flug ist tief Voll mit Nacht ist ihr Flug “ Die Parataxe als konstitutives Formprinzip prägt den Fasan indes nicht nur auf der Mikroebene des Satzes, sondern auch auf der Makroebene des Textes Die episodenhaften, mehr aus Stimmungshaften Miniaturen als Handlungsmomenten aufgebauten Kapitel sind nur lose miteinander verbunden, stehen meist unvermit­ telt nebeneinander, sie sind selbst parataktisch gereiht, so daß auch hier die ab­ schließende Synthese konsequent ausbleibt Die Überschriften, die stets motivi­ sche Details aus den jeweiligen Kapiteln isolieren und an prominente Stelle set­ zen (z B „Schwarze Flecken“, „Der Stein im Kalk“, „Die Fliege“),50 dienen zur

zusätzlichen Fokussierung des Singulären und Differenten, das in den Aussparun­ gen aufscheinen soll Der poetologisch motivierte Vorrang der Bruche über die Verknüpfungen macht sich somit auch auf der Plot-Ebene geltend, indem die (syntagmatische) Lineantat der Handlung von den (paradigmatischen) Querver­ bmdungen der Bildkomponenten überlagert und aufgesprengt wird51 Insofern also auch hier Similantat über Kontiguitat dominiert, geben sich das metaphori­ sche Prinzip und mit ihm die Poetizitat von Mullers Prosa in ihrer texthngmstischen Dimension zu erkennen Vor diesem Hintergrund laßt sich die parataktische Montage52 von Bildern auch als Enttemporahsierung oder Stillstellung des narrativen Textgefuges beschreiben Wie Eke darstellt, korrespondiert der Todesthematik im Fasan „die Statik des Tableaus m der Tiefentektonik des Textes“,53 einhergehend mit emer „Mythisierung der Landschaft“54 vollziehe sich eine „Entzeithchung des Raums [ ], unterstützt durch die Konstituierung des Textes aus emer Serie mehrerer, nur locker verbundener Nahaufhahmen, mit der die Lmearitat von Zeit sich auflost m der Statik der Flache “55 Der lineare Fluß der Handlung wird also zugunsten komplexer Verdichtungen und Verschiebungen56 von Bildkonfigurationen abge­ 51 Vgi Lodge 1991, S 484, der anhand von Joyces Finnegans Wake als extremem Beispiel demonstriert, daß die Dominanz des metaphorischen Prinzips in narrativen Texten zu emer Auflösung des syntagmatischen Kontinuums (i e zu einem „lack of logical or narrative continuity“) fuhren kann 52 Spietschka 1990, S 469 spricht von Herta Mullers ,,assoziative[r] Montage von sensibel er­ faßten Wirkhchkeitspartikeln und Traumsequenzen, Erinnerungssplittern, Gedanken und Bil­ dern“ Jakobson 1980, S 92 charakterisiert die (filmische) Technik der Montage als metapho­ risch, bedenkt man die parataktische Strukturierung der Montageelemente bei Herta Muller, so wird einmal mehr die Verschaltung des metaphorischen und parataktischen Prinzips m ihrer Prosa erkennbar Zur Affinität der Mullerschen Poetik mit der Bildtechnik des Films vgl über­ dies Eke 1991a, S 16 und Hinck 1995, S 144 53 Eke 1991b, S 81 54Ebd, S 87 Zur Mythisierung tragen im Fasan auch die Reminiszenzen an die Form des Märchens bei, wie sie sich durchgehend in der Typisierung der Figuren (Muller, Nachtwachter, Mihzmann, Pfarrer etc ) oder vereinzelt in der Verwendung - freilich antndylhsch verfremdeter - marchenspezifischer Sprach- und Motivstrukturen (z B m den Kapiteln Der König schlaft oder Die Grassuppe (MF 58f u 89ff)) zu erkennen geben, vgl auch Eke 1991b, S 85f 55 Eke 1991b, S 87f 56 Aus dieser Sicht waren die Bildstrukturen im Fasan im Zusammenhang mit der Traummoti-

48Vgl Eke 1991b, S 88 49 Eke 1991b, S 78 50Vgl MF 18, 30, 53

vik zu analysieren (vgl oben, Anm 10), die Begriffe Verdichtung und Verschiebung aus der Freudschen Traumdeutung, die dort auch mit Metapher und Metonymie identifiziert worden sind (vgl J Laplanche, J -B Pontalis Das Vokabular der Psychoanalyse 12 Auf! Frankfurt aM 1994, S 605), konnten für die sprachliche Analyse traumspezifischer Assoziationsmuster nutzbar gemacht werden

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bremst, wobei die „Abbruche und Umwege“ (TS 41) den Raum eröffnen, m dem das Andere als Gehalt der „verschwiegenen Satze“ aufscheinen kann Aus dieser Perspektive stellt sich die Korrelation von Bilderreichtum und Handlungsarmut, wie sie von einigen Rezensenten am Fasan bemängelt wurde,57 als eine poetologische Notwendigkeit dar Es ist der Ästhetik Herta Mullers angemessen, mit einer offenen Frage zu schlie­ ßen Sind die Epiphanien des Endes im Fasan als Bedingung der Unmöglichkeit von Utopie zu lesen, oder scheint m den Bildtexturen mit der Negativität des An­ deren auch eine verborgene Hoffnung auf? Potenziert sich mit der Unerbittlichkeit der erfundenen Wahrnehmung nur die Angst, oder hegt im Aushalten der Nega­ tivität die Chance ungeahnter Freiheit“?58 Bergen die Risse und Aussparungen al­ so mitunter Spuren eines verschwiegenen Glucks'? Es bleibt dem Leser überlas­ sen, hierauf eine Antwort zu suchen, indem er auf den „bescheidenen Gestus des Verweisens“59 von Herta Mullers Prosa achtgibt und seine Wahrnehmung an der fragilen Schönheit ihrer Bilder immer neu erfindet

Bary, Nicole 1990 Grenze - Entgrenzung in Herta Mullers Prosaband Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt In Germanica 7/1990, S 115-121

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Literaturverzeichnis Muller, Herta 1991 Der Teufel sitzt im Spiegel Wie Wahrnehmung sich erfindet

Berlin [TS] dies 1995 Der Mensch ist em großer Fasan auf der Welt Reinbek [MF] Adorno, Theodor W 1965 Parataxis Zur spaten Lynk Hölderlins In ders Noten zur

Literatur III Frankfurt a M , S 156-209 Apel, Friedmar 1991 Schreiben, Trennen Zur Poetik des eigensinnigen Blicks bei Herta Muller In Norbert Otto Eke (Hg) Die erfundene Wahrnehmung Annähe­ rung an Herta Muller Paderborn, S 22-31 ders 1995 Kirschkern Wahrheit Inmitten beschädigter Paradiese Herta Mullers Herztier FAZ Literaturbeilage v 4 10 1994 Wiederabgedruckt in Em Buchertagebuch Buchbesprechungen aus der FAZ, Ausgabe 1995 Frankfurt am Main, S 103-105 57 Vgl Eke 1991c, S 119f 58 Vgl Apel 1991, S 26 „Die erfundene Wahrnehmung bleibt an die Negativität der Verhält­ nisse gebunden, aber in eben solchem Aushalten sieht Herta Muller die Chance der Authentizi­ tät “ 59 Vgl oben, Anm 40

Bohrer, Karl Heinz 1981 Plötzlichkeit Zum Augenblick des ästhetischen Scheins

Frankfurt a M Alexander von 1987 Sprache jenseits der Grenze Die deutsche (Gegenwarts-) Lynk als Anwalt der Differenz In Heinz Kimmerle (Hg ) Das Andere und das Denken der Verschiedenheit Akten eines internationalen Kollo­ quiums Amsterdam, S 263-281 Eke, Norbert Otto 1991a Augen/Bhcke oder Die Wahrnehmung der Welt m den Bil­ dern Annäherung an Herta Muller In ders (Hg ) Die erfundene Wahrnehmung Annäherung an Herta Muller Paderborn, S 7-21 ders 1991b „Überall, wo man den Tod gesehen hat“ Zeitlichkeit und Tod in der Pro­ sa Herta Mullers Anmerkungen zu einem Motivzusammenhang In ders (Hg) Die erfundene Wahrnehmung Annäherung an Herta Muller Paderborn, S 74-94 ders 1991c Herta Mulleis Werke im Spiegel der Kritik (1982-1990) In ders (Hg ) Die erfundene Wahrnehmung Annäherung an Herta Muller Paderborn, S 107130 Hinck, Walter 1995 Das mitgebrachte Land Zur Verleihung des Kleist-Preises an Herta Muller In Smn und Form 47 (1995), H 1 , S 141-146 Jakobson, Roman 1980 Two Aspects of Language and Two Types of Aphasie Dist­ urbances In ders Fundamentals of Language 4 Aufl The Hague, S 67-96 ders 1993 a Was ist Poesie? In ders Poetik Ausgewahlte Aufsatze 1921-1971 Hg von Elmar Holenstem u Tarcisius Schelbert 3 Aufl Frankfurt a M , S 67-82 ders 1993b Linguistik und Poetik In ders Poetik Ausgewahlte Aufsatze 19211971 Hg von Elmar Holenstem u Tarcisius Schelbert 3 Aufl Frankfurt am Main, S 83-121 Krauss, Hannes 1993 Fremde Blicke Zur Prosa von Herta Muller und Richard Wag­ ner In Walter Delabar u a (Hgg ) Neue Generation - neues Erzählen Deutsche Prosa-Literatur der achtziger Jahie Opladen, S 69-76 Lenzen, Verena 1994 Sprache und Schweigen nach Auschwitz In Walter Lesch (Hg ) Theologie und ästhetische Erfahrung Beitrage zur Begegnung von Religi­ on und Kunst Darmstadt, S 183-200 Link, Jürgen 1995a Literatursemiotik In Helmut Brackert u Jom Stuckrath (Hgg) Literaturwissenschaft Em Grundkurs Rembek, S 15-29 ders 1995b Elemente der Lynk In Helmut Brackert u Jom Stuckrath (Hgg) Litera­ turwissenschaft Em Grundkurs Rembek, S 86-101 Lodge, David 1991 The Language of Modernist Fiction Metaphor and Metonymy In Malcolm Bradbury u James McFarlane (Hgg) Modemism 1890-1930 Harmondsworth, S 481-496

Bormann,

Thomas Roberg

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Macho, Thomas H 1987 Todesmetaphem Zur Logik der Gienzerfahrung Frankfurt

aM Ottmers, Clemens 1994 Schreiben und Leben Herta Muller, Der Teufel sitzt im Spie­ gel Wie Wahrnehmung sich erfindet In Paul Michael Lutzeler (Hg ) Poetik der

Autoren Beitrage zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Frankfurt aM, S 279-294 Raddatz, Fritz J 1992 Pinzetten-Prosa Film-Szenen statt Erzahl-Garten woran Herta Mullers Roman scheiterte Die Zeit, Nr 36, 28 8 1992, S 57 Roth, Gerhard 1992 Neuronale Grundlagen des Lernens und des Gedächtnisses In Siegfried J Schmidt (Hg) Gedächtnis Probleme und Perspektiven der interdis­ ziplinären Gedachtmsforschung Frankfurt a M, 2 Aufl, S 127-158 Spietschka, Ruth 1990 Artikel ‘Herta Muller’ m Dietz-Rudiger Moser (Hg) Neues Handbuch der deutschen Gegenwartsliteratur seit 1945 München, S 469-470 Stanzel, Franz K 1990 Textual Power in (Short) Short Story and Poem In Reingard M Nischik u Barbara Korte (Hgg ) Modes of Narrative Presented to Helmut Bonheim Wurzburg, S 20-30 Steiner, George 1970 Silence and the Poet In ders Language and Silence Essays on Language, Literature and the Inhuman New York, S 36-54 Zierden, Josef 1995 Artikel ‘Herta Muller’ m Kritisches Lexikon zur deutschsprachi­ gen Gegenwartsliteratur Hg von Heinz Ludwig Arnold 50 Nachlieferung S 1-8

„Hermetisches Ratseireich“? Das Suchen einer Reiseroute in Barfüßiger Februar (Holger Bösmann)

Das Buch Barfüßiger Februar stieß in der öffentlichen Kritik auf eine ablehnende Haltung “Vordergründig verratselt”1, “dunkles Raunen”12 - so etwa lauten Re­ zensionen, die Rezeptionsschwiengkeiten aufzeigen, die die Texte des Prosaban­ des als hermetisch, als sich der Kommunikation verweigernd bezeichnen Das Buch hat im Gegensatz zu den vorherigen Veröffentlichungen wie Niederungen und Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt als auch zu den spateren Ro­ manen Reisende auf einem Bein und Herztier wenig narrative Elemente, die em Verständnis erleichtern Hier soll der Versuch unternommen werden, in das oft raunend beschworene “hermetische Ratseireich”3 einzudnngen, wobei natürlich keine vollständige In­ terpretation jedes Textes geleistet werden kann Es handelt sich eher um kom­ mentierende Lesehmweise, die sich assoziativ auf den Gesamttext, das Werk Herta Mullers, emlassen Barfüßiger Februar eignet sich für dieses Vorgehen sehr gut, da nicht nur em Text vorliegt Die Sammlung umfaßt Prosagedichte, Kurzgeschichten und essayistische Texte Die Texte des Buches lassen sich in drei große Gruppen kategorisieren und in­ nerhalb dieser interpretieren Diese Einteilung laßt sich auf das Gesamtwerk Herta Mullers übertragen, weshalb auch Motive aus anderen Texten zitiert wer­ den Es soll gezeigt werden, daß Barfüßiger Februar sich m den Werkkontext einfugen und einordnen laßt Die erste große Gruppe der Texte thematisiert das Leben der Banatschwaben im sozialistischen Rumänien Dieser deutschsprachi­ gen Minderheit m Rumänien gehört die Schriftstellerin an Aus der Perspektive eines Kindes wird die scheinbare Idylle des ländlichen, traditionsreichen Lebens ihrer Gefälligkeit entkleidet und in ihrer grausamen Nacktheit gezeigt, wie es auch schon das Buch Niederungen tat Gegenstand der zweiten Textgruppe ist das sozialistische, totalitäre Regime des Diktators Ceausescu in Rumänien Herta Mullers lakonische, knappe Sprache seziert das Regime wie mit einem chirurgi­ schen Instrument und legt offen, wie die Diktatur den Menschen m seiner Ganz­ 1 Weinzierl 1988

2Huther 1987

3Eke 1991, S 122

Holger Bosmann

Das Suchen einer Reiseroute (Barfüßiger Februar)

heit für sich beansprucht und ihn daran abstumpfen oder zerbrechen laßt Doch nicht nur die offensichtliche Diktatur Rumäniens wird m dieser Art und Weise beschrieben Die Situation emer in die Bundesrepublik Eingewanderten wird ähnlich beschrieben, wobei hier Einsamkeit und Hilflosigkeit der Rumamendeutschen die Empfindungen prägen, und nicht mehr die Harte und Brutalität des Sy­ stems Herta Mullers Sprache ist das einzige Feld, das sich jedweder Herrschaft entziehen kann, doch um diesen Schutz zu gewährleisten, mußte die Sprache zu emem hermetischen System werden In dieses System gilt es sich einzulassen, um es zu begreifen - wobei hier begreifen nicht verstehen heißt, sondern wörtlicher zu lesen ist Es sollen einige Punkte im Text aufgezeigt werden, an denen man sich “festhalten” kann, um zu anderen Punkten zu gelangen, um sich durch den Gesamt-Text, durch das Text-System “durchzuhangeln” Daß die oben genannten drei Textgruppen auch Etappen der Biographie Herta Mullers selbst sind, ist wohl nicht nur em Zufall “Autobiographisches, selbst Er­ lebtes Ja, es ist wichtig Aus dem, was man erlebt hat, sucht sich der Zeigefinger im Kopf auch beim Schreiben die Wahrnehmung aus, die sich erfindet ” (TS 20) Ihre eigenen Erfahrungen bilden emen Hintergrund zum Verständnis der Texte dieses Buches und auch ihrer anderen Texte, sie bieten eine Lesehilfe, aber keine Erklärung und Interpretation, nur zusätzliche Stimmen Herta Mullers Texte smd "Spuren" ihrer Wahrnehmungen im Sinne Demdas

Leben ist Material für Texte, die aber trotzdem emen fiktionalen Status gewinnnen5 - eine Auffassung, die durchaus parallel zu derjenigen Heiner Mullers lesbar ist “Der Aufenthalt in der DDR war m erster Lime em Aufenthalt in einem Ma­ tenal ”6 Doch ist dieses Verhältnis von Text und Leben für Herta Muller kein zynisches Spiel, wie es das womöglich für Heiner Muller gewesen ist, wenn der äußert „Da gibt es auch em bestimmtes Verhältnis zur Macht, auch eine Faszi­ nation durch Macht, ein Sich-Reiben an Macht und an Macht teilhaben, auch vielleicht sich der Macht unterwerfen, damit man teilhat “7 Diese “Faszination” an der Macht ergibt sich für Herta Muller nicht, Macht wird durchweg als horroresk erfahren und abgelehnt, denn Macht, wie sie Herta Muller m Rumänien er­ lebt hat, zerbricht Menschen wie ihren Freund Rolf Bossert Die Texte Die große schwarze Achse, Die kleine Utopie vom Tod, Das Lied vom Marschieren sind in der banatschwabischen Heimat angesiedelt Die patriarchali­ schen Gesellschaftsformen, mythischen Sprichwörter, die Dorfgemeinschaft, das bäuerliche Elternhaus, Zigeuner, die SS-Vergangenheit des Vaters - all dies sind Themen, die auch schon Niederungen bestimmten, doch hier nicht so scharf und ironisch wie dort, sondern eher melancholisch Die Texte haben die gesteigerte, vorgebliche Wahmehmungsweise eines Kindes, wobei diese aber erst durch die intellektuelle Reflexion der Erwachsenen ermöglicht wird Auch hier ergeben sich Parallelen zu Hemer Muller, der als - nichtlesender - Vierjähriger bei der Verhaf­ tung seines Vaters durch die SA die Durchsuchung der Bibliothek als Säuberung von linker Literatur erkennt8 Der ohnmächtige Blick des jungen Heiner Muller ist ebenso begrenzt und doch wieder frei - durch die kindliche Perspektive - wie die Wahmehmungsweise des Kindes m Herta Mullers Texten, er drangt durch die unmittelbaren, dichten Bilder zu emer Interpretation, die über das Nahehegende hinausgeht, eine Erfahrung vergleichbar der Lektüre von Walter Benjamins Berli­ ner Kindheit um 1900 Was ein Kind sieht, das ist - so wird wenigstens an eini­ gen Stellen suggeriert Assoziationsketten werden weitergeführt, das Assoziierte tritt an die Stelle des Tatsächlichen Der Agronom im Anzug mit dem Fischgrä­ tenmuster wird zum Fisch, seine Anatomie wird mit Fischkorperteilen beschrei­ ben (BF 14) Eine Assoziationskette, die zum Weitermachen auffordert, das Spiel weiterzuspielen Die Totalität der romanischen Diktatur wird für das Kmd im ba-

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Die Schrift ergänzt die Wahrnehmung, noch bevor diese sich selbst erschemt Das ‘Gedächtnis’ oder die Schrift sind die Eröffnung dieses Erscheinens selbst Das ‘Wahrgenommene’ laßt sich nur als Vergangenes, unter der Wahrnehmung und nach ihr lesen 4

Denn Herta Muller schreibt mcht autobiographisch, sondern nach eigener Aussa­ ge “autofiktional”, em Ausdruck, den sie von Georges-Arthur Goldschmidt über­ nommen hat (IF 21) Daß die fiktionalen Orte oder Figuren nicht empirisch verrechenbar gedacht smd, mag folgende Passage andeuten

Sie [die Besucher] aber wollten das Dorf sehen, aus dem ich kam Sie sagten mir auch weshalb sie hatten meine Texte über das Dorf gelesen Das war mir lästig, da ich wußte, sie wollten mcht das Dorf sehen, aus dem ich kam Sie wollten in dem Dorf die “Niederungen” sehen [ ] Das Dorf gibt es nur m den “Niederungen”, hab ich gesagt Sie glaubten mir nicht (TS 16f) '

5 Eine Haltung, die Herta Muller wahrend der Zeit ihrer Gastprofessur in Bochum

oftmals betont hat 6 Muller 1992, S 113 4 Dernda 1972, S 341

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7 ebd 8 Muller 1992, S 18

Holger Bosmann

Das Suchen einer Reiseroute {Barfüßiger Februar)

natschwabischen Dorf mit seinen bäuerlichen, patriarchalischen Strukturen vor­ weggenommen “In gewissen Sinn war das, was ich spater als 'totalitär’ und als ‘Staat’ bezeichnete, die Ausdehnung dessen, was em abgelegenes, überschauba­ res Dorf ist ” (TS 20) Folglich werden ähnliche Metaphern benutzt, die hier noch in einem privaten, spater in einem ubergreifenderen Kontext Verwendung finden Natur spiegelt den Zustand des unterdrückten Menschen, meist eine Frau Die in der Ehe vergewaltigte Großmutter sieht sich in einem toten Huhn wieder “Aus seinem Schnabel krochen Ameisen Zwischen seinen Schenkel unter dem Feder­ strauch des Schwanzes war em Stuck Darm herausgedruckt Der Muskel um den After war zerrissen Ich dachte an den schon drei Tage alten Gurkensamen m meinem Bauch ” (BF 38) Die Unterdrückung im totalitären, sozialistischen Rumänien wird in den Texten Uber den Kopf der Weinreben, Drosselnacht, An diesem Tag, Diktator oder Hund, Der Tau auf den Depots, Meine Finger, Damit du nie ms Herz der Welt gerissen wirst, Die Taschenuhr, Mein Herz fliegt durch die Wange, Kalte Bü­ geleisen und In einem tiefen Sommer thematisiert Enteignung bestimmt den In­ halt der Texte Enteignung heißt nicht nur Enteignung des Grundbesitzes nach sozialistischem Muster - wie m den Texten Uber den Kopf der Weinreben und Die Taschenuhr - sondern auch die des Menschen im umfassenden Smn Der Mensch wird seiner Sprache beraubt “Die Landessprache wurde m Augenblikken zur Staatssprache ” (HS 37) Smnzusammhange werden zerstört, von der Ideologie neu bestimmt Selbstbestimmte Definition darf nicht geschehen, wer eigene Smnzusammenhange und Bestimmungen aufbaut, wird für verrückt erklärt - die einfachste Methode, einen Menschen auszugrenzen und ruhigzustellen Selbstverwirklichung und -beschreibung wird verhindert, die sozialistische Ideologie/Utopie „hat das Leben verboten Sie hat jeden in Frage gestellt, so wie er sich selber sah ” (HS 51) Auch der Körper muß der Ideologie, dem Staat, dem Diktator dienen Frauen werden zu Gebarmaschmen mit einem Plansoll (fünf Kinder), das erfüllt werden muß Der Tau auf den Depots und Damit du nie ins Herz der Welt gerissen wirst thematisieren die verbotene Abtreibung Selbst ihrer Mutterfünktion werden sie beraubt, denn die Frau des Diktators ist die “Mutter aller Kinder” (HS 103) Der Körper wird sinnlos, verwesendes Fleisch, wenn er seiner Eigenständigkeit beraubt wird und seine Funktionen einzig dem Staat nut­ zen sollen “Meine Zeigefinger zeigten nicht [ ] Was soll aus meinen Fmgem werden, die mir aus dem Fleisch der Hande stehen ” (BF 78f) Nicht nur der Mensch wird in seiner Totalität von anderen Menschen enteignet Die Natur muß ebenso der Diktatur dienen Sie wird ihrer Natürlichkeit enteignet Die Jagd (“In emem tiefen Sommer”) wird für die Nomenklatura ausgenchtet Sie hebt sie von der Masse der Menschen ab wie ihre Sprache, ihre Kleidung, ihre Privilegien

Jagdrecht demonstriert Macht Die unterdrückten Menschen und die Tiere wer­ den gleichgesetzt, die Tiere stehen symbolisch für die Menschen, kein Unter­ schied kann mehr festgestellt werden, da beide der Willkür der Macht hilflos aus­ gesetzt sind “Kaninchen und Krähen, diese Tiere der Erschossenen [an der Ber­ liner Mauer] machten mir so Angst wie die Gewehrlaufe ” (HS 19) Natur wird bezwungen, sie steht metaphorisch für das Volk “Aus dem Rucksack schaut em Hasenkopf hervor [ ] Der grüne Mann tragt einen grünen Hut Uber der Krempe ist em Seidenband mit einem Edelweiß und einer Feder dran Die Feder ist von emem wilden Huhn ” (BF 100) Bezwungene Natur wird Opfer der Ideologie, Tannen stehen um die Hauser der Macht, rote Nelken und Rosen schmucken die Macht “Die rote Nelke war schon langst zur Blume geworden, die das Land verlassen hatte und m den Staat einge­ treten war ” (HS 10, vgl 70) Eines der Charakteristika, die einen totalitären Staat kennzeichnen, die Entfremdung von und Instrumentalisierung der Natur, wie es Max Horkheimer und Theodor W Adorno in der Dialektik der Aufklärung be­ schrieben haben,9 wird hier von Herta Muller literarisch umgesetzt Die Natur, die von den Mächtigen bezwungen wird, dient zu deren Unterhaltung, den Unter­ drückten wird das Vergnügen verwehrt, für sie bedeutet die Natur lediglich die Manifestation der Ideologie und der existierenden Herrschaftsverhaltnisse Jegli­ cher unmittelbare Umgang mit der Natur ist durch die Entfremdung von ihr un­ möglich gemacht, wie es das Beispiel der Rosen und Nelken zeigt - Staatsblumen geworden, illustrieren sie nun dessen Ideologie Zu der totalitären Enteignung durch die Diktatur kommt die Überwachung durch den Staat Beschattung (“Der kleine graue Mann bleibt stehn zwischen den hohen Baumen Er horcht”, BF 99), Denunziation (“Die vierte haben Nachbarinnen an­ gezeigt Sitzt im Gefängnis”, BF 75), Verhöre (“Nur der Blick erfroren von der Kalte der Verhöre”, BF 5, “Wer schlafen kann, hat sie verhört”, BF 75), physi­ sche und psychische Gewalt (“Nur der Kieferknochen war zerschlagen [ ] Nur die Briefe und Gedichte nackt und ausgelacht”, BF 5) bestimmen den Alltag der nicht vollständig Angepaßten Als Ausweg bleibt nur noch die Ausreise Begleitet wird sie von Enteignungen (Uber den Kopf der Weinreben) und Demütigungen (Barfüßiger Februar) Der Text Uber den Kopf der Weinreben nimmt den Inhalt des Romans Der Mensch ist em großer Fasan auf der Welt m verkürzter Form auf Enteignung, Bestechung, Besuch aus dem Westen, auch das Motiv des Wmdes zur Symbolisierung der Auflösung des Besitzes wird in beiden Texten ver­ wendet Zum Vergleich “In den Weidenzaun bhes der Wmd Die Blatter taten sich auf’ (BF 24), und “m unserem Hof liegen täglich gelbe Blatter für zehn

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Q

Adorno 1981, Bd 3, S 43ff

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Holger Bosmann

Das Suchen einer Reiseroute (Barfüßiger Februar)

Baume Meine Frau weiß nicht, woher die vielen Blatter kommen So viel dürre Blatter hat’s in unsrem Hof noch nie gegeben ’ ‘Der Wmd bringt sie (BF 77f) Zur Gruppe der Texte, die das Ankommen und die Fremde in der BRD themati­ sieren, gehören Barfüßiger Februar, Wenn ich mich tragen konnte, Mein Schlagabtausch, mein Minderheitendeutsch Barfüßiger Februar nennt die Zeit der Ankunft “Februar, [ ] gleich nach dem Tod eines Freundes” (BF 5) Im Fe­ bruar 1986 starb Rolf Bossert, em Schriftsteller und Freund Herta Mullers aus Rumänien, der em Jahr vor Herta Muller in die BRD emgereist war Der Ausreise aus Rumänien waren Verhöre vorangestellt, “der Kieferknochen war zerschla­ gen” (BF 5) Der Hinweis “Darüber war em Fenster” (BF 5) spielt womöglich darauf an, daß Rolf Bossert sich aus einem Fenster stürzte, “kern Wasser und kein Feuer und kein Strick” (BF 5), weil keine andere Todesart möglich war Nichts als Ausweglosigkeit und Wahllosigkeit, die sich noch m der Todesart spiegeln, bleibt nach dem Tod des Freundes “Was vergeht wie Tage, wird kein Leben ” (BF 5) Hilflos, nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort, “ich war nicht dort” (BF 5) Der Tod des Freundes verstärkt die eigene Fremde m der neuen Umgebung noch, denn “die Welt hegt auf dem Tode eines Freundes [ ] ich geh auf ihr” (BF 5) Fremde, Hilflosigkeit und Nackheit bestimmen auch den Text Wenn ich mich tragen konnte “Was soll ich anziehn um das fremde Geld ” (BF 48) Probleme, sich durch Kleidung im Westen eine Identität zu schaffen, die in der rumänischen Diktatur durch die graue Einheitskleidung verweigert wurde, werden auch im Buch Reisende auf einem Bem thematisiert Doch schnell wird bewußt “Mode verkürzt das Leben ” (R 76) Es wird keine Identität verschafft, sondern eine fremde gekauft, die zum Konfektiomsmus verkommt “Doch wenn Irene an einem einzigen Tag, an drei verschiedenen Orten der Stadt, drei ver­ schiedene Frauen mit der gleichen Haarspange, die em Flugzeug war, sah, freute sie sich, daß sie kein Geld hatte ” (R 75f) “Angekommen wie nicht da” (BF 123) heißt es im Text Mem Schlagabtausch, mein Minderheitendeutsch, und die Wendung verdeutlicht sowohl die Fremdheit in der neuen Wahlheimat als auch das Sperren gegen eme Vereinnahmung durch em politisches System, was sich im Schreibstil Herta Mullers mederschlagt Programmatisch für die Texte ist die Zergliederung der Wahrnehmung m den Sprache als Demontage der Syntax Beim Schreiben, will man dieses Hintereinander und die Bruche fassen, muß man das, was sich im Fort-Schreiben des Gedankens zusammenfiigt, zerreißen Man zerrt am Geflecht der Satze, bis sie durchsichtig werden, bis m der Rei­ henfolge der Worte im Satz und der Reihenfolge der Satze im Text die Risse durchschemen (TS 81)

Wie sich diese Satze aus der Poetik Herta Mullers auf ihr literarisches Schreiben auswirkt, zeigen die beiden folgenden zitierten Beispiele, wobei das erste aus der Sicht des Kindes beschrieben ist

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Neben den Wagen war em offener Kreis aus Leuten Die aus der letzten Reihe hatten Hosenbeine, und Waden, und Rucken, und Kopfe Und die aus der vor­ letzten Reihe hatten Schultern, und Halse, und Kopfe Und die aus der ersten Reihe hatten Haarspitzen, und Hutrander, und Kopftuchenden (BF 15) Der kindliche Blick nimmt nur das wahr, was real sichtbar ist, interpretiert nicht weiter - so wenigstens das Konzept kindlicher Wahrnehmung, wie es m der Kunstprogrammatik der klassischen Moderne seinen festen Platz hat1011Er laßt aber so zugleich weitere Interpretationen zu, macht sie zwingender, wie hier die Auflösung des Einzelnen m der Masse Die Diktion Herta Mullers scheint an vielen Stellen auch als Versuch, m eme prareflexive Unordnung zu gelangen, die sich der Erwachsenenordnung entzieht und sich ihr gegenüber subversiv verhalt Dazu mag die folgende Textpassage, em kurzes Märchen der Gebrüder Grimm, als Kommentar dienen

Es war einmal em Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben wollte Darum hatte der hebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auf dem Totenbettchen Als es nun ins Grab vei senkt und die Erde über es hmgedeckt war, so kam auf einmal sein Ärmchen wieder hervor und reichte m die Hohe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber taten, so half das nicht, und das Ärmchen kam immer wieder heraus Da mußte die Mutter selbst zum Gra­ be gehen und mit der Rute aufs Ärmchen schlagen, und wie sie das getan hatte, zog es sich hinein, und das Kindchen hatte nun erst Ruhe unter der Erde 11 Anders als der kindliche Arm, hier von einem Diktator-Gott, der dazu die Mutter benutzt, unter die Erde gebracht, laßt sich die Opposition des kindlichen Blicks nicht emfangen Dagegen wirkt der zergliedernde Blick aus der Perspektive des Erwachsenen nicht mehr unschuldig, sondern wie eme Flucht “Das Abteil fuhr Die Scheibe hetzte Bilder ” (BF 5) Die Zugfahrt aus Rumänien m die Bundesre­ publik wird von der Angst bestimmt, die durchfahrenen Gegenden können nicht mit dem Auge des mußggangenschen, sorglosen Reisenden als vorbeiziehende

Von den zahlreichen Versuchen, die Kindperspektive als eine unverstellte, ‘natürliche’ zu kennzeichen, aus der heraus auch Gesellschaft reformiert werden konnte, sei hier nur auf John Ruskin und dessen Sehanleitung des ‘innocent eye’ hingewiesen (zit bei Imdahl 1966, S 197) 11 zitiert m einem Programmheft zu Heiner Mullers Mauser, Deutsches Theater Berlin 1991/92, S 41

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Das Suchen einer Reiseroute (Barfüßiger Februar)

Holger Bosmann

Landschaften wahrgenommen werden, die Furcht vor dem totalitären Regime beeinflußt noch immer den Blick Die gesteigerte Wahrnehmung, die die Details beachtet, die ein fertiges Ganzes nicht so akzeptiert, wie es ist, sondern es immer wieder hinterfragt, beeinflußt auch den Schreibprozeß “Wer lesen kann, sieht auch den Vorgang des Schreibens beim Lesen die Umwege, die Abbruche Et spurt auch die Vielzahl der Boden unter den Gedanken Er sieht schwarz auf weiß, wie das Suchen erfolgt ist ” (TS 44) Die Verwendung der archäologischen Metapher (Bruche, Boden) laßt eine Nahe zu Walter Benjamins Beschreibung der Ennnerungsarbeit offenkundig werden, wenn dort nicht nur nach dem Fund, son­ dern auch nach dem Fundort gefragt wird und sich der Ermnerungsprozeß selbst als Untersuchungsobjekt darstellt So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger benchtend verfahren als ge­ nau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde Im streng­ sten Sinne episch und rhapsodisch muß daher wirkliche Erinnerung em Bild zugleich von dem der sich erinnert geben, wie em guter archäologischer Be­ richt nicht nur die Schichten angeben muß, aus denen seine Fundobjekte stam­ men, sondern jene andern vor allem, welche vorher zu durchstoßen waren 12 Dieses Suchen, das unablässige Nachfragen, das Herta Mullers Prosa bestimmt, laßt sich mit dem philosophischen Suchen der Frankfurter Schule und deren Schreibverstandms in Übereinstimmung bnngen “Unfertig zu sein und es zu wis­ sen, ist der Zug auch jenes Denkens noch und gerade jenes Denkens, mit dem es sich zu sterben lohnt ”13 Wie Herta Muller Umwege m ihrer Prosa deutlich macht und sie für wichtig halt, mag damit verglichen werden, wie wiederum Benjamin sie als Wesenszug des wissenschaftlichen Traktats bestimmt

Methode ist Umweg Darstellung als Umweg - das ist denn der methodische Charakter des Traktats Verzicht auf den unabgesetzten Lauf der Intention ist sein erstes Kennzeichen Ausdauernd hebt das Denken stets von neuem an, umständlich geht es auf die Sache selbst zuruck Dies unablässige Atemholen ist die eigenste Daseinsform der Kontemplation 14 Doch wie der Umweg Hilfe bei der Suche ist, so ist er auch Schutz Wie das gesperrte Sprechen der Frankfurter Schule, das sich der allzu schnellen Einreihung m einen herrschenden Diskurs bewußt verweigert, so ist auch Herta Mullers Blick auf das Detail, die vordergründige Hermetik, auf die man sich entlassen muß, Schutz Denn em totalitäres Regime, das auf Durchdringung der Gesamtheit des

12 Benjamin 1972, GS IV, S 401

Lebens zielt, mag keine Details, die sich unterscheiden Der Mensch muß an die­ sem totalitären Anspruch jedweder Ideologie zerbrechen, denn er kann nicht je­ des Detail auf die Ideologie ausnchten, geschweige denn sem Leben “Tausend Details ergeben etwas, aber keinen gespannten Faden des Lebens, keine allge­ meine Übereinkunft, kerne Utopie [ ] ‘Leben wir also Aber man laßt uns nicht leben Leben wir also im Detail (HS 61) Das Lebensprogramm, wie es Herta Muller bei Eugene Ionesco findet, wird zugleich als Ästhetik verstanden, so wie es auch Adorno sieht Die Wahrheit eines Gedichts ist die “Konfiguration der Momente, die, zusammengenommen, mehr bedeutet, als das Gefüge ”iS Schrei­ ben bedeutet für Herta Muller das Parzellieren, Isolieren, die Analyse als “Entkleiden der Wahrnehmung Man nimmt ihr das Eigentliche, das Bild [ ,] bis im Text die Risse durchscheinen Bis die verschwiegenen Satze zwischen den geschriebenen überall ihr Schweigen hmhalten ” (TS 81) Das Schweigen, die verweigerte Kommunikation, die dem Buch Barfüßiger Fe­ bruar kritisch bescheinigt wurde, ist gerade dasjenige, was durch die geschriebe­ nen Satze gehört werden soll Paradigmatisch steht dafür in Barfüßiger Februar das Konzept des einzigen Satzes, auf den das Schreiben hinauslaufen soll - doch bleibt dieser em Phantasma, em Objekt unabschließbarer Suche

Denn alle Satze sind ohnehin em einziger Satz, sowie alle Texte em einziger Satz sind, und alle Bucher Ja, auch, wenn man über Jahre hin verschiedene Bucher schreibt, schreibt man immer an einem einzigen Satz Vielleicht hat je­ der Autor einen einzigen Satz Vielleicht hat jeder Autor seinen eigenen, einzi­ gen Satz (BF 36)

J J Literatur -i Muller, Herta 1987 Barfüßiger Februar Berlin [BF] ' dies 1989 Reisende auf einem Bem, Berlin [R] | dies 1991 Der Teufel sitzt im Spiegel Wie Wahrnehmung sich erfindet Berlin [TS] | | dies 1995 Hunger und Seide Essays Reinbek [HS] | dies 1996 In der Falle Göttingen [IF]

Adorno, Theodor W 1981 Parataxis Zur spaten Lynk Hölderlins In ders Gesam­ melte Schriften, Bd 11 Frankfurt a M

13 Adorno 1981, S 282 14 Benjamin 1974, GS I, S 208

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15 Adorno 1981, Bd 11, S 451 (Hervorhebung H B )

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Holger Bosmann

Gesammelte Schriften Bd IV, hg v Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhauser Frankfurt a M Benjamin, Walter 1974 Ursprung des deutschen Trauerspiels In Benjamin, Walter Gesammelte Schriften, Bd 1 Frankfurt a M Dernda, Jacques 1972 Die Schrift und die Differenz Frankfurt a M Eke, Norbert Otto (Hg) 1991 Die erfundene Wahrnehmung Annäherung an Herta Muller Paderborn Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W 1981 Dialektik der Aufklärung Philosophi­ sche Fragmente In Adorno, Theodor W Gesammelte Schriften, Bd 3 Frank­ furt a M Huther, Christian 1987 Was ist das für em Land’ Herta Mullers Prosaband "Barfüßiger Februar" In General-Anzeiger, 28/29 11 1987 Imdahl, Max 1966 Die Rolle der Farbe m der neueren französischen Malerei In Wolfgang Iser (Hg) Immanente Ästhetik - Ästhetische Reflexion München, S 195-226 Muller, Heiner 1992 Krieg ohne Schlacht Leben in zwei Diktaturen Köln Weinzierl, Ulrich 1988 Schwarze Achse im Innern der Erde Herta Mullers Prosaband "Barfüßiger Februar" In FAZ, 6 2 1988 Benjamin Walter 1972 Denkbilder In ders

Reisende auf einem Bein. Ein Mobile

(Karl Schulte) Die Diener tot des Hauses Im Saale schwebt die Speise Alles kreiselt, die Schindeln sträubt das Dach

AufSessellehne steht, den Hals gereckt, em Hahn, Skelett im stummen Krahn Es kreist das Kreiselnde Du mit, der aus den Fenstern blickt des Hauses

{Ernst Meister1)

( . t I l ) f | l

‘Auf einem Bein kann man nicht stehen’ sagt der Volksmund, wenn er jemanden (scherzhaft) auffordert, em zweites Glas zu trinken ‘Mit beiden Beinen auf der Erde (im Leben) stehen’ ist eme Redensart, die Lebenstuchtigkeit, Reahtatssinn herausstreicht Auf einem Bem kann man sich nur sprunghaft bewegen, hupfend von Mal zu Mal wie m dem Kmder-Hinkelspiel, bei dem em jeder auf einem Bem durch eme am Boden aufgezeichnete Figur aus Vierecken und darubergezeichneten Halbkreisen hupfen muß, die als Himmel und Holle gekennzeichnet smd Schließlich kann man auf einem Bem gehen, wenn man eme Krücke zu Hilfe nimmt Ist es schon dem, der zu Hause bleibt, schwer, mit einem Bem zurecht zu kommen, wie erst dem Reisenden, der aufbncht, unbekannte Wege geht, Gefahr lauft, m Sackgassen zu geraten oder m Locher zu fallen Reisende auf einem Bem ist, abgesehen von einigen Essays, das prosaischste Werk Herta Mullers Das hegt auch an der Perspektive, an der Wahrnehmung, die jetzt mcht mehr auf ‘Erinnerung’, innerer Wahrnehmung der Vergangenheit, beruht, sondern auf gegenwärtigen Eindrücken Die scharfe, zersetzende Beobachtung fuhrt zu einer literarischen Collage, die zuweilen eme Tendenz zur expenmentellen Poesie aufweist Als Ganzes gleicht die Erzählung einem Mobile, an dem Fetzen der Wirklichkeit hangen, die sich ständig bewegen und doch auf der1 1 Meister 1979, S 8

Karl Schulte

Reisende auf einem Bem - Ein Mobile

Stelle bleiben Die einzelnen Teile, Bruchstucke der wahrgenommenen Wirklich­ keit, sind poetisch-bizarr und von surrealistischem Beziehungseffekt Wer analysiert, gliedert, verfahrt logisch, geht den Gegenstand prosaisch an Wer synthetisiert, leistet eine schöpferische Zusammenschau, verfahrt poetisch Das Auge ist der Vorreiter solcher Synthese Es sieht Dinge zusammen Das noch sich selber fremde heterogene Gebilde, die Collage aus Reisende auf einem Bem, wird denn auch programmatisch benannt „So fremd war das Gebilde, daß es den Punkt traf, an dem das Lachen des Mädchens im Schaukelstuhl denselben Ab­ grund auftat wie der Tote im Anzug “ (R 47) Doch zunächst zu einem Absatz, in dem das Bild des Titels differenzierter und diffuser zugleich geboten wird

Warenwelt, sondern die surrealen der Imagination und der Empfindung das Photo eines toten Politikers, em hartgekochtes Ei, lebende Weinbergschnecken, Trenchcoatknopfe mit Silberrand und em Stuck Darm Eme ausführlichere Inhaltsbeschreibung anhand der Kapiteleinteilung ergäbe schon einen Eindruck von der sprunghaften Abfolge der Szenen, von einer dau­ ernden Bewegung bei anhaltendem Stillstand Dieser Eindruck der Simultaneität des Heterogenen konzentriert sich im Bild der Collage, die Irene an ihrer Zim­ merwand aus Zeitungsphotos zusammenstellt Sie beginnt mit einer Ansichtskar­

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Reisende, dachte Iiene, Reisende mit dem erregten Blick auf die schlafenden Städte Auf Wunsche, die nicht mehr gültig sind Hinter den Bewohnern her Reisende auf einem Bem und auf dem andern Verlorene Reisende kommen zu spat (R 92) Diese Reisenden also erwarten sich etwas, sind erregt, weil sie sich etwas vom Reisen, von den fremden Städten versprechen Aber das Neue ist nicht ansprech­ bar, schlaft, wird m einem Moment erreicht, wo die alten Wunsche aus dem ande­ ren Land nicht mehr gültig sind, wenn sie auf das neue Land projiziert werden ‘Hinter den Bewohnern her’ scheint zu sagen, daß die Reisenden ‘nachhmken’, daß ihre Wunsche obsolet, überholt sind In diesem Bild ist das zweite Bem mcht amputiert, es taugt nur nichts zum Fortkommen, zum Ans-Ziel-Kommen ‘Reisende’ ist an dieser Stelle im Plural gebraucht, das Wort ließe sich aber in der Überschrift ebenso gut als Singular auffassen Dann wäre Irene die Reisende auf einem Bem, die aus dem ‘anderen Land’ in das neue hupft, wie im Spiel, vom Himmel zur Holle oder umgekehrt Von all diesen Inhalten steckt etwas im Titel der Erzählung, oder des ‘kleinen Romans’, wie eine Rezensentin schreibt, oder der Erzahl-Collage, wie ich sie aus bestimmten Gründen nennen mochte In der Erzahlweise macht sich das Sprung­ hafte und das Zögerliche der Hupfbewegung bemerkbar Trotz verwirrender Sprungfolgen, Richtungsanderungen, Wechsel der Felder und der (Wirkhchkeits-) Ebenen laßt sich doch eine Fabel, em Handlungsgerust mit chronologischem Ab­ lauf ausmachen Eine Frau von Mitte Dreißig verlaßt Rumänien mit behördlicher Genehmigung, reist mit einem einzigen Koffer nach Deutschland, wo sie in Westberlin - noch zu Zeiten der DDR Ende der achtziger Jahre - Aufnahme findet in einem Ubergangsheim und schließlich, nach Monaten, die deutsche Staatsbür­ gerschaft erhalt, bevor sie sich noch unter den Menschen, Dingen und Örtlichkei­ ten der neuen Welt zurechtgefunden hat Um diese Handlungsachse drehen sich wie bei einem Mobile die Stucke der Welt, aber mcht die schonen bunten der

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te Die Karte lag neben einem Mann, den man von hinten sah, neben einem Fisch Das Gelander einer hohen Straße neben einem Mann, der einen weißen Hand­ schuh durch einen Park trug Em alter Mann, der auf einer Bank unter leerem Himmel Zeitung las, neben einem Kirchturm Em großer Daumennagel neben einem fahrenden Bus Eine Armbanduhr neben einem aufgenßnen Tor, vor dem Kopfstempflaster ms Leere führte Em Riesenrad mit fliegenden Leuten neben einem fernen Wasser Em Flugzeug am Himmel neben einer Hand Em Gesicht, das flog von der Geschwindigkeit neben einem Mädchen im Schau­ kelstuhl Eine Hand, die auf den Revolver druckte, neben einem Mann, der auf einem Fahrrad durch das Spiegelbild der Baume fuhr Em schreiender Mund, der bis zu den Augen reichte Zwei Manner mit Schirmmützen, die stehend aufs Wasser schauten Eine alte Frau, die auf dem Balkon über der Stadt saß Eme Frau mit schwarzer Sonnenbrille Em Toter im Anzug Eine Wassermüh­ le Em durchwühltes Zimmer Em Junge im Matrosenanzug Eine wimmelnde Einkaufsstraße Eine Drehtür in steinigem Gebirge (R 46/47) Das ist noch die aleatorische Anordnung auf dem Tisch, die Collage entsteht erst durch Intuition und automatische Anziehungskraft Irene klebte die Photos auf einen Bogen Packpapier nebeneinander Sie mußte lange suchen und vergleichen, bis zwei Photos zusammenfanden Fanden sie einmal zusammen, so taten sie das von selbst Die Verbindungen, die sich ein­ stellten, waren Gegensätze Sie machten aus allen Photos em einziges fremdes Gebilde So fremd war das Gebilde, daß es auf alles zutraf Sich ständig be­ wegte (R47) Hier ist der von mir gewählte Vergleich nut dem Mobile wortwörtlich evident Die ständige Bewegung der Teile ist nicht beschrankt auf dieses Gebilde der Collage, es fungiert als metatextuelles Prinzip der gesamten Anlage und Ausfor­ mung von Reisende auf einem Bein Die sprunghafte Bewegung zeigt sich im kleinen Raum des Collage-Textes ebenso wie im größeren des 6 Kapitels Ins Blickfeld kommt zunächst der Fußboden, der mit dunkelbrauner Arbeiterwoh­ nungsfarbe gestrichen ist Stefan diffamiert die Vormieter mit der rhetorischen Frage „Was waren das für Menschen“/“ Ubergangslos ist von zwei Polen die Re­

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Reisende auf einem Bem - Ein Mobile

de, die m Schwarzarbeit den Boden abschleifen sollen Irene kauft eine Ansichts­ karte, auf der ein Schwimmbad mit Schachspielern abgebildet ist, und einem Mann, der abseits sitzt, den sie ausschneidet und in einen Brief an Franz legt, dem sie von ihrer Sehnsucht schreibt, die schlaff mache Aus dem Rest der An­ sichtskarte entsteht die Collage Daß der jungen Frau das neue Land fremd ist, sieht man an ihrer Ratlosigkeit ge­ genüber einem Photo, das ubngbleibt, das nicht ins ‘Gebilde’ paßt

realistischen Traumvoi Stellungen entdeckt So bewirkte für Max Emst die Ab­ surdität einer willkürlichen Zusammenstellung von Dingen ‘eine plötzliche Steigerung der visuellen Fähigkeit’2

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Es war das Photo eines jungen Mannes Der hatte eine dunkle Stirn, glanzende Augen Er hielt die Hand auf der Brust, daß man die weißen Nagelwurzeln sei­ ner Fmger sah Seme Lippen standen halboffen Der Mann war Politiker Er hatte seme Macht verloren, kurz darauf war er gefunden worden in emem Lu­ xushotel am Ufer eines Sees (R 48) Daß Irene dieses Photo, das offensichtlich Uwe Barschel, den damaligen Mini­ sterpräsidenten von Schleswig-Holstein darstellt, nicht m ihr ‘Gebilde’ einordnen kann, ist symptomatisch für ihr Unverständnis der freien westlichen Gesellschaft Daß man auch da leicht m eine Falle tappen kann, die man sich womöglich selbst gestellt hat, ist ihr noch nicht plausibel Früher oder spater wird ihr klar werden, daß dieses Photo in die Mitte der Collage gehörte Das Photo also irritiert sie, sie ‘dreht’ es mit dem Gesicht nach unten, sie verlaßt das Haus, friert und schwitzt, geht wieder in die Wohnung zuruck, steckt das Photo m die Manteltasche, zerknüllt es, wirft es wenig spater in einen Papierkorb Aber die ‘Entsorgung’ des Photos hilft nicht Spater wird es ihr m Thomas’ Woh- * nung m vielfachen Abzügen wiederbegegnen * Neue ‘Bilder’, Eindrücke bedrängen sie Die alte Frau mit dem polierten Geh- ’ stock ist wirklich, wie auch das grüne Laub an den abgeschnittenen Zweigen, das J zerbricht, wenn man es anfaßt Das ‘Gefühl’, das Irene gleich darauf heimsucht, f führt zu surrealen Vorstellungen alte Frauen nut weißen Dauerwellen verwandeln f sich m BDM-Madchen Vor den Laden fahren fensterlose Wagen vor Auch der | letzte reale Vorgang des 6 Kapitels ist surreal durchsetzt Irene geht zum Photo-1 automaten an der U-Bahnstation und macht eine Aufnahme von sich „Irene wußte, daß im Gehäuse des Automaten em Mann stand Denn das Photo war warm Es war Körperwarme “ (R 50) Erkennbar wird die Nahe der Mullerschen Schreibweise zum surrealistischen Bildbegnff, berücksichtigt man das Prinzip der maximal heterogenen Fugung, wie es Kann Thomas zusammenfassend darstellt

Surrealisten bedienten sich der freien collagierenden Bildgestaltung und arbei­ teten in ihren Zeitschriften mit geklebten Foto- und Textmontagen [ ] Vor al­ lem aber m den Collagen von Francis Picabia und Max Emst wurde diese Technik m ihren Ausdrucksmoghchkeiten für die Vergegenwärtigung der sur­

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In Herta Mullers Erzählung sind surreale Einsprengsel - Collage-Elemente - häu­ fig Der Diktator schaut Irene beim Packen zu, bei ihrer Ankunft auf dem Berliner Flughafen erscheint er als Staatsgast, schaut sie an Die Angst vor seinem langen Arm verfolgt sie bis ms Exil (vgl R 25) Zwischen der Wasche, die Irene prüft auf einer Ladentheke, reckt sich plötzlich der Daumen von Franz - wie ein Se­ xualsymbol aus einem frühen Bunuel-Film (vgl R 77) Thomas erzählt einen Traum von einer Geburtstagsparty, auf der alle - auch die Jungen - weiblichen Geschlechts sind - wohl eine Anspielung auf seme homosexuellen Neigungen (vgl R 97) Die surrealen Passagen stehen nicht isoliert, bewegen sich vielmehr ni emem Raum, der von Irenes körperlicher und seelischer Präsenz gefüllt ist, und sagen etwas aus über ihren Zustand Irene lag im Bett und hatte den Eindruck, ihre eigenen Augapfel leuchten zu sehen Irene dachte an das beleuchtete Viereck Em kleines Zimmer, eine Nachtlampe, em großes Bett in der Zimmerecke [ ] Em Mann lag nackt im Bett Die Frau ohne Bluse stand am Fußende Sie streifte die Strumpfhose und das Höschen m emem an den Beinen runter Sie griff sich m den Nacken Sie öffnete den Verschluß einer schweren braunen Halskette Die bestand aus drei Reihen Knoten (R 114) Ihr Schmuck, den sie in den Kühlschrank gelegt hatte, so erfahren wir zum Schluß, bewegt sich Er besteht aus lebenden Weinbergschnecken Festzustellen, wie hier Teile montiert, Zusammenhänge hergestellt werden, führte hier zu weit Letztlich hangt in dieser uberganghchen, liquiden und transitorischen Dingordnung, wo die Teile stets in neue Relationen eingehen, alles mit allem zu­ sammen Montage und Collage, fragmenthafte Fetzen und deren Arrangement kennzeich­ nen die beiden Pole von Wahrnehmungsweise und Textstruktur Auf die Technik gibt es auch viele direkte Hinweise Irene schnitt da, wo der Mann saß, das Ufer ab [ ] Der Mann lag gekrümmt auf dem Wasser Irene schnitt auch das Wasser ab Der Mann fiel in Irenes Hand (R45) Ampeln wie Augen Dann überkam Irene eine kalte Sicherheit Als ginge sie über glanzendes Papier, em Gegenstand, der sich von emer Ansichtskarte m die andere bewegte (R 105) 2—

Thomas 1985, S 45

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Reisende auf einem Bem - Ein Mobile

Neben Scheren und Korkenziehern lag Wolle Neben Suppenkellen hingen Zopfe aus schwarzem Haar Irene stellte sich den Fleischverkaufer hinterm Pult mit schwarzem Zopf vor Er hielt den Kopf schief Der Zopf war schwer, er mußte aus Fleisch sein (R 107) In dieser Passage wird es nicht dem Leser überlassen, Zusammenhänge herzustel­ len, vielmehr werden fremde Dmge schon durch die Phantasie der Hauptfigur kombiniert Dieses Prinzip wird auch im folgenden Satz erkennbar „Irene hatte den Eindruck, daß m diesem Licht Salat, Zitronen und Champignons zusammen­ flössen und Blumen bildeten “ (R 108) Dieses letzte Bild hat planen Charakter, doch scheint insgesamt die starre und doch kreisende Konstruktion des Mobile der Erzahlweise und Wahrnehmungs­ weise vergleichbarer Die Wirklichkeit wird nicht nur zerschnitten, ihre Stucke werden dann im Raum m Wirbel versetzt, an einem Mobile hangend, dessen ‘Körper’ sich nicht berühren - oder deren Berührung jedenfalls eine Frage der Leserwahmehmung ist Das Sich-Fremd-Fuhlen m einem Land, das jemand als Fluchtland, nicht als Rei­ seland aufsucht, ist nichts weiter als folgerichtig So ging es den Emigranten des Zweiten Weltkrieges Max-Herrmann Neiße, Theodor Kramer, Albert Ehrenstem, Nelly Sachs und vielen anderen, zumal, wenn sie sich mit der Sprache des frem­ den Landes schwer taten Nun gibt es aber Lander, die unbeschadet rechtsstaathcher Normen und relativ fortschrittlicher Ausländer- und Asylgesetzgebung be­ sonders erkaltend wirken - wo ‘Balkan’ wie ‘Polnische Wirtschaft’ als Schimpf­ wörter gelten, das sind Deutschland und die Schweiz Der jüdische Kunstwissen­ schaftler und Graphiker Joseph Hirsch, Emigrant von 1938, schreibt nach einem Besuch in Worms, seiner alten Heimatstadt, dem ersten Besuch nach 40 Jahren „the only place, where there was hfe was the Jewish cemetery m Worms The people who live in the City die m hollow agonies The Jewish cemetery is a graveyard and a place of hfe [ ] Here those who really hved are buned “3

schritten, was er tat [ ] Fertig bis in die Gesten, dachte Irene, und so sicher, daß er mit 25 mitten im Leben steht“ (R 125) Stefan ist ihr von vornherein fremd und entfernt sich im Laufe der Begegnungen noch weiter von ihr Er redet emen Jargon, der Irene abstoßt Seme Annäherun­ gen sind mechanisch Irene sagt ihm „Ich sitz hier mit Leuten zusammen, als wa­ ren sie langst weggegangen Auch du “ (R 119) Thomas ist vielleicht die für Irene interessanteste der drei Bekanntschaften Doch ist er zu ichbezogen, zu narzißtisch, als daß es zu einer Verständigung kommen konnte Die beiden sprechen verschiedene Sprachen m einem kollektiven Mono­ log Em Liebesversuch fuhrt statt zu größerer Nahe zu mehr Fremdheit

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Irene schreibt in einem Bnef an Franz „Die deutschen Witwen haben eckige Gesichter und gekräuseltes Haar wie Schnee und Stahl “ (R 162) Menschen und Dinge sind abweisend für die auf einem Bem Zugereiste Menschen und Dmge, sie selbst eingeschlossen, unterscheiden sich am Ende nicht mehr voneinander Die Zufallsbekanntschaft Franz ist Irene am nächsten, als er stockbetrunken von ihr am Urlaubsort - vor der Ausreise - aufgefimden wird Als sie ihn im neuen Land wiedertnfft, ist em Verstehen nicht mehr möglich Seme gesteuerte, eingeschhffene Haltung ist es, die Irene auf Distanz halt „Franz war 10 Jahre junger als Irene Doch seine äußeren Regungen waren so präzise, daß sie alles uber3 Ofrat 1987, S XIV

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Dann lag Irene nackt neben Thomas im Bett Heiße Wellen unter der Haut, em verwässert rotes Kondom [ ] Irene zog langsam ihre Kleider an, wollte sich erinnern, wie sie nackt geworden war Sie roch nach Schweiß und halb verduf­ tetem Parfum Und sie wollte, es gäbe sie nicht (R 134) Es bleibt zu fragen, inwieweit Irenes seelische Disposition beim Mißlingen dieser Beziehungen mitwirkt Irene selbst entzieht sich jeglicher Vertraulichkeit, jeglicher ‘Berührung’ im Zuge alltäglicher Begegnungen, hat Vorbehalte und Angst, sich ‘gemein’ zu machen Auf einer Berliner Straße merkt Irene, daß sie von einem Mann emgeholt wird Irene wollte den Mann an sich vorbeilassen, er überholte sie nicht [ ] Sie horte das Atmen des Mannes Und daß er mit ihr im Gleichschritt ging Sie wechselte den Schntt [ ] Sie spurte, daß der Mann im selben Rhythmus die Arme be­ wegte wie sie Sie bewegte die Arme nicht mehr [ ] Es ist, wie im Bett hegen und sich schlafend stellen, dachte Irene Und es ist, wie aus Angst etwas er­ zwingen Noch em paar Schritte, dachte Irene, und der Mann wird den Ein­ druck haben, daß ich zu ihm gehöre Irene ging, um mcht zu dem Mann zu ge­ hören, um die Ecke (R 63) Kinder smd Irene unheimlich, sie sagt, weil sie noch wuchsen In Wirklichkeit ist es wohl deren animalische, irrationale Aggressivität, die sie in Schrecken ver­ setzt

Irene wich den Kindern aus Sie überquerte Straßen an verbotenen Stellen, um ihnen nicht zu begegnen Die Kinder merkten Irenes Angst Sie riefen hinter ihr her Meist verstand Irene mcht, was sie nefen Doch der Tonfall war überlegen [ ] An emem Sonntagnachmittag war die Straße leer wie eine Kirche Vor ei­ nem Toremgang spielten Kinder Irene konnte nicht ausweichen und hatte das Gefühl, eme verbotene Stelle zu betreten Die Kmder spielten wie stumme Fi­ guren Irene ging rasch Spurte, wie ihre Wangen heiß wurden Nutte, sagte der Junge Zwei Mädchen hoben ihre Puppen vor das Gesicht und lachten Irene blieb stehen Sah unter den Rocken der Puppen seidene Höschen Lieber eme

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Reisende auf einem Bein - Em Mobile

Nutte als em Faschist, sagte Irene und erschrak Der Junge war nicht alter als fünf (R 153) Irene, die den Boden unter den Fußen verliert und unsicher auf einem Bem in fremder Umgebung landet, stoßt nicht nur auf das Starre und Abweisende der Personen und Dinge, sie wird sich auch selber fremd, steht einer anderen Irene samt ihren Sätzen gegenüber Dies geht bis zu Dissoziationserschemungen und verdinglichter Wahrnehmung des eigenen Körpers Auf den Paßfotos blickt sie eine fremde Irene an (R 18 bzw 50) Der eigene Körper wird ihr zum Fremdkör­ per „Und es war eine fremde Hand auf der Haut, als Irene sich ms Gesicht griff Und das Gedärm, Irene sah fast ihr Gedärm Trug es wie em Einweckglas im Bauch Und das Herz und die Zunge, wie tiefgefrorenes Obst “ (R 122) Am Schluß der erzählten Zeit losen sich Identitäten auf, ihre eigene, aber auch die der Freunde und Bekannten In einem Akt der Imagination bringt Irene Leute zu­ sammen, mit denen sie m einem Fischlokal sitzt „Als Irene sich an den Tisch setzte, merkte sie, daß eine Frau dasaß, die so aussah, wie sie selbst Sie hatte die gleichen Gesichtszuge Doch das Gesicht als Ganzes hatte emen sonderbaren Ausdruck Es war die andere Irene “ (R 154) Auch Franz und Thomas sind in den Prozeß der Auflösung des Selbst einbezogen „Irene schaute Thomas an, dann Franz Emer hatte das Gesicht des anderen angenommen “ (R 155) Auflösungen aller Differenzierungen finden sich schließlich in einer Halluzinati­ on, die Irene das Bild der Rosa Luxemburg, das aus dem Landwehrkanal auf­ scheint, mit dem der Diktatorin Elena Ceausescu vermischen laßt (R 59) Auch Menschen und Dinge unterscheiden sich am Ende nicht mehr

Die Leere betrifft nicht Irene allein In einer Schlußvision sieht sie Scharen von Leuten, die wie in Trance reisen, an großen Bahnhofen aussteigen, zögernd in die Städte gehen, wie Gestrandete am Ufer fremder Flusse auf nassen Banken sitzen, auf Treppen unter Denkmälern ms Leere starren (R 165) Damit bekommt das individuelle Gefühl eines verlorenen Immigranten in neuer Umgebung die Di­ mension eines existentiellen Problems Es geht um eine Welt, die nicht mehr als Ganzes vorhanden ist, weil Weltentwurfe in Ost und West gleichermaßen sich ad absurdum geführt haben, so daß dem unvoreingenommenen Beobachter nur noch ubng bleibt, die Fetzen und Lumpen, Teile von Menschen und Dingen, von Ein­ drücken und Visionen zu collagieren, m Wirbel zu versetzen und sie durch dieses Arrangement vorzufuhren Exemplarisch geht es mithin um deutsche Sitten, die hellsichtigen Auges von unten wahrgenommen werden 4 Die letzten Satze ihres Buches Reisende auf einem Bem lauten „Irene lag im Dunkeln und dachte an die Stadt Irene weigerte sich, an Abschied zu denken “ (R 165) Sie findet sich also ab mit einer Situation, die sie nicht durchschaut Sie will lieber bleiben, als sich durch neuen Aufbruch oder Rückkehr noch größeren Unsicherheiten oder gar Lebensgefahren auszusetzen Insofern gleicht sie dem Mann aus Franz Kafkas Parabel von der Gefangsmszelle,5 eme Passage, die sich als Parallellekture, als Schlußkommentar zu Reisende auf einem Bem anbietet

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Das Kopfsteinpflaster lag schief Irene ging, als wäre sie em Steinhaufen, der sich aufnchtete und zusammenschmiß [ ] Zu diesen Dingen gehörte auch Franz Ja, zu den Dingen Denn mit Menschen kann man umgehen Und Irene konnte mit Franz nicht umgehen (R 141) Die Angst, ms Leere zu fallen, hat mit dem Verlust der Identität zu tun Diese Angst ist alter als das Reisen auf einem Bem Im anderen Land hatte Irene von einer Baustelle em Schild gestohlen mit der Aufschrift ‘Gefahr ms Leere zu stür­ zen’ und mit der Abbildung eines kopfüber fallenden Mannes Das Schild hing dort in ihrem Zimmer Sie hat es nicht de facto, aber in ihrem Kopf mit ms neue Land genommen Das Gefühl der Gefahr beschleicht sie, wenn sie aus dem Hotel­ fenster schaut, und sie nicht mehr weiß, wie der Fluß heißt, den sie sieht, wie ihr auch der Name ihres Hotels entfallen ist Die Erinnerung stellt sich em, wenn sie die Vergeblichkeit ihrer Sehnsucht erkennt, mit Franz vertraut zu werden Sie sagt ihm „Ich war allem abgereist und wollte zu zweit ankommen. Alles war um­ gekehrt Ich bin zu zweit abgereist Angekommen bin ich allem Ständig schreib ich dir Karten Die Karten vollgeschneben und ich leer “ (R 79)

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Es war keine Gefängniszelle, denn die vierte Wand war völlig frei Die Vorstel­ lung allerdings, daß auch diese Wand vermauert sein oder werden konnte, war entsetzlich, denn dann war ich bei dem Ausmaß des Raums, der em Meter tief war und nur wenig hoher als ich, in einem aufrechten steinernen Sarg Nur vorläufig war sie nicht vermauert, ich konnte die Hande frei hinausstrecken und, wenn ich mich an einer eisernen Klammer festhielt, die oben m der Decke stak, konnte ich auch den Kopf vorsichtig hinausbeugen, vorsichtig allerdings, denn ich wußte nicht, m welcher Hohe über dem Erdboden sich meine Zelle befand Sie schien sehr hoch zu hegen, wenigstens sah ich in der Tiefe nichts als grauen Dunst, wie auch übrigens rechts und links und m der Feme, nur nach der Hohe schien er sich ein wenig zu lichten Es war eine Aussicht, wie man sie an einem trüben Tag auf einem Turm haben konnte

Ich war müde und setzte mich vom am Rand nieder, die Fuße ließ ich hinun­ terbaumeln Ärgerlich war es, daß ich ganz nackt war, sonst hatte ich Kleider und Wasche aneinandergeknotet, oben an dei Klammer befestigt und mich au­ ßen em großes Stuck unter meine Zelle hmabgelassen und vielleicht manches auskundschaften können Andererseits war es gut, daß ich es nicht tun konnte, 4 Was Gabriele Gottle in ihrem Buch Deutsche Sitten dokumentiert, erfaßt Herta Muller

auf poetische Weise 5 Kafka 1983, S 250f

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denn ich hatte es wohl in meiner Unruhe getan, aber es hatte sehr schlecht aus­ gehen können Besser nichts haben und nichts tun

Das Land am Nebentisch. Ansätze zu einer Poetik der Entgrenzung

In der Zelle, die sonst ganz leer war und kahle Mauern hatte, waren hinten zwei Locher im Boden Das Loch in der einen Ecke schien für die Notdurft bestimmt, vor dem Loch in der anderen Ecke lag ein Stuck Brot und em zuge­ schraubtes kleines Holzfaßchen mit Wasser, dort also wurde mir die Nahrung hereingesteckt

(Astrid Schau)

Literatur Muller, Herta 1992 Reisende auf einem Bem Reinbek [R]

Goettle, Gabriele 1991 Deutsche Sitten Frankfurt aM

Kafka, Franz 1983 Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus

dem Nachlaß Hg v Max Brod Frankfurt a M Meister, Ernst 1970 Wandloser Raum Gedichte Darmstadt

Heimat / ist eine Oase hinter den Dunen der Syntax (Werner Sollner)

Die Position der Fremdheit als eine Position auf der Grenze laßt sich in den Tex­ ten Herta Mullers ganz grundlegend als struktureller Ort ausmachen, m den die erzählten Figuren eingezeichnet sind Bei aller Bedrohtheit laßt sich dieser Ort zugleich als vertrauter Ursprung von Mullers Schreiben bestimmen, und die Er­ zählung Das Land am Nebentisch fuhrt diese dialektisch abhängigen Momente beispielhaft vor Die Grenzuberschreitung Avrams, das Protagonisten, laßt sich auch metatextuell als Struktur des Textes ausmachen Die Erzählung, die bisher ausschließlich m der Neuen Zurcher Zeitung abgedruckt wurde, ist auch deshalb interessant, weil es eine Glosse von Muller gibt, die ebenfalls den Titel Das Land am Nebentisch tragt1 Als Leseanweisung fordert der gemeinsame Titel zum Vergleich der beiden sehr unterschiedlichen Texte auf, der schließlich zu einigen allgemeinen Hypothesen zum Werk Herta Mullers fuhren soll

Ofrat, Gideon 1987 Joseph Hirsch Jerusalem Thomas, Kann 1985 Sachworterbuch zur Kunst des 20 Jahrhunderts Köln, 5 Aufl

Avram, der Fremde „Er steckte das Klappmesser m die Hosentasche [ ] Den Ausweis des Fremden und das Geld steckte er in die Jacke “ (LN 41) Am Anfang der Erzählung ist Avram zum Tater geworden In einem aggressiven Akt hat er sich die Identität eines anderen Menschen angeeignet Der Text schreitet den Weg bis zu dieser Tat ab Die Donau, durch die Avram bei der Flucht aus seinem Heimatland schwimmt (LN 42), ist auf seinem Weg in die Fremdheit nur eine letzte Grenze, die er hinter sich laßt Wie in einem Film reihen sich die Bilder aus Avrams Le­ ben aneinander Der Bahnhof als Ort der äußeren Handlung, m deren Rahmen sich der Rückblick entfaltet, korrespondiert mit der Bewegung des Textes Der Bewegung eines fahrenden Zugs vergleichbar ziehen Bilder aus seinem Leben durch Avrams Kopf, er tritt quasi eine innere Reise durch seine Vergangenheit an Avram sah, was äusser ihm auf den handgrossen Photos, die lange schon in semem Kopf standen, niemand sah Avram sah das Dorf, in das er damals, bei der Geburt, aus dem Bauch einer Frau gefallen war Die Frau sagte ihm spater, er sei an einem Nachmittag geboren Er hatte sie nicht danach gefragt Auch nicht nach der Stunde und mcht nach den Minuten, die sie dazu sagte Er 1 vgl Muller 1991b, S 121-124

Astrid Schau

Eine Poetik der Entgrenzung (Das Land am Nebentisch)

wünschte ihr, als sie die Uhrzeit sagte, em zerbrochenes Gedächtnis und eine Verwechslung mit der Ankunft eines Zuges (LN 41) Avram erlebt die Stunde seiner Geburt im Rückblick als Moment der Trennung von seiner Mutter, die auch weiterhin im Text nur „die Frau“ genannt wird Er imagimert sich als von vornherein selbständiges Wesen und ignoriert so eine fhihkindhche Abhängigkeit von anderen Menschen In Juha Knstevas Untersu­ chung Fremde sind wir uns selbst heißt es „Der Ursprung ist verloren, die Ver­ wurzelung unmöglich [ ] Der Raum des Fremden ist em fahrender Zug [ ], der jedes Anhalten ausschließende Transit selbst “2 Uber die Funktion des Motives „Zug“, das im Werk Mullers immer wiederkehrt, gewahrt die Erzählung Auf­ schluß Avram wünscht sich, im Gedächtnis seiner Mutter durch einen Zug er­ setzt zu werden Das ankommende und gleich wieder abfahrende Transportmittel wird m dieser Textstelle auf sehr direkte Weise als Negation des Ursprungs ein­ gesetzt, die durch die Schilderung der Geburt ja bereits eingeleitet wurde ,,[D]er jedes Anhalten abschließende Transit selbst“ entspricht Avrams Existenzform Avram identifiziert die Mutter m einem metonymischem Prozeß mit dem Ort sei­ ner Herkunft „Wenn Avram an sie dachte, berührten sich Boden und Haut Sie war auch das Dorf Bewacht von Ruben und Mais, von Schafen, die den Sommer frassen, ohne aufzubhcken “ (LN 41) Ruben und Mais, phallisch kormotiert, las­ sen sich als Repräsentanten der symbolischen Ordnung lesen Die Verbindung von Bewachern und bewachtem Mutter-Ort erweist sich für Avram als perspek­ tivlos „Und Wege sah Avram, zwischen den Schafen und der Frau, Wege, die so zerbrochen waren auf dem Feld, dass der Irrsinn über Haut und Land ging “ (LN 41) Em bedrohliches Bild der Stagnation wird entworfen, denn zerbrochene We­ ge verhindern die Fortbewegung Wer versucht, auf diesen Wegen vorwärts zu gelangen, setzt sich nicht nur dem Irrsinn aus, die Fortbewegung endet sogar in tödlicher Erstarrung (LN 41) Emen Grund für diese Topographie der Aussichts­ losigkeit liefert die politische Lage „Es waren die Jahre der fremden Polizisten und Bürgermeister im Dorf “ (LN 41) Die eigene Ordnung ist außer Kraft gesetzt, stattdessen herrschen stalinistischer Terror und Korruption (vgl LN 41) Die Entmachtung der väterlichen symbolischen Ordnung hindert Avram daran, sich als Subjekt zu konstituieren, denn es gibt für ihn keine Instanz, mit der er sich identifizieren kann Einzig der Zug wird zu seinem Schutzraum „Um die Felder zu meiden, wo der Irrsinn über Haut und Land ging, fuhr Avram mit dem Zug in die Stadt “ (LN 41) Dieser Raum des Fremden wird ihm aber auch zum Gefäng­ nis So formuliert Muller in der folgenden Passage die Struktur der Erzählung, die identisch mit der Bewegung des Zuges ist „Er war m die Stadt gefahren, um zu

bleiben Er wollte nicht m die Stadt Er wollte nur nicht im Dorf bleiben Deshalb blieb Avram in der Stadt, weil er sich beweisen wollte, dass er bheb “ (LN 41 f) Der „Traum von der Fahrt mit dem Zug“ (LN 42) bestimmt Avrams strukturellen Ort naher „Der Mais wuchs, wahrend der Zug vorbeifuhr Weil er glaubte, m der Nacht zu stehen, wuchs der Mais, ohne sich zu schämen “3 Dieses sexuell konnotierte Bild laßt sich im Sinne der Poetik der Autorin begreifen In ihrer Poetik­ vorlesung Wie Wahrnehmung sich erfindet (TS 9-31) schreibt Muller von „der Unberechenbarkeit der Bilder des Traums“ (TS 19) Dort heißt es „Die Wahr­ nehmung, die sich erfindet, steht nicht still Sie überschreitet ihre Grenzen, da, wo sie sich festhalt “ (TS 19) Muller verdeutlicht diese entgrenzende Wahrnehmung mit emem Beispiel Als Kind habe ihr em Heiligenbild Furcht emgefloßt, weil es auf dem Bild Steine zu sehen gab, die „die Grenzen der Steine überschritten“ (TS 11) Für sie wurden die Steine zu Gurken, durch die sie sich bedroht fühlte Sie verallgemeinert diese Wahrnehmung „Das, was wir sehen, überschreitet sei­ ne Grenzen “ (TS 15) Zwar verschiebt Muller das Bild des Mais nicht m ein an­ deres Bild, sie laßt es aber eine Bedrohlichkeit entfalten, denn es überschreitet seine Gegenständlichkeit „Wie eme Uhr tickt, wuchs der Mais, frass an sich und wurde grosser “ (LN 42) Der Vergleich mit dem Ticken der Uhr verbindet den Mais in diesem paradoxen Bild mit einem weiteren, den Text konstituierenden Motiv Als die Mutter Avram die Uhrzeit seiner Geburt nennt, wünscht er ihr em zerbrochenes Gedächtnis Uber die Negation des eigenen Ursprungs hinaus laßt sich diese Textstelle auch als Weigerung Avrams lesen, sein Leben m em meßbares zeitliches Kontinuum eingeghedert zu denken Das Messen der Zeit ist eines der Wahmehmungsraster, mit dem der Mensch sich seine chaotische Umwelt ordnend gegenuberstellen kann, es ist em Element der symbolischen Ordnung Der Mais überschreitet sei­ nen Objektstatus, indem er selbst zum Handelnden wird Der Verweis auf das Ordnungsraster Zeit wirkt wie eine ms Bedrohliche gewendete Verhöhnung ob­ jektivierender Wahmehmungsformen „Man sah ihm nichts an“ (LN 42), lautet der folgende, auf den Mais bezogene Satz Nur m Avrams besonderer Wahrneh­ mung überschreitet der Mais seine Grenzen4 Es ist, so Muller m ihrer Poetik, ,,[d]iese Art Empfindsamkeit, durch die man, geht man ihr nicht aus dem Weg, von emem Augenblick zum anderen den willkürlich abgesteckten Weg der Norm verlaßt “ (TS 13)

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2Knsteva 1990, S 17

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3 LN 42 Vor der Schilderung des Traums heißt es, Avram offne die Augen, nachdem die

Traumsequenz beendet ist, schließt er sie wieder Dem Traum wird so eine gesteigerte Erkenntnisquahtat zugeschneben 4 Vgl TS 12 „Es war wie gewöhnlich von außen hat das keiner gemerkt “

Astrid Schau

Eine Poetik der Entgrenzung (Das Land am Nebentisch)

Das ist em Zustand, der das Subjekt im höchsten Maße bedroht, weil er es der Gefahr der Entgrenzung aussetzt5 Avram geht dieser Wahrnehmung zwar „nicht aus dem Weg“, doch ist er vor emem Identitatsverlust geschützt, denn er halt sich im Inneren des Zuges auf ,,[W]eil alles so unsicher [ist]“ (LN 42), weiß er zwar nicht mehr, wo oben und unten ist, aber letztlich übersteht er das Erlebnis „Von Zeit zu Zeit jagte das Feld einen Stengel hinaus unter die Schienen Der Zug fahr darüber “ (LN 42) Nur seine Position der Fremdheit schützt Avram vor der Ent­ grenzung, denn der Zug als sein Ort zerstört die ihre Grenzen überschreitenden, also die sich der Ordnung entziehenden Dinge Muller macht diese Haltung hier m ihrer ganzen Destruktivität der Außenwelt gegenüber sichtbar Auf einer weiteren Ebene wurde der Mais bereits als Signifikant emgefahrt, der die symbolische Ordnung repräsentiert Eine Interpretation des Traumes in die­ sem Sinn ergibt eine Verschiebung Von emem einzuordnenden und bedrohlichen Gegenstand wird der Mais zur Ordnung selbst und ist der sich selbst auffressende und dadurch wachsende Mais als die Ordnung zu deuten, die sich selbst zerstört, indem sie ms Bedrohliche wachst Nicht die Dinge gefährden dieser zweiten Les­ art zufolge das Subjekt, sondern die symbolische Ordnung, m die Avram ja nicht vollständig integriert ist Dieser Gedanke findet sich auch m Mullers Poetik „War es doch [ ] die Angst vor und in emem übersichtlichen Gefage“ (TS 15), heißt es m ihren Ausfahrungen zu der „erfundenen Wahrnehmung“ Bedrohlicher als die ihre Grenzen überschreitenden Dinge selbst sei für sie als Kmd der Ge­ danke gewesen, ihre abweichende Wahrnehmung nicht verbergen zu können „Meine größte Arbeit war, das, was im Kopf stand, zu verstecken Das Tauschen war die Arbeit meiner Kindheit “ (TS 13) Beide Interpretationen des Traumes sind schlüssig, und gerade diese Doppeldeu­ tigkeit laßt im Text aufschemen, wovon er spricht Die Passage spiegelt Avrams strukturelle Position, deim seine erträumte Verortung im Raum des Zuges legt ihn auf einen heiklen Grat zwischen Ordnung und Entgrenzung fest Quält diesen Fremden die Angst vor dem Verlust der Unterscheidungen und damit dem Verlust der Identität, auf die letztlich die Angst vor den ihre Grenzen überschreitenden Dingen zuruckzufahren ist, oder treibt ihn die Angst vor der symbolischen Ord­ nung um, die for ihn eine Ordnung der Fremden ist9 Der Text gibt auf diese Frage keine Antwort, oder besser gesagt - gerade die Doppeldeutigkeit ist seine Ant­ wort Der transitorische Raum, auf den Avram festgelegt wird, laßt sich nun als „Übergang“ beschreiben, wie Mana Kubhtz-Kramer ihn definiert

Die Metapher des Übergangs und der Schwelle für einen Raum, der zu minde­ stens zwei weiteren Bereichen Zugang hat, verrückt nicht nur die Vorstellun­ gen von einem räumlichen Gefüge, das im Dnnnen-Draußen-Denken befangen ist, sie verändert auch kulturelle Anordnungen und Konfigurationen sowie Be­ griffe und Schreibweisen 6

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Aus der Haltung des Fremden heraus gelingt Avram die Flucht

Der Mais wuchs nicht, auch als Avram mit dem aus der Schule durch das Feld gmg [ ] Der aus der Schule ging mit beiden Augen auf der Karte Zwischen Himmel und Gras ging der Irrsinn über Haut und Land Da fahr keme Stra­ ssenbahn [ ] Avram stolperte nicht Er stürzte nicht Er schnitt sich nicht Avram tat nur, was der Wind tat (LN 42) Muller konzentriert die Motive des Textes m dieser Passage Avram benötigt den Raum des Zuges nicht mehr, um sich vor der durch den Mais repräsentierten Ordnung und gleichzeitig vor seiner abweichenden Wahrnehmung zu schützen, denn die Ordnung strukturiert das Grenzgebiet nicht Vielmehr geht m emer Pas­ sage, die den Unterschied zwischen den Bewohnern und ihrem Ort nivelliert, „der Irrsinn über Haut und Land“ Die Bemerkung, daß keme Straßenbahn fahrt, ver­ deutlicht, daß Avram den Raum des Zuges nicht mehr braucht, um sich zu schüt­ zen Zwei entgegengesetzte Arten der Orientierung werden vorgestellt Avrams Be­ gleiter bewegt sich m der symbolischen Ordnung Indem er mit den Festschrei­ bungen emes Planes operiert, ignoriert er, daß er sich an emem offenen Ort befin­ det 7 Die Folge ist, daß er die Grenzuberschreitung nicht überlebt8 Wahrend er versucht, Tone auf eine Bedeutung festzulegen, überlaßt sich Avram dem Gleiten der Signifikanten „Er horte einen Schuh und em Gewehr und einen Hund Hinter der Ferse em fressendes Schaf “ (LN 42) Avram gelingt die Flucht, weil die Un­ bestimmtheit des Ortes mit semer Fremdheit korrespondiert Auch hier bleibt Avram jedoch, um sich selbst mcht zu verlieren, letztlich wieder auf eme Grenze angewiesen Daß letztlich auch der Fremde auch eine Struktur benötigt, um sich orientieren zu können, formuliert Muller in Wie Wahrnehmung sich erfindet „Das Gedärm unter der Oberfläche ist überall Auch wenn em Ort leer wäre, wenn er aus nichts bestünde, wäre er voll davon Er wäre nicht einge­ grenzt, er wäre grenzenlos, solch em Ort, und man hielte ihn erst recht nicht aus “ (TS 18)

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Kubhtz-Kramer 1995, S 106

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5 So heißt es etwa, daß „die Farben aus den Ackerwinden gerinnen wollten in Avrams Augenweiss “ (LN 42)

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vgl LN 41 „Wenn der Wind weht, sind die Orte offen“ g

vgl LN 42 „Beim [ ] Fliehen ertrunken war der aus der Schule “

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Ganz ohne Gefüge ist das Subjekt verloren, denn es wurde einem Prozeß unend­ licher Entgrenzung erliegen Genau wie em Ort durch seme Grenzen definiert ist, es also einen Ort, wie Muller ihn beschreibt, gar nicht geben konnte, beruht auch Identität auf Differenz Der Fremde entzieht sich der symbolischen Ordnung nur partiell Letztlich bleibt seme Existenz und Artikulation auf die Struktur, also auch auf die Grenze angewiesen9 Der begrenzte Raum des Zuges als Avrams Ort spricht das aus 1011Daß Avram auf die Grenze bezogen bleibt, wird besonders deutlich bei seiner Flucht Der Ort, der Unterschiede nivelliert, ist gerade durch den Fluß als topographische Grenze zweier Lander definiert Derjenige, der die Auflösung der Unterscheidungen aushalt, ist als einziger dazu m der Lage, die Grenze zu überschreiten Auf diese bleibt er weiterhin bezogen, denn nur sie weist ihn als Fremden aus Er ist einer, der von jenseits der Grenze stammt - eme Definition, die auf Fremde im allgemeinen zutrifft Gegen Ende der Textes beschreibt Muller einen Mann, m dem Avram sich erst allmählich erkennt „Der Mann war so fremd, so ähnlich, dass Avram ihn kann­ te “ (LN 42) Das, was ihm an dem Mann vertraut ist, sind die Spuren der Unter­ drückung, die er in anderen Gesichtem beobachtet hat So sind etwa „der zer­ schnittene Apfel im Gesicht und die Pupille im Auge, die Ruhe spielt“ (LN 42) em ständig wiederkehrendes Motiv des Textes Langsam scheint auch em Bezug zu seinem Opfer auf, dem Mann, dessen Identität er sich aneignet11 Dieser Mann ist für Avram schon zu Beginn des Textes em Fremder Das wird m einem rätsel­ haften Satz aufgenommen „Vielleicht schnarrte em Vogel oder war es der Frem­ de “ (LN 42) Em „Vogel“ kommt vorher nur an einer Stelle vor Nachdem Avram die Donau durchschwommen hat, sieht er namhch in dem Land, das er verlassen hat, em Schiff, auf dessen Deck „em wmzig zerblasener Vogel“ (LN 42) sitzt Das Schiff laßt Avram begreifen, daß er sich jenseits der Grenze seines Heimat­ landes befindet Metonymisch erinnert nun der Vogel wieder an dieses Land

Avram erfahrt sich gleichzeitig als getrennt von dem Fremden und von seinem Herkunftsland Seme Reaktion darauf ist, daß das Auge tränt - er trauert um das Land, das ihn weggejagt hat Erst jetzt, wo es für ihn unerreichbar geworden ist, fühlt er sich an das Land gebunden und leugnet seme Herkunft nicht mehr Seme äußere Situation entspricht nun seiner inneren Fremdheit In dem Moment, in dem er nach dem Auge greift, erkennt er m dem Bild des Fremden sein eigenes Spie­ gelbild 12* In dem Essay Wie Erfundenes sich im Rückblick wahrnimmt denkt Muller über Selbsterkenntnis nach

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9 vgl TS 123 „An den Orten, an denen ich bin, kann ich nicht fremd im allgemeinen sein Auch nicht fremd m allen Dingen zugleich Ich bin [ ] fremd in einzelnen Dingen “ In dieser Passage aus der Glosse Das Land am Nebentisch formuliert Muller einen noch weitergehenden Zweifel an dem Gedanken, daß die Differenz, also die symbolische Ord­ nung, dem Subjekt verloren gehen konnte Letztlich ist Fremdheit nur em graduell abwei­ chender Zustand Die Nahe zu oder die Feme von der symbolischen Ordnung ist an ein­ zelne Unterscheidungen gebunden, die entweder vom Subjekt getragen werden oder de­ nen es fremd gegenüber steht 10 Die Bewegung des Zuges verlauft ja auch durchaus in geregelten Bahnen, ist sie doch an die Schienen gebunden 11 Vgl LN 42 „der Daumen, von dem am Bahngleis“ oder „die Stirn von dem aus dem Ausweis “

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[Der] Blick kann nur m der Metapher nach innen gerichtet sein [ ] Auch, wenn wir uns aufs Innere beziehn, begreifen wir die Ränder nur, weil wir sie mit Äußerem veibinden Auch, wenn wir über uns selbst nachdenken, denken wir über uns im äußeren Zusammenhang nach (TS 39) Diese Überlegung laßt sich auf Avrams Situation übertragen Erst der fremde Kontext fuhrt ihn zur Selbsterkenntnis und zum Selbstverlust Sem Blick in den Spiegel laßt ihn die eigene Gestalt als besetzten Körper wahmehmen, in den sich die Diktatur deformierend und normierend eingeschrieben hat (auch hier laßt sich unter anderem der „zerschnittene Apfel“ anführen) Doch macht dieser auch sein Verbrechen beredt „Wer sich selber nie begegnet, wer den Spiegel hegen laßt, hat Angst davor, wie er m der Wahrnehmung der anderen gesehen und erfunden wird “ (TS 55) In diesem Sinne laßt sich Avrams Blick m den Spiegel lesen Er nimmt sich als einen Anderen wahr Nicht nur die Spuren der Unterdrückung hin­ dern Avram daran, sich als Einheit zu erleben Er ist auch der Fremde, sein Opfer, dem er die staatsbürgerliche Identität in Form des Ausweises genommen hat Er ist der Unterdrückte und er ist der Tater, aber noch ist er auch jemand anderes namhch der Beobachtende jenseits des Spiegelbildes Am Ende aber heißt es „Avram ging durch seinen Augapfel im Spiegel wie em Dieb und em fressendes Schaf “ (LN 42) Der „Augapfel im Spiegel“ beobachtet nun ihn - die Perspektive ist umgekehrt Eme nahezu identische Formulierung findet sich in Mullers etwa zeitgleich entstandener Poetik „Wer den Schrecken vor sich selbst nicht mitnimmt auf die Flucht, der geht durch die Augapfel der anderen wie em Dieb “ (TS 55) Der Preis für den zu spaten Blick in den Spiegel ist, daß Avram verschwin­ det Er knecht durch einen Augapfel m sein Spiegelbild hinein, und existiert nur noch als sein imaginäres, ganzheitliches Ich, wie deformiert auch immer, in der symbolischen Ordnung Dieser Vorgang laßt sich in Jacques Lacans Terminologie fassen In bezug auf das Spiegelstadium bezeichnet er die enthusiastische Identi­ fikation des unselbständigen Kleinkinds mit seinem Spiegelbild als „die symboh12

Vgl LN 42 „Und es war sein Auge Und seine Nase, eckig und blau, und die des Fremden im Ausweis “

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sehe Matrix [ ], an der das Ich (je) in einer ursprünglichen Form sich nieder­ schlagt, bevor es sich objektiviert in der Dialektik der Identifikation mit dem an­ dern“ 13 Lacan fuhrt dies wie folgt aus

es auch in diesem Text um Fremdheit geht Ort der Handlung ist wieder em Bahnhof, genauer gesagt em Bahnhofscafe, in dem nun allerdings em an Avram erinnernder Fremder beobachtet wird Auffällig ist, daß sowohl der Ort, an dem sich das Cafe befindet (die Stadt Wien), als auch das Land, aus dem der Fremde kommt (Rumänien), genannt werden Dagegen aber bleibt der Fremde selbst na­ menlos Die Begegnung wird von vomherem in einem transitorischen Bereich angesiedelt, denn der Text beginnt mit den Worten „Zwischen den Zeiten der Zuge“ (TS 121) Sowohl das Ich16 als auch der Fremde befinden sich auf einer Reise Die Leser kennen lediglich den Ort des vorübergehenden Aufenthalts, an dem die fluchtige Begegnung stattfindet, und das Ziel oder immerhin die Richtung des Fremden Indem Muller die Stadt Wien als am weitesten östlich gelegene Metro­ pole der westlichen Hemisphäre wählt, siedelt sie die Begegnung an der Grenze von West- und Osteuropa an Muller bemerkt em „Schaukeln und Rauschen der Geschwindigkeit“ (TS 121) an dem Fremden Er stellt sich ihr also zunächst als Reisender dar, der an keinen Ort gebunden ist Dann jedoch identifiziert sie sich zunehmend mit ihm

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Aber von besonderer Wichtigkeit ist gerade, daß diese Form vor jeder gesell­ schaftlichen Determinierung die Instanz des Ich (moi) auf einer fiktiven Lime situiert, die das Individuum allein nie mehr ausloschen kann, oder vielmehr die nur asymptotisch das Werden des Subjekts erreichen wird, wie erfolgreich im­ mer die dialektischen Synthesen verlaufen mögen, durch die es, als Ich (je), seine Nichtübereinstimmung mit der eigenen Realität überwinden muß 14

Genau diese Lime überschreitet Avram, wenn er m sein Spiegelbild emtntt Er loscht sie aus, doch mit dieser letzten Grenzuberschreitung erlischt auch sein ,je“ Indem er schließlich sein Spiegelbild, die Verkennung seiner selbst, erreicht, verliert er sich vollends Mullers Formulierung von den „Augäpfeln] der ande­ ren“ verweist auf einen weiteren Aspekt Für Avram ist sein Spiegelbild von vornherein das Bild eines anderen Die Identifikation mit diesem nimmt so für Avram die Identifikation mit dem anderen, von der Lacan schreibt, vorweg Auch dieser Schritt der Verkennung wird so m Mullers Text reflektiert Sie laßt sich darauf zuruckführen, daß Avram sich nicht mit seiner Erscheinung auseinander­ setzt Avram verschloss sich Auch ihm wuchsen die Stoppeln im Gesicht und der zerschnittene Apfel Und der blinde und sehende Blick wuchs auch ihm Das Auge spielte Ruhe des Kems im Gehäuse und lief m die Schlafe vor Angst Avram wollte nichts andern Er wusste sogar, das musste so sein [ ] Avram wollte nur eines, er wollte es meiden 15

So flieht er vor seinem imagimerten Bild, also vor sich selbst Das, was ubng bleibt, das m den Spiegel blickende Ich, wird zum Opfer dieser Fluchtbewegung Sem Spiegelbild holt ihn em Die Glosse Das Land am Nebentisch „[ ] hmterm Hauptbahnhof / kommt er / der Mann, der immer so / aussieht, / als hatte er / eine Schnecke / ohne Haus / im Gesicht“ (TS 120) Dieser Mann, den Muller in einer Collage beschreibt, die dem in Der Teufel sitzt im Spiegel abge­ druckten Essay Das Land am Nebentisch vorangestellt ist, konnte Avram sein Em Gesicht fallt dadurch auf, daß es unbehaust wirkt Die Collage deutet an, daß

13 Lacan 1973, S 64 14Ebd 15 Muller 1991a, S 41

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Nicht das einzelne an dem Mann war so fremd, daß ich es kannte Es war das einzelne aufeinander bezogen, was sich mir heiß hinter die Schlafen legte die Armbanduhr und die Socken, die Hand auf der Stirn und der Hemdkragen, der Knopf an der Jacke und der Rand der Kaffeetasse, der Scheitel im Haar und der Absatz des Schuhs (TS 122) Avram blickt in einem Bahnhofscafe in den Spiegel Die Passage weicht kaum von der oben angeführten Schilderung ab „Der Mann war so fremd, so ähnlich, dass Avram ihn kannte Nicht den Scheitel, nicht den Knopf, nicht den Absatz am Schuh Nur wie sich der Scheitel auf den Knopf bezog und der Knopf auf den Absatz des Schuhs “ (LN 42) In beiden Texten leitet Muller die (Selbst)begegnung mit einem Paradoxon em Etwas ist so fremd, daß das beobachtende Subjekt es kennt Es erkennt sich so im Spiegelbild oder im Fremden wieder Dieses Fremde wird nun an die Herkunft gebunden Muller berührt die Begegnung mit dem Unbekannten ganz persönlich, legt es sich ihr doch „heiß hmter die Schlafen“ Dann erfahrt sie, was sie schon weiß Der Mann kommt aus ihrer Heimat, aus Rumänien Auch bei Avram ist es die ms Gesicht eingeschriebene Erfahrung der Diktatur, die ihn sem Spiegelbild 16 Weil es sich um einen Text handelt, der zwar eine Begebenheit schildert, aber doch stark an das beobachtende Subjekt (nämlich Muller) gebunden ist und ungefähr zur Hälfte aus allgemeinen Reflexionen über Fremdheit besteht, kann in diesem Fall m E vom Ich auf die Autorin geschlossen werden

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wiedererkennen laßt Die Herkunft ist nur für Eingeweihte erkennbar, denn sie besteht ausschließlich in den Relationen, die der Beobachter herstellt Die De­ tails, die Muller bei dem Fremden ms Auge fallen, bilden keine Einheit17 Nur sie selbst als Beobachtenn kann einen Zusammenhang konstruieren, der auf die ge­ meinsame Herkunft verweist Gerade das Unzusammenhangende macht den Verweischarakter der Personen aus Aus Rumänien zu stammen bedeutet nicht, sich auf eine identitatsstiftende Heimat zu beziehen, sondern durch die Herkunft fragmentansiert zu sem Die Fragmentansierung zu dechiffrieren, bleibt denen vorbehalten, die die Herkunft teilen „em ganzes Land hmg an emem Menschen Em ganzes, mir bekanntes Land, saß am Nebentisch Ich hatte es sofort wiederer­ kannt “ (TS 122) Die metonymische Formulierung, das Land sitze am Nebentisch, erstaunt, denn die Begegnung mit diesem Land als Konfrontation mit der eigenen Herkunft wird ja als verunsichernd geschildert Gefällig beigeordnet verliert es m diesem dimi­ nutiven Bild nun die Bedrohlichkeit, denn vor dem, was am Nebentisch geschieht, muß sich der Besucher eines Bahnhofcafes gewöhnlich nicht furchten Em Ne­ bentisch ist nur em Tisch unter vielen, die alle einander gleichgeordnet sind Be­ unruhigend bleibt allerdings, daß Muller m dem Fremden das Land seiner Her­ kunft erkennt, daß der Fremde sich also nicht von seinem Ursprung befreien kann, was Muller dann auch fur sich selbst als Problem kennzeichnet Der Bezug zwischen Unzusammenhangendem ist für die Beobachterin immer herstellbar, der Fremde kann sich ihrem Blick nicht entziehen Auch sie selbst muß sich nun fra­ gen, ob ihre Herkunft an ihrer Erscheinung ablesbar ist, denn die Begegnung konfrontiert sie mit ihrer eigenen Fremdheit Das Land, das am Nebentisch sitzt, prägt auch Mullers Erscheinung Sie kann sich nur mit emem Bild von diesem abgrenzen, dessen Fragwürdigkeit präsent bleibt Das wird in dem Avram-Text noch deutlicher

Konstruktion hier schief, weil eigentlich invertiert Muller gelangt durch eine groteske Umkehrung der Relation zu dieser Formulierung Sie setzt nicht, was nahelage, das Land, sondern den Tisch als Fixpunkt - noch dazu einen Tisch, der in Bewegung ist Da sie das Möbelstück in dem Land verortet, das Avram verlas­ sen hat, bedient sie sich eines grammatikalischen Regelbruchs, denn „m“ be­ zeichnet eme entschließende Relation, wahrend die Präposition „am“ nahelegt, das Land sei an den Tisch angelagert Die Äußerung Avrarns laßt sich daher nur als Versuch lesen, sich zu distanzieren und sich selbst zu schützen Die Bedro­ hung, die von dem tödlichen Land ausgeht, und Avrams Bemühung, es in Gedan­ ken zu verharmlosen, smd im letzten Satz der zitierten Passage zusammengefaßt Außerdem laßt sich das Bild vom „Land am Nebentisch“ m diesem Zusammen­ hang als Suche Avrams nach einem eigenen Ort lesen, weil em „Nebentisch“ auf den Tisch verweist, an dem das diese Relation aufstellende Subjekt sitzt Indem dieser „Tisch“ nun im Text nicht genannt wird, deutet die Erzählung an dieser Stelle zugleich die Ortlosigkeit Avrams an Mullers Bedürfnis, sich von ihrer Heimat zu befreien, artikuliert sich in dem „Wunsch, auf den Mann zuzugehen und einen Satz zu sagen - und nicht mehr hinzusehen und sofort wegzugehen “ (TS 122) Doch sie weiß, daß das nicht ge­ lingen kann - es entsteht der „Eindruck plötzlich, daß ich nicht mehr in mir selber sitzen, und aus mir selbst schauen, und mit mir selber weiterfahren mochte “ (TS 122) Das fahrende Ich, das Grenzen überschreitet, muß einen Raum unberührt lassen Seme Herkunft, die Angst der Unterdrückten, tragt es immer mit sich Im Wunsch, den eigenen Körper zu verlassen, wird die Grenze präsent, die das Ich nicht überschreiten kann Aus seinem Körper kann es nicht austreten Dem Ge­ fühl des „Heimweh[s]‘‘ stellt sie die „Angst, daß man jemand war, den man nicht kannte“ gegenüber (TS 123) Sie nuanciert dies als „Angst, daß man jemand ist, den man selber von außen nie sieht Oder Angst, daß man jemand werden konnte, der genauso wie em anderer ist - und ihn wegnimmt “ (TS 123) Daß Muller hier das Verb „sein“ m verschiedenen Zeitformen benutzt, verdeutlicht, daß um Identität immer wieder neu gerungen werden muß Sie wird hier nicht begriffen als em sicherer Standpunkt, auf den sich das Individuum besinnen kann Die Angst vor dem Identitatsverlust geht mit der Angst vor der eigenen Herkunft ein­ her Daß sie sich selbst nie zum Objekt werden kann, indem sie sich etwa von außen betrachtet, wird Muller zum Problem Die Fragmentansierung, von der sie den Fremden aus Rumänien geprägt sieht, kann auch ihre eigene Zerstückelung

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Avram stand am anderen Ufer Das Schiff fuhr in dem Land, aus dem er ge­ kommen war Auch der Stuhl und der Tisch Das Land am Nebentisch, sagte Avram zu sich Es zerrte an ihm, ubers Wasser hin an seinem Verstand Ihn hatte es weggejagt Und den aus der Schule ertrankt Der aus der Schule war unter dem Land am Nebentisch (LN 42) Entwickelt sich m dem Text aus dem Band Der Teufel sitzt im Spiegel das Bild vom Land am Nebentisch aus der geschilderten Cafe-Situation, in deren Zusam­ menhang der Fremde metonymisch auf das verlassene Land verweist, so wirkt die 17Avrams Selbstbegegnung wirkt im Vergleich weniger schroff, weil der Bezug von

Scheitel, Knopf und Absatz durch einen musternden Blick vom Kopf bis zum Fuß her­ gestellt wird und so der Eindruck einer Ganzheit der betrachteten Person bestehen bleibt

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sein So bestreitet sie, daß man mit einem Ort verbunden sein kann 18 Wenn das unter diesen Bedingungen „em Unglück ist, dann ist Fremdsem Unglück Sonst nicht “ (TS 123) Fremdsein als Fremdwerden ist hier Fluchtstrategie, der einzige Ausweg aus tödlicher Bedrohung - m der Avram-Geschichte zeigt Muller ihn auf Das Land am Nebentisch - der Titel wird eigentlich beiden Texten nicht gerecht und ist doch bedeutsam Die Gefahr, die von dem Land ausgeht, das Avram zum Fremden macht, die Bedrohung, die auch für die langst Ausgereiste von der Be­ gegnung mit ihrer Herkunft ausgeht - die Autonn versucht, sie klemzuhalten Der Titel bändigt die Texte, doch ist er ein Schutz, der jederzeit nachgeben konnte Das weiß Muller, die an anderer Stelle die Befürchtung äußert, daß die Satze „m meiner Abwesenheit sich [ ] selbst vor sich hindeuten “ (TS 46)

Satz verstehen ,,[E]s ist mir jedesmal, als lese ich die Uhrzeit an meiner Kehle ab “ (TS 124) Die Uhrzeit an der eigenen Kehle abzulesen heißt auch, die Grenze zwischen sich und den Objekten nicht mehr ziehen zu können Die Fremde ist den Dingen ausgeliefert Dieses Element prägt die Schreibweise der Autonn So fehlt etwa dem Kind, aus dessen Perspektive Niederungen geschneben ist, em Raster, um sich vor der Welt zu schützen Die „Korpergrenzen“,22 so Michael Gunther in seiner erhellenden Analyse dieses Textes, sind permanent von der Außenwelt be­ droht So beschreibt die Erzählerin etwa, wie sie einen Nachtfalter zertritt

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Die Uhr ohne Zifferblatt „In einer Einkaufsstraße, da wo die Dächer aufhoren, ist eine Uhr Sie hat zwei Zeiger und em Pendel Sie hat kein Zifferblatt “ (TS 123) Muller beschreibt diese Uhr in dem Essay Das Land am Nebentisch, und sie meint, die Uhr zeige die Zeit der Menschen an, „die nirgends hmgehoren“ (TS 124) Es ist also die Uhr der Fremden Gerade das Zifferblatt verleiht aber den Drehungen der Uhrzeiger einen Smn 19 Geht man davon aus, daß der lineare Verlauf der Zeit das menschliche Leben strukturiert, dann laßt sich eine Uhr ohne Zifferblatt als Bild lesen, das den Verlust der Strukturierung des Lebens ausdruckt Em Raster, um sich m der Welt zu verorten, ist den Fremden verloren gegangen Für sie gibt es, zeitlich gesehen, nur noch eine Orientierung an der Vergangenheit20 Auch die Vergangenheit frei­ lich, das Land der Herkunft, bleibt dem Fremden für immer verschlossen So schreibt Knsteva über den Fremden „Das verlorene Paradies ist em Trugbild der Vergangenheit, das er niemals wiederfinden wird “21 Das Trugbild aber beein­ flußt die Wahrnehmung der Gegenwart und hangt unmittelbar mit dem Verlust der Wahmehmungsraster zusammen Wenn dem wahmehmenden Subjekt die Kategorien verlorengehen, mit deren Hilfe es sich die Welt gegenuberstellen kann, bedroht das seine Identität Vor diesem Hintergrund laßt sich der folgende

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Darm kroch der Ekel aus meinen Schuhen an mir hoch und legte seine Schnüre um meine Kehle, und seine Hande waren dürr und kalt wie die Hande der Al­ ten, die ich m den Betten mit Deckeln sah, vor denen man schweigend saß und betete (N 26) Gunther kommentiert dies wie folgt „Die Assoziation dieses Ekels mit Tod wird [ ] nicht nur durch das faktisch getötete Tier hervorgerufen, sondern bezieht ihre Macht ganz allgemein aus der Erfahrung einer Natur, die die Grenzen zwischen den Dingen unterminiert23 Diese Todesbedrohung, vor der sich das Kind im Gegensatz zu den Erwachse­ nen24 nicht schützen kann, formuliert Muller auch für die Fremden im Anschluß an das Bild von der Uhr ohne Zifferblatt „Die Zeit der Uhr am Himmel ist die Zeit unter der Erde “25 Mitten in emer Einkaufsstraße zeigt die Uhr die Zeit derer an, die begraben hegen (TS 123) - sie ist eine Totenuhr Den Fremden fehlt wie dem Kmd aus den Niederungen das Wahmehmungsraster Die Analyse des Motivs der Uhr in diesem Text ergibt, daß der Fremde und das Kmd strukturell gleiche Positionen im Werk Herta Mullers einnehmen Sie sind nicht in dem Maße in die symbolische Ordnung integriert wie ihre Umwelt Die Fremden haben diese Ordnung mit ihrer Heimat verloren Das ,,[i]m Augenwin­ kel“ zuckende Land am Nebentisch (TS 124) ist der einzige Bezugspunkt in die­ ser das Subjekt entgrenzenden Welt Indem die Wahrnehmung des Fremden mit dem Tod verbunden wird, erscheint seine ungeschützte Perspektive m diesem 22 Gunther 1991, S 47

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Vgl TS 123 „Zu Orten kann man nicht gehören Man kann im Stein, im Holz, egal, wie es sich fügt, doch nicht zu Hause sein - weil man nicht aus Stein und Holz besteht “ 19 Daß man für gewöhnlich auch eine Uhr lesen kann, auf der keine Striche und Zahlen als Orientierung dienen, beruht lediglich auf einer Abstraktion Das unverzichtbare Raster muß weiter mitgedacht werden, wenn man das Instrument sinnvoll nutzen will 20 Vgl TS 124 „Die Uhr zeigt nicht die Zeit meiner Armbanduhr Sie zeigt die Zeit, die schon langst vergangen ist - schon vor Jahren “ 21 Knsteva 1990, S 17

23 Gunther 1991, S 46 Vgl Gunther 1991, S 50 „In Entgegnung dieser Bedrohlichkeit bewegen sich die Er­ wachsenen in einem System von Verhaltensregeln, das der Ökonomie einer begrenzten Zweckrationalltat gehorcht In diesem System, zu dem sich ihr Weltbezug verselbstän­ digt hat, begegnen ihnen die Dinge nicht in einer relativen Unmittelbarkeit, sondern ein­ zig im Hinblick auf ihre Wirkung oder ihren Nutzen “ 25

TS 124 Bedenkt man, daß m dem zitierten Satz „Himmel“ und „Erde“ einen Gegen­ satz bilden, kann man ihn auch als Absage an eine biblische Jenseitsvorsteilung lesen

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Text ausschließlich als bedrohlich Andererseits zeigt sich im Werk Mullers im­ mer wieder, daß der Blick auf der Schwelle auch produktiv sem kann, ja viel­ leicht gerade aus der äußersten Bedrohtheit seine Kreativität gewinnt

mung in den Text emzulassen, „muß man m kurzen Takten seine Satze schreiben, die von allen Seiten offen sind für die Verschiebung “26 An anderer Stelle schreibt Muller „Der geschriebene Satz ist ein nachweisbarer Satz zwischen vielen verschwiegenen Sätzen [ ] Der geschriebene Satz muß behutsam mit dem verschwiegenen Satz umgehen “ (R 36) Wer sich in die Struktur der Sprache begibt, muß sich festlegen Die Gesamtheit der Wahrnehmung muß im Text auf Einzelheiten reduziert werden Emen Satz kann nur festhalten, wer sich auf die Differenz einlaßt Schreiben basiert darauf, Geäußertes von Ungeaußertem abzugrenzen und kann daher grundsätzlich als Gegenbewegung zu einer entgrenzenden Wahrnehmung aufgefaßt werden Diese Entgrenzungsbewegung dennoch im Text aufscheinen zu lassen, ist em literari­ sches Problem, dem sich Herta Muller mit ihren Texten stellt

Schreiben und Leben Das Schreiben wird der Fremden zum ambivalenten Akt Es ist Selbstvergewisserung und Bedrohung zugleich „Das ist der Teufelskreis ich versuche zu leben, um mcht schreiben zu müssen Und ich muß, gerade weil ich versuche zu leben, darüber schreiben “ (TS 48) Als Subjekt, das eine Position auf der Schwelle einmmmt, ist sie besonders empfänglich oder anfällig für die „erfundene Wahrneh­ mung“, denn - das zeigt das Motiv der Uhr ohne Zifferblatt - ihr sind die Wahr­ nehmungsraster unsicher geworden oder - anders formuliert - sie ist m geringerem Maß auf die symbolische Ordnung bezogen als ihre Umwelt Muller betont, daß diese Wahrnehmung nicht an besondere Orte gebunden ist „Die Städte, die Auto­ bahnen und Brucken, die Flughafen und Bahnhofe haben das gleiche Gedärm un­ ter der Oberfläche “ (TS 17) Daß sie die Stadt hier mit vier Orten des Übergangs charakterisiert, nämlich mit der Brücke, die em Diesseits und em Jenseits mitein­ ander verbindet, der Autobahn, dem Flughafen und dem Bahnhof, die auf das Reisen von einem Ort zu einem anderen und so auch auf die Fremdheit verwei­ sen, erhalt auf dem bereits entwickelten Hintergrund einen tieferen Sinn Vor al­ lem das Subjekt, das der symbolischen Ordnung als fremdes begegnet, ist der „er­ fundenen Wahrnehmung“ ausgesetzt Um diese erfundene Wahrnehmung darzustellen, muß sich Muller in die symboli­ sche Ordnung begeben Auch über Avram kann sie nur in den Strukturen der Sprache schreiben Durch em metonymisches Schreiben gelingt es der Autorin jedoch, die Verfestigungen dieser Strukturen aufzuweichen In bezug auf eme Wahrnehmung, unter der sie als Kind litt, formuliert sie im Rückblick Es war etwas verlorengegangen in meiner Wahrnehmung Ich konnte sie mcht mehr so erfinden, wie sie sich seinerzeit selbst erfunden hatte Es war damals em anderer Blick, der hatte auch mich erfunden, da ich durch ihn eine andere Person gewesen war die gröbste Masche war die feinste (TS 12) Bewußt, so laßt sich diese Passage interpretieren, kann man aus der symbolischen Ordnung nicht austreten Das auf den ersten Blick befremdende Konzept der Wahrnehmung erhalt so einen Gegensinn Solche Wahrnehmung geschieht und laßt sich mcht durch das Subjekt steuern In dem Moment, mdem sie formuliert wird, geht sie verloren Sie kann nur beschrieben, mcht aber nachvollzogen wer­ den, genauso wie Avrams Entgrenzung letztlich auf eme Grenze bezogen bleibt, also nicht allumfassend ist, und nur in den Strukturen der Sprache erfaßt werden kann oder m einzelnen Verschiebungen aufscheint Um dennoch diese Wahmeh-

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Literatur Herta Muller 1991a Das Land am Nebentisch In Neue Zurcher Zeitung, Femausgabe

Nr 283, 6 Dezember [LN] dies 1991b Der Teufel sitzt im Spiegel Wie Wahrnehmung sich erfindet Berlin [TS] dies 1992 Reisende auf einem Bem Berlin [R] dies 1993 Niederungen Reinbek [N]

Froschperspektiven Uber Eigenart und Wirkung erzählter Erinnerung in Herta Mullers „Niederungen“ In Die erfundene Wahrnehmung Annäherung an Herta Muller Hg v Norbert Otto Eke Paderborn, S 42-59 Knsteva, Juha 1990 Fremde sind wir uns selbst Frankfurt aM Kublitz-Kramer, Mana 1995 Frauen auf Straßen Topographien des Begehrens in Erzahltexten von Gegenwartsautonnnen München Lacan, Jacques 1973 Schriften Bd 1 Hg v N Haas Olten/Freiburg Sollner, Werner 1988 Besuch In Kopfland Passagen Gedichte Frankfürt aM, S 105f Gunther, Michael 1991

26 TS 19 Dieses Prinzip strukturiert etwa auch die Erzählung Reisende auf einem Bem, wo es etwa heißt „Ihre Blicke waren Schritte “ (R 47)

„Im Hauch der Angst“. Naturmotivik in Herta Müllers Der Fuchs war damals schon der Jäger (Martina Hoffmann/Kerstin Schulz) Herta Mullers Schreiben ist nicht nur von einer Poetizitat geprägt, wie sie den besonderen literarischen und ästhetischen Rang ihres Werkes nutbegrundet hat, sondern auch von der Umsetzung tangibler Erfahrungen, die sie selbst als konsti­ tutives Element ihrer Arbeit begreift Dazu gehört m erster Linie die Auseinan­ dersetzung mit dem (ehemaligen) politischen System in Rumänien, die auch Form und Inhalt ihres 1992 - nach ihrer Ausreise in die Bundesrepublik - erschienenen Romans Der Fuchs -war damals schon der Jager mitbestimmt hat Naturbilder finden sich m Mullers Texten in großer Fülle, sie brechen aber, selbst da, wo es wie in ihrem Erstlingswerk Niederungen - um Kindheitserinnerungen geht (m de­ nen Idylhsierung von Natur eher die Regel als die Ausnahme ist), mit traditionel­ len Leseerwartungen an die Beschreibung von Natur Der vorliegende Beitrag versucht, diese beiden Aspekte zu verbinden, dh die Naturmotivik m Der Fuchs war damals schon der Jager in ihrer ästhetischen Widerstandigkeit, die zugleich auch eine politische ist, zu erfassen Bevor das geschehen kann, sollen zunächst (in aller gebotenen thematischen Zuspitzung) eimge Hinweise zu traditionellen Konnotationen von Natur m der Literatur gege­ ben werden Betrachtet man die Untersuchung von Gerhard Hard zum ‘semantischen Hof des Wortes ‘Landschaft’, so fallt auf, daß diese meist mit positiven Assoziationen verbunden wird Landschaft ist demnach „weit“, „harmonisch, still, farbig, groß, mannigfaltig und schon“, sie spricht weniger den Verstand als das „Herz“, das „Gemüt“, die „Seele“ des Menschen an, sie erscheint als Sehnsuchtsraum, der zugleich Vertrautheit und Geborgenheit durch das Wiedererkennen von Geschich­ te und Traditionen, Erholung vor dem Lärm der Stadt bietet1 In diesem Sinne ist die Landschaft bzw die Natur allgemein auch in der Literatur immer wieder dar­ gestellt worden - als locus amoenus, als Refugium und Utopia Auch da, wo Na­ tur scheinbar ganz eindeutig mimetisch behandelt wird, bleibt sie doch immer auf den Menschen bezogen selbst die menschenleere Landschaft ist eine vom Men-

1 Hard, Gerhard Das Wort „Landschaft“ und sein semantischer Hof Zu Methode und Ergebnis eines linguistischen Tests In Wirkendes Wort 19/1969, S 3-14 (hier S 6f), zit nach Herles 1982, S 40

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Naturmotivik (Der Fuchs war damals schon der Jager)

sehen gesehene, em Erfahrungsraum, ist Abbild seines Verhältnisses zu ihr, da der Mensch m der Naturbetrachtung Subjekt und Objekt zugleich ist2 Obwohl der literarische Blick auf die Natur häufig eskapistische Zuge tragt,3 wä­ re es doch verfehlt anzunehmen, Natur sei in der Literatur als herrschaftsfreier Raum konzipiert Im Gegenteil Die Darstellung der Natur bedeutete lange auch eine Abbildung menschlicher oder göttlicher Ordnung Für das christliche Mit­ telalter wohnte der ganzen Welt, allen Lebewesen

mit denselben rhetorischen Mitteln geführt wird wie der gegen den „Klassenfeind“ 8 Es ist evident, daß für Autoren und Autorinnen, die unter totalitären Regimen (jeglicher Couleur) leben oder gelebt haben, der Zugang zu einer solchermaßen von der Staatsmacht okkupierten Natur nicht mehr ohne weiteres möglich ist So stellt auch Emmerich am Schluß seiner Übersicht über die Naturlynk im Faschis­ mus und wahrend der Exilzeit fest, daß, egal ob Natur als „Blut und Boden“, als „Fluchtort“ oder als „Unort-Utopie“ erscheine, die „Allgewalt des Faschismus [ ] überall spürbar [sei], selbst noch im Versuch, strikt von ihr abzusehen “9 Wenn also Natur im Schreiben Herta Mullers gestaltet wird, so kann das niemals einfach mimetisch geschehen, sondern immer nur in enger Koppelung an das Wissen um eine die gesamte menschliche Lebenswelt umfassende Herr­ schaftsstruktur Auch Passagen, die zuweilen als die bloße Abbildung realisti­ scher Erfahrungswerte erscheinen,10 lassen sich bei näherer Analyse als das Er­ gebnis eines künstlerischen Umformungsprozesses11 beschreiben Anhand der paradigmatischen Untersuchung eines innerhalb des Romans häufig verwendeten Motivs, nämlich dem der ‘Pappel’, soll nun zunächst versucht wer-

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em verborgener, geheimer, rätselhafter und nur schwer aufzuschließender Sinn inne [ ], durch den die Schöpfung auf ihren Schöpfer verwies, ihm zum Lob­ preis und von ihm zu Lehre und Mahnung, Trost und zur Warnung des Men­ schen geschaffen4 Erst im 18 Jahrhundert zerfallt dieser bis dahin kaum bezweifelte Glaube an die kosmische Ordnung und mit ihm auch die eindeutige Entsprechung von Naturbildem und ihren jeweiligen Bedeutungen Das ‘Jahrhundert der Auf­ klärung’ entdeckt die Darstellung der Natur als Mittel der Gesellschaftskritik Das natürliche, der inneren Natur des Menschen gemäße Leben auf dem Land wird zum Gegenbild des entfremdeten, lasterhaften und unnatürlichen Lebens bei Hofe5 - em Gedanke, den das 19 Jahrhundert auf die entstehenden Großstädte übertragt Die Technisierung der Welt verändert aber auch das bis dahin gültige Naturbild die jahrtausendealte Furcht und Ehrfurcht vor der Natur wird nun vom Glauben an ihre Beherrsch- und Manipulierbarkeit verdrängt6 Von dieser Auffassung scheint auch das - vor dem biographischen Hintergrund Herta Mullers besonders relevante - Weltbild des Marxismus-Leninismus ge­ prägt die Aneignung und Umgestaltung der Natur ist hier Voraussetzung des Aufbaus einer neuen, menschlicheren Welt, zu dem die Gesellschaft als Ent­ wicklungsform und somit Bestandteil der Natur berechtigt ist7 Der angestrebte Menschheitsfortschntt ist dergestalt an die Beherrschung der Natur gebunden, daß der Kampf gegen sie „mitunter gar rituelle und mystische Zuge“ annimmt und 2 Blume 1980, S 150f, ähnlich Emmerich 1981, S 77 undBohme 1988, S 16 3 Erinnert sei hier an große Erzähler des 19 Jahrhunderts wie zB Eichendorff oder Stifter, aber auch an die Vertreter der „naturmagischen Schule“ wahrend des Dritten Reichs, auf die Emmerich 1981, S 85ffhinweist 4Remitzer 1988, S 99 5 Ein sehr eindrückliches Beispiel für diese Differenzierung bietet u a Lessings Emilia Galotti 6Bohme 1988, S lOf

7 Geschichtliche Grundbegriffe 1978, S 242

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Entsprechend nennt Andrej Glazovoj seinen Aufsatz Die Natur als Klassenfeind, ähn­ lich Bathrick 1981, S 151 und 162 Glazovojs These, daß diese „rohe, mitunter geradezu rituelle Gewalt gegen die Natur typisch für totalitäre Systeme“ sei (alle Zitate Glazovoj 1992, S 54f) werden wir spater anhand einer Parallele im Umgang mit der Natur zwi­ schen dem faschistischen und dem Ceausescu-Regime belegen können 9 Emmerich 1981, S IlOf

10 Erinnert sei z B an die Schilderungen der Drahtfabrik, m der einige Figuren des Ro­ mans arbeiten Betrachtet man im Vergleich die Beschreibung einer rumänischen Indu­ striestadt bei Mandl 1992, S 156-161, so wird deutlich, daß die von Muller geschilderten Arbeitsbedingungen - laßt man die interpersonelle Ebene zunächst unberücksichtigt zumindest für einen Teil der rumänischen Industrie als eher noch gemäßigt bezeichnet werden müssen 11 Es sollte deutlich geworden sein, daß es in unserem Beitrag nicht um die speziellen ästhetischen Qualitäten der von Herta Muller m der Nahe zur Chiffrierung gestalteten Bilder geht, sondern um die Frage, was ein direkteres Aussprechen des Beobachteten unmöglich macht Neben ihrem poetischen und nahezu hermetischen Reiz besitzt die Konstruktion der Naturbilder m diesem Roman unseres Erachtens eine besondere Form ambivalenter Spannung Auch dort, wo sie scheinbar noch utopischen Gehalt besitzen, sind sie letztlich doch Ausdruck der Unmöglichkeit, dem totalitären Regime zu ent­ kommen Die Poetisierung der Sprache mag so vielleicht als ein letzter Ruckzugsort verstanden werden, der sich in seiner ausschließlich imaginativen Kraft dem vereinfa­ chenden Verständnis der Herrschenden entzieht Dieses Verfahren wird innerhalb des Romans anhand von Abis Verhör durch die Secuntate (F 147-150) offengelegt

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den, eben diesen Transformationsprozeß m Herta Mullers Text Der Fuchs war damals schon der Jager naher zu beleuchten

das Leben in ihr überschattenden Pappeln zunehmend detaillierter zu gestalten sucht,12 laßt sie auch die Überwachung durch das totalitäre Regime an Kontur gewinnen 13 So beschreibt Herta Muller die Pappeln als „grunbehangt [ ] Das Laub steht senkrecht an [ihnen] wie die Aste, man sieht das Holz nicht“ (F 9), sie sind „zum Horchen belaubt“ (F 31) Das Phänomen ‘Pappel’ verweigert sich also offensichtlich emer differenzierten Beschreibung seines äußeren Erscheinungsbil­ des und laßt sich insofern, verstreut und schwer greifbar wie es ist, am zutref­ fendsten über seine Funktion, das Horchen, erfassen Es ist auffällig, mit welcher Konsequenz die Autorin hier auf em dem Bereich der Natur zuzuordnendes Bild zuruckgreift, um em zwar hochkomplexes, aber der unmittelbaren Anschauung entzogenes Phänomen wieder beschreibbar und damit faßlich zu machen Es scheint, als führe die Erfahrung emer zwar permanent an­ wesenden, aber dennoch zu keinem Zeitpunkt konkret lokalisierbaren14 und ge­ rade deshalb um so bedrohlicheren Überwachung durch em m seiner Oppression völlig abstraktes System hier gewissermaßen in einer Gegenbewegung zu dem Versuch, „das nicht mehr Wahrnehmbare assoziativ in den Bereich sinnlicher Erfahrung zuruckzuholen “15 Damit kommt der Natur die Bedeutung eines Surro­ gats für die (in einem direkten Zugriff offenbar nicht zu leistende) Darstellung der das menschliche Zusammenleben unterminierenden Machtentfaltung des totalitä­ ren Regimes zu In gleicher Weise, wie die langen Schatten der Pappeln noch in den kleinsten Bereich des Lebens hmeinreichen, kann sich das Individuum auch

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Bereits die erste Szene des Romans präsentiert das im weiteren kontinuierlich entfaltete Grundthema Natur, selbst m der reduzierten Gestalt des sonnenuberfluteten und von Pappeln gesäumten Betondaches eines Wohnblocks, er­ scheint hier zunächst, ganz im Sinne der zuvor skizzierten literarischen Tradition, als Ort der Ruhe und Einkehr, als Fluchtpunkt vor den Begrenzungen der alltägli­ chen Lebenswelt Zwei junge Frauen hegen sommerlich-leicht bekleidet, ebenso vertieft in einige Naharbeiten wie auch in ihre eigene Unterhaltung, auf einer auf jenem Dach ausgebreiteten Decke und sonnen sich, die Idylle scheint perfekt Doch bereits nach wenigen Sätzen erweist sich dieser Eindruck als eine Täu­ schung, wobei die negative Sicht auf die tatsächlichen Gegebenheiten durch das Unerwartete dieser Desillusionierung noch verstärkt wird [U]m das Dach stehen Pappeln Sie sind hoher als alle Dächer der Stadt [ ] Und wo nichts mehr hinreicht, zerschneiden die Pappeln die heiße Luft Die Pappeln sind grüne Messer Wenn Adma die Pappeln zu lange ansieht, drehen sie die Messer von emer Seite zur anderen im Hals (F 9) Das Motiv der Pappel wird also hier, anders als man erwarten konnte, nicht m einem positiv konnotierten Sinne verwendet, also etwa als ein kühle- und schat­ tenspendender Schutz vor der Mittagshitze, sondern sie erscheinen stattdessen als etwas mit Messern Bewaffnetes, Bedrohliches Diese negative Konnotation er­ fahrt auch durch den gesamten Text hindurch keine Umwertung („Die Pappeln smd Messer, verstecken die Schneide und schlafen im Stehen“, F 193), sondern wird stattdessen sogar noch intensiviert

Die Pappeln reichen über alle Straßen, sie sind dunklei als andere Baume m der Dämmerung [ Sie] rucken in alle Str aßen vor (F 25) Pappelhcht und Pap­ pelschatten, bis die ganze Stadt gestreift ist [ ] Die Angler trauen dem ge­ streiften Sommer nicht Sie wissen, daß Pappelschatten unten das bleiben, was Pappeln oben smd, Messer (F 29) Die von den Pappeln ausgehende Bedrohung verliert hier ihre punktuelle Begren­ zung und wird so zu einem m jeden Bereich menschlichen Zusammenlebens hineinreichenden Sinnbild für das umfassende Ausgehefertsem des Individuums an das System Herta Muller verharrt jedoch nicht bei der Darstellung der alles in ihren Bann zie­ henden Omnipräsenz dieser Baume und der daran geknüpften diffusen und gerade deshalb um so mächtigeren Bedrohung sowohl des Einzelnen als auch der Ge­ meinschaft In dem gleichen Maße, wie sie die Beschreibung der die Stadt und

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12 Em Unterfangen, das - wie wir noch sehen werden - nur innerhalb bestimmter festge­ fugter Grenzen gelingen kann 13 Nur in solchen Details laßt sich eine Art Entwicklung in dem (nahezu handlungslosen)

Roman erkennen Die zahlreichen - zuweilen leitmotivartig gefugten - Wiederholungen und parataktischen Konstruktionen erzeugen, wie eine detailliertere Stilanalyse ergeben wurde, eine Atmosphäre der Monotonie und Unausweichlichkeit, die auf der inhaltlichen Ebene - in der Unmöglichkeit, dem Einfluß des diktatorischen Regimes zu entkommen wiederkehrt und somit weniger einen Kontrast als eine Ergänzung zu der zuvor bemerk­ ten Hermetik der Bilder bietet 14 Die Menschen vermögen - obwohl sie sich der umfassenden Bespitzelung durch das

System nur allzu bewußt sind - nicht, etwas anderes wahrzunehmen als die Schatten, die ihnen durch die Straßen folgen (F 22) oder die Dahlien, die hineinsehen „in Kuchen und Zimmer, in Teller und Betten“ (F 22) Sichtbar ist immer nur die Wirkung eines Vor­ gangs, die Ursache bzw der oder die Ausführenden bleiben hingegen bestenfalls sche­ menhaft So manifestiert sich auch für Adina jenes diffuse Gefühl von Bedrohung nicht an einer konkreten Person, sondern stattdessen an der zunehmenden Verstümmelung ih­ res - nicht zuletzt metaphorisch zu deutenden - Fuchsfells 15 Herles 1982, S 19

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nicht vor der Dominanz herrschender Strukturen in einen machtfreien Raum fluchten Ebenso vermag die Überwachung des Einzelnen durch die Secuntate, obwohl stets präsent, dennoch nur m wenigen Ausnahmesituationen konkret greifbar zu werden Die Pappeln „tragen keine einzelnen Blatter, nur Laub Sie rascheln nicht, sie rauschen“ (F 9) Lediglich durch die periodisch wie­ derkehrende Erfahrung der eigenen Transparenz und daraus resultierende Bere­ chenbarkeit kann man der Lückenlosigkeit des omniprasenten Kontrollnetzes ge­ wahr werden

offensichtlich em qualitativer Unterschied zwischen einer Existenz mitten im Herzen der Stadt und einer an ihrem Rand, dort, wo die von Feldern und Waldern repräsentierte Natur beginnt17 Bezeichnenderweise gibt es aber dennoch nirgendwo in diesem Roman einen Be­ reich der Natur, der als Gegenbild zur totalitären Macht fungiert und damit eine Art machtfreier Zone, einen Schutzraum vor der Macht repräsentiert Natur exi­ stiert nur noch als eine - wenn auch in unterschiedlichen Abstufungen - fiinktionahsierte

Nur an einer Stelle innerhalb des Romans beschreibt Herta Muller, wenn auch nicht das Erscheinungsbild der Pappeln selbst, so doch die an ihnen parasitär par­ tizipierenden Kreaturen etwas ausfiihrhcher, die, so der nahehegende Analogie­ schluß, jedem ‘Uberwachungssystem Pappel’ zwangsläufig mnewohnen

In den Pappeln hangen Schoten, sind weder Samen noch Frucht, schiefe Fin­ gerhute für das Ungeziefer, für Fliegen und Blattläuse Sie fallen aus den Pap­ peln und kriechen über die Zeitung Adma schiebt das Ungeziefer mit der Fin­ gerspitze in die Stimlocke des Diktators, die Fliegen kriechen dem Haar an der Ohrmuschel nach, die Blattläuse spuren den hellen Schimmer und stellen sich tot (F 30) Wenn auch die Machtmechanismen abstrakt bleiben und so eine Isolierung und damit das Verantworthchmachen einzelner Tater im ubenndividuellen ‘Rauschen des Laubs’ unmöglich zu sein scheint, so wird doch das im Schutz des Systems lebende ‘Ungeziefer’ von Zeit zu Zeit sichtbar, es fallt statt „Samen“ und „Frucht“ von den Pappeln herab, wobei sich zwei charakteristische Verhaltens­ weisen beobachten lassen entweder folgen die „Fliegen und Blattläuse“ den vor­ gegebenen Limen und Strukturen („kriechen dem Haar [des Diktators] an der Ohrmuschel nach“, F 30) und beteiligen sich so - die Analogie der Denunziation hegt hier nahe - aktiv an der Fortführung des Bestehenden - oder sie hoffen, dem System durch vollkommene Passivität zu entgehen (sie „stellen sich tot“, F 30) 16 Das Motiv der Pappel erfahrt im gesamten Text nur eine einzige, leichte Modifi­ kation „Die Pappeln vor der Schule sind eigensinnig, sie werden grün vor allen anderen Pappeln m der Stadt, schon im Marz [ ] Und im Herbst werden die Pappeln vor der Schule gelb vor allen anderen Pappeln der Stadt “ (F 59f) Es wird hier also darauf hingewiesen, daß es jenseits der unmittelbaren Grenzen der Stadt noch emige Pappeln gibt, die, wenn sie sich dem herrschenden System auch nicht gänzlich entziehen können, sich doch eine relative Selbständigkeit be­ wahrt zu haben scheinen Es besteht also im Hinblick auf die Systemdommiertheit

Die einzige Möglichkeit, sich sozusagen eine kurze Atempause vor der Okkupa­ tion durch das alles durchdringende totalitäre Regime zu verschaffen, wird auf­ gezeigt mit Hilfe des Bildes der „dem Wildwuchs überlassenen“ Baumschule (F 132) Auch hier befand sich ursprünglich genau jene Struktunertheit, welche es ermöglicht, das Vorhandene in seiner Entwicklung berechenbar und damit be­ herrschbar zu machen „Ganz unten an den Wurzeln, an den wenigen geraden Stammen sind noch Reihen zu erkennen “ (F 132) Doch von einem gewissen Zeitpunkt an wurde die Baumschule sich selbst überlassen Das Wachstum der Baume wurde nicht mehr im Dienste emer übergeordneten Zielsetzung beschnit­ ten, ihre Dynamik nicht mehr kanalisiert Die einzig erkennbare Kontinuität hegt in der Diskontinuität ,,[O]ben stehen Nadeln und Laub ineinander Verändern sich taghch Gleichgebheben über Jahre ist, daß kein Baum zum anderen paßt“ (F 132) Als besonders signifikant erweist sich die Reaktion derjenigen, die sich ihrerseits den herrschenden Ordnungsstrukturen unterworfenen haben, auf diese „Wildnis [ ], die kein Gesicht ertragt“ (F 132) und sich damit jeder Form von Festlegung und Identifizierbarkeit entzieht ,,[D]ie Kranken aus den oberen Stockwerken“ des nahe dem Wald gelegenen Krankenhauses sehen mit Hilfe eines Feldstechers den ‘Wildwuchs’ deutlich, es existieren sogar Listen, die die Benutzungszeiten des Feldstechers regeln (vgl F 132f) Offensichtlich hat also der Anblick genau jenes Bereichs von Natur, welcher zu­ vor durch die als „Waldhüter“ bezeichneten Repräsentanten der Ordnungsmacht stets domestiziert wurde und sich nun dieser Okkupation mit Erfolg entzogen hat, eine ausgesprochen aufwühlende Wirkung auf die durch den Feldstecher zugleich schreckhaft distanzierten und doch unlösbar involvierten Beobachter Nicht einer

16 Siehe hierzu auch F 151 „Daß jeder Tag und jede Nacht und die Welt sich teilt in sol­

che, die horchen und quälen, und solche, die schweigen und schweigen “

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17 Vgl hierzu auch das Bild der ,,auslaufende[n] Stadt“ (F 246)

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von ihnen scheint es je gewagt zu haben, den Wald, diese „schwarze Ecke“,18 zu betreten, sich aus ihrer, wie sie glauben, abgeschirmten und damit scheinbar si­ cheren Position hinter den Fensterscheiben der Institution in den ihnen unheimli­ chen, weil ihrer Einflußnahme entzogenen, Bereich voller „Gestrüpp, das Hals über Kopf wachst“ (F 133), hineinzubegeben Lediglich Hunde und Katzen sowie „Manner mit Frauen, die sich mitten am Tag an dunklen Stellen, oder im halbdun­ klen Abend in den Lichtungen paaren“, finden ihren Weg m den Wald, auch „vormittags Kinder, die sich vor anderen Kindern verstecken Und einander mit Grasbuscheln knebeln “ (F 133f) So wie die ohnehin jenseits aller menschlichen Ordnungsgefüge stehenden Hunde und Katzen sich im Dickicht verbergen, nutzen auch Paare die verschwiegene Dunkelheit des Waldes, um sich den alltäglichen Verhaltensmustem wenigstens temporar zu entziehen Dennoch kann der Wald nicht uneingeschränkt als eine der Dominanz des Regi­ mes gegenubergestellte, machtfreie Zone interpretiert werden, durch den Eintritt in die Natur laßt sich bestenfalls eine Loslosung auf Zeit erlangen Daß die außer­ halb des Waldes gültigen Herrschaftsstrukturen durchaus auch in ihn hmemgetragen werden können, zeigt sich - und gerade hier wird erneut die Desil­ lusionierung und Hoffnungslosigkeit m der Beurteilung der Situation deutlich - an den „Kindern [ ] auf der Suche nach Schmerz“ (F 134) So wie die Natur ihre Unschuld verloren hat, scheinen auch die Kinder die einzig auf dem Ungleich­ gewicht von Starke und Schwache basierende Welt ihrer Eltern bereits vennner-

licht zu haben Die Kinder spielen ‘Verstecken’, also genau jenes Wechselspiel von Aufspuren und sich Verbergen, von Jagen und Gejagtwerden, welches für die Erwachsenen ebenso wie das sich gegenseitig mundtot Machen schon langst sei­ nen spielerischen Charakter verloren hat („einander mit Grasbuscheln knebeln“, F 134) Nur unbeaufsichtigt vergessen sie das Versteckspiel und sind sie in der La­ ge, sich wenigstens zeitweise aus dem Sog der übernommenen Strukturen zu lo­ sen

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F 205 Es sei hier nur am Rande darauf hingewiesen, daß Sigmund Freud „das Ge­ schlechtsleben des erwachsenen Weibes em[en] ‘dark continent’ für die Psychologie“ ge­ nannt hat (Freud 1975a, S 303) Des weiteren laßt sich der als „schwarze Ecke“ bezeich­ nete Wald im Sinne Freuds „unschwer als Genitalbeschreibungen [ ] erkennen“ (Freud 1975b, S 351) Ob es sich bei dieser doppelten Referenz genau jenes Ortes der temporä­ ren Loslosung von staatlicher Dominanz auf das mit Freud gefaßte Symbol weiblicher Sexualität um ein Indiz für eine implizite Koppelung dieser beiden Bereiche handelt, soll hier nicht weiter untersucht werden, da wir uns auf eine hinsichtlich der Folgen politi­ scher Machtausubung zugespitzte Analyse beschranken wollen Es mag lediglich ergänzt werden, daß sich einer eher psychologischen Deutung der Naturbilder auch die Beob­ achtung Böhmes 1988, S 26 anschlosse, nach welcher in patriarchalischen Kulturen das Wasser weiblich konnotiert sei Wir konnten so im Motiv des Wassers ein weibliches Element sehen, das von den männlichen (phallisch aufgerichteten) Pappeln kontrolliert wird, wie wir im weiteren Verlauf anhand der Analyse des Fluß-Motivs zeigen werden (z B F 28f) Eine solche Argumentation zöge aber den Konflikt des Romans u E m ei­ nen gänzlich anderen Bereich Es wäre verfehlt, die Frauen hier eindimensional als ‘Opfer’, die Manner als ‘Tater’ zu begreifen Vielmehr erweist sich, daß die Existenz unter dem totalitären Regime letztlich alle Formen des Zusammenlebens erfaßt und - un­ abhängig vom jeweiligen Geschlecht - dominiert (siehe die Diskussion zwischen Adina und Clara, F 222f und die Bezeichnung Adinas als „Jager“, F 168)

Em weiteres, aufgrund seiner Ubiquitat und essentiellen Bedeutung für den Men­ schen besonders zentrales Naturbild in der Literatur ist das des Wassers 19 In Herta Mullers Roman erscheint es vor allem als Fluß - seltener als Pfütze (z B F 251, 263), als Wasch- oder Tnnkwasser (F 257, 43, 114) - in zwei leitmotivartig wiederkehrenden Verbindungen mit den Pappeln und als Grenze des Landes („wo die Donau das Land abschneidet“) Gleich die erste Erwähnung des Fluß­ laufs im Text wird mit den Pappeln verknüpft Der Weg neben dem Cafe lauft dem Fluß nach, der Fluß dem Weg Angler ste­ hen am Fluß, und im Wasser steht es noch einmal, das Schwarze im Auge Und glanzt / Was glanzt, das sieht / Pappelschatten fallen am Ufer die Treppe her­ unter, zerbrechen an den Kanten und tauchen nicht (F 28) Verbunden mit dem Fluß werden also zwei Herrschaftszeichen erwähnt die Pap­ peln und das Glanzen20 Innerhalb der Natur scheint lediglich der Winter einen gewissen Schutz vor der allgegenwärtigen Überwachung zu bieten „Das Wasser glanzt nicht und sieht nicht, es laßt die Pappeln allem “ (F 193) Der Preis, der für diesen temporaren, die Präsenz von Pappeln und damit von Überwachung jedoch nie ganz vergessen lassenden Schutz gezahlt werden muß, ist eine allgemeine Er­ starrung des Landes (F 218) Auch wenn der Fluß ohne die Menschen nur em „Wasserstreifen m der Stadt“ ist (F 208) und es am Rande der Stadt eme Zone zu geben schemt, wo „keme Stern­ platten, keine Banke, keme Pappeln, keme Soldaten“ mehr sind (F 284), so bleibt doch auch hier die Natur mcht sich selbst überlassen Dort, wo man keme ande­ ren offensichtlichen Zivihsationszeichen mehr erkennt, wird der Fluß zur Grenze und damit zum Instrument der Herrschaft degradiert Obwohl sich so die Erfas­ 19Blume 1980, S 153 undBohme 1988, S 13f

20 Die Fugung „Was glanzt, das sieht“ wird in diesem Kapitel anhand der Stimlocke und der Augen des Diktators eingefohrt „Das Schwarze im Auge sieht jeden Tag aus der Zeitung ins Land “ (F 27, zur Relevanz der Stimlocke siehe oben ) Die Omnipräsenz des Diktators kehrt im Roman als Glanz bzw m der Schwarze von Haar oder Augen wieder, die Ausdruck der ständigen Beobachtung sind (z B F 185, 193, 239, 257)

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sung des Menschen durch die Diktatur im Fluß widerspiegelt, wäre es doch we­ nig zutreffend, hierin eine Anthropomorphisierung der Natur zu erblicken Der Fluß wird nicht dem Menschen ähnlich, ihm werden keim menschlichen Gefüh­ le21 zugeschneben, sondern er wird von den Menschen bzw den Machthabern benutzt und von deren Kontrollapparat erfaßt Wenn der Fluß auch in keiner Weise eine Natundylle repräsentiert - sein ökologi­ scher Zustand verstärkt den Eindruck, daß hier keine ‘heile Welt’ suggeriert wird (F 30) -, besitzt er doch in gewisser Weise die Qualitäten eines ‘Fluchtortes’, denn m enger Verbindung mit dem Fluß als Landesgrenze steht der Gedanke der Flucht Die Angler, die, solange es um den innerstadtischen Fluß geht, fast immer zusammen mit ihm erwähnt werden - und so ebenfalls dem Gedanken einer Auto­ nomie des Naturbildes widersprechen -, fuhren zuerst das Thema der Flucht m den Text em, signifikant ist hierbei, daß diese m der Traumerzahlung eines der Angler durch zwei Momente verhindert wird durch sein eigenes Unvermögen der Angler kann nicht schwimmen - und durch die Allgegenwart der Überwa­ chung verkörpert durch die Secuntate-Leute, deren Beschreibung in die Erzäh­ lung des Anglers emgeruckt ist (F 44-46) Der Fluß, der als der „weiche Weg“ (F 241), das Land zu verlassen gedacht wird, scheint tatsächlich fest m der Hand der Herrschenden zu sein, so daß es „unausweichlich ist, daß die Donau das Dorf von der Welt abschneidet“22 Den Menschen, die am Rande des Flusses leben, ist jederzeit bewußt, daß die Fluch­ tenden erschossen werden, und egal, welche Vorkehrungen sie treffen, sie hören doch immer die Schüsse „als wäre em Ast abgebrochen Nur anders, ganz an­ ders “ (F 106, ähnlich F 248 ) Dennoch ist der Fluß der einzige Ort, auf den sich die Fluchthoffiiungen der Menschen konzentrieren, und sei es nur als „verbotenes Atemholen“ beim Anblick der Donau (F 185), oder als Traum Ilijes, daß die Ebe­ ne am Rand des Kasemengelandes „nachts vielleicht aus Wasser ist, gleiches, glattes Wasser, daß er fluchten konnte, er wäre schwarz wie das Ufer und die Stelle, wo er abspnngt, wurde ihn nicht sehen, und das Wasser wurde ihn tra­ gen “ (F 205)

Solche Fluchten gelingen aber nur im Traum, und es ist genau betrachtet die eige­ ne Angst, hervorgerufen durch die Allgegenwart der Überwachung, die die Men­ schen davon abhalt, sie zu wagen,23 erfahrt man doch von ihrem Gelingen nur vom Hörensagen (F 185) Der Grad der Resignation zeigt sich so auch m der Ein­ schätzung der Fluchtmoghchkeiten „Du wirst oben im Himmel em Engel mit ei­ ner Schußwunde sein [ ] oder da unten, wo das Pflaster hegt Dort wirst Du nachts den Besen reiten, die Straßen fegen in Wien “ (F 190) Anhand des Fluß-Motivs laßt sich zudem die schon häufiger konstatierte Ambiva­ lenz der Mullerschen Bilder24 noch einmal explizieren, wobei sich zugleich eine starke Beeinflussung durch archetypische Vorstellungen zeigt Der Fluß erweist sich im Kontext des Romans einerseits als ‘Wasser des Lebens’, gewissermaßen als ‘Taufwasser’, „in de[m] der ms Wasser getauchte Mensch einen rituellen Tod stirbt und auftauchend neu geboren wird“25 - was den Erwar­ tungen an eine gelungene Flucht entspräche Andererseits laßt er das ‘Wasser des Todes’ assoziieren, so daß die Donau gewissermaßen stygische Zuge annimmt Wenn sich an ihre Überquerung auch die Hoffnung auf em neues Leben knüpft, bedeutet sie doch tatsächlich - oder zumindest nach Ansicht der Figuren des Ro­ mans - den sicheren Tod In einer solchen mythologischen Ausweitung des Naturbildes ‘Fluß’ bewahrt sich das Element trotz der allgegenwärtigen Staatsmacht noch einen Rest Selb­ ständigkeit, die sich auch im Bild der auf dem Wasser treibenden Distelkissen zeigt Die Menschen im Süden des Landes (wo die Donau die Grenze bildet) se­ hen die ,,verbluhte[n] Distelkissen“ und

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wissen, daß die Donau, für jeden, der auf der Flucht erschossen wird, drei Tage em Kissen auf den Wellen hat, und drei Nachte em Glanzen unter den Wellen, wie Kerzen Die Leute im Süden kennen die Zahl der Toten Die Namen der Toten und ihre Gesichter kennen sie nicht26

Man kann dann auch eine Korrespondenz zum Verzicht auf eine tiefergehende Figurenpsychologie im gesamten Roman sehen, die Personen finden zwar ihre eigene Le­ benssituation, aber nur sehr bedingt ihre Emotionen in der Natur wieder - auch dies em Unterschied zu vielen traditionellen Naturschilderungen, in denen die Natur zum Reflek­ tor menschlicher Befindlichkeiten und Gefiihlszustande wird

23 F 206 Wie weit die Herrschaft bereits verinnerlicht ist, zeigt auch eine Geschichte des Arztes Paul, wonach ein Mann eine Axt im Kopf hatte - Zeichen des gewalttätigen Ein­ griffs der Staatsmacht buchstäblich ins Hirn der Menschen - und stirbt, als diese operativ entfernt wird, weil sein Gehirn sich schon daran gewohnt hatte (F 108f) Auch daß der Angler m seinem Traum nicht schwimmen kann, laßt sich so als Zeichen des internalisier­ ten Fluchtverbots verstehen 24 Siehe hierzu auch Eke 1991 passim

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25 Blume 1980, S 162, ähnlich Bohme 1981, S 28

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F 106 Auch das Dorf bildet, anders als es die Tradition der Naturschilderung seit dem 18 Jahrhundert meist vorsah, keinen Gegensatz zur Stadt, keinen Ort freien und selbstbestimmen Lebens, die Herrschaft scheint hier lediglich selbstverständlicher m das tägli­ che Leben eingebunden (siehe etwa F 49, 250, 269-271)

26 F 117 Der Aberglaube kennt die Distel auch als dämonische oder Seelenpflanze, deren Wuchsort anzeigt, wo ein Mord begangen wurde oder wo ein Selbstmörder begraben ist Von den Rumänen in Sudungarn ist überliefert, daß die Frauen sechs Wochen nach einer

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Naturmotivik (Der Fuchs war damals schon der Jager)

Die Distelkissen - offensichtlich nicht von den Menschen dorthin gelegt, sondern vom Fluß als Zeichen in nahezu magischer Weise transportiert - lassen diesen zu einem Doppelbild des Erinnerns und Vergessens werden27 Er halt die Erinnerung an die Toten - zumindest drei Tage lang - wach, aber er kennt nur ihre entmdividuahsierten Körper, ihren „menschengroßen Schatten“, wie es an anderer Stelle über einen Selbstmörder heißt (F 218), der gewissermaßen schon vor dem Ertrin­ ken zu dem Schatten geworden ist, in den ihn die Donau/Styx dann verwandeln wird Diese Distelkissen sind aber nicht nur Reminiszenz an die Toten, sondern auch beständige Mahnung für die Lebenden (man denke an die zuvor erläuterten Konnotationen des Glanzens), insofern gliedert sich auch dieser Akt des Erin­ nerns wieder m das allumfassende Herrschaftssystem em, dem sich nicht einmal der Himmel entziehen kann „Wer den Fluß kennt, hat den Himmel von innen ge­ sehen, sagen die Angler “ (F 39, ähnlich 40, 226) Selbst der Himmel verspncht so keine Unbegrenztheit, sondern wird in den Herrschaftsbereich eingeholt Parallel zu dem als bedrohlich empfundenen Wald ist es die magische, dem Fluß zumindest m Ansätzen Autonomie gewahrende Seite, die den Menschen in Schrecken versetzt Clara furchtet sich, m den winterlichen Fluß zu schauen, der sie hmabzuziehen scheint,28 und einer der Angler kann sein „nacktes Hirn im Wasser stehen“ sehen (F 40) Im Zwielicht der Abenddämmerung, die die glan­ zende Widerspiegelung der Pappeln verhindert, sehen die Angler im Fluß die „Kleider der Ertrunkenen“ (F 40) hier bewahrt sich der Fluß im scheinbar reali­ stischen Bild einen aberglaubisch-magischen Rest, indem er nicht Reales, sondern Imaginäres, ‘Geschautes’ zeigt Hoffnung aber transportiert der Fluß für die im „Hauch der Angst“ (F 46) lebenden Menschen nicht Er bleibt eher „Flut des To­ des“ als „Quelle des Lebens“29

per30 So sind die immer wiederkehrenden „Warzenketten“ an den Händen der Kinder (z B F 55, 61, 64f, 82, 228) nicht ausschließlich auf mangelhafte hygieni­ sche Verhältnisse zuruckzufiihren, sondern sie sind auch Ausdruck der bedrukkenden und unmenschlichen Lebensbedmgungen

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Diese Angst ist es auch, die nicht nur den Geist des Menschen erfaßt, sondern ihn auch dort angreift, wo er selbst offensichtlich Teil der Natur ist an seinem KorBeerdigung auf Brotrinden befestigte, brennende Wachskerzen auf Flüssen schwimmen lassen (Handwörterbuch des Aberglaubens 1929/30, Sp 301 und 1678) Auch in solchen dem Bereich des Aberglaubens entstammenden Anspielungen laßt sich noch ein Rest Selbständigkeit gegenüber dem totalitären Regime erkennen 27

Siehe hierzu - wie für den ganzen für Herta Mullers Schreiben bedeutenden Komplex der Erinnerung und des Erzählens als Sicherung des kollektiven Gedächtnisses - Assmann 1991, S 26 bzw die anderen Beitrage in dem von ihr herausgegebenen Band 28

F 209 - eine Vorstellung, die im Aberglauben weit verbreitet ist, siehe Handwörter­ buch des Aberglaubens 1929/30, Sp 169If 29

vgl den Titel des Beitrages von Blume 1981

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In den Warzenketten der Kinder ist das Greifen, das Stoßen und Treten, das Drucken und Pressen, der Haß im Quetschen und Packen Das Vernarren und Weglaufen ist in den Warzenketten, die Verschlagenheit der Mutter und Vater, der Verwandten und Nachbarn und Fremden Wenn das Auge quillt, wenn em Zahn bncht, wenn im Ohr Blut steht, kommt em Achselzucken (F 24) Die Warzen als Ausdruck einer auf die Erwachsenen ausgeubten Tyrannei, die diese stellvertretend an die Kmder weitergeben, verschwinden, wenn die „Sorgen“ kommen (F 229), wenn also die permanente Bedrohung durch den Staat auch m das Bewußtsein der Kmder emdnngt Von dem beständigen Druck, unter dem die Erwachsenen leben, können sie sich nur (temporar) befreien, indem sie ihn ihrerseits auf die nachstschwacheren Glieder der Gemeinschaft, ihre Kmder, ausuben Unter dem diktatorischen Regime kann der Mensch aber der Angst letztlich nicht entkommen, und diese wirkt auf semen Körper Sie macht ihn „hellhörig“ (F 46), sie erlaubt ihm nicht, sich frei zu bewegen (F 31), und „Adma denkt, daß die Ohren am Kopf vom Horchen ihre Muscheln, ihre Schnörkel glat­ ten mußten, glatt wie Handteller mußten sie sein, Finger mußten ihnen wachsen, die so schnell zucken wie Angst “31 „Wenn man Angst hat, wachsen die Haare und die Nagel schneller“, stellt Adma fest, dies msbesondere, seitdem „der Fuchs zerschnitten wird“ 32 Der Körper reagiert auf die Bedrohung mit einer übermäßigen Beanspruchung seiner Repro­ duktionsfunktionen, die ihn nur schneller an das Ende seines Lebens bringen wird Wenn das Gewicht der abgeschnittenen Haare eines Menschen sein Kör­ pergewicht erreicht hat, stirbt der Mensch, wie em Fnsor Adma m ihrer Kindheit erzählt (F 19) Nicht nur die vom Diktator Beherrschten sind aber von der Angst

30 In em Grenzgebiet gehört Claras Abtreibung, da sie nur bedingt mit der Sexualität zu tun hat, sondern vor allem Zeichen dafür ist, daß das totalitäre Regime sich den aus­ schließlichen Einfluß über den Körper und die Reproduktionsfahigkeit der Frauen si­ chert Nur der Secuntate-Mann Pavel kann in diesem Land, in dem alle Formen der Ge­ burtenkontrolle verboten waren, eine Abtreibung ermöglichen (F 209) 31F 257 Selbst wenn man davon ausgeht, daß diese Überlegung Adinas metaphorisch zu verstehen ist, ist es doch bezeichnend, daß sich die Folgen des Lebens in einem Uberwachungsstaat für sie in Form von somatischen Veränderungen manifestieren 32 Die Secuntate zerschneidet Admas Fuchsfell als Zeichen ihres Eindringens m die Wohnung

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befallen, sondern - paradox genug - auch der Diktator selbst (F 240) daß er trotzdem noch nicht tot ist, hegt daran, daß er alle „betrugt [ ], auch den Fnsor“ (F 259), wenn er auch nicht das gleiche zu befurchten hat wie die von ihm Be­ herrschten, zeigt sich so doch auch die Verselbständigung der permanenten Be­ drohung, die ihrerseits paranoide Reaktionen bei denen hervorruft, die sie eigent­ lich ausuben und somit zu beherrschen glauben (F 239f) Selbst der Körper bleibt nicht individueller Besitz, sondern wird noch in seiner reinen Materiahtat Opfer der alles erfassenden Staatsmacht Sollen wir hmters Feld an die Donau, fragte Adma, sollen wir fluchten, willst du Schüsse hören und dir ausrechnen, daß wir es sind Wir brauchten keme halbe Stunde und wurden da drüben im Weizen liegen, bis im Sommer der Mähdrescher kommt Paul zog Adma an den Schultern zuruck, und sie sagte m sein Gesicht, der Buchhalter wird dir die steigenden Eiweißprozente im Mehl erklären [ ] Manchmal, sagt sie, wird euch beim Essen em Haar in den Zah­ nen hangen, eines, das nicht dem Backer in den Teig gefallen ist (F 261) Selbst im Tod kehrt der Mensch also nicht einfach m den Kreislauf der Natur zu­ ruck und befreit sich damit von der Überwältigung seines Körpers durch die Staatsmacht, selbst hier wird er noch eingegliedert in einen alles umfassenden Prozeß der Funktionahsierung Im Bild des Weizenfeldes, das eigentlich em „Gottesacker“, em „Friedhof ‘ ist (F 62), zeigt sich die groteske Konsequenz ei­ ner Herrschaftsform, in der der Mensch nur noch Objekt der Macht ist33 Natur kann - wie sich gezeigt hat - unter den Bedingungen einer solchen Herrschaft kei­ nen Fluchtort mehr bieten

Emmerich 1981, S 95 weist auf eine ganz ähnliche, über einen rein metaphorischen Gehalt der Darstellung hinausgehende Praxis der Nationalsozialisten hm „Die Unterwer­ fung unter die naturale Autorität, das Verkriechen in ihr gewinnt hier einen politisch bri­ santen Aspekt Sie munden ein m die Rechtfertigung des Sterbens, des Tötens, des Krie­ ges, zu welchem Zweck auch immer Re-Naturahsierung des Menschen in diesem Sinne heißt Entwertung des Menschen(-lebens) zum Nichts Wie wörtlich die Reduktion des Menschen auf Natur durch den Faschismus zu verstehen ist, zeigt die Praxis der Massen­ vernichtungslager Sie nimmt die Ermordeten vollständig auf den Status von Natur zu­ ruck, indem sie - die Opfer - nur noch als Naturstoff - Zahne, Haare, Knochen, die Asche der Leichname als Düngemittel - zahlen “ Erinnert sei hier auch an die eingangs gemach­ ten Bemerkungen zu den Folgen eines extrem funktionalisierten Naturumgangs

Naturmotivik (Der Fuchs war damals schon der Jager)

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Literatur Muller, Herta 1994 Der Fuchs war damals schon der Jager Reinbek [F] Assmann, Aleida 1991 Zur Metaphorik der Erinnerung In Assmann, Aleida/Harth,

Dietrich (Hgg) Mnemosyne Formen und Funktionen der kulturellen Erinne­ rung Frankfurt a M , S 13-35 Bathrick, David 1981 Die Zerstörung oder der Anfang der Vernunft^ Lyrik und Na­ turbeherrschung m der DDR In Grimm, Remhold/Hermand, Jost (Hgg ) Natur und Natürlichkeit Stationen des Grünen m der deutschen Literatur Komgstein/Ts , S 150-167 Blume, Bernhard 1980 Lebendiger Quell und Flut des Todes Em Beitrag zu einer Literaturgeschichte des Wassers In ders Existenz und Dichtung Essays und Aufsatze ausgew von Egon Schwarz Frankfurt a M , S 149-166 Bohme, Hartmut 1988 Umriß einer Kulturgeschichte des Wassers In ders (Hg) Kulturgeschichte des Wassers Frankfurt a M , S 7-42 Eke, Norbert Otto (Hg ) 1991 Annäherung an Herta Muller Paderborn Emmerich, Wolfgang 1981 Kem Gespiach über Baume Naturlyrik unterm Faschis­ mus und im Exil In Grimm, Remhold/Hermand, Jost (Hgg ) Natur und Natür­ lichkeit Stationen des Grünen m der deutschen Literatur Komgstein/Ts , S 77117 Freud, Sigmund 1975 Die Frage dei Laienanalyse Unterredungen mit einem Unpar­ teiischen In ders Studienausgabe Hg v Alexandei Mitscheilich u a Frankfurt a M Erganzungsband, S 275-341 Freud, Sigmund 1975 Traumdeutung In ders Studienausgabe Hg v Alexander Mitscherlich u a Frankfurt a M , Bd II Geschichtliche Grundbegriffe 1978 Histonsches Lexikon zur politisch-sozialen Spra­ che m Deutschland Hgg v Otto Brunner, Werner Konze u a , Bd 4 Stuttgart Glazovoj, Andrej 1992 Die Natur als Klassenfeind Umweltpolitik m der Ukraine In Thum, Valentm/Clasen, Bernhard (Hgg ) Klassenfeind Natur Die Umweltkata­ strophe m Osteuropa Gießen, S 54-60 Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 1929/30 Hgg v E Hoffmann-Krayer und Hanns Bachtold-Staubli Bd II Berlin, Leipzig (=Handworterbuch zur deut­ schen Volkskunde Hg v Verband Deutscher Vereine für Volkskunde Abteilung I Aberglaube) Herles, Wolfgang 1982 Dei Beziehungswandei zwischen Mensch und Natur im Spie­ gel der deutschen Literatur seit 1945 Stuttgart (=Stuttgarter Arbeiten zur Ger­ manistik Nr 121)

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Martina Hoffmann/Kerstin Schulz

Mandl, Harald 1992 Die gestohlene Revolution Umweltschutz im nachkommunisti-

schen Rumänien In Thum, Valentin/Clasen, Bernhard (Hgg) Klassenfeind Natur Die Umweltkatastrophe in Osteuropa Gießen, S 153-169 Remitzer, Heimo 1988 Wasser des Todes und Wasser des Lebens Uber den geistigen Sinn des Wassers im Mittelalter In Bohme, Hartmut Kulturgeschichte des Was­ sers Frankfurt a M, S 99-144

Das Nicht-Sagbare schreiben im „Überdruß der Münze die auf den Lippen wächst“. Über Herta Müllers Der Wächter nimmt seinen Kamm

(Ulrike Growe) Die Sammlung Der Wachter nimmt seinen Kamm von Herta Muller besteht aus 94 Karten mit Texten und Collagen und ist in einem farbigen Kästchen - von ei­ nem gedeckten, dunklen Rot mit glanzend schwarzem Titel- und Untertitelauf­ druck - gesammelt Zwischen Deckel und Kästchen ist em Spalt offengelassen, durch den innen schwarzes Papier sichtbar wird Querformatig befindet sich oben der Name der Autorin und der Titel, unten der Untertitel Vom Weggehen und Ausscheren Zwischen den Zeilen ist - ebenfalls m Schwarz - die Zeichnung eines hochrechteckigen Tores, darunter das Bild eines Tisches mit einer darüber ge­ beugten Figur Dieses Motiv stammt von einer der Karten im Inneren des Käst­ chens Die Texte und Bilder auf allen Karten sind aus anderen Texten, Zeitungen, Photos und Papier gleichennaßen ausgeschnitten Alles ist neu zusammengestellt und aufgeklebt, jede Karte ist für sich komponiert und m sich abgeschlossen, mit Ausnahme der Karten 43-46, die eine große Ähnlichkeit zeigen, weil sie Spielar­ ten eines Themas darstellen Text und Bild lassen sich auf allen Karten ge­ genseitig Raum, ergänzen sich aber formal oft zu einer bildnerischen Ge­ schlossenheit Viele bildnerische Motive tauchen in Variationen immer wieder auf - die dünne Scherenschnittfigur des Titelbildes etwa oder Ausschnitte von Gesichtem, Mündern und Augen Die inhaltlichen Bezüge zwischen den Karten sind vielfältig Darauf soll spater eingegangen werden Der Wachter nimmt seinen Kamm wurde 1993 veröffentlicht, die Entstehung ist parallel zur Entstehung des Romans Der Fuchs war damals schon der Jager (1992) zu sehen, zu dem Herta Muller zusammen mit Harry Merkle spater auch em Filmdrehbuch verfaßt hat Von einem gründlichen Mißlingen des Films spricht Herta Muller selbst,1 aber es ist wohl keine Frage, daß bei einem Roman aus ei­ nem derart komprimierten Text, einem Extrakt geradezu aus Wahrnehmung und Erfahrung, eme Wiedergabe durch Bilder nahezu unmöglich ist Wenn man sich einer Essenz bedient, um etwas Neues daraus zu machen, muß sie zwangsläufig 1 So m einem von ihr besuchten Oberseminar der Ruhr-Universitat Bochum im Januar 1996

Ulrike Growe

Das Nichtsagbare schreiben (Der Wachter nimmt seinen Kamm)

verdünnt werden In dem Buch Der Fuchs war damals schon der Jager wird an keiner Stelle z B von einem konkreten Leid unter Ceausescus Diktatur gespro­ chen, es sind eher die Aussparungen, das Unausgesprochene, m denen der Terror sichtbar wird Der Text transportiert nur eine spezifische Art der Wahrnehmung m emer spezifischen Art des Schreibens Noch als „Stimlocke“2 beherrscht im Roman der Diktator das Land Durch eme derartige Reduktion prägen sich einfa­ che Bilder em, werden unpersönlich und allmächtig Em Film, der den Plot des Buches nacherzahlt, hat mit diesem Text natürlich mchts mehr gemem Einleitend soll hier auf einige Bezüge der Texte Herta Mullers untereinander an­ gegangen werden Die ausschließliche Zusammenstellung von Postkarten stellt im Werk Herta Mullers dabei etwas Einmaliges dar Eimge Papiercollagen mit Text finden wir schon m Der Teufel sitzt im Spiegel von 1991 - hier treten sie jedoch hinter den Essays etwas zuruck In dem Roman Reisende auf einem Bein ist es die Protagonistin selbst, Irene, die Collagen aus Photos zusammenklebt „Fanden sie einmal zusammen, taten sie das von selbst Die Verbindungen, die sich ent­ stellten waren Gegensätze “ (R 47) Der Fuchs war damals schon der Jager ist selbst aus ganz unterschiedlichen Benchten zusammengefugt Die Geschichte von Adma und die allmähliche Zerstörung ihres Fuchsfelles durch emen Spitzel des Geheimdienstes bildet den Untergrund emer Unzahl von Geschichten ganz eigen­ artiger Persönlichkeiten, deren zum Teil bizarre Individualität sich scheinbar ge­ gen jede Vereinnahmung durch die Diktatur Ceausescus sträubt, die aber dennoch nie unabhängig davon zu sehen sind Typisierungen der Personen sind in diesen Benchten häufig, „der Pförtner und die Pförtnerin“, „die Schneiderin“, „die Tochter der Dienstbotin“, „der Direktor“ bilden das Personal des Romans

hing eingeschrieben oder handelt es sich nur um bei- oder untergeordnete Illu­ strationen zu den meist kurzen, manchmal extrem knappen Texten? Gab es für die Künstlerin im Prozeß des Neuzusammensetzens Abhängigkeiten zwischen Text und Bild, Bezüge, deren inhaltlicher Zusammenhang plötzlich aufblitzte und ein Zusammenfugen bestimmter Elemente zur Folge hatte? Entstand eher der Text zum Bild oder umgekehrt oder ist beides gemeinsam Niederschlag der „erfundenen Wahrnehmung“, wie die Autorin sie m der Essaysammlung Der Teufel sitzt im Spiegel beschreibt?

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Durch die Herausgabe emer geschlossenen Kartensammlung werden ursprünglich durchaus nicht zweckfreie, kunstlensche Arbeiten, sondern an bestimmte Adres­ saten genchtete Mitteilungen zusammengestellt Das geschenkartig anmutende Kästchen ist nur äußerlich eine schone Gabe Das Lesen, das Verstehen der Texte und Bilder gestaltet sich schwierig und widerspruchsvoll, im wörtlichen Sinne rätselhaft, wenn man sich um Entschlüsselung bemüht Die Collagen und Sche­ renschnitte - verstanden als eme bildhafte Erweiterung der Aussage auf den Kar­ ten - erleichtern dies durchaus mcht3 Ist es gleichgültig, wo der Leser beginnt? Die Karten sind auf der Rückseite numeriert, aber kann dies als Leseanleitung für die Abfolge gelten? Ist schon den Bildern eme Aussage eigen und eme Entwick2 “Was glanzt, das sieht Die Stirnlocke des Diktators glanzt Sie sieht jeden Tag ins Land “ (F 27) 3 Zur Photocollage vgl Wescher 1974, S 129ff

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Die Wahrnehmung, die sich erfindet, steht nicht still Sie überschreitet ihre Grenzen, da, wo sie sich festhalt Sie ist unabsichtlich, sie meint mcht Be­ stimmtes Sie wird vom Zufall geschaukelt Ihre Unberechenbarkeit trifft je­ doch die einzig mögliche Auswahl, wenn sie sich wählt (TS 19) Es gibt viele Formulierungen Herta Mullers, die den Moment des Aufschreibens, des Findens des Satzes sprachlich zu umschreiben suchen und die übertragbar sind auf das Zusammenfiigen von Text und Bild So etwa, wenn sie vom „Rekonstruieren und innerlich nachvollziehen“ spricht, der „Arbeit an der Täu­ schung“, die besonders in der Kindheit eme große Rolle spielte,4 dem „Hantieren mit dem Schein“ (TS 21) - das alles lebt schon m der Beschreibung von Bildern „Alles, was zusammenfindet m einem Text, setzt sich aus Abgelegenem, Un­ wichtigem zusammen Es ist der Schein, der, wenn er m allen seinen Nuancen zusammengetragen ist, so dasteht wie em Gegenstand “ (TS 4 If) Im Vergleich mit zeitgenössischer Literatur, deren Hang zur Selbstbefragung, der Suche nach dem passenden Wort, der richtigen Beschreibung konnten diese Überlegungen zur Attitüde gerinnen 5 Fruchtbarer ist jedoch em Vergleich, der 4 „Meine größte Arbeit war, das, was im Kopf stand, zu verstecken Das Tauschen war die Arbeit meiner Kindheit “ (TS 13) 5 Nicht zuletzt ist hier auf Christa Wolf zu verweisen, die mit ihrer selbstreflexiven Ennnerungsprosa, wie sie in Kindheitsmuster exemplarisch entfaltet wird, über einige Jahre sicher stilbildend wirkte Aufschlußreich ist in unserem Zusammenhang eme auffallende Parallelität zu einem essayistischen Text, Lesen und Schreiben wo auch sie - wie Herta Muller - m der Reflexion auf ihr eigenes Schreiben von „Unruhe“ spricht, dem „Bedürfnis, sie zu artikulieren“ (1980, S 9) Ganz anders jedoch sind ihre Schlußfolge­ rungen aus dieser Erfahrung „Zufällig hat mich die Unruhe, die sich verdichtet, ehe sie artikulierbar wird, in eme Gegend begleitet, die zu sehen ich weder gedacht noch ge­ wünscht hatte, man kann nicht wünschen, wovon man nichts weiß “ (ebd , S 10) Ihre daraus folgenden Überlegungen zum Schreiben kehren kreisförmig immer wieder zu ih­ rem Ausgangspunkt, dem eigenen Ich zurack und geben schließlich nur „eine Teilantwort auf die Frage, was emen Menschen zwingen kann, literarisch produktiv zu sein anschei­ nend erwartet der Schreibende, daß seiner Hand, schreiben, eine Kurve gelingt, die in­ tensiver, leuchtender, dem wahren, wirklichen Leben naher ist als die mancherlei Abwei-

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Das Nichtsagbare schreiben (Der Wachter nimmt seinen Kamm)

den Bogen schlagt zu Poetiken der Romantik, wie es von Claudia Becker oder Friedmar Apel schon ansatzweise unternommen wurde*6 Wie auch andere Auto­ ren des Sammelbandes Die erfundene Wahrnehmung beschäftigen sie sich mit diesem zentralen Punkt m Herta Mullers Poetik

Bei dem Versuch, den Deckel des Kästchens noch weiter zu heben, Aufschluß zu erhalten über Herta Mullers Schreiben, dessen Gehalt sie sich auch selbst m ihren Paderborner Vorlesungen (1991), der Grundlage für die Essaysammlung, theore­ tisch anzunahem suchte, können allerdings auch Überlegungen zeitgenössischer Autoren herangezogen werden So versucht Dieter Wellershoff, nachdem - wie er feststellt - eine normative Ästhetik keine Geltung mehr hat, m einer kritischen Darstellung des eigenen Schreibens und anderer Literaturen eine Definition von Poetik zu geben

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Die Unruhe ist in der Stille der Wahrnehmung em Überfall Versucht man den Überfall der Unruhe beim Schreiben zu treffen, die Drehung, durch die der Sprung ms Unberechenbare emsetzt, muß man m kurzen Takten seine Satze schreiben, die von allen Seiten offen sind, für die Verschiebung (TS 19) Bettina von Arnim, Dichterin der Romantik, in deren Briefen Mitteilung und lite­ rarische Entwürfe sich ständig durchdringen, spricht in dem folgenden Auszug aus einem Brief an ihren Bruder Clemens von Brentano zwar nicht ausdrücklich von Unruhe, Drehungen, Sprüngen und Takt, aber das Tanzen, das hier assoziiert werden kann, hat ihr nicht nur m den Briefen an ihren Bruder, sondern auch an Goethe und die Gunderode häufig dazu gedient, die Unbandigkeit und Un­ bedingtheit ihres Tuns - des Denkens und Schreibens - anschaulich zu machen In dieser Hinsicht überschreiten die Briefe Bettina von Arnims ebenso wie die Post­ karten Herta Mullers jegliche Gattungsgrenze So ist es auch kein Widerspruch, wenn die Herausgabe dreier Bnefsammlungen, die Bettina von Arnim vorge­ nommen hat, gleichzeitig zu ihrer eigenen Bildungsgeschichte werden

Aber meine Seele ist eine leidenschaftliche Tänzerin, sie springt herum nach einer innem Tanzmusik, die nur ich höre und die andern nicht Alle schreien ich soll ruhig werden, und Du auch, aber vor Tanzlust hort meme Seele nicht auf Euch, und wenn der Tanz aus war, wars aus mit mir 7 Die „innere Tanzmusik“, die die Seele zur „leidenschaftlichen Tänzerin“ nach einer Musik macht, die nur sie hort, ist jenem „Überfall“ der Unruhe in der „Stille der Wahrnehmung“ zu vergleichen, der das Schreiben Herta Mullers in kurztaktigen Sätzen in Gang bringt8 Die Verfremdung von Bildern durch Schneiden und Kleben ordnet sich diesem Prinzip ebenfalls unter Nach Werner Hofmann stellen die Collagebestandteile „die Brücke von den Wahmehmungsinhalten zu der of­ fenbar aus der Vorstellung gewonnenen Zeichensprache her “9

chungen ausgesetzte Lebenskurve “ (ebd, S 13) Das Bedenken dieses therapeutischen Effektes fehlt bei Herta Muller ganz 6 vgl Eke (Hg ) 1991 7Bettine von Arnim, Werke und Briefe, Bd I, S 61 8 „Das Schreiben ist jedesmal das Letzte, das, was ich (immer noch) tun kann, ja muß, wenn ich nichts anderes mehr tun kann “ (TS 33) 9 Hofmann 1987, S 51

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Ihr heutiges Thema ist die Hervorbringung einer individuellen imaginären Welt nach selbstgesetzten Regeln, vorangetneben von einem allmählich sich arti­ kulierenden persönlichen Begehren, das aus zunächst zufälligen lebensgeschichtlichen Prägungen entstanden ist1011

Zu diesen neuen Regeln gehören historische wie auch Medienentwicklungen Heiner Mullers Charakterisierung etwa von Durs Grunbem, den er ausdrücklich als Vertreter einer Generation „ohne Vaterland und Muttersprache“ bezeichnet, betrifft Herta Muller aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Thematik und ihres Stils

Diese Generation [ ] schreibt eine Literatur, die sich selbst übersetzt, ihre Mu­ se der Computei, die Aura der Preis der Erfahrung Vergleiche mit Vorläufern m scheinbar ähnlicher Schreiblage fuhren ms Gestrüpp, wo die Mörder ihre Opfer ablegen, oder auf den Friedhof, wo in Reih und Glied die Toten ruhn Die Gruße von Lord Chandos registriert kein Faxgerät, Briefe werden nicht mehr geschrieben11 Hier sind zeitubergreifend, m vielfältiger Verschränkung, Momente angespro­ chen, die bei der Verortung gattungsmäßig nicht eindeutig bestimmbarer Werke herangezogen werden können und Bezüge zwischen Wahrnehmung und Schrift herstellen Als Chronisten ihrer eigenen Wahrnehmung setzen diese Autoren m unterschiedlichen Medien Gattungsgrenzen außer Kraft, und so mögen selbst die manchmal poetisch anmutenden Postkarten zum Protokoll von Folter und Unter­ drückung werden Die Freundin redet sich nicht in Zorn em Stuck Zucker suchte im Kaffee die Mitte Und fiel auf den Grund die Lange des Fingers wie zwei an der Tasse

Sie sagt, jedes Land ist Ersatz für das andere wir sind 10 Wellershoff 1996, S 30

11 Grunbem 1995, S 27f

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alte Fremde - und junge Greise hatten fast Gluck Verdacht und Angst gleichen in nichts der Ruhe im Scheitern doch der Pulsschlag springt ihr aus der Hand der Kaffee kühlt aus (Karte 88, Text und kleiner Bildausschnitt) Im folgenden soll besonders die Montiertheit des ganzen Text- und Bildgefüges als em Aspekt herausgestellt werden, dem sich in formaler und inhaltlicher Hin­ sicht vieles unterordnet Die Disparatheit der ganzen Sammlung, das scheinbare Fehlen eines Handlungsablaufes, die Vermischung unterschiedlicher Gattungen, die scheinbare Beliebigkeit m der Aneinanderreihung von Worten - all dies legt die Frage nahe, ob man eine Leseanleitung zu diesen Texten geben kann Wer einen Text verstanden hat, sollte dies können, aber mehrmaliges Lesen der Karten deutet in eme ganz andere Richtung, es stellt sich die Frage, ob es überhaupt in der Absicht der Autorin gelegen hat, emen schlüssigen, ja durchgängig verstehba­ ren Text vorzulegen Wie existentiell sich die Entstehung eines Textes zunächst ausnehmen kann, wie disparat Wahrnehmung und Schreiben sind, beschreibt Herta Muller als das „Uberemanderherfallen von Schnitten zwischen den ab­ sichtlich schiefgestellten, Rucken an Rucken oder Kopf an Kopf gezwungenen Sequenzen einer Passage, die ja em Vorgang werden soll “ (TS 19f) Nehmen wir die Kartensammlung als Form ernst, dann ist es ja eben kein Roman, keme Erzäh­ lung, kein Essay, sondern - nach eigener Aussage - beiläufig entstandenes Schrift­ gut, mit Collagen versehen, als Botschaft verschickt Vordergründig ist es viel­ leicht spielerisch verarbeitetes Material, ernst wird es schon durch den Anspruch an das Papier, Schnfttypen und Farbe - das Material der Kommunikation wird selbst zur Botschaft Was Herta Muller in dem Essay Wie Erfundenes sich im Rückblick wahrnimmt (TS 33-55) über das Lesen sagt, mag auch für die Betrach­ tung von Text und Bild gelten

Es ist eine falsche Vorstellung, wenn der Leser meint, er sei nur mit dem Ferti­ gen, mit dem Resultat konfrontiert Der Autor kann nichts verstecken Kem einziger Text laßt das zu Wer lesen kann, sieht auch den Vorgang des Schrei­ bens beim Lesen die Umwege, die Abbruche (T 44) Verfuhrt durch die lose Sammlung liest hier wohl fast jeder Leser zunächst wahllos einige Karten, insgeheim natürlich auf der Suche nach emem roten Faden, nach Sinn, der sich unwillkürlich erschließt Auch die Scherenschnitte und Colla­ gen steuern zu solcher Verführung das ihre bei, so als konnten Bilder unmittelba­ rer Aufschluß über das Gemeinte geben Bei genauerem Hinsehen wird schnell

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deutlich, daß durch die Neuzusammensetzung von Photos, durch ihre Verwand­ lung von exakten Abbildern zu irrealen Konstruktionen unsere alltägliche Wahr­ nehmung eher unterlaufen als aufgeklart wird Die Ähnlichkeit mancher Motive im sprachlichen Bereich suggeriert einen Zusammenhang, dem man nachzuspuren sucht Es ist nicht einfach, auf diesem Wege weiterzukommen Bei dem Versuch, Satze wie „Der Rasierer, Ohne Weg Und die blecherne Teekanne“ (Karte 62, Text, Photoausschnitt) oder „in der Nacht dehnt sich der Nebel und der Hase zieht em Hemd an das noch wachst“ (Karte 32, Text, große Photocollage) zu ent­ schlüsseln, scheint eine Rückübersetzung erforderlich bzw wird sie nahegelegt, die dann doch kein Leser - als Adressat der erstandenen Karte - im strengen Sin­ ne leisten kann Nach der Lektüre anderer Texte von Herta Muller und dem er­ neuten Lesen der Kartensammlung - nun m kontinuierlicher Abfolge - hat der Le­ ser plötzlich eine Art Fortschreibung mit anderen Mitteln m Händen Der Umweg erscheint ergiebiger als der Versuch einer Decodierung Dies hegt nicht zuletzt am harten, klaren Sprachduktus der Autorin, der durch kurze prägnante Satze, die häufige Verwendung von Substantiven und vor allem Vergleiche, Metaphern - bildhaften Darstellungen allerdings, die hier keine Sinn­ verschalungen bieten - geprägt ist Auf den Karten ist dies alles noch reduzierter, noch prägnanter, aber eben nicht deutlicher, sondern verschlüsselter, fast herme­ tisch, „nichts kann man jemals mit nichts vergleichen, nicht die Milch m der Tas­ se der Menschen mit dem Haar sonst trifft beides zu “ (Karte 3, Text, Sche­ renschnittfigur) In Text und Bild erwachst eine eigene geschlossene Welt Eine kurze Schilderung aus dem Buch „Der Fuchs war damals schon der Jager“ soll hier als Beleg für die Ähnlichkeit des Sprechens genügen „Der Bhck des Anglers fallt ms Wasser, müde und klein vom Kopfstand der Pappeln Die Augen des Anglers spuren den kleinsten Abend Er dehnt sich auf dem Nasenrücken mitten am Tag “ (F 29) Dies entspricht dem Sprachduktus der Postkarten, und daß trotz der Abgeschlossenheit der Karten immer wieder Verknupfüngen zwischen den Texten festgestellt werden, verdankt sich mithin weniger einem erzählbaren Ge­ schehensablauf als dem wiederholten Auftauchen bestimmter Motive Dies sind Worte, Personen, Begriffe, häufig auch Typisierungen eigentlich alltäglichen Ge­ schehens Es ist meist em Ich, das den Leser direkt anspncht, sowohl in den Bu­ chern als auch in der Kartensammlung - im Bhck ist oft em „er“, der agiert, als „Händler“, „Wissender“, „Wachter“, „Geiger“, „Flüchtling“, „Schneider“, „Grenzer“, „Diktator“ Nur auf wenigen Karten kommt „sie“, z B „die Freun­ din“ oder „die Mutter“ vor Es ist nicht nur der enge zeitliche Rahmen, m dem sowohl der Roman, das Filmdrehbuch und die Kartensammlung entstanden sind, der den m den unter­ schiedlichen Medien durchaus vergleichbaren Stillstand in vielen Bildern und be-

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Das Nichtsagbare schreiben (Der Wachter nimmt seinen Kamm)

schnebenen Szenen erklärt Die Beschreibung der Gegend am Fluß in Der Fuchs ■war damals schon der Jager ist hierfür typisch Es ist em ganz spezifisches, star­ res Schauen, aus dem heraus die mitgeteilten Beobachtungen erfolgen Dies ent­ springt einem Blick, der sich gleichsam auflost, der im Prozeß des Sehens nicht nur sieht, sondern das Angeschaute verwandelt, etwas dazutut und obendrein selbstbeobachtend diesen Prozeß beschreibt Was dies eigentlich ist, ob hier As­ soziationen entstehen oder ob eine bestmimte Grundbefindhchkeit der Autorin immer wieder Bilder freigibt, ist noch zu beschreiben Friedmar Apel nähert sich diesem Phänomen über die Kategone des „romantischen Blicks“,12 auch er um­ kreist die gegenseitige Abhängigkeit von Schauen und Schreiben

Es erscheint deshalb sinnvoll, auf diese Bezüge ausführlich einzugehen, weil sich auf den Karten der Sammlung Der Wachter nimmt seinen Kamm nur mehr em Destillat dieser vielfältigen Prozesse niederschlagt, gleichwohl aber eine enge inhaltliche wie sprachliche Verwandtschaft mit den übrigen Texten vorhanden ist Die Hmzunahme der Essays entspringt weniger der Vorstellung, damit objektive Bewertungskriterien beisteuem zu können, als der Gleichrangigkeit dieser Texte im Gesamtwerk der Autorin 14 In bewußter Umkehrung zur Beiläufigkeit des Entstehungsprozesses kann man die Karten im Zuge einer Kategorisierung, emer analysierenden Beschreibung emer gliedernden Ordnung unterwerfen, man kann sie zu Smnemheiten zusammenstellen und eine Abfolge konstruieren, die auch aus den anderen Texten der Autorin bekannt ist Da sind die Erinnerung an ihre Kindheit, an em Leben unter einer Diktatur, em Leben gegen die Gewalt, Ausrei­ se und Ankunft in einem anderen Land Diese konstruierten Zusammenhänge sind der Sammlung nicht eingeschrieben, aber das mehrmalige Auftauchen ver­ schiedener Begriffe macht eine solche Gruppierung möglich Viele andere Grup­ pierungen sind ebenso denkbar

Dennoch oder gerade deshalb folgt die Umsetzung des Bildes m Wort und Satz bei Herta Muller dem mystischen Impuls, die Dinge selber reden zu lassen Im Schreiben wird die Wahrnehmung entkleidet, dekonstruiert Schreiben ist selbst noch einmal em Trennungsprozeß, ein Abtragen von Oberfläche, gegen das sich die erfundene Wahrnehmung, die sich fast ganz auf Bilder verlaßt, wehrt13

Es entstehen im Vorgang des Sehens immer neue Assoziationen, Metaphern wer­ den eingefuhrt und erscheinen als Stellvertreter für einen Sinn, der m der bloßen Anschauung der Dinge nicht erfahrbar wird Die Kluft, die sich zwischen Blick, Bild und Beschreibung auftut, scheint unüberbrückbar Im Stillstand der Bilder, in der immer erneut auftretenden Wiederholung von Motiven wird eine zwangvolle Smnsuche vorgefuhrt, die jeder realen Lebenserwartung und Lebensvorstellung als Grundlage entbehrt Die Angler trauen dem gestreiften Sommer nicht Sie wissen, daß Pappel­ schatten unten das bleiben, was Pappeln oben sind, Messer (F 29) Ich schreib Spitzelbenchte na gut, die sind wie sich Naherkommen durch die Knöchel ins Gesicht Wer daran rüttelt, hatte nie unsichtbares Gepäck und kennt sich nicht aus (Karte 28, Text, Scherenschnitt) Es war vier Uhr nachmittags, und ich fünf Jahre alt Schon als Kind war ich Mitte Dreißig (Karte 65, Text, große Photocollage) In ihrem Essay Wie Wahrnehmung sich erfindet spricht Herta Muller bei dem Versuch eines Kindes, sich die Welt zu erklären, einmal von der ,,verbluffende[n] Eigentlichkeit, die die Welt zu dem macht, was hinter der Stirn geschieht “ (TS 11) Auch der Versuch, dies zu schildern, kann als Ausloser vieler Kartentexte gelten

12 Apel in Eke 1991, S 23

13 Apel in Eke 1991, S 28

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Ich hab den Bauch aus dem Osten Aber mir zeigen die Straßen manchmal Stellen an denen Wunsche vergraben sind Ich sehe neben einem der Getöteten die Nahe von Halunken Ich weiß, daß die Wissenden sich selbst em Nachtziel sind verkehrte Niedertiacht und Sb aßen aller Art ich habe nie getötet Ich brauche so oft den sinnlosen Händler in mir und glaube an den Überdruß der Münze die auf den Lippen wachst Ach wissen Sie Man sagt auch, der östliche Blick fallt auf ja der verrutscht wie meine Augen dort droben der Himmel (Karte 78, Text, kleine Scherenschnittfigur) Der moralische Anspruch an ihre Texte ebenso wie die selbstreflexive Darstel­ lung ihres Schreibens - hier als “Überdruß der Münze die auf den Lippen wachst“

14 „Sie und ich, wir waren uns naher, denn wir sahen ein Reh auf dem Feld Wir teilten uns das Reh Sie sagte ihm nichts davon Ich dachte, jetzt konnte die Frau dem Mann ei­ ne Karte schreiben, und aufs Knie legen Auf der Karte wurde stehen „‘Herzliche Gru­ ße (TS 139)

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Ulrike Growe

ms Bild gebracht - gehen allerdings auf den Kartentexten eine einzigartige Syn­ these em Es können Karten ausgewahlt werden, auf denen die Worte „Kind“, „Vater“, „Mutter“, „Muttersprache“ und „Kindesbeinen“ Vorkommen Solche, auf denen der „Diktator“, em „Verhör“ und „Angst“ vorkommt, Karten, auf denen „Freund“, „Freundin“, „Tod“ und „Verrat“ steht, Karten auf denen „Paß“, „Freiheit“, „Asyl“ und „Heimweh“ geschrieben steht und solche Karten, auf de­ nen erinnernd der Osten erwähnt wird und der Sprecherstandpunkt schon der Westen ist “ich habe die Jahre aus dem Osten in emem Bahnhofsschließfach ab­ gestellt nur im Fluß auf dem Grund hegt mehr (Karte 49, Text, klemer Bildaus­ schnitt) Auch die bildnerische Gestaltung muß als Unterscheidungskntenum hin­ zugezogen werden, z B verschieden große Ausschnitte aus Fotos, stark ange­ schnittene Gesichter und Körper oder fragile Scherenschnitte mit längeren Textpassagen, oft auch ganz knapper Text, dessen Gliederung vor allem visuell wirkt Jede Karte ist für sich genommen komponiert, die Satze sind zum Teil musterartig angeordnet, filigran oder auch als Block Groß- und Kleinschreibung ist zumeist beibehalten, Sinnabschnitte sind nicht immer kenntlich gemacht Man­ che Satze ziehen sich über mehrere Zeilen, manchmal steht das letzte Wort eme Zeile tiefer, klappt nach und unterbricht den Gedankenfluß, ohne deutlich er­ kennbar zu machen, ob Sinn verschhffen werden soll oder ob die formale Gestal­ tung im Vordergrund steht Die Autorin benutzt zumeist das Präsens und evoziert damit den Eindruck zeitlos gültiger Aussagen Satze beginnen oft mit „ich“ („ich weiß“, „ich schreib“, „ich hab“) oder auch mit „er“ („er knüpft“, „er druckt“, „er geht“) Viele Satze wirken m ihrer Reihung von Subjekt, Prädikat, Objekt zunächst ganz objektiv - von der inhaltlichen Verratselung einmal abgesehen -, m ihrer Häufung aber erscheinen diese Aussagen wie festgezurrt und unverrückbar, inhaltlich nicht auflösbar, und damit zwangvoll m dem Versuch, Unfaßbares faßlich zu machen So wie sich m Der Fuchs war damals schon der Jager aufgrund der Statuank innerhalb der ge­ schilderten Beobachtungen und szenischen Beschreibungen eme erstickende At­ mosphäre aufbaut, so ist das Geschehen auf nahezu jeder einzelnen Karte fast wie vereist, bewegt sich nur etwas nach letztlich undurchschaubaren Regeln, was sich dann unmittelbar in verklausuliertem Sprechen niederschlagt (Karte 67)

Der Wachter ahnt etwas anderes wenn Kastanien und Ahorn hinter der Kerzenfabnk ihre Blatter abwerfen in den Sack emer Nacht die Maus wird sich den Maßanzug mit Ohren kaufen

Das Nichtsagbare schreiben (Der Wachter nimmt seinen Kamm)

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und für ihn vier Zahne von schlafenden Kindern Nein, keiner paßt sie sind schon gebrochen vom Wasser im Mund Nur hat er noch keines getrunken Diese Ebene und so kartiert wie kein Schachbrett furchtet sich von Tur zu Tur doch niemanden treibt em Heimweh rund um die Erde aber der Krieg (Karte 67, Text kleines Photo) Die Verschlüsselung der Texte, der häufige Gebrauch von Bildern, das metaphemreiche Sprechen, das aus einem Bilderfiindus schöpft, der uns über nichts aufklaren will, machen viele Passagen schwierig bis gar nicht verständlich Doch nur so werden sie zum Abbild eines nicht begreifbaren Lebens unter einer Dikta­ tur, schließlich zu emer Hermetik im Sinne eines Uberlebenscodes Trotz der Überblendungen und Leerstellen wird emem aufmerksamen Leser die Thematik der Karten nicht entgehen Nun entstehen diese Leerstellen nicht nur, wie Claudia Becker meint, durch die „Aneinanderreihung unterschiedlicher Erzahlstrange bzw Unbestimmtheitsstellen [ ], die einen Auslegungsspielraum eröffnen“ 15 Die Leerstellen sind überdies Bestandteil des Versuchs, die m der Stille der Wahrnehmung erlebte Unruhe durch Schrift mitteilbar und erfahrbar zu machen So, als sei das Aufgeschnebene nur Annäherungswert an das Gemeinte, ist auch das Ausgelassene zu erkunden Hoffnung schimmert nur selten auf, die Unterdrückung steht im Vordergrund Poesie und Grauen grenzen auf fast jeder Karte unmittelbar aneinander, und nur Formulierungen wie „aber gefluchtet war das nicht sie gingen um zu bluten und lagen getötet im Rucken“ (Karte 18) oder „niemanden treibt em Heimweh rund um die Erde aber der Krieg“ (Karte 67) be­ dürfen aufgrund ihrer optischen Evidenz keiner Erklärung mehr Vergleiche mit „wie“, die uns gar nichts erklären - „die Luge war zu uns gekom­ men - wie ein Ohrgehänge ms Hundehaar“ - sondern das Unerklarbare fest­ schreiben oder gar sich selbst ad absurdum fuhren durch Negation - „wie der Flug keiner Amsel“ - sind selbst fester Bestandteil fast aller Texte

das Lächeln war alt und doch noch em Kind die Luge war zu uns gekommen - wie em Ohrgehänge 15mEke 1991, S 38

Das Nichtsagbare schreiben (Der Wachter nimmt seinen Kämm')

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Ulrike Growe

ins Hundehaar, Wie die Katze mit acht gleichen Fußspitzen die Freundin war langst vom Geheimdienst gekauft das Gehirn nie mehr Eigentum so tänzelt Haut - in der Furcht ist wie der Flug keiner Amsel zu Fuß in der Hohe mit der Wimper zucken oder mich traurig denken Ich darf sie nicht fragen, damit ich nicht weiß Sie täte es wieder (Karte 2, Text Scherenschnittfigur)

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Literatur: Muller, Herta 1995 Reisende auf einem Bem, Reinbek (1989) [R]

dies 1995 Dei Teufel sitzt im Spiegel Berlin (1991) [TS]

dies 1992 Der Fuchs war damals schon der Jager Rembek [F] dies 1993 Der Wachtel nimmt seinen Kamm Rembek [WK]

Arnim, Bettina von 1986 Werke und Briefe, Bd I, Frankfurt a M

Eke, Norbert Otto (Hg) 1991 Die erfundene Wahrnehmung Annäherung an Herta

Muller Paderborn Grunbem, Durs 1995 Rede zur Entgegennahme des Georg-Buchner-Preises, Frankfurt

Hier gehört jede Verschlüsselung - derselbe Vergleich, von dem man sich Aufklä­ rung erhofft - unmittelbar zum Ganzen 16 Im gleichen Rhythmus können andere Satze klar und unprätentiös sagen, was doch ebenso unklar und unverständlich ist „die Freundin war langst vom Geheimdienst gekauft das Gehirn nie mehr Ei­ gentum “ Bild, Text und inhaltliche Beschreibung verweisen gerade m ihrer her­ metischen Struktur auf die Unbegreiflichkeit eines Lebens unter diktatorischer Herrschaft, sei sie privat oder politisch Jede Karte eroflhet den Blick auf eine ei­ gene Biographie Eine Decodierung nach dem Schema, wie es die 36 Karte vor­ sieht - „In den täglichen Verhören will der Vemehmer wissen, ob die Taube flie­ hen wollte, im Gedicht ob sie davon wußte, daß der Staat wie eine Holzkiste und das Land wie em Wachsbild im Stiefel ist“ -, sollte hier nicht versucht werden Die Texte bleiben in ihren Aufrissen und ihrer Zeitlosigkeit, was sie ursprünglich sind Literatur für Eingeweihte Zugleich aber sind die Postkarten in ihrer Zu­ sammensetzung von Bild und Text unmittelbarer Niederschlag jenes Prozesses, der die Wahrnehmung des Sichtbaren, den Überfall der Unruhe und das spatere Schreiben in dem fluchtigen, vielleicht spielerisch gewählten Medium der Post­ karte mit Bild zu einer Einheit in Differenz machen will So ist die Besonderheit der Schachtel, die die Erwartung steigert, mit der wir den Deckel heben, dem In­ nern angemessen

16 Obgleich wir es hier nicht mit Lyrik zu tun haben, kann folgende Beobachtung zu ei­ nem Gedicht von Brentano als Erläuterung hinzugezogen werden „Hier sind die Tropen nicht Umschreibungen, sondern das Gedicht selbst Wurde man sie auf ihre begrifflich­ abstrakte Bedeutung reduzieren - so weit dies überhaupt möglich ist - so wurde man das Gedicht zerstören “ (Strelka 1989, S 92)

a M Hofmann, Werner 1987 Die Grundlagen der modernen Kunst Stuttgart

Strelka, Joseph 1989 Einführung m die literarische Textanalyse, Tübingen Wellershoff, Dieter 1996 Das Schimmern der Schlangenhaut Frankfurt a M

Wes eher, Herta 1974 Die Geschichte der Collage Köln Wolf, Christa 1980 Lesen und Schreiben, Neue Sammlung, Darmstadt und Neuwied

Herztier. Ein Titel/Bild inmitten von Bildern

(Philipp Müller) „Bilder bedeuten Alles im Anfang Sind haltbar Geräumig /Aber die Traume gerinnen, werden Gestalt und / Enttäuschung / Schon den Himmel halt kein Bild mehr Die Wolke, vom / Flugzeug /Aus ein Dampf der die Sicht nimmt Der Kranich nur / noch ein Vogel / Der Kommunismus sogar, das Endbild, das immer erfrischte / Weil mit Blut gewaschen wieder und wieder[ J 1,1

Voranstehende Verse dichtete em noch zuversichtlicher Heiner Muller sechs Jah­ re nach der Gründung der DDR Knapp vierzig Jahre spater erscheint em Roman der dem realexistierenden Sozialismus Ceausescus entronnenen und im deutschen Sprachraum zunehmend bekannt gewordenen Herta Muller, der vierte Roman der Autorin Nicht nur im Anfang des Romans, dem Titel Herztier, bedeuten Bilder Alles Letztere sind em hervorstechendes Merkmal dieses Textes, wie auch die Rezen­ senten eifrig bemerkten12 Letztere betonen die autobiographischen Zuge des Ro­ mans ebenso wie auch die Leser m anderer Form oftmals eine plumpe Identifika­ tion des Textes mit einer vermeintlichen Wirklichkeit anstreben Geleugnet wer­ den sollen hier weniger evidente Elemente sozialistischer Wirklichkeit in den Texten Herta Mullers Jedoch sollen Zweifel angemeldet werden in scheinbaren Identitäten realistischer Manier (IF 5, 21) Diese inventarisieren nicht nur ver­ kommene und bodenlose Doppelmoralien aus einer westlich-externen Retrospek­ tive, sondern verleugnen auch das literarische Merkmal der textlichen Uberformung So scheint die als autofiktional bezeichnete und begriffene Eigenschaft des Textes m einer experimentierenden Analyse besser geeignet, Erfahrungen der Dissidenz als andersartige zu erfassen Die exzessive Metaphorik in Herztier konnte m die Nahe von Foucaults Begriff des „double“ rucken Ein permanentes sich selbst Denken als eines anderen, ei­ nes Nicht-Ich im Versuch, die Kräfte der Macht abzuwenden - schließlich sitzt

1 Muller, Heiner Bilder, m ders 1990, S 19 2vgl Apel 1994, Michaelis 1994

Philipp Muller

Em Titel/Bild inmitten von Bildern {Herztier)

der Teufel im Spiegel3 Der Antrieb mag sich hierzu aus einer Situation rekrutie­ ren, in der die Revolution ihre Kindeskinder gefressen hat und der Traum m dis­ kontinuierliche Segmente versprengt ist Außen verloren, setzt sich der Kampf im Körper fort, jedoch neu und anders Die Entregelung aller Sinne ä la Rimbaud wird zum Agens einer schwarzen, dekadenten Lust an der Metapher4 In Diskrepanz zum abstrakten Textmatenal weisen die Bilder, ob m der Bedeu­ tung fest definiert oder wechselnd, m ihren vanierenden Konstellationen und In­ terrelationen auf eine Ähnlichkeit mit dem bildhch-flussigen Medium des Trau­ mes „In der Nacht muß ich wie Schlaf das mitgebrachte Land m den Bildern durch den Körper treiben“ (TS 131) Nicht zuletzt werden die wechselnden Bildkonstellationen zu Instanzen des Standhaltens wider die im Roman vorgestellte totalitäre Gesellschaft (IF 18) Die Flucht der Bilder entsagt der verhärteten Spra­ che und den ihr angehörigen Mythen jenes „Gluck an den Kunstwerken ist jähes Entronnensem, nicht em Brocken dessen, woraus Kunst entrann “5 Dennoch bleiben Spuren des Negierten am widerstandigen Text haften

gnifikant Es ist jedoch einer, der im erinnernden Blick auf das vergangene Ge­ schehen nur m einseitiger Priorität auftritt8

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Riß im Titel/Bild Der ästhetisch wie mysteriös anmutende Titel kennzeichnet sich als eine dem Traum nicht unubliehe zusammengesetzte Vorstellung,6 oder, anders gelesen, durch einen Riß Herz-Tier (TS 75) Der Neologismus kombiniert zwei Bezeich­ nungen erstens die Bezeichnung für das seit dem Mittelalter als zentral geltende Organ des Menschen, zweitens den allgemeinen Ausdruck für die vom Menschen als tiefer eingestuften Lebewesen Wahrend letztere Bezeichnung die Vorstellung von Instinkt, Triebhaftigkeit und das Auftreten in größeren Kollektiwerbanden evoziert, eröffnet die Kategorie des Herzens die Perspektive vom Menschen als einem von Seele und individueller Emotionalität gezeichneten Wesen Der Widerspruch der konträren Kategorien - anthropologisch gesprochen der zentrale Antagonismus des Menschen zwischen Körper und Seele7 - wird m dem von der Protagonistin geschilderten sozialistischen Reich der Notwendigkeit si­

3 vgl Deleuze 1995, S 136, vgl Rimbaud 1972, S 250 „Je est un autre “

4 vgl Rimbaud 1972, S 252 5 Adorno 1993, S 30

6 Freud 1942, S 297

vgl dazu HaS In dem zweiten Text der Meditationen taucht der nicht unähnliche Be­ griff „Seelentier“ auf Das „Seelentier“ laßt sich nach der jeweiligen Erscheinung der Seele in verschiedene Seelenarten unterscheiden und erinnert an die verschiedenen Be­ stimmungen von Herztier

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Die Kategone des Herzens, Große für das menschliche Individuum, fallt den kollektiven Machenschaften im „angebundenen“9 sozialen Umfeld der Protago­ nistin zum Opfer Ihr Freund Kurt, Ingenieur m einer Schlachtfabrik, benchtet von dem blutrünstigen Initiationsntus an seiner Arbeitsstelle „Die wollen nur Dörfler [in der Fabrik], die das Dorf selten verlassen, wenn Neue hinzukommen, werden sie schnell zu Komplizen Sie brauchen nur einige Tage, bis sie wie die anderen schweigen und warmes Blut saufen “ (H 100, vgl 112) Beschwörungen ähnlich, m denen das Abbild des Opfers fixiert wird, um dessen habhaft zu werden, malen die Kinder, so erzählt Kurt weiter, Wände und Zaune voll mit Herzen, es sind lauter verschlungene Herzen, eines ms andere Rinder- und Schweineherzen, was sonst Diese Kinder sind schon Komplizen Die riechen wenn sie abends geküßt werden, daß ihre Vater im Schlachthaus Blut saufen und wollen dorthin (H 101, vgl 252) Es dauert nicht lange, bis Kurt sich der Magie des Blutsaufens nicht mehr entzie­ hen kann _Er wird zum Komplizen des Kollektivs, aus dem er sich letztlich nur durch Suizid befreien kann (H 134f, 136, 251) Erinnernd an das „Sakrament des Büffels“ m Heinrich Bolls Roman Billard um halb zehn ist das Blutsaufen m Herztier em verschworungsahnhcher Akt, der die Betreffenden in eine Gemeinde von Mitverantwortlichen und Mitwissenden inte­ griert In Billard um halbzehn kann em „Sakrament des Lammes“ noch m Op­ position stehen zu dem des Büffels In Herta Mullers Roman hingegen fallt die Kategorie Herz der Schlachtbank des Kollektivs anheim „Jemand sang em ru­ mänisches Lied Ich sah durch den Abend im Lied, Schafe mit roten Fußen zie­ hen Ich horte wie der Wmd stehen blieb m diesem Lied “10

8 Die Wortfügung ‘Herztier’ kann in ihrem inhärenten Widerspruch auch als Gegensatz zum An-sich-Sein der Dinge interpretiert werden, vgl auch H 71 „Wie mußte man le­ ben, dachte ich mir, um zu dem was man gerade denkt, zu passen Wie machen es die Gegenstände die auf der Straße liegen und nicht auffallen, wenn man vorbeigeht, obwohl jemand sie verloren hat “ 9H 17, 42, 52 wiederholt werden Beziehungen (v a die Mutter-Kind-Beziehung) als „angebunden“ bezeichnet im Gegensatz zu „losgebundenen“ Erzwungene, besitzergrei­ fende Beziehungen scheinen dem Konzept einer offenen und losgelosten Identität entge­ genzustehen, wie sie das Kind in den Niederungen anfänglich noch paradigmatisch ver­ tritt, vgl N 17 10H 35 [Hervorhebung Ph M ], vgl auch H 134 - s auch Boll 1977, S 327, 334, 392, 394, 395, 401

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Philipp Muller

Der Vereinnahmung des Herzens inmitten der Prosa der Verhältnisse durch die gesellschaftliche Totalität entspricht eine Explikation der zweiten Wortkompo­ nente des Titelbildes Die märchenhafte Erzählung der Freundin Tereza bietet die Möglichkeit, die Wortmetapher aufzulosen Als der Winter vorbei war, sagte Tereza, gingen viele Leute in der ersten Sonne m die Stadt spazieren Als sie so spazierten, sahen sie em fremdes Tier langsam m die Stadt kommen Es kam zu Fuß, obwohl es hatte fliegen können [ ] Als das fremde Tier auf dem großen Platz mitten m der Stadt war, schlug es nut den Flügeln, sagte Tereza Die Menschen fingen an zu schreien und fluchteten vor Angst in fremde Hauser [ ] Das fremde Tier ging langsam durch die hel­ len, leeren Straßen aus der Stadt hinaus Als es weg war aus der Stadt, kamen die Leute aus den fremden Hausern wieder auf die Straße Sie gingen wieder ihrem Leben nach Die Angst blieb m ihren Gesichtem stehen Sie verwirrte die Gesichter Die Leute hatten nie mehr Gluck (H 124) Die Gestalt des Neuen m der Erscheinung des sphmxahnhchen Tieres ist begleitet vom Schrecken, der den geflohenen Passanten - womöglich das Endbild des Kommunismus - im Gesicht stehen bleibt Der Schrecken bewirkt eme Erstarrung des neuen Bildes Zu Eis gefroren laßt es der Furcht keinen Freiraum für die Hoffnung mehr 11 Das Titelbild der abgeschlossenen Handlung des Romans verweist in semen Wortkomponenten auf die gesellschaftliche Umwelt der Protagonistm In der Au­ ßenwelt ist die Individualkategone bereits kollektiviert und nur vereinzelt das „Herz“ möglich, da es von der entgegengesetzten Kategone „Tier“ erdrückt wird (EM3T, 158) - -

Herztier - eine erfundene Wahrnehmung Das Titelbild Herztier beschrankt sich jedoch keineswegs auf eme namenstiftende Funktion m inhaltlicher Verbindung zum Roman, vielmehr taucht dieses im Text­ verlauf motivahnhch immer wieder auf und kann so als Isotopie bezeichnet wer­ den Bei emer Auswahl von geeigneten Stellen ist eine prozeßhafte Entwicklung dieses Bildes zu erkennen Ersten Eingang m den Text findet der Topos Herztier m emer der vielen präsenten Kmdheitsermnerungen der Ich-Figur, als die „singende Großmutter“ dem scheinbar schlafenden Kind zuspncht „Ruh dem Herztier aus, du hast heute soviel gespielt “ (H 40) In emer zweiten Äußerung der singenden

Em Titel/Bild inmitten von Bildern {Herztier)

Großmutter - „Dem Herztier ist eine Maus“ (H 81) - erhalt die zunächst abstrakte Dmgvorstellung Herztier erstmals eine konkrete inhaltliche Bestimmung In der subjektiven Wahrnehmung der Ich-Figur verselbständigen sich die Erinne­ rungen an die Großmutter Das Bild vom Herztier als emer Maus wird in me­ tonymischer Potenzierung weiterentwickelt Aus jedem Mund kroch der Atem in die kalte Luft Vor unseren Gesichtem zog em Rudel fliehender Tiere Ich sagte zu Georg Schau, dein Herztier zieht aus [ ] Unsere Herztiere flohen wie Mause Sie warfen das Fell hinter sich ab und verschwanden im Nichts Wenn wir kurz nacheinander redeten, blieben sie langer m der Luft11 12

Im Gespräch der Vertrauten werden die Herztiere schaubar, verlieren ihre graue Oberfläche und offenbaren sich im Dialog - eine freundschaftliche Nahe, derer sie jedoch oft überdrüssig werden In ihrer gegenseitigen Abhängigkeit leben sie an­ gesichts der verhaltenen und totalitären Außenwelt ihre Aggression häufig im of­ fenen Vertrauen aus (H 83) In der letzten Erwähnung des Titelbildes rekurriert dieses wieder auf seinen erst­ maligen Ausspruch, und zwar m ironisch-distanzierter Form Die singende Groß­ mutter, nach sechs Jahren des Irrsinns gestorben, hegt auf dem Totenbett „Der Mund der Großmutter stand offen, obwohl um das Kinn em Tuch gebunden war Ruh dem Herztier aus, sagte ich zu ihr “ (H 244) Die Entwicklung des Bildes deutet auf eine Kreisbewegung hm, die mit der Rah­ menstruktur des Romans konvergiert (H 7, 255) Traumahnhch assoziieren sich m der geschärften Wahrnehmung der Ich-Figur die Kindheitserinnerungen an die Großmutter mit banalen Erlebnissen des Alltags Die imaginative Fortsetzung des Titelbildes zeigt auf anderweitige bildliche Momente des Textes und eröffnet em Feld von Möglichkeiten zur Decodierung So wie die fragmentartigen Textpassa­ gen sich m der Retrospektive der Ich-Figur durch bildliche Assoziationen im Ro­ man fortpflanzen, verselbständigen sich die einzelnen bildlichen Motive im Blick der Erzählerin, ohne im wesentlichen das Epizentrum Herztier aus dem Auge zu verlieren

12

11 vgl Muller, Heiner Der Schrecken ist die erste Erscheinung des Neuen In ders 1990, S 21-24

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HaS 89 Auf ähnliche Weise werden die Herztiere, hier Seelentiere, in Hunger und Seide evident „Das Fliegen der Seelen hatte ich als Kind jeden Sommer gesehen [ ] Wir gossen die Blumen, jeder für sich Es ging schnell, die Erde war durstig Dann setzten wir uns nebeneinander auf die Treppen der Kapellen und zeigten stumm zu den Grabern, aus denen gerade eine Seele flog “

Philipp Muller

Ein Titel/Bild inmitten von Bildern (Herztier)

Das schweigende Herztier Vor jeglicher Erwähnung des Titelbildes Herztier wird dieses m einem Monolog des Großvaters in symboltrachtiger Bildlichkeit expliziert )

Ich ging in den Eßraum und riß den Kühlschrank auf Das Licht ging an, als hatte ich es von außen hmemgeworfen Seit Lolas Tod lagen keine Zungen und Nieren im Kühlschrank Aber ich sah und roch sie Ich stellte mir vor dem offenen Kühlschrank einen durchsichtigen Mann vor Der Durchsichtige war krank und hatte, um langer zu leben, die

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Er spielte gerne Schach Der Kompaniefnsor kam auf den Blattersaft, weil ich dickbelaubte Aste brachte, aus denen ich ein Schachspiel schnitzte Es waren aschgraue und rote Blatter an den Asten des gleichen Baumes Und so ver­ schieden wie die Blatter war auch das Holz Ich schnitzte eine dunkle und eine helle Hälfte der Schachfiguren Die hellen Blatter wurden erst im Spätherbst dunkel Die Baume hatten diese beiden Farben, weil die aschgrauen Aste im Wachsen jedes Jahr diese große Verspätung hatten Die beiden Farben waren gut für meine Schachfiguren, sagte der Großvater (H 16f) x An einem Baum, Blatter und Holz in blutroter und mausgrauer Farbe - die Wort­ komposition Herz-Tier dringt hier in den Blick In der Verarbeitung des Baum­ holzes zu Figuren für das taktische Zweierspiel findet sich die Gegensätzlichkeit der beiden konkurrierenden Kategorien Das herz- und mausgraufarbene Holz gewinnt eine konstitutive Bedeutung für den Großvater In permanenter Auseinandersetzung mit seinen Weltknegserfahrungen kann er seine innere Unruhe nur im Schachspiel austragen - aber nur verbissen und einsam, indem er „mit der hellen und dunklen Farbe gegen sich selbst spielt“ (H 50, Hervorhebung Ph M) Analog steht dazu die Äußerung der Großmutter „Du sollst noch nicht schlafen, dem Herztier ist noch nicht zu Haus “ (H 138) Als jedoch die Königinnen, die als nicht unwichtige Spielfiguren sogar mit Herzstei­ nen versehen sind, verschwunden sind, weigert sich der Großvater, neue zu schnitzen Der Möglichkeit beraubt - oder gar seines einzigen Lebensinhaltes -, seine innere Unruhe im Spiel auszutragen, stirbt der Großvater darauf Ähnliche Tragweite gewinnt das Titelbild Herztier an anderen Textstellen im Roman So erweist sich die Ich-Figur als unfähig, sich vom Leben in der Angst zu befreien „Der Tod pfiff von weitem, ich mußte Anlauf nehmen zu ihm Ich hatte mich fest in der Hand, nur em winziges Teil machte nicht mit Vielleicht war es das Herztier “ (H 111) Das Herztier entpuppt sich als eine conditio sme qua non, es gilt, es zu beruhigen, wie dies auch die oben erwähnten Kommentare der sin­ genden Großmutter zu Großvater und Kmd verdeutlichen Als die Ich-Figur emer erschütterten fremden Frau tröstend das Haar streichelt, befindet sich das Herztier jener Frau in einer ähnlichen Unruhe, die es befähigt, körperliche Grenzen zu überschreiten Wahrend dem Herztier beim Begräbnis des Vaters ebenfalls eme Fähigkeit zur korperuberschreitenden Transformation innewohnt, wird das Titelbild an anderer Stelle ausnahmsweise im Konkreten identifiziert

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Eingeweide gesunder Tiere gestohlen

Ich sah sein Herztier Es hing eingeschlossen m der Glühbirne Es war ge­ krümmt und müde Ich schlug den Kühlschrank zu, weil das Herztier nicht ge­ stohlen war Es konnte nur sein eigenes sein, es war häßlicher als die Einge­ weide aller Tiere dieser Welt (H 70, Hervorhebung Ph M) Zum schwachen Gluhdraht wird das Herztier des durchsichtigen Mannes in der geschärften Perspektive der Protagonistin, es wird identifiziert als em häßliches Organ Eme Möglichkeit zur Interpretation dieser zunächst unverständlichen Vorstellung bietet sich, wenn der vorangehende Abschnitt herangezogen wird In dieser bildlichen Verknupfüng wird die Illusion der Gerüchte über den Diktator entlarvt im sozialistischen Reich der Notwendigkeit beuchten die Freunde über scheinbare Krankheiten des Diktators, die zum Durchhalten und Abwarten er­ muntern, ohne daß der erhoffte Tod des Diktators überhaupt emtntt In der Be­ gegnung mit dem Kühlschrank, m dem Lola ihre angeschafften Eingeweide ge­ wöhnlich aufbewahrte, wird offenbar, daß der imaginative durchsichtige Mann, scheinbar sterbenskrank, zur Verlängerung seines Lebens die Eingeweide gesun­ der Tiere stiehlt Sem Herztier bleibt jedoch ungestohlen Der durchsichtige Mann, mit großer Wahrscheinlichkeit der scheinbar kranke Diktator, ist eben nicht emer, der bestohlen wird und sterben muß Er ist vielmehr derjenige, der sich der gesunden Tiere seiner Herde und ihrer Eingeweide bedient, um sich am Leben zu erhalten Sem Herztier bleibt verschont und verschwmdet nicht, auch nicht durch entsprechende Gerüchte (HS 70, 78) Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß das Titelbild Herztier an den verschiedenen Stellen im Textverlauf durch differente Bedeutungen und Qualitä­ ten gekennzeichnet ist Die Möglichkeit, über das jeweilige textuelle Umfeld den Neologismus zu erläutern, hangt dabei mit vielen anderweitigen Bildern, Ereig­ nissen und Explikationen des Romans zusammen So gewinnt das Titelbild seme Bedeutung durch mtratextuelle Verflechtungen mit den verschiedenen Figuren und Geschehnissen innerhalb des Romans Als eme zusammengefugte Dingvorstellung weist das Motiv eme signifikante Bildlichkeit auf In zahlreichen Anspie­ lungen und assoziativen Verbindungen greift diese über die Wortkomponenten hinaus und ist semantisch uberdetermmiert13 Als solches ist das Titelbild nicht

!3vgl Freud 1942, S 295

Philipp Muller

Ein Titel/Bild inmitten von Bildern (Herztier)

endgültig oder gar eindeutig zu interpretieren, sondern bleibt es als zentrales Bild des Romans m seiner Ratseigestalt vieldeutig Zwar vermag man über den jewei­ ligen Kontext eine konkrete inhaltliche Bedeutung zu finden, eine generalisierend bestimmende Explikation bleibt jedoch nur in restriktiver Weise möglich Das Herztier, obgleich konkrete Visuahtat suggenerend, hintergeht doch die veremdeutigende Anschaulichkeit und entzieht sich folglich in seiner Abstraktheit noch dem begrifflichen Denken Das Titelbild verweigert eine eindeutige Identifi­ kation im Konkreten und bleibt in seinem textuellen Umfeld em rätselhafter Fremdkörper Als solches, fremd und abstrakt, sagt es nichts, verneint die platte Aussage, die em Denken eines anders Möglichen unterbinden wurde Herztier stellt nicht nur in seiner Zusammenfugung Neues dar, sondern ist zu­ gleich „die Sehnsucht nach Neuem“, die als em utopisches Moment nur leere Form, nicht gefüllte Gestalt des Neuen werden darf, denn alles Neue ist fürchter­ lich, wie Terezas Erzählung offenbarte 14 Herztier, das noch ausstehende Dritte, kann derart als em Medium der Kritik am Falschen, „am Schein von Versöhnung [ ] inmitten des Unversöhnten“ verstanden werden 15

gleichbedeutend mit Liebe, Vergeben und zugleich mit der Unmöglichkeit dessel­ ben m einer angebundenen Gesellschaft Von einer Affäre mit einem fremden Mann erzählt die Ich-Figur

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Grasharfe wider Rasenmäher Em nicht weniger bedeutendes Motiv des Romans ist das an zahlreichen Textstellen erwähnte Gras Dem Titelbild nicht unähnlich, vereint das Gras-Motiv verschiedene Vorstellungen in sich Es spielt auf zahlreiche andere Motive und Passagen des Romans an, so daß eine unterschiedliche Vielzahl von Assoziatio­ nen sich auch um dieses Bild traumahnhch zentriert Wie im Traum die Bildlichkeit auf bereits existentes Material im Unbewußten zuruckgreift, sind es im Falle des Gras-Motives Sprichwörter bzw alltagssprachhche Redewendungen, denen die Bildlichkeit pragmatisch entlehnt sem konnte 16 In Anlehnung an die alltagssprachhche Phrase „Uber eine Sache Gras wachsen lassen“ kann das Gras-Motiv in Herztier interpretiert werden Nachdem die IchFigur von ihrer Freundin Tereza verraten wird, diese sofort nach Rumänien abrei­ sen muß und kurze Zeit darauf an ihrer Krebserkrankung stirbt, zwingt sie sich, ihrer verstorbenen Freundin zu verzeihen „Ich wollte, daß die Liebe nachwachst, wie das gemähte Gras“ (H 161, vgl 162) Im konkreten Vergleich wird Gras

14 Adorno 1993, S 55, vgl HS 52, em ganz ähnlicher Gedanke der unerfüllten Utopie ex negativo ist bei Heiner Muller erkennbar Der Schrecken die erste Erscheinung des Neu­ en Zu einer Diskussion über Postmodernismus in New York (1990, S 21-24) 15 Adorno 1993, S 55 16 vgl Freud 1942, S 344 bzw 347

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Von Liebe sprach er nie Er dachte an Wasser und sagte, ich sei em Strohhalm für ihn Wenn ich em Strohhalm war, dann aber einer auf dem Boden Dort la­ gen wir jeden Mittwoch nach der Arbeit im Wald Immer auf derselben Stelle, wo das Gras tief und die Erde fest war Das Gras blieb nicht tief Wir liebten uns eilig, dann waren Hitze und Frost zusammen m der Haut Das Gras richtete sich, ich weiß nicht wie, wieder auf (H 170) Liebe wird hier als eine Unmöglichkeit formuliert Der Mann denkt bereits an die bevorstehende Flucht über die Wasser der Donau mit seiner Ehefrau, wahrend er bezüglich der scheinbar Geliebten vom rettenden Strohhalm spricht - „Aus Gras wird Heu“ Folglich kann das Gras nicht tief bleiben, denn auf „dem Waldboden ist em Strohhalm em Stuck Mist Das war ich für ihn und er für mich Mist ist em Halt, wenn Verlorenheit schon Gewohnheit ist“ (H 171) Gleichwohl wird hier das Paradoxon des bildlichen Motives formuliert Das Gras, gemäht oder nieder­ gedruckt, wachst auf unerklärliche Weise nach (H 8) Erst im Exil kann die Pro­ tagonistin m Verkehrung einer weiteren Redewendung - die Behauptung, „DasGras-wachsen-zu-horen“ - dem entgegenhalten „Heute horcht das Gras, wenn ich von Liebe rede “ (H 163) Das Motiv Gras versammelt noch eine weitere Gruppe von Anspielungen und Assoziationen, deren zentraler Gehalt m der prologartigen Einführung des Ro­ mans vorgestellt wird „Mit den Wörtern im Mund zertreten wir soviel wie mit den Fußen im Gras Aber auch mit dem Schweigen “ (H 7) Damit wird bereits zu Begum von Herztier das Ungenugen an der Sprache thematisiert Sprache er­ möglicht keine „Wahrheit“, keinen individuellen und angemessenen Ausdruck für das Einzigartige von Erlebtem Die Allgemeinheit der Sprache ist vielmehr von einer gewissen Lächerlichkeit geprägt „Wenn wir schweigen, werden wir unan­ genehm, sagte Edgar, wenn wir reden, werden wir lächerlich “ (H 7, 252) Im mtertextuellen Vergleich mit der Grasharfe von Truman Capote erweist sich dort die Gras-Metaphernur als em rem konservierendes und bewahrendes Moment In Herztier birgt das Motiv darüber hinaus eine kritische Problematisierung der Vergeblichkeit des allgemeinen Mediums Sprache und knüpft derart unmittelbar an den Unsagbarkeitstopos der klassischen Moderne - gerade auch m der Seite des Schwanengesanges, der noch mit den eindringlichsten Wort-Bildern das Ver­ sinken der Signifikanz beschwort17

17 vgl Capote 1963, S 7f, 208

Philipp Muller

Ein Titel/Bild inmitten von Bildern (Herztier)

Trotz der Hinfälligkeit der Sprache findet das Erzählen der Ich-Figur keinen Ab­ bruch, sondern findet in deren Erinnerungen ungehindert seine Fortsetzung Ein­ ziger Weg aus dem vereinheitlichenden Medium scheinen die lyrischen Satze aus Lolas Heft oder die Verwendung vieldeutiger Bildlichkeit zu sein, denn das „kann man im Kopf nicht fassen “ (H 44) Dem scheinen die zahlreichen bildlichen Definitionen des Textes wie zum Bei­ spiel die vier Todesarten - Gürtel, Fenster, Nuß und Strick - zu widersprechen Jedoch smd diese vielmehr als solitäre Manifestationen der Ich-Figur zu verste­ hen Sie versuchen, die einzigartigen Todesarten, den inkommensurablen Verlust der Freunde festzuhalten Folglich erfahrt das subjektive Detail wider dem Gan­ zen eine Aufwertung Und doch hegt in den selbstgesetzten Definitionen eme Anmaßung, wie sie der vereinheitlichenden kommunikativen Sprache nicht unubhch ist Die Tragweite solcher Hybns, die bereits im Roman und dessen Titel Der Fuchs -war damals schon der Jager seinen Ausdruck findet,18 wird am Beispiel des Singvogels Neuntoter expliziert Edgar beuchtet der Protagonistin darüber, daß „die Alten“ mit selbstgeschnitzten Pfeifen die Vogel verwirrten

tergedichte20 als auch der Kontext des Neuntöters in Herztier legen Zeugnis ab von der ambivalenten Position des Dichters bzw des Gedichteten Das Gedichtete bzw der Gesang des Neuntöters entspringt der Intention, der Zensur des Allgemeinen zu entkommen, zugleich das Detail zu retten Der inten­ dierten Überbewertung des subjektiven Details wohnt dennoch em gewisses Maß an Selbstherrlichkeit inne, die der Totahtat des Allgemeinen nicht ganz fremd ist Nur die Angst der Komplizen „vor dem tonenden Biß/In die Kehle des Tags/Den sie züchten“,21 befreit von diesem und von den Komplizen, wie auch dem Sing­ vogel Neuntoter nur der eigene Gesang seiner Stimme das Überleben vor den Pfeifen der Alten sichert „In den Zugen des Herrschaftlichen [ ] spricht es [das Gedichtete] gegen die Herrschaft “22 Derart befreit vom Ritual des Ganzen nur, was ihm das Seme gibt23

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Die Vogel irrten sich in den Baumen und Nestern Und wenn sie außerhalb des Waldes flogen, verwechselten sie das Wasser der Pfützen mit Wolken Sie stürzten sich tot Hier hat nur em Vogel sein eigenes Leben, schrieb Georg, der Neuntoter Seme Stimme unterscheidet sich von allen Pfeifen Er macht die Alten verrückt Sie schneiden sich Aste vom Sanddom und stechen sich die Hande an den Domen blutig Sie machen fingerkleine und kmderlange Pfeifen aus dem Holz, aber der Neuntoter wird nicht verrückt19

Bei emem spateren Treffen der Freunde identifiziert sich Freund Georg mit dem Singvogel Neuntoter (H 165) Nach Georgs mystenosen Tod im bundesdeutschen Exil entdeckt Kurt neun Gedichte, wovon acht den Titel Neuntoter tragen (H 236) Die obigen Verweise - der singende Vogel, die Neuntöter-Gedichte, der ungeklärte Tod sowie die Identifikation Georgs als Neuntoter - erhärten die Hy­ pothese, die Romanfigur Georg als eine Anspielung auf den rumamendeutschen Dichter Rolf Bessert zu verstehen Sowohl dessen zwei veröffentlichte Neunte-

Das Gedichtete, dem sinnstiftenden Zusammenhang der Komplizen entronnen, lauft jedoch m seiner Erhabenheit Gefahr, dem Lächerlichen anheim zu fallen das alte Sinnbild des Dichters, der Kranich mutiert zur mediokren Existenz emes beliebigen Vogels24 Dem zu entgehen ist die Intention der komplementären Vieldeutigkeit der weiteren Motive des Romans Eine stillstehende Dialektik der Bilder Paradigmatisch kann dafür das Gras-Motiv gelten Interpretiert als Problem der Liebe und des Vergebens, ist es nicht weit entfernt von der Unmöglichkeit ange­ messener Kommunikation, d h des sozialen Austausches Er wäre bereits Vor­ aussetzung für Liebe und Verzeihen Derart ist das Gras-Motiv gekennzeichnet von wiederholter Verschiebung m seinen möglichen Bedeutungen und partizipiert auch dieses Bild an mehreren Vorstellungen zugleich, die wie das Titelbild Herz­ tier in Relation zu ferneren Bildern und Ausführungen des Romans steht In der Bildlichkeit von Herztier tut sich eine Divergenz des Matenals auf Neben eindeutigen Bilddefinitionen stehen zentrale Motive, die in wechselnden Zusam­

20Bossert 1986, S 39 bzw 73 21

Bessert, Neuntöters Epilog, in ders , S 72 22 Adorno 1993, S 293 23

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vgl F 223 - die verfolgte und gejagte Figur Clara wird zum Jager

H 99 Der Satz „Hier hat nur ein Vogel sein eigenes Leben, schrieb Georg, der Neun­ toter“ deutet bereits hier die Identifikation des Neuntöters mit Georg an, insofern die Fortsetzung des Zitates der Ich-Figur („schrieb Georg, der Neuntoter“) als Apposition gelesen werden kann

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Die Konsequenz willkürlicher Definitionen wird deutlich, als eines der vereinbarten Zeichen der Freunde für Verhör, Durchsuchung, Beschattung und Todesdrohung diese selbst etnholt „Kurt war seit drei Wochen erkaltet [ ] Wir gebrauchten das Wort erkal­ tet nicht, denn es stand in den Briefen [für Beschattung] “ (H 101, vgl 90, ähnlich TS 26 bzw 51 ) 24 Adorno 1993, S 295

Philipp Muller

Ein Titel/Bild inmitten von Bildern (Herztier)

menhangen und m assoziativer Verbindung zu anderweitigen Textstellen em be­ wegliches, nicht endgültiges Feld von Deutungen evozieren Die Reflexion von Herztier offenbart die innewohnende Dynamik des Textes 25 Im Gegensatz zur vereinheitlichten Sprache der totalitären Gesellschaft wird im Aggregatzustand von flüssigem und festen Elementen eine dem Text innewoh­ nende Differenz ausgetragen In der Kommunikation ausgeschlossen, erfahrt der Riß im Titelbild Herz-tier, der Konflikt zwischen Individuum und Kollektiv als nicht-sagbares und zugleich untersagtes Berücksichtigung Der Roman Herztier tragt den Gegensatz von Partikularem und Totalem m der bildlichen Struktur un­ auflöslich aus In dieser Ambivalenz kristallisiert sich als paradoxes Formprmzip eine Bildlichkeit m feststehender Bewegung heraus Das erinnernde Erzählen gestaltet sich in seiner fragmentarischen Struktur zu ei­ nem Kompositionspnnzip, das mit der diskontinuierlichen Bildstruktur in Herztier konvergiert Dje retrospektiven Fragmente offenbaren emen Diskurs der IchFigur, der die Kennzeichen des Fremdsems und der Einsamkeit tragt Sie unter­ scheiden sich in der zentralen Kategone des Tempus und lassen sich differenzie­ ren m die Zeiten der Kindheit und des Erwachsenem Die Fragmente in der Zeit des Erwachsenseins smd im Präteritum geschrieben, die Kmdheitsennnerungen gegen alle konventionellen chronologischen Kategonen als vorvergangene im Präsens Jenes Paradoxon widerspncht heftigst einer alltäglichen und allgemeinen Zeitwahmehmung und laßt der subjektiven und zerteilten Wahrnehmung des De­ tails wiederum den Vorrang Formal heterogen m nachfolgender Reihung geordnet weisen diese auf gleitende bildliche Übergänge Der temporaren Differenz entgegen können signifikante, assoziative Verknüpfungen geflochten werden Der individuierende Kommentar des Lesers erfahrt an dieser Stelle ebenso eine Aufwertung wie auch die Priorität des bildlichen Details vor der syntagmatischen Ordnung des Textes Derart of­ fenbart die diskontinuierliche Form m Herztier em erzahltechmsches Gestaltungspnnzip, das die Form zu emem über sich hinausweisenden Inhalt sedimentiert „Inhalt und Form smd im Kunstwerk ems Gehalt “26 Em mögliches Mo­ ment jenes Gehaltes mag auf den Angelus Novus Benjamins oder dessen Variante von Hemer Muller verweisen27 Das Angesicht auf die Vergangenheit gerichtet, ist im Blick der Protagonistin nur eine einzige Katastrophe zu erkennen, kem te­

leologischer oder historistisch verordneter Geschichtsverlauf Vom Sturm der fortschreitenden Zeit weitergetrieben bleibt die Möglichkeit versagt, die toten Freunde zu wecken, gar die fragmentarischen Trümmer wiederaufzubauen Der aufgenssene Blick harrt in hektischer Versteinerung auf messianische Splitter, mit geknebelter Kehle singt der offene Mund von den Trümmern des Vergangenen

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Literaturverzeichnis Muller, Herta 1991 Der Teufel sitzt im Spiegel Reinbek [TS]

dies 1993 Niederungen Reinbek [N] dies 1994 Der Fuchs war damals schon der Jager Reinbek [F] di es 1994 Herztier Reinbek [H]

dies 1995 Hunger und Seide Reinbek [HS] dies 1996 Das Haar auf der Schulter Musikalische Meditationen Fünf Texte zur

Messe in C-Dur von Franz Schubert In FR Nr 121 v 18 5 96, ZB 3 [HaS] dies 1996 In der Falle Göttingen [IF]

Adorno, Theodor W 1993 Ästhetische Theone Frankfurt a M , 13 Auf!

Apel, Friedmar 1994 Kirschkern Wahrheit, in FAZ Nr 139 v 4 10 94, S 38 Benjamin, Walter 1972-74 Gesammelte Schuften Bd I, IV Hg v Rolf Tiedemann,

Hermann Schweppenhauser (u a ) Frankfurt a M Boll, Heinrich 1977 Billaid um halbzehn In Werke Romane und Erzählungen Bd 3

1954-1959 Hg v Bernd Balzei Frankfurt a M , S 292-535 Bossert, Rolf 1986 Auf der Milchstraße wieder kein Licht Gedichte Berlin Capote, Truman 1963 DieGiasharfe FiankfurtaM

Deleuze, Gilles 1995 Foucault Frankfurt a M Freud, Sigmund 1942 Gesammelte Werke II/III Die Traumdeutung über den Traum

Frankfurt a M Michaelis, Rolf 1994 Em Uberlebensbuch Herta Mulleis Roman „Herztier“ In der

Angst zu Haus In Die Zeit v 27 10 94 Muller, Heiner 1990 Hemer Muller Material Texte und Kommentare Hg v Frank

25 Adorno 1993, S 288 bzw 516 26 Benjamin, Einbahnstraße, in ders 1974, S 107, vgl Adorno 1993, S 15

27 Muller, Heiner Der glucklose Engel, in ders 1990, S 7, Benjamin, Uber den Begriff der Geschichte, in ders 1972, S 697f

Homigk Leipzig, 2 Aufl Rimbaud, Arthur 1972 Bnef an Paul Demeny [15 Mai 1871] In Oeuvres completes Pa­ ns, S 249-254

Über Gänge. Kinästhetische Bilder in Texten Herta Müllers

(Ralph Köhnen) Gehen und Denken/Schreiben/Sprechen, Körperbewegung und Bildwahmehmung stehen in den Texten Herta Mullers m signifikantem Zusammenhang, wie er in vergleichbarer Präzision und Vielseitigkeit selten derart konsistent zu beobachten ist1 Vielleicht noch am ehesten bei einem ihrer Vorbilder, dem immer wandern­ den oder maandemden Peter Handke, dessen Reisen wie bei Herta Muller immer auch Kopfreisen sind, Bewußtseinsexperimente in Farben und Silben, bewußt auf die Wahmehmungsseite des Subjekts angelegt und aus der Imaginationskraft die Gesellschaft renovieren wollend Wahlverwandt ist das Motiv aber auch mit Thomas Bernhards Gehen, der dort vielleicht sein poetologisches Prinzip am stärksten transparent gemacht hat Das Gehen seiner drei Protagonisten gewahrt Schutz vor dem Unberechenbaren, laßt Erlebtes im steten Rhythmus bewaltigbar erscheinen - doch schlagt genau der regelmäßige Takt in den persistenten Rhyth­ mus des Wahnsinns, m die staccatoartigen Attacken der Figur Karrer um, in de­ nen er deliriert

Was die Texte Herta Mullers angeht, konnte man drei Organe angeben, die bei der Entstehung von Schrift mithelfen Auge, Bem und Hippocampus, der an der Schnittstelle von Archi- und Neocortex für die Verbindung von Reflexen, Imagi­ nation und bewußtem Denken, aber auch für das Gleichgewichts- und Rhythmusgefühl verantwortlich ist Das Gehen verschaltet nicht nur diese Organfünktionen, sondern bildet hier grundlegend die Nahtstelle zwischen Innen und Außen, und mcht umsonst stoßen sich Gehende in Texten Herta Mullers Arme, Beine und Fuße, gelegentlich wahnen sie sich auch auf dem Kopf laufend - wenn die inneren Bilder nicht auf das Außen passen oder andersherum die Signale von draußen so sperrig sind, daß sie nicht gelebt werden können Und insofern ist Wahrnehmung nicht nur eine erfundene, sondern auch erfindungsreiche, wenn sie - durchaus im

1 Reisende auf einem Bein und Barfüßiger Februar sollen dabei im Vordergrund der Analyse stehen Der Themenkomplex wäre eine eigene umfassende Studie wert, zu der erst fragmentarische Arbeiten vorhegen Denkbar wäre hier eine Lime von Kleists Ma­ rionettentheater- Aufsatz oder dem Brief Uber die allmähliche Verfertigung der Gedan­ ken beim Reden über Bernhard und Handke bis zu Karl Krolows Im Gehen, Peter Weiss’ Gespräche der drei Gehenden oder Am Schreiben gehen von Paul Nizon Mit kunstkomparatistischen Aspekten und vielen literarischen Kurzbeispielen bietet Kestmg 1995 hier einige Perspektiven an

Ralph Köhnen

Kmasthetische Bilder

konstruktivistischen Sinne - eine Ordnung chaotischer Sinnesdaten erst herstellt Und auch das ist noch fast zu grobschlächtig Denn Das Außen, in der Bewe­ gung abgelaufen oder verinnerlicht, arbeitet mit an Sätzen und Bildern, und die Bewegung ist es, die die Wahrnehmung erfindet Der Mund entsteht mit dem Schrei, die Augen durch die Bilder, die Fuße durch das Gehen

Kraft gesetzt, permanent werden Sprachbilder ummarkiert und mit neuen Erfah­ rungen angereichert2*

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Dies ist sozusagen die Produktionsstufe des somatischen Bildersammelns, wie es dann im Textmatenal organisiert wird, auf dem Papier weiterlebt und dort emen Schnftraum bildet, der sich verselbständigt und so eigene, über die Autormtention hmausreichende Optionen mehr oder weniger hoffnungsvoll eröffnet Ohne nun die wiederkehrenden Topoi oder Tatigkeitsverlaufe symbolisch zu überhöhen oder zu monosemieren, sollen nun grundlegende Strategien, besser Mechanismen des bildlichen Verfahrens an ausgewahlten Textbeispielen erläutert werden Dem hegt die Überzeugung zugrunde, daß nicht so sehr hermetische Verschlüsselung, sondern vielmehr em idiosynkratisch uberformter Intratext mit dichtesten Ver­ knüpfungen vorhegt, mit Bezügen, die durch die Zusammenballung bestimmter syntagmatischer Elemente auf der paradigmatischen Ebene entstehen und die sich als Algorithmus darstellen lassen, m statu nascendi, m ihrer allmählichen Verfer­ tigung Nicht also sollen Signifikanten identifiziert, vielmehr Handlungs- und Erfahrungsver/au/e dargestellt werden, denn vielfach werden in Bildern Dmge zu­ sammengedacht, weil sie simultan erfahren werden, nicht weil sie per se Ähn­ lichkeit hatten Dafür scheint der Begriff des ideogrammatischen Bildes ange­ messen, der konzeptuell eme Untergruppe der Metonymie bildet, tatsächlich aber wohl generell m der Literatur nach 1900 emen kaum zu überschätzenden Stellen­ wert in der Bildlichkeit emmmmt Die ideogrammatische Bildfugung zeichnet sich dadurch aus, daß sie neue Kon­ stellationen durch emen subjektiv erfahrenen Zusammenhang eröffnet, durch As­ soziationen, die idiosynkratisch sind und nur durch Kenntnis des jeweiligen Er­ fahrungshintergrundes ‘lesbar’ Doch äußert sich dieser nicht unmittelbar, son­ dern ist selbst wieder nur m Spuren zu erkennen Das ideogrammatische Verfah­ ren ist von subjektiver Willkür, von der Plötzlichkeit der Situation geprägt, von der Isolation einzelner Teile aus emem Ablauf und ihrer Rekomposition Der se­ mantische Zusammenhang ist entsprechend gelockert, das tertium comparatioms der Metapher unter Umstanden gar mcht mehr erkennbar, eher noch wäre der raumlich-nachbarschafthche Zusammenhang, wie ihn die Metonymie prägt, durchsichtig Dazu kommt jedoch noch eme zeitliche Ebene Das simultane Er­ fahren kann heterochrone und heterotope Dmge verbmden und die Ordnung der Dmge unterlaufen Damit ist auch die konventionahsierte Semantik häufig außer

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Die klappernde, kurzschnttige Syntax, das Tentative der Darstellungswelse m Texten Herta Mullers bildet den Entdeckungsprozeß mimetisch nach, den derje­ nige durchlauft, der eine neue Bilderschriftfigur entdeckt, seine Unscharferelationen kennzeichnen den Produktions- und den Rezeptionsvorgang Der Blick rutscht, die Linse weit geöffnet, Augenlider weggesprengt, akzeptiert die treiben­ de Imagination alles als Bildmatenal, was sich anbietet und der inneren Dispositi­ on entspricht

Viele Beispiele für das Entstehen der Bilder aus einem ideogrammatiscehn Zu­ sammenhang ließen sich geben, hier nur zwei In Barfüßiger Februar tritt im Dorf em Sanger auf, im Publikum befindet sich der Traktorist Ionel Er hat eine Kappe mit Quaste aufgesetzt, steht vor dem Schmied und verdeckt damit sein Auge „Ionels Quaste stand im Klang der sanftbesungenen Liebe m seiner leeren Augenhöhle und war em wollnes Auge “ (BF 17) Durch die Position des Beobachters/Erzahlers im Raum, durch die Einstellung seines ‘Kameraauges’ entsteht die Bildfugung, es heißt nicht ‘sah aus wie’ oder ‘trat an die Stelle von’, sondern das eme wird mit dem anderen schlicht gleichgesetzt Behilflich ist dabei das la­ konische Indikativ Präteritum, und die einfache Identifikation ermöglicht einen Austausch semantischer Qualitäten m beide Richtungen Das Auge ist ‘wollen’, die Wolle wird zum Auge, das Textile wird zum menschlichen Organ und umge­ kehrt Es sind diese Vertauschungsproben, wie sie immer wieder m kurzen Aus­ sagesätzen oder Halbsatzen unternommen werden An anderer Stelle heißt es „Der Morgen war em Krug aus Glas und unser Dorf ein Steinhaufen auf semem Grund, so klein und schwarz, wie em Käfer, der im Mist der Erde wühlt “ (BF 26) Wieder werden zwei heterogene Dmge - Morgen und Glaskrug -, die im si­

2 Vergleichbar ist dies mit bestimmten Verfahren der bildenden Kunst, Situationen in

Bild- oder Schriftzeichen zu fassen Der italienische Maler Francesco Clemente, der seit den siebziger Jahren mit der Intention arbeitet, persönliche Erfahrungen m einfachen Bildzeichen zu kondensieren, erläutert das ideogrammatische Prinzip, indem er auf den Wortentstehungsprozeß des Chinesischen hinweist „wenn der Chinese ‘Stuhl’ sagen muß, dann sagt er nicht ‘Stuhl’ Das Ideogramm zeigt keinen Stuhl, sondern zeigt [ ] ich weiß nicht, vielleicht ‘Bambus’ Der ‘Bambus am Morgen’ steht irgendwie für den Stuhl Worauf es ihnen ankommt, ist die Situation, in der das, was sie ausdrucken mochten, sich befindet Und sie wählen einen analogen Ablauf der Dinge, einen Vorgang, und sie isolieren einen Teil aus diesem Vorgang Niemand weiß wirklich, warum sie ge­ rade dieses wählen und nicht irgendetwas anderes “ (Zit bei Rainer Crone (Hg ) France­ sco Clemente Pastelle 1973-1983, S 16 )

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Kinasthetische Bilder

multanen Erfahrungszusammenhang stehen, identifiziert, dann wird noch em per­ sonifizierender Vergleich angehangt das Dorf ist wie em wühlendes Lebewesen

schlendernd, in allen denkbaren Tempi (R 15, 24) An einer Stelle wird das Ge­ hen von der Geschwindigkeit einer am Faden geführten Schildkröte bestimmt eine Anspielung auf Benjamins Geschichte des Flaneurs, der m den Passagen mußiggeht4 So gibt es das Schlendern, als „em unbekümmertes Gehen“, als ver­ schwenderische Bewegung, die aber unmöglich werden kann „Langsam und schnell gehen, schleichen oder hetzen konnten wir noch Schlendern, das hatten wir verlernt “ (H 85) Bedrohliche Schritte sind hmter Irene (R 19), kleine Schritte signalisieren Unruhe (R 52) oder Unsicherheit (R 81) Gehen kann die schlichte, instinktive Reaktion auf die klaustrophobische Angst vor dem Stehenbieiben sein (R 31), andererseits „schlagen“ ihr Schritte m die Ohren (R 72) Dagegen hilft em ‘konspiratives’ Gehen „Ich machte mich beim Gehen so leicht wie em Schatten, man hatte mich gar nicht anfassen können Ich ging nicht zu langsam und nicht zu schnell “ (H 82)

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Eine Prosodie des Gehens Zu den Ideogrammen kann man nun auch diejenigen Bilder zahlen, die durch Orts- und Perspektivwechsel, durch die Wahl eines Sichtausschnittes gewonnen, also durch das Gehen (oder im weiteren Sinne durch Reisebewegung) entstanden sind Bei Herta Muller m hohem Maße selbstreflexiv, erzählen sie die Bedingun­ gen ihres Entstehens meistens gleich mit

Gehen erweist sich zunächst ganz grundsätzlich m der - wenn möglichen - Wahl des Lebensortes und konsequent als Alternative von Lebensformen „Wie Ich steh an der Stelle, wo sich der Gehsteig teilt Ich muß mich entscheiden, auf wel­ cher Straßenseite ich gehen werde [ ] Der Unterschied ist der, wenn ich da gehe, oder dort em Stuck Leben da Oder em Stuck Leben dort “ (TS 93) Bewegung, Gehen oder Reisen wird im Titelmotiv angesprochen und im Text aufgegnffen „Reisende auf einem Bem und auf dem andern Verlorene“ (R 92), beschrieben als em transitorischer Zustand derer, die mit ihren Wünschen zu spat kommen, der Mauersprung und Heimatverlust zugleich bedeutet, ohne einen neuen begeh­ baren Ort zu bieten3

Dabei ist das Gehen em zunächst nicht bewerteter motorischer Vorgang, der an seinen extremsten Punkten sowohl die Freiheit der individuellen Bewegung, auf der anderen Seite aber auch das dröhnend Marschmaßige einer kollektiven Mo­ torik oder gar die direkte Bedrohung durch Verfolgung bedeuten kann Die Geh­ bewegung ermöglicht weiterhin - und dann werden vielleicht einzig die Optionen von Freiheit zu suchen sein -, die Veränderung der Standorte, em Schreiben in der Deixis und die benennende Aufzahlung von Benachbartem, das zusammen­ wachst Die Verschiebung der Perspektive ermöglicht em metonymisches Gleiten der Bilder m der Wahrnehmung, wie es durch die verschiedenen Arten des Ge­ hens der Figuren ermöglicht wird Dazwischen gibt es viele Varianten und sind alle möglichen Bewegungen beim Gehen zu notieren Man kann weit gehen (auch m der umgangssprachlichen Wendung ‘einen Schritt zu weit gehen’, R 67), rasch gehen, aber auch langsam

Dies wird m der soeben erschienen Essaysammlung In der Falle rekapituliert und als Gedichtfonktion bezeichnet, wenn zwischen ‘mitgebrachtem’ und ‘dortgebhebenem’ Ich unterschieden wird „Em Teil von mir war eine mir selber weggelaufene Gestalt Dieser dortgebhebene Teil hing in der Entfernung am dünnen Faden der Gedichte und wähnte sich geschützt “ (IF 19f)

Der Zusammenhang von Gehen und Empfindungen, Bildern und Denken wird immer wieder m verschiedensten Akzenten formuliert5 Daß die Gehbewegungen m verschiedenste Richtungen fuhren und diejenigen Silben besonders günstig sind, die ‘willkürlich treffen’ (R 89), korrespondiert im übrigen mit der Forderung des Surrealisten Andre Breton, bei der Bildwahl möglichst heterogene, weit aus­ einanderhegende Bereiche zu bevorzugen6 Diese maximal disparaten Bereiche erscheinen etwa Irene selbst fremd, wenn sie eine Collage aus Zeitungsausschnit­ ten anfertigt, und zwar automatistisch, ohne eigentliche Auswahl, sondern nach dem Willen der Fotos „Die Verbindungen, die sich emstellten, waren Gegensät­ ze Sie machten aus allen Photos em einziges fremdes Gebilde So fremd war das Gebilde, daß es auf alles zutraf Sich ständig bewegte “ Es wird ihr Versuch be­ schrieben, das eigene Bild zu begreifen durch Abtasten und Begehen mit den Au­ gen „Irene hängte das Bild an die Kuchenwand Sie saß am Kuchentisch Ihre Blicke waren Schritte “ (R 47) Der Bhck wird als Wanderbewegung beschrieben - was im übrigen der Metaphemsprache der Ophthalmologie entspricht -, und immer wieder wird dabei der Versuch unternommen, oppositionelle Kategorien über die Perzeption zu versöhnen 4 R 109, vgl Benjamin GS I, S 556f 5 So m einer Passage in den Niederungen, wo die Ich-Erzahlenn das Gehen auf den Hän­ den ‘realisiert’ „Ich gehe immerzu auf den Händen Ich fühle auch, daß ich mit diesen kurzen Nageln nicht richtig reden und nicht richtig denken kann “ (N 43) In Die Straßen­ kehrer heißt es „Sie kehren die Glühbirnen weg, kehren die Straßen aus der Stadt, keh­ ren das Wohnen aus den Hausern, kehren mir die Gedanken aus dem Kopf, kehren mich von einem Bein aufs andere, kehren mir die Schritte aus dem Gehen “ (N 138) 6 . -

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Kinasthetische Bilder

In diesem Komplex spielt die Rhythmik eine wichtige Rolle Irene übernimmt den Gehrhythmus eines fremden Mannes auf dessen Aufforderung, weiterzugehen (R, 21), sie weicht dem Rhythmus der Arm- und Gehbewegungen emes anderen Mannes aus, weil sie die Gefahr sieht, von ihm emverleibt zu werden (R 63), und gleichmäßiger Rhythmus wird immer wieder als bedrohliche Erstarrung empfun­ den Vielfach wird auch in anderen Texten das Motiv des Marschierens aufgegnffen, ähnliche Konnotationen ergeben sich bei Kaufhaus-Musikbeschallung Der Rhythmus wird zum Zwangsapparat „Irene bewegte sich nicht, um der Gleich­ mäßigkeit der Takte zu entgehen “ (R 53)

durch das Verhältnis von Ursache und Wirkung umgekehrt wird Der Schatten, eigentlich die Folgeerscheinung, wird jetzt zum Taktgeber des Schrittes, und wie als retinales Nachbild färbt er das, was er nun bedeckt Das Gras wird neu ge­ färbt, und über diesen Farbwechsel wird wiederum eine semantische Ummarkie­ rung veranlaßt es bekommt das tierische Attribut des Fells Das Kreuz der Kapel­ le stoßt an keine Begrenzung, und wiederum ergibt sich eine nachbarschaftliche Affizierung dadurch, daß der Rost an die Wolken weitergegeben wird Physika­ lisch nicht möglich, werden im schweifenden Blick semantische Zuschreibungen vorgenommen, die jenseits der Empirie hegen ‘fest’ und ‘metallisch’ an Wolken, die überdies anthropomorphisiert werden, wenn sich das Adjektiv ‘aufgewühlt’ als Projektion der Erzählerin erweist Gehen katalysiert verfremdete Wahrnehmung, avanciert aber auch zur umfassen­ den vitalen Tätigkeit Kontinuität des eingehaltenen Rhythmus und Diskontinuität spielen ineinander, wenn etwa m emer Szene die Wirkung von zwei Tonen einer Fahrradschelle beschrieben wird

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Die Rhythmik von Gedichten hmgegen kann eine Schutzftinktion haben In Rumänien haben sich viele Menschen an Gedichte gehalten Durch sie hin­ durch gedacht, um eine Weile nur für sich zu sein kurze Zeilen im Kopf, kur­ zer Atem im Mund, kurze Gesten im Körper Gedichte passen zur Unsicher­ heit, man hat sich durch ihre Worte selber im Gnff Sie sind em tragbares Stuck Halt im Kopf (IF 18) Auf engstem Raum wird hier die Kmasthetik des lyrischen Sprechens entfaltet durch die Verschaltung der beteiligten Organe Als Widerstandsfunktion, als Schutz des Körpers im Namen und im Rhythmus der Zeichen Aber auch im Sin­ ne einer allgemeinen Wahmehmungsdisposition konnte man von einer Prosodie des Gehens sprechen, wie sie an vielen Stellen implizit formuliert ist Etwa in Barfüßiger Februar

Im Storchkraut hinter der Kapelle schimmert Wasser und verzerrt das Licht Gehend sagte ich das Wort zuhause vor mich hin, bis eine Blattlaus schwind­ lig und betäubt vom Trommelschlag von meinem Finger fiel und vor dem gro­ ßen Bauernhaus mcht mehr zu sehen war, sagte meme Großmutter Mem Schatten schwebte neben mir Und als ich ihm meme Schuhe gab, gmg er auf der Erde, war lang und schwarz und färbte auch das Gras, das grüne Fell Uber der Kapelle wachst der Turm und um das Kreuz, das m der Luft kem En­ de findet, rosten aufgewühlte Wolken (BF 36) Der Rhythmus des Gehens begleitet neben dem Trommelschlag des Fmgers die Artikulation des Wortes ‘zuhause’ Es ergibt sich em typischer Echolahe-Effekt sagt man em Wort viele Male hintereinander, verliert es seme semantischen Schattierungen und nimmt neue Einfärbungen an - und dies gar mcht nur meta­ phorisch Der Signifikant wird zum Körper, zum Klang- oder Wortleib, zu emer Gestalt mit optischen Qualitäten Nicht zufällig ist es natürlich der Begriff des Zuhause, der m solcher Wahrnehmung verzerrt, bis zur Unkenntlichkeit verfrem­ det erscheint Wieder folgt dann dem ostinaten Rhythmus sein Gegenteil, das ihm jedoch komplementär zugehort der rutschende Blick Der Schatten schwebt, m ihn hinein werden im traumwandlerischen Spiel die Gehwerkzeuge gestellt, wo­

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Der erste Ton ist der Kopf des Friseurs Der zweite Ton ist das Echo, des Kop­ fes Verdeckt Und em Buckel Der erste Ton erschreckt Die Leute, die ihn gehn, tun plötzlich den großen Schlitt Hinaus aus den kleinen Schlitten Aus dem Gehen hinaus Weil die Leute in Schritten leben, ist der Weg wie em Vogel im Weg Ver­ scheucht Und das Leben gebrochen Der Kopf des Friseurs fahrt im ersten, im offenen Ton Die Leute stehn an der Wand Wie vom Gehsteig gefallen Das Kmd, das allem geht, halt sich die Augen zu (BF 63f) Der Schellenton wird mit Bild und Nachbild (namhch des sich bewegenden Kopfes) verbunden, er kann ferner den Gang diktieren, indem er zum Sprung anleitet Die plötzliche Unterbrechung des gleichmäßigen Gehens wird zur Allego­ ne emes verstreuten Lebens, dann zur Bedrohlichkeit des auch alltagssprachhch lesbaren ‘an der Wand Stehens’ Die Abwärtsbewegung des Fallens ist hier aber umgekehrt in das Stehen, das Kmd scheint all diesen Irritationen entgehen zu wollen, indem es sich selbst den Blick nimmt

So wie die Tone das Gehen mterpunktieren, kann das Gehen unter dem eigenen sezierenden Blick oder Gehör in „Takte“ zerfallen, die als regelmäßiger oder hektisch gebrochener Rhythmus wiederum emotional begleitet sind So etwa m Reisende auf einem Bem

Es war Erregung, die Irene durch die Straßen trieb Die Schritte ungleichmäßig, aber leicht

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Ralph Köhnen

Kmasthetische Bilder

Alles, was Irene sah, war em Zufall Es hatte auch anders sem können Und es war auch anders, schon im nächsten Augenblick (R 75)

Der Lichtfleck dtehte sich, flimmerte Dann war Irenes Kopf zugeklappt Ihr Blick bohrte sich nach innen Gange dutch den ganzen Körper Sie spurte Franz, seine Knochen, als gehörten sie zu ihr Der Körper war heiß und fand die nchtigen Worte Der ganze Körper dachte mit, dachte nach, wenn Irene was sagte (R 14)

Die Dnft der Schritte durch die Straßen entspricht der Kontingenz der Erschei­ nungen Das Thema des relationalen Wahmehmens klingt wieder an, wie es fast gleichlautend Wittgenstein m seinem Tractatus formuliert hatte „Alles, was wir sehen, konnte auch anders sein Alles, was wir überhaupt beschreiben können, konnte auch anders sein Es gibt keine Ordnung der Dinge a pnon “7 Es gibt die­ se Ordnung für Herta Muller nicht vor der Wahrnehmung, nur in Möglichkeits­ formen, und diese nicht vor der Schrift Niedergelegt sind dort vor allem die Ab­ weichungen, und der leichte, aber ungleichmäßige, entregelte Gang wie der Krat­ zer m einer Schallplatte, der gegen die Musik einen eigenwilligen ‘Rhythmus’ konstituiert, entspricht hier einem Zustand des Deliriums Dieser Terminus gibt zur Zeit der französischen Klassik - auch die Zeit der Erfindung von Psychiatrie die einfachste und sinnfälligste Definition von Wahnsinn Das Wort ist abgeleitet von lira, der Rille, und die Abweichung davon wird mit dem Präfix ‘de’ angege­ ben - der wörtliche Sinn des ‘aus der Spur Geratens’ wird dann zur übertragenen Bedeutung „vom geraden Weg der Vernunft abkommen“ 8 Körperbilderschrift Nicht also sind es Bilder, die m der Wahrnehmung auf eine Wachsplatte treffen und dort engrammatisch eingezeichnet sind, auch umgekehrt sind die Bilder nicht einfach Phantasieprodukte Wahrnehmung ist hier eher als Zusammenwirken von subjektiver und objektiver Welt, von Phantasie und Empirie zu greifen Alle wichtigen Sehdaten werden sofort in der Tiefenschichtung des Unbewußten ver­ ankert, so daß sie Korperspuren hinterlassen - und diese Spuren formulieren ih­ rerseits die wahrgenommene Welt Man konnte von somatisierten Bildern spre­ chen, die wiederum im Konnex mit Sprache und Gedanken stehen, und das Zu­ standekommen von Literatur laßt sich so als Formulierung von Korperbildem und vegetativem Sprechen bezeichnen „Und in der Nacht muß ich wie Schlaf das mitgebrachte Land in dichten und genauen Bildern durch den Körper treiben “ (TS 132) Doppelt gefaßt ist hier der Bezug von ‘Schlaf - auf das Ich oder auf die Tätigkeit des Bilderpragens

Anläßlich eines - wenn auch eher unerwünschten - Koitus mit Franz stellen sich folgende Reflexionen em

7 Wittgenstein 1988, S 68 (Abschnitt 5 634) g Robert James Dictionnaire umversel de medicine, frz Ubers Grols, Paris 1746-1748, Bd 3, S 977 (zit bei Foucault 1993, S 239)

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Der Akt der Penetration laßt den Körper zur Nachricht werden, der Blick nach außen klappt nach innen und wird zum Selbstbhck, der Gange bohrt Diese wer­ den zur Rohrenpost für somatische Botschaften, an einem bestimmten Punkt wird der Körper dann zur Hauptinstanz des Denkens, die das Sprechen bestimmt

Satze haben einen tangiblen Nachgeschmack, am Gaumen bildet sich der Rhyth­ mus ab, und derart wird der Zusammenhang von Sprechorgan und Bild markiert „Ja, es war wie gewöhnlich, wenn etwas vorbei war zu spat schalten sich die Bilder heraus, grau m grau, und wehten sich an Und eine Spur war davon im Kehlkopf steckengeblieben “ (R 24) Diese Spur, dieser Rest aber ist es genau, der das Aufschreiben erst erforderlich macht Wo die immediate Prägung der Bil­ der versagt, zeigt ihre Latenz in der Schrift eine umso größere Wirkung Das Sprechen mit fremden Stimmen im eigenen Kehlkopf (R 25) ist m diesem Sinne die Ausdifferenzierung von Innen und Außen im Ich und bereichert die Monoper­ spektive um weitere Ansichten

Wie die Bilder sich somatisieren und zu Korpersatzen werden, wird umgekehrt auch die Dinglichkeit von Sätzen geschildert, die weniger als Schallwellen, mehr noch als Leiber m der Luft hegen Satze können den Körper als Gefängnis um­ schließen (R 136), immer wieder gehen die Figuren durch Satze hindurch wie durch Gegenstände Entsprechend werden Gedanken, insofern sie auch einen so­ matischen Anlaß haben, als Gestalten gezeichnet, z B m der Architekturmetapher des Gebäudes Das Gebäude hat eine Struktur, mehr noch em ‘Gerast’ Der Blick auf den eigenen Bewußtseinsvorgang wird etwa wie folgt beschrieben

Der Satz ist em Zitat, sagte Franz Irene sah in das stille Gerüst Von wem ist das Zitat Der Arbeiter, den Irene sich ausgesucht hatte, hatte am frühen Mittag einen Fensterrahmen grün gestrichen (R 92) Das ‘Gerast’ erscheint hier im Doppelbezug auf em Baugerüst, das im Hinterhof hochgezogen worden ist, und als Bewußtseinsbild Die Suche nach dem Zitat laßt zunächst eme leere Form ms Bewußtsein treten, eine Hulse, die erst im Signifikationsprozeß gefüllt werden muß

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Subjektdissoziation als Chance. Gehversuche der Sätze Die Schritte werden von Bildern, jeweils neu eröffneten Perspektiven begleitet „Der Mann mit dem Hut geht, auch wenn es regnet, auf der aufgeweichten Seite Er meidet das Wasserbild auf dem Asphalt Das mitgeht Und von unten schaut Das Wasserbild verzerrt den Hut “ (BF 59) Die Subjektdissoziation geht so weit, daß die Bilder sich des anschauenden Subjekts bemächtigen und als bedrohlich empfunden werden In der Konstellation ist dies ähnlich der Beobachtung, wie sie m Der Teufel sitzt im Spiegel angestellt wird, daß sich die Satze nicht nur vor der Intention verflüchtigen, sondern ihr vorangehen, ja durch ihre schrittweise Artiku­ lation auch der Autonn erst selber bewußt werden - „Doch bevor ich den Satz schreibe, beobachtet mich der Satz“ -, und Ziel ist es dann „Immer neue Worte und neue Reihenfolgen m den Worten zu suchen, um das zu treffen, woraus der Satz besteht “9 (TS 35) Deutlicher noch wird der Gedanke des Textes als auto­ poetischem System an einer Passage m TS, wo das Fadenmotiv zur Metapher des Textgewebes gesponnen wird So gäbe es zwar den chronologischen, kausalen Faden nicht - es gibt ihn aber als Phantasma, das dann umso realere Produkte er­ zeugt Es gibt ihn als „Gefühl des Fadens, der sich sucht und sucht Und dann gibt es spater diese Satze Schwarz auf weiß, wie em Kleidungsstuck, in dem man selber nicht drm ist Im nachhinein kann man es anziehen “ (TS 34)

Uber die Struktur der Dinge außerhalb des Kopfes und innerhalb der Imagination werden immer wieder Denken und Gehen m Beziehung gesetzt, mehrfach aus­ drücklich „Da kamen Gedanken m Irenes Kopf und gingen“ (R 38), noch deutli­ cher m Verbindung mit der Artikulation der Gedanken beim Sprechen „Sie konnte nicht denken, nicht gehen Ob sie sprechen konnte, sie versuchte es Ob das gesprochen war, sie wußte es nicht “ (R 39) Die Gedankenbewegung steht im Verhältnis zum Tempo außerhalb des Kopfes, aber auch zur Möglichkeit wech­ selseitiger Beeinflussung „Stadt und Schädel war die Abwechslung von Stillstand und Bewegung [ ] Mal fiel die Stadt über Irenes Gedanken her Mal Irenes Ge­ danken über die Stadt “ (R 62f) Die (eigentlich linguistische) Metapher der Spra­ che als (alter) Stadt, wie sie etwa Saussure, aber auch Benjamin und Wittgenstein entworfen haben, wird an anderer Stelle aufgegnffen Der (Gedanken-)Schntt 9

TS 35 Gleichwohl ist hier zu beachten, daß ‘der’ Satz vor allem emphatisch gemeint ist als das grundlegende, der Autonn noch nicht bekannte Movens, als Leitmotiv vielleicht, wie es dann variiert wird Es ergeben sich hieraus problematische Assoziationen, denn das Textmodell ist hier eher organisch gedacht oder entelechial „Denn ein Satz darf den vorhergegangenen und den darauffolgenden Satz nicht einfach fallenlassen “ (TS 35) Damit wird eine Intaktheit vorgespiegelt, wie sie vielleicht in der programmatischen Textsorte erwünscht ist, den Texten jedoch nicht entspricht

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gleitet, ohne zu greifen, die Signifikanten entziehen sich und stellen sich unge­ wollt wieder ein

Dann überkam Iiene eine kalte Sicherheit Als ginge sie über glanzendes Pa­ pier, em Gegenstand, der sich von einer Ansichtskarte m die andere bewegte Und alles, was sie denken wollte, lief davon Dann lagen wieder ganze Gedan­ kenzuge wie Straßenzuge m ihrem Kopf (R 105) Die Rede ist ferner von Orten, die bei Stadtgangen gemieden werden, weil sie schon ermnerungsbesetzt sind, die dann aber durch Jahreszeitwechsel „den Ab­ stand zu Irenes Gedanken“ bewahren (R 143) und neue Verbindungen m ständi­ gem „Kommen und Gehen“ (R 143) ermöglichen Dies avanciert jedoch zur basa­ len Aufgabe von Dichtung „Doch, er war mühsam, der Zusammenhang, oft zwi­ schen Stadt und Schädel so verstreut, daß Irene ihn erfinden mußte “ (R 143) Ähnlich verhalt es sich mit Sehen und Gehen die Straße wird zum Bild semiotisiert, und das Gehen durch dieses Bild scheint eine Personhchkeitsveranderung bei Franz zu erzwingen (R 88) Umfassend wird daraus em alternatives Wahr­ nehmungsangebot formuliert „Dann geht man kurz und ohne Grund, so plötzlich wie em Augenaufschlag, m einen anderen Zusammenhang “ (TS 135) Das Plötzliche, der Riß zwischen den Dingen bietet die Chance einer neuen Kontextstiftung, stellt sich aber auch als grundlegende Bedingung der Perzeption dar Äußerungen wie auch Wahmehmungsweisen sind von Diskontinuität, von einem Riß bestimmt (TS 77) Schreiben soll dagegen das Zusammengefugte einer Zerreißprobe aussetzen, die blankpolierte Oberfläche zersetzen „Man zerrt am Geflecht der Satze, bis sie durchsichtig werden, bis m der Reihenfolge der Worte im Satz und in der Reihenfolge der Satze im Text die Risse durchscheinen “ (TS 81) Diese Diaphame, das Aufdecken der Doppelbodigkeit ermöglicht erst, daß auch die verschwiegenen Satze, die Verstellungen sichtbar werden Der Text wird so zum ‘atmenden’ Körper mit selbstreflexivem Blick (TS 81), und damit ist die Doppelseite der ‘erfundenen Wahrnehmung’ markiert - als notwendige Illusi­ on, als apperzeptive Gestalterganzung, die über Verunsicherungen hmweghilft, aber auch konsequent als Möglichkeit, die Welt zu konstruieren

Schaft soll den Illusionismus der Wahrnehmung aufdecken, indem sie Bilder der simultanen Alltagswahmehmung zerlegt und abbremst Dieser Vorgang beeinflußt seinerseits die Wahrnehmung, die überfordert scheint einerseits und dies anderer­ seits kultiviert Die Bilder setzen sich erst in einem zweiten Schritt zusammen (R 96) Der „Zusammenhang“ ist oft mühsam herzustellen und nur zu „erfinden“ (R 143), dann hegt grundsätzlich die Syntheseleistung der Wahrnehmung Auf einer anderen Ebene ergibt sich als literarische Formbestimmung das Prinzip der Kon­ junktion, em Bildverfahren der Addition ‘und’, ‘dann’, ‘danach’ bzw ‘oder’ markieren dies meist (kein disjunktives ‘oder’, sondern em optionales) Der ex­

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zessive Gebrauch dieser Konjunktionen zeigt deutlich eine Ansicht ist nicht, wie sie ist, em Ding hat keine Identität, eine Perspektive reicht gewiß nicht, auch nicht zwei oder drei - die Darstellung kommt an manchen Stellen dem Film na­ he 1011 Jede Wahrnehmung hat Beziehungssinn, oder sie gilt nicht, nur in den Rela­ tionen und in Zwischenräumen sind die Korpergedanken erkennbar

mimetisch abbilden) - sie sind das Maß der Bewegung, das das Fortschreiten der Gedanken bei ihrer Veräußerlichung markiert Solche ‘Gedankenschntte’, ‘Gedankengange’ sind auch bei Herta Muller nicht mehr schlicht m metaphori­ schen und wörtlichen Sinn zu unterscheiden, denn es gibt kaum Bilder oder Moti­ ve, die nicht über Bewegung vermittelt waren und denen nicht die nächste Perspektiweranderung schon inhärent wäre Die hereinpurzelnden Sinnesdaten, rohe Fetzen für das Auge, sind vor jeder Bezeichnung da, wirbelartig, als polyfokales all-over Auch hier also gilt nicht das Bild des Fabrikanten, der Herr über seine Satze wäre Die Texte übertreffen jede vorgefaßte Intention, es handelt sich um eine prasigmfikative Schreibweise, die sich von den Bildern leiten laßt Darm hegt eine Hoffnung auf das Individuelle, wie sie Herta Muller auch zu An­ laß ihrer Kleist-Preisrede formuliert Kleist erscheint dort als Gewährsmann der Subjektivität von Wahrnehmung und steht em für die Diagnose der fragmentierten Welt, gegen die Idee von deren rationaler Gestaltbarkeit oder Planung Wahr­ nehmung selbst erweist sich bereits als illusionär, sie ist em Film, der über das löchrige Dasein hinwegtauschen soll „Es gibt für das, was das Leben ausmacht, keinen Durchblick Nur gebrechliche Einrichtungen des Augenblicks Und Zu­ rechtlegungen, die nicht bis zum nächsten Schritt halten “ (HS 7, Hervorheb R K) Der nicht determmierbare Schritt ist unberechenbares Fatum einerseits, bietet aber auch die Chance des Kontingenten Die Möglichkeit des Sprungs, das akzelenerte Tempo, das Ungeregelte der Sprache, die sich dem Kalkül entzieht, wird m der folgenden Passage deutlich Versucht man den Überfall der Unruhe beim Schreiben zu treffen, die Dre­ hung, durch die der Sprung ins Unberechenbare einsetzt, muß man m kurzen Takten seine Satze schreiben, die von allen Seiten offen sind, für die Verschie­ bung Es sind Sprunge durch den Raum (TS 19) Gleichwohl ist Bewegung nicht nur Option eines besseren Lebens im schlechten, sondern hat ihr dialektisches Gegenüber m einem blinden energetischen Prinzip Und ganz ähnlich, wie de la Mettrie im 18 Jh den menschlichen Körper be­ schrieb als eine Uhr, aber eine erstaunliche und mit so viel Kunst und Geschicklichkeit verfertigte, daß, wenn das Sekundenrad stillsteht, das Mmutenrad seinen Gang immer weiter geht, und ebenso das Viertelstundenrad und alle die anderen m ihrer Bewegung fortfahren, wenn die ersteren verrostet oder aus irgendeiner Ursache verdorben sind und ihren Gang unterbrochen haben13 -

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Aus dieser prozessualen Ästhetik ergibt sich em poetologisches Bild, wie es ganz ähnlich Kleist in seinem Bnef Uber die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden formuliert hat Em solches Reden ist em wahrhaft lautes Denken Die Reihen der Vorstellun­ gen und ihrer Bezeichnungen gehen nebeneinander fort, und die Gemutsakten für eins und das andere kongruieren Die Sprache ist alsdann keine Fessel, etwa wie em Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern wie em zweites, mit ihm parallel fortlaufendes Rad an seiner Achse Etwas ganz anderes ist es, wenn der Geist schon, vor aller Rede, mit dem Gedanken fertig ist Denn dann muß er bei seiner bloßen Ausdruckung Zurückbleiben11

Uber die Kargheit einer solchen Wahrheit, die nur so ausgedruckt ist, wie sie an sich schon ist, so daß ihr der sprachliche Ausdruck nur hmterherlauft, hat sich neben manchen anderen auch Walter Benjamin beschwert, der immer wieder auf den bildhaften Uberschuß gegenüber der festgefugten Signifikaten hmweist12 Pointe dieser prozessualen Ästhetik ist, daß sie m Produktion und Rezeption glei­ chermaßen durch ihre Beweglichkeit gekennzeichnet ist, die dem Uberraschtwerden Geltung emraumt und nicht auf kohärente Sinnfügung aus ist Das silbenhafte Vortasten, wie Kleist es schildert, das tentative Formen der Satze, das Abklopfen der Gegebenheiten auf dem noch unbekanntem Terrain des eigenen Satzes (was seine verschobenen Satzrhythmen mit einem bedrohlichen Heer von Kommata 10 Ein vergleichbarer Effekt ergibt sich bei den Schreitenden-Figuren Rodins, wo sich rein anatomisch Unstimmigkeiten zeigen, weil der eine Fuß noch am Boden festhakt, der andere schon langst im Schritt, sozusagen eine Bewegungsphase weitergelaufen ist, und die Position des Oberkörpers wieder eine dritte Phase anzeigt Zu losen ist das Problem nur, wenn man sich damit abfindet, daß die Figur zwei oder mehrere Momente in sich aufhebt Sie wird ‘lesbar’ m der Verlaufsform, als Kurzfilm sozusagen, m dem das Auge sich nicht an einem isolierten Moment ausruhen kann, sondern die Skulptur als Prozess wahmehmen muß Em umgekehrtes Interesse hegt den Senenphotografien von Edward Muybndge Ende des 19 Jahrhunderts zugrunde, die Bewegungsabläufe von Menschen oder Tieren analytisch m Phasen zerteilen 11 Kleist 1952, S 322 (Hervorheb R K ) 12

“Es gibt nichts Ärmeres als eine Wahrheit, ausgedruckt wie sie gedacht ward In sol­ chem Fall ist ihre Niederschrift noch nicht einmal eine schlechte Photographie “ (Walter Benjamin, GS II, S 622)

13 zit nach Verena von der Heyden-Rynsch (Hg) Riten der Selbstauflosung München 1982, S 17-20, hierS 19

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so kann Bewegung auch em mechanischer Lebensgang sein, wie ihn die Uhr ikomsiert - wie denn auch m einigen Texten Herta Mullers Uhren ohne Zeiger er­ wähnt werden, als widerstandige Kraft

So wie man m Kleists Dramen oder Thomas Bernhards Erzählungen, wo die Körperbewegung im Raum die Sprache organisiert zum persistenten Rhythmus, em gestuelles Sprechen erkennen konnte, so wie man von gestueller Malerei ge­ sprochen hat, bei der die Faktur auf der Leinwand erkennbar ist, konnte man bei Herta Muller von emer Ästhetik der Spur sprechen Schritt, Sprung, Blick und Bild machen die Erfahrung, wie sie sich m der Schrift niederschlagt, nicht aber einfach nur ‘verschriftlicht’, sondern wiederum syntaktisch und rhythmisch neu organisiert wird So laßt sich resümieren, daß bei den Bilder Herta Mullers em räumlicher Zusammenhang (Metonymie) und em semantischer Bezug (Metapher) erkennbar ist, als eigentliches Merkmal aber diejenige Relation erscheint, die über den subjektiven Erfahrungszusammenhang gestiftet wird Die so entstehen­ den Ideogramme markieren damit den subjektiven, motorisch erworbenen Anteil des Erlebens, das sich auch dem politischen Druck entziehen will und dem Be­ deutungen nicht vorgeschrieben werden können Die eigene Taktung der Wahr­ nehmung ist es immer wieder, die gegen jede Mechanik eine Ästhetik des Margi­ nalen realisiert, als widerstandiges Element gegen Hierarchien Die Randgange entsprechen dem Wunsch nach Herrschaftsfreiheit Daraus ergibt sich em doppelter Aspekt von authentischer Erfahrung einerseits und demgegenüber sich verselbständigenden Sprachbildem, die über die Intentio­ nen hinauswachsen und sie verzehren, ja autonome Schriftraume begründen Uber alle autobiographische Verwurzelung der Bildsequenzen hinaus, jenseits ihrer politischen Motiviertheit gibt es em irreführendes, lustvolles Textbegehren Ohne nun aber von poesie pure zu sprechen, scheint es vielmehr diese zwiespältige Disposition, die dem Leser die Arbeit an den Texten ermöglicht, ohne seinerseits autontatsglaubig vor ihnen zu erstarren

Die Hoffnungen sind gedampft Zitiert wird m diesem Zusammenhang der Satz aus dem Marionettentheater, „daß m dem Maße, als in der organischen Welt die Reflexion dunkler und schwacher wird, die Grazie dann immer strahlender und herrschender hervortntt“ Doch das eben sei nicht mehr erwartbar, ebenso wie nach Stalinismus und Nationalsozialismus der Wunsch abwegig sei, daß sich, „wenn die Erkenntnis gleichsam durch em Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder emfmdet“ (HS 9) Bewegung als antirationale, antigrave, verschwendensch dezentnerte ist kaum mehr Utopietrager, sondern erscheint genauso anfällig für Instrumentalisierungen Und dennoch laßt sich an den Grenzgangen und Übertretungen auch eine Lust am Text erkennen, mit weiten Implikationen Georges Bataille entwirft seine Thanatologie, die Lehre von der grenzüberschreitenden Zerstörungswut der Geschlech­ ter, um die Vereinzelung des Menschen, seine radikale Individuation aufzuheben Das Ich soll über die Grenzen der eigenen Haut hmausgetneben, damit seine Dis­ kontinuität gebannt werden Sex ist em Mittel dafür, Gewalt em anderes, beides zusammen am wirkungsvollsten, um die Mauern einzureißen, und schließlich fei­ ert Bataille dies als romantische Entgrenzung, als unio mystica 14 Wemger em­ phatisch, doch aber mit versteckter Option sind entsprechend Herta Mullers Bil­ der nicht nur todesnahe, verzweifelte, aggressive Visionen eines an Repressalien leidenden Menschen, wie dies m der Literatur fast einhellig durchdeklmiert wird 15 Denn so schließt zwar das Übertreten der Grenzen auch die eigene Vul­ nerabilität mit em und gibt es Hinweise auf das Bedrohliche dieser ‘Osmose’ (m den Niederungen ist die Rede von der „Angst, daß durch diese offenen Knie der Tod m mich hmemfmdet“, N 24) Dennoch hegt in dieser Offenheit des Sprachbildergemisches auch eine romantische Fluchtphantasie Wenn es heißt „Und m jedem Alter gibt es die Wahrnehmung, die sich erfindet Das, was wir sehen, überschreitet seme Grenzen“ (TS 15), so ist dies nicht pure Thanatographie, son­ dern wird die Entregelung der Sinne und das Überschreiten der semantischen Verabredungen gelegentlich zum Beginn des Schonen, als Einbruch des inkom­ mensurabel Subjektiven in die gewalttätige Prosa der Verhältnisse

Literatur Muller, Herta 1988 Niederungen Berlin (1982])[NJ

dies 1990 Barfüßiger Februar Berlin (1987’) [BF] dies 1995 Reisende auf einem Bem Reinbek (19891) [R]

14 vgl Bataille 1979, S 13-29

15 vgl stellvertretend Eke, S 74-94, die Texte entwerfen demnach Todeslandschaften als

„Nach-Schnft des Todes, der bis m die Beschreibung der Gegenstände präsent bleibt und in den Naturschilderungen gegenwärtig ist“ (1991, S 78)

dies 1991 Der Teufel sitzt im Spiegel Berlin [TS] dies 1996 Herztier Reinbek (19941) [H] dies 1995 Hunger und Seide Reinbek [HS] dies 1996 In der Falle Göttingen [IF]

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Appelt, Hedwig 1991 Sinnenpanorama In Stuttgarter Zeitung, 20 12 1991 Auffermann,

Verena 1991

Der Zeigefinger im Kopf In Suddeutsche Zeitung,

13 /14 7 1991 Bataille, Georges 1979 Der heilige Eros Aus d Frz v Max Holzer Frankfurt aM

Bary, Nicole 1990 Grenze-Entgrenzung m Herta Mullers Prosaband ‘Der Mensch ist

em großer Fasan auf der Welt’ In Germanica, Bd 7, S 115-121 Benjamin, Walter 1972-1989 Gesammelte Schriften, Band I-VII, Frankfurt aM, hg

von Tiedemann, Rolf/Schweppenhauser, Hermann unter Mitwirkung von Theo­ dor W Adorno und Gerschom Schölern Breton, Andre 1977 Die Manifeste des Surrealismus Rembek Creutzinger, Werner 1993 Leidendes Land und politischer Weltschmerz In Neue

deutsche Literatur, H 4, S 139-142 Eke, Norbert Otto (Hg) 1991 Die erfundene Wahrnehmung Annäherung an Herta

Muller Paderborn Foucault, Michel 1993 Wahnsinn und Gesellschaft Eine Geschichte des Wahnsinns

im Zeitalter der Vernunft Frankfurt a M Kestmg, Marianne 1995 „Homme qui marche“ Uber Gehen und Imagination In

Rubin 2 (Wissenschaftsmagazm der Ruhr-Umversitat Bochum), 5 Jg, S 42-48 Kleist, Heinrich von 1952 Uber die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Re­

den Sämtliche Werke und Briefe in zwei Banden, hg v H Sembdner Darm­ stadt, Bd 2, S 319-324 Krauss, Hannes 1993 Fremde Blicke Zur Prosa von Herta Muller und Richard Wag­

ner In Walter Delabar u a (Hg) Neue Generation - Neues Erzählen Opladen, S 69-76 Ottmers, Clemens 1994 Schreiben und Leben Herta Muller, Der Teufel sitzt im Spie­

gel Wie Wahrnehmung sich erfindet In Poetik der Autoren Beitrage zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Hg v Paul Michael Lutzeler Frankfurt a M , S 279-294 Weimann, Robert/Hans Ulrich Gumbrecht (Hgg) 1991 Postmoderne - globale Diffe­

renz Frankfurt a M Philosophische Untersuchungen und Tractatus logicophilosophicus Frankfurt a M

Wittgenstein, Ludwig 1988

„Ich wollte in der Tiefe der Bilder verschwinden“ - Bildlichkeit als Lust am Text. Ein Versuch über Herta Müllers Der Teufel sitzt im Spiegel oder Wie Wahrnehmung sich erfindet

(Markus Steinmayr) Auf der Buhne des Textes keine Rampe hinter dem Text kein Aktivum (der/die Schnfstellerln) und vor ihm kein Passivwn (der/die Leserin), kein Subjekt und Objekt Der Text macht das grammatikalische Verhalten ungültig er ist das undifferenzierte Auge[ f

Nämlich nie isoliert pathetisch und visionär, sondern angekundigt und vielfach gestutzt eine gebrechlich kostbare Wirklichkeit tragend das Bild1 2

Einleitendes Poetinnen über ihr Schreiben extemporieren zu lassen, scheint in Mode gekom­ men zu sein Nicht nur in Frankfurt, sondern auch m Paderborn Dort las im Wintersemester 1989/90 Herta Muller ihr Schreiben vor, um diese Reden dann post vocem Schrift werden zu lassen und sie unter dem Titel Der Teufel sitzt im Spiegel oder wie Wahrnehmung sich erfindet zu publizieren Nun sind die Schnft und Buch gewordenen Evokationen Herta Mullers aber nicht mit dem germanisti­ schen Willen zur Macht als Phantasma einer poetologischen Wahrheit lesbar Sie erscheinen vielmehr lesbar als der Versuch Herta Mullers, die universitäre Buhne zu eröffnen für das Drama der Schnft, dessen Protagonist aber nicht und niemals em beherrschendes Subjekt der Schrift ist3 - vielmehr wird die Erfahrung des Schreibens als prominenter Modus der Welt- und Wortmatenalbehandlung in­ szeniert 1 Barthes 1992, S 25 Sowohl das Aktivum als auch das Passivum ist stillschweigend um das Femmum erweitert 2 Benjamin 1991, GS II, S 314

3Vgl Demda 1992, S 344f Wie die Inszenierung der Schnft unter den technischen Bedingungen der Post als universahsiertes und transzendentales Medium von Literatur funktioniert, zeigt der Beitrag von Stephan Duppe im vorliegenden Band

Markus Steinmayr

Bildlichkeit als Lust am Text (Der Teufel sitzt im Spiegel)

Somit erklärt sich auch der essayistische Duktus der einzelnen Kapitel Wie man weiß, ist der Essay eine besondere Art und Weise des intellektuellen Verfahrens, em Verfahren, das einem Purismus der Form und des logischen Muß augenzwmkemd eme Perspektivenverschiebung vorhalt, mdem er reflektiertes intellektuelles Zappmg betreibt Kühler, weil kritischer bezeichnet Adorno den Essay als diejenige Methode des Schreibens, die ihre Entsprechung in der Form hat Dem Essay inhanert em „antisystematischer Impuls“,4 der em Denken in Brüchen praktiziert Dieses Denken befreit sich - wie soll es anders sein beim Ubervater der kritischen Theo­ rie - von den Zwangen der diskursiv verfahrenden Vernunft, mdem der Denkende eigentlich gar nicht selber denkt, sondern sich zum „Schauplatz geistiger Erfah­ rungen“5 macht, allerdings ohne diese in einer Art metatheoretischem Ausfall­ schritt aufzudroseln Der Essayist verfahrt ergo „methodisch unmethodisch“6 Dem Essay sind keine festschreibenden Ergebnisse zu entnehmen, oder, wie der der Utopie des Essayismus huldigende Ulrich Robert Musils es formuliert „Ungefähr wie em Essay in der Folge seiner Abschnitte em Dmg von vielen Sei­ ten nimmt, ohne es ganz zu erfassen - denn em ganz erfaßtes Dmg verliert mit einem Male seinen Umfang und schmilzt zu einem Begriff em “7 Somit kann es im folgenden nicht darum gehen, die Überlegungen Herta Mullers zu einem Begriff emzuschmelzen oder ihre Evokationen in em System zu zwin­ gen Es geht um em - sensu Gottfried Benn - summarisches Überblicken der Funktionsweisen von erfundener Wahrnehmung, hteraturtheoretisch und literatur­ praktisch m Herta Mullers Schriften

hang die Frage thematisiert, wie es denn möglich sei, die unbezweifelbar opti­ schen Qualitäten des Wahrgenommenen in den Kanal der Schrift zu zwingen, oh­ ne daß das Wahrgenommene seine unhmtergehbare Optizitat bei dieser Trans­ position verliert Ausloser dieser Reise in die erfundene Wahrnehmung ist in der Kindheit das Be­ dürfnis nach Irritation kemfamihar vermittelter Wirkhchkeitswahmehmungen (vgl TS 11-15) Dies entwickelt sich zu emer Angst vor den Strukturen der Dik­ tatur und den ihr inhärenten Normierungen und Sanktionieren der Wirklichkeits­ wahrnehmung, denn der totalitäre Staat Rumänien „machte das Erlebte zu dem, was es war, denn das Auge der Macht sah überall hm “ (TS 20) Literatur und das ihr zugrundeliegende Konzept der erfundenen Wahrnehmung werden zur Demon­ tage, der sezierende und fragmentansierende Blick der erfundenen Wahrnehmung eröffnen die Möglichkeit für eme poetisch verfremdete Wirklichkeit, die als Wi­ derpart eines panoptistisch verfahrenden Auges der Macht fungiert Foucault widmet seine moderne Genealogie der Moral Überwachen und Strafen der Analyse des Panoptismus, für den Genealogen die Technologie der Macht und der Disziplinierung von Körpern, Seelen und Köpfen Dieses vorher so nicht bekannte Prinzip der Macht manifestiert sich weniger m emer Person als vielmehr m „emer konzentrierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtem und Blicken“ 8 Das prominente Pohzeidispositiv zeichnet sich unter anderem durch die Ausstattung mit einer „ununterbrochenen, erschöpfenden, allgegenwärtigen Überwachung“9 aus Dieser „gesichtslose Blick“10 transformiert das Terrain der gesellschaftlichen Tätigkeiten zu einem Feld der Wahrnehmung, m dem alles sichtbar gemacht werden muß, die Disziplinarmachte aber selbst unsichtbar blei­ ben Eme ähnliche Sprache spricht auch Herta Mullers Text So wird von emer Anek­ dote benchtet, die diesen Sachverhalt verdeutlicht Em Freund schneidet em Auge aus dem omniprasenten Portrat Ceausescus aus und „hatte so die Überwachung durch das ausgeschnittene Auge auf die Überwachung selber gestoßen Es war greifbar und nicht großer als em Fingernagel, das, was wir täglich spurten “ (TS 27f) In dieser Lage erscheint die Literatur als Ort einer aisthetischen Opposition, als Utopie emer Wahrnehmung Dieser Differenz zwischen totalitär verfahrenden und ubiquitären Wahmehmungsstrukturen der Diktatur und den erfundenen, weil die-

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Schreiben im Panopticon oder: Erfundene Wahrnehmung als aisthetlsches Partisanentum Im Zentrum der poetisch-poetologischen Evokationen Herta Muller steht die im Text so genannte erfundene Wahrnehmung Die erfundene Wahrnehmung ist das Ergebms oder auch die Utopie der Verwandlung der sinnlich wahrgenommenen Wirklichkeit ms Medium der Imagination resp der Literatur (vgl TS 27) Das Verhältnis zwischen der sogenannten Wirklichkeit und der Imagination schreibt sich m den Text als em Spannungsverhaltms, das den Druck der Erfahrung und ihr Getnebenwerden m die Dichtung ausmacht Auch wird m diesem Zusammen­

4 Adorno 1989, S 20 5 Adorno 1989, S 21

8 Foucault 1994, S 259

6Ebd

9 Foucault 1994, S 275

7 Musil 1990, S 253

10Ebd

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Bildlichkeit als Lust am Text (Der Teufel sitzt im Spiegel)

se Mechanismen gleichsam transzendierenden und subvertierenden Wahmehmungsstrukturen, hegt wiederum eine Differenz zugrunde Die Differenz zwi­ schen Innenwelt - der Welt „hinter der Stirn“ (TS 11) - und der sogenannten Au­ ßenwelt Diese Differenz aber wird - ganz im Gegensatz zu unifizierenden Uto­ pismen - als em Movens des Schreibens begriffen, das sich einer nach Synthese heischenden Teleologie entzieht Erfahrungen manifestieren sich im Inneren an­ gesichts des und m Auseinandersetzung mit dem Äußeren

Auch scheint sie m einer bestimmten Weise den asketischen Wert des Schreibens anzuerkennen und Schreiben überhaupt als Gegensatz von Leben zu begreifen Die Askese des Schreibens kommt pointiert in dem Satz zum Ausdruck

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Ich merke an mir, daß nicht das am stärksten im Gedächtnis blieb, was man Fakten nennt Starker, weil wieder erlebbar im Gedächtnis, ist das, was auch damals im Kopf stand, das, was von innen kam, angesichts des Äußeren, der Fakten (TS 10) Herta Muller predigt nun aber keineswegs den Ruckzug in „em Nirgendwo der Innerlichkeit“,11 in dem sie sich als Subjekt einer Herzensschrift wiedererfande Herzensschnft als eine der Formen der Autobiographie findet ihr Gegenteil in der poetischen Emanzipation vom Pohzeidispositiv, welches das autobiographische Schreiben erkennungsdiensthch behandelt und somit eine Secuntateasthetik ver­ tritt, m der das kontingente Ereignis ‘Ich’ erkannt, archiviert und verwaltet wer­ den soll Trotz der unbestreitbaren Relevanz biographischer Details für das Schreiben (vgl TS 20) geht es doch im Schreiben selbst nicht und niemals um die eigene Person, denn „die Person, die schreibt, ist eine erfundene Person“ (TS 44) Es geht also gerade um die Unerkennbarkeit der eigenen Person im Schreiben

Poetologische Askese Um emen theoretischen Ausblick zu wagen Herta Muller ist es, in den Worten Michel Foucaults, um eine Selbstschreibung, frz ecnture de soi,11 12 zu tun, eme antike Form der Kultur des Selbst In Foucaults Auseinandersetzung mit dem the­ rapeutischen Wert der Verschriftlichung des Selbst m der Antike wird dem Mönch Antonius der Ausspruch in den Mund gelegt, daß die Schrift den Platz des Auges eines anderen innehabe 13 Das Selbst wird objektiviert, und in diesem Prozeß kommt der Schrift der Status eines Beobachters zu Dies reflektiert auch Herta Muller, wenn sie schreibt „Doch bevor ich den Satz schreibe, beobachtet mich der Satz Ich fange an ihn zu schreiben, wenn ich zu wissen glaube, wie die­ ser aussieht [ ] Es ist eine Luge, wenn ich den Satz nicht so aufschreibe, wie er sich selber sieht “ (TS 35)

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Es ist immer, wenn ich schreibe, der Punkt erreicht, wo ich mit nur selber (und das heißt auch mit dem, was mich umgibt) nicht mehr umgehen kann Ich er­ trage meine Sinne nicht mehr Ich ertrage meine Sinne nicht mehr Ich ertrage mein Nachdenken nicht mehr (TS 33) Schreiben wird somit sensu Foucault der Status einer Autostihsierung zugewie­ sen, der Buchstaben der Schrift „constitue une epreuve et comme une pierre de touche “14 Das Denken soll m seiner Bewegung festgehalten werden, so daß die Schrift „dissipe l’ombre mteneure oü se nouent les trames de l’ennemi “1S Das Schreiben erscheint als eine ethopoetische Angelegenheit, als em Entwurf, sich im Schreiben gleichsam neu zu konstituieren, als der Versuch, anders und das Andere zu denken und Technologien des Selbst zu erproben Vexierspiele der erfundenen Wahrnehmung Herta Muller beschreibt, wie schon geschrieben, das Movens der erfundenen Wahrnehmung m der Kindheit als das der Täuschung Die herkömmlichen und sanktionierten Wahmehmungsweisen werden gewissermaßen subvertiert, um sich der durch diverse Phantasmen - wie das Banatschwabische, im Text unter die Metapher ‘deutscher Frosch’ gebracht (vgl TS 26) - verordneten Identität zu entziehen Dies tntt deutlich m dem titelgebenden Ausspruch der Großmutter zu­ tage Der Teufel sitzt im Spiegel16

Spinnt man dies weiter, so konnte man sagen, daß die Wahrnehmung des eigenen Selbst im Spiegel die Identität zum emen vexiert, zum anderen aber auch - und dies scheint fast wichtiger - die von außen an das Kind herangetragenen Identitä­ ten als em Phantasma entlarvt Der, den wir im Spiegel wahrnehmen, ist immer em Anderer - spätestens seit Lacan ein Gemeinplatz, und also konnte man auch mit ihm den Buchtitel variieren und sagen, der Teufel sitze nn Spiegelstadium Anders gesagt Der vom Kleinkind wahrgenommene Körper im Spiegel ladt em zur Identifikation und damit beginnt für Lacan die Ontogenese von Subjektivität,

11 Schneider 1986, S 48

14 Foucault 1983, S 4

12 Foucault 1983

15Ebd

13 Foucault 1983, S 3 „Que l’ecnture remplace les regards des compagnons d'ascese rougissant d’ecnture autant que d’etre vus, gardons-nous de toute pensee mauvaise “

16 Den Spiegel als Zentralmetapher für Identität und Subjektivität analysiert ausführlich Konersmann 1988

Markus Stemmayr

Bildlichkeit als Lust am Text {Der Teufel sitzt im Spiegel)

die er in das schone, leider nur im Französischen möglichen Wortspiel von me connaitre (mich kennen) und meconnaitre (Mich-Verkennen) bringt17

Herstellen konnte man als Funktion und Effekt der erfundenen Wahrnehmung be­ zeichnen

Was die Literatur im Kontext des Motivs der Täuschung zu sagen hat, laßt sich pointiert so zusammenfassen Die Literatur als Speicher der aufgeschnebenen erfundenen Wahrnehmung soll somit der Ort sein, wo die nicht durch Identitatsphantasmen sanktionierte Wahrnehmung Schnft werden soll Zur Verdeutlichung mag eine Stelle aus Niederungen dienen

Nimmt man luhmanmsch die Wirkhchkeitsversion des Großvaters als die festsit­ zende, die sich aus Verboten und Verweisen zusammensetzt, so erscheinen dem Kind die Smnesdaten eher zufällig, noch nicht systematisierbar und der Einbin­ dung in die Strukturen der Grammatik noch nicht fähig Dem Kind scheinen die Dinge noch nicht von der Abstraktheit einer begrifflich strukturierten Welt der Physis entrückt, es mag sehen lernen und wie Rilkes Malte Laurids Bngge nicht wissen, „woran es hegt, es geht alles tiefer in mich em“ 19 Das Gebot, das die Rede des Großvaters regiert - sich vor den Dingen der Natur zu schützen - er­ scheint nicht als Bestandteil der kindlichen Erfahrung Die Leitdifferenz zwischen Fakt und Fiktion ist noch nicht vom Kind internalisiert So kristallisiert sich hier em Grundzug der erfundenen Wahrnehmung heraus In der Wahrnehmung des Kindes findet keine Repräsentation einer Außenwelt statt, vielmehr vermag der Blick des Kindes em neues Sehen zu initiieren, das die Grenzen einer begrifflich beschrankten Welt überschreitet

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Die lila Bluten neben den Zäunen, das Ringelgras nut seiner neuen Frucht zwi­ schen den Milchzahnen der Kinder [ ] Der Käfer, der mir ms Ohr kroch Großvater schüttelte mir Spiritus ms Ohr, damit mir der Käfer nichts in den Kopf knecht Ich weinte Der ganze Hof drehte sich, und Großvater stand nesengroß mittendrin und drehte sich mit Das muß man tun, sagt Großvater, sonst wird dir der Käfer in den Kopf knechen, und dann wirst du dumm Und du willst doch nicht dumm werden Die Akazienbluten in den Dorfstraßen Das eingeschneite Dorf mit den Bienenvölkern im Tal Ich aß Akazienbluten Sie hatten innen einen weißen Rüssel Ich zerbiß ihn und hielt ihn lange im Mund Wenn ich ihn schluckte, hatte ich schon die nächste Blute an den Lippen [ ] Die Akazienbluten darf man nicht essen, sagte Großvater, es sitzen kleine schwarze Fliegen drin, und wenn die dir in den Hals knechen, dann wirst du stumm Und du willst doch nicht stumm werden (N 17) Erne große Differenz tut sich hier auf Namhch die zwischen der Wahrnehmung des Kindes und der des Großvaters, der die sinnenfrohe Wahrnehmung durch sein untersagendes Wort, durch den Diskurs des Herrn m den Worten Lacans, gera­ dewegs zum Stillstand bnngt Vergleicht man darüber hinaus die propositionale Struktur der großväterlichen Rede mit der eher parataktisch verfahrenden, durch die Harte des logischen und grammatischen Muß noch nicht verfälschten Rede des Kindes, so wird der herkömmliche und konventionahsierte Wahmehmungsstrukturen subvertierende Blick der erfundenen Wahrnehmung hier noch einmal exemplarisch vorgefuhrt Zum anderen ist auch die von Luhmann der Kunst zugewiesene Herstellung von Weltkontingenz18 zu beobachten Dieses

17 Vgl Lacan 1991a, S 61-71 undLacan 1991b, S 183 18 Vgl Luhmann 1986, S 625 „Das Kunstwerk führt an sich selbst vor, daß und wie das kontingent Hergestellte, an sich gar nicht Notwendige schließlich als notwendig er­ scheint, weil es m einer Art Selbsthmitierung sich selbst alle Möglichkeiten nimmt, anders zu sein “ Kunst als em geschlossenes, weil ausdifferenziertes System (vgl S 621) erweist herkömmliche Wirklichkeitsversionen als auflösbar und kann somit die herrschende Realitatsversionen mit einer Alternative konfrontieren (vgl S 624) Der Stil eines Kunstwerkes erweist sich im Laufe der Untersuchung als eine Art Nahtstelle zwischen System und Umwelt

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Visualität als Strategie des Textes „Es weht Bilder vorbei, auf einen schwachen Duft geknickt oder den Klang eines Wortes Bilder mit Firnis Alles wird zum Enzym des Ennnems “20 Diese Satze aus dem jungst veröffentlichten Thanatos von Helmut Krausser eignen sich als Parallellekture zu Herta Mullers Texten bzw den verschiedenen Bildfunktionen, die Sprache dort übernimmt Zu beobachten ist eine Rehabilitation des visuellen Eindrucks im Zuge der erfundenen Wahrnehmung, wie sie zugleich als Mnemosyne veranlagt ist Exemplarisch vorgefuhrt wird dies in einer Passage aus Der Mensch ist em großer Fasan auf der Welt Rudi halt einen Löffel aus blauem Glas vor sein Aug Sem Augenweiß wird groß Seme Pupille ist eine nasse, glanzende Kugel im Löffel Der Fußboden schwemmt Faiben an den Zimmerrand [ ] Die Glühbirne zuckt Das Licht ist zerrissen (MF 20) Hier gelingt der Transfer des Bildes ms Wort, ohne daß bei dieser Umsetzung die primär optischen Qualitäten verlorengingen Die Perspektive des Textes wendet sich von der Situation hm zu deren aisthetischer Konfiguration, indem sich der Blick der Erzählerin auf den Blick Rudis kapriziert Die visuellen Eindrücke kommen im Modus der Augenbhckshaftigkeit, von dem Herta Muller sagt, es sei der Blick des Auges m kürzester Zeit (vgl TS 39) Dieser ‘Blick des Auges in 19 Rilke 1987, Bd VI, S 710 20 Krausser 1996, S 159

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Bildlichkeit als Lust am Text {Der Teufel sitzt im Spiegel)

kürzester Zeit’ wäre dann nach erfolgter Transposition ein Satz wie ‘Das Licht ist zerrissen ’ Die Wörter des Textes werden somit zu Blicken, die Bilder produ­ zieren Das „Aufbhtzen und Abtauchen“ (TS 83) der Bilder und die Qual der Intermediahtat zwischen Wort und Bild werden hier spürbar Das Verhaltms zwischen erfundener und sinnlicher Wahrnehmung erscheint im­ mer schon prekär „Das quält die erfundene Wahrnehmung diese Umsetzung vom Bild ms Wort “ (TS 84) In der oben zitierten Passage aus Der Mensch ist em großer Fasan auf der Welt gelingt diese Umsetzung Was ist nun aber das Erfundene an der Wahrnehmung in dieser Passage'? Schreibt Herta Muller, daß die erfundene Wahrnehmung eine Schicht unter die Wahrnehmung gehe (vgl TS 40), so kann dies in bezug auf die oben zitierte Pas­ sage bedeuten, daß die erfundene Wahrnehmung die Kontmuitatsfiktion auf­ sprengt und dem Leserauge Einzelbilder zur Verfügung stellt, die als vexierende Sprachgestalten funktionieren (vgl TS 26f) Die in der Schrift erscheinenden Sprachgestalten oszillieren zwischen der den Sinnen gegebenen materiellen Er­ scheinung der Dinge und der ihnen inhärenten Kraft, diese zu transzendieren, hm und her Ergeht die erfundene Wahrnehmung, so laßt sich ihre Leistung vielleicht mit dem Reiz der Bilder Elstirs aus Marcel Prousts Auf der Suche nach der ver­ lorenen Zeit umschreiben, der m einer „Umwandlung der dargestellten Dinge“21 besteht Genau diese Umwandlung geschieht m der erfundenen Wahrnehmung Die Öffnung der dargestellten Dinge für den primären Eindruck, welcher durch­ aus m der Schrift transparent werden soll Dies zieht sich auch durch andere Texte Herta Mullers Em anderes Beispiel sei angeführt Im Roman Herztier beuchtet die Schreibern Lola von ihrem Bruder, der des Abends seine Schafe immer durch em Melonenfeld treiben müsse Da es dunkel geworden sei, so der Text, brachen die Schafe mit ihren dünnen Beinen em und bekamen aufgrund dessen rote Fuße (H 26) Diese an sich nicht sonder­ lich aufregende Geschichte bekommt jedoch im Laufe des Romans eine ganz ei­ gentümliche Qualität, die an die Restituierung des pnmaren Eindrucks m der Umwandlung der dargestellten Dinge erinnert „Ich sah durch den Abend im Lied, Schafe mit roten Fußen ziehen“ (H 35)

Das Horen des Liedes lost die Erinnerung an das Gelesene aus, an das, was man mit Walter Benjamin das Mitgebrachte22 nennen konnte Denn der audititve Ein­ druck evoziert das Bild des Schafe treibenden Bruders Nimmt man dieses Bild als den pnmaren Eindruck, den es wiederherzustellen gilt, so geschieht dies ge­ nau dann, wenn die Erzahlenn jenes Lied hort Der Erzahlenn gelingt es, durch die Wörter des Textes von Lola zu sehen Somit schafft es der Text, im Schreib­ akt den Blick des Satzes auf sich selbst transparent werden zu lassen und die Bildlichkeit der so sehenden Wörter hm auf den konstituierenden visuellen Ein­ druck umzuwandeln und diesen m einem autopoetisierenden Schntt gleichsam zu rekonstruieren23

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In dieser Sicht der Dinge erhebt sich die eingangs gestellte Frage, wie Herta Muller sich der Problematik der Medientransposition bewußt wird Das unhintergehbar Optische der Erzählung von Lola wird von ihr nicht verlassen oder m ei­ nem nachträglichen Symbohsierungsakt verschoben, sondern der Leser wird durch diese Worte zu einem Seher, der nun sein eigenes Lesen sehen muß resp sein Sehen lesen muß In den Worten erscheint nicht nur das Abbild der Situation, sondern die Konfiguration der Gegenstände, die wahrgenommen werden soll und muß Die erfundene Wahrnehmung kann also dem Leserauge „gekritzelte Ve­ xierbilder“24 zur Verfügung stellen, die es zu entziffern gilt Es lassen sich an dieser Stelle Korrespondenzen zum Denkbilddiskurs herstel­ len 25 Denn den Denkbildem ist eigen, die dargestellte Situation zu vexieren und sie damit zu offnen, indem sie sich auf Visuahtat kaprizieren und somit einen Bild-Raum jenseits der Syntax zu eröffnen Michel Foucault formuliert das immer schon prekäre Verhältnis zwischen Visuahtat und Textuahtat angesichts des Bil­ des Die Hoffraulem von Velazquez folgendermaßen

Vergeblich spricht man das aus, was man sieht das, was man sieht, hegt me m dem, was man sagt, und vergeblich zeigt man durch Bilder, Metaphern, Ver­ gleiche das, was man zu sagen im Begriff ist Der Ort, an dem sie erglänzen, ist

22 vgl Benjamin 1991, GS IV, S 284 Vgl auch TS 132 „Und in der Nacht muß ich wie Schlaf das mitgebrachte Land m dichten und genauen Bildern durch den Körper treiben “ (Hervorhebung MS) 23 Siehe auch ähnlich Adorno 1995, S 172 „Ausdruck ist der Bhck der Kunstwerke “ 24 So bezeichnet Adorno 1989, S 680 den Duktus der Einbahnstraße Benjamins 25

21 Proust 1979, Bd 3, S 1098

Zur Begriffsgeschichte vgl Schulz 1968, ansonsten die Einzelbeitrage bei Köhnen 1996

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Bildlichkeit als Lust am Text (Der Teufel sitzt im Spiegel)

nicht der, den die Augen freilegen, sondern der, den die syntaktische Abfolge definiert26 An dieser Stelle treten die Denkbilder ms Spiel ein, denn sie legen die Augen frei Auch die Bilder Herta Mullers vexieren die dargestellte Situation und halten sie damit offen, zum anderen blitzt die Bedeutung aber gerade in der Wucht ihrer Bilder auf In der Wucht der produzierten Bilder zeigt sich die Weigerung der Texte, erkennungsdiensthch behandelt und auf eine Bedeutung, emen Sinn, eme Identität festgelegt zu werden27 Die in der erfundenen Wahrnehmung erschei­ nenden Sprachgestalten oszillieren zwischen der materiellen Erscheinung der Dinge und ihrer Idee im Sinne des Trauerspielbuchs Walter Benjamins (also nicht als Entität, sondern als Konstellation historisch determinierter Wahmehmungsweisen28) hm und her Dieses produktionsasthetische Verfahren druckt mithin eine Eigenbewegung des Zeichenmatenals aus, m der das Anliegen verschwindet (Vgl TS 42) wie das be­ rühmte Gesicht am Meeresstrand Es geschieht m diesem Verschwmden des An­ liegens em Drangen der Schrift zum Bild, indem das Matenal nicht a pnon der Diktatur der durchzupressenden Intention unterstellt wird, sondern es handelt sich eher darum, wie Michel Foucault so treffend formuliert, „die Wörter, die wir sprechen, in Unruhe zu versetzen“29, sie vom Ausdruck eines Wissens zu befrei­ en und ihnen die Möglichkeit des Ruckbezugs auf sich selbst zu geben Im Dis­ kurs der pnmaren „radikalen Intransivitat“3031 literarischer Sprache steht die erfun­ dene Wahrnehmung

Wilde Semiose bnngt die Grundpfeiler der etablierten Zeichenordnung zum Einsturz, indem sie auf die Matenahtat des Zeichens adaptiert [ ], erzeugt sie Unordnung im bestehenden Beziehungssysstem der Konventionen und Asso­ ziationen, sie stellt neue, unmittelbare Bedeutung her, sie verzerrt, vervielfäl­ tigt, sprengt bestehenden Sinn 32

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Das Zeichenspiel der erfundenen Wahrnehmung als Lust am Text’1 Darüber hmaus verwirklicht sich m dieser autopoetisierenden Tendenz des Mate­ nals das, was Aleida Assman „wilde Semiose“ nennt und wie folgt definiert 26Foucault 1993, S 38

27 Germanistische Sondereinsatzkommandos verdächtigen die Texte der „Authentizität der Wahrnehmung“ (Ottmers 1994, S 283), deren Kraft dann bestehen soll, „detailvergroßerte Abbildungen von der Wirklichkeit“ (ebd ) zu liefern Daß Herta Mul­ lers Konzept der erfundenen Wahrnehmung gerade daran arbeitet, diskursiv prafigunerte Wahmehmungsweisen zu subvertieren, indem das Sprachmatenal gewissermaßen erst einmal unter Referenzentzug gestellt wird, vergißt Ottmers 28Benjamm 1991, GS I, S 214f

29 Foucault 1993, S 363 30 Ebd

31 Roland Barthes apostrophiert entsprechend das Schreiben als „die Wissenschaft von der Wollust der Sprache“ (1992, S 12)

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Die wilde Semiose ist mithin ein dekonstruierendes Verfahren, das einerseits fe­ ste Semantisierungs- und Referentiahsienmgsstrategien sprengt, in dieser De­ struktion aber das Sprachmatenal öffnet, die Zeichen m Bewegung geraten laßt Diesbezüglich schreibt die Herta Muller „Die Wahrnehmung, die sich erfindet, steht nicht still Sie überschreitet ihre Grenzen, da, wo sie sich festhalt Sie ist unabsichtlich, sie meint nichts Bestimmtes Sie wird vom Zufall geschaukelt“ 33 Dies nicht fixierende Verfahren der erfundenen Wahrnehmung laßt sich zei­ chentheoretisch vielleicht so charakterisieren Im Blick der erfundenen Wahrnehmung werden die Zeichen von ihrer alten Funktion des quid pro quo erlöst, indem der statische Konnex zwischen Signifi­ kant und Signifikat aufgebrochen wird Die Signfikanten können so frei flottieren Doch nun ist es nicht so, daß der entstandene Taumel quasi bacchantisch fröhlich beraunt und darüber hinaus apodiktisch-enigmatisch behauptet wird - em Signifi­ kant ist em Signifikant ist em Signifikant, der den Signifikaten hetzt usw Eher versucht die erfundene Wahrnehmung, der Gefahr der Verfangenheit ms Matenal zu entkommen, indem sie die Materiahtat der Signifikanten hm auf eine Bildlich­ keit transzendiert, die man mit Peirce ikonisch nennen konnte 34 Als Beispiel für diese Verwandlung mag folgende Passage dienen 32Assmann 1988, S 239

33 TS 19 Dies erinnert an die memoire involontaire m Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, die, ausgelost durch Epiphanien (vgl Proust 1979, Bd 1, S 66f), in der Lage ist, die Zeit, die in den Epiphanien schlummernd sich verbirgt, wiederherzustellen Bei Proust sind es „Bilder, die visuelle Erinnerung“ (Proust 1979, Bd 1, S 64), die im Interieur des Erzählers in „Bewegung geraten“ (ebd ) und so die Bewegung der memoire involontaire auslosen Immer aber ist em „wehmutsvolles Andenken an einen bestimmten Augenblick“ (Proust 1979, Bd 1, S 564) der Ausloser der in Bildern verfahrenden Erin­ nerung m Prousts großem Roman, die dann wie folgt funktioniert „Diese verworren durcheinander wirbelnden Erinnerungsbilder hielten jeweils nur für em paar Sekunden an, oft gelang es mir in meiner kurzen Unsicherheit über den Ort, an dem ich mich befand, so wenig, die verschiedenen Momente des Ablaufs, aus denen sie bestanden, voneinander zu unterscheiden wie die sich ablosenden Stellungen eines laufenden Pferdes, die das Kinestokop uns zeigt “ (Proust 1979, Bd l, S 15) 34 Die theoretischen Grundlagen der Semiotik von Peirce, der ja bekanntlich eine Art Denkgeometrie des Zeichens aufgestellt hat (vgl Oehler 1979), können hier nur kurz an­ gesprochen werden Ein Zeichen ist eine Trias aus Reprasentamen, Zeichenobjekt und

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Bildlichkeit als Lust am Text (Der Teufel sitzt tm Spiegel)

Die Straßen entlang werden fliegende Rehe tausendfach unerwartet zum Bild, das seine Grenzen überschreitet Aus der Notwendigkeit gesetzt, als Hilfe für eine sichere Fahrt, fliegen sie auf jedem Bild aus der Ahnungslosigkeit der Verkehrsplaner m die Ahnung Sie erfinden sich, sie werden zum poetischen Bild (TS 17) Ein indexikahsches Zeichen - das Verkehrsschild - mutiert unter dem Blick der erfundenen Wahrnehmung zu einem ikomschen Zeichen Die in der Passage zi­ tierte Kinese des Zeichens verwässert die festen Codes der herkömmlichen Ver­ wendungsweisen, indem das Zeichen seinem ursprünglichen Sigmfikationssystem enthoben wird und so die Transformation m em ikonisch funktionierendes Zei­ chen gelingt Dieser „Sprachzug“3536laßt herkömmliche Semantisierungsstrategien entgleisen und eröffnet einen Raum jenseits der Konventionalität Dieses verfremdende Verfahren der erfundenen Wahrnehmung m den Texten Herta Mullers ermöglicht die Lust am Text, die sich nicht in Ersatzsmnhchkeiten3S eines Textjenseits auflosen laßt Ob es sich nun um Interpretationsphantas­ men wie Schreiben als Kompensationsarbeit eines beschädigten Lebens37 oder die Kommunikation des Textes mit einem Außen namens Wirklichkeit,38 die im­ mer schon eindeutig ist, handelt - all diese Funktionszuweisungen aus dem Pa-

laohthikum der Germanistik sind mitunter zohbatar und blind für die Sinnlichkeit der Texte Anstatt den „schwer durchschaubaren Metaphemschleier“39 emstzunehmen und ihn als eine Strategie der Emanzipation vom Pohzeidispositiv anzuerkennen und in einem weiteren Schritt Herta Muller m das literaturepochale Gefängnis der „Neuen Subjektivität“40 einzusperren, vermögen die Texte Herta Mullers dahin­ gegen diesen Zu- bzw Festschreibungen aufgrund ihres ästhetischen Programms des Sprungs m die Bildlichkeit zu entgehen, die Worte zu offnen, visuelle Wahr­ nehmung lesbar zu machen und Lesbarkeit sichtbar zu machen Dadurch errei­ chen die Texte auf der Oberfläche des von ihnen verwendeten Matenals eine Qualität für die Sinne, die nicht unmittelbar übersetzbar ist m Sinn und Bedeu­ tung „Und wir wissen ich hab noch em Wort, noch em kleines, em zerrendes Sagen in mir“ (BF 122) Herta Mullers verschnftetes Sagen zerrt die Worte m die Bild­ lichkeit, eröffnet somit einen Raum, m den die Bilder taumelnd stürzen Sie ver­ mögen die Lust am Text zu initiieren, die nicht unmoralisch, aber atopisch ist41 In diese Ortlosigkeit des Textes hinein verweisen die Bilder, die wahrgenomme­ nen und die erfundenen, ohne daß die Rede ergeht von lexikalischer Referenz Was bleibt, sind selbstredend Bilder, ähnlich vielleicht denen, wie sie der junge Hemer Muller noch entwerfen konnte

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Interpretans Das Reprasentamen wird in Beziehung zu einem Zeichenobjekt gesetzt, welches das Reprasentamen repräsentiert An der Spitze sozusagen steht das sogenannte Interpretans, das man als mentales Konzept oder eingeschränkt als Signifikat bezeichnen konnte Das Interpretans steht wiederum in einer Reprasentationsbeziehung zum Zei­ chenobjekt Unabhängig davon verlauft Peirces Typologie der Zeichen Ikon, Symbol und mdexikalische Zeichen Der entscheidende Punkt ist, daß die von Peirce vorgeschla­ gene Zeichendefinition besagt, daß, wenn etwas für etwas steht, es auch immer zu etwas steht Damit ist gleichsam ein Movens m der Zeichenbildung angedeutet Die Sigmfikationsprozesse, die notwendig sind, um z B das Interpretans eines Zeichens zu klaren, das sich auf dasselbe Objekt bezieht wie das Reprasentamen, können nur mit Hilfe von ande­ ren Zeichen geklart werden So geschieht hier Semiose, denn die im Laufe der Sigmfikationsprozesse entstehenden Objekte sind nicht unbedingt codegesteuert, sondern immer schon Handlungsergebnis und damit auf ihre Weise kontingent wie auch unabschließbar 35 Muller 1990, S 123

Bilder bedeuten alles im Anfang Sind haltbar Geräumig Aber die Traume gerinnen, werden Gestalt und Enttäuschung Schon den Himmel halt kem Bild mehr Die Wolke, vom Flugzeug Aus em Dampf, der die Sicht nimmt Dei Kranich nur noch em Vogel [ ] Zwischen den Zeilen Gejammer auf Knochen der Stemtrager glücklich Denn das Schone bedeutet das mögliche Ende der Schrecken 42 Dem ist nichts mehr hmzuzufugen

36 Vgl Ottmers 1994 Hier geschieht eine Implementation Herta Mullers m das Auf­

schreibesystem 1800, in der das Medium der Dichtung als Ersatz sinnlicher Medien fun­ giert, das Material der Poesie zum Ausdrucksmittel herabgewurdigt und somit unter die Ägide des Gehalts gestellt wurde (vgl Kittier 1995, S 143-149) Zu fragen bleibt, ob Texte - auch die von Herta Mullers - noch unter solchen Bedingungen funktionieren können 37 Ottmers 1994, S 289 38Ebd

39 Ottmers 1994, S 290 40 Ottmers 1994, S 292

41 Vgl Barthes 1992, S 34f 42 Muller, Heiner 1989 S 20

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Literatur Muller, Herta 1990 Barfüßiger Februar Berlin [BF]

dies 1991 Der Teufel sitzt im Spiegel oder wie Wahrnehmung sich erfindet Berlm

[TS] dies 1993 Niederungen Reinbek [N] dies 1995 Der Mensch ist em großer Fasan auf der Welt Reinbek [F] dies 1996 Herztier Reinbek [H]

Adorno, Theodor W 1989 Noten zur Literatur Hrsg v Rolf Tiedemann Frankfurt

aM ders 1995 Ästhetische Theorie Hrsg v Gretel Adorno und Rolf Tiedemann Frank­

furt a M Assman, Aleida 1988 Die Sprache der Dinge Der lange Blick und die wilde Semiose

In HU Gumbrecht/KL Pfeiffer (Hrsg) Matenahtat der Kommunikation Frankfurt a M , S 237-252 Barthes, Roland 1992 Die Lust am Text Aus dem Französischen von Traugott König Frankfurt a M Benjamin, Walter 1991 Gesammelte Schnften Hrsg von Rolf Tiedemann und Her­ mann Schweppenhauser Frankfurt a M Derrida, Jacques 1992 Die Schnft und die Differenz Aus dem Französischen von Rodolphe Gasche Frankfurt a M Foucault, Michel 1983 L’ecnture de soi In Corps ecnt, H 5, S 3-23 ders 1993 Die Ordnung der Dmge Eme Archäologie der Humanwissenschaften Aus dem Französischen von Ulrich Koppen Frankfurt a M ders 1994 Überwachen und Strafen Die Geburt des Gefängnisses Aus dem Franzö­ sischen von Walter Seitter Frankfurt a M Kittier, Friedrich A 1995 Aufschreibesysteme 1800/1900 3 vollst uberarb Auflage München Köhnen, Ralph (Hg) 1996 Denkbilder Wandlungen literarischen und ästhetischen Sprechens m der Moderne Frankfurt a M Konersmann, Ralf 1988 Spiegel und Bild Zur Metaphorik neuzeitlicher Subjektivität Wurzburg Krausser, Helmut 1996 Thanatos Das schwarze Buch München Lacan, Jacques 1991a Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion In ders Schnften I Ausgewahlt und herausgegeben von Norbert Haas Weinheim/Berlin, S 61-71 Lacan, Jacques 1991b Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewußten In ders Schnften II Wemheitn/Berlm, S 165-205

Bildlichkeit als Lust am Text (Der Teufel sitzt im Spiegel)

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Luhmann, Niklas 1986 Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst In H U

Gumbiecht/K L Pfeiffer (Hrsg) Stil Geschichten und Funktionen eines kultur­ wissenschaftlichen Diskurselements Frankfurt a M , S 620-672 Muller, Heiner 1989 Matenal Hrsg v Frank Homigk Göttingen Musil, Robert 1990 Der Mann ohne Eigenschaften Reinbek Oehler, Klaus 1979 Idee und Grundnß der Peirceschen Semiotik In Zeitschrift für Semiotik 1, S 9-22 Ottmers, Clemens 1994 Schreiben und Leben Der Teufel sitzt im Spiegel Wie Wahr­ nehmung sich erfindet In Paul Michael Lutzeler (Hrsg) Poetik der Autoren Frankfurt a M , S 280-294 Proust, Marcel 1979 Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Ausgabe m 10 Banden Aus dem Französischen von Eva Rechel-Mertens Frankfurt a M Rilke, Rainer Mana 1987 Sämtliche Werke Hrsg v Rilke-Archiv m Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke Besorgt durch Emst Zmn Frankfurt a M Schneider, Manfred 1986 Die erkaltete Herzensschrift Der autobiographische Text im 20 Jahrhundert München Schulz, Eberhard Wilhelm 1968 Zum Wort Denkbild In ders Wort und Zeit Auf­ sätze und Vortrage zur Literaturgeschichte Neumunster, S 218-252

Geschicke der Schrift als Strategien subjektiver Ohnmacht. Zu Herta Müllers poetologischen Vorlesungen Der Teufel sitzt im Spiegel

(Stephan Diippe) Sobald, bei der Sekunde, der erste Zug einer Letter sich teilt und eben die Partitur ertragen muß, um sich zu identifizieren, gibt es nurmehr Postkarten, anonyme Bruchstucke und ohne festen Wohnsitz, ohne ständigen Beschickten, offene Briefe, aber wie Krypten Unsere ganze Bibliothek, unsere ganze Enzyklo­ pädie, unsere Worte, unsere Bilder, unsere Gestalten, unsere Geheimnisse, em riesiges Postkartenhaus Ein Postkartenspiel [ ] Was treiben die Postkartensammler? Man muß sie im Auge behalten Jacques Dernda Die Postkarte^

Warum Poetologie Poetologien sind, seit die Stifter von Kunstreligionen ausgestorben sind und das Joch der Subjektivität uns durch Maschinensubjekte von den Schultern genom­ men wurde,* 2 eine Textsorte, deren Grenzen zunehmend verschwimmen, um in ihrer Mitte em schwarzes Loch zu hinterlassen, indem die da schreibt sich unse­ ren Blicken entzieht Was nutzt es noch, zu erklären, wie man schreibt, wenn alle möglichen Antworten darauf Eingang in Creative writzug-Seminare gefunden ha­ ben, die Moderne in unendlicher Selbstrepetition ihr Ende nicht finden kann, nut ihr die Literatur ihr Ende m einer Datenverarbeitung findet, in der jedeR publizie­ ren darf und subjektive Autorschaft allein als eine Funktion des Urheberrechts noch statthat3 Jenseits der Grenzen hegen das immer schon abwesende Subjekt der Auto-Bio-Graphie und die immer schon ihre Spuren legenden Medien der 'Dernda 1980/1982, S 69 2 vgl Kittier 1988, S 181 3 vgl Bolz 1993, S 213

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Stephan Duppe

Geschicke der Schrift als Strategien subjektiver Ohnmacht

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Veröffentlichung von Korperschnften, Medien des Postalischen Allein darüber lohnt sich noch zu schreiben, wenn man über das Schreiben schreiben will Herta Mullers verschriftliche poetologische Vorlesungen Der Teufel sitzt im Spiegel sind, so die Hypothese der folgenden Ausführungen, neben anderem der Versuch, über die Problematik des dichtenden Subjekts in der Postmoderne und sein Verhältnis zu den Medien der Dichtung Auskunft zu geben Erne Auskunft, die immer mit der Unmöglichkeit, aufgeschneben zu werden, emhergeht? Jeden­ falls hegt uns weder die funktionale Gebrauchsanweisung zur Verfertigung von Poesie vor, noch em Blick über die Schulter der Autorin,4 sondern mit Notwen­ digkeit em Text, der verfuhrt, was er beschreibt, eine Schrift m der und über die Schrift, die über Mullers eigenes Werk hmausweist auf zentrale Aspekte (nach-) moderner Literatur Schuft erscheint als em raumzeitliches Ereignis und als Ge­ schick der Post im Sinne von Jacques Demdas Konzept der differance, moderne Autobiographie (und dazu zahlen Mullers Texte) ist nicht mehr die halluzinierte Konfession einer Innerlichkeit, sondern eine „erkaltete Herzensschnft“, wie Man­ fred Schneider sie nennt, und mmontare Literatur ist nicht an landsmannschaftli­ che und damit nationalistische Referenz gebunden, sondern kann sich im Jenseits der Macht produzieren, als abweichender Sprachgebrauch im Sinne Gilles Deleuzes und Felix Guattans

Unruhe gibt es nicht an sich Sie begleitet all unsere Erscheinungen Erst wenn Unruhe unsere latenten Voraussetzungen trifft, werden diese nach außen sicht­ bar Sie werden geäußert Sie werden, auch für uns selber, erst wenn sie Un­ ruhe in Bewegung bringen oder m Starre versetzen, nachvollziehbar Unruhe, daß heißt von Augenblick zu Augenblick Schon das Offnen und Schließen des Augenlids ist Unruhe (TS 39) Unruhe ist als Bewegung eine Voraussetzungen für das Äußern, also für das Schreiben, die Autobiographie, Unruhe ist em Effekt von Augenblicken, diese Augenblicke sind an den Körper gebunden, und schließlich ist Unruhe zwar eine Gwmfeigenschaft, eine Ursache oder em Ursprung also, aber es gibt sie nicht an sich Das erinnert nicht zufällig an Demdas Konzept der Ur-Spur der differance, die ebenfalls als ursprungsloser Ursprung der Sprache gedacht wird Dernda kommt in seiner Dekonstruktion der Saussureschen Linguistik verkürzt gesagt dazu, die von Saussure eingeführte Differenz eines Zeichens zu den anderen Zei­ chen, die allem em Zeichen als solches definiert und abgrenzt, als Prinzip der Sprache selbst auszumachen, em Prinzip allerdings, das nicht als Einheit, als Ur­ sprung, sondern als Bewegung des immer schon Verschobenen gedacht ist Die Differenz „existiert“ immer nur als Differenz zwischen Markierungen, in Mullers Worten als „Unruhe“, die es nicht „an sich“ gibt, sondern immer Spur von etwas Vorgängigem und etwas Nachfolgendem ist Differance zeigt sich als paradoxe Ur-Spur6

Versuch, eine „Bewegung, die sich nicht benennen läßt“ (TS 79), zu be­ nennen. Die erfundene Wahrnehmung - der zentrale Begriff in Mullers literarischer Bildtheone5 - bildet einen Tiefenraum unter der lebenswelthchen Wahrnehmung (vgl TS 40) Sie ist gekoppelt an die „Wucherungen“ und das „dunkle Gedärm unter der Oberfläche“ (TS 18) und daher bodenlos, weglos und radikal die Ordnung der Dinge überschreitend, somit nur als Bewegung zu denken Das weist auf einen zentralen Topos in Mullers Poetologie, die „Unruhe“, die unsere einzige „Grundeigenschaft“ sei Diese Kategorisierung darf nicht tauschen Es geht nicht um das Postulat einer anthropologischen Konstante oder gar um metaphysisch raunende Lebensphilosophie Die Dinge liegen komplizierter, denn

Die differance bewirkt, daß die Bewegung des Bedeutens nur möglich ist, wenn jedes sogenannte „gegenwärtige“ Element, das auf der Szene der Anwe­ senheit erscheint, sich auf etwas anderes als sich selbst bezieht, wahrend es das Merkmal (marque) des vergangenen Elementes an sich behalt und sich bereits durch das Merkmal seiner Beziehung zu einem zukünftigen Element aushohlen laßt, wobei die Spur sich wenigei auf die sogenannte Gegenwart bezieht, als auf die sogenannte Vergangenheit, und durch eben diese Beziehung zu dem, was es nicht ist, die sogenannte Gegenwart konstituiert [ ] Em Intervall muß es von dem trennen, was es nicht ist, damit es es selbst sei, aber dieses Intervall, das es als Gegenwart konstituiert, muß gleichzeitig die Gegenwart in sich selbst tiennen, und so mit dei Gegenwart alles scheiden, was man von ihr her denken kann, das heißt, in unserer metaphysischen Sprache, jedes Seiende, besonders die Substanz oder das Subjekt Dieses dynamisch sich konstituierende, sich teilende Intervall ist es, was man Verraumhchung nennen kann, Raum-Werden der Zeit oder Zeit-Werden des Raumes7

4

Das ärgert Vertreter der reinen hermeneutischen Lehre, die noch Neugier für die „poetische Werkstatt“ einer Autorin aufbnngen müssen, um so ihre Verstehens- als Machttechnik betreiben zu können Em Beispiel hierfür liefert Clemens Ottmers (1994 S291) 5 vgl hierzu ausführlich den Beitrag von Markus Steinmayr im vorliegenden Band

6 vgl hierzu insgesamt Dernda 1968 7Dernda 1968, S 39

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Geschicke der Schnft als Strategien subjektiver Ohnmacht

All das, der Verweis jedes Elements der Schrift auf alle anderen als Iteration von Markierungen und das Eröffnen eines Raumes, wird im Gedächtnis zu behalten sem, wenn man über Herta Mullers Beschreibung des Schreibprozesses spricht Nun also zum Übergang der erfundenen Wahrnehmung und ihrer Unruhe in die Schnft von Herta Muller Sie macht diesen Übergang, wie Demda sich in der Sprache selbst bewegend, am differentiellen Charakter der Worte „Unruhe“ und „Unmaß“ augenfällig

Auto-Bio-Graphie - „keine Innerlichkeit ohne die Drucktechnik“8. Das poetologische System Herta Mullers ist eng gebunden an die Verortung ihrer eigenen Subjekt-Position, daran, wie sie sich selbst und das Leben dem Schreiben vor-stellt Muller verfolgt schließlich nicht das Projekt eines anonymisierten, ent­ fesselten Lettnsmus So redet sie etwa von Intention „Ja, jeder Text muß em Anliegen haben, so wie alles, was wir tun, oder nicht tun, em Anliegen haben muß [ ] Denn man muß ja dem, was man schreibt, einen Sinn, seinen eigenen Sinn geben, um zu schreiben “ (TS 42) Und an anderer Stelle heißt es, in der Vorlesung unter dem Titel Das Auge tauscht im Lidschlag „Wir brauchen m dem, was wir tun, diese Kontinuität, um nicht zu zerfallen“ (TS 77) Nimmt man nur diese beiden Aussagen, so konnte es den Anschein haben, als ginge es Muller um Autobiographie im hergebrachten Sinne, darum, die eigene Person und ihre verinnerlichten Erfahrungen als eine Kontinuität zu produzieren und damit einen kohärenten Smn zu vermitteln Das konnte man ja auch hinter dem Projekt der erfundenen Wahrnehmung vermuten eine sichtbare Welt der Innerlichkeit nach den Worten, die das diskrete Medium Schrift m die Kontinuität des Imaginären, der Imagination überführt9 In diese Richtung interpretiert beispielsweise Friedmar Apel, nicht ohne allerdings die ver­ änderten Schreibbedingungen unserer Epoche wenigstens zu erwähnen

‘Unruhe’ und ‘Unmaß’, die beiden Worte zeigen das schon, sind nicht gleich­ mäßig Sie definieren sich durch Ungleichmäßigkeit Das Zucken und Schlagen macht diese Worte aus Sie pulsieren Sie verknaueln sich m ihrer Bewegung, die sich nicht benennen laßt, durch kein einziges Wort, das wir aus anderen Zusammenhängen kennen [ ] Die Unruhe und das Unmaß treffen in ihrer Bewegung den Punkt, an dem die lückenlose Unwirklichkeit entsteht An dem der Sog des Satzes entsteht Und der Schreck vor dem Satz Auch der ‘Sog’ und der ‘Schreck’ vor dem Satz sind nicht gleichmäßig Zwischen all ihren kurzen Takten steht der Riß Nur durch ihn, weil über ihn hinweg, können wir die Gedanken fort-schreiben (TS 79f) Die Schnft wird also bestimmt von einer energetischen Aufladung einzelner Mo­ mente (das Pulsieren an Punkten), die sofort in Bewegung (Schrecken und Sog) übergeht, in einen Rhythmus, der vom Riß m der Wahrnehmung getaktet ist Versucht man den Überfall der Unruhe beim Schreiben zu tieffen, die Dre­ hung, durch die der Sprung ms Unberechenbare einsetzt, muß man m kurzen Takten seine Satze schreiben, die von allen Seiten offen sind, für die Verschie­ bung Es sind Sprunge durch den Raum (TS 19) Liest man an dieser Stelle weiter, so dringt man tiefer em m das Schnft-stellen Mullers, das Verfahren, wie sich Worte zum Text fugen

Das, was fallt und aufschlagt oder kein Geräusch macht, das was man nicht aufschreibt, spurt man in dem, was man aufschreibt Das Gesagte muß behut­ sam sein, mit dem, was nicht gesagt wird [ ] Das, was mich einkreist, seine Wege geht, beim Lesen, ist das, was zwischen den Sätzen fallt und aufschlagt, oder kein Geräusch macht Es ist das Ausgelassene (TS 19) Das Aufgeschriebene fungiert nur als eine Markierung, als Anwesenheit, die auf Abwesenheiten verweist und in dieser endlosen Iteration von Markierungen den Leser u Schreiber in der Bewegung der Sprache „einkreist“ (daß das Nicht-Gesagte Geräusch macht, Geisterstimmen also m der Schrift enthalten sind, verweist schon auf den Postverkehr, der, wie wir seit Kafka wissen, von Gespenstern be­ herrscht wird, dazu spater mehr)

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die Umsetzung des Bildes m Wort und Satz bei Herta Muller [folgt] dem my­ stischen Impuls, die Dinge selber reden zu lassen [ ] In der Tradition der Romantiker vermutet Herta Muller die Wahrheit hinter der Erscheinung, im Gegensatz zu ihnen aber verzichtet sie auf den Gedanken der Versöhnung, auf Utopie 10 Man muß jedoch gar nicht, wie Apel, den biographischen Konflikt zwischen dem Wunsch nach mystischer Kommunion mit den Dingen und ihrer Unmöglichkeit in einem gegebenen sozialen Kontext als Erklärung bemühen, um zu zeigen, daß moderne Autobiographie keinen Smn mehr haben kann und nurmehr diskontinu­ ierlich denkbar ist Dazu genügt em Blick auf die Auseinandersetzung Mullers mit dem Matenal der Sprache In ihr schon losen sich das Subjekt und jegliche Kon­ tinuität auf Die vorgeblich bloße „Umsetzung des Bildes in Wort und Satz“ fun­ giert nämlich wesentlich als eine Auflösung des Bildes und damit des Imaginären überhaupt, als seine Zerstörung, so wie schon der Blick immer eine Zerstörung des Gesehenen ist

8 Schneider 1986, S 10 9vgl hierzu Kittier 1985/1987, S 124 10 Apel 1991, S 28

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Geschicke der Schnft als Strategien subjektiver Ohnmacht

Schon in der Wahrnehmung steckt der Riß, die differance, die Kontinuität ist nur eine Funktion des Beharrens auf Identität, die unhaltbar geworden ist Dagegen ist gerade das Zemssen-Sem, die Diskontinuität der Impuls des Schreibens Wir finden hier zunächst Demdas Gedanken der Verraumhchung von nur scheinbar linearer Zeit

So kommt es, daß ich das Schreiben als das Gegenteil von Leben, und als das Gegenteil von Denken empfinde Em großer Ruckzug, ich weiß nicht wohin, und ich weiß nicht worauf An keinen Ort und nicht auf mich selbst Es ist die lückenlose Unwirklichkeit, die mich, so scheint es, dennoch auffangt Es ge­ schieht nichts, von außen gesehen, gar nichts Auch von innen geschieht nichts, da man, auch wenn man sich sucht, nie auf sich selber stoßt Auch den Faden gibt es nicht Doch das Gefühl des Fadens, der sich sucht und sucht Und dann gibt es spater diese Satze (TS 34) Schreiben wird hier der Inhalt des Lebens im Wortsinn „Das Leben und das Medium nahem sich asymptotisch, aber die Koordinaten messen nicht mehr die Werte Subjekt und Wahrheit, sondern die Intensitäten Schreiben und Schnft“ 11 „Und dann gibt es spater diese Satze“ Eine ecnture automatique, deren Auslo­ ser nicht das Seelenleben der Autonn ist, und die deswegen auch nicht traumhaft geschieht, sondern die sich m der Spur einer Spur m der Sprache bewegt „Doch bevor ich den Satz schreibe, beobachtet mich der Satz“ (TS 35) Schreiben be­ deutet, die Worte und Satze so zusammenzubnngen, bis sie ihre Position als Markierung gefunden haben, bis sie sich, m Mullers Terminologie, selber sehen, so wie sie sind Daher kann man mit Worten und Sätzen nicht lugen, folgert die Autonn Em weiteres Mal ist Demda nicht fern

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Das Querstehen, dieses sich Überlagern und Durchbrechen in semer Reihen­ folge, in seinem Hintereinander, nennen wir Chronologie und Kontinuität Beim Schreiben, will man dieses Hintereinander und all die Bruche fassen, muß man das, was sich im Fort-Schreiben des Gedankens zusammenfugt, zer­ reißen Man zerrt am Geflecht der Satze, bis sie durchsichtig werden, bis in der Reihenfolge der Worte im Satz und in der Reihenfolge der Satze im Text die Risse durchscheinen Bis die verschwiegenen Satze zwischen den geschriebe­ nen Sätzen überall ihr Schweigen hinhalten Bis man das Gefühl hat beim Schreiben, daß der Text jetzt atmet, daß der Satz, jeder, so ist, wie er sich sel­ ber sieht (TS 80f) Der Versuch, zusammenhängend die Wahrnehmung und damit so etwas wie die Einheit eines Autor-Subjekts aufzuschreiben, scheitert buchstäblich am Material der Sprache, an ihrer Bewegung Lineare Schrift und kontinuierliches Denken werden überschritten in dem Verweis der anwesenden sprachlichen Zeichen auf alles Abwesende Das Geschriebene ist konsequent gedacht als das „Nachweisbare“, das seine Nachweisbarkeit nur durch den Verweis auf das Un­ geschriebene hat Das Verschwinden der gelesenen Worte m der Imagination der Leserin war im­ mer schon selbst nichts mehr als imagmar, ebenso wie die medienvergessene Kommunikation einer Innerlichkeit, einer „Herzensschnft“ (Manfred Schneider) in Schnft Muller beschreibt diese Tatsachen sehr genau als Verlust der lebensweltlichen Subjektivität im Schreibspiel Das Schreiben ist jedesmal das Letzte, das, was ich (immer noch) tun kann, ja muß, wenn ich nichts mehr anderes tun kann Es ist immer, wenn ich schreibe, der Punkt erreicht, wo ich mit mir selber (und das heißt auch mit dem, was mich umgibt), nicht mehr umgehen kann Ich ertrage meine Sinne nicht mehr Ich ertrage mein Nachdenken nicht mehr Es ist alles so verstrickt geworden, daß ich nicht mehr weiß, wo die äußeren Dinge anfangen und aufhoren Ob sie m mir sind, oder ich in ihnen (TS 33) Die erfundene Wahrnehmung fuhrt an den Punkt, an dem die Dezentrierung des Subjekts absolut ist Dann beginnt das Schreiben, das nach allem Gesagten nicht die Repräsentation der erfundenen Wahrnehmung im Sinne der Simulation eines Imaginären sein kann

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Em bewußtes Wesen ist ein Wesen fähig zu lugen, fähig, m einer Rede dieses nicht darzustellen, über dessen artikulierte Vorstellung es dennoch verfugt es ist dieses, welches vermeiden kann zu sprechen Doch um lugen zu können die zweite und bereits modahsierte Möglichkeit -, muß man zunächst - die we­ sentlichere Möglichkeit - fähig sem, dieses, welches man bereits weiß, indem man es sich sagt, für sich zu wahren [ ] Doch dieses Fur-sich-Wahren, diese Verheimlichung, um derentwillen es geboten ist, bereits mehrere / verschiedene zu sein und von sich selbst zu differieren / veischieden zu sein (differer), un­ terstellt auch den Raum eines verspiochenen Spiechens, das heißt eine Spur, deren Bejahung nicht symmetrisch gelegen ist Wie sich der absoluten Ver­ heimlichung versichern'’ [ ] Nicht, daß sich alles bekundet Nur die NichtBekundung ist niemals sichergestellt11 12 Em versprochenes Sprechen, das immer schon vor uns da war und dem wir uns nurmehr emschreiben können, ist Grund dafür, daß sich hier die klassische Kon­ zeption der Autobiographie umkehrt nicht em Subjekt, von dem em Text ergeht, sondern em Subjekt, das im Text verschwindet Davon schreibt Foucault m Was ist em Autor?

11 Schneider 1986, S 14 (Hervorheb S D )

12 Demda 1987/1989, S 34f

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Geschicke der Schrift als Strategien subjektiver Ohnmacht

Zunächst laßt sich sagen, daß sich das Schreiben heute vom Thema Ausdruck befreit hat es ist auf sich selbst bezogen, und doch wird es nicht für eine Form von Innerlichkeit gehalten, es identifiziert sich mit seiner eigenen entfalteten Äußerlichkeit [ ] in Frage steht die Öffnung eines Raumes, in dem das schreibende Subjekt immer wieder verschwindet13

In der modernen Autobiographie ist die Autorin eben ausgeschlossen von der Herrschaft über den Text Das Anliegen und der Sinn zahlen nur noch unter Be­ dingungen der Regeln der Sprache selbst

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Bei Muller heißt es konsequent und im Wortsmn „Das Fortschreiben des Satzes ist das Aushohlen der Gedanken“ (TS 41, Hervorheb SD) Allerdings kann Muller dieses Autonom-Werden der Sprache nicht in der glei­ chen Weise wie Foucault feiern, vielmehr wird ihr die Abtretung, das FortSchreiben als Aushöhlung schmerzlich bewußt als em Verlust Die Satze, die plötzlich entstehen, das schreibende Subjekt beobachten und „richtig“ aufgeschneben werden wollen, sind der Autorin durch ihre Texte enteignet Ich war unerreichbar für mich wählend des Schreibens Ich war es nicht gewe­ sen, denn ich hatte mit mir, wie ich bin, nachdem ich den Text geschrieben hab, nichts zu tun Und doch, im weitesten Sinne des Wortes bin ich es gewe­ sen Ich weiß das, und ich fühle mich benutzt von meinen Sätzen Denn ich bin aus ihnen ausgeschlossen, wenn der Text geschrieben ist (TS 45f) Daher die Angst vor der „sichtbaren Welt nach den Worten“, die sich äußert, wenn Muller etwa beschreibt, wie die erfundenen u aufgeschriebenen Bilder sie in der Wirklichkeit einholen Auch die Metapher als Hort der kontrollierten bild­ haften Bedeutungszuweisung bildet keinen Fluchtpunkt mehr, sondern ist immer schon „kluger als die Autorin“ 14 Klar ausgesprochen wird dies von Herta Mul­ ler, wenn sie als eine Funktion der Metapher die Transformation des irrationalen, angstbesetzten Diskurses in die Sicherheit selbstgeschaffener Kunst-Sprache, eben das bildhafte Sprechen ausmacht (vgl TS 108) Diese Transformation kann ihr nicht mehr gelingen, denn das Aufgeschnebene bildet eine Eigendynamik,15 die auf die Realität zuruckwirkt „Die Metapher hatte mich im Griff, sie hatte mich eingeholt“ (TS 109)16*

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[D]as Besondeie des modernen autobiographischen Textes [ ] liegt dann, daß die Sprache, die Textuahtat als die äußerste Wahrheit eines Subjektlebens an­ erkannt wird Diese Anerkennung ist eine Reduktion Im Rauschen der Sprache vergeht das Schattenreich des Empinschen, zugleich bildet das Zeichen, das im Bewußtsein seiner Erlösung aus der Fron wahrer Designation gesetzt wird, den Eroffnungszug m einem Spiel unendlicher Möglichkeiten 17 Die Autonn sucht man m dieser „Epiphanie einer Textuahtat“18 vergebens, dage­ gen scheint em neuer Textbegriff auf, der des Postalischen

Techniken der Textualität- „Im Anfang, im Prinzip war die Post, und dar­ überwerde ich niemals hinwegkommen“19 Die Satze, einmal von der Autorin auf die Reise geschickt, lassen sich nicht zurucknehmen, werden Ge-Schick und Schick-sal „Beim Schreiben der Karten fielen Irene Satze em, die sie gar nicht im Kopf trug“ (R 62) Sprechen ist niemals gleich Schreiben, weiß Herta Muller, und der „Diskurs des Alleinseins“, das Selbstgespräch, „wird zum ganz anderen Diskurs des Allein­ seins, wenn man ihn aufschreibt“ (TS 67) Das Sprechen überlaßt sich den Re­ geln der geschriebenen Sprache, wird beherrscht von der Unruhe Augenfällig wird dies, wenn Herta Muller beschreibt, wie sie fiktive Gespräche m ihrer Prosa konstruiert Kommunikation wie in einem realen Gespräch, also Gemeinsamkeit, gibt es hier nicht So sind auch Gespräche un Text keine Gespräche Sie benötigen die gleiche Abwendung vom Gespräch wie alle anderen Satze des Textes, die man so nicht mündlich äußern konnte [ ] Es bleibt bei der Aussage neben der Aussage Es wird nicht Aussage auf Aussage [ ] Es ist, auch im größten Einverständnis, em Gegeneinanderreden, und es bleibt, jedes für sich, m der Spur der Entfer­ nung vom anderen (TS 68f)

13 Foucault 1969, SH 14 Heiner Muller 1979, S 31 Das Genus wurde stillschweigend korrigiert

15 dazu noch einmal Heiner Muller „Die Angst vor der Metapher ist die Angst vor der Eigenbewegung des Materials “ (1979, S 31)

16 vor diesem Hintergrund erscheint es ignorant bis arrogant, wenn Clemens Ottmers in dem vergeblichen Versuch, Herta Mullers Poetologie zu verstehen, ihre erzählende Prosa beschreibt und sich dabei in der ungenauen Metaphorik des interpretatorischen Diskurses verstrickt (vgl Ottmers 1994, S 281) Perfiderweise wirft derselbe Ottmers Muller spater vor, ihren poetologischen Diskurs „hinter einem nur schwer durchschaubaren Meta­ phernschieier zu verbergen“ (ebd S 290), der durch mangelnde Präzision unklar ließe,

wie die Autonn denn das Schreiben anstelle - als sei sein eigenes Schreiben weniger schwer durchschaubar oder präziser, bloß weil es Gemeinplätze hteraturwissenschafilicher Interpretationsprosa reproduziert So fallt die Rhetorik der Geisteswissenschaft auf ihre eigenen Hervorbnngungen zuruck 17 Schneider 1986, S 44

18 ebd S46

!9Dernda 1980/1982, S 39

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Geschicke der Schrift als Strategien subjektiver Ohnmacht

Deshalb sind die Lucken in geschriebenen Gesprächen besonders groß, weil nur wenige Markierungen erlaubt sind und das Ungesagte/Ungeschnebene den Text bis zur Unverstehbarkeit strukturiert Problem der Telegraphie oder Telegrammatik Em Beispiel hierfür

Vor dem Briefkasten war Irene verwirrt Unter dem Schlitz stand Andere Richtungen (R46) Als Irene die Anschrift von Franz auf die Karte schreiben wollte, war ihre Hand schlaff Sie schrieb die Anschrift von Thomas (R 162) Das Wort Taubenmorderm fiel Irene em Sie schrieb Taubenmordenn auf eine Karte Steckte die Karte und die Feder in einen Umschlag Sie schrieb ihre ei­ gene Anschrift auf den Umschlag (R 164) So funktioniert moderne Autobiographie, als ein Postkartenspiel, bei dem es nur wichtig ist, daß es im Prinzip Post gibt, nicht wer an wen schreibt und welcher Inhalt verschickt wird Ob Franz oder Thomas oder die Leserin die Postkarte be­ kommt oder gar eme Autorin an sich selbst Worte und Dinge verschickt, ist einer­ lei und gerade darum Schick-sal Nach Bernhard Siegert waren genau die Opera­ tionen, die Herta Muller am Text vernimmt, bestimmend für die Einführung der Postkarte durch die verschiedenen Post-Organisationen im 19 Jahrhundert Aus ökonomischen Gründen wurde der Privatbrief sowohl sämtlicher Höflichkeits­ floskeln beraubt22 als auch gar der Faltung bzw des Umschlages, also der mate­ riellen Grundlage des Briefgeheimnisses Effekt dieser technologischen Neuerung war es, daß als Postkarte versandte Texte nicht mehr zur Übermittlung einer In­ nerlichkeit benutzt werden konnten, weil einerseits die individuelle Anrede und andererseits die Intimität des Geschriebenen getilgt wurden Somit verschwand die Kommunikation von Seelen-Inhalten, also Subjektivität, aus den Kanälen der Post23 „Aus diesem Grund sind Postkartentexte einer Hermeneutik der Seele un­ zugänglich sie sind ‘offen und radikal unverständlich’“24

Ich bin heimatlos Italiener Ich bin m der Schweiz geboren Die zweite Gene­ ration Ausländer / Ich bin nicht heimatlos Nur im Ausland / Ausländerin im Ausland / Er lachte Nur / Meine Kinder werden die dritte Generation / Wer­ den / Sind / Wieviele, fragte Irene / Die dritte / Wieviele Kinder / Drei Meine Frau / Ihre Frau / Nein, sie ist Deutsche Sie versteht nicht / Daß sie heimatlos smd / Kann sein / Daß sie von gestern sind / Das Haar hmg ms Glas / Aber sie, aber du Er nahm Irenes Hand / Das Haar zog sich über den Rand des Glases hm (R61) Im realen Gespräch wird elliptische Sprechweise durch Gestik und Mimik so er­ gänzt, daß Verstehen möglich ist Da Muller die Elhptik übernimmt, ohne die Korpersprache erzählend beizufügen, wird die Lektüre solcher Passagen, die nach Maßgabe der Grammatik „direkte Rede“ heißen, erschwert Statt der Simulation von Realität sieht man sich einem sezierten Text gegenüber, in dem nur noch die entblößten Aussagen herausprapanert sind Anklange an expressionistischen Reihungsstil und syntaktische Dürftigkeit20 er­ klären sich aus diesem telegrammatischen Stil21 Die einzelnen Worte haben ge­ nau eine Stelle im auf die Reise zu schickenden Text, und in den Leerstellen ver­ steckt sich keine Anweisung an die Imagmationskraft des Lesers, sondern nur die Organisationsform eines geposteten Textes, der das Paradigma eines veräußer­ lichten autonomen Textes ist Es ist nur zwangsläufig, wenn daher die Post und die Postkarte eine große Rolle in Herta Mullers Texten spielen, als Motiv in ihrer Erzählung Reisende auf einem Bem wie in der Postkartencollagensene Der Wachter nimmt seinen Kamm Hier wird klar ausgesprochen, daß sich das Subjekt an die Post verliert „Die Karten vollgeschneben Und ich leer “ (R 126) Hier wird offensichtlich, daß Adressie­ rung und damit Subjektivität em ungewisses Spiel und eine Funktion der postali­ schen Schrift und nicht der Innerlichkeit ist

Da freut es den Demda lesenden Literaturwissenschaftler, daß Herta Muller eine Serie von Liebespostkarten herausgegeben und so ihr Inneres nach Außen gekehrt hat In diesem Medium wird offenbar, daß „die ‘chaine des sentiments’ Rousseaus ersetzt [ist] durch eme ‘chaine des signes’, eme Signifikantenreihe, die auf metaphorischen und metonymischen Substitutionen aufbauend, das Spiel der Er­ innerungen organisiert “25 Muller verzichtet auf das Reprasentans ihres Körpers, als das die Handschrift seit der Erfindung der Drucktypen gilt,26 um rem äußerliche Signifikanten anzuord­

20 Auf diese stilistischen Merkmale weisen Norbert O Eke und Claudia Becker zwar hin,

22 vgl Anm 24

finden aber statt materieller Erklärungen bloß eme immer schon abwesende Autorschaft (nicht) vor (vgl Eke 1991, S 17 und Becker 1991, S 36)

23 vgl Siegert 1993, S 159-161

21

24ebd S 161 Das Zitat entstammt Dernda 1980/1982, S 100

Telegramm ist hier keine bloße Metapher, sondern weist, wie noch zu zeigen sein wird, auf die medialen, und das heißt m unserem Fall postalischen, Voraussetzungen mo­ derner Literatur Floskeln als Repräsentation von Individualität sind einer postalischen Ökonomie der Schrift höchst zuwider, deshalb entsteht erst Telegrammatik (vgl hierzu Siegert 1993, S 162)

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25 Schneider 1986, S 43 26 Dies übrigens nur, um Mannern das Monopol im schriftlichen Diskurs zu sichern, in­ dem sie durch ihre eigene Hand selbst Herr-schaft über die Schrift ausubten (vgl hierzu Kittier 1986, S 274-277)

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Geschicke der Schrift als Strategien subjektiver Ohnmacht

nen, die nicht einmal ihrer Schreibmaschine entstammen, sondern Massen-medien - em Schreibspiel ersetzt romantische Liebe Dieses Collagieren ist die Grund­ form des Schreibens von Herta Muller, wie folgende Passage aus Reisende auf einem Bem zeigt

Bleibt Muller im schreibmaschmell Geschriebenen, so muß sie ihr „Anliegen“, das sie transportieren will, bis zur Unkennthchmachung zersprengen, dh im symbolischen Code verschlüsseln, erst die emgeweihte Leserin („wer lesen kann“, TS 44) kann das wieder zusammensetzen, kann die Schreibbewegung nachvollziehen Was in konventionellen Interpretationen gern Hermetik genannt wird, ist einfach die Verschickung von Geheimbotschaften, ganz so, wie es die Hauptfiguren in Herztier betreiben

Ein Riesenrad mit fliegenden Leuten neben einem fernen Wasser Em Flugzeug am Himmel neben einer Hand Ein Gesicht, das flog von der Geschwindigkeit neben einem Mädchen am Schaukelstuhl Eine Hand, die auf den Revolver druckte neben emem Mann, der auf dem Fahrrad durch das Spiegelbild der Baume fuhr Em schreiender Mund, der bis zu den Augen reichte [ ] Em durchwühltes Zimmer Em Junge im Matrosenanzug Eine wimmelnde Emkaufsstraße Eine Drehtür im steinigen Gebirge Irene schnitt Photos aus Zei­ tungen aus [ ] Irene klebte die Photos auf einen Bogen Packpapier nebenein­ ander Sie mußte lange suchen und vergleichen, bis zwei Photos zusammenfan­ den Fanden sie einmal zusammen, taten sie das von selbst (R 46f) Ins Jenseits der Macht Techniken zum Verschwindenlassen von Subjekten sind naturgemäß auch immer Techniken der Geheimdienste bzw gegen die Geheimdienste Manfred Schneider weist darauf hm, daß die Autonom-Setzung der Sprache m der modernen Auto­ biographie auch aus dem Grund entstanden ist, daß sich die schreibenden Sub­ jekte dem erkennungsdiensthchen Zugriff der Polizei, der noch in der alten Ver­ pflichtung zur Konfession in der Autobiographie waltete, entziehen mußten 27 Daher geht schon aus Gründen der Chiffrierung Handschrift nicht nur in maschi­ nelle Schnft über, sondern in eine Post, die m letzter Konsequenz von allen Spu­ ren der Autorin gereinigt ist, zumindest auf der materiellen Ebene Denn auch Schreibmaschinen wurden in Rumänien behördlich registriert28 „Das Auge der Macht sieht überall hm“ (TS 20f) und Täuschung wird zur uberlebensnotwendigen Strategie (vgl ebd) Auch das übrigens ist em Problem der Postkarte von Anbeginn an Nachdem die Entblößung der Intimsphäre des Diskurses [ ] in die Tat umge­ setzt wurde, [ ] blieb als einzige Chance zur Rettung des Seelenheils der Menschheit die Verschiebung der Faltung (nach ihiem Verschwinden aus dem Matenal) ins Symbolische Wo der vom Bnefgeheimms geschützte Bereich aufhort, beginnt der Zuständigkeitsbereich der Nachnchtendienste 29 27 vgl Schneider 1986, S 38f

Beim Schreiben das Datum nicht vergessen, und immer ein Haar m den Bnef legen, sagte Edgar Wenn keines mehr dnn ist, weiß man, daß der Brief geöff­ net worden ist [ ] Em Satz mit Nagelschere für Verhör, sagte Kurt, für Durchsuchung einen Satz mit Schuhe, für Beschattung einen mit erkaltet Hin­ ter die Anrede immer em Ausrufezeichen, bei Todesdrohung nur em Komma (H 90) Schreiben wird, so verstanden, zum Versuch, einen Ort im Jenseits der Macht zu behaupten, dies um so leichter, als die Diskurspohzei von der Schnft zu techni­ schen Medien ubergegangen ist, woraus erst eine autonome Herzensschnft ent­ stehen kann Mullers Sprache ist mmontar, nicht einfach weil sie Angehonge einer sprachli­ chen Minderheit m Rumänien ist, sondern weil sie sich jeder Form von Identifi­ zierung widersetzt Ihre Sprache ist politisch, weil sie die herkömmliche Rede­ weise detemtonahsiert,30 so etwa m der Dekonstruktion von Spnchworten, dem zu wörtlichen Gebrauch von Worten und der schon angesprochenen syntaktischen Dürftigkeit, die aber mit Intensitäten aufgeladen ist So liest sich Deleuze/Guattans Beschreibung der Sprache Kafka auch als eine derjenigen Mullers

[DJie Detemtonahsierung weiter vorantreiben, m aller Nüchternheit, den aus­ getrockneten Wortschatz m der Intensität vibrieren lassen, dem symbolischen oder bedeutungsschwangeren oder bloß signifikanten Gebrauch der Sprache ei­ nen rem intensiven Sprachgebrauch entgegenstellen, zu einem perfekten und nicht geformten, mtensiv-matenellen Ausdruck gelangen31

Statt Metaphern also Metamorphosen Ihr "Mmderheitendeutsch" (BF 123f) konstruiert sie als eine kontinuierliche Va­ riation des Sprachmatenals, um so den Zuschreibungen von Subjektivität zu ent­ gehen Klartext redet - naturgemäß - eine Postkarte

28

So eine Auskunft der Autorin mündlich in einem germanistischen Oberseminar der Ruhr-Universitat Bochum, Januar 1996 29 Siegert 1993, S 163

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30 vgl Deleuze/Guattan 1975/1976, S 24f

31 ebd S28

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die Muttersprache kichert schwarz auf Kindesbeinen der Grammatiker wohnt im Mund Deutschfieber32

Literatur Muller, Herta 1991 Der Teufel sitzt im Spiegel Wie Wahrnehmung sich erfindet

Berlin [TS] dies 1987/1990 Barfüßiger Februar Berlin [BF] dies 1989/1995 Reisende auf einem Bem Reinbek [R] dies 1993 Der Wachter nimmt seinen Kamm Reinbek [WK] dies 1994/1996 Herztier Reinbek [H] Apel, Friedmar 1991 Schreiben, Trennen Zur Poetik des eigensinnigen Blicks bei

Herta Muller In Norbert O Eke(Hg) 1991,5 22-31 Becker, Claudia 1991 'Serapiontisches Prinzip' m politischer Manier - Wirkhchkeits-

und Sprachbilder in "Niederungen" In Norbert O Eke(Hg) 1991, S 32-41 Bolz, Norbert 1993 Am Ende der Gutenberg-Galaxis Die neuen Kommumkationsver-

haltnisse München Deleuze, Gilles/Felix Guattari 1975/1976 Kafka Für eine kleine Literatur Frankfurt

aM Dernda, Jacques 1968 Die differance In ders 1988 Randgange der Philosophie 1,

vollst dt Ausg Wien ders 1980/1982 Die Postkarte Von Sokrates bis an Freud und jenseits 1 Lieferung

Berlin ders 1987/1989 Wie nicht sprechen Verneinungen Wien

Eke, Norbert O (Hg) 1991 Die erfundene Wahrnehmung Annäherung an Herta

Muller Paderborn, S 22-31 ders 1991 Augen/Bhcke oder Die Wahrnehmung der Welt m den Bildern In ders

(Hg) 1991, S 17 Foucault, Michel 1969 Was ist em Autor9 In ders 1988 Schriften zur Literatur — Frankfurt a M, S 7-31 Kittier, Friedrich 1985/1987 Aufschreibesysteme 1800/1900 2 erw u korr Aufl München 32

Muller 1993, Karte 92 Aus technischen Gründen kann hier nur der reine Text ohne seine typographische Matenalitat wiedergegeben werden

Geschicke der Schrift als Strategien subjektiver Ohnmacht

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ders 1986 Grammophon, Film, Typewnter Berlin Bnnkmann&Bose ders 1988 Signal-Rausch-Abstand In ders 1993 Draculas Vermächtnis Technische

Schriften Leipzig Reclam S 161-181 Muller, Hemer 1979 Fatzer + Keuner In Frank Homigk (Hg) 1989/1990 Heiner Muller Matenal Texte und Kommentare 2 Aufl Leipzig, S 30-36 Ottmers, Clemens 1994 Schreiben und Leben Herta Muller Der Teufel sitzt im Spie­ gel Wie Wahrnehmung sich erfindet In Paul Michael Lutzeler (Hg ) Poetik der Autoren Beitrage zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Frankfurt aM, S 279-294 Schneider, Manfred 1986 Die erkaltete Herzensschnft Der autobiographische Text im 20 Jahrhundert München Siegert, Bernhard 1993 Relais Geschicke der Literatur als Epoche der Post 17511913 Berlin

„Was nicht faßbar ist, flattert hin, wo es will“. Poetologische und politische Aspekte von Hunger und Seide (Eckhard Gropp)

Der vorliegende Aufsatz untersucht poetologische und politische Aspekte zum Essayband Hunger und Seide der Autorin Herta Muller Besondere Berücksichti­ gung findet zunächst die hteraturtheoretische Frage nach der Grazie, die als zen­ traler Begriff der Ästhetik Heinrich von Kleists von der Autorin neu aufgegnffen und in einen gegenwärtigen Kontext gestellt wird Dieser Gesichtspunkt deutet bereits auf einen grundlegenden Gegenstand, der sich in fast allen dichterischen Texten der Autorin, aber auch m den Essays, Artikeln und Reden, manifestiert die Veränderung der durchaus subjektiven Wahrnehmung der Welt und der Wan­ del objektivierbarer moralischer Instanzen durch die konkrete Erfahrung einer politischen Diktatur Herta Muller folgert aus ihren persönlichen Erlebnissen in der kommunistischen Diktatur Rumäniens sehr dezidierte Vorstellungen über Möglichkeiten des menschlichen Umgehens miteinander, die jeden utopischen Ansatz unmittelbar ausschheßen Anhand einiger politischer Aussagen der Essays soll nachvollzogen werden, wie die subjektive Erfahrung furchtbarer Geschehnisse durch Formen dichtenscher Freiheit verarbeitet und dargestellt werden kann Es ist jedoch auch auf gravierende Probleme einzugehen, die durch die Vermischung von poetischer und fast journalistischer Ausgestaltung von autobiographischen Inhalten - ver­ bunden mit realpohtischen Aussagen und kategonschen moralischen Verurteilun­ gen - entstehen können In einer übergeordneten Betrachtung ist somit die litera­ rische, ästhetische Form der Äußerungen Herta Mullers zu berücksichtigen, dar­ über hinaus ist aber zu fragen, inwieweit überhaupt eine grundsätzliche Unter­ scheidung zwischen fiktionaler Dichtung und essayistischer Einlassung hinsicht­ lich der Textaussage zu treffen ist Die Untersuchung stellt kerne detaillierten Analysen der einzelnen Texte aus Hunger und Seide vor, sondern bezieht sich auf ausgewahlte Passagen, die ana­ lysiert und kommentiert werden Der Begriff der Grazie (Kleist-Rede) In ihrer Rede zur Verleihung des Kleist-Preises 1994 (HS 7-15) bezieht sich Herta Muller auf den Begriff der Grazie, den Heinrich von Kleist in semem Text Uber das Marionettentheater beschreibt Kleist stellt verschiedene Ebenen der Grazie vor, die er durch Beispiele erläutert eine natürliche Form der Grazie läge

Eckhard Gropp

Poetologische und politische Aspekte (Hunger und Seide)

da vor, wo Reflexion hinter einer natürlichen Art der Intuition zuruckzutreten in der Lage sei Solche Grazie bliebe dem Menschen als reflektierendem und selbstreflektiertem Wesen verwehrt Kleist nennt hingegen einen Baren, der im Kampf gegen einen menschlichen Fechter überlegen sei, da keinerlei „Bewußtsein“ die natürliche Grazie m „Unordnung“ bringe “Wir sehen, daß in dem Maße, als in der organischen Welt die Reflexionen dunkler und schwacher wird, die Grazie dann immer strahlender und herrschender hervortntt “5

gelangte die Welt nach dem Nationalsozialismus und nach dem Stalinismus nie mehr hin (HS 9)

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Eme unendliche Grazie sei dort zu finden, wo auf einer höheren Ebene entweder em „unendliches Bewußtsein“ erreicht werde, oder aber gar kems Als Beispiele fuhrt Kleist die göttliche Erkenntnis einerseits und den Gegenstand einer Manonnette andererseits an So findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch em Unendliches ge­ gangen ist, die Grazie wieder em, so, daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar kems, oder em unendliches Bewußtsein hat, d h in dem Gliedermann, oder m dem Gott12 Herta Muller beginnt ihre Kleist-Rede mit der Geschichte eines Pferdes, das em Kind beim Spiel in einem Fluß getötet habe Der Vater des Kinders rächt dessen Tod durch die „Hinrichtung“ des Tieres (HS 7fl) Hier greift die Rednerin Herta Muller auf dichterische Gestaltungsmittel zuruck, mittels derer sie eine Einbin­ dung des Kleistschen Grazie-Begriffes in einen gegenwärtigen Kontext sucht Hintergrund ihrer knappen Erzählung sind die aus ihren fiktionalen Texten bereits bekannten dörflichen Lebensumstande in Rumänien, die em beklemmendes Ge­ fühl von Enge und dumpfer Einfalt vermitteln Das Pferd, das durch die Tötung des Kindes schuldig geworden ist, laßt keine natürliche Grazie mehr erkennen Statt dessen suggeriert die unmittelbare Bestrafung durch den Vater eme fast menschliche Erkenntnisiahigkeit des Tieres Schließlich wird es - in einem juri­ stischen Sinne - offenbar für „schuldfahig“ erklärt, das setzt die Möglichkeit zur Reflexion des „Taters“ selbstredend voraus Für Herta Muller ist augenscheinlich die natürliche Grazie verloren für die „Schlaue des Baren“ (HS 9) sei es - nach der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft - zu spat

„daß, m dem Maße, als in der organischen Welt die Reflexionen dunkler und schwacher wird, die Grazie dann immer strahlender und herrschender hervor­ tntt“, ist nicht mehr zu erwarten Diese Vorstellung hat sich m den folgenden Zeiten - und leider nicht nur eines Pferdes wegen, das ein Kind getötet hat ihre Gültigkeit selber abgesprochen Wo sich bei Kleist, „wenn die Erkenntnis gleichsam durch em Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder einfindet“, da 1 Kleist 1962, S 345 2Ebd

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Auch die höchste Form der Grazie ist demnach unerreichbar geworden Als kon­ krete Einschnitte nennt Herta Muller den Nationalsozialismus und den Stalinis­ mus Damit stellt sie allerdings den Gedanken Kleists m Abrede, daß nur eine göttliche Instanz zu dieser durch em Unendliches gegangenen Erkenntnis fähig sei - und vermutlich auch nach den Schrecken zweier Diktaturen weiterhin fähig sem konnte Herta Muller überspringt die Trennung der beiden Grazien bei Kleist und verwandelt sie m eine generelle Resignation, die aus den Schrecken einer Dikta­ tur erwuchs Diese Erfahrungen bewirkten nach Ansicht der Autorin emen grund­ sätzlichen Wandel im Handeln und bei der moralischen Bewertung von Handlun­ gen, der selbst auf die Natur übertragbar sei Diese Weitsicht zeigt eine Durch­ dringung aller Lebensbereiche, die keinen Raum mehr für Ungewißheit, Kon­ struktion oder Utopie eröffnet die Grausamkeiten der Diktatur haben den Rah­ men des Denkbaren gesprengt, keine Unmenschhchkeit scheint mehr unmöglich zu sein Somit ging auch der Kleistsche Gedanke verloren, daß Welt weder im Wissen noch im Fuhlen ganz erfahrbar werden könne Die „Pferde-Geschichte“ zeigt, daß auch die Natur und die dann implizierte Un­ schuld für Herta Muller nicht langer außerhalb der moralischen Bewertbarkeit steht alle Geschöpfe können nicht langer uneingeschränkt als „von Natur aus gut“ gelten, sie haben die natürliche Grazie verloren Natur selbst wird zur Komplizin der Macht Wenn Ceausescu zu seinen unzähligen Aibeitsbesuchen ms Land geflogen oder gefahren wurde, mußten Bauern in mühseliger Aibeit die Bluten des Klat­ schmohns aus den Weizenfeldern entfernen Der Henscher [ ] werde, wenn er Klatschmohn sehe, nervös Wenn er eine LPG besuchte, wurden die Kühe mit Waschmittel gewaschen Wenn man jedoch durch das saubere Fell, weil die Körper so magei waren, alle Knochen sah, wurden die Kühe versteckt (HS 11) Frage nach der moralischen Instanz Herta Mullers dichterische und essayistische Texte bewegen sich m einem räum­ lich und inhaltlich zunächst sehr engen Rahmen ihren eigenen Erfahrungen als Zugehörige einer Minderheit im diktatorisch regierten Rumänien Die Enge dieses Rahmens füllt die Autorin mit einer bildreichen Sprache, die bis m ihre mchtfiktionalen Texte hmeinreicht und die ausweglose und resignative Grundhaltung der Menschen sehr eindringlich formuliert

Im Wohnblock hocken, im Quader hocken und zuhoren, wie der Wind an den Türen reißt, und horchen, nur weil die Tur nicht schließt Immer glauben, daß jemand kommt, und dann ist es Abend und zu spat für diesen Besuch [ ] In

Eckhard Gropp

Poetologische und politische Aspekte (Hunger und Seide)

den Vasen stehen die Blumen m so großen Straußen, daß sie bloß em Dickicht sind, schon und zerruttelt, als wäre es ein Leben Und die Muhe, die man hat mit diesem Leben Uber Flaschen steigen, die noch von gestern auf dem Tep­ pich stehen Die Kastentur weit offen, wie m einer Gruft liegen die Kleider dnn So leer, als gäbe es den nicht, dem sie gehören (N 140) Die geschilderte räumliche Enge impliziert zugleich eine große emotionale Nahe der Autorin zum Geschilderten Es scheint, als gäbe es einen sehr subjektiven Prozeß der Bewältigung erlittener Qualen durch das Schreiben über diese Qualen Das legt die Vermutung nahe, daß die Texte nicht bloß einen autobiographischen Hintergrund haben, sondern auch eine individuelle Form der persönlichen Verar­ beitung darstellen „So muß ich wie Schlaf das mitgebrachte Land m dichten und genauen Bildern durch den Körper treiben [ ] Und was ich noch spur auf der Haut wie Erschauern, das ist das blühende Kraut auf den Wiesen Rumäniens “ (N 132) Distanziertheit ist nur insofern erkennbar, als der Autorin „das Eigene fremd ge­ worden“ zu sein scheint3 Eine wirklich außenstehende Erzahlperspektive nimmt sie jedoch nicht em Walter Hinck beschreibt diesen Umstand als das „mitgebrachte Land“,4 das als traumatisches Potential auch weiterhin in den Texten Herta Mullers lebendig bliebe Fragwürdig wird die Position der Autorin jedoch da, wo sie den unmittelbaren Erfahrungshonzont scheinbar verlaßt und auf allgemeine Wertungen politischer Vorgänge abhebt, sie verlaßt den Rahmen ihrer eigenen traumatischen Erfahrun­ gen nur scheinbar und greift aus dieser subjektiven Perspektive auf Pauschahsierungen zunick, auf die noch naher einzugehen ist An diesem Punkt setzte durch­ aus polemische Kritik an einer zu eingeschränkten Sicht- und Gestaltungsweise der Autonn an Die Darstellung bei Herta Muller beschrankt sich auf die seit Jahr und Tag be­ schrankten Mittel der Autorin [ ] Was in der Romantik in Biedermeier um­ schlug, [ ] wird von Herta Muller mit den literarischen Mitteln, die vor Jahr­ zehnten einmal neu waren, als literarische Analyse der gegenwärtigen Zustande im rumänischen Banat abgesondert5

beschreiben, sich in Kritik erschöpfen oder muß sie nicht auch Mögliches (und Unmögliches) entwerfen1? Herta Muller bewertet die von ihr geschilderten Vor­ gänge ganz unmittelbar und eindeutig, nicht die autobiographische Ausrichtung der Texte, sondern vielmehr die traumatischen Erlebnisse stehen einer differen­ zierten Auseinandersetzung innerhalb der dichterischen und besonders der es­ sayistischen Texte konträr gegenüber Die Autonn trennt nach eigener Aussage mcht zwischen literarischer Arbeit und politischer Äußerung

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Trotz der Undifferenziertheit dieser Ausführungen von Dieter Kessler ist doch der Frage nachzugehen, wie subjektiv Literatur bleiben darf, zumal dort, wo sie als moralische Instanz auftntt Es stellt sich die Frage soll Literatur nur Bestehendes

3 Muller 1992a

Ich habe vielleicht auch einen anderen Hintergrund als die Autoren aus der Bundesrepublik Ich habe lange in einer Diktatur gelebt und lernen müssen Es gehört alles m ein und denselben Schädel Die Radikalität einer Haltung kann ja nur dann entstehen, wenn alles zusammen bleibt, wenn das nicht auseinanderfallt Man ist nur eine Person 6

Dennoch ist innerhalb dieser einen Person nach Differenzierungen zu suchen nach Trennungen zwischen dichtenschen Gestaltungsmitteln und essayistischen Auseinandersetzungen, auch mit traumatischen Erfahrungen Aus diesem Trauma leitet Muller eine Berechtigung zu moralischer Bewertung ab Opfer einer Dikta­ tur sind demnach als moralische Instanz gegenüber sämtlichen denkbaren Formen öffentlicher Gewalt und staatlichen Machtmißbrauchs zu begreifen Sie allem sei­ en in der Lage, aus der eigenen Erfahrung Bewertungskritenen anzulegen, die vermeintlich Außenstehenden nicht zur Verfügung stunden

Egal, wohin man sieht für Menschen aus Demokratien und Menschen aus Diktaturen ist nichts gleich verlaufen Denn die einen sind Landeskinder, und die anderen sind Staatskmder [ ] Die Spitzfindigkeit des verdrehten Lokalpatnotismus kann sich - bezogen auf Honecker - nur jemand ausdenken, der mcht in seiner Diktatur leben mußte Diese Spitzfindigkeit stilisiert den erfun­ denen Schmerz des Diktators und laßt den realen Schmerz im Land außer acht (HS21f) Ungeachtet einer inhaltlichen Bewertung dieser Äußerungen im Rahmen eines essayistischen Textes bleibt doch Mullers Einschätzung der moralischen Bewertbarkeit von Unrecht äußerst fragwürdig Abgesehen davon, ob eine Isolation der Opfer - wie sie durch die Ausgrenzung der mcht unmittelbar Betroffenen vollzo­ gen wurde - sinnvoll zu nennen ist, kann eine ethische Beurteilung und Verurtei­ lung nicht den Opfern allem zustehen Sicher bleiben die erlittenen Schmerzen eme kaum vermittelbare Erfahrung der mißhandelten Menschen, zu deren Wei­ tergabe an Menschen anderer Nationen und an nachfolgende Generationen sie im Sinne eines padagogisch-morahschen Wertes geradezu verpflichtet zu sein schei­ nen, ethische Maßstabe jedoch dürfen - vergleichbar mit juristischen Prämissen -

4 Hinck, S 141

5 Dieter Kessler in Eke 1991, S 116

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6 Muller 1992b

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Eckhard Gropp

ihre Kraft nicht aus subjektiver oder emotionaler Betroffenheit ziehen So waren die Zeugenaussagen der Opfer des Nationalsozialismus vor dem Nürnberger Ge­ richtshof wohl als wesentlicher Bestandteil des Prozesses zu begreifen, nicht aber als Urteile, die dann wohl auch als Rache-Justiz fehlverstanden worden waren Der historische und moralische Smn dieser Verhandlungen lag gerade m dem für Ankläger und Opfer oft nur schwer erträglichen Versuch, Tater und Verbrechen einer differenzierten und möglichst objektiven Untersuchung zu unterziehen Selbst bei solch eindeutigen Greueltaten kann der bleibende Wert nicht in pau­ schalisierenden Verurteilungen gesucht werden Dies gilt um so mehr, wenn Herta Muller nicht nur eine Diktatur beschreibt, son­ dern diese quasi als pars pro toto betrachtet Hierin hegt auch em Widerspruch zu ihrer Äußerung, daß nur derjenige über das Leben unter einem bestimmten Regime urteilen dürfe, der auch tatsächlich m selbigem leben mußte Herta Muller geht noch weiter, indem sie bezüglich der Debatte um die Aufarbeitung der Akten des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR schreibt, niemand habe „das Recht, die Stasi-Debatte für beendet zu erklären Niemand, der außerhalb steht oder innen lebte m der Diktatur und sich geschont hat oder geschont worden ist “ (HS 28) Demnach bliebe auch der Autorin selbst das Recht verwehrt, andere Formen der Diktatur - selbst sozialistischer Staaten außerhalb Rumäniens - zu beurteilen, es durfte als unstrittig angesehen werden, daß nicht nur graduelle Unterschiede zwi­ schen diktatorischen Staaten (auch innerhalb des früheren Ostblocks) zu erkennen sind Diese Feststellung bezieht sich nicht ausschließlich auf staatliche Machtmit­ tel, die zur Durchsetzung repressiver Staatsformen durchaus Parallelen zwischen verschiedenen Landern aufweisen Gemeint sind vor allem die auch von der Au­ torin beschriebenen Lebensumstande Hier sind für eine sinnvolle Einschätzung Differenzierungen hinsichtlich der unterschiedlichen kulturellen, historischen und Ökonomischen Voraussetzungen für den Aufbau einer Diktatur in diesen Staaten unerläßlich Diese Art der differenzierten Annäherung mag in dichtenschen Texten - gerade durch eine sehr eindringliche Metaphorik - zu vernachlässigen sein Erne es­ sayistische Abhandlung kann jedoch kaum auf solche Details verzichten So wir­ ken Herta Mullers Einlassungen zum Golfkneg und zum Krieg auf dem Balkan (neben faktischen Fehlem und fragwürdigen politischen und militärischen Ein­ schätzungen) polemisch und undifferenziert

Wem nutzt der Pazifismus, der beteuert, daß er gegen jeden Krieg ist, wenn em Krieg tobt, wenn das Vorbild für Gesetze die Judengesetze des Faschismus sind? [ ] Weshalb will em westdeutscher Intellektueller nicht hören, daß Ju­ goslawien em totalitärer Staat war und das gerne bleiben will [ ] Wer in sei­

Poetologische und politische Aspekte (Hunger und Seide)

177

ner eigenen Biographie die Erfahrung der Diktatui nicht hat, der denkt mit Ab­ sicht oder aus Unwissenheit weit daneben Der glaubt auch nicht, daß em Wirt­ schaftsembargo Psychotherapie ist Für die, die es verhangen Und für jeden Diktator der Welt lächerlich [ ] Wer die Erfahrung einer Diktatur nicht hat, der sah m den serbischen Studenten auf den Belgrader Straßen fnedensbewegte Demonstranten (HS 158ff) Gerade von der Literatur wäre - vielleicht im Gegensatz zum Journalismus - em gedanklicher Entwurf außerhalb militärischer Mittel wünschenswert, selbst dann, wenn realpohtisch eine solche Maßnahme als richtig anerkannt werden konnte Hier lagen Möglichkeiten der Literatur, Utopien für eine friedlichere Weltordnung zu entwerfen, die solche Kriege schon vor ihrem Ausbruch unmöglich machten Der Utopie-Begriff („Zehn Finger werden keine Utopie“) In den vorangegangenen Abschnitten wurde bereits gezeigt, daß für Herta Muller aus den traumatischen Erfahrungen mit dem diktatorischen System m Rumänien offenbar keine Möglichkeit mehr zu utopischen Denkmodellen folgen kann Schon der von ihr aufgezeigte Verlust der natürlichen Grazie, der Unschuld des Natürlichen, legte diese Vermutung nah Auch ihre dichterischen Texte zeigen keinen Entwurf, keine möglichen oder unmöglichen Konstruktionen, die aus der Enge und Traurigkeit der beschriebenen Situationen führen konnten Im Kapitel Zehn Finger werden keine Utopie (HS 50-61) legt Herta Muller die­ sen Utopieverlust ganz unmißverständlich dar „Brauchte ich das Wort Utopie, um über irgendetwas Erlebtes oder Gelesenes zu reden, habe ich mich gefragt Ich habe dies Wort seinerzeit nie gebraucht und brauche es heute so wenig wie damals Ich habe im Lexikon noch einmal nachgeschlagen, was „Utopie“ bedeu­ tet “ (HS 50) Zur Annäherung an den von Herta Muller konstatierten Utopie-Verlust - respek­ tive die vermeintliche Unnotigkeit einer Utopie - ist zunächst auf das Begriffs­ verständnis der Autorin einzugehen Sie gebraucht das Wort „Utopie“ in einem stark rückbezüglichen Sinne und bezieht es auf bereits „Erlebtes“ und „Gelesenes“ - gesucht wird nach dem „Faßbaren“ dann

Mir geht der Sinn dieses Wortes nicht auf Ich habe nichts, abei auch gar nichts erfahren als Phrasen, die mit nichts zu tun haben und nichts und niemandem nutzen So ist dieser Begnff Utopie und so bleibt er nichts Faßbares Was nicht faßbar ist, flattert hm, wo es will (HS 50) Vielleicht ist der Sinn des Utopischen, der der Autorin nach eigener Einschätzung nicht zugänglich sei, ganzhch durch die traumatischen Erfahrungen mit dem dikta­ torischen Unrechtsstaat, die sie m ihren Texten bis heute fast ausschließlich be­ schäftigen, verstellt Verstellt scheint auch jeglicher Blick aus dem Vergangenen

Eckhard Gropp

Poetologische und politische Aspekte (Hunger und Seide)

auf Zukünftiges, der dann die Vorstellung von einem gewissen Sinn von Ge­ schichte rechtfertigen konnte Utopie kann immer nur auf Zukünftiges genchtet sein, auf Gedankenmodelle, die nicht notwendigerweise auch tatsächlich real werden müssen oder es vielleicht auch gar nicht werden dürfen Utopie ist viel­ mehr die Schilderung von Erdachtem (Erhofftem, aber auch Befürchtetem') als Leitbild oder Korrektur bestehender Verhältnisse Daraus kann gefolgert werden, daß die Motivation für politische, historische und auch literarische Auseinander­ setzungen immer auch der mehr oder minder ausgeprägte Entwurf von Mögli­ chem wäre Schließlich galt „Utopia“ als ein unausführbarer Weltverbesserungs­ plan, der in dem poetischen Land „Nirgendwo“ zur Offenlegung von Problemen im realen Raum hervortrat7 Die dichterische Verarbeitung grausamer Ereignisse führte und fuhrt oftmals zum Verlust jeglicher Utopiefahigkeit - gerade bei den unmittelbar Betroffenen In vielen Fallen wurde und wird das Utopische jedoch gerade wahrend und nach ausweglos scheinenden Situationen als Möglichkeit verstanden, mit dem eigenen Schicksal umgehen zu können und für spatere Generationen aus dem eigenen Wissen heraus, Vorstellungen zu entwerfen, die eine Wiederholung des Gesche­ henen unmöglich machen Es kann dabei nicht etwa um die Verharmlosung von Grausamkeiten gehen, sondern darum, auch aus den schlimmsten historischen oder zeitgenössischen Zustanden noch em Bild ex negativo zu gewinnen, im Sin­ ne etwa der negativen Dialektik Adornos Auszuleuchten, wie etwas nicht mehr zu sein hat, kann dann das Beckettsche ‘Dennoch’ provozieren, eine Suche nach weiterführenden Wegen Diese Sinn-Suche ist nicht religiös zu begreifen, sondern bezogen auf ethische Maßstabe in der Politik und der Gesellschaft von Relevanz Letztlich bedeutet Utopie doch wenigstens - wie Herta Muller selbst feststellt den Versuch, „em Leben zu finden, das man aushalt“ (HS 50) Diese Art der Utopie kannten auch viele der gequälten Menschen m den Konzentrationslagern der Nazionalsoziahsten, sie wurde ihnen zur Uberlebenskraft Demnach bezeich­ nen Utopien nicht nur die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge, die Herta Muller m ihnen vermutet und furchtet - denn unter Utopie versteht sie insbeson­ dere den realen Sozialismus der Ostblockstaaten

Es ist hier nicht auf die Frage emzugehen, inwiefern die marxistische Lehre vom historischen Materialismus als Utopie zu verstehen ist (nach Karl Marx zeigt sie eine Zwangsläufigkeit historischer und wirtschaftlicher Ablaufe auf) Es soll auch nicht naher untersucht werden, ob die Staaten des vermeintlich „real existieren­ den Sozialismus“ tatsächlich die Umsetzung der Marxschen Ideen darstellten Es bleibt jedoch festzustellen, daß die konkrete Anwendbarkeit nicht das oberste Kriterium für Utopien sein kann Gerade der literarische Raum sollte daher offen sein für Utopisches und dieses scharf gegen Staatsideologien abgrenzen können

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Die Ideologie des Sozialismus war eine angewandte Utopie Die angewandte Utopie ergab eine Diktatur Jede Utopie, die das Papier verlaßt und sich zwi­ schen Menschen stellt, uniformiert die nackte Unzahhgkeit der Versuche, ein Leben zu finden, das man aushalt Jeder von uns besteht aber aus diesen Ver­ suchen, die er fortsetzt, bis er stirbt (HS 50) 7 Zu vielfältigen Aspekten des Utopischen und Streifzugen durch die Begriffsgeschichte vgl das dreibändige, von Voßkamp herausgegebene Konvolut (1982)

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Schlußbemerkung Es ist festzustellen, daß Herta Mullers Essayband Hunger und Seide nur bedingt als hteraturtheoretische Hilfestellung zur Analyse ihrer dichterischen Texte geeig­ net ist Zum einen beziehen sich die Texte, die fast ausnahmslos zur Publikation m Tages- und Wochenzeitungen und für den Rundfunk entstanden, vornehmlich auf politische Zusammenhänge und subjektive Bewertungen der Autorin Zum anderen findet eine latente Vermischung von essayistischer und poetischer Ebene statt, die eine losgeloste Betrachtung einer dieser Ebenen fast unmöglich macht Dies erschwert vor allem die Gewichtung der getroffenen Aussage, die sich stetig zwischen der dichterischen Freiheit eines fiktionalen Textes (vor einem autobio­ graphischen Hintergrund) und einer fast schon poht-joumahstischen Berichterstat­ tung bewegt, die den Rahmen eines Essays8 im engeren Sinne überschreitet Die Autonn gibt selbst an, keine Trennung zwischen diesen Genres und ihren Gestal­ tungsmitteln zu machen Letztlich kann dabei jedoch - wenigstens bezogen auf „Hunger und Seide“ - weder die eine noch die andere Form ihre Wirkung voll entfalten so erscheinen vor allem die sehr subjektiven Wertungen, undifferenzier­ ten Verurteilungen und pauschalen Einordnungen histonscher und politischer Vorgänge im Rahmen einer essayistischen Auseinandersetzung mit einem be­ stimmten Thema nur bedingt hilfreich Grundsätzlich bietet die Form des Essays die Möglichkeit zu einer subjektiven Beschäftigung mit einer bestimmten Frage­ stellung Sie ist jedoch auch als eine tastende Gedankenbewegung zu verstehen, die verschiedene Denknchtungen aufgreift Als Beispiel sei nur die geschichts­ wissenschaftlich schwer haltbare gänzliche Gleichstellung sämtlicher diktatori­ scher Staatsformen genannt, die nicht aus der Einzelanalyse verschiedener Sy­ steme und ihrer durchaus sehr differenten Machtmechanismen gefolgert wird, sondern aus der eigenen leidvollen Erfahrung der Autonn mit einer Diktatur er­ wachst g

Verstanden als Kurzprosa-Text von subjektiv-tastendem, tentativem Charakter (essai = frz Versuch)

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Eckhard Gropp

Poetologische und politische Aspekte (Hunger und Seide)

Auf poetischer Ebene ist solches uneingeschränkt möglich, da schon durch die Wahl einer bestimmten Erzahlperspektive (z B die Sicht emes Kindes m „Niederungen“) der Anspruch des objektiven Urteils getilgt ist In ihren mchtfiktionalen Texten betont Herta Muller allerdings gerade diesen Anspruch und erhebt ihn, wie gezeigt, zu einer moralischen Instanz

baren zu sehen ist Vielleicht ist es gerade eine Chance der Literatur, etwas zu entwerfen, „was nicht faßbar“ ist und „hinflattert, wo es will“

Daß heute wieder so viele nach einer Utopie Ausschau halten, hat für mich mit dem Wegsehen von der Diktatur zu tun Wegsehen wie vor fünf oder zehn oder zwanzig Jahren Intellektuelle hangen sich windiges Laub um den Kopf Leute, die in emer angewandten Utopie nie gelebt haben, sagen mir heute schon wie­ der, der Sozialismus war nicht der Sozialismus gewesen (HS 50) So besteht auch m diesen Texten nur an wemgen Punkten die Möglichkeit zu ei­ ner distanzierten Sicht auf Geschehenes, die Betrachtungsperspektive bleibt eme subjektive Einsicht, aus der heraus alle Lebensbereiche und Gedankenmodelle beurteilt und verurteilt werden „Ich habe keinen Glauben, weder an einen Gott im Himmel noch an einen idealen Zustand im Staat Es gibt keinen Zustand, m dem das Wort Gluck für viele Menschen das gleiche bedeutet Es sollte ihn nicht geben “ (HS 57) Herta Muller verweigert sich sämtlichen Ansätzen einer diffe­ renzierten Analyse selbst (oder gerade') schrecklichster Geschehnisse In jedem dieser Versuche sieht sie scheinbar die zynische Verharmlosung durch NichtBetroffene, wie auch ihre unhistonsche Ruckkoppelung des Realsoziahsmus mit Kafka-Texten zeigt

Literatur

Kafka zieht die gegenständliche Wirklichkeit des Schlosses nirgends in Zweifel [ ] Jeder Osteuropäer weiß das genau und schweigt erschrocken darüber und stottert dem Westen (der den Roman nicht versteht) erschrocken nach, daß das Schloß irgend etwas Transzendentes sei, wahemd man halb ohnmächtig sieht, daß es em genauer Befund des osteuropäischen Lebens ist9 Schon die zu Anfang untersuchte Kleist-Rede zeigt, daß Herta Muller - die das Schreiben über das Erlebte gleichsam als Weg seiner Verarbeitung begreift - in der Auseinandersetzung mit ihren traumatischen Erfahrungen nicht auf dichten­ sehe Gestaltungsmittel wie beispielsweise die Kraft der Metaphorik verzichten kann Dort, wo sie die schrecklichen Geschehnisse anschaulich machen mochte, greift sie auf sehr detailgenaue und emdnnghche Bilder zuruck (Schilderung des Pferdes im Fluß) Es zeigt sich, daß die gewählte Text- bzw Publikationsform nur selten mit den Gestaltungsmitteln korrespondiert Generell bleibt die Frage unbeantwortet, ob nicht eine wichtige Aufgabe von Lite­ ratur m der Beschäftigung mit dem gerade nicht konkret Faßbaren und Realisier­

9 Herta Muller zitiert hier Imre Kertesz (HS 57f)

181

Muller, Herta 1984 Niederungen Berlin [N]

1992a Diktatur und Dichtung In Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr 227/29 9 1992 dies 1992b So eisig, kalt und widerlich Interview mit Herta Muller in Der Spiegel, Nr 46/9 11 1992 (Jg 49) dies 1994 Hunger und Seide Rembek [HS] dies

Eke, Norbert Otto (Hrsg) 1991

Die erfundene Wahrnehmung Annäherungen an Herta Muller Paderborn Htnck, Walter 1995 Das mitgebrachte Land Zur Verleihung des Kleist-Preises 1994 an Herta Muller In Sinn und Form, Nr 1/1995 (Jg 47), S 141-146 Kleist, Heinrich von 1962 Uber das Marionettentheater In ders Sämtliche Werke und Briefe Darmstadt, Bd 2, S 338-345 Voßkamp, Wilhelm (Hg ) 1982 Utopieforschung Interdisziplinäre Studien zur neu­ zeitlichen Utopie Stuttgart