268 18 160MB
German Pages 955 [960] Year 1998
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann
Band 149
Jörg Krämer
Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung
Teill
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Krämer, Jörg: Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert : Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung / Jörg Krämer. - Tübingen : Niemeyer Teil 1.-(1998) (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 149) ISBN 3-484-18149-4
ISSN 0081-7236
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Buchbinder: Geiger, Ammerbuch
Inhalt
TEILBAND i Abkürzungen
IX
AUSGANGSPUNKTE 1. Voraussetzungen und Erkenntnisinteresse
2
Untersuchungsziel — Vorgehen — Aufbau der Untersuchung — Eingrenzung des Zeitraums — Terminologie
2. Das deutschsprachige Musiktheater als Massenkunst
18
Die Reaktion der Intelligenz
3. Musiktheater und Sprechtheater 4. Zum wissenschaftlichen Kontext
29 34
Übergreifende Themenstellung — Theater- und Institutionenforschung — Musikwissenschaft — Literaturwissenschaft — Fazit
ERSTER TEIL Typologie des deutschsprachigen Musiktheaters 1. Rahmenbedingungen: Typologien
58
Theaterträger — Spielorte — Librettisten — Komponisten — Darsteller — Publiken — Publikationsformen — Fazit
2. Zur Korpusbildung
122
ZWEITER TEIL Dramaturgie und Anthropologie im deutschen Musiktheater 1. Das sächsische Singspiel als empfindsame Leitgattung. Christian Felix Weiße/Johann Adam Hiller: >DieJagd< (1770)
130
Struktur und Dramaturgie - Zum kritischen Potential des Singspiels - Die Musik als Raum der Empfindsamkeit — Das Singspiel als empfindsame Leitgattung
2. Sinnlichkeit und Sozialität: >Alceste< von Wieland und Anton Schweitzer (1773) >Alceste< als Erfolgsstück — Höfische Funktionen und außerhöfische Rezeption — Wielands Bearbeitungstendenzen — Schweizers Musik — >AlcesteBrutus< (1772-1774) Stoffwahl und -konstitution — Das Verhältnis von Text und Musik — Zur Textgenese — Herrschermord und Melancholie. Stellung in der Stoffgeschichte — »Drama zur Musik« 4. Aporien der Empfindsamkeit. Das Melodram als Modegattung . . . Das Melodram als Genre - >Medea< von Friedrich Wilhelm Gotter und Georg Benda (1775) als Pionier- und Musterwerk — Zeitgenössische Kritik des Genres - Zur Weiterentwicklung der Gattung nach Benda 5. Die Starrheit der Könige: >Günther von Schwarzburg< von Anton
261
293
Klein und Ignaz Holzbauer (1777) 354 Die Suche nach einer »vaterländischen« deutschen Oper - Stoffkonstitution Interne Probleme des Werks - Holzbauers Vertonung — Aufführungspraktische Hemmnisse 6. »Welcher Wechsel herrscht in meiner Seele« - Dramaturgie und Anthropologie in der >Entführung aus dem Serail· 396 Veränderungen des deutschen Musiktheaters in den I78oer Jahren - >Die Entführung aus dem Serail< (1782) — Mozarts musikalische Dramaturgie — Exkurs: Die Kritik J. F. Schinks — Autonomie der Musik — Dramaturgie und Anthropologie 7. Sinnlichkeit und Kunstcharakter: Goethes Dramaturgie als Selbstreflexion des Musiktheaters 465 >Erwin und Elmire< — Wege aus der Empfindsamkeit? >Claudine von Villa Bella< — Deutsche Opera buffa — >Lila< 8. Die Ordnung der Gefühle. Schikaneder/Mozart: >Die Zauberflöte< d79i) Synkretismus und Amalgamierung von Traditionen — Tamino-Arie — Veränderungen im Verständnis von Emotionen - Dekonstruktion von Grundlagen der aufklärerischen und empfindsamen Anthropologie 9. Anthropologie und Dramaturgie im deutschen Musiktheater . . . .
538
592
TEILBAND 2
DRITTER TEIL Reflexionsprozesse. Probleme der Poetologie und Gattungstheorie o. Poetologie als Problemgeschichte I.Voraussetzungen: »Kritische Poetik«, »Mimesis«-Doktrin und Sittlichkeitsanspruch Gottscheds »Kritische Poetik« - Frühe Gottsched-Kritik - Neue Impulse in den i75oer Jahren - Veränderungen von System und Gattung: Zentrale Positionen 2. »Empfindung«. Veränderungen der rationalistischen Konzeptionen nach 1750 Auflösung der Mimesis-Doktrin — Reform durch »Reinigung« des Musiktheaters — Wielands höfisierende Neukonzeption — Neue Medien und die Wandlungen des Kunstrichters - Zentrale Positionen der empfindsamen Theorie VI
598 604
634
3- »Individualität«. Radikalisierungen und Aporien der empfindsamen Position
700
Individuelle Leidenschaft und sozial geregelte »Empfindung«; Nachahmung und »Ausdruck« - Musiktheater und Illusionstheater — Spontane Rezeption: Kritik des »Kunstrichters« — Musiktheater und »Bildung eines Nationalcharacters« - Anthropologische Integrationsversuche - Das Transitorische als ästhetisches Modell — Weitere Auswirkungen des Geniekults — Zentrale Positionen der Geniebewegung
4. »Ästhetische Autonomie«. Renormierungen der lygoer Jahre . . . .
758
Die Oper als Befreiung vom »sklavischen Naruralismus« in der Kunst - Goethe: Die Oper als ästhetischer Schein - Zentrale Positionen der klassischen Ästhetik
VIERTER TEIL Dokumentation Verzeichnis aufgeführter deutscher Musiktheaterwerke 1760-1800 . . Verzeichnis von Werken ohne Aufführungsbeleg
778 848
ANHANG Datenblätter zu Teil II Bibliographie
858 869
Quellen — Bibliographien und Hilfsmittel — Forschungsliteratur — Diskographie
Register
908
Personenregister — Werkregister
VII
Abkürzungen
ADB
AfMw AMI AmZ Arb. Art. Bd./Bde. DAJ DBA DDT DTÖ DVjs EA Ebd. EDM FS Germ GJb GLL GO H. Hb. Hg./hg. IASL JAMS Jb. JbFDH
Allgemeine Deutsche Bibliothek, hg. v. Friedrich Nicolai. 118 Bde. Berlin/Stettin 1765-1769; Kiel 1770-1796. MikroficheEdition Erlangen 1993 Archiv für Musikwissenschaft Analecta Musicologica Allgemeine musikalische Zeitung. Leipzig i798ff. Arbitrium Artikel Band/Bände Das achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Deutsches Biographisches Archiv. Microfiche-Edition, hg. v. Bernhard Fabian. München/New York 1982-1986 Denkmäler deutscher Tonkunst Denkmäler der Tonkunst in Österreich Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Erstausgabe Ebenda Das Erbe deutscher Musik Festschrift Germanistik Goethe-Jahrbuch German Life and Letters Bauman, Thomas (Hg.): German Opera 1770-1800. 22 Bde. New York/London 1985/1986 Heft Handbuch Herausgeber/herausgegeben Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Journal of the American Musicological Society Jahrbuch Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts IX
JbDSG Jg. Kap. KBM Kgr.Ber. KLA LK
MBA
Mf MGG
MGG2
MJB Ndr. Orch. NGO NMA
[N]ZfM PE Repr. SIMG SW Tl. TMW UA ÜB udT UTB V.
Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft Jahrgang Kapitel Kataloge Bayerischer Musiksammlungen Kongreß-Bericht Klavierauszug Repertoire International des Sources Musicales [RISM] (Hg.): Libretti in deutschen Bibliotheken. Katalog der gedruckten Texte zu Opern, Oratorien, Kantaten, Schuldramen, Balletten und Gelegenheitskompositionen von den Anfängen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. München u.a. 1992. [MikroficheEdition] Mozart. Briefe und Aufzeichnungen. Gesammelt und erläutert von W. A. Bauer und O. E. Deutsch. 7 Bde. Kassel u.a. 1962Die Musikforschung Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, hg. v. Friedrich Blume. 17 Bde. Kassel u.a. 1949-1986 Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage, hg. v. Ludwig Pinscher. Kassel u.a. I994ff. Mozart-Jahrbuch Neudruck Das Orchester The New Grove Dictionary of Opera, hg. v. Stanley Sadie. 4 Bde. London/New York 1992 W. A. Mozart: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Kassel u.a. 1 95 5 ff· [Neue] Zeitschrift für Musik Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, hg. v. Carl Dahlhaus/ Sieghart Döhring. München/Zürich I986ff. Reprint (Faksimile-Nachdruck) Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft Sämtliche Werke Teil Taschenbücher zur Musikwissenschaft Uraufführung Universitätsbibliothek unter dem Titel Uni-Taschenbücher Vers, Verse
vs. YCGL ZfDPh ZfMw ZIMG Zs.
versus Yearbook of Comparative and General Literature Zeitschrift für Deutsche Philologie Zeitschrift für Musikwissenschaft Zeitschrift der Internationalen Musikgesellschaft Zeitschrift
XI
AUSGANGSPUNKTE
i. Voraussetzungen und Erkenntnisinteresse
Der tiefsinnige Geschichtsforscher wird an Gedichten, die im Theater gefielen, die Zeit erkennen, (Ludwig Tief k)1
Am Ende des 20. Jahrhunderts erscheint die Oper weitgehend als Fossil. Je nach Optik des Betrachters gilt sie den einen als überlebtes, angeblich nur noch hoch »subventioniert« lebensfähiges Relikt, den anderen als einer der letzten Pole einer identitätsstiftenden Kultur lebendiger Reproduktion gegenüber den immer perfekteren virtuellen Illusionsformen. Heftig bedrängt von den neuen Massenmedien und Massenunterhaltungsformen, hat sie zunehmend alle unterhaltenden Qualitäten ebenso abgestreift wie den Anspruch einer produktiven Auseinandersetzung mit der Gegenwart. In der Perfektion von Illusionswirkungen den elektronischen Medien, im Unterhaltungswert der ungezügelten Pervertierung von »Unterhaltung« durch eine florierende Industrie unterlegen, scheint ihre Funktion vielen Zeitgenossen allenfalls noch in der musealen Bewahrung eines bildungsbürgerlichen Erbes aus dem Zeitraum zwischen etwa 1780 und 1920 zu bestehen. Neben den medientechnischen Veränderungen wirken sich dabei, ganz verkürzt skizziert, zwei längere historische Abläufe aus. Zum einen bewirkte der Umbau des gesamten Theaters im 19. Jahrhundert zu einer Stätte bildungsbürgerlicher Weihe und Kontemplation, der in einem länger anhaltenden Prozeß der Publikumserziehung erst gegen andere Gewohnheiten durchgesetzt werden mußte, einen Funktionswandel gegenüber dem Publikum. 2 Auch die Oper wurde dabei tendenziell umfunktioniert zu einem ästhetischen Religionsersatz, dem seitens des Publikums nicht mit profanen Unterhaltungsansprüchen, sondern mit einer Ehrfurchtshaltung, innerer Versunkenheit und hoher Disziplin zu begegnen sei. Zum anderen verlieren die Theater spätestens in den I92oer Jahren, mit dem Siegeszug des Kinos und den sozialen Verschiebungen nach dem Weltkrieg, einen großen Teil ihres Monopols als kollektiv rezipierte, öffentlichkeitsstiftende und illusionserzeugende Kunst — und werden endgültig zum finanziellen Verlustgeschäft. Die etwa gleichzeitig, nach dem I. Weltkrieg erfolgende Übernahme der meisten Opernhäuser in öffentliche, meist kommunale Verwaltung sichert die Bühnen zwar finanziell ab, erweist sich aber 1
2
Ludwig Tieck: Die geschichtliche Entwicklung der neueren Bühne und Friedrich Ludwig Schröder [1831]. In: Kritische Schriften. 2. Band. Leipzig 1848. Ndr. Berlin/ New York 1974, S. 313-374, hier S. 324. Daraufhat für den Bereich der Musik Peter Schleuning (1984) hingewiesen.
angesichts des rapiden Funktionsverlusts des bildungsbürgerlichen Theaters des 19. Jahrhunderts als zweischneidig: Das bildungsbürgerliche Theater wird als Institution weitergeführt und verfestigt, obwohl seine Grundlagen zunehmend brüchig werden. Dadurch drohte speziell der Oper die Erstarrung als bildungsbürgerlicher Weihetempel einer streng kanonisierten Tradition,3 wobei allenfalls die sublimierte Erotik der »schönen Stimmen« noch auf verlorengegangene Funktionen verweist.4 Im Gegenzug definieren sich jedoch auch die dagegen gerichteten Reform- und Avantgarde-Bewegungen im Bereich der Oper bis heute in erster Linie über die Abwehr aller Unterhaltungsfunktionen: Theater und Oper werden hier oft zum Raum intellektueller Selbstinszenierungen.5 Im Selbstverständnis über die Antithese »Kunst versus Unterhaltung« gleichen sich konservative und fortschrittliche Perspektive, während auf der anderen Seite die Dissoziation von künstlerischem Anspruch und Unterhaltungsfunktion eine Lücke erzeugt, in die gegenwärtig die unsäglichen, nur mehr nach Kategorien kommerzieller Perfektion fungierenden »Erlebnispakete« der Musicals stoßen. Diese Prozesse erscheinen als Ergebnis historischer Entwicklungen kaum umkehrbar. Dennoch handelt es sich dabei theatergeschichtlich um ein junges Phänomen: Noch im 18. Jahrhundert bietet sich ein weitgehend anderes Bild von Theater und seiner Rezeption. Allen Theaterreformern zum Trotz ist das Theater im 18. Jahrhundert weitgehend keine »moralische Anstalt« im Sinne Schillers, sondern hat in erster Linie unterhaltende, gesellige oder repräsentative Funktionen. Speziell das volkssprachliche Musiktheater kann dabei als Phäno1
4
5
Dies wird besonders deutlich etwa in einem späten Brief von Richard Strauss an Karl Böhm (27.4.1945) formuliert, in dem Strauss den Spielplan eines »Opernmuseums, auf den die gebildete Welt denselben Anspruch hat, wie an die Pinakothek oder den Prado und Louvre []«, entwirft: Gluck, Mozart, Beethoven, Weber, Berlioz, Bizet, Verdi, Wagner, Strauss (zit. n. Richard Strauss: Dokumente, hg. v. Ernst Krause. Leipzig 1980, S. 122 — 127, hier S. 124). Dies war von Strauss ausdrücklich als Leitfaden zum Wiederaufbau der zerstörten Wiener Staatsoper als Museum deutscher Oper gedacht - auch eine Reaktion auf NS-Zeit und Krieg ... Vgl. dazu Jörg Theilacker (Hg.): Der hohe Ton der Sängerin. Musik-Erzählungen des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a,M. 1989, S. 7 — 22; Wayne Koestenbaum: Königin der Nacht. Oper, Homosexualität und Begehren. Stuttgart 1996 [EA 1993]. Dies betrifft die produzierenden Avantgarden ebenso wie die reproduzierenden. — Selbst bei Brecht, der mit der >Dreigroschenoper< und >Mahagonny< einen der wenigen Ansätze zu einem neuartigen Musiktheater unternommen hatte, zeigt sich dasselbe Dilemma, wenn er etwa über >Mahagonny< ausführt: »Aus dem Spaß war etwas Lehrhaftes, Direktes herauszuarbeiten, damit er nicht bloß unvernünftig war. [ ] In den anschließenden Arbeiten wurden Versuche unternommen, das Lehrhafte auf Kosten des Kulinarischen immer stärker zu betonen. Also aus dem Genußmittel den Lehrgegenstand zu entwickeln und gewisse Institute aus Vergnügungsstätten in Publikationsorgane umzubauen.« (Bert Brecht/Peter Suhrkamp: Anmerkungen zur Oper >Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« [1930]. In: Brecht: Schriften zum Theater. Bd. 2. Frankfurt a.M. 1963, S. 119 und 126).
men einer unterhaltenden Massenkunst verstanden werden: einer Kunst, die nicht »sub specie aeternitatis«, sondern zeit- und funktionsgebunden geschaffen wurde. Das volkssprachliche Musiktheater ist in der Regel direkt vom Erfolg beim Publikum abhängig, d.h. muß auf einen spezifischen Unterhaltungswert hin angelegt werden; es ist ohne weitergehende Voraussetzungen konsumierbar, von daher (anders als die höfische Opera seria) potentiell schichtenübergreifend rezipierbar; es läßt sich zudem im späten 18. Jahrhundert, anders als zu Beginn des Jahrhunderts, zunehmend unabhängig vom ursprünglichen Autor/Komponist/Produktionsteam reproduzieren. Direkte, personale Produktionszusammenhänge weichen dabei immer mehr der Vermittlungsinstanz eines anonymen Marktes.6 All diese Kriterien erlauben es, das deutschsprachige Musiktheater als eine erste »Massenunterhaltungskultur« anzusehen,7 als Begleitphänomen einer mentalitätsgeschichtlichen und sozialen Verschiebung großen Ausmaßes. Die folgende Untersuchung gilt dem deutschsprachigen Musiktheater in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In der »Sattelzeit« (Koselleck) des späten 18. Jahrhunderts bildet das deutschsprachige Musiktheater in seinen vielfältigen und heterogenen Formen den erfolgreichsten und publikumswirksamsten Bestandteil der Theaterpraxis. Es zeichnet sich insgesamt durch eine breite soziale Streuung der Rezeption aus, die sowohl verschiedene >bürgerliche< wie auch höfische Publiken erreicht, katholische wie protestantische, Laien wie Fachleute. Seine Funktion kann von daher als eine besonders wirksame Art der Öffentlichkeitsstiftung und Diskursbündelung angesehen werden, die Schichten anspricht, die in dieser Größenordnung von anderen literarischen oder musikalischen Gattungen des späteren 18. Jahrhunderts kaum zu erreichen waren (und offenbar auch vom Sprechtheater nur bedingt erreicht wurden). Das Musiktheater des 18. Jahrhunderts erscheint so von seiner Funktion her eher als Vorläufer-Phänomen der Massenmedien des 20. Jahrhunderts als des Theaters unserer Gegenwart. Es ist kein Zufall, daß (abgesehen von Mozart) ausnahmslos alle deutschsprachigen Werke des 18. Jahrhunderts im Verlauf des 19. Jahrhunderts aus dem Repertoire fallen. Sie ließen sich nicht mit den neuen Rezeptionsnormen des bildungsbürgerlichen Theaters in Einklang bringen. Ihre diskursive Funktion und ihr zeitgebundener Unterhaltungswert waren entfallen, und als ästhetischer Religionsersatz konnten sie nicht dienen.
6
7
So werden z.B. Libretti jetzt zunehmend ohne konkreten Anlaß verfaßt und via Buchmarkt publiziert. Vgl. Daniel 1995, S. 39^
i. Untersuchungsziel Begreift man das Musiktheater als eine der populärsten, massenwirksamsten Kunstformen des späten 18. Jahrhunderts, dann kommt ihm als Massenphänomen auch Aussagekraft über die Diskurse zu, die seine Epoche bestimmten. Das späte 18. Jahrhundert wird heute gemeinhin als eine Epoche tiefgreifender Umwandlungen begriffen, in der sich die Makro-Epoche der »Moderne« konstituiert — z. B. politisch in der Ablösung des Absolutismus in der Französischen Revolution, mentalitätsgeschichtlich im Verfall des kirchlichen Monopols auf Wahrheit, soziologisch im Umbau von einer stratifizierten zu einer funktional operierenden Gesellschaft, kulturell im Verständnis der Künste als »autonomen« Teilsystemen, anthropologisch in einem neuen Verständnis menschlicher Subjektivität. Das Musiktheater scheint mir einen besonders guten Einblick in diesen anthropologischen Wandel zu ermöglichen. Das Musiktheater wird seit seiner Etablierung um 1600 stets im Zusammenhang mit menschlicher Sinnlichkeit gesehen, weshalb ihm höchste emotionale und emotive Kraft zugeschrieben wird — so hohe, daß es z.B. bei Gottsched deshalb als subversiv für bürgerliche Lebenszusammenhänge begriffen und abgelehnt wird. 8 Gerade die körperliche Produktion und die sinnliche Rezeption des Musiktheaters, die vom Zusammenspiel verschiedener Formen optischer und akustischer Sinneswahrnehmungen geprägt ist, verleihen dieser Kunstgattung paradigmatische Funktion bei der Ausprägung des Verständnisses von menschlicher Subjektivität. Im folgenden geht es also primär um die anthropologische Dimension des Musiktheaters, um seinen Zusammenhang mit dem Prozeß der Ausbildung, Neuformierung und Innenausstattung von »Subjekt«/»Subjektivität« im späten 18. Jahrhundert. Denn während im Bereich des Sprechtheaters seit Gottsched primär das Bestreben erkennbar ist, die theatrale Inszenierung einer »vernünftigen« Moral an die Stelle aller theaterimmanenten Schaulust zu setzen, zeigen sich die Musiktheaterformen freier von diesen Normierungen und setzen viel unmittelbarer bei der Sinnlichkeit des Mediums und der Rezipienten an. Gerade an der Rezeption und Verbreitung des volkssprachlichen Musiktheaters wird seine Funktion als neues Forum erkennbar, auf dem dieser Prozeß darstellbar und diskutierbar wird: Das Musiktheater erscheint dann als poetische Organisation und soziale Reflexion des anthropologischen Selbstverständnisses. Die anthropologischen Debatten im späten 18. Jahrhundert kreisen v. a. um drei verschiedene Themenkomplexe, die mit H. B. Nisbet als »physische«, »philosophische« und »kulturelle« Anthropologie gefaßt werden können. Während die physische (physiologische oder biologische) Anthropologie nach den Ähnlichkeiten und Unterschieden von Mensch und Tier fragt, geht die Vgl. unten Teil III.
philosophische dem Zusammenhang von leiblicher und seelischer Natur des Menschen nach, während die kulturelle (ethnologische) Anthropologie auf den Vergleich der menschlichen Völker und Kulturen abhebt.9 Der im Rahmen dieser Arbeit verwendete Anthropologie-Begriff bezieht sich nur auf einen Teil der »philosophischen« Anthropologie-Debatte des 18. Jahrhunderts: auf die Frage, wie die menschliche Emotionalität und Sinnlichkeit verstanden und im Kontext des Problems von Körper und Seele des Menschen verankert wird. Dieses Problem prägt nicht nur die >Hochkultur< der intellektuellen Debatten, sondern kann anhand des Musiktheaters gerade in seinen populären Ausläufern verfolgt werden. Das Musiktheater wird, so verstanden, zum Forum einer »sentimentalen Geschichte der Gesellschaft«.10
2. Vorgehen Für eine Literaturwissenschaft, die sich als Teil einer breiter angelegten Kulturwissenschaft versteht, bietet gerade das Musiktheater wegen seiner spezifischen Öffentlichkeitsstruktur eine Fülle von Erkenntnispotentialen. Und umgekehrt: Die Fragen nach der anthropologischen Dimension des Musiktheaters erfordern zwangsläufig einen breiten kulturwissenschaftlichen Ansatz und setzen einen mehrfachen Zugriff auf die Werke voraus. Theater als öffentliches Phänomen und soziales Ritual bündelt an sich schon verschiedenste kulturelle Aspekte und Funktionen. Der diskursbündelnden Funktion des Musiktheaters steht jedoch in der heutigen Forschung eine Trennung der akademischen Disziplinen gegenüber, die zur Aufsplitterung in drei weitgehend getrennte Ebenen der Beschäftigung geführt hat (die literatur-, die musik- und die theaterwissenschaftliche). Um die diskursive Funktion des Phänomens eruieren zu können, scheint es mir dagegen unumgänglich, die drei Bereiche Text, Musik und Szene möglichst zusammenzuführen; gerade der Einbezug der Musik ist dabei dringend notwendig, da der Erfolg der Werke nicht primär auf der literarischen Ebene der Libretti beruht. In der heutigen Forschung erscheint das deutsche Musiktheater des späten 18. Jahrhunderts nicht nur in literaturwissenschaft9
10
Vgl. Hugh Barr Nisbet: Herders anthropologische Anschauungen in den »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«. In: Barkhoff/Sagarra (Hg.) 1992, S. i — 23»Hasset die schlechte Musik, verachtet sie nicht. Da man sie häufiger spielt oder singt und viel leidenschaftlicher als die gute, hat sie nach und nach den Traum und die Tränen der Menschen in sich aufgenommen. Deshalb gebührt ihr eure Ehrfurcht. So unbedeutend ihre Stellung in der Geschichte der Kunst ist, so unermeßlich ist sie in der sentimentalen Geschichte der Gesellschaft.« (Marcel Proust: Freuden und Tage und andere Erzählungen und Skizzen aus den Jahren 1892-1896. Frankfurt a. M. 1988, S. 166)
lieber, sondern auch in musik- oder theaterwissenschaftlicher Perspektive überwiegend als marginales Randphänomen; mit verschwindend wenigen Ausnahmen (bezeichnenderweise aus der außerdeutschen Forschung11) fehlen größere Forschungsarbeiten gänzlich. Die daran erkennbare Einschätzung mag aus der je eingegrenzten Fachperspektive verständlich erscheinen - faktisch steht sie jedoch in eklatantem Widerspruch zur Bedeutung des Genres in seiner Zeit. Wie zu zeigen sein wird, erweist sich auch in primär literaturwissenschaftlicher Perspektive das Musiktheater als Phänomen von hoher Bedeutung; die meisten bedeutenden Autoren der Zeit bemühten sich um diese Gattung, die aufgrund der engen praktischen Verflechtung mit dem Sprechtheater auch die literarische Produktion erheblich beeinflußte (s. u.). Als faktische Realität wirkte sich das Musiktheater auf die weitere Entwicklung des deutschen Dramas weit stärker aus, als in der Fachperspektive meist bewußt ist.12 Nicht der Roman oder die Formen der >bürgerlichem Sprechdramatik, sondern das deutsche Musiktheater bildet ab den lyyoer Jahren das breiteste, massenwirksamste Forum, auf dem ein neues Verständnis von Subjektivität sich konstituiert und diskutiert wird. Die Auswahl der behandelten Werke, die unten in La 13 begründet wird, verdankt sich nicht einer normativen Ästhetik; ihre Analyse zielt auf keine fiktive Vollständigkeit, sondern versucht, das überaus komplexe Phänomen in seinen verschiedenen Ausprägungen unter der Leitfrage nach den je spezifischen Funktionen im anthropologischen Diskurs zu sehen. Im Zentrum stehen also weniger die rein literarischen oder musikalischen Aspekte der Werke als insbesondere ihre dramaturgischen Strategien - begriffen als die Art, wie in den Werken das zeitgenössische anthropologische Selbstverständnis inszeniert wird. In rein fachwissenschaftlicher Perspektive mögen jeweils andere Werke vielleicht wichtiger erscheinen und die von mir behandelten Werke auch eine Fülle anderer Aspekte bieten, die hier unerwähnt bleiben. Angesichts des weitgehend unerforschten Geländes kann der von mir gewählte Ansatz kaum mehr als eine Probebohrung in vielschichtigem Boden darstellen. Meine Arbeit zielt auch nicht darauf, für die heutige Theater-Praxis vermeintlich zu Unrecht vergessene Meisterwerke wieder zu erwecken oder einen (sehr schmalen) Kanon von heute noch gekannten Werken punktuell zu erweitern — obwohl dies in einigen Fällen durchaus denkbar, in manchen wünschenswert wäre. Es geht allerdings sehr wohl darum, Kanonbildung (auch im Sinne von Gattungshierarchien) überhaupt zu problematisieren und ein umfangreiches Korpus von Werken zurück in die wissenschaftliche Diskussion zu holen, das
11 12
IJ
Bauman 1985. Der Ansatz von Michelsen (1964/79), der dies bereits 1964 konkret am Beispiel von Schillers >Räubern< nachwies, wurde leider in der Germanistik kaum weiterverfolgt. Bei Verweisen innerhalb meiner Studie bedeuten römische Ziffern den Teil, arabische das betreffende Kapitel.
unser Bild vom 18. Jahrhundert zu erweitern, manche Fragestellungen neu zu beleuchten und eine der heutigen Forschung verlorengegangene Vielfalt bewußt zu machen vermag.
3. Aufbau der Untersuchung Um nicht zu lediglich punktuellen Ergebnisse zu kommen, schien es mir nötig, zunächst mit einem umfassenderen Überblick über das Genre zu beginnen. Auf der Basis des im vierten Teil abgedruckten Verzeichnisses deutschsprachiger Originalwerke (1760-1800) wird im ersten Teil versucht, die Rahmenbedingungen des Genres abzustecken. Erst von diesen her kann dann die diskursive Leistung des Genres überhaupt bestimmt werden. Sie bildet einen Schnittpunkt dreier zentraler Perspektiven: der Theaterträger, der involvierten Künstler (Librettisten, Komponisten, Darsteller) und der Publiken. 14 Angesichts der Fülle des Stoffes erschien mir dabei einzig eine typologische Darstellung angebracht, auch wenn damit wiederum erhebliche Probleme (Repräsentativität, Vollständigkeit etc.) verbunden sind. Der zweite Teil umfaßt Analysen ausgewählter Werke, bei denen primär der Zusammenhang von Dramaturgie und Anthropologie im Vordergrund steht. Im dritten Teil wird die theoretische Reflexion des Genres bei den Zeitgenossen geprüft: auf ihre theoretischen Problemstellungen und die Adäquanz der Kriterien. Dabei zeigt sich die enge Berührung mit der Literaturtheorie der Zeit; dies ist nicht überraschend angesichts der Tatsache, daß es meist dieselben Autoren sind, die über Poetologie der Literatur und des Musiktheaters schreiben; umso mehr verwundert die Vernachlässigung des gesamten Problemkreises seitens der literaturwissenschaftlichen Forschung. Der vierte Teil umfaßt mit dem Verzeichnis deutschsprachiger Originalwerke (1760-1800) die materiale Basis der Studie. Aufgrund des gewählten Ansatzes beruht dieses Verzeichnis auf einer theaterpraktischen Aufführungsebene: Es ist keine Bibliographie, sondern ein Verzeichnis der aufgeführten Werke; es geht um den spezifischen Diskurs des Theaters, nicht den der Lesekultur."5 Dieses Verzeichnis kann dabei keine Vollständigkeit beanspruchen; dennoch scheint 14
15
8
Ahnlich geht Daniel 1995 vor, die allerdings noch eine vierte Ebene berücksichtigt: die der Intendanten. Da diese im späten 18. Jahrhundert im Bereich der Wanderbühnen weitgehend mit der Perspektive des Theaterträgers zusammenfällt, habe ich auf diese Ebene verzichtet; für den Bereich der Hoftheater sei auf Daniels Arbeit verwiesen. Da in absehbarer Zeit mit Reinhart Meyers >Bibliographia Dramatica et Dramaticorum< eine Bibliographie vorliegen wird, habe ich bewußt darauf verzichtet, hier eine Art (sinnloses) bibliographisches Doppelunternehmen zu versuchen. Im Rahmen dieser Arbeit ist primär die aufführungsgeschichtliche Ebene von Belang.
mir das weit über 1000 Werke umfassende Verzeichnis repräsentativ genug zu sein, um Aussagen über die diskursiven Funktionen des Genres auf eine empirisch abgesicherte Basis stellen zu können.
4. Eingrenzung des Zeitraums Um 1700 nimmt die deutschsprachige Oper eine starke, ja streckenweise dominierende Position in der Theaterpraxis ein; dies zeigt etwa ein Blick in einschlägige Repertories'6 Während seit dem späten 17. Jahrhundert auch einige Höfe zu den Trägern des deutschen Musiktheaters zählen (etwa B raunschweig- Wolfenbüttel, Weißenfels, Coburg, Rudolstadt oder Ansbach), stellen sich im frühen 18. Jahrhundert nahezu alle Höfe, die Musiktheater pflegen, auf die italienische Oper um, wobei z.T. enorm aufwendige Apparate entstehen, und verdrängen die Formen deutschen Musiktheaters weitgehend. Diese Tradition des älteren deutschen Musiktheaters bricht ab den I72oer Jahren zunehmend ab und überlebt dann nach dem Ende der ersten Hamburger Oper nahezu ausschließlich in einigen Randlagen und regionalen Inseln/ 7 Diesem allmählichen, später erdrutschartigen Abbröckeln einer institutionalisierten deutschsprachigen Operntradition nach 1720 steht ein von dieser Tradition unabhängiger Neuanfang gegenüber, der durch das aus England übersetzte Stück Charles Coffeys >The Devil to pay or the wives metamorphos'd< (>Der Teufel ist losDie verwandelten Weiber< mit der Musik von J. A. Miller einen überwältigenden Erfolg, der endgültig als der Ausgangspunkt des neuen deutschsprachigen Musiktheaters betrachtet werden kann. Der eigentliche Neubeginn liegt nicht zufällig nach dem Siebenjährige Krieg, der in mehrfacher Hinsicht einen Einschnitt in der Theaterpraxis des 18. Jahrhunderts bedeutet. Zum einen brachte er die Tätigkeit der Wanderbühnen, v. a. in Mittel- und Norddeutschland, weitgehend zum Erliegen, so daß diese nach dem Krieg erst wieder neue Kader und Repertoires aufbauen mußten. Zum anderen schwächte er entscheidend die finanziellen Möglichkeiten v. a. der mittleren und kleineren Höfe; in zahlreichen Staaten ruinierte er die Haushalte, was zur Reduktion der Hofhaltung zwang und zu einer Welle von Entlassungen und Hoftheater-Schließungen führte. Dies kommt indirekt später den deutschen Truppen zugute, die sich den kleineren Höfen als wesentlich billigere Lösung andienen konnten. Zugleich aber führte der Krieg auch zum Aufstieg einer spezifischen Schicht neureicher Kriegsgewinnler (die meist bürgerlichen Armeelieferanten und Rüstungsproduzenten), die nun adelige Gewohnheiten und Lebensformen zu imitieren beginnen (und damit für den Adel ä la longue entwerten). Es kommt zu einer wechselseitigen Anverwandlung von Hofadel und bürgerlichen Schichten,19 die gerade für die weitere Entwicklung des Musiktheaters von entscheidender Bedeutung wird. (Dieser Prozeß wird in der Literaturwissenschaft meist immer noch unter dem unzureichende Paradigma einer »Verbürgerlichung des Adels« gesehen. Faktisch handelt es sich um einen wechselseitigen Prozeß: Gerade die bürgerlichen Autoren suchen meist nach höfischen Positionen, da die Städte selbst Kulturproduktion kaum unterstützen. Die bürgerlichen Autoren bringen aber keineswegs nur bürgerliches Bewußtsein an die Höfe, sondern übernehmen selbst höfische Kommunikations- und Verhaltensmuster. Die institutionell kulturtragenden Kräfte bilden bis ans Ende des Jahrhunderts primär die Höfe, wie sich gerade beim Theater zeigt.) Die veränderte Situation nach dem Siebenjährigen Krieg ermöglicht und erzwingt somit auch im Theaterbereich einen Neuansatz. Dieser Neuansatz, in dem sich das deutsche Musiktheater im Bereich der Wanderbühnen etablieren kann, bedeutet einen Wechsel auf zahlreichen Ebenen und bietet daher einen guten Ausgangspunkt für eine Untersuchung über das deutsche Musiktheater des späten 18. Jahrhunderts.
19
IO
Vgl. Daniel 1995, S. Ii6f. Dort findet sich auch folgendes Zitat aus dem Tagebuch des Berliner Hofmanns Graf Lehndorff vom Mai 1761: »Dieser Krieg [] wirft alle bisherigen Verhältnisse über den Haufen. Handwerker und Kaufleute werden reich, während der Adel zugrunde geht. Bei den Kaufleuten herrscht jetzt ein außerordentlicher Reichtum und Luxus. Sie fahren sechsspännig, halten eine große Dienerschaft und sind aufs prächtigste eingerichtet, während wir uns immer mehr einschränken müssen. Alle schönen Häuser des Adels werden an Kaufleute verkauft [].«
Der Neuansatz entfaltet sich organisatorisch im Umkreis der Wanderbühnen, bezieht seine Texte zunächst aus dem Ausland (England20 und Frankreich), grenzt sich inhaltlich wie musikalisch gegenüber der höfischen italienischen Oper ab und greift zunächst nicht auf deren Formmuster zurück. Das neue deutsche Musiktheater entsteht als Teil einer lebendigen Theaterkultur, nicht als Ableger der musikalisch-literarisch vorgeprägten Opernkultur. Dennoch ergibt sich auch im Theaterbereich jetzt eine neue Konstellation im Verhältnis von Musik und Text; war es in der älteren Tradition der Wanderbühnen durchaus üblich, Musik nebenbei in Form einzelner Lieder, als Bühnen- oder Ballettmusik, als zusätzlichen Reiz einzubauen, so erhält die Beziehung von Musik und Text nun tendenziell eine neue Qualität; der Anteil der Musik wächst über alles Akzidentelle hinaus und prägt die Struktur der Werke. (Dies zeigt schon das erste greifbare Erfolgsstück deutlich: Hillers Vertonung der >Verwandeken Weiber< von 1766 erhöht den Musikanteil des Stücks gegenüber 1752 von 18 auf 37 Nummern.) Läßt sich so der Beginn des Untersuchungszeitraums gut abgrenzen, so ist sein Ende schwieriger festzulegen. Entstand das deutsche Musiktheater im Sinne dieser Studie im Umkreis nicht der Oper, sondern des Theaters, so sind die folgenden Jahre durch eine Fülle experimenteller Veränderungen und eine zunehmende Vielfalt gekennzeichnet. Zahlreiche Versuche werden unternommen, den Erfolg des neuen Genres durch das Anknüpfen an verschiedenste musikalische, theatralische und literarische Traditionen zu erweitern. Diese Experimentalphase flacht in den i79oer Jahren wieder ab, als die Tendenz des deutschen Musiktheaters zur großen Oper sich verfestigt. In den I79oer Jahren finden sich an nahezu allen Hofopern regelmäßig Aufführungen deutscher Werke, das deutschsprachige Musiktheater ist nicht länger nur Produkt der Wanderbühnen bzw. kleiner Zwergfürstentümer — und der große Erfolg speziell der >Zauberflöte< (1791) bedeutet produktionsästhetisch die auch musikalisch-stilistisch erfolgreiche Assimilation der italienischen Oper, was dann später im 19. Jahrhundert zum Ausgangspunkt einer neuen deutschen Opern-Tradition konstruiert werden konnte.21 Aus pragmatischen Gründen beende ich den werkanalytischen Hauptteil mit Mozarts >ZauberflöteJochem Tröbs< (Hamburg 1759). So heißt es in Richard Wagners Aufsatz »Über das deutsche Musikwesen« (geschrieben Anfang der i84oer Jahre): »Das Entscheidenste geschah denn endlich: Mozart selbst schloß sich dieser volksthümlichen Richtung der deutschen Operette an, und komponirte auf deren Grundlage die erste große deutsche Oper: die Zauberflöte. Der Deutsche kann die Erscheinung dieses Werkes gar nicht erschöpfend genug würdigen.« (Richard Wagner: Über deutsches Musikwesen. In: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Leipzig 1887/1888. Ndr. Hildesheim 1976, Band i, S. 162). Vgl. Belege bei Nieder 1988, S. 8, bes. Anm. 56; s.a. Hans Joachim Kreutzer: Proteus Mozart. 11
punkt für das Genre bedeutet. Mit der >Zauberflöte< und ihrem Erfolg etabliert sich das deutsche Musiktheater endgültig als eine der höfischen italienischen Oper gleichwertige Kulturform, sowohl seitens der Publiken wie seitens der internen ästhetischen Gestalt. (Zwar verläuft dieser Prozeß vielschichtig, zeitlich versetzt und im Reichsgebiet keineswegs einheitlich, 22 und von einer allgemeinen Durchsetzung des deutschen Musiktheaters gegenüber dem italienischen kann um 1800 noch nicht gesprochen werden. Die Einleitung dieses Prozesses aber findet in den lyQoer Jahren statt.) In den i79oer Jahren ändert sich zudem die Funktionsbestimmung von Musiktheater. Mit Peter von Winters erfolgreichem Werk >Das unterbrochene Opferfest< (Wien 1796) etablieren sich die Konzeptionen der französischen Revolutionsoper im deutschen Musiktheater, und damit »a new consciousness of opera as a vehicle of socio-political discourse«.23 Die historischen Eckdaten der Studie wären so gattungsintern durch den Neuansatz im Bereich der Wanderbühnen (ab etwa 1766) und die Umwandlung von der experimentellen Gattungsvielfalt in Richtung Oper samt Durchsetzung der Gattung auch in den großen Zentren (i79oer Jahre) fixiert.
5. Terminologie Auch im Sprechtheater des 18. Jahrhunderts spielt Musik eine (heute meist übersehene) wichtige aufführungspraktische Rolle (s.u.). In der Theaterpraxis der Zeit stehen dabei auf der einen Seite eher akzidentelle Verwendungen der Musik als bloße Zutat zur dramatischen Aktion, auf der anderen Seite Formen einer strukturellen Verbindung von Musik, Text und Szene. Im folgenden sollen unter dem Oberbegriff »deutschsprachiges Musiktheater« paradigmatisch möglichst viele Ausprägungen dieser letzteren Formen untersucht werden. Bewußt wurde dabei der weite Begriff gewählt; zum einen, da es mir vom Ansatz her zentral auf die theaterpraktische Breite des Phänomens ankommt, zum ändern, weil mir der Begriff »Singspiel«, unter dem das deutschsprachige Musiktheater des 18. Jahrhunderts heute in der Forschung meist subsumiert wird, historisch nicht adäquat erscheint.24 »Singspiel« wird im 18. Jahrhundert nicht
22
23 24
12
Die Opern Mozarts in der Auffassung des 19. Jahrhunderts. In: DVjs 60 (1986), S. 1-23. So finden an einigen Theatern Aufführungen der >Zauberflöte< nur in italienischer Übersetzung statt (z.B. in Dresden 1794); vgl. Willi Schuh: II flauto magico. In: FS Friedrich Blume, hg. v. A. A. Abert/W. Pfannkuch. Kassel u.a. 1963, S. 327-339. Bauman 1992, S. 405. Die terminologischen Schwierigkeiten dieses »Singspiel«-Begriffs haben sowohl Koch (i974a, S. 24ff.) als auch Bauman (1985, S. gff.) eingehend behandelt. Koch schlägt vor, trotz aller Probleme den Singspiel-Begriff eingeschränkt weiter zu verwenden, »etwa im Sinne von komischer Oper mit deutschem Libretto oder deutschem musika-
primär als Gattungsbezeichnung verwendet, sondern dient meist als deutsches Wort für »Oper« allgemein. Die Lexika zwischen 1760 und 1838 begnügen sich beim Stichwort »Singspiel« oft mit einem Blankverweis auf »Oper«.25 Erst in der neueren Forschung ist der Begriff auf einen bestimmten Gattungstypus verengt worden, was zu Problemen mit der zeitgenössischen Terminologie führt, die von einer großen terminologische Vielfalt mit fließenden Übergängen gekennzeichnet ist. Zentrale Differenz der historischen Gattungsbezeichnungen ist dabei weniger, wie in der heutigen Forschung, die Frage »Rezitativ oder Dialog«, sondern primär die Qualifikation als »komisch« vs. »ernsthaft«. Als zeitgenössische Bezeichnungen erscheinen, oft ohne weitere strukturelle Unterscheidungsmerkmale außer der Achse »ernst« vs. »komisch« aufzuweisen: »Oper«, »Operette«, »Singspiel«, »Singeschauspiel«, »Lust-/Trauer-/Schauspiel/ Drama mit Gesang«, »Schauspiel mit untermischten Gesängen«, »Lyrisches Drama/Schauspiel«, »Drama zur Musik«, »Scenen mit Gesang«, »Musikalisches Drama« u.a. 20 Lediglich im Bereich des »Mono-« bzw. »Duo-Drama (mit Musik)« ist mit der Gattungsbezeichung eine strukturelle Kennzeichnung getroffen (Melodram). Oft unterscheiden sich sogar beim selben Werk die Gattungsbezeichung des gedruckten Librettos und des Klavierauszugs.27 Andererseits finden sich unter anderen Gattungsbezeichnungen Werke, die de facto als Singspiele im engeren Sinne zu bezeichnen wären: so z.B. im Bereich der »Nachspiele«.28 Der für die meisten dieser Werke in Literatur- und Musikwissenschaft verwendete »Singspiel«-Begriff (etwa des Inhalts >komische deutsche Oper mit
25
26
27
28
lischen Lustspiel« (19743, S. 28). Eine solchen Definition würde alle Versuche »ernsthafter« Singspiele (wie etwa den im Original als »Singspiel« bezeichneten >Günther von SchwarzburgLisuart und Dariolette< (nach Daniel Schiebeier) folgendermaßen bezeichnet: im ersten Klavierauszug (1768) als »Romantisch-comische Oper«; im zweiten Klavierauszug (1769) und in einigen Libretto-Drucken (1769, 1771) als »Comische Oper«; in anderen Libretto-Drucken (1770, 1773) als »Singstiick«; vgl. Belege bei Bauman 1985, S. 349. Vgl. John 1991, bes. S.
gesprochenen Dialogen statt Rezitativen< bzw. »gesprochenes Theaterstück mit Gesangseinlagen«29) ist ein Konstrukt des 19./2O. Jahrhunderts,30 das der historischen Terminologie z.T. widerspricht. So weist z. B. Goethes erstes Libretto, >Erwin und ElmireAlceste< (1773), einer Rezitativ-Oper nach italienischem Vorbild, die Wieland aber gerade nicht als »Oper«, sondern als »Singspiel« bezeichnet. In seiner Nachfolge bürgerte sich teilweise diese Verwendung des »Singspiele-Begriffs für Werke mit Rezitativen ein. Kunze 1977, S. 830; ähnlich Koch 1993, S. 367: »In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzte sich der Ausdruck, neben Operette, als Bezeichnung einer eigenständigen Gattung durch.« Anders Hein et al. (Hg.) 1989, S. 87. Die terminologische Übergänge sind fließend und erzeugen teilweise auch schon bei den Zeitgenossen Unsicherheit. So äußert die ADB anläßlich einer Besprechung von Carl Roßigs >Versuche im musikalischen Drama< (Rößig 1779): »Unter dem musikalischen Drama, worunter man sonst jede Oper, Operette, Oratorium versteht, meint Herr Rössig hier bloss das von Rousseau in seinem Pygmalion zuerst dargestellte Drama, wo Musik die Rede des Schauspielers begleitet [also nach heutiger Terminologie ein Melodrama, J. K.] [ ] Zuletzt vermengt Herr R. bei Herzählung der bereits erschienenen Duodramen eine Menge anderer Werke, die gar nicht zu dieser Gattung gehören: [ ] Es sind weder Kantaten noch Duodramen (wie man bisher die neue
Phänomens prägt. Die terminologische Vielfalt im 18. Jahrhundert verweist auf die verschiedenen Einflüsse und kann bei der Analyse der einzelnen Werke fruchtbar gemacht werden. Dazu aber muß sie zunächst einmal als historisches Phänomen ernst genommen werden und nicht durch Begriffskonstrukte vereinheitlicht werden. In welche Aporien der Begriff dann führen kann, zeigen Kunzes weitere Bestimmungen: »Allen Formen des Singspiels [ ] ist gemeinsam, daß die Gesangsnummern Einlagen sind. Sie prägen zwar den Charakter des Spielverlaufs, sind jedoch dem Dialog und dem Handlungsrahmen untergeordnet. Die Musik tritt somit nicht wie in der Oper mit Kunstanspruch und als dramatisch konstitutives Medium auf.« 34 Unbestritten sei, daß es derartige Musiktheaterformen im 18. Jahrhundert gibt; sie zur Norm zu verallgemeinern, um hier eine vermeintlich eigenständige Gattung von einer anderen (der »Oper«) abheben zu können, verfehlt jedoch den Gegenstand. Gerade wegen dieser Zusammenhänge habe ich mich dafür entschieden, im folgenden den umständlicheren, aber m.E. adäquateren Begriff »deutsches Musiktheater« zu verwenden. Er erlaubt es, die gesamte Formenvielfalt einzubeziehen, vermeidet die Probleme eines historischen Begriffs wie »Singspiel« und präjudiziert auch nicht die Dominanz anderer Gattungen wie der (italienischen) »Oper«. Der Begriff »Musiktheater« ist, als spezifische Prägung des 20. Jahrhunderts, im 18. Jahrhundert unbelastet und scheint mir daher deskriptiv brauchbarer als »Oper« oder »Singspiel«. Als engerer Unterbegriff für eine spezifische Traditionslinie, die unten in II.i analysiert werden wird, erscheint mir dann der »Singspiel«-Begriff freilich brauchbar. Denn der weite und sehr allgemeine Begriff »Musiktheater« bedeutet nicht, daß damit die Gattungsdifferenzen nivelliert werden sollen, die zwischen so verschiedenen Formen wie dem frühen sächsischen Singspiel, dem Melodrama oder der oft an der italienischen Oper geschulten »Ernsten Oper« bestehen. Die jeweiligen Gattungstraditionen, -konzepte und -entwicklungen werden im Gegenteil in den einzelnen Analysen eine tragende Rolle spielen. Der Blick auf die historische Vielfalt der Terminologie läßt etwas von der Offenheit des neu entstehenden Genres erkennen, das in der Tat vielfältige Anleihen bei allen anderen Formen des musikalischen Theaters ermöglichte. Die terminologische Vielfalt ist somit Teil der Ästhetik des Genres; diese Einsicht verbaut man sich, wenn man »Singspiel« (oder »Oper«) als einen scheinbar festumrissenen Terminus benutzt, den es historisch so gar nicht gab. Schließlich bedarf das Adjektiv »deutschsprachig« einer Präzisierung. In den älteren Forschungsarbeiten (etwa zwischen Schletterer 1863 und Döhring 1969) wird das »Singspiel« meist als eine genuin deutsche Form begriffen.
34
Gattung genannt hat), sondern geistliche musikalische Dramen oder Oratorien.« (ADB 46/2 [1781], S. 442f.) Kunze 1977, S. 830.
Dies scheint mir angesichts der historischen Faktenlage nicht zu halten. Die deutschen Musiktheaterformen sind nationalsprachliche Ableger einer gesamteuropäischen Bewegung35 und ohne die Einflüsse aus der französischen Operacomique bzw. aus der italienischen Opera buffa (zu Beginn auch aus der englischen ballad opera) nicht zu begreifen.3 Aufgrund der im Vergleich mit Frankreich oder Italien strukturell ungünstigen Rahmenbedingungen zur Produktion volkssprachlicher Opernwerke (vgl. unten I.i) entpuppt sich bei genauerer Prüfung ein Großteil der vorhandenen Libretti als Adaptionen französischer und italienischer, seltener auch englischer Vorlagen. Von den Libretti der >Komischen Opern< C. F. Weißes z.B. sind nur zwei originale Schöpfungen Weißes; alle anderen beruhen auf ausländischen, meist französischen Vorlagen. Gerade dieser »Eindeutschungs«-Prozeß aber läßt in der Analyse Rückschlüsse auf Mentalitäts- und Entwicklungsunterschiede zwischen Deutschland und Frankreich etc. erkennen. Er zeugt zudem von dem großen und nahezu überfallartigen Interesse am Musiktheater, das von den vorhandenen einheimischen Kapazitäten gar nicht mehr befriedigt werden konnte. Die Einflüsse aus dem französischen und italienischen Kulturraum betreffen nicht nur die Libretti, sondern ebenso stark die Musik. Im Prinzip müßten daher auch die zahllosen Werke in die Untersuchung einbezogen werden, die bei beibehaltener Originalmusik lediglich übersetzt wurden.37 Darauf habe ich aus pragmatischen Gründen verzichtet angesichts eines noch in den Anfängen steckenden Forschungsstandes und der zusätzlichen Probleme, die dabei auftreten.38 Die Frage der »Nationalisierung« fremdsprachlicher Werke für die deutschen Bühnen verdient und benötigt eine eigene Untersuchung. Einbezogen wurden dagegen Neukompositionen zu übertragenen oder adaptierten Texten, was in der Anfangsphase den Normalfall darstellt. Im Verständnis der Zeit
·" Vgl. dazu Klügl 1987, S. 9f. 36 Auch deshalb ist die pragmatisch bedingte Begrenzung auf das deutschsprachige Musiktheater zweifellos problematisch. Gerade die italienische Oper ist als Vorbild und Muster für die deutsche Praxis, v. a. im Süden, später mit dessen zunehmender Dominanz auch im Norden, eine ebenso unabdingbare Voraussetzung wie, v. a. im mitteldeutschen Bereich, zunächst die französische Opera-comique. 37 Prominente Beispiele wären etwa z. B. Eschenburgs vielgespielte Übersetzung >Robert und Kalliste< (1776) nach Pietro Guglielmis >La Sposa fedele< oder die Operas-comiques von Gretry oder Monsigny. 38 Vgl. allg. Bauman 1985, S. 8. Übersetzungen mit beibehaltener Originalmusik stellen gänzlich andere Probleme als Adaptionen für eine neue Vertonung: Durch die beibehaltene Originalmusik ist der Übersetzer zum ständigen Spagat gezwungen zwischen Textsinn und der Anpassung an die musikalischen Strukturen, während er im anderen Fall freier ist und sich auf die Übertragung des Textsinns konzentrieren kann. Entsprechend wird z.B. in der ADB immer wieder Kritik an übersetzten Texten mit beibehaltener Originalmusik geübt.
16
werden diese Werke in der Regel als »Original-Singspiele« klassifiziert und von Übersetzungen mit beibehaltener Musik unterschieden. Nicht behandelt werden außerdem reine Bühnenmusiken (wie z. B. Mozarts >Thamos, König in Ägypten< KV 345) oder Ballettmusiken sowie Oratorien und »geistliche Singspiele«, sofern sie von vorneherein nicht auf eine szenische Realisation angelegt wurden. 39 Konzertante Werke sind von ihrer Struktur her anders konzipiert, da sie auf die Bedingungen der szenischen Aufführungspraxis keine Rücksicht nehmen müssen, sich dafür aber anderen Problemen zu stellen haben. Trotz der engen Gemeinsamkeiten, die etwa zwischen Oratorium und Oper im 18. Jahrhundert bestehen, soll dieser ganze Bereich in der Folge ausgeklammert werden. Als »Musiktheater« werden hier nur Werke verstanden, die alle drei Ebenen (Sprache, Musik, Szene) verbinden.
w
Dies betrifft v. a. die zahlreichen »Musikalischen Dramen« von J. H. Rolle, die sämtlich für konzertante Aufführungen komponiert sind und daher Oratorienstruktur aufweisen; vgl. dazu Pyatt 1991. — Im katholischen Bereich werden »Geistliche Singspiele« bis zum Ende des Jahrhunderts gepflegt und bilden eine Parallele zum repräsentativen, anlaßgebundenen Musiktheater der absolutistischen Höfe. Vgl. z.B.: Geistliches Singspiel als die zween Hochwürdigen, Hochgelehrten Herren P. Johann Nepomuck Reißweg und P. Edmund Heiland ihre Heiligen Ordensgelübde den ii. Novbr 1781 Feyerlichst erneuerten, abgesungen. Dillingen: Bronner 1781.
2. Das deutschsprachige Musiktheater als Massenkunst
Die Operetten machen seit einigen Jahren, wie in Italien und Frankreich, also auch in Deutschland, den Hauptgegenstand des Theaters aus, und der Geschmack [d.h. das Interesse, J. K.] an Komödien und Trauerspielen ist dadurch um ein merkliches gefallen. Das weiche Gefühl, welches die mit Gesängen untermischte Musik der Oper in uns hervorbringt, gab vermuthlich zu dieser Veränderung Anlaß. Die Komödie sey noch so unterhaltend, noch so regelmäßig — wir werden doch immer einer Operette beyfallen, die weniger vollkommen ist, und ein dramatisches Singestück wird uns eben so, wo nicht mehr, rühren als die beste Art des Trauerspiels.1 Was Johann Wolfgang Andreas Schöpfel 1773 in der Vorrede zu seinem ersten Singspiel >Die Frühüngsnacht< betont, läßt sich in einer empirischen Überprüfung der Theaterrepertoires des späten 18. Jahrhunderts nachweisen: Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts entwickeln sich in der Bühnenpraxis die Formen des Musiktheaters zu den weitaus erfolgreichsten Bestandteilen der Spielpläne. Wie Reinhart Meyer in einer Analyse von Spielplänen2 gezeigt hat, verschiebt sich in den Spielplänen das Verhältnis von Sprechschauspiel und Musiktheater gravierend: Bei annähernder Konstanz des Lustspiels nimmt der Repertoireanteil des Trauerspiels ab den i^joer Jahren stetig ab zugunsten des Musiktheaters, das einen ungeahnten Siegeszug antritt, 3 während der Anteil ' J· W. [A.] Schöpfel: Die Frühlingsnacht, eine Operette in einem Akte. Frankfurt und Leipzig: Christian Gottlieb Hertel 1773, Vorrede [unpaginiert]; zit. n. Schusky (Hg.) 1980, S. 22. 2 Meyer igSib, S. 27—76. 3 C. H. Schmid bemerkt schon 1773 über die Situation in Prag: »Uebrigens scheinen die Prager Operetten das ernsthafte Schauspiel ganz von diesem Theater zu verdrängen« (Schmid 17753, S. 211). Der Repertoireanteil deutscher Trauerspiele lag z.B. in Hamburg Ende der I70oer Jahre noch bei 16 (Ackermanns Theatertruppe) bzw. 19 Prozent (Nationaltheater); vgl. Bauman 1977, S. 90, sowie ähnlich für die größeren Wanderbühnen Meyer igSib, S. 29f. Dieser Anteil nimmt bis zum Ende des Jahrhunderts bis zur Bedeutungslosigkeit ab, während gleichzeitig der Anteil des Musiktheaters am Repertoire z.B. der Wanderbühnen von 0,3 (Schönemann 1740/57) auf 34,7 Prozent (Böhm 1770/98) steigt. Ab den späten I78oer Jahren nimmt nach Meyers Materialien das Musiktheater auf den meisten Bühnen des deutschsprachigen Raums die Spitzenposition ein (ebd. S. 34ff.). Allerdings gibt es lokal gravierend abweichende Spielpläne, v. a. in geistlichen Zentren. — Der Wandel vom Trauerspiel zum Musiktheater gilt selbst für Weimar unter der Theaterdirektion Goethes, wie ein zeitgenössischer Besucher kritisch bemerkt: »Mit dem Theater muß es traurig aussehen; der Geschmack des Publikums für Operetten geht so weit, daß Lüste [sie] und Trauer-
18
des Trauerspiels ins Unbedeutende fällt. Von etwa 1770 bis Ende des Jahrhunderts läßt sich sowohl in Nord- wie in Süddeutschland ein überwiegendes und ständig zunehmendes Publikumsinteresse an deutschsprachigem Musiktheater beobachten, das selbst die dafür oft gar nicht hinlänglich ausgestatteten, aber elementar vom Publikumsinteresse abhängigen Wandertruppen dazu zwang, deutschsprachiges Musiktheater in ihr Repertoire aufzunehmen. Dagegen erweist sich selbst der ausgesprochene Widerwille mancher Theaterträger und Prinzipale als wirkungslos: Zweimal versuchte z.B. der Prinzipal Friedrich Ludwig Schröder in Hamburg, Musiktheater und Ballett aus seinem Repertoire zu eliminieren, mußte dies aber mit so eminenten wirtschaftlichen Rückschlägen bezahlen, daß er beides schnell wieder aufnahm. Auch das rasche Ende des Hamburger Nationaltheaters (1767 — 69) hängt neben anderen Faktoren auch mit der Weigerung zusammen, das abschätzig beurteilte Musiktheater in den Spielplan aufzunehmen. Andererseits sanierte sich z. B. die marode Truppe von H, G. Koch in Leipzig 1766/67 durch das frühzeitige Umstellen auf die deutschen Singspiele Hillers.4 In Wien eröffnen nach der Gewährung der »Spektakelfreiheit« durch Joseph II. in den I78oer Jahren allein drei neue, privat getragene Theater in den Vorstädten, die nahezu ausschließlich deutschsprachiges Musiktheater spielen: das Leopoldstädter Theater, das Theater auf der Wieden und das Josefstädter Theater. In der zweiten Jahrhunderthälfte setzen sich fast alle jüngeren Autoren mit dem Phänomen Musiktheater auseinander (vgl. u.), wobei es z.T. zu aufschlußreichen Adaptions- und Rezeptionsproblemen kommt. Die Tendenz, die Schöpfel erwähnt und die Meyers Zahlen belegen, läßt sich auf der Ebene der Produktion auch rein quantitativ anhand der Anzahl von Uraufführungen deutscher Musiktheaterwerke illustrieren. Wertet man das Material des in Teil IV abgedruckten Verzeichnisses (1760—i8oo) 5 daraufhin aus und vergleicht es mit vergleichbarem Material für den ersten Teil des Jahrhunderts aus anderen Repertorien,6 so zeichnet sich eine charakteristische Verspiele wenig besucht und gegeben werden. Dittersdorf wird häufig gegeben; Wieland versäumt Operetten niemals, so oft er auch eine noch so schlechte gesehen haben mag; Goethe selten.« (Zit. n. Alfred Orel: Goethe als Operndirektor. Bregenz 1949, S. 71) 4
5
6
Christian August Bertram, der spätere Herausgeber der Berliner >Ephemeriden der Litteratur und des TheatersWerther< (1774) oder Millers >Siegwart< (1776) und deren Imitationen offenbar eine neue Modewelle ausgelöst wird. Zugleich könnte sich darin möglicherweise ein Austauschprozeß von der kollektiven Rezeption im Theater zum individuellen Leseverhalten niederschlagen: Die »Operettenmode« wird von der »Romanensucht« abgelöst. In den I79oer Jahren expandieren dann beiden Genres in bescheidenerem Ausmaß, wobei das Musiktheater erst in den letzten Jahren die Romanproduktion überholt. (In absoluten Zahlen ist die Romanproduktion freilich inzwischen längst uneinholbar geworden, während die beiden Gattungen bis 1780 auch in absoluten Zahlen noch in etwa vergleichbar lagen.) Das Musiktheater erscheint somit auch auf einer empirischen Basis als wichtige Massenunterhaltung in Form einer kollektiv rezipierten Kunst. Nun darf der Begriff der »Masse« freilich nicht im modernen Sinn als homogene Masse verstanden werden, deren Unterschiede soziologisch nivelliert wären. Dem deutschen Theater stehen einige Gruppen der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts durchgängig ablehnend gegenüber. So bildet z. B. die pietistische Verdammung des Theaters überhaupt als »officina diaboli« eine Konstante im gesamten 18. Jahrhundert, von der z.B. Karl Gutzkow noch 1852 in seiner Autobiographie berichtet. Dort heißt es über das Jahr 1819 in Berlin: Beide Eltern, uneinig über die Turner und Kotzebues Ermordung, waren in der Abneigung gegen die >Komödie< einiger. In den Kirchen predigte der immer mehr um sich greifende Pietismus gegen die Bühne und nahm den Brand der Stätte, wo der sündige Iffland gehaust hatte, für ein Zeichen der endlich einmal erschöpften göttlichen Geduld und Langmuth."
Zu den gesellschaftlichen Gruppen, die das deutsche Musiktheater ignorieren, gehören andererseits Teile des Hochadels. Beim Publikum des Musiktheaters handelt es sich somit um keine »Masse« im Sinn des 20. Jahrhunderts, sondern um einen im folgenden näher zu charakterisierenden Ausschnitt der Gesellschaft, der in Opposition zu anderen gesellschaftlichen Teilgruppen verschiedener Ausrichtung steht. (Auch hier gibt es starke Parallelen zum Roman, der ebenfalls aus pietistischer Perspektive angefeindet und vom Hochadel ignoriert wird.) Durch diese Oppositionsstellung aber wird durch das Musiktheater auch
ergiebig sey, als vor einigen Jahren, wo die Fruchtbarkeit so groß war, daß beynahe keine andere Frucht dagegen empor kommen konnte [].« (Rez. von Gotters/Bendas >WalderAnthropologie der Spätaufklärung< bzw. >Historizität von Sinnlichkeit in der Literaturwissenschaft stärker diskutiert (s.u.).6 Auch das deutsche Musiktheater des späten 18. Jahrhunderts entspringt im Umkreis der Empfindsamkeit, und gerade es wird im Verständnis der Zeitgenossen als der eigentliche Ort der Darstellung von Leidenschaft und Sinnlichkeit begriffen (vgl. Teil III). Was Ernst Christoph Dreßler 1777 formuliert, kann als allgemeines Verständnis der Zeit gelten: »Die Leidenschaften allein sind es, welche singen; der Verstand redet oder spricht nur.« 7 Damit wird das Genre zugleich in eine Gegenposition zur rationalistischen Anthropologie der Theaterreformer gerückt. Deshalb wird es bereits von Gottsched ebenso vehement verurteilt wie später von Schiller aus der Position seiner anti-empfindsamen, klassizistischen Ästhetik. Nimmt man diese zeitgenössische Einschätzung ernst, dann führt die Erforschung des Musiktheaters zu notwendigen Korrekturen und Erweiterungen der bisherigen Forschung. Gerade das wenig untersuchte Musiktheater wäre demnach als wichtiges Forum der neuen kulturellen Codierung einer emotionalen »Natur des Menschen« zu bestimmen: als Ort, an dem sich die Konzeptionen menschlicher Sinnlichkeit und »Leidenschaften« etc. paradigmatisch und massenwirksam ausgeprägt finden. Träger dieser Prozesse ist eben gerade nicht »das Bürgertum« (gegen »den Adel«), sondern ein spezifischer Ausschnitt der Gesellschaft, der, soziologisch gesehen, Teile des Bürgertums und Teile der Aristokratie in gemeinsamen Normen und Menschenbildern vereint und der in Opposition sowohl zu anderen Teilen des Adels (speziell zum Hochadel) als auch zu Teilen des Bürgertums steht (s.u., bes. II.i und II.2). Das Musiktheater läßt in Produktion, Distribution und Rezeption den Prozeß einer wechselseitigen Assimilation bestimmter »bürgerlicher« und bestimmter höfischer Wertordnungen
5
6
7
36
Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart 1981. Vgl. allg. Riedel 1994. Weitere wichtige Arbeiten: Peter Utz: Das Auge und Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit. München 1990; Barkhoff/Sagarra (Hg.) 1992; Schings (Hg.) 1992; Behrens/Galle (Hg.) 1993; Luserke 1993; Rau 1994; Rudolf Behrens/Roland Galle (Hg.): Historische Anthropologie und Literatur. Romanistische Beiträge zu einem neuen Paradigma der Literaturwissenschaft. Würzburg 1995; Georg Braungart: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne. Tübingen 1995. Dreßler 1777, Kap. 3 § 8.
und Diskurse erkennen — einen Prozeß, für den m.E. gerade die anthropologische Dimension des Musiktheaters von entscheidender Bedeutung ist. Die jüngeren literaturwissenschaftlichen Arbeiten, die sich wenigstens partiell einer Präzisierung der »Rehabilitation der Sinnlichkeit« (oder, systemtheoretisch gesprochen: dem Aufbau der »Exklusionsindividualität«) widmen, schließen erstaunlicherweise das Musiktheater ganz aus ihrer Betrachtung aus.8 Trotz aller Bekenntnisse der letzten Jahrzehnte zur interdisziplinären Arbeit herrscht in der Regel nach wie vor eine eng gefaßte innerdisziplinäre Perspektive - selbst da, wo der Einbezug interdisziplinärer Phänomene vom Ansatz her dringend geboten wäre. Dies betrifft auch die Frage der Anthropologie des 18. Jahrhunderts, zu der seit längerem9 eine zusammenfassende Studie fehlt, was angesichts der in letzter Zeit stark zunehmenden Einzelstudien verständlich und zugleich bedauerlich ist. Denn dadurch bietet sich im Augenblick ein sehr fragmentiertes und heterogenes Bild der Forschung, zumal die theoretischen Ansätze der Forschung weit auseinander liegen: Die Fragestellungen etwa der Elias-Schule (deren Generalthese einer im Verlauf der menschlichen Geschichte zunehmenden kulturellen Körperdisziplinierung und Affektregulierung 10 vom Musiktheater her nicht bestätigt wird), die Ansätze Foucaults und seiner Epigonen oder etwa der feminist turn mit der Frage nach der Ordnung der Geschlechter1' — um nur drei prominente Positionen zu nennen — differieren methodisch wie inhaltlich 8
9
10
11
Vgl. z.B. Greis 1991, Willems 1995 oder die fruchtbare diskursanalytische Arbeit von Wegmann 1984. Auch Gerhard Sauders große, bis heute Maßstäbe setzende Studie zur Empfindsamkeit (1973/1980) läßt das Musiktheater mehr oder weniger vollständig beiseite; der verschämte Abdruck eines einzigen, kaum repräsentativen Librettos von Johann Friedrich Schink (>Adelstan und Röschen«) im Dokumentenband kann dies kaum bemänteln. Die letzten zusammenfassenden Arbeiten stammen aus den frühen rgyoer Jahren und sind bis heute nicht ersetzt: zur philosophischen Begriffsgeschichte der Artikel »Anthropologie« von Odo Marquard (in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. i. Basel/Darmstadt 1971, Sp. 362374) sowie Marquards Aufsatz: Zur Geschichte des philosophischen Begriffs »Anthropologie« seit dem Ende des 18. Jahrhunderts (in: Ders.: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a.M. 1973, S. 122-144); zur Anthropologie v.a. der französischen Spätaufklärung vgl. die klassische Untersuchung von Sergio Moravia: Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung. München 1973· Vgl. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Frankfurt a. M. 1983 [zuerst 1969]; weitergeführt finden sich Elias' Ansätze z.B. bei Robert Muchembled 1988. Vgl. Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaft vom Menschen und das Weib. Frankfurt a. M./New York 1991; Catherine Clement: Die Frau in der Oper. Besiegt, verraren und verkauft. München 1994 [zuerst Paris 1979]. Vgl. a. die Sammelrezension von Pia Schmid: Zur Geschichte des weiblichen Körpers im 18. Jahrhundert. In: DAJ 14 (1990), S. 159-180 (mit Bibliographie).
37
außerordentlich. Als Fluchtpunkt der verschiedenen Ansätze kann dabei, v. a. im engeren literaturwissenschaftlichen Bereich, allenfalls die Frage nach der sinnlichen, körperlichen und emotionalen Natur des Menschen als dem »Anderen« der Vernunft gelten.12 Damit aber wird die Erforschung der historischen Anthropologie zu einem legitimen Aufgabenbereich einer sich als Kulturwissenschaft begreifenden Literaturwissenschaft: »Wo sonst in der sprachlichen Überlieferung, wenn nicht in der Literaturgeschichte, ließe sich eine Geschichte der Einbildungskraft oder des Gefühls fassen?«* 3 Während dafür in der jüngeren Forschung bevorzugt erzählende und autobiographische Formen untersucht wurden, 14 bilden m.E. gerade die dramatischen Formen dafür ein zentrales Untersuchungsfeld. Bis auf einige Ansätze zu Lessing und dem jungen Schiller ist aber gerade die Dramatik des 18. Jahrhunderts in ihrer Verflechtung mit anthropologischen Problemen noch weitgehend unerforscht.' 5 Innerhalb der Literaturwissenschaft steht die Wendung zur Anthropologie in Zusammenhang mit Defiziten der klassischen Sozialgeschichtsschreibung von Literatur, die oft zu einseitig auf die rein institutionelle und sozialhistorische Verankerung von Literatur ausgerichtet war.' 6 Die anthropologisch orientierten Studien betonen demgegenüber die Bedeutung von Literatur für die »Zirkulation sozialer Energien«: 17 für die Formierung kommunikativer Diskurse der jeweiligen Epoche, die sich nicht direkt mit ihren sozialgeschichtlichen Prämis12
13 14
15
17
38
Vgl. dazu etwa das Themenheft: Die Aufklärung und ihr Körper. Beiträge zur Leibesgeschichte im 18. Jahrhundert. DAJ Bd. 14/2 (1990); zusammenfassend die Sammelrezension von Riedel 1994. Riedel 1994, S. . Vgl. Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte - am Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987, bes. S. 1-28; zum Roman: Hans-Jürgen Schings: Der anthropologische Roman. Seine Entstehung und Kritik im Zeitalter der Spätaufklärung. In: Bernhard Fabian u.a. (Hg.): Die Neubestimmung des Menschen. München 1980, S. 247-275; Rau 1994 sowie der Überblick bei Riedel 1994, S. i33f. Im Zentrum stand dabei forschungsgeschichtlich zunächst Jean Paul (Ebd. S. 1030. Vgl. Riedel 1994, S. 14if.; vgl. jetzt a. Katja Schneider: Vielleicht, daß wir also die Menschen fühlen lehren. Johann Christian Krügers Dramen und die Konzeption des Individuums um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. u.a. 1996 (Europ. Hochschulschr. I, Bd. 1577). Dies betrifft m.E. vor allem die von Horst Glaser herausgegebene zehnbändige Sozialgeschichte (Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Reinbek igSoff.); weniger die insgesamt meist differenzierter verfahrende zwölfbändige Hanser-Sozialgeschichte der deutschen Literatur (hg. von Rolf Grimminger. München/Wien igSoff.) Vgl. dazu Lutz Danneberg/Michael Schlott/Jörg Schönert/Friedrich Vollhardt: Germanistische Aufklärungsforschung seit den siebziger Jahren. In: DAJ 19, S. 172-192, sowie allg. auch die Überlegungen des Historikers Reinhard Sieder: Sozialgeschichte auf dem Weg zu einer historischen Kulturwissenschaft? In: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), 5.445-468. Vgl. Greenblatt 1990.
sen kurzschließen lassen. Damit rücken neue, bislang für marginal angesehene Quellengattungen in den Blickpunkt der Forschung. Die erste wichtige Arbeit für das 18. Jahrhundert stellte dabei Hans-Jürgen Sellings' Habilitationsschrift »Melancholie und Aufklärung« 18 dar, die die aufgeklärten Melancholietheorien in ihren historischen Kontexten (Philosophie, Theologie, Medizin und Literatur) untersuchte, statt sie direkt zum Produkt sozialgeschichtlicher Prozesse zu erklären.' 9 Damit konnte Schings (auf der Basis eines weitgefaßten Literaturbegriffs) den Zugang zu dem für die gesamte Spätaufklärung so grundlegenden Zusammenhang von Anthropologie und Literatur öffnen. In der Literaturwissenschaft der I98oer Jahre versandete die Wendung zur Anthropologie dann oft in einer merkwürdig hedonistischen Mischung aus Larmoyanz und sich »postmodern« dünkender Vernunftschelte. Gerade das 18. Jahrhundert wurde dann häufig als negative Verlustepoche beschrieben, die das »Schwinden der Sinne« durch einen angeblichen Aufstieg der Rationalität bewirkt habe. Eine »schwarz« gedeutete Aufklärung erscheint in diesem Zerrspiegel als Tyrannei einer instrumentellen Vernunft, die Körperlichkeit, Sinnlichkeit und Phantasie als ihr »Anderes« zugleich voraussetze und zerstöre.20 Damit aber wurden lediglich traditionelle Bewertungen des 18. Jahrhunderts umgedreht bzw. ältere Denkmuster in modischer Einkleidung weitergeführt, die sich über die Geistesgeschichte2' bis zurück zu Rousseau verfolgen lassen.22 In den i99oer Jahren hat sich die Forschungstätigkeit beträchtlich verstärkt und zugleich fragmentiert. 23 Untersucht wurden z.B. die Populisatoren des anthropologischen Wissens im 18. Jahrhundert, die philosophischen Ärzte wie Ernst Platner 24 oder Wilhelm Hufeland; 25 Herder erhielt unter der anthropologischen Prämisse neue Aktualität 26 (und rückte damit endlich aus dem braunen 18
Mainz 1973; Buchausgabe Stuttgart 1977. Wie dies tendenziell etwa bei Mattenklott 1968 und Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1969, geschieht. 2 ° Vgl. z. B. Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.): Das Schwinden der Sinne. Frankfurt a. M. 1984; Philippe Aries/Andre Bejin (Hg.): Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland. Frankfurt a. M. 1984 [zuerst 1982]; Rudolf zur Lippe: Sinnenbewußtsein. Grundlegung einer anthropologischen Ästhetik. Reinbek 1987. 21 Vgl. Wilhelm Dilthey: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. Leipzig/Berlin ^1921. 22 Vgl. dazu Riedel 1994, S. 97ff. 2 ' Vgl. Alexander Kosenina: Auswahlbibliographie zur Erforschung der (literarischen) Anthropologie im 18. Jahrhundert (1975-1993). In: Schings (Hg.) 1992, S. 755-768. 24 Vgl. Alexander Kosenina: Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der philosophische Arzt und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul. Würzburg 1989. 25 Stefan Goldmann: Christoph Wilhelm Hufeland im Goethekreis. Eine psychoanalytische Studie zur Autobiographie und ihrer Topik. Stuttgart 1993. 26 Vgl. u.a. Wolfgang Proß: Herder und die Anthropologie der Aufklärung. In: Herder: Werke, hg. v. W. Proß. Bd. 2. München/Wien 1987, S. 1129-1216; Sauder (Hg.) 19
39
Schatten der Herder-Philologie der Nachkriegszeit); auch Alexander G. Baumgartens Theorie einer »oratio sensitiva« findet gegenwärtig neue Beachtung. 27 Im Blick auf Pädagogik und Psychologie des 18. Jahrhunderts, wenngleich in ihrer Bedeutung für die Literatur immer noch zu wenig erforscht, sind einige weiterführende Arbeiten entstanden.28 Dabei rückte v. a. Karl Philipp Moritz, auch mit seinem »Magazin zur Erfahrungsseelenkunde«, in den Vordergrund;29 auch die Physiognomik findet wieder Interesse.30 Insgesamt besteht zur Zeit ein Konsens der Forschung darin, daß sich die Entwicklung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gerade durch eine anthropologische Wende in den ry5oer und lyooer Jahren von der »strukturell relativ homogenen, von nachfolgenden Tendenzen und Entwicklungen wohl unterschiedenen« Frühaufklärung unterscheide und abgrenzen lasse.31 Im Bereich des Theaters liegt jetzt mit Alexander Koseninas »Anthropologie und Schauspielkunst« eine erste umfassendere Anwendung der anthropologischen Fragen auf die Wandlungen in der schauspielerischen Darstellung vor;32 eine wichtige Vorarbeit dazu bildet Ursula Geitners Dissertation »Die Sprache der Verstellung«, 33 die die Bedeutung des Theaters als Schule der »Verstellungskunst« im 17. und 18. Jahrhundert hervorhebt. Diese Arbeiten
21 28
29
30
31
32 33
40
1987; Manfred Wenzel: Die Anthropologie J. G. Herders und das klassische Humanitätideal. In: Gunter Mann/Franz Dumont (Hg.): Die Natur des Menschen. Probleme der Physischen Anthropologie und Rassenkunde (1750—1850). Stuttgart/New York 1990, S. 137-167; Hugh Barr Nisbet: Herders anthropologische Anschauungen in den »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«. In: Barkhoff/Sagarra (Hg.) 1992, S. 1—23; Helmut Pfotenhauer: Anthropologie, Transzendentalphilosophie, Klassizismus. Begründungen des Ästhetischen bei Schiller, Herder und Kant. Ebd. S, 72 — 92. — Zu den Veränderungen der Herder-Rezeption vgl. a. die Sammelbesprechung von Heinrich Clairmont: Ein neues Herder-Bild befreit vom Firnis der Rezeption? In: DAJ 17 (1993), H. i, S. 70-88. Vgl. Friedhelm Solms 1990; Verweyen (Hg.) 1995. Vgl. z.B. Christian Begemann: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewui3tseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1987; Heinz-Dieter Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt a. M./ Leipzig 1991; Helmut Pfotenhauer: Sich selber schreiben. Lichtenbergs fragmentarisches Ich. In: Pfotenhauer 1991, S. 5-26. Vgl. z.B. Raimund Bezold: Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz. Würzburg 1984; Lothar Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz' >Anton ReiserGegenpolunter das Volk< [ ].«83 Koebner leitet seine Thesen dabei, typisch für einen häufig verkürzten germanistischen Zugriff, primär aus den Texten ab. Gegen die pauschale Einstufung des deutschen Singspiels als »bürgerliche« Gattung84 hat sich dagegen bisher am vehementesten Reinhart Meyer ausgesprochen. Er sieht im deutschen Singspiel gerade keine antifeudale Gattung, sondern »einen vorsichtigen Affirmationsprozeß an adlige Kulturgewohnheiten«, der von der als überlegen anerkannten Vorbildlichkeit des höfischen Lebens für das Bürgertum zeuge und sich allenfalls »in der Aufführungsweise und einigen von höfischen Interessen abweichenden Präferenzen« 85 als bürgerlich bestimmen lasse. In methodischem Gegensatz zu Koebner zeigen Meyers Arbeiten, daß erst ein Blick auf Bühnenträger und Aufführungspraxis ein genaueres Bild liefert.
5. Fazit Die großen Entwicklungslinien der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Musiktheater des 18. Jahrhunderts lassen sich in sieben Punkten bündeln: — Aufsplitterung in drei akademische Disziplinen mit jeweils fachspezifischer Perspektive; - frühzeitige Verengung im 19. Jahrhundert auf den norddeutsch-protestantischen Singspiel-Typs C. F. Weißes und J. A. Hillers: Reduktion der historischen Gattungsvielfalt und Ausgrenzung der süddeutschen Formen; 82 83 84
85
54
Ebd. S. i. Koebner 1981, S. 12; vgl. a. Koebner 1993, S. igoff. Ähnliche Thesen finden sich z.B. bei Koch 19743, S. 28; Schleuning 1984, S. 553; Nieder 1988, S. 17. Meyer 19803, S. 135.
— Ausschluß des »trivialen« Musiktheaters aus einer auf die Geschichte autonomer Kunst gerichteten Literatur- oder Musik-Geschichtsschreibung; - eingehende Erforschung nur im Bereich kanonisierter »Großmeister« (Goethe, Mozart), Vernachlässigung der übrigen Produktion; - Einschätzung der Gattung als »bürgerlich« und »antihöfisch«; Anschluß an das Forschungsparadigma von der »Emanzipation des Bürgertums« im 18. Jahrhundert; - ideologische Geschichtskonstruktion, in der das Musiktheater des 18. Jahrhunderts als Vorbereitung des 19. Jahrhunderts erscheint; - verzerrte Sicht auf das höfische Musiktheater. Es scheint mir an der Zeit, all diese Punkte kritisch zu überprüfen. Die Erforschung der (nur scheinbar abgelegenen) Gattung kann somit auch dazu beitragen, forschungsgeschichtliche Probleme und generelle Defizite der akademischen Forschung bewußt zu machen.
55
ERSTER TEIL Typologie des deutschsprachigen Musiktheaters
i. Rahmenbedingungen
Mit dem methodischen Vorgehen einer detaillierteren Analyse weniger ausgewählter Werke ist zwangsläufig eine Reduktion der Komplexität und Heterogenität des historischen Bestandes verbunden, was gerade für die Analyse eines Massenphänomens problematisch ist. Denn die »soziale Energie«, die in einer Massenkunst zirkuliert, steckt gerade in der Kollektivität von Genres, Erzählmustern oder Formkonventionen.1 Um daher die Ergebnisse nicht falsch zu isolieren, sollen die Analysen eingebettet werden in den Rahmen einer historisch-typologischen Skizze des Gesamtbestandes. Diese erscheint mir auch angesichts der schlechten Forschungslage notwendig. Die typologische Rekonstruktion dient somit dazu, einerseits die Komplexität des Gesamtbestandes überschaubar zu machen, andererseits vorschnelle Generalisierungen einzelner Ergebnisse zu vermeiden. Die Besonderheiten des deutschsprachigen Musiktheaters im späten 18. Jahrhundert liegen gerade in seiner bislang kaum ausreichend erkannten heterogenen Zusammensetzung, die auch in einem typologischen Überblick nur skizziert werden kann. In den Untersuchungszeitraum dieser Studie fällt ein theatergeschichtlicher Prozeß von einschneidender Bedeutung für die gesamte Theaterpraxis des 18. Jahrhunderts: die Seßhaftwerdung des deutschsprachigen Theaters. Während die früheren Versuche der Prinzipale Schönemann in Berlin (1742) und Schuch in Frankfurt a. M., sich in diesen Städten fest anzusiedeln, noch scheitern, werden vereinzelt seit Mitte der iy5oer Jahre, zunehmend dann in den xyooer und lyyoer Jahren, in den meisten größeren Städten des Reichsgebiets feste Gebäude errichtet (meist auf private Initiative und Kosten) oder zu Theatern umgewandelt, damit auch zumindest temporär stehende Theater (auf Pachtbasis) eingerichtet. Als Argumente dafür dienen in erster Linie wirtschaftliche, z.B. aus dem merkantilistischen Bestreben heraus, den Abfluß von Geldern durch die wandernden Truppen zu verhindern.2 1 2
Vgl. dazu am Beispiel des Shakespeare-Theaters Greenblatt 1990. Vgl. allgem. Martens 1981, S. 38, 8.48. Ein gutes Beispiel bietet die Situation in Mannheim. 1778 siedelte der kurpfalzische Hof (mitsamt dem Theater) nach München über, was für die kleine Residenzstadt Mannheim eine ökonomische Katastrophe bedeutete. Die Stadt verlor nicht nur ihr kulturelles Zentrum, sondern innerhalb von drei Jahren viertausend, meist finanzstarke Einwohner. Als Kompensation forderte der Freiherr Wolfgang Heribert Dalberg vom Kurfürsten als Ausgleich entweder die
Schrittmacherfunktion haben dafür die Hoftheater, die sich nach dem Siebenjährigen Krieg (oft bedingt durch dessen wirtschaftliche Folgen) für das deutsche Theater öffnen und deutsche Wanderbühnen zumindest zeitweise fest anstellen; damit wird der niedrige Sozialstatus des deutschen Theaters gehoben, das deutsche Theater sozial legitimiert. Zugleich beginnt ein Prozeß der wechselseitigen Amalgamierung höfischer und außerhöfischer Perspektiven (vgl. unten II.2). Innerhalb des Prozesses der Seßhaftwerdung aber kommt wiederum dem deutschen Musiktheater zentrale Bedeutung zu. Mit der Seßhaftwerdung der Theater vergrößert sich auch das Publikum; doch dieser sozialgeschichtliche Prozeß verändert nicht nur Publiken und Produktionsbedingungen, sondern auch die interne Struktur der Werke fundamental. Die Bedingungen von Produktion, Distribution und Rezeption sind für ein frühes sächsisches Singspiel wie z.B. Hillers >Die verwandelten WeiberEntführung aus dem SerailThe Devil to pay< (>Der Teufel ist los Vgl. Meyer 1982. 63
higkeit her kein Musiktheater bieten konnten, blieb dabei meist nur der Weg, stattdessen an andere populäre Formen wie Hanswurstiaden oder Nachspiele anzuknüpfen. 20 Im süddeutschen Bereich ist die Situation insofern anders, als hier die Wandertruppen beim Musiktheater bevorzugt italienische und französische Werke in deutschen Übersetzungen spielen, deren musikalische Anforderungen in der Regel höher sind als die norddeutschen deutschsprachigen Original werke, die eher selten aufgegriffen werden. Musterbeispiele dafür sind die Wanderbühnen von Felix Berner,21 der z.B. Werke von Monsigny, Gretry, Philidor, Piccinni, Sacchini, Gaßmann in Übersetzung spielt, Johann Böhm (Gretry, Anfossi, Paisiello), Johann Appelt (Philidor, Paisiello), Theobald Marchand22 (Gretry, Philidor, Monsigny, Duni, Galuppi, Piccinni, Gossec) oder Ludwig Schmidt (Cimarosa, Gaßmann, Anfossi). Dabei ergibt sich mitunter das bezeichnende Phänomen, daß dieselben Stücke im Bereich der Hoftheater in Originalsprache23 wie im Bereich der Wanderbühnen auf deutsch gespielt werden, worin sich eine allmähliche Verschmelzung der Perspektiven höfischer und außerhöfischer Rezipienten abzeichnet. Die Theaterzettel dieser Truppen werben auch direkt mit der italienischen bzw. französischen Provenienz dieser Stücke: Die Originaltitel werden groß abgedruckt, und selten fehlt der Hinweis, daß die Originalstücke in Frankreich oder Italien zu den berühmtesten oder beliebtesten Werken zählten. Oft findet sich auch der Hinweis, daß an der Originalmusik nichts verändert worden sei.24 Die Übersetzungen mußten also der bereits existierenden Musik angepaßt werden. Zunächst tauchen hier seltener als im Norden deut-
20
21
22
23
24
64
Darauf deuten zumindest Titel von Sammlungen wie: Nachspiele für Schauspielergesellschaften, die keine Operetten und Balletten aufführen können, oder wollen. Wesel und Leipzig 1791. Berners Ensemble bestand aus Kindern, die kaum in der Lage gewesen sein dürften, die Erfordernisse der Partituren zu realisieren; sein Repertoire-Verzeichnis ist abgedruckt bei Dicke 1934, S. aooff. Marchands Bühne ist im Gegensatz zu den anderen relativ gut erforscht; vgl. z.B. Pies 1973, S. 235ff.; Bauman 1977, S. 9246^; Corneilson 19923, S. i2iff. Gelegentlich kommt es, wie etwa in Mannheim, auch zu dem Phänomen, daß französisch Operas-comiques vom italienischen Hofdichter (hier M. Verazi) ins Italienische übertragen werden und dann auf italienisch mit der französischen Originalmusik gespielt werden; vgl. Corneilson 19923. So findet sich z.B. auf einem Theaterzettel von Appelt zu >La Frascatana oder Das Mädchen aus Fraskati< von Paisiello der Hinweis, man spiele die »ächte unverfälschte Musik, ohne Zusatz und Abnahme, ganz nach dem Originale, so wie uns solches in Partitur von der Churfürstl. Intendance zu München zugeschickt worden« (Theaterzettelsammlung der ÜB Erlangen, 19.4.1784). Felix Berner betont bei der komischen Oper »Der Deserteur·!, daß »die vortrefliche Musik ganz aus dem Original genommen, und die Begleitung der Stimmen nicht nachgesetzt, sondern von Herrn Monsigny, dem Author selbst ist« (ebd. 10.5.1782).
sehe Originalwerke auf; erst die Entwicklungen in Wien, speziell der große Erfolg von Mozarts >Entführung aus dem Serail< verändern diese Situation ab Mitte der lySoer Jahre. Die Prinzipale arbeiten auf eigenes Risiko und verbinden künstlerische und verwaltungsökonomische Direktion, müssen daher stets den Spagat zwischen »Kommerz« und »Kunst» vollbringen. Da dies von den publizistischen Meinungsführern im bürgerlichen Bereich zunehmend als unbefriedigend empfunden wird, wird seit den I74oer Jahren vereinzelt der Ruf nach öffentlicher Trägerschaft der Theater laut,25 der dann etwa ab den lyooer Jahren in die wirkungsträchtige «Nationaltheater»-Bewegung mündet. Die politischen Institutionen wie Stadtverwaltungen, Magistrate usw. verweigern jedoch bis ans Ende des Jahrhunderts in der Regel jede Art der Unterstützung von Theater. Weit davon entfernt, eigene stehende Bühnen zu unterstützen, werden die Wanderbühnen im Gegenteil von den Stadtverwaltungen her in der Regel finanziell geschröpft (z. B. durch Gebühren für Spielgenehmigungen, Polizeiabgaben etc.). Von großen Teilen der bürgerlichen Bevölkerung wird dem Theater unverhohlene Feindschaft entgegen gebracht;26 institutionelle Gegner sind v. a. Kirchen und Universitäten, aber auch die Cameralisten. Während diese die italienische Hofoper in aller Regel als notwendiges Repräsentationsorgan rechtfertigen, verhalten sie sich den Wanderbühnen gegenüber defensiv und betonen die Gefahren für Volkswirtschaft und Moral der Bevölkerung.27 Bei Johann Heinrich Jung heißt es etwa 1788: Schauspieler von allerhand Art, Gaukler, Taschenspieler, Seiltänzer u.d.g. sind ein Gift für die Gewerb-Stände, alles lauft hinzu, verschleudert Geld und Zeit, und jene brodlose Künstler verschwenden den Gewinn wiedet, oder schleppen ihn auser Land. Ueberall also wo Industrie und Fleis die Mittel zur Glückseeligkeit und Pflicht sind, da müssen Schauspiele von jeder Art nicht gedultet werden. Folglich ist es ganz recht, wenn man sie in commerzitenden Städten und auf Universitäten nicht erlaubt.28
Umgekehrt benutzen die Verfechter stehender Theater solche Argumentationen dann, um die Einrichtung stehender Theater z.B. damit zu begründen, daß dadurch das Geld im Lande bleibe.29
25
Beispiele stammen von Mylius 1742, Geliert 1751, J. E. Schlegel 1764; vgl. Zitate bei Maurer-Schmoock 1982, S. 90. 26 Vgl. dazu im Detail die Studie von Schwedes 1993. 27 Vgl. Martens 1981; allenfalls wurde das deutsche Musiktheater der Wanderbühnen als Mittel zur Anziehung von Fremden oder zur Erholung der arbeitenden Bevölkerung toleriert. 28 Johann Heinrich Jung: Lehrbuch der Staats-Polizey-Wissenschaft. Leipzig: Weidmann 1788, S. 304. Differenzierter argumentieren andere Cameralisten der Zeit wie Gottlob von Justi oder Joseph von Sonnenfels. 2 » Vgl. Anm. 2.
Theater bleibt somit im außerhöfischen Bereich im wesentlichen getragen von einzelnen Prinzipalen, gelegentlich vom Versuch konsortienähnlicher Zusammenschlüsse (wie beim Hamburger »Nationaltheater« und beim ersten entsprechenden Wiener Versuch 1769/1770), die wirtschaftlich kaum funktionieren, erst später dann auf Aktienbasis.30 Auch die sogenannten »Nationaltheater«, die gegen Ende des Jahrhunderts in den meisten größeren Städten entstehen, bleiben in der Regel das Werk einzelner privater Initiativen. Als relativ fest verankerte Institutionen existieren im späten 18. Jahrhundert primär die Hoftheater, bei denen es allerdings, v. a. bei Herrscherwechseln, immer wieder zu Einschnitten und Brüchen kommt.31 Die Hoftheater bleiben bis in die Architektur hinein (s. u.) Vorbilder für die außerhöfischen Theater; das Bürgertum entwickelt keine eigenständigen Alternativen. (Auch die Landstände weigern sich z.B. bis ins 19. Jahrhundert, eigene öffentliche Theater zu unterhalten; lieber subventionieren die Landstände die Hoftheater.32) In dem Maße, wie sich die Hoftheater vom freien Eintritt auf Einladung des Fürsten zum Zugang für zahlendes Publikum verändern, kommt es auch hier zunehmend zu dem Problem, höfischen Kunstgeschmack und finanzielle Ergebnisse zu vereinbaren. Das Hoftheater dient häufig als eine Art Experimentierfeld für die Erbprinzen (vgl. z.B. Joseph II.); sofern die Hoftheater nicht verpachtet sind, fungieren als Intendanten in der Regel adelige Hofleute, die daneben noch andere Posten bekleiden und keineswegs für die Leitung eines Theaters ausgebildet sind. Erst mit der Umstellung auf deutsches Repertoire und der Öffnung für zahlendes Publikum kommt es dazu, daß auch Spezialisten bürgerlicher Herkunft mit Intendanzfunktionen betraut werden; dies bleibt jedoch bis ins 19. Jahrhundert die Ausnahme. Im Regelfall entsteht mit der Anstellung deutscher Truppen ein konfliktträchtiges Dreieck aus höfischem Intendanten (administrative und disziplinarische Oberaufsicht [Theatergesetze], aber wenig Fachkenntnis), 30 31
32
66
Frankfurt a.M. 1792, Breslau 1797. Diese Einschnitte treffen jedoch meist das Sprechtheater, weil das Musiktheater durch das apparative Gewicht der Hofkapellen stabiler verankert ist. Die Mitglieder der Hofkapellen sind — neben ihren vielfaltigen repräsentativen Funktionen — meist durch zusätzliche Funktionen (z.B. als Hofdiener) fest in das Hofleben integriert und von daher schwerer kündbar als die (meist französischen) Schauspieler des Sprechtheaters, die bei Herrscherwechseln, in Trauerzeiten, bei außenpolitischen oder finanziellen Problemen relativ leicht freigesetzt werden können. Vgl. Beispiele bei Daniel 1995, S. 75f. Bei kleinen Höfen kann dies gelegentlich dazu führen, daß nur eine Hofkapelle gehalten und auf Theater verzichtet wird (z.B. in Wallerstein). Die Kapellen bilden somit die institutionelle Basis der gesamten musikalisch-theatralischen Hofkultur. Vgl. das Stuttgarter Beispiel bei Daniel 1995, S. 165 Anm. 57: Noch 1874, a's der württembergische König aus finanziellen Gründen das Hoftheater in staatliche Regie übergeben möchte, lehnen die Landstände dies ab, erhöhen dafür aber die Zivilliste des Hofs.
künstlerischer Fachdirektion (die früheren Prinzipale oder führende Schauspieler) und der Schauspielergesellschaft.33 Im Bereich der Hoftheater ist das deutsche Musiktheater lange Zeit nicht existent. Bekannt ist die Haltung Friedrich II., der das Genre in Bausch und Bogen ablehnte, in deutlicher Parallele zu seiner Einschätzung deutscher Literatur überhaupt. Die typische internationale Ausrichtung der Höfe ändert sich nach dem Siebenjährigen Krieg, dessen finanzielle Folgen zur Entlassung zahlreicher Hoftheater und zur Reduktion demonstrativer Luxusausgaben zwangen. Davon konnten besonders an kleineren und mittleren Residenzen einige deutsche Wanderbühnen profitieren, v. a. diejenigen, die Musiktheater pflegten. Die deutschen Truppen konnten sich als erheblich preisgünstigere Variante andienen, die es den kleinen Höfen erlaubte, zumindest äußerlich die höfische Repräsentationskultur aufrecht zu erhalten, sich zugleich aber als sparsam und >patriotisch< zu zeigen. (In dem Wertewandel, der sich hier abzeichnet, zeigt sich, daß die kleineren Höfe zunehmend Axiome des bürgerlichen Diskurses übernehmen.) Neben den ökonomischen Perspektiven, die auch z.B. im Falle des Wiener Nationaltheaters beobachtet werden können (vgl. unten II.6.1.), vollzieht sich, wie Ute Daniel gezeigt hat, noch ein anderer Wandlungsprozeß, der die Aufnahme deutscher Truppen an den Höfen begünstigt: Zum Ziel der Außendarstellung der Höfe werden immer weniger die anderen Höfe, dafür immer mehr die eigene Bevölkerung. Dies aber bleibt innerhalb der Aristokratie umstritten; zudem wurden die Erwartungen der Fürsten offenbar häufig nicht erfüllt, so daß gerade große Höfe bald wieder zur italienischen Oper zurückkehren (Wien, Dresden). Die Verbindung von deutschen Truppen und den Höfen bleibt auch aus anderer Perspektive im 18. Jahrhundert fragil und immer wieder gefährdet. Die Truppenmitglieder bringen an die Höfe Weltbilder und Verhaltensweisen, die sich nicht mit den höfischen decken; die geforderte Anpassung gelingt keineswegs immer, so daß es oft zu Brüchen und Entlassungen kommt (z.B. in Gotha 1779). Teile der Aristokratie lehnen das deutsche Genre weiterhin grundsätzlich ab. Daneben etabliert sich in vielen Städten ein Typus von Liebhaber- und Dilettanten-Theater, in dem oft lokale Adelige die Führung übernehmen, aber auch Mischformen von Bürgerlichen und Adeligen sowie gelegentlich rein bürgerliche »Gesellschafts-Theater« auftreten; gemeinsam ist diesem heterogenen Phänomen dabei jeweils die soziale Abgrenzung nach »unten«. Dieser Bereich unterscheidet sich in der Stückauswahl wenig von den Tendenzen der Zeit: meist fehlt die Tragödie (wie auch das »bürgerliche Trauerspiel« und das auf-" Vgl. dazu die Mannheimer Fallstudie von Daniel 1995 (S. i8off.). Eine wichtige Ausnahme bildet das Wiener Burgtheater, in dem das Schauspielerkollegium selbst nach französischem Vorbild die künstlerische Leitung übernimmt.
wendige Ritterschauspiel), dagegen herrschen Lustspiele, zunächst meist französischer Provenienz, später auch deutsches Musiktheater, soweit es aufführungspraktisch realisierbar war.34
2. Spielorte 1788 werden in Adolph von Knigges >Dramaturgischen Blättern< 30 Städte mit stehenden deutschsprachigen Bühnen erwähnt: Amsterdam, Berlin, Bonn, Breslau, Brunn, Dresden, Graz, Hamburg, Hannover, Karlsruhe, Kassel, Koblenz, Königsberg, Lübeck, Mainz, Mannheim, München, Ofen, Pest, Petersburg, Prag, Preßburg, Regensburg, Riga, Rostock, Schleswig, Straßburg, Strelitz, Weimar und Wien.35 Bei diesen Städten handelt es sich um eine Mischung verschiedenster Stadttypen mit jeweils völlig unterschiedlich ausgeprägter Theaterlandschaft. Durch das Fehlen eines stilprägenden Oberzentrums (wie Paris oder London) formen im deutschsprachigen Raum regionale Traditionen und Entwicklungen weitaus stärker die kulturelle Physiognomie. Gerade im Bereich des Musiktheaters ist daher mit einer großen Heterogenität und Komplexität umzugehen. Um diese überschaubarer zu gestalten, wird nun eine typologische Überschau der Spielorte versucht (wobei im historischen Normalfall immer Überschneidungen und Mischungen der verwendeten Idealtypen vorherrschen).36 34
35
36
68
Vgl. zum Weimarer Gesellschaftstheater Meyer i98oa, S. i43ff.; andere Beispiele wären die adelig dominierten Liebhabertheater in Darmstadt, Gotha oder Augsburg. Eher bürgerlich sind die Gesellschaftstheater in Erfurt, Güstrow oder Dessau. Das langlebigste dieser Theater dürfte das Dresdener Liebhabertheater gewesen sein, das von der spezifischen soziodemographischen Struktur der Residenzstadt begünstigt wurde. — Bezeichnend ist auch der Fall des Melodrams >Lenardo und Blandine< von Joseph Franz von Goez (nach G. A. Bürgers Ballade) mit Musik von Peter von Winter: Dieses Stück »in 160 leidenschaftlichen Entwürfen« unter starken Sturm-und-DrangEinflüssen mußte in München nach der Uraufführung 1779 abgesetzt werden. In Augsburg jedoch erschien 1785 ein Textbuch mit dem Vermerk: »Aufgeführt von einer Gesellschaft adelicher Kunstfreunde auf dem Stadttheater in Augsburg.« (vgl. Abb. bei Koopmann/Frankenberger (Hg.) 1992, S. ). Knigge (Hg.) 1788/89, S. i87f. Hinzu kommen noch diejenigen Theatergründungen, die 1788 schon wieder eingegangen waren (z.B. Gotha, Hildburghausen, Schwedt) oder erst noch entstanden. Das angegebene Quellenmaterial zu einzelnen Städten enthält bevorzugt Werke, die möglichst detaillierte Spielplanverzeichnisse enthalten. Weitere Spielplanverzeichnisse können über Schuster 1985 ermittelt werden; Material zur lokalen und institutionellen Theatergeschichte findet sich bei Hadamowsky 1982. Zur sozialhistorischen Typologie der deutschen Städte im 18. Jahrhundert vgl. Klueting 1993; vgl. allg. a. Otto Borst: Kulturfunktionen der deutschen Stadt im 18. Jahrhundert. In: Wilhelm Rausch (Hg.): Städtische Kultur in der Barockzeit. Linz 1982, S. 1-34. Wichtig ist auch die musikhistorische Skizze von Hortschansky 1995.
i) Große Residenzen mit internationaler Ausrichtung Im 18. Jahrhundert existiert im deutschen Reich nur ein Hof mit kontinuierlicher kultureller Ausstrahlung von europäischem Rang: der Wiener Kaiserhof.37 Der Wiener Hof zeigt in seiner international ausgerichteten Repräsentationskultur zunächst kein Interesse für das deutschsprachige Musiktheater. Obwohl in Wien seit 1712 mit dem Kärntnertortheater ein stehendes deutsches Theater existiert (die große Ausnahme im Reichsgebiet), bleibt das Musiktheater am Hof italienisch bzw. französisch (Ballette) dominiert. Doch auch das nicht vom Hof betriebene Kärntnertortheater weist in der Zeit zwischen 1747 und 1763 eine deutliche Präferenz für italienische Opern auf.38 Erst als Joseph II. 1778 ein »Teutsches National-Singspiel« (als institutionellen Appendix des 1776 gegründeten deutschen Nationaltheaters) ins Leben ruft und dafür die italienische Hofoper (vorübergehend) schließt, bricht sich das deutsche Musiktheater seine Bahn. Dieser Prozeß wird auch durch das frühe Ende des »National-Singspiels« (1783 bzw. endgültig 1788) nicht mehr gefährdet, da Josef II. 1776 gleichzeitig die »Spektakel-Freiheit« einführt. Diese Abschaffung des alten Privilegienwesens führt zu einer Flut privater Theatergründungen; 39 die Sänger und Musiker des National-Singspiels wandern z.T. in diese neuen Vorstadtbühnen ab und sorgen so für eine kontinuierliche Weiterentwicklung, in die die einheimischen Traditionen des Altwiener Volksstücks eingingen (bes. in der Ausprägung durch J. J. Kurz, genannt Bernardon, der kontinuierlich Musik in seine Produktionen einbezog).
37
38
39
Vgl. Bauer 1993, bes. S. o^ff. Quellenwerke zur Wiener Theatergeschichte: J. H. F. Müller 1773, Bd. i; Ders.: Geschichte und Tagbuch der Wiener Schaubühne. Wien 1776; Blümml/Gugitz 1925; Hadamowsky 1934; Rommel 1952; Bauer 1955; Ders.: Das Theater in der Josephstadt zu Wien. Wien 1957; Hadamowsky 1966; Michtner 1970; Zechmeister 1971; Alth/Obzyna (Bearb.) 1976; Krebs 1983; Hadamowsky 1988; Großegger 1989; Haider-Pregler 1990. Vgl. das Material bei Zechmeister 1971, bes. S. 399-562. Als der Wiener Hof 1785 auch das Kärntnertortheater direkt übernimmt, entwickelt sich in der Folgezeit trotz der zunehmenden Austauschbarkeit von Produktionen, Kostümen etc. eine klare Arbeitsteilung im Musiktheater: Das Kärntnertortheater spielt deutsches Musiktheater, das Burgtheater italienisches. Theater beym Fasan am Neustift (1776—1795); Theater in der Leopoldstadt (1781 — 1847, danach Carltheater); Comödihütte auf dem Neuen Markt (1782); Fuhrmannsches Theater beim Wasen (1783^); Wiedner Theater im Hochfürstlich Starhembergischen Freyhaus (1787 — 1801, danach Theater an der Wien); Theater in der Josefstadt (seit 1788); Landstraßer Theater (1790—1793); Theater in Penzing (1792 — 1804); Roßauer Theater (1792 — 1793); zudem Hüttentheater in fast jeder Vorstadt, Gasthaustheater etc. Vgl. Neuber 1993, S. 39. In den I79oer Jahren geben zeitgenössische Berichte rund neunzig Amateurtheater in Wien an (bei 207014 Einwohnern laut der Zählung von 1790); vgl. Peter Branscombe: Mozart und das Theater seiner Zeit. In: H. C. R. Landon (Hg.): Das Mozart-Kompendium. München 1991, S. 415—431, bes. S. 421. 69
Die Wiener Theatergeschichte ist in vieler Hinsicht eine Ausnahme in der deutschen Theatergeschichte des 18. Jahrhunderts: in ihrer Vielfalt, ihrer breiten Akzeptanz bei verschiedenen Publiken, in ihrer Offenheit und in ihrer Stetigkeit, aber auch in der spannungsreichen Symbiose von höfischem Theater und >Volkstheater< (vgl. unten II.6 und II.8). In Berlin40 ist das Theaterleben stärker vom Hof abhängig, der seine Vorlieben über die Steuerungsmittel der Privilegien und der Finanzmittel durchsetzt. Der Verlauf ist jedoch extrem diskontinuierlich. Nach dem eher international ausgerichteten Friedrich L, der an deutschem Theater kein Interesse hatte,41 etabliert der »Soldatenkönig« Friedrich Wilhelm I. einen extrem kunstfeindlichen Hof, der eigentlich nur der deutschen Hanswurstkomödie offen ist: Sein bevorzugter Prinzipal ist Johann von Eckenberg, der in Berlin auch außerhalb des Hofes zu Popularität gelangt.42 Friedrich II. dagegen verhält sich der deutschen Literatur und dem deutschen Theater gegenüber wieder extrem ablehnend und fördert erneut französisches Drama und italienische Opera seria.43 In seinem Verständnis der Oper dominiert eindeutig der repräsentative Charakter: Opera seria als politische Kunstform eines großen Hofes.44 (Dabei wird der Opernstil der Jahrhundertmitte (Graun, Hasse) als künstlerische Norm verfestigt und noch in Zeiten aufrechterhalten, in denen er längst veraltet ist.) Ekkenberg mußte, unter Friedrich II. seiner höfischen Protektion verlustig, bald aufgeben. An seine Stelle versuchen nach 1740 andere, >modernere< Wandertruppen zu treten: Schönemann, Ackermann, Koch, Schuch, Döbbelin - auch sie ohne Unterstützung des Hofes. Der Antrag Schönemanns von 1741, in 40
41
42 43
44
Queüenwerke: Plümicke 1781 [enthält u.a. das komplette Material über die Vorstellungen von Kochs Truppe 1771-1775 und Döbbelins Fortsetzung 1775-1781]; Brachvogel 1877/78; C. Schäffer/C. Hartmann: Die königlichen Theater in Berlin. Statistischer Rückblick auf die Tätigkeit und die Personal-Verhältnisse während des Zeitraums 1786-1885. Berlin 1886; Graf 1934. Brachvogel 1877/78, S. 63, überliefert sein Wort von der »deutschen Komödienbagage«. Brachvogel 1877/78, S. 7off. Sein Opernlibretto >Montezuma< (1755) verfaßt Friedrich auf französisch und läßt es dann vom italienischen Hofpoeten Tagliazucchi in italienische Verse bringen; vgl. Maehder 1992. Burney 1773, S. 384^, kolportiert folgende Äußerung Friedrichs: »Eine deutsche Sängerin? Ich könnte ebenso leicht erwarten, daß mir das Wiehern meines Pferdes Vergnügen machen könnte!« Einer der ersten offiziellen Akte Friedrichs nach der Thronbesteigung war der Befehl, ein großes Opernhaus zu errichten. Seine persönliche Beteiligung auch an der Produktion von Opern (Anwesenheit bei Proben, Auswahl, Herausgabe oder Verfassen von Libretti, Einflußnahme auf die Vertonung etc.) setzt die tradierte Umgangsweise des Hochadels aus dem 17. Jahrhundert bruchlos fort. Besonders deutlich wird der repräsentative Charakter italienischer Oper an Friedrichs Engagement nach dem Ende des Siebenjährigen Kriegs: Der Glanz eines internationalen Opernlebens, in das er eminente Summen investierte, sollte gerade als »Luxus« demonstrativ die ökonomische Kraft des Staates suggerieren (und die Kriegsschäden überdecken).
Berlin eine stehende deutsche Schaubühne zu errichten, »welche der französischen in allen Stücken ähnlich wäre«, bleibt ohne positive Resonanz; Schönemann zog dann nach Breslau und 1748 nach Schwerin, wo er sich etablieren konnte. Erst 1768 konnte sich eine deutsche Truppe unter Theophil Döbbelin in Berlin seßhaft machen, die dann 1775 das Theatergebäude in der Behrensstraße bezog (errichtet 1771 vom Prinzipal Franz Schuch dem Jüngeren) und zu einer zentralen Instanz des deutschen Musiktheaters wurde, besonders als 1777 Johann Andre die Stelle des Musikdirektors in Döbbelins Truppe übernahm und in der Folge mit erfolgreichen Librettisten wie dem Leipzig Christoph Friedrich Bretzner zusammenarbeitete. Friedrich Wilhelm II. schließlich bricht erneut mit der Tradition seines Vorgängers, fördert entschieden das deutsche Theater und stellt Döbbelins Truppe das frühere französische Komödienhaus am Gendarmenmarkt zur Verfügung, das dann 1786 zum »Königlichen Nationaltheater« aufgewertet wird. Während andere Teile des preußischen Hochadels konservativ bleiben (z. B. Prinz Heinrich in Rheinsberg, der sein Schloßtheater bis Ende des Jahrhunderts überwiegend italienisch und französisch bespielen läßt45), unterstützt der König das deutsche Musiktheater aktiv: Er vergrößert das Orchester des deutschen Nationaltheaters ebenso wie das Ballett und läßt ausgebildete Opernsänger verpflichten. Somit bestehen ab den späten i78oer Jahren in Berlin zwei Opernhäuser nebeneinander: die Hofoper mit ihrem italienischen Repertoire und das »Nationaltheater« mit deutschem Repertoire. Durch die Gunst des Königs und spätestens mit dem großen Erfolg von Mozarts >Entführung< 1789 wird das Nationaltheater in der Publikumsgunst zu einer ernstzunehmenden, phasenweise dominanten Konkurrenz der Hofoper, wobei es intern immer wieder zu Austauschprozessen kommt (J. F. Reichardt schreibt sowohl italienische Opern für das Hoftheater als auch deutsche Werke für das Nationaltheater.) In den i78oer Jahren ist das deutsche Musiktheater auch beim Hochadel salonfähig geworden. Sowohl Joseph II. als auch Friedrich Wilhelm II. interessieren sich neben der italienischen Oper auch sehr für das junge deutsche Repertoire und pflegen es.4 Vgl. Frenzel 1959, S. 98«! Vgl. z. B. Dittersdorfs Lebensbeschreibung, in der er wiederholt von Unterredungen mit beiden Monarchen berichtet und (im Falle seines Erfolgswerks >Doktor und Apotheker«, 1786) auch erwähnt, daß das Werk auf expliziten Befehl beider Monarchen selbst gegeben wurde (Dittersdorf 1799, S. 23off., S. 237, S. 244ff.).
46
höfisches Publikum bedient. Die demonstrative Unterstützung, die dem deutschen Musiktheater zeitweise von allerhöchster Stelle entgegengebracht wird, hängt mit dem von Ute Daniel beschriebenen Prozeß zusammen, in dem die Hoftheater eine neue Funktion als Medium der Außendarstellung für die eigene Bevölkerung erhalten. In Berlin mit seinem gemischten Publikum zeigt sich bei Kochs Truppe, der führenden Musiktheatertruppe, beispielhaft die enge Verbindung von Musik- und Sprechtheater. 1772 führt die Truppe in Berlin erstmals Lessings >Emilia Galotti< auf, und die hochgerühmte erste Emilia-Darstellerin, Karoline Elisabeth Steinbrecher, ist zugleich die berühmteste Singspielsängerin Deutschlands (mit dem Beinamen »die deutsche Favart«). Auch die Uraufführung von Goethes >Götz von Berlichingen< in Berlin leistet Kochs Truppe (1774). Hier verbinden sich die auch durch die Erfordernisse des Musiktheaters verbesserte Bühnentechnik 47 mit der ökonomischen Stabilität, die diese Truppen zeitweise durch das Musiktheater gewonnen hatten, mit der Offenheit für die neuen Entwicklungen, dem gemischten Publikum und der (auch durch das Musiktheater gewonnenen) Fähigkeit, den Anforderungen der neuen Sprechdramatik einigermaßen entgegenzukommen. Nur wenige andere Wandertruppen der Zeit wären in der Lage gewesen, sich überhaupt den extremen bühnentechnischen Schwierigkeiten von Goethes an den theaterpraktischen Gegebenheiten der Zeit insgesamt vorbeikonzipiertem48 Stück zu nähern. 2) Mittelgroße Residenzen mit starker italienischer Operntradition: München,49 Dresden,50 Hannover (seit Übernahme der englischen Krone 1714), Stuttgart/ Ludwigsburg,51 Mannheim 52 (bis 1778) Neben Wien und Berlin unternehmen im 18. Jahrhundert zeitweise auch die beiden führenden mittleren Höfe in Deutschland, Dresden und München, Versuche größerer kultureller Prachtentfaltung von internationaler Ausrichtung. Beiden Staaten gelingt es jedoch nicht, sich dauerhaft als europäische Mächte 47
48
49
50 51 v
Gerade durch das Musiktheater setzt sich z. B. der italienische Kulissenwechsel-Mechanismus auch bei den Wanderbühnen durch (vgl. dazu Maurer-Schmoock 1982, S. 11. S. 2off., S. 46). Dieser aber ist Grundlage auch für Werke wie den >Götz< mit nicht-aristotelischer Struktur und häufigem Schauplatzwechsel. Vgl. Meyer iggob. Auch Koch konnte das Stück nur in der Einrichtung von Karl Lessing spielen. Quellenwerke: Franz Grandaur: Chronik des Königlichen Hof- und Nationaltheaters in München. München 1878; Paul Legband: Münchener Bühne und Litteratur im 18. Jahrhundert. München 1901-1904; Karl Trautmann: Deutsche Schauspieler am bayerischen Hofe. In: Jb. f. Münchener Geschichte 3 (1889), S. 259—430. Quellenwerk: Fürstenau 1862. Quellenwerke: Sittard 1891, Krauss 1908. Quellenwerke: Pichler 1879; Walter 1899; weitere Literatur bei Krebs 1983. Vgl. a. Fambach
zu etablieren, wie die Niederlagen Augusts des Starken im Nordischen Krieg oder von Max Emanuel im Spanischen Erbfolgekrieg belegen.53 Die repräsentativ bedingte, internationale Ausrichtung auch dieser Höfe verhindert zunächst auch hier ein Interesse für das nicht zum höfischen Kulturbereich gezählte deutschsprachige Musiktheater. Die Präferenz liegt hier bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts eindeutig bei italienischer Oper und französischem Theater. Deutsches Theater und Musiktheater wird zunächst höchstens als Konzession an die außerhöfische Bevölkerung geduldet, aber nicht unterstützt. Ein typisches Bild bietet der Württembergische Hof. Trotz der starken Ausstrahlung, die der Hof durch seine international ausgerichtete Repräsentationskultur in den i75oer Jahren gewonnen hatte, mußte Carl Eugen nach dem Siebenjährigen Krieg sowohl das französische Schauspiel als auch die berühmte Ballett-Compagnie J.-G. Noverres auflösen; die italienische Oper wurde dagegen beibehalten, wenngleich verkleinert und nach dem Rücktritt Jommellis 1769 ohne europäischen Glanz. Dieses Verhalten ist typisch für die mittleren Höfe: Die italienische Oper, obgleich der teuerste Bereich des Hoftheaters, kann sich meist besser behaupten als Schauspiel oder Ballett; zu hoch ist die Bedeutung der Oper für die Außendarstellung des Hofes und für seine innere Kommunikation. Wegen dieser Dominanz der italienischen Oper kann sich das deutsche Musiktheater in Stuttgart nur schwer und gegen Widerstände etablieren. Erst mit Regierungsantritt von Friedrich Eugen (1795) kann von einer endgültigen Durchsetzung des deutschen Musiktheaters gegen das italienische gesprochen werden.54 Die mittleren Residenzen mit ihrer starken italienischen Operntradition verhalten sich in der Regel restriktiv gegenüber dem deutschen Musiktheater. Nur wenn in finanziellen Krisenzeiten die italienische Oper geschlossen werden muß (z. B. in Dresden 1778/79), tragen auch diese Residenzen zum deutschen Musiktheater bei — in Dresden z. B. durch die beiden in Italien ausgebildeten Hofkapellmeister Joseph Schuster55 und Franz Seydelmann.56 Als in Dresden jedoch die italienische Oper restituiert wird, bricht (anders als z. B. in Wien) die deutsche Tradition sofort ab. Am ultrakonservativen sächsischen Hof hält sich dann die demonstrative Bevorzugung der italienischen Oper bis in die i82oer Jahre.57 In München ändert sich die Situation durch den Machtantritt des Pfälzischen Kurfürsten Karl Theodor, der 1778 aus Teilen seines Mannheimer Hoftheaters (das als »National-Theater« bereits über eine, wenngleich noch be53
Bauer 1993, S. n8f.
54
Vgl. H. Kindermann: Theatergeschichte Europas. Bd. 4. Salzburg 1961, S. >Der Alchymist< (A. G. Meißner, 1778), >Die wüste Insel« (nach Metastasio, 1779). >Arsene< (A. G. Meißner, 1779). Anläßlich der Anstellung Carl Maria v. Webers formulierte die »Höchste Behörde« den »Zweifel«, »[] ob die sofortige Herstellung einer vollständigen deutschen Oper würcklich dringendes Bedürfnis sei?« (Brief des Intendanten Vitzthum an Weber vom 8.8.1816, zit.n. Nieder 1988, S. 8).
55 5ft 57
73
scheidene, deutschsprachige Musiktheatertradition verfügte; s.u. 11.5) und den in München aktiven Bühnen 1778 eine »Nationalschaubühne« unter der Leitung des Grafen von Seeau bildete. Eröffnet wurde diese »Nationalschaubühne«, zu der es in München seit 1765 verschiedene Anläufe gegeben hatte, demonstrativ mit dem ersten deutschen »ernsthaften Singeschauspiel«, mit Schweitzers >Alceste< nach Wieland (s.u. II.2). In einem zweiten Schritt wurde 1787 die italienische Oper in München aufgelöst. Das zuvor italienisch dominierte Musiktheater Münchens erhielt durch den Zuzug der Mannheimer neue Impulse: Mit Franz Danzi und Peter [von] Winter kamen nun Komponisten nach München, die schon im Bereich des deutschsprachigen Musiktheaters gearbeitet hatten; daneben wirkte der Amateurkomponisten Johann Lukas Schubaur überaus erfolgreich. In den I78oer Jahren fand zudem das Wiener Singspiel Mozarts und Dittersdorfs in München Eingang.58 Anders als in Mannheim aber wurde das neue Nationaltheater schnell zum politischen Streitobjekt verschiedener Parteien. Karl Theodor, der erstmals seit 1329 wieder sämtliche Wittelsbachischen Gebiete unter seiner Herrschaft vereinigte, plante, Oberund Niederbayern gegen die Österreichischen Niederlande einzutauschen, um so seinen heterogenen und zersplitterten Landbesitz besser verwalten zu können. Im Gegensatz zur Pfalz stand ihm jedoch in Bayern eine Ständevertretung gegenüber, die einen großen Teil der Staatseinnahmen kontrollierte und diese Tauschabsichten entschieden ablehnte. Unterstützt wurde die Ständevertretung dabei von der bürgerlichen Publizistik (z. B. von dem Historiker und Schriftsteller Lorenz von Westenrieder), die sich gegen diese Tauschabsichten stellte, ein spezifisch bayerisches, territoriales Nationalbewußtsein artikulierte und solches auch von einem bayerischen »Nationaltheater« einforderte. In dieser Konstellation geriet das vom Hof getragene Nationaltheater sofort zwischen die Fronten. Während es den Bayern nicht national (im Sinne von national-bayrisch) genug war, war es dem Kurfürsten bereits zu patriotisch eingestellt.59 So ließ Karl Theodor die in München beliebten Ritterstücke aus der bayerischen Vergangenheit (über Agnes Bernauer oder Otto von Wittelsbach6°) kurzerhand verbieten, obwohl sie zu den einträglichsten Produktionen 58
59
60
74
Nach dem Amtsantritt von Max Joseph wird die deutsche Tendenz jedoch wieder eingegrenzt; am 3.5.1805 verfügt der Kurfürst, künftig seien wieder zwei große italienische Opern pro Jahr zu geben. Vgl. Grandaur 1878, S. 61. Vgl. ergänzend Werner Konrad: Patriotendrama — Fürstendrama. Über Anton Nagels »Bürgeraufruhr in Landshut< und die bayerischen Patriotendramen der frühen KarlTheodor-Zeit. Frankfurt a.M. u.a. 1995 (Regensburger Beitr. zur dt. Sprach- u. Lit.wiss. 57). Anläßlich einer Aufführung von J. M. Babos Stück 1781 erhob der Kurfürst den Vorwurf, auf dem Theater würden »aus der bairischen Histori, solche Thaten, welche dem Churhaus zu keiner Ehre gereichen«, verbreitet (vgl. Koopmann/Frankenberger (Hg.) 1992, S. 124; dort auch Hinweise auf weitere »vaterländische Schauspiele« der Zeit in Bayern).
des Theaters zählten und auch in Mannheim mit großem Erfolg gegeben werden durften. Die bürgerliche Publizistik in München sprach daraufhin »unserem fälschlich sogenannten Nationaltheater« seine Legitimation und Berechtigung ab, da es nur »für einen bloßen Zeitvertreib des Hofes und des müßigen Theils unseres Publikums« diene. Anders als in Mannheim sahen die bürgerlichen Autoren die höfische Kontrolle des Nationaltheaters als zu bekämpfendes Übel an. In München entwickelte sich eine im Vergleich zu anderen Residenzstädten einmalige Opposition aus Adeligen und Bürgerlichen gegen den Kurfürsten, die das Theater in ein nationales Programm gegen die dynastischen Pläne des Herrschers einbinden wollte. Der Kurfürst reagierte autokratisch: 1791 wird die Theaterzensur in München eingeführt, 1794 werden dann die zahlreichen Hüttentheater, Träger der Volkstheatertradition, verboten. Als sich die Zensurmaßnahmen auf dem Land als wirkungslos erwiesen, wurden 1798 alle Aufführungen von Wandertruppen verboten.6' In den mittleren Residenzen zeigt sich, daß der Hof erheblich höheres Gewicht in der jeweiligen Residenzstadt hat als in den großen Zentren. In der Regel verhalten sich die mittleren Höfe konservativ, fördern das deutsche Musiktheater nicht und lassen es allenfalls in vorübergehenden, durch finanzielle Notlagen erzwungenen Phasen als Notlösung zu, die sich dann entweder halten kann (Stuttgart) oder nicht (Dresden). Eine Ausnahme bildet Mannheim bzw. München, wo das Hoftheater als typisches Element der Außendarstellung des Kurfürsten an die eigene Bevölkerung benutzt wird, was in Mannheim gelingt, in München scheitert. 3) Kleinere Residenzen: Weimar,62 Gotha,6' Oels,64 Ansbach, Kassel/'5 Dessau,66 Darmstadt, Coburg, Hildburghausen,67 Regensburg u.a. Zahlreiche kleinere Residenzstädte oder auch Nebenresidenzen gehören etwa ab den I77oer Jahren zu den entscheidenden Trägern des deutschsprachigen Musiktheaters, v. a. dann, wenn an diesen Höfen bisher noch keine eigenen Theater-Ensembles tätig waren. Musterbeispiele sind Weimar und Gotha in den I77oer Jahren, das schlesische Oels ab 1793 bis 1805, das in jener Zeit
01 62
6i 64 65 66 n7
Vgl. Koopmann/Frankenberger (Hg.) 1992, S. 119. Quellenwerke: Burkhardt 1891; Leonhard Schrickel: Geschichte des Weimarer Theaters von den Anfängen bis heute. Weimar 1928; Gisela Sichardt: Das Weimarer Liebhabertheater unter Goethes Leitung. Weimar 1957; Linder 1990. Einen guten Überblick bietet auch der Beitrag von Oscar Fambach: Ein bisher unerkannter Goethescher Theaterbericht. In: JbFDH 1966, S. 119-164. Quellenwerke: Hodermann 1894; Schlösser 1895. Vgl. Frenzel 1959, S. 178(1". Vgl. Brennecke 1959. Vgl. Prosky 1885. Vgl. Frenzel 1965,8. i 3 6ff.
75
Herzog Friedrich August von Braunschweig gehörte, oder Sagan,68 Nebenresidenz des Herzogs Peter von Kurland, von 1786 bis 1818. Sie integrieren das deutsche Musiktheater in ihre Hoftheater. In Weimar kann die Truppe von Koch 1768—1770 nach ihrer Vertreibung aus Leipzig vorübergehend seßhaft werden, anschließend die Truppe von Seyler; Gotha übernimmt nach dem Brand des Weimarer Hoftheaters 1774 Teile der Wandertruppe von Seyler/ Ekhof in die Seßhaftigkeit (bis 1779). In Weimar läßt sich nach dem Neubau des Hoftheaters die Truppe von Josef Bellomo nieder (1784—91), Oels beschäftigt zunächst die Truppe von Wäser aus Breslau. Das deutschsprachige Musiktheater bietet diesen kleinen, politisch weitgehend unbedeutenden Residenzen die Möglichkeit, an die repräsentative Prachtentfaltung der größeren Höfe anzuknüpfen, ohne die hohen finanziellen Aufwendungen für teure italienische oder französische Truppen aufbringen zu müssen. Die kleineren Höfe lassen mit den seßhaft gewordenen deutschen Truppen auch die Nebenzentren ihres Gebiets bespielen oder betreiben Repräsentation in benachbarten Gebieten.69 In vielen dieser kleinen Residenzstädte spielt auch der Typus des adeligen und/ oder bürgerlichen Liebhabertheaters70 eine nicht zu unterschätzende Rolle (z. B. in Weimar, wo Goethe eine derartige Gruppe nach dem Brand des Schloßtheaters leitet, oder in Dessau; in Darmstadt, Meiningen oder in Coburg stellten die Herzöge das Schloßtheater diesen Gruppen zur Verfügung; 7 ' in Seefeld bei München unterhält Graf Törring-Cronsfeld ein eigenes Theater). Doch auch sonst spielen die Adeligen in den Städten eine bedeutende, wenn nicht entscheidende Rolle für das dann auch von Bürgerlichen genutzte Theater: Musterbeispiel dafür ist das Mannheimer Nationaltheater nach Abzug des Hofes, das nur durch die Initiative des Freiherrn von Dalberg überhaupt wieder errichtet wird und von diesem (unter Einsatz eigenen Vermögens) geleitet und etabliert wird. 72 Ähnliches gilt etwa für Innsbruck, wo 1774 ein stehendes Theater auf Initiative des lokalen Adels und unter adeliger Impresa (unter der Leitung des Grafen Ferrari) eingerichtet wird, aus dem sich dann später das stehende bürgerliche Theater entwickelt. 73 Die Höfe stellen den deutschen Wandertruppen die gesamte Infrastruktur der Hoftheater einschließlich der Hofkapelle zur Verfügung.74 Damit verändert 68 69
70
71 72 7)
Vgl. Frenzel 1959, S. iSiff. Im Falle Weimars sind z.B. Aufführungen in Halle, Leipzig, Erfurt, Rudolstadt, Naumburg und Lauchstädt dokumentiert; vgl. Burkhardt 1891, bes. S. 1 — 104. Der Gothaer Herzog Ernst II. läßt von Gotha aus 1775 auch Altenburg bespielen (vgl. Frenzel 1965, S. I24ff.). Vgl. den Beitrag »Von gesellschaftlichen Bühnen« im Gothaer Theater-Kalender 1781, S. 107-114. Vgl, Frenzel 1965, S. 94f£, i4of. Vgl. Krebs 1985. Vgl. Simek 1985, S. I46ff., S. 232. Uncer Ferraris Intendanz wurden die Gehälter der Schauspieler verdoppelt, ein Theaterarzt angestellt und freie Arzneimittelversorgung für die Bühnenangestellten eingeführt.
die Aufnahme des deutschsprachigen Musiktheaters an den kleinen Höfen auch dessen Inhalte und Strukturen. Davon wird unten ausführlich anläßlich der Versuche Wielands und Goethes die Rede sein. Welcher Kunstrichtung dabei der Vorrang gegeben wird, ist stets von den jeweiligen Traditionen sowie der Figur des Landesherren und dessen Vorlieben abhängig. Auch in Weimar oder Oels brechen die Traditionen beim Herrscherwechsel oft schnell zusammen.75 Andere, vergleichbare Residenzen zeigen am Musiktheater kein Interesse (z.B. Kassel) oder fördern primär andere Künste (die Schönborns etwa die Architektur). Daneben existiert im späten 18. Jahrhundert unter den kleineren Residenzen ein völlig anderer, eher »hausväterlicher« Typus weiter, der keinerlei Interesse für kulturellen Glanz zeigt. Diese Höfe orientieren sich an der »Hausväterliteratur« und lehnen es ab, »den eitelweltlichen Prunk des Hofes auf Kosten der besteuerten Bevölkerung über Gebühr zu mehren.« 70 Andere Höfe sind derart überschuldet, daß sie überhaupt keinerlei Theater mehr zulassen; dies gilt etwa für Coburg, wo ab 1764 mit wenigen Ausnahmen nur Schulkomödien gespielt werden dürfen. 77 4) Große Handels-/Messe-/Hanse-Städte: Leipzig,78 Frankfurt a. M.,79 Hamburg,80 Bremen, Nürnberg,8' Prag, Breslau, Straßburg, Graz, Frankfurt a. d. Oder, Danzig, Königsberg, Lübeck, Rostock Messestädte mit regem Buchhandel gehören zu den frühesten Zentren des neuen deutschsprachigen Musiktheaters. Ihre relativ hohe Mischung unter74 75
76
77
7ti
79
80
Vgl. Meyer 19803, S. 146. Kennzeichnend sind kurzlebige Phänomene wie das Schloßtheater in Schwedt, wo der Markgraf Heinrich ab 1773 überwiegend deutsches Musiktheater spielen läßt. Im Volksmund wurde das Theater als »Operettentheater« bezeichnet. Beim Tod des Markgrafen (ohne männliche Erben) fiel Schwedt 1788 an Kurbrandenburg zurück, das Theater wurde auf königlichen Befehl geschlossen. Vgl. Frenzel 1959, S. i22ff. Bauer 1993, S. 69. Beispiele wären z. B. Bentheim-Tecklenburg, die Reußischen Höfe oder die fränkischen Duodezhöfe; ein extrem pietistisch ausgerichteter Hof existierte z. B. in Wernigerode. Vgl. Harald Backmann/Jürgen Erdmann (Hg.): 150 Jahre Coburger Landestheater. FS Coburg 1977, S. ogf.; 1777 bis 1780 wird keine einzige Spielerlaubnis für »liederliche Comoedianten-Bande« erteilt. Quellenwerke: Blümner 1818; Karl Theodor v. Küstner: Rückblick auf das Leipziger Stadttheater. Ein Beitrag zur Geschichte des Leipziger Theaters. Leipzig 1830; vgl. a. Schering 1941 und Fritz Hennenberg: 300 Jahre Leipziger Oper. Geschichte und Gegenwart. München 1993. Quellenwerke: Mentzel 1882; Anton Bing: Rückblicke auf die Geschichte des Frankfurter Stadttheaters von dessen Selbständigkeit (1792) bis zur Gegenwart. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1892—96; Albert Richard Mohr: Frankfurter Theater von der Wandertruppe zum Komödienhaus. Frankfurt a. M. 1967. Daneben ist die Theaterzettelsammlung der Stadtund Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. bedeutend, die auch auf Mikrofilm vorliegt. Quellenwerke: Schütze 1794; Carl Lebrün: Geschichte des Hamburger Theaters, von seiner Entstehung an bis zum Jahre 1817. In: Jahrbuch für Theater und Theater-
77
schiedlicher Bevölkerungsgruppen, die durch Handel und Messe, z.T. zusätzlich durch Universitäten mit ihrer wechselnden Studentenschaft verstärkt wurde, gab einen guten Boden für die Wanderbühnen mit ihrem vielfältigen und gemischten Angebot ab, gerade in Messezeiten. Zudem wurden durch den prosperierenden Buchhandel, der sich meist in den großen Messestädten konzentrierte, auch deutsche Libretti, später auch Klavierauszüge hier schneller bekannt und verbreitet als andernorts. In den Messestädten fehlt in der Regel die italienische Opera seria. Dagegen sind schon früh auch französische (Frankfurt a. M.) oder italienische Wandertruppen aktiv und verbreiten die komischen Formen des französischen und italienischen Musiktheaters, die dann auch in deutschen Übersetzungen viel gespielt werden. Daran können nach dem Siebenjährigen Krieg, der v. a. in Mittel- und Norddeutschland die Wanderbühnentraditionen weitgehend zum Erliegen brachte, die neuen deutschen Formen anknüpfen. Leipzig wird das erste große Zentrum des neuen deutschsprachigen Musiktheaters, zunächst gefolgt von vergleichbaren Handelsstädte. Allerdings ändert sich dies im Prozeß der Seßhaftwerdung, in dem die Messestädte schnell ihre führende Rolle an die Hof- bzw. »National«-Theater verlieren. Denn die meisten Handelsstädte haben zunächst kein Interesse an der Errichtung stehender städtischer Theater, was — entgegen verbreiteten Klischees — keine Frage der Finanzkraft ist, denn einzelne Messestädte wie Zürich, Frankfurt a. M. oder auch Hamburg gehörten zu den wohlhabendsten Gebieten im Reich. Theater gilt jedoch in weiten Teilen des Stadtbürgertums eher als ein in Messezeiten notwendiges Übel denn als Bestandteil einer bürgerlichen Öffentlichkeit^ Grundsätzlich kann keineswegs von einem generellen Interesse der städtischen Verwaltungen oder Oberschichten für Theater und Musiktheater ausgegangen werden. Einzelne theaterfreundliche Magistrate (wie z. B. der Breslauer), die im Privilegien- und Abgabewesen den Wandertruppen entgegenkommen, bilden die Ausnahme; andere Städte betreiben eher eine Behinderungspolitik durch Abgabenforderungen und restriktive Auflagen (z.B. Nürnberg oder auch der Hamburger Magistrat, der zeitgleich zur Eröffnung des Nationaltheaters einer französischen Konkurrenztruppe Spielerlaubnis erteilt). Erst ganz am Ende des Jahrhunderts kommt es zu einzelnen städtischen Theaterbauten, die aber dann kein Gegenmodeü zu den höfischen Theatern anstreben, sondern diese imitieren (und somit deren führende Position bestätigen). Auch die reichen Handels- und Messestädte entwickeln keine eigene Theater-Konzeption; wie schon architektonisch sichtbar freunde, Bd. i. Hamburg 1841, S. 56-362; Ludwig Wollrabe: Chronologie sämtlicher Hamburger Bühnen. Hamburg 1847. Quellenwerke: Theodor Hampe: Die Entwicklung des Theaterwesens in Nürnberg von der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bis 1806. Nürnberg 1900; Ernst-Friedrich und Gisela Schultheiß: Vom Stadttheater zum Opernhaus. 500 Jahre Musiktheater in Nürnberg. Nürnberg 1990. 78
wird, übernehmen sie bestenfalls den Typ des Hoftheaters,82 dessen System getrennter Logen und Stiegenhäuser nur einen Wechsel vom Geburts- zum Geldadel erfährt. Meist aber halten sich die städtischen Verwaltungen ganz heraus und gestatten lediglich die Errichtung stehender Theater (oder die Umwidmung bestehender Gebäude) durch private Betreiber unter zahlreichen Auflagen. Immer wieder ist in den Quellen auch von Beschwerden der anwohnenden Bürger gegen die »Ruhestörung« durch das Theater zu lesen. Der großspurige Titel »Nationaltheater«, den zahlreiche städtische Theater erhalten, folgt Ende des Jahrhunderts einer Mode und bedeutet nur in seltensten Fällen ein inhaltliches Konzept. Vom Theater als Medium einer sich formierenden einheitlichen bürgerlichen Öffentlichkeit kann im 18. Jahrhundert keine Rede sein.83 Die ständigen Behinderungen und Anfeindungen aus bestimmten bürgerlichen Kreisen, zu denen in Leipzig speziell noch die theaterfeindliche Haltung der Universität hinzukommt (s. u.), führen dazu, daß Leipzig nach dem Abzug der Wandertruppen, die dann an kleinen Höfen seßhaft werden, sehr schnell absolut bedeutungslos für die weitere Entwicklung des Musikthearers wird und bald von der Residenzstadt Dresden aus bespielt wird. 5) Kleinere städtische Zentren Das Beispiel Mannheims nach dem Abzug der Residenz 1778 zeigt, daß selbst mittlere Städte, die weder als Residenz- noch als Handelszentren fungieren, in der Regel kein Theater halten konnten, selbst wenn sie wollten.84 Es bedurfte eines mühevollen Kampfs der verbliebenen aristokratischen Oberschicht, um den Kurfürsten zur Errichtung eines Theaters als Kompensation für die weitgehende Verarmung der Stadt zu bewegen, was als großer Sonderfall zu gelten hat. Auch dann aber kann im Musiktheater das Niveau nicht gehalten werden: Durch den Wegzug der besten Teile des Orchesters und der Darsteller können 8j
84
Vgl. dazu Susanne Schrader 1988: Architektur der barocken Hoftheater in Deutschland. München 1988 (Beiträge zur Kunstwissenschaft 21); Matthes 1995. Schrader zeigt den Wandel vom Einbau des Theaters in den Hof im 17. Jahrhundert zum freistehenden Gebäude mit funktionsspezifischer Außenarchitektur ab 1742 (z.B. Berliner Opernhaus). Im Theaterbau bleibt jedoch bis nach 1800 der typische, außerordentlich tiefe Bühnenraum erhalten, der für die barocken Prunkopern notwendig gewesen war. Auch innerhalb der bürgerlichen Meinungsführer ist das Musiktheater keineswegs unumstritten. Gerade die Anhänger eines »reformierten« Theaters stehen dem neuen Massenphänomen kritisch gegenüber. Das Hamburger Nationaltheater (1767 — 69) verhielt sich ablehnend gegenüber dem neuen Phänomen des Musiktheaters und setzte stattdessen zu Beginn auf das ernste Sprechschauspiel; sein kommerzieller Mißerfolg und damit das Scheitern der gesamten »entreprise« stehen auch damit in Zusammenhang; vgl. Eigenmann 1994. Zu Mannheim nach 1779 vgl. das Material bei Max Martersteig (Die Protokolle des Mannheimer National theaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. Mannheim 1890) sowie jetzt umfassend Daniel 1995, S. 180-269. 79
Opern und Singspiele immer weniger gegeben werden, da aus finanziellen Gründen kein adäquater Ersatz eingestellt werden kann.85 Auch für die Wanderbühnen werden Städte unterhalb der Größe Mannheims für aufwendigere Musiktheaterproduktionen zunehmend uninteressant, sofern sie nicht als Wechsel- oder Nebenresidenzen fungieren (wie z.B. Erlangen oder Neuwied). Selbst größere Manufakturstädte (die oft rechtlich gar keine Städte sind wie Fürth oder Krefeld) weisen trotz z.T. erheblicher Bevölkerungszahl86 faktisch kein Theaterleben auf. 6) Universitätsstädte: Halle, Gießen, Göttingen, Marburg, Altdorf, Helmstedt, Wittenberg Die Universitätsstädte bilden einen Sonderfall, da in ihnen die Spielerlaubnis für Wanderbühnen meist vom Votum der Professorenschaft abhängig ist, die besonders in den theologischen Fakultäten das Theater überwiegend als moralisch schädlich beurteilt.87 Universitätsstädte mit starker Dominanz der protestantischen Orthodoxie oder pietistischer Strömungen versuchen wiederholt, Theateraufführungen in Universitätsstädten generell verbieten zu lassen. Kerngebiet der Theaterfeindlichkeit ist im 18. Jahrhundert Halle, das Zentrum der Pietisten.88 1744 schickte das dortige akademische Konzil einen Immediatbericht an den preußischen König und forderte, daß Halle von Komödianten und »dergleichen Leuthen gäntzlich verschonet bleiben«89 möge. Allerdings kann die Universität im letzten Drittel des Jahrhunderts nicht mehr verhindern, daß sich auch in Halle ein Theaterleben mit Musiktheater entwickelt.
85
86
87
88
89
80
Vgl. Daniel 1995, S. 22of. Darin liegt der Grund für das erhöhte Gewicht des Sprechtheaters in Mannheim, nicht etwa in inhaltlichen oder ästhetischen Gründen. Fürth etwa hatte bereits 1750 knapp 10.000 Einwohner, eine Zahl, die etwa Bonn erst 1790 erreichte. Theaterbühne und Kanzel stehen in ihrer Öffentlichkeitswirkung in direkter Konkurrenz. Dies wird noch im späten 18. Jahrhundert unter verwandelten Bedingungen deutlich, wenn etwa J. J. Engel 1786 die Frage diskutiert, »ob der geistliche Redner sich nach dem Schauspieler bilden, ob er Ton und Bewegung desselben nachahmen dürfe?« (Engel 1786 [ed. 1804], Tl. 2, S. I23ff.) Das Rollenverhältnis hat sich ins Gegenteil verkehrt: Aus dem Schauspieler als illegitimem Konkurrenten ist das potentielle Vorbild für den Prediger geworden. Vgl. Günter Meyer: Universität gegen Theater. Hallisches Theater im 18. Jahrhundert. Emsdetten 1950 (Die Schaubühne 37; Diss. Köln 1949); Wolfgang Martens: Officina Diaboli: Das Theater im Visier des halleschen Pietismus. In: Martens 1989, S. 24-49. Auf eine spätere Eingabe reagierte der König: »Da ist das geistliche Mukerpak schuldt dran. Sie Sollen Spillen, und Herr Franke, oder wie der Schurke heißet, Sol darbei Seindt, umb die Studenten wegen seiner Närischen Vohrstellung eine öfentliche reparation zu thun, und mihr Sol der atest vom Comedianten geschicket werden, das er dargewesen ist« (zit. n. Maurer-Schmoock 1982, S. 108 Anm. 12).
Aber auch in Leipzig klagten die Vorstände der Universität 1768 erfolgreich beim Kurfürsten »wider die überhandnehmende Comödie«, vertrieben dadurch vorübergehend Kochs Truppe90 und sorgten nach den großen Erfolgen des frühen Singspiels bald dafür, daß gerade Leipzig keinen Boden mehr für die neue Gattung bot; allerdings erreichte die gesammelte Kaufmannschaft 1769 eine Aufhebung des Beschlusses. Hier zeichnen sich zwei konträre Positionen innerhalb der führenden »bürgerlichen« Schichten ab: Die Universität befürchtet konkret, daß sie gegenüber anderen Universitäten in schlechten Ruf kommt, also Studenten (und damit Geld) verliert,91 während die Kaufleute umgekehrt auf die Attraktion des Theaters für die Messen setzen. Der Sieg der Kaufmannschaft signalisiert eine Machtverlagerung: Durchsetzbar war ein Theaterverbot allenfalls noch in reinen Universitätsstädten. 1769 erhielt Abel Seyler ein großzügiges Privileg für das Königreich Hannover, das für die »vornehmsten Städte des Churfürstenthums« galt »mit Ausnahme von Göttingen, welches als Universitätsstadt von der Pest deutscher Komödie fürder durchaus gehütet bleiben« sollte.92 In Göttingen wurde in den Jahren 1746—1784 überhaupt nur siebenmal eine Spielerlaubnis an Wandertruppen erteilt; ähnliches gilt für Marburg oder Altdorf.93 In Gießen hatte der Professor Christian Heinrich Schmid ein Lobgedicht auf Mitglieder der Wandertruppe Konrad Ekhofs verfaßt, »ein Unterfangen, welches ihm als Entweihung der Feder< vom Universitätsrector so übel genommen wurde, daß eine gerichtliche Belangung [] darauf erfolgte.«94 Noch 1792 erhält der Prinzipal Johann Karl (Jean) Tilly die Spielerlaubnis für das gesamte Herzogtum Braunschweig — mit Ausnahme der Universitätsstadt Helmstedt.95 90 91
92
9i 94 95
Vgl. Schmid 17753, S. 17if., sowie Peiser 1894, S. 5of. Aus der Eingabe der Universität (»Rector, Magistri und Doctores«) am 18.4.1768: »Und können Ew. Königl. Hoheit wir nicht verhalten, daß darüber von den Eltern oft große Klage geführet worden, auch mehrere sich gegen verschiedene der unsern schriftlich erkläret haben, daß sie ihre Kinder aus Furcht für der Gefahr und allzugroßem Aufwand hieher zu schicken Bedenken tragen müßten, wie es denn auch nicht an auswärtigen Universitaeten, wo dergleichen Lustbarkeiten und Comoedien nicht geduldet werden, an Leuten fehlet, welche sich dies zu Nuze machen, unsere Universitaet in üblen Ruf zu bringen, und die Studierenden an sich zu locken.« Komödien, Operetten und Konzerte sollten daher »künftighin an keinem derer Tage, welche für die ordentlichen und großen Collegia über die Disciplinen bestimmt sind, als Montags, Dienstags, Donnerstags und Freytags, gehalten werden« dürfen — eine Bedingung, die den Unterhalt einer Wanderbühne unmöglich machte (zit. n. Peiser 1894, S. 50). Zit. n. Hermann Uhde: Konrad Ekhof. In: Rudolf Gottschall (Hg.): Der Neue Plutarch. Biographien hervorragender Charaktere der Geschichte, Literatur und Kunst. 3. Teil, Leipzig 1876, S. 174^ Schimpf 1988, S. 42. Uhde 1876 [wie Anm. 92], S. 188. [Stadt Braunschweig (Hg.)] 1990, S. 335f. 8l
Gründe für die Eingaben der Universitäten waren offiziell Befürchtungen über Unordnungen, »Distraction« und Müßiggang bei den Studenten. Daneben werden aus dem Bereich der »Staats- und Polizey-Wissenschaft« gelegentlich auch ökonomische Argumente bemüht, so noch 1788 etwa von Johann Heinrich Jung (s.o.). Dahinter stehen jedoch letztlich wohl Probleme angesichts der unliebsamen Konkurrenz einer völlig anders gearteten Öffentlichkeitserzeugung durch das Theater, das für die Monopole von Universität und Kirche offenbar nicht ohne Grund als gefährlich betrachtet wurde. Die Wandertruppen entwickelten z.T. jedoch Gegenstrategien. Im Bereich der Melodramen, die keinen großen szenischen Aufwand erforderten, wurde das Theaterverbot in Universitätsstädten gelegentlich dadurch umgangen, daß die Truppen ihre Aufführungen als Konzerte ausgaben, die keine Konzession erforderten.96 7) Geistliche Zentren: Würzburg, Regensburg, Bamberg, Kurköln-Bonn, Münster, Mainz, Passau Die Haltung der Geistlichkeit wird meist als generell theaterfeindlich beschrieben.97 Dies kann so nicht völlig bestätigt werden. Geistliche Residenzen zeigen im 18. Jahrhundert weitgehend das gleiche kulturelle Verhalten wie vergleichbare weltliche Residenzen.98 So unterscheidet sich der Erzbischof Max Friedrich in Kurköln-Bonn mit der Festanstellung der Truppe von G. F. W. Großmann 1779 kaum von den weltlichen Residenzen in Gotha oder Weimar. Theaterfeindlich sind in erster Linie die orthodoxen protestantischen Strömungen in Mittel- und Norddeutschland, besonders der Pietismus (s.o.) sowie der Calvinismus.99 Hier wird Theater überhaupt in den Predigten als Blendwerk der Hölle verdammt, als Hurengarten und Satanskapelle, als von der Pest infiziertes Haus, als Bildersaal voll ärgerlichster Schildereien, und was das Arsenal der barocken Rhetorik noch alles hergibt;100 Sakramentsverweigerungen 96 97 98 99
100
82
Vgl. Schimpf 1988, S. 42f. mit Belegen aus Göttingen oder Jena. Z. B. Maurer-Schmoock 1982, S. io7ff. Bauer 1993, S. 77. Vgl. dazu die Fallstudie von Brunnschweiler 1989 zu Zürich. — Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch daran, daß die Puritaner in England 1642 alle Theater schließen ließen, was zur Reisetätigkeit englischer Wandertruppen in Deutschland führte und für die Entwicklung des deutschen Theaters außerhalb der Höfe wichtig wurde. Vgl. Löwens Brief über Goeze an Klotz (1770?), zit. n. Maurer-Schmoock 1982, S. 109 Anm. 16. — Die theaterfeindlichen Argumentationen im protestantischen Bereich halten sich bis ins späte 19. Jahrhundert. So kann noch Richard Wagner sie in seinem Kampf gegen die »frivole« französisch-italienische Oper reaktivieren: »Dieses Theater, vor welchem mit sehr richtigem Blicke die protestantischen Geistlichen des vorigen Jahrhunderts wie vor einer Schlinge des Teufels warnten [ ].« (Richard Wagner: Deutsche Kunst und Deutsche Politik [1867/68]. In: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Leipzig 2i888, Bd. 8, S. 62).
gegenüber Angehörigen der Theater sind üblich. 101 Spielgenehmigungen werden in diesen Bereichen nur äußerst restriktiv erteilt und sind von Zensurbestrebungen und starker Kritik aus der Geistlichkeit begleitet.102 Diese Kritik begegnet auch in anderen Zentren (z.B. in Hamburg [Goeze] oder in Berlin103), kann sich dort aber nicht so durchsetzen104 wie in den kleineren geistlichen Zentren in Norddeutschland. Die radikalste Gegenposition zum Theater nehmen (neben den Calvinisten in der Schweiz) die Herrnhuter Brüdergemeinden ein. 105 Dies aber ist keine spezifische Ablehnung des Musiktheaters, sondern trifft nahezu alle Künste. Die theologisch motivierte Kritik v. a. seitens der Pietisten hat gravierende Folgen für die Theatertheorie im protestantischen Bereich. Die Stilisierung des Theaters zur moralischen Anstalt durch die protestantischen Aufklärer kann, wie bei Gottsched gut zu beobachten ist, als direkter Reflex dieser theologischen Kritik angesehen werden (s.u. III.i). Auf katholischer Seite begegnet man dem Musiktheater zunächst offener. So wurden z.B. im Stiftstheater Kremsmünster in den lyyoer Jahren nahezu alle
101
So berichtet etwa Plümicke 1781 von der Prinzipalin Veltheim: »Dabei sich zutrug, daß als daselbst die Veitheimische Wittwe in ein hitziges Fieber gefallen, und aus Angst ihres bösen Gewissens und Furcht des vor Augen schwebenden Todes, sich wegen ihrer sündlichen Profession mit Gott versöhnen wollte, und das heil. Abendmal verlangte, da wolte kein Prediger das Heiligthum dieser Hündinn geben, ehe und bevor sie an Eides statt angelobet, diese unseelige Lebensart künftighin gänzlich zu quittiren, dafern aus ihrem Siechbette ein Siegberte werden sollte. Welches letztere zwar auch geschehen; aber sie hat ihr Wort schlecht gehalten, sondern ist bald wiederum revertiret.« Bemerkenswert ist hier nicht nur das Berichtete, sondern auch der implizite Standpunkt des Berichtenden (Plümicke 1781, S. 81). Ähnliche Beispiele sind bis Mitte des Jahrhunderts Legion. Zur Verfemung des Theaters durch die Kirche vgl. a. Schwedes 1993, S. I77ff. 102 Schmid berichtet 1772: »Bey Herrn Döbbelins vorjährigem Aufenthalt in Magdeburg hatte sich ein neuer Streit über die Sittlichkeit der Bühne erhoben, welcher sich erst in diesem Jahre endigte.« (Schmid 17753, S. 210). 103 In Berlin intervenierte die Geistlichkeit vor dem ersten Auftritt des Prinzipals und bekannten Hanswurstdarstellers Franz Schuch 1754, worauf dieser gesagt haben soll: »Mein Herr Probst, wenn ich meinen Hanswurst weglasse, so ist es eben, als wenn Sie Ihren Teufel von der Kanzel lassen!« (Brachvogel 1887, S, 153). 104 1769 verbot der Hamburger Senat per Edikt alle weiteren Pamphlete Goezes gegen das Theater; vgl. Heinrich Alt: Theater und Kirche in ihrem gegenseitigen Verhältniß historisch dargestellt. Berlin 1846, S. 638-645, und Schmid 17753, S. i85f. Die Positionen der Orthodoxen wirken jedoch weiter: Am 22.5.1775 verdammt etwa der Altonaer >Beytrag zum Reichs-Postreuter< Goethes Erstling >Erwin und ElmireDichtkunst< gewesen zu sein; wenigstens
Schriftsteller«, Übersetzer o.a. (J. C. Wezel, G. C. Claudius, J. F. Jünger, J. F. Schink, W. C. S. Mylius) zu existieren versuchen. Die Autoren dieser Gruppe sind häufig auch als prominente Autoren anderer Gattungen belegt; am wichtigsten scheint mir dabei zu Beginn die personelle Überschneidung mit anakreontischer Literatur (Weiße, Jacobi, Ramler, Michaelis). Dies läßt erste Rückschlüsse auf die spezifischen Wertorientierungen zu, die die Gattung im außerhöfischen Bereich zunächst prägt. 3) Eine bemerkenswert große Gruppe bilden Aristokraten, meist niederer Ränge (Freiherren, Grafen). Ihre Liebhaber-Librettistik zeigt deutlich, daß das deutsche Musiktheater nun einen wesentlichen Faktor der Unterhaltung im Umkreis der kleineren Höfe bildete. (Auch von daher darf das deutsche Musiktheater keineswegs mit einer »bürgerlichen« Gattung gleichgesetzt werden.) Die Aristokraten haben offenbar Zeit und sehen die Produktion von Libretti als unverächtliche Tätigkeit an, um der systemimmanenten, erzwungenen Langeweile im Hofleben 124 zu entgehen. Beispiele wären neben bekannteren Figuren wie dem Mannheimer W. H. Freiherr v. Dalberg, J. A. Graf von TörringSeefeld oder den Weimarer Freiherren H. v. Einsiedel und K. S. v. Seckendorff zahlreiche unbekanntere Liebhaber aus dem niederen Adel (K. v. Eckartshausen, J. F. Binder v. Kriegelstein, K. v. Steinsberg, J. Graf v. Soden, H. Graf v. Spaur, Freiherr v. Nesselrode zu Hugenpott, C. Th. v. Traitteur-Luzberg, C. W. L. F. Freiherr v. Drais von Sauerbronn, Emmanuel Edler v. Lerchenheim, A. F. Graf v. Brühl, 125 K. A. L. Freiherr v. Lichtenstein).
124 125
88
stößt Nicolais ADB ab Mitte der lyyoer Jahre stereotype Stoßseufzer über die hohe Quantität und niedrige Qualität deutscher Libretti sowie den hohen Anteil an Debütanten ohne gründliche literarische Ausbildung und theatralische Kenntnisse aus: »Ein ewiges Einerley, Naivität, die oft albern genug aussieht, Einfalt, welche die Dichter nicht selten zur Dummheit werden lassen, dieselben Liebesgeschichten, nichts Hervorstechendes, nichts neues, immer dasselbe Spielwerk mit den Empfindungen, keine auffallend komische Charaktere, selten eine lebhafte Verwickelung und Handlung.« (ADB 17/2 (1772), S. 557). »Und ist es denn so leicht, witzig und komisch zuseyn, daß jeder glaubt, hieran seine Kräfte versuchen zu können?« (ADB 22/1 (1774), S. 220). Manche Autoren, wie Daniel Schiebeier, betonen direkt ihre Unsicherheit: »Ich bin ein Anfänger in der Kunst, und muß lernen. Das erträglichste in meinem Stücke ist vielleicht der musikalische Theil desselben, weil ich mich bestrebt habe meinen Arien etwas von derjenigen Symmetrie zu geben, welche bey Versen, die in die Musik gesetzt werden sollen, ganz unumgänglich nöthig ist. Ich wünsche recht sehr, daß ein anderer, etwas bessers in diesem Fache liefern möge.« (Anmerkungen zu Lisuart und Dariolette. In: Hiller(Hg.) 1766/70, Bd. II, S. 138). Noch drastischer kommt dieses selbstbewußte Dilettantentum etwa im Titel einer Sammlung von (unvertont gebliebenen) Singspielen aus Groß-Glogau zum Ausdruck: Dramatische Probeschüsse ins Blaue der Kritik. Erstes Bändchen. Groß-Glogau: Günther d.J. 1798. Dazu Daniel 1995, S. 34ff. Dieser setzte sein Stück »Der neue Gutsherr, oder: Die höflichen Bauern* (1788) offenbar im eigenen Umfeld in volkspädagogischer Hinsicht ein.
4) Während bei den Aristokraten die Produktion meist nur ephemeren Charakter hat, stammt eine stetigere Produktion von Bürgerlichen in Hofdiensten (F. J. Bertuch, G. E. Heermann, Wieland, Gotter, Herder in Bückeburg, Goethe, Kotzebue, M. A. v. Thümmel, K. W. Daßdorf) oder in direkter Hofnähe (Musäus, A. Klein, C. A. Vulpius, P. Weidmann; Militärs wie C. v. Ayrenhoff). Diese Produktion hängt eng mit der temporären Ansiedlung von Wandertruppen an den Höfen zusammen und wird häufig von den Autoren selbst als Versuch begriffen, die neue Gattung an höfische Normen zu assimilieren. In erster Linie von diesen Autoren stammen die frühen Ansätze zu »ernsthaften« Werken gegenüber der überwiegend »komischen« Tradition des jungen Genres (vgl. Wieland, Herder, Klein, Gotter). Dabei kommt es in den lyyoer Jahren auch zur Erschließung neuer Stoffbereiche (Antike, deutsche Geschichte). Die Übergänge zwischen diesen Gruppen sind fließend. In der Praxis verwischen sich die Grenzen zwischen diesen Idealtypen häufig. Die meisten Autoren lassen sich in verschiedenen Phasen ihres Lebens verschiedenen Gruppen zuordnen; sei es, daß sie als Aristokraten in die Praxis der Theaterleitung überwechseln (wie Dalberg), sei es, daß sie als bürgerliche Autoren in den Hofdienst übergehen oder umgekehrt aus dem Hofdienst in die Selbständigkeit wechseln (Kotzebue nach 1790), sei es, daß sie als »freie« Autoren zu Theaterdichtern werden oder umgekehrt (Wezel, Schink, Jünger, Michaelis) oder daß sie aus Verwaltungspositionen zu »freien« Autoren werden müssen (C. F. Müchler nach der preußischen Niederlage 1806). Zwei Sondergruppen von geringem Umfang, aber doch signifikanter Bedeutung verdienen noch Erwähnung. Die erste Gruppe bilden katholische Geistliche (z.B. Joseph Lederer126), während auf protestantischer Seite geistliche Autoren fehlen; hier zeigt sich das Erbe der jesuitischen Funktionalisierung des Theaters in einer langen, bis ans Ende des Jahrhunderts reichenden Tradition. Besondere Zentren bilden dabei nach der Aufhebung des Jesuiten-Ordens bayerische und österreichische Benediktiner- und Augustinerklöster, z.B. Kloster Wengen (bei Ulm), sowie Bischofssitze wie Salzburg oder Freising. Dort werden (unabhängig von den sonstigen Repräsentationszwecken) regelmäßig zweimal im Jahr, zu Fasching und im Herbst, musiktheatralische Werke gespielt, wobei sich im Verlauf des Jahrhunderts schön beobachten läßt, wie v. a. zu Fasching immer mehr moderne weltliche Werke, auch aus dem protestantischen Bereich, einwandern. 127 126
127
Lederer bezeichnet sich in einem Druck noch als poeta laureatus, als »regulierten Chorherrn und Kaiserlichen gekrönten Dichter« (John 1991, S. 35if.) — ein Zeichen für das Beharrungsvermögen von Traditionen und Bewußtseinshaltungen im katholischen Bereich. So bearbeitet etwa Lederer in Kloster Wengen 1778 J.J. Engels Lustspiel >Der Edelknabe< (1774) zu einem Fastnachts-Singspiel >Licht und Schatten, oder Moritz und IsmaelOberon< wird ebenso daptiert wie Schillers >Kabale und Liebe* oder Goethes >Faust IDon Sylvio zu Rosalva< und >Neuem Amadis< über Goethes >WertherGeisterseher< und Millers >Siegwart< bis zu Vulpius' >Rinaldo RinaldiniDer adeliche Taglöhner< von Josef Weidmann, mußte es freilich »in gewissen, unserm Theater nicht anpassenden Stellen« abändern. Weitere Beispiele im Verzeichnis Teil IV. Wegen des hohen Bedarfs, den die einheimische Produktion offenbar trotz alledem nicht decken konnte, wird häufig versucht, die romanischen Libretti unter Beibehaltung der originalen Musik zu übertragen (z. B. von Eschenburg), was in den Arien und Liedern erhebliche sprachliche Probleme mit sich bringt und im kritischen Schrifttum meist heftig abgelehnt wird (vgl. z. B. die Rezensionen zu Eschenburg in ADB 35/2 (1778), S. 5i6f. oder 36/1 (1778), S. I32f.). V.a. im Süden bleibt dies jedoch bis in die I79oer Jahre hinein das übliche Verfahren. So beruhen etwa >Die Wildschützen< von Stephanie d.J. (Musik von J. Starzer, Wien
erscheinen auf der Bühne. Dabei werden die Stücke auch technisch-szenisch immer aufwendiger; schon Schikaneders >Zauberflöte< war für viele Bühnen außerhalb Wiens bühnentechnisch ein extremes Wagnis.130 Das Verfassen von Libretti bildet für nahezu alle Autoren eine Neben-Tätigkeit unter vielen weiteren, eine literarische Gebrauchsform neben anderen, meist höher bewerteten Literaturgattungen. Fachkundige Spezialisten wie Metastasio, Casti, Da Ponte gibt es im deutschsprachigen Bereich nicht. Hinzu kommt, daß die deutschen Librettisten (mit Ausnahme eines Teils der Theaterpraktiker selbst) überwiegend als musikalische Laien, wenn nicht gar als Kenntnislose, angesehen werden müssen. I3 ' Gründe dafür dürften in der Rolle liegen, die der musikalischen Ausbildung in der bürgerlichen Sphäre in der Regel zugewiesen wird: Musikalische Kenntnisse werden entweder (selten) für eine vom Status her niedrig angesiedelte Professionalisierung erworben oder oft als unnötiger Luxus betrachtet (die Musikausbildung der »höheren Töchter« tritt im 18. Jahrhundert erst sehr spät auf und hat wegen des weitgehenden Ausschlusses der Frauen von Literatur und Theater keine Konsequenzen für die deutsche Librettistik). 132 Bezeichnend ist, daß im späten 18. Jahrhundert trotz mehrfacher Anregungen keine einzige umfassende Reflexion des Bereichs der deutschen Librettistik veröffentlicht wird (vgl. dazu Teil III).' 33 1777) ganz auf dem Erfolgsroman >Siegwart< von Johann Martin Miller (1776), >Ehrlichkeit und Liebe« von Chr. J. Wagenseil (Musik von Wolf, Weimar 1776) enthält zumindest Lieder daraus. >Adelstan und Röschen< von Schink (Berlin 1776) ist die Dramatisierung einer Hölty-Ballade, >Lenardo und Blandine« von Josef Franz von Goez (München 1779, Musik von P. v. Winter) beruht auf G. A. Bürgers Ballade. Mitunter werden gleich mehrere Erfolgswerke zusammengewürfelt; so betritt etwa Hamlet in der Parodie >Der travestirte Hamlet< (Burleske in Knittelversen mit Arien und Chören von K. L. Giesecke/V. Tuczek, Wien 1794) die Bühne, indem er Goethes >Werther< liest, während Oldenholm Lavater zitiert. 150 Darauf reagieren z.T. wiederum Adaptionen, die die aufwendigen Wiener Spektakelstücke leichter spielbar zu machen versuchen. So lautet etwa ein Druck von 1797: »Die Königin der schwarzen Inseln [ ]. Die Musik ist vom Herrn Sueßmaier, und nach dem bekannten, und beliebten Spiegel von Arkadien, auf dieses Singspiel adaptirt, weil es großen Aufwandes, und der schweren Besetzung wegen der Spiegel nicht auf allen Theatern kann gegeben werden.« 131 »So eifrig man verlangt, daß ein musikalischer Poet, die Musik selbst in etwas verstehen solle, so selten triff sich solches doch zusammen, und die wenigsten Dichter haben Zeit, Lust und Gelegenheit, die Musik zu lernen.« (Krause 1752, S. 279) Vgl. a. Dreßler 1777, S. 6f., S. 17; vgl. allg. Schimpf 1988, S. 77ff. Zu den sozialgeschichtlichen Implikationen des Phänomens des Dilettanten als Musikkritiker (und -produzenten) vgl. Reckow 1993. ' v Zur Situation im 19. Jahrhundert vgl. Jörg-Peter Mittmann: Musikerberuf und bürgerliches Bildungsideal. In: Reinhart Koselleck (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Tl. 2: Bildungsgüter und Bildungswissen. Stuttgart 1990, S. 236-258. '·'·* Die einzige Ausnahme bildet der frühe und relativ unübersichtliche Traktat Christian Gottfried Krauses »Von der Musikalischen Poesie« (Berlin 1752, ^1753), der auf den
4- Komponisten Die musikalische Situation im Reichsgebiet ist durch mehrere Faktoren bestimmt: - Es fehlt ein fachspezifisches Ausbildungssystem, wie es etwa in Italien an den ersten »Konservatorien« (Neapel, Venedig) speziell auch für Opern existiert. Stattdessen überwiegt in Deutschland die handwerklich-zünftig organisierte Lehre. Die ständische, innungsartige Organisation der Musikerausbildung in Form von »Bruderschaften« wird im Verlauf des Jahrhunderts den neuen Anforderungen (besonders auch im Bereich des Musiktheaters) immer weniger gerecht134 und zugleich immer stärker unterhöhlt von den neuen marktwirtschaftlichen Strukturen; sie wird Ende des Jahrhunderts
134
92
spezifischen Prämissen der norddeutschen (Früh-)Aufklärung beruht (stark abhängig z.B. von J. B. DuBos' »Reflections critiques sur la poesie et sur la peinture«, 1719) und nur bedingte Gültigkeit beanspruchen kann, was in der Forschung immer wieder übersehen wird. Vgl. dazu Flaherty 1978, S. I07ff. und Schimpf 1988, S. 94ff. Da dieser Typus musikalischer Ausbildung nach der Jahrhundertmitte nicht mehr ausreicht, um den steigenden Bedarf an guten Privatlehrern für Instrumental- und auch Kompositionsunterricht zu decken, kommt es nach 1750 zu einer Fülle von Lehrbüchern zum Selbstgebrauch. Vgl. z.B. [F. W. Marpurg:] Die Kunst das Ciavier zu spielen. Berlin 1750; Quantz 1752; Bach 1753; F. W. Marpurg: Anleitung zum Clavierspielen, der schönern Ausübung der heutigen Zeit gemäß. Berlin 1755; Marpurg: Handbuch bey dem Generalbasse und der Composition []. 3 Teile Berlin 1755 — 58; L. Mozart: Versuch einer gründlichen Violinschule. Augsburg 1756; J. F. Agricola: Anleitung zur Singkunst. Berlin 1757 [nach Pier Francesco Tosi, 1723]; J. Ph. Kirnberger: Der allezeit fertige Polonoisen- und Menuettencomponist. Berlin 1757; Marpurg: Anleitung zur Singcomposition. Berlin 1758; Marpurg: Anleitung der Musik überhaupt, und zur Singkunst besonders, mit Uebungsexempeln erläutert. Berlin 1763; Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik [ ]. Tl. i Betlin 1771, Tl. 2 Königsberg 1776—1779^. A. Hiller: Anweisung zur Singekunst in der deutschen und italienischen Sprache, zum Gebrauch der Schulen []. Frankfurt a. M./ Leipzig 1773; Hiller: Musikalisches Handbuch für die Liebhaber des Gesangs und Klaviers. Leipzig 1773; Hiller: Anweisung zum musikalisch-zierlichen Gesang. Leipzig 1780; Kirnberger: Grundsätze des Generalbasses als erste Linien zur Composition. Berlin 1781; Kirnberger: Anleitung zur Singekomposition mit Oden in verschiedenen Sylbenmaassen begleitet. Berlin 1782; H. C. Koch: Versuch einer Anleitung zur Composition, 3 Bde. Rudolstadt 1782, Leipzig 1787/1793; Kirnberger: Methode Sonaten aus'm Ermel zu schüddeln. Berlin 1783; D. G. Türk: Ciavierschule, oder Anweisung zum Clavierspielen für Lehrer und Lernende []. Leipzig/Halle 1789; Hiller: Kurze und erleichterte Anweisung zum Singen, für Schulen in Städten und Dörfern. Leipzig 1792; Hiller: Anweisung zum Violin-Spielen für Schulen und zum Schulunterricht; nebst einem kurzgefaßten Lexicon der fremden Wörter und Benennungen in der Musik. Leipzig 1792 usw. Die Vorreden richten sich oft gegen unqualifizierte Musiklehrer und wollen auch diesen einen Leitfaden an die Hand geben. Das Interesse an diesen Schulen ist groß; auch die »Liebhaber«, die selbst nicht musizieren, studieren sie und orientieren sich an ihnen, wie z. B. der Verweis Herders im vierten >Kritischen Wäldchen< zeigt: »Welcher Liebhaber und Kenner kennet nicht Quanzens Flöte und
überall abgeschafft.' 5 Einer der ersten, der hier vielbeachtete Änderungen versuchte, war J. A. Hiller in Leipzig, der bei der Produktion seiner Singspiele direkt mit den praktischen Problemen konfrontiert war (s. u.)· - Im Opernbereich existiert kein »deutscher« Stil, und die ständische Ausbildung klammert den Bereich in der Regel aus. Nach dem Aussterben der ersten deutschen Operntradition mit Komponisten wie Reinhard Keiser wird fast der gesamte Bereich der Hofoper in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts von italienischen Künstlern dominiert. Deutsche Komponisten, die eine höhere Position am Hof erreichen, sind in der Regel in Italien ausgebildet und primär auf die Produktion italienischer Opern festgelegt (z. B. Hasse und Naumann in Dresden, Schwanberger in Braunschweig, Holzbauer in Mannheim). Nicht in Italien ausgebildete Komponisten sind in der Regel satztechnisch nicht auf der Höhe der neuen Entwicklungen im Bereich der italienischen Oper.136 - Auch in der Theaterorganisation ist keine kontinuierliche Nachfrage nach neuen Musiktheaterwerken vorhanden, wie sie das italienische »stagione«System prägt. Im Wandertruppensystem ist dagegen die Tendenz deutlich, einmal erfolgreiche Werke möglichst lange im Repertoire zu halten. Erst im Prozeß der Seßhaftwerdung entsteht plötzlich eine große, sogartige Nachfrage nach neuen Musiktheaterwerken. Eine Typologie der Komponisten deutscher Musiktheaterwerke zeigt charakteristische Unterschiede zur Gruppierung der Librettisten. Allerdings kommt hier der Dichotomic von professionellen Komponisten vs. Amateuren höhere Bedeutung zu, da feste Handlungsrollen institutionalisiert sind. i) Hauptträger des deutschen Musiktheaters stellen professionelle Kapellmeister im T heaterbereich dar. Dabei unterscheiden sich die Hofkapellmeister in der Regel deutlich von den Kapellmeistern der Wanderbühnen - nicht nur im Sozialstatus und im Prestige, sondern auch im Aufgabenbereich und v. a. in der Ausbildung. Meist ist die Position des Hofkapellmeisters mit der Funktion des Hofkomponisten verbunden. In kleineren Residenzen stammen die späteren Hofkapellmeister oft aus dem Bereich der Hofkapellen und steigen vom Musiker über Konzertmeisterpositionen zum Kapellmeister auf (E. W. Wolf, P. I. Kürzinger, J. C. F. Bach, P. Winter, J. R. Zumsteeg, C. L. Dieter, P. Wranitzky). Auf größere Hofkapellmeisterstellen aber gelangen aufgrund der o.a. Struktur der Musikausbildung in Deutschland in der Regel nur Komponisten,
135
136
Bachs Klavier und Mozarts Violinschule und Agrikola's Singekunst als Meistertheorien ihrer Instrumente, die unsere Nachbarn kaum haben?« (vgl. HW 2, S. 336). Zugleich zeigen gerade die Instrumentalschulen die Auswirkungen der neuen Ausdrucksästhecik bis in den Bereich des musikalischen Vortrags, hinein (s.u. Teil III). In Wien z.B. 1782. Materialien finden sich bei Salmen (Hg.) 1971 (vgl. bes. die Aufsätze von Schwab und Krickeberg); Schleuning 1984, S. 430ff. Vgl. z.B. die Charakterisierung von J. Standfuß bei Schmidt I775a, S. 102.
93
die die Möglichkeit einer Aus- oder Weiterbildung in Italien (wie Hasse, Gluck, Holzbauer, Vogler, G. Benda, Mozart, J. Schuster, Seydelmann, Dittersdorf, Schweitzer; eine vielbeachtete Ausnahme bildete Reichardt in Berlin' 37 ) oder zumindest der Ausbildung durch italienische Musiker in den höfischen Zentren hatten (J. A. Schmittbaur, F. Danzi); auch von ihnen waren einige zuvor in der Hofkapeüe tätig. Möglich wurde dies in der Regel nur durch die persönliche Unterstützung seitens eines Hofes138 und kam Komponisten zugute, die früh, oft schon als Kinder, in höfischem Umfeld lebten und entsprechende Begabung zeigten. Im Gegenzug wurde dann die Verpflichtung an den Hof und die Produktion italienischer Opern und anderer Gattungen, die im höfischen Leben benötigt wurden, erwartet. Kam es hier zu anderem Verhalten der Komponisten, wurden meist scharfe Sanktionen ergriffen (etwa im Falle Dittersdorfs). Die Hofmusiker bilden in der Regel familiäre Traditionen aus: Ihre Kinder werden in der Regel wiederum im Theater- oder Musikbereich tätig (vgl. die Familien Stamitz, Benda, Mozart, Vogler, Danzi); deren musikalische Ausbildung ist gesichert (und meist wiederum an italienischen Mustern orientiert). Die Hofmusiker im 18. Jahrhundert bilden damit tendenziell eine eigene soziale Schicht, die zur Abschließung tendiert. 139 Generell stellen deutsche Hofkapellmeister und -komponisten bis Ende des Jahrhunderts eine Ausnahme dar; gerade die größeren Residenzen (mit Ausnahme Berlins) bevorzugen Italiener. Die ältere Generation der Hofkapellmeister beteiligt sich in der Regel überhaupt nicht am deutschen Musiktheater oder allenfalls in seltensten Ausnahmen. Wenn Hoftheater auf deutsche Produktionen umgestellt werden, erhalten diese »Nationaltheater« in der Regel '·" Bezeichnenderweise geht Reichardts Anstellung, wenn man dessen >Lebensbericht< (1805) vertrauen darf, auf ein Mißverständnis des alten Friedrich II. zurück; diesem waren aufgrund seines konservativen Musikgeschmacks die neuen Entwicklungen der italienischen Musik suspekt, und er erhoffte sich von Reichardt eine Fortsetzung der Linie Graun/Hasse/Agricola — während Reichardt selbst zwar gezielt eine Komposition dieser Art zur Bewerbung vorlegte (die Oper >Le feste galantiErwin und Elmire< auf eigene Kosten drucken; er war zu dieser Zeit (1776) Mitglied der Schuchschen Theatertruppe, die in Königsberg zeitweilig seßhaft geworden war. Wie er im Vorwort ausführt, sah er die Publikation als Weg an, in der Welt des deutschen Theaters außerhalb Königsbergs bekannt zu werden. Sein rascher Aufstieg in der Folgezeit über das Gothaer Hoftheater (noch im selben Jahr) nach Hamburg (1778) zeigt, daß sein Kalkül offenbar aufging.' 42 Ähnlich konnte Ignaz Umlauf in Wien von der Position eines Bratschisten im Orchester des Burgtheaters (mit einem Monatsgehalt von 16 fl 40 kr) durch den Erfolg seines Singspiels >Die Bergknappen< (1778) zum Kapellmeister (mit einer Jahresgage von 600 fl) aufsteigen.' 43 Die Wiener Privattheater bilden dann in den i79oer Jahren ihrerseits feste Positionen für Kapellmei-
140
141
142 143
Eine Ausnahme bildete Antonio Salieri, der auf höchsten Wunsch Josephs II. (und sehr gegen seine eigenen Überzeugungen) einen Beitrag zum Nationalsingspiel leisten sollte. Salieri versuchte erfolglos, sich mit zahlreichen Manövern dieser Verpflichtung zu entziehen. Sein >Rauchfangkehrer< wurde dennoch (auch im übrigen Deutschland) ein erfolgreiches Werk. Im Habsburgischen Bereich erhielten die meisten der späteren Komponisten ihre musikalische Ausbildung im Bereich der Jesuiten (v. a. die aus Böhmen und Mähren stammenden Komponisten). Vgl. dazu Bauman 1985, S. looff. Zahlen nach Michtner 1970, S. 34. >Die Bergknappen< waren das Eröffnungswerk des neuen Wiener »National-Singspiels« (vgl. dazu II.6).
95
ster-Komponisten aus (F. Kauer, W. Müller u.a.).'44 Das frühe deutsche Musiktheater ist so im wahrsten Sinne weitgehend »Kapellmeistermusik«, denn meist bot nur die Position eines Kapellmeisters die Möglichkeit, die notwendigen Erfahrungen im Produktionsbereich zu sammeln sowie neue Werke und Entwicklungen kennenzulernen. 145 (Ein Beispiel für die Probleme, die ein professionell ausgebildeter, aber außerhalb der Theaterpraxis stehender Musiker mit der Musiktheater-Komposition hatte, bietet der Zürcher Klavier- und Theorielehrer Ph. C. Kayser, s.u. II.7.) Zur Überschneidung beider Komponisten-Typen kommt es, als die kleineren Höfe in den lyyoer Jahren Wanderbühnen fest einstellen und diesen dann als »Infrastruktur« neben den Hoftheatern auch die höfischen Musiker zur Verfügung stellen. Oft ergeben sich daraus erhebliche Kompetenz- und Profilierungsprobleme, da nun zwei konkurrierende Kapellmeister und Komponisten an einem Hof wirken: der eigentliche Hofkapellmeister und der Kapellmeister der zugezogenen Wanderbühne. Da mitunter beide deutsches Musiktheater produzieren mußten, öffnete dies Intrigen Tür und Tor.14 Dabei geraten auch die Stile und Genres in Konflikt bzw. Vermischung: Die Wanderbühnen-Singspiele werden an den Höfen opernhafter (vgl. unten II.2). 2) Den professionellen Komponisten stehen die erstaunlich zahlreichen Liebhaberkomponisten gegenüber. Diese stammen oft aus dem (meist niederen) Adel, da eine musikalische Ausbildung im Bereich des Adels, anders als im Bürgertum, häufig einen selbstverständlichen Bestandteil der Erziehung darstellt.147 144
145 146
147
96
Dabei entstehen in Wien, offenbar aufgrund des hohen Produktionsdrucks, regelrechte Komponistenteams, die sich bei der Komposition eines Werks abwechseln, z.B. J. G. Lickl, B. Schack, F. X. Gerl, I. Seyfried, J. B. Henneberg, M. Stegmayer. Daß dabei, wie jüngst von David Buch ins Spiel gebracht wurde, auch Mozart bei der Schikaneder-Oper >Der Stein der Weisen, oder: Die Zauberinsel< (1790) neben seinem Freund Schack und anderen mitgearbeitet haben könnte, ist von der Praxis der Wiener Vorstadtbühnen aus durchaus denkbar. Allerdings hat Buch bislang noch keine Belege für seine These, daß ein Duett und Teile des Finales des II. Akts von Mozart stammten, vorgelegt (vgl. FAZ vom 13.6.1997). Vgl. ähnlich Bauman 1985, S. 7. Vgl. das Verhältnis von E. W. Wolf und A. Schweitzer in Weimar, von G. Benda und A. Schweitzer in Gotha. Deutsche Aristokraten haben im 18. Jahrhundert in der Regel eine musikalische Ausbildung; dies konstatiert z.B. mit einem fast ethnologischen Blick von außen der reisende Engländer Charles Burney. (Prominente Beispiele wären etwa Joseph II. [Michtner 1970, S. 2946^] oder Max III. Joseph; zum preußischen Hof vgl. Dittersdorf 1799, S. 245.) Bürger dagegen sind in der Regel nicht musikalisch ausgebildet, selbst wenn sie aus begüterten Familien stammen wie etwa Goethe (vgl. a. Meyer 19803, bes. S. i3off. Anm. 10). Gegen Ende des Jahrhunderts zeigt sich erstaunlicherweise, daß ein Teil der Liebhaberkomponisten des Hochadels sich nach bürgerlichem (Genie-)Vorbild partiell zu professionalisieren versucht oder Genres wie die bürgerliche Kammermusik pflegt (vgl. etwa Louis Ferdinand v. Preußen oder den Erzherzog Rudolf von Österreich).
Zudem verfügen die adeligen Liebhaber sowohl über die Zeit als auch über den Zugang zur notwendigen Infrastruktur. Beispiele im deutschen Musiktheater wären Baron O. E. v. Kospoth, Baron v. Lichtenstein, der Freiherr J. J. M. v. Weber, der Reichsfreiherr Boecklin v. Boecklinsau, der Mainzer Domkapitular Freiherr v. Kerpen oder der Weimarer Freiherr v. Seckendorff. Sie spielten oft eine Rolle als Intendanten der Hoftheater. '4Alceste< komponiert; einen der seltenen Fälle, wo nicht nur ein Text parodiert wird, sondern auch die Musik (s.u. II.2).' 49 3) Bürgerliche Liebhaberkomponisten treten erst ab der Empfindsamkeit, dann aber gehäuft auf. Die ideologischen Grundpositionen der Empfindsamkeit erlauben es nun, den häufig beobachtbaren Mangel einer soliden Ausbildung zur Tugend zu erklären. Mitunter betonen diese Komponisten ganz demonstrativ ihren Status als Ungelehrte und Autodidakten, weil damit zugleich eine Aussage über die angebliche »Natürlichkeit« und innere Wahrhaftigkeit ihrer Musik gegenüber der »künstlichen« Musik der gelehrten Komponisten verbunden ist (vgl. unten Teil III). 15° Dieses Phänomen findet sich nicht nur bei jungen bürgerlichen Intellektuellen (wie J. D. Hensel' 5 '), sondern auch in wohlhabenderen bürgerlichen Kreisen und unter höheren Verwaltungsbeamten (z. B. C. B. Über), Schulleuten (J. M. Helmig), Militärs (G. v. Baumgarten) oder Ärzten (J. L. Schubaur). Einige dieser Dilettanten gelangten dann als Autodidakten in die professionelle Kapellmeisterlaufbahn. Ein prominentes Beispiel dafür ist der Offenbacher Johann Andre; er übernahm ab 1776 die Kapellmeisterposition in Döbbelins Truppe, der wichtigsten Wanderbühne in Preußen, wenngleich er nach den
148 149 150
151
Vgl. Bauman 1985, S. 6. >EuridiceFischerinn< vertont). Aufgrund der Eigengesetzlichkeiten der kompositorischen Arbeit bedeutet die Unterscheidung von professionellen Komponisten und Dilettanten in der Regel auch eine Aussage über die kompositorische Struktur. Je opernhafter und anspruchsvoller auf die Dramaturgie bezogen die Musik ist, desto weniger kann diese in der Regel von Dilettanten geschaffen werden. Daher fallen die Liebhaberkomponisten im Verlauf der weiteren Entwicklung des Genres zunehmend wieder aus der Produktion heraus, wenn sie nicht den Sprung in die professionelle Theaterpraxis schaffen. Die Notwendigkeit einer engen Kenntnis der jeweiligen Theaterpraxis verstärkt sich im Laufe der Entwicklung, verändert aber damit zugleich die Öffentlichkeitsstruktur des Genres. Werden gerade auch durch die vielen Liebhaberkomponisten die Bereiche von Produktion, Distribution und Rezeption partiell »öffentlich«, so führt der Zug zur Professionalisierung zunehmend zur Trennung von (abgeschlossen-unöffentlicher) Produktion und einer Rezeption, die zur bloß passiven Aufnahme tendiert, wie sie im 19. Jahrhundert zum Regelfall wird.
5. Darsteller Im Bereich der Wanderbühnen sind die Darsteller zunächst wenig auf die Erfordernisse des neuen Genres hin ausgebildet. V.a. gesangstechnisch bestehen große Probleme. Besonders kennzeichnend ist in der ersten Phase des Neuanfangs, daß den Wanderbühnen kaum musikalisch professionelles Personal zur 152 151
98
Dichtung und Wahrheit Teil 4, 17. Buch; MA 16, S. 734. Zu den Dilettanten-Komponisten im Umkreis des Wiener National-Singspiels vgl. die Einleitung von Robert Haas in DTÖ 36, S. XXVIII f.
Verfügung steht, weder im Orchester noch auf der Bühne. Die begrenzten sängerischen Fähigkeiten dieser singenden Schauspieler154 mußten also von den Komponisten berücksichtigt werden, ebenso wie die äußerst bescheidenen Möglichkeiten der Truppen, auch nur winzige Orchester' 55 zu unterhalten — Aspekte der schlichten musikalischen Gestalt der frühen Singspiele von Standfuß oder Hiller. 156 Hinzu kommt die traditionell hohe Fluktuation der Schauspieler in den Wanderbühnen, die eine kontinuierliche Aufbauarbeit z. B. in musikalischer Hinsicht erschwert. Einen guten Eindruck von der problematischen musikalischen Qualität geben die Beschreibungen von Charles Burney, der durch seine ausgedehnte Reisetätigkeit gute Vergleichsmöglichkeiten hatte. Über seinen Besuch in Leipzig notiert er 1772: Die Gesellschaft, die itzt da war, kam eben von Berlin [ ]. Das Stück, was sie heute Abend gaben, war der Deserteur, mit deutschem Texte unter der Originalmusik von Moncigny. Die Akteurs bezauberten mich gar nicht, weder durch ihr Singen noch durch ihr Agiren; keiner sang im Tackte oder intonirte rein, oder war mehr als gemein. [ ] Den folgenden Morgen, den 25sten Septemb. war Herr Hiller so verbindlich, mich mit nach dem Theater zu nehmen, wo man eine von seinen komischen Opern probirte. [ ] Die Musik kam mir sehr natürlich vor [ ], und verdiente nach meiner Meinung viel bessre Sänger, als die gegenwärtige Gesellschaft hat; denn, die Wahrheit zu sagen, singen sie so gemein und alltäglich, als bei uns die Leute zu singen pflegen, welche weder den Vortheil eines musikalischen Unterrichts gehabt, noch jemals gute Sänger gehört haben. Sie haben gerade den kreischenden Hauch, wenn sie die hohen Noten angeben, und stoßen ihn mit der vollen Stärke heraus, gleich dem starken Anschlage einer Strohfiddel, anstatt ihn mit einer Messa di voce oder Schweller aufzunehmen. Die Instrumente machen ihre Sachen schlecht [].' v
Hier schlägt sich die unbefriedigende Situation der Musikausbildung ebenso nieder wie die Herkunft der meisten Darsteller, die häufig im bürgerlichen Sinne als abgebrochene Existenzen erscheinen und entsprechend niedrigen, sozial depravierten Status erhalten; bei den Frauen kommt in der Regel der stete Vorwurf sexueller Promiskuität hinzu. I 5 H Auch deshalb wird in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts der Ruf nach Ausbildungsstätten immer lauter, die die Schauspieler an
"4 Vgl. Dreßler 1777, Kap. i, § 3. 155 Seylers Truppe hatte ein Orchester von zehn Musikern (vgl. Theater-Journal für Deutschland, Stück 5, Gotha 1782, S. 70f.), zeitweise offenbar noch weniger (ebd. Stück 7, Gotha 1784, S. 44). 156 Dabei kam es selbst unter den Theaterleuten immer wieder zu Irrtümern. Anton Schweitzers Vertonung von Johann Benjamin Michaelis' >Walmir und Gertraud< (ca. 1769) erwies sich z.B. in der Praxis als zu schwierig für Seylers Wandertruppe und blieb unaufgeführt (vgl. Bauman 1985, S. 364). IV Burney 1773, Bd. 3, S. 44ff. 158
Einen guten Eindruck vom unbürgerlichen Status der Wandertruppen gibt Goethes Entwurf >Wilhelm Meisters theatralische SendungHamburgischen Dramaturgie< immer wieder kritisiert.' 62 Gesangspartien werden in der Regel zu Beginn gesondert honoriert, was zweierlei zeigt: Erstens sind die Einnahmen des Prinzipals im Musiktheater höher, zweitens wird das Singen als zusätzliche Tätigkeit im Rahmen des Schauspiels begriffen. Die zusätzliche Honorierung führt in der Praxis dann dazu, daß auch die Schauspieler selbst daraufdrängen, den Repertoireanteil des Musiktheaters zu erhöhen.' 63 Nicht ohne Grund war gerade Hiller in Leipzig einer der ersten, der nach einer Neuorganisation der bürgerlichen Musikausbildung suchte und der mit seinen Lehrbüchern vielbeachtete Grundlagen für die Gesangspädagogik legte. Aus Millers »Musik= und Singschule«, die er als »Anlage zu einem wirklichen Konservatorio« 164 bezeichnete, gingen dann zwei der bedeutendsten deutschen Sängerinnen und Bühnenkünstlerinnen seiner Zeit hervor: Corona Schröter'65 und Gertrud Elisabeth Mara-Schmeling. (In Hillers Tätigkeit dürfte einer der Keime dafür liegen, daß dann im 19. Jahrhundert gerade in Leipzig das erste bedeutende deutsche Konservatorium entsteht.) Bei aller Kritik an der musikalisch häufig unbefriedigenden Qualität der Singeschauspieler dürfen jedoch ihre Stärken nicht übersehen werden. Anders als beim überwiegend statuarischen Stil der Hofopern-Sänger konnte die schau159
160 161
162
163
164 5
Bekannt sind die Projekte von Lessing und Ekhof. Einen anderen Aspekt zeigt das Ausbildungsinstitut, das 1777 dem neuen Mannheimer Nationaltheater beigegeben werden sollte: Es sollte offenbar durch die Schulung von »Landeskindern« primär die Kosten für fremde Darsteller senken. Vgl. Maurer-Schmoock 1982, S. 92. Dies wird mit Einschränkungen auch noch an den höfischen Nationaltheatern so gehandhabt, z.B. in Wien; vgl. Michtner 1970, passim. Zur bürgerlichen Theorie der schauspielerischen Darstellung vgl. Fischer-Lichte 1988, Bd. 2, S. 13iff. Koch zahlt bis zu einem Louis d'Or mehr für Singspiele als für Schauspiele; vgl. ausführliche Darstellung bei Plümicke 1781, S. 274f; Maurer-Schmoock 1982, S. 116; Nicolai 1805; Bück (Hg.) 1988, S. 171. Zit. n. Kruse 1904, S. 22. Corona Schröter wurde von Goethe nach Weimar geholt und war dann die erste >IphigenieniederenSchauspieldirektor< und Salieris >Prima la musica< in Schönbrunn 1786, in dem Mozarts Werk vor aristokratischem Publikum chancenlos ist). Es zeigt sich in Teilen des preußischen Hochadels, die die Politik Friedrich Wilhelm II. nicht mitvollziehen; es zeigt sich auch z.B. in Mannheim, wo die Öffnung zum deutschen Nationaltheater von der Kurfürstin abgelehnt wird, die weiterhin in ihrer Sommerresidenz französisches Theater fördert. IH ° Boßler 1788/89, Bd. 2, S. 66ff.
106
nisse eintreten der Kredit Noth leiden und durch solche nie zu befriedigende Lüsternheit nach den Kunstwerken der Harmonie eine oft gefährliche Disharmonie in Familien entstehen kann! [ ] Nicht zu gedenken, daß solche unbegrenzte Neigung noch auf manche andere Art dem Luxus und der Verschwendung Thür und Thore öfnet. [ ] Wir sind zur Rechten und Linken in so mannigfaltige Verhältnisse verwikelt, die zusammen genommen die Summe unsers Glüks ausmachen, daß wir auf jedes derselben besondere Rüksicht nehmen, und nicht selten zur Fortdauer des einen uns auf der ändern Seite etwas entziehen müssen, wozu wir uns nur ungerne entschließen.181
Die hausväterliche, luxusfeindliche Einstellung wird durch populäraufklärerische Axiome ergänzt. Dahinter läßt sich eine Anthropologie erkennen, die alle Störungen durch »Leidenschaften« zu eliminieren sucht und stattdessen die Einbindung des Einzelnen in ein Netz von »Verhältnissen« betont, die die moderne Tendenz zur Individualisierung gerade ablehnt. Bemerkenswert ist, daß sich dieser Beitrag ausgerechnet in einer Musikzeitschrift findet und vom Herausgeber weder kommentiert noch irgendwie relativiert wird. Schließlich besteht zum Musiktheater überhaupt eine religiös motivierte Gegnerschaft v. a. seitens des Pietismus, der sich sowohl auf bürgerlicher wie auf höfischer Ebene zeigt (also nicht einfach als »bürgerliches« Phänomen gewertet werden darf) und zur vorgeschlagenen Typologie quer liegende Formationen erzeugt. Rupperts Modell wäre auch dahingehend zu differenzieren. 2) Veränderungen
Zum prägenden Faktor werden nach 1770 die Hoftheater, die sich nach außen öffnen, gerade auch durch die Übernahme der erfolgreichen deutschen Musiktheaterformen. Die Hoftheater erhalten Schrittmacherfunktion für die Institutionalisierung der Wanderbühnen und auch für die Errichtung stehender Theater in den Städten, die die Hoftheater in der Regel imitieren, ohne ihnen andere Konzepte entgegen zu setzen. Zu gewissen funktionellen Aufteilungen kommt es nur in den wenigen großen Zentren, wenn die Hoftheater in Konkurrenz zu den entstehenden Privattheatern geraten: Dann findet in der Regel eine gewisse soziale Segregation statt, und das Publikum der Hoftheater bleibt stärker aristokratisch geprägt (z.B. Wien, Berlin, später auch München). In nahezu allen anderen deutschen Städte kann sich maximal ein stehendes Theater halten; häufig wird auch durch die Privilegienvergabe eine Konkurrenzsituation zu Lasten der Hoftheater verhindert. Dadurch sind die Publiken der kleineren Hoftheater meist vermischter als in den großen Residenzen; die soziale Durchmischung der einzelnen Theaterpubliken steigt also »im umgekehrten Verhältnis zur Größe der Residenzstadt an«.' 8 2 (Auf der Produktionsebene vermischen sich
Ifil 182
Ebd. S. yyff. Vorbild dieses Autors ist dabei Friedrich II. Daniel 1995, S. 131. 107
jedoch gerade in den großen Zentren mit ihrem vielfältigen Theaterleben die Genres und Gattungen.183) Die Hoftheater des alten Stils sind nicht über Geld, sondern über Einladung des Fürsten oder hoher Hof-Chargen grundsätzlich für alle Schichten zugänglich. Lessing berichtet darüber hinaus 1749, daß die Berliner Hofoper von allen (unentgeltlich) besucht werden könne, die ordentlich gekleidet seien.'84 Ähnliches gilt für Dresden185 oder Weimar.186 Allerdings konstituiert diese Zugänglichkeit noch kein Publikum im eigentlichen Sinn; die bürgerlichen Besucher sind Gäste des Hofs und verstehen sich auch entsprechend. Mit der funktioneilen Veränderung der Hoftheater zum Teil der reformabsolutistischen Wendung zur eigenen Bevölkerung hin und der Etablierung deutscher Hofbühnen ändert sich die grundsätzliche Zugangsregelung: An die Stelle der Großzügigkeit des Herrschers tritt als Zulassungskriterium das Geld.'87 In dieser Öffnungs-Phase »der größten Wirkungsmächtigkeit der Hoftheater«188 entsteht zum einen nun das Problem für die höfischen Intendanten, den Geschmack der Hofeliten mit dem der neuen zahlenden Schichten zu verbinden (vgl. etwa den Weimarer Spielplan unter Goethes Intendanz). Zum anderen beginnt ein wechselseitiger Prozeß, in dem die bürgerlichen Theaterpubliken einerseits konkret und wiederholt mit höfischen Verhaltensmustern und Disziplinierungsstrategien189 in Berührung kommen, andererseits im Konflikt mit diesen auch ihre bürgerlichen Ansprüche ausprägen: Im Theater zeigt sich oft eine bemerkenswerte Anspruchshaltung der zahlenden Bürger, die nun eine Gegenleistung für ihren Beitrag fordern und manche höfischen Rituale und 183
184
185
186
187
188 189
Die Wiener Vorstadtbühnen übernehmen sowohl Erfolgsstücke des höfischen Nationaltheaters als auch umgekehrt die Hoftheater Erfolgsstücke der Vorstadtbühnen, wenngleich verspätet und nicht immer mit befriedigenden Ergebnissen (vgl. z.B. die Übernahme der >Zauberflöte< 1801 an das Burgtheater und die Kritik Schikaneders daran). »Se. Majestät wollen, daß alle Leute, welche nicht zum niedrigsten Pöbel gehören, und besonders Fremde, eingelassen werden sollen.« (G. E. Lessing: Nachrichten von dem gegenwärtigen Zustande des Theaters in Berlin [1749]- In: Sämtliche Schriften, hg. v. Karl Lachmann. Bd. 4. Stuttgart '1889, S. 82 Anm. i). Dies wurde in Berlin seit 1743 so gehandhabt (laut W. Bode: Der weimarische Musenhof. 1756—1781. Berlin 1919, S. 109). Die Dresdener Hofoper wird allerdings bereits 1755 aufzahlendes Publikum umgestellt; vgl. Maurer-Schmoock 1982, S. n8ff. Das Weimarer Hoftheater durfte unter Herzogin Anna Amalia von jedem Untertan unentgeltlich besucht werden (Vogel 1995, S. 4O2f.). Beispiele wären Dresden 1755, Stuttgart 1777, Mannheim nach Abzug des Hofs, Charlottenburg 1817. Daniel 1995, S. 13. Vgl. bes. Dreßler 1993 sowie musikbezogen Schleuning 1984. (Zur Sozialdisziplinierung im Absolutismus vgl. allg. Gerhard Oestreich: Strukturprobleme des europäischen Absolutismus. In: Ders.: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Berlin 1969, S. 179-197.)
108
Verhaltenscodes in erstaunlicher Direktheit in Frage stellen (etwa in Fragen der Wertung durch Applaus, Pfeifen o.a.).'90 Die außerhöfischen Zuschauer begreifen sich nicht mehr, wie früher, als Gäste des Hofes, sondern als Publikum mit eigenen Rechten. Abonnementstrukturen setzten sich rasch durch, die diese Anspruchshaltung des Publiums verstetigen. Iyi Auch die öffentliche Theaterkritik bezieht nun die Hoftheater ein und prägt so gegenüber den höfischen Geschmacksnormen einen anderen Faktor aus, der (über das Geld der Konsumenten) Einfluß auf die Spielplangestaltung gewinnt.' 92 (Dies darf aber wiederum nicht einfach mit einem »bürgerlichen« Selbstverständnis gleichgesetzt werden, sondern wird oft ebenso von Hofangehörigen bis in oberste Bereiche mitgetragen.) In der typischen räumlichen (und zeitlichen) Belegung des Zuschauerraums193 spiegeln sich die Teile, aus denen sich das neue Publikum zusammensetzt. Das neue Publikum ist heterogen, vereint sich aber im Interesse an der Schau- und Hörlust, die nicht nur die wohlhabenderen Teile des Bürgertums 190 191
192
191
Beispiele bei Daniel 1995, S. i j i f f . Z. B. in Gotha und Mannheim; vgl. Maurer-Schmoock 1982, S. 145; zu Wien vgl. Schindler 1976, S. 58ff. Die Höfe reagieren darauf z.T. mit Restriktionen und Zensurmaf3nahmen; vgl. unten (II.5) die Reaktion des Mannheimer Kurfüsten auf die in Frankfurt a. M. publizierte Rezension des >Günther von Schwarzburg< durch H. L. Wagner; auch der Intendant Goethe unterwirft in Weimar die Theaterkritiken des >Journals des Luxus und der Moden< einer Vorzensur. In manchen Residenzstädten wird gar keine Theaterkritik zugelassen (z.B. in Karlsruhe; vgl. Daniel 1995, S. 167 Anm. 66). Die Zentralperspektive der Theaterbauten ist auf den Fluchtpunkt der Mittelloge des i. Rangs ausgelegt. Entsprechend verteilt sich in der Regel das Publikum - Logen i. Rang: Fürsten, Hofstaat (in Abhängigkeit von der Nähe zum Fürsten); 2. und 3. Rang: wohlhabendere Bürger, niederer Hofstaat, Gelehrte, oft auch Freiplätze für das Theaterpersonal; Parterre: Militärs, Reisende, Gäste (in manchen Theatern wie im Wiener Burgtheater existiert auch eine Zweiteiligung des Parketts in ein adelig dominiertes »Parterre noble« und einen abgetrennten, billigeren Teil des »ordinären« oder »kleinen« Parketts); Galerie: Handwerker, Dienstboten, Gesinde, Gesellen, »Volk« (vgl. Maurer-Schmoock 1982, S. 75ff.; für Wien Schindler 1976, S. 44ff.) Vereinzelt gibt es auch Bühnenplätze für den Adel nach französischem Vorbild, die aber als illusionsstörend zunehmend abgeschafft werden. Zeitliche Belegung: bürgerliche Oberschichten, v. a. Hofbeamte, belegen Abonnements und stellen so, wie Teile des Adels, Dauernutzer dar; die finanzschwächeren Teile des Bürgertums besuchen das Theater nur nach Zeit (bes. an Wochenenden) und Finanzkraft. Die Stadttheater nach 1800 übernehmen diese Strukturen und ersetzen lediglich den Geburts- durch eine Art Geld-Adel. Vgl. dazu allg. Dreßler 1993. - Aufschlußreich ist auch die Verteilung von Freiplätzen; diese ist für das Wiener Burgtheater 1794 im Detail dokumentiert bei Großegger 1989, S. 835ff. Sie weicht, funktionell gesehen, kaum von der noch heute üblichen Praxis großer Bühnen ab (Freikarten erhalten Politiker, lokale Verwaltungsspitzen, Theaterangestellte samt Familien bis hin zum »Feuerwerker«); nur vom Umfang her übertrifft die Freikartenvergabe im 18. Jahrhundert die Praxis im 20. Jahrhundert. 109
faszinieren, sondern auch untere Sozialschichten (deren Teilnahme allerdings durch Geld- und Zeitmangel eingeschränkt wird). 194 Diese Schau- und Hörlust konnte durch die Hoftheater durch ihre fortgeschrittene Bühnentechnik besser gereizt und befriedigt werden als in den eher eingeschränkten Verhältnissen der Wanderbühnen. Noch 1839 betont der Eintrag »Publicum« im »Allgemeinen Theater-Lexikon« die Heterogenität des deutschen Theaterpublikums: Welch ein Abstand von dem Studenten, der nach sorgfältiger Vorbereitung durch wiederholtes Lesen einer klassischen Dichtung mit dem Buche in der Hand der Darstellung im Parterre folgt, bis zu dem Vornehmen, der nach einem glänzenden Diner gähnend in den Logen des i. Ranges verdaut; von dem Handwerker, der Sonntags seine Familie mit den Ersparnissen der Woche auf die Galerie führt, bis zu dem Musikkenner, der, den Klavierauszug in der Hand, die Leistung des Orchesters und der Sänger beurtheilt. Die höchste geistige Bildung neben der rohesten Vergnügungssucht, der Glanz und die Behaglichkeit der bevorrechteten Stände neben dem Mangel und der niedrigen Neigung!195
Das Theater wird, gerade in seinen beliebtesten Teilen, dem deutschen Musiktheater, zu einem einzigartigen Knotenpunkt gesellschaftlicher Kommunikation, einem Raum der Mischung von Ansprüchen, Mentalitäten und Werthaltungen. Anders als die italienische Oper, die weitgehend Kulturform der Aristokratie bleibt, vereint das deutsche Musiktheater einen großen und heterogenen Ausschnitt der Bevölkerung. Die Heterogenität des Publikums führt auch dazu, daß die Mischung aus ernsten und komischen Stücken an einem Abend beibehalten wird, allen gegenteiligen Forderung bürgerlicher Aufklärer zum Trotz. Zugleich führt diese Heterogenität auch zu den spezifischen Ablehnungs- und Elite-Tendenzen, die die spätaufklärerischen wie auch die klassischen Theaterkonzeptionen kennzeichnen - die heterogenen Reaktionen des Publikums führen dort dazu, dem realen Publikum, dem »scheußliche[n] Ungeheuer mit hundert Köpfen«, die Idee einer einheitlichen Bildungs-Elite entgegenzusetzen, zu der das reale Publikum hin erzogen werden müsse.' 96
194
195 19(1
Die Kosten für den Eintritt liegen im 18. Jahrhundert im Verhältnis zur Kaufkraft höher als heute; vgl. etwa die Berechnungen von Otto Schindler 1976, S. 39ff. Zit. n. Maurer-Schmoock 1982, S. 119 Anm. 2. Die Ablehnung des realen Publikums und die Trennung in den >großen Haufen< und die kleine Elite der Kenner bei Schiller und Goethe ist bekannt. Die Klassiker stehen damit jedoch nicht allein; erwähnt sei hier eine spätaufklärerische Stellungnahme, die in ihrer Metaphorik eindeutig ist. Das Publikum »[] ist eigentlich ein scheußliches Ungeheuer mit hundert Köpfen, Hörnern, Ziegenfüßen und einem Affenschwanze, — auf welchem die Kritiker zu reiten pflegen; [ ] daher kömmt es denn, daß es trotz Peitsche und Sporn nicht von der Stelle zu bringen ist, — und daher sein Starrsinn, seine Bosheit, seine Tükken.« (Ueber Schriftsteller- und Theater-Unwesen. In: Rheinische Musen, 2. Bd (1794), 9. Stück, S. 193-203, hier S. 203); vgl. ähnlich etwa Schütze 1794, S. 709^ Zur realen Domestikation des Publikums vgl. Dreßler 1993.
HO
Heterogen ist das neue Publikum nicht nur sozial, sondern auch von seiner Rezeptionserfahrung her. Die Frage der Rezeptionserfahrung ist nicht schichtspezifisch, hängt aber mit der Schichtzugehörigkeit zusammen.' 97 Die höheren Aristokraten können in der Regel durch ihre musikalische (und tänzerische) Ausbildung und durch ihre hohe Rezeptionserfahrung den Status von >Kennern< beanspruchen und sind in der Lage, das Musiktheater sowohl technischartistisch (vom Niveau der Darbietung) als auch ästhetisch zu beurteilen. Diese Teile der Aristokratie, sofern sie das deutsche Fach nicht von vorneherein als minderwertig ablehnen (wie Friedrich II.), prägen ganz entscheidend die Entwicklung des Genres, indem sie Standards setzen und das Genre an das europäische Niveau anzuschließen versuchen (vgl. z.B. die Versuche Josephs II., den Gesangsbereich zu verbessern). Dieser Kennerschaft, die möglicherweise auch bei Distanz zu den präsentierten Inhalten auf ihre Kosten kommen konnte, stehen zunächst im bürgerlichen Bereich meist Rezipienten gegenüber, die wenig mit den Standards des Musiktheaters vertraut sind, wenig Rezeptionserfahrung mit Fiktionalem überhaupt haben und eher nach der Übereinstimmung mit der lebensweltlichen Realität fragen. Dem entspricht die Struktur der frühen Wanderbühnen-Werke, indem hier Stoffe aus lebensweltlichen, meist ländlichen Welten vorgeführt werden und die Gesangspartien in der Regel ausdrücklich motiviert werden (als Arbeitslied o.a.). Dennoch handelt es sich hier nicht um »realistisch« vorgehende Kunst: die dargestellten Welten und Sozialräume sind topisch konstruiert. Diese Werke nähern sich an die Lebenswelt der Rezipienten an, nicht indem sie diese widerspiegelten, sondern durch das Aufgreifen verbreiteter Meinungen, Wahrnehmungshaltungen und Weltbilder. In der Anlage der Figuren setzt dieser Zuschauertyp die Orientierung an einer >flachen< Anthropologie voraus: Die Figuren auf der Bühne müssen erkennbar im Bereich einer definierten und stabilen, verallgemeinerbaren »Normalität« bleiben (s. u. II. i u. III.2). Diese Kriterien überwiegen alle anderen ästhetischen Faktoren, da zudem die Vergleichsmaßstäbe fehlen. Entsprechend betont die ADB 1778 anhand von >Elysium< (Jacobi/Schweitzer), daß heterogene Publikumsreaktionen in erster Linie mit Rezeptionserfahrung mit dem Medium Musiktheater zusammenhängen: Freylich für die, die keine oder doch wenig italiänische Musik gehört haben, mag der Gesang unterhaltend genug seyn: und Rec. hat hievon wirklich einleuchtende Beyspiele erlebe. Er hat dieses Stück an großen und kleinen Orten aufführen gesehen; da, wo nie italiänische Musik hingekommen war, unterhielt das Stück sehr, und gefiel
";7 Die Möglichkeit zur Kennerschaft setzt Geld und Zeit voraus. Andererseits finden sich Formen der >einfachen< Rezeption quer durch alle Stände. Vgl. zum Problemfeld meinen Aufsatz: Auge und Ohr. Rezeptionsweisen im deutschen Musiktheater des späten 18. Jahrhunderts. In: Erika Fischer-Lichte/Jörg Schönen (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1998, S. 109—132. III
der Neuheit wegen; wo aber fast jeder italiänische Musik kannte, wurde auch fast allgemein gegähnt.'98
Gerade dort, wo starke italienische Traditionen bestehen, kann sich das deutsche Genre oft nur schwer etablieren, weil es nicht im selben Maß wie andernorts vom Publikum angenommen wird.1" Der Gruppe der einfachen Zuschauers die aufgrund der ständigen Vergrößerung des Theaterpublikums ab den ijjoer Jahren ein konstanter Einflußfaktor bleibt und das deutsche Musiktheater favorisiert,200 ist, wie das obige Zitat implizit erkennen läßt, auch im bürgerlichen Bereich selbst eine zunehmend Kennerschaft annehmende Gruppe gegenüber zu stellen. (So nahe die These liegt, daß sich hierbei der oben angesprochene Konflikt von höfisch-bildungsbürgerlichen und wirtschafts-/gewerbebürgerlichen Gruppen als Gegensatz von >Kennern< und >Laien< wiederholt, so wenig kann diese beim gegenwärtigen Forschungsstand empirisch abgestützt werden.) Innerhalb der >Kenner< können wiederum zwei Grundorientierungen differenziert werden: einerseits ein eher ästhetisch-artistisches Interesse an den Möglichkeiten der Gattung (etwa bei den Autoren wie Wieland oder Goethe oder bei den kritischen Journalen), zum anderen ein emotionales Interesse an den sinnlichen Potentialen der Gattung. Diese Sinnenlust wird in der theoretischen Debatte immer wieder als Hauptgegner angeprangert und verurteilt (vgl. das obige Zitat von Boßler); hier erge-
198 199
200
ADB 35/i (1778), S. 172. So kann sich das deutsche Musiktheater z.B. in Dresden in der direkten Konkurrenz mit einer hochqualifizierten Hofbühne nicht halten: Der Prinzipal Bondini bietet mit seiner Truppe nur solange deutsches Musiktheater an, wie die Hofoper wegen der finanziellen Belastungen durch den Krieg um die Bayerische Erbfolge (1778—1780) geschlossen ist. Als die Hofoper wieder etabliert wird, macht er eine Eingabe: »Da nun Ew. Churf. Durch!, dermalen von einer so guten Italienischen Gesellschaft zur Opera buffa bedient werden, welcher die zeitherigen deutschen Singespiele ohnehin nicht beigekommen, so wagt es Bondini [ ] submissest zu bitten, daß er von Haltung eines deutschen Singespieles gnädigst dispensiert [ ] werden möchte.« (zit. nach: Hans Gersdorf: Die Wandlungen des Theatergeschmacks im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, dargelegt an den Dresden-Leipziger Bühnenzuständen. Diss. (masch.) Leipzig 1923, S. 2). Da diese italienische Hoftruppe auch in Leipzig spielt, wird in den I78oer Jahren selbst in Leipzig, dem Entstehungsort des deutschen Singspiels, kaum noch deutsches Musiktheater gegeben. Vgl. a. Krebs 1985, bes. S. i6f. Diese Rezeptionshaltung wird auch durch die ständig zunehmende Erweiterung des Theaterpublikums gespeist: nicht nur Handwerker und Dienstboten bekommen Zutritt zum Theater, sondern auch neue Zielgruppen wie die Kinder erhalten nun auf sie zugeschnittene Angebote (z.B. >Die Schadenfreude< [Weiße, vertont von G. P. Weimar 1776 und von J. Andre 1778], >Das Blumenfest< [Kringsteiner/W. Müller 1793], >Die kleine Aehrenleserin< von Weiße und Hiller oder die Rezension der ADB [46/2 [1781], S. 43511".] über eine in Göttingen 1780 erschienene Sammlung von Kinderoperetten).
112
ben sich Parallelen zur spätaufklärerischen Kritik der »Lesewut«. 201 Diese >empathischenLottchen am Hofe< trotz des Bewußtseins der »Fehler« des Werks, die iterative, intensive Rezeption, die v. a. von der Lust an der Musik getragen ist, schließlich die distanzierte Haltung Gleims als Vertreter einer älteren Position: »ich hoffe daß auch Gleim nicht ermangeln wird, ob es Ihm gleich nicht gefallt Lottchen am Hoffe zu sehen, mich lokt dieses brave Mädchen mit allen Seinen Fehlern zum vierdtenmahl heütte hin, und ich würde daß Stük zwanzigmahl hören wenn es auch zulezt nur um der Music halben wäre« (Regina Nörtemann/Ute Pott (Hg.): >Mein Bruder in ApollVersuche im musikalischen Drama< (Bayreuth 1779) auf den Nachteil des Mitlesens, also einer offenbar weitverbreiteten Praxis, hin: »Denn wenn ich auch bey der Oper und Operette den Text nachlesen kann, so verliere ich darüber das Spiel der Mienen und des Körpers.«205 (Die Praxis des Mitlesens steht auch im Zusammenhang mit einem statuarischen Darstellungsstil, der nach 1770 zunehmend durch Forderungen nach einem »natürlichen« abgelöst wird.206) Noch E. Th. A. Hoffmann kritisierte ironisch, daß die Zuhörer bei der Aufführung »die Blätter der Opernbücher umwenden, welches Geräusch der Brandung des Meeres zu vergleichen.« 207 Die Libretti erfüllten häufig zugleich die Funktion heutiger Programmhefte und enthielten z.B. die Namen der Sänger neben dem Personenverzeichnis; meist ist auch schon auf dem Titelblatt die konkrete Aufführung vermerkt. Daneben wird die Gattungsbezeichnung stets, der Librettist dagegen keineswegs immer genannt, der Komponist noch seltener. Der Erscheinungsort der meist sehr schlichten und billigen Drucke (in der Regel Oktavformat) entspricht in der Regel dem Aufführungsort; die Auflagen dürften entsprechend klein gewesen sein. Die Textdrucke fungierten somit primär als Verständnishilfe bei der Aufführung, nicht als autonome Lesetexte. Insofern stellen die Librettodrucke allein bereits Rezeptionsbelege dar; auch wenn keineswegs für alle Aufführungen Textbücher gedruckt wurden, dokumentieren sie als Gebrauchstexte ziemlich zuverlässig den Erfolg eines Stücks.208 Philologisch gesehen bringt dies bei den erfolgreicheren Stücken mit sich, daß sich die einzelnen Textausgaben oft erheblich unterscheiden. Dafür sind zwei verschiedene Faktoren maßgeblich: zum einen die jeweils unterschiedliche Aufführungssituation mit ihren lokalen und praktischen Gegebenheiten, zum anderen aber, v. a. bei den repräsentativeren Sammelausgaben, die Wirkungen literarischer Normen. So betont etwa Gotter in seiner späten Werkausgabe, er hätte den >MedeaDer Eremit zu FormenteraO sind in der Tat zahlreichen Vertonungen zugrunde gelegt worden.
dafür prompt von den Gralshütern »reiner« Literatur kritisiert). Auch Raubdrucke populärerer Libretti-Ausgaben, die auf ein kommerzielles Interesse hindeuten, finden sich gelegentlich.213 All dies deutet daraufhin, daß es sich bei der neuen Librettistik um ein ausgesprochen modisch-populäres Genre handelt. Daneben etabliert sich im späten 18. Jahrhundert der Druck von Musikalien; nur sehr selten der Partituren (aus Kostengründen), aber häufiger von Klavierauszügen oder Lieder- und Ariensammlungen. Damit eröffnet sich ein neuer Distributionszusammenhang, der auf häusliches oder geselliges Musizieren verweist und zur Verbreitung erfolgreicher Lieder, Arien oder Duette in einem anderen Kommunikationskreis beiträgt. Die Tatsache, daß die Klavierauszüge in der Regel die Ouvertüre des Werks auslassen, verweist deutlich auf diese Funktion auch der Klavierauszüge. Außerdem fehlen fast grundsätzlich die Dialoge214 sowie meist alle Szenenanweisungen, und die Textdichter werden in der Regel gar nicht genannt. Da die Klavierauszüge für Liebhaber gedacht waren, die nach dem Besuch einer Aufführung einzelne Stücke daraus zu Hause spielen wollten, 215 wurden die Klavierauszüge zunächst stark reduziert und vereinfacht. In Hillers Klavierauszügen finden sich in der Regel nur Baßund Melodiestimme; Mittelstimmen werden meist weggelassen, nur an unerläßlichen Stellen durch Kleinstich wiedergegeben; spieltechnische Schwierigkeiten werden vermieden, mit den Stimmlagen frei umgegangen.216 Hiller selbst, der auch hier am Anfang der Entwicklung steht, schätzte diese Art von simplifizierten Klavierauszügen nicht; allerdings schienen sie ihm als soziales und pädagogisches Medium unverzichtbar. 2 ' 7 Bei den späteren, musikalisch 213
214
215 216
217
So erscheint z.B. 1774 in Berlin bei Ringmacher ein Raubdruck von Weiße-Libretti (>DorfbarbierKriegJubelhochzeitDie kleine AehrenleserinLisuart und DarioletteLottchen am Hofe< schreibt Hiller 1769: »Diesen für das Klavier gemachten Auszug habe ich etwas vollstimmiger einzurichten versucht als den ersten; freilich habe ich das Außenwerk des Gebäudes, das Akkompagnement, öfters sehr verändert vorstellen oder wohl gar wegwerfen müssen. [ ] Da alle Stimmen hier im Diskantzeichen erscheinen, so will ich noch anmerken, daß Astolph und Gürge eigentlich Baßstimmen sind []« (zit. n. Stompor 1975, S. 43f.). Vgl. allg. Kawada 1969, S. uff.; M. Hansemann: Der Klavierauszug von den Anfängen bis Weber. Diss. Berlin 1940, S. 38ff. Vgl. seine Vorrede zum Klavierauszug >Lisuart und DarioletteMeisterstücke des italienischen Gesanges [ ] in Partitur herausgegeben von J. A. HillerDer Tod JesuSiegwart< vor; vgl.: Lieder und Gedichte aus dem Siegwart. Leipzig/Halle 1780.
118
8. Fazit Die übliche generelle Einstufung des »Singspiels« als »bürgerlich« erweist sich schon durch die sozialhistorischen Typologien von zwei Seiten aus als viel zu ungenau. Sie übersieht die bedeutende Rolle des Adels bei der Durchsetzung der deutschsprachigen Gattungen, Gegen Ende des Jahrhunderts sind es gerade die großen Residenzen, die das deutsche Musiktheater tragen. Auf der anderen Seite verkennt sie, daß gerade bedeutende Teile des Bürgertums theaterfeindlich, bestenfalls uninteressiert eingestellt waren. Die Träger der neuen deutschsprachigen Genres finden sich quer durch die soziologischen Konstrukte »Adel«/»Bürgertum« und stehen in Opposition nicht gegeneinander, sondern jeweils innerhalb der eigenen Schichten: Im Adel verläuft die Trennlinie zwischen fremdsprachiger und deutscher Kunst, im Bürgertum zwischen Theaterbegeisterung und -ablehnung. Auch im Bereich der Librettisten und der Komponisten läßt sich eine Formation erkennen, in der sich Teile der bürgerlichen Oberschichten und Teile der (meist niederen) Aristokratie zu einer eigenen Dilettanten-Kultur mit einer spezifischen Öffentlichkeitsstruktur verbinden. Beim Übergang des Genres in die Sphäre der kleinen und mittleren Höfe dringen auch vom Schauspielstil der Darsteller her die empfindsamen Natürlichkeitsdoktrinen in die höfische Kultur ein. Die Situation der Wanderbühnen an den Höfen erfordert damit eine wechselseitige Amalgamierungsleistung von höfischen Kommunikations- und Verhaltensmustern und empfindsamen Normen. Problematisch ist eine Grobkonstruktion »Adel« vs. »Bürgertum« besonders auch dann, wenn sie die internen Mentalitätsunterschiede innerhalb der konstruierten Sozialschichten vernachlässigt. Allein innerhalb des Hochadels differiert die Haltung zur Musik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts außerordentlich. Dies läßt sich am Beispiel der Hofkapellen in Wien und Mannheim zeigen. 229 In Wien wirken sich unter Maria Theresia die merkantilistische Wirtschaftsethik und die Sparzwänge durch Kriegslasten (Erbfolgekriege, Siebenjähriger Krieg) stark zu Lasten der höfischen Musikkultur aus. Schon die Abschaffung des spanischen Hofzeremoniells schwächte die Position der Musik am Hofe ab; die Hofkapelle verlor nach dem Tod von Johann Josef Fux (1741) ihre zentrale Rolle im Wiener Musikleben. Wirtschaftliche und soziale Reformpolitik verschränkt sich jetzt am Wiener Kaiserhof mit Restriktionen im musikalischen Bereich. »Alles im Bereich der kaiserlichen Jurisdiktion drängte [ ] auf Sparsamkeit und Nüchternheit, die mit dem geforderten wirtschaftlichen Fleiß in 229
Darauf hat Kurt Blaukopf gegen Thorstein Veblens Theorie der »müßigen Klasse« hingewiesen; vgl. Kurt Blaukopf: Musik im Wandel der Gesellschaft. Grundzüge der Musiksoziologie. München 1984 ['1982], S. 113-126. 119
Einklang standen.«230 Auch die spätere Einrichtung des »Teutschen NationalSingspiels« hängt mit Sparmaßnahmen zusammen: Deutsches Musiktheater ist wesentlich billiger als das italienische. Ganz im Gegensatz dazu ist die Haltung des Mannheimer Kurfürsten Karl Theodor noch von repräsentativer, altabsolutistischer Prachtentfaltung geprägt. Die Musiker werden hier nicht, wie im theresianischen Wien, auf der untersten Stufe der Sozialordnung angesiedelt,23' sondern genießen hohen Sozialstatus sowie höfische Privilegien und werden vom Kurfürsten aus ganz Europa zusammengeholt. Dieser höfische Glanz beruht jedoch auf einer Sozial- und Wirtschaftspolitik, die gegenüber den Reformansätzen in Wien (oder auch in Preußen) nur als völlig veraltet angesehen werden kann. 232 Die Folgen sind bemerkenswert: In Mannheim entsteht auf der Basis einer zunehmend veralteten höfischen Repräsentation das modernste Orchester der Zeit, das »ohne Widerspruch beste in Teutschland«. 233 Es ist in hohem Maße von der Professionalisierung und Spezialisierung der Orchestermitglieder gekennzeichnet. Hier werden — viel früher als in Wien — die Grundlagen des modernen Berufsorchesters gelegt. Die musikwissenschaftliche Forschung betont gerne die Modernität des Mannheimer Orchesters, die sich auch kompositorisch im Instrumentalstil der »Mannheimer Schule« niederschlägt; sie übersieht aber dabei oft, aus welcher Haltung diese Modernität entspringt — aus der demonstrativen Repräsentations- und Konsumhaltung des Monarchen. Die wesentlich modernere Wirtschaftsethik der Habsburger jedoch führt dort zunächst zu einer Reduktion im musikalischen Bereich. (In Preußen finden diese Prozesse noch wesentlich rigider statt, indem die Ausgaben für den Hof weit unter dem Durchschnitt der deutschen Staaten liegen, die Militärausgaben jedoch weit höher. Hier wird eine moderne Verwaltungstechnik primär zur mili230
231
232
233
Ebd. S. 119. Blaukopf weist auch darauf hin, daß dies z.T. durch die Musikpflege einzelner Adeliger und wohlhabender Bürger aufgefangen wurden. Die Vielfalt des Wiener Musiklebens Ende des Jahrhunderts resultiert daher auch daraus, daß unter Maria Theresia der Hof seine zentrale Bedeutung für die Entfaltung musikalischer Repräsentation verliert. Blaukopf (ebd. S. n8f.) zitiert ein Antwortschreiben Maria Theresias an ihren Sohn Ferdinand, der von Leopold Mozart um eine Stelle für seinen Sohn angegangen worden war: »Du fragst mich, ob Du den jungen Salzburger in Deine Dienste nehmen sollst. Ich wüßte nicht warum, da Du doch nicht nötig hast, einen Komponisten oder unnütze Leute anzustellen. Wenn es Dir trotzdem Vergnügen macht, möchte ich Dich daran nicht hindern. Ich sage es Dir nur, um Dich nicht mit unnützem Volk zu belasten. Vermeide es durchaus, solchen Menschen Titel zu geben, als ob sie in Deinen Diensten stünden. Das diskreditiert den Dienst, wenn diese Leute in der Welt wie Bettler herumlaufen.« Schon Zeitgenossen haben den rückständigen Charakter der kurpfälzischen Wirtschaftspolitik klar erkannt; vgl. z.B. Risbeck 1784, S. 333f. oder Johann Pezzl: Faustin, oder das philosophische Jahrhundert. Zürich 1783 ['1785]. Leopold Mozart, Brief vom 19.7.1763 an Lorenz Hagenauer (MBA i, S. 79).
I2O
tärischen Aufrüstung genutzt und minimiert die kulturfördernde Repräsentationshaltung des Hofes.234) In Wien entsteht jedoch durch die Verlagerung der Musikpflege vom Hof weg in die hauptstädtische Bevölkerung die Grundlage für das außerordentlich reiche Musikleben am Ende des Jahrhunderts, während in Mannheim das Orchester (und damit auch das Musiktheater) nach dem Wegzug des Hofes zerfällt und rasch seine außerordentliche Bedeutung verliert. Sozial- und kulturgeschichtliche Faktoren sind daher oft widerspruchsreicher ineinander verschränkt, als die Konstruktion soziologischer Klassen erkennen läßt.
234
Vgl. das Material bei Daniel 1995, bes. S. Ii8ff. 121
2. Zur Korpusbildung
Dies allein, daß sie die Geschichte des Subjekts weiterschrieben, trennt ein Bündel Werke als den besseren, hierarchiefreien Kanon aus dem ungeschlachten Corpus sämtlicher Opern.1
Im folgenden geht es gerade nicht um einen »besseren Kanon«, der aus der heutigen Einschätzung der »Geschichte des Subjekts« heraus dem »ungeschlachten Corpus« der Vergangenheit abgerungen werden müßte. Mir geht es im Gegenteil um den Versuch, der historischen Einschätzung und Selbstwahrnehmung vom »Subjekt« im 18. Jahrhundert näher zu rücken, die sich gerade in diesem »ungeschlachten Corpus« mit seinen immensen, ermüdenden Repetitionen und Banalitäten niedergeschlagen hat. Dafür sind aber gerade auch die Werke wichtig, die nicht teleologisch in einen Prozeß eingepaßt werden können, also aus heutiger Sicht »Modernität« beanspruchen können, sondern die die alltägliche Kraft des Beharrenden zeigen — die veralteten Werke, die keine Geschichte weiterschreiben, sondern einen Zustand repräsentieren. Jeder historischen Untersuchung von Verlaufsprozessen drohen zwei grundsätzliche Gefahren: die immanente Tendenz zur Überbewertung von Veränderungen gegenüber dem Kontinuierlichen und die Neigung zur Konstruktion linearer Prozesse.2 Die Grundzüge eines historischen Selbstverständnisses, das es noch zu rekonstruieren gilt, finden sich gerade in dem, was aus der Sicht einer modernen »Geschichte des Subjekts« im Sinne Nagels als reine Modernisierungsdefizite erscheinen mag. Und ein Ausgehen von der Konstruktion linearer Entwicklungsprozesse — heißen sie nun »Säkularisierung«, »Verbürgerlichung«, »Modernisierung«, »funktionale Ausdifferenzierung« o.a. — legt von vorneherein das betreffende Untersuchungsobjekt auf die entsprechende lineare Interpretation hin fest. Kulturgeschichte aber, gar die Geschichte von Massenkultur, läßt sich nicht als linear-(mono)kausale Folge innovativer Entwicklungen beschreiben. Zu stark sind hier Elemente, die quer zu Konzepten historischen Wandels stehen. Diese Erfahrung mußten bereits die Spätaufklärer mit dem für sie immer unbegreiflicheren Verhalten des breiten Publikums machen. Statt von linear kon-
1 2
Nagel 1988, S. ii. Vgl. dazu auch Daniel 1995, S. 455ff.
122
struierten Großtrends her zu werten, wäre also nach den vielschichtigen Beziehungs- und Bedingungsgeflechten zu fragen, die die (nun allerdings weniger aus »linearen« als aus »quer« verlaufenden Wirkungszusammenhängen zustandekommende) Entwicklung massenkultureller Formen bestimmten. Betrachtet man das Musiktheater primär als Massenmedium, das ein Distributions- und Diskussionsforum für das populäre Verständnis von »Subjektivität« bildet, dann rückt zunächst eine Kategorie in den Vordergrund, die problematisch ist: der Erfolg. Nur diejenigen Werke, bei denen eine Breite der Rezeption nachweisbar ist, können für eine Geschichte der historischen Anthropologie herangezogen werden; auch wenn andere Werke aus heutiger Sicht gehaltvoller oder innovativer scheinen mögen: Wirksam werden diese erst über den faktischen Erfolg eines möglicherweise von ihnen mit beeinflußten anderen Werks. (Dabei ist klar, daß der Umkehrschluß nicht gilt: Die Tatsache des Erfolgs allein bedeutet noch nicht, daß die betreffenden Werke auch von anthropologischer Relevanz sind. Der Erfolg eines Bühnenwerks konstituiert sich aus einer Fülle von Faktoren, unter denen die Rezeptionsangebote der Werke nur einen Teil bilden.) Dennoch kann man davon ausgehen, daß die großen, längerfristig wirksamen Erfolgswerke des Genres in grundlegenden Positionen der vorausgesetzten Anthropologie einerseits mit verbreiteten Grundansichten des Publikums übereinstimmen müssen, zum ändern diese auch wiederum aus ihrer Latenz herausholen und in der theatralischen Vorführung körperlich greifbar ausprägen, möglicherweise auch partiell umprägen. Detaillierter Einblick in derartige Prozesse setzt Auswahl voraus. Aus dem im Verzeichnis des IV. Teils dokumentierten Bestand von rund 1300 Werken aus dem Zeitraum 1760-1800, von denen allerdings nur ein relativ kleiner Teil in Text und Musik erhalten ist, habe ich ein Korpus zur Detailanalyse ausgewählt. Da das Ergebnis der Untersuchung zu einem nicht unbeträchtlichen Teil von der Auswahl des engeren Analyse-Korpus' abhängt, scheint zunächst eine Klärung der Auswahlkriterien unabdingbar. Im Mittelpunkt der Auswahl der einzelnen Werke stand deren repräsentativer Charakter für einen jeweiligen Teil des Repertoires. Der Repräsentationsgrad bemißt sich u. a. am Aufführungserfolg und der Anzahl der Wiederaufführungen des Werks, aber auch z.B. an der Häufigkeit von gedruckten Zeugnissen wie Textbüchern, Klavierauszügen bzw. am Grad der auszugsweisen Veröffentlichung in Lieder- und Ariensammlungen; schließlich wurden auch Werke berücksichtigt, die im Rahmen der zeitgenössischen Theoriebildung über das deutsche Musiktheater von besonderem Gewicht waren, auch wenn ihr Aufführungserfolg in der Praxis nicht an die absoluten Spitzen heranreichte. Sie aber können als Einflußfaktor für andere, populäre Werke oder für das Verständnis der Gattung in der öffentlichen Diskussion gelten - als Teil des oben erwähnten Beziehungs- und Bedingungsgeflechts, aus dem sich die Entwicklung einer Gattung partiell konstituiert. 123
Als quantifizierbare Kriterien für den Erfolg eines Werks wurden zunächst bestimmt: - geographische Streuung der Aufführungen (Ausschluß reiner Lokalerfolge); — zeitliche Breite der Aufführungen (Ausschluß rein ephemerer, möglicherweise aktuell-situativ bedingter Erfolge); — Anzahl der Druckzeugnisse; — Stärke einer kritischen zeitgenössischen Rezeption in den neuen Medien des >kritischen RäsonnementsDie verwandelten Weiber< (C. F. Weiße/J. A. Hiller Leipzig 1766), >Der lustige Schuster< (Weiße/Hiller Leipzig 1766), >Lottchen am Hofe< (Weiße/Hiller Leipzig 1767), >Lukas und Hannchen< (J. J. Eschenburg/J. F. G. Beckmann Braunschweig 1768), >Die Liebe auf dem Lande< (Weiße/Hiller Leipzig 1768), >Die Jagd< (Weisse/Hiller Weimar 1770), >Das Rosenfest< (G. E. Heermann/ E.W. Wolf Weimar 1770), >Der Aerntekranz< (Weiße/Hiller Leipzig 1771), >Die Apotheke< (J.J. Engel/C. G. Neefe Berlin 1771), >Die Dorfdeputirten< (Heermann/Wolf Berlin 1772), >Die Dorfgala< (F. W. Gotter/A. Schweitzer Weimar 1772), >Der Töpfer< (J. Andre Hanau 1773), >Alceste< (C. M. Wieland/ Schweitzer Weimar 1773), >Ariadne auf Naxos< (J. C. Brandes/G. Benda Gotha 1775), >Der Dorfjahrmarkt< (Gotter/Benda Gotha 1775), >Medea< (Gotter/ Benda Leipzig 1775), >Romeo und Julie< (Gotter/Benda Gotha 1776), >Die Bergknappen« (J. Weidmann/I. Umlauf Wien 1778), >Der Alchymist< (A. G. Meißner/J. Schuster Dresden 1778), >Pygmalion< (Gotter/Benda Gotha 1779), >Die Pücefarbnen Schuhe, oder die schöne Schusterinn< (J. G. Stephanie/Umlauf Wien 1779), >Adelheit von Veltheim< (G. F. W. Großmann/Neefe Frankfurt a.M. 1780), >Robert und Kalliste< (Eschenburg/P. I. Kürzinger Regensburg 1780), >Der Rauchfangkehrer< (L. v. Auenbrugger/A. Salieri Wien 1781), >Helena und Paris< (K.J. Förg/P. Winter München 1782), >Die Entführung aus dem Serail< (Stephanie/W. A. Mozart Wien 1782), >Der Liebhaber als Automat oder Die redende Maschine« (Andre Berlin 1782), >Die Dorfdeputirten« (Heer-
3 4
Vgl. ähnlich Krause 1982, S. 9iff. zum »Trivialdrama« der Zeit. Genannt sind jeweils Librettist, Komponist und Uraufführung. Als Librettist ist jeweils nur der letzte Bearbeiter eines Stoffes angegeben; wenn kein Librettist angegeben ist, stammt das Libretto vom Komponisten. Im Falle mehrfach vertonter Libretti wurden nur die jeweils erfolgreichsten Fassungen aufgeführt.
124
mann/L. Schubaur München 1783), >Der Bettelstudent oder Das Donnerwetter< (Weidmann/Winter München 1785), >Die treuen Köhler< (Heermann/Schubaur München 1786), >Doctor und Apotheker< (Stephanie/Dittersdorf Wien 1786), >Betrug durch Aberglauben< (F. Eberl/Dittersdorf Wien 1786), >Die Liebe im Narrenhaus< (Stephanie/Dittersdorf Wien 1787), >Die Mitternachtsstunde< (M. G. Lambrecht/F. Danzi München 1788), >Der Eremit auf Formentera< (A.v. Kotzebue/P. Ritter Mannheim 1788), >Hieronymus Knicker< (Dittersdorf Wien 1789), >Die christliche Judenbraut< (F. X. Girzik/J. B. Paneck Budapest 1789), >Oberon, König der Elfen< (K. L. Giesecke/P. Wranitzky Wien 1789), >Der Schiffspatron oder Der neue Gutsherr< (J. F. Jünger/Dittersdorf Wien 1789), >Anton der dumme Gärtner< (E. Schikaneder/B. Schack, F. X. Gerl u.a., 7 Teile, Wien 1789-1795), >Das rothe Käppchen< (Dittersdorf Breslau 1790), >Das Sonnenfest der Braminen< (K. F. Hensler/W. Müller Wien 1790), >Kaspar der Fagottist oder die Zauberzither< (J. Perinet/W. Müller Wien 1791), >Die Zauberflöte< (Schikaneder/Mozart Wien 1791), >Das Winzerfest< (J. J. Ihlee/F. L. A. Kunzen Frankfurt a. M. 1793), >Das Neusonntagskind< (Perinet/Müller Wien 1793), >Die Schwestern von Prag< (Perinet/Müller Wien 1794), >Der Spiegel von Arkadien< (Schikaneder/F. X. Süßmayer Wien 1794), >[Telemach,] Der Königssohn aus Ithaka< (Schikaneder/F. A. Hoffmeister Wien 1795), >Der Tiroler Wastel< (Schikaneder/J. Haibel Wien 1796), >Das unterbrochene Opferfest< (F. X. Huber/Winter Wien 1796), >Der Dorfbarbier< (J. und P. Weidmann/ J. Schenk Wien 1796), >Die Pyramiden von Babylon< (Schikaneder/Winter Wien 1797), >Das Donauweibchen< (Hensler/F. Kauer Wien 1798), >Die Geisterinsel· (Gotter und F. H.v. Einsiedel/J. F. Reichardt Berlin 1798 bzw. J. R. Zumsteeg Stuttgart 1798), >Soliman der Zweite oder Die drei Sultaninnen< (Huber/Süßmayer Wien 1799), >Die Teufelsmühle am Wienerberg< (Hensler/ Müller Wien 1799). Aus diesen 57 Erfolgsstücken wurde wiederum ein engeres Analysekorpus ausgewählt, das nach zwei Grundgedanken gebildet wurde. Es soll zum einen typologisch die Vielfalt des deutschen Musiktheaters5 (zumindest grob) abbilden, 5
Grundsätzlich sind die Gattungsgrenzen im späten 18. Jahrhundert durchlässiger als es in der Typologie erscheinen mag. So wurde z. B. das eindeutig als Melodrama konzipierte Libretto >Cephalus und Prokris< von K. W. Ramler (1777) von Franz Adam Veichtner als Singspiel im Stile Hillers komponiert; auch umgekehrte Prozesse sind belegt (vgl. Schimpf 1988, S. 94). Noch krasser sind die Gattungs-Transformationen, die die Theaterpraxis mit sich brachte: Mozarts >Don Giovanni < wurde in Frankfurt a. M. 1789 in ein deutsches Singspiel umgeformt, was die Streichung sämtlicher Rezitative, die Neukomposition tonaler Übergänge und eine extreme Reduktion der Ensembles bedeutete; zudem wurden neue Figuren eingefügt. Das Stück wurde insgesamt näher an die Schauspieltradition des Stoffs gerückt; vgl. Joachim Schlichte: Bürgerliches Theater und Singspiel: eine Einflußnahme auf das Theaterrepertoire im ausgehenden 18. Jahrhundert, dargestellt am Beispiel der Frankfurter Bühne. In: Gruenter (Hg.) 1981, S. 78-104, hier bes. S. 89-97; vgl. a. Proctor 1979. 125
zum anderen auch ätachrone Verschiebungen innerhalb des ausgewählten Zeitraums spiegeln. Konkret konstituiert sich das Analyse-Korpus aus folgenden Werken: — Christian Felix Weiße/Johann Adam Hiller >D'teJagd< (1770): frühes sächsisches (Wanderbühnen-)Singspiel; — Christoph Martin Wieland/Anton Schweitzer >Alceste< (1773): höfisiertes »Ernsthaftes Singeschauspiel«; - Friedrich Wilhelm Gotter/Georg Benda >Medea< (1775): Melodram; — Christoph Friedrich Bretzner/Johann Gottlieb Stephanie d.J./Ignaz Umlauf >Das lrrlicht< (1779/1782); Stephanie/W. A. Mozart >Die Entführung aus dem Serail· (1782) im Vergleich mit Bretzner/Johann Andre >Belmont und Constanze< (1781): Wiener »Nationalsingspiel«; - Emanuel Schikaneder/W. A. Mozart >Die Zauberflöte< (1791): Wiener Vorstadttheater (Zauberoper). Als Gegenpol wurden Werke ausgewählt, die unerwartet resonanzlos blieben. Hier wird in Umkehrung der leitenden Perspektive zu fragen sein, warum die Rezeptionsangebote dieser Werke nicht angenommen wurde. Während diese Erfolglosigkeit mit reflektiert werden muß, bleiben diese Werke als Dokumente der Spannbreite von Lösungsansätzen unverzichtbar. Dafür habe ich ausgewählt: — Johann Gottfried Herder >Brutus< (1772 — 74); - Anton Klein/Ignaz Holzbauer >Günther von Schwarzburg< (1777); - Johann Wolfgang Goethe >Erwin und Elmire< (1775/1788), >Claudine von Villa Bella< (1776/1788), >Scherz, List und Rache< (1784-89), >Lila< (1777! r778/i788).6 Dieses Gesamtkorpus deckt zugleich alle wichtigen Produktionsformen des deutschen Musiktheaters im Zeitraum ab: Wanderbühne (>JagdErwin und Elmire< [i. Fassung]), Wanderbühne am Hof (>AlcesteMedeaBrutusGünther von SchwarzburgLilaIrrlichtLila< schließlich ist die Kategorie des Erfolgs überhaupt problematisch. Vgl. Hein (Hg.) et al. 1989, S. 88-92. Vgl. Stadt Braunschweig (Hg.) 1990, S. 312 — 316.
126
Volksstück9 oder im Musiktheater für Kinder (Weiße/Hiller); ausgeklammert wurde auch die Berliner »Liederspiele« Reichardts um 1800.10 Besonders dringlich wären Arbeiten zur Übersetzung der Opera-comique bzw. der Opera buffa, deren Anteile für die Entwicklung des deutschsprachigen Genres nicht hoch genug eingeschätzt werden können und die hier aus pragmatischen Gründen ausgeklammert bleiben müssen. In den folgenden Analysen bleibt zudem der gesamte Komplex von Nachspielen bzw. Vorspielen, in dem Musiktheaterformen eine wesentliche Rolle spielten, außer Betracht. Dieser bedarf trotz der umfangreichen Studie von John (1991) noch ausführlicher Forschung. Für die Analyse wurden nur Werke ausgewählt, die den Hauptbestandteil eines Theaterabends bildeten.
9 10
Vgl. u.a. Raab 1898; Branscombe 1976; Hein (Hg.) 1989; Neuber 1993. Vgl. z.B. Johns 1988; Winkler 1991. 127
ZWEITER TEIL Dramaturgie und Anthropologie im deutschen Musiktheater
i. Das sächsische Singspiel als empfindsame Leitgattung. Christian Felix Weiße/Johann Adam Hiller: >Die Jagd
Die Jagd< von C. F. Weiße und J. A. Hiller dar, eines der populärsten Singspiele des mitteldeutschen Typs überhaupt: »Im norddeutschen Raum zumindest gab es kaum jemanden, der Hillers Singspiel beziehungsweise dessen erfolgreichste Nummern nicht gekannt hätte.« 1 Der Erfolg dieses Stücks klingt noch fast 100 Jahre später nach, als Richard Wagner seinen Meistersingern von Nürnberg< durch die Konstruktion einer spezifisch deutschen Tradition komischer Opern eine besondere nationale und historische Dimension zu verleihen suchte. Diese deutsche Traditionslinie, die Wagner polemisch gegen die komischen Formen der romanischen Oper stellte, bestand für ihn aus drei Werken: Sie begann mit der >JagdDoktor und Apotheker< und Lortzings >Zar und Zimmermann< in den >Meistersingern< zu kulminieren. 2 In Wagners Geschichtskonstruktion erhält die >Jagd< somit einen Pionierstatus als Ausgangspunkt einer spezifisch deutschen komischen Oper zugesprochen, was in der Folge die Einschätzung des Werks bis ins nationalsozialistische Deutschland hinein prägte.3 Die Brücke zu Wagner bildete dabei wahrscheinlich Albert Lortzings Versuch, die >Jagd< durch eine Neubearbeitung 1830 zu neuen Erfolgen zu führen — ein in der Geschichte des deutKlügl 1987, S. 18. Der >Wandsbecker Bote< (107. Stück) berichtete z.B. 1771 aus Berlin: »[] bey Aufführung der Jagd, vor 14 Tagen, musten 30 Kutschen zurück fahren, weil kein Platz mehr war.« (Zit. n. Bertram 1771, S. 9). Allein der Klavierauszug wurde in fünf Jahren dreimal aufgelegt und in insgesamt mehr als 4000 Exemplaren verkauft, was Hiller 1383 Reichstaler einbrachte und absolut ungewöhnlich ist: Üblicherweise sind Klavierauszüge in dieser Zeit Zuschußsache. Vgl. Hermann Hase: Johann Adam Hiller und Breitkopfs. In: ZfMw 2 (1919), S. 13, sowie Kawada 1969, S. 17Vgl. Kruse 1904, S. i*. Übrigens hat auch die Prügelszene aus den (ab 1845 konzipierten, ab 1861 ausgearbeiteten) >Meistersingern< (Finale des II. Aufzugs) ein Modell im deutschen Musiktheater des 18. Jahrhunderts: im Finale des I. Akts von Wenzel Müllers äußerst populären >Schwestern von Prag< (1794, bis 1828 im Repertoire). Die strukturellen Parallelen sind sehr deutlich: nacheinander aufziehende Liebhaber mit Instrumenten, Prügelszene, abschließendes Lied des Nachtwächters, das wieder Ruhe herstellt. Es wäre lohnend, die >Meistersinger< einmal auf ihre Verankerung im deutschen Musiktheater des späten 18. Jahrhunderts zu untersuchen. Zu den Tiefpunkten gehört etwa Gerhard Sanders Dissertation: Das Deutschtum im Singspiel J. A. Hillers. Berlin 1943. 130
sehen Singspiels seltener Fall des Weiterlebens im 19. Jahrhundert. 4 Noch 1850 führte Lortzing diese Fassung am Friedrich Wilhelmstädter Theater in Berlin auf. Dieser posthume Nachruhm eines Wanderbühnen-Werks zu einer Zeit, die längst eine ganz andere Theaterpraxis institutionalisiert hatte, hängt auch damit zusammen, daß der >Jagd< schon im zeitgenössischen Schrifttum eine Sonderstellung zugebilligt wurde. Besonders gründet dies auf der emphatischen Besprechung, die der junge Johann Friedrich Reichardt dem Werk in seiner Schrift >Ueber die deutsche comische Oper< (1774) zukommen ließ. Reichardt, der in Leipzig eine Zeitlang Schüler und Protege Hillers gewesen war, erklärte >Die Jagd< zum nachahmenswerten Musterbeispiel und zur Norm des deutschen Singspiels überhaupt. Dieses Urteil wirkte im norddeutschen Raum lange nach. Entgegen Wagners Konstruktion bildet >Die Jagd« jedoch keineswegs den Beginn des deutschen komischen Genres, sondern steht bereits an einem zusammenfassenden Punkt der Zusammenarbeit. Weiße gehört zu den Pionieren des deutschen Singspiels überhaupt: Seit seiner Bearbeitung von Charles Coffeys >The Devil to pay< als >Der Teufel ist los oder die verwandelten Weiber< (i752) 5 arbeitete er stetig an Singspieltexten für Heinrich Gottfried Kochs Truppe und war mit den praktischen Gegebenheiten der Wanderbühnen bestens vertraut. 1768 hatte er begonnen, seine Texte gesammelt als >Komische Opern< zu publizieren, veranlaßt auch durch die Praxis anderer Wandertruppen, die die Texte in seinen Augen derart »entstellten«, daß der Publikation eine Schutzfunktion für den eigenen literarischen Ruf Weißes zukommen sollte.6 4
5
6
Zu Lortzings »von Pietät durchaus nicht angekränkelter]« Neufassung vgl. Kruse 1904, bes. S. 2Cfff. (Der Leipziger Reclam-Verlag brachte noch 1904 einen LibrettoDruck der Lortzing-Fassung als Band 4556 der Universal-Bibliothek heraus.) »The Devil to pay< (1731) ist für die deutsche Entwicklung ungleich wichtiger als der eigentliche Prototyp der englischen ballad opera, John Gays >Beggar's opera< (1728). >The Devil to pay< gelangte ungefähr parallel zur deutschen Rezeption in Frankreich unter dem Titel >Le Diable ä quatre< auf die Bühne, wo das Werk bis ins 19. Jahrhundert populär blieb (vgl. Adolphe Adams gleichnamiges Ballett [1845]); vgl. Klügl 1987, S. lof. Die französische Fassung wurde dann wiederum von Friedrich Wilhelm Weiskern in Wien zu einem deutschen Lustspiel bearbeitet (Die doppelte Verwandlung, eine freye Nachahmung von der bekannten und beliebten komischen Oper: Le Diable ä quatre. Wien: Kraus 1767). All dies zeigt einerseits die enge Verflechtung des europäischen empfindsamen Musiktheaters, andererseits die ebenso enge Wechselwirkung von Sprech- und Musiktheater. — Zu Weißes Fassung vgl. Catholy 1982, S. 50-56. Vgl. Weiße i8o6a, S. 105. Faktisch entstand das Dilemma daraus, daß Koch die Original-Manuskripte nicht aus der Hand gab, so daß andere Truppen, die die Erfolgsstücke ebenfalls spielen wollten, mitunter die Gesangstexte nach Gehör abschrieben oder aus den leichter zugänglichen, jedoch ohne Dialoge publizierten Klavierauszügen entnahmen und eigene Dialoge dazwischenschusterten. Dadurch kursierten bald die unterschiedlichsten Fassungen der Stücke. (Hiller betont ähnlich in der Ankündigung des Klavierauszuges von >Lottchen am Hofe< (1768): »Man hoffet da131
Hiller galt seit seiner musikalischen Neufassung des >Teufels< (1766), der eine kontinuierliche Produktion von Singspielen folgte, als einer der führenden Komponisten des deutschsprachigen komischen Musiktheaters. Zugleich hatte sich die neue Gattung des komischen deutschen Musiktheaters mittlerweile in der Praxis der Wanderbühnen etabliert; die Einschränkungen des Theaterlebens durch den Siebenjährigen Krieg und seine direkten ökonomischen Folgen waren überwunden. Um 1770 waren auch in Leipzig die frühen Anfeindungen durch Gottsched und seinen Kreis gegen das komische Musiktheater längst ad acta gelegt (vgl. u. III.i) und Weißes Position als eines führenden deutschen Textdichters der neuen Erfolgsgattung für einige Jahre unangefochten. >Die Jagd< setzte sich unmittelbar durch und wurde zu einem der größten Erfolge des Teams Koch/Weiße/Hiller.7 Schon von den Zeitgenossen als Musterwerk angesehen, läßt >Die Jagd< exemplarisch die dramaturgischen und anthropologischen Implikationen erkennen, die dem Erfolg der Gattung zugrunde liegen.
i. Struktur und Dramaturgie i.i. Singspiel und Schauspieldramaturgie Weißes Text ist primär von einer Handlung geprägt, die in den gesprochenen Dialogen entwickelt wird und in die die musikalischen Partien eingelegt sind.8 Die Musik wird weitgehend auf die reinen Gesangsnummern beschränkt, die Handlung selbst vollzieht sich außerhalb der Musik. Dadurch ist die funktionelle Trennung von gesprochener Handlung und eingelegter Musik deutlich markiert; zugleich simuliert die Dialog-Ebene der Handlung nun eine ungleich höhere Realitätsnähe, während musikalisch geformte Rezitative stets auf den Abstand zur »natürlichen« Lebenswelt verweisen. Diese Struktur hängt mit der Entstehung der Gattung im Bereich der Wanderbühnen zusammen, wo seitens
7
8
durch, die verunstalteten und unächten Abschriften einiger Gesänge, die den Liebhabern in die Hände gegeben werden, unnütz zu machen.« Hiller 1766/70, Bd. II, S. 368.) 1805 wurde sie zur Totenfeier Weißes in Leipzig gegeben (vgl. Minor 1880, S. 166), 1826 zu dessen »Säkularfeier«. Ich zitiere im folgenden den Text nach dem ersten Einzeldruck: Die Jagd./ Eine/ komische Oper,/ in drey Aufzügen./ Leipzig,/ in der Dykischen Buchhandlung./ 1770. (Ein Reprint dieser Ausgabe ist in GO 20 leicht zugänglich.) In dieser Ausgabe sind versehentlich zwei Szenen als III 9 gezählt, so daß ab der Szene III 10 die Zählung des Drucks um eins erhöht werden muß. Die späteren Ausgaben im 3. Band von Weißes Sammlung >Komische Opern< (Berlin/Leipzig 1776; Leipzig 1777; Frankfurt/ Leipzig 1778; Karlsruhe 1778) bringen leicht überarbeitete Texte. Die Partitur wird nach dem in GO i faksimilierten Berliner Manuskript zitiert, der einzigen vollständig erhaltenen zeitgenössischen Partitur.
132
des Publikums die Forderung der Anschließbarkeit des Theaters an die Lebenswelt besteht und wo andererseits keine ausgebildeten Sänger, sondern primär singende Schauspieler zur Verfügung stehen (vgl. o. 1.1). Weißes Libretti sind daher prinzipiell auch ohne Musik aufführbar, was in der Theaterpraxis gelegentlich auch geschah, u.a. nicht zufällig in Wien, wo die Musik Hillers wohl als zu anspruchslos empfunden wurde.9 Für Weißes Ansatz ist dabei bezeichnend, daß er als Vorlage der >Jagd< nicht die Adaption des Stoffes in der französischen Opera-comique Michel Jean Sedaines und Pierre-Alexandre Monsignys (>Le Roy et le FermierLa Partie de chasse de Henri IV.< von Charles Colle (s. u.). An einigen Details zeigt sich, daß Weiße auch das Libretto Sedaines kannte und benutzte; zudem betonte Weiße selbst stets die Vorbildfunktion der Opera-comique als Gattung. 10 Umso signifikanter scheint mir daher zu sein, daß Weiße bei der >Jagd< gerade nicht auf Sedaines Libretto zurückgriff, sondern auf ein Sprechdrama, Statt der Tendenz Sedaines zu einer eigenständigeren Musikdramaturgie 11 zu folgen, beharrte Weiße damit zunächst auf dem Vorrang einer am Sprechtheater orientierten Dramaturgie, die auch poetologisch in Deutschland um 1770 die Norm darstellt.12 Das Gewicht der Sprechdramaturgie zeigt sich vor allem im Schlußakt von Weißes dreiaktigem Werk, der die endgültige Auflösung der Verwicklungen und die Restitution der Ordnung bringt. Obwohl der III. Akt der längste Akt des Stücks ist, enthält er am wenigsten Musik - nur neun der insgesamt 39 Vokalnummern. Gerade die entscheidenden Punkte der Lösung, die Szenen III 10 bis 12, bleiben völlig ohne Musik. Für die Lösungsprozesse auf der Handlungsebene schreibt Weiße der Musik offenbar überhaupt keine Funktion zu. Auch insgesamt bemüht sich Weiße zwar grundsätzlich, die Gesangstexte dramaturgisch zu motivieren (z.B. als Trink-, Liebes- oder Arbeitslieder); die ei9
>Lottchen am Hofe< wurde in Wien am 10.6.1769 als gesprochene Komödie aufgeführt, eingerichtet von Franz Heufeld. Die Gesangstexte sind dabei in Prosa aufgelöst, der Rest weitgehend unverändert beibehalten (vgl. Bauman 1985, S. 52 und Minor 1880, S. 185). - Auch nach der Etablierung der Privattheater wurden Hillers Werke in Wien nur sehr sporadisch gespielt, z.B. >Die Liebe auf dem Lande« am 7.6.1779 (Alte Josephstädter Bühne) und am 3.11.1783 (Fasantheater). Dabei werden die Partituren oft einschneidend verändert; vgl. etwa das Wiener Manuskript von Hillers >Der Aerntekranz< (ÖNB ms. 15523), bei dem ein unbekannter Bearbeiter v.a. die Instrumentation Hillers von Grund auf veränderte. 10 Z. B. in seiner Selbstbiographie (Weiße i8o6a, S. iO2ff). Das Vorbild der Operacomique reicht bis in die Gattungsbezeichnung »Komische Oper«. " Vgl. Bauman 1985, 8.45. 13 So z.B. in Friedrich Nicolais Rezension der ersten beiden Bände >Komischen Opern« Weißes in ADB 11/2 (1770), S. 5: Die Verfasser deutscher Libretti sollten darauf schauen, daß ihre Stücke auch ohne Musik »blos als Komödien schätzbar bleiben.« Zu den poetologischen Debatten vgl. unten Teil III; daß diese Axiomatik in Deutschland bis weit ins 19. Jahrhundert konstitutiv bleibt, zeigt z.B. Nieder 1988, S. I5ff. 133
gentliche Handlung des Stücks vollzieht sich jedoch außerhalb des musikalischen Bereichs und wird von diesem auf den ersten Blick nicht beeinflußt. Signifikant für die Trennung der Musik von der Handlung ist dabei die Tatsache, daß es sich bei Weißes Liedtexten häufig um bereits früher entstandene und als Einzelgedichte veröffentlichte Texte handelt; dies betrifft hier v. a. das bekannteste Lied der >JagdMarianne< (in: Romanzen. Berlin/Leipzig 1756) in Deutschland populär waren und auch im Bänkelsang tradiert wurden.' 4 Weißes Bleiche-Romanze '·* »Denn jeder Mann, vom hohen bis zum niedrigsten, singt und spielt es und pfeift es, und fast sollte ich sagen und trommelt es, so sehr wird es in ganz Deutschland auf alle nur mögliche Art gebraucht.« Der Komponist habe damit »zu der Fröhlichkeit einer ganzen Nation« [!] sehr vieles beigetragen (Reichardt 1774, S. 61). Die in vielen zeitgenössischen Texten bezeugte Popularität speziell dieser »Romanze« wird eindrucksvoll belegt durch Max Friedlaenders grundlegende Arbeit zum deutschen Lied (1902, Bd. II S. iijf.), in der sich die Transskription einer mündlich überlieferten, volkstümlich zersungenen Fassung von Hillers Lied findet, die ca. 1835 in der Gegend von Frankfurt a. M. aufgezeichnet wurde. Friedlaenders Sammlung belegt, wie Lieder aus Hillers Singspielen zum Teil umgemodelt, in andere Sammlungen aufgenommen oder mit neuen Texten unterlegt wurden; all dies Zeichen ihrer Popularität, ebenso wie die instrumentalen Verarbeitungen in Variationszyklen (Christian Gottlob Neefe: Allegro, Balletto, Minuetto, einige Veränderungen über das Lied aus der Jagd »Als ich auf meiner Bleiche« für Klavier. In: Miller (Hg.) 1766/70, Bd. 2, Anhang zum 47., 49. und 50. Stück; Friedrich Adolph Pitterlin: Fünf Variationen für Sopran und kleines Orchester. Leipzig 1796; Joseph Carl Ambrosch: Sechs Lieder mit Veränderungen für eine Singstimme. Zerbst 1797). 14 Der Terminus »Romanze« stammt einerseits aus der Opera-comique (seit Rousseaus »Devin du villageMarianne< in Deutschland in Anlehnung an die Populärkunst der Bänkelsänger einen spezifischen literarischen Typus, der z.B. von Löwen, Cronegk, Schiebeier, Raspe, J. G. Jacobi oder der Karschin aufgegriffen wurde (vgl. z.B. die Sammlung von Christian Cajus Lorenz Hirschfeld (Hg.): Romanzen der Deutschen. Mit einigen Anmerkungen über die Romanze. 2 Bde. 1774/1777). Später wird die Romanze v.a. von Herder (im Rückgriff auf die spanische Romanze) als wichtige literarische Form etabliert und von den Romantikern weiterentwickelt. Die Singspiel-Romanzen bei Weiße stehen also vor einem doppelten Gattungshintergrund: einem musikalischen und einem literarischen, der wiederum als Nachahmung einer musikalischen Populärform entstand und im Singspiel wieder zu diesen Ursprüngen, wenngleich stilisiert, zurückgeführt wird. (Zum Bänkelsang vgl. Brüggemann 1937 sowie die Sammlung von Wolfgang Braungart (Hg.): Bänkelsang. Texte - Bilder - Kommentare. Stuttgart 1985.) - Im Musiktheater der Zeit wird der Romanzen-Typus sehr beliebt; ein erster deutscher Prototyp findet sich bereits in J. Standfuß' Fassung der >Verwandelten Weiber< (1752; vgl. dazu Bauman 1985, S. 34). Im Musiktheater begegnet der Typus also bereits vor der literarischen Ausprägung durch Gleim. Auch Hiller und Weiße bewahren den 134
war aber über den bloßen Romanzen-Ton hinaus schon vor der Aufnahme in die >Jagd< ein bekanntes Lied geworden: Es war, wie einige andere, später berühmt gewordene Singspiellieder Weißes, im Druck bereits 1758 erschienen; 15 und vom Ton, ihrem Motivarsenal und ihren strophischen Strukturen her knüpfen diese Lieder z.T. an noch ältere Formen, etwa aus dem Bereich der Stammbuchpoesie, an. 16 Der »Schein des Bekannten« 17 wird damit von Weiße bewußt hergestellt und gehört unmittelbar zur angestrebten Funktion dieser Lieder (s.u.). Weißes Lieder wurden offenbar auch durch Bänkelsänger verbreitet,18 so daß das Publikum die Lieder möglicherweise später im Singspiel wie-
15
16
17
18
Romanzentyp in ihrer Neubearbeitung der >Verwandelten Weiber< 1766. Ab dann wird die Romanze einer der beliebtesten Teile des mittel- und norddeutschen Musiktheaters: strophisch, mit schlichter Textur, balladesk eine Handlung erzählend, oft die äußere Handlung des Werks im Kleinen spiegelnd und meist durch Dialogeinwürfe durch die zuhörenden Figuren auf der Bühne unterbrochen. Beispiele finden sich in Goethes >Claudine von Villa Bella< ebenso wie z.B. in Mozarts >Entführung aus dem Serail< (Nr. 18); weitere Beispiele vgl. Busch 1996. In diesen beiden Fällen wird der Romanzentypus bereits uneigentlich eingesetzt (s.u. II.6 und 11.7). Die Romanze bleibt als Szenentyp bis in die frühromantische deutsche Oper hinein konstitutiv (vgl. z.B. >Der FreyschützDer Vampyr< oder »Das Nachtlager von Granada*). Zur musikalischen Bedeutung der Romanze vgl. allg. Rainer Gstrein: Die vokale Romanze in der Zeit von 1750 bis 1850. Innsbruck 1989 (Innsbrucker Beitr. zur Musikwiss. 14) sowie Heidi Gülow: Studien zur instrumentalen Romance in Deutschland vor 1810. Frankfurt a.M. u.a. 1987 (Europ. Hochschulschr., Reihe 36, Bd. 23). Brüggemann 1937, S. 37. Die bei Weiße häufige Praxis, bereits bekannte Lieder in Bühnenwerke einzubauen, hatte dann Tradition: Noch 1814 suchte Goethe nach einem in Berlin beliebten Lied, um es in sein Festspiel >Des Epimenides Erwachen* einzulegen; vgl. Holtbernd 1992, S. 12 Anm. 67. Das berühmteste aller Weißeschen Singspiellieder »Ohne Lieb' und ohne Wein/ Was war' unser Leben?« aus >Die verwandelten Weiber< weist z.B. deutliche Parallelen auf zum Stammbucheintrag eines Altdorfer Studenten von 1728 (vgl. R. und R. Keil: Die deutschen Stammbücher des XVI. bis XIX. Jahrhunderts. Berlin 1893, S. 183; vgl. a. Friedlaender 1902, Bd. 2, S. i n und Schwab 1965, S. 102). Weißes Lied wurde, lange vor dem Singspiel, zuerst 1753 im i. Stück der Zeitschrift Neue Erweiterungen der Erkenntniß und des Vergnügens publiziert. — Grundsätzlich bemerkenswert ist auch Weißes Neigung zu volksmundnahen Sentenzen und Sprichworthaftem, womit der Schein des Vertrauten erzeugt und zugleich ein statisches Glück im Winkel beschworen wird; vgl. z.B. »Froh zu sein, bedarf es wenig« (Röschen) oder »Wer zufrieden ist, ist reich« (>Die Liebe auf dem LandeFreyschützFliegenden Holländers< nachwirkte. r.2. Eigenständigkeit der Singspieldramaturgie Die Dramaturgie des Singspiels vom Schlage Weißes geht jedoch gerade nicht in einer defizitären Sprechtheater-Dramaturgie auf. Die geringe dramentechnische Stringenz des Werks ist intentional bedingt; sie hat Gründe, die mit der Gattung des komischen Musiktheaters zusammenhängen und dessen Eigenart >° Vgl. Klügl 1987, S. 18. 140
gegenüber der Komödientradition bestimmen. Obwohl das Werk ein fast klassizistisches Bemühen um die Wahrung der »Einheiten« aufweist und auch von seiner Moralität her alle »sittlichen« Ansprüche erfüllt, weicht es doch entschieden von der Poetik des reinen Sprechdramas ab. Es gewinnt auf anderen Ebenen neue Gestaltungsräume, indem es bewußt einige grundlegende Kategorien des Sprechtheaters abschwächt. Dies wurde schon in der frühen Kritik des Werks negativ vermerkt, als Verstoß gegen die grundsätzlich geforderte Orientierung des Singspiels an der Schauspieldramaturgie. So betont die ausführliche Rezension des dritten Bandes von Weißes >Komischen Opern< in der ADB: »Gute Operetten sollten doch durchaus nicht schlechte Lustspiele seyn.« Die Handlung sei zu gedehnt, und das Stück enthalte zu viele Lieder, die für die Handlung nichts bedeuteten. Der dramatische Hauptstrang sei unklar (König-Handlung oder Christel/Hannchen oder Röschen/Toffel), zudem seien die Charaktere »nicht scharf genug gezeichnet und zu unbedeutend.« 3 ' In einer apologetischen Reaktion auf derartige Kritik bemühte sich Weiße zu zeigen, daß seine Singspieldramaturgie nicht dramatischem Unvermögen entspringe, sondern bewußt anders angelegt sei als im Sprechdrama, weil die Gattung dies erfordere: »Das Lied hält immer die Handlung auf: denn oft ist eine bloße Empfindung ausgedrückt [ ]«.32 Die bemängelte Auflockerung und Dehnung der dramaturgischen Stringenz ist für ihn ein bewußtes Gestaltungsmittel, um den eigentlichen Raum des Singspiels, die Darstellung der »Empfindung«, zu konstituieren. Ziel von Weißes Dramaturgie ist somit nicht eine aktionsbetonte, konsequent vorangetriebene Handlung, sondern die Handlung dient umgekehrt nur als Rahmen, der den Ausdruck der »bloßen Empfindung« auf der Bühne ermöglicht. In der Tat weist das Stück (mit Ausnahme der nicht mit Musik versehenen Partien des III. Akts) ein sehr geringes dramatisches Tempo auf; fast durchgängig wird in diesem Stück nur gewartet. Eine zielstre31
ADB 19/2 (1773), 8.429-439, hier S. 4301". Die Rezension stammt von Christoph Daniel Ebeling aus Hamburg, der sich auch sonst als harscher Kritiker des mitteldeutschen Singspiels zeigt: »Überhaupt sind wir der Gemähide des Landlebens, die man uns in unseren Operetten immer vorstellt, schon müde. Ein ewiges Einerley, Naivität, die oft albern genug aussieht, Einfalt, welche die Dichter nicht selten zur Dummheit werden lassen, dieselben Liebesgeschichten, nichts Hervorstechendes, nichts neues, immer dasselbe Spielwerk mit den Empfindungen, keine auffallende komische Charaktere, selten eine lebhafte Verwickelung und Handlung.« (Besprechung der anonymen Sammlung >Für das deutsche Theater< [i. Teil, Leipzig 1770], ADB 17/2 [1772], S. 5560 Ebeling war eng mit Klopstock befreundet, dessen Werke er in einer zwölfbändigen Gesamtausgabe edierte (Leipzig 1798-1817), und übersetzte später auch z.B. Handels >Messias< (Hamburg 1809). Die Prämissen, von denen aus Ebeling das mitteldeutsche Singspiel beurteilte, sind daher von völlig anderen Vorbildern geprägt. Zu Ebeling vgl. allg. Gordon M. Stewart: The Literary Contributions of Christian Daniel Ebeling. Amsterdam 1978 [mit Bibliographie]. '2 Vorbericht zur Neuausgabe seiner >Komischen OpernDer König und der Pachter«, in: Ders.: Theatralische Belustigungen. Bd. 2, Frankfurt a. M./Leipzig 1766; auch Separatdruck ebd: Garbe 1766), 1774 eine weitere mit Dialogen von J. H. Faber (Frankfurt a. M./Leipzig 1774). 100 Die Jagdlust Heinrich des Vierten. Ein Lustspiel in 3 Aufzügen. Aus dem Französischen. Mannheim: Churfürstliche Hofbuchdruckerei 1768 (vgl. Walter 1899, Bd. II, S. 107; zu Schwan vgl. u. II.5); dasselbe Wien: Trattner 1770. (Das Werk Colles wurde auch als Ballett bearbeitet, z.B. von Etienne Lauchery/Peter Winter 1782 in Kassel; vgl. Dahms 1992, S. 139.) - Bei späteren deutschen Übersetzungen ist der Einfluß von Weißes >JagdHenri IV, oder die Jagdlust< als Freiluftspektakel mit Musik und mit einem Prolog von Johann Peter Uz gegeben (vgl. den Nürnberger Aufführungsbericht bei Schusky 1980, S. ioif). In Ansbach erschien ein französischer Druck (in: Nouveau theatre de societe d'Anspac et de Triesdorf. Anspac 1789; vgl. Minor 1880, S. 168 Anm. 6), der 1790 in Schwabach ins Deutsche übersetzt wurde (Die Jagd Heinrich des Vierten, ein Schauspiel in drey Aufzügen von Colle. Schwabach: Mizler und Sohn 1790 — das dem Druck beigegebene Verzeichnis der Spieler führt die adeligen Ansbacher Spieler der Liebhaberaufführung auf). Andere Fassungen wurden als >Ein Jagdabentheuer Heinrichs IV.< aufgeführt (vgl. Kruse 1904). — Auch in Schweden läßt sich eine komische Oper nach Colle nachweisen, was jedoch möglicherweise auch von Weiße/ Hiller vermittelt wurde: Konung Gustaf Adolphs Jagt, Text von A. F. Ristell, Musik von Carl Stenborg, Stockholm 1777. Hier wird der populäre Volkskönig Henri IV. analog durch Gustav Adolph ersetzt. — Bei Christian Gottlob Klemm (1767, S. 377 — 430) findet sich ein gleichnamiges Wiener Libretto, das jedoch mit dem Stoff Colles/ Sedaines nichts gemein hat: Die Jagd, eine komische Oper in zween Aufzügen. Es war auch in Weißes Nachlaß enthalten (Weiße i8o6b, Nr. 1881). Der Druck enthält 164
Eine französische Aufführung in Wien 1768 bespricht Joseph von Sonnenfels wegen Colles Charakterdarstellung des Königs Henri IV. euphorisch und versucht, aus dem Stück eine Art Theorie historischer Dramen abzuleiten. 101 Colle unterstreicht seine Kritik des Königshofs dadurch, daß er dem von Dodsley und Sedaine übernommenen Motiv des verirrten Königs einen I. Akt voranstellt, der ein äußerst kritisches Bild höfischer Intrigen am Königshof von Fontainebleau bietet, die nur durch einen »roi vaillant« wie Henri IV. gemeistert werden können. Gezeigt wird eine kritische Innenansicht absolutistischer Herrschaft. Anders als Sedaine zielt Colle somit nicht auf eine Kritik adliger Libertinage, sondern auf ein neues Verständnis königlicher Machtausübung. Nur derjenige König kann legitim die absolutistische Macht beanspruchen, der wie Henri IV. seinen Hof im Griff hat, die Hofintrigen steuern kann und volksverbunden bleibt. Das Lob des guten Königs Henri IV. enthält eine unverhohlene kritische Stoßrichtung gegenüber dem aktuellen Herrscher.102 Dieser Aspekt spielt offenbar in Deutschland keine Rolle. Weiße übernimmt von Colle das Lob des Herrschers, streicht aber den historischen Bezug auf Henri IV. Zwar verlagert auch Weiße die Handlung ins eigene Land,103 statt sie wie Sedaine im fernen England spielen zu lassen; er tilgt aber alle historischen oder geographischen Bezüge. Speziell der König verliert bei Weiße alle historischen oder aktuellen Verankerungen.104 Der König wird bei ihm wieder namenlos, was in der ersten Begegnung mit Michel zu komischen Effekten genutzt wird: Der König hat große Probleme, sich vorzustellen, und macht
101
102
103
104
einen Aufführungsvermerk (»Auf der kais. königl. privil. deutschen Schaubühne aufgeführet im Jahre 1766«); von wem die Musik stammte, ist nicht zu ermitteln. (Weißes/Hillers >Jagd< wurde in Wien dagegen erst im August 1793 im Landstraßentheater gegeben.) Vgl. Sonnenfels 1768, 7. und 8. Stück, 37. und 38. Schreiben. Gerade der Aufklärer Sonnenfels betont zugleich die rührende Qualität des Stücks, die besonders auf seiner Bühnenwirkung beruht: »Ich weis nicht, ob Sie bey Durchlesung des Stückes in eben der Verfassung seyn werden, in der ich mich durch die Vorstellung befand: ich setzte mich an die Stelle des Königs; ich habe, wie Sie wissen, einen starken Antheil von Empfindung aus der Hand der Natur empfangen; ich mußte mir bey verschiedenen Stellen die Augen wischen [].« (Ebd. S. 22Jagd< (PE 3, S. 51) »Colles latent apologetische Tendenz, eine Art Huldigung an Heinrich IV., Frankreichs volkstümlichen König« betont, die Weiße getilgt habe. Colles Lob auf den König hat eine präzise Funktion als Kritik an der als degeneriert und intrigant dargestellten Hofgesellschaft seiner Zeit, der der positive historische König als Muster entgegengestellt wird. Mit der Nationalisierung der Handlung entspricht Weiße einem Postulat Gottscheds für Lustspiel-Übertragungen (vgl. Pape 1986, S. 273). Der Rezensent in der >Deutschen Bibliothek der schönen Wissenschaften von Klotz (6 [1771], 2 3- Stück S. 443ff. bzw. 24. Stück S. 594) bemängelt dies und schlägt als deutsches Pendant zu Henri IV. Maximilian I. vor. (Weißes Verhalten führt er auf Colles Zensurprobleme zurück.) 165
sich deshalb dem Dorfrichter verdächtig. Aus einer konkretisierbaren Figur wird der König bei Weiße tendenziell zu einem überzeitlichen, universalen Prinzip, zum Garanten der sozialen Ordnung: »Der uns wie seine Kinder liebt,/ Uns Ruhe, Glück und Freyheit giebt« (II 13, S. 216). Die kritische Stoßrichtung von Colles Text entfällt damit völlig, und übrig bleibt eine reine Panegyrik des guten Herrschers ohne alle historischen oder zeitgeschichtlichen Präzisierungen, die daher je nach Aufführungsort des Stücks den Verhältnissen angepaßt werden konnte: In Kochs Leipziger Aufführungen etwa wurde der »König« in der Wendung ad spectatores des Schlußgesangs mit dem sächsischen »Churfürsten« 105 identifiziert, in Weimar im Prolog mit der dortigen Herzogin Anna Amalia, in Prag mit dem Kaiser.106 (Noch Lortzing verfährt 1830 ebenso, wenn er das Werk am Schluß auf den Fürsten von Lippe-Detmold bezieht und mit der Melodie von »Heil dir im Siegeskranz« enden läßt.) Zwar wird auch damit ein Wunschbild >guter< absolutistischer Herrschaft sichtbar, jedoch so allgemein und unscharf, daß es in der Rezeption keine kritische, sondern ausschießlich panegyrische Funktion annimmt. 107 Auch sonst ist für Weißes Vorgehen gerade die Reduktion der Hofkritik kennzeichnend. Aus dem Lustspiel Colles klammert Weiße den umfangreichen I. Akt mit seiner scharfen Kritik des Hoflebens vollständig aus. Weiße übernimmt lediglich den II. und III. Akt Colles, das Motiv des verirrten Königs, und baut darauf die zweite Hälfte seines Stücks auf (ab Szene II 7; zum großen Teil wörtlich übernommen), wobei er jedoch auch einige Details von Sedaine übernimmt. Neu ist nun die gesamte erste Hälfte des Stücks (bis Szene II 7), die kein Pendant bei Dodsley, Sedaine oder Colle hat. Allein der Umfang dieser ersten Hälfte geht dabei über eine dramentechnische Funktion als bloße Vorgeschichte zur Königshandlung weit hinaus, so daß die Königshandlung nicht mehr wie in allen anderen Versionen den Schwerpunkt des Stücks, sondern eher 105
106
107
Vgl. die Schlußstrophe (die vom Publikum mitgesungen werden sollte) im Druck von 1770; vgl. a. Bauman 1985, S. 45f. Ahnlich auch im Sammeldruck Frankfurt/ Leipzig 1778, Bd. 3, S. 112. Im Druck Prag: Höchenberg o.J. [ca. 1770], S. 24, heißt es: »Röschen ans Parterr: Hat euch, ihr Herrn! der Fürst gefallen;/ So glaub ich auch, es fällt euch allen,/ (Wie kann es anders möglich seyn?)/ An Gnad und Huld ein gleicher ein./ Verbeut die Ehrfurcht ihn zu nennen,/ Genug, daß wir ihn alle kennen./ Es lebe der Kayser, mein Toffel und ich!/ Der Kayser für alle, mein Toffel für mich.« Der unverkennbar appellative Charakter des deutschen Singspiels ist im Weimarer Prolog offen ausgesprochen: Anna Amalia »kann kein Spiel verschmähn, wo sich ein König zeiget,/ Der seiner Bürger Freund, Vertrauter, Vater ist,/ Der Reichthum und Geburth vergißt,/ Wann durch Gewalt, Verrätherey und List/ Ein Mächtiger der Unschuld Rechte beuget:/ Denn sieht AMALIA nicht hier IHR göttlich Bild?« (GO 20, S. [*4]v; Hervorhebung im Original durch größere Drucktype.) Zur Funktion der Hofpanegyrik noch 1830 vgl. a. Lortzings Beschreibung von der Uraufführung seiner Fassung in Detmold (in Kruse 1904, S. 30). Zugleich rät er dort von einer Aufführung in Köln ab, weil »die verehrten Rheinländer den König [] eben nicht sehr lieben«.
166
eine Einlagerung bildet, was etwa in Ebelings Kritik in der ADB (vgl. Anm. 31) auch explizit gerügt wurde. Weiße baut das komische Liebespaar Röschen-Toffel, das bei Sedaine gar nicht und bei Colle nur marginal auftritt, als typisches Element der italienischen Buffa 108 erheblich aus; auch das >ernste< Paar Christel-Männchen ist gegenüber Colle stark ausgeweitet. Die Hofkritik dagegen, die dem Stoff seit Dodsley inhärent ist, schrumpft: Nicht der Adel als Institution wird attackiert, sondern das Fehlverhalten eines einzelnen Adeligen - und der galante Diskurs, für den dieser flatterhafte »Schmetterling« paradigmatisch steht (s.o.). Ihm steht in den Personen des gleichrangigen Treuwerth und des Königs eine positive, intakte Hofwelt gegenüber. Während bei Colle eine politische Debatte über die Art politischer Herrschaft stattfindet, geht es bei Weiße eher um eine Auseinandersetzung mit dem kulturellen Code der galanten Kultur. Aus dem primär auf Hofkritik angelegten Werk Colles wird eine breit angelegte Darstellung zweier Liebespaare, eine ausgedehnte, sentimental-empfindsame Wendung ins Private und Familiäre. Weißes König übernimmt am Schluß die Gevatterschaft für den Nachwuchs Röschens und Toffels. An die Stelle antagonistischer Hofkritik tritt damit bei Weiße die Vision einer sozialen Gemeinschaft, die die gesamte soziale Ständeordnung umgreift: König und Bauer verstehen sich privat, werden »Brüder und Gevattern«. 109 Der König verbürgt das »Glück« seiner Untertanen und wird dafür durch die allgemeine »Liebe« seiner Landeskinder belohnt: »Der König für alle/ Mein Schätzchen für mich.«
108
109
Bei Sedaine/Monsigny fehlt es, da dort die Liebeshandlung (wie bei Dodsley) anders angelegt ist: Während Sedaine und Dodsley den Pächter selbst zum Liebhaber machen, verankert Weiße wie Colle die Liebeshandlung auf der Ebene der Kinder und arbeitet somit mit zwei Generationen-Ebenen. Weiße integriert mit dem zweiten, komischen Liebespaar ein typisches Element der Buffa in sein sonst eher französisch orientiertes Stück; aus der Buffa-Tradition stammen auch einige andere Details, etwa die Vorliebe für Belauschungs-Szenen, für geschlechtertypischen Spott (vgl. z.B. I 5, S. 30 ff; I 8, S. 4yf.; II i, S. 66) und die burlesken Aktionen. (All diese Elemente finden sich bezeichnenderweise primär im ersten Teil des Stücks, der nicht auf französische Vorlagen zurückgreift.) Die für die deutsche Situation der Zeit typische Vermischung von Opera-comique und Buffa-Elementen zeigt sich auch in der Musik Hillers, die zusätzlich bei der Figur des Königs auf die Tradition der italienischen Opera seria vom Schlage Hasses zurückgreift. Diesen Wunsch formuliert Michel bereits am Ende des II. Akts gegenüber dem fremden Höfling (II 9), und er vollzieht sich anschließend in dem einzigen Duett des Werks (neben dem Versöhnungsduett Christel-Hannchen II 6). König und Bauer singen gemeinsam: Erneut signalisiert hier die Form des Duetts die Übereinstimmung der Positionen, die zudem als Abschluß des Akts hervorgehoben wird. Reichardt nahm Anstoß an diesem Duett, weil es für ihn gegen die Ständeklausel verstößt: »der König singt wie ein Bauer, und der Bauer wie ein König« (1774, S. 81). Damit übersieht Reichardt die Intention dieser Szene ebenso wie die Verstellungssituation (der König tritt ja gerade nicht als König auf, sondern als geringer Höfling). 167
2.3- Familialisierung und patriarchalische Strukturen Für Weißes Stück ist dabei bezeichnend, daß die sozialen Räume merkwürdig unscharf bleiben, zugleich aber ein universales Prinzip über alles herrscht: die Familialisierung der dargestellten Welt. Zwischen »Hof« und »Stadt« wird kaum differenziert; aber auch zwischen den Räumen von »Stadt« und »Land« herrscht keine eindeutige, etwa antithetische Stellung. Die Stadt ist zwar als Ort des Hofes auch der Ort der Gefährdung: Hannchen wird in der Stadt entführt, der suchende Christel gedemütigt. Andererseits ist die Stadt jedoch auch der Ort der Bildung, der kulturellen und sittlichen Verfeinerung und das positive Ziel des Aufstiegs der Landbevölkerung: Christel erhält seine Ausbildung in der Stadt an der Lateinschule, worauf der Vater stolz ist,110 und singt anakreontische Lieder »aus der Stadt« (S. 180). Das ernste Liebespaar ChristelHannchen ist eng mit der Stadt verbunden, bis in Hannchens Kleidung hinein. Dadurch erhält die Stadt einen changierenden Status: Sie ist Ort der Gefährdung, aber zugleich positiver Raum des Aufstiegs. Bei genauerer Prüfung zeigt sich auch das »Land« als ambivalent. Michel und der Oberförster bilden eine Art ländliche Oberschicht; Michel ist »der Richter und reichste Nachbar im Dorfe« (S. 43). Die Bauern dagegen, die in wenigen Szenen ins Bild kommen, werden konsequent als Trottel abqualifiziert, als Objekt eines bürgerlichen Spotts. Die dörfliche Welt wird da abgewertet, wo sie als unkultivierte und rohe Natur auftritt; wo sie aber als positiver Raum von »Natur« ins Bild gerückt wird, ist sie nach dem Vorbild der bürgerlichen Stadtwelt eingerichtet: Die positive Land-Familie des Dorfrichters ist im Grunde eine prototypisch bürgerliche Familie. Bei den bisherigen Interpretationen des deutschen Singspiels wurde generell übersehen, daß die Darstellung des Landlebens im Singspiel nicht als »realistisch« verstanden werden darf, sondern eine Inszenierung darstellt, mittels der sich städtisch-bürgerliche Künstler wie Weiße und Hiller mit ihrem Publikum über die eigenen Wertorientierungen verständigen. Schon Reichardt weist darauf hin, daß die Landwelt der Singspiele nicht realistisch genommen werden könne, weil »ein vernünftiger Bauer« die empfindsame, »läppische Liebe« vom Schlage Christels und Hannchens »für Wahnsinn halten würde«;" 1 sie ist ein Produkt der Stadtkultur, das mit der realen Situation auf dem Land nichts zu tun hat. Reichardt fordert daher, man solle »in dem Beyspiele des Landmannes zeigen, wie Mäßigkeit und Arbeit die Quellen der Tugend selbst sind, und wie viele tausend Laster, die in den Städten wohnen, dem Landmanne völlig unbekannt sind [ ]«. Bei Reichardt wird ganz deutlich, wie die Landwelt als moralischer Spiegel der 1
Vgl. I 2, S. 9. Der Hinweis auf das Latein scheint mir bemerkenswert für die insgesamt konservative Grundhaltung des Textes; Goethes Elmire betont stattdessen drei Jahre später, daß sie französisch lernt (vgl. u. II.7) Reichardt 1776, Teil i, S. I5if.
168
städtischen Bürgerwelt gedacht wird, als Forum zentraler Werte wie »Mäßigung« und »Arbeit«, die auch in der >Jagd< eine bedeutende Rolle spielen.112 Die Dorfwelt bildet einen fiktiven Raum, in dem bestimmte bürgerliche Werte mit universalem Anspruch diskutiert werden - einen fiktiven Raum, der dann dramaturgisch glaubhaft und lebensweltlich anschließbar gemacht werden muß. 113 Die sozialen Räume mit ihren real existierenden Spannungen werden überwölbt durch ein Wertesystem mit universalem Anspruch. Der entscheidende dieser bürgerlichen Werte aber ist die familiale und patriarchalische Ordnung der Welt. Der semantisch positive Bereich im Stück ist familial geordnet, egal welcher sozialen Sphäre er angehört. Der Negativraum des Grafen Schmetterling bildet dagegen auch hier die Umkehrung: Der Graf lebt nicht in einer Familie und betätigt sich als Zerstörer familiärer Strukturen." 4 Diese familiale Ordnung des Positivraums wird vom Stück ausdrücklich bestätigt; dafür ist auch die abschließende »Gevatterschaft« des Königs bezeichnend. Die dargestellte positive Welt zeigt sich in den Schlußszenen als große Familie mit dem konkreten »Landes-Vater« (S. 209) an der Spitze, der seine Untertanen als »meine Kinder« anredet (S. 202). Das ordnende Eingreifen des Königs als Deus-ex-machina wird vom positiven Höfling Treuwerth als Handeln eines Patriarchen bezeichnet (»Sie handeln itzt als König und Vater!« S. 208): Auch die positiv gezeichnete Hofwelt erkennt den Primat der Familie als Gesellschaftsmodell ausdrücklich an. Dabei prägt die patriarchalische Ordnung die familiäre Struktur an allen Ecken und Enden. Schon in der ersten Szene wird deutlich, daß die Entscheidungsbefugnisse auf allen Ebenen ausschließlich beim Vater Michel liegen, demgegenüber die Mutter Marthe allenfalls als Erfüllungsgehilfin fungiert (vgl. z.B. S. 12, S. 22f). Der abschließende Rundgesang des »Divertissements« ist nach Paaren geordnet, wobei stets die Männer beginnen. Auch Toffel wird demonstrativ als Junior-Patriarch vorgeführt, der sich schon vor der Ehe in die 112
Gerade der König betont die Bedeutung von »Mäßigung« und »Arbeit« (vgl. z.B. II 7, S. 117) und verleiht damit diesen genuin bürgerlichen Werten eine universale Geltung. 11 ·* Auch Weiße selbst betont die Funktion der ländlichen Szenerie als verkleidete Stadtkultur, wenn er rechtfertigend (und unter Bezug auf das rationalistische Axiom der Wahrscheinlichkeit; vgl. dazu Teil III) ausfuhrt: »Wenn ich meistens ländliche Gegenstände zum Inhalte dieser Operetten wählte, so geschah es bloß, weil ich es für natürlicher hielt, bey den Versammlungen eines fröhlichen Land=volks auf dem freyen Schauplatze der Natur, als in Besuchszimmern gezwungener Städter ein Liedchen singen zu lassen.« (Weiße 1778 [wie Anm. 32]) "4 Dies ist später in Da Fontes/Mozarts italienischen Opern topisch, wenngleich die Wertung dort nicht mehr die Eindeutigkeit Weißes besitzt. Sowohl der Conte Almaviva als auch Don Giovanni oder Don Alfonso erscheinen als Störer und Zerstörer familiärer Strukturen. 169
künftige Rolle einzuüben versucht (S. 56, S. 73). Allerdings ist bezeichnend, daß in der Kindergeneration sich leichte Risse im patriarchalischen Monument zeigen: Röschen weist Toffels Versuche als verfrüht zurück (was ihn ohnmächtig knirschen läßt: »Nu, warte nur! bin ich nur einmal Dein Mann = = =«), und bei beiden Paaren sind die Frauen dominant, was sich auch in der Verteilung der Gesangstexte dokumentiert. 115 Hier deutet sich leise eine Entwicklung an, die in den späten ijjoer Jahren dann rasch zum Umbau der rein patriarchalischen Strukturen (vgl. u. II.4) und zur Veränderung der Vaterfiguren auf der Theaterbühne führen wird."6 Durch die Bedeutung der Familie als oberstem Wert erklärt sich auch das Gewicht der sentimentalen Versöhnungsszenen. Das Stück kann auch als eine Folge von Heimkehr- und Versöhnungsszenen gesehen werden. Als Frontispiz der Weiße-Sammelausgabe Leipzig 1771 wurde ein Stich mit der Szene der Heimkehr Christels ausgewählt, obwohl diese ja keineswegs zu den zentralen oder auch nur dramaturgisch wichtigen Szenen des Stücks gehört. Weiße hat die Bedeutung dieser sentimentalen Umarmungsszene im Text auch dadurch markiert, daß Michel vor lauter Wiedersehensfreude den König beinahe über den Haufen rennt." 7 Vom König wird dieses Verhalten dann explizit nicht etwa getadelt, sondern gelobt: als Zeichen wahrer väterlicher Liebe. Die familiale Organisation der dargestellten Welt bildet einen großen Unterschied zur italienischen Oper (sowohl zur seria als auch zur buffa), für die diese Organisationsform nur geringe, allenfalls sekundäre Bedeutung hat. Hier wird noch einmal deutlich, wie stark das mitteldeutsche Singspiel vom gleichzeitigen Sprechtheater ausgeht, dem rührenden Familienschauspiel und der comedie larmoyante.11** Im Zentrum all dieser Theaterformen steht wie auch im Singspiel die Familie als Garant der Glücks. Auch der Staat erscheint als große Familie: Der König als Landesvater muß für das Glück der Untertanen sorgen, wie der Hausvater für das seiner Familie, und wird dafür ebenfalls durch Liebe 115
116 117 118
Röschen ist (solistisch und im Ensemble) an 13 Nummern beteiligt, Toffel nur an neun; Hannchen an zehn, Christel an acht. Vgl. Vogg 1993, S. 59ff.; S0rensen 1991, S. 289^ Vgl. Bauman 1985, S. 48ff. mit Abbildung. Die Bedeutung der familialen Organisation in der Dramatik nach 1750 ist in den letzten zwei Jahrzehnten in der Germanistik von unterschiedlichsten Ansätzen aus breit erforscht worden: Vgl. z. B. Peter Horst Neumann: Der Preis der Mündigkeit. Über Lessings Dramen. Stuttgart 1977; Michelsen 1964/1979; Friedrich A. Kittler: Carlos als Carlsschüler. Ein Familienbild in einem fürstlichen Hause. In: Wilfried Barner et al. (Hg.): Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Stuttgart 1984, S. 241-273; Bengc Algot S0rensen: Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert. München 1984; Säße 1988; Ladendorf 1993; Vogg 1993; Horstenkamp-Strake 1994. — Selbst in Weißes Trauerspielen zeigt sich eine (für das Trauerspiel untypische) Unterordnung aller anderen Faktoren unter die familiale Organisation; vgl. Pape 1986, S.
170
belohnt - ein primitives Verständnismodell politischer Herrschaft nach dem Muster der patriarchalisch strukturierten Familie. Der scheinbare Antifeudalismus von Weißes Stück erweist sich daher bei näherem Hinsehen als Chimäre. Zwar greift Weiße auf das in Frankreich als brisant empfundene Stück (Zolles zurück, formt es jedoch auf eine sehr bezeichnende Weise um. Das empfindsame Geseüschaftsmodell legt sich wie ein Schleier über die scharfe Analyse politischer Verläufe bei Colle. Daraus resultiert dann auch die beträchtliche Unscharfe der Sozialräume bei Weiße. Weiße nutzt den Stoff gerade nicht zu einer Kritik des feudalen Herrschaftssystems, sondern zielt auf den spezifischen galanten Diskurs, der im Stück durch den empfindsamen kritisiert und abgelöst wird. Diese Diskurse aber werden gerade nicht sozial oder politisch eindeutig verortet. Der Positivraum konstituiert sich nicht sozial, sondern über den empfindsamen Diskurs, dem auch die positiven höfischen Figuren folgen. 2.4. Universalitätsanspruch der Empfindsamkeit Aus all dem wird deutlich, daß im Stück keine direkte Kritik der Feudalgesellschaft erfolgt, wie es die Forschung immer wieder konstruiert hat. Kritisiert wird nicht schlechte Regierung oder das feudale System an sich, sondern dessen kultureller Code - als Kälte, Verstellung, Differenz von Herz und Rede. An die Stelle des galanten Codes setzt das Stück die empfindsame Emotionalität, die nun gerade alle politischen Mechanismen und Verfahren ausklammert und ablehnt. Das Stück behauptet die Allgemeingültigkeit des empfindsamen Codes für alle richtig Empfindenden; es kritisiert die politische Ordnung nicht, sondern vereinnahmt sie diskursiv. Die Vision des Stücks trägt daher keine der >bürgerlichen< Figuren, sondern der König »sehr gerührt« in einer Arie vor, der letzten Solo-Arie des Werks (Nr. 37, III 9) — es ist die Vision vom »Thron auf Liebe begründet«, von der Macht, die nicht über politische Prozesse, sondern ausschließlich über die Gefühlsgemeinschaft der richtig Empfindenden hergestellt wird. Der König, noch in Verstellung, sagt dort, mit den Tränen kämpfend und von Rührung »unterbrochen«: Eure Liebe für Euren König rührt mich so sehr, daß ich - daß ich - auch eins singen muß! Welche königliche Lust! Seinen Thron auf Liebe gründen, Und in eines jeden Brust Lieb' um Liebe wieder finden! Im geringsten Unterthan Kinder, Freunde, Brüder finden, Und der Gottheit Glück empfinden; Daß man glücklich machen kann!" 9
Das reale Machtverhältnis wird im Stück verklärt zu einer familialen Utopie: Der geringste Untertan ist, sofern er den empfindsamen Code beherrscht,
Freund und Bruder des Königs, und der König empfindet das als Glück und Auszeichnung. Der Königsthron ruht nicht auf politischen Prozessen, sondern auf der Empfindungs-Gemeinschaft. (Entsprechend handelt der König Weißes wenig, reflektiert und moralisiert dagegen viel, was besonders im Vergleich mit den französischen Fassungen des Stoffs deutlich wird.) Die empfindsame Vision der gesellschaftlichen Organisation beruht dabei einerseits auf der Ideologie einer natürlichen Moralität der Menschen und ihrer altruistischen, nur gegenseitiger Zuwendung verpflichteten Geselligkeit, andererseits auf der Flachheit und Statik der Emotionalität. 120 Die Ausschaltung des störenden galanten Diskurses mit seinen Veränderbarkeiten würde nach der Logik des Stücks ausreichen, um universales Glück der Untertanen zu ermöglichen. Das Stück kritisiert die feudale Ordnung der Gesellschaft als solche nicht; es wirft ihr allenfalls einen falschen Code vor. Die Utopie der empfindsamen Gesellschaft ist eine politikferne Gemeinschaft der von Natur aus richtig Empfindenden. Zu ihrem Siegel werden die Tränen der Figuren. Christels wiederholte Zweifel an ihrer Unschuld kann Hannchen erst mit dem Verweis auf ihre Tränen entkräften: »Was soll ich dir für einen Beweis davon geben, lieber Christel, wenn meine Worte, meine Betheuerungen, meine Thränen, Dich nicht überzeugen können? Christel: Nein, liebes Kind, weinen mußt Du nicht: denn sonst - sonst bin ich gleich überzeugt.« 121 Die Tränen werden zum Wahrheitsbeweis für die Worte des Sprechenden; den Tränen zu mißtrauen, wäre eine elementare Verletzung des empfindsamen Codes, die Christel aus der Gemeinschaft der Empfindenden ausschlösse. Signifikant ist, daß die Tränen natürlich nur dem Positivraum vorbehalten sind — der Graf weint nicht und läßt sich auch durch Tränen nicht rühren: »Beym Grafen hätt' ich blutige Thränen weinen mögen, und ich hätte ihn doch nicht erweicht!« (Hannchen S. 82) Der König dagegen ist ständig gerührt und weint mehrfach, obwohl er sich gegen die Tränen wehrt (vgl. S. 187). In dieser Konzeption des weinenden Königs wird das Zentrum des empfindsamen Machtverständnisses noch einmal deutlich. Bei Metastasio wäre ein weinender Herrscher auf der Bühne unvorstellbar: Das wäre mit der politischen Funktion 119
120
121
III 9, S. 188. Vgl. ähnlich auch S. ijof. Auch bei Colle befindet sich der König wiederholt »dans le dernier attendrissement« und weint. Die oben zitierte herbe Kritik Ebelings an Weiße, die auch die Flachheit der Charaktere tadelt, steht schon in einem neuen Diskurs, der von der Forderung nach Individualität geprägt ist und sich von der empfindsamen Sozialität absetzt; vgl. dazu u. .3. II 6, S. logf. Ebenso verläuft die Begegnung Männchens mit Toffel, ihrem schärfsten Kritiker (I 7, S. 46). Röschen dagegen unterläuft den empfindsamen Tränenkult (S. 66f., S. 89): Ihre braune Natur-Emotionalität kann spielerisch mit dem empfindsamen Code umgehen und zeigt so dessen Schwäche auf.
172
der Gattung ebenso unvereinbar wie mit dem klassizistischen Theatercode der Affektkontrolle überhaupt. Gerade die Opera seria beruht konstitutiv auf dem Spannungsverhältnis von politischer und galanter Handlung, von strategischem Verhalten und Affekten — einem Spannungsverhältnis, das das empfindsame Musiktheater einseitig auflöst (vgl. a. II.2). Für den empfindsamen Code, den Weiße ausbaut, ist dagegen das Weinen des Königs von grundlegender Bedeutung: Es zeigt, daß der König der Gemeinschaft der richtig Empfindenden angehört, die sich durch die Fähigkeit der »Rührung« auszeichnen. Der gerührte König ist der beste König. In der wertenden Gegenüberstellung der verschiedenen Konzeptionen von Emotionalität behauptet Weißes Stück einen Universalitätsanspruch des empfindsamen Codes. Dieser grenzt sich vom galanten Code ab, grenzt diesen aus und reklamiert auch die höchste politische Autorität, den König, für sich. Im Singspiel behauptet die empfindsame Kultur ideologisch ihren Vorrang vor allen anderen Codes. Die empfindsame Kultur erscheint dabei als positive Verfeinerung der ursprünglichen, »natürlichen« Lebensweise und Moral. 122 Der galante Verhaltenscode des Hofes mit seinen politischen Mechanismen und Implikationen dagegen wird als »künstliche« Verbildung dieser natürlichen Menschlichkeit denunziert. Aus der politischen Weltklugheitslehre, die um und nach 1700 noch unbezweifelt das Leitbild auch bürgerlicher Schichten bildete (etwa bei Christian Weise oder Julius Bernhard v. Rohr), wird hier ein Zerrbild. 123 Die empfindsame Kultur vom Schlage Weißes wehrt sich gegen die hierarchische kulturelle Differenzierung der ständischen Gesellschaft und setzt eine ahistorische, universale Familialisierung der Welt dagegen. In der plakativen Darbietung dieses Universalitätsanspruchs steckt die diskursive Brisanz der so oft als triviale Massenunterhaltung abqualifizierten Gattung. Das Singspiel tritt als Wiederherstellung eines ursprünglichen, von der Natur gegebenen und empfindsam kultivierten Codes auf der Bühne auf nichts weniger ist sein Anspruch, der es dann in der Rezeption zu einer der erfolgreichsten Gattungen der empfindsamen Kultur werden läßt.
22
2i
Das hier erkennbare Spannungsverhältnis von Natur und empfindsamer Überformung bildet später eine der Bruchstellen des empfindsamen Diskurses. In der Diskussion um die schauspielerische Darstellung werden die Konsequenzen dieses Axioms im folgenden Jahrzehnt gezogen, wenn es etwa bei J. J. Engel (1785/86, S. 203) heißt: »der Pöbel, das Kind, der Wilde, kurz der Mensch ohne Sitten [ist] der wahre Gegenstand, an dem man den Ausdruck der Leidenschaften studiren muß«; vgl. zu den theatergeschichtlichen Konsequenzen Fischer-Lichte 1988, Bd. 2, S. 163 u.ö.; allg. Werner Krauss: Der Mythos vom >bon sauvage«. In: Krauss 1978, S. 32-47. Michels Lied »Beym schönsten Sonnenschein/ Nimm deinen Mantel um« (I 3) läßt Reste eines >weltklugen< Verhaltens erkennen. 173
3- Die Musik als Raum der Empfindsamkeit Der Abwertung der höfisch-politischen Klugheitslehre des galanten Diskurses korrespondiert schon in der französischen Empfindsamkeit eine Aufwertung der Musik, etwa in Rousseaus >Julie< (lyoi). 1 2 4 Musik erscheint dabei nicht als Mittel kultureller Differenzierung im ständischen System, sondern als übergreifendes, allgemein-menschliches Ausdrucksmittel. 125 Zu fragen wäre daher nun, wieso gerade das volkssprachliche Musiktheater zum Raum des empfindsamen Diskurses werden kann, während das fremdsprachliche Musiktheater die zentrale Repräsentationsform der höfischen Kultur bleibt. Wie prägt das oben Ausgeführte nun die musikalische Faktur des Singspiels, und mit welchen Mitteln konnte der Komponist Hiller auf Weißes Ansätze reagieren? Oben wurde die spezifische dramaturgische Konzeption Weißes als schauspielnahe, aber in entscheidenden Punkten auch wieder eigenständige zu bestimmen versucht. Durch die Musikstücke, die primär als retardierende Einlagen konzipiert sind, kann Weiße das dramatische Tempo des Stücks in einer Art zurücknehmen, die im Sprechtheater kaum möglich erscheint. Dies aber ermöglicht eine Debatte über die Innenausstattung des Subjekts, die auf der Gegenüberstellung von drei Codes menschlicher Emotionalität aufgebaut ist. Dafür ist gerade das einfache Lied von zentraler Bedeutung: Es verbürgt dramaturgisch die Echtheit der Gefühle der real gezeigten Figuren, ohne daß diese wie in der Arie der traditionellen Oper - »künstlich« (z.B. als Rollenlyrik oder durch mythologische Bezüge) überhöht und damit in Distanz gerückt würden. Hiller arbeitet analog der Differenzierung der emotionalen Codes mit einer Differenz musikalischer Formen: Lied, Arie und einem Zwischenbereich von Arietten und Cavatinen. Seine Musik zeigt sich insgesamt den empfindsamen Maximen von Faßlichkeit, Sangbarkeit und »Natürlichkeit« verpflichtet. Teile der Musik zielen direkt auf ein Mit- oder Nachsingen des Publikums, was sich dann in der Rezeptionsgeschichte auch medial im neuen Phänomen des Klavierauszugs und der Lieder- und Ariensammlung niederschlägt. Hiller vermeidet weitgehend den großen, kunstvoll-repräsentativen Gestus der Opera seria und rückt stattdessen das einfache Strophenlied ins Zentrum. Die ältere Forschung faßte dies meist als ästhetisches Unvermögen Hillers auf, 126 statt die aufführungspraktischen Hintergründe und die Intentionen Hillers zu erkennen. Die Zentralstellung des einfachen Liedes bildet den Schlüssel für die Wir124
125
126
Vgl. dazu Wegmann 1984, S. 47ff. Zur Bedeutung der Klugheitslehren für die Anthropologie des 18. Jahrhunderts vgl. a. Kosenina 1994, S. jSff. Auch deshalb wird die Frage nach dem »natürlichen« Ursprung der Musik für Autoren wie Rousseau so wichtig. Vgl. Peiser 1894 oder Calmus 1908.
174
kungsabsicht des Singspiels als empfindsamer Leitgattung. In der Bedeutung des Lieds liegt die entscheidende formale Differenz der deutschsprachigen Musiktheaterformen zur großen höfischen Oper mit ihrer »künstlichen« Kultur der Arie. Die Dichotomic von »künstlichem« höfischen gegen »natürlichen« empfindsamen Code prägt somit auch die Grundgestalt der musikalischen Ebene. 3.1. Lied und Arie Die >Jagd< enthält 31 solistische Gesangsnummern gegenüber sechs Ensembles und zwei größeren Aktschlüssen mit Chor (Nr. 13 und Nr. 39), dazu die Instrumentalmusik der Gewitterszene und in der Praxis der Zeit meist noch zwei instrumentale Entr'acte-Musiken. 127 Die Zahl von 39 vokalen Nummern ist gegenüber der höfischen Oper sehr hoch; zeitgenössische Werke der Opera seria weisen in der Regel maximal zwischen 20 und 23 Gesangsnummern auf — bei meist deutlich längerer Gesamtdauer.128 Schon durch diese Anzahl wird deutlich, daß die Musikstücke selbst kürzeren Umfang und anderen Charakter haben müssen als die großen höfischen Dacapo-Arien. Bei den solistischen Gesangs n um mern überwiegen mit 13 von 31 Nummern die einfachen Strophenlieder, die in der Regel nur ein äußerst kurzes Vorspiel aufweisen, das gerade dazu dient, dem Singenden in die Tonart zu 127
128
Diese konnten bei Aufführungen an Residenzen durch Balletteinlagen ersetzt werden, wie es offenbar bei der Weimarer Uraufführung geschah (vgl. Klügl 1987, S. 18). Dadurch versuchten die Wanderbühnen, den Gewohnheiten des höfischen Theaterpublikums zu entsprechen. Koch hatte Anfang der lyyoer Jahre 16 Tänzer unter Vertrag (neben gut 20 Schauspielern; vgl. Schering 1941, S. 442) und schloß seit den lyooer Jahren in der Regel einen Theaterabend mit einem Ballett ab (ebd. S. 434). - Die Beliebtheit des Balletts wurzelt in Deutschland in den höfischen Theatern des 17. Jahrhunderts, für deren Code das Ballett die nahezu perfekte Darbietungsform für Massenszenen bietet (vgl. dazu Fischer-Lichte 1988, Bd. 2, S. 60). An der Bedeutung des Balletts im Bereich der Wanderbühnen bis um 1770 läßt sich sowohl das Nachwirken barocker Theatercodes als auch die Vorbildrolle der höfischen Theaterpraxis erkennen. Die Wanderbühnen bilden keine Antithese zum Hoftheater, sondern eine komplementäre Form, die sich in vielen Punkten an der höfischen Praxis orientiert. Niccolö Jommellis ebenfalls 1770 entstandene Opera seria >Armida Abbandonata< (Neapel) weist z.B. 19 Arien und Cavatinen, i Duett und 3 Chöre auf. Niccolö Piccinnis >Catone in Utica< (Mannheim 1770) enthält 21 Arien und Cavarinen, i Terzett; J. Chr. Bachs >Temistocle< (Mannheim 1772) 18 Arien, i Duett und 2 größere Finali; Mozarts >Lucio Silla< (Mailand 1772) 18 Arien, i Duett, i Terzett und 3 Chöre. — Auf der anderen Seite begegnen im deutschen Musiktheater Stücke mit noch weit mehr Musiknummern als in der >JagdRosenfestkleinen< Taktarten gehalten (} , %, J/4), nur in Ausnahmefällen, etwa beim König oder dem ernsten Liebespaar in den >großen< Taktarten % oder }/4. Anders als die großen Arien oder die Ensembles beruht das Lied oft auf Tanzmodellen oder tänzerischen Elementen (vgl. z. B. den Siciliano-Charakter von Toffels Lied Nr. 8 »Mein Engelchen, was machst du hier?« oder den PastorellenTyp in Röschens Nr. i). Mittelstimmen sind kaum profiliert (allenfalls Terzoder Sextparallelen zur Hauptstimme), dafür die Melodiestimmen betont und meist instrumental verdoppelt;129 die harmonische Struktur beschränkt sich in der Regel auf die elementarsten Stufen der Kadenz, die vom Baß markiert werden. Angaben zu Dynamik und Ausdruck fehlen generell, oft fehlen sogar die Tempoangaben; dies ist generell charakteristisch für populäre Strophenlieder.130 Die Liedmelodien wiederum verlaufen ohne schwierige Sprünge, umfassen einen geringen Ambitus, der meist im Bereich einer Oktave' 31 liegt, und sind in der Regel deutlich in kurze Perioden gegliedert. Alle Formen von Ausschmückungen des Gesangs (»Manieren«, Koloraturen etc.) wie in der Arie werden vermieden; syllabische Vertonung herrscht, die allenfalls für empfindsame Vorhaltsbildungen gedehnt werden kann. Stattdessen enthalten die Liedmelodien in der Regel zahlreiche bekannte, stereotype Formeln; sie sind gerade nicht auf Neuheit oder Überraschung des Höreres angelegt, sondern benutzen im Gegenteil Modelle, die ihm von anderen Liedmelodien her vertraut sind und somit leicht faßlich und einprägsam sind, u.U. sogar mitgesungen werden können.' 32 Dies entspricht dem Ansatz Weißes, in den Liedtexten bewußt den Schein des Altvertrauten herzustellen (s.o.). Ein Musterbeispiel dafür ist das berühmteste Stück des Werks, Hannchens Lied von der Bleiche (Nr. i8).' 33 129
130 131
132
133
Die zeitgenössische Liedtheorie fordert oft, daß Lieder auch ohne Baß, gewissermaßen als pure Melodie, angelegt werden sollen (vgl. z.B. Sulzers Artikel »Lied« [1792/94, Bd. 3, S. 278; identisch bereits in der ersten vierbändigen Ausgabe 1779]; Reichardt 1782, Bd. i, S. 3; vgl. Schwab 1965, S. 152, S. I7of.) Zu den erheblichen sozialgeschichtlichen Implikationen des Melodie-Primats vgl. unten Teil III sowie Reckow 1993. Schwab 1965, S. 105. Der Oktav-Umfang stellt eine Art Norm der zeitgenössischen Liedtheorie dar. So heißt es etwa bei Sulzer: »Den Umfang der Stimme muß man für das Lied nicht zu groß nehmen, weil es für alle Kehlen leicht seyn soll. Darum ist das Beste, daß man in dem Bezirk einer Sexte, höchstens der Octave bleibe. Aus eben diesem Grunde müssen schwere Fortschreitungen und schwere Sprünge vermieden werden.« (Sulzer [wie Anm. 129]). Vgl. Schwab 1965, S. loiff. Auch in der Rezension bei Schmid I775a, S. 297, wird genau dies positiv hervorgehoben: Der Vorzug des Stücks sei, daß die »Vermischung des Interesse[s] des Stücks mit dem der Musik« gelungen sei und daß in ihm »mehr kleine, faßliche und gefällige Lieder vorkommen, als in irgend einer ändern Operette«. Zu dieser Romanze vgl. Klügl 1987, S. 23-30.
176
Durch das strophische Prinzip der musikalischen Wiederholung kann die Musik dabei nicht eng auf den Text bezogen werden, sondern muß eine charakteristischen Allgemeinheit aufweisen, die zugleich zum Charakter des Bekannten beiträgt. Aufschlußreich ist z.B. beim »Bleiche«-Leid, daß das einzige etwas ungewöhnliche musikalische Element, die Chromatik in Takt 15, in der Praxis offenbar schlichtweg ignoriert wurde. 134 (Hier versuchte Hiller offenbar, den angeblichen »Fall«, der dem Vater das Bein zerschlug, mit einer abfallenden Chromatik zu spiegeln, d.h. dem Text der ersten Strophe enger zu folgen, als es nach der Theorie des Strophenlieds gut war.' 35 In der Praxis wird jedoch gerade diese minimale Abweichung von der textunspezifischen Allgemeinheit des Strophenlieds wieder in eine uncharakteristische Gestalt überführt.) Die repetitive Struktur wird noch verstärkt dadurch, daß meist bereits innerhalb einer Strophe Phrasen, melodische Abschnitte oder rhythmische Muster wiederholt werden. Für das Lied ist gerade nicht der betonte Kunstanspruch oder gar Originalität' 36 wichtig, sondern im Gegenteil die ästhetische Maxime des Anknüpfens an Vertrautes. Sulzer faßt die allgemeine Auffassung über das strophische Lied in polemischer Wendung gegen die höfische Oper zusammen: Beim Lied komme es nicht auf »die Belustigung des Ohres an, nicht auf Bewundrung der Kunst, nicht auf die Ueberraschung durch künstliche Harmonien und schwere Modulationen« an, »sondern lediglich auf Rührung.« 137 Durch die ständige, unveränderte Wiederholung der Musik führen die Strophenlieder zu einem dramaturgischen Stillstand, der zur Bestätigung der Position des Singenden und eben zur »Rührung« des Publikums genutzt wird. (Wegen der damit verbundenden Gefahren der Eintönigkeit und Langeweile stellte schon Weiße selbst ausdrücklich ins Belieben der Praxis, wieviele Strophen jeweils gesungen werden sollten.'38) Neben den einfachen Strophenliedern benutzt Hiller noch weitere Liedformen: Buffolieder nach italienischem Stil (etwa Toffels Lied Nr. n) und durch134
Reichardt betont 1774, er habe die Chromatik e"-dis"-d" in Takt 15 noch nie auf dem Theater realisiert gehört, stattdessen wären alle Sängerinnen statt des äis" gleich ins d" gegangen (1774, S. 61). (Auch die mündliche, zersungene Fassung bei Friedlaender [wie Anm. 13] zeigt die simplifizierenden Abschleifungen der ursprünglichen Struktur.) "35 Vgl. dazu Schwab 1965, S. 5iff. mit Belegen. 136 Auch dies stellt einen Grund dafür dar, warum die »Original-Genies« der späteren Generation das Singspiel so stark ablehnen — es muß aus seiner inneren Logik heraus gerade das Gegenteil von »Originalität« zu einer ästhetischen Maxime machen (vgl. u. III.3). Zugleich erschien am Ende des Jahrhunderts die Musik eines Strophenlieds wegen ihrer notwendig geringen Verbindung mit dem Text zunehmend als unbedeutend und charakterlos (vgl. etwa AMZ 5, 1803, Sp. 494f.). 137 Sulzer [wie Anm. 129], S. 277. 138 Wegen dieser Eintönigkeit hatte schon Mattheson 1722 gegen das »armselige« und »abgeschmackte« Strophenlied polemisiert (1722/1725, Bd. i, S. 100). 177
komponierte Liedformen bzw. Arietten (etwa Hannchens Nr. ).1·39 Auch die Ensemblesätze (je 2 Duette, Terzette, Quartette) erscheinen »in ihrer knappen Form wie Strophenlieder, in deren Vortrag sich mehrere Personen theilen.« 140 Den Strophenliedern stehen lediglich zwei große Dacapo-Arien gegenüber: Hannchens »O daß mich noch sein Herze liebte« (Nr. 16) und »Welche königliche Lust« des Königs (Nr. 37).14' Daneben finden sich noch sechs kleinere zweiteilige Arien 142 und eine kurze dreiteilige.143 Hiller kombiniert in seiner Musik verschiedene musikalische Stilformen: französisch orientierte Vaudevilles und Chansons, deutsche Lieder, polnische Tänze (Polacca Nr. 38) und italienische Buffa-Elemente sowie Modelle aus dem Seria-Bereich. Diese Mischung ist insgesamt typisch für den vermischten musikalischen Stil in Deutschland. Anders als etwa Frankreich mit seinem deutlich ausgeprägten Nationalstil ist Deutschland im 18. Jahrhundert das Land der produktiven musikalischen Mischung europäischer Musikformen (was sich bei J. S. Bach oder Telemann ebenso zeigt wie später bei Haydn oder Mozart). Insgesamt dominiert also in der Musik zur >Jagd< der Liedbereich, in diesem wiederum die Form des einfachen Strophenlieds bei weitem. Dies aber ist nicht einfach nur als Tribut Hillers an die niedrige Gesangskultur der Wandertruppen zu verstehen. Schließlich hatte er in >Lisuart und Dariolette< (1767) bereits ein erheblich mehr mit Arien ausgestattetes Werk für Kochs Truppe geschrieben, das lediglich drei Strophenlieder enthielt. Die Bevorzugung des Strophenlieds in der >JagdJagd< zeigt sich deutlich die distanzierende Funktion der Arie: Hannchen und der König führen in ihren Arien Distanz auch zu sich selbst vor. Sie reflektieren das Erlebte, während die Lieder scheinbar spontan-natürlich entstehen und die singenden Personen gerade keine Distanz zu sich haben. Das Lied tilgt die Differenz von Bühne und Publikum; es signalisiert ein grundsätzliches Einverständnis mit dem Publikum durch die Zurücknahme des Kunstanspruchs, die kompositorische Schlichtheit, den Schein des Bekannten.' 47 Damit geht es weit über die ähnlich fungierenden, aber punktuellen ad spectatores-Techniken der Komödie hinaus. Das Lied bildet somit den eigentlichen Raum der Verständigung zwischen Bühne und Publikum. In einigen Liedern, v. a. im Schlußgesang, wird das gemeinsame Singen regelrecht eingeübt und das Publikum zum Mitsingen animiert. Der vierstimmige Kanon des Schlußgesangs (»Es lebe der König«, Partitur S. 236) ist dafür gerade in seiner Schlichtheit eine ideales Beispiel. Die musikalische Faktur mit ihrem tänzerischen Grundcharakter ist genau auf jene Stiftung von Gemeinschaft hin angelegt, die der ideologischen Gemeinschaftsstiftung im Lob des guten Herrschers entspricht. (Ähnliches gilt z.B. für Michels Lied mit Chor Nr. 36 »Ich liebe die Mädchen, ich liebe den Wein«, ebenfalls im /«-Takt.) Wenn Klügl bei den Liedern hauptsächlich den »Primat der Konsumierbarkeit«' 40 hervorhebt, so scheint mir das daher zu kurz gegriffen zu sein. Wesentlich ist weniger die Konsumierbarkeit als die aktive Stiftung von Geselligkeit und Gemeinschaft. So, wie die flache Emotionalität der Figu•44 Vgl. Kawada 1969, S. 127. Lediglich der >Aerntekranz< enthält ebenfalls 13 Strophenlieder, alle anderen Singspiele (z.T. erheblich) weniger. '45 Meyer 19803, S. 153; ähnlich Kross 1989 [wie Anm. 19], S. 59ff. '46 Vgi Schwab 1965, passim. M7 Vgl. dazu Kunze 1984, S. 594. 'Jagd< finden sich v. a. bei Friedrich Theophil Thilo (Emilie Sommer. Eine Geschichte in Briefen. Leipzig 1780-1782) und bei J. G. Schummel zitiert (Spitzbart. Eine komi-tragische Geschichte für unser pädagogisches Jahrhundert. Leipzig 1778. Ndr. Leipzig/Weimar 1983). — Auch spätere klassische und romantische Romane setzen die Praxis der Liedeinlagen fort; in der Erstausgabe von Goethes >Wilhelm Meisters Lehrjahren< (Berlin: Unger 1795) finden sich eingeklebte Drucke von Reichardts Vertonungen; ähnliches gilt noch für die Romane Achim von Arnims (>Gräfin DoloresGodwi< (1801) angehängte Lied »Maria liegt nun schlafend da« soll auf die Melodie des ersten Papageno-Lieds der >Zauberflöte< gesungen werden etc. Das Stück beginnt und schließt in A-Dur, der Grundtonart auch einiger markanter Nummern (vgl. Hannchens Romanze Nr. 18 oder das Quartett Nr. 12); dennoch bildet A-Dur nicht den tonalen Schwerpunkt des gesamten Werks. Hiller nutzt den Bereich der sechs Durtonarten zwischen A-Dur im Kreuz- und B-Dur im B-Bereich relativ gleichmäßig; eine tonartliche Zentrierung oder auch nur der konsequente Aufbau größerer harmonischer Zusammenhänge oder Korrespondenzen ist kaum zu erkennen. Nur in wenigen Ausnahmefällen geht er über diesen Normalbereich hinaus; ebenso selten benutzt er Molltonarten. Über den tonartlichen Normalbereich gehen nur Hannchen (Nr. 10 Es-Dur, Nr. 26 E-Dur) und Christel (Nr. 20 c-Moll, Nr. 34 Es-Dur) hinaus, einmal auch der König (Nr. 37 Es-Dur) bzw. Marthe (Nr. 32: f-Moll-Ballade). Die größte Breite weisen
180
kennzeichnet die Lieder des komischen Paares harmonische Statik und Eingeschränktheit. So schließt etwa Toffels Lied Nr. 3 ständig nur in der Tonika; in seinem Lied Nr. 11 entsteht komische Wirkung durch melodische Eintönigkeit (in T. i8ff. singt er 25 Silben auf einer einzigen Tonhöhe, ein in der Opera buffa häufig anzutreffendes Mittel). 152 Anders dagegen ist der vorherrschende Duktus der empfindsamen Figuren. Hier überwiegen die >großen< Taktarten (X,, %), in den Melodien Vorhalte und Seufzerfiguren; gelegentlich findet sich auch die für Hasses Opern typische Absetzung eines Mittelteils durch andere Taktart und Instrumentierung (z. B. in Hannchens Arie »O daß mich noch sein Herze liebte« Nr. 16; II 3). Hiller unterstreicht die musikalische Differenz dieser Ebenen, indem er häufig Gesänge unterschiedlichsten Typs aufeinander folgen läßt, wodurch die Differenz geradezu ins Ohr springt. 153 Die schon bei Weiße erkennbare Tendenz, die Gesangstexte zu einer eigenständigeren Ebene auszubauen und Bezüge zwischen einzelnen Texten herzustellen, wird von Hiller musikalisch-stilistisch aufgegriffen und verstärkt. Die Arien der empfindsamen Personen werden daher auch schon in der frühen Rezeption deutlich von denen der komischen Figuren, zugleich aber auch von denen der traditionellen höfischen Oper unterschieden. Johann Friedrich Agricola bezeichnet etwa in seiner ADB-Rezension Hannchens Arie Nr. 10 als »in einer höhern Schreibart, zwar simpel, aber rührend«. 154 Auch Christels Auftrittsarie »Mein Hannchen war für mich allein« (Nr. 20; II 4) wird von Reichardt, Agricolas späterem Nachfolger als Berliner Hofkomponist, in typisch empfindsamer Terminologie besprochen: Der Gesang sei »schmelzend«, steige dem Sänger »aus der Tiefe der Brust hervor, so wie es H. H. [Herr Hiller] aus dem Innersten des Herzens heraus sang«. 155 Die Musik wird zum Modell einer inneren, quasi körperlichen Wahrheit des direkten und unverfälschten Gefühlsausdrucks, der vom »Herzen« des Komponisten über die Hannchen (von E- bis Es-Dur) und der König (von A- bis Es-Dur) auf. — Die unterschiedliche tonartliche Bandbreite der Figuren ist ein typisches Gestaltungsmittel von J. A. Hasse, den Hiller als Vorbild bewunderte. Vgl. dazu Reinhard Wiesend: Tonartendisposition und Rollenhierarchie in Hasses Opern. In: Friedrich Lippmann (Hg.): Colloquium Johann Adolf Hasse und die Musik seiner Zeit (Siena 1983). Laaber 1987, S. 223-231. 152 Auch in seinem quirligen syllabischen Stil ist dieses Lied an die Opera buffa angelehnt. 153 Am deutlichsten etwa zwischen Röschens Nr. 19 »Ich habe Toffeln auf mich« und Christels Nr. 20 »Mein Hannchen war für mich allein«, die unmittelbar aufeinander folgen und durch identische Instrumentierung, ruhiges Tempo und Tonarten (C-Dur bzw. c-Moll) aufeinander bezogen sind, stilistisch jedoch deutlich sich unterscheiden. (Ähnliche Differenzen vgl. zwischen Nr. 15, Röschens »Ach nein, was kann ich hören«, und Hannchens Nr. 16 »O daß mich doch sein Herze liebte«.) 154 ADB 17/2 (1772), S. 565. Agricola hebt, ähnlich wie Reichardt, die Stildifferenz komisch vs. ernsthaft ausdrücklich positiv hervor. '" Reichardt 1774, S. 65.
181
»Brust« des Sängers in die Sinne des Hörers bzw. Zuschauers übergeht. Für Reichardt ist dabei jedoch besonders wichtig, daß Miller auf die Worte »Vergnügen oder Pracht« gerade keine »fröhliche und glänzende Gedanken« anbrachte, wie es in der älteren Kompositionspraxis der Opera seria häufig tonmalerisch geschah (vgl. unten auch A. Schweitzers Vorgehen in >AlcesteBriefwechsel der Familie des Kinderfreundes< bringt Weiße einen fiktiven Brief, der noch einmal explizit die Gegenposition von liedbetontem Singspiel und großer Oper betont: Der Kaufmannslehrling Fritz erklärt, daß ihm die »geputzten römischen Helden [ ] mit ihrem Gequäke« nicht gefallen. »Nein, dachte ich, wenn es einmal gesungen heißen soll, so lobe ich mir noch ein hübsches, deutsches Operettchen, wo ich, ein Liedchen auf einmal hören, gleich mit singen, und mich bisweilen satt lachen kann; wo ich verstehe, was die Leute wollen, und an des einen oder des anderen Schicksale von ganzem Herzen Theil nehmen kann. Was geht mich Alexander und Porus, Roxane und Marzepille an?« (C. F. Weiße: Briefwechsel der Familie des Kinderfreundes. Theil 3, Leipzig 1785, S. 5)
182
gend: »Die edle Simplicität des Gesanges« verbürgt ihre innerliche Wahrheit.100 Wie Hiller in der >Jagd< die Differenz der emotionalen Bereiche als Unterschied musikalischer Stile umsetzte, hob schon der Zeitgenosse Reichardt bewundernd hervor: Die Charaktere sind alle darinnen so richtig getroffen, und so treu ausgeführet, daß man es hierinn schon für ein Meisterstück in seiner Art halten muß. Aus Röschen singt immer das muthwillige flüchtige Mädchen, so wie Hanchens [sie] Gesang der zärtlichste schmelzendste Gesang ist, und derselbe Componist, der den übrigen Personen die lustigsten Arien geben konnte, die voller Witz und wahrer comischer Züge sind, derselbe konnte den König auch königlich singen lassen. Denn in der Arie: welche königliche Lust! herrscht wirklich eine erhabene stille Grosse []. l f i l
Allerdings ist diese soziographische Verankerung der musikalischen Stile bei Hiller insgesamt weniger streng gehandhabt, als Reichardts Ausführungen vermuten lassen. Hiüers Verteilung der musikalischen Formen und Stile läßt sich nicht rein soziologisch-ständebezogen begreifen, sondern nur diskursbezogen. Denn Hiller ordnet keineswegs die schlichten Formen ausschließlich den Landfiguren, die »zärtlichen schmelzenden« Gesänge dem empfindsamen Paar oder die erhabene, »höhere Schreibart« ausschließlich dem König zu. Einerseits können auch die reinen Landpersonen Arien und Cavatinen singen, andererseits die empfindsamen Figuren auch schlichteste Strophenlieder. Bei der Figur des Königs stand Hiller schließlich vor einem gewissen Dilemma. Der König sollte zwar nicht »mit Gesängen eines Bauernmädchens auftreten«,' 62 auf der anderen Seite durfte er dramaturgisch seiner Verkleidung auch nicht durch zu erhabene höfische Dacapo-Arien widersprechen. Hiller suchte daher gerade beim König überwiegend nach einem >mittleren< Stil zwischen großer Arie und einfachem Lied; nur in seiner letzten Arie entfaltet der König eine große, repräsentative Dacapo-Arie (obwohl er auch da noch in Verstellung agiert), was Reichardt dann als »erhabene stille Größe« bezeichnete. Während den komischen Figuren die Form der großen Dacapo-Arie fehlt, haben sowohl das empfindsame Paar als auch der König die gesamte Bandbreite 160
161 Inj
Reichardt 1774, S. 75. Besonders bezeichnend für diese Haltung ist das Nachspiel >Juliane Dürrbach< (In: G. E. Claudius: Nachspiele zum Behuf teutscher Theater. Frankfurt a. M./Leipzig 1783), in dessen dritter Szene die Hauptdarstellerin am Klavier aus der Kantate >Amynts Klage< von Ewald Christian v. Kleist und G. Benda (1774) singt, wodurch ihr Innerstes Ausdruck finden soll. In einer Fußnote dazu heißt es jedoch vorsorglich: »Die Schauspielerin sey hier nicht Sängerin, verläugne gern ihre Kunst, und stelle lieber das liebe, schmachtende, sanfte, gute duldende Mädchen dar.« (Zit. n. John 1991, S. 262) An die Stelle von »Kunst« tritt die Forderung der wahren Darstellung der Emotion, die auf das Publikum gerade durch die NichtErfüllung kunstvoller Vortragsnormen übertragen werden soll. Reichardt 1776, Tl. i, S. 155. Vgl. Hiller 1784. 183
von Stilen zur Verfügung: Sie können neben ihren großen Gesängen auch einfache strophische Lieder oder Cavatinen singen. Dies korrespondiert dem Status ihrer Emotionalität: Sie verfügen zusätzlich zum städtischen bzw. höfischen Diskurs ja ebenfalls über den »natürlichen« Diskurs. Die Sphären sind musikalisch nicht streng getrennt, sondern zeigen gerade im Lied und der kleinen, liedhaften Ariette (bzw. Cavatine) wieder die mögliche Gemeinsamkeit der Schichten. Das Lied, nicht die große Arie, wird auch von daher zum Fluchtpunkt der empfindsamen Geselligkeitskultur. Diese besondere Bedeutung der Lieder konnte schon Lortzing 60 Jahre später nicht mehr erkennen. Er verringerte den Anteil der Lieder, indem er einige strich, andere durch große Arien ersetzte, auch wenn die Arienform dem Figurencharakter oder dem Text widerspricht - z. B. in Röschens balladeskem Strophenlied Nr. 9, das Lortzing zur Arie umwandelte. Das innere Verhältnis der einzelnen Ebenen des Musiktheaters hat sich um 1830 verändert: Der musikalische Gesichtspunkt ist nun dominant gegenüber Szene und Text. Dieser Prozeß zeichnet sich schon im 18. Jahrhundert ab; Weiße selbst betont schon 1778: Seit einiger Zeit hat man die kleinen Lieder wieder aus den komischen Opern zu verdrängen, und sie durch Arie di Bravura mit allen möglichen Coloraturen zu ersetzen gesucht; ja, mit einem verächtlichen Blick auf die vortreffliche Hillerische Musik herabgesehen, weil er seine Arien nicht für eine Mara oder Helmuth gesetzt hat. Daß er es hätte thun können, wenn er gewollt, davon hat er Beweise genug gegeben, und giebt sie täglich: aber er wußte, daß sie der Natur dieses Schauspiels und meiner Absicht nicht gemäß waren, und uns lag mehr daran, von einer fröhlichen Gesellschaft, als von Virtuosen gesungen zu werden.103
Das Lied und seine lebensweltliche Verankerung stehen im Mittelpunkt: Verstehbarkeit, Sangbarkeit, gemeinschaftsstiftende Unterhaltung, Rührung 104 und Anteilnahme. Die Gefahr der Monotonie, die durch die Stereotypie der Strophenlieder für die Musik droht, versucht Hiller z.T. auf der instrumentalen Ebene zu überspielen. Dabei ist auch der instrumentale Satz (mit Ausnahme der ersten Geigen) insgesamt schlicht und ohne größere instrumentale Anforderungen gestaltet. Auch hier hat die ältere Forschung ganze Berge ästhetischer Abqualifizierungen aufgetürmt, die aber meist an der Sache vorbeigehen, weil sie die aufführungspraktischen und ästhetischen Ausgangspunkte nicht berücksichtigen.165 Ein Theaterorchester war in Leipzig um 1770 noch nicht institutionalisiert; Koch 163 164
ln5
Weiße 1778 [wie Anm. 32]; vgl. a. Schinks Ausführungen 1790 (ebd. S. Sjff.). Auch Schmid schreibt: »Wie weit die komische Oper in der Rührung gehen könne, hat uns Herr Weiße in der Jagd gezeigt« (Schmid 1772, i. Stück, S. 115). Das etwa von Schering (1941, S. 452) erstaunt vermerkte Fehlen der Opera seria in Leipzig verdankt sich auch schon der nüchternen Tatsache, daß es in einer Stadt wie Leipzig von ihren Gegebenheiten gar nicht möglich war, solche Opern zu produzieren: weder vom Theaterbau als solchem her noch von der Infrastruktur der Bühne.
184
mußte es aus den Stadtpfeifern rekrutieren, die ihrerseits Studenten zur Verstärkung heranzogen'66 — auch dies ein Grund für die feindliche Haltung der Universität, da immer wieder Studenten ihr Studium abbrachen, um sich als Theatermusiker durchzuschlagen. Die Musiker wurden bei italienischen Opern zusätzlich zur Aufführung für eine Probe bezahlt, bei deutschen Werken nicht.' 67 In dieser Situation virtuose oder anspruchsvolle Orchesterparts zu schreiben, wäre aus Hillers Sicht völlig verfehlt gewesen. Die Orchesterpartien mußten im Gegenteil so angelegt werden, daß sie von einem stets wechselnden und z.T. auf Liebhaber-Niveau spielenden kleinen Orchester ohne große Probenarbeit bewältigt werden konnten. (Hinzu kommt, daß das 1766 neuerbaute Leipziger Theater am Ranstädter Tor, in dem die meisten Singspiele Weißes und Hillers von Koch aufgeführt wurden und auf das hin Hiller seine Werke konzipierte, keinen Orchestergraben besaß. Die Musiker standen offenbar vorne an der Bühne, was bei einer Bühnenbreite von sieben Metern nur eine relativ kleine Besetzung zuließ. Erst im Jahr 1773 ließ der italienische Truppendirektor Bustelli, der von Dresden aus italienische Opern in Leipzig spielte, diesen Zustand ändern.' 68 ) Auch hier fallen Aufführungspraxis und Ästhetik des Singspiels zusammen: Die Schlichtheit des musikalischen Satzes verdankt sich den eingeschränkten Möglichkeiten, wird aber zugleich aus der Not zu einer inhaltlichen Tugend, die die positive Simplizität und »Wahrheit« verbürgt. Die Größe des Orchesters betrug bei der >Jagd< wohl rund 20 Mann und schritt damit schon die Obergrenze dessen aus, was in der Leipziger Situation möglich war.169 Durch die relativ große Bläserbesetzung mit Flöten, Oboen, Fagotten und Hörnern hatte Hiller die Möglichkeit, die einzelnen Lieder und Arien bei aller Schlichtheit der Bläserpartien abwechslungsreich zu instrumentieren, wobei er z.T. traditionelle Semantiken aufgriff (Hörner als Jagdinstrumente, Flöten für Liebes-Arien etc.) und auch die Tendenz zeigt, »große« Arien durch größere Besetzung herauszuheben. Dennoch blieb Hiller, der in der Schule J. A. Hasses ausgebildet worden war, mit den musikalischen Zuständen im Wandertruppenbereich unzufrieden' 70 — besonders mit der Gesangskultur, die auch die Struktur des Singspiels 166
Schering 1941, S. 455.
167
Ebd. S. 567. Ebd. S. 430f.
168 169
170
Die Besetzung des Leipziger Theater-Orchesters, das später die beiden Bühnen (Ranstädter Tor und Wäsers Theater) bespielte, umfaßte 1786 8 Violinen, 2 Violen, i Cello, i Kontrabaß, je 2 Flöten, Oboen und Fagotte sowie 2 Hörner. Alles weitere mußte bei Bedarf gesondert hinzugezogen und honoriert wetden. (Schering 1941, S. 566f.) Hiller mußte z.B. die ohnehin schlicht gehaltene Auftrittsatie des Königs für einen Schauspieler Seylers, der die benötigte Tiefe nicht hatte, noch weiter vereinfachen (vgl. ADB 35/2 (1778), S. 509 — 512). - Neben der praktischen musikpädagogischen Tätigkeit übersetzte Hiller zahlreiche Schriften zum Gesang und der Gesangspädago185
prägte. Für Koch und Weiße dagegen verbürgte gerade die Dominanz des einfachen Lieds die Anschließbarkeit des Singspiels an die Lebenswelt der Rezipienten - ebenso wie auch die Figur des singenden Schauspielers, der sich eben nicht wie der ausgebildete Opernsänger oder gar der Kastrat durch seine distanzerzeugende Kunst vom Publikum abhebt, sondern gerade aufgrund seiner fehlenden musikalischen Spezialisierung für das Publikum anschließbar und glaubhaft bleibt. Der sich daran abzeichnende Interessengegensatz zwischen Schauspieldirektor und Librettist einerseits, dem Komponisten andererseits wird für die weitere Entwicklung des mittel- und norddeutschen Musiktheaters von zentraler Bedeutung. Während die Komponisten in der Regel danach trachten, weg von den Singe-Schauspielern zu kommen und Anschluß an die große Oper zu finden (schon im Interesse auch der eigenen Reputation), bleiben die Autoren lange dem textdominierten Muster des liedbetonten Singspiels verhaftet; auch die Prinzipale versuchen eher, den Anteil der Sänger, Tänzer und Musiker niedrig zu halten, müssen aber den steigenden Ansprüchen des Publikums zunehmend Rechnung tragen. Autoren und Prinzipale erweisen sich, zumindest im mittel- und norddeutschen Raum, als bremsende Elemente gegenüber einer spezifischen Musikdramaturgie, die im Bereich der Opera buffa längst Realität geworden war, und bevorzugen die spezifische Dramaturgie des Singspiels vom Modell Weißes. (Die oft neidvoll konstatierte Überlegenheit der italienischen Sänger und Musiker, seit Ende des Jahrhunderts auch zunehmend Anlaß chauvinistischer Ressentiments, die dann z.B. auch in die Literatur der deutschen Romantiker eingehen,171 hat somit ganz konkrete Ursachen in der modernen Ausbildung der italienischen Musiker und in der anders gearteten Musikdramaturgie der Werke.) 3.2. Norm und Abweichung: Zu den Unterschieden von literarischer und musikalischer Formgebung Aus Hillers Umgang mit Weißes Textvorgaben geht deutlich hervor, was man um 1770 von Gesangstexten erwartete: in erster Linie regelmäßige Strukturen, besonders in der Metrik und Strophik. Obwohl sich Hiller bemüht, möglichst
171
gik und publizierte Ariensammlungen in steigendem Schwierigkeitsgrad. Hiller, der nie die Möglichkeit zu einer Italien-Reise erhielt, wie sie für die Hofkomponisten der Zeit nahezu obligatorisch ist (vgl. o. 1.1), war überaus interessiert und offen für die neuen Tendenzen der Musik. Die von ihm herausgegebenen >Wöchentlichen Nachrichten und Anmerkungen die Musik betreffend< (1766—1770) sind in dieser Zeit eines der informativsten deutschen Periodika, das v. a. die ausländischen Entwicklungen nach Deutschland vermittelt, vom französischen und italienischen Musikleben über die neuen Theoretica bis hin zum Musikleben in Rußland. In Hillers Magazin erscheinen z.B. erstmals große Teile von Rousseaus >Dictionnaire de MusiqueSaggio sopra l'opera in musica< auf deutsch. Vgl. Theilacker 1987.
186
viel von Weißes Text musikalisch umzusetzen, ergeben sich im Detail immer wieder aufschlußreiche Probleme und Abweichungen, vor allem dort, wo Weiße reguläre Schemata aus inhaltlichen Gründen durchbrochen hatte. Das beste Beispiel dafür stellt Männchens atemlose Arie Nr. 22 (»Ich habe meinen Christel wieder«; Partitur S. i2off.) dar, auf deren Text oben bereits näher eingegangen wurde. Hiller wählte für diesen Text den Formtyp der Ariette, der in seiner freien Struktur der Aufregung Hannchens eher entspricht als liedhafte Formen oder eine pompöse Dacapo-Arie. Dem emotionalen Zustand der Figur entsprechend, benutzt Hiller als Metrum den raschen %-Takt. In diesem Takt aber führen die unregelmäßigen und wechselnden Textstrukturen Weißes zu kaum lösbaren Problemen für eine auf dem Prinzip der viertaktigen Periode beruhende Satztechnik. Hiller stand also vor der Fage, entweder die Grundkoordinaten der musikalisch-dramaturgischen Konzeption (Cavatine, Xu-Takt) zu opfern oder die literarische Struktur des Textes zu verändern. Hiller ändert daher den siebenzeiligen Text Weißes, der intern in Reimen und Metrik wechselt, in einen sechszeiligen, nun erheblich regelmäßigeren Text um: Er streicht den vierten Vers, so daß zwei Gruppen mit je drei Versen entstehen.' 72 Durch interne Wiederholung von Versteilen überbrückt Hiller auch die noch bestehenden metrischen Unterschiede, so daß lauter geradzahlige Metren entstehen, die im Dreiertakt automatisch eine viertaktige Struktur ergeben.173 Aus Weißes bewußt wechselnd angelegtem, einstrophigem Text entsteht somit eine zweiteilige Arie, die musikalisch nun aus lauter Viertakt-Gruppen aufgebaut werden kann. Die dadurch entstehende periodische Symmetrie gefährdet jetzt jedoch den dramatischen Charakter dieser Arie. Um dennoch den Ausdruck heftiger Bewegung zu wahren, benutzt Hiller z.T. kleingliedrige, von rein instrumentalen Takten unterbrochene Elemente (bes. T. 30-34, 60-64). Dadurch kann die grundlegende Viertakt-Struktur der Musik bewahrt und zugleich der atemlose Charakter gezeigt werden; diesem dient neben der Taktart v. a. auch die Anlage 172
173
Aus Weißes nach dem Muster der »Lutherstrophe« angelegtem, bewußt wechselndem Reimschema (ababcca) wird dadurch eine strophische Form aba-cca. (Der interne Unterschied im Reimschema zwischen den neuen >Strophen< fällt nicht ins Gewicht, da Reimstrukturen generell in der Vertonung aufgelöst werden; vgl. dazu etwa den Brief Mozarts an seinen Vater vom 13.10.1781.) Ähnlich ändert Hiller auch in der ersten Arie des Königs (Nr. 28, »Was sind die Menschen doch für Thoren«, Grundmetrum: vierhebige Jamben) die metrisch abweichenden Verse 3 und 8. Auch hier ist ganz deutlich, wie Hiller grundsätzlich nach gleichgebauten, regelmäßig strukturierten Texten sucht. Die Dehnung durch partielle Textwiederholungen ist ein typisches Kompositionsmittel, um die satztechnisch bequeme und konstitutive Viertaktigkeit zu erreichen; ebenso häufig wird sie aber auch aus Sicht des Textinhalts kritisiert (vgl. z.B. Röschens Lied Nr. 2, zweite Strophe und Reichardts Kritik [1774, S. 37]; auch ebd. S. 42). 187
der instrumentalen Begleitung überhaupt: die durchlaufende Sechzehntelbewegung der Violinen. Während Komponist und Dichter somit grundsätzlich denselben Ausdruckscharakter anstreben, sind ihre Mittel doch vollkommen verschieden. Weiße versucht, die innere Bewegung als Störung literarischer Regelmäßigkeit zu gestalten, Hiller erzeugt daraus gerade wieder regelmäßige Strukturen, auf die seine musikalische Satztechnik angewiesen ist.174 Weiße schwebte für diesen Gesangstext offenbar eine Dacapo-Form der Musik vor: Es ist der einzige Gesangstext, bei dem er explizit ein »V[on] A[nfang]« vorschrieb, die deutsche Übersetzung von »da capo«. Genau dies aber setzt Hiller nicht um: Er schreibt keine Dacapo-Arie. Auch daran zeigen sich die Differenzen von Autor und Komponist. Dem Autor scheint die große Dacapo-Form sinnvoll, um die Besonderheit und den Ernst dieser Arie herauszuheben; der Komponist dagegen kann für die Bewegtheit dieser Szene gerade die Form der breitangelegten Dacapo-Arie mit ihrer Reprisenstruktur nicht gebrauchen, sondern benutzt eine kurze, wie vorbeirasende zweiteilige Form, die auf Wiederholungen größerer Textpassagen verzichtet. Hillers Musik macht sich in solchen Stellen unabhängig von den textlichen Vorgaben, weil er für die angestrebte dramaturgische Funktion andere, aus der Struktur seiner musikalischen Satztechnik abgeleitete Mittel benötigt.175 Ähnlich zerschlägt Hiller etwa im Auftrittslied Röschens (Nr. i; Partitur S. 29) die 174
175
Schiebeier betont über sein Libretto zu >Lisuart und DarioletteJagdTarantula< (1749) verspottet hatte, noch rigider als bei Hiller geradzahlige Symmetrie. Deshalb kritisiert er etwa an der Arie des Königs (Nr. 33), die Ritornelle sollten um den jeweils fünften bzw. dritten Takt gekürzt werden, damit sich vier- und zweitaktige Ritornelle statt ungeradzahliger ergäben. Ähnlich verlängert Hiller z.B. in Hannchens Strophenlied Nr. 26 (»Der Graf bot seine Schätze mir«) die je sieben Verse umfassenden Strophen Weißes durch Wiederholung des letzten Verses zu achtzeiligen Strophen, weil sieben Verse schwierig im viertaktigen Periodensatz unterzubringen wären. In Christels Strophenlied Nr. 21 (»Wie schön war sie«) zwingen Weißes wechselnde Versfüße und die sechszeilige Strophik Hiller dagegen zu musikalischen Dehnungen in V. 3 bzw. 6, um periodische Symmetrie und Achttaktigkeit zu erreichen. (V. i und 2 haben zusammen vier Hebungen und bilden die erste Hälfte der viertaktigen Periode; V. 3 hat nur drei Hebungen und muß deshalb musikalisch zur zweiten Hälfte gedehnt werden.) Ansonsten bewahrt Hiller hier Weißes Reimstruktur genau (durch motivische Entsprechungen und Wiederholungen).
188
oben beschriebene rhetorisch geprägte Struktur des Textes, v. a. der Schlußstrophe mit ihren parallel gebauten Halbversen, weil er in allen Strophen jeweils die zweite Hälfte des ersten Verses wiederholen läßt. Die feine literarische Gestaltung Weißes, die die Schlußstrophe von den vorausgehenden abhebt und damit Bewegung in die statische Form zu bringen versucht (s.o.), ist in einem Strophenlied musikalisch kaum zu realisieren, da dieses ja gerade auf der musikalischen Identität der Strophen beruht. Hiller versucht stattdessen, wie schon Reichardt bemerkte, die schlichte Anlage eines Strophenliedes durch das rasche Grundtempo (vivace) und die quirlige Instrumentalbegleitung zu beleben, die als Umspielung der Melodiestimme für tänzerische Bewegung sorgt.'76 Zugleich knüpft er vom Melodietyp an das Modell der Pastorella an, womit über den Text hinaus auch musikalisch die Anbindung an den Motivkreis von Land und Idylle hergestellt wird. 177 Auch daran werden die unterschiedlichen Ausgangspunkte und Verfahrensweisen von literarischer und musikalischer Gestalt brennpunktartig deutlich. Dies alles zeigt, daß das mitteldeutsche Singspiel in seiner bei Weiße und Hiller ausgeprägten Form nicht als defizitäres Sprechtheater begriffen werden kann. Hiller setzt nicht einfach Musikstücke zwischen den Text, die nur »die Handlung aufhalten«, sondern die Musik tritt punktuell als eigengesetzlicher Raum neben die Handlungsdramaturgie. Sie folgt nicht einfach der Textvorgabe, sondern transformiert diese partiell in eine Formgebung, die aus ihren eigenen Strukturen abgeleitet ist. Mitunter gelangt Hiller dabei aus musikalischen Gründen sogar zu gewissen Widersprüchen zum Text. So hatte Weiße ursprünglich die beiden ersten Gesangstexte Röschens (Nr. i und 2) sehr ähnlich angelegt: Strophische Vierzeiler in vierhebigen Jamben, unterschieden nur durch das Reimschema (Paarreim vs. umarmenden Reim). Hiller vertont beide jedoch verschieden: Nr. i als einfaches Strophenlied, Nr. 2 dagegen als durchkomponierte Ariette.' 78 Damit reagiert Hiller auf den unterschiedlichen Status der beiden Texte: Der erste ist eine statische Beschreibung, der zweite dagegen berichtet eine burleske Handlung, wofür eine durchkomponierte Form passender scheint als ein Strophenlied. Während zum Strophenlied die elementar einfach gehaltene Harmonik gehört, zeichnen sich die durchkomponierten Cavatinen- und Ariettenformen durch höhere harmonische Vielfalt aus. In dieser Ariette fällt nun der Wechsel in der dritten Strophe nach Moll (T. yaff.; Part. S. 32) auf; er ist offenbar ein Tribut an den musikalischen Gestus einer (kleinen) Arie und ein Versuch, der
176
Vgl. Reichardt 1774, S. ^f. '77 Vgl. dazu die Beispiele aus deutschen Liedern des 18. Jahrhunderts bei Schwab 1965, S. 110; vgl. a. die Artikel »Pastorale« und »Pastorelle« in Rousseaus >Dictionnaire de Musique< (Paris 1768. Repr. Hildesheim/New York 1969, S. 366f.). 178 Reichardt bezeichnet sie als »sehr lustige Arie« (ebd. S. 35 ·
189
Gefahr der Eintönigkeit zu entgehen, die beim Lied mit seiner äußerst einfach gehaltenen Harmonik generell droht (zumal, wenn wie hier, bereits ein Strophenlied derselben Figur unmittelbar voranging).179 Es ist ein üblicher kompositorischer Kunstgriff, bei vierteiligen Texten in der dritten Strophe harmonisch auszuweichen, so daß die Schlußstrophe dann zusammenfassend in die Tonika zurückkehrt, wodurch sich von selbst eine bestätigende Schlußgeste ergibt. Allerdings kollidiert jetzt im konkreten Fall das Moll mit dem Inhalt dieser dritten Strophe, die ja gerade Röschens lautmalerisches Lachen und die dadurch provozierte Auffindung durch Toffel bringt: »Bis ich zuletzt, hi hi hi hi,/ So lachte, daß er mich entdeckte.« Der Versuch musikalischer Vielfalt und Abwechslung führt so zu einer Kollision von Musik und Text. Sie hätte sich nicht ergeben, wenn Hiller den Text wiederum als Strophenlied gesetzt hätte, wodurch aber dann eine gewisse Eintönigkeit und rein handlungshemmende Dramaturgie entstanden wäre. So aber zeigt Hiller gerade in dem unmotiviert,180 übertrieben wirkenden Moll die tendenzielle Eigenwertigkeit der musikalischen Ebene und die ihr inhärenten dramaturgischen Möglichkeiten. Solche direkten Differenzen von Text und Musik sind bei Hiller relativ selten. Sie wirken eher zufällig und werden nicht als eigenständiges Bedeutungspotential genutzt wie später etwa von Mozart, für den derartige Widerspruchsmöglichkeiten ein wichtiges Gestaltungsmittel bieten. Bei Hiller zeigen sich allenfalls Tendenzen zu einer Eigenwertigkeit der Musikdramaturgie, während Mozart - auf völlig anderen Voraussetzungen aufbauend — der Textdramaturgie eine vollentfaltete Autonomie der musikalischen Ebene entgegensetzen kann (vgl. u. II.6). Das aber setzt das Bewußtsein einer voll entwickelten Musikdramaturgie voraus, die sich hier bei Hiller erst tastend eine Bahn sucht gegenüber einer primär text- und handlungszentrierten Dramaturgie. 3.3. Das Singspiel als Stiftung einer Empfindungsgemeinschaft durch Musik Diese Tendenz zur Eigenständigkeit der Musik zeigt sich auch auf einer anderen Ebene: in der Gewittermusik, die die Mittelachse des Werks bildet (vor Szene II 7, s.o.). Sie stellt den seltenen Fall dar, daß innerhalb eines Aktes ein ausgedehnteres instrumentales Stück vorkommt. Dramaturgisch ist bemerkenswert, daß diese Musik bei leerer Bühne und offener Szene gespielt wird, was gegen eine grundlegende Doktrin des Sprechtheaters verstößt, derzufolge die Bühne nie leer stehen dürfe.101 Diese Doktrin des Sprechtheaters gilt offenbar für das Musiktheater nicht, weil hier die Musik die Lücke überbrückt. Schon damit 179
180 181
Auch am Ende der vierten Strophe findet sich nochmals eine Ausweichung, diesmal nach b-Moll (T. 89f.). Dies bemängelt schon Reichardt 1774, S. 38. Vgl. z.B. Gottsched 1751, S. 629; Eschenburg 1783, S. 170; vgl. a. u. 11.4.
190
aber thematisiert die Musik ihre Funktion nun selbst: Sie erhält handlungsersetzenden Status und wird tendenziell zur eigenständigen dramaturgischen Kraft. Dies zeigt in diesem Stück vor allem die auffällige dynamische Ebene: Hillers Gewittermusik beginnt leise, steigert sich bis ins Fortissimo und beruhigt sich dann nach einer Wiederholung allmählich dynamisch und rhythmisch, bis sie sich ins Pianissimo verliert. Dieser für Hillers sonstige Musik seltene Verlaufscharakter deutet eine Autonomie der musikalischen Ebene an, die nun an die Stelle einer Bühnenhandlung treten kann. Es ist kein Zufall, daß Hiller diese Szene nach dem Vorbild Monsignys angelegt hat, dessen Typ der Opera-comique eine genereil selbständigere Musikdramaturgie aufweist. (Monsigny greift bei seiner Gewittermusik in >Le Roy et le Fermier< wiederum einen älteren Szenentyp der französischen Barockoper auf, die sog. »tempete«-Szene.102) Ähnlich wie Monsigny verbindet auch Hiller die Gewitterszene durch genuin musikalische Mittel mit dem vorausgehenden Duett (II 6). Hiller schließt das Duett und die Gewittermusik durch dieselbe Tonart (d-Moll), Taktart (4/4) und Instrumentierung sowie durch den seltenen Fall eines motivischen Bezugs zusammen: das Zwischenspiel des Duetts wird zum Hauptmotiv der Sturmmusik. Der wesentliche dramaturgische Unterschied zu Sedaine/Monsigny besteht jedoch darin, daß diese die Gewittermusik als normale Zwischenaktmusik anlegen, während Weiße und Hiller sie plakativ in die Mitte des Aktes, damit in die Mitte des Stücks rücken. An sich besteht bei Weiße keine funktioneile Notwendigkeit für diese Gewittermusik: Weder ist ein Umbau nötig, noch brauchen die Schauspieler aus anderen Gründen (etwa Kostümwechsel) Zeit. Das Stück könnte nach dem Abgang Christels und Hannchens unmittelbar mit dem Auftritt des Königs weitergehen. Die Funktion der Gewitterszene muß daher anderswo gesucht werden: Sie markiert einerseits die Tektonik des Werks, schließt den ersten Handlungsabschnitt ab und erhöht wirkungsvoll den folgenden Auftritt des Königs. Zugleich aber verweist sie nachdrücklich auf die Rolle der Musik, die nun in der Mitte des Werks selbst ins Zentrum gestellt wird, und zeigt damit zugleich die Differenz zum Sprechtheater und dessen Dramaturgie: die breitere Zeitstruktur im Musiktheater, die sich hier in einem äußeren Stillstand selbst thematisiert. Diese als »Symphonie« bezeichnete Gewittermusik wurde v. a. durch Reichardt emphatisch in die musikästhetische Debatte der Folgezeit eingebracht. Er verlieh ihr einen Pionierstatus, der ihr musikhistorisch nicht zukam, der sie aber in der Folge für das deutsche Musiktheater zu einem wichtigen Prototyp machte. Bemerkenswert sind dabei die geradezu wütenden Ausfälle Reichardts gegen das Prinzip der Tonmalerei: Hillers Musik dient ihm als Beleg, um anhand der Tonmalerei'83 eine ganze Musikästhetik polemisch abzuqualifizie182 183
Vgl. Kawada 1969, S. 192. Gegen die Tonmalereien des älteren Stils wendet sich Reichardt polemisch anhand der Eröffnung der III. Akts der >Jagdmateriell< im Tonsatz Hillers kaum verankern. Dieses Dilemma zeigt sich noch deutlicher wenige Jahre später bei J. J. Engel, der Reichardts Gedanken ausbaut und nun Hillers Gewittermusik von der Monsignys abzusetzen versucht: Monsignys Gewittermusik sei äußerlich-abbildend (und daher abzulehnen), Hillers Musik dagegen von Wahrheit der inneren Empfindung geprägt. »Besser also immer, daß man in einer Gewittersymphonie [ ] mehr die Innern Bewegungen der Seele bey einem Gewitter, als das Gewitter selbst mahle, welches diese Bewegungen veranlaßt. [ ] Die Hillerische Gewittersymphonie in der Jagd hat schon aus diesem Grunde
184
(der Geisterballade Marthes) kommentiert er: »Himmel, was wäre dieses nicht für ein Feld für Telemann oder gar Mattheson gewesen? Unter einer Stunde wären wir gar nicht losgekommen. Alle musikalische Instrumente, und allenfalls auch noch die unmusikalischen hätten hier herhalten müssen, um uns alle jene Hexereyen, recht deutlich gemalt, vorzustellen. Und dann zu dem guten Effekt dieser Schildereyen noch hinzu gerechnet, daß sie — in der Kirche — in einer Paßion vorgekommen wären Pfui, über die Unanständigkeit! Schande falle auf ihre Nachahmer!« (1774, S. 82; vgl. a. S. H4f.) Gerade Telemann jedoch nahm in seiner späten >Donnerode< genau jene Forderungen Reichardts nach der Darstellung der Empfindung statt Tonmalerei kompositorisch vorweg (vgl. Lütteken 1995, bes. S. 22of.). Reichardt 1774, S. 115.
192
einen angezweifelten Vorzug vor der Philidorischen.« 185 Prüft man die beiden Musikstücke jedoch unvoreingenommen, so zeigt sich, daß sie im wesentlichen dieselben bildhaften Mittel verwenden (in Duett und Symphonie zusammengenommen: Tremoli, Synkopen, Skalenläufe, schnelles Tempo und Molltonart, Instrumentation mit Pauke186). Monsignys Musik ist jedoch erheblich vielschichtiger und dramatischer als die vergleichsweise schlichte Musik Millers. 187 Hiller arbeitet besonders mit Orgelpunkten und einer konstitutiven Dynamik (crescendi — decrescendi, möglicherweise nach dem Vorbild der »Mannheimer Schule«), während der periodische Bau und konventionelle rhythmische Strukturen beibehalten sind. Vor allem einfache Sequenzen spielen bei ihm eine bedeutende Rolle (wie auch in seiner Musik überhaupt). Monsigny verwendet dagegen ganz andere Mittel: kühne harmonische Wechsel statt der Orgelpunkte Hillers, aperiodische Melodik und die Auflösung klarer rhythmischer Konturen; er setzt also gezielt die Störung regelmäßiger Strukturen bei verschiedenen musikalischen Parametern ein, während diese bei Hiller unangetastet bleiben. Monsignys orage ist zweifellos die avanciertere Musik als Hillers Gewitter, das insgesamt mehr der traditionellen Gewitterdarstellung in der Oper verhaftet bleibt' 88 und keineswegs für einen Paradigmenwechsel, wie ihn Reichardt und Engel behaupten, herangezogen werden kann. Zudem ist das Gewitter bei Sedaine stärker dramaturgisch funktionalisiert als bei Weiße: Es spiegelt bei Sedaine auch den Groll des Pächterpaares auf den tyrannischen Grundherren, während es bei Weiße in einem etwas unmotiviert wirkenden dramaturgischen 185
186
187
188
Engel 1780, S. n6if. (Engel schreibt auffälligerweise Monsignys Musik FrangoisAndre-Danican Philidor zu. Was wie eine Verwechslung der beiden populären Komponisten wirkt, erhält dadurch etwas mehr Tiefenschärfe, daß Sedaines Libretto tatsächlich zunächst für Philidor gedacht war, von diesem aber abgelehnt wurde.) Der Herausgeber C. F. Cramer sieht sich hier zu einer »dissentirenden« Anmerkung veranlaßt. Paukenwirbel sind bereits seit Marin Marais' berühmter »tempete«-Szene in >A1cyone< (1706) topisch für Gewitterdarstellungen; die Behauptung bei Busch 1976, S. 167, Georg Benda habe in >Ariadne auf Naxos< 1775 »seit Marais (1706) zum erstenmal wieder die Pauken« verwendet, ist falsch. Telemann setzt 1756 in seiner >Donnerode< die Solopauke »geradezu schockierend[ ]« ein (vgl. Lütteken 1995, S. 219) und Hiller verwendet z.B. schon in der >MuseMagazin der Musik« aufnahm, widersprach Engel (Engel 1780, S. 1162, Anm. 160). Vgl. dazu allg. Busch 1976, bes. S. iÖ2ff.; Semrau 1993, S. 25 (zur trageäie lyrique). Die neuere Arbeit von Claus Bockmaier (Entfesselte Natur in der Musik des 18. Jahrhunderts. Tutzing 1992 [MVM 50]), ist für diese Fragestellung leider völlig unergiebig. Sie übergeht den gesamten Bereich der französischen Opera-comique wie auch des deutschsprachigen Musiktheaters ohne ein Wort (lediglich die Ouvertüre zu Glucks >L'Isle de Merlin ou le Monde renversee natural istischen < Szenencodes, sondern lebt gerade von jenem kunstvoll hergestellten Anschein des Vertrauten, den es in Wirklichkeit mehr selbst ausbildet als zitiert. Die Modelle populärer Lied- und Gesangskultur werden mehr durch das Singspiel und seinen Breitenerfolg verfestigt, als daß es selber auf festumrissene Modelle zurückgriffe. Anders ausgedrückt: Auch wenn das Singspiel auf Muster populärer Kultur zurückgreift, schreibt es diese doch erst richtig fest; das schlichte Lied im »Volkston« entsteht als breitenwirksames Modell erst im Singspiel.194 Damit zeigt das Singspiel einen Wandel an im Verhältnis von Kunst und Publikum. Noch um 1700 stellt Popularität für die meisten Autoren kein Ziel dar, sondern wird demonstrativ, geradezu ängstlich abgelehnt. Der Zittauer Rektor Christian Weise etwa betont 1690 zum Druck einer Liedersammlung, er habe die Melodien zu seinen Texten »mehrenteils [ ] aussen gelassen [ ] sonst lernen es die gemeinen Kerle in allen Bauernschenken zu leicht.«' 95 Für den poeta doctus der Barockzeit bildet >Volkstümlichkeit< keinen Wert, sondern ein Zeichen minderwertiger Kunst.196 Dieser Trivialitätsverdacht bleibt im 18. Jahrhundert auch nach der Aufwertung des Populären latent bestehen. Man spürt ihn noch in der offensiven Verteidigung, mit der Weiße 1778 die sozialintegrative Konzeption seines Singspiels bestimmt: Alle Gesänge, die bey der Vorstellung gefielen, waren bald in aller Munde, machten einen Theil des gesellschaftlichen Vergnügens aus, und giengen so gar zu dem gemeinen Volke über. Man hörte sie auf den Gassen, in den Wirthshäusern und auf den Hauptwachen, in der Stadt und auf dem Lande, von Bürger- und Bauervolk singen. Statt daß ich mich dessen schämen sollte, mache ich es mir vielmehr zum Verdienste, weil ich dadurch so glücklich gewesen, manches ungezogene, schmutzige Lied zu verdrängen, und das allgemeine Vergnügen bis auf den gemeinen Mann zu befördern. "·>7
Weiße greift den Vorwurf der Popularität als Trivialität auf, für die er sich nach den Maßgaben der älteren Poetik hätte »schämen« sollen, wertet sie aber 194
195
196 197
Das vielleicht bis heute wirkungsvollste jener »Lieder im Volkston«, J. A. P. Schulz' >Abendlied< nach Matthias Claudius (»Der Mond ist aufgegangen«, 1790), zeigt dieselben Techniken, die Weiße und Hiller im Singspiel kultivierten. Schon Claudius stellt textuell in der Anlehnung an Paul Gerhardts »Nun ruhen alle Wälder« kunstvoll den Schein des Altbekannten her, obwohl die Inhalte sich gravierend unterscheiden; Schulz wiederum realisiert das musikalische Muster der Hillerschen Strophenlieder auf so vollendete Weise, daß das Lied tatsächlich zum Volkslied geworden ist. (Vgl. dazu Schwab 1965, S. nj,i.\ vgl. allg. a. Kross 1989 [wie Anm. 19], S. 82) Christian Weise: Ueberflüssige Gedanken der grünenden Jugend []. Leipzig 1690, Vorrede. Vgl. Schwab 1965, S. 92f. Weiße 1778 [wie Anm. 32], S. jof.
196
jetzt wegen ihrer sozialintegrativen und volkspädagogischen Komponente zu einer positiven Kategorie der Literatur um. »Das Prodesse und Delectare der Dichter« (ebd.) wird nun nicht mehr nur für einen kleinen Kreis der Kenner gesucht, sondern wird zur Maxime einer aufklärerischen Kunstproduktion erweitert, die primär das »allgemeine Vergnügen bis auf den gemeinen Mann« herstellen soll. (Diese Ästhetik einer betont populären Kunst, die sich gerade im Singspiel und im deutschen Lied des mittleren und späten 18. Jahrhunderts so signifikant niederschlägt, wird später dann von Schiller in seiner beißenden Polemik gegen G. A. Bürger abqualifiziert und denunziert werden. Dabei bricht eine Dichotomic von »Kunst« und abgewerteter »Unterhaltung« auf, die dem Ausgangspunkt des Singspielliedes bei Weiße und Hiller noch völlig fremd ist. Hinter dieser Re-Intellektualisierung aber steht ein Prozeß der Desillusionierung über die Wirkungsmöglichkeiten von Kunst; vgl. u. II.7 und III.4.) Das Singspiel sucht also Popularität und eine sozialintegrative198 Breitenwirkung auf alle, die über die >richtige< Empfmdungs- und Rührungsfähigkeit verfügen. Im Zentrum des Singspiels vom Modell Weißes und Hillers steht das Strophenlied, das in erster Linie jenen Schein des Bekannten verbürgt. Die Musik des Strophenlieds mit ihrem geringen Textbezug und ihrer notwendigen Allgemeinheit ist der ideale Träger einer solchen »Einheit der Empfindung« (Reichardt),199 während die durchkomponierten Formen von Hiller eher als Distanzelemente, als Störung dieser Empfindungseinheit verwendet werden. Daß aber die Musik primär einen Raum der einheitlichen Empfindung herstellen kann, ist nur auf dem Hintergrund eines flachen Emotionalitätsbegriffs möglich. Der Schein des Vertrauten und die dominierenden Strophenlieder beruhen gerade auf der geringen musikalischen Individualität und der hohen Bedeutung bekannter Muster; die Musik darf gerade nicht eng ausdeutend auf den jeweiligen Text bezogen werden und schon gar nicht die einzelnen Figuren psychologisierend charakterisieren.200 Sie muß im Gegenteil gerade das Verall198
199 200
Für diesen sozialintegrativen Charakter, der die Faktur der Singspiele Weißes und Hillers prägt, gibt es auch einen externen Beleg: Das populärste Lied des nachfolgenden, insgesamt erfolgloseren Singspiels >Der Aerntekranz< (1771) wurde auf Anregung eines Grafen als Separatdruck veröffentlicht, dessen Erlös für die »durch die Theuerung verarmten Bewohner des Erzgebirges bestimmt« war. (Aerntelied auf das Jahr 1772. Zum Besten der Armen. Leipzig in der Dyk'schen Buchhandlung zu haben, nebst der Hiller'schen Composition [Quartformat]. Vgl. Minor 1880, S. 180.) Der niedere Adel als Anreger und das städtische Bürgertum als Käufer vereinigen sich im populären Singspiellied zu einer Kultur empfindsamen Sozialmitleids. Vgl. Reichardt 1782, Bd. i, S. 62; Schwab 1965, S. 6$ . So urteilt Goethe noch in den >Tag- und Jahresheften< 1801, wo er davon spricht, »wie verwerflich das sogenannte Durchcomponiren der Lieder sei, wodurch der allgemein lyrische Charakter ganz aufgehoben und eine falsche Theilnahme am Einzelnen gefordert und erregt wird.« (WA I, Bd. 35, S. gof.) Auch wenn diese Haltung primär von Goethes spezifischem Verständnis des »lyrischen Charakters« geprägt ist, kann 197
gemeinerbare an den Figuren hervorheben, das, was ihre Übertragbarkeit ermöglicht. Die Musik konstituiert die dramatischen Figuren nicht als Individuen und Subjekte, sondern gerade als typenhafte Repräsentanten anthropologischer Codes. In diesen Codes aber verständigt sich nun die empfindsame Kultur über sich selbst: über ihr Menschenbild und über die Vision einer universalen familialen Organisation der Gesellschaft, die die abgelehnten >kalten< Strukturen der politischen Herrschaftsrationalität des galanten Diskurses ersetzen soll. Dafür aber ist die Musik unverzichtbar: Sie allein ermöglicht das niedrige dramatische Tempo und damit den Ausbau der Räume einheitlicher Empfindung. Grundlage der Anthropologie ist ein statischer Positivraum, der nicht durch heftige Emotionalität gefährdet werden darf. Die Emotionen sind quantitativ und qualitativ begrenzt, Konflikte (wie zwischen Hannchen und Christel) werden durch allgemeines Mitleid und Tränen der Rührung verhüllt. »Empfindung« erscheint als sozialisiertes, ja inszeniertes Gefühl (Röschens falsche Tränen Nr. 19); die Wertungen der Figuren sind stets eindeutig und ausschließlich positiv oder negativ. Dramaturgische Struktur, Funktion der Musik und die Darstellung menschlicher Emotionalität hängen somit eng zusammen und bedingen einander. Das Singspiel bildet eine dramatische Ebene, auf der nun ein Selbstverständigungsprozeß zwischen Bühne und Publikum über menschliche Emotionalität stattfindet - dies leisten weder die höfische Oper noch das überkommende Traueroder Lustspiel, allenfalls die gleichzeitig aufkommenden Formen von Familiendrama (>bürgerliches TrauerspielGeschichte des Fräuleins von Sternheim« (Leipzig 1771) prägt, wird von den Singspielen Weißes in der Tendenz bereits einige Jahre vorher gestaltet. 198
sich auch im deutschsprachigen Musiktheater in den lySoer Jahren eine neue Dramaturgie durch, die nun das niedrige Tempo des Singspiels durch wesentlich zupackendere Dramatik ersetzt und die Musik als handlungstreibende und -konstituierende Kraft einsetzt (vgl. u. II.6). Als Verlustvorgang kommentiert Johann Friedrich Schink diese Entwicklung anläßlich der Besprechung einer Aufführung der >Jagd< 1789: Es gab eine Zeit, [ ] wo Weissens Lieder und Hitlers Melodien von allen Lippen ertönten, und den anziehendsten Geist der Fröhlichkeit in jede Gesellschaft brachten. Das hat sich nun alles verändert. Unser musikalischer Geschmack ist vornehmer geworden. Mit einer so gemeinen Sache, als gesunder Menschenverstand, giebt er sich in der Oper nicht mehr ab. Die leichte Simplizität des Hillerschen Gesangs macht uns Langeweile, wir wollen Gambaden und Seiltänzerspriinge. Gesang ist uns nicht mehr sanftes Hingleiten der Stimme in menschlichen Tönen der Empfindung, er ist Pfeifen eines Kanarienvogels, bei dem die Stimme sich jezt bis zu den Suffiten versteigt, dann wieder tief in das Soufleurloch herunterpurzelt. [ ] Wie jenes merkwürdige Völkgen [Wielands Abderiten, J. K.], haben wir uns von dem Pfade der schlichten und geraden Natur entfernt, und gefallen uns sogar um so mehr, je weiter wir uns von ihr entfernt haben. [ ] Gerade, als Natur jemals aus der Mode kommen könnte, oder, als ob wir uns etwas darauf einbilden dürften, wenn sie wirklich aus der Mode kömmt. Desto schlimmer für uns, wenn es wirklich so ist!202
Aus diesem späten Lamento wird noch einmal die Hauptfunktion des Singspiels deutlich. Es konstituiert einen Raum der Gemeinschaft zwischen Bühne und Publikum, in dem sich eine spezifische gesellschaftliche Teilgruppe ihrer selbst versichert und den Geltungsanspruch ihres Weltbildes bestätigt, der über den ahistorischen Zentralbegriff der »Natur« abgesichert ist. Dieser Ausschnitt der Gesellschaft besteht aus denjenigen Rezipienten, die die Muster kennen, aus denen sich der Schein des Bekannten speist, und die zugleich die künstlerische Qualität würdigen können, mit denen diese Muster hier variiert werden. Ihren wahren Reiz entfalten Weißes Singspiellieder erst dem, der mit der anakreontischen Lyrik vertraut ist; schon Reichardt betont, Zielgruppe des Librettisten seien »wir Leute von gutem Geschmack und von richtigem Gefühle; für die ändern wird er doch wohl nicht schreiben wollen?« 203 Hiller wiederum bringt mit seinen Übernahmen auch aus dem Bereich der italienischen Buffa und mit den wenigen großen Arien auch Bereiche der höfischen Seria ins Spiel. Das Stück ist somit zwar aus städtischen Kontexten erwachsen, zugleich aber auch für diejenigen Residenzen anschließbar, die nicht durch eine feste italienische Bühne an weit elaboriertere Formen des Musiktheaters gewöhnt waren. Teile 202
203
Q. Fr. Schink (Hg.):] Dramaturgische Monate. 3. Bd., 2. Stück. Schwerin 1790, S. 653-662; Zit. n. Schusky (Hg.) 1980, S. 85ff. Reichardt 1774, S. 116. Auch Schöpfel betont: »Weise [sie] und Hiller sind solche Namen, die das teutsche Publicum, wenigstens das feinere und gesittete Publicum, nie ohne Achtung aussprechen wird.« (Vorrede zur >Frühlingsnacht< (1773), zit. n. Schusky (Hg.) 1980, S. 22; Hervorhebung von mir). 199
der Aristokratie und Teile des Bürgertums bilden somit gemeinsam die eigentliche Trägerschicht des Singspiels, während der Hochadel einerseits, niedere Schichten des Bürgertums andererseits eher ausgegrenzt werden. Dadurch weist das deutsche Singspiel, ähnlich wie einer seiner wichtigsten Ausgangspunkte, die französische Opera-comique, einen spezifischen Vermittlungsaspekt auf: Es schließt sozial differenzierte Teilschichten der Gesellschaft diskursiv zusammen. Der empfindsame Diskurs propagiert einen universalen Anspruch, der sich in der sozialen Praxis als Assimilationsprozeß mittlerer höfischer und gehobener bürgerlicher Schichten realisiert. Denn nicht nur die bürgerlichen Schichten, sondern gerade auch der Adel verändert sich im 1 8. Jahrhundert und übernimmt z.T. die Kritik am strategisch-höfischen Verhalten des galanten Diskurses.204 Dies wird möglich, weil die Interaktionsmoral der Empfindsamkeit sich gerade nicht antifeudal oder spezifisch »bürgerlich« geriert: Der Hof alter Prägung erscheint dieser universalen Interaktionsmoral eben gerade nicht als Ort einer schlechten oder ungerechten Politik, die abgelöst werden müßte, sondern als Feindbild eines >kaltenwarmen< Empfindungsgemeinschaft von »Landesvater« und Untertanen gegenüber, das nach dem Modell der Familie konstruiert ist und mit einer als »natürlich« und universal deklarierten Anthropologie legitimiert wird.205 (Dieses Denkmodell, das sich in der Empfindsamkeit etabliert, scheint mir historisch von kaum zu überschätzender Tragweite zu sein. Es transformiert sich im Konstituierungsprozeß eines deutschen Nationalstaates im 19. Jahrhundert zur Idee von der deutschen Nation als einer homogenen Gemeinschaft von Blutsverwandten. Diese Idee wiederum aber impliziert und fördert als ihr Negativ die Suche nach dem auszusondernden Fremden, deren Konsequenzen letztlich bis in den nationalsozialistischen Genozid reichen.) Der mitteldeutsche Singspiel-Typus von Weiße und Hiller etabliert sich in Mittel- und Nordeutschland als das verbreitetste und wirkungsvollste Modell etwa zwischen 1765 und 1775; zugleich ermöglichen diese Werke den Übergang der Gattung an die kleinen Residenzen. 206 Trotz der Musterfunktion, die 204
205
206
Vgl. Wegmann 1984, S. ^cfff. Daß Hofkritik per se keine »bürgerliche« Domäne darstellt, hat Helmuth Kiesel 1979 in anderen Zusammenhängen gezeigt. Gerade die hofkritischen Bühnenwerke der I78oer Jahre, von Großmanns >Nicht mehr als sechs Schüsseln< (1780) über Schillers >Kabale und Liebe< (1784) bis zu Mozarts >Figaro< (1786) reüssieren primär auf Hofbühnen. Ihre Hofkritik hatte offensichtlich auch Funktionen in einem inneraristokratischen Diskurs über das Verständnis von Herrschaft. Ebd. S. 63. Die verschiedenen Prologe, die dem Werk je nach Publikum vorangestellt wurden, belegen die Verwendbarkeit des Stücks und die Gültigkeit des empfindsamen Codes
2OO
dem Weiße/H i llerschen Typ damit zukommt (und die in Schriften wie der von Reichardt auch theoretisch verfestigt wird), bleibt das deutschsprachige Musiktheater insgesamt jedoch ein nach vielen Seiten offenes, ja »hybrides« 207 Genre. (Auch dadurch steht es in großem Gegensatz zur höfischen Form der späten Seria, die sich — bei allen Reformansätzen im Detail — gerade durch ihr starkes Beharrungsvermögen und ihre Schwerfälligkeit auszeichnet.) Dieser offene Charakter der jungen Gattung aber verleiht dem deutschen Musiktheater die Chance, die weitere Entwicklung voranzutreiben. Speziell am Weimarer Hof, dem Uraufführungsort der >JagdAlceste< von Wieland und Anton Schweitzer (1773)
i. >Alceste< als Erfolgsstück [I]m großen Ganzen ist die Zeit nicht anzuklagen, die längst über Schweitzers Alceste hinweggeschritten ist und sie in ihrem Todesschlummer nicht gestört, ihr auch keinen Herkules geschickt hat, der sie wieder dem Orkus entführte.'
Das Urteil der Nachwelt ist ungnädig. Nach 1800 wird >Alceste< von Wieland und Anton Schweitzer in Bühnenpraxis wie theoretischer Reflexion bestenfalls der Rang einer Fußnote in der Entwicklungsgeschichte der deutschen Oper zugebilligt. Auch spätere, politisch motivierte und unterstützte Wiederbelebungsversuche (Weimar 1933*) schlagen fehl. Der wiederbelebende Herkules kam also nach 1800 nicht mehr, und er wurde auch gar nicht gewünscht. Dies aber steht in auffälligem Mißverhältnis dazu, daß >Alceste< zwischen 1773 und etwa der Mitte der I78oer Jahre eines der erfolgreichsten Bühnenwerke überhaupt, bis Mitte der i79oer Jahre immer noch ein bekanntes Stück im deutschen Sprachraum war, in protestantischen wie katholischen Territorien, in höfischen wie außerhöfischen Zusammenhängen.3 Ernst Ludwig Gerber berichtet im 2. Band seines Historisch-Biographischen Lexikons (1792) über das Stück: Viel und mancherley haben zwar die Kritiker und zwar nicht ohne Grund daran zu tadeln gefunden. Dennoch hat es sich nun schon über 16 Jahre mit immer gleichem enthusiastischen Lobe und Beyfalle der Liebhaber auf Deutschlands Bühnen erhalten.4
Neben der Anzahl von Theateraufführungen und der umfassenden Reihe erhaltener Druckausgaben (s. Datenblatt) liegen im Falle der >Alceste< zusätzlich weitere aufschlußreiche Rezeptionsdokumente vor, die die große Wirkung des Werks bestätigen:
1
Walter 1898, S. 280. Vgl. Ruth E. Müller: Art. »Anton Schweitzer: Alceste«. In: PE 5 (1994), S. 680. 1 Lühning 1984, S. 165, bezeichnet >Alceste< in dieser Zeit als »die im deutschen Sprachraum meistgespielte Oper überhaupt«, was angesichts der Verbreitung von Hillers Erfolgsstücken wohl kaum gehalten werden kann. Umgekehrt unterschätzt Reinhart Meyer (19803, S. 139) die Verbreitung der >Alcestekritisches Räsonnement< im Rahmen eigenständiger Buchpublikationen; 7 Parodien und Persiflagen (s. u.); Neukompositionen des Textes in den lySoer Jahren8 einerseits, neue Aufträge für weitere Singspiele an Schweitzer und Wieland andererseits (>Rosamunde< für Mannheim); zahlreiche >AlcesteAlceste< als Anspielungshintergrund und Bezugsrahmen fungiert. 5
Z. B. Erfurtische gelehrte Zeitung. Erfurt 1773, St. 13, S. inf.; Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur. Bd. 4. Lemgo 1773, 8.489—491; Beytrag zum Reichs-Postreuter, 65. Stück, Altona 1773, 23.8.1773; Magazin der deutschen Critic, Bd. 2. Halle 1774, T. i, S. 238 — 245; Almanach der deutschen Musen auf das Jahr 1774. Leipzig 1774, S. 43f.; Christian Daniel Friedrich Schubart (Hg.): Teutsche Chronik. 1777, 72. Stück, S. 575?. 6 Seit März 1775 waren Wieland und Nicolai öffentlich verfeindet; Nicolai resümiert die polemisch geführte Auseinandersetzung ausführlich in ADB 37/1 (1779), S. 295-316. Die ADB besprach > Alceste< zweimal: Zunächst lediglich das Libretto, das überwiegend positiv beurteilt wurde (21/1 [1774], S· i88f.). Nach dem Zerwürfnis mit Nicolai erschien dann ein harscher Verriß des Klavierauszugs durch J. F. Reichardt (33/2 [1778], S. 307-335); dieser Verriß ist prominent plaziert, nämlich an erster Stelle des Bandes, was sonst Werken des Musiktheaters in der ADB nicht zugestanden wurde. 7 Z. B. Dreßler 1774 (= Kap. 11 von Dreßler 1777); Schmid 17753,8. 334f.; [H, L. Wagner] 1777 (Rez. ADB 35/1 [1778], S. 153«".), S. 18-27 und S. 88-92; Kraus 1778. 8 Von F. W. H. Benda und E. W. Wolf; vgl. Datenblatt im Anhang. 9 >Alceste< wird oft ohne Nennung der Autoren erwähnt, einige Textzitate erfolgen ohne Verweis auf das Stück. Dies alles deutet auf die allgemeine Bekanntheit des Werks, die von den (meist sächsischen) Romanautoren offenbar bei den empfindsamen Romanlesern vorausgesetzt werden konnte. Bezüge auf >Alceste< finden sich besonders in: i.) Friedrich Traugott Hase: Gustav Alderrnann. Ein dramatischer Roman. 2 Theile. Leipzig 1779. Repr., hg. v. Eva D. Becker, Stuttgart 1964 (Dt. Neudrucke). In einem Monolog [Tl. 2, S. 139] zitiert die Hauptfigur Alderrnann bei einem wehmütigen Rückblick Admets Monolog IV 2 »O Jugendzeit«. Durch die eingerückte Typographie wird zwar deutlich, daß es sich um ein Zitat handelt, ein expliziter Quellenverweis erfolgt jedoch nicht. Die volle Bedeutung des Zitats, daß Aldermann hier sich und seinen Verlust durch den Verweis auf Admet, der die verlorene Alceste betrauert, mythologisch überhöht, wird nur dem Leser deutlich, der das Zitar als >AlcesteAlcesteAlcesteIdeen zu einer Mimik< mehrfach Szenen aus >Alceste< heran, wobei er die Kenntnis der Situation beim Leser voraussetzt, ohne sie zu erläutern.10 - Wielands erster Biograph, J. G. Gruber, behauptet 1815, daß mehrere Stellen aus dem Werk zu volkstümlichen Sprichwörtlichkeiten geworden seien."l — Opernszenen aus >Alceste< finden sich auch in der Porzellan-Nippes-Produktion der Zeit,12 worauf jüngst Klaus Hortschansky aufmerksam gemacht hat. — 1830 erschien eine italienische Übersetzung von G. U. Pagano Gesa.13 - Noch 1862 befand Hector Berlioz es eines Aufsatzes14 für wert. — Werk- und (neuartiger) Inszenierungsstil scheinen Auswirkungen auf die weiteren klassizistischen Theater-Konzeptionen in Weimar bis zu Goethes >Iphigenie< 15 und Schillers >Braut von Messina< l6 gehabt zu haben.
10 11
12
13
14
15
Worte, jedoch durch die Texte der Lieder und Arien und ihre Handlungsimplikationen.« (Müller 1989, S. 79). Dieses Verfahren macht nur Sinn, wenn der Autor Thilo die »Handlungsimplikationen« der >Alceste< als allgemein bekannt voraussetzen konnte. — 4.) [F. Th. Thilo:] Joseph von Sonnenthal. Eine Geschichte des menschlichen Herzens vom Verfasser der Emilie Sommer. Leipzig: Kummer 1784. Die Haupfigur Eleonore, eine Empfindsame par excellence, verfällt dem frühen Tod aus unerfüllter Liebe: »Melancholische schwärmerische Bücher waren ihre Lieblingslectüre. Immer lagen Youngs Nachtgedanken, Weissens Trauerspiele, Klopstocks Messias, und andere dergleichen Schriften auf ihrer Toilette, wodurch denn natürlich ihre Imagination immer mehr erhizt, und ihre Schwermuth immer mehr erhöhet wurde. Auf ihrem Flügel spielte sie die rührendsten Gesänge aus der Alceste, aus Rollens Werken, aus Benda's Romeo und Julie, so oft, daß natürlicher Weise die Würkung davon keine andere, als die gefährlichste, für sie seyn konnte.« (S. 228) >Alceste< fungiert hier — an erster Stelle - als Sigle der melancholischen Empfindsamkeit. Engel 1786, z.B. Teil i, S. 2i5ff., oder Teil 2, S. i77ff. Vgl. Johann Gottfried Gruber: C. M. Wieland. Bd. I. Leipzig 1815, S. 66. Grubers Angaben sind allerdings nicht immer zuverlässig und oft von apologetischer Tendenz; im konkreten Fall könnten sie angesichts des sentenzhaften Sprachstils Wielands jedoch durchaus zutreffen. Hortschansky 199ib. Während sich in der Meißener Produktion das konservativ-italienisch orientierte Repertoire der Dresdener Hofoper spiegelt, finden sich in der kurpfälzischen Hofmanufaktur in Frankenthal Szenen aus den am Mannheimer Nationaltheater erfolgreichen Werken (vgl. dazu u. II.5), darunter auch die Schlußszene aus >AlcesteI masnaderiRäubernLuisa MillerKabale und LiebeAlceste< des Euripides. >Alceste< 7 Dichtungen von Quinault und Calzabigi. Die Partituren von Lulli, Gluck, Schweizer, Guglielmi und Händel über diesen Gegenstand. In: Gesamtausgabe von Berlioz' Literarischen Werken Bd. 6. Leipzig 1912, S. 112-175 [zuerst in: A travers Chants. Paris 1862]. Eine angeblich grundlegende Vorbildfunktion der >Alceste< für Goethes >Iphigenie< ist seit Bernhard Seuffert häufig thematisiert, wenngleich insgesamt wohl überschätzt
204
- Schließlich führt der Erfolg des Werks auch dazu, daß Wieland post festum eine Singspieltheorie mit deutlicher Wirkung auf die Zeitgenossen entwikkelt. 17 (Diese wird in ihren poetologischen Aspekten unten in III.2 behandelt.) Zu diesem breiten, in der Fülle und Verschiedenartigkeit der Rezeptionsdokumente sich manifestierenden Erfolg trugen zwei äußere Faktoren bei: die relative Neuartigkeit 18 des Werks und die publizistischen Selbstinszenierungen Wielands. >Alceste< war nach längerer Zeit das erste Werk, das die Lücke einer deutschen >ernsthaften< Oper zu schließen behauptete, die gerade durch die Erfolge Weißes und Hillers im >komischen< Genre spürbar geworden war. V.a. Wielands publizistische Eigenwerbung schrieb >Alceste< über die konkrete Weimarer Situation hinaus eine nationale Pionierstellung 19 zu und stellte das Werk prominent in den Kontext der Nationaltheater-Debatte (vgl. u. II.5 und II.6). Der Anfang 1773 startende >Deutsche Merkur* brachte gleich in den ersten Ausgaben fünf »Briefe an einen Freund [F. H. Jacobi] über das deutsche Singspiel, Alceste«,20 in denen Wieland dem Stück eine maßgebende Bedeu-
17
18
19
20
worden; vgl. z.B. Parker 1961, S. 157-172, Meyer igSoa, S. i39f., oder Walter Hinderer: C. M. Wieland und das deutsche Drama des 18. Jahrhunderts. In: JbDSG 28 (1984), bes. S. 119 und 127. Zur Kritik an dieser Forschungsthese vgl. Fues 1989, bes. S. 49ff. - Bereits Algarottis Traktat zur Opernreform (s.u.) enthielt eine französische >Iphigenie auf TaurisAlceste< in: Beytrag zum Reichs-Postreuter. St. 65. Altona [23-8.] 1773Im folgenden zitiert nach der Ausgabe: Wielands Werke, hg. v. Wilhelm Kureümeyer. Bd. 9. Berlin 1931, Ndr. Hildesheim 1987, S. 378-409. 205
tung zuwies und breit seine Intentionen, v. a. in der Auseinandersetzung mit der Euripideischen >AlkestisMerkur< nachschob: der Essay »Über einige ältere deutsche Singspiele, die den Namen Alceste führen. Ein Beytrag zur Geschichte der Sprache und Litteratur der Deutschen in der zweyten Hälfte des XVIIten Jahrhunderts bis gegen das zweyte Viertel des XVIIIten« (i773 23 ) und sein bedeutender »Versuch über das Teutsche Singspiel, und einige dahin einschlagende Gegenstände« (i775 24 ), der eine Theorie des neuen Genres lieferte: Im Umfeld der Nationaltheater-Debatten sollte das neue deutsche Singspiel als eigene anspruchsvolle Gattung jenseits der Tradition der italienischen und französischen Oper etabliert werden. Beide Aufsätze trugen dazu bei, diskursiv den Rang und die Bedeutung von >Alceste< zu erhöhen, indem sie anhand des Werks eine historische bzw. theoretische Perspektive entwickelten und das flüchtige Theaterereignis so in übergreifende Zusammenhänge einbanden und codifizierten. Wieland stellte das Werk damit in den Schnittpunkt einiger aktueller Debatten, die etwa von der Nationaltheater-Idee, von dem durch Winckelmann popularisierten Antiken-Kult, 25 vom Aufstieg des deutschen Singspiels und von der inzwischen diskursprägenden Empfindsamkeit bestimmt werden. Die enorme zeitgenössische Rezeption des Werks zeigt, daß >Alceste< in ihrer Zeit geradezu als Musterwerk empfunden wurde, als ein Werk, an dem sich empfindsame Kultur auskristallisieren konnte wie an wenigen anderen.20 Gerade diese Schlüsselstellung für einen spezifischen empfindsamen Diskurs aber erklärt zugleich, warum schon die jüngere Generation das Werk heftig ablehnte (etwa Goethe oder J. M. Kraus, s. u.); als dann in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts die Ausläufer empfindsamer Strömungen endgültig als diskursbestimmende Kräfte abgelöst oder transformiert wurden, konnte das Werk 21
22 21 24
25
26
»Theatralische Neuigkeit«. In: Der Teutsche Merkur 1773, H. 2, S. 3o6ff. (Die Zeitschrift schrieb sich zuerst >Der Deutsche Merkur< und wechselte dann zu >Der Teutsche Merkurc)f{. Der Teutsche Merkur 1773, H. 4, S. 34ff. Zuerst erschienen in: Der Teutsche Merkur 1775, H. 3, S. 63 — 87; H. 4, S. 156 — 173. Im folgenden nach der Buchausgabe Leipzig 1796 zitiert (als Wieland 1775). Zur Faszinationskraft des Winckelmannschen Entwurfs vgl. Sahmland 1990, bes. S. 49 — 65 und S. 273. (Leider bezieht auch diese Arbeit die >Alceste< nicht mit ein.) Im Anschluß an Jäger 1969 wird >Empfindsamkeit< hier nicht als einheitliche, geschlossene Bewegung, sondern als Debatte begriffen, die, wie Wegmann 1984 gezeigt hat, eine starke innere Verlaufsdynamik hat, die eine genaue Ausdifferenzierung des jeweiligen ZuStands erfordert. Vgl. a. allg. den Forschungsüberblick von Hansen 1990.
2OO
allenfalls noch historisches Interesse finden. V.a. die Musik und die spezifische Dramaturgie, die wesentlichen Anteil am zeitgenössischen Erfolg des Werks hatten, waren es nun, die sein Veraltetsein bedingten. Wielands geschickte Strategien allein aber können noch nicht den (selbst für Wieland überraschend großen) Erfolg des Werks nach 1773 erklären. Ohne entsprechende Dispositionen im Stück selbst hätten sie allenfalls ein kurzfristig-punktuelles Interesse an dem Stück wecken, nicht aber seinen breiten Erfolg bewirken können. Wie läßt sich nun diese empirisch breite, aber zeitgebundene Rezeption mit der ästhetischen Faktur des Werks vermitteln; wo liegen die speziellen Faktoren im Werk, die ihm eine derartige Wirkung ermöglichten? Wieland konnte in der Konzeption seines Singspiels offenbar die Reaktionen einer sozial durchaus heterogenen Mischung verschiedener Publiken bündeln; das Werk war sowohl für höfische als auch für bürgerliche Zuschauer anschließbar. Dies ist, wie Weißes und Hillers >Jagd< erkennen ließ, für das neuere deutsche Musiktheater der Zeit überhaupt charakteristisch; Wieland konnte an diese junge Gattungstradition anknüpfen, formte sie aber zugleich in charakteristischer Art um.
2. Höfische Funktionen und außerhöfische Rezeption Wie die Daten zur Verbreitung des Werks zeigen, war es gerade auch in bürgerlichen Zentren, v. a. den großen Handels- und Messestädten, sehr beliebt - die hier belegte Rezeption ist insofern bemerkenswert, als Wielands Singspiel (samt der es begleitenden Theoriebildung Wielands) in der Forschung gemeinhin umstandslos als genuin höfisches Produkt angesehen wird. 27 In der Tat weist das Werk zahlreiche zentrale höfische Züge auf. Schon die reine Entstehungsgeschichte, wie sie Wieland selbst in seinen »Briefen« öffentlich dargelegt hatte, verweist zunächst auf einen Wunsch der Herzogin Anna Amalia 28 und reiht sich so ein in Wielands zahlreiche höfische Gebrauchswerke nach seiner Übersiedlung nach Weimar (z.B. Ballett >Idris und ZenideAurora< 29 zum Geburtstag der Herzogin 1772; Vorspiel >Die Wahl des Herkules< auf den 17. Geburtstag des Erbprinzen 1773). 21
28
29
Vgl. z.B. Sven-Aage J0rgensen et al.: C. M, Wieland, Epoche — Werk — Wirkung. München 1994, S. iO4ff. »Briefe« [wie Anm. 20], S. 378. Auch Schweizers Musik entstand auf direkten höfischen Auftrag hin (vgl. J. Ch. Brandes' Erinnerungen: »Jener erhielt nun vom Hofe den Auftrag, dies neue .Produkt unsers großen Dichters, ohne Zeitverlust, in Musik zu setzen«, zit. n. Starnes 1987, Bd. I, S. 451). Vgl. die harte Kritik Boies in einem Brief an Knebel (20.11.1772): »Ich lese eben ein musikalisches Vorspiel von Wieland auf den Geburtstag der Herzogin von Weimar, das meinen harten Ausspruch ganz bestätigt. Sie hätten sich gewiß selbst nicht 207
Auch die grundlegende Stoffwahl und -konstitution sind unverkennbar einer höfischen Sphäre zugehörig. Im Gegensatz zu den bisherigen Ansätzen bei Weiße, Engel u.a. folgt Wielands >AlcesteAlcesteAlceste< auf Hofbühnen zeigt denn auch einige typische repräsentative Verwendungen: In Mannheim wurde es 1776 als Galavorstellung zum Namensfest des Kurfürsten gegeben; in München diente es 1779 als Einweihungswerk der neuen, vom Hof getragenen »Nationalschaubühne«. In Weimar wurde als innerhöfische Lustbarkeit 1779 die >AlcesteEuridice< von Einsiedel/Seckendorff gegeben, wobei die HerzoginMutter selbst die travestierte Alceste spielte und Wieland zum Gaudium des Hofs anwesend sein mußte.32 Das Werk entstammte somit unverwechselbaren höfischen Zusammenhängen und konnte in diesen auch verschiedene charakteristische und traditionelle Funktionen erfüllen. Auch bei der internen Konzeption des Werks zeigt sich die höfisierende Tendenz Wielands deutlich: An die Stelle des Lieds mit seinen oben ausgeführten sozialgeschichtlichen und diskursiven Implikationen setzt Wieland wieder ausschließlich die große Arie in der Tradition der höfischen Oper. Die Sprache selbst zeigt das Bemühen um durchgängig hohe Stilhaltungen; statt der vielfältigen, sozialintegrativen Konzeption Weißes rekurriert Wieland auf höfische Traditionen. Das Werk knüpft gerade nicht an die Simulation vertrauter Lebenswelten an, sondern geht auf klassizistische Distanz. Umso bemerkenswerter ist daher die breite außerhöfische Rezeption, die >Alceste< von den anderen höfischen Werken Wielands (s.o.) abhebt. Offenbar traf das Werk bei all seinen unverkennbar höfischen Zügen auch auf zentrale >bürgerliche< Interessen und weckte dort mitunter euphorische Begeisterung.33
30
31 32 33
vorgestellt, daß ein Wieland so sinken könnte, sobald er aus seiner Sphäre geht. Seine Muse ist nur im Negligee schön.« (Zit. n. Starnes 1987 Bd. I, S. 451.) Z. B. die Opern von Quinault/Lully (1674, bis 1757 in Paris regelmäßig aufgeführt); Aurelis Libretto (>L'Antigona delusa d'AlcesteAdmetoAdmete et Alcesteadelig< vs. >bürgerlich< erweist sich diesem faktischen Befund gegenüber als wirkungslos und mehr forschungshemmend als erkenntnisfördernd. 34 ) Für diesen übergreifenden Erfolg ist zentral, daß das Werk in einem doppelten Assimilierungsprozeß die empfindsamen Ansätze höfisiert und umgekehrt die höfischen Traditionen an den empfindsamen Diskurs anpaßt. Es sind bürgerliche Autoren in Hofdiensten wie Wieland, die diese wechselseitige Amalgamierungs- und Transformationsleistung vollbringen. Am Beispiel der >Alceste< und ihrer Bearbeitungstendenzen kann daher paradigmatisch das Zusammenwirken verschiedener Rezeptionsinteressen und -möglichkeiten untersucht werden, das in den lyyoer Jahren charakteristisch für die Entwicklung des deutschen Musiktheaters ist. Zugleich kann das Werk gerade als Erfolgsstück auf die in ihm dargestellte Anthropologie befragt werden, die offenbar vom Publikum (bei aller sozialen Heterogenität) breit akzeptiert wurde. Es ist diese empfindsame Anthropologie, in der sich die Dominanz des empfindsamen Diskurses nach 1770 zeigt: Auch genuin in höfischen Kontexten entstandene Kunst geht nun von dessen Axiomen und Menschenbildern aus.
3. Wielands Bearbeitungstendenzen Für die Bestimmung von Wielands Wirkungsstrategien in >Alceste< sind zunächst Stoffkonstitution und Bearbeitungstendenzen aufschlußreich. Wielands eigene Ausführungen dazu sind, als Teil jener Wirkungsstrategie, mit Vorsicht zu betrachten. Während er faktisch auf drei verschiedene Gattungstraditionen
34
[ ] Wielands Akeste mit Schweizers himmlischer Music drey mal aufführen hören, habe die göttliche Kochinn, das non plus ultra aller menschlichen Schönheit gesehen und mich in ihren Netzen fangen lassen, habe ... o was habe ich nicht alles!« (Adolf Strodtmann [Hg.]: Briefe von und an Gottfried August Bürger. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte seiner Zeit. 4 Bde. Berlin 1874. Repr. Bern 1970. Bd. i: Briefe von 1767 — 1776, S. 214^ Die erwähnte »Kochinn« ist Franziska Koch, die erste Darstellerin der >AlcesteHildegard von Hohenthal< (Berlin 1795/96, '1838), dessen Handlung in den I77oer Jahren spielt, durchgehend adelige Opernpraxis mit gerührter Rezeption. Ruth E. Müller (1989, S. 13 iff.), die darauf aufmerksam gemacht hat, konstruiert daraus einen »Widerspruch [ ] zwischen einem typisch aristokratischen Kunstgegenstand und seiner typisch bürgerlichen Rezeption« (ebd. S. 137), den sie dann zu einer Schwäche des Romanautors stilisiert: Heinse »[] geht hier wohl einen Schritt zu weit«, weil er es im Rückblick auf die I77oer Jahre versäumt habe, »kultursoziologische Faktoren zu berücksichtigen, welche dazu nachgerade im Widerspruch stehen.« (Ebd. S. I36f.) Dies aber trifft weniger auf Heinse als auf seine moderne Kommentatorin zu; in solchen Verdikten zeigt sich deutlich die erkenntnisblockierende Wirkung der unseligen Dichotomic >Adel< vs. >BürgertumVersuchs über das Teutsche Singspiel· erkennen): Sie hätte die Positionierung des Werks im Kontext der deutschen Nationaltheater-Debatte gefährden können. Zumindest während der Arbeit an seinem Aufsatz über die älteren Alceste-Singspiele verfügte Wieland außerdem über Philippe Quinaults >AlcesteAlcesteAlcesteAlceste< und studierte sie ausgiebig. Vgl. Starnes 1987 Bd. I, S. 405. >Alceste, ou Le triomphe d'Alcide«, vertont von Lully 1674. Wieland lieh sich den Band von Meusel (Starnes 1987 Bd. I, S. 488). Wieland SW 26, S. 3oyff. Paul Thymichs eng an Aureli angelehntes Libretto, vertont von Nicolaus Adam Strungk (Leipzig 1693); eine Quinault-Übersetzung [wahrscheinlich von J. Ph. Förtsch], vertont von Johann Wolfgang Franck (Hamburg 1680); Johann Ulrich Königs Libretto, das ebenfalls auf Quinault zurückgeht, vertont von Georg Caspar Schürmann (Braunschweig und Hamburg 1719). Zu Wielands Verhältnis zu Metastasio vgl. Lindberg 1968, S. 22f., sowie allg. G. Gelosi: Wielands Verhältnis zu Metastasio. In: Archiv f.d. Studium der neueren Sprachen und Literaturen 151 (1927), S. 52 — 68.
210
Anlage und Besonderheiten des Werks müssen somit auf dem Hintergrund von drei gegensätzlichen, sich teilweise überkreuzenden Gattungstraditionen untersucht werden. 3.1. Veränderungen gegenüber der Trauerspiel-Tradition Über seine Bearbeitungstendenzen hinsichtlich des Euripides-Texts40 äußerte sich Wieland selbst ausführlich in den »Briefen«. Grundlegend ist zunächst Wielands radikale Modernisierung des Texts. Euripides wird ohne große historische Rücksichten auf das hin geprüft, was für die Diskurse der eigenen Zeit verwendbar scheint. Die grundsätzliche Frage für Wieland war, »was ein modernes Parterre« dazu sagen würde.41 Es galt also, alles vielleicht anachronistisch Wirkende (wie den altgriechischen Chor, das Erscheinen des Gottes Apoll, bestimmte Charakterzüge der Figuren, die »keine Würkung auf uns thun« 42 ) zu eliminieren, dagegen wirkungsästhetisch die Anschließbarkeit des Stoffs an die eigene Zeit zu gewährleisten. (Post festum resümierte Wieland im Bewußtsein seines Erfolgs, wiederum völlig unhistorisch denkend, daß ein Vergleich seines Stücks mit Euripides »nicht immer zum Vortheile des Griechischen Dichters ausfallen« 43 würde - woran sich dann u.a. Goethes heftiger Angriff in seiner Parodie >Götter Helden und Wieland< [s. u.] äußerlich festmachte.) Mit dem »moderne[n] Parterre« als Richtschnur verweist Wieland nun unübersehbar auf die intendierte Rezeption als konstituierenden Faktor der Textproduktion: »Sie verstehen mich also schon, wenn ich sage, daß ich genöthiget gewesen sey, die Alceste [ ] zu verschönern. Es ist kein Verdienst, sondern ein unfreiwilliges Opfer, das jeder Dichter dem Genius seiner Zeit darzubringen gezwungen ist.« 44 Daß Wieland diesen »Genius seiner Zeit« zutreffend eingeschätzt hatte, bestätigte sich im Erfolg des Stücks. Wielands Modernisierung schlägt sich zunächst in einer extremen Vereinfachung der Handlung nieder. Die Personenan-
40
41
42 4i
44
Wieland benutzte den griechischen Text sowie die französische Übertragung von Pere Brumoy (in: Le Theatre des Grecs, Paris 1730); vgl. »Briefe« [wie Anm. 20], S. 401, S. 403. Brumoys Übertragung bildete auch die Textbasis für Goethes Parodie. Zu Wielands Verhältnis zu Euripides vgl. allg. auch Fues 1989 und Parker 1961, S. 89 — . »Briefe« [wie Anm. 20], S. 380; vgl. a. ebd. S. 389, S. 396. Bodmer kritisiert in seiner Parodie genau jenes Verfahren Wielands als Unterwürfigkeit unter den Zeitgeist, »den Geschmack und die Vorurteile des Pöbels«; vgl. Meissner 1904, S. 115. »Briefe« [wie Anm. 20], S. 398. Ebd. S. 393. Vgl. a. S. 4o6f. über den Monolog IV 2: »Was würde aus den gefühlvollen Atheniensern geworden seyn, wenn sie eine solche Scene hätten hören können!« Ebd. S. 395; Hervorhebungen von Wieland. 21 I
zahl ist auf das äußerste, auf ganze vier singende Rollen45 reduziert: Alceste und Admet, Herkules als Retter sowie die von Wieland neu erfundene Figur der Parthenia, Alcestes Schwester, die die Funktionen des antiken Chors und der Confidenta der italienischen Seria-Oper in sich vereint. Alle Seitenhandlungen sind gestrichen, die volle Konzentration des Stückverlaufs wird ausschließlich auf das zentrale Opfer-Motiv und dessen innere Verarbeitung durch die Personen gelenkt. Erneut zeigt sich, wie bei Weiße, ein niedriges dramatisches Tempo und eine Dramaturgie, die gerade nicht von Kategorien wie »Spannung« lebt. Stattdessen lebt das Werk von der fast statischen Vorführung exemplarischer Werte: Alcestes Opfer, das durch ihr Sterben auf offener Bühne paradigmatische Bedeutung erhält, Herkules' Freundschaft, Admets Treue. Damit konstituiert der Text einen Raum des rührenden Mitempfindens, der die Konfliktdramaturgie des griechischen Stücks ersetzt. Dadurch entfällt z. B. das Problemfeld »Gastfreundschaft«, das bei Euripides in der Kollision mit dem Trauerfall konstitutiv ist; es entfallen alle Konflikte des griechischen Stücks (etwa die große Auseinandersetzung zwischen Admet und seinem Vater oder die Normverletzung des Herakles, die dann die Rettung Alcestes als Sühnegang motiviert); es entfällt aber auch die von Wieland ursprünglich im Sinne von Konventionen der Opera seria noch vorgesehene Liebesbeziehung zwischen Herkules und Parthenia.46 Wieland geht so von Gattungskonventionen beider Ausgangsgenres, Trauerspiel wie Seria-Oper, ab: Er entwickelt ein Drama ohne eigentlich dramatische Konflikte und eine Oper ohne gattungsübliche Strukturen (Verflechtung von Liebe und Haupthandlung; Intrigendramaturgie etc.).47 An ihre Stelle tritt das Prinzip elementarer Einfachheit bei idealisierender Tendenz. >Alceste< bietet keinerlei Möglichkeit zu dekorativer Prachtentfaltung nach dem Muster der höfischen Seria, auch keine szenischen Massenwirkungen. Dies verdankt sich primär den bühnenpraktischen Gegebenheiten: Weder die Wanderbühnen noch die Bühne eines kleineren Hofs wie Weimar konnten nach 1750 an der sinnlichen Pracht der großen höfischen Oper mit ihrer präzise kalkulierten, alle bühnentechnischen Möglichkeiten nutzenden Dramaturgie partizipieren; ihnen fehlten dazu nicht nur die finanziellen Mittel, schon nahezu alle aufführungspraktischen Gegebenheiten. Speziell Wieland hatte für die >A145
46 47
Zum Vergleich: Lullys Oper hat 23 Gesangspartien (ohne Prolog), Glucks italienische >Alceste< elf, die spätere französische Fassung immer noch neun Gesangspartien (plus vier Chorführer). Vgl. »Briefe« [wie Anm. 20], S. 381 mit Verweis auf Metastasio. Entsprechend hat die ältere germanistische Forschung Wielands Singspiel-Konzept stets mit seiner angeblichen >dramatischen Unfähigkeit zu erklären versucht, die sich im Mangel an »Originalität« zeige; selbst bei Friedrich Sengle heißt es, Wielands Bemühen um ein deutsches Singspiel sei »mehr ein gesellschaftliches Experiment, ein Zeugnis für seine virtuose Anpassungsfähigkeit als eine originale dichterische Pionierleistung []« (Friedrich Sengle: Wieland. Stuttgart 1949, S. 287). Erst John Lindberg (1968) hat dieses Erklärungsmuster widerlegt.
212
ceste< nur vier ausgebildete Sänger zur Verfügung; die Weimarer Bühne bot zudem keine Flugwerke oder Bühnenmaschinerie, wie sie für die bisherige Operntradition des Alceste-Stoffs unverzichtbar waren.48 Einfachheit und Bescheidenheit, die somit primär aufführungspraktisch bedingt sind, wendet Wieland zu einem neuen dramaturgischen Prinzip, das durch den Anschluß an den empfindsamen Diskurs festgeschrieben und nun sogar oppositiv gegen den Aufwand der großen Höfe gerichtet werden kann. Nach Wieland ist das neue deutsche Singspiel nicht aus Mangel einfach, sondern verkörpert gerade darin eine empfindsame Tugend: Die Einfachheit verbürgt die >Wahrheit< des Dargestellten, während die funktionale Pracht der italienischen Oper als kalte >Unwahrheit< denunziert wird — wo die italienische Oper nur äußerlich die Sinne bezaubere, ziele das deutsche Singspiel auf die »mächtige Rührung des Herzens«.49 Wieland lenkt daher den Wirkungsbezug ganz auf die inneren Prozesse der wenigen Figuren, und dies bildet für Wieland die eigentliche raison d'etre der Konzeption des Werks als Singspiel: Im Zusammenwirken von Musik und Sprache sollen diese Innenräume ihren Ausdruck finden können und jene »mächtige Rührung des Herzens« bewirken. Damit wendet sich Wielands Singspiel entschieden gegen die von der aufwendigen äußeren Prachtentfaltung bestimmte Dramaturgie der großen Bühnen, mit denen das Weimarer Theater ohnehin nie hätte konkurrieren können. Dies erklärt einen guten Teil der Faszinationskraft, die dieser Entwurf für die kleinen Höfe ausstrahlte. Zugleich ist damit das für den altabsolutistischen Diskurs kritische Potential der empfindsamen »Natürlichkeits«-Doktrinen aufgegriffen (und in die höfische Sphäre eingebracht). Dieses Potential macht das Werk auch im außerhöfischen Bereich anschließbar und attraktiv. Weil die Konzentration Wielands der Reduktion auf wenige Figuren und deren Innenleben gilt, wird alles Komische eliminiert, das bei Euripides in der Tradition des Satyrspiels vorhanden war. Das Komische würde ein Element der Distanz zu den dargestellten Innenräumen einbringen und die angestrebte Identifikation mit der Bühne, die Herstellung eines Raums der gleich Empfindenden, stören. In den statischen, klassizistisch kargen Tableaux, in die sich der Stoff unter Wielands Hand wandelt, ist die Handlung daher ganz auf eine Privatheit reduziert, die weder der Konzeption bei Euripides noch dem großen höfischen Spektakel etwa der Lully- (oder auch der Gluck-)Oper entspricht. Signifikant dafür sind schon äußerlich die Verschiebungen in der räumlichen Situierung. Während Euripides' Drama ebenso wie Lullys höfische Oper ausschließlich (sowie Glucks Oper überwiegend) im Freien spielen, findet sich bei Wieland nur noch eine einzige Szene im Freien, die der Ankunft des Herkules (III 1 — 3). Alles andere ist in Innenräume verlegt. Entsprechend hat Wieland 48 49
Vogel 1995, S. 4091"., gestützt auf K. A. Böttiger; vgl. a. allg. Meyer Wieland 1775, S. 244. 213
die Opposition Innenraum/Außenraum semantisiert: Der private Innenraum ist eine grundsätzlich heile Welt, deren Bedrohung aus dem Außenraum kommt (Orakelspruch, Bote) und im Außenraum abgewendet wird (Außenraumfigur Herkules). Der Innenraum ist dabei in Richtung einer Kernfamilie reduziert; höfische Merkmale (Diener etc.) kommen nur äußerst selten vor. Admets Palast ist eigentlich kein Königspalast, sondern ein gesellschaftsferner (Familien-) Raum. Es fehlen fast alle Attribute eines Königshofs mit seinen Macht- und Funktions-Trägern. (Ganz anders legt z.B. Anton Klein in >Günther von Schwarzburg< die Paläste an, bis hin zum Bilderschmuck. Hier werden zwei unterschiedliche Auffassungen von Macht deutlich: Bei Klein, in der in europäischen Konkurrenzverhältnissen stehenden Mannheimer Residenz, die altabsolutistische Repräsentationshaltung - in der kleinen, politisch unbedeutenden Weimarer Residenz die ideologische Verklärung einer empfindsamen, politikfernen Familienwelt.) Auch die Confidenta-Figur der Parthenia wird genealogisch als Schwester50 in diesen privaten Familienraum eingebunden. Im semantischen Innenraum, der fast den gesamten Raum des Stücks bildet,51 zählt nur die Familienbindung, und diese ist allen Bindungen an den Außenraum übergeordnet: »Verliehr ich dich,/ So ist für mich kein Volk, kein Vaterland,/ Kein Leben mehr - « (Admet II 4). Entsprechend reagiert Admet, der König, auf den Verlust Alcestes mit der völligen Abkapselung in einen privaten Schmerzkult.52 Potentiell ermöglicht einzig der Privatraum von (Kern-)Familie, Liebe und Freundschaft den innerirdischen Glücksanspruch des Subjekts, was letztlich als einzige Möglichkeit von Theodizee (s. u.) erscheint.53 Nicht nur in der Raumsemantik, auch in der grundlegenden Anlage des Werks führt Wieland demonstrativ die Reduktion auf die private Sphäre vor. Privat fällt der Opfer-Entschluß Alcestes: Nicht einmal Admet weiß davon, während bei Euripides ganz Thessalien das Opferversprechen Alcestes kennt und ihr Opfer sich im öffentlichen Raum vollzieht. Auch die Lösung wird bei 50
51
52
53
Bezeichnenderweise nennt sich Parthenia, die Schwester Alcestes, auch Admet gegenüber »Schwester« (IV , IV 3). Die genealogische Festlegung wird zur sozialen Rolle verallgemeinert. Auch die Natur wird nur als kulturell besetzter Raum von Zeichen -wahrgenommen (»Cypressen des Todes« vs. »Rosen der Liebe«, V 2). »Er haßt den Tag, er haßt die Gegenwart/ Der Menschen die er liebte, haßt/ Sein eignes Daseyn, fleht den Tod/ Um Mitleid an.« (Parthenia III 2). Parthenia kritisiert (funktioneil in der Nachfolge des antiken Chors) diese Haltung: »Wenn du in Gram dich selbst begrabest,/ So starb Alcest' umsonst für dich!« (Duett IV 3). - Der Text wird im folgenden nach dem Druck Leipzig 1773 zitiert (Datenblatt Nr. i; Repr. in GO 18). Dieser entspricht dem vertonten Text, während der Druck in SW nachträglich von Wieland überarbeitet wurde. (Um jedoch auch andere Ausgaben benutzbar zu machen, gebe ich jeweils die Szene an.) Zur Verarbeitung von Theodizee-Gedanken in der Literatur des 18. Jahrhunderts vgl. Titzmann 1990, S. 142.
214
Wieland ausschließlich durch einen privaten Entschluß des Herkules motiviert. Über der zentralen Bedeutung privaten Selbstopfers gerät schließlich auch das Ausgangsproblem, warum Admet sterben soll (bei Euripides z.B. im Vorspiel zwischen Apoll und Thanatos thematisiert), bei Wieland völlig außer Sicht; kein Aufbegehren der Figuren thematisiert das von außen verhängte Schicksal, sondern dieses wird sogar ausdrücklich akzeptiert: »Eines von uns beyden/ Muß fallen!« (Alceste II 5). Admets Theodizee-Probleme werden im Stück zurückgewiesen und widerlegt (s.u.). Das Stück führt in einer fast laborhaften Studie eine sich in Verzicht und Opferbereitschaft realisierende Wertehierarchie vor. Die Reduktion auf das Private ist so stark, daß es im Grunde gar keine Öffentlichkeit in diesem Stück mehr gibt; statt einer horizontalen menschlichen Gesellschaft herrscht eine vertikale Struktur: Oben (Götter/Elysium) — Erde — Unterwelt (Styx). Während Wieland in diesem vertikalen Grundgestus grundsätzlich an die Traditionen von barocker Oper und Trauerspiel anknüpft, bleiben Himmel und Unterwelt jedoch von der Darstellung ausgeklammert: Hades und Elysium erscheinen nur als innere Visionen der Figuren. Zum Raum des Werks wird ausschließlich der enge Familienraum; der breite öffentliche Raum der barocken >AlcesteAlceste< nimmt damit auch den Charakter einer empfindsamen Schwundform des barocken Märtyrerdramas an: Alceste stirbt als Märtyrerin der Kleinfamilie und ihres empfindsamen Glücksversprechens.54
54
Zur Situation des Märtyrerdramas in der Wielandzeit vgl. Raimund Neuß: Tugend und Toleranz. Die Krise der Gattung Märtyrerdrama im 18. Jahrhundert. Bonn 1989. 215
Das mythologische Sujet wird so zum privaten Familienstück verändert, dessen Zentrum in einer Fülle von Monologen die Gefühle der Figuren bilden. Appellativ führt das Singspiel elementar gestaltete Situationen und Empfindungen vor: altruistische (»fromme«) Liebe und Leid, Tod und Trauer, Mitleid (Herkules), Freundschaft und Freude. Besonders charakteristisch erscheint dabei der Tränen-Kult, der geradezu als Ikone der Empfindsamkeit (s.o. II.i) gelten kann. 55 Am glücklichen Ende des Stücks wandeln sich die Tränen zu »Freudenthränen« 56 (V 7) um: Der Ausdruck freudiger Gefühle formt sich so nach dem Muster der traurigen. Leid und Schmerz bilden den dominanten Ausdrucksbereich des Werks: Sie stehen trotz des positiven Schlusses im Mittelpunkt und werden breit ausgeführt. Dies deckt sich zentral mit den Grundaxiomen der zeitgenössischen empfindsamen Literatur: Im Zentrum steht auch dort die Thematik von Opfer und Verzicht, die Figuren erscheinen grundlegend als Leidende, die traurigen Gefühle überwiegen weit, die Hauptrolle ist meist weiblich besetzt.57 Alles, was von diesem empfindsamen Zentrum des Werks ablenken könnte, wird von Wieland vermieden; jenseits der Gefühlsebene bleibt das Stück daher relativ abstrakt. Wieland verzichtet darauf, zahlreiche plastische Teile des Sujets zu nutzen: Die Unterweltsthematik erscheint nur vermittelt, das mitternächtliche Totenopfer wird in seiner Bildkraft kaum ausgenutzt. Zeit- und Raumsemantiken sind nur äußerst schwach ausgeprägt; es gibt nur wenige Raumwechsel. Die Vorgeschichte des Opferbeschlusses, bei Euripides wie (völlig anders) auch bei Calzabigi/Gluck breit und dramatisch anschaulich ausgeführt, erscheint bei Wieland nur vermittelt in Berichten aus zweiter Hand. Es gibt keine negative Figur im Stück, keine Verletzung des Decorum wie bei Euripides durch Herakles; Wielands Herkules ist die Inkarnation von »Tugend« schlechthin.
55
56
57
Admet IV 3; vgl. a. bes. das anschließende Duett; vgl. a. die Szenen II 5, IV i, V i. Die Tränenströme sind ein allgemeines Kennzeichen empfindsamer Literatur (vgl. Balet 1936, S. 3o6ff., Titzmann 1990, S. 147, sowie [Arbeitsstelle 18. Jahrhundert der Gesamthochschule Wuppertal (Hg.):] Das weinende Saeculum. Heidelberg 1983). Ihre spezifische Funktion liegt in der körpersprachlichen Beglaubigung der unverstellten Echtheit und Stärke des Gefühls, als »körperlicher Beweis für das Unmittelbardirekte der empfindsamen Kommunikation« (Wegmann 1984, S. 85). Daß sie dabei oft mit Musik als Ausdruck eines »Erregungsbedarfs« verbunden werden, zeigt Küster 1992, S. goff., an Briefbeispielen von Claudius und Voß. — Besondere Ähnlichkeiten mit >Alceste< zeigt in dieser Hinsicht Goethes kurze Zeit später entstandene >Stella< (bis in einzelne Formulierungen hinein). »Allgüt'ge Mächte, seht mit Wohlgefallen/ Die Freudenthränen an, die meinem Äug' entströmen!/ Was hat ein Sterblicher, um euch zu danken,/ Als Freudenthränen?« (Admet V 7). Die Empfindung für übergroße Freude findet ihren Ausdruck nach dem Muster der Schmerzempfindung, den Tränenströmen. Vgl. Titzmann 1990.
216
Wieland fokussiert Familie und Privatheit statt königlicher Macht; das hohe Personal wird interessant in seiner elementaren familiären Situation, die gerade vom spezifischen Problem der Macht abstrahiert. Auch hier zeigt sich wieder die Dominanz empfindsamer Axiome, die das höfische Modell der politischrepräsentativen Oper untergraben. In der Reduktion des Stoffs auf ein privates Familienstück tritt Wielands Wirkungsabsicht klar zutage. Gerade in der elementaren Vorführung der Gefühle postuliert das Stück universale, stände- und konfessionsübergreifende Anschließbarkeit. Der Stand der Figuren wird demonstrativ ihrer familiären Position untergeordnet: Admet ist weniger König als Gatte und Vater (II 5), Alceste in erster Linie Gattin und Mutter, kaum Königin. Alceste versucht, Admet von ihrem Opferbeschluß zu überzeugen, indem sie ihn auf seine Verantwortung für die Kinder hinweist (II 5: »Und wenn du jeden ändern Nahmen, der dir heilig/ Seyn soll, vergessen hast,/ Kannst du vergessen, daß du Vater bist?«), nachdem ihr Hinweis auf Admets politische Herrscherfunktion nicht verfängt (II 4); dem Vorführen der Kinder kann sich Admet dann nicht mehr entziehen. Anders als im griechischen Stück (oder auch in Glucks italienischer Oper) werden die Kinder dabei auf stumme Rollen reduziert; sie werden aus aktiv Teilnehmenden zu »armen Unmündigen« (II 5), was die emotional appellative Funktion ihres Auftritts erhöht. (Schweitzer verstärkt dies durch eine gehäufte Verwendung musikalischer Seufzer-Motive.) Die Reduktion auf ein Familienstück verändert die Charakteristik der Figuren. Dies zeigt sich besonders an der Figur des Admet, die bei Wieland zur problematischsten Figur des Werks wird. Wieland hatte große Schwierigkeiten mit der Anlage der Figur bei Euripides: Wir werden immer nur eine sehr mittelmäßige Meynung von einem Manne haben, der in dem Augenblicke, wo er eine Gattin, wie Alceste, verliehrt, eine wohlgesezte Rede in vierzig schönen Versen zu halten fähig ist. [ ] Nein, den Mann, der dies tun konnte, können wir unmöglich lieben, unmöglich an seinem Schmerz Antheil nehmen. Seine Klagen empören uns wider ihn. 58
Die Anlage der Figur bei Euripides verstößt gegen die Gesetze, die für Wieland offensichtlich kanonische Geltung haben: Wahrscheinlichkeitsdoktrin und empathische Wirkungsabsicht. Auch in Wielands Umkonzeption bleibt jedoch Admet die kritischste Figur. In der Admetfigur geraten die empfindsamen Codes mit den älteren absolutistischen Konzeptionen in Konflikt: Admet ist bei Wieland ein empfindsamer Gatte wie im Familiendrama der Zeit,59 aber alles andere als ein patriarchalischer Landes-Vater (wie bei Weiße). Ihn kennzeichnen Passivität, Gefühligkeit, Verzichts- und Opferbereitschaft: Züge, die die sich verfestigende Geschlechtertypologie als partiell »unmännlich« einstu58
59
»Briefe« [wie Anm. 20], S. 397^ (Die Vorwürfe werden von Kraus 1778 auf Wieland selbst zurückgewendet.) Vgl. Vogg 1993, bes. S. 78f. 217
fen wird.60 Während Parthenia rational-argumentativ Alceste von ihrem Entschluß abzubringen versucht, reagiert Admet emotional auf ihren Opferbeschluß, emotionaler als Alceste selbst (II 4); deshalb unterliegt er ihr in der Auseinandersetzung. Als Vater (und Landesvater) erscheint er schwach: Herkules, die Verkörperung männlicher Tugend, macht ihm den Vorwurf der Feigheit, gegen den er sich kaum wehren kann. Herkules kritisiert Admets Emotionalität als Rollenproblem: »Admet, ich bin dein Freund, wiewohl du selbst/ Kein Mann mehr bist. Ich kann nicht mit dir weinen,/ nicht jammern wie ein Weib [ ]« (III 4). Auffällig in Admets Lexematik ist die Verwendung des Wortes »Seele« (vgl. bes. S. 19, 22, 25), während die anderen Figuren überwiegend, wenn auch nicht durchgehend konsequent, von ihrem »Herzen« sprechen. Zu Lasten Admets geht im Vergleich zu Euripides schließlich generell die Aufwertung der Alceste, die sich z. B. auch darin zeigt, daß Alceste nach ihrer Wiederkehr nicht stumm bleibt, sondern in einem großen Rezitativ ihre Jenseitserfahrung verarbeitet. Gegenüber Euripides verändert Wieland nicht nur die grundsätzliche Anlage des Stücks und die Figurenzeichnung, sondern auch die Dramaturgie. Empfindsamkeiten kennzeichnen nicht nur Wielands Admet, sondern auch die dramentechnische Darstellung von Alcestes Opferentschluß. Was bei Euripides nur berichtet wird, zeigt Wieland direkt auf der Bühne; in Anwesenheit der Zuschauer vollzieht sich Alcestes Beschluß wie auch später ihr Sterben. Das so ins Zentrum gerückte edle Opfer Alcestes zielt auf eine Rezeptionshaltung der Bewunderung und Rührung, die den Zuschauern durch die übrigen Bühnenfiguren selbst vorgeführt wird. 6 ' Von besonderer Bedeutung dafür ist die Szenenfolge im II. Akt (3 — 5), in der sich Alceste nach ihrem Opferentschluß von Admet und weinend von ihren Kindern verabschiedet, was auch häufig als Frontispiz für Drucke ausgewählt wurde.62 Dabei schließen die üppig fließenden »Thränen« der Figuren Zuschauer und Bühne zusammen; die Musik erhält dabei die Funktion einer emotionalen Brücke.63 Wie die Rezeptionsdokumente 60
Bodmers Parodie richtet den größten Teil ihres Spotts auf die Admetfigur als jammervollen Feigling und zärtlichen Schwächling; vgl. unten und Meissner 1904, S. inf. 61 Heinrich Leopold Wagner betont gerade die rührende Qualität dieser Szene: »Wo sie [die Alceste-Darstellerin Zink, J. K.] aber die meiste Rührung erweckte, allgemein bewundert wurde, war in der Sterbescene. [ ] Ihr sterbender, nach und nach ausgehender Blick, Admets Verzweiflung, das stumme Jammern ihrer unschuldigen Kinder, [ ] der Schmerz Partheniens, das Mitleid der Kammerfrauen, alles war ganz nach der Natur kopiert. — [ ] Hier ist kein gelernter Kanarienvogel, der nur nachpfeift, was andre ihm hundertmal vorgeorgelt haben, kein gefühlloser Kastrat, der Empfindungen nachlallen soll, von denen er keinen Begriff hat.« (1777, S. 2af.) 62 Vgl. z.B. den Stich von Christian Gottlieb Geyser, der den Klavierauszug Leipzig 1774 ziert, oder den Wiener Textdruck (s. Datenblatt, Nr. 14). **·' Vgl. bes. den Text der Parthenia-Arie IV i, die die gemeinschaftsstiftende Funktion des empfindsamen Tränenkults am klarsten exponiert. Schweitzer hat diese dramaturgisch auf den ersten Blick unwichtige Arie offenbar für so wichtig gehalten, daß er
218
zeigen, ging dieses Kalkül Wielands auf;64 selbst der sonst so nüchterne Friedrich Nicolai, der das Werk insgesamt keineswegs für »so vortreflich als man [ ] in den Zeitungen aussprengt« 65 hielt, konnte sich dem nicht entziehen: »Die Scene mit den Kindern, hat mir Tränen ausgepreßt.«66 Sogar der äußerst kritische J. M. Kraus gestand dieser Szene (II 5) zu, sie sei »wie Silber in einer Pfütze«: »Schweizer drückt hier wirklich aus und stürmt aufs Herz. Seht den Unterschied!«67 Auch Ernst Christoph Dreßler hob diese Szene als »die schönste, und rührendste Stelle in der ganzen Oper« hervor: »Diese thränenschaffende Stelle, den Worten, der Musik, der Aktion nach, traf nicht nur mich Weichen und Gefühlvollen allein; härtere Seelen traf sie, und entlockte dem willigen Auge aller Zuschauer mit sanfter Macht stille und halblaute Thränen und Seufzer.«68 Der Tränenkult im Text überträgt sich, verstärkt durch die Musik, auf die Rezeption. Die empfindsame Rezeption dieser Szene, in deren Lob sich Feinde wie Freunde Wielands auf seltene Art einig waren, deutet auf
sie kompositorisch stark aufgewertet und hervorgehoben hat (als anspruchsvolle Bravour-Arie mit konzertanter Solo-Violine); sie zählte gerade dadurch in der Rezeption zu den beliebtesten Teilen des Werks. (Wolf berichtet 1782 aus Halle, er habe sie in Halle in einem Konzert gehört, in dem Sing- und Geigenstimme von zwei Schülern gesungen wurden; vgl. E. W. Wolf: Auch eine Reise aber nur eine kleine musikalische in den Monaten Junius, Julius und August 1782. Weimar 1784, S. 9. Die Arie war auch in Einzeldrucken verbreitet: vgl. Maurer 1912, S. 67). Auch H. L. Wagner beschreibt die rührende Wirkung des Stücks: »Das sympathische Mitgefühl, das sie [die Parthenia-Darstellerin Hellmuth, J. K.] rege macht, der hohe Grad der Rührung, den sie in Busen haucht, die sonst unreizbar sind, darinn liegt die ganze große Würde, der erhabne Adel der Kunst. [ ] So viel hundert Personen, Musikverständige und Nichtverständige, alle standen wie versteinert und hatten nicht das Herz, zu athmen. Und wie nun vollends Hr. Benda (Koncertmeister der Gesellschaft) mit seinem Solo einfiel, starrte jedes das andre erstaunungsvoll an und vergaß, wo es war, sich und die Welt.« (Wagner 1777, S. 25) 64 In seinem eigenen Bericht über die Uraufführung betont Wieland »die tiefe Rührung, und die Thränen, deren sehr wenige Zuschauer sich enthalten konnten« (vgl. Werke 9 [wie Anm. 20], S. 410). Ironisch berichtet Schweitzer aus Leipzig 1774, er sei »mit dem hiesigen Publico sehr zufrieden, weil sie mit der Alceste zufrieden sind, denn selbstens die weniger Empfindsamen schienen bey der jedesmaligen Vorstellung, ihre Butterkuchen vergessen zu haben.« (Brief an Bertuch, 29.10.1774, zit. n. Maurer 1912, S. 7of.). 65 Brief Nicolais an Ramler, 19.6.1773 (zit. n. Starnes 1987 Bd. I, S. 475). 66 Ebd. 67 Kraus 1778, S. 56, S. 70. Kraus hörte die Oper in Weimar, Gotha und Mannheim ein weiterer Beleg für die Verbreitung des Werks. Zu Joseph Martin Kraus (1756— 1792), der am Mannheimer Jesuitengymnasium ein Schüler Anton Kleins war, später als Student in Göttingen dem Hainbund nahestand, vgl. Staehelin 1992, bes. S. 2O9f; Friedrich W. Riedel: ... das Himmlische lebt in seinen Tönen. Joseph Martin Kraus. Ein Meister der Klassik. Mannheim 1992; Schleuning 1984, S. 350f.; Richard Engländer: Joseph Martin Kraus und die gustavianische Oper. Uppsala/Leipzig 1943. 641 Zit. n. Dreßler 1777, S. 179^ 219
eine weithin akzeptierte emotionale Übereinstimmung mit den empfindsamen Werten, die auf der Bühne dargestellt sind: die emotionale Innigkeit der Kleinfamilie als Modell zwischenmenschlicher Beziehungen, die »Tugend« und gegenseitige Opferbereitschaft der Ehegatten, die Tränen als Siegel der Echtheit des Empfindens. In Wielands gezielter Wirkungsstrategie soll das Publikum tendenziell zu einer einzigen Familie werden, in der Zuschauer und Darsteller sich im Mitleid vereinen; Ziel dieser Dramaturgie ist das rührende oder erhabene tableau, nicht der coup de theatre^ In der von Nicolai, Kraus und Dreßler hervorgehobenen Szene wird Alceste in doppelter Weise zur ikonenhaften Identifikationsfigur: als Mutter wie als Gattin. Die Kleinfamilie mit ihrer Zärtlichkeit erleichtert in ihrer Intimität die Anschließbarkeit des Werks für bürgerliche Rezipienten; die Verengung auf Privatheit löste in der realen Rezeption sogar ein Bedürfnis nach privater, un-öffentlicher Rezeption des Werks aus. So schreibt Friedrich Wilhelm Gotter an Heinrich Christian Boie über die Uraufführung der >AlcesteAlcesteAlcesteniederen< Liebe. Wo Alceste die statische Treue verkörpert, vertritt Cephise den freien, libertären Wechsel zwischen ihren Liebhabern Lychas und Straton. Die genau kalkulierte Gegenüberstellung dieser Liebeskonzeptionen zeigt (neben der konstitutiven Dramaturgie der Affektvielfalt und -kontraste) die Tendenz Quinaults, das antike Drama »zu einem Kompendium erotischer Verhältnisse auszubilden«. 73 Nichts von alledem findet sich bei Wieland. Wo Quinault einer präzise funktionalisierte Geometrie der Sinnlichkeit entfaltet, kennzeichnet Wielands Konzeption gerade die Entsinnlichung. Sein Herkules ist keusch, nur von empfindsam-unsinnlicher »Freundschaft« getrieben, und auch die Gattenliebe Alceste-Admet wird aller sinnlichen Komponenten entkleidet und letztlich auf ein abstraktes Pflichtprinzip zurückgeführt: »Ich sterb', ein Opfer meiner Pflicht« (Arie Alceste I 2). Mündet der Unterweltsgang bei Quinault/Lully am zentralen Punkt in die Einsicht des Unterweltsherrschers Pluton, die Liebe sei stärker als der Tod, so schrumpft die Liebe bei Wieland zur standardisierten Erfüllung empfindsamer Sozialnormen, zur »Tugend« und zum »Beyspiel reiner Triebe« (II 2; s.o.). Hier findet keine Raserei der Leidenschaften statt; dagegen wird die Einsicht Alcestes in die Notwendigkeit ihres Opfers vorgeführt - als rationale Bewältigung eines akzeptierten Schicksals in ihren Begründungen gegenüber Parthenia, Admet und den Kindern. An die Stelle emo-
72 73
druck in Heinz Becker (Hg.): Quellentexte zur Konzeption der europäischen Oper im 17. Jahrhundert. Kassel u.a. 1981, S. layff.). Entsprechend lautet der Titel des Werks: Alceste, ou le Triomphe d'Alcide. Seidel 1990, S. 282. 221
tionaler und sinnlicher Reaktionen auf Alcestes Opferbeschluß (etwa im Zusammenbruch des vom Schmerz überwältigten Admetes bei Quinault/Lully oder im verzweifelten Entsetzen Admets bei Calzabigi/Gluclc) tritt eine nahezu körperlose, abstrakte »Rührung« über Alcestes »Tugend«: »Admet. Weh mir! Sie stirbt? Sie stirbt damit ich lebe?/ O Lieb! O Tugend! - Du, für deren Werth/ Die Sprache keinen Nahmen hat, Getreuste, Beste,/ Geliebteste der Weiber! []« (II 2); später heißt es im Terzett derselben Szene: »Admet. Große Götter! welche Liebe!/ Parthenia. Welch ein Beyspiel reiner Triebe!« Distanz zur eigenen Sinnlichkeit kennzeichnet auch das Verhalten der Zurückgebliebenen angesichts Alcestes Wiederkehr: Parthenia (V 5) wie Admet (V 7) zweifeln zuerst an ihren Sinnen, an der Wahrheit ihrer sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit. Die sinnlichen Wahrnehmungen sind der Ratio untergeordnet, die das unglaubliche Geschehen leugnen muß: »Ich seh sie, halte sie/ In meinem Arm, Ihr Busen schlägt an meinem Busen,/ Und doch besorg' ich daß es Täuschung sey.« (Parthenia V 5) »Was seh ich! — Nein, ich sehe nichts! - Mich täuscht/ Ein Gott, der meiner spottet. Liebe, Sehnsucht, höhnen/ Mein gernbetrognes Herz. Es ist ein Blendwerk!« (Admet V 7) Aus der Begrenzung der Sinnlichkeit resultiert auch eine gewisse Austauschbarkeit der Gefühle, die der dem Hainbund und dem >Sturm und Drang< nahestehende J. M. Kraus polemisch auf den Punkt bringt: Admets Reaktion auf Alcestes Opferentschluß sei »Eben als wenn ihm Parthenia die erfreuliche Nachricht gebracht hätte, Alzeste sey mit einem gesunden und Wohlgestalten Prinzen niedergekommen«. 74 Die jüngere Generation fordert den individuellen, »wahren«, uneingeschränkten Gefühlsausdruck jeweils charakteristisch unterschiedener Emotionen. Bei Wieland werden die Emotionen dagegen standardisiert und moralisiert: »Liebe« und »Tugend« werden gleichgeordnet. In dieser Konzeption von »tugendhafter« Liebe ist die Verzicht- und Opferbereitschaft bereits latent enthalten: Die Liebe erweist sich als moralisch und tugendhaft, indem sie zum Verzicht (notfalls aufs eigene Leben) bereit ist. Wieland überhöht dieses in der Literatur der Empfindsamkeit überaus geläufige Schema75 noch, indem sein Werk vorführt, wie die Opferbereitschaft gerade zur Voraussetzung für die Erfüllung des privaten Glücksanspruchs wird: Das wiedererhaltene Glück des Ehepaares wird am Schluß sogar über die Wonnen des Elysiums gestellt. Voraussetzung des Glücks ist die Bereitschaft, Wertverluste zu ertragen oder Werte zugunsten eines anderen abzutreten. 74 75
Kraus 1778, S. 53. Vgl. Titzmann 1990, S. i^6f., mit Verweis auf Gellerts >Die zärtlichen SchwesternDer Mißtrauische< und Lessings >Minna von Barnhelmbürgerlichen Trauerspielenanarchischen< Potentials der Sinnlichkeit vgl. Riedel 1994, S. 112.
224
(was für die Wechsel-Dramaturgie der barocken Oper von entscheidender Bedeutung ist82), gestaltet Wieland das extreme Gegenteil. Bei ihm gibt es keinen Wechsel, kein Vergessen, sondern eine Statik eiserner Treue, die die Admet-Figur vollkommen unbeweglich macht. Die empfindsame Anthropologie erfordert damit eine neue Dramaturgie jenseits der traditionellen Intrigen-Dramaturgie. Neben der »Treue« stellt die »Freundschaft« den zentralen, sozial anerkannten Wert und die einzige Lösung der Schicksalsdramaturgie dar: Nur die »Freundschaft« ist es, die Herkules, den Halbgott-ex-machina, zur Rettungstat motiviert.83 Sowohl Euripides als auch Quinault hatten hier wesentlich stringentere Motivationen gesucht;84 daß die Freundschaft bei Wieland jedoch als alleinige, ausreichende Motivation konzipiert werden kann, bestätigt die zentrale Bedeutung, die sie als Grundwert für den gesamten empfindsamen Diskurs besitzt. Die Freundschaft der gleich Empfindenden verbürgt die einzige Hilfe angesichts einer als defizient erfahrenen Welt - und erfordert zugleich die unten beschriebene Eingrenzung, Austauschbarkeit und Soziabilität der Empfindungen. Wieland stellt sich mit dieser Konzeption des Werks nicht in die Gattungstraditionen der Oper, sondern in den Kontext der empfindsamen Literatur:05 Er thematisiert weder Normverletzungen noch Konflikte zwischen Gefühlen und Normen, wie in der Opera seria üblich, noch den konstitutiven Gegensatz von »amour« und »gloire« der französischen tragedie-lyrique. Die Affektvielfalt der barocken Oper mit ihrer ausgefeilten Dramaturgie des Wechsels weicht hier der Vorführung statisch eingegrenzter, zugleich exemplarisch moralisierter Emotionalität. Das Stück führt in der Inszenierung eingeschränkter, normierter Gefühle die Erfüllung und Bejahung von sozialen Rollenentwürfen vor und belohnt dies mittels »poetischer Gerechtigkeit«. Alceste erfüllt die Normen der »tugendhaften« Liebe gerade in der extremen Situation und bestätigt so die Konzeption sozial gebundener Emotionalität. Dafür wird sie, die sich selbst rollenkonform als »schwaches/ Muthloses Weib« (II 3) bezeichnet, von Wieland zur »Heldin« für die Nachwelt stilisiert, deren »Bild in Marmor/ Den Enkeln heilig sey«.86 Die Frau, die ihr Leben aus »Pflicht« für ihren Gatten opfert, wird zum dauerhaften, erhabenen Gedenkstein transformiert. Sie petrifiziert zur überzeitlichen Exempelfigur, die den Nachgeborenen eben jene Gattenliebe als »Pflicht« (Alceste II 5), als bindendes Erbe hinterläßt: »Man soll den Frauen sie zum Beispiel nennen!/ Sey wie Alceste soll der Segen seyn/ Der künftig jede 82
Vgl. dazu Jahn 1996. "·» Vgl. S. 38ff. 84 Bei Euripides die Normverletzung des Herakles, die er durch die Rettung wieder gut macht; bei Quinault das erotische Begehren als Auslöser der Intrigendramaturgie. 85 Vgl. Titzmann 1990; Müller 1989. 86 Herkules V 2; ähnlich Admet IV 2.
225
Braut zur Gattinn weyhe!« (Herkules V 2). Aus der mythologischen Ferne des Sujets wird so beispielhaft vorgeführte, konkrete Morallehre für die Gegenwart. (In der Sicht romantischer Ausdrucksästhetik bleibt dafür nur noch boshafter Spott übrig: Berlioz, der Nachgeborene, bezeichnet Wielands Figur als »diese würdigste der Hausfrauen«. 87 ) Die Emotionalität der Figuren erweist sich bei genauerer Prüfung als qualitativ wie quantitativ normiert und standardisiert. Das Werk führt qualitativ ausschließlich einen relativ engen Bereich moralisch positiv zu wertender Gefühle vor: Dominant ist dabei ein narzißtischer Bereich von Schmerz, Leid und Trauer, selten — sowie komplementär dazu angelegt — freudvoll-positive Emotionen (Freundschaft, Liebe). Negativ besetzte Gefühle wie Wut, Haß, Neid, Eifersucht etc., wie sie in der Operntradition des >AlcesteDer Mißtrauische< (1760, Ndr. Berlin 1969): »[] ich liebe Sie mehr, als mein Leben.« (S. 86) Im selben Werk fällt auch der Begriff der »vernünftigen Leidenschaft« (S. 35); vgl. Titzmann 1990, S. 156. Das Überschreiten des normierten Bereichs zulässiger Gefühls Intensität erscheint als Selbst-Verlust der betreffenden Person: Gefaßt ist dies im wiederholt verwendeten Bild von Admets in der Trauer »erstorbnem Herz« (Parthenia III 2; Admet IV 3). Kraus 1778, S. 55. Ebd. S. 41 f.
227
kann sie als »Tugend« definiert werden, die wiederum als Wertebündel die Gemeinschaft der Empfindsamen über Ständegrenzen hinweg integrieren kann. Das Gebot zur empfindsamen Sozialität und die flache Anthropologie bedingen einander gegenseitig. Moral und Vernunft müssen den Empfindungen den Weg weisen und begrenzen ihre Intensität zugleich; darin wird zugleich der enge Zusammenhang der Empfindsamkeit mit rationalistischen Grundaxiomen deutlich. Das Wertesystem, das bei Wieland erkennbar wird, deckt sich mit den grundlegenden Positionen der rationalistischen Aufklärung: maßvolle, »vernünftige«, sozial positive Leidenschaften, Altruismus, statische Treue, Freundschaft und Pflichtbewußtsein,95 Opferbereitschaft, Familienkult.96 Was bei Wieland hier Gestalt findet (und von den jungen Autoren heftig attackiert wird), ist als Teil einer aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzung über den >richtigen< Umgang mit Emotionalität lesbar. Bewußt wird hier der Umgang mit Emotionen, gesellschaftlichen Normierungen und Rollenentwürfen vorgeführt und reflektiert. Indem das Werk in vielen Punkten zentrale Elemente der Empfindsamkeit geradezu idealtypisch realisiert, bietet es einen Kristallisationspunkt für eine neue, ständeübergreifende und zugleich elitäre97 empfindsame Öffentlichkeit. Dafür aber wird gerade jene künstlerische Gattung usurpiert, der bisher das höchste emotive Potential zugestanden wurde: die höfische Oper. Daß dieser Zugriff möglich wird, ist jedoch kein Zufall, denn Wielands Ansatz trifft sich partiell mit einer anderen, gattungsinternen Diskussion über Oper. Einfachheit und rührende Wirkung, zentrale Prinzipien der Theatertheorie, sind seit der Jahrhundertmitte auch grundlegende (und um 1770 aktuelle) Paradigmen der Operndiskussion und -kritik, die am prägnantesten Francesco Algarotti in seinem wirkungsmächtigen Traktat >Saggio sopra l'opera in musica< entwickelt hatte;98 Gluck hatte die Thesen Algarottis gerade in seinem 95
96
97
98
Zur Prägung der sozialethischen Konzepte der Zeit durch die Pflichtenlehre des modernen Naturrechts vgl. Vollhardt 1991. Vgl. ähnlich Küster 1992, S. 3of. und Vogg 1993, S. 75ff.; anders z.B. die neueren Arbeiten von Pikulik oder Wierlacher, die einen Gegensatz von Empfindsamkeit und Rationalität konstruieren. Pikulik deutet die Empfindsamkeit als antirationalistische »Reformierung der Reform« (1981, S. 170). Vgl. dazu allg. John Mullan: Sentiment and Sociability: The Language of Feeling in the i8th Century. Oxford 1988. Ähnlichen schichtenübergreifenden und gleichzeitig elitären Charakter weisen die >Gegenöffentlichkeiten< der Geheimbünde, etwa die Freimaurer, auf; vgl. Titzmann 1990, S. 149 Anm. 21. Algarotti, der zuvor lange am Hof Friedrichs II. wirkte, publizierte seinen Traktat zuerst in Italien [o.O.] 1755. Ab II^ (in fünf Teilen in J. A. Hillers Zeitschrift >Wöchentliche Nachrichten und Anmerkungen, die Musik betreffendAIceste< (1769) aufgegriffen. Die Übereinstimmung von Dramen- und Operntheorie ist nicht verwunderlich, wenn man sich die Objekte ihrer Kritik vor Augen führt: Konkret richtet sich die Forderung nach Einfachheit im Drama (z. B. bei Lessing) gegen das klassizistische französische Trauerspiel, im Opernbereich gegen die Tradition der metastasianische Oper, die sich ihrerseits am französischen Trauerspiel orientierte. Wielands Konzeption unter dem dominanten Einfluß der zeitgenössischen empfindsamen Literatur kann hier an zahlreiche Elemente dieser internen Opernkritik anknüpfen und läßt sich über weite Strecken auch als Radikalisierung von Algarottis Ansatz verstehen; Wielands Bearbeitungsprinzipien decken sich teilweise mit den Veränderungen, die Calzabigi und Gluck an der Operntradition des Alceste-Stoffs vornahmen." Das aber wiederum belegt (neben dem direkten Einfluß, den Calzabigis/Glucks >Reformoper< möglicherweise auf Wieland ausübte), daß in diesen Tendenzen zentrale Entwicklungen der Zeit gattungsübergreifend kenntlich werden. Calzabigi tendiert weg von der Kunst der Handlungsverwicklung und -Verflechtung und hin zur Ausbreitung des Seelenlebens der Hauptdarsteller. Die spätere französische Neufassung als »Tragedie-Opera« (Paris 1776) führt diese Tendenzen noch weiter.100 Diese Änderungen, die der französische Bearbeiter du Roullet zusammen mit Gluck an Calzabigis Text vornahm, sind sicher nicht von der Weimarer >Alceste< beeinflußt. Sie belegen dennoch in ihrer Zielrichtung ähnliche Vorstellungen wie bei Wieland. Klare Gegentendenzen dazu zeigt demgegenüber die italienische
99
100
dieser Reformschrift außerhalb Italiens. Wieland zitiert Algarotti mehrfach in seinem »Versuch« (1775; s.u.). Vgl. Lindberg 1968, bes. S. 2of. (auch zu möglichen Beziehungen zwischen Algarotti und Winckelmann) und Flaherty 1978, S. 2570°. In ihrer (italienischen) Wiener >AlcesteAlcesteOpernreform< wirkte sich auf die italienische Praxis mit ihrer ungebrochenen Seria-Tradition anscheinend kaum aus. Wieland dagegen formt das höfisch-repräsentative Sujet zum empfindsamen Familienrührstück um, für das Entsagungs- und Wiederfindungsszenen charakteristisch sind. Sein Ziel ist Rührung, »herzerhöhende«103 Wirkung bei gleichzeitiger Betonung des sozial-moralischen Maßes. Dazu benötigt Wieland die Musik als konstituierenden Faktor seiner Konzeption; nicht zur funktionalen Erhöhung des festlichen, äußeren Glanzes, sondern zur Vertiefung jenes empfindsamen Innenraums und zur Verstärkung der »rührenden« Wirkung. In seiner Funktionsbestimmung der Musik greift Wieland auf zentrale Axiome der empfindsamen Musiktheorie zurück (vgl. u. Teil III) und dehnt das Sozialitäts« gebot des Textes auf die Musik aus: »alle wilden stürmischen Leidenschaften, die nicht durch Hoffnung, Furcht oder Zärtlichkeit gemildert werden, liegen außer ihrem Gebiet.«104 Sie könne den »sanften schönen Tod« der Alceste darstellen und verstärken, nicht aber »die Rasereyen, die Verzweiflung der sterbenden Kleopatra in Korneillens Rhodogune«.105 Die Musik wird in dieser Konzeption als Trägerin empfindsamer Normen eo ipso definiert.106 Dabei zeigt Wieland grundsätzlich seine Verankerung in der spezifischen Dramaturgie
101
Kurz nach der Wiener Premiere von Glucks >Alceste< wurde Calzabigi gebeten, für Mailand eine revidierte Fassung herzustellen. Calzabigis Briefwechsel mit der Mailänder Intendanz zeigt deutlich, daß er sich der Innovationen seines Librettos klar bewußt war: Er lehnte die geforderte Anpassung seines Textes an die ältere Seria-Tradition unwillig ab. Daraufhin ließ die Mailänder Intendanz Calzabigis Text durch Giuseppe Parini bearbeiten und an die ältere Tradition rückbinden. 102 Zugleich werden Calzabigis freie, meist kurze Versformen wieder ersetzt durch die gleichmäßige Strophik der Metastasio-Tradition; die Abgrenzung von Arie und Rezitativ, die Calzabigi gelockert hatte, wird dadurch wieder verstärkt. 10 * »Briefe« [wie Anm. 20], S. 405. '°4 Ebd. S. 255. '°5 Wieland 1775, S. 254^ 106 Ebd. Diese Musikästhetik verallgemeinert Wieland dann zur Grundlage von Singspielen überhaupt: Das »Grundgesetz des Schönen« verbiete generell im Singspiel z.B. die Wiedergabe »wüthende[r] Verzweiflung«. Vgl. »Briefe« [wie Anm. 20], S. 404. Derartige Thesen waren schon 1752 von C. G. Krause zurückgewiesen worden. 230
des mitteldeutschen Singspiels mit ihrer Trennung von Handlung und Musik: »Handlung kann nicht gesungen, sie muß agiert werden; je mehr Handlung also, je weniger Gesang.«107 Die neueren Entwicklungen im Bereich der Opera buffa, die Wieland in Zürich, Biberach oder Weimar kaum kennenlernen konnte, zeigen dagegen eine genau gegensätzliche Dramaturgie. Das neue Genre eines ernsthaften deutschen Singspiels als Mischung aus dramatischen und Opern-Traditionen erleichterte Wieland den Bruch mit einzelnen Gattungskonventionen. So fehlen die in der Operntradition des Stoffs nahezu unverzichtbaren, musikalisch äußerst ergiebigen Unterweltszenen. Statt Alceste auf ihrem Weg zu begleiten (wie es nahezu alle >AlcesteJagd< wurde bei der Uraufführung in Weimar ein Ballett eingelegt. 231
Konzentration auf die Empathie des Publikums gestört. Auch mit Wielands Betonung von Einfachheit, »Natürlichkeit« und innerem Zusammenhang des Werks war die Gattungstradition des integrierten Balletts schwer vereinbar. In einigen Bereichen jedoch bleibt Wieland eng dem Vorbild der Metastasio-Tradition verhaftet. Dies betrifft v. a. die sprachliche und dramaturgische Gestaltung. Wielands Sprache zeigt das Bemühen um einen >hohenαί (Kraus 1778, S. 72ff.)
reicht damit zwar eine bildhafte, gestische Kompositionsweise, aber nur selten den Aufbau gr erer plastischer Konturen. 146 Das Werk ist, wie in der Seria-Tradition blich, dominant von den SoloArien gepr gt, zu denen die Ensembles und der Chor147 kein Gegengewicht 146
147
Dabei kann es gelegentlich zu Diskrepanzen zu den Sprachstrukturen kommen, etwa in Admets Arie IV 2: Textgrundlage bildet ein einstrophiger Text, den Schweitzer gegen die Reimbindung in zwei Teile zerlegt, die v llig verschieden vertont werden (s.u.); hnlich Arie I i, Mittelstrophe. Der Chor ist auf eine einzige Szene, n mlich die Opferszene, und somit auf die Nachahmung tats chlichen, kultischen Chorgesangs festgelegt. Damit folgt Wieland der Wahrscheinlichkeitsdoktrin.
244
bilden, auch nicht das Finale V 7, das obligatorisch alle Soli vereint. Aufschlußreich sind die großen Accompagnato-Rezitative, in denen Schweitzers Musik am ehesten frei von literarischen und formalen Vorgaben und Festlegungen ist. Es liegt allein in der Entscheidung des Komponisten, ob und wann er innerhalb eines Rezitativs von der Secco- zur Accompagnato-Begleitung übergeht. Schweitzers groß ausgeführte Accompagnati zeigen deutlich, welche Textpassagen der Komponist für die wesentlichen hielt und bilden somit eine allererste Rezeptionsebene. Schweitzer hat ausgedehnte Accompagnato-Rezitative genau an denjenigen Stellen verwendet, wo Wieland am signifikantesten in den Stoff eingreift und seine rührende Wirkungsabsicht am deutlichsten exponiert: z. B. für Alcestes Abschied in II 5, Admets Unterwelts-Vision in IV 2, für Alcestes Zurückfinden aus dem Elysium in V 6 und für die Wiedererkennungsszene in V 7 (»O ihr Mächte des Olymps«). Die Schlüsselfunktion dieser Textpartien für das Wirkungskonzept Wielands wird von Schweitzer erkannt und musikalisch umgesetzt. Bemerkenswert ist das große Accompagnato-Rezitativ in Szene IV 2 (»O Jugendzeit, o goldne Wonnetage«), das von Anhängern wie Gegnern einhellig gelobt wurde.148 Hier sieht Admet in einer Vision Alcestes Überfahrt über den Styx, was offenbar bereits Wieland nach dem Muster einer »Ombra«-Szene der venezianischen Operntradition 149 konzipiert hatte: als ungewöhnlich breit angelegten, monologischen Rezitativtext mit den charakteristischen Schlüsselwörtern wie »Schatten« etc. Schweitzer stellt diesem Rezitativ (in der Ombratypischen Tonart Es-Dur und in getragenem Maesfoso-Tempo) eine ungewöhnlich lange und ausgearbeitete I5taktige Instrumentaleinleitung voran. Diese Einleitung, die zunächst scheinbar auch eine Arie eröffnen könnte, ist auf einer rein aufführungspraktischen Ebene notwendig, um den Szenenwechsel zu überbrücken; zugleich aber unterstreicht sie in ihrem ausgearbeiteten und Aufmerksamkeit erheischenden Duktus die Bedeutung des Kommenden. Sie kündigt mit den Unisono-Akkorden zu Beginn und der punktierten Fanfaren-Rhythmik ab T. 8. etwas Besonderes an und weist zugleich mit sprechend-empfindsamen Elementen (Vorhalte T. 5, Eigentlicheeigentlichen< Aussage findet. Auf Admets Phantasie von der umherirrenden Alceste antwortet im ersten Adagio-Takt (T. 38) eine instabile Achtelfigur in den Violinen: baßlos, Terz (c) und Grundton (äs) in kleinen Sekundschritten umkreisend, melodisch durch die verminderte Terz einprägsam mit klagendem Gestus versehen, absinkend über einem starren Es der Bläser und Violen, kanonisch fortgeführt (und anschließend in Sechzehntelrepetionen der Streicher unisono wiederholt). Ihr bildlicher Charakter wird durch die Wiederholung als Antwort auf Admets »A[c]h! Ich seh sie gehn!« (T. 41) betont. Die »traur'ge Majestät« von Alcestes Erscheinung (V. 10) illustriert Schweitzer dann durch einen Tempowechsel zurück zum Anfangs»Maestoso« (T. 44) und die Kadenz zur (seltenen und extremen) Tonart es-Moll (statt Es-Dur). Auch das »Erstaunen«, mit dem die »kleinen Seelen« Alceste ausweichen (V. 12), stellt Schweitzer durch ungewöhnliche harmonische Wendungen dar (T. 47: von b-Moll-Sekundakkord auf G-Dur-Septakkord). Der dritte Teil, Alcestes Fahrt über den Styx (V. 14-20, T. 53 — 77), wechselt nun völlig die Faktur: das erste schnelle Tempo in diesem Rezitativ (Allegro molto), neu einsetzende Instrumente (Fagotte), neuer Satztyp. Das siebentaktige Zwischenspiel, das diesen Teil einleitet, markiert zusätzlich die Trennung vom Bisherigen: Es könnte ebensogut die Einleitung einer Arie sein und bildet erstmals einen größeren, kohärenteren Zusammenhang.' 32 Deutlich textbezogen ist die auf- und niederlaufende Sechzehntelfigur in Fagotten und Violinen, die ab T. 56 den wehenden Schleier Alcestes malt; die gedeckte Klangfarbe von Fagotten und geteilten Violen zeigt Schweitzers Ansätze zur Charakterisierung mittels Klangfarben. Eine überraschende Rückung nach G-Dur (T. 63; eigentlich wird über die vorhergehende Kadenz Es-Dur angesteuert) führt weiter zu Admets Vision von der sich zärtlich umdrehenden Alceste; das darauf folgende, harmonisch stabile, kanonische Zwischenspiel in Es-Dur (T. 68f.) wird nach
151
152
Ähnlich setzt die Musik z.B. durch motivische Weiterspinnungen Alcestes Abschied im Accompagnato-Rezitativ II 5 über die Wort-Ebene hinaus fort. Durch durchlaufend repetierte Viertel in Baß und Violen, synkopische Verzahnungen und klavierartige »AIberti«-Bässe in den Celli, die vielleicht die Situation der Flußüberfahrt wiedergeben sollen.
247
Admets Entschluß »Ich folge dir, ich komme!« (V. 17) eine Quint tiefer in AsDur wiederholt: ein musikalisches Äquivalent der >Nachfolgegefährdet< (gemessen an den Normen der älteren Seria) die Dominanz der Singstimme — ein Vorwurf, der Schweitzer oft gemacht wurde. 156 Schweitzers harmonisches Verfahren wirkt dagegen sorgfältig und überlegt: v. a. die Verwendung von Es-Dur und As-Dur (Es-Dur als Ausgangstonart des Rezitativs, die zur Dominante umgedeutet wird, als die Unterweltsvision beginnt, ebenso wie vor der Arie selbst, ab T. 68, erneut ab T. 81, so daß die Es-Dur-Teile die Funktion von Einleitungen erhalten) im Rezitativ zeigt, daß Schweitzer im Harmonischen durchaus größeren Raum zu schaffen vermochte,' 57 auch wenn meist überwiegend kurzgliedrige dominantische Relationen überwiegen. Ein Großteil der in den primären Rezeptionsbelegen beschriebenen »rührenden« Wirkung verdankt sich dieser harmonischen Ebene des Werks,'58 weniger aber melodischen Qualitäten. Ein Aufbau übergreifender Tonart-Zusammenhänge über einzelne Arien hinaus fehlt völlig; ebenso unternimmt Schweitzer kaum 159 Versuche, größere Szenenkomplexe oder Zusammenhänge über einzelne »Nummern« hinaus aufzubauen. Grundsätzlich setzt Schweitzer auch in Secco-Rezitativen dann kurze Accompagnati ein, wenn der Rezitativtext bildhafte Qualitäten annimmt (z.B. in I 2, wenn Parthenia die »schwarze Hand« des Atropos sich ausstrecken sieht, oder in III i, wenn der ankommende Herkules auf Admets Diener stößt). In diesen Passagen wird der abbildende Duktus von Schweitzers Musik besonders deutlich: Die herausgreifende schwarze Hand des Atropos kennzeichnet ein Streichertremolo, das aus seiner Secco-Rezitativ-Umgebung plastisch herausgreift,' 60 während Herkules' Bemerkung, daß der Diener ihn fliehe, durch Läufe der Streicher akustisch illustriert wird.' 6 ' 155
156 157
158
159
160
Vgl. Mozarts Bemerkung »[ ] die singstimme ist aber alia schweizer als wenn die hund bellen wollten; [ ] ja unglücklich der sänger oder die Sängerin die in die bände des Schweizers fallt; dann der wird sein lebetag das singbare schreiben nicht lernen!« (Brief vom 11.9.1778; MBA 2, S. 477). Vgl. Maurer 1912, S. 56. Sehr interessant ist dabei, daß Schweitzer den Raum zwischen dem Es-Dur des Rezitativs und dem As-Dur der Arie großräumig durch einen vollständigen, jeweils über Kadenzen befestigten chromatischen Baß-Anstieg ausfüllt: Es-Dur - e-Moll (T. 27ff.) f-Moll (T. 3off.) - ges (als Sextakkord von es-Moll; T. 44) - g-Moll (T. 78) - As-Dur (T. 88). Der Zeitgenosse Dreßler spricht etwa bei Admets Arie vom »tödtenden Sturme des harmonischen Ausdrucks« (1777, S. 188). Eine Ausnahme bildet die Arie des Herkules III 4, deren Motivik partiell im V. Akt zur Ankündigung seiner Rückkehr verwendet wird. Der Zeitgenosse Kraus verweist sogar auf die Tradition der »Augenmusik«, indem er in den »schwarzen Noten«, die in der Partitur das Tremolo graphisch darstellen, eine Umsetzung der schwarzen Hand erblickt (vgl. Kraus 1778, S. 65). Vgl. allg. zu derartigen Verfahren meinen Art. »Color«. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2. Tübingen 1994, Sp. 28off. 249
Ähnlich geht Schweitzer auch in den Arien vor. Stereotyp und etwas pauschal verwendete Gestaltungsmittel sind dabei: Synkopen (vgl. die >Gewittermusik< in Alcestes Arie I i), dynamische Mittel (Crescendi, überraschende fpp-Wechsel), Sechzehntelläufe (»Donner«, »Wind«), Chromatik (»Angst«, Übernatürliches; vgl. Mittelstrophe I 2), große Sprünge, semantisierte Pausen (»ängstlich«, I i), Bogenvibrato (»Thränen« Mittelteil IV i). Schweizers kompositorisches Verfahren läßt sich als Zusammenfügung von Einzelteilen durch Nutzung semantisierter oder semantisierbarer Elemente des musikalischen Satzes charakterisieren. Nur äußerst selten kommt es zu Ansätzen einer Entwicklung großräumiger Zusammenhänge. Im Vergleich zu Holzbauer oder Mozart komponiert Schweitzer überwiegend kleinteilig am Text entlang. Sein Verfahren geht von einzelnen bildhaften und stimmungstragenden Elementen des Textes aus; diese werden mittels verschiedener tradierter Semantiken abgebildet, wobei die Deutlichkeit der Wiedergabe unterschiedlich ist. Schweitzer komponiert weitgehend einen musikalischen Bilderbogen, ohne strukturelle, autonom musikalische Entsprechungen aufzubauen.162 (Ein Gegenbeispiel stellt z.B. die unten [II.8] besprochene Tamino-Arie aus der >Zauberflöte< dar.) Zu welchen dramaturgischen Sinnverstößen dieses Verfahren führen kann, wenn es sich verselbständigt, zeigt u.a. die Arie des Herkules (III i): Schweitzer greift die bildhaften Textelemente »weiche Ruh« und »Amors süßen Schmerz« auf und entwickelt aus ihnen den Grundaffekt der Arie. Eben diese Textelemente sind es aber, die Herkules inhaltlich gerade ablehnt: »O du, für die ich weicher Ruh/ Und Amors süßem Scherz entsage,/ [ ] O Tugend!«. Hier und an ähnlichen Stellen103 zeigen sich die Probleme, die aus der engen Bindung an einzelne Textsegmente resultieren, ein Grundproblem jedes tonmalenden Ansatzes überhaupt. Mit seiner abbildenden Grundhaltung kommt Schweitzer außerdem dann in Schwierigkeiten, wenn es Außergewöhnliches wiederzugeben gilt. So berichtet Wieland in einem Gespräch mit Böttiger von Schweitzers Schwierigkeiten mit der Stelle »Noch athmet mir aus ewig blühenden Gefilden/ der Geist der Unvergänglichkeit entgegen« (in Alcestes Rückblick auf das Elysium V 6). Für das Wort »Unvergänglichkeit« fand Schweitzer lange keine musikalischen Äquivalente.104 Schließlich löste er dieses Problem bezeichnen161
162
163
164
Ähnliches findet sich gesteigert in Holzbauers >Günther von Schwarzburg< wieder, vgl. u. 11.5. Auch dies wird schon in der frühen Kritik moniert. So schreibt Reichardt in seiner ADB-Kritik (vgl. Anm. 6, S. 329), Schweitzer vertone den Text Stück für Stück, ohne Rücksicht auf den Gesamtzusammenhang. Ähnliches kritisiert schon Kraus am Beispiel der ersten Alceste-Arie in l 2 (vgl. Kraus 1778, S. 66): Schweitzer habe hier zu sehr die Bildwelt der »furchtbare[n] Schatten« zum Zentralaffekt der Arie gemacht, obwohl es doch um die Opferbereitschaft Alcestes gehe. Zit. bei Starnes 1987 Bd. II, S. 686f.
250
derweise wiederum auf der harmonischen Ebene: mit einer Rückung von Bnach H-Dur.l65 4.4. Musikalische Dramaturgie als abbildendes Verfahren Schweitzers kompositorisches Verfahren geht somit nicht von dramatisch-szenischen Strukturen aus, sondern von einzelnen Textsegmenten und den darin fixierten gestischen Bewegungsvorstellungen.166 Schweitzer folgt damit einer älteren Nachahmungsästhetik, die die Musik auf die bildhafte Umsetzung von Affekten und auf die Nachahmung real vorgestellter Bewegungsabläufe festlegt. Genau diese Nachahmungsästhetik aber, deren Wurzeln möglicherweise bis in die protestantische Figurenlehre des 16./17. Jahrhunderts zurückreichen, wird im späten 18. Jahrhundert zunehmend als veraltet empfunden und schon kurze Zeit später in den ästhetischen Kompendien rückhaltlos verurteilt. 107 Der jüngere J. M. Kraus bringt dies in seiner kritischen Besprechung der >Alceste< auf den Punkt: ich bin den kleinen Wortgemälden von Herzen feind, dazu, wenn sie am unrechten Orte stehen, sind sie im Stande, mich aus der Empfindung herauszujagen. Parthenia sagt: sie bebt — hintennach ahmt der Grundbaß das Beben nach: Wie abgeschmackt! Muß denn der Komponist so hungrig alles aufschnappen, wo er ein Gedänklein anbringen kann? [] Sich aus eigner Kraft in eine neugedachte Leidenschaft schnell hineinzufühlen, ist seine [Schweitzers, J. K.] Sache nicht und — nehmt ihm seine kleinen Bilderchen, derer er in jeder Arie ein halb Duzend auf die Schau stellt — nehmt sie ihm: so ist er nackt.168
Für die neue Ästhetik, die Kraus vertritt, stellt die originale, subjektive Empfindung den zentralen Wert dar, dergegenüber das ältere Verfahren als »abgeschmackte« Schematisierung und Störung der Empfindung definiert wird (vgl. u. m.3). Auch in Schweitzers Festhalten an kontrapunktischen Elementen zeigt sich ein um 1770 zunehmend als >veraltet< geltender Zug, der der empfindsamen Ästhetik Wielands wenig entspricht. So kritisiert angesichts der Münchner >A1cesteLila< (Weimar 1777) ähnlich vor; vgl. u. 11.7. Vgl. Sulzer 1792/94, Art. »Mahlerey. (Redende Künste; Musik)« Bd. 3, S. 356f.: »Der Tonsetzer muß sich schlechterdings dergleichen Kindereyen enthalten, es sey denn, da wo er würklich poßirlich seyn muß; er muß bedenken, daß die Musik weder für den Verstand, noch für die Einbildungskraft, sondern blos für das Herz arbeitet.« (Vgl. a. ebd. Art. »Gemähide« Bd. 2 S. 357). Kraus 1778, S. 6 5 f. 251
monisches Ganzes aus []. Es herrscht oft so viel Kunst darin, die Gedanken sind zu gedrängt, welches die schöne Einfalt der Natur an manchen Orten entstellt.« Im musikästhetischen Diskurs der Zeit steht »Kunst« für die »pedantische«, barocke Kontrapunktik, »Natur« dagegen für die aktuelle, meist liedhafte Homophonie.'69 Selbst Ignaz Holzbauer, der sich für Schweitzers Musik einsetzte, kritisierte (an Schweitzers >RosamundeAlceste< zu Ende geht.
5. >AlcesteAlceste< am Hoftheater aufführen, glaubt selbst Wieland zunächst, Klein verwechsle die Oper mit der Glucks (ebd. S. 126). Das Alt-Wiener Volkstheater repräsentiert dramaturgisch einen Gesellschaftsausschnitt, bei dem offenbar die sozialen Grundlagen für kleinfamiliale Empfindsamkeit nicht gegeben sind (z.B. Trennung von Wohnraum und Werkstätte, von Familie und Produktion usw.); vgl. Scheit 1995, S. io6f. 253
»Bürgertum«, sondern innerhalb beider Gruppen.176 Für die erfolgreiche Konstituierung und Homogenisierung dieser neuen Art von ständeübergreifender, zugleich elitärer Teil-Gesellschaft sind im Falle der >Alceste< gerade die abstrakt-normierenden Züge des Werks und die Rolle der Musik wesentlich. Die Gattung des Singspiels erhält somit zumindest zeitweise eine Bedeutung für die Entwicklung und Verbreitung empfindsamer Kultur, die in der Forschung bisher nahezu ausschließlich dem Roman als Träger der »Empfindsamkeit« zugesprochen wurde. 177 Dieser Befund wird durch die Vielzahl der Parodien, Satiren und Persiflagen auf >Alceste< bestätigt. Bis zur >Zauberflöte< wurde kaum ein anderes deutsches Musiktheaterwerk der Zeit derartig oft parodiert. Dies belegt noch einmal, daß dieses Werk als Musterwerk der Empfindsamkeit begriffen wurde. Neben der stände- und konfessionsübergreifenden Rezeption und der breiten geographischen Streuung kommt dabei in den Parodien noch ein weiterer Gesichtspunkt ins Spiel: die generationenübergreifende Rezeption. Weil Wieland in >Alceste< die empfindsamen Grundmuster so klar ausprägte und damit eine Meinungsführerschaft im empfindsamen Diskurs beanspruchte, löste das Werk innerhalb der empfindsamen Öffentlichkeit heftige Diskussionen aus, in denen es von mehreren Seiten aus in die Kritik geriet: Schon am Weimarer Hof selbst bekam Wieland das Weiterwirken älterer absolutistischer Positionen zu spüren (v. Einsiedel); andere Attacken kamen von Autoren einer älteren Aufklärung, denen Wielands Empfindsamkeit zu weit ging (Bodmer), von einem katholischen Klassizismus (Ayrenhoff) ebenso wie aus dem Hainbund (Contius), schließlich von den jungen >Sturm-und-Drangdes< Bürgertums gegen >den< Adel begriffen werden (wie bei Georg Lukäcs oder Arnold Hauser) noch als Ausdruck der Resignation des politisch unmündigen Bürgertums (wie bei Peter Szondi oder Wolf Lepenies). Vgl. z.B. Jäger 1969, Wegmann 1984. Ähnlich, wenngleich über die empfindsame Diskussion weit hinausgehend, Schings 1973, S. 34.
254
denen Wielands flache Gefühlskonzeption nicht individuell genug erschien (Goethe). (Einige dieser Parodien behalten weder die stofflichen noch die formalen Elemente der Vorlage bei, sondern beschränken sich meist auf einige wenige Aspekte daraus oder zielen anhand der >Akeste< auf ganz Anderes. Die Parodien von Goethe, Einsiedel und Bodmer waren zudem nicht zur Veröffentlichung bestimmt.) Bodmer178 kritisiert Wielands Werk aus einer spätaufklärerischen Perspektive. Er läßt Szenen aus >Alceste< als Spiel im Spiel vor einer Riege von Zuschauern aufführen und konzentriert sich, wie später Tieck im >Gestiefelten KaterAlcesteHistoire poetique de la Guerre [ ] entre les Anciens et les modernes< von Francois Des Callieres (Paris 1688). Dort findet sich im n.Buch eine Satire auf Lullys Opern, deren Struktur zentral mit Goethes Farce übereinstimmt. In beiden Texten, die dem Lukianischen Modell folgen, beschweren sich altgriechische Halbgötter bzw. Dichter (Orpheus, Amphion, Arion bzw. Euripides, Herkules) im Jenseits über ihre falsche Darstellung auf der Opernbühne; in beiden Texten treten menschliche Informatoren auf (ein italienischer Musiker bzw. ein »Litterator«); in beiden Texten erscheint der Gescholtene (Lully bzw. Wieland) und läuft nach kurzem Disput weg bzw. wacht auf (die Traum-Einkleidung findet sich nur bei Goethe und rekurriert auf andere Modelle). Die Goethe-Forschung hat den Nimbus des stürmerischen Original-Genies bis heute für bare Münze genommen, statt die Verankerung Goethes in der Literatur des frühen 18. Jahrhunderts zu überprüfen. Ein möglicher Vermittler zwischen beiden Texten könnte (ausgerechnet) Gottsched gewesen sein, der in seiner >Critischen Dichtkunst ausführlich auf Des Callieres' Satire hinweist. r8i Goethe geht es hauptsächlich um die Kritik an Wielands Selbstinszenierungsstrategien und um seine falsche »Verbesserung« des Euripides. V.a. Wielands tugendsamer Herkules wird als völlig verzeichnete Figur ohne Kraft an181
[Goethe:] Götter Helden und Wieland. Eine Farce. Auf Subscription. Leipzig 1774. Vgl. dazu Fues 1989 sowie Georges Favier: La Cithare desacordee. Goethe, Euripides et Wieland. In: La texte et l'idee 5 (1990), S. 53-92. K. A. Böttiger berichtet 1796 aus einem Gespräch mit Wieland von einer weiteren Parodie Goethes (>Die geflickte BrautAdmetus Haus. Der Tausch des Schicksals«, 1802/03 (SW XXVIII, S. 369-398). Der späte Herder weicht dabei merkwürdigerweise gar nicht so weit von Wielands Entwurf ab; auch Herder stellt ausschließlich Alcestes Opfer ins Zentrum. Die Lösung geschieht nicht über Herkules, sondern allein durch die Anerkennung der Opferbereitschaft seitens der Götter. [Christian Gotthold C. Contius (1750-1816):] Wieland und seine Abonnenten. Ein musikalisches Drama halb in Reimverslein, halb in ungebundner Rede gestellt. Mit Erlaubnis der Obern. Weimar, Auf Kosten der Gesellschaft. 1775. Vgl. Poitzsch 1972, S. I 2 i — 127. Vgl. Poitzsch 1972, S. I28ff.; C. H. Burkhardt: Alceste. In: Die Grenzboten 1873, II, Sem. i, S. 14; Maurer 1912, S.
257
die auch die musikalische Ebene einbezieht.187 Wielands hoher Sprachstil und sein empfindsames Pathos werden durch ein betont unernstes Werk voller sprachlicher Derbheiten und Klamauk gebrochen; die Parallelen zu Goethes Farce sind mehr als zufällig. Damit wird aber zugleich der exemplarische Anspruch der >Alceste< unterhöhlt, deren Ruhm um 1779 bereits im Sinken begriffen war. Wenn etwa die Abschiedsarie der sterbenden Alceste II 5 mit einem obligaten Posthorn begleitet wird, wird die auf Rührung des Publikums angelegte Wirkungsstrategie Wielands geradezu hämisch gebrochen.108 >Alceste< wird von ihrem Sockel geholt; das Werk wird via Parodie zurückgebettet in die Sphäre höfischer Unterhaltung alten Stils, für die in diesem Fall Wieland als konkretes Opfer des Spotts herhalten mußte. Im Tagebuch Riemers heißt es lapidar: »Serenissimus sehr guten Humors, sprach viel von Knittelversen, die Goethe und Einsiedel gemacht, womit sie Wieland geärgert.«189 Am Anspruch der >Alceste< als Schlüsselwerk der Empfindsamkeit macht sich auch die fast zehn Jahre nach der Uraufführung erschienene Parodie des katholischen Offiziers Cornelius von Ayrenhoff fest, die gerade die behauptete »Moral« des Werks leugnet. Ayrenhoff stellt Wielands Stück umgekehrt als Gefährdung von sozialer und religiöser Ordnung hin. Er setzt am Opferentschluß Alcestes an, der oben als zentrales Element des empfindsamen Diskurses dargestellt wurde. Genau diese Stilisierung der Verzichts- und Opferbereitschaft zur nachahmenswerten empfindsamen Tugend weist Ayrenhoff als sozial gefährlich zurück. Alcestes Opfer sei eine »abscheuliche Tat, die im Grunde ein offenbarer Selbstmord« sei, die aber von Wieland »mit so reizenden Farben der Tugend« geschildert werde, »daß Christen beim Anblick des Gemäldes beinahe in Versuchung geraten, sie zu billigen, und viele tausend christlichen Weiber selbst wünschen, in die Umstände der Alceste versetzt zu werden, blos um durch ähnliche Selbstmorde die Stärke ihrer ehelichen Liebe beweisen zu können.«' 90 Ayrenhoff schließt ironisch den empfindsamen Diskurs mit der Lebenspraxis kurz und zeigt so auf wunde Punkte der empfindsamen Ideologie: 187
Vgl. dazu K. Freiherr von Lyncker: Am Weimarischen Hofe unter Amalien und Karl August. Berlin 1912, S. yif.; Vogel 1995, S. 454ff. 188 Während Wieland auf Goethes Parodie souverän reagierte hatte, zeigte sein Verhalten nun, daß er sich ausgesprochen getroffen fühlte: »Wieland, welcher sich unter den Zuschauern befand, schrie, nachdem er lange genug seinen Unwillen bei dem Akkompagnement der rührendsten Aria mit dem Posthorn zurückgehalten hatte, endlich laut auf und war so aufgeregt, daß er Schmähworte aussprach und den Saal verließ, während die anwesenden Herrschaften lachten [].« (Lyncker 1912, S. 71). 189 22.1.1826; zit. n. Starnes 1987, Bd. I, S. 665. 190 Cornelius von Ayrenhoff: Alceste. Ein Lustspiel des Aristophanes, aus dem Griechischen übersetzt. Leipzig 1782 (zit. nach: Cornelius von Ayrenhoffs [] sämmtliche Werke. Wien/Leipzig 1789, Bd. 3, S. 261-330; hier S. 264^). Ayrenhoffs Parodie scheint nie aufgeführt worden zu sein; der Text ist deutlich als Lesetext konzipiert (mit zahlreichen Fußnoten). 258
die Differenz zur Lebenspraxis bei gleichzeitig behaupteter Allgemeingültigkeit. Ayrenhoff fingiert augenzwinkernd ein »vor einigen Jahren aus den Ruinen von Pompeji hervorgezogene [s], in Deutschland noch wenig bekannte[s]« Lustspiel von Aristophanes, das er nur übersetzt habe, und bemüht sich, Wieland und Calzabigi zugleich durch wörtliche Zitate spöttisch als fehlerhafte Plagiatoren dieses »Aristophanes« zu brandmarken. In der Vorbemerkung wendet er sich ironisch gegen das »abgeschmackte und gefährliche Märchen von der Königinn Alceste [ ], welches man seit einigen Jahren so unzählige male, auf allen Schaubühnen, in allen Sprachen, mit und ohne Gesang vorgestellet hat.« (S. 263) Seine Travestie zeigt in ihrer Drastik die ganze Verachtung, die der katholische Klassizist für die mitteldeutsche Empfindsamkeit übrig hat: Aus dem rührenden Familienstück Wielands mit seinen Tränenströmen wird eine derb-diesseitige Burleske. Ayrenhoff unterläuft und bricht das empfindsame Pathos, indem er die Handlung sexualisiert: Die Krankheit Admets erklärt der königliche Leibarzt als Syphilis, die Admet sich bei einer Nebenbuhlerin Alcestes geholt habe; Alceste wiederum hat ein Verhältnis mit dem Oberpriester, ihr Sohn ist Produkt des Seitensprungs; Herkules und Apoll sind ihrerseits hinter Alceste her und motivieren dadurch ihr Eingreifen. Das Orakel wie das Opfer Alcestes sind abgekartete Inszenierungen, um Alceste und Herkules Gelegenheit zur Liebe zu verschaffen. Die Pointe dieser Strategie zielt darauf, Wielands pathetische Inthronisierung Alcestes als ideologisches Manöver hinzustellen: Die »späteste Nachwelt« werde Alceste für dieses Schäferstündchen »als ein Beyspiel ehelicher Liebe auf allen Schaubühnen auftreten« lassen, »und die eitelsten Fürstinnen werden sich's zur Ehre rechnen, sich von den poetischen Schmeichlern« mir ihr vergleichen zu lassen.'91 Admet wiederum verspricht noch vor Alcestes >Tod< ihrer Nebenbuhlerin Conimona die Ehe (S. 304). Der Satz Alcestes »Admet, ich kenne deine Liebe ganz [ ]; mein eignes Herz ist mir Bürge für das Deinige« (S. 288) erhält so, genüßlich von v. Ayrenhoff aus Wielands Text zitiert, genau gegenteiligen Sinn wie bei Wieland. Die Empfindsamkeiten und Zärtlichkeiten Wielands werden bei v. Ayrenhoff unbarmherzig zu bloßen albernen Maskeraden des Begehrens, Wielands Stück zum Betrugsmanöver.'92 All diese Parodien und Angriffe von verschiedensten Seiten zeigen, daß Wielands Werk als Kristallisationspunkt öffentlicher Debatten eine Zeitlang die Diskurse bündelt. Die von Wieland wirkungsvoll ausgeprägte Diskursforma191
Ebd. S. 279; vgl. a. S. 330.
192
Auch die hohe Sprachform Wielands karikiert v. Ayrenhoff (z.B. in folgendem verdrehten Zitat - Alceste zu Admet: »Wie! solltest du dich weigern können, Die du so liebst, der Quaal dich zu verlieren, der schrecklichsten der Quaalen zu entziehen?«, S. 288; vgl. Wieland S. 23) ebenso wie die Trä'iu-nströme (Herkules zu Admet: »Hemme diesen Thränenstrom; er wirkt zu sehr auf mein Herz!«, S. 296) usw. 259
tion, in der das neukonzipierte Musiktheater zum Schnittpunkt wechselseitiger Assimilationen höfischer und empfindsamer Axiome wird, bleibt in der Folge von Bedeutung für die weitere Entwicklung des deutschsprachigen Genres. Erst als die Empfindsamkeit ihre diskursbestimmende Kraft in den lygoer Jahren verliert, bricht auch die Rezeption des Werks ab. Die sich jetzt endgültig vollziehende Transformation des empfindsamen Systems läßt das frühere Musterwerk mit seinen standardisierten Gefühlsebenen veraltet erscheinen. Zusätzlich kommt hinzu, daß gerade die musikalische Ebene des Werks, die maßgeblich zu seinem Erfolg beitrug, aber eigentlich schon zur Entstehungszeit rückständig orientiert war, nach der Etablierung eines neuen Typs von Musiktheater auch im deutschen Bereich (Mozarts deutsche Opern) musikdramaturgisch hoffnungslos veraltet erschien. Das Werk verlor auch von dieser Seite her seine Wirkungskraft, ohne sie je wieder von einem tugendhaften Herkules verliehen zu erhalten.
260
3- Höfischer Shakespeare? Herders >Brutus< (1772-1774)
Das Wort Freiheit klingt so schön, daß man es nicht entbehren könnte, und wenn ei einen Irrtum bezeichnete, (Goethe, Dichtung und Wahrheit)
Wielands >Alceste< vermittelt empfindsamen Diskurs und höfische Traditionen; das Werk zielt dabei auf die Ablösung der höfischen italienischen Oper (als der immer noch höchstrangigen Kulturform) durch eine neue, deutsche Hoftheaterkultur. Einen ähnlich gerichteten, allerdings viel radikaleren Versuch stellt Herders frühes >BrutusBrutus< bietet einen in seiner Zeit singulären, eigenständigen und unkonventionellen Entwurf; es ist ein Text, der sowohl von den Traditionen und Normen der Opernlibrettistik abweicht als auch einen völlig neuartigen Ansatz im Verhältnis von Text und Musik ausprobiert. Obwohl dieses Werk keine nennenswerte Wirkung auslöste, ist es doch als Beleg für die Vielfalt der Ansätze im zeitgenössischen Musiktheater von hohem Interesse. Herders Entwurf zeigt implizit auch die Grenzen der empfindsamen Ästhetik Wielands oder Weißes, indem er Kategorien ins deutsche Musiktheater einzubringen versucht, die diesem bislang fremd waren und die aus einer ganz anderen Dramatik gespeist werden: vom Shakespeare-Drama. Daß der >BrutusBrutusBrutus< gar nicht, so daß immer noch der von Carl Redlich herausgegebene Band in Suphans historisch-kritischer Ausgabe (trotz ihrer Probleme) die beste Quellenbasis bietet. Redlich druckt fünf verschiedene Fassungen ab. Von einer ältesten Fassung ist nur der Schluß erhalten (ab Szene II 3; abgedruckt in SW XXVIII, S. 21-27; 'm folgenden als A bezeichnet). Die älteste komplette Reinschrift dagegen stammt vom Mai 1772 (B, abgedruckt ebd., S. 11—27, wobei Redlich einige Passagen ab S. 26, Z. 10, nach ergänzte und Herders spätere Korrekturen emendierte). Eine spätere Reinschrift (C, Dezember 1772) weist eine völlige Umgestaltung der beiden ersten Szenen auf (abgedruckt ebd., Anmerkungen). Die publizierte Druckfassung (D), die der Vertonung Bachs zugrunde lag, erschien im März 1774 ohne Autornennung, wobei die Verse generell verkürzt wurden und die Szene III i durch eine neue Szene Brutus-Porcia nach Plutarch ersetzt wurde (Brutus. Ein Drama zur Musik. In Musik gesetzt von dem Concertmeister Bach zu Bückeburg. O. O. [Bückeburg] 1774; ab-
261
von Johann Christoph Friedrich Bach bereits vertonte und aufgeführte Werk.2 Und noch nach dieser letzten Überarbeitung zeigt Herders Versuch, Gluck für eine neue Vertonung des Werks zu gewinnen (s.u.), daß ihn das Projekt weiterbeschäftigte. Auch die zahlreichen anderen Entwürfe Herders für »Dramen mit Musik« zeigen seine lebenslange Faszination durch das Genre Musiktheater,3 die sich auch in der Vielfalt seiner theoretischen Ansätze dazu spiegelt (s. Teil III). Von der Forschung wurden alle diese Werke bislang ignoriert.4 Das vorhandene, populäre deutsche Musiktheater interessierte Herder dabei überhaupt nicht, weder theoretisch noch praktisch. >Brutus< macht deutlich, wo der eigentliche Bezugspunkt Herders liegt: in der metastasianischen Opera seria. Vor allem in zwei Punkten weicht Herder jedoch auffällig von dieser ab: in der Stoffkonstitution und im Verhältnis von Text und Musik. Beides legt nahe, daß es Herder hier um nichts Geringeres ging als um einen alternativen Entwurf zur im Kultursystem der Zeit noch immer höchstrang igen Opera seria.
2
3
4
gedr. SW XXVIII, S. 52-68). Nach den Aufführungen strich Herder die beiden Anfangsszenen erneut und schrieb eine neue Porcia-Szene (£; abgedr. ebd.). (Zwei weitere Fassungen, die Redlich nicht edierte, liegen zwischen B und C sowie zwischen C und D.) - Zur Handschriftensituation (sowie zu Defiziten der Redlich-Ausgabe) vgl. Otto Müller: Handschriftliches zur Geschichte und Textgestaltung von Herders »Brutus« und der Übersetzung der Vorrede von Sadis »Rosenthal«. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen u. Literaturen Jg. 63 (1909) Bd. 122, H. 1/2, S. 1-26. Müller weist daraufhin, daß Herders Reinschrift des Librettos, die er 1774 dem Grafen Wilhelm von Schaumburg-Lippe zum Geburtstag präsentierte und die der Druckfassung D zugrunde liegt, in den Szenen III 2 und 3 noch eine ältere Stufe dieser Szenen enthält, die somit zwischen den Fassungen C und D liegt (Abdruck ebd. S. 9f.). Die Drucklegung (D) geschah offensichtlich ohne Zutun und Korrekturen Herders; der Druck enthält daher auch zahlreiche Abweichungen von Herders Handschrift, die Müller im Detail aufführt. Die Vertonung von Bach, dem Sohn Johann Sebastian Bachs, »Concert-Meister« und Leiter der Bückeburger Hofkapelle, ist nicht erhalten; vgl. Georg Schünemann: Johann Christoph Friedrich Bach. In: Bach-Jb. n (1914), S. 45-165, bes. S. 97. Neben den in SW enthaltenen Werken (u.a. >Philoktetes, Scenen mit GesangAriadne liberaDer entfesselte Prometheuse Drama mit Musik, 1802 [z.T. vertont durch Franz Liszt, 1850]; >Admetus Haus. Der Tausch des Schicksals. Ein Drama mit GesängenAlcestisMelusine. Eine Zauberoper< [ca. 1769]; >Sokrates< [ca. 1774]) sowie ein offenbar abgeschlossenes, aber nicht endkorrigiertes Libretto (>Tod der Naemi. Ein musikalisches Drama< [1793—1796, möglicherweise angeregt von Jakob Bälde]). Mit der Ausnahme des verdienstvollen, aber sehr kurzen Überblick von Kirby 1962 und einem kurzen Kommentar bei Wolfgang Stellmacher: Herders Shakespeare-Bild. Shakespeare-Rezeption im Sturm und Drang: dynamisches Weltbild und bürgerliches Nationaldrama. Berlin [Ost] 1978.
262
i. Stoffwahl und -konstitution Herders >Brutus< entstand in Bückeburg, wo Herder seit April 1771 als Hofprediger und Konsistorialrat wirkte. Der Bückeburger Hof zeigt die typische, repräsentative Funktionalisierung höfischer Kultur an den kleinen Residenzen des mittleren 18. Jahrhunderts. Der in London geborene, international ausgebildete und tätige Graf Wilhelm, ein typischer Vertreter aristokratischer Kulturpflege, betätigte sich selbst musikalisch und hatte eine ausgesprochene Vorliebe für die italienische Kultur 5 und Musik. Er baute u.a. die Bückeburger Hofkapelle nach italienischem Muster aus;6 sie zählte nach 1750 zu den besseren deutschen Hofkapellen. Daß Herder für seinen >Brutus< einen Stoff aus der römischen Antike wählte, erscheint daher zunächst alles andere als ungewöhnlich; gerade Metastasios Wendung gegen die mythologischen Stoffe der älteren Oper beruht immer wieder auf historischen Stoffen aus der Antike, zwar bevorzugt griechischen, aber auch einigen römischen (z.B. >Catone in UticaAdriano in SiriaLa Clemenza di TitoJulius Caesar< zurück. Dies bedeutet, daß Herder einen Stoff aufgreift, der auf den ersten Blick durchaus mit den Traditionen der metastasianischen Seria vereinbar erscheinen könnte, diesen aber in bewußtem Gegensatz zur klassizistischen Tradition nach dem als >regellos< geltenden Shakespeare-Drama gestaltet: ein Paradigmenwechsel mit erheblichen Implikationen. Das Werk zeigt eine eigenartige Überlagerung von Strukturelementen der metastasianischen Opera seria mit dem Shakespeare-Drama, für die es keine Parallelen in der deutschen Librettistik des 18. Jahrhunderts gibt. i.i. Shakespeare Herders Libretto folgt Shakespeares >Julius Caesar*7 eng. Der Handlungsablauf und einige markante Elemente des Dramas bleiben weitgehend erhalten. Den 5
7
So war der Graf etwa Auftraggeber des Bildes >Der sterbende Hyazinth< (nach Ovid) von Giovanni Battista Tiepolo, und zwar in Venedig ca. 1752/53; vgl. Peter O. Krückmann (Hg.): Der Himmel auf Erden. Tiepolo in Würzburg. [Ausstellungskatalog] München/New York 1996, Bd. i, S. 138. Wilhelm verpflichtet z.B. italienische Konzertmeister und ließ überwiegend italienisches Repertoire spielen und anschaffen; vgl. Willi Schramm: Art. »Bückeburg«. In: MGG 2 (1952), Sp. 427ff. >Julius Caesar< war in Deutschland (neben den Versionen der Wanderbühnen) 1741 von Borck, 1762—1766 von Wieland übersetzt worden; diese Übersetzung wurde 1766 von Gerstenberg kritisiert, wogegen sich Herder in seinem >ShakespearOriginal-Genies< erschüttert; vgl. u. Teil III.) Herders Werk wirkt wie ein Versuch, die Spitze der europäischen Hofkultur, das Opernmodell Metastasios mit dessen künstlerischen Errungenschaften beizubehalten, zugleich aber die Inhalte auszutauschen und sich damit gewissermaßen als der bessere, zeitgerechte Metastasio zu profilieren.
8
9
Herder: Shakespear (i. Fassung 1771/1773, HW 2, S. 522-549; 2. Fassung in: Von deutscher Art und Kunst 1773, HW 2, 8.498 — 521); Goethe: Zum Schäkespears Tag. In: MA 1.2, S. 411 -414. Und nicht ohne Grund: Metastasios 27 Libretti wurden im 18. Jahrhundert insgesamt ca. 1200 Mal vertont, jedes durchschnittlich 40- bis 5omal (nach Helga Lühning: Art. »Arie/i8. Jahrhundert«. In: MGG2 i (1994), Sp. 819; eine Übersicht über die nachweisbaren Vertonungen findet sich bei Don Neville: Art. »Metastasio«. In: NGO 3 (1992), S. 351 — 361, hier S. 355ff.). Zur Aufführungspraxis der Metastasio-Werke am Kaiserhof und ihrer Funktion im Geflecht der höfischen Gesellschaft vgl. Horst Bosch: Die Opernaufführungen des Abate Pietro Metastasio am Wiener Kaiserhof nach Zeugnissen aus seinen Briefen. Diss. Wien 1967. 265
Auf die bewußte Anlehnung an Metastasio weist schon die Gattungsbezeichnung des Drucks D (1774) hin: »Ein Drama zur Musik« - dies entspricht der üblichen Gattungsbezeichnung von Metastasios Librettodrucken (»dramma per musica«).10 Strukturelemente der metastasianischen Tradition prägen das Libretto Herders deutlich. Die Figurenanzahl Shakespeares ist erheblich reduziert; an die Stelle der rund 40 Einzelpersonen setzt Herder in B ganze vier Personen,11 von denen zwei nur marginale Bühnenpräsenz haben (Cäsar und Antonius); hinzukommen »Stimmen« von oben, eine Geistererscheinung, der Chor der Verschwörer und das Volk. Ab Fassung D wird mit der Figur der Porcia eine weibliche Partie hinzugefügt; sie übernimmt gegenüber Brutus eine ähnliche Confidente-Funkt'ion12 wie Cassius, so daß dieser in der letzten Fassung (E) eliminiert werden kann. Aus dem fünfaktigen Drama Shakespeares wird so in gut metastasianischer Tradition ein dreiaktiges Libretto, das auf drei geschlossene Situationen zusammengezogen ist: die Gewitternacht vor Cäsars Ermordung (I), die Mordszene sowie die Reden von Brutus und Antonius (II), Brutus' Tod (III).I? Die einzelnen Szenen bestehen in der Regel aus der konventionellen Abfolge Rezitativ-Arie, wobei sich zunächst die traditionelle Funktionstrennung der Opera seria wiederzufinden scheint: die Arie als handlungsarmer Raum der 10
11
12
13
Vgl. ähnlich Bauman 1985, S, n Anm. 4. Das Nachlaßverzeichnis von Herders Bibliothek (Bibliotheca Herderiana. Vimariae 1804) verzeichnet keine Libretti - außer Metastasios Werken (was allerdings nicht bedeuten muß, daß keine anderen vorhanden waren). Die Gliederung dieses Auktionskatalogs entspricht offenbar der Gliederung der Bibliothek selbst, was an sich untypisch für Auktionskataloge der Zeit ist; Metastasio findet sich dabei in der Rubrik »italienische Literatur«. Vgl. Heinz Stolpe: Die Handbibliothek Johann Gottfried Herders — Instrumentarium eines Aufklärers. In: Ders.: Aufklärung, Fortschritt, Humanität. Studien und Kritiken, hg. v. HansGünther Thalheim. Berlin [Ost]/Weimar 1989, S. 311 — 338, hier S. 331. Für Metastasios Libretti ist die Verringerung der Personenfülle der älteren Oper auf 6 oder 7 Figuren der Normalfall. Da bei Herder die für Metastasio konstitutive Liebeshandlung fehlt (s. u.), verringert sich bei ihm diese Anzahl nochmals. Die Figur der Confidenta oder des Confidente ist in der metastasianischen Librettistik unverzichtbar. (Warum Kirby behauptet, im >Brutus< gebe es keine Confidente-Figuren (1962, S. 3190, ist mir unklar.) Zu den signifikantesten Veränderungen, die das metastasianische Strukturmodell gegenüber dem Shakespeare-Drama erzwingt, gehört die Einführung der klassizistischen Einheiten. Herders Werk zeigt das deutliche Bestreben, die Akte als Einheiten zu fassen. Dabei geht Herder noch über den Klassizismus Metastasios hinaus: Es gibt keinerlei Nebenhandlungen, und auch die Einheiten von Zeit und Ort sind (zumindest in erweitertem Sinne) gewahrt; lediglich der Abschluß ist zeitlich wie räumlich nur äußerst vage markiert: Die Handlung beginnt in der Nacht vor Cäsars Ermordung und endet in der folgenden Nacht (B); bis auf die Schlußszene spielt alles in Rom, wobei die Orte nur vage markiert sind. Das »offene« Drama Shakespeares wird hier also einer klassizistischen Struktur angepaßt, die über Metastasio zurück auf das höfische Drama der französischen Klassik verweist.
266
Reflexion und Kontemplation, während das textreiche Rezitativ die eigentliche > Handlung* oder auch die großen Reden wiedergibt.14 Anders als in der zeitgleichen deutschen Singspieltradition nutzt Herder nicht den Gegensatz von Liedformen und Arien, sondern beschränkt sich gänzlich auf die »große«, dreiteilige Arie der Sena-Tradition.'5 Herder bemüht sich dabei deutlich, die Arien dramatisch zu motivieren und aus dem Handlungszusammenhang hervorgehen zu lassen. Die Arientexte selbst kreisen meist, ganz wie in der älteren Oper, um einen einzigen Affektbereich. Auch in den textlichen MikroStrukturen orientiert sich Herder deutlich an der Tradition der Opera seria: Seine Rezitative bestehen aus reimlosen, in ihrer Länge unregelmäßigen jambischen Versen, die Arien dagegen aus gereimten, regelmäßig metrisierten Versen; die Arien unterscheiden sich dabei in abwechslungsreicher formaler Vielfalt. Alle Arien sind textlich in der Reprisenform einer Dacapo-Arie16 angelegt, wobei die Mittelstrophe meist deutlich konstrastierend zur Anfangsstrophe angelegt ist (durch formale Mittel wie abweichendes Reimschema, anderen Versrhythmus oder veränderte Strophenlänge, die inhaltliche Kontraste wiedergeben). Die Arientexte umkreisen in der Regel einen einzigen Bildkreis, bringen Reihung oder Variation von Bildern anstelle von Entwicklung, in der Mittelstrophe einen (statischen) Kontrast statt Wandel. Damit entsprechen sie vollständig dem älteren Arien-Ideal der Generalbaßzeit des frühen 18. Jahrhunderts. Hier steht Herder eindeutig unter dem übermächtigen, normativen Einfluß der metastasianischen Arienkonzeption, die bis in die MikroStrukturen der Bildlichkeit hineinreicht. Herder lehnt sich dabei z.T. an die typischen Bilder der metastasianischen Tradition (besonders der sog. >Gleichnis-ArienDie Ausgießung des Geistes« (1766) in SW I, bes. S. 59: Das Rezitativ stehe für »Begebenheiten«, die Arie für »Empfindungen und Gespräche des Herzens«. Auch dies signalisiert Herders Fixierung auf »Größe« und »erhabene« Wirkung, die ihn nahezu ausschließlich nach der »größten« Form der Seria-Arie greifen läßt, obwohl diese um 1770 bereits Züge des Veralteten trägt. Entsprechend weisen die Libretti Weißes oder Goethes eine weitaus größere Formenvielfalt auf als Herders monochromer >Brutusabbildend< heranging und tatsächlich einen sich krümmenden Wurm musikalisch abzubilden versuchte.'7 Daher sah sich Herder offenbar genötigt, die Bildlichkeit des »Wurms« durch eine Randbemerkung für den Komponisten einzuschränken: »Das Gleichniß von Würmern wird so wenig als möglich gemahlt [].«l!i Die ältere Konvention, nach der der Komponist den Text auf seine bildkräftigen Elemente absuchte und für diese musikalische Entsprechungen entwickelte (wie noch etwa Schweitzer bei >Alcesteunfertig< mit der Mittelstrophe.20 17
18 19
20
Dafür gab es genügend musikalische Vorbilder, etwa in der musikalischen »Schlangen«-Darstellung etc. Gerade in den Melodramen der späten tyyoer Jahre begegnen musikalische Tierdarstellungen zu Häuf. In ganz anderem Zusammenhang und unter anderen ästhetischen Prämissen, demonstriert dies noch Haydn in der >Schöpfung< (1798). I i (B) SW XXVIII, S. 13 Anm. i. »Ach, alles alles war er mir,/ mir Vater, Bruder, Freund!/ Und bald, ach, wird die Stunde seyn/ und Brutus ist nicht mehr!/ Was ist dann mir geblieben/ in aller Welt!/ O mit Dir! mit Dir sterben!« (III i D SW XXVIII, S. 64). Durch eine abschließende Wiederholung der ersten vier Verse hätte Bach allerdings diese Arie als Dacapo-Arie vertonen können. Von den sprachlichen Strukturen her scheint sie aber nicht dazu angelegt; in der Schlußzeile, die durch die jeweilige Binnenwiederholung an die Gebärde der ersten Zeile anknüpft, fallen inhaltliche und strukturelle Bewegung zusammen (Schlußstellung von »sterben«). Diese Arie (SW XXVIII, S. 6yf.) weicht noch in zwei weiteren Punkten von den übrigen ab. Herder notiert nur hier eine direkte Wiederholung der Anfangsstrophe vor der Mittelstrophe, wie sie in der kompositorischen Praxis etwa seit Hasse Normalfall ist (meist nach dem Schema A-A'-B-A-A o.a.), und schreibt nach dieser Wiederholung, d.h. vor der Mittelstrophe, eine »Pause« vor. - In der der Druckfassung D vorausgehenden handschriftlichen Fassung hatte Herder diese Arie anders positioniert
268
Wie bei Metastasio üblich, stellt auch Herder seine Arien ausnahmslos an das Szenenende. Wenn sich arienhafte Partien innerhalb einer Szene finden, bezeichnet Herder sie konsequent eben gerade nicht als Arie, sondern als »Arioso« (z.B. III 2) ohne Reprise. Nicht nur die Szenen, auch alle Akte schließen (wie meist bei Metastasio) mit einer Arie. Der Chor hat nur geringe Bedeutung, keine dramaturgisch oder strukturell wichtigen Funktionen; auch dies ist für ältere Metastasio-Libretti typisch (während die Neuenrwicklungen im Bereich der Opera seria der i~j6o/-joet Jahre gerade hier verändernd ansetzen). Gleiches gilt für die geringe Bedeutung von Duetten und Ensembles.21 Insgesamt nutzt Herder die Fülle der Arientypen Metastasios nur teilweise. Bei Herder herrscht fast durchgängig ein einheitlicher Gestus in allen Arien; wo bei Metastasio ein vielfältiges Arsenal von Wut-, Rache, Schlacht-, Triumph-, Liebes-, Bravour-Arien etc. zu beobachten ist 22 (und ein Teil seiner Kunst gerade in der ausgefeilten Balance der verschiedenen Arientypen bestand), finden sich bei Herder überwiegend elegische Klagearien. Selbst die
:
(am Ende der Szene III 2) und sie dort als normale, dreiteilige Reprisenarie konzipiert (vgl. Abdruck bei Müller 1909 [wie Anm. i], S. 10). Diese konventionelle Struktur gestaltet Herder dann in der Druckfassung zu einem bewußten, dramaturgisch motivierten Verstoß gegen die Norm der Dacapo-Arie um. In der letzten Korrektur E verändert Herder dies noch einmal, indem er beide ältere Varianten kombiniert: Die Arie rückt wieder als (textlich verkürzte) Reprisenarie ans Ende der Szene III 2 und wird dann in der Schlußszene III 3 mit erweiterter Mittelstrophe und ohne Reprise noch einmal aufgegriffen. Durch dieses ungewöhnliche Mittel wäre der Charakter des dramaturgisch motivierten Verstoßes in III 3 noch deutlicher geworden, indem die nun schon bekannte Arie bei ihrer Wiederholung nun mit der Mittelstrophe »unfertig« abbricht und die Erwartung der Reprise aus III 2 nicht erfüllt wird. Wie das musikalisch realisiert werden sollte, ist fraglich. Eine reine Wiederholung der Arie aus III 2 ist durch die längere Mittelstrophe in III 3 nicht möglich, allenfalls z. B. durch Wiederholung der Arie III 2 oder durch motivische Anknüpfungen. Interessant ist dabei das Duett zweier nicht näher bezeichneter »Stimmen« in II i, das den Mord an Cäsar in ganz >barock< klingender Weltverneinung kommentiert. (Für Herders Verlobte Karoline war diese Stelle die eindrucksvollste des gesamten Librettos, vgl. unten Anm. 80.) Cäsars Tod wird zum Exempel für die Hinfälligkeit des menschlichen Geistes. Bemerkenswert ist dabei die formale Anlage des Duetts. Die ersten Strophen beider Stimmen wirken antithetisch konzipiert (»Geist« vs. »Herz«, »Sterne« vs. »Erde« etc.), obwohl sie inhaltlich keinen Gegensatz bilden. Diese Antithetik und die gelegentlichen Verbindungen durch Reime zwischen gleichgestellten Versen beider Strophen legen den Schluß nahe, Herder habe hier an eine dialogische Vertonung gedacht (während gerade im norddeutschen Bereich Duette häufig als sukzessive Folge zweier geschlossener Strophen angelegt wurden, als »Aria a due«; vgl. Schläder 1995). Dies wird schon im 18. Jahrhundert typologisch zu klassifizieren versucht, z.B. bei John Brown: Letters upon the Poetry and Music of the Italian opera, Edinburgh 1789, der u. a. Aria di mezzo carattere, Aria cantabile, Aria par/ante, Aria di bravura, Aria di portamento, Aria agitata. Aria infuriata, Aria di smania, Aria d'agilita, Cavatina und Rondo unterscheidet. 269
Rachearie des Antonius (II 3), mit der der II. Akt wirkungsvoll endet, verfällt nach ihrem Beginn rasch wieder in einen elegischen Tonfall: Die Rache, sie wütet! wütet dahin! Grauses Spiel, Menschenbeginn die Wogen rollen, wo rollen sie hin? Dunkel o Schicksahl funkeln deine Sterne weit in Ferne, tief in Ferne, Wanderer hoffe! Du hoffest — wohin? 23
Nur scheinbar handelt es sich hier um eine der üblichen Rache-Arien der Opera seria. Denn hier wird gerade nicht emphatisch zur Rache aufgerufen oder diese auch nur positiv beschworen, sondern die durch die Rede des Antonius herbeigeführte Rache des Volks erscheint im Raum der Arie als blindes, nicht von Menschen steuerbares Schicksal. Herders >Brutus< wäre allerdings mißverstanden, wollte man in diesem Werk nur eine Art schwächere Metastasio-Nachfolge mit shakespearisierendem Stoff sehen. In einigen aufschlußreichen Elementen weicht Herder nämlich signifikant von der Metastasio-Tradition ab. Dies betrifft zum einen die sprachliche wie strukturelle Gestaltung der Rezitative. Seine Rezitative sind von einem geniezeitlichen Stil geprägt, der sich von der auswogen-abgerundeten Stilistik Metastasios krass unterscheidet: Herders Rezitative kennzeichnen abgebrochene Sätze, starke Bildlichkeit, eine Rhythmik von erhöhter Unregelmäßigkeit, zahlreiche Wiederholungen einzelner Wörter, Ellipsen, rhetorische Fragen und Exklamationen. Von ihrer Rhetorisierung und ihrer Bildkraft her sind die Rezitative den Arientexten ebenbürtig, wenn nicht überlegen. Ihre emotionale Wirkungsabsicht, die durch die Fülle rhetorischer Mittel gesichert werden soll, ist eindeutig. Sie dienen nicht lediglich einem >Transport< von Handlung, sondern sind funktionell fast äquivalent zu den Arien gestaltet. Diese funktionelle Aufwertung der Rezitative und die Abschleifung der emotionalen Wirkungsdifferenz von Arie und Rezitativ steht in klarem Gegensatz zur metastasianischen Tradition, die gerade auf der Funktionstrennung der beiden Bereiche beruht. Diese Funktionstrennung aber wurde im Zuge der Empfindsamkeit immer häufiger als »unnatürlich« kritisiert (vgl. Teil III). Herders Verfahren zielt dagegen offensichtlich darauf ab, diese häufig kritisierte »Kälte« und illusionsbrechende Wirkung der Rezitative zu ersetzen durch einen kontinuierlichen Wärmestrom, indem trotz der aufrechterhaltenen äußerlichen Trennung Arie-Rezitativ ihre innere Differenz abgeschliffen wird. Dafür ist z. B. die Rolle der »Zwischenformen« zwischen Rezitativ und Arie signifikant: Herder sieht sowohl Ariosi als auch zwei große, dramaturgisch wichtige Accompagnato-Rezitative vor (I i, III 2). Diese Zwischenformen durchbrechen den starren GegenJ}
Fassung D, SW XXVIII, S. 63.
270
satz von (Secco-)Rezitativ und Arie und erleichtern es, eine längere Szene als durchgängige Wirkungseinheit zu gestalten. Auffällig ist auch die hohe Bedeutung rein instrumentaler Partien (etwa bei Cäsars Tod oder die »ätherische Musik« zur Geistererscheinung). Damit zeigt Herders Vorgehen Parallelen zu aktuellen Entwicklungen der 1760/7oer Jahre; sowohl im Bereich der Opera seria selbst (z. B. bei Komponisten wie Jommelli, Traetta oder auch Gluck) als auch in neuen Formen wie dem Melodram läßt sich das Bestreben erkennen, die Differenz von Rezitativ und Arie zu verringern.24 Herder geht jedoch noch einen Schritt weiter. Wie aus den Randbemerkungen zu Fassung B (s.u.) erkennbar wird, stellte er sich z.B. den gesamten I. Akt als eine Einheit der Empfindung vor, die von der Musik über die Grenzen der Bauformen Rezitativ und Arie hinweg gewährleistet werden sollte. Hier scheint mir der >Brutus< in der Tat Neuland zu betreten; im äußeren Gewand der Opera seria wird hier eine Konzeption erkennbar, die mit deren Mitteln gar nicht gestaltbar war.25 Neben dieser völlig veränderten Struktur von Rezitativ und Arie zeigt Herder noch eine andere wesentliche Differenz zu Metastasio. Alle »Nebenhandlungen« fehlen, das Stück konzentriert sich ausschließlich auf die eine Hauptperson Brutus; selbst Figuren wie Cäsar und Antonius erhalten nur minimalen Raum. 26 Während die metastasianische Librettistik gerade entscheidend auf dem sorgfältig ausbalancierten Verhältnis von verschiedenen Handlungsebenen, v. a. politischer und Liebes-Handlung, beruht, findet sich bei Herder alles eliminiert, was von der strengen Konzentration auf die Hauptfigur und deren empfindsame bzw. ethische Potentiale ablenken könnte. Während Herder äußerlich dem Vorbild Metastasio zu folgen scheint, zeigt die innere Struktur seines Werks, daß er den entscheidenden Code der Opera seria nicht mehr verstehen konnte - oder nicht mehr verstehen wollte. Die konstitutive Antithetik der barocken und klassizistischen Dramatik weicht im mittleren 18. Jahrhundert zunehmend dem Versuch, einheitliche Handlungs- und Gefühlsräume zu schaffen. Aus dem antithetischen Ineinandergreifen verschiedener Ebenen wird bei Herder die ausschließliche Fokussierung von großer Tat und schönem Tod: der expressive Kult des großen, einzelnen und einsamen Genies. Diesem Kult dient die von Herder angestrebte emotionale Wucht, für die er offenbar jede Nebenhandlung ebenso als abträglich empfand wie insbe24
25
26
Im Falle der Seria z. B. durch Aufwertung des Accompagnato-Rezitativs und die verstärkte Verwendung von Zwischenformen wie Arioso, Cavatine etc. (s.u. II.5); im Falle des Melodrams durch die Auflösung der Arie in eine Art durchgängiges (Accompagnato-)Rezitativ (vgl. 11.4). In der Opera seria bildet normalerweise nicht der Akt, sondern die einzelne Arie die Einheit; daher auch die in der Praxis so häufige Austauschbarkeit der Arien. Daher ist sein Werk auch insgesamt deutlich kürzer als ein durchschnittliches Metastasio-Libretto (lediglich zehn Gesangs-»Nummern« gegenüber durchschnittlich ca. 20 bis 25 bei Metastasio). 271
sondere alle opernkonventionelle Liebeshandlung. (Daher fehlen in den ersten Fassungen auch alle Frauenpartien; lediglich in D und E behebt die PorciaFigur diesen Mangel etwas, wobei diese Partie bezeichnenderweise dazu benutzt wird, die Bewunderung des Genies Brutus und seiner Einsamkeit noch zu verstärken; s. u.). Herders Wirkungsaxiom zielte offenbar darauf, maximale emotionale Wirkung durch ausschließliche Konzentration auf ein »lugubres« inneres Geschehen zu erreichen. Dramaturgisch ist auffällig, daß es im gesamten Stück nicht nur keine Nebenhandlungen, sondern faktisch keinen einzigen Dialog gibt; nicht nur die Arien, sondern auch die Rezitative sind ausschließlich Monologe (oder Reden).27 Selbst die in D neu eingefügte Szene III i Brutus-Porcia zerfällt in zwei Abschnitte eines »monologischen Dialogs«:28 Brutus singt das Rezitativ, Porcia die Arie. (Gleiches gilt in umgekehrter Verteilung für die in E eingefügte neue Szene I i Brutus-Porcia.) Damit aber ist der Bereich der Opera seria verlassen; Herders Werk tendiert zu einem lyrischen Monolog. Daraus resultiert eine gewisse Statik der Szenen Herders, weil die statischen Seria-Bauformen beibehalten sind, das konstitutive Gegengewicht einer Balance kontrastierender Handlungsebenen aber fehlt. Diese Statik wird verstärkt durch die Struktur des Werks, die die einzelnen Szenen mehr locker aneinanderreiht, als sie stringent auseinander zu entwickeln. Das Fehlen der antithetischen Struktur der Opera seria bedingt zugleich eine Umkonzeption des Stückschlusses. Während bei Metastasio der positive Schluß als Verbindung der antithetischen Handlungsebenen die Regel ist und nur in sehr seltenen Ausnahmefällen ein tragischer Schluß erscheint,29 kann Herders Werk nicht in einer positiven »Lösung« schließen. Der tragische Schluß verbürgt stattdessen die Erhabenheit und Größe des Brutus und erhöht damit zugleich die emotionale Wirkung des Werks. Für eine Vertonung dieses Textes, die in Deutschland um 1770 kompositorisch immer vom Muster der Opera seria ausgehen mußte, ergab all das schwierige Probleme: Das Fehlen einer Liebeshandlung und die Konzentration auf den einen Hauptstrang erschweren es, Abwechslung zu schaffen, und erzeugen möglicherweise einen fatalen Einheits-Ton. Hinzu kommt das Fehlen von 27
28 2l>
Dialogartige Elemente finden sich lediglich in den Einwürfen des Chors (Duettszene I 2) bzw. in der Erscheinung von Cäsars Geist, die aber auch als verkapptes Selbstgespräch des Brutus aufgefaßt werden kann. Vgl. dazu und zur Theorie des Monologs Pfister 1977, S. iSoff. Zu diesen Ausnahmen zählt etwa >Catone in Utica< oder >Attilio Regolo< — die gerade deshalb zu den am wenigsten vertonten Libretti Metastasios zählen. Vgl. allg. Anselm Gerhard: Republikanische Zustände — Der tragico fine in den Dramen Metastasios. In: Jürgen Maehder/Jürg Stenzl (Hg.): Zwischen Opera buffa und melodramma. Italienische Oper im 18. und 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1994, 8.27-65.
272
Frauenstimmen sowie von Rollenfächern überhaupt, so daß zahlreiche der konventionellen Semantiken vom Komponisten kaum eingesetzt werden konnten. Auch die ausgedehnten Rezitative und die relativ geringe Zahl von Arien und Ensembles erleichterten es dem Komponisten nicht gerade. Da die Partitur verschollen ist, läßt sich leider kaum bestimmen, wie Bach mit diesen Problemen umging; der geringe Erfolg des Werks könnte aber durchaus mit diesen strukturellen Widerständen im Text zu tun haben, die für einen Komponisten wie Bach wohl kaum lösbar waren.
2. Das Verhältnis von Text und Musik Herder scheint sich partiell dieser Schwierigkeiten bewußt gewesen zu sein, die sein Verfahren für den Komponisten ergeben konnte. Darauf deutet ein Phänomen hin, das Seltenheitswert besitzt: die Randbemerkungen zum I. Akt, mit denen Herder in der Fassung B seine Vorstellungen über die Vertonung klarlegen wollte und die zugleich seine ästhetischen Positionen wie seine Unsicherheiten spiegeln.30 10
Auch von Goethe existierte eine ähnlich eingerichtete, leider verschollene Abschrift seines Librettos >Jery und BätelyBrutus« noch keinen konkreten Komponisten im Auge, so daß die Anmerkungen eher der Selbsrvergewisserung Herders dienten. Bei der Fassung D tritt dann der Normalfall im 18. Jahrhundert ein, die direkte Zusammenarbeit von Librettist und Komponist, so daß hier keine entsprechenden Anmerkungen mehr enthalten sind. - Die Randbemerkungen sind auch deshalb bemerkenswert, als Bach ja bereits 1772 als der natürliche Komponist des Werks hätte erscheinen müssen. Entweder hielt Herder Bach jedoch zunächst nicht für den geeigneten Komponisten, obwohl er mit diesem häufig an Kantaten und Oratorien zusammenarbeitete (— dafür spräche, daß von Bach keine Opern vor dem >Brutus< belegt sind, sowie Herders späterer Versuch mit Gluck). Oder aber die Fassung B entstand in ihren Grundzügen bereits vor dem Engagement Herders in Bückeburg April 1771; dem stehen allerdings die Briefe Herders an seine Verlobte entgegen, auf die sich die Datierung bei Redlich stützt (s.o. Anm. i). Möglicherweise waren diese Randbemerkungen jedoch überhaupt weniger für einen Komponisten gedacht als für Karoline, der Herder die Fassung B nach Darmstadt schickte und die im Briefwechsel immer wieder um die Musik bat. - Obwohl es nicht belegbar ist, könnten die Randbemerkungen Herders auch darauf hindeuten, daß Herder möglicherweise Rousseaus >Pygmalion< (1762), das erste Melodram, kannte. In einem Wiener Druck dieses Werks von 1772 finden sich nämlich neben dem Text ähnliche Randbemerkungen zur Musik gedruckt (vgl. Schimpf 1988, S. I7ff.); und auch in der Konzeption des Verhältnisses von Text und Musik steht Herder in der Nähe der melodramatischen Versuche Rousseaus, die in Deutschland erst einige Jahre später produktiv rezipiert werden (vgl.u. 11.4). Herders >Brutus< wäre dann einer der frühesten Belege einer produktiven Rezeption von Rousseaus Melodram. (Einige Kompen273
2.1. Die Randnotizen zur Fassung B Herders Randbemerkungen lassen erkennen, daß er sich den ersten Akt als großflächig angelegte Einheit vorstellte. Diese Einheit sollte musikalisch v. a. dadurch geschaffen werden, daß durch Accompagnato-Rezitative eine geschlossene Affekt-Bewegung des Akts hergestellt werden sollte. Zweimal betont Herder dies, zunächst zu Beginn des Brutus-Monologs I 3: »Die ganze erste Handlung ist ein Ganzes, wo die Tonmischung Stuffenweise abnimmt und ins Stille gehe. Hier Brutus, allein! berathschlagend! stille — Das ganze Selbstgespräch ist wieder Gemälde, wo es sich zuletzt in der feinsten Spitze endet.« 31 Die einzelne Szene wird also in einen Gesamtprozeß des I. Akts eingeordnet und zugleich mit einem spezifischen Verlauf versehen, der der konventionellen Anlage einer Szene widerspricht: Das Rezitativ führt nicht in den kulminierenden Affekt der Arie, sondern in der Arie läuft die affektive, auf die Emotionen zielende Gebärde des Rezitativs diminuierend aus. Das konventionelle Verhältnis von Rezitativ und Arie erscheint umgekehrt: Der eminent rhetorisierte Rezitativtext arbeitet mit stärkeren Mitteln als der relativ blasse Arientext. Mit der Vorstellung des Aktes als einheitlichem Verlauf verwischt Herder zugleich die Differenz von Rezitativ und Arie (s.o.). In einer zweiten Bemerkung zur Schlußarie des I. Akts akzentuiert Herder den geplanten affektiven Gesamtverlauf des Akts ein weiteres Mal: »Die ganze erste Handlung endet sich also vom höchsten Affekt zur vestesten stillen Entschließung durch alle Grade herabgedämpft.«32 Auffällig ist auch dabei die inverse Struktur: Herder zielt nicht auf die konventionelle, steigernde Anlage eines Aktes zum Aktschluß hin, sondern favorisiert offenbar einen entgegengesetzten Verlauf - vom starken, überwältigenden Einsatz abnehmend, ein großes strukturelles decrescendo. Der Akt soll vom »höchsten Affekt« des Aktbeginns mit der Gewitterszene stufenweise absinken, bis nur noch die abstrakte, »stille Entschließung« des Brutus zur Tat bleibt. Der I. Akt sollte mit einem Accompagnato-Rezitativ beginnen, in dem »der Donner kurz gemahlt« werden sollte, »weil Affekt herrschen soll«. Dieser Afdien des 18. Jahrhunderts führen den >Brutus< tatsächlich als Melodram, z.B. Christian Friedrich v. Blankenburg: Litterarische Zusätze zu J. G. Sulzers allgemeiner Theorie der schönen Künste. Bd. 2, Leipzig 1797, S. 473; Erduin Julius Koch: Compendium der Deutschen Literaturgeschichte, Bd. i. Berlin 1795, S. 315; Schmid 1800, S. 70; vgl. a. Schimpf 1988, S. 29.) Allerdings ist auch in den frühen Fassungen Herders eindeutig, daß er gesungene Arien vorsieht, also nicht von einer Vertonung gesprochener Texte nach dem Muster Rousseaus ausging. Daher ist Ulrike Küsters Behauptung, der >Brutus< sei in seiner ersten Fassung als Melodram konzipiert gewesen, nicht haltbar (Küster 1992, S. i5if.). Auch aus Herders Brief an Gluck (s.u.), auf den sich Küster stützt, läßt sich das nicht entnehmen. " SW XXVIII, S. 16 Anm. 2. 32 Ebd. S. 18 Anm. i. 274
fekt sollte sich jedoch nicht verselbständigen, sondern »mehr Staunen, als Schrecken«33 bewirken, also wohl weniger der (französischen) Operntradition von Gewitterszenen folgen (s. dazu oben II.i). Herders Vorstellung zielt durch das »mahlen« des Gewitters offenbar auf eine Art dialogische Struktur von Text und Musik, wofür die zahlreichen Anakoluthe und Gedankenstriche sprechen: Die unvollständigen Satzteile würden so, in einer dem melodramatischen Stil ähnlichen Weise, von der Musik fortgeführt und ergänzt. Das Fehlen eigentlicher Dialoge im Text (s. o.) würde dadurch auf einer anderen Ebene ansatzweise kompensiert. Während des Rezitativs soll die Begleitung »immer zu[nehmen]«; nach 12 Rezitativzeilen findet sich dann die Anmerkung: »Hier wendet es sich! wird langsamer und schwerer, weil hier der eigentliche Affekt anfängt! Unwille, Verdruß, Betrübniß, Verzweiflung.« 34 Das scheinbar referenzlose »es« 35 bezieht sich auf das »Accompagnement« der musikalischen Begleitung, das so enden soll, daß die abschließende »Arie aus einer betrübt ermatteten Seele kommt.« 30 Herders Ideen zur Vertonung zielen also auf großflächige Verläufe mit Steigerungen, Übergängen und Wendungen, was in der konventionellen Opera seria seiner Zeit allenfalls ansatzweise möglich ist (vgl. u. 11.5). Herder bezieht sich offensichtlich in seiner imaginären Musik nicht auf die existente Oper seiner Zeit, auch nicht auf die Glucks. Sein Entwurf folgt anderen Vorstellungen, die der zeitgenössischen kompositorischen Praxis weit vorauseilen. Auffällig ist in dieser Randbemerkung zudem, daß der von Herder als zentral angesetzte Affektbereich nicht der des kraftmeiernden Tyrannentöters und Freiheitshelden ist. Schon zu Beginn des Werks überwiegt der »lugubre« Bereich von »Unwille, Verdruß, Betrübniß, Verzweiflung«. Brutus, der politisch motivierte Täter, tendiert zum Melancholiker.37 Zur folgenden Szene I 2 merkt Herder im letzten Drittel des Rezitativs, nach erneutem Donnern, an: »Hier wird wieder Accomp. voll Leben; aber unvermerkt etc.«38 Die Musik soll also die emotionale Wirkungsabsicht des Textes unbewußt, nicht explizit bemerkbar übertragen und dessen affektiven Verlauf »unvermerkt« mit »Leben« füllen — ein Gedanke, der mit der Praxis nicht nur der Opera seria, sondern des gesamten zeitgenössischen Musiktheaters unvereinbar scheint. Er entspricht jedoch genau der Konzeption von »Natur« und »Kunst« in der deutschen Geniebewegung (s. Teil III): in einer Rhetorik der Rhetoriktilgung durch den gezielten, gleichwohl nicht expliziten Einsatz künstlerischer Mittel unterschwellig den Eindruck von »Natur« zu simulieren. Der »unvermerkte« Übergang zu einem Accompagnato-Rezitativ »voll Leben« 33 34
35 36 37 38
Ebd. S. 11 Anm. i. Ebd. S. 12 Anm. r. So Schimpf 1988, S. 29. SW XXVIII, S. 13 Anm. i. Zur Bedeutung des Melancholie-Motivs vgl. allg. Schings 1973; Mattenklott 1968. SW XXVIII, S. 15 Anm. i. 275
zeigt erneut, daß Herder den strukturellen Unterschied der konventionellen Formteile, der für die traditionellen Musiktheaterformen konstitutiv ist, zugunsten eines großflächigen Verlaufs voller unmerklicher Übergänge und Wendungen aufgeben möchte. Nicht die einzelne Arie, sondern der gesamte Akt wird zu einer Einheit und zu einem emotionalen Zusammenhang, der nach dem Muster musikalischer Verläufe gebildet scheint, »wo die Tonmischung Stuffenweise abnimmt und ins Stille geht«. Die restlichen Anmerkungen lesen sich mehr wie praktische Hilfen für den Komponisten. Herder betont, daß er die Mittelstrophen der Arien musikalisch deutlich gegensätzlich wünscht - darin befindet er sich durchaus auf der Höhe der Opera seria seiner Zeit, in der die Ausdifferenzierung der Mittelstrophe üblich ist (vgl. u. II.j). Daneben lassen sich kleine Unsicherheiten erkennen, die zeigen, daß sich Herder bewußt war, von bestimmten Idealen der metastasianischen Librettistik abzuweichen. Zur Brutus-Arie I 3 merkt er an: »Sollte es hier Runde fordern, so müßte >was ist gut?< wegbleiben.«39 Herder geht hier offensichtlich von einem Ideal von Arientext aus, das primär von abgerundeten und symmetrischen Sprachstrukturen gekennzeichnet ist; demgegenüber erscheint ihm sein eigener Text offenbar als nicht »rund« genug. Herders Randbemerkung deutet auf das weitverbreitete Unterlegenheitsgefühl deutscher Librettisten gegenüber dem als übermächtig angesehenen Vorbild Metastasios hin, das zur gleichen Zeit etwa auch bei Daniel Schiebeier erkennbar ist (s.u. Teil III); daher sind es v.a. die Arientexte, die Herder im Arbeitsprozeß am >Brutus< permanent verändert und im Detail zu verbessern versucht. Dabei ist der Text der Brutus-Arie jedoch bei genauerer Betrachtung bereits metrisch wie reimtechnisch als abgerundet und ausbalanciert zu bezeichnen, und die vorgeschlagene Elision würde diese Strukturen nur zerstören. Interessant sind dabei zudem die Vokalassonanzen und Alliterationen, mit denen Herder oft arbeitet und die ein bestimmtes Ideal von »Sprachmusik« erkennen lassen. In der Brutus-Arie weist z. B. die Mittelstrophe eine Häufung der hellen Klangbereiche von »i« und »ei« auf, während in der Rahmenstrophe v. a. der gedecktere »a«-Vokal (»Wahngedanken/ taumeln! wanken!«) und der dunklere »u-«, »o-«, »ö-«Bereich präsent sind (»Schwach Gefäß voll Streit und Kummer/ [] drückt ein öder Schlummer []«4°). Der Wechsel aus dem gedeckteren Vokalbereich der Anfangsstrophe zu dem helleren der Mittelstrophe läßt sich dabei mit dem inhaltlichen Wechsel vom chaotischen Schwanken der Gedanken zu den Idealen »Freiheit! Tugend! Vaterland« der Mittelstrophe korrelieren.41 39
40 41
Ebd. S. 17 Anm. i. In den späteren Fassungen ist der Arientext in der Tat »runder« gestaltet. Ebd. S. 17 (Fassung B). In der späteren Fassung D verstärkt Herder die Assonanzen im Mikrobereich noch mehr (»Wann Gedanken, Wahngedanken/ streiten, wanken -«), schwächt jedoch den großflächigeren Wechsel ab.
276
Herders Text orientiert sich offensichtlich an bestimmten Vorstellungen eines »musikalisierenden« Sprachstils. Dies betrifft aber erneut nicht nur die Arien, sondern läßt sich auch in den Rezitativen wiederfinden, die ebenfalls eine Fülle von Assonanzen, Vokalharmonien und Alliterationen aufweisen. 42 Arien und Rezitative weisen denselben Gestus auf: Die Sprache erscheint nicht mehr primär als Vermittler von Ideengehalten, sondern zielt auf emotionale Wirkung durch Musikalisierung der Sprache.43 Damit aber deutet sich eine zentrale Umwertung im Verhältnis von Sprache und Musik ab. Musik erscheint nicht mehr, wie in der rationalistischen Theorie (s. Teil III), als bloße Abbildung der Sprache und ihres Ideengehaltes, sondern die Sprache orientiert sich jetzt umgekehrt an den emotionalen Wirkungspotentialen der Musik. 2.2. Herders Briefe Daß Herder dieser Paradigmenwechsel bewußt war, wird aus einigen seiner Briefe über >Bmtus< deutlich. Beim Abschluß der Fassung B schreibt er im Mai 1772 an seine Verlobte Karoline Flachsland: »Hier ist mein Brutus. Er ist ohne Musik nur Fachwerk u. Netz [ ].«44 Selbst wenn man die Bescheidenheitstopik in Rechnung stellt, die diesen gesamten Brief durchzieht, wird doch direkt deutlich, daß in Herders eigener Konzeption die Musik eine wesentlich erhöhte Bedeutung gegenüber dem Text zugesprochen bekommt (vgl. umgekehrt Wielands Position, oben II.2). Explizit wird dieses veränderte Verhältnis von Sprache und Musik dann in dem Brief vom 5.11.1774 an Gluck ausgesprochen, den Herder für eine Neuvertonung des >Brutus< zu gewinnen versuchte. In diesem Brief geht Herder unter Verweis auf Glucks >Alcestei 59
Vgl. etwa die Ausführungen Herders in seinem Brief an Karoline Flachsland vom Mai 1772, in dem er ihr die Zusendung des > Brutus «-Textes (Fassung B) ankündigt: »Sie wissen, daß dieser edle Römer, der auch für und wider Nichts umkam, einer meiner Lieblingshelden ist, und wenigstens habe ich über ihn etwas von meiner Lieblings= Philosophie ausgeschüttet. Das Stück wird jetzt hier [ ] in Musik gesetzt, und ich glaube, es werde sich mit allen seinen lugubren Scenen gut ausnehmen.« (Zit. n. SW XXVIII, S. 551) - Zur spezifischen Brutus-Begeisterung Herders vgl. a. seinen Hütten-Aufsatz in »Schriftstellerporträts und Nekrologen« (1776; HW 2, S. 625). Dort erscheint Franz von Sickingen als »letzter Teutscher« und Brutus als sein Prätyp, der für Wahrheit, Licht etc. in den Tod ging. Herders Text und Brutus-Deutung stießen u.a. aufheftigen Widerspruch Wielands; vgl. ebd. S. 1294. Gerade auch die beiden großen Reden in II 2 und II 3 werden deutlich verkürzt, von 18 + 26 Versen auf 14 + 18. (Wieland schloß 1775 in seinem »Versuch über das Teutsche Singspiel« explizit politische Stoffe aus, weil sie wegen der nötigen großen Reden die Illusionswirkung »erkälteten«; Herders Kürzungen könnten von ähnlichen Überlegungen bestimmt gewesen sein.) Vgl. z.B. die Szene I 4 in Fassung B und in Fassung D. Dies ist besonders deutlich bei der Arie II 3, die von 6 + 4 auf 3 + 3 Verse verkürzt wird. 28l
eingebunden und schafft zugleich Raum für eine »ätherische Musik«. (Hier zeigt sich erneut Herders grundsätzliches Ausgehen von den emotionalen Wirkungsmöglichkeiten der Musik. Der »Geisterchor« ist als musikalisch-dramaturgischer Verlauf konzipiert: »die Töne verliehren sich, er erwacht«. Der Wechsel vom Chor der Geister zu Brutus' abschließendem Rezitativ ist sprachlich dadurch zu einem Übergang abgemildert, daß Brutus in seinem Rezitativ die Reime des Geisterchors fortsetzt.00 Auch hier ist also wieder das Bemühen Herders sichtbar, großflächigere Zusammenhänge und Verläufe über die Grenzen der einzelnen Formteile hinweg zu schaffen.) Mit der Ersetzung der ursprünglichen Brutus-Cassius-Szene III i durch die Szene Brutus-Porcia ab Fassung D bezieht Herder zum einen eine Frauenpartie ein, hilft also einem Mangel an musikalischer Abwechslung des bisherigen Librettos ab; zum anderen nutzt er gerade diese Szene geschickt zur weiteren Erhöhung der Brutus-Figur durch intertextuelle Verweise (s.u.). In der Fassung E ersetzt die Porcia-Figur dann vollständig die funktionsgleiche (Confidente-) Figur des Cassius, so daß diese entfallen kann und das Verhältnis von Männerund Frauenstimmen erneut einen kleinen Schritt ausgeglichener wird. Zugleich läßt diese Ersetzung jedoch eine Tendenz erkennen, die politische Dimension des Stoffs weiter zu schwächen (s. u.): Die einleitenden Cassius-Szenen mit ihrer relativ differenzierten Sicht auf die Verschwörung und ihre Motive werden jetzt ersetzt durch die Porcia-Szene, die sich ganz auf die Atmosphäre der »lugubren« Emotionalität konzentriert.
4. Herrschermord und Melancholie. Stellung in der Stoffgeschichte In der älteren Operntradition der Cäsar-Figur wird in der Regel der BrutusCäsar-Konflikt nicht behandelt; bevorzugt werden Cäsars Auseinandersetzung mit Pompeius und die Liebesgeschichte mit Kleopatra dargestellt.6' Daß die Opernlibrettisten des 17. und 18. Jahrhundert den Brutus-Stoff aussparen, ist keineswegs zufällig, sondern grundsätzlich bedingt: Der Brutus-Stoff bietet kaum Raum zur konstitutiven Verflechtung der »politischen« Handlungsebene mit einer Liebesintrige. Hinzu kommt, daß der Brutus-Stoffbrisant ist in Hinblick auf die Struktur und die genealogische Begründung absolutistischer Macht. Seit der Renaissance 60
SW XXVIII, S.
nl
Vgl. 2. B. Barchold Feind/Reinhard Kaiser: Der durch den Fall des Grossen Pompejus Erhöhete Julius Caesar []. (Hamburg 1710; 1715; 1731) oder Nicola Francesco Haym/G. F. Händel: Giulio Cesare (London 1724; dieses Libretto geht auf Giacomo Francesco Bussanis venezianisches Libretto von 1677 zurück).
282
ist die Rezeption der Cäsar-Figur in dieser Hinsicht von Widersprüchlichkeiten geprägt. Je nach eher monarchistischer oder eher republikanischer Ausrichtung der Rezipienten wurde Cäsar entweder positiv als Begründer des Römischen Kaiserreichs oder negativ als Tyrann und Usurpator betrachtet, Brutus entsprechend als Königsmörder oder als Freiheitsheld. Bei Shakespeare, Herders Muster, ist die Frage der Bewertung weniger eindeutig, die Figuren sind intern widersprüchlich angelegt; Cäsar erscheint im Konflikt mit Brutus weder als tragische Figur noch als Tyrann, sondern als ein geistig bedeutender Politiker mit persönlichen Schwächen, Brutus' Mord dagegen als zwar konsequente, aber letztlich vergebliche Handlung, die zu seinem Selbstmord führt. Zugleich geraten die Verschwörer bei Shakespeare in ein Zwielicht persönlicher Leidenschaften und Geltungsansprüche. Die politische Analyse Shakespeares zeigt objektive Gründe für das Scheitern des Putsches, z.B. in den politischen Fehleinschätzungen des Brutus ebenso wie in seinen Charakterschwächen; darüber hinaus aber gestaltet Shakespeare die großen politisch-historischen Zusammenhänge (z. B. die Rolle des Volkes), statt diese auf den bloßen Konflikt CäsarBrutus zu verengen. Im deutschen Sprechtheater nach 1750 erfährt der Brutus-Cäsar-Konflikt dagegen eine signifikant veränderte Bewertung, etwa bei J. J. Bodmer (>Julius CäsarBrutus und Kassius Tod< (Basel 1782) oder die Brutus-Cäsar-Elegie in Schillers >Räubern< (1781; Szene IV 5, hier als zeittypischer Vater-Sohn-Konflikt gestaltet). Herder weicht mit seinem >Brutus< nicht nur von der Operntradition, sondern auch von dieser Tradition deutlich ab. Er wertet die Figuren völlig anders: beide positiv. Damit hängt die problematische Konfliktaussparung auf der Handlungsebene ebenso zusammen wie die Fatalität des Geschehens. Cäsar ist nun Genie schlechthin, sein Tod zwar notwendig, aber dennoch ein tragisches Verhängnis. Brutus selbst bezeichnet Cäsar als »der Menschen Erst" und Einer!«02 Der politische Anlaß des Putsches, den Shakespeare breit darstellte, der Griff Cäsars nach der Kaiserkrone, ist bei Herder zu einer knappen, kaum noch verständlichen Anspielung geronnen.63 Nach Cäsars Tod würdigt ihn dagegen eine »Stimme« (in B):
62
I 3 (D) SW XXVIII, S. 56.
63
»Die Krone aller Welt/ fast schon auf seinem Haupce!« (I 3 B, ebd. S. 16) Diese Anspielung entfällt in den späten Fassungen ganz und wird durch einen allgemeinen Hybris-Vorwurf ersetzt: »Den hohen Muth, den Göttersinn/ dem alle Welt, dem aller Jahre Lauf nur Ein Gedanke war/ >der Erde Caesar!PhaidonSinnIlias< (V. 429ff.) und rückt das Geschehen somit erneut in einen überhöhenden Bezug zu einem mythischen Helden, der wissend in seinen Tod zieht. 75 Die drei intertextuellen Bezugsfiguren Christus, Sokrates und Hektor lassen sich auf Brutus nur in diesem Moment des Scheiterns beziehen;76 die Ebene des politischen Freiheitskämpfers und Tyrannenmörders, die traditionelle Wahrnehmungsachse der Brutus-Figur, wird von diesem Figurenfeld dagegen nicht erfaßt.77 In diesem wissenden In-den-Tod74
75
76
77
Brutus rückt in Parallele zu Cato, der die Republik gegen Cäsar verteidigt und den Freitod einem Leben in der Diktatur vorzieht. Zur Buhnentradition des Cato-Stoffs vgl. z.B. J. Addison: >Cato< (1713), F.-M. Deschamps: >Caton d'Utique« (1715), B. Feind: >Der sterbende Cato< (1715) oder Gottscheds gleichnamige Tragödie (1731; dazu Parodie von Bodmer, 1735). Die wirkungsreichste Fassung ist Metastasios Libretto >Catone in Utica< (1728, vertont u.a. von Hasse 1732, Vivaldi 1737, J. Chr. Bach 1762, Piccinni 1770, Paisiello 1789, v. Winter 1791); vgl. dazu u. II.5, Anm. 57. III i (D) SW XXVIII, S. 03f. Vgl. dazu den Brief Herders an Karoline Flachsland vom 25.12.1772, der einen Entwurf dieser Szene auf französisch enthält (Aus Herders Nachlaß [wie Anm. 7], Bd. 3, S. 409). In Herders Nachlaß findet sich der Entwurf einer >SokratesBrutusKritonBrutus< auf. Auffällig ist auch, wie nah die Sprache dieses Entwurfs der Sprache der Passionsoratorien steht, wodurch erneut eine Parallele Sokrates-Christus entsteht. Allenfalls von dem schwachen Cato-Verweis, für den aber wohl auch die Todesthematik wesentlicher ist. — Aus Herders Briefwechsel mit Karoline Flachsland geht hervor, daß die Brutus-Figur von Herder auch in einer autobiographischen Dimension gesehen wurde. Für diese aber ist erneut der Wegfall der Freiheitskämpfer-Thematik kennzeichnend. Was Herder laut den Briefen an Brutus faszinierte, ist sein Scheitern (vgl. Zit. oben Anm. 56). 287
Gehen für eine Idee aber wird Brutus zugleich in die Nachfolge des Religionsstifters, des Philosophen und des mythischen Heros' gerückt. Er wird von Herder so als Summe und Steigerung dieser großen »Genies« verherrlicht. Die Rezeptionshaltung, auf die dieses Verfahren zielt, ist die Bewunderung der Größe des Brutus, einer Größe, die durch das Scheitern und das Wissen um den Tod expressiv gesteigert wird. Zentrum der Werkkonzeption ist die (oben aus dem Verhältnis von Text und Musik abgeleitete) emotionale Wirkungsabsicht. Aus dem politischen Drama, das Shakespeares >Julius Caesar< (auch) ist, blendet Herder die politischen Dimensionen weitgehend aus; er ersetzt sie durch einen lyrischen Kult der großen Tat, den das Werk mit allen Mitteln der Musik und der Rhetorik emotional zu übertragen versucht.70 Die große »That« des Brutus kann dabei auch als Präfiguration der poetischen Tat Herders verstanden werden: Die expressive Größe der Brutus-Figur wendet sich auf den Autor als »göttlichen« Schöpfer zurück. Karolines Antwortbriefe an Herder zeigen diese Dimension deutlich: Ich komme zuletzt zu Ihrem edlen >BrutusWas ist gut? was ist Tand?< Die letzte Handlung, Scene für Scene, ist für mich die rührendste, erhabenste. Die Aussöhnung mit Cäsar - >Himmel voll Sterne, du bist schön! - ich komme.< Was aber unter allem so ganz mit Ton und Gesang mir in die Seele ging, sind etliche Arien, worunter diese die erste und stärkste ist [folgt Zitat des Duetts II i, J. K.]. O Du bist ein göttlicher Mann, lieber Herder!79
Die Aufwertung der expressiven Qualität des Textes ist auch für die Rezipientin Karoline untrennbar mit der melancholischen Tragik verbunden; deshalb hebt sie das melancholisch reflexive »Armseligkeit«-Duett so hervor (Szene II i B). Das Problem der individuellen Freiheit des Subjekts in den Strukturen absolutistischer Macht scheint politisch nicht positiv lösbar; damit deutet das Libretto zugleich auf ein Unbehagen an der aristokratischen Kultur hin, zu der aber offenbar keine Alternativen bestehen — außer in der eigenen Stilisierung des bürgerlichen Autors zum »göttlichen« Schöpfer, worin sich der Kult der »hohen That« auf eine politikferne ästhetische Ebene verschiebt.
7Ariadne< unter Bendas Leitung eine öffentliche Kontroverse über den ästhetischen Rang des deutschen Modells." Obwohl diese Außenwirkung im Vergleich zur Rezeption innerhalb des deutschsprachigen Raums insgesamt als gering betrachtet werden muß und v. a. keine produktive Nachwirkungen in den anderen europäischen Kulturräumen 12 entfaltete, übertreffen Bendas Melodramen damit alles andere im Bereich des deutschen Musiktheaters ihrer Zeit. Das Melodrama in der Ausprägung bei Benda stellt somit auch aus der Sicht anderer europäischer Kulturen denjenigen deutschen Beitrag zum Musiktheater dar, der wegen seiner relativen Andersartigkeit als typisch deutsche Form am ehesten auf Interesse stößt (im Gegensatz zum sonstigen deutschen Musiktheater). Andererseits kann sich die Gattung in den Ländern, die eine starke nationalsprachliche Operntradition aufweisen (v. a. in Frankreich und Italien), nie durchsetzen.13 Im deutschen Bereich zeigen die Reaktionen auf das ausländische Interesse bei den Anhängern des Genres oft einen kulturpatriotischen Impetus,14 der 9
Zu diesen Textdrucken kommen noch fremdsprachige Klavierauszüge und zahlreiche Manuskripte; vgl. Schimpf 1988, S. 2O^i(. und S. 2iPygmalion< 10 im Repertoire längerfristig durchsetzen konnten. Damit stellt das Melodram jedoch, verglichen mit der Gesamtzahl der musikdramatischen Produktion (vgl. u. Teil IV), absolut gesehen nur eine untergeordnete Größe im deutschen Musiktheater dar. Seine Bedeutung liegt daher, wie Schimpf zu Recht betont, »sicher nicht in seinem quantitativen Gewicht«, sondern »in der provokatorischen Neuheit seiner Erfindung«, in seiner »anregende[n] Kraft, die zumindest teilweise unabhängig von der Theaterpraxis war und über sie hinausreichte.« 19 Zu fragen wäre daher, was diese provokatorische Wirkung ermöglichte und ausmachte. Im Anschluß an das zu >Alceste< Entwickelte kann sie als Transformation empfindsamer Dramatik und Weiterentwicklung des Leidenschafts15 ln
17 1(t
19
Schimpf 1988, S. 49. Der Erkenntnisgewinn durch Schimpfs Arbeit wird z.B. daran deutlich, daß Holmström 1967 (S. 52) noch von einer Gesamtzahl von etwa 30 deutschen Melodramen ausging, während Schimpf mehr als die doppelte Anzahl bibliographisch dokumentieren kann. Schimpf 1988, S. 35. Text: J. J. Rousseau [nach Ovid] in verschiedenen deutschen Übersetzungen und Vertonungen (z.B. durch Anton Schweitzer, Weimar 1772); am beliebtesten die Fassung von F. W. Gotter und G. Benda (1780). Noch im April 1798 löste eine Aufführung des Stücks (in der Vertonung Bendas) durch Iffland in Weimar eine briefliche Kontroverse zwischen Goethe und Schiller über das Melodram aus; vgl. dazu Holmström 1967, S. 90f. Während Schiller das Melodram ablehnte, bildete für Goethe Ifflands schauspielerische Wiedergabe des Melodrams ein wichtiges Beispiel für den abgerundeten, anti-naturalistischen Schauspielstil, den Goethe dann um 1800 in Weimar einzuführen versuchte. Vgl. dazu auch Goethe: Einige Szenen aus Mahomet nach Voltaire (MA 6.2, S. 6c>if.; zuerst 1800 in den Propyläen publiziert). Schimpf 1988, S. 36. 297
und Sinnlichkeitsbegriffs der Zeit bestimmt werden. Dazu sind die von der neuen Gattung implizierte Anthropologie und die in ihr greifbar werdenden, epochenspezifischen oder innovativen Strukturen von »Emotionalität« zu klären. 1.2. Das Melodram als Neuansatz: Lösungsversuch interner Probleme im System der dramatischen Formen Das Melodram - oder, wie es häufig in der Terminologie der Zeit benannt wird: das »Mono-(bzw. Duo-)drama mit musikalischen Zwischensätzen«20 — nimmt als musikdramatisches Genre eine aufschlußreiche Zwischenposition ein zwischen dem »Schauspiel mit Musik«, d.h. gesprochenen Texten mit rein funktioneller Bühnenmusik, 21 und der Oper.22 So wird es auch von den Zeitgenossen begriffen: Dreßler bezeichnet es 1777 als »das Mittelding zwischen der Ernsthaften Oper und dem Trauerspiele«.23 Mit der Oper teilt es die enge inhaltliche Verzahnung von Musik und Text, die sich musikgeschichtlich aus dem Accompagnato-Rezitativ herleiten läßt,24 mit dem Trauerspiel, der in der Gattungstheorie der Zeit noch immer höchsten Form25 des Dramas, den über20
21
22
23 24
25
Zur Terminologie der Zeit und ihren Schwankungen vgl. oben S. i2ff. und (speziell zum Melodrama) Schimpf 1988, S. i2ff. Wesentlich scheint in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die Experimente in Frankreich ab etwa 1764 mit einer engeren Verbindung von Tragödie und Musik: Musik sollte z.B. in den späten Voltaire-Trauerspielen nicht nur als erholsame Zwischenaktmusik fungieren, sondern auch einen minutiös kalkulierten Platz im Stück selbst als Mittel der atmosphärischen Imaginationslenkung einnehmen (vgl. Holmström 1967, S. 34f). Das geht deutlich über das z.B. auch von Lessing (etwa in der >Hamburgischen DramaturgieUgolinoClavigoEgmontReinold und Armida< [Armida und Rinaldo; wiederum ein typischer Opernstoff des 17. Jahrhunderts] in den einzelnen Drucken mit folgenden Gattungsbezeichnungen versehen: »Oper« (München 1780), »Melodrama« (Salzburg 1792), »romantisches Drama für die Musik« (Wien 1808). Dreßler 1777, S. 82; vgl. a. Rößig 1779, S. 3f. Vgl. Richerdt 1986, bes. S. 88ff. Schon Rousseaus >Pygmalion< sollte als praktische Demonstration seiner Rezitativ-Theorie dienen. Aufschlußreich sind die Ausführungen von Gemmingen 1780, der auch von der älteren Oper nur das AccompagnatoRezitativ gelten lassen will, weil es den Zuschauer in die richtige Illusion versetzen könne (s.u. Anm. 34). Auch J. J. Eschenburg subsumiert 1783 in seiner >Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften die Melodramen unter das AccompagnatoRezitativ: Er nennt »die neuern Melodramen, die eigentlich von Seiten ihrer musikalischen Behandlung obligate Rezitative sind« (Abschnitt »Kantate«, S. 159). Vgl. Rochow 1988.
298
wiegend tragischen Schluß, das Fehlen komischer Sujets26 oder Episoden sowie das erhöhte Gewicht mimischer und deklamatorischer Qualitäten der Schauspieler(innen). Mit Oper wie Trauerspiel teilt es schließlich die Vorliebe für antike Sujets: Etwa zwei Drittel der bei Schimpf verzeichneten Melodramen beruhen auf derartigen Stoffen, meist aus der griechischen Mythologie.27 1.2.1. Oper Das Melodram kann in dieser Zwischenposition als Reaktion auf Defizite der bestehenden Gattungen verstanden werden.28 Im Vergleich zur Oper bedeutet dies konkret: Ersatz der Versformen durch grundsätzliche »Prosaoption«,29 Reduktion traditioneller Gestaltungsformen (Arie, Rezitativ; Auflösung ihres für die ältere Oper konstitutiven Gegensatzes), dadurch aufführungspraktisch bessere Verständlichkeit des Textes, mimisch und gestisch engere Beziehung zur Schauspielpraxis, potentiell Stärkung dramatischer Wirkung. Daß die Zeitge26
27
28
29
Schon Dreßler 1777, S. 82, vermißte ein Äquivalent für den komischen Bereich. Die einzigen Ansätze dazu bilden zwei Skizzen von J. F. Schink, die ungedruckt und unvertont blieben; vgl. Istel 19063, S. 52f.; Holmström 1967, S. 95 und Schimpf 1988, S. 158 Anm. 2i. Das Fehlen komischer Sujets resultiert m.E. aus den grundlegenden Strukturelementen des Genres: Die ständigen Musikinterpolationen zerdehnen die Handlung und erlauben kaum rasche Handlungsabläufe, wie sie für die Komödie des 18. Jahrhunderts typisch sind. Das Melodram rückt durch das langsame dramatische Tempo den Charakter der Hauptfigur ins Zentrum, während die Handlung tendenziell sekundär wird; die Komödie des 18. Jahrhunderts stellt dagegen genau umgekehrt Handlung über Charakterzeichnung (vgl. Pfister 1977; Greiner 1992). Schimpf 1988, S. 153 sowie S. 257 (statistische Übersicht). Daneben zeigt sich die Form des Melodramas aber auch offen für moderne Stoffe, wie die Stücke nach Ossian, G. A. Bürger, Katharina v. Stolberg oder Goethes >Werther< zeigen. Diese Einschätzung des Melodrams als Antwort auf die wirkungsästhetischen Defizite der vorhandenen Gattungen geht sehr deutlich aus der frühen und ausführlichen Besprechung von >Ariadne auf Naxos< durch Rudolf Erich Raspe hervor, die von JörgUlrich Fechner (1993) aufgefunden wurde. Raspe verweist z.B. ausdrücklich auf die Opernkritik Francesco Algarottis, dessen Traktat (1755) von ihm 1769 ins Deutsche übertragen worden war (vgl. o. II.2,, Anm. 98). Schimpf 1988, S. i59ff. Dies soll v. a. die distanzschaffende Wirkung von Versen vermeiden, wie Huber 1791, S. 66, betont: »Aber was kann unnatürlicher seyn, als ein Dialog in gereimten Versen? [ ] Jeder Vers, der auf dem Theater recitirt wird, ist unnatürlich.« Im Verständnis der Zeit bot demgegenüber der Prosatext »alle Möglichkeiten der Entfaltung eines individuellen Sprechduktus« (Schimpf 1988, S. 164). Als Gotter später für seine Werkausgabe den (Prosa)-Text der >Medea< versifiziert, sieht er sich zu einer Vorbemerkung gezwungen, die die bewußte Absetzung dieser >LesetextAriadneunnatür30
31
32 33
Theater-Kalender, Gocha 1776, S. 103!".; s.a. Gothaische gelehrte Zeitungen 1775, 8.73. Wagner 1777, S. 120. Vgl. auch die zunächst zustimmenden Äußerungen Mozarts (s. u.), später J. F. Reichardts (vgl. Anm. 35), die von einem Unbehagen der Komponisten mit den konventionellen Formen, besonders dem Rezitativ, zeugen; vgl. Schimpf 1988, S. 6$f{. und Bauman 1981. Auch der Algarotti-Übersetzer R. E. Raspe sieht im Melodram Möglickeiten zur Reform der kritisierten Oper; vgl. Fechner 1993. Auch im Ausland wird das Melodram im Kontext einer Opernreform gesehen. So schreibt Laurent Garcin 1772 unter Hinweis auf Rousseaus >PygmalionAriadne auf Naxos< ist der Grundduktus lyrisch-monologisch, nicht dramatisch. Bildet im konventionellen Verständnis der Zeit der Dialog die dramatische Grundform,37 der Monolog die Ausnahme,30 so ist dieses Verhältnis hier in sein Gegenteil verkehrt: Das Stück ist nahezu ein einziger Monolog. Auch in >Medea< stellen die wenigen Dialoge nur Abweichungen vom vorherrschenden Monologtypus dar. Von aufmerksamen Zeitgenossen wurde dies sofort gesehen. So betont der Freiherr von Knigge in einer begeisterten Rezension von Bendas beiden Stücken warnend: Wenig Sujets lassen sich auf diese Weise behandeln. Die Zwischenräume, die zwischen den Perioden bleiben müssen, damit die Music Zeit habe einzuwürken, verstatten wenig Dialog und keinen raschen Gang der Handlung. Es bestehen also größtentheils solche Schauspiele nur aus Monologen.39
Auch in der sonst sehr positiven >MedeaTeutschen Merkur< heißt es: Wie wenig diese Gattung den Dialog zuläßt, kann man aus der Scene zwischen Jason und Medea sehen, und man hat wohl gethan, sie bey der dritten Vorstellung abzukürzen.40
Diese Rezension belegt, daß die Dominanz des Monologischen als Strukturprinzip des Melodrams begriffen wurde. Der Dialog stört offenbar grundsätzlich das, was man im Melodram erleben möchte: die gefühlsintensive Introspektion; deshalb wird er in der Theaterpraxis hier gekürzt, obwohl er im Stück ohnehin nur auf ein Minimum beschränkt ist (ganze sechs Wortwechsel). Allgemein werden Dialoge im Melodram, in ihrer Funktion als Träger der äußeren Handlung, oft als »kalt und gleichgültig« beurteilt, wozu die Musik dann »meist schweigen«41 solle. ·" Vgl. Schimpf 1988, S. I32ff.; Pfister 1977, S. iSoff., S. 38 Gottsched 1751, S. 648: »Kluge Leute [ ] pflegen nicht laut zu reden, wenn sie allein sind; es wäre denn in besonderen Affecten, und das zwar mit wenig Worten. Daher kommen mir die meisten einzelnen Scenen sehr unnatürlich vor; [ ].« Ähnliche Äußerungen finden sich bei Ramler, Sulzer u.a.; vgl. Schimpf 1988, S. 137 Anm. 126. w Knigge SW 18, S. jc^ff. 40 Der Teutsche Merkur 1775, H. 3, S. 277. 41 Rößig 1779, S. 7. C. G. Neefe bei ließ z.B. der Vertonung von Meißners >Sophonisbe< alle Dialogpartien unvertont (vgl. Schimpf 1988, S. I33ff.; Küster 1992, S. 246) damit näherte er das Melodram wieder an das dramaturgische Modell des sächsischen Singspiels mit seinen gesprochenen Dialogen an. Auch Johann Carl Wezel betont z. B. in seinen Reformvorschlägen im Vorwort zu >Zelmor und Ermide< (Leipzig 1779): 302
Zumindest ein Teil der Rezipienten sucht also im Melodram etwas, das von den tradierten Konventionen des Dramas erheblich abweicht: nicht dramatischen Dialog, sondern gefühlsbetonten Monolog, nicht äußere Handlung, sondern innere Spannung und Expression. Von daher stellt das Melodram nicht nur eine Innovation gegenüber der Oper, sondern auch gegenüber dem Trauerspiel dar und verweist auch auf Defizite dieser Gattung im Verständnis der Zeit. Offenbar wurden Wirkungskraft und innere Spannung der konventionellen Tragödie zunehmend als unzureichend empfunden, so daß man diese durch die Kombination mit der Musik zu erhöhen versuchte. 1.2.3. Bühnenpraxis Dies führt auch auf der Ebene der theatralischen Aufführung zu einem neuen Impuls: Die Konzentration auf die monologisierenden Schauspieler, die die langen Monologe und gerade die musikalischen Unterbrechungen< nonverbal zu füllen verstehen mußten, erfordert von diesen ein gesteigertes Maß an mimischer und deklamatorischer Virtuosität - und ermöglicht diese gleichzeitig.42 Es ist kein Zufall, daß die Entstehung zahlreicher Melodramen auf den Wunsch von Schauspieler(inne)n nach »Zugstücken« zurückgehen. So entstand z.B. >Medea< (nach dem Erfolg der >Ariadne< und ihrer Darstellerin Charlotte Brandes) offenbar auf Wunsch der Prinzipalsgattin Sophie Seyler nach einem eigenen Erfolgsstück, ebenso wie später die Melodramen >Sophonisbe< (A. G. Meißner/ C. G. Neefe, 1776) und >Cleopatra< (J. L. Neumann/F. Danzi, i78o).43 Entspre-
42
43
»Prosaische Rede ohne Musik - sie gehört für den Dialog, für Erzählung und für untergeordnete Empfindung.« Das Melodram steht in einer engen und in der Forschung bislang noch nicht genügend gewürdigten Beziehung zu dem Handlungsballett Gasparo Angiolinis oder J. G. Noverres, das einen neuen Stil dramatischer Pantomimik entwickelte, der wiederum zurück auf die Schauspielkunst wirkte. Vgl. dazu Paolo Russo: Visions of Medea: Musico-dramatic transformations of a myth. In: Cambridge Opera Journal 6 (1994), S. 113 — 124; allg. Matthias Sträßner: Tanzmeister und Dichter. Literaturgeschichte(n) im Umkreis von Jean Georges Noverre. Berlin 1994. Neben der Pantomimik zeigen sich weitere Parallelen v. a. in den strukturellen Axiomen der Kürze und Dichte der Musik und der dadurch erzwungenen Lösung der kompositorischen Gestalt von traditionellen Formmustern. Auch >Ariadne< ihrerseits ging wohl teilweise auf den Wunsch von Charlotte Brandes zurück, nachdem Franziska Koch 1774 in Weimar Triumphe in Rousseaus >Pygmalion< (Musik von A. Schweitzer) gefeiert hatte, und es ist sehr bezeichnend, daß mit dem Schauspieler Johann Christian Brandes ein Theaterpraktiker den ersten deutschen Melodram-Text schuf. Ursprünglich sollte auch zu diesem Werk Anton Schweitzer die Musik schreiben, wurde daran aber angeblich durch den >AlcesteAriadne auf Naxos< (1775): »1775 hat die deutsche Bühne in Beobachtung der Gesetze des Kostüms wieder sehr weit gebracht. Bey der Vorstellung der Ariadne zu Gotha erschien das erste ächtgriechische Kleid auf dem Theater. Es war nach den Zeichnungen alter Denk44
45 4(5 47 48
49
»Unstreitig verlangt der Zuschauer bey dem sichtbar vorgestellten Gang hoher Leidenschaften mit Recht einen großen Umfang des Tons, des MinenspieLs, und eine reichhaltige ungezwungen ineinander fortschwebende Gesticulation, um die aus so langen Monologen zuweilen folgende Eintönigkeit zu vermeiden« (J. F. Goez, Vorrede zu >Lenardo und BlandineMedea< wird keine gestörte Ordnung wiederhergestellt; stattdessen triumphiert eine neue Ästhetik der Erschütterung. (5) Dazu aber ist die vollkommene Illusion des Zuschauers nötig, möglichst ohne die geringste Distanz aufkommen zu lassen; dies bildet die innere Rechtfertigung der Musik, die dramaturgisch zum zentralen Träger der Wirkungsabsicht umfunktionalisiert wird. Das Bemühen um eine möglichst suggestive Darstellung von ungeheuren, erhabenen Leidenschaften führt dadurch zu einer erneuten Aufwertung der Musik von der Hilfskunst zum eigentlichen Träger der Wirkung. (6) Die Emanzipation der Wirkungs-intensität von moralischen Überformungen bedeutet schließlich auch, daß das Melodram nicht mehr als rein normenkonforme, applikative Theaterform angesehen werden kann, sondern tendenziell komplementäre Aufgaben gegenüber den leitenden Moralkonzepten der Zeit erfüllt. Einige dieser Transformationen, die nun genauer ausgelotet werden sollen, lassen sich ansatzweise auch in Herders >Brutus< erkennen (s.o. II.3). Doch erst im Wechsel zur neuen Dramaturgie des Melodrams werden die Potentiale dieser Veränderungen voll gestaltbar. 2.2.1. Von der Tugend zur Normverletzung >Medea< beginnt demonstrativ mit der Beschwörung des ehemals intakten Familienraums als eines verlorenen: Vertrauter Wohnsitz! Vormals den Schutzgöttern frommer Eintracht, häuslichen Glücks, der unverbrüchlichen Treue heilig! [*] So wag ichs, dich wieder zu betreten! [*] Freistart 309
unaussprechlicher, für mich auf ewig verlorner Freuden! [*] Haus meines Gatten, der mich von sich stößt! [*] Meiner Kinder ...[*] ach, die nicht mehr mein sind! f*]68
Der Punkt, an dem das Stück einsetzt, betont die Zerstörung derjenigen Familienstruktur, die in >Alceste< das Zentrum des empfindsamen Tugendkonzepts bildete. Der Familienraum, den Wieland gerade in der Gefährdung von außen als tragende Form der Sozialordnung vorgeführt hatte, ist hier von vorneherein unrettbar zerbrochen und kann allenfalls noch rückblickend verklärt werden. Obwohl Medea, wie Alceste, vom »häuslichen Glück« als Norm ausgeht, wird der familiäre Binnenraum der Kleinfamilie nur noch als verlorene Möglichkeit des Soziallebens gezeigt/'9 beschädigt durch den Mann Jason, der seine Individualität über die Sozialbindung der Familie stellt. (Ähnlich wie in >Alceste< bildet die Mutter-Perspektive die dominante, während der Vater zur Nebenfigur wird: eine deutliche Differenz zur zeitgenössischen Dramatik.70) Im expositionellen Rückblick erscheint der normkonforme Typus der >zärtlichen Mutter< als die eine, verlorene Seite von Medeas Existenz: Erst die Zerstörung des Familienraumes ruft ihre Rückbesinnung auf ihre Zauberkräfte hervor, die jenseits der Sozialordnung stehen. Während diese Kräfte in der auf Seneca aufbauenden Tradition der Medea-Tragödien üblicherweise als Ursache der Störung gezeigt werden, bilden sie hier umgekehrt deren Folge. Die zerstörte Familie signalisiert die Störung sozialer Normen überhaupt. Bezeichnend ist, daß lediglich extrem starke und irreversible Normverstöße vorgeführt werden: Ehebruch, Kindermord, Selbstmord. Diese Normverstöße geschehen nicht, wie in der rationalistischen (weitgehend auch der empfindsamen) Dramentheorie gefordert, aus Verblendung oder Irrtum der Handelnden
69
70
Von >Medea< existieren verschiedene Fassungen; neben der Gothaer Fassung von 1775 ist besonders eine gekürzte und neu instrumentierte Version Bendas für Mannheim 1784 erwähnenswert. Ich zitiere Text und Musik im folgenden nach dem kritischen Neudruck der Partitur: Georg Anton Qiri Antonin] Benda: Medea. Melodram. Partitur, hg. v. Jan Trojan. Prag 1976 (Musica Antiqua Bohemica II, 8), hier S. ioff.; im folgenden abgekürzt als: Part. ([*] bedeutet: Musik). Diese Ausgabe bringt die Erstfassung von 1775 sowie in einem Anhang spätere Veränderungen. Zur Kritik an dieser Neuausgabe vgl. Richerdt 1986, S. i^of. Wo >Alceste< fast durchweg in geschlossenen Räumen spielt, spielt >Medea< durchgängig im Freien. Die Natur ist hier jedoch kein idyllischer Rückzugsraum mehr, sondern eine Chiffre des unbehausten Individuums und der zerstörten Sozialräume. Vgl. Vogg 1993. Die für die Melodramen insgesamt typische Emotionalisierung und der passive Leidens-Status der Hauptfigur (s. u.) werden dabei entsprechend der sich allmählich ausprägenden Geschlechterstereotypik als typische weibliche Merkmale angesehen (vgl. Titzmann 1990, S. 149). Ulrike Küster bezeichnet das Motiv der zärtlichen Mutter als Sonderfall, der das Melodram spezifisch von den dramatischen Gattungen seiner Zeit abhebe (S. 187). Als Beleg dafür zieht sie jedoch ausschließlich Texte aus dem Bereich der >bürgerlichen< Dramatik heran (Lessing, Leisewitz, Klinger, Lenz). Wie >Alceste< zeigt, ist das Mutter-Motiv jedoch in dem anderen Traditionsstrang des Melodrams, der Oper, sehr wohl belegt, was Küster übersieht.
310
und sind auch nicht durch Belehrung, Einsicht oder Verzeihung aufhebbar; sie haben eine neue Qualität. Tugend- und Normen-Konzepte erscheinen im Raum dieses Stücks nur noch als Hintergrund, vor dem sich die besondere affektive Qualität der Normverstöße plastisch und wirkungsvoll abhebt. Daß das Stück Normverletzungen statt »Tugend« ins Zentrum stellt, bedeutet jedoch zunächst keine Kritik am zentralen Wert der Familie an sich (wie zeitgleich im Sturm-und-Drang, etwa bei Lenz). Medea sucht nicht etwa eine neue, individuelle Existenz außerhalb der Familie und beginge deshalb Normverstöße; sie ist auch nicht von zu rigiden Tugendbegriffen eingeengt und müßte diesen entfliehen: Ganz im Gegenteil möchte sie eigentlich nichts anderes als ein normkonformes, >tugendhaftes< Leben im Raum der empfindsamen (Klein)Familie führen. Daß ihr dies durch Jasons Ehebruch verwehrt wird, motiviert die Darstellung weiterer Normverletzungen im Stück. Die Normverstöße werden somit — zumindest partiell — psychologisiert, statt als bloße unvernünftige Fehler oder als »Laster« der Figur zu erscheinen. Der Familienraum bleibt weiterhin, gerade in der intensiven Emotionalisierung, als der eigentliche Raum des innerweltlichen Glücksanspruchs des Subjekts kenntlich, der Theodizee verbürgen könnte. Die Theodizee selbst aber greift im Stück nicht mehr, und die moralischen Normensysteme verlieren dadurch ihre Bedeutung als »Formulierungsgrenzen«. 71 Schon der Zeitgenosse C. G. Rößig stellt dies unmißverständlich als gattungskonstitutives Kennzeichen des Melodrams dar: »Es verbannt alle allgemeine moralische Sätze; hier sind sie fremde Theile, die das Ganze verunstalten, so sehr sie bey anderer Gelegenheit glänzen.«72 Die Tugend-Konzeptionen der Zeit werden also im Stück auf einen Hintergrund ohne faktische Wirkungsmacht reduziert: Sie hindern weder Jason am Ehebruch noch Medea am Kindermord. Wielands >Alceste< hatte am antiken Beispiel Tugendkonzeptionen vorgeführt und ihre soziale Tragfähigkeit diskutiert. Gotters Melodram vollzieht einen Bruch mit dieser Tradition und fokussiert statt sozialer Tugenden die Strukturen individueller Emotionen. In der Darstellung dieser Emotionen zeigt Gotters Melodram gegenüber der durch Wieland repräsentierten Form empfindsamer Kultur drei wesentliche Veränderungen: Individualisierung, Intensivierung und Entrationalisierung. Die Figur der Medea bietet dafür ideale Voraussetzungen: als Frau, die aus Liebe ihre Heimat verließ und nun in der Fremde lebt, die sozial ausschließlich über diese Liebe definiert ist und für diese Liebe alle anderen Sozialbindungen opfern mußte. Dies betont Medea im Eingangsmonolog gleich zweimal: Ha, Treuloser! [*] Ist das mein Lohn? [*] Hast du vergessen, daß dein Leben mein Werk ist? [*] Daß ich dir alles aufopferte? 7 ' 71
Vgl. Wegmann 1984, S. no. Rößig I779.S.9· " Part. S. 2i f. 72
311
Wo soll ich hin? In mein Vaterland zurück? Verließ ichs nicht um seinetwillen? Würden unsre Hausgötter nicht vor dem Schall meiner Tritte fliehen? Die Gebeine meines Vaters nicht erzittern? Meine Brüder nicht die Schmach rächen, die ich über sie gebracht habe?74
Die Isolation Medeas bildet eine (erzwungene) Parallele zu der entschiedenen Abkehr von der Gesellschaft, die Goethes Werther freiwillig vollzieht. Als fiktionaler Demonstrationsraum ähneln sich die monoperspektivischen Formen dieses Briefromans und des Melodrams: Beide lenken in der Auflösung der Sozialbindungen alle Aufmerksamkeit auf den individuellen Binnenraum der Hauptfigur.75 In diesem Maximum an Subjektivität kultivieren beide Figuren intensive individuelle Emotionen: Werther die zur Passion gesteigerte Liebe zu Lotte, Medea die Rache. Liebe wie Rache aber beziehen ihre Rechtfertigung aus der individuellen Intensität, nicht mehr aus einer irgend >tugendhaften< Moral. Beide Figuren, Werther wie Medea, führt die Isolation zur ausschließlichen Selbstreferenz; beide nehmen sich als Individuum über ihre Differenz zur Restgesellschaft wahr. Erst durch diese Erfahrung wird Medea von der normkonformen zärtlichen Mutter zur rächenden Zauberin. Diese Individualität Medeas geht damit weit über die ältere aufklärerische Konzeption von »Individualität als Oberflächendifferenz in begrenztem und standardisiertem Rahmen« 70 hinaus, die z.B. auch die Figuren in Wielands >Alceste< kennzeichnet. Darin wird zugleich ex negativo die extreme Intensivierung der Emotionen deutlich.77 Die Liebesbeziehung wird zum höchsten affektiven Wert überhaupt aufgewertet, der Glück und Sinn der Existenz garantiert:70 Verliert Medea Jasons Liebe, verliert sie zugleich ihre gesamte Umwelt. Subjektivität wird zur Exklusions-Individualität, die alles andere ausschließt. Dadurch verkehrt sich die bisher gültige Struktur von Emotionen und Beziehungsformen79 in ihr Gegenteil: Bei Wieland ergeben sich die Gefühle Alcestes für Admet aus ihrer Ehe-Beziehung zu ihm (weil sie seine Frau ist, ist es ihre Pflicht, ihn zu lieben
74
75
76 77
78
79
Part. S. 2jf. Hier verwendet Benda die sog. »Parakataloge«-Technik, d.h. Musik und Text wechseln nicht ab, sondern der Text wird während weiterlaufender Musik gesprochen; eine Technik, die Benda nur für besonders herauszuhebende Textpassagen verwendet. In der weiteren Entwicklung des Melodrams als Gattung wird die Einsamkeit und Verlassenheit der Hauptfigur topisch; vgl. Küster 1992, S. I75ff. Dies macht zugleich dramaturgisch ihr Monologisieren glaubwürdig, woran Reste von poetologischen Wahrscheinlichkeits-Doktrinen greifbar werden. Titzmann 1990, S. 142. Die Intensivierung läßt sich z.B. schon äußerlich an den Regieanweisungen ablesen. Mehr als die Hälfte der Regieanweisungen geht über pantomimisch-szenische Angaben hinaus und beschreibt innere Seelenbewegungen (Wut, Begeisterung, Mitleid, Flehen, Hohn, »orestische Raserey« [Part. S. 112] etc.). Vgl. Titzmann 1990, S. 144. Ebd.
312
und sich für ihn zu opfern), bei Medea resultiert umgekehrt diese Beziehung aus ihren Gefühlen (weil sie ihn liebt, wird sie seine Frau). Die Familialisierung der dargestellten Welt, die bei Wieland deutlich war, wird durch eine neue Form von Exklusions-individualität unterhöhlt: Die Familie wird der aufgewerteten, individualisierten Liebe untergeordnet. Medeas familiäre Bindung beruht nur auf ihrer emotionalen Liebe, nicht auf anderen Kriterien. Neben Individualisierung und Intensivierung bildet die Entrationalisierung der Emotionen eine dritte wesentliche Veränderung. Warum Jason Medea verstößt und Kreusa erwählt, wird im Stück nicht erklärt und muß offenbar auch gar nicht gerechtfertigt werden. Jasons Liebeswechsel ist bei Gotter als irrationaler Akt gestaltet, anders als in der Tradition, wo stets rationale Gründe für diesen Wechsel angegeben werden (z. B. politisch-taktische Kalküle oder die Mesalliance, die sich aus Medeas Zauberkräften ergibt). Auch Medeas Kindermord als Konfliktfall von Emotion und Normensystem wird im Stück nicht rational erklärt, allenfalls partiell psychologisiert. Im Zuge dieser Veränderungen werden in >Medea< (ebenso wie im >WertherWerther< bestätigt.00 Was jedoch im Medium des Romans zum Skandal wird, wird im höfischen Musiktheater als vorbildhaftes Werk >erhabener< Kunst akzeptiert. Die neue Konzeption von Individualität und Emotionalität erfordert nun einige radikale Eingriffe in die Tradition des Medea-Stoffs. Gotter weicht deutlich ab von der (in sich durchaus unterschiedlichen) Stofftradierung, wie sie v.a. über Senecas Tragödie für die Behandlung des Stoffs im 17. und frühen 18. Jahrhundert konstitutiv wurde und wie sie etwa auch Hederich im AnVgl. Jäger 1974; Wegmann 1984, S. nof. 313
Schluß an Euripides, Ovid und Seneca dem zeitgenössischen Wissen zur Verfügung stellte. Ebensowenig aber schließt Gotter sich an die Operntraditionen an; stattdessen nutzt er den Freiraum des neuen Genres zu einer eigenständigen Akzentuierung des Stoffes im Lichte der neuen Erfahrungen um 1775.8l Der äußere Rahmen des Mythos wird von Gotter weitgehend ausgeblendet; er ist nur als Auslöser von Leid nötig, als Einkleidung einer psychologischen< Fallstudie über Exklusions-Individualität. Gotter setzt auf die innere Aktualität des Stoffs, die sein ausführliches äußeres Referieren überflüssig macht.82 Daraus resultiert die bemerkenswerte Freiheit des Autors im Umgang mit der StoffTradition, die ihm dann in der Rezeption ausdrücklich zugestanden, ja sogar zu einem neuen Modell des Umgangs mit Traditionen stilisiert wurde.8' 81
82
83
Parallelen gibt es zu dem Ballet tragique >Medea e Giasone< (>Medee et JasonDidone AbbandonataMedee< von Jean-Marie-Bernard Clement (1779, vgl. Russo 1994, S. 117). Diese beiden Gestaltungen des Mythos weisen beide wie Gotters Text eine sehr reduzierte Szenenanzahl, dramaturgische Konzentration und ein kompaktes Fokussieren der Medea-Figur auf; ebenso wird alles Übernatürliche vermieden. Während ein Einfluß Noverres auf Gotter denkbar ist (vgl. Holmström 1967, S. 35f.), deuten die Übereinstimmungen bei Clement eher auf großflächigere, zeittypische Tendenzen hin. (Daneben war der Medeastoff noch in einer zweiten Ballettversion behandelt worden, nämlich in Etienne Laucherys >Medee et JasonAriadne auf NaxosAriadne auf Naxos< betont der Rezensent, daß es die Wirkung fördere, »wenn man sich so wenig, als möglich, an die ungereimten Fabeln, und mehr an die Geschichte des menschlichen Herzens hielt[e].« (Bäuerische Beyträge zur schönen und nützlichen Litteratur. München 1779; zit. n. Schimpf 1988, S. 130). Eine späte Äußerung erhebt dieses Verfahren dann zur Gattungsnorm: »Der Dichter des Melodramas hat ein Sujet zu wählen, bei welchem weniger auf die vorgestellte Geschichte an sich, als auf das Gefühl Rücksicht genommen wird, zu dessen Darstellung die Geschichte gleichsam Gelegenheit giebt. Der Zuschauer soll in dem Melodrama nicht eigentlich eine Begebenheit sehen, wie im Schauspiele und selbst in der Oper, sondern er soll ein gewisses Gefühl auf das lebhafteste empfinden. [ ] Es ist nicht die Geschichte der Ariadne, die wir in dem Melodrama vernehmen sollen [ ], es ist die Verzweiflung einer zärtlich Liebenden, die wir mit ihr empfinden sollen.« (Johann Heinrich Gottlieb v. Heusinger: Handbuch der Ästhetik. Gotha 1797. Bd. i, S. i97f.)
314
An die Stelle der >objektiven< Wiedergabe des mythischen Zusammenhangs tritt bei Gotter die betonte Innensicht der Hauptfigur, was sich z.B. am Ausblenden fast aller wichtigen Figuren der Seneca-Tradition und besonders aller genealogisch-politischen Ebenen zeigt.04 Gotter zeigt keine Ansätze Medeas, der Verbannung zu entgehen oder sie aufzuschieben; das Stück beschränkt sich völlig auf die innere Verarbeitung des Geschicks, in das Medea sich fügt. Es gibt keine Versuche argumentierender Dialoge, mit denen Medea in der Schauspieltradition versucht, Jason zurückzugewinnen. 8 ' Es gibt auch keine Rettungsversuche äußerer Art, wie die Intrigen in der Opern-Tradition des Stoffs (etwa die Oronte-Figur bei Thomas Corneille/M. A. Charpentier); bei Gotter wird die völlige Isolation der Figur als unumkehrbar akzeptiert, d. h. als Experimentierfeld hergestellt. Alle Aktionselemente sind demgegenüber (ebenso wie Jasons Rolle) auf ein Minimum reduziert.86 Entscheidender noch aber scheint mir die in der Stoffgeschichte (auch der späteren bis ins 20. Jahrhundert) singuläre Entlastung Medeas. Auslöser der Tragik ist allein der Treuebruch Jasons, der im Stück in keiner Weise davon freigesprochen wird. Damit setzt sich Gotter deutlich von der Trauerspieltradition87 ab, in der Jason häufig (als Opfer von Medeas Zauberkünsten) entschuldigt wird. Bei Seneca wie auch bei Pierre Corneille und Nachfolge ist Medea eindeutig die Alleinschuldige, die negative, boshafte Verbrecherin.88 Gotter 84
85
86
87
88
Kreon und Kreusa, die Gegenspielerin Medeas, erscheinen überhaupt nicht in persona, Jason nur als Randfigur. Ein ähnliches Beispiel bietet die Aeneas-Figur aus Karl Wilhelm Daßdorfs >Andromache< (Dresden 1777); vgl. Schimpf 1988, S. 134. Entsprechend unklar bleibt bei Gotter im Gegensatz zur Tradition z.B. auch, wohin Medea flieht und woher sie am Anfang des Stücks kommt. In zahlreichen Details zeigt sich, daß Gotter sich an Senecas Trauerspiel orientierte. Dazu zählen der Beginn, an dem Medea Juno (Lucina) um Leid für Jason anfleht (entspricht Seneca V. 1 — 115); ^er Marsch (Hymenaeus) des neuen Paares (V. 116); die Situation der Verbannung ohne die Kinder (die z. B. bei Euripides mit ihr verbannt werden sollen), die Begegnung mit der Amme und deren Befürchtungen (V. 380430), die Anrufung Hekates und der Erinnyen (V. 07off., 74off., 95iff.), die Flucht auf dem Drachenwagen (V. 1025). Die Übereinstimmungen gehen bis in einzelne Bilder hinein, etwa das von Ixions Rad (V. 744) oder der Erinnyen als Peitschen (V. 962) und Schlangen (V. 961). Auch der Schluß, bei dem Medea Jason die Leichen der Kinder überläßt, folgt Seneca, während bei Euripides Medea die Leichen selbst mit sich nimmt. Der Selbstmord Jasons bei Gotter verdankt sich dagegen Pierre Corneilles Tragödie. Die negative Wertung der Medea-Figur zeigt sich z. B. noch in Lessings >Miß Sara SampsonHeiligsprechung< der Alceste bei Wieland. Davon aber weicht Gotter entschieden ab; er meidet alles direkte Moralisieren, das in der Trauerspieltradition üblich ist. Medea ist nicht das eindeutig negative Anti315
dagegen zeigt Medea zunächst als unschuldiges, tragisches Opfer Jasons, auf das das Mitleid der Zuschauer gelenkt wird. Alle Hinterhältigkeiten Medeas in der Seneca-Tradition (etwa ihr falsches Flehen um eine Tagesfrist oder typische Attribute wie das Gifthemd zur heimtückischen Tötung Kreusas) werden von Gotter eliminiert. Medeas Rache, im Verständnis der Zeit zweifellos ein negativer Affekt, wird zumindest partiell verständlich gemacht und psychologisiert: Sie ist nicht die Verblendungstat einer unmenschlichen Hexe, sondern die problematische Tat einer zutiefst verletzten Frau. Das Stück demonstriert, wie schwer Medea der Kindermord fällt, und erklärt ihn zugleich zum Teil durch ihre Verletzungen89 durch Jason. Die Medea-Figur wird bei Gotter im Zeitalter der »Erfahrungsseelenkunde«90 somit zu einer dilemmatischen Figur. Ihre Subjektivität überblendet zwei Perspektiven zu einer widerspruchsvollen Einheit: das unschuldige, tragische Opfer Jasons (zugleich >zärtliche Muttertötende Mutterflacher< Individualität und geselliger Gemeinschaft der gleich Empfindenden (bei Weiße oder Wieland) wird nun die forcierte Einsamkeit der Hauptfigur, in der sich eine Grunderfahrung der Differenz von Individuum und Gesellschaft zeigt, die weit über die empfindsame Kritik an der »kalten«, strategisch-taktischen Gesellschaft hinausgeht. Individualität und Sozialitätsgebot geraten in einen unlösbaren, aporetischen Konflikt. Die Spannung von Individualitätsforderung und Sozialitätsgebot bleibt aber, ebenso wie noch weitere Konflikte, die sich in den Melodramen öffnen (z.B. zwischen Mann und Frau, zwischen vorgefundener Weltordnung und subjektivem Glücksanspruch), ohne eigentliche Gestaltung als dramatische Handlung. Stattdessen verlagern die Melodramen die Konflikte meist in die Protagonisten selbst, die diese jedoch nicht lösen können. Die klare empfindsame Dichotomisierung der Welt in >Tugend< und >Laster< wird aufgelöst und problematisiert, auf der Bühne erscheinen konfliktuös gemischte Charaktere. Die Melodramen zeigen eine extreme Nahsicht auf das Individuum, das in der Regel als leidende Frau vorgeführt wird.' 38 Nahsicht und monologische Dramaturgie implizieren eine extrem hohe Bedeutung von Mimik und Gestik, da kaum äußere Handlung auf der Bühne stattfindet und durch die ständigen Musik-Einschübe das dramatische Tempo äußerst gedehnt ist. Die Darsteller können dabei nur auf die Tragödien-Tradition rekurrieren; weder im Bereich der Oper noch im Lustspiel stehen die entsprechenden gestisch-mimischen Codes zur Verfügung.139 Auch dies führt zur Vorliebe der Autoren für Stoffe aus der barocken und klassizistischen Tragödie, wobei es gleichzeitig zu einer Wiederbelebung der barocken Bühnentechniken kommt; Gotter setzt in >Medea< Flug- und Gewittermaschinen sowie Beleuchtungseffekte ein. Mimik und Gebärdensprache, mit der die Musik-Interpolationen szenisch gefüllt werden müssen, stehen im Melodram in deutlichem Gegensatz zur Theorie der schauspielerischen Darstellung, wie sie etwa Diderot, Lessing oder Engel postulieren: Während sie eine sparsame, möglichst ökonomische Gestik fordern, lebt das Melodram geradezu von einer darstellerischen Logik der Verschwendung und Verausgabung, der darstellerischen Pathetik, die durch die psychische Extremsituation der Figuren legitimiert wird. So berichtet '-" Vgl. Schimpf 1988, S. 135. 138 In antikem Gewand etwa Medea, Ariadne, Ino, Procris, Lampedo, Sophonisbe, Dido, Andromeda, Hero, Proserpina, Polyxena; vgl. Istel 19063, S. 94 und Schimpf 1988, bes. S. 153. Darin ergeben sich zugleich Parallelen zu Entwicklungen in der zeitgenössischen Sprechdramatik, in der sich eine Radikalisierung der empfindsamen Opferrolle zeigt, wobei der Akzent von der Schuld des Opfers auf die der Umweltstrukturen verschoben wird; auch hier finden sich häufig weibliche Hauptfiguren (vgl. Titzmann 1990, S. 159). 139 Vgl. allg. Fischer-Lichte 1988, Bd. 2. 329
etwa Johann Heinrich Merck aus Darmstadt an die Weimarer Herzogin Anna Amalia über Georg Voglers >LampedoAlceste< ebenso wie bei Hillers Singspielen die ästhetische Einheit allenfalls auf der Ebene der einzelnen Arien gegeben ist und ein offener, jederzeit aufführungspraktisch veränderbarer Zusammenhang von Text und Musik herrscht, zeigt Benda ein Bewußtsein vom gesamten Werk als ästhetischer Einheit. Dies ist gerade durch die relative Kürze der Werke möglich, die sich wiederum aus ihrer monologischen Struktur ergibt. Bei aller gestischen Prägung nimmt die Musik jedoch einen anderen Status ein als Szene und Text. Sie verdoppelt nicht das szenisch-gestisch Vorgeführte, sondern kommentiert es, beleuchtet es von einer anderen Ebene aus, nähert sich einem Erzähler-ähnlichen Status an. Weil gerade die Musik dabei die Funktion erhält, die neue Wirkungsästhetik des Erhabenen und Erschütternden zu gewährleisten, wird sie zum eigentlichen Träger des Ausdrucks aufgewertet.14' Die Musik beginnt damit, sich als eigenwertigen ästhetischen Raum zu konstituieren. 2.2.4. (Wirkungs-)Ästhetik der Erschütterung Die positive Schlußlösung, der lieto fine von Wielands >AlcesteMedea< von der tragischen Lösung. Dieser tragische Schluß, der charakteristisch für den Großteil der Melodramen ist, weicht erheblich von den Konventionen 140 141
Vgl. Hermann Kaiser: Barocktheater in Darmstadt. Darmstadt 1951, S. 142. Dies bestätigt von der aufführungspraktischen Seite her bereits eine frühe >MedeaReformoper< läßt den lieto fine unangetastet.'43 Am tragischen Schluß manifestiert sich die Verwandtschaft des Melodrams mit der klassizistischen Tragödie. Die Art des tragischen Schlusses aber unterscheidet das Melodram grundlegend von den tragischen Schlüssen der Tragödientradition. Der Schluß von >Medea< läßt sich kaum noch ethisch/moralisch als »Bestrafung« eines Schuldigen (Jasons) deuten und objektivieren. Hier wird weder ein Normgerüst im tragischen Untergang bestätigt (wie etwa im Märtyrerdrama oder der klassizistischen Tragödie), noch findet sich der operntypische positive, männliche Held, der im Sterben moralischer Sieger bleibt (wie Cato in Utica oder Tamerlan). Auch in der Folge weisen die Schlüsse der Melodramen in der Regel weder barocke Abschreckungseffekte144 noch aufklärerische Moraldidaxe auf. Der tragische Schluß, der in >Medea< noch durch Jasons Selbstmord gesteigert wird, stellt stattdessen ein notwendiges Element der neuen Gefühlskonzeptionen dar. Die Suche nach möglichst suggestiver Darstellung ungeheurer und erhabener Leidenschaften führt konsequent zu einer Wirkungsästhetik, die um den Begriff der Intensität zentriert ist. Schon in der deutschen Burke-Rezeption aber war betont worden, daß tragische und schreckliche Gegenstände in ihrer Wirkung den nur-schönen weit überlegen seien.'45 Daher resultiert aus der Intensivierung der Gefühle letztlich auch eine neue Ästhetik des Nicht-MehrSchönen und der Erschütterung, die, wie bereits für die Konzeption der Emotionen gezeigt wurde, sich von moralisierenden Überformungen freimacht. Der Schluß von >Medea< läßt sich nicht in Moralkonzepte welcher Art auch immer integrieren. Der tragische Schluß des Melodrams markiert einen Punkt, an dem sich Ethik und Ästhetik ausdifferenziert haben.' 46 Feierte Wielands >Alceste< 142
S.o. II-3, Anm. 29. Vgl. Dahlhaus 1974 und Küster 1992, S. 141. Auch in diesem Punkt bestehen Parallelen zwischen Herders >Brutus< und den Melodramen, die auf einen großflächigen Veränderungsprozeß hinweisen. 144 Nach dem Tugend-Laster-Schema oder dem constancia-/prudentia-Ideal; vgl. Schings 1971. MS Vgi Küster 1992, 97ff. 146 Das Problem des »Nicht-Mehr-Schönen«, des Vergnügens an tragischen Gegenständen, wird erst erzeugt von einer Poetik des Nützlichen/Moralischen. Was die aufklärerischen Poetiker des 18. Jahrhunderts als »Schreckliches« und »Häßliches« bestimmen und ablehnen, ist zuvor selbstverständlicher Bestandteil des Theaters, im barokken Trauerspiel (etwa bei Lohenstein) ebenso wie in der barocken Oper. Vgl. Zelle 1987, der das Problem des »angenehmen Grauens« als Motor der Entflechtung von Ethik und Ästhetik im 18. Jahrhundert beschreibt. M}
331
im positiven Schluß noch die Versöhnung von Sozialität und Individualität, von Ethik und Ästhetik, so ersetzt >Medea< gesellschaftliche Moralnormen durch wirkungsästhetische Prinzipien. Damit verkehrt sich auch das Verhältnis von Schönem und Schrecklichem, wie es z.B. noch bei Lessing konzipiert war.147 Das Schreckliche dient im Melodram jetzt nicht mehr als Ausnahme oder Kontrast zur Erhöhung der Wirkung des Schönen, sondern umgekehrt: Die wenigen Topoi des Schönen in >Medea< (loci amoeni und empfindsame Zärtlichkeit148) bilden nun die Kontrastfolie zur Steigerung der Wirkung des Schrecklichen und Erschütternden. Das Melodram vollzieht als erste Gattung konsequent den Schritt zu den >nicht-mehr-schönen KünstenMedeaobjektive< Nachahmung des Unwetters, sondern subjektive Spiegelung der Stürme in Medeas Seele, des Mordgeschehens. Bendas Musik entspricht daher allenfalls noch vage, in Tempo, Dynamik und heftigem Charakter, den Topoi der »Tempete«-Szenen.'64 Seine Komposition der Gewitterszene zeigt stattdessen den Übergang »vom mimetischen zum poetischen Verfahren«.' 65 Benda entwickelt einen auf genuin musikalischen Bauprinzipien beruhenden Satz, der die Großform A-AA' aufweist und nahezu monothematisch aus dem Leitmotiv der rächenden Medea (s.o.) abgeleitet ist (T. 624 u.ö.'66): Unisono-Lauf und punktierte Rhythmik verweisen unmißverständlich darauf. Das Potential dieses Leitmotivs, das 162 163
164
165
166
Part. S. 95, Anm. 3. Vgl. o. II. i sowie allg. Busch 1976 und Claus Bockmaier: Entfesselte Natur in der Musik des 18. Jahrhunderts, Tutzing 1992 (MVM 50). Finsternis, Gewitter und Stürme sind auch bei Burke als >erhabene< Topoi wichtig; zur literarischen und literaturtheoretischen Tradition vgl. Küster 1992, S. lö^ff. Daher wird seine Gewittermusik z.B. bei Busch abgewertet: »Die Frage, welche Komponisten Benda zum Vorbild gedient haben mögen, ist schwer zu beantworten. [ ] Im Vergleich erscheint das Unwetter in [ ] >Medea< [ ] auch formal und instrumental weniger differenziert.« Allenfalls die Sechzehntelfigur der tiefen Streicher T. 631 könnte man im alten Sinne von Tonmalerei vage mit Sturmwind assoziieren (Busch 1976, S. 167). Busch übersieht jedoch, daß gerade darin das Neue bei Benda besteht. Schimpf 1988, S. 76; vgl. a. Eggebrecht 1955. Ähnliches gilt für C. G. Neefes Melodram >Sophonisbe< nach A. G. Meißner; vgl. dazu Küster 1992, S. 242. Vgl. Küster 1992, S. 233ff. 335
am Beginn der Ouvertüre noch in ruhigem Tempo eingebunden war, wird nun entfesselt. Der erhabene, fast statische Pomp der Anfangsgestalt entlädt sich jetzt in der vorwärtstreibenden, zuckenden Bewegung, die sich harmonisch in der Folge verminderter Septakkordel6y bedient, die nach Auflösung drängen. Das Kleinteilig-Zerrissene, Konflikthafte Medeas ist verschwunden; übrig bleibt die Raserei der Rache. Insofern besitzt der Satz zwar eine klare semantische Komponente (Medeas Rache), aber keine darüberhinausgehenden Fixierungen. Benda hat auch darauf verzichtet, der Librettoangabe gemäß einen nachlassenden Schluß dieser Musik zu komponieren. Dem wilden Charakter der Rache und des Mordens entsprechend bleibt die Musik bis in den letzten Takt vom Allegro /wr/oJo-Charakter geprägt. Umso wirkungsvoller kontrastiert damit der anschließende Auftritt Medeas (»atemloß, betäubt, bleich, und mit zerrauftem Haar«), der nun im Andante, piano, und mit einer minimalen Reminiszenz an Tonmalerei komponiert ist.108 Benda stellt so in der Vertonung der Mordszene eine bewußte Vagheit der Stimmung her, indem er weniger auf programmatische Tonsymbolik, sondern auf eigengesetzliche musikalische Strukturen zurückgreift/ 69 Zwar ist klar, daß es hier in dieser heftigen Musik um Raserei und Rache geht, doch hat Benda bewußt darauf verzichtet, konkretere musikalische >Bebilderungen< herzustellen. Dadurch aber ermöglicht Benda den Zuschauern gerade, über dem deutlichen Grundaffekt eigene Assoziationsräume aufzubauen, die die Intensität der Stelle verstärken können. Dies wird aus einer zeitgenössischen Beschreibung der Szene deutlich: das Theater ist völlig leer: aber die fortdauernde wilde Musik spricht mit lauter Stimme den Mord der hinter der Scene geschieht, sie ist ein Rachgeschrey, vermischt mit dem Todesgeschrey der sterbenden Kinder [].'7° ' n7 Ebd. S. 213. 168 T. 054ff.: die Staccato-Viertel der Flöten geben die letzten Regentropfen wieder. 169 Diese Verfahrensweise Bendas wurde ihm gelegentlich von Verfechtern einer der Szene untergeordneten Musik vorgeworfen. So kritiert Gemmingen die »Sünde, welche er mit dem Violin-Solo zu Ende der Ariadne begangen« habe: »denn dieses Violin-Solo verursachte, daß, indem das Meer an die Felsen schäumte, der Donner rollte, die Felsen stürzten, die Natur sich empörte Ariadne auf eine schöne Cadenz und lang ausgehaltenen Triller eines der Herrn Violinisten warten mußte, bis sie sich über alles das entsetzen durfte. Ei! Ei!« (Gemmingen 1780, S. 2^f.) Entsprechend fordert Gemmingen gegen Benda eine Unterordnung der Musik unter die Wirkungsabsicht: »Laßt den Dichter seinen Gang fortgehen, reißt den Zuschauer nicht aus dem Blendwerk heraus; unterstützt nur, bereitet die Seele vor, gebt ihr Empfänglichkeit für das was dargestellt wird, sucht eben so wenig Kunst als jener Wortgepränge, denkt nur auf Wirkung — und ihr habt das Ziel erreicht. Gäbe es eine Musik, wo man vergessen könnte, daß es Musik ist, — gäbe es ein Gedicht, wo man nicht merkte, daß es aus Worte zusammen gesetzt ist — Glaubt mir, es wäre das gröste Produkt der Menschheit.« (Ebd.) 170 Huber 1791, S. . Vgl. a. die Rezensionen in: Gothaische gelehrte Zeitungen 1775, S. 273f.; Jenaische gelehrte Zeitungen 1775, S. 66of.; Almanach der deutschen Mu336
Die Musik erhält im Verständnis dieses zeitgenössischen Beobachters die Funktion einer Teichoskopie (in der Art der Enrhauptungsszene in Richard Strauss' >Salomesubjektiv< richtig, denn sie bestätigt das Wirkungsverfahren Bendas, das gerade auf der Undeutlichkeit der Instrumentalmusik beruht. Daß der Zuschauer selbst sich die Szene ausmalen muß, erzeugt offenbar eine erheblich höhere Wirkung, als wenn die Morde explizit oder in direkter Tonsymbolik vorgeführt würden. Die semantische Unscharfe der wortlosen Instrumentalmusik, die Benda nicht mehr durch Tonmalereien oder ähnliche Verfahren zu kompensieren versucht, sondern die er bewußt als solche einsetzt, erhöht also die Intensität der dramatischen Wirkung. Damit erschließt das Melodrama neue Wirkungsmöglichkeiten in der Darstellung von Leidenschaften. 171 Trotz des allgemein engen szenischen und gestischen Bezugs der Musik im Melodram zeigt sich bei Benda eine Ablösung von der Dramaturgie des Sprechtheaters und ein zunehmendes Bewußtsein von den Möglichkeiten einer genuin musikgezeugten Dramaturgie; von daher ist Mozarts Begeisterung für Benda kein Zufall (vgl. Anm. 133 sowie u. II.6). Bendas Verfahren geht darin weit über die tradierten mimetischen musikalischen Verfahren hinaus, die von anderen Melodramen-Komponisten gleichwohl noch dekorativ weiterverwendet werden bzw. von Textdichtern vorgesehen sind.' 72 (Gerade die Gewitterszene zeigt allerdings auch die Grenzen von Bendas musikalischer Stilistik. Ein Blick auf die Sturmszene aus Mozarts >Idomeneo< (1781) etwa zeigt, wie hier ein ähnlicher Ansatz — der Sturm als Spiegel des Innenlebens der Figuren — zu einem wesentlich vielgestaltigeren und dichteren musikalischen Ergebnis führt, weil die musikalische Satztechnik als solche ein neues, komplexeres Niveau erreicht hat.)
171
172
sen. Leipzig 1776, S. 32f.; Berlinisches Litterarisches Wochenblatt 1777, Bd. 2, 8.465—470 (Schink) sowie von Zelter (wie Anm. 82), Forkel (1778/79, Bd. 3, S. 25off., und Wagner (1777, S. 118). In Bendas Versuch, eine möglichst intensive Musik zu schreiben, zeigt sich auch erneut der große Unterschied zu Wielands Ansatz. Wieland bestimmte noch in seinem »Versuch über das teutsche Singspiel« (1775), die Natur der Musik sei es, alles zu verschönern; daher nehme sie dem Tragischen grundsätzlich das Wesen des Furchtbaren. Weitere Beispiele aus der späteren Gattungsentwicklung finden sich bei Schimpf 1988, S. 8of. Besonders deutlich dafür ist z.B. die Konzeption in J. F. Goez, Lenardo und Blandine, München 2 i?79 (vgl. z.B. die Regieanweisung S. 14: »Blandine lehnt [ ] auf dem Ruhebette, während die Musik heftige Unruhen ihrer Träume verkündiget.«) Vgl. Schimpf 1988, S. 80, S. i75f. Auch in der früheren >Ariadne auf Naxos< verwendete Benda noch mehr Tonmalerei (vgl. Küster 1992, S. 6off., S. 2O2ff,, S. 212).
337
Dies kommt einer Umwertung aller Werte der bisherigen Kunsttheorie gleich. Solange die Künste unter der poetologischen Doktrin der Nachahmung begriffen wurden, nahm die Musik gegenüber Malerei und Literatur die letzte Position ein: Ihre Möglichkeiten zur Nachahmung wurden als zu »undeutlich« eingestuft. Noch 1790 heißt es z. B. bei Kant, die Musik habe, »durch Vernunft beurtheilt, weniger Werth, als jede andere der schönen Künste«. 173 Innerhalb der Musik wiederum stand daher die Vokalmusik hierarchisch an höchster Stelle, da sie noch am ehesten mit den Nachahmungsdoktrinen vereinbar schien. Für die Instrumentalmusik wurden allenfalls Verfahren wie Tonmalerei oder die musikalische Affektenlehre anerkannt.' 74 Bendas Gestaltung der Mordszene zeigt, daß im Melodram die Herrschaft der Nachahmungsästhetik endgültig abgelöst ist. Benda ahmt weder ein Unwetter noch den realen Mord nach und erzielt gerade dadurch ein Maximum an Wirkungsintensität. Was der rationalistischen Ästhetik als gravierender Mangel v. a. der Instrumentalmusik erschienen war, ihre semantische Vagheit, wird nun gerade zu ihrer herausragenden Qualität. Sie ist es, die in ihrer >Unbestimmtheit< im Hörer einen Strom der Emotionen freisetzen kann. Gerade die wortlose Instrumentalmusik kann dadurch insgesamt die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der neuen Konzeption von Emotionalität und Subjektivität wiedergeben, sie gewährleistet am besten die neue »Polyphonie im Ausdruck der Gefühle«.' 75 Die Veränderungen der Anthropologie von der geschlossenen, 173
174
175
Kritik der Urtheilskrafc [1790]. In: Kants Werke. Akademie Textausgabe Bd. 5. Berlin 1968, S. 328 [§ 53]. In § 16 vergleicht Kant »die ganze Musik ohne Text«, also die nicht sofort auf eine Nachahmungs- oder Illustrationsfunktion festlegbare, mit »freie[n] Naturschönheiten« und stellt sie auf dieselbe Ebene wie »viele Vögel (der Papagei, der Colibrit, der Paradiesvogel), eine Menge Schalthiere des Meeres«, »das Laubwerk zu Einfassungen oder auf Papiertapeten«.· »sie stellen nichts vor, kein Objekt unter einem bestimmten Begriffe, und sind freie Schönheiten.« (Ebd. S. 229). Zu diesem gesamten Komplex vgl. u. Teil III sowie allg. Küster 1992, Kap. C; Jörg Krämer: Art. »Musikalische Affektenlehre«. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. i. Tübingen 1992, Sp, 248-253. Deutlich wurde z.B. in Frankreich an Rousseaus >Pygmalion< diese zu geringe Tauglichkeit für Nachahmungs-Doktrinen kritisiert: »Nichts erscheint schlechter ausgedacht, als mit Instrumenten wiederholen zu wollen, was zuvor in der Deklamation ausgedrückt wurde: Wiederholung wird stets eine Abschwächung mit sich bringen. Ein harmonischer Satz kann nur einen Gesang begleiten: Beide werden sich wechselseitig unterstützen, indem sie verschiedene Ausdrucksnuancen des gleichen Gegenstandes geben; niemanden aber interessiert es, Instrumente spielen zu hören, nachdem ein Darsteller geredet hat, heißt dies doch nichts anderes, als eine ungenaue und distanzierte Wirkung nach einer sicheren und unmittelbaren zu plazieren.« (JeanFrangois de La Harpe, zit. n. Gülke 1984, S. I5of). Unter der Optik der ImitatioLehre ist das Melodram nur als verfehlter Ansatz wahrnehmbar. Schimpf 1988, S. 186. Besonders aufschlußreich dafür ist der Ansatz von J. F. Goez (1783), der das Melodram als Etüde der Schauspielkunst auffaßte. Die diesem Text beigegebenen Abbildungen sollen einerseits der Schauspielkunst Anregungen geben,
338
flachen Anthropologie der Empfindsamkeit zur aporetischen, widerspruchsvollen und offenen Anthropologie der ij-joer Jahre führen zu einer neuen Funktionsbestimmung von Musik und zu neuartigen dramaturgischen Verfahren. Daher wird nun gerade die früher als begriffslos und undeutlich abqualifizierte Instrumentalmusik zur eigentlichen »Sprache der Empfindung« 176 aufgewertet. Das Melodram spiegelt so zugleich auch die beginnende Emanzipation der Instrumentalmusik von der bisher dominanten Vokalmusik. Dieser Prozeß hatte unabhängig vom Melodram und schon einige Zeit vor diesem Genre begonnen (etwa in der Mannheimer Sinfonik, bei Carl Philipp Emanuel Bach oder beim frühen Haydn). Das Melodram verstärkt in seinem Abrücken von den bisherigen Formmustern der Oper die Entwicklung der Instrumentalmusik in Richtung auf Autonomie, die Anerkennung ihrer eigenständigen ästhetischen Qualität, wesentlich. Durch seine Strukturprinzipien begünstigt das Melodram die Auflösungsprozesse des Instrumentalsatzes vom GeneralbaßStil' 77 in Richtung des >klassischen< Stils178 erheblich: Die barocke Ableitungslogik weicht einer kurzgliedrigen, diskontinuierlichen Satztechnik; Kontrapunktik und Sequenztechniken verschwinden tendenziell zugunsten einer »expressiven« Harmonik (vgl. z.B. T. 98); rhythmische Kontinuität wird abgelöst von einer extremen Differenzierung des Rhythmus, die oft einen aufgespaltenen, zerrissenen Höreindruck hervorbringt. Durch die Kürze der einzelnen musikalischen Einwürfe beruht die Satztechnik der Melodramen primär auf Kategorien wie dem Gegensätzlichen, dem raschen Wechsel und dem Bruch, wo die ältere Satztechnik gerade Kontinuität und Zusammenhang in den Mittelpunkt rückte. Dies aber impliziert noch weitere gravierende Verschiebungen im Verhältnis der Künste zueinander. Obwohl das Melodram ursprünglich in Abkehr von der Oper gerade von der Dominanz der Sprache über die Musik ausgegangen war,'79 verkehrt sich dieses Verhältnis im Verständnis von Text und Musik sofort, wie Bendas Mordszene zeigt. Im Melodram wird die Instrumentalmusik von der Hilfskunst, dem »Diener« der Sprache, wie sie bei Rousseau konzipiert war,100 tendenziell zum Vorbild für die Sprache, der sie in der suggestiven
176
177
178 179 180
andererseits dokumentieren sie auch die Auffassung und Darstellung von Gefühlen. In diesem Zusammenhang ist besonders von Interesse, daß Goez auch die Darstellung gemischter oder widerstrebender Gefühle zeigt, die sich z.B. in widersprüchlichen Haltungen einzelner Körperteile zeigt. Vgl. Holmström 1967, S. 53 — 88ff. Küster 1992, S. 211; Schimpf 1988, S. 93. Zur den musik- und literaturästhetischen Implikationen vgl. a. Müller 1989. Daß der Generalbaß noch um 1780 den selbstverständlichen Hintergrund darstellte, belegt Gemmingens >Mannheimer Dramaturgie< (s. Anm. 34). Vgl. Rosen 1976. Vgl. Schimpf 1988, S. iSyf. Vgl. z.B. den >PygmalionMedea< als »höchst langweiliges Stück, wenn man von der schönen Musik, die es begleitet, abstrahiert, und von keinem moralischen Nutzen. Die grausame Rache, die Medea [ ] ausübt [ ], kann keine gute Wirkung in den Gemütern der Zuschauer hervorbringen []«." 9 3 Hier werden die wesentlichen Transformationen des Genres zurückgewiesen: die Aufwertung der Expression, der Einbezug der nicht mehr schönen, aber intensiven Leidenschaften und dadurch eine Abschwächung der Sozialitätsbindung der (»nützlichen«) Kunst. Das Genre wird grundsätzlich abgelehnt, seine wirkungsästhetische Maxime bestritten: Wegen des fehlenden Iyo
Schimpf 1988, S. 65. Die produktive Kritik zielt meist auf eine Aufhebung der Begrenzungen des Genres, wobei die melodramatische Technik mit Gesang, Chor, Tanz u.a. verbunden werden solle (Schink, Wezel, Knigge); vgl. ebd. und Istel 19063, S. 5iff. "·" Schimpf 1988, S. 64. "-" Vgl. Jäger 1974. 193 Vorrede zu: Schreiben des Herrn von Voltaire an die Akademie Frangoise über den Englischen Schauspieldichter Shakespear. Aus dem Französischen übersetzt, mit Anmerkungen und einer Vorrede. Hamburg 1777. (Zit. n. Carl Lebrun: Jahrbuch für Theater und Theaterfreunde. Hamburg 1841, S. njf.) Nicht zufällig steht diese Kritik im Umfeld von Voltaires Shakespeare-Kritik. 343
»moralischen Nutzens« wird das Stück zugleich als »höchst langweilig« abqualifiziert. Bemerkenswert ist dabei, daß die Musik von diesem Verdikt ausgenommen wird. Daran wird deutlich, daß die Probleme der altaufklärerischen Perspektive mit dem Melodram primär diskursiver Natur sind: Abgelehnt wird das Melodram nicht als ästhetisches Werk, sondern als Träger neuer diskursiver Transformationen. 3.2. Empfindsame Kritik Wesentlich verbreiteter ist die Kritik am Pathos des Melodrams, das oben als Innovation gegenüber den >sanften< Leidenschaften der Empfindsamkeit beschrieben wurde. Nach positiven Anfängen mehren sich kritische Stimmen, die (wie die ADB, die zunehmend negativer reagiert) gegen »Schwulst« und »Fieberhitze« des Melodrams Stellung beziehen.194 Die überhöhende, pathetische Sprachebene mit ihrem wirkungsästhetischen Rückgriff auf Elemente der älteren Rhetorik wird hier als »Schwulst« und Verstoß gegen die empfindsamen Natürlichkeitspostulaten abgelehnt. So bezeichnet C. H. Schmid die Sprache von W. H. v. Dalbergs >Elektra< (1780) als »durchgängig mehr deklamatorisch, als rührend« 195 und benennt damit einen zentralen Widerspruch zwischen der wirkungsästhetischen Konzeption der Werke und ihrer Sprachschicht, die den Wunsch der Rezipienten nach durchgängig »gerührter« Wirkung offenbar wegen ihrer als »künstlich« und dadurch »leer« empfundener Rhetorik hemmte: Denn was ist leichter, als eine oder zwo Personen eine Stunde deklamieren, schreien, weinen, jammern, zürnen, beten, fluchen, verzweifeln und am Ende sich umbringen lassen? Der unerfahrenste Anfänger sucht einen Namen: Kleopatra, Dido usw. usw., geht seine locos rhetoricos durch, legt seiner Heldin eine Figur nach der anderen in den Mund, gibt ihr endlich einen Dolch in die Hand oder läßt alles wieder gut werden, und so ist das Duodrama fertig. [ ] Was kann man von einem eintönigen, mehrenteils naturwidrigen (welcher Mensch schreit und lärmt und tobt eine Stunde lang in einem fort?) und kunstleeren Duodrama erwarten?'96
Die empfindsamen Kritiker werfen dem Genre oft vor, Auswuchs einer übersteigerten, »mehrenteils naturwidrigen« Gefühlskultur zu sein.'97 Die Anklänge der Melodramen an die französische Tragödie (in Stoffwahl, Pathoskon"-"' Ähnliches gilt z.B. für Komponisten des älteren Stils wie den Bachschüler J. Ph. Kirnberger, der dem Melodram vom Typ Bendas und Reichardts ein eigenes Modell, »worin der höchste Grad von Simplicität herrschen sollte«, entgegenstellen wollte; vgl. Schimpf 1988, S. 56. 195 Almanach der deutschen Musen 1779, S. 79, Vgl. Schimpf 1988, S. 177. 196 Rheinische Beiträge zur Gelehrsamkeit, Mannheim 1780, H. i, S. 261 f. (Die beiden Werke Bendas werden von dieser Kritik ausdrücklich ausgenommen.) "J7 Vgl. Schimpf 1988, S. 64; so z.B. auch die Baierischen Beyträge zur schönen und nützlichen Litceratur, München 1779, S. 689, und 1780, S. 344
zept und Rhetorik), wenngleich wirkungsästhetisch neu begründet, geraten in Konflikt mit den zentralen Natürlichkeitspostulaten der Empfindsamkeit. Die oben beschriebenen Entgrenzungen werden daher von der empfindsamen Kritik negativ gewertet; darin aber werden sie ex negativo erneut als wesentliches Kennzeichen des Genres greifbar. Die empfindsame Kritik bleibt überwiegend an den bestehenden Gattungen orientiert und lehnt die Transformationen des Melodrams ab. Hier kommt es zu einer Verbindung von rationalistischen und empfindsamen Positionen, wie dies auch in der >WertherAristotelikern< wird das Melodram ebenso abgelehnt (als bloßer »Torso« einer Tragödie198) wie von empfindsamen Verfechtern von Singspiel und Oper. Beide Gruppen sprechen dem Melodram ein autonomes ästhetisches Existenzrecht ab. Kritisch wird dabei v. a. die mangelnde dramatische Substanz der Melodramen gesehen (wovon jedoch >Medea< fast stets ausgenommen wird1"). Die spezifische Struktur der Melodramen gerät nach Auffassung vieler Kritiker in Widerspruch zu ihren Wirkungsansprüchen. Daher setzt die Kritik an der ästhetisch nicht legitimierbaren Mischform des Melodrams meist an dessen eigenen wirkungsästhetischen Vorgaben an.200 J. N. Forkel betont schon 1779, daß das Melodram von der Wirkung her der Oper keineswegs über-, sondern unterlegen sei. Das wirkungsästhetische Problem der Melodramen sei: Daß die Musik nur einen Theil ihrer Kraft gebraucht, um den Ausdruck des Textes, bey vorkommenden Ruhepunkten, die gewöhnlich durch Minen= und Gebärdenspiel ausgefüllt werden müssen, (welches für die meisten Schauspieler eine der größten Schwierigkeiten ist,) damit zu unterstützen. [ ] Diese Absonderung zwoer Künste scheint daher hauptsächlich solchen Zuhörern zuträglich zu seyn, die zu ungeübt sind, als daß sie sie in ihrer genauem Vereinigung gehörig genießen können. 201
Forkel betont die sozial- und rezeptionsgeschichtliche Basis der neuen Modeform; der Erfolg der Gattung erklärt sich ihm in der leichteren Rezipierbarkeit für neue Hörerschichten, die mit den ästhetischen Ansprüchen der Oper nicht vertraut sind. Dabei gewinnt Forkel dem Melodram (bei aller ästhetischen Kritik der »Mischform«) einen positiven, volkspädagogischen Aspekt ab: Hierdurch erhält der Schauspieler den Vortheil, sich ganz dem Feuer seiner Aktion zu überlassen, ohne sich der Musik wegen im geringsten einschränken zu müssen; und der Zuhörer erhält den Vortheil, am Texte einen immerwährenden Leitfaden zu
198 199 200
201
Vgl. Schimpf 1988, S. 185. Vgl. Istel 19063., S. 5iff., 93ff. Ähnlich reagiert übrigens das Ausland. In Frankreich wird Bendas Musik nach der Pariser >AriadneLucindeeigentlichen< Gegenstand der Parodie bildet.
3.4. Exkurs: Melodram und »Sturm-und-Drang«-Dramatik Ulrike Küster hat versucht, das Melodram als musikdramatische Parallele zur Sturm-und-Drang-Dramatik zu bestimmen, und folgt damit einem seit H. H. Eggebrecht (1955) verbreiteten Denkmodell. Bei genauerer Prüfung scheinen jedoch die Differenzen zwischen beiden dramatischen Formen größer als ihr Gemeinsames. Dies zeigt etwa ein Vergleich von >Medea< mit H. L. Wagners Trauerspiel >Die Kindermörderinn< (1776). In beiden Fällen liegt dieselbe Grundstruktur vor: eine Mutter tötet ihr(e) Kind(er). Doch was im Falle des Melodrams offenbar als weitgehend unproblematische, da durch Anknüpfung an die >hohe< Tragödien-Tradition und Musik gebrochene fiktionale Struktur rezipiert wurde, wurde im Falle Wagners zum Skandalwerk. In seiner Umarbeitung von 1778 (>Evchen Humbrecht oder Ihr Mütter merkts euch!Medea< zeigt jedoch, daß der Skandal weniger auf dem verbreiteten Motiv der Kindstötung beruht, die im Falle der >Medea< akzeptiert wird, sondern auf der Funktionalisierung der Kindstötung im Stück Wagners.
1990, S. 26) und Malmö 1807 (Holmström 1967, S. 96). Weitere Drucke, die zugleich auf (nicht belegte) Aufführungen hindeuten: Wien 1804; Graz o.J. 217 Die travestirte Ariadne auf Naxos. Eine musikalische Laune in einem Aufzug. Von Friedrich Satzenhofen. Wien 1800; Ariadne auf Naxos — Travestirt. Ein musikalisches Quodlibet in einem Aufzuge, mit neuen Musiktexten von Joachim Perinet, Dichter und Mitglied der k.k. privil. Schaubühne in der Leopoldstadt. Die Musik von Herrn Sazenhofen. Wien 1803; Die travestirte Ariadne auf Naxos. Eine musikalische Laune oder Quotlibet als Drama in einem Aufzug, fürs Forte Piano. Wien o.J. Belegte Aufführungen: Wien 1803, 1804, 1805, 1806, 1812. 2 ! Ausführliche Beschreibung bei Istel 19063, S. 24. >MedeaWertherRosemundeKrispus< oder >Atreus und ThyestAlceste< so wenige produktive Nachfolger fand. Nicht einmal die in vieler Hinsicht direkte Fortsetzung von >AlcesteRosamunde< (UA 1780), konnte auch nur entfernt an den Erfolg der >Alceste< anknüpfen. Das empfindsame Modell >Alceste< war durch das Melodram überholt und hatte seine Aktualität schlagartig verloren. Das Melodram stellte also um 1775 eine eminent moderne und aktuelle Gattung dar. Die wesentlichen Transformationen, die diesem Innovationsschub zugrunde liegen, kennzeichnen in der Folge die vom Doppelmodell >AriadneMedea< initiierte Entwicklung des Melodramas in den i77oer und I78oer Jahren ganz überwiegend. 221 Die weitere historische Entwicklung des Melodramas in seinem Erfolgszeitraum läßt sich im Wesentlichen als eine variative Entfaltung dieser Transformationen lesen: Schon allein die Stoffwahl präferiert überwiegend das tragische, fast ausschließlich mit dem Tod endende Schicksal einer Frauengestalt der antiken Mythologie.222 Das Melodram wird zur eigentlichen pathetischen Gattung des deutschen Theaters dieser Zeit. Diese stereotype Nachahmung aber zeigt, daß gerade die Transformationen im Konzept der Emotionen bei Gotter als das eigentlich Wesentliche der Gattung begriffen wurden. Das Festhalten daran aber beschert der Gattung ein ähnliches Geschick wie dem empfindsamen Singspiel. Der pathetische Stil des Melodrams steht von Anfang an in Opposition zu den verbreiteten empfindsamen Forderungen nach >natürlichem< Ausdruck, Faßlichkeit und spontaner Nachvollziehbarkeit. 223 Da die Melodramatik sich nicht weiterentwickelt, treten in der Folgezeit die Aporien, die die neuen Transformationen kennzeichnen, immer deutlicher hervor und geraten in die Kritik. Bereits Ende der i78oer Jahre ist an den Produk21 22
23
Vgl. Material bei Küster 1992 und Schimpf 1988. Vgl. das Material bei Schimpf 1988, bes. S. 257; zur Bevorzugung passiver weiblicher Helden ebd. S. 157. Zuweilen geht die Nachfolge der Benda-Werke bis in Details, etwa bei Gewitterszenen als Spiegel des inneren Aufruhrs der Protagonistin oder sogar dem nach dem Vorbild der Ariadne am Horizont auftauchenden Schiff als Hoffnungszeichen; vgl. ebd. S. 57. Doch nicht nur auf textlicher, sondern auch auf musikalischer Ebene wird das Vorbild Bendas fast sklavisch nachgeahmt; vgl. dazu z.B. Küster 1992, S. 2386°., bes. S. 248. Vgl. Reckow 1979. 351
tionszahlen abzulesen, daß der Höhepunkt des Melodrams überschritten ist. 224 In den lygoerJahren verschwindet das Genre fast ebenso rasch aus der Theaterpraxis, wie es sie erobert hatte; Ausnahmen bilden lediglich die beiden Pionierwerke Bendas.225 Das Melodram hatte also offensichtlich in den lygoer Jahren seine Aktualität wieder verloren. Seine Innovationskraft war verbraucht; Reform- und Erwei224 225
Vgl. Schimpf 1988, S. 2 54 ff. Die Bedeutung des Melodrams zeigt sich nicht zuletzt in seiner Rückwirkung auf die zentralen Felder des Komponierens gerade nach dem Umbau des Theatersystems zum institutionalisierten Theater (d.h. nach dem Wegfall seiner spezifischen Aufführungsbedingungen) und nach dem Ende der Melodramen-Mode. Gülke (1984, S. 148) verweist zu Recht auf die »tief und weit reichende Beeinflussung des dramatischen Komponierens« durch das Melodram. Weder die Kerkerszene aus Beethovens >Fidelio< (1814) noch die Wolfsschlucht in Webers >Freyschütz< (1821) sind ohne das Melodram des 18. Jahrhunderts denkbar. Die produktive Weiterverwendung der melodramatischen Technik außerhalb der eigentlichen Melodramen (z.B. in Schauspiel, Singspiel, Oper oder in nichtdramatischen Formen [vgl. van der Veen 1955 und Schimpf 1988, S. oyff.]) weist dem Melodramatischen einen Platz zu, wo es um »religiöse, mystische, märchenhafte und übersinnliche Phänomene« (Schimpf 1988, S. 72) ging. Die melodramatischen Szenen etwa in Schuberts >Zauberharfe< (1820, D. 644) zeugen davon; und noch die bedeutenden, viel zu wenig gespielten Spätwerke Schumanns, speziell >Manfred< (1848/49), greifen darauf zurück, wenngleich sie dem Melodramatischen nun neue Funktionen zuweisen. Zur weiteren Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert (etwa bei Marschner, Humperdinck, R. Strauss, Schillings, Berg, Weill, Orff, Stravinskij usw.) vgl. van der Veen 1955 und Rauhe 1976. Im 19. Jahrhundert verschwindet jedoch die Mittelpunktstellung der Frau, die die Melodramatik des 18. Jahrhunderts so entscheidend prägte; im 19. Jahrhundert stehen fast ausschließlich männliche Hauptfiguren im Zentrum. Auch daran zeigt sich, daß die Geschlechtermarkierungen im späten 18. Jahrhundert längst nicht so verfestigt waren, wie eine am 19. Jahrhundert orientierte Sichtweise heute wahrnehmen möchte. (Entsprechend wären die Befunde von Catherine Clement: Die Frau in der Oper. Besiegt, verraten, verkauft. München 1994 sowie Scheit 1995 zu korrigieren.) - Frappant sind die Parallelen zwischen dem Melodram des 18. Jahrhunderts und Arnold Schönbergs >Erwartung< (1909), in der ebenfalls eine verlassene weibliche Hauptfigur in einer emotional aufgewühlten Atmosphäre monologisiert. Das Werk, in seiner offenen Struktur eines der zentralen Werke des frühen 20. Jahrhunderts, steht an einer entfernt vergleichbaren historischen Wendeposition: Auch bei Schönberg schlägt das Ungenügen an einer als erstarrt empfundenen, dominanten Opernform (dem Musikdrama Wagners) um in die Experimentalform des monologischen Melodrams; Ähnliches gilt für Ferrucio Busonis >Arlecchino< (1918), ein Werk, das ebenfalls mit melodramatischen Techniken arbeitet und auf das Theater des 18. Jahrhunderts rekurriert. Auch nach 1945 fanden melodramatische Techniken Interesse bei verschiedenen Versuchen, das Verhältnis von Musik und Sprache erneut zu durchdenken; hingewiesen sei hier auf Werke von Giselher Klebe (>Römische ElegienLa Victoire de GuernicaLukas-PassionIch wandte mich und sah an alles Unrecht unter der Sonne I n hora mortis< nach Thomas Bernhard, 1992), S. Matthus (>NietzscheJason vatä Medea«, 1995).
352
terungsversuche scheitern in der Praxis.226 Die Gattung erweist sich als unflexibel, ihre Neuerungen werden nun nicht mehr als innovative Problemlösungen verstanden, sondern zunehmend als bloße »Mode«, die ohne Neuerungen kopiert wird. Dagegen erleben nun gerade die älteren Gattungen, von denen es sich abgestoßen hatte (Oper und Trauerspiel), in gewandelter Form einen Wiederaufstieg. Dies deutet daraufhin, daß sich in dieser Zeit zugleich eine weitere Transformation im Verständnis der Emotionalität vollzieht, der die eng den Vorbildern verhaftet bleibende Melodramatik mit ihrem Pathos nicht mehr entsprach. Mozart schreibt trotz seiner ursprünglichen Begeisterung für die Gattung keine Melodramen, sondern Opern.227 Gerade die von ihm ausgeformte neuartige Musikdramaturgie (vgl. u. II.6) macht die Defizite der Melodramen deutlich und ihre Trennung von Musik und Sprache obsolet. Auch das Literaturkonzept der Weimarer Klassiker läßt sich als Versuch verstehen, die Entgrenzungen der lyyoer Jahre rückgängig zu machen und eine Renormierung und Begrenzung zulässiger Individualität und Autonomie vorzunehmen. Ähnliche Tendenzen lassen sich im Musiktheater um 1790 erkennen; darauf wird unten am Beispiel von Mozarts >Zauberflöte< (II.8) eingegangen werden.
226 227
Vgl. dazu Istel 19063, S. 5iff.; Schimpf 1988, S. 64ff. Die Oper entwickelt sich in der Auseinandersetzung mit dem Melodram weiter und übernimmt z.B. bei Mozart Teile der melodramatischen Errungenschaften. Deutlich wird das etwa an den Veränderungen im Bereich des Accompagnato-Rezitativs von Mozarts Jugendopern zu >Idomeneo< (1780/81); vgl. Gülke 1984, S. 145.
353
5- Die Starrheit der Könige: >Günther von Schwarzburg< von Anton Klein und Ignaz Holzbauer (1777)
Die Transformationen des empfindsamen Diskurses, die sich um 1775 im Melodram zeigen, werden keineswegs überall aufgegriffen. Neben ihnen stehen weiterhin Werke, die die älteren empfindsamen Codes weiterführen oder die bewußt an noch älteren Axiomen festhalten. Ein Musterbeispiel dafür stellt >Günther von Schwarzburg< von Anton Klein und Ignaz Holzbauer dar — ein Werk, das sich gerade in seinem betonten Festhalten an älteren Modellen als Reaktion auf die neuen Transformationen mit ihren aporetischen Strukturen verstehen läßt und an dem zugleich die ästhetischen Probleme dieses Festhaltens deutlich werden.
i. Die Suche nach einer »vaterländischen« deutschen Oper Bei allen breiten Erfolgen der neuen deutschsprachigen Musiktheaterformen (und trotz aller höfischen Finanzprobleme) bleibt das Genre der »großen«, ernsthaften Oper bis weit in die I77oer Jahre hinein nahezu ausschließlich die Domäne der fremdsprachig ausgerichteten Kulturpflege der großen Höfe, die die italienische Opera seria nach wie vor auch zur kulturellen Abgrenzung benutzen. Nachdem dies schon in den I75oer Jahren von Klopstock und seinem Kopenhagener Umfeld1 kritisiert wurde, wird im öffentlichen Räsonnement nach 1770 die Forderung nach einer »ernsthaften deutschen Oper« zur Ablösung der höfischen Opera seria immer lauter erhoben. Dahinter stehen in erster Linie diejenigen, die selbst Interesse daran haben konnten, die Positionen der abzulösenden Italiener einzunehmen: Schriftsteller, Komponisten, Schauspieler, Sänger und am Theater interessierte Intellektuelle; doch auch die kleinen und mittleren Residenzen zeigen sich nach dem Siebenjährigen Krieg zunehmend am Aufbau eines repräsentationsfähigen ernsten deutschen Genres interessiert. V.a. Wieland bündelte nach 1772 diese Diskussion mit seinem >AlcesteDie treuen Kohlen (1772) und >Der Abend im Walde« (1773). Der Stoff ist zudem dramatisch belegt bei Peter Florens Ilgener: Der sächsische Prinzenraub oder Kunz von Kauffung. Gera/Leipzig 1774, ein aus dem Lateinischen [!] übersetztes Trauerspiel. 7 Dreßler 1777, S. 52. Interessant ist die Kritik mythologischer Sujets, die wohl auf Gluck bezogen werden muß, aber auch auf Wielands >Versuch< zuträfe. (Wieland hatte in seiner Abgrenzung gegen Metastasio gerade vor politischen und historischen Stoffen gewarnt und mythologische Sujets befürwortet.) Andererseits zeigt Dreßlers Schrift intern starke Abhängigkeiten von Wielands Schrift.
355
nicht eo ipso eine Kritik der höfischen Kultur verbunden; Dreßler erhofft sich die Verwirklichung seines Programms gerade von den deutschen Fürsten, die endlich ihre vaterländische Aufgabe, den Aufbau einer eigenständigen deutschen Kultur, begreifen und erfüllen müßten. Diese Forderung ist reichlich praxisfern, da sie die Funktionsmechanismen der höfischen Kultur ebensowenig berücksichtigt wie die Interessenlage der Höfe, die generell kaum an einem allgemeinen »Vaterlands«-Bewußtsein interessiert sein konnten. Auch deshalb wird in der Diskussion um deutsche Original-Opern meist das Pferd von hinten her aufgezäumt: Man fordert veränderte Werke, statt die institutionelle Basis der »ernsthaften« Opernproduktion und ihre praktischen Funktionen zu reflektieren. Der Aufbau einer eigenständigen großen deutschen Oper wird so zur Frage des richtigen Bewußtseins der Autoren und Komponisten erklärt.8 Die Suche nach einer deutschen Oper steht in den lyyoer Jahren im Kontext einer weiteren verbreiteten Debatte: der Idee eines deutschen »Nationaltheaters«.9 Trotz ihres wirtschaftlichen Scheiterns hatte die Hamburger »Entreprise« diese Idee Ende der lyöoer Jahre in Deutschland etabliert. Zu Ergebnissen führte der Nationaltheater-Diskurs jedoch zunächst nur dort, wo einzelne Hoftheater aus politisch-pragmatischen oder finanziellen Gründen auf deutsche Produktionen umstellten, weil sich die Städte weigerten, ein stehendes Theaters zu unterstützen (s.o. I.i). Neben dem Wiener Nationaltheater (s.u. II.6), dessen Vorbild später einige deutsche Fürsten10 folgten, wird in den späten lyyoer 8
9
10
Noch stärker werden die nationalen Töne bei Autoren, die dem »Sturm-und-Drang« nahe stehen. 1775 schreibt C. D. F. Schubart an Friedrich Müller (Maler Müller): »Du — du mußt eine Oper machen - teutschen Inhalts und teutscher Kraft!« (Zit. n. Walter 1898, S. 256; vgl. a. Würtz 1982, S. 89). Müller versuchte sich dann auch an einigen Operntexten, zu denen etwa die 1778 in Mannheim (bei C. F. Schwan) veröffentlichte >Niobe< zählt, die Wieland später im 3. Buch der >Geschichte der Abderiten< unbarmherzig parodierte. — Weitere Forderungen nach großer deutscher Oper finden sich z. B. im Bereich der Lexikographen, etwa bei Sulzer (vgl. den Artikel »Oper; Opera« in Sulzer 1792/94, Bd. 3, S. 572-602. Dort S. 578 bestimmt auch Sulzer als mögliche Opernstoffe Klopstocks >Hermanns Schlacht< und Ossian). Vgl. Krebs 1985, bes. S. 542ff. Erinnert sei an die Rede Schillers >Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken< (gehalten am 26. 6. 1784 in der Kurpfälzischen deutschen Gesellschaft in Mannheim [s. u.] und veröffentlicht in der »Rheinischen Thalia«, 1785), in der es heißt: »wenn wir es erlebten, eine Nationalbühne zu haben, so würden wir auch eine Nation« (Schiller: Sämtliche Werke, hg. v. G. Fricke und H. G. Göpfert. München 4 i907. Bd. 5, S. 830). - Der NationaltheaterIdee entspricht die Idee eines Nationaljournals, wie sie H. A. O. Reichard im Vorwort seines >Thearer-Kalender auf das Jahr I775Günther von Schwarzburg< den Anfang machen.« (Müller 1802, zit. n. Walter 1898, S. 269) Dabei liegt (bewußt oder unbewußt) ein spezifisches Mißverständnis der Intentionen Josephs II. vor; vgl. unten II.6. Daniel 1995, S. 98. Vgl. Daniel 1995, S. i84ff. Die Umbaukosten sollte das Karl Borromäus-Spital tragen, das dafür die späteren Einnahmen des Theaters erhalten sollte. Das Nationaltheater sollte sich nach der ursprünglichen Konzeption nach dem Umbau nicht nur selbst finanzieren, sondern sogar Gewinn abwerfen.
357
tionaltheater« die Kosten des Musiktheaters entscheidend abzusenken, u.a. durch den Aufbau einer »Pflanzschule« für Landeskinder, die später billiges Bühnenpersonal liefern sollte. Zugleich sollte durch die Umstellung der Theaterorganisation von der unentgeltlich zu besuchenden Hofbühne zum Nationaltheater für zahlendes Publikum das Theater sich selbst finanzieren (- ein frommer Wunsch, den manche Politiker bis heute träumen). Als Karl Theodor dann den reicheren Münchener Hof erbte, zeigte er dort sofort wieder die altabsolutistische, ausgabenfreudige Hofhaltung, die »conspicuous consumption«, die dem Münchener Hoftheater und speziell der italienischen Oper zugute kam14 — ein weiterer Beleg für die Dominanz finanzieller Zwänge, nicht aber reformabsolutistischer Prinzipien für den Umbau des Mannheimer Theaters. (Lessing traf dies mit seiner vielzitierten Kritik: »Mit einem deutschen Nationaltheater ist es lauter Wind, und wenigstens hat man in Mannheim nie einen anderen Begriff damit verbunden, als daß ein deutsches Nationaltheater daselbst ein Theater sey, auf welchem lauter geborne Pfälzer agirten.« 15 ) Nach außen stellte sich der Umbau des Hoftheaters zum Nationaltheater jedoch anders dar — als Sieg kulturpatriotischer Argumente. Zentrale Figuren dafür waren im Mannheimer Spannungsfeld literarischer und patriotischer Tendenzen der Verleger C. F. Schwan (mit dem Beinamen »der pfälzische Nicolai«), der auch als Übersetzer viel zum deutschen Musiktheater beigetragen hatte, und Anton Klein, früherer Jesuit, seit 1774 Professor der Poesie und der Schönen Künste, Protege des Kurfürsten und Exponent eines pfälzischen Patriotismus mit aufklärerischer Komponente.'6 Auf Kleins Betreiben hin wurde durch kurfürstliches Dekret am 13.10.1775 die Kurpfälzische deutsche Gesellschaft zur »Reinigung der Sprache und des Geschmacks in allen Ständen« 17 gegründet, die zu einer wichtigen Instanz des aufklärerischen Lebens in der Pfalz wurde.18 Zu ihren Mitgliedern zählten zeitweilig Lessing, Klopstock, Schiller, Dalberg, Adelung, Maler Müller, Iffland, Schwan, Jung-Stilling, die Karschin und Sophie von La Röche. Die Deutsche Gesellschaft steht dabei ebenso wie die 1763 14 15
16 17
18
Vgl. Belege bei Daniel 1995, S. 191. Brief an Karl Lessing, 25.5.1777. In: G.E. Lessing: Sämtliche Schriften, hg. v. K. Lachmann, Bd. 18. Leipzig 1907, S. 245. Vgl. Valentin 1989. Walter 1898, S. 252. Neben Klein tat sich hier v.a. ein weiterer Exjesuit hervor, Johann Jacob Hemmer (1732 — 1790), der u.a. mit seiner »Deutsche[n] Sprachlehre, zum Gebrauch der kuhrpfälzischen Lande« (Mannheim 1775) eine 7OOseitige, normative Grammatik schuf. Z. T. wurde die deutschtümelnde Sprachreinigung in Mannheim geradezu fanatisch betrieben; vgl. Walter 1898, S. 258. Besonders aggressiv tat sich der Vizekapellmeister Georg Vogler hervor, der z.B. alle Fremdwörter durch deutsche Neologismen ersetzen wollte: »Dritte« statt Terz, »Schriftrichterei« statt Kritik etc. (vgl. Georg Vogler: Tonwissenschaft und Tonsezkunst. Mannheim 1776). Krükl 1901, S. i3iff.; Valentin 1989. Ihr Organ waren die »Rheinischen Beiträge zur Gelehrsamkeit«.
358
gegründete Kurpfälzische Akademie der Wissenschaften im Kontext einer spezifisch auf die Wittelsbachische Geschichte zugeschnittenen Kulturpolitik. Iy Die Forderungen nach einer genuin deutschen Oper hängen zudem in den lyyoer Jahren allgemein mit einer auffälligen Hinwendung zu Stoffen aus der nationalen Vergangenheit im Bereich des Schauspiels zusammen: Dreßlers Zitat verweist bereits auf die vaterländischen Trauerspiele als mögliche Quellen der neuen Nationaloper.20 Neben die verbreiteten Hermanns-Dramen und den Klopstock-Kult 21 tritt im deutschsprachigen Raum als neuer Mythos22 v. a. Goethes >GötzGenovevaGötz< beeinflußt ist. 1778 berichtet die »Berliner Litteratur= und Theaterzeitung« aus Mannheim: »Der Hofgerichtsrat Mayer hat ein Schauspiel gemacht, das in des Götz von Berlichingen Geschmack sein soll, der Sturm von Boxberg genannt.« 24 J. M. Babo, der spätere Verfasser der verbreiteten patriotischen Trauerspiele >Dagobert der Franken König< und >Ottovon Wittelsbach, Pfalzgrafin Bayern< 25 ist 1774— 1778 Sekretär am Mannheimer Hoftheater (ebenfalls Absolvent eines Jesuitenkollegs). J. A. Graf von Törring-Cronsfelds in ganz Deutschland äußerst populäres Trauerspiel >Agnes Bernauerinn< wurde in Mannheim uraufgeführt (i78i). 26 19
Vgl. Pflicht 1970. Ähnlich heißt es noch 1791 im »Gothaer Theater-Kalender«: »Es ist schlimm, daß sich außer Wieland [ ] noch niemand an die Opera seria gewagt hat. Viele von unsern Spektakelstücken, als Otto von Wittelsbach, Caspar der Thoringer, Agnes Bernauerin, müßten gute Subjeckte dazu seyn« (F. A. A. Meyer; zit. n. Schusky (Hg.) 1980, S. 90). JI 1773 lebt Schubart einige Zeit in Mannheim und propagiert engagiert die neue deutsche Literatur, v.a. Klopstock und Wieland. Klopstock selbst wirkt 1774/1775 als »markgräflicher Hofrath« in Karlsruhe; von dort aus kommt es auch zu Kontakten nach Mannheim (vgl. Walter 1898, S. 253). 22 Meyer iggob, S. iO5f., hat zurecht daraufhingewiesen, daß die bühnenpraktische Wirkung des >Götz von Berlichingen< auf das zeitgenössische Theater marginal ist. Die späteren Ritterstücke beruhen meist auf lokalen Traditionen und sind unabhängig von Goethes Stück. Dabei übersieht Meyer jedoch die Wirkung des Goethe-Texts als L·se ext·, darin entfaltete der Text durchaus bedeutende Wirkung — als Mythos, nicht als Bühnenwirklichkeit. 23 Erschienen in der Zeitschrift »Schreibtafel« des Verlegers Schwan; vgl. Walter 1898, S. 256. In Mannheim entwickelt Müller ab 1776 sein Faust-Projekt. 24 Berliner Litteratur= und Theaterzeitung I (1778), S. 389^; Das Stück (>Der Sturm von Boxberg. Ein Pfälzisches Nationalschauspiel·) erschien 1778 im i. Band der »Rheinischen Beiträge«, in zweiter Auflage 1785 bei Schwan. Vom selben Verfasser Jakob Maier stammt u.a. noch ein Stück aus der deutschen Vergangenheit: Fust von Stromberg. Ein Schauspiel in fünf Aufzügen. Mit den Sitten [,] Gebräuchen und Rechten seines Jahrhunderts. Mannheim: Schwan und Götz 1787. (Vgl. Walter 1899 II, S. 23; Krause 1982, S. 48off.; Friess 1970, S. rogff.) 25 Vgl. dazu Krause 1982, S. 4o8ff. 26 Vgl. Otto Brahm: Das deutsche Ritterdrama des 18. Jahrhunderts. Studien über J. A. 20
359
Als ab I775 27 Anton Klein und Ignaz Holzbauer im Auftrag des Kurfürsten eine große deutsche Oper mit »vaterländischem« Stoff entwerfen, scheint ihr Projekt daher gleich auf mehrfache Weise ins Zentrum zeitgenössischer Diskussionen zu treffen. Den Boden hatte in Mannheim selbst die Aufführung der >Alceste< von Wieland und Schweitzer bereitet, die 1775 in der Mannheimer Sommerresidenz Schwetzingen mit großem Erfolg gegeben und anschließend ins Repertoire der Mannheimer Hofoper übernommen wurde. Klein hatte diese Aufführung durch Kontakte mit Wieland und Vermittlung am Hof in die Wege geleitet.28 Zählte Anton Schweitzer im zeitgenössischen Bewußtsein jedoch kaum zur ersten Reihe der Komponisten, so sorgte allein die Tatsache, daß nun der berühmte Hofkapellmeister Holzbauer nach zahlreichen italienischen Seria-Opern ein deutsches Werk komponiere, für Aufsehen: »das habe ich ihnen ja hofentlich geschrieben, daß die grosse opera von Holzbauer Teütsch ist!« — schreibt W. A. Mozart aus Mannheim an seinen Vater.29 > Günther von Schwarzburg < war von Karl Theodor programmatisch als Eröffnungswerk des neuen »Kurfürstlichen Hof- und Nationaltheaters« gedacht, für das Lorenzo Quaglio das alte Arsenal in der Stadt zu einem neuen Theater umbaute.30 Bei diesem »Nationaltheater« handelte es sich allerdings organisatorisch unverändert um ein Hoftheater alten Typs; die Versuche Karl Theodors, die Finanzierung per Dekret auf andere Träger abzuwälzen, schlugen fehl, so daß der Hof wieder die Kosten übernehmen mußte. 3 ' Der entscheidende Unterschied zum früheren Hoftheater lag lediglich darin, daß das Repertoire nun betont deutsche Werke pflegen sollte,32 wodurch später die Finanzierung des dann gegen Eintritt zugänglichen Theaters gesichert werden sollte. Nach > Günther von Schwarzburg < sollte gleich ein neues Werk von Wieland und Schweitzer für Mannheim entstehen (>RosamundeHerrmann< (1740) oder auf die katholische Hermanns-Dramatik, etwa auf Cornelius von Ayrenhoffs >Hermann und ThusneldeAlceste< sind gerade umgekehrt durch den steten Informationsvorsprung der Zuschauer über die Figuren gekennzeichnet, woraus sie einen Teil ihrer gemeinschaftsstiftenden Kraft beziehen (s.o. II.i). Eine für das Publikum überwiegend informationsdefizitäre Anlage ist dramentechnisch selten;74 wo sie als bewußtes Gestaltungsprinzip gewählt wird, hat sie den dramaturgischen Zweck, Spannung durch die allmähliche Angleichung der Informationsniveaus zu erzeugen und zu steigern (ein Musterbeispiel dafür ist Kleists >Zerbrochener KrugGeschichte der AbderitenHermanns Schlacht< kann sinngemäß auch für >Günther von Schwarzburg« gelten: »Klopstock versuchte sich am Hermann, allein der Gegenstand liegt zu entfernt, niemand hat dazu ein Verhältnis, niemand weiß, was er damit machen soll, und seine Darstellung ist daher ohne Wirkung und Popularität geblieben.« (Gespräche mit Eckermann, 16.2.1826; MA 19, S. I59f.)
375
Sphäre über die verdorbene, »kalte« Sphäre der Macht; die positiven Fürsten erscheinen als »Menschen«, denen ihre private Liebe mehr bedeutet als Amt und Macht (vgl. a. unten II.6). In der Anlage der Bühnenhandlung jedoch erweist sich die Liebeshandlung als untergeordnet, trotz ihrer diskursiv behaupteten Dominanz. Geradezu das Groteske streifend zeigt sich dies im einzigen Terzett des Stücks (II 3). Hier stoßen die beiden Perspektiven auch szenisch aufeinander: Asberta will Karl zum Kampf um die Kaiserkrone gegen Günther anstacheln, Anna ihn aus Liebe vom Kampf abhalten. Wie in Brechts kaukasischem Kreidekreis < zerren die beiden Frauen nun szenisch gegensätzlich an Karl. Obwohl Karl stets (und auch hier) verbal die Überlegenheit der Liebe über die Politik betont, gewinnt Asberta die Auseinandersetzung: »Er geht mit Asberta ab; die Pfalzgräfin geht einige Schritte nach, muß aber zurückbleiben.« Die Liebeshandlung ist der politischen Handlung untergeordnet und auch in der grundsätzlichen Konstruktion von dieser abhängig, denn das angebliche Hindernis für die Liebenden, die Haltung des Pfalzgrafen Rudolf, besteht faktisch schon am Anfang nicht mehr: Rudolf möchte, auch er ganz empfindsamer, liebender Vater statt taktisch denkender Politiker, seiner Tochter freie Hand lassen trotz der politischen Probleme, die sich für ihn als politischem Gegner Karls aus der Verbindung ergeben (I 3). Daher wird die Liebeshandlung nicht aus einem konstitutiven inneren Gegensatz zur Ebene öffentlicher »Pflicht« aufgehalten (wie bei Metastasio), sondern nur durch die zufälligen politischen Verwicklungen, die sich aus Asbertas intrigantem und illegitimem Herrschaftsanspruch ergeben. Die aufgeblähte politische Handlungsebene des Stücks aber erweist sich letztlich, in der Auflösung in Szene III 7, als Mißverständnis: Karl und Günther sind eigentlich gar keine Gegner, sondern stimmen in ihren Grundpositionen überein. Damit aber ergeben Liebeshandlung und politische Intrigenstruktur keinen argumentativen Zusammenhang, sondern fallen auseinander: Während die Liebeshandlung diskursiv zentral, dramaturgisch aber eher nebensächlich behandelt ist, bestimmt die politische Ebene mit ihren Rededuellen und aufwendigen Kampfszenen zwar das gesamte Stück, stellt sich aber letztlich als Mißverständnis heraus. Dies prägt auch den tragischen Schluß. Günthers Tod geht nicht aus der Dramaturgie des Stücks hervor, denn durch das Eingreifen Annas und die Auflösung der Verwicklungen in Szene III 7 sind die handlungsrelevanten Konflikte gelöst: Die vermeintlichen Kriegsgegner haben sich versöhnt, Karl und Günther Freundschaft geschlossen.80 Jetzt könnte Karl ernst machen mit seiner
80
Letztlich weist das Stück gar keine Konfliktdramaturgie auf, weder zwischen dem Liebespaar und Rudolf auf der Ebene der Liebeshandlung, noch zwischen Günther und Karl auf der politischen Ebene, noch zwischen Liebeshandlung als solcher und politischer Handlung. Alle Konflikte stellen sich als fruchtlose Intrigen Asbertas heraus. Das Stück baut somit nicht auf einer grundlegenden antinomischen Struktur auf
376
immer wieder geäußerten empfindsamen Überordnung der Liebe über die Macht. Stattdessen folgt im Stück Günthers Tod, der ebenso erhaben wie dramaturgisch sinnlos wirkt (— für Holzbauers Stilgefühl zeugt dabei, daß er den Schluß nicht in falscher Pathetik überhöhend anlegt, sondern in einem kurzen und leisen Chor verklingen läßt). Der tragische Schluß stellt im Bereich des deutschen (wie des italienischen) Musiktheaters eine seltene Ausnahme dar. (Ein Modell dafür dürfte im Bereich der Arminius-Dramatik liegen, auf die die intertextuelle Thusnelda-Anspielung in II i verweist.) Zweifellos hätte das auffällige Signal des tragischen Schlusses einer stärkeren dramaturgischen Motivation bedurft, als dies hier mit dem vergleichsweise schlichten Motiv eines für die Handlungslösung sinnlosen Giftmords geschieht. Günther stirbt eben gerade nicht als Märtyrer des »Vaterlands«, da auch Karl nie die Ideologie vom einigen Vaterland in Frage stellt. Durch Günthers lang ausgesponnenes, über einen ganzen Akt sich hinziehendes Sterben lenkt Klein das Mitleid der Zuschauer auf Günther, damit aber zugleich auf eine auf der Handlungsebene sinnlose Tragik. (Was der endgültig verröchelnde Günther dann noch als Vermächtnis und »Moral« des Werks zu formulieren hat, die Warnung vor ausländischer »Überfremdung«, hat schließlich mit dem Stück selbst überhaupt nichts mehr zu tun und verweist eher auf die Probleme eines Grenzstaates am Rande des Reichsgebiets.81) Hätte das Stück, wie in Szene III 7 sich für einen Moment abzeichnete, positiv geschlossen (eventuell mit einer Abstrafung Asbertas aus Gründen der »poetischen Gerechtigkeit«), dann wäre die innere Hohlheit des »Vaterlands«Pathos' unübersehbar gewesen, denn all die rhetorischen Klagen über die Zersplitterung Deutschlands wären dann durch die Verbindung der beiden Opponenten widerlegt gewesen. Der tragische Tod Günthers ist somit der Preis, den Klein für die Rettung der politischen »Vaterlands«-Thematik zahlen mußte.82 Dieser Preis aber ist hoch.
Hl
H2
(wie Metastasios Opern), vermag aber auch die Intrige kaum zu einer konsequent das Stück tragenden Gestalt zu entwickeln. »Entnervender - als Zwietracht - Ist Hang zu fremder Sitte - Stolz - deutsch zu seyn — ist — eure Größe! (Er stirbt; []).« Zugleich ist der tragische Tod auch das einzige Mittel, um die problematisch angelegte Figurenkonstellation (s.o.) zu klären; denn durch die Aufwertung Karls ist nun Günthers Status als politischer »primo uomo« endgültig bedroht, und Rudolf kommt in einen unlösbaren Loyalitätskonflikt (vgl. sein hilfloses »Sie seyen glücklich — aber/ Noch athmet Günther!« in III 7). Diese Statuskonkurrenz wird durch den tragischen Tod Günthers gelöst.
377
3·3· Anthropologische Probleme Die dramaturgischen Probleme wirken sich nun entscheidend auf die Ebene der Anthropologie aus. In >Günther von Schwarzburg< stammen die Figuren auf der Bühne ausschließlich aus dem Bereich der höchsten Herrscher: Kaiser, Böhmenkönig und Mutter, Pfalzgraf und Tochter. Hier herrscht ungebrochen das Fallhöhenaxiom der klassizistischen Tragödie.03 Wo bei Wieland oder Gotter trotz des gleichfalls hohen Personals die Familie im Vordergrund steht, spielt die Handlung bei Klein ausschließlich in Außenräumen oder in staatsbezogenen, öffentlich-repräsentativen Räumen; die Familien selbst sind defekt. Interesse soll den Herrscherfiguren primär wegen ihrer »Größe« zukommen, nicht wegen ihrer familiären Integration.84 Besonders auffällig ist, wie wenig Klein bereit ist, das Innenleben seiner Figuren zu charakterisieren. Das herausstechende Kennzeichen der Figuren ist in Situationen hoher Erregung und innerer Bewegung ausgerechnet ihre »Starrheit«. Schon zu Beginn heißt es über Anna, die gerade einen Abschiedsbrief an ihren Geliebten schreibt und offenbar Selbstmordgedanken hegt: »sitzt an einem Tische, auf dem ein Bildnis liegt, auf dessen Rand sie einige Worte schreibt. Sie sieht es lange starr an []« (ähnlich II i). Auch Karl reagiert auf Annas Brief in II i ebenso »erstummt, betäubt« wie später auf die Liebesarie der verkleideten Anna mit »langem starren Blicke« (III 4). Der Pfalzgraf Rudolf definiert sich schon in seiner ersten Arie (I 3) als »Fels«, der nicht wankt: »Mein Wort gleicht nicht dem Laube der Äste:/ Dies wanket, flattert, wird vom Winde verweht./ Sinkt vor dem schwachen Hauche der Weste,/ Der Felsen Haupt, das in den Wolken steht?«; entsprechend fragt ihn Asberta nach der Arie: »Ist denn Unbiegsamkeit dir Tugend, Rudolf?« 85 In Szene III 2 sitzt Rudolf starr und »unbeweglich« da obwohl er über das Sterben Günthers und den vermeintlichen Tod Annas »vom hinreissendsten Schmerzen ergriffen« ist, wird er in der starren Geste des Melancholikers86 vorgeführt. Besonders auffällig ist die Szene III 7, die die Auflö83
84
85
86
Vgl. dazu Kleins Angriffe auf Lessing, in denen er das Fallhöhenaxiom gegen dessen Rührungsästhetik verteidigt: Ueber Lessings Meinung vom heroischen Trauerspiele, und über Emilia Galotti. In: Klein 1809, S. 3 — 38, sowie: Ward Peter Corneille von Lessing unpartheyisch beurtheilt? Ebd., S. 101 — 131. Damit zeichnet sich hier eine absolute Gegenposition zu Lessing dar, der genau dies in der >Hamburgischen Dramaturgie< (z.B. 14. Stück) zurückweist und den Helden aus »gleichem Schrot und Korne« wie der Zuschauer fordert; vgl. allg. Albert Meier 1993. Weitere entsprechende Kennzeichungen Rudolfs: »Taub, unbeweglich, wie ein Felsendamm« (Asberta I 5); »er sinkt zurück, liegt unbewegt da« (Regieanweisung III i); »Kann Rudolf sein Wort ändern? — Nie« (III 7) usw. »Rudolf sitzt an einem Tische, mit dem Haupt auf den Arm gestützt« — wie in der ikonographischen Tradition, etwa in Dürers >Melencolia IAlceste< wird Admet in derselben Melancholikergeste gezeigt; vgl. GO 18, S. 46). 87 Vgl. dazu die Vorbemerkungen Kleins zu seinem Trauerspiel > Rudolf von HabsburgGünther von Schwarzburg< aufweist: »Kaiser Rudolf und König Ottokar sind Menschen von solcher Größe, so außerordentlich, so einzig und verschieden, daß jeder für sich, und noch mehr beide nebeneinander aufgestellet, Erstaunen erregen müßen. Der Dichter hat nicht nöthig, seine Zuflucht zur Verwicklung des Fadens zu nehmen, um im Gange der Handlung die Neugierde zu erhalten. Die Handlung selbst, fast wie sie in der Geschichte liegt, mit einfacher dichterischer Vorbereitung, ist hinreichend, die Theilnahme zu wecken, und zu erhalten.« (Anton Klein: Kaiser Rudolf von Habsburg, ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. [ ] Dritte Ausgabe. Mannheim 1789, S. VIH f.) Wo Lessing im Verhältnis von Historic und Drama den absoluten Vorrang des »Charakters« der dichterischen Figuren vor den »Fakta« betont (>Hamburgische Dramaturgies 23. Stück), zieht sich Klein konträr auf das dramatische Potential der Geschichte selbst zurück. 88 Der Chor wird dagegen in der norddeutschen Sprechdramatik der Zeit überwiegend als illusionsstörend abgelehnt; vgl. dazu Schimpf 1988, S. I4yff. (Genau aus diesem Grund versucht ihn auch Schiller dann in der >Braut von Messina< wiederzubeleben: als anti-illusionistisches Element.) Im klassizistisch orientierten Trauerspiel meist süddeutscher Provenienz begegnet der Chor dagegen noch länger: vgl. z.B. J. F. Cronegk: Olint und Sophronia (Ansbach 1761), C. v. Ayrenhoff: Tumelicus oder der gerächte Hermann (Wien 1774), [Anon.:] Publius Cornelius Scipio (Amberg 1775), J. S. v. Rittershausen: Die Tochter Jephte (Bregenz 1785). Auch in der Behandlung des Chors zeigt sich die enge Verbundenheit Kleins mit der Opera seria und dem klassizistischen Trauerspiel des katholischen Raums.
379
und Verkünder von Günthers Größe hohe Bedeutung zu (vgl. die Schlußszenen aller Akte sowie bes. die Thronszenen II 5/6); die militärische Ebene der Massen- und Kampfszenen ist das einzige Feld, auf dem die Herrscherfiguren ihre »Größe« durch Aktivität sichern und codifizieren können. Die zunehmend anachronistische Position dieser Anthropologie aber führt zur Erstarrung und zunehmenden Handlungsunfähigkeit der Herrscherfiguren — ein Prozeß, der sich im deutschen Trauerspiel bereits ab Mitte des Jahrhunderts erkennen läßt.89 Die Darstellung der starren Größe der Herrscher zielt nicht auf eine verallgemeinerbare Anthropologie, sondern grenzt die Herrscher gerade funktional ab von den anderen Menschen. Damit steht das Werk in äußerstem Gegensatz zu den Entwicklungen etwa bei Weiße oder Wieland. Diese bemerkenswerte Starrheit der Figuren gerade in Momenten höchster innerer Spannung90 bildet die Grundlage der oben festgestellten Dramaturgie, die die inneren Umschwünge in den Figuren nicht oder kaum motiviert. Die Figuren bleiben daher eindimensional, ja opak. Ihr Innenleben, das doch auf einer ideologischen Ebene stets als der politischen Ebene überlegen behauptet wird, bleibt undurchschaubar und rätselhaft. Es erhält keine plastische Gestalt und kann dadurch letztlich die ihm diskursiv zugesprochenen Bedeutung nicht füllen. Die Figur, die gegenüber den starr-handlungsunfähigen männlichen Herrscherfiguren die Dinge in Bewegung setzt und damit die höchste Bühnenausstrahlung hat, ist ausgerechnet Asberta, die negative Figur schlechthin. Ihr gegenüber wirken alle positiven Figuren (allenfalls am Ende mit Ausnahme Annas) blaß und steif. Die fiktive Figur Asberta inszeniert letztlich die gesamte Handlung, indem sie die eigentlich ab Szene I 3 unproblematische Verbindung Karls mit Anna aus strategischen Gründen verhindert. Asberta widerspricht als negative Figur par excellence allen genders, allen Weiblichkeitsbestimmungen der Zeit: als Mutter, die ihren Sohn als Marionette für ihren Machtrausch benutzt und dafür in Kauf nimmt, sein Glück zu zerstören; als politische Macht reklamierende, illegitime Antipodin der beiden dynastisch-positiven Figuren Günther und Rudolf; als Furie, die sogar konkret körperliche Gewalt ausübt, nur von Rache und Machtlust besessen ist und offenbar mit der Unterwelt im Bunde steht; schließlich als Selbstmörderin auf offener Bühne. 91 Asberta 8i> 90
91
Vgl. Greis 1991. Beim jugendlichen Liebespaar schlägt die Reaktion des Erstarrens mitunter in die Geste des jähen Auffahrens um (Anna I i, Karl III 7) - in dieser komplementären Geste aber bleibt ihr Innenleben ebenso undurchschaubar. Sprachlich wie von der Handlungsfiihrung her vereint Asberta den Typus des »großen Kerls« der Sturm-und-Drang-Dramen mit der Tradition der Zauberinnen in der Opernliteratur (vgl. ihre Höllenbeschwörung in I 9). Auch in Asbertas Selbstmord fließen zeitgenössische Sturm-und-Drang-Dramatik und italienische Seria-Tradition zusammen; doch während der Selbstmord in der Seria dem großen, positiven Helden vorbehalten bleibt (Cato oder Temistocle), dient er bei den Stürmern als beliebtes
380
verkörpert eine ältere, strategisch-taktische Anthropologie, die z.B. die Liebe des Sohns nur als Mittel zum Machterwerb ansieht; ihr steht auf der Kindergeneration, aber auch in der Figur Rudolfs die moderne empfindsame Konzeption gegenüber, die von der Eigenwertigkeit der subjektiven Emotionalität und von der Überordnung der »Liebe« über alle strategisch-taktische »Politik« ausgeht. Dadurch, daß Asberta aber die einzige handelnde und handlungsfähige Figur des Stücks darstellt, erweist sie sich als Repräsentantin des alten Codes den anderen Figuren überlegen; noch der tragische Ausgang ist ihr Werk und bestätigt ihre dominante Position. Die empfindsamen Figuren sind bei aller Positivität wehrlos gegen sie. Gerade die von Günther vertretene, typisch reformabsolutistische Position der Herrschaft durch Liebe und des »Vaterlands« als einer familiären Gemeinschaft, in der der Fürst den Untertanen zu ihrem »Glück« dient, 92 ist gegen Asbertas konkrete, instrumenteile Politik machtlos. Die Dominanz Asbertas aber widerspricht allen grundsätzlichen Wertungen und Axiomen des Stücks und wertet zugleich auch den gesamten »Vaterlands«-Komplex ab: Die Vaterlandsthematik liegt auf derjenigen Ebene des Werks, die von der negativen Figur beherrscht wird, erstreckt sich aber nicht in die Ebene der positiven Liebeshandlung hinein. Dies alles, zusammen mit der komplizierten historischen Einkleidung, verhindert die Identifikationsmöglichkeiten des Publikums. Klein gelingt es nicht, die z. T. übernommenen populär-empfindsamen Axiome anthropologisch mit der starren »Größe« der Könige und dramaturgisch mit dem behaupteten politisch-vaterländischen Pathos zur Deckung zu bringen. Erneut zeigt sich darin der Zusammenhang von Dramaturgie und Anthropologie. Die Starrheit der Figuren und das Beharren auf ihrer »Größe« als ausreichendem Grund für das Publikumsinteresse führt zu einer schiefen Intrigendramaturgie, bei der die positiven Figuren nicht handlungsfähig sind und die den empfindsamen Ansätzen (bei Weiße oder Wieland) elementar widerspricht. Durch die opake Anthropologie des Werks aber kommt es zugleich zum dramaturgischen Problem diffuser Informationsvergabe und unklarer Hierarchien der Figurenkonstellation. Dies und die nicht konsequent entwickelte Intrige erzeugt statt Spannung nur Unklarheiten für das Publikum.
92
dramentechnisches Lösungsmittel gerade auch für die Schurkengestalten. Besondere Ähnlichkeit zeigt die Asberta-Figur mit Friedrich Müllers Markgräfin Mathilde aus dem zur gleichen Zeit in Mannheim entstehenden Sprechdrama >Genoveva.94 Neben allgemeinen Raffungen und Kürzungen, die wohl auf Holzbauers Konto gehen, zeigt sich dabei die Tendenz, die dramaturgische Wahrscheinlichkeit etwas zu erhöhen, die langen Phrasen der Rezitative abzukürzen und die dramatische Entwicklung (v. a. gegen Schluß) zu beschleunigen.95 So hat Holzbauer etwa Annas Probleme mit ihrer Rollenidentität in der Verkleidung als »junger Held« in III 4 oder Karls umständlich lange Ausführungen in III 7 (z. B. warum die Liebe so unendlich mehr wert sei als das Kaisertum oder über die Niedrigkeit von Meuchelmördern) nicht vertont. Bemerkenswert ist, daß Holzbauer mit der Szene III 6 ein von Klein vorgesehenes Duett90 strich, obwohl das Werk ohnehin an Ensemblesätzen arm ist (nur ein Duett und ein Terzett). Darin zeigt auch Holzbauer seine Verwurzelung in der Tradition Metastasios: Auch Metastasios Texte weisen meist nur ein einziges Duett auf, das normalerweise für das Hauptliebespaar reserviert ist — so auch in >Günther von SchwarzburgGünther von Schwarzburg< ein italienisches Melodram: >La morte di Didone< (Mannheim 1779), das in seiner Faktur deutliche Parallelen zu den größeren Accompagnato-Abschnitten des >Günther von
382
Accompagnato-Rezitativ ist jedoch keine spezifische Errungenschaft Holzbauers, sondern bildet eine zeittypische Tendenz der Opera seria, z. B. bei Jommelli, aber auch schon beim späten Hasse; Algarotti würdigte es schon 1755. Eine erhöhte Bedeutung der Accompagnati zeigt sich z.B. in dem für Mannheim geschriebenen >Lucio Silla< von J. C. Bach (1775), was v. a. im Vergleich mit Bachs zwei Jahre älterem >Temistocle< auffällig hervortritt.) Mit diesem Reichtum an szenischen Elementen versucht Holzbauer zugleich, musikalisch das opake Innenleben der Figuren zu füllen. Wo bei Klein Erstarrung, Ohnmächten oder das Verstummen der Figuren gerade in Momenten der höchsten inneren Spannung herrschen, springt Holzbauers Musik stellvertretend ein. Neben den großen Eröffnungsabschnitten der ersten beiden Akte" scheint mir dafür z.B. das kurze Accompagnato-Rezitativ in der Szene III 7 aufschlußreich zu sein. Es handelt sich dabei um jenen Abschnitt dieser langen Szene, in dem Rudolf Karl vom vermeintlichen Tod Annas berichtet, worauf dieser in Ohnmacht fällt und Anna dann ihre Verkleidung als »junger Held« aufgibt und ihre Identität enthüllt (Part. S. 288). Im Libretto ist der gesamte, große Szenenkomplex einheitlich als Rezitativ angelegt; Holzbauer wechselt dagegen an dieser Stelle aus dem schlichten Secco-Rezitativ ins ausdrucksstarke Accompagnato, um nach Karls Erwachen aus der Ohnmacht ins Secco zurückzukehren. Der Abschnitt wird musikalisch somit deutlich herausgehoben und zu einem Schwerpunkt innerhalb der dramaturgisch entscheidenden Szene erhoben. Hier finden sich zum einen deutlich ausgeprägte musikalische Bewegungselemente: Als Karl in Ohnmacht fällt, spielen die Streicher eine abwärts fallende Figur (T. 2); als Anna auf den Ohnmächtigen zuläuft, beschleunigt sich die Bewegung (vivace, T. 3 und 4); als Karl sich wieder »aufrichtet«, steigt auch seine melodische Bewegung an (T. 9 und 10); das »Auffahren« Karls ist schließlich durch einen unvorbereiteten forte-Akkord markiert (T. 10). Doch die Musik erhält hier noch weitergehende Funktionen. In T. 7 und 8 heißt es im Nebentext: »Karl starret die Prinzessin mit unbewegten Augen an, will reden, und kann nicht reden; sie drückt ihm die Hand, und sieht ihn mit Zärtlichkeit an [ ]«. Karl kann nicht reden, doch in diesen zwei Takten spricht die Musik für ihn. Bemerkenswert ist dabei die Imitation zwischen Ober- und Baßstimme, die das stumme Zwiegespräch zwischen Karl und Anna ausdrückt. Der empfindsam-expressive Charakter wird durch die (d-)Moll-Tonalität und die »zärtlichen« Vorhaltsbildungen klargelegt; die Phrase endet, zum ersten Mal in diesem Rezitativ, in der Grundstellung eines (A-)Dur-Akkords. Karl
99
Schwarzburg< zeigt. (Leider lassen sowohl Schimpf 1988 als auch Küster 1992 die nicht-deutschsprachigen, aber in Deutschland entstandenen Melodramen aus.) Auf diese Szenen, die die Figuren jeweils bis zu Selbstmordabsichten führen, gehen Lühning 1984 und Schwarte 1991 ein. 383
findet durch Anna wieder Boden unter den Füßen, was die folgenden Takte mit dem ausgebreiteten A-Dur zeigen, das dann dominantisch nach d-Moll bzw. das »auffahrende« D-Dur geführt wird. Hier vermittelt die Musik das, was von Klein sprachlich gar nicht und auch szenisch nur schwierig ausgedrückt werden kann: das non-verbale, »zärtliche« Zwiegespräch der Liebenden, die allmähliche Rückkehr Karls aus der Ohnmacht in die Erkenntnis, daß die totgeglaubte Geliebte bei ihm ist. Holzbauer bebildert hier nicht, sondern fügt der Szene eine neue Dimension zu, mit autonom musikalischen Mitteln (Imitation, Vorhaltsbildungen, Harmonik). Darin zeigt sich eine dramaturgische Konzeption, die nicht mehr (wie bei Metastasio) von der Dominanz einer sprechtheaternahen »Handlung« geprägt ist, sondern in der die Musik tendenziell zum eigentlichen Raum der Entwicklung wird. Gerade die intensivsten Punkte der rezitativischen Handlungspassagen erhalten durch die Umsetzung als Accompagnato-Rezitativ eine neue Dimension, in der die Musik zum Träger des Ausdrucks wird. (Aus genau diesen Gründen lehnte Metastasio das Accompagnato-Rezitativ grundsätzlich ab: weil es die Dominanz des Textes über die Musik gefährde.100) Diese Tendenz zur Autonomie der musikalischen Ebene zeigt sich auch in anderen charakteristischen Zügen von Holzbauers Partitur. Besonders auffällig ist Holzbauers Bestreben, die Trennung von Arie und Rezitativ abzuschleifen, indem er häufig nicht zwischen den beiden festen Formen wechselt, sondern die Arien durch Accompagnato-Rezitative einleitet. Diese werden oft durch rein musikalische Mittel (z.B. motivische Bezüge oder identische Instrumentation) eng verbunden, so daß mitunter schwer zu bestimmen ist, wo eigentlich die Arie genau beginnt.101 Aus den funktional getrennten Positionen der Seria100
101
Vgl. dazu Stefan Kunze: Christoph Willibald Gluck, oder: die »Natur« des musikalischen Dramas. In: Hortschansky (Hg.) 1989, S. 390-418, hier S. 405^ Vgl. z.B. die Rondo-Arie Annas III 4 mit dem auffälligen klanglichen Signal der Klarinetten. Die Klarinetten werden bereits am Ende des vorausgehenden Rezitativs eingesetzt und verwischen so die Grenzen zur Arie. (Der Klarinetteneinsatz ist deshalb so auffallig, weil es ihr einziger Einsatz in der ganzen Oper ist, zugleich ein früher Beleg für die Verwendung dieser Instrumente im Opernorchester. Gerade in der Frühgeschichte der Klarinette spielt Mannheim mit Komponisten wie J. u. C. Stamitz oder dem Holzbauer-Schüler Pokorny eine besondere Rolle.) So wie Anna in dieser Arie verkleidet singt, so »verkleidet« sich auch der Klang des Orchesters durch den Wechsel vom oboengeprägten Normalklang zum weicheren, dem Charakter des Textes angemessenen Klarinettenklang. Die Rondoarie ist in einen größeren Szenenkomplex integriert, der mit einem Chor in As-Dur beginnt. In den folgenden, längeren Rezitativabschnitt in F-Dur zwischen Karl und Anna ist die Rondoarie als erster Höhepunkt eingebaut; ihr folgt, jeweils sehr interessant durch Rezitative verbunden, ein kurzes Arioso Karls in E-Dur, bevor sich das Paar (Anna immer noch angeblich unerkannt) zu einem Duett in A-Dur findet. Anders als in der frühen metastasianischen Tradition findet kein Wechsel geschlossener Formen (Rezitativ — Arie) statt, sondern Holzbauer und Klein bemühen sich gerade um dramaturgische und musikalische Integration der Arien in die Szene. Der Einbau der Rondoarie in diesen Rezitativabschnitt ist nämlich
384
Konvention von Handlungs-Rezitativ und reflektierender Arie werden dadurch tendenziell größere Szenenkomplexe, die durch steigernde bzw. abnehmende Integration der Musik gekennzeichnet sind (z.B. nach dem Muster Secco-Accompagnato-Arie-Accompagnato-Secco);102 dies geschieht mit rein musikalischen Mitteln und aus primär musikalischen Gesichtspunkten. 103 Im Zusammenwirken von Szene, Text und Musik erweist sich so die Musik insgesamt als der dominante Faktor. Schon Klein orientierte sich grundsätzlich an musikalischen Mustern v. a. aus dem Bereich der metastasianischen Opera seria, die er wohl in der Ausformung durch Mattia Verazi104 kennenlernte, dessen Libretti die unmittelbare Umgebung des >Günther von Schwarzburg< in Mannheim bildeten. 105 Klein sieht z.B. in jedem Akt einen Schlußchor vor und bietet so die Möglichkeit, mit einer operngerechten Finalwirkung zu schließen. Wo Klein dagegen das ältere metastasianische Bestreben zeigt, die handlungsrelevanten Teile ausnahmslos in die Rezitative zu verlagern und den Arien die Funktion von Reflexionen, Monologen oder Proklamationen zu verleihen, 106 schafft sich Holzbauer mit dem Mittel des Accompagnato-Rezitativs die Möglichkeit, hier korrigierend einzugreifen und der Musik insgesamt einen höheren Stellenwert zu verschaffen, als von der Textdramaturgie her vorgesehen war. Holzbauer vermeidet dabei jede direkte musikalische Illustration im Sinne tonmalerischer Umsetzungen. (Eine gute Gelegenheit dazu hätten z.B. die beiden Schlachtszenen I 10 und III 4 geboten.) Gerade die äußerst bildhaften Accompagnato-Rezitative der Asberta (I 4: Beschwörung des »Geists der Väter«; I 9: Höllenanrufung, III 8: Fluch und Selbstmord) zeigen, daß es Holzbauer nicht um Tonmalerei ging. In der Szene der Höllenanrufung werden typische Stellen wie »Pocht nicht mein Herz!« gerade nicht tonmalerisch umge-
102
103
104
105 106
dramaturgisch motiviert durch die Frage Karls an den Unbekannten »Wer kann dich, edler Freund, begreifen?«, die Anna die Gelegenheit gibt, ihr Ziel und ihre Motivation ausfuhrlicher darzustellen. Zur Verwischung der Formgrenzen von Rezitativ und Arie vgl, allg. Lühning 1984, S. 182; Schwarte 1991, S. iiof. Vgl. z.B. Szene II 2 mit Rudolfs Arie, Part. S. 24off., oder Szene III 4 mit Annas Rondo-Arie, Part. S. 256ff. Ähnliches gilt z.B. für die Ouvertüre, die direkt in die erste Szene übergeht und damit etwas erfüllt, was seit Gluck und Lessing häufig gefordert (und selten realisiert) wurde. Dennoch wurde Holzbauers Ouvertüre in der zeitgenössischen Praxis als isolierbares Stück betrachtet, wie handschriftliche Dokumente belegen, etwa eine Abschrift der Ouvertüre als Konzertstück in Regensburg (Thurn- und Taxis-Bibliothek) oder eine Einrichtung derselben für Violine und Pianoforte im Bestand der OettingenWallersteinschen Hofbibliothek (vgl. Haberkamp 1976, S. no). Verazis Libretti bilden bereits eine Art Reform des Metastasio-Modells; vgl. dazu Roland Würtz 1982: Joseph Martin Kraus und das Musiktheater in Mannheim (1768-1773). In: Riedel (Hg.) 1987, S. 58-63, bes. S. 60. Vgl. dazu Corneilson 19923, S. i07ff. Selbst Teile, die unmittelbar nach Musik verlangen (etwa Asbertas Geisterbeschwörung I 9), werden von ihm als Rezitative angelegt, wenn sie handlungsrelevant sind. 385
setzt. Hier liegt ein grundsätzlicher Unterschied zum Melodram: Kaum ein Melodramen-Komponist hätte hier die Assoziation des Textes mit einem klopfenden Rhythmus ausgelassen (s.o. 11.4). Holzbauer kann dagegen in der Oper mit ihrem internen Formenreichtum freier vorgehen: er benutzt vielfältige Möglichkeiten musikalischer Semantiken (z.B. über Tonarten, harmonische Prozesse, Dissonanzen, Instrumentierung usw.), die ihre Ausdrucksqualität gerade in der Differenz zu den gefestigten Formen der Arien erhalten. In ihrem Accompagnato-Rezitativ I 4 (Part. S. $6f.) beschwört Asberta den Geist ihrer Vorväter. Für derartige Szenen hatte sich in der italienischen SeriaOper des 18. Jahrhunderts ein spezieller Typus ausgebildet, den Hermann Abert als »Ombra«-Szene bezeichnete. Holzbauer knüpft hier an diesen Szenentypus107 und seine charakteristischen Mittel an: Tremoli108 im Baß und Trillerfiguren der Streicher, kleingliedriger Fakturwechsel, dynamische Kontraste, Chromatik, große Tempowechsel (Andante-Vivace), Hervorhebung des Wortes »Geist« (Dehnung) und v.a. die Nutzung extremer Tonarten im ^-Bereich.109 (Die Bedeutung der harmonischen Randbereiche wird v. a. klanglich dadurch gesteigert, daß in Mannheim mitteltönige Stimmungen verwendet wurden, was die Seltenheit von intonationsmäßig heiklen Tonarten wie Gis-Dur erklärt. Ihre Verwendung hier erhält somit als Normabweichung inhaltliche Bedeutung.' 10 ) Holzbauer geht es nicht um eine (tendenziell unselbständige) Tonmalerei, bei der die Musik das vom Text Gebotene imitierte oder abbildend verdoppelte. Stattdessen tritt die Musik mit ihren eigenen Mitteln als eigenwertige Ebene zu Szene und Text hinzu. Dies aber setzt beim Hörer viel voraus: Er muß Kenntnis und Rezeptionserfahrung mitbringen, um das Besondere dieser Musik würdigen zu können. Holzbauer schreibt (trotz unverkennbarer »galanter« Stilelemente) keine »populäre« Musik, sondern eine anspruchsvolle Musik für Kenner. Diese Musik tritt nicht als sangbare, mitsingbare Musik auf (wie z.B. in den Liedern und Schluß-Rundgesängen Hillers), sondern betont ihren eigenen Kunstanspruch. In ihren demonstrativ hohen Ansprüchen und in ihrer klanglichen und virtuosen Prachtentfaltung aber verweist sie zugleich entschieden 107
I0ii
I0i) 110
Vgl. o. II.2. »Ombra«-Szenen finden sich z.B. bei Hasse, Händel (>AlcinaAstianatteMitridateLucio SillaGünther von Schwarzburg< lassen sich insgesamt stichwortartig so charakterisieren: Abschleifen der geschlossenen Formen von Arie und Rezitativ; deutliche Tendenz zur Lösung der Arien von ihrer tradierten Szenen-Schlußposition, was völlig neue dramaturgische Probleme mit sich bringt (vgl. Lühning 1984); interne Auflockerung der Dacapo-Arienform bei nach wie vor grundsätzlicher Dominanz der Soloarien; hohe Bedeutung des Accompagnato-Rezitativs; Entwicklung größerer Szenenkomplexe über das Formpaar Rezitativ-Arie hinaus; Aufbau größerer tonaler Zusammenhänge; motivische Einbindung der Ouvertüre; Aktschluß durch Chöre. Damit aber folgt Holzbauer den neueren Entwicklungen der späten italienischen Seria-Oper, wie sie etwa von Niccolö Jommelli in Stuttgart, Tommaso Traetta in Wien oder Gianfrancesco de Majo in Neapel entwickelt wurde, deren Werke auch in Mannheim hohes Interesse fanden und unter Holzbauers Leitung gepflegt wurden (vgl. Henze 1984, bes. S. 8jff.', Corneilson 19923, 1992^ Riedlbauer 1990). Diese Komponisten zeichnen sich durch Bemühungen um eine produktive, aber insgesamt konservierende Weiterentwicklung des Seria-Modells der ersten Jahrhunderthälfte aus (vgl. Strohm 1979, bes. S. 291-352). Der grundsätzlich höfische Charakter steht dabei nie in Frage. Schon die Zweitbesetzung im Herbst 1777, Elisabeth Wendung, bewältigte die Partie offenbar nicht mehr (Walter 1898, S. 286 Anm.). In dieser Besetzung hörte Mozart das Werk. Zu Raaff, für den noch Mozart seinen >Idomeneo< schrieb, vgl. Corneilson 19923 und Strohm 1979, S. 341. Raaff, der am Ende seiner Karriere stand, war schon in seinen guten Zeiten mehr für den Vortrag langsamer Tempi berühmt, während sein schauspielerisches Talent bescheiden gewesen sein muß; dies könnte die insgesamt ruhige Gestalt aller Günther-Arien miterklären. Auch der Stimmumfang, der g' kaum überschreitet, paßt genau auf Raaff. 387
verwenden konzertierende Soloinstrumente.114 Holzbauer knüpft also nicht an das vergleichsweise bescheidene und pauschale Modell Schweizers an, um die deutsche Oper von der italienischen Tradition abzuheben, sondern verwendet im Gegenteil genau die hochentwickelte Form der zeitgenössischen Seria-Oper, an deren Ausformung er selbst Anteil hatte. Holzbauer geht nicht von den in der mittel- und norddeutschen Empfindsamkeit aufgebauten Axiomen der »Sangbarkeit«, »Natürlichkeit« und »Popularität« von Musik aus, sondern von den spezifischen Operntraditionen und -ansprüchen, vom komplexen Muster der späten höfischen Seria. Die Wendung zum deutschen Fach hin bedeutet bei Holzbauer eben keine Abwendung vom europäischen Niveau der Seria, sondern den Versuch, dieses Niveau bruchlos fortzuführen (- einen Versuch, wie ihn kaum einer der vergleichbaren deutschen Hofkapellmeister unternahm). Diese Musik zielt somit nicht primär auf Breitenwirkung, wie etwa die Werke Hillers, sondern treibt die Tendenzen zur Entfaltung der spezifisch musikalischen Möglichkeiten und zu einer Autonomisierung der musikalischen Ebene weiter. Auch dadurch aber stellt sich das Werk in seinem von der Musik dominierten Gesamtkonzept quer zu den 114
Ein Überblick über die Arien zeigt, daß Holzbauer sehr differenziert zu Werke gegangen ist. Die Arien sind durch strukturelle Faktoren wie formale Anlage, Instrumentation, Tonarten, Tempi und Taktarten deutlich variiert. Der traditionelle Typ der Dacapo-Arie findet sich in reiner Form lediglich zweimal: in Annas B-Dur-Bravourarie 1 6 und in Günthers darauffolgender C-Dur-Arie I 8. Variierte Dacapo-Formen weisen die Abgangsarien von Rudolf (F-Dur, I 3) und Anna (f-Moll, II 4) auf. Diese vier Arien sind auch durch eine relativ konventionelle Instrumentenbesetzung als »Normaltypus« erkennbar: 2 Oboen, 2 Fagotte, 2 Hörner. (Auffällig weicht Annas Arie I 6 mit der konzertierenden Solo-Oboe davon ab.) Zu diesen »Normalarien« ist auch Karls Liebes-Arie III 7 zu rechnen, die eine klare variierte Dacapo-Form bei abweichender, durch die Semantik der Musikinstrumente bedingte Instrumentierung aufweist (2 Flöten plus Streicher, vgl. Annas erste »Rosen«-Arie I i). In Karls Arie II 2, einer unvollständigen Dacapo-Form, zeigt sich die Dominanz der dramaturgischen Erfordernisse über die immanent-musikalischen Gestaltungsfaktoren: Karls Selbstmord-Absicht sprengt die eigentlich zu erwartende Reprise, so daß eine offene Struktur resultiert. — Den Dacapo-Formen stehen acht deutlich anders angelegte Arien gegenüber. Zweiteilig sind Rudolfs Arie II 5 und die Es-Dur-Arie der Asberta ausgeführt. In dreiteiliger A-B-C-Form sind die Trauerarie Rudolfs (III 2), die durch ihren Verzicht auf alle Bläser auffällt, und die große »Regierungserklärung« Günthers (II 5) gehalten, die hervorgehoben ist durch das konzertierende »Mannheimer« Bläserpaar i. Flöte und i. Oboe im Orchester. Ihr abgesetzter Mittelteil im Xu-Takt ist ein in der Neapolitanischen Seria nach 1750 häufig anzutreffendes Gestaltungsmittel (vgl. noch Mozarts »Se al labbro mio non credi« (KV 295) und »Torna la pace al core« aus >Idomeneo< — beides übrigens Arien, die für Raaff geschrieben wurden. Vgl. Daniel Heartz: Raaff's Last Aria: A Mozartian Idyll in the Spirit of Hasse. In: MQ 60 (1974), S. 517 — 543; vgl. a. Corneilson 19923, S. 242ff). Von ganz irregulärer Anlage und Instrumentierung sind schließlich Günthers Sterbe-Arie (III 10), die zwei konzertierende »Violetten« (Diskant-Violen, Altinstrumente der Viola da Gamba-Familie) und 2 Hörner verlangt, sowie die offene, ein Rezitativ integrierende Rache-Arie der Asberta (II 6), die die stärkste Bläserbesetzung fordert (2 Fl., 2 Ob., 2 Fg., 2 Hr.).
388
meisten Ansätzen des zeitgenössischen deutschen Genres. (Erst in den Jahren wird es Mozart gelingen, durch gezieltes Anknüpfen an populäre Modelle wie die Opera buffa einerseits, an die kompositionstechnischen Mittel aus der Seria-Tradition andererseits eine Verbindung von populär-breitenwirksamer und zugleich anspruchsvoll-innovativer Kunst zu schaffen.) Ein kurzer Vergleich zweier Arien von Hiller und Holzbauer soll dies abschließend verdeutlichen. Auf den ersten Blick mag es unangemessen erscheinen, zwei so unterschiedlichen Kontexten entwachsene Werke überhaupt vergleichen zu wollen. Vergleicht man die Werke jedoch nicht mit dem Ziel einer ästhetischen Bewertung, sondern im Rahmen ihrer jeweiligen Kontexte, dann weisen sie bei allen signifikanten Differenzen auch erstaunliche Gemeinsamkeiten auf, die einen Vergleich legitimieren. Den Arien des Königs aus Hillers >Jagd< (»Welche königliche Lust«, Nr. 38, Partitur S. 208 — 219) und Günthers von Schwarzburg (»Menschenliebe ist der Grund und Stolz der Throne«, II 5, Part. S. 200 — 212) liegen zwei ähnliche Texte zugrunde, die inhaltlich beide von der Ideologie eines familiären Herrschaftsbegriffs geprägt sind. Der Herrscher definiert sich in diesen Arien jeweils als Menschenfreund, als »Vater« und »Bruder« seiner Untertanen; statt zu einem »kalten«, machtstrategischen Herrschaftsmodell bekennen sich beide zu einer »warmen«, empfindsamen Gemeinschaft voll gegenseitiger Liebe und Achtung. Beide Texte sind als zweistrophige, kreuzgereimte und trochäische Vierzeiler angelegt. Beide Komponisten vertonen diese Texte als dreiteilige Arie: Hiller als klassische Dacapo-Arie, Holzbauer in einer reihenden A-B-CForm, Der harmonische Grundverlauf ist ähnlich: In beiden Arien steht der Schlußteil wieder in der Anfangstonart (Es- bzw. B-Dur), während der Mittelteil in instabilere Mollbereiche ausgreift (g- und c-Moll bei Hiller, f-Moll bei Holzbauer). Beide Arien beginnen im kleinen %—Metrum und in gemäßigt raschem Tempo (Allegretto bzw. Andant'ino con moto), werden von längeren Orchestervorspielen eingeleitet (20 bzw. 23 Takte) und weisen sogar noch so detaillierte Übereinstimmungen wie die Synkopenbildungen in der Melodie auf. Die vergleichbare dramaturgische Situation (der Herrscher spricht und verkündet sein Verständnis von Herrschaft) führt offenbar über alle Unterschiede hinweg zu ähnlichen Grundkonzeptionen. Gleichwohl sind die Unterschiede nicht zu übersehen und lassen Einblicke in die Wirkungsstrategien der Werke zu. Hiller bringt sehr wenige Textwiederholungen, vertont den Text immer in Form viertaktiger Perioden und geht fast ausschließlich syllabisch vor. Die Instrumentierung ist zurückhaltend: die Bläser kommen blockhaft meist nur dann zum Zug, wenn die Singstimme pausiert; die ersten Violinen (oft auch die Flöten) verdoppeln fast durchgängig den Gesang. Mit all diesen Verfahrensweisen präsentiert Hiller einen klar fortlaufenden, vergleichsweise gut verständlichen Text, der in gleichbleibende Perioden gegliedert ist und den Textzusammenhang reproduziert. 389
Holzbauer dagegen wiederholt vom ersten Einsatz an Textteile, wo es ihm musikalisch geboten oder notwendig scheint, und reduziert so Zusammenhang und Verständlichkeit des Textes. Der Text ist ihm primär nur Ausgangsmaterial für eine genuin musikalische Logik. Die Phrasenbildung ist viel freier als bei Hiller, viertaktig-regelmäßige Perioden sind eher die Ausnahme; so besteht etwa der erste Einsatz Günthers aus der Kombination von 3 + 3 + 2 Takten. Holzbauer weicht auch vom syllabischen Grundmuster ab und schreibt zahlreiche melismatische Passagen, die sich zum Schluß hin in immer größere Koloraturen steigern. Die riesige Koloratur der Takte 131-146 etwa bildet zwar auch ein Bild des Textes ab (Günther schwingt »der Freiheit goldene Fahnen«), läßt den Textzusammenhang selbst jedoch völlig untergehen in einem virtuosen Konzertieren von Singstimme und Orchester. Der Text und seine Logik spielen hier keine Rolle mehr, der Text liefert nur noch das Klangmaterial (hier den Vokal »a«). Trotz grundsätzlich ähnlicher Funktion der Instrumentierung wie bei Hiller erhält das Orchester bei Holzbauer zudem einen ganz anderen Stellenwert, was sich v. a. in der freien konzertierenden Verwendung der solistischen Holzbläser (Oboe, Flöte und Fagotte) zeigt. Die Eigenständigkeit der klanglichen Parameter ist wesentlich höher als bei Hiller 115 und läßt die textliche Ebene weit zurücktreten. Die Singstimme wird in dieser »aria concertata« potentiell zu einem Instrument unter den anderen. Dieser konzertante Duktus zeigt sich auch darin, daß Holzbauer eine große Schlußkadenz für den Sänger vorsieht — für eine derartige Ausbreitung der musikalisch-virtuosen Parameter fehlt bei Hiller jeder Grund; eine Kadenz des Königs würde dort nur deplaziert wirken. Die Entfaltung vokaler Pracht hätte den in Leipzig relevanten »Natürlichkeits«- und »Einfachheits«-Doktrinen entschieden widersprochen und das gesamte Bild des Königs als eines natürlich empfindenden Volksfreundes beschädigt. Daran zeigt sich erneut die unterschiedliche anthropologische Dimension auch der musikalischen Ebene. Hillers Arie, die sich ebenfalls grundsätzlich am Modell der Seria-DacapoArie orientiert, stellt im Rahmen seines Werks bereits den musikalisch anspruchsvollsten Bereich dar, mit dem sich der König von Teilen des übrigen Personals abhebt. Trotz dieser Randposition innerhalb des Werks ist auch die Arie des Königs nicht nur (als traditionelle Dacapo-Opernarie) soziale Signatur, sondern zeigt gleichzeitig in ihrer Faktur die Axiome von Textverständlichkeit, Sangbarkeit (Periodik) und »Natürlichkeit« (in der syllabischen, den Textzusammenhang bewahrenden und der Textlogik folgenden Vertonung, im Verzicht auf Prachtentfaltung). Bei Holzbauer dagegen, bei einem Libretto, das noch ganz von den Axiomen der Ständeklausel und der Fallhöhe bestimmt ist, 115
Dies verdankt sich selbstverständlich den unterschiedlichen praktischen Gegebenheiten: Bei Hiller ein bestenfalls durchschnittliches, z.T. aus Studenten und Substituten bestehendes Orchester, bei Holzbauer das vielleicht beste Orchester im Reichsgebiet.
390
ist Günthers Arie nur eine neben anderen und keineswegs einer der virtuosesten oder auffallendsten. Der Text wird dabei zum Hintergrund, auf dem sich ein luxuriöses »Konzert« von Gesangsstimme und Orchester nach musikalischen Kriterien entfaltet. Wo Hiller seinen abschließenden Dacapo-Teil reduziert, weil alles bereits gesagt ist,"6 bringt Holzbauer eine steigernde Anlage: Sein abschließender Teil vertont zwar nur die letzten beiden Verse des Textes, ist aber fast doppelt so lang wie der vier Verse umfassende Anfangsteil. 117 Auch diese effektvoll-steigernde Anlage zeigt noch einmal das Gewicht der musikalischen Logik — denn vom Text oder der Szene läßt sich dies kaum ableiten. Holzbauers Ausgangspunkt ist somit nicht von den musikästhetischen Axiomen berührt, die die mittel- und norddeutsche Empfindsamkeit um 1770 ausprägt - in deren Kriterien muß Holzbauers Musik wohl als zu »schwierig«, »gekünstelt« und »unsinnig« erschienen sein.1'8 Holzbauer wendet sich nicht an die neue Liebhaber- und Dilettanten-Kultur, sondern an Kenner mit hoher Rezeptionserfahrung und der Lust an repräsentativer Prachtentfaltung. Seine Musik zielt nicht primär auf die Herstellung eines homogenen Empfindungsraums geselliger Kultur, sondern setzt die Kenntnis der artifiziellen Gattung Oper voraus, das Wissen um die artistische und technische Qualität dieser Musik gerade auf dem Hintergrund der Opernkonventionen. Bei allen innovativen Zügen, die dieser Musik (eines immerhin ojjährigen Komponisten) in immer wieder erstaunlichem Maße zukommen, bleibt das Werk letztlich eine »italienische« Opera seria, die in deutscher Sprache verfaßt ist."9 Damit aber zeugt das Werk wiederum von der Vielgestaltigkeit der Ansätze zu deutschem Musiktheater.
5. Aufführungspraktische Hemmnisse >Günther von Schwarzburg< steht aufführungsgeschichtlich zwischen Hofoper und Nationaltheater. Es war die letzte Inszenierung der Mannheimer Hofoper und sollte zugleich programmatisch das Eröffnungswerk des neuen (ersten) Mannheimer Nationaltheaters abgeben. Zwischen Hofoper und Nationattheater steht das Werk aber auch in einem ganz anderen Sinn, nämlich in seiner Werkgestalt. Das Werk wahrt die soziale "6 Aufbau Hiller: Vorspiel (20 T.), A-Teil (40 T.), B-Teil (23 T.), Reprise von A (27 T.), Nachspiel (8 T.) 117 Aufbau Holzbauer: Vorspiel (23 T.), A-Teil (35 T.), B-Teil (53 T), Reprise von A (62 T), Nachspiel (6 T). Dabei ist zusätzlich das unterschiedliche Metrum der drei Teile zu berücksichtigen (2/4, 3/8, 4/4). 118 Vgl. etwa die Kritik Knigges an Mozart; s.u. II.6. Ily Joseph Martin Kraus schreibt 1778, das Stück sei »auf gutalte italiänische Mode« gesetzt (Kraus 1778, S. 93), kritisiert es aber teilweise auch (S. 34 f). 391
Exklusivität der Hofoper in seiner Faktur wie in seiner musikalischen Gestalt. Die Uraufführung 1777 ist ein großes, aufwendiges, höfisches Spektakel: Sie dauert vier Stunden (durch eingeschobene Ballette zwischen den Akten mit Musik von Cannabich und eigener Handlung); angeblich wirken 300 Statisten als Rittern etc. mit; die Dekorationen stammen vom Hofarchitekten Quaglio; Anton Klein wird für seinen Text schließlich durch die Fürsten von Schwarzburg-Rudolstadt zum poeta laureatus gekrönt. Einem »Nationaltheater« entspricht das Werk allenfalls durch Sujetwahl und Sprache. So wie die ersten Nationaltheater in Wien und Mannheim ihrer Struktur nach unverändert Hoftheater bleiben und somit die ursprünglich aufklärerische, kultur- und sozialpolitische Forderung nur äußerlich erfüllen, so verkörpert auch >Günther von Schwarzburg< unverändert den Typus der späten höfischen Seria-Oper. Hier wird nicht Wielands Konzept eines neuen Singspiels realisiert (bei dem der Autor über den Komponisten dominiert), sondern umgekehrt das herrschende höfische Modell auf einen neuen Sujetbereich zu übertragen versucht: bei deutlicher Dominanz des Komponisten über den Autor. 120 Auch wenn sich die Gründe für Erfolg oder Mißerfolg eines Kunstwerks kaum jemals isolieren und vollständig analysieren lassen, so lassen sich dennoch eine ganze Reihe von Faktoren dingfest machen, die den angestrebten Erfolg des Werks behinderten. Trotz der Stellung im Schnittpunkt zahlreicher aktueller Diskurse und trotz einer breiten Aufmerksamkeit, die das Werk zunächst hervorrief, finden sich auf verschiedenen Ebenen Hemmnisse für eine breite Wirkung des Werks. Zusammengefaßt wirken sich folgende Aspekte blockierend aus: - Die enge wittelsbachische Funktionalisierung ermöglichte es kaum, das Werk in andere höfische Kontexte zu übertragen; Klein zeigt sich hier zu sehr von der »alten« Repräsentativ-Funktion der höfischen Oper beherrscht. Dies erklärt z.T. auch das zunächst überraschende Ausbleiben deutscher historischer Stoffe im deutschen Singspiel überhaupt: Gerade für die kleinen Höfe konnten die großen Abschnitte der deutschen Geschichte allenfalls negativen Repräsentationswert haben; 121 rein wittelsbachische, habsburgische oder Hohenzollern-Panegyrik aber bleibt in zu enger Bindung an den jeweiligen Hof, um eine größere Öffentlichkeit zu erreichen.122 Das abstrakte »Vaterlands«-Pathos schließlich wurde kaum überall im Reichsgebiet geteilt; außer einer schmalen bürgerlichen Schicht gab es kaum echtes Interesse an einem einheitlichen Flächenstaat, am wenigsten in der Aristokratie. 123 Für Hofbühnen außerhalb des wittelsbachischen Bereichs war das Werk also in vieler Hinsicht problematisch. 120 121 122 123
Vgl. Lühning 1984. Vgl. Meyer i98oa, S. i4of. Derartige Panegyrik findet sich gleichwohl immer wieder; vgl. u. Teil IV. Entsprechend scheitern auch andere spätere Versuche im 18. Jahrhundert, einen deut-
392
- Für Wanderbühnen wiederum ist das Werk zu aufwendig (Chor, Massenszenen, Verwandlungen) und musikalisch zu komplex angelegt (z.T. extrem hohe Anforderungen an Orchester und Sänger). - Im Rahmen der zeitgenössischen Dramatik steht das Werk quer: Als tragisches Werk steht es im Kontext einer untergehenden Gattung; 124 mit Fallhöhenaxiom und Ständeklausel unterscheidet es sich sehr bewußt von allen aktuellen Tendenzen etwa zum Familiendrama. Kleins Defizite in der Figurencharakterisierung und in der anthropologischen Formung sind auch von der Musik Holzbauers nicht ausreichend aufzulösen. Gerade im Bereich der Anthropologie widersprach das Werk den Erwartungen dieser empfindsamen Publiken entschieden: durch das opake Innenleben der Figuren, das kaum Identifikationsmöglichkeiten bietet, ebenso wie in der demonstrativen Entfaltung instrumentaler und vokaler Brillanz und Pracht in der Musik. Gerade dies mußte den »Einfachheits«-Doktrinen der empfindsamen Kultur zutiefst widersprechen, da sie gerade zu den Kennzeichen des abzulehnenden galanten Diskurses stilisiert wurden; daran konnte auch die partielle Aufnahme empfindsamer Axiome durch Klein wenig ändern. — Ein am französischen Klassizismus oder an Metastasio geschultes Kennerpublikum andererseits konnte die dramaturgischen Probleme des Textes kaum übersehen: die ungeschickte Informationsvergabe, die fehlende Verknüpfung von Liebes- und politischer Handlung, die Figurenkonstellation. Gerade die kulturell konservativen Höfe mit starker italienischer Operntradition (wie z. B. Dresden oder Stuttgart) fanden generell kein Interesse an derartigen Experimenten, die für eine an Metastasio-Niveau gewöhnte Zuhörerschaft sicherlich ein Problem darstellten. Sie blieben lieber gleich bei der tradierten italienischen Seria-Oper. — Genau auf dieses Publikum hin ist jedoch Holzbauers anspruchsvolle Musik hin angelegt. Einem konventionellen Singspiel-Publikum wiederum, mit
124
sehen Nationalhelden zu finden. Bei Klopstock heißt es: »Flog, und schwebte umher unter des Vaterlands Denkmalen,/ Suchte den Helden, fand ihn nicht.« (>An Freund und FeindGünther von Schwarzburg< dabei auf dem Hintergrund von Kleins dramaturgischen Schriften. 125 Metastasio wird hier zum Vorbild auch für das deutsche Sprech-Trauerspiel stilisiert — gegen das neuentstehende »bürgerliche Trauerspiel«, gegen die populäre comedie larmoyante und v. a. gegen die aktuellen theoretischen Modelle zur Ablösung der klassizistischen Tragödie bei Lessing.126 Kleins Lob auf Metastasio liest sich wie eine Beschreibung dessen, was er in >Günther von Schwarzburg< versuchte: die erhabene Muse des Metastasio, stark gezeichnete Charaktere, Römerseelen, anzustaunende Handlungen und Situationen [], einen [] Held [], der große Dinge fürs Vaterland unternimmt, der zum Stolze seiner Nation auftritt, Königreiche in die Hand nimmt und hingibt, wenn er das Wort Frieden hört, dessen Loosungswort Völkerheil ist, und dessen Größe seine stolzesten Feinde bewundern. 127
Helga Lühning irrt m.E. also, wenn sie im >Günther von Schwarzburg< eine »Aufkündigung der Gattungstradition« der Metastasio-Oper erblickt. Klein und Holzbauer versuchen vielmehr eine Übertragung dieser Gattungstradition ins Deutsche, die dabei lediglich in einzelnen Aspekten mit dem Modell Wielands überblendet wird, ohne aber ihre soziale und politische Funktion zu reflektieren oder zu verändern. Im Gegenteil: Die Form der metastasianischen Oper wird zum Fluchtpunkt eines poetologischen Klassizismus-Konzepts. 125 126
127
Übersicht bei Krükl 1901, S. 154—166; Sammeldruck in Klein 1809. Vgl. Valentin 1988, bes. S. 87ff. und allg. Meier 1993. Die Ablehnung von Lessings Kritik an den Franzosen ist jedoch dabei kein isoliertes Phänomen; nicht nur ein katholischer Autor wie Cornelius v. Ayrenhoff, sondern z. B. auch F. W. Gotter verteidigt das klassizistische Trauerspiel gegen Lessings neue Poetik (vgl. Gotter 1788, Vorrede zu Bd. 2). Für die klassizistisch-konservativen Autoren in höfischen Umgebungen bietet offenbar gerade das Musiktheater einen Fluchtpunkt gegen die neuen, antiklassizistischen Theorieansätze. Anton Klein: Über Wielands >RosamundRudolf von Habsburg«, s.o. Anm. 87). Obwohl der Pfälzische Hof dem preußischen König ein besonders prachtvoll ausgestattetes Dedikationsexemplar zukommen ließ, zeigt die Rezeptionsgeschichte, daß das Werk im protestantischen Bereich praktisch überhaupt nicht Fuß fassen konnte: Lediglich in Kassel (1785) und Hannover sind Aufführungen belegt, in Hannover übrigens wieder zu einem typisch repräsentativen Anlaß - 1789 zum Geburtstag des Königs George III. Ansonsten wurde das spezifische Vaterland s-Pat hos offenbar nur im süddeutsch-habsburgischen Raum goutiert.
395
6. »Welcher Wechsel herrscht in meiner Seele« — Dramaturgie und Anthropologie in der >Entführung aus dem Serail
Belmont und ConstanzeOberonHüon und AmandeEntführungEntführung< erst nach der Umstrukturierung von Döbbelins Wanderbühne zum Nationaltheater und nach der Ablösung Döbbelins 1788 auf die Bühne.
396
ders des Wiener Stils, der zusätzlich von Komponisten wie Dittersdorf in Schlesien und Preußen populär gemacht wird. Hervorhebenswert scheinen mir bei diesem Wandel, den Thomas Bauman aus der norddeutschen Perspektive detailliert beschrieben hat,3 daß die steigende Produktivität des Südens, speziell Wiens, mit zwei Verwaltungsentscheidungen Josephs II. zusammenhängt: der Umwandlung des Burgtheaters zum »Nationaltheater« und der Spektakelfreiheit. Erst sie schufen die spezifischen institutionellen Grundlagen für die Potentiale, die in der Folge für das deutschsprachige Musiktheater entbunden werden konnten. Die (zeitweilige) Etablierung eines »Teutschen National-Singspiels« im Anschluß an die Umwandlung der beiden Wiener Hoftheater zum »Nationaltheater« durch Joseph II. im Jahr 1776 wurde von den Zeitgenossen meist als Triumph der älteren Nationaltheater-Bewegung in Deutschland verstanden und hinterließ im protestantischen Bereich großen Eindruck. Gerade der Kaiser schien die z.T. Jahrzehnte alten Überlegungen und Forderungen zur institutionellen Verankerung eines deutschen Theaters und eines eigenständigen deutschen Musiktheaters vorbildlich zu erfüllen. Allein durch diese Umwandlung rückte die Wiener Singspiel-Produktion auch für den protestantischen Bereich in eine beobachtenswerte Schlüsselposition.4 Betrachtet man die Vorgeschichte dieser Umwandlung jedoch genauer, dann erweist sich das Denken der Zeitgenossen schnell als Wunschdenken, das sich dann im 19. und frühen 20. Jahrhundert z.T. zu einem speziellen »Mythos« (Hilde Haider-Pregler) verfestigte. Der Erlaß Josephs II. war in erster Linie eine Reaktion auf die unhaltbar gewordene Organisationsstruktur der beiden Hoftheater, die seit 1742 an »privilegierte« Pächter verpachtet gewesen waren. Diesen Pächtern gelang jedoch der Spagat zwischen dem Geschmack des Hofes und den Erwartungen einer zahlenden Öffentlichkeit nie; sie machten der Reihe nach Bankrott, auch weil sie vom Hof und Hochadel nicht entsprechend finanziell unterstützt wurden. 5 Um einen qualitativ hochstehenden, für Joseph II. in der Hauptstadt unverzichtbaren Theaterbetrieb zu gewährleisten, waren Reformen unumgänglich. Diese führten zu den beiden kaiserlichen »Handbillets« vom 23. März 1776, mit denen Joseph II. zum einen das Pachtsystem aufhob und selbst als oberster Direktor die Leitung der Hoftheater übernahm. 6 Zur Lösung der ökonomischen Krise aber entschied sich 3 4
5
6
Bauman 1985, bes. S. 261-322. Für den Posten eines Kapellmeisters am deutschen Nationalsingspiel bewerben sich (neben Mozart) auch einige der führenden mitteldeutschen Komponisten (etwa Georg Benda und Anton Schweitzer). Ausgewählt wurde dann Ignaz Umlauf. Vgl. dazu Michtner 1970, S. 13ff., Haider-Pregler 1990 sowie das Material bei Franz Hadamowsky: Die Schauspielfreiheit, die »Erhebung des Burgtheaters zum Hoftheater« und seine »Begründung als Nationaltheater« im Jahr 1776. In: Maske und Kothurn 22 (1976), H. i und 2. Es ist bekannt, daß sich Joseph II. immer wieder sehr direkt in die Theaterbelange einschaltete. So ließ er etwa zu Beginn der Spielzeit 1782 gleich eine ganze Reihe
397
Joseph für die sparsamste und effektivste Theaterform: die deutschen Schauspieler und Sänger.7 Die wesentlich teureren Künstler des französischen Schauspiels und der italienischen Oper wurden verabschiedet, wenngleich sie weiterhin die Maßstäbe für das neue deutsche Institut setzten. Auch auf ein Ballett wurde verzichtet, was sich bald als äußerst unbefriedigend erwies.8 Mit der Umwandlung des Hoftheaters zum »Nationaltheater« reagierte Joseph II. somit primär auf verwaltungstechnische und ökonomische Probleme; die Bevorzugung des deutschen Theaters resultierte aus finanziellen Gesichtspunkten, nicht in erster Linie aus aufklärerischem Gedankengut.9 Zugleich jedoch erfüllte er damit eine aus ganz anderen Überlegungen stammende Forderung nach einem obrigkeitlich geförderten, vorbildhaften Nationaltheater als Markstein eines Bildungstheaters10 — nachdem zuvor sowohl das Hamburger National theater 1767 als auch ein ähnlicher, bürgerlich getragener Versuch in Wien (1769/1770) gescheitert waren. Sie hatten es nicht geschafft, das Problem von aufklärerischem Bildungsanspruch und ökonomischer Rentabilität zu lösen.11 Dennoch sind die von Reformen durchführen: Erhöhung der Spieltage, Festlegung des Spielzeitbeginns, Auflockerung des Spielverbots in der Karzeit, Entlassung und Neuverpflichtung von Sängern, Lockerung der Zensur, doppelte Besetzung jeder Rolle, Abschaffung der Besetzungsangaben auf den Theaterzetteln - all dies wird direkt durch kaiserliche Handbilletts geregelt (vgl. Belege bei Michtner 1970, S. 118). Entgegen verbreiteten Legenden betrifft Josephs Engagement jedoch nicht nur das deutsche Musiktheater, sondern selbstverständlich nach dessen Wiedereinführung 1783 ebenso intensiv das italienische. 7 Auch im Bereich Dekoration, Kostüme, Requisiten etc. war das deutsche Musiktheater erheblich billiger als die italienische Oper. Vgl. Michtner 1970, S. i39f. Mit der Reduzierung des Aufwandes geht auch eine Reduktion der Eintrittspreise einher, die durch die Erhöhung der Besucherzahlen zunächst fast kompensiert wird; vgl. Schindler 1976, S. 4iff. Im Dezember 1776 schreibt Joseph an seinen Bruder Leopold: »La comedie allemande [ ] continue a faire fanatisme dans Vienne, et j'en participe les fruits; car cette caisse, qu'on croyait, qu'elle fera banqueroute, commence a gagner.« (Zit. ebd. S. 44) 8 V.a. bei den Übertragungen französischer Operas-comiques, bei denen das Ballett handlungsgebunden eingesetzt ist, machte sich das Fehlen einer Ballett-Compagnie am National-Singspiel deutlich negativ bemerkbar und behinderte auch den Erfolg der Werke. Im September 1781 wurde daher wieder eine Ballett-Truppe verpflichtet (vgl. Michtner 1970, S. 75). Nach der Wiedereinführung der italienischen Oper wurde dann dagegen das Ballett ganz abgeschafft (vgl. ebd. S. 401, Anm. 15). 9 Wie etwa noch Michtner 1970, S. 30, meint. Ähnliche Prozesse weist Daniel 1995 am Beispiel von Mannheim und Karlsruhe nach. 10 Zu den theoretischen Entwürfen und Problemen vgl. bes. Haider-Pregler 1978, Kap. IV. " Vgl. dazu Hilde Haider-Pregler: Wien probt seine Nationalschaubühne. Das Theater am Kärntnertor in der Spielzeit 1769/70. In: Maske und Kothurn 20 (1974), H. 3/4. Zum Hamburger Nationaltheater vgl. Horst Steinmetz: Literaturgeschichte und Sozialgeschichte in widersprüchlicher Verschränkung: Das Hamburger Nationaltheater. In: IASL 4 (1979), S. 24ff., sowie allg. Rüskamp 1984. 398
bürgerlich orientierten Nationaltheater-Gründungen alles andere als wirkungslos geblieben — gerade ihre Grundideen werden von den höfischen Nationaltheatern aufgenommen und weitergeführt. Ohne die bürgerlichen Nationaltheater-Ansätze ist die Umwandlung des Theaters zur bürgerlichen Weihestätte im 19. Jahrhundert undenkbar. 12 Das Nationalsingspiel-Projekt stieß in Wien nicht nur auf Gegenliebe und konnte die Reformhoffnungen Josephs trotz anfänglicher Erfolge letztlich nicht erfüllen.' 3 Bereits 1783 wurde das deutsche Musiktheater am Burgtheater wieder durch italienische Oper ersetzt, während die deutschen Werke am (ebenfalls vom Hof geleiteten) Kärntnertortheater weitergespielt wurden. Insgesamt hielt sich das Nationaltheatersystemjosephs nur bis ins Jahr 1794; bereits Franz II. sah das Theater nicht mehr als wesentliches Repräsentationsinstrument an. Zudem hatte auch die Umstrukturierung das Problem des defizitären Betriebs nicht grundlegend verändert. Zur Entlastung des Hofes wurde daher am 22.7.1794 wieder ein Pachtsystem eingeführt, das der Bankier Peter von Braun übernahm.14 Die zweite für die weitere Entwicklung zentrale Veränderung bestand darin, daß Joseph II. zugleich die »Spektakelfreiheit« bekanntgab, die es nun jedermann ermöglichte, privatwirtschaftlich organisierte Theaterveranstaltungen abzuhalten (soweit sie nicht in Konflikt mit der - ihrerseits gelockerten - Zensur standen). Dadurch entstanden die Privattheater der Vorstädte, die zum Träger und Residuum der seit den Sonnenfelsschen Reformen von 1770 aus den Hoftheatern verdrängten Altwiener Tradition wurden (vgl. u. II.8). Der Aufschwung, den das deutschsprachige Musiktheater speziell in Wien nahm und der sich im Verzeichnis (s. Teil IV) deutlich erkennen läßt, hängt eng mit diesen beiden Reformen durch Joseph II. zusammen. Keine andere deutsche Stadt konnte in den i78oer und i79oer Jahren auch nur annähernd vergleichbare Bedingungen bieten wie Wien, wo zusätzlich einerseits die Sonderstellung durch die starke Volkstheater-Tradition, andererseits die internationalen Einflüsse durch einen der größten europäischen Höfe sowie durch eine Reihe musikalisch aufgeschlossener Aristokraten (mit z.T. aufwendiger eigener Musikpflege) hinzukamen. Die Entwicklungen in Wien strahlten weit über die Stadt hinaus in das gesamte Reichsgebiet aus. 12
Darin liegt das Hauptproblem der gegenwärtig vorherrschenden Forschungsmeinung, die die bürgerlichen Nationaltheater-Gründungen (s.o. II.5 Anm. 13) als peripher und wirkungslos ansieht (vgl. etwa die völlig verzeichnete Darstellung des Hamburger Nationaltheaters bei Manfred Brauneck: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. Bd. 2. Stuttgart/Weimar 1996, S. yoiff.). Die spezifische, wechselseitige Amalgamierung der Positionen in den späteren Hof- und Nationaltheatern ist ohne die bürgerlichen Ansätze und deren breite öffentliche Diskussion undenkbar. '* Vgl. Michtner 1970, bes. S. I47ff. 14 Vgl. dazu Großegger 1989, bes. S. 6iff. und S. I2off.
399
Wesentlich für die weitere Entwicklung des deutschen Musiktheaters ist dabei, daß man in Wien beim Aufbau des Repertoires für das neue deutsche National-Singspiel trotz des Mangels an vorhandenen eigenen Werken nicht an die Entwicklungen im nord- und mitteldeutschen Bereich anknüpft. Im Gegenteil: Der liedgestützte Stil des mitteldeutschen Singspiels wird in Wien geradezu zum Antityp erklärt.15 Stattdessen versucht man in Wien, eine eigene neue Tradition aufzubauen, die primär an der italienischen Opera buffa, zu Beginn auch an der französischen Opera-comique orientiert ist. Der Mangel an vorhandenen deutschen Originalwerken führt in Wien nicht dazu, die im übrigen deutschen Sprachraum erfolgreichen deutschen Werke zu übernehmen, sondern zum Import zunächst französischer, dann (nach dem Tod Maria Theresias) in steigendem Maße italienischer Werke in deutscher Übersetzung."6 Der Wiener Hof und das überwiegend aristokratische Publikum der Hofbühnen zeigt sich, auch im Wechsel zur Volkssprache, ästhetisch in der internationalen Ausrichtung und in der Konkurrenzhaltung zwischen den großen europäischen Zentren verankert, wie sie typisch für die absolutistische Kunstpraxis ist.17 Ein Publikum, das mit den fortgeschrittensten Formen der italienischen Oper vertraut war, konnte offenbar keinen Gefallen an der im Vergleich ärmlich wirkenden, da anders ausgerichteten nord- und mitteldeutschen Musik gewinnen; ein angeblicher nationaler bzw. patriotischer Faktor war demgegenüber 15
16
17
So schreibt etwa der Staatsrat Tobias Freiherr von Gebier am 9.2.1778 an seinen langjährigen Briefpartner Friedrich Nicolai über die ästhetische Ausrichtung des neuen deutschen »National-Singspiels«: »Es müssen aber lauter wahre musikalische Virtuosen und keine Liedsänger, die Komponisten aber so beschaffen sein, wie wir sie hier von Piccini, Anfossi, Paisiello und zum Teil von Gretry gewohnt sind [ ].« (Zit. n. Michtner 1970, S. 30) Die ästhetische Prädominanz der italienischen Oper und Gesangskultur ist überdeutlich. Umgekehrt stößt auch die Wiener Musik im Norden immer wieder auf ästhetische und politische Vorbehalte. Das in Wien durchaus erfolgreiche Singspiel >Diesmal hat der Mann den Willen< (von J. F. Schmidt/C. d'Ordonez, 1778) wird am Berliner Hoftheater nach der zweiten Aufführung abgesetzt; Knigge wiederum kritisiert Mozarts > Entführung < als zu schwierig für Ausführende wie Publikum. Vgl. dazu Michtner 1970, S. 3of., S. 64^, S. 106 und das komplette Spielplanverzeichnis des »National-Singspiels« in Michtners Anhang. Kaum eines der mittel- und norddeutschen Singspiele fand den Weg auf die Bühne des »National-Singspiels«; eine Ausnahme bilden allenfalls Bendas Melodramen; im Anschluß an diese wurde 1779 auch sein >Jahrmarkt< gegeben, blieb aber ohne Erfolg. In einem Wiener Bericht über Beeckes >Claudine von Villa BellaDie Bergknappen< das erste Singspiel aus dem Süden ist, das Hiller in seine sechsbändige Arien-Sammlung auf402
auf dieser Ebene vergleichsweise wenig. Die zentralen Prämissen von Rationalismus und Empfindsamkeit haben sich in den lySoer Jahren auch im Süden auf breiter Basis durchgesetzt. Die großen Differenzen liegen auf anderen Ebenen, v. a. in den Bereichen von Musikdramaturgie und Anthropologie. Hier gibt es einige gravierende Unterschiede, die die Praxis der süddeutschen Bearbeiter prägen und die die Parallelen auf ideologischer Ebene dann doch fraglich erscheinen lassen. Einer der großen Vermittler zwischen protestantischer Librettistik und süddeutscher Theaterpraxis, Johann Gottlieb Stephanie24 (genannt »der Jüngere«), richtete 1781 für Umlauf ein Libretto des Leipziger Kaufmanns und Theaterdichters Christoph Friedrich Bretzner ein. Bretzners auf einer exotischen Phantasie-Insel spielendes Stück >Der Irrwisch, oder: Endlich fand er sie< 25 (1779) wurde schon im Titel an süddeutsche Sprachformen angepaßt: Aus dem Irrwisch wurde ein »Irrlicht«. 26 Beide Fassungen wurden häufig vertont und waren beim nord- wie süddeutschen Publikum beliebt.27 Die generellen Grundzüge der Änderungen
24
25
26
27
nahm (Hiller (Hg.) 1777-80; vgl. a. Schering 1941, 8.474). Zugleich zeig: diese Aufnahme des Eröffnungswerks des Wiener Narional-Singspiels, daß man im Norden aufmerksam die Entwicklungen in Wien beobachtete. Die >Bergknappen< zählen zu den erfolgreicheren Wiener Produktionen, nicht nur im Süden: 1780 wird es in Hamburg, 1784 in Lübeck und Rostock, 1785 in Riga gegeben; 1779 erscheint in Warschau sogar eine polnische Übersetzung (vgl. Loewenberg 1978, S. 363). Der in Breslau geborene Stephanie war während des Siebenjährigen Kriegs als Kriegsgefangener 1760 nach Wien gekommen und ab 1768 als Schauspieler, Autor, Regisseur und Theaterdirektor zur festen Größe im Wiener Theaterleben geworden; von 1779 bis 1783 war er am neuen Nationalhoftheater für das deutsche Musiktheater zuständig, ab 1781 als alleiniger Direktor. Zugleich zählte er in Wien mit seinen Stücken und Bearbeitungen zu den meistgespielten Autoren seiner Zeit. Zwischen 1776 und 1846 wurden von ihm am Burgtheater 32 Stücke in 393 Aufführungen gezeigt; vgl. Hochstöger 1960; Michtner 1970, S. 5 if., 02f., i i8f.; Groll/Müller (Hg.) 1993, S. 15. Der/ Irrwisch,/ oder/ Endlich fand er Sie./ Eine Operette/ in/ drey Akten./ Componirt vom Herrn Preu in Leipzig. In: Christoph Friedrich Bretzner: Operetten, i. Band. Leipzig: C. F. Schneider 1779, S. 1—98 (im folgenden zitiert als »B.«). Das/ Irrlicht,/ oder:/ Endlich fand er Sie./ Eine Operette/ in/ drey Aufzügen,/ nach Herrn Bretzner frey bearbeitet, und/ für das k.k. Nationalhoftheater zugerichtet./ Die Musik ist neu vom Herrn/ Umlauf./ Aufgeführt auf dem k.k. Nationalhoftheater./ Wien,/ zu finden beym Logenmeister. 1781 (im folgenden zitiert als »St.«). Zu Umlaufs Komposition von »Das Irrlicht< vgl. den abschätzigen Kommentar von Mozart (Brief vom 6.10.1781). Thomas Bauman (1987) erkennt den Erkenntniswert dieser Bearbeitung, gerade für die benachbarte »Entführung aus dem SerailBergknappen< (DTÖ 36, S. XXIX f.). Zu den innerästhetischen Prinzipien vgl. Stephanies Vorrede zur Ausgabe seiner Singspiele 1792.
404
der Staatsraison dürfe der Prinz keine Betrüger begnadigen. Dieser Schluß, den Stephanie neu hinzufügte, ist höchst aufschlußreich, weil hier zwei Weltanschauungen im Medium der Operndramaturgie aufeinanderprallen. Der typische c/emenza-Akt des Prinzen in einer Final-Szene verweist unverkennbar auf die höfische Opera seria, in der er ein zentrales Moment der Repräsentation des absolutistischen Herrschers darstellt. Gerade in der Möglichkeit, auch unbegründet Gnade zu schenken, erweist sich die wahre herrscherliche Unabhängigkeit und Macht. Der Gnadenakt ist somit, weit über die reine Opernästhetik hinaus, die deutlichste Verkörperung absolutistischer, an keine »objektiven« Kriterien gebundener Macht.30 Die beiden Berater (mit den sprechenden Namen Fabriz und Sever) vertreten dagegen die moderne Position der bürgerlichen Staats- und Verwaltungslehre. Sie fordern objektivierbare Kriterien, ein allgemeingültiges Strafrecht und verweisen auf die Gefahr des Präzedenzfalles für das Gemeinwesen: Fabriz. Herr, erlaube! zu viel Güte/ Mehrt in Zukunft das Verbrechen;/ Wiederrufe dein Versprechen,/ Strafe ihre Missethat./ [ ] Fabriz. Solche Frevler abzuschrecken,/ Ist der Fürsten ihre Pflicht./ Fabriz und Sever (zusammen). Solche Frevel zu verdecken,/ Bringt noch größere ans Licht."
Die gesungene Szene kulminiert in einem Streit zwischen dem Prinzen Alwin und seinen Beratern, in dem sich die unterschiedliche Anthropologie abzeichnet, auf der die Kollision der beiden Prinzipien >Gnade< vs. kodifiziertes Recht ohne Ausnahmen< beruht. Wo das kodifizierte Recht< die Perfektibilität des
30
Dies wird noch aus der kritischen Perspektive Montesquieus deutlich, wenn dieser die Trennung von Justiz und Exekutive u.a. folgendermaßen mit dem clemenza-Akt des Herrschers begründet, den der Herrscher als juristischer Richter nicht leisten könnte: »De plus, il perdrait le plus bei attribut de sä souverainete, qui est celui de faire grace: II serait insense qu'il fit et defit ses jugements; il ne voudrait pas etre en contradiction avec lui-meme.« (Montesquieu: De 1'esprit des loix [1748], 6, V; zit. n. Nagel 1988, S. 56). Vgl. auch Montesquieus Kapitel »De la clemence du prince« (ebd. 6, XXI), in dem etwa auch die Frage von Stephanies >Irrlicht< diskutiert wird: wann der Fürst strafen und wann er Gnade walten lassen dürfe. Daher scheint mir Ivan Nagel in seiner äußerst anregenden Studie grundsätzlich zu kurz zu greifen, wenn er die demenza-Thematik des 18. Jahrhunderts bei Metastasio als ein Indiz für den Verfall des Absolutismus liest, als Theaterschema, das »den absoluten Staat nicht mehr begründet, sondern allabendlich bei Lobeschören und Fanfaren zu Grabe trägt.« (Nagel 1988, S. 15). Die metastasianische clemenza ist eben gerade keine »Impotenz im Strafen« (S. 58), sondern ein genau kalkuliertes Element der Außendarstellung des absolutistischen Herrschaftsverständnisses (vgl. dazu auch Daniel 1995, S. 28ff). Nagels verkürzte Sicht zeigt sich auch in seiner Einschätzung Metastasios als bloßem Schmeichler und »Virtuose der Unterwürfigkeit« (S. 15) — damit allein läßt sich der europaweit prägende Charakter dieser Kunst nicht erklären. ·" St. S. 52f. 405
Menschen voraussetzt, beruht die >Gnade< auf der Einsicht in die Fehlerhaftigkeit des Menschen: Alwin (zu Sever und Fabriz). Fehlen ist dem Menschen eigen:/ Wollte man nie Gnade zeigen,/ Wer bestände vor dem Thron!/ Sever. Doch zu solchen Thaten schweigen,/ Dabey keine Strenge zeigen,/ Macht Verbrechern neuen Muth./ Fabriz. Wahrlich! zu viel Gnade zeigen,/ Und zu solchen Freveln schweigen,/ Ist am Ende gar nicht gut. Rosa (für sich). Welche Herzen! Welche Strenge! Berthold (für sich). Mir wird's um die Brust zu enge. Beyde. Sicher hört er sie noch an,/ Und dann ist's um mich gethan. Alwin (zu Sever und Fabriz). Ihr werdet meinen Willen/ Aufs pünktlichste erfüllen,/ Und widersprecht nicht mehr./ [ p2
Aufschlußreich sind zwei Aspekte dieser Szene. Zum einen kann die demenzaThematik, zentraler Teil der Inszenierung absolutistischer Macht, im Singspiel um 1780 ungeniert diskutiert werden. Sie ist nicht mehr die selbstverständliche Lösung, sondern eine mögliche neben anderen. Das zeugt von einem Verfall ihrer diskursbestimmenden Kraft. Neben der auf einer skeptischen, noch barock geprägten Anthropologie beruhenden clemenza wird jetzt ein anderes Verständnis von Herrschaft sichtbar, das nicht mehr auf der absolutistischen Person, sondern auf objektivierten, kodifizierbaren Prinzipien beruht. Das Wiener Singspiel diskutiert zentrale Fragen der Legitimation und Ausübung von Macht.33 Daher kann die f/ewewztf-Thematik auch von ihrem typischen Ort, dem Werkschluß, der keine Alternativen mehr zuläßt, in die Mitte des Werks verlegt werden. Dabei ist aber äußerst bemerkenswert, daß die Vertreter des neuen Herrschaftsmodells dramaturgisch gar nicht gut wegkommen. Nicht nur unterliegen sie dem Fürsten, der ihnen am Schluß mit typisch altabsolutistischer Gebärde das Wort entzieht, sondern zudem wird die Sympathie der Zuschauer auch durch das Verhalten der anderen Bühnenfiguren gegen sie gelenkt. So 32
33
St. S. 54. Dieser Diskurs setzt sich auch im Medium der italienischen Oper fort. So geht es in der von Antonio Salieri 1787 komponierten Oper >Axur< (Text von Da Ponte nach Beaumarchias' >TarareLe nozze di Figaro< (1786) zu sehen wäre. Im Medium des vom Hof getragenen Musiktheaters laufen die Diskurse ab, die auf dem Gebiet des Sprechtheaters nicht zugelassen werden; ein wichtiges Indiz für die Selbst- und Außendarstellung des Reformabsolutismus.
406
verteidigt etwa der Chor den Prinzen: »Das ist edel, groß gedacht«, und im gesamten Verlauf der Szene wird die Sympathie des Publikums auf die Betrüger, das komische, kleinbürgerliche Paar, geführt, deren Motive, der Wunsch nach Geld und Aufstieg, so nachvollziehbar erscheinen und ihren dummdreisten Fehltritt entschuldigen. In den Bemerkungen der beiden »für sich« erscheint die moderne Haltung von Sever und Fabriz als herzlose »Strenge«. Stephanie baut somit eine Allianz von absolutistischem Herrscher, kleinbürgerlichen Betrügern und dem Publikum auf, die die modernen Berater des Fürsten ausgrenzt und in eine Position der unmenschlichen Härte rückt. Die neuen Prinzipien des modernen Staats- und Gesellschaftsverständnisses, die zehn Jahre später, am 6. Juni 1791 in der Assembles Constituante der Französischen Revolution kodifiziert werden,34 zeichnen sich am Horizont deutlich ab, aber sie werden in eine negative Position gerückt. Der altabsolutistische Prinz mit seinem Verständnis für die fehlerhafte Natur des Menschen ist die positive Figur des Werks, während die Gleichheit vor dem Gesetz als unmenschlich gebrandmarkt wird. In Bretzners Leipziger Theaterwelt, auf einer privat getragenen Bühne in einer Handels- und Messestadt, hätte eine derart ausgedehnte Diskussion über die demenza des absolutistischen Herrschers zweifellos nur obsolet gewirkt; in Wien dagegen, im höfisch getragenen Nationalsingspiel, wird sie zu einem der Angelpunkte des gesamten Werks.35 Auch im III. Akt zeigt sich das unterschiedliche Herrschaftsverständnis von Original und Bearbeitung. Bretzner läßt den Prinzen in einem Monolog davon träumen, nur noch »Mensch« zu sein: Ach dieß Wehen der Winde, dieß sanfte Wallen der Lüfte, dieß Lispeln der Blätter, o wie mächtig fühlt mein Herz dieß alles jetzt, jetzt da ich liebe! Hier wollte ich im Arm der Geliebten, Reichthum und Größe vergessen, mit ihr die Schönheiten der Natur empfinden, und nur Fürst über ihr Herz seyn. — · 6
Dieser Topos vom Fürsten, der erst durch die Liebe seine Natur empfinden kann und durch den Verzicht auf seine Position zum Menschen wird, ist für
34
Dort wird das Amnestierecht des Königs als Willkürakt denunziert und im Namen der Gleichheit vor dem Gesetz abgeschafft: »La clemence d'une nation est d'etre juste« (Jerome Petion de Villeneuve, Hauptredner der Brissotisten; zit. n. Nagel 1988, S. 95). 35 Die metastasio-nahe Großmuts-Thematik an sich ist nicht spezifisch für die Wiener Singspiele; sie findet sich etwa auch in Großmanns >Adelheit von Veitheim« (vertont von C. G. Neefe, UA Frankfurt a. M. 1780). Eine derart deutliche Funktionalisierung der Großmut als Symbol der absolutistischen Macht wie in Stephanies Gegensatz von Fürst und Beratern zeigt sich allerdings dort nicht; Großmann folgt eher dem seit Addisons >Inkle and Yariko< und Voltaires >Zaire< etablierten, potentiell europakritischen Muster des »edlen Wilden«. 3« B. S. 75-
407
die mitteldeutsche Empfindsamkeit sehr charakteristisch, die auf der Frontstellung von positiver »Natur« und verdorbener, unnatürlicher politischer Hofwelt beruht. Stephanie dagegen streicht genau diesen Passus ersatzlos. Sein Fürst ist ja gerade als Verkörperung eines absolutistischen Begriffes von Herrschaft eine positive Figur; er ist gerade als großmütiger Fürst menschlich. Die mitteldeutsche Opposition von Natur vs. Macht würde dem zuwiderlaufen und wird daher in Wien getilgt. Der Schluß des III. Aktes betont nochmals die »Großmut« des Prinzen (III 3, III 7) und bringt eine Auflösung, die gleich mehrere typische Themen der zeitgenössischen Dramatik engführt: Blanka, die angebliche Tochter von Berthold und Rosa, erlöst den Prinzen, gerade weil sie seinen Heiratsantrag ausschlägt zugunsten eines armen Schäfers - der Gestalt, in der ihr der Prinz zu Beginn des Stückes unbekannt begegnet war. Die Aufdeckung der Identität von Prinz und Schäfer (in der die alte barocke Schäferspieltopik genutzt wird) fällt dabei zusammen mit Bertholds Enthüllung, daß Blanka in Wirklichkeit ein Findelkind ist, das sich in der anschließenden Anagnorisis-Szene als die verloren geglaubte Tochter des Sever herausstellt. Am Schluß herrscht ein auf allen Ebenen demonstrativ ausgebreitetes Glück: Das Vater-Tochter-Glück steht neben dem Glück des Liebespaars, und auch das Kleinbürgerpaar erhält durch die Großmut des Prinzen den lang ersehnten Reichtum und Aufstieg. Stephanie betont hier ein letztes Mal die demenza des Fürsten. Der gleißende Glanz des Glücks, mit dem das Stück endet und der Blanka in ihrer letzten Arie37 blendet und taumeln läßt, zeigt die Funktion, die das deutsche Singspiel um 1780 erfüllt: die Funktion einer Wunscherfüllungsmaschine. Zugleich sind die Unterschiede zwischen dem protestantischen Original und seiner katholischen Bearbeitung deutlich. Wo es sich bei Bretzners Handlung um einen doppelten Durchlauf handelt, in dem das betrügerische Fehlverhalten Bertholds und Rosas zum moralischen Verhalten geläutert wird und somit das Glück des Endes durch die Maxime »Ehrlich währt am längsten« (B. S. 95) von den Figuren quasi legitim verdient wird, ersetzt Stephanie diese bürgerliche Moral durch den Gnadenakt des Souveräns. Der großmütige Souverän mit seiner Einsicht von oben in die fehlerhafte Natur des Menschen beschließt das Singspiel wie eine Opera seria alten Stils.38 Das neue deutsche 37
38
»Ach! noch schwank ich halb im Taumel«. Diese Arie steht an der vorletzten Stelle des Werks. An dieser gefahrlosen Position, wo die Handlung abgeschlossen ist, darf die weibliche Hauptfigur meist bei Bretzner ihre große (oft musikalisch zur BravourArie ausgebaute) Arie singen (so auch in >Belmont und Constanzes s- u -> oder »Das wüthende HeerIrrlicht< wird sogar weit schärfer als in der >Entführung aus dem Serail< die Differenz der beiden Ontologien betont.
408
»National-Singspiel« in Wien versucht sich als höfisches Institut; es stellt sich in einen Kommunikationsprozeß zwischen den Regierenden und ihrem Publikum. Gerade die Umstellung auf die deutsche Sprache zeigt, wie nun potentiell die eigene Bevölkerung zunehmend zum Adressaten der höfischen Außendarstellung wird, statt daß das Theater wie zuvor ausschließlich der internationalen Selbstdarstellung der Höfe untereinander diente.39 Das aber heißt nicht, wie es der Mythos vom »Nationaltheater« will, daß das Hoftheater als Nationaltheater nun Bürgerliche Werte< propagierte; es setzt diesen stattdessen eine andere Anthropologie entgegen. 1.3. Zur Dramaturgie von Original und Bearbeitung Die entscheidenden Differenzen zwischen den mittel- und süddeutschen Werken liegen im Bereich der Musikdramaturgie. Stephanies >IrrwischJagdInfrastruktur einer höfischen, bisher ausschließlich italienisch geprägten Opernbühne zur Verfügung. Selbst Wiener Komponisten der zweiten Garde (wie etwa Ignaz Umlauf) zeigen kompositorisch wesentlich mehr Gespür für orchestrale Möglichkeiten, den klanglichen Reichtum v. a. der (Holz-)Blasinstrumente, virtuose Stimmführung, den lebhaften buffonesken Stil als die führenden norddeutschen Komponisten; Wien ermöglicht als Schnittpunkt verschiedener Musiktraditionen und durch die Existenz hochqualifizierter professioneller Orchester und Sänger für deutsches Musiktheater eine ganz andere kompositorische Breite als die vergleichsweise infrastrukturell armen, semiprofessionell bzw. monostilistisch ausgerichteten protestantischen Zentren. (Dies führt dann im Verlauf der rySoer Jahre zum oben erwähnten Siegeszug der süddeutschen Vertonungen im gesamten deutschen Sprachraum.) Auch dort, wo norddeutsche Vorlagen nicht so deutlich inhaltlich verändert werden wie bei Bretzners >IrrwischEntführung aus dem SerailIrrlicht< handelt es sich bei der >Entführung< um die Bearbeitung eines Bretzner-Texts durch Stephanie; z. T. sind die beiden zeitlich benachbarten Werke für dieselben Sänger entstanden. Gerade ein Blick auf die >Entführung< vom >Irrlicht< her kann das Lokaltypische ebenso wie das Spezifische an Mozarts Werk hervortreten lassen. 41
Zu den Grundregeln, die Stephanie 1792 für das deutsche Singspiel aufstellt, zählt die Maxime: »Ferner muß dem Kompositor Gelegenheit gegeben werden, daß er in der Art der Musik abwechseln kann.« (Zit. n. Schusky (Hg.) 1980, S. 94; vgl. unten
410
2. >Die Entführung aus dem Serail < (1782) 1780 schrieb Christoph Friedrich Bretzner sein fünftes Libretto: >Belmont und Constanze, oder die Entführung aus dem Serail·,42 das von Johann Andre vertont und 1781 in Döbbelins Theater in Berlin uraufgeführt wurde.43 Mozart, der 1781 den Schritt in die künstlerische und persönliche Selbständigkeit (sowohl gegenüber dem Salzburger Hofdienst als auch gegenüber dem Vater) getan hatte und in Wien auf der Suche nach einem geeigneten Text für ein deutsches Singspiel war, erhielt am 30. Juli 1781 den Originaltext Bretzners von Stephanie,44 der von 1779 bis 1783 am neuen Nationalhoftheater für das deutsche Musiktheater zuständig war. Das deutsche Nationalsingspiel benötigte dringend neue Originalwerke; Vater und Sohn Mozart hatten über verschiedene diplomatische Wege versucht, einen Auftrag dafür zu erhalten, worauf im Frühjahr 1781 der »General-Spektakel-Direktor« Franz Xaver Wolf Graf Rosenberg-Orsini den Auftrag erteilt hatte, Mozart für das National-Singspiel »ein gutes Oper buch [ ] zu schreiben zu geben«.45 sowie Teil 111-4). Der stilistische Mischcharakter speziell der Wiener Musik wird hier zur poetologischen Maxime auch der Textproduktion. '· Belmont und Constanze,/ oder:/ Die Entführung aus dem/ Serail./ Eine Operette/ in drey Akten/ von/ C. F. Bretzner./ Componirt vom Herrn Kapellmeister Andre/ in Berlin./ Leipzig: Carl Friederich Schneider 1781. (Das Libretto ist, gemeinsam mit Stephanies Fassung, leicht zugänglich in zwei neueren Reprints: bei Groll/Müller (Hg.) 1993 und bei Ernest Warburton (Hg.): The Librettos of Mozarts Operas. Bd. 7. New York/London 1992, S. 109- 182 [Bretzner] bzw. Bd. 2. New York/London 1992, S. 125 — 193 [Stephanie]). Im folgenden werden die beiden Fassungen bei Zitaten abgekürzt als »Bretzner« bzw. »Stephanie« zitiert. 43 Faksimile der Partitur in GO 6. Bretzners Libretto wurde noch öfter vertont: von Christian Ludwig Dieter in Stuttgart 1784; von Anton Joseph Kuzzi in Petersburg 1796; J. H. Knecht vertonte in Biberach 1787 die Fassung Stephanies. Zudem bewirkte der große Erfolg von Mozarts Vertonung eine Fülle von Imitaten und Anlehnungen, von denen hier nur das >Singspiel ohne Titel· von Hiesberger/Schenk (Wien 1790), >Soliman der Zweyte< von Huber/Süßmayer (Wien 1799) und >Gülnäre, oder: Die persische Prinzessinn< von Lippert/Süßmayer (Wien 1800) erwähnt seien; vgl. Teil IV. (Die Angaben von Ulrich Müller in Croll/Müller (Hg.) 1993, S. n, sind unvollständig.) 44 Vgl. Mozarts Brief vom 1.8.1781 (MBA 3, S. 1430. 45 Mozarts Brief vom 9.6.1781 (MBA 3, S. I25ff.). Nach diesem Brief und dem vom 16.6.1781 (ebd. S. I3off.) ging der Auftrag Orsinis an Friedrich Ludwig Schröder. Dieser hatte laut dem letzteren Brief ein ungenanntes vieraktiges Libretto ausgesucht und an Stephanie als dem »inspicient über die Opera« weitergegeben, der jedoch reserviert reagiert habe. Welcher Text damit gemeint ist, ist unklar, da vieraktige deutsche Libretti in dieser Zeit sehr selten sind (vgl. Verzeichnis in Teil IV) — es könnte sich um Großmanns vieraktige >Adelheit von Veltheim Belmont < -Text gehandelt haben (UA Berlin 25.5.1781). Ein vieraktiger Textdruck ist mir allerdings nicht bekannt. Im Brief vom 1.8.1781 wird dagegen Stephanie direkt als Adressat des Auftrags bezeichnet und erstmals konkret Bretzners Text benannt. 411
Mozart, der lange nach einem Operntext gesucht hatte, war von Bretzners Text so angetan, daß er eineinhalb Tage später bereits zwei Arien und ein Terzett vertont hatte.46 Die rasche und positive Reaktion erklärt sich aus der spezifischen Dramaturgie dieses Bretzner-Textes, die nicht mehr völlig der traditionellen Schauspiel-Dramaturgie der norddeutschen Libretti folgt, der auch noch Bretzners ältere Libretti (wie der >IrnvischIrrwischBelmonteEntführung< ist daher nicht als reiner Exotismus zu betrachten, sondern steht im konkreten politischen und mentalitäcsgeschichtlichen Umfeld der josephinischen Türkenpolitik. Vgl. dazu Till 1992, S. iO2ff.
412
Ausarbeitung des Werks zur Verfügung stand, erfuhr Bretzners Text in der engen Zusammenarbeit Mozarts und Stephanies starke Umformungen, die dank der Briefe Mozarts an seinen Vater Leopold in Salzburg gut dokumentiert sind. Zu diesem Zeitpunkt hatte Mozart offenbar den originalen ersten Akt Bretzners bereits vollständig komponiert; dennoch ließ er Stephanie sofort auch in diesem Akt Erweiterungen vornehmen. In den Briefen stellt sich Mozart dabei als treibende Kraft der Veränderungen dar. Am 26.9.1781 etwa schreibt Mozart an den Vater, der dem Text (und auch Stephanie) offenbar kritisch gegenüberstand: »[ ] aber er arrangirt mir halt doch das buch — und zwar so wie ich es will — auf ein haar — und mehr verlange ich bey gott nicht von ihm!« 5 ' Am Ende der Wiener Überarbeitung stimmen schließlich von den 21 Gesangstexten der Wiener >Entführung< 5 2 lediglich noch zehn mit Bretzners Text überein. Die Tendenzen der Bearbeitung entsprechen den zum >Irrlicht< ausgeführten. Vor allem die Szenen- und Aktschlüsse werden musikalisiert: Aus den ursprünglich neun Arien Bretzners werden 14, davon vier Abgangsarien (während sich bei Bretzner keine einzige findet), die Schlüsse des II. und III. Akts werden erheblich musikalisch ausgebaut. Hinzu kommen strategische Funktionen der Umarbeitung, die dem Werk eine optimale Wirkung ermöglichen sollten. 53 Die Wiener Änderungen wurden bereits mehrfach dargestellt — als erstes von Bretzner selbst, der sich in einer »Nachricht« in der Berliner »Litteratur51
52
51
MBA 3, S. 162. Zur Kompositionsgeschichce vgl. die übersichtliche Darstellung bei Bauman 1987, S. 17. Die/ Entführung aus dem Serail./ Ein Singspiel/ in drey Aufzügen,/ nach Bretznern/ frey bearbeitet, und für das k.k. Nationalhoftheater ein=/ gerichtet./ In Musik gesetzt/ vom/ Herrn Mozart./ Aufgeführt im k.k. Nationalhoftheater./ Wien: Logenmeister 1782 (danach zitiert; Reprintdrucke vgl. Anm. 42). Die Partitur wird im folgenden nach NMA zitiert. Wie üblich, legten Stephanie (Leiter des Nationalsingspiels) und Mozart schon vor Beginn der Arbeit eine Sängerbesetzung fest, die zum besten gehörte, was das Wiener Ensemble zu bieten vermochte. Für diese Sänger aber gab Bretzners Libretto z.T. zu wenig her. So hängt z. B. die Erweiterung der Osmin-Figur durch Stephanie auch mit der Sängerbesetzung durch den hervorragenden, ungewöhnlich tiefen timbrierten Bassisten Johann Ludwig Fischer, einen Liebling des Wiener Publikums, zusammen. Hier spiegeln sich Strategien der Wirkungsabsicht. Die Briefe Mozarts zeigen immer wieder, daß er nicht in einem luftleeren künstlerischen Raum, sondern strategisch gezielt am publikumswirksamen Erfolg des Werkes arbeitete (vgl. z. B. Brief vom 29.8.1781, MBA 3, S. loiff). Auch die stilistische Vielfalt des Werks, die von den großen Bravour-Arien (für »Kenner«) über liedhafte und strophische Formen bis hin zu unmittelbar auf Popularität angelegten Teilen wie dem »Saufduett« Nr. 14 oder der türkischen Musik mit ihren bewußten Primitivismen reicht, zeigt sich in den Briefen als Teil gezielter Wirkungsstrategien - dem heterogenen Wiener Publikum versucht Mozart durch eine stilistische Vielfalt zu entsprechen. (So heißt es im Brief vom 29.8.1781 über die geplante Uraufführung der >EntführungEntführung< in NMA, S. XVII f. Groll erfaßt jedoch nicht alle Veränderungen (so sind die bei Bretzner vorgesehenen Gesangstexte, die Stephanie/Mozart strichen, nicht aufgeführt) und analysiert die Veränderungen kaum. Sehr übersichtliche Synopsis bei Bauman 1987, S. i^f. und S. 30ff.
414
veränderte Musikdramaturgie hängt mit einer anderen Auffassung vom Menschen und seiner Emotionalität zusammen und läßt diese erst musikalisch Gestalt finden. Diesem Zusammenhang soll im folgenden nachgegangen werden.
3. Mozarts musikalische Dramaturgie 3.1. Der Beginn des Stücks Bei Bretzner beginnt das Werk mit einem expositioneilen Prosa-Monolog Belmontes. Auf diesen folgt in der 2. Szene als erste Musiknummer ein Strophenlied des Osmin, das Belmonte durch Zwischenfragen zu unterbrechen versucht. Bretzner motiviert dieses Lied als Arbeitslied;58 der anschließende Dialog mit Belmonte, in dem die gegensätzlich gerichteten Kräfte deutlich werden, ist dagegen als reiner Prosa-Sprechdialog konzipiert: Belmonte will in den Palast eindringen, Osmin genau dies verhindern. Konflikt und Handlung finden im gesprochenen Dialog statt, die Musik bildet situativ motivierte Einlagen: Damit folgt Bretzners Beginn der typischen Dramaturgie des mitteldeutschen Singspiels. Stephanie und Mozart bilden diesen Anfang tiefgreifend um, obwohl sie auf der reinen Textoberfläche scheinbar wenig ändern. Ihre Dramaturgie ist jedoch eine völlig andere. Aus Belmontes gesprochenem Monolog wird eine eröffnende Arie, der gesamte Dialog der zweiten Szene ein großes Duett. Nahezu der gesamte Beginn ist nun in Musik gesetzt, und in der Musik vollziehen sich nun die Konflikte zwischen den Figuren, nicht außerhalb von ihr. Die Musik ist nicht dekorative Einlage, sondern bildet den eigentlichen Raum dramatischer Handlung. Dabei ist für Mozarts Dramaturgie entscheidend, daß die Musik nicht einfach die Szene illustriert oder nachbildet, sondern daß häufig umgekehrt die Musik zu einem tendenziell eigenständigen Bereich ausdifferenziert wird, der der Szene vorausgehen kann, ihr die Impulse gibt, sie vorbereitet oder sie kommentiert. Bei Bretzner zeigt der Dialog von Belmonte und Osmin ein statisches Bild. Osmin will nach dem Lied ins Haus zurück und versucht, den lästigen Fragesteller möglichst lakonisch abzufertigen; erst als das nicht gelingt, wird er grob. Belmonte stellt durch mehrfaches Bei-Seite-Sprechen engen Kontakt zum Publikum her: Er ist die ungebrochen positive Figur, Osmin dagegen der 58
Diese Art dramaturgischer Motivation ist typisch für die mittel- und norddeutsche Librettistik (s.o. II.i). Das Lied hat darüber hinaus jedoch noch eine andere, wesentliche Funktion: Es bildet eine Art Vorverweis auf die kommende Handlung des Stücks selbst. Dadurch kommt es zu einem eigenartigen Mißverhältnis zur Situation: Ausgerechnet der türkische Aufseher und Haremswächter besingt die Monogamie und kritisiert die fehlende Treue der Frauen. 415
»alte griesgrämige Schurke«. Bei Mozart dagegen werden in der Musik aus diesen statisch angelegten Figuren vielschichtigere Charaktere: Belmonte erscheint als heftig und herrisch, Osmin als reizbar, zugleich instinktiv sensibel für die Bedrohung durch den Fremden.59 Aus dem einfachen szenischen Ablauf bei Bretzner wird in Mozarts Musik ein komplexes Wechselspiel von Aktionen, bei dem die aktiven Kräfte und Gegenkräfte auf schnellem Raum wechseln. Die Musik verleiht den Figuren eine Tiefenschärfe, die weit über die textlich/ szenische Ebene hinausgeht. Bei Mozart ist schon Osmins Lied nicht einfach als unverändert wiederholtes Strophenlied gehalten (wie etwa in Andres Vertonung00), sondern steigert sich zunehmend durch die Instrumentierung und das eingeschobene Allegro in der dritten Strophe. Das scheinbar so schlichte Lied wird dadurch immer unruhiger; diese Musik zeigt, daß Osmin innerlich durchaus auf die Störung durch Belmonte reagiert, auch wenn er sich szenisch völlig unbeeindruckt zeigt. Am Ende der dritten Strophe greift nun Belmonte ein. Bemerkenswert ist die gestaltete Differenz von Sprechen und Singen: Solange Belmonte nur spricht, ignoriert ihn Osmin äußerlich; doch als Belmonte zu singen anfängt und in Osmins Lied eindringt, entwickelt sich das Duett zum musikalischen Konfliktraum. Während Osmin bei Bretzner auf Belmontes (gesprochene) Bemerkung »Verwünscht seyst du und dein Lied!« gar nicht reagiert, kommt es bei Mozart (durch den gesungenen Satz) sofort zum direkten Konflikt. Die Musik zeigt, daß Belmonte Osmin provoziert: Belmonte fällt in den Schlußakkord des Liedes ein;6' er greift zunächst (T. 53/54) noch das Metrum (%) und den melodischen Gestus von Osmins Lied auf, beschleunigt es aber (Allegro). (Die Musik bildet ein strukturelles Äquivalent zur Raumbewegung: Wie Belmonte in den Palast eindringen will, so dringt er auch in Osmins Lied ein.) Bereits nach zwei Takten jedoch verändert sich das Metrum auf 4/4, d. h. auf einen rascheren Grundimpuls; aus dem g-Moll des Liedes wechselt Belmonte in benachbarte Dur-Tonarten (Es, B, F), und die melodische Geste wird anders: nach der repetierten Ordnung des Strophenliedes nun freier, unvorhersehbarer. Mozarts Musik verrät dem Hörer über den aktuellen szenischen Bezug hinaus bereits mit diesem Einsatz viel über Belmonte, sie macht aus dem konventionellen LiebhaberRollentypus einen subjektiven Charakter; sie zeigt »das aufbrausende Verhalten eines Menschen, der Mißachtung oder Widerspruch nicht gewohnt ist und sich in der Heftigkeit seiner Reaktionen im Ton vergreift«.02 Das aber gelingt Mo59 60
61
62
Vgl. dazu Willaschek 1996, S. 85. Vgl. GO 6, S. iif. In den ersten beiden Strophen klingt der Schlußakkord vier Achtel lang, Belmonte dagegen greift im schnelleren Allegrotempo bereits vor dem dritten Achtel ein. Der Schlußakkord hat daher keine Zeit, wie in den vorausgehenden Strophen auszuklingen. Willaschek 1996, S. 78.
416
zart, weil er der Szene eine autonome Ebene der Musik entgegenzustellen vermag, von der aus die Szene nun beleuchtet und vertieft werden kann. Damit ist eine Ebene musikalischer Gestaltungsfähigkeit wiedergewonnen, die die großen Komponisten der barocken Oper (auf anderer Grundlage) erreicht hatten, die aber nach dem Stilwandel im deutschsprachigen Musiktheater nach 1750 vom Ansatz und von der kompositorischen Struktur her kaum erreichbar war.63 Im weiteren Verlauf der Szene verkehren sich die Kräfteverhältnisse wiederholt; zu Beginn attackiert Belmonte, gibt den Musikstil vor und bedrängt Osmin. Belmonte setzt seine eigene Musik, von heftigen ^-Akzenten unterstrichen, gegen Osmin, was diesen dann sofort zum Protest bewegt (»Was Henker laßt Ihr Euch gelüsten/ Euch zu ereifern, Euch zu brüsten«). Anders als bei Bretzner reagiert Osmin nicht defensiv, sondern läßt sich provozieren und in einen Disput verwickeln. Belmontes Fragen kommen zunächst betont unscheinbar daher, mit monoton rezitierender Gebärde (T. 68ff., T. Soff.) und von einem schlichten pzano-Motiv der Streicher vorbereitet. (Mozart schiebt bewußt erst zwei instrumentale Takte vor die Frage, als müsse Belmonte sich erst den richtigen, scheinbar harmlosen Ton zurechtlegen. Bei der Wiederholung T. Soff, ist der Zwischenraum folgerichtig verkürzt, das Streicher-Motiv fällt mit der Frage zusammen; jetzt benötigt Belmonte keine Vorbereitung mehr. Mozart schreibt keine gedankenlos-formalen Symmetrien, sondern dramatische Musik.) Diese Takte signalisieren: Belmonte muß sich darauf konzentrieren, sich harmlos zu stellen. Die Musik geht jedoch nicht in der Figurenperspektive auf: Die durchlaufenden Repetitionen der ersten Geigen zeigen unbestechlich seine innere Spannung und die erregte Atmosphäre des Duetts an. In T. 90 kommt es nun zu einer unerwarteten Störung der musikalischen Struktur: ein Rezitativ unterbricht das Duett. Mozart bricht auf einmal die Kontinuität des Gesangs auf und markiert damit musikalisch die Brüche und Konflikte, die in dem Vorgeplänkel auf der Bühne noch gar nicht richtig ausgesprochen sind.04 Der Rezitativeinschub, in dem sich Belmonte nach Pedrillo erkundigt, markiert einen Wendepunkt: Belmontes Frage muß ihn für Osmin zwangsläufig verdächtig machen. Nach dem Rezitativeinschub verändert sich die musikalische Struktur daher erneut: Osmin übernimmt jetzt die Führung, sein ausbrechender Zorn wird durch die Unisono-Führung mit dem Orchester deutlich (T. 94ff.), anschließend kommt es zum ersten echten Duettieren der beiden Singstimmen (T. ic>3ff.). Belmonte wird immer mehr in die Defensive gedrängt. Besonders deutlich wird dies, als Belmonte noch einmal versucht, das harmlose Fragemotiv von T. 68 aufzugreifen (T. i5off.), nun nicht mehr monoton, sondern mit einem Anflug von Melodik; doch jetzt hat ihn Osmin durchschaut 63
64
In der Opera buffa findet sich diese Autonomie der musikalischen Konstruktion dagegen schon früh vorgeprägt, etwa bei Pergolesi; vgl. Osthoff 1968. Vgl. Willaschek 1996, S. 79.
417
und nimmt ihm seinerseits Wort und musikalisches Motiv »spöttisch« (T. 153) ab.05 Während zu Beginn des Duetts Belmonte die treibenden Impulse gab, wird ab hier Osmin zur aktiven, bestimmenden Figur; spätestens diese Takte zeigen, daß Belmonte die Auseinandersetzung bereits verloren hat, auch wenn sich dies szenisch erst später manifestiert. Nach längerem Wortgefecht steigert sich die Musik dann in ein D-Dur-Presto (%, ganztaktig skandiert), in dem sich Osmins Wut entlädt. Das Duett schließt gegen alle Konvention nicht in der Tonart, in der es begann (B-Dur), sondern führt zu einem anderen, unerwarteten Ergebnis. Belmontes Eindringen in das Serail ist gescheitert. Erst später im Terzett Nr. 7, das den ersten Akt beendet, gelingt es Belmonte, zusammen mit Pedrillo in den Palast einzudringen. Dadurch, daß Mozart im Terzett musikalisch eng an den Stil des Duetts anknüpft, verleiht er dem ersten Akt über die reine Handlungsebene hinaus ansatzweise eine musikalische Bogenform.66 Zugleich charakterisiert Mozart in dem Duett auch Osmin mit seiner exzessiven Wut auf die europäischen Eindringlinge, die in ihrer Intensität auf Verletzungen Osmins verweist — eine Charakteristik, die sich bei Bretzner kaum ahnen läßt, wo Osmin in seiner Grobheit lediglich eine holzschnittartige Randfigur ist. In den späteren Osmin-Partien der >EntführungIrrwischIrrlicht Hamburg i sehen Dramaturgie·!.) Blonde: »Nun, mein Fräulein? Sagt' ich nicht immer: Hofnung läßt nicht zu Schanden werden?« (S. 72); vgl. a. Bretzners Rondeau S. 29f. Den Zeitgenossen schien dies allerdings nicht konsequent genug motiviert zu sein. Am Ende der oben 8.412 zitierten Berliner Rezension wird dies als Schwäche des Autors bemängelt: »Wie der Bassa, Vater des Belmonte, von Spanien nach der Türkei gekommen, und Bassa geworden ist, darüber läßt uns der Verfasser gänzlich in Dunkelheit; und dies war' also ein Vorwurf, den wir ihm mit Recht machen können.« (Zit. n. Roesler 1924, S. 128).
425
starrten Topos der Opera seria benutzt, einen Moment des Irrationalen ins Spiel, demgegenüber gerade die maßlose Wut des Osmin fast wie eine rationale Reaktion wirkt. Der exotische Souverän bringt den kaum mehr möglich scheinenden Gnadenakt zu Wege, mit dem er zugleich seinen exotischen Figurenstatus überwindet und die Omnipotenz des dmenza-Modells bestätigt: Der Exot Selim beschämt seinen verhaßten Gegner, den christlichen Aristokraten Lostados, indem er mustergültig höfische demenza an die Stelle der Rache setzt. Der Renegat erweist sich im typischen Gnadenakt des absolutistischen Herrschers als den Europäern überlegen. Das Verzeihen aber setzt in der Dramatik der Zeit stets die öffentliche Selbstdemütigung der Normverletzer voraus: Dies wird von Stephanie geradezu als »hochgradig emotionalisiertes soziales Ritual« 88 gestaltet. Gerade der stolze Belmonte muß daher betonen: »Noch nie erniedrigte ich mich zu bitten, noch nie hat dies Knie sich vor einem Menschen gebeugt: aber sieh, hier lieg ich zu deinen Füssen; und flehe dein Mitleid an.«09 Diese Selbstdemütigung ist die Fortsetzung christlich-demütigen Sünderbewußtseins und als solche die Voraussetzung für den clemenza-Akt.90 Hier zeigt sich eine skeptische Anthropologie, die nicht den Optimismus der protestantischen Aufklärung teilt: Entsprechend streicht Stephanie die Moral Bretzners, nach der man »stets hoffen« müsse, und ersetzt sie durch das Lob der Großmut und »Menschlichkeit« des Herrschers (III 9).91 Die Möglichkeit der Gnade ist abhängig von der Einsicht in die Fehlerhaftigkeit des Menschen, nicht von seiner Perfektionierbarkeit (s.o.).
88
89 90 91
Titzmann 1990, S. 150, zum analogen Verzeihensthema in Leasings >Miß Sara SampsonIrrlicht< Ausgeführten in Einklang steht, zeigt sich in der Gestaltung des veränderten Schlusses zusätzlich die spezifische Musikdramaturgie Mozarts. In Bretzners Original war wenig Musik für die Lösung des Stücks vorgesehen: Die Anagnorisis-Lösung auf der Handlungsebene spielte sich fast ausschließlich im Bereich des Schauspiels ab. Bretzner sah lediglich eine kurze Freuden-Arie der Konstanze92 und einen Schlußchor vor, der allgemein die Verkehrung von »Jammer« in »Wonne« preist. Bei Mozart und Stephanie wird dagegen erneut die Tendenz sichtbar, möglichst viel in den Raum der Musik zu rücken.93 Die Dialoge sind knapp auf das Notwendige beschränkt; dafür wird der Abgang Osmins neu motiviert und in die Musik integriert. Bei Bretzner bot Pedrillo nach der Freisprechung Osmin seine Freundschaft an, was dieser ausschlug: »Freund mit dir? — Ah! mit dem Teufel lieber Freundschaft, als mit dir Verräther. (Geht drohend ab.)«94 In der antithetisch-simplen Figurenkonzeption Bretzners blieb Osmin bis zum Schluß die schlichte Verkörperung des Bösen. Anders bei Mozart. Hier wird Osmin von den Christen keine Freundschaft angeboten, sondern er wird von Blonde gezielt provoziert. In der vierten Strophe des neu hinzugefügten Vaudevilles Nr. 2ia weicht sie plötzlich vom Text des Refrains ab, den vorher alle Soli (auch Osmin) gemeinsam sangen und vom Chor bestätigt bekamen. Statt »Wer soviel Huld vergessen kann,/ Den seh" man mit Verachtung an« singt Blonde: »(auf Osmin zeigend) Denn seh' er nur das Thier dort an,/ Ob man so was ertragen kann.« 95 Auf diese Provokation reagiert Osmin sofort, und es kommt zur Störung der Vaudeville-Struktur (T. 04ff.): Osmin fällt Blonde ins Wort, das Tempo steigert sich, und die Melodie des Rundgesangs wird von Osmins steigernder Wut verzerrt, bis er schnaubend auf einem a hängen bleibt (T. 7iff.) - ein Verfahren, das mit musikimmanenten Mitteln drastisch den Text umsetzt: »Mir starrt die Zunge fast im Munde []«. Das Übermaß an Zorn zerschlägt die Melodie des Vaudevilles. F-Dur, die bisher unerschütterliche Grundtonart des Vaudevilles, Tonart der »Gefälligkeit und Ruhe«, 96 verliert ihre Tonika-Funktion; durch die hinzugefügte Sept, enharmonisch umgedeutet als dis', führt die harmonische Bewegung abrupt über E-Dur in ein (altbekanntes) a-Moll. In diesem Allegro assai (T. 74ff.) wiederholt Mozart, etwas verkürzt, den Schluß von Osmins Arie Nr. 3 aus dem I. Akt (s.u.); Osmins Wut verklammert so Anfang und Ende des Werks und wird über ein 92
9i
94 95 96
Diese Arie ist in der Wiener Fassung gestrichen; dafür erhält Konstanze dort die »Martern«-Arie Nr. 11. Auch darin ergibt sich eine Parallele zur Wiener >IrrlichtEntführung< keine Lösung, die aus der Musik allein hervorgeht;100 sie kann es nicht, da der Bassa als Sprechpartie nicht in den Raum der Musik integriert werden kann, anders als später der Conte Almaviva oder Don Giovanni. 10 ' (Daher hat dieser Werkschluß sowohl innerhalb des Stücks weniger Gewicht als das Quartett Nr. i6 102 als auch im Vergleich zu den großen Finali der späteren Werke.) Dennoch zeigt der Einbezug der Osmin-Handlung in die Musik, wie Mozart darauf abzielt, die Lösung des Stücks auch auf musikalischer Ebene zu motivieren. Mozart rückt die Musik Osmins in Parallele zu dem abschließenden Janitscharenchor; beide Teile sind stilistisch als »türkische« Musik gehalten (z.B. durch Instrumentation, Melodieführung, elementarste Harmonik und skandierende Betonung auf der ersten Zählzeit der Takte).103 Dem französisch geprägten Stil des Vaudevilles steht somit im Finale die Janitscharen-Musik in zweierlei Gestalt gegenüber: Osmins Wutausbruch und der apotheotische Janitscharenchor führen noch einmal die Spannbreite der türkischen Sphäre vor und zeigen, daß Osmin und der Bassa antithetische Figurationen darstellen (s.u.). Beide sind ausgeschlossen vom Jubel des Schlusses. Der Ausschluß des Bassa vom Gesang104 hat noch eine weitere, entscheidende Implikation, die nun die Differenz des Singspiels zur höfischen Seria 100
101
102
103
104
Das zusätzliche dramaturgische Problem dieses Vaudevilles liegt darin, daß die strophische, repetierende Form hier sehr unterschiedliche Emotionen der Singenden ausdrücken muß. Mozart löst dies Problem teilweise dadurch, daß die Begleitung der wiederholten Melodie von Strophe zu Strophe verändert wird. Das Orchester wird zum eigentlichen Indikator der Emotionen, während die Figuren sich trotz unterschiedlicher Gefühle melodisch wenig von einander abheben können. Wie Mozart und Da Ponte das clemenza-Schema in >Le nozze di Figaro< neu wenden, hat Nagel 1988, S. 36ff., gezeigt: als Versöhnung zwischen Gleichen statt als Gnadenakt vom Herrn zum Untertan. Auffällig ist insbesondere der Schluß, der die Tradition geradezu umkehrt: Der Souverän Alamaviva muß kniend um Gnade bitten. (Um so markanter ist dann das Fehlen der f/#w«zziZ-Thematik im >Don GiovanniEntführung< weniger modisch-koloristische als dramaturgische Funktion erhält. Zur Stilistik »türkischer« Kunstmusik zwischen Mozart und Spohr vgl. a. Schmitt 1988, bes. S. 301-374. Sprechpartien im deutschen Musiktheater sind speziell im Wiener National-Singspiel relativ häufig. In >Die Kinder der Natur< von J. Kurz und F. Aspelmayer (1778) 429
bestimmen läßt. Daß der Bassa nicht zu den singenden Figuren gehört und am Schluß von ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen wird, zeigt, daß die zentrale Perspektive des Singspiels nicht mehr (wie in der Opera seria) bei den Fürsten und Heroen liegt, sondern bei >mittleren< Figuren. Der Bassa wird so zu einer das Tragische streifenden Figur, dessen clemenza zugleich in die (später z.B. für Goethes Herrscherfiguren so zentrale) Kategorie der Entsagung hinüberspielt. Bei aller Weiterführung höfischer Ideologeme spiegelt sich darin ein entscheidender Wandel. Diesem entspricht auf der anderen Seite die Aufwertung des niederen Paares Pedrillo/Blonde von rein komischer Funktion oder Dienertätigkeit zu potentiell dem hohen Paar gleichwertigen Figuren (was besonders in den Ensembles deutlich wird). 105 Auch auf der Achse der Generationen zeigen sich deutliche Differenzen zur Tradition der höfischen Oper: In der >Entführung< stehen (außer Osmin) nur jugendliche Figuren im Zentrum. Bei Bretzner ist dies in der familiären Schlußlösung, in der Versöhnung der Generationen, abgemildert; bei Stephanie und Mozart wird dagegen die Vätergeneration vom Schluß ausgeschlossen, die Kindergeneration bleibt unter sich. All dies markiert entscheidende Differenzen zum traditionellen höfischen Musiktheater. Stephanie paßt Bretzners Text in den großen Zügen an die höfische Situation in Wien an; die Risse im Gefüge der absolutistischen Kunst werden in den subkutanen Verschiebungen gleichwohl deutlich.
105
finden sich z.B. gleich drei Sprechpartien (von sechs Rollen). Dennoch sollte man m.E. die Sprechpartie des Bassa Selim nicht, wie häufig in der Mozart-Literatur, auf lokale Traditionen oder angeblich fehlende Sänger-Darsteller in Wien zurückführen; schließlich legte bereits Bretzner die Partie als Sprechrolle an. Die Pedrillo-Figur geht insgesamt weit über eine bloß funktionale Diener-Figur hinaus. Musikalisch markiert Mozart das z.B. durch die Trompeten und Pauken, die Pedrillos Arie Nr. 13 prägen: Der Diener erhält das typische Instrument der Herrscher und der Macht. (Noch in >Zaide< (1779/80) setzte Mozart die Trompeten und Pauken ganz anders, nämlich als traditionelle Indikatoren des gesellschaftlichen Standes, ein; vgl. Knepler 1991, S. 282.) Auch Blonde ist mehr als eine konventionelle BuffaServa. Durch die Aufwertung des Dienerpaars kann Mozart ein nahezu geometrisches« Potential zwischen den beiden Paaren aufbauen (z. B. durch Einfügen der Szenen II 3 — 5, durch die Spiegelung des Verhältnisses von Blonde-Osmin zu KonstanzeSelim etc.). Durch die jeweils komplementäre Anlage der Hauptfiguren läßt sich darüber hinaus noch eine Tendenz zur symmetrischen Konfiguration von drei Paaren erkennen (Osmin/Bassa — Pedrillo/Belmonte — Blonde/Konstanze). Die Figurenkonstellation des Stücks ist dadurch, weit über das bei Bretzner Angelegte, von einer Fülle von Symmetrie- und Spiegelachsen durchzogen, ähnlich wie später >Cosi fan tutteBelmont und Constanze< wegen der charakterlosen Figurenzeichnung und Fehlen von »Witz und Laune« gerügt hatte, kritisiert er die Wiener Umarbeitung des Schlusses. Gegenüber Bretzners Schluß gilt ihm die Wiener clemenza-Lösung als ein Bewegungsgrund, der freilich erhabner, aber auch — wie denn das mit solchen Erhabenheiten immer der Fall ist — ungleich unnatürlicher ist. [ ] Uiberhaupt sind diese ewigen Grosmuten ein ekles Ding, und fast auf keiner Büne mehr Mode, als auf der hiesigen. Und man kann beinahe sicher darauf rechnen, daß so ein Stük, in dem brav gegrosmutet, geschenkt, versönt und vergeben wird, schreiendes Glük macht, wenn es auch auf die unnatürlichste Art zu diesen Dingen kömmt. 106
Schink argumentiert aus einer aufklärerischen Perspektive: Natürlichkeit und moralischer Nutzen der Kunst stehen im Vordergrund, und eben das kann er in der >Entführung< nicht finden. Sie läßt sich für ihn nicht auf die Lebenspraxis beziehen; also kann sie nach seiner Logik auch nicht als »wahre Kunst« gelten: Darüber geht nun also auch die wahre Kunst zu Grunde. Ihr grosser Zweck, zu unterrichten, weiser und besser zu machen, der menschlichen Natur einen Spiegel vorzuhalten, und die Sitten jedes Zeitalters in ihrer wahren Gestalt zu zeigen, wird gänzlich dadurch aufgehoben. Statt Bild des Lebens, bekommen wir abendteuerliche Romane, deren ganzer Nuzzen darin besteht: daß wir falsche Grosse bewundern lernen, und, troz aller dieser abendteuerlich grosmütigen Beispiele, nicht ein Fünkchen Grosmut mehr bekommen, als wir haben, weil all diese Grosmuten zu unnatürlich sind, als daß wir sie nachamen könnten. 107
Die »Natürlichkeit«, um die es Schink geht, ist dabei nicht empiristisch zu verstehen, sondern ideologisch: Bretzners letztlich mindestens ebenso unwahrscheinliche Lösung108 ist für Schink »natürlicher« und lebensnäher als die Stephanies, nicht, weil sie empirisch wahrscheinlicher wäre, sondern weil sie in der Normalität der Familie endet. In Schinks gelegentlich an Lessing erinnernder Argumentation zeigen sich die Axiome des aktuellen Sprechschauspiels, die Schink als Maßstab auch an das Musiktheater angelegt (das Theater als »Bild 106
107
108
Schink 1782, Bd. 4, S. 1001-1025, hier S. 1002. Schink gehört wie zeitweise Wieland u. a. zu den Anhängern einer eigenen Orthographie. Ebd. S. 1003. Pointiert formuliert Nagel (1988, S. 20), es sei doch wesentlich wahrscheinlicher, »daß ein Herrscher seinen Feinden einmal verzeiht, als daß ein Renegat aus Spanien seinen verlorenen Sohn ausgerechnet im eigenen Harem wiederfindet.« 431
des Lebens« und Ort einer »natürlichen« Normalität), ohne zu reflektieren, inwieweit ausgerechnet das Musiktheater diesen Forderungen gerecht werden könne. (Zum poetologischen Hintergrund vgl. Teil III.) Als Antityp erscheint in Schinks Kritik der unnatürlichen »Grosmut« die höfische Opera seria. Während Schink damit implizit eine (auch kunstpolitische) Antithese von natürlichem, moralischem Singspiel und unnatürlicher, daher unmoralischer Oper aufbaut, stellen Stephanie und Mozart ja gerade nicht Singspiel versus Oper, sondern suchen eine Synthese. Für diese produktive Innovation zeigt sich Schink blind; der aufklärerische Ansatz blockiert die Erkenntnis für das eigentlich Neue an der >EntführungClaudine von Villa Bella< findet. (Mit dem Mandolinen-Gestus hängt offenbar auch das %-Metrum alia siciliana zusammen.) Wie Andre baut auch Mozart aus dem auf bemerkenswerte Weise mit ungeraden Strukturen arbeitenden Text Bretzners eine scheinbar glatte Periodik auf: Aus der fünfzeiligen Strophe mit unterschiedlich langen Versen wird eine dreiteilige, je vier Takte umfassende musikalische Gestalt. Der Schein der Einfachheit und Symmetrie, der durch die Sequenz T. loff. verstärkt wird, wird dabei jedoch auf höchst artifizielle Weise künstlich erzeugt:118 In dieser Romanze zeigen sich zahlreiche Merkwürdigkeiten und Abweichungen vom konventionellen Typus — Mozarts Stück erweist sich als geniale Verfremdung des Topos.1'9 Mozarts Romanze hat, sehr im Gegensatz zu den typischen Romanzen der mitteldeutschen Singspiele, kein harmonisches Zentrum, keine Haupttonart. Dies ist sowohl auf dem Hintergrund der Romanzen-Tradition als auch im Hinblick auf Mozarts sonstiges Verfahren äußerst bemerkenswert und irritierend, v. a. auch deshalb, weil das Stück eigentlich ständig mit vollständigen Dominate-Tonika-Kadenzen aufwartet und damit auf engem Raum ständig neue Tonarten befestigt und gleich wieder verläßt (h-Moll, D-Dur, A-Dur, C117
Vgl. Vorwort zu NMA, S. XXXI. "8 Mozart vertont die fünf Verse, ähnlich wie Andre, in drei viertaktigen Gruppen (ab — aa — b); bei Mozart ist jedoch die zweite Gruppe als Sequenz der ersten angelegt und folgt dem in der unterhaltenden Musik häufigen Prinzip der Tonartrückung. Die Schlußzeile wird, wie bei Andre, durch Wiederholung zu einer eigenen, gleich langen Viertaktgruppe gedehnt; sie setzt sich jetzt durch die melismatische Führung von der vorausgehenden, überwiegend syllabischen Melodik ab, greift aber auf einzelne musikalische Elemente zurück (wie die Dehnung T. 7, die in Umkehrung in T. 15 wiedererscheint, die Kadenzformel T. 8 in der Singstimme oder die punktierte Figur in den Violinen). 119 Zur musikalischen Analyse des Stücks vgl. bes. Kunze 1984, S. 2ijff., Knepler 1991, S. 239^ und S. 28if., Bauman 1987, S. 84ff. und Manfred Hermann Schmid: Die Romanze des Pedrillo aus Mozarts > Entführung aus dem Serail Claudine von Villa BellaIrrwischEntführung< einsetzt: Innerhalb größerer Musikstücke bleibt es als strukturelles Mittel außergewöhnlichen Situationen vorbehalten (s.o. zu Nr. 2 oder 16), als Arieneinleitung wird es nur zu wenigen, besonders bedeutenden Momenten genutzt. Mozart befreit das Rezitativ aus seiner konventionellen Funktion in der Seria zu einem außerordentlichen Träger von Bedeutung. So erhält der Prosasatz Belmontes »Konstanze! dich wieder zu sehen «, den Bretzner wie Stephanie als motivierenden Übergang zur Arie Nr. 4 vorgesehen hatten, in Mozarts Vertonung als Rezitativ erhebliche weitere Dimensionen. Die Anrufung Konstanzes wird aus der nüchternen Alltäglichkeit der Prosa-Dialoge herausgehoben und zu einem Moment, in dem das Zeitkontinuum der Bühnenhandlung fast magisch angehalten wird, um den Innenraum der Figur zu beleuchten. Dieses Rezitativ hat wenig gemein mit den üblichen Rezitativen italienischer Opern. Es beginnt nicht mit einem typischen Sextak-
126
Selbst die norddeutsche Form »jach« (2. Strophe) ist beibehalten und nicht etwa in das süddeutsche »gach« abgeändert.
438
kord, sondern mit einem ausgebreiteten A-Dur-Akkord der Streicher.127 Aus dieser Klangfläche entsteht durch Belmontes ersten Einsatz, die Anrufung Konstanzes, eine unerwartete, scharfe Dissonanz: Während Baßgruppe und Fagott das a festhalten, setzen Belmonte und die oberen Streicher gleichzeitig den Terzquartakkord der Dominante dagegen: gis' und a geraten in einen scharfen Gegensatz auf betonter Zählzeit, was sich im Echo der Oboe noch einmal wiederholt. Damit öffnet sich unerwartet (und für Rezitative untypisch) ein Klangraum, in dem sich zwei gegensätzlich gerichtete Kräfte reiben.128 Das Rezitativ bereitet die Arie auf eine ganz andere Weise vor als der nüchterne Prosasatz Bretzners/Stephanies. Belmontes Anrufung Konstanzes spiegelt durch die Wärme und den verhaltenen »sotto-voce«-Klang der Streicher einerseits, die gleichzeitige harmonische Dissonanz andererseits die Spannung aus Hoffnung und Furcht, die die Figur beherrscht. Die wenigen Takte machen Belmontes starke Emotionalität ebenso deutlich wie seine Unsicherheit. Das Rezitativ vertieft mit rein musikalischen Mitteln eine Charakterzeichung, die in dem schlichten Text kaum angelegt scheint; es nimmt fast schon die Arie vorweg, verdichtet ihren Gehalt in einem kurzen Moment von auratischer BühnenPräsenz. Durch die Oboe, die Belmontes »Konstanze«-Rufe echoartig nachzeichnet, kommen auf engem Raum noch weitere Faktoren von Ausdruck und Konstruktion ins Spiel. Es entsteht eine Art Dialog zwischen der Figur auf der Bühne und dem Blasinstrument - das Orchester wird zu einer Ausfaltung von Belmontes Innenwelt; es tritt gleichwertig, ja konkurrierend neben ihn. Zugleich nutzt Mozart die Klangfarbe des Instruments auch als konstruktives Element, das er in der korrespondierenden Arie Nr. 6, Konstanzes AuftrittsArie, demonstrativ am Beginn wieder aufnimmt und so Bezüge zwischen dem Paar auf rein musikalischer Ebene herstellt, die weit über die bloße Textebene hinausgehen. Dieser Typus von Rezitativ-Einleitung ist in der >Entführung< ausschließlich dem hohen Paar Belmonte-Konstanze vorbehalten, und auch diesem nur in besonderen Momenten. (Anders als etwa Holzbauer nutzt Mozart die neue Form des Accompagnato-Rezitativs nur selten, dann aber mit besonderer Wirkung.) In der Einleitung zum Duett Nr. 20 hatte bereits Stephanie (im Gegenlil
128
Auch wenn man gegenüber den Semantisierungen von Tonarten vorsichtig sein muß, sei hier doch auf Schubarts Charakterisierung von A-Dur verwiesen: »Dieser Ton enthält [] Hoffnung des Wiedersehens beim Scheiden der Geliebten.« (Schubart 1784,8.378). Aus dieser Reibung resultiert jedoch keine aktiv gerichtete Fortsetzung: Stattdessen rutschen die Streicher im folgenden Takt chromatisch ab in einen offen bleibenden A-Dur-Septakkord, in dem die Spannung in der milderen Dissonanz a-g' nachbebt. Die Anrufung Konstanzes wird wiederholt; aus dem einfachen Wort wird eine zweieinhalbtaktige Klangfläche, in der sich Konsonanz und (durch Belmonte ausgelöste) Dissonanz verschränken. 439
satz zu Bretzner und wohl auf Mozarts Wunsch) im Text ein Rezitativ vorgesehen. Allerdings geht aus dem Text129 nicht hervor, wo dann die Arie selbst beginnen sollte; zudem zeigt ein Blick in die Partitur, daß Mozart hier vom gedruckten Text Stephanies abwich, was in der >Entführung< sonst nur selten geschieht. Rezitativ und Duett Nr. 20 stehen an einer Stelle extremer innerer Spannung. Der Bassa verkündigt im Abgehen das Todesurteil über die Gefangenen; Konstanze und Belmonte sind noch einen Moment allein, um ihren Gefühlen Ausdruck zu geben. Belmonte beginnt sowohl Rezitativ wie Duett; er fühlt sich schuldig am Tod, der beiden bevorsteht. Im Verlauf der Musik aber vollzieht sich ein unerwarteter Umschwung: Belmonte wird durch Konstanzes unerschütterliche Standhaftigkeit wieder aufgerichtet, so daß es in diesem Duett zum ersten Mal im Werk zur musikalischen Vereinigung des hohen Paares kommt (T. 32ff., yoff.; Allegro-Teil).130 Nach all den »falschen« Duett-Paarungen des Werks'31 gelingt erst hier die »richtige« Paarung auch in der Musik. Im Angesicht des Todes findet sich das hohe Paar; das Duett steht am Ende eines Spannungsbogens, der mit Belmontes unruhiger Rezitativ-Einleitung zu seiner Arie Nr. 4 begann und über das Mißtrauen und die Unsicherheit des Quartetts Nr. 16 führt. Erst im Verlauf des Duetts Nr. 20, im vorletzten Stück des Werks, lösen sich die Unsicherheit und Spannung in Belmonte, die auch sein Verhältnis zu Konstanze belasteten. Die neugefundene Sicherheit über sich und den Partner ermöglicht den jubelnden Allegro-Schlußteil des Duetts; die zweiteilige, steigernde Anlage des Duetts entspricht der inneren Entwicklung der Figuren. Dies aber ist das Ergebnis zielgerichteter Konstruktion: eines großen Prozesses, der nahezu das gesamte Stück umfaßt, wie auch eines Mikroprozesses im Verlauf von Nr. 20 selbst. Bei Bretzner wird an der analogen Stelle (Duett S. 66f.) von Anfang an die Seligkeit des gemeinsamen Todes beschworen — die Figuren haben hier keine Geschichte und keine innere Entwicklung; sie kennen keine Irritationen, sondern geben zum Klischee geronnene Axiome wie den Opfertod für die Geliebte wieder. Zudem singen sie das Duett nicht allein, sondern in Anwesenheit des Bassa, eingebettet in die dramatische Situation. Bei Stephanie und Mozart dagegen wird die Bühne leergeräumt, die dramatische Situation für einen Moment suspendiert. In diesem Heraustreten aus der äußeren Handlung öffnet sich der Freiraum für eine extreme innere Handlung. Durch Mozarts Musik erhalten die Figuren innere Plastik; ihre Widersprüche werden deutlich, und die Sicherheit gegenüber dem Tod ergibt sich erst aus dieser inneren Geschichte der Figuren. 1
"·> Stephanie S. 61. Lediglich in einigen Passagen des Quartetts Nr. 16 singen Belmonte und Konstanze gemeinsam, aber dort stets in Gegenwart des anderen Paares. 131 Nr. 2 Belmonte-Osmin; Nr. 9 Blonde-Osmin; Nr. 14 Pedrillo-Osmin. 130
440
Zu Beginn des Rezitativs sieht alles noch ganz anders aus. Der zunächst auf F-Dur hindeutende Beginn wird auf der dritten Zählzeit unerwartet als d-Moll kenntlich und heftig, ja schmerzhaft betont. Alles an diesem Beginn signalisiert Unruhe und Zerissenheit: die Synkopen, Zeichen der Unruhe; die dynamischen Kontraste; die Baßchromatik in T. 2. Auch die scheinbar sich aufraffende Gebärde des dritten Taktes (B-Dur, »männliche« motivische Figur, Kanonik) führt nicht weiter, sondern nur in einen Terzquartakkord, auf dem dann Belmonte rezitativisch einsetzt. Auch die Strophe Belmontes kommt kaum vom Fleck — ihr Ende kehrt an die Situation des Beginns zurück und wendet sich wieder nach d-Moll. Dieses aber tritt nicht ein. Mit einer überraschenden Rückung nach B-Dur öffnet sich unerwartet eine andere Welt. Konstanzes zweite Strophe ist nun durchgängig von einer Streichergloriole umgeben. Die unruhige, verquälte Stimmung des Beginns löst sich. Der Trost, den ihre Worte aussprechen werden, wird noch vor ihren Worten musikalische Gestalt; eine Gestalt, die dann im Verlauf der Strophe ganz entfernt noch die Tradition der barocken Rhetorik spüren läßt, wenn etwa das Orchester beim Wort »Tod« in die tiefe Lage wechselt. Am Ende der Strophe fällt Belmonte Konstanze ins Wort mit einer Strophe, die im Libretto-Erstdruck fehlt. Sofern es sich hier nicht um ein (bei den billig und schnell produzierten »Bücheln« nicht seltenes) Versehen des Drukkers handelt, dann hätte Mozart hier bei der Arbeit am Rezitativ gemerkt, daß er noch eine dritte Strophe benötigte, um die aufgerissenen musikalischen Dimensionen des Rezitativs füllen zu können. Die merkwürdig unregelmäßige sprachliche Struktur der Strophe könnte ein (wenngleich schwaches) Indiz dafür sein, daß diese auf die Schnelle nachgefertigt wurde. 132 Schlösse das Rezitativ mit Konstanzes Strophe, dann fehlte ein Widerpart zu dem schwierigen Prozeß der Todesbejahung Belmontes. Denn Mozart zeigt in der Musik zu der hinzugefügten dritten Strophe, daß Belmonte noch immer nicht so weit ist wie Konstanze. Seine komplexe Innenwelt benötigt mehr Raum und Zeit. Schon der verfrühte Einsatz Belmontes zu dieser Strophe signalisiert erneut seine innere Spannung. Die stoische Standhaftigkeit Konstanzes mit ihrer fast philosophisch gelassenen Meditation über den Tod als »Übergang zur Ruh'« hat sich noch nicht auf Belmonte übertragen. Daher ist es konsequent, daß Mozart nun wieder auf das unruhige, synkopische Anfangsmotiv zurückgreift — mit einem wesentlichen Unterschied: Es tritt nun nicht mehr als rein instrumentales Motiv auf, sondern wird mit der Stimme verbunden. Das unruhigzerrissene Streichermotiv gerät in den Entwicklungsprozeß des Subjekts Bel132
Vgl. etwa die Doppelsenkung »Engelsseele! Welch holde Güte/ []« und die wechselnde Länge des Reimpaares (»Du flößest Trost in mein erschüttert Herz./ Du linderst mir den Todesschmerz/«). Allerdings geht der gesamte Text auffallend sorglos mit Metrum und Reim um. 441
monte. Es führt nun auch nicht mehr nach d-Moll, sondern nach Es-Dur, in den harmonischen Bereich von Konstanzes Strophe. Das breit ausgedehnte EsDur (T. 2off.), als Dominanttonart des folgenden B-Dur-Duetts notwendiges harmonisches Ziel des Rezitativs, zeigt dann, daß Belmonte jetzt den »Trost« für sein »erschüttert Herz« gefunden hat. Der Prozeß, der sich hier abspielt, wird im Duett noch einmal in großem Rahmen durchgestaltet. Beim Übergang zum Duett fällt Belmonte noch einmal zurück in die quälende Selbstanklage des Beginns, die dann auch den Anfang des Duetts prägt. Erneut spendet Konstanze durch ihre Stärke und unerschütterliche Gelassenheit133 Trost, wodurch es zur nun endgültig gewonnenen Übereinstimmung und Sicherheit des Paares kommt. Erst hier werden Belmonte und Konstanze zum Paar. Das Rezitativ nimmt somit den Prozeß der Arie komprimiert vorweg. Interessant ist, daß darin ein weiteres Element des barocken Theaters ins Spiel kommt. Unmittelbar vor der clemenza des Bassa in der anschließenden Szene steht hier die costanza Konstanzes, ihre stoische Sicherheit angesichts des Todes, die deutlich an die Tradition des Märtyrerdramas134 erinnert. Konstanze wirkt (mit ihrem sprechenden Namen) wie eine moderne, weltliche Märtyrerin, die nun nicht mehr für jenseitige Überzeugungen stirbt, sondern für ihre Liebe, die sie gegenüber allen Anfechtungen standhaft verteidigt. In ihrer Emotionalität, und nur in dieser, prägt sich ihre Individualität aus — sonst erfahren wir kaum etwas über diese Figur. Freigesetzt aus allen Ordnungen der europäischen Kultur und Gesellschaft erfährt Konstanze ihre Treue zu Belmonte, die Konstanz ihrer Liebe, als den Kern ihrer individuellen Existenz. (Auch deshalb wird für sie der Zweifel Belmontes in Nr. 16 zu einer existentiellen Katastrophe.) Konstanze erzwingt durch ihre Beständigkeit im Duett und ihre subjekthafte Autonomie gegenüber der Todesdrohung die positive Lösung der Handlung (wie später Pamina in der >Zauberflöte< oder Goethes Iphigenie).' 35 Mit costanza und clemenza kehren zwei zentrale Traditionen des barocken Theaters, die von der klassizistischen Oper seria weitergetragen wurden, verwandelt in den Raum des deutschen Singspiels ein. Gerade das populärste und erfolgreichste aller Singspiele seiner Zeit propagiert alles andere als »bürgerli-
'·'·* Hier zeigen sich deutliche Abweichungen von der empfindsamen Geschlechtertypologie etwa Bretzners: Tendenziell verkörpert Belmonte hier einen schwachen Mann, Konstanze eine starke Frau (wie auch partiell in Nr. 6). 134 Zur Tradition des Märtyrerdramas im 18. Jahrhundert (etwa bei Wieland, Cronegk und Lessing) vgl. Raimund Neuß: Tugend und Toleranz. Die Krise der Gattung Märtyrerdrama im 18. Jahrhundert. Bonn 1989. Im katholischen Bereich waren diese Traditionen noch wesentlich lebendiger als im protestantischen Norden; in meinem Verzeichnis (Teil IV) finden sich noch in den lySoer Jahren einige katholische Märtyrer-Singspiele. 135 Vgl. unten II.8 sowie Nagel 1988, S. 29. 442
ehe« Inhalte, sondern innoviert das deutsche Genre durch die transformierten Traditionen der höfischen Kunst, modernisiert sie durch eine neue, komplexe Musikdramaturgie, die die hochentwickelte Kompositionstechnik der italienischen Oper voraussetzt. Zugleich aber verändern sich damit auch die Inhalte der höfischen Traditionselemente. Die Romanze Nr. 18 zeigt ebenso wie die Rezitative Mozarts, wie neue Bedeutung ohne Veränderungen des Textes konstituiert werden kann. Dies geschieht durch eine neugewonnene Ebene musikalischer Autonomie: die Möglichkeit, das musikalische Theater aus der kompositorischen Satzkonstruktion selbst hervorgehen zu lassen. Sieht man dies zusammen mit der oben dargestellten Musikdramaturgie der neu hinzugefügten Arien und Ensembles, kann diese Aussage noch vertieft werden. Die Musik verdoppelt nicht den Text und bebildert nicht die Szene, sondern vermag ihr strukturell, im Bereich ihrer Eigenkonstruktion, etwas entgegenzusetzen. Die Musik wird zum eigentlichen Raum antagonistischer Bewegungen; der diskontinuierliche musikalische Satz, der gedankenlose Symmetrien oder rein schematische Formteile vermeidet und stattdessen in einem auch die Zeitgenossen immer wieder irritierenden Maß mit Kontrasten und Brüchen arbeitet, vermag in besonderem Maße, Unvorhersehbares, Überraschungen, stets sich wandelnde und neue Konstellationen wiederzugeben/ 36 Die musikalischen Gebilde werden durch diese Satztechnik in immer neuen Zusammenhängen gezeigt. Diese Fähigkeit zur dramatischen Verwendung der Musik resultiert gerade aus der Autonomie vom Text, während eine feste Bindung an den Text, wie die meisten zeitgenössischen Theoretiker sie fordern (vgl. Teil III), dies gerade verhindern würde. Knappe, flexible musikalische Gestalten treten bei Mozart an die Stelle einer musikalischen Topik, die die Darstellung der Affekte in der älteren Zentralaffekt-Arie bestimmte. Ganz anders gehen z. B. Holzbauer oder Schweitzer vor, die noch stark auf den älteren Formelreichtum zurückgreifen. Mozarts neue Satztechnik der Diskontinuität hängt dagegen, ähnlich wie bei Benda, eng mit einer neuen Anthropologie zusammen — die Figuren auf der Bühne sind nicht länger Träger präformierter und standardisierter Gefühle.
6. Dramaturgie und Anthropologie Bretzners Libretti, die Texte eines theaterbegeisterten Kaufmanns, wurzeln in der mitteldeutschen Singspieltradition.137 Ähnlich wie bei Weiße und Hiller herrscht auch bei Bretzner und Andre ein überwiegend statisches, typenhaftes 136
Dazu noch immer grundlegend die Arbeiten von Thrasybulos Georgiades (1977).
137
Trotz zahlreicher Bemühungen in der Forschung kann Breczners Text nicht auf spezielle Vorlage zurückgeführt werden. Während dies an sich nicht ungewöhnlich
443
Menschenbild, eine flache, eindimensionale Anthropologie. Mozart und Stephanie übernehmen das Grundgerüst der Handlung Bretzners; Mozart benutzt es jedoch lediglich als Ausgangspunkt für eine dynamische, prozeßhafte und vielschichtige Anthropologie. Aus der flachen Anthropologie der norddeutschen Aufklärung wird eine komplexe, skeptische. Ihr zuliebe werden die Höhepunkte der äußeren Handlung Bretzners (etwa das Entführungs-Ensemble) reduziert, neugestaltete Knotenpunkte der inneren Geschichte der Figuren jedoch zu Schwerpunkten des Stücks (vgl. Quartett Nr. 16). 6.1. Die Elimination von Bretzners Rondeau-Duett Deutlich wird dies darüber hinaus z.B. auch daran, daß Mozart und Stephanie denjenigen Text Bretzners streichen, der am stärksten von der Anthropologie (und Musikästhetik) der mitteldeutschen Empfindsamkeit durchdrungen ist: das »Rondeau«-Duett Konstanze-Blonde, das Bretzner in Szene II 2, nach Konstanzes »Traurigkeit«-Arie, vorgesehen hatte.138 In diesem Duett propagieren Blonde und Konstanze die Maxime, die Bretzner auch als »Moral« des gesamten Werks am Schluß propagiert: »Hofnung, Trösterin im Leiden!/ Du versüßest allen Schmerz;/ Lächelst uns nach langem Scheiden/ Freuden ins gebeugte Herz.« 139 Diese Strophe bildet den Refrain des auch sprachlich in RondeauForm strukturierten Texts. Das Duett relativiert so die vorausgehende Arie Konstanzes, in der sie ihre »Traurigkeit« besingt, durch ein abstraktes Prinzip Hoffnung. »Nicht wahr, es ist Ihnen nicht mehr so eng ums Herz?« fragt Blonde daher unmittelbar im Anschluß an das Duett. Tiefgehende Emotionen wie Konstanzes Trauer gelten im Rahmen dieser Anthropologie als gefährlich und müssen möglichst neutralisiert und ausgeglichen werden. Das Prinzip Hoffnung ermöglicht es, negative Emotionen zu egalisieren und somit stets im
138
139
wäre, ist eigentümlich, daß Großmanns >Adelheit von Veltheim< extrem enge Parallelen zu Bretzners Text aufweist (bis hin zu so disfunktionalen Elementen wie Blondes [bzw. Miss Flours] Nationalität als »freigeborene Engländerin«). Bretzner versicherte aus Angst vor Plagiatsvorwürfen öffentlich, daß sein noch vor der Uraufführung von >Adelheit< verfaßter Text unabhängig von diesem entstanden sei (vgl. Berliner Litteratur- und Theater-Zeitung 3 (1780), S. 672). Dann aber stellt sich die Frage nach einem gemeinsamen Bezugstext für beide Werke noch schärfer. Zu stofflichen Vorlagen und Quellen vgl. noch immer grundlegend Preibisch 1908; daneben Betzwieser 1992; Bauman 1987, S. 27ff.; Kunze 1984, S. ii7f.; Rudolph Angermüller: »Les Epoux esclaves ou Bastien et Bastienne ä Alger«. Zur Stoffgeschichte der >Entführung aus dem SerailAlcesteEntführung< mit einem Signal. Diese Ariette läßt 152
153
Besonders die zweite Einlagerung im schnellen Schlußteil ist äußerst ungewöhnlich und unterstreicht damit noch einmal die Bedeutung des Kontrasts von Flehen und Standhaftigkeit. Zur Struktur der Arie vgl. Bauman 1987, S. yyff., bes. S. 80. Mozart, Brief vom 26.9.1781 (MBA 3, S. 162).
448
sich weder aus der Liedkultur des deutschen Singspiels (oder der französischen opera-comique) ableiten, noch als typische Auftrittsarie der italienischen Oper dingfest machen. Sie rückt die Autonomie der musikalischen Konstruktion in den Vordergrund und lebt zentral von der Kategorie des Unerwarteten und Diskontinuierlichen.' 54 Stefan Kunze hat herausgearbeitet, wie bereits der Anfangsteil dieser Ariette von der Kategorie des Unerwarteten geprägt ist: »Nicht ein Takt, der sich als Fortsetzung des vorhergehenden erwarten ließe; Mozart gestattet sich keinerlei Ausbreitung des Affekts; keine Spur eines präformierten Gefühls.« 155 Es gibt weder erwartbare Symmetrien oder periodische Strukturen noch eine Ableitung aus der Struktur des Textes.'56 Die musikalische Konstruktion ist autonom; darauf verweist auch nachdrücklich der motivische Bezug der Ariette zum Mittelteil der vorausgegangenen Ouvertüre.'57 Damit aber ist zugleich ein entscheidendes Licht auf die Figur Belmontes geworfen. Die Figur erscheint nicht als geschlossene, zielbewußte Figur, sondern dem Unerwarteten, Diskontinuierlichen ebenso unterworfen. Belmonte singt weder ein abgerundetes Strophenlied noch eine von einem vorgegebenen Affektcharakter bestimmte Arie. Er erscheint als unruhige Figur, getrieben von widersprüchlichen Emotionen. Merkwürdig ist bereits, wie er in T. i^f. erstmals von dem Vorspiel der Streicher abweicht und die Bitte an den Himmel um Erfüllung des Wiedersehens durch ein chromatisches Absinken nach e-Moll gestaltet wird: statt der aktiven Gebärde der Streicher im Vorspiel eine unsichere, passive, zugleich gefühlvolle Figur, die in neue harmonische Bereiche ausgreift und deren Moll-Charakter und -Fortsetzung so gar nicht zum Imperativischen Text passen will. Auch die dehnende Wiederholung der Fortsetzung T. 17 — 20 mit der sich ändernden Satzbetonung und dem leisen Schluß (anstelle der plakativ zusammenfassenden Passage des Vorspiels) zeigt Belmonte aus ganz anderer Perspektive als erwartet. Belmonte tritt nicht als großer Befreier und starker Held auf, er geht nicht in seiner Handlungsfunktion als Liebhaber und Befreier auf. Die Ariette bietet stattdessen durch die Art ihrer Komposition »ein differenziertes psychologisches Programm von Belmontes Befindlich-
154 155 156
157
Zu den Details vgl. die Analyse von Kunze 1984, S. Ebd. (Hervorhebung im Text). Der jambische Sprachrhythmus wird im musikalischen Dreier-Rhythmus teilweise völlig ignoriert. Eine derart enge motivische Verbindung der Ouvertüre mit der Oper selbst ist um 1780 noch selten, trotz der allgemeinen Forderungen Glucks im Vorwort zur >AlcesteGünther von Schwarzburg< finden.) Mozarts Ouvertüre lebt dabei erneut von der Kategorie des Kontrasts: Das BelmonteMotiv, das später mit der europäischen Emotionalität Belmontes verbunden wird, steht in denkbar starkem Gegensatz zu der umgebenden »türkischen Musik«, die für eine starre, fremde Anthropologie steht.
449
keit«.' 58 An der hervorgehobenen Stelle des Werkbeginns signalisiert diese Arie mit ihren Diskontinuitäten und Normabweichungen deutlich, daß es hier um mehr gehen wird als um die musikalische Untermalung einer konventionell-unterhaltenden Entführungsgeschichte. Das Ersetzen des Prosa-Monologs durch Musik dient nicht bloßer Unterhaltung, sondern erhöhter Komplexität. Die folgenden musikalischen Partien Belmontes fügen dem Psychogramm der Figur Zug um Zug neue Facetten zu. Gleich im folgenden Duett mit Osmin wird, wie oben bereits ausgeführt, seine ungeduldige, herrische, heißspornige Ader deutlich. Die Ruhe, nach der die Ariette Nr. i verlangt, findet Belmonte nach der Katastrophe in Nr. 16 erst durch Konstanze im Duett Nr. 20. Sie bildet das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, den die Figur im Stück vollzieht — ganz anders als bei Bretzner und Andre, in deren statischer Anthropologie die Figur von Anfang bis Ende gleichbleibt. Während die Ariette Nr. i von Mozart hinzugefügt wurde, bietet die Arie Nr. 4 (»O wie ängstlich«) nach Bretzners Intention die eigentliche Auftrittsarie Belmontes. Damit markiert der Text, den Stephanie und Mozart unverändert von Bretzner übernahmen, einen sensiblen Punkt: Die erste große Arie einer Figur legt gemeinhin deren Charakter fest. Daher zeigt sich in dieser Arie der Zusammenhang von Musikdramaturgie und Anthropologie noch deutlicher. Wieder handelt es sich um den in Mozarts >Entführung< an sich seltenen Typ einer klassischen Monolog-Arie,159 die zusätzliches Gewicht durch das vorangestellte Rezitativ erhält (s.o.). Allerdings ist bemerkenswert, daß Mozart hier keine »große« Arie schreibt, sondern von Anfang an andere Signale setzt (kein Vorspiel des Orchesters, »kleiner« 2/4-Takt, mittleres Tempo: Andante), während etwa Johann Andre den Text als typische »große« Monolog-Arie vertonte (Allegro, 4/4-Takt, Es-Dur). Obwohl der Text zahlreiche bildhafte Elemente enthält und Mozart in dem berühmten Brief an den Vater vom 26.9.1781 auch genüßlich daraufhinwies, wie er diese umgesetzt habe,'60 bleibt Mozart nicht bei der Bebilderung des 158
159
160
Willaschek 1996, S. 77. Willascheks These von einer narzißtischen Ich-Bezogenheit Belmontes scheint mir allerdings überzogen. Nur vier Arien sind Monolog-Arien: Arien der beiden europäischen Männer (Belmonte Nr. i, 4, 17; Pedrillo Nr. 13). Alle übrigen Arien finden in Gegenwart anderer Figuren oder direkt als Dialog mit einem stummen Partner statt (z.B. Osmin Nr. 3, Konstanze Nr. 6 und n, Blonde Nr. 12). Bei den Briefen an den Vater muß allerdings stets die Adressatenorientierung mit berücksichtigt werden: Mozart hebt besonders hervor, was sich mit der Musikästhetik des Vaters deckt: »Nun die aria von Bellmont in ADur. O wie ängstlich, o wie feurig, wissen sie wie es ausgedrückt ist — auch ist das klopfende liebevolle herz schon angezeigt — die 2 violinen in oktaven. — dies ist die favorit aria von allen die sie gehört haben — auch von mir. - und ist ganz für die stimme des Adamberger geschrieben, man sieht das zittern - wanken - man sieht wie sich die schwellende brüst hebt — welches durch ein crescendo exprimirt ist — man hört das lispeln und
450
Textes stehen, sondern verwandelt ihn in musikalische Tektonik. Es gibt keine semantisch fixierbare Verbindung von Text und Musik; dies zeigt sich am deutlichsten in dem scheinbar eindeutigen Klopfmotiv T. gff., das beim ersten Auftreten unmißverständlich das Herzklopfen Belmontes zu illustrieren scheint. Im Verlauf der Arie wird jedoch dieses Motiv abgelöst vom ursprünglichen Kontext; in T. Soff, verbindet Mozart es mit den ersten Zeilen des Textes (»O wie ängstlich, o wie feurig«), in T. goff. mit dem Beginn des Mittelteils (»schon zittr' ich und wanke«). Im Nachspiel der Arie erscheint das Klopfmotiv dann gar mit gewandelter Bedeutung: »umgedeutet zur befestigenden Bestätigung«. 161 Dafür erklingt zum ursprünglichen Text »klopft mein liebevolles Herz« z.B. in T. 88f. ein ganz anderes musikalisches Motiv, das ursprünglich mit den Versen 3/4 zusammenhing, die im zweiten Teil fehlen (»Und des Wiedersehens Zähre« etc., T. igf.). Es handelt sich also nicht um feste semantische Verbindungen von Text und musikalischem Motiv (wie später z.T. bei Weber oder Wagner), sondern um musikalische Gestalten, die zwar von bestimmten Assoziationen des Texts ausgelöst werden, dann aber nach den Kriterien musikalischer Konstruktion verwendet werden.'62 Schon in Bretzners Text betont Belmonte den Gegensatz seiner gegensätzlichen Gefühle (»ängstlich« vs. »feurig«). Bei aller musikalischen Bildlichkeit illustriert Mozart nun nicht nur diesen Gegensatz zweier Gefühle, wie dies auf
161
162
seufzen - welches durch die ersten violinen mit Sordinen und einer flaute mit in unisono ausgedrückt ist. — « (MBA 3, S. i02f.). Die bildlichen Mittel, die Mozart verwendet, sind übersichtlich zusammengefaßt bei Bauman 1987, S. 87. (Zum Sänger Josef Valentin Adamberger vgl. Michtner 1970, S. 88ff.) Kunze 1984, S. 209. Zur Analyse der Arie vgl. a. Siegfried Mauser: Psychologie und Dramaturgie. Analytische Beobachtungen in Belmontes Auftrittsarie aus der Entführung aus dem Serail«. In: MJB 1987/1988, S. 249—256; Mauser zeigt, »wie selbst Elemente des Figurativen am Beginn von Mozarts reifer Musiktheaterproduktion wesentliche Träger dramatischer Logik werden können.« (S. 252) Dies spricht m.E. gegen die sehr weitgreifende Interpretation Willascheks, der Klopfmotiv und besonders die Passage T. Soff, wie ein Wagnersches Leitmotiv interpretiert (1996, S. 88f.). Zu beachten ist auch die enge Verwandtschaft dieses Motivs zum Adagiosatz der etwas früher entstandenen B-Dur-Serenade für Bläser KV 361 (der »Gran Partita«). Das instrumentale, musikalisch autonome Muster geht der Verwendung in der Oper voran; noch deutlicher ist dies im Duett Nr. 12 (»Welche Wonne, welche Lust«), das auf den Schlußsatz des Oboenkonzerts C-Dur (bzw. des Flötenkonzerts D-Dur) KV 314 zurückgeht. All dies zeugt von der Autonomie des musikalischen Denkens, das vor einer zu direkten Beziehung auf semantische Inhalte warnen sollte. (Daher überzeugt mich auch die Interpretation des Schlusses von Nr. 4 durch Bauman 1987, S. 88, nicht. Wieso sollen die Hörner eine Trennung des Liebespaares, gar den Bassa Selim symbolisieren? Die klangliche Hornachse entspringt satztechnischen Gründen, keinen tonsymbolischen.) Völlig fehl geht m.E. der Versuch von Constantin Floros, der Ouvertüre ein »Programm« zu unterlegen (Das »Programm« in Mozarts Meisterouvertüren. In: Constantin Floros: Mozart-Studien I. Wiesbaden 1979, S. 21-78). 451
andere Art auch Andre versucht/ 63 sondern führt darüber hinaus Belmontes Inneres als komplexen Raum vor, in dem eine Fülle widersprüchlicher Kräfte wirkt. Die einzelnen, jeweils deutlich umrissenen musikalischen Charaktere stoßen immer wieder unvermittelt aufeinander 104 und ergeben stets neue Facetten und Mischungen der unterschiedlichen Gefühle; die musikalischen Figuren gehen nicht (wie etwa in Andres Arie) auseinander hervor, sondern kollidieren. Das »liebevolle Herz« erscheint bei Mozart als Sitz einer verwirrenden Vielfalt von Gegensätzlichem. Wieder handelt es sich um eine diskontinuierlich angelegte Arie, die schon in den ersten Takten gleichzeitig Ordnungsaufbau und die unerwartete Abweichung von der Ordnung vorführt: Der einleitende Viertakter (»o wie ängstlich, o wie feurig«) bildet gleichzeitig Symmetrie-Strukturen aus (zwei Zweitaktgruppen) und bricht diese zugleich durch harmonische und dynamische Diskontinuitäten.' 65 Indem sich kontinuitätsstiftende und diskontinuierliche Kräfte überlagern, verweist schon dieser Viertakter auf das Paradox von Vielfalt in der Einheit. (Der Anfang bleibt dabei im Unisono von Orchester und Gesang noch eigenartig neutral, so als wolle Mozart nicht von dieser zentralen musikalischen Struktur ablenken.) Mozart schreibt keine kontinuierlich sich entwickelnde Arie, die vorgegebene Formmuster (oder auch nur symmetrische Periodik) erfüllte, sondern löst die selbstgeschaffenen Ordnungsstrukturen ständig wieder auf: sprachlich im zweiten Teil der Arie, der die ursprüngliche Ordnung des Textes bunt durcheinanderwirft, musikalisch durch die ständig unerwartet weitergeführten, die Erwartungen des Hörers immer wieder irritierenden Wendungen. Gerade bei den bildhaften Elementen (T. 9ff. »klopfen«, T. 33ff. »schwellen«, T. 4off. »lispeln«, T. 40ff. »seufzen«) beginnt stets die musikalische Figur, bevor sie sprachlich dingfest gemacht wird: Es ist die Musik selbst, die antizipatorisch dem Text vorangeht, nicht ihn bebildert; aus ihr, nicht aus dem Text, kommen die entscheidenden Impulse. Diese Autonomie der musikalischen Gebilde aber ermöglicht es erst, eine neue Anthropologie auszuformen: In dieser Arie herrscht kein Zentralaffekt mehr, auch kein statischer Gegensatz zweier konventioneller Affekte (»Angst«-»Feuer«), sondern eine viel weitergreifende Mischung von Gegensätzlichem, von positiven und negativen Gefühlen. Sie stehen sich nicht mehr getrennt als Gegensätze gegenüber, sondern können neue, verwirrende Einheiten bilden. Die musikalische Form ist nicht konventionell vorgegeben und erfüllt bestimmte, klar bewertete und geordnete Affekttypen, sondern entsteht scheinbar neu entsprechend der dramatischen Situation (wobei im Hintergrund des Satzes gleichwohl
163
164 165
GO 6, T. I4ff.: Für den Bereich »ängstlich« verwendet Andre enge Sechzehntelbewegungen aufwärts, später (T. 2of.) Seufzerfiguren; für »feurig« breite Notenwerte, Achtelgang abwärts, entschiedener Gestus, später (T. 22f.) große Sprünge usw. Vgl. dazu im Detail die Analyse von Kunze 1984, S. 2O5ff., bes. S. 2oyf. Vgl. dazu Bauman 1987, S. 8jf. mit weiteren Beispielen für harmonische Brüche.
452
eine klare Konstruktion vorliegt). Die Kategorien der Diskontinuität, Spontaneität und Unvorhersehbarkeit prägen nicht nur die Musik, sondern zugleich ein Menschenbild, das sich deutlich von der Anthropologie der protestantischen Aufklärung unterscheidet.' 66 Ganz anders geht Andre in seiner Vertonung vor. Wo Mozart durch seine spezifische Musikdramaturgie die Komplexität der Figur erhöht, bleibt Belmonte bei Andre schlicht und statisch: ein konventioneller Liebhabertypus. Andre folgt Bretzners Vorstellung und vertont den Text in der üblichen Form einer abgerundeten Dacapo-Arie: Bei Andre wechseln sich in Belmonte zwei konventionelle Gefühle (»Angst« vor Enttäuschung und »Feuer« der Liebe) ab, mehr nicht. Die Unruhe des Mittelteils wird ab T. 107 wieder in die Reprise des Anfangs zurückgenommen; die Rückkehr zur Grundtonart und zu den Motiven des Beginns wirkt wie eine Heimkehr in die Stabilität, während Mozart gerade die dreiteilig abgerundete Reprisenstruktur vermeidet. Bezeichnend ist dabei, daß Andre in der Reprise T. 107 die Worte »o wie ängstlich« wegläßt und Belmonte erst mit »O wie feurig« einsetzen läßt.167 Dieses Herz klopft hier nur noch aus dem (positiv gewerteten) Gefühl feuriger Liebe, nicht aus der negativ bewerteten Angst. Andres Belmonte verströmt in der Reprise den Eindruck von Selbstvertrauen und Gewißheit: Lange, fast zum Selbstzweck werdende Koloraturen verleihen der Figur ab T. 140 endgültig den Charakter selbstsicherer Zuversicht. Völlig anders als bei Mozart erscheint Belmonte hier als Liebhaber und Retter, der alles in den Griff bekommen wird — die »Angst« wirkt als Episode, die dies nur kontrastiv steigert. Andres Arie ist viel breiter angelegt als die Mozarts (170 4/«-Takte gegenüber 109 J/4-Takten Mozarts) und arbeitet mit allen traditionellen Mitteln großer Dacapo-Arien (musikalische Ausschmückung des Texts, Bildlichkeiten, riesige Koloraturen, zahlreiche Textwiederholungen); dennoch wirkt sie kleinteiliger und statischer als Mozarts Musik, u.a. auch, weil die musikalisch-bildlichen Elemente bei Andre an den jeweiligen Text gebunden bleiben.' 68 Mit all diesen bildlichen Elementen, de166
167
lnH
Bezeichnend für diese ist, daß die zweite große Solo-Arie, die Bretzner für Belmonte im III. Akt, zu Beginn der Entführungsszene, vorsah (»Welch ängstliches Beben«, S. 40f.), nahezu identisch mit der Anfangsarie ist und der Figur keine neuen Facetten hinzufügt. Belmontes Charakter ist bei Bretzner flach und statisch angelegt. Die Instrumente spielen in T. loyf. das Motiv, das zu Beginn (T. 14) mit »o wie ängstlich« verbunden war, die Singstimme aber schweigt. Wenn es sich nicht um ein Versehen des Partiturschreibers handelt (wofür sonst kein Indiz spricht), dann wäre dies bezeichnend für die Elimination des »negativen« Angst-Gefühls zugunsten des positiv gewerteten »Feuers«. Dabei zeigen sich einige zeittypische Parallelen zu Mozart, die zugleich erhellen, worin das Besondere bei Mozart nicht liegt. Die »schwellende Brust« ist wie bei Mozart, allerdings wesentlich knapper, durch einen chromatischen Anstieg mit Abschluß in einer fremden Tonart (D-Dur) gekennzeichnet (T. 69 — 71); das »Lispeln« wird vom Orchester mit einer zärtlichen, typisch norddeutsch-galanten Melodie der i. Oboe eingeleitet (T. 73ff.), die mit Doppelschlägen verziert ist; das »Seufzen«
453
ren Einsatz nicht primär musikalischer, sondern textlicher Logik folgt, wirkt Andres Vertonung wie ein bunter Bilderbogen, der (besonders im Mittelteil) am Text entlangkomponiert ist, ohne ihn — trotz permanenter Symmetriestrukturen — in prägnante kompositorische Struktur zu verwandeln. Vor allem aber steht der ausgebreitete musikalische Schmuck der »großen« Arie merkwürdig schief zur dramatischen Situation.109 Die Figur, die beide zeichnen, könnte (bei identischem Text) unterschiedlicher kaum sein: Wo Mozart konzentriert und auf knappem Raum die innere Fülle einer widerspruchsreichen Individualität aufreißt, zeigt Andre Belmonte als konventionellen, rein »positiven« Liebhabertyp. In Andres Vertonung geht die Dramaturgie nicht aus der Musik hervor; stattdessen orientiert sich die Musik an präformierten Mustern, die die szenische Ebene nicht multimedial unterstützen und ausbauen, sondern sie partiell behindern.170 Dadurch aber kann auch die Figur Belmonte nicht wie bei Mozart komplexe Realität gewinnen, sondern verbleibt im typischen Status eines Sängers auf der Bühne, der eine handlungsretardierende Einlage singt. Während Mozart durch seine spezifisch musikalische Dramaturgie aus dem Text Bretzners eine vielschichtige Anthropologie entwickelt, bleibt Andres Musik im Raum einer eindimensionalen, präformierten Anthropologie, in der »Angst« ein negatives Gefühl bildet, das möglichst eliminiert wird.
169
170
zeigt die üblichen Seufzerfiguren (T. 84-88). Bemerkenswert ist die musikalische Bebilderung von »es wird mir so bange« - einer Textstelle, die bei Mozart (T. Jjf.) keine eigene Gestalt erhält; Andre nutzt dagegen den bildlichen Gehalt und schreibt ein offenbleibendes Absinken im Unisono von Gesang und Orchester (T. 81—83), das sich plastisch von der Umgebung abhebt. Auch die Frage »Täuscht mich die Liebe, war es ein Traum« ist deutlich umgesetzt: erst als viertaktige Gruppe, die durch die Bläser und ein langes crescendo zusammengehalten wird (T pSff; die Synkopen der Violinen gehen wohl auf das Wort »täuschen« zurück), anschließend, nach dem dynamischen Höhepunkt, als leise wiederholte Frage, die auf einer Fermate wie traumverloren stehen bleibt (T. 102 — 106). Von besonderer Bedeutung ist bei Andre die Oboe im Orchester, während die übrigen Blasinstrumente blaß bleiben; die Emanzipation der Blasinstrumente, die bei Mozart unvergleichlichen Ausdruck findet, deutet sich hier erst an, was mit der unterschiedlichen Orchesterkultur zwischen Wiener Hofoper und Berliner Wanderbühne zusammenhängt. Es mag unfair erscheinen, den Autodidakten Andre mit Mozart zu vergleichen. Dies geschieht jedoch nicht aus einer ästhetisch wertenden Haltung (dann wäre der Vergleich in der Tat unfair, weil er die unterschiedlichen Hintergründe, aufführungspraktischen Gegebenheiten und »Logiken« der beiden Stücke ignorierte), sondern in typologischer Absicht. Andre ist 1781 als Kapellmeister der bedeutendsten norddeutschen Truppe (Döbbelin) ein anerkannter, führender Repräsentant der norddeutschen Singspielkultur. Der Vergleich mit der Spitze der süddeutschen Kultur erhellt die differenten Konstellationen von Dramaturgie und Anthropologie. Dies resultiert daher, daß der dramaturgische Sinn der Dacapo-Arie nicht mit der szenischen Situation bei Bretzner übereinstimmt. Vgl. a. die Kritik des jungen Joseph Martin Kraus an der Form der Dacapo-Arie bei Anton Schweitzer; vgl. o. II.2.
454
6·3· Die Aufwertung Osmins Schon bei der Figur Belmontes zeigt sich, daß die klare Ordnung der dargestellten Welt in negative und positive Bereiche, wie sie für die protestantische Empfindsamkeit kennzeichnend ist,171 bei Mozart einer vielschichtigeren Anthropologie weicht. Dies läßt sich noch genauer bestimmen anhand derjenigen Figur, die in der Wiener Fassung schon quantitativ die größte Umformung erfuhr: Osmin.172 Mit sieben Gesangspartien hat er nach Belmonte quantitativ jetzt den größten Anteil am Stück; das Gewicht seiner Musikstücke liegt über dem der beiden »niederen« Figuren Pedrillo und Blonde. 173 Dramentechnisch ist dabei beachtenswert, daß durch den Einschub der Osmin-Arie Nr. 3 (sowie in geringerem Maß durch den musikalischen Ausbau der ersten Szenen zur Ariette Belmontes und zum Duett mit Osmin) die eigentliche Exposition des Werks stark hinausgezögert wird. Bevor die Handlungsebene in der 4. Szene ihre Exposition findet, hat Mozart bereits mit drei Musikstücken Innenräume und Kraftfelder geöffnet, hinter denen die äußere Handlung zweitrangig wird. Zugleich ist der Bereich gesprochener Passagen im Werkbeginn auf ein absolutes Minimum reduziert. Signifikant sind dafür die beiden neuen Solo-Arien. Bei Bretzner war Osmin auch dadurch aus dem Kreis der Hauptfiguren gerückt, daß er (mit Ausnahme des harmlosen Strophenliedchens Nr. i) keines solistischen Gesangs für würdig befunden war. Bei Mozart und Stephanie wird Osmin dagegen vom koloristischen Typ zum Individuum und zu einem Angelpunkt der Handlung aufgewertet. Er, nicht der Bassa, tritt musikalisch annähernd gleichwertig neben die Europäer, denen bei Bretzner der Raum der Arien allein vorbehalten war. Die Veränderungen der Osmin-Figur stellen den größten Eingriff der Wiener Fassung (neben dem veränderten Schluß) dar' 74 - ein Eingriff, der sich, anders als beim Schluß, in erster Linie im Bereich der Musik und ihrer Dramaturgie vollzieht. Denn die Texte der Osmin-Arien sind meist aus Dialogpassagen Bretzners gewonnen, stellen also auf der reinen Textebene keine wesentlichen Neuerungen dar. Mozart erkennt die Diskrepanz bei Bretzner zwischen dem 171
Vgl. Titzmann 1990, S. I4off. Bei Bretzner hat Osmin das Eingangslied zu singen, das Terzett am Ende des I. Aktes, das Duett mit Pedrillo sowie seinen (z.T. humoristischen) Teil am Entführungsensemble. Bei Mozart und Stephanie erhält er dazu zwei Solo-Arien (Nr. 3 und Nr. 19), zwei weitere Duette (Nr. 2 mit Belmonte, Nr. 9 mit Blonde) und den Platz im Schlußvaudeville. 17i Die Verteilung der Musikstücke hängt über rein dramaturgische Erwägungen hinaus eng mit der Sängerbesetzung zusammen, die, wie üblich, bereits vor der Komposition des Werks, d.h. noch auf der Basis von Bretzners Originaltext, festgelegt wurde. »74 Vgl. Betzwieser 1992, S. 43f., Kunze 1984, S. I99f.; Christoph-Hellmut Mahling: Die Gestalt des Osmin in Mozarts >EntführungEntführungIdomeneo< (1780/81) herrschen die Tenöre und der Kastrat, während die Baßstimme keine Rolle spielt (sie bleibt der kurzen Szene der überirdischen Orakelstimme vorbehalten); dies ändert Mozart in der >Entführung< im Rückgriff auf Buffa und Singspiel/75 wo es keine Kastraten gibt und der Tenor nicht so im Zentrum steht wie in der Seria, in der er letzlich die Position des absolutistischen Herrschers repräsentiert.'76 Im Gegensatz von Osmin-Baß, der aus der Welt der Buffa stammt, und Belmonte-Tenor, der an die Seria-Tradition erinnert, prägen sich somit auch zwei unterschiedliche Gattungen mit ihren sozialgeschichtlichen Implikationen in den Antipoden aus. Aufführungspraktisch manifestierte sich dieser Gegensatz sogar direkt in der Bühnenpräsenz der Sänger Karl Ludwig Fischer (Osmin) und Valentin Adamberger (Belmonte). Was Johann Karl Graf Zinzendorf, einer der genauesten Beobachter des Wiener Theaterlebens der Zeit, über die Uraufführung in seinem Tagebuch vermerkte, zeigt diesen Gegensatz zweier Stilformen deutlich: »Fischer joue bien, Adamberger est une statue«. 177 Darin wird das Neue an Mozarts Figur im Rahmen 175
176
177
Im Singspiel der lyyoer Jahre ist die Baß-Stimme oft den negativen Schurken-Figuren oder den Gegnern des Liebespaares vorbehalten: vgl. die Figuren des Kaled ^Kaufmann von SmyrnaEntführung< aufweist, in Mehmet, der analogen Figur zu Osmin, einen kultivierten Aufseher gestaltet, der gerade nicht böse und grausam ist. Überhaupt zeigen die frühen Singspiele die Tendenz, explizit negative Figuren auszuklammern, sofern es sich nicht um Typen handelt, die in der Tradition der commedia dellarte bestimmte Laster verkörpern (z.B. die beiden Geizigen in >Das Grab des MuftiErwin und Elmire< oder >AlcesteJagdDorfjahrmarktClaudine von Villa BellaDie Bergknappen^ >Der IrrwischDissertatio de actione scenicaClemenza di Tito< »der wahren Oper zurückzugeben«, 198 bei dem dennoch Anthropologie der Figuren und musikalische Dramaturgie auseinanderfallen. Andererseits ist diese Anthropologie erst auf der Basis von Mozarts diskontinuierlicher Satztechnik überhaupt gestaltbar, nicht jedoch mit den satztechnischen Mitteln eines Hiller, Andre oder Reichardt. Der diskontinuierliche Satz wiederum setzt die Autonomie der musikalischen Schicht voraus. Während die norddeutschen Komponisten in der Regel vom Text und von vorgeformten musikalischen Modellen (Strophenlied, Romanze, Dacapo-Arie, Rondo-Arie etc.) ausgehen, vermeidet Mozart genau diese beiden Ebenen. Stattdessen geht sein Ansatz, wie in der Entstehungsgeschichte der >Entführung< deutlicher als bei allen späteren Werken erkennbar ist, primär von der dramatischen Konstellation aus, dergegenüber die reine Textebene199 198
199
So der Eintrag Mozarts in sein eigenhändiges »Verzeichnüß aller meiner Werke«: »La Clemenza di Tito, opera seria in due atti [ ] ridotta ä vera opera dal Sigre Mazzolä.« Erwähnt sei noch einmal der Spott, mit dem Mozart in seinen Briefen die literarischem Reimzwänge und Wortspiele bedenkt, mit denen seiner Meinung nach von den deutschen Librettisten am falschen Ende gearbeitet werde. Damit trifft er eines der Hauptverfahren der mittel- und norddeutschen Librettistik. Dagegen trennt er 463
ebenso sekundär ist wie traditionelle musikalische Formmuster. Diese dramatische Konstellation versucht Mozart in musikalische autonome Konstruktion zu übersetzen. Mit dieser Autonomie der dramatisch gezeugten Konstruktion gewinnt Mozart die Basis, auf der widersprüchliche Innenwelten von Figuren, die Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Gefühle ebenso plastisch vorführbar werden wie exzessive Normüberschreitungen.200 Für Mozarts Musikdramaturgie werden in erster Linie die Brüche interessant, die Hindernisse und unerwarteten Umschlagsprozesse (wie im Quartett Nr. 16). Damit wird zugleich eine Anthropologie gestaltbar, die der Typenhaftigkeit der traditionellen Singspielfiguren ebenso skeptisch gegenübersteht wie der gedämpften Sozialtheorie oder den Geschlechterstereotypen der Empfindsamkeit, die aber auch nicht die verkrampften Rebellions- und Entgrenzungsgesten des »Sturm-und-Drang« benötigt. Demgegenüber gewinnt in Mozarts Musik eine vielfältige und skeptische Anthropologie plastisch Gestalt, die auch das reiche spätbarocke Erbe produktiv aufnehmen und innovativ gegenüber der eigenen Epoche ins Aktuelle verwandeln kann.
bei Stephanie sehr genau zwischen dem theatererfahrenen Dramatiker (der ihm zentral wichtig ist) und dem mediokren Verstechniker (was ihm unwichtig ist); vgl. z.B. den Brief an den Vater vom 13.10.1781. Später wird sich diese Konstellation in der Zusammenarbeit mit Schikaneder wiederholen. Damit beweist schon der junge Mozart eine Einsicht in die Mechanismen des Musiktheaters, die z. B. Goethe bis in seine letzten musiktheatralischen Versuche hinein verwehrt blieb. Diese Auffassung von Musik steht in denkbar großem Gegensatz zur späteren frühromantischen Musiktheorie, die sich partiell bereits in der mitteldeutschen Empfindsamkeit abzeichnet (vgl. o. 11-4). Die romantische Theorie reagiert mit der Aufwertung der autonomen (Instrumental-)Musik zum Ausdruck des Unbegrenzten und Unsagbaren auf eine grundsätzliche Defizit-Erfahrung gegenüber der sprachlich-rationalen Kommunikation. Bei Mozart dagegen hat die Musik eine eigenständige konstruktive Rationalität, die die sprachliche Ebene bereichern und vertiefen kann, sie nicht ins Unsagbare verlängert, sondern genauer werden läßt. 464
7- Sinnlichkeit und Kunstcharakter: Goethes Dramaturgie als Selbstreflexion des Musiktheaters
Die neue Musikdramaturgie, die sich in der Auseinandersetzung mit italienischen Mustern in Wien ausbildet und die durch Mozarts >Entführung< bald im gesamten deutschsprachigen Raum verbreitet wird, führt im Verlauf der lySoer Jahre zu einer Neubestimmung des Genres im mittel- und norddeutschen Raum. Das hier bisher unbestrittene Muster der Singspiele vom Schlage Weißes und Hillers erhält nun eine überlegene Konkurrenz aus dem Süden, was Prozesse der Selbstreflexion und Neuorientierung auslöst. Besonders deutlich ist dies im Werk Goethes, dessen Beiträge zum Musiktheater seiner Zeit im Rahmen der Goethe-Philologie weitgehend unterschätzt werden.1 Folgt Goethe zunächst noch deutlich den Mustern des empfindsamen Musiktheaters, so vollzieht er in den lySoer Jahren eine deutliche Wende. Die nun entstehenden Entwürfe zeigen ebenso wie die Bearbeitungen seiner frühen Libretti, daß Goethe (in der Auseinandersetzung mit der italienischen Opera buffa und den Wiener Singspielen) nach einer neuen Dramaturgie sucht und Konsequenzen aus der Krise der empfindsamen Librettistik zu ziehen versucht. Das Faszinierende an Goethes Auseinandersetzung mit dem Musiktheater scheint mir die Hartnäckigkeit, mit der er fast sein gesamtes dramatisches Schaffen hindurch sich an den Problemen und Potentialen des Musiktheaters abarbeitet. Beschränkt man sich in Goethes dramatischem Werk zunächst nur auf die im Untertitel ausdrücklich so bezeichneten musiktheatralischen Werke und Pläne, so reicht allein deren Bogen von den frühen ijjoer Jahren bis 1815.2 Hinzu kommen jedoch auch in den anderen dramatischen Werken Goe1
2
Für große Teile der Forschung ist etwa die Einschätzung typisch, die den Aufsatz von Kempf 1992 kennzeichnet: »The operettas are »Nebenwerke« [ ]«. Konkret bemängelt Kempf an >Jery und Barely: »The plot is simple [ ], the structure is loose, the motivation weak, the psychology unbelievable, and the language largely unpoetic.« (S. 304) Auch Dieter Borchmeyer bezeichnet z.B. in seinem Kommentar zu den Ungleichen Hausgenossen< das Werk als »belangloses Singspiel« (FA I, Bd. 5, S. 1186). Zur Forschungsgeschichte vgl. a. Holtbernd 1992, S. c>{. >Erwin und Elmire< (1773/1775; 2. Fassung 1786/1788); >Claudine von Villa Bella« (1775/1776; 2. Fassung 1786/1788); >Lila. Feenspiel< (1776/1777; 2. Fassung 1778; 3. Fassung 1788); >Jery und Bätely< (1779/1780; 2. Fassung 1787 [1825 erweiterter Schluß]); >Proserpina. Monodrama« (1776/1778); >Der Triumf der Empfindsamkeit. Eine dramatische Grille« (1777/1778; 2. Fassung 1786); >Die Fischerinn« (i78i/ 1782); >Scherz, List und Rache« (1784/1786); >Die ungleichen Hausgenossen« (Frag465
thes zahlreiche Übernahmen und Anleihen aus dem Musiktheater, zu deren bekanntesten die melodramatischen Schlüsse von >Clavigo< und >Egmont< sowie die opernhaften Teile von >Faust II< gehören.3 Schließlich existieren mit den Maskenzügen und Festspielen noch ganze Werkgruppen, in denen die Musik wichtige, z.T. zentrale dramaturgische Funktionen übernimmt. 4 Auffällig ist in der Zusammenschau, daß Goethe nach >Scherz, List und Rache< und den Überarbeitungen seiner frühen Werke in den späten lySoer Jahren nur noch Pläne und Fragmente entwirft, aber (bis auf die Festspiele) kein reines Musiktheaterwerk mehr abschließt. Dennoch bleibt aus der Fülle dieser Pläne und Fragmente deutlich ablesbar, welche Faszination die Gattung für Goethe zeitlebens besaß. Sie zeigt sich auch daran, daß Goethe die abgeschlossenen Singspiele etc. nicht (wie seine späteren Exegeten) als bloße belanglose »Nebenwerke« einschätzte, sondern sie in die von ihm konzipierten Werkausgaben5 aufnahm, was oft auf Unverständnis stieß. Diese Faszination des Musiktheaters für Goethe ist m.E. in der Forschung, trotz der wichtigen Studie von Benedikt Holtbernd (1992), noch nicht befriedigend erkannt, geschweige denn erklärt worden. Sofern Goethes Singspiele überhaupt Beachtung fanden, sind sie in erster Linie biographisch6 oder als Anpasment, 1785/1786); »Der Cophta. Als Oper angelegt (Fragment 1787, 1791 zum Lustspiel umgearbeitet); >Der Zauberflöte Zweiter Theil< (Fragment 1795/1796, 1798/1800); >Circe. Komische Oper< (Plan 1800?); Fragmente >Der Löwenstuhl. Oper< (1813) und >Feradeddin und Kolaila. Orientalische Oper< (1815). 3 Bei Holtbernd 1992, S. 237 — 242, findet sich eine Übersicht über Goethes gesamtes dramatisches Werk mit Hinweisen zu den jeweiligen Musikanteilen. Darin ist zu erkennen, daß die Musik auch in den meist als »reinste« Sprechtheater-Werke angesehenen großen Dramen Goethes oft eine besondere Rolle spielt. Die bisweilen zu einer gipsernen Klassizität gerinnende Aufführungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert hat diese lebendigeren, auflockernden Teile der Werke eliminiert. 4 Auf diese Werke (wie >PandoraLila< geziert, Band 7 (1790) von einer Szene aus >Jery und BätelyLila< in Eisslers voluminöser Studie (Karl Robert Eissler: Goethe. Eine psychoanalytische Studie. Bd i: 1775- 1786. Basel/Frankfurt a.M. 1983 [EA Detroit 1963], Bd. i, S. 279 — 296). Selbst Arbeiten wie Bauman 1985 (vgl. etwa S. I54ff.) oder Borchmeyers Kommentare in FA kommen von diesem Blickwinkel nicht los und verbauen sich damit die Einsicht in die eigentlichen Probleme, die diese Stücke transportieren. Zur biographischen Ausrichtung der älteren Forschungsgeschichte vgl. a. van Ingen 1990, S. io 3 ff. 466
sung an bestimmte (höfische) Konventionen interpretiert worden. Mir scheint dagegen, daß Goethe gerade in seinen Musiktheaterwerken epochen- und gattungstypische Strukturen auf eine ganz besondere Weise verarbeitet, was unter einer biographistischen Optik gar nicht wahrgenommen werden kann. In Goethes Entwicklung als Dramatiker spielen die Libretti eine wesentliche Rolle; sie arbeiten sich an den Themen und Traditionen der erfolgreichsten Theatergattungen der Zeit ab und durchdenken diese neu.
i. >Erwin und Elmire< i.i. Erste Fassung (1773-1775) Goethes ältestes erhaltenes Libretto, >Erwin und ElmireErwin und Elmire< folgt der Dramaturgie dieser handlungsbetonten Theaterform mit unterhaltenden, retardierenden Musikeinlagen überwiegend nicht-dramatischen Charakters; daher auch die Gattungsbezeichnung »Schauspiel mit Gesang«.9 Die Plazierung 7
Der Doppeltitel ist charakteristisch für die französischen Werke; vgl. z.B. >Annette et Lubin< (Favart, 1762) oder >Rose et Colas< (Sedaine, 1764), die zu den erfolgreichsten Stücken auf den deutschen Bühnen der i~j6oer/ijjoeT Jahre zählen und auch ins Deutsche übersetzt wurden; auf diese beiden Werke weist auch Goethe selbst in >Dichtung und Wahrheit< (I 3) hin. Weitere Beispiele wären >Bastien et BastienneZemire et AzorAucassin et NicoletteBastien und Bastienne< (nach Favart/Mozart, 1768) oder Eschenburgs Libretti >Lukas und Hannchen< (Beckmann, 1768) und >Robert und Kalliste< (Kürzinger, 1780). Auch der Grundkonflikt, die Versöhnung eines Paares durch einen Vermittler, ist typisch für die französische Opera-comique; vgl. etwa Rousseaus >Devin du village< (1752), den Goethe kannte und dessen Handlungsmuster entfernte Parallelen aufweist. Die Titelgebung und der Problemaufbau italienischer opere buffe folgen dagegen ganz anderen Konventionen (vgl. Osthoff 1968, S. 682ff.). 8 Den Impuls für Goethes Libretto gab möglicherweise der aus Offenbach stammende Johann Andre, mit dem Goethe in jener Zeit viel verkehrte. Andre entstammte einer Hugenottenfamilie, die sich 1688 in Frankfurt a. M. niedergelassen hatte; seine enge Orientierung an der französischen Opera-comique mag sich auch diesem Hintergrund verdanken. Goethe kam jedoch sowohl über die Truppe Theophil Marchands in Frankfurt als auch in Leipzig, durch seine Bekanntschaft mit Hiller, Weiße oder dem Verleger Breitkopf und durch die Kontakte zur Truppe von Koch mit den Formen von Singspiel und Opera-comique in enge Berührung (vgl. Koch 1980, S. 43). 9 Goethes (anonym publizierter) Text erfuhr eine vernichtende Besprechung im Altonaer >Beytrag zum Reichs-Postreuters«, 22.5.1775 (vgl. unten Anm. 41 und 45), die 467
der Lieder10 folgt weitgehend den Konventionen von Singspiel und Operacomique; die Musikeinlagen werden oft szenisch motiviert - ansonsten setzt der Gesang bei den Hauptfiguren meist dann ein, wenn die Gefühle der Figuren eine bestimmte Stärke überschreiten, ist aber auch dann nur relativ lose auf die Handlungsstruktur bezogen.11 Die Handlungsfolge wiederum ist relativ locker gefügt angelegt; sie ist als Raum konzipiert, in dem sich die musikalischen Einlagen als Wirkungsfeld von Gefühlen entfalten können. 12 Goethes Werk zeigt jedoch zugleich einige Differenzen zum Modell der französischen Opera-comique. Goethe weicht von dem konventionellen Handlungs-Schema ab, nach dem die Liebe eines jungen Paares von außen, durch negative Figuren (Nebenbuhler, Intriganten, Verführer), bedroht wird, und konzentriert sich ganz auf den inneren Raum der Emotionalität. Damit wiederum folgt er typischen Bestimmungen des Musiktheaters in der deutschen Empfindsamkeit (vgl. u. III.2). Das Stück rückt statt eines dramatischen coup de theatre die Differenz zweier unterschiedlicher Konzeptionen menschlicher Subjektivität in den Mittelpunkt, die als Generationengegensatz gestaltet sind. sich sogar an dieser Gattungsbezeichnung stieß: »Ein Schauspiel mit Gesang ist, was man im gemeinen Leben eine Operette nennt.« (Zit. n. Braun (Hg.) 1883/85, Bd. i, S. 109) Goethes Terminologie erscheint gleichwohl konsequent und stimmig. Goethe unterscheidet im Brief an Kayser vom 29.12.1779 (WA IV Bd. 4, S. I55ff.) »Lied« und »Arie« situativ-inhaltlich: »Erstlich Lieder, von denen man supponiret, dass der Singende sie irgendwo auswendig gelernt und sie nun in ein und der ändern Situation anbringt. Diese können und müssen eigne, bestimmte und runde Melodien haben, die auffallen und iedermann leicht behält. Zweitens Arien, wo die Person die Empfindung des Augenbliks ausdrükt und, ganz in ihr verlohren, aus dem Grunde des Herzens singt.« Diese Unterscheidung ist für die Zeit untypisch; dort werden Lied und Arie in der Regel formal oder nach dem sozialen Rang der betreffenden Figuren (wie bei Hiller oder Reichardt, vgl. u. III.2) getrennt. Während Holtbernd Goethes Definition folgt, verwende ich im folgenden eine formale Unterscheidung, wie sie der musikalischen Praxis der Zeit entspricht: Als »Lied« bezeichne ich strophische Texte oder solche, die eine schlichte, liedartige Vertonung erwarten lassen; als »Arie« dagegen die >durchkomponiertenLilaJery und Bätely< aus. An den als Komponisten vorgesehenen Kayser schreibt er, »[] dass es mir drum zu thun war, eine Menge Gemüthsbewegungen in einer lebhaft fortgehenden Handlung vorzubringen, und sie in einer solchen Reihe folgen zu lassen, dass der Komponist sowohl in Übergängen als Contrasten seine Meisterschaft zeigen kann.« (Brief vom 29.12.1779, WA IV Bd. 4, S. 156). »Den Charakter des Ganzen werden Sie nicht verkennen, leicht, gefallig, offen, ist das Element, worinn so viele andre Leidenschaften, von der innigsten Rührung biss zum ausfahrendsten Zorn usw. abwechseln.« (20.1.1780, ebd. S. 168). 468
Auf der einen Seite steht eine altständische Konzeption von Emotionalität und Liebe, repräsentiert von Elmires Mutter Olimpia: Was hat ein Mädchen zu wünschen? Jugendliche Freuden 2u haben? die erlaub' ich dir. Ihre kleine Eitelkeit zu befriedigen? Ich lasse dirs an nichts fehlen. Zu gefallen? Mich deuchte, du gefielst. Freier zu haben? daran fehlt dirs nicht. Einen gefälligen rechtschaffnen wohlhabenden Mann zu bekommen? du darfst nur wählen! Und hernach ist es deine Sache, eine brave Frau zu sein, Kinder zu kriegen, zu erziehen, und deiner Haushaltung vorzustehen; und das gibt sich dünkt mich alles von selbst.1*
Olimpia skizziert en miniature den konventionellen Lebenslauf der »alten« Generation, in dem Liebe und Emotionalität allenfalls als marginale Beigaben vorkommen, die für diesen vorgezeichneten Lauf des Lebens keine Bedeutung haben.' 4 Liebe ist in der Elterngeneration nicht als persönlich-exklusive Leidenschaft gedacht, sondern als Auswahl aus einer Schicht potentieller Partner, die gerade nicht durch ihre Individualität, sondern durch schichtspezifische Merkmale gekennzeichnet sind. 15 Das dahinterstehende anthropologische Ideal spricht Olimpia direkt aus: »Ich dächte, der größte Vorzug in der Welt wäre, glücklich und zufrieden zu sein.« 16 Dieses Glück beruht ökonomisch auf der guten Situierung,' 7 wie mehrmals implizit deutlich wird, anthropologisch auf der Flachheit der Emotionalität, die diese >Zufriedenheit< nicht stören darf. 13 14
15
16
17
MA 1.2, S. 16. Alle folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe. Es ist signifikant, daß die Elterngeneration in Stücken dieser Zeit oft defekt ist. Olimpia hat selbst offenbar keinen Mann, ebenso wie Bernardo allein steht; ähnliche defekte Familien finden sich z.B. in >Claudine von Villa Bellas aber auch in >Günther von Schwarzburg< oder der >Zauberflöte*. — Die bisherige Forschungsdiskussion des Werks hat stets abwertend die Figur der Mutter, die nur in der ersten Szene auftritt, als disfunktional und dramaturgisch ungeschickt bezeichnet (siehe z.B. noch H. Reinhardts Kommentar in MA) und ihren Wegfall in der zweiten Fassung dann bestätigend als »Verbesserung« betrachtet. Faktisch kommt der Olimpia-Figur jedoch für die Konzeption der ersten Fassung hohe Bedeutung zu; sie ist sowohl für die Symmetrie der Figurenkonstellation als auch für den Aufbau der Elternposition unverzichtbar. Ihr Wegfall in der Umarbeitung beruht auf der gänzlich veränderten dramaturgischen Konzeption, in der es nicht mehr um die Konfrontation zweier Liebeskonzeptionen geht (s.u.). Daraus resultiert die Toleranz, auf die sich Olimpia viel zugute hält: »Du, die du sechse haben kannst für einen, die du eine Mutter hast, die sagt: nimm, welchen du willt von den sechsen, und wenn dir ein siebenter etwa in die Augen sticht, dir etwa am Herzen liegt; sag mir ihn, nenn mir ihn! Wir wollen sehen, wie wir ihm ankommen.« (S. 13). Bernardo benennt dann die schichtspezifischen Kriterien konkret: »Jung, schön und reich;« (S. 19). S. 14. Entsprechend betont Bernardo »die Ruhe der Seele [ ], die mich begleitet.« (S. 18) Auch dieses frühe Libretto, das nun gerade nicht in höfischen, sondern in städtischen Kontexten entstanden ist, zeichnet den »Hof« grundsätzlich positiv, als Garanten des Aufstiegs zum Wohlstand für Erwin. Erneut zeigt sich, wie problematisch eine pauschale Einstufung »des« Singspiels als hofkritisch (wie z.B. bei Koebner 1981) ist. 469
Genau diese Haltung aber ist der Kindergeneration nicht möglich. Störungsfaktor ist die neu konzipierte Emotionalität. Für die Kindergeneration stellt sich das Problem der eigenen Emotionalität und der Partnerwahl ganz anders dar. Elmire ist ihren eigenen Emotionen gegenüber unsicher18 und kann diese weder zum Ausdruck bringen noch die Wirkungen ihres Verhaltens auf die Emotionen Erwins einschätzen.'9 Daraus resultiert der dramatische Konflikt des Stücks: Erwin nimmt ihre Zurückweisung ernst und zieht sich aus der Gesellschaft in eine unwegsame, außersoziale Natur zurück, während Elmire jetzt in einen Kult des selbstmitleidigen, empfindsamen Weltschmerzes (mit Flucht in religiöse Muster20) versinkt. Die eigene Emotionalität erhält für beide eine zentrale Bedeutung, dergegenüber die bürgerlichen Anforderungen eines geordneten Lebenslaufes und der Zufriedenheit< unwichtig werden. Die Perspektivengebundenheit der Positionen wird von Goethe klar formuliert: Aus der Sicht der »jungen wühlenden Herzen« der Kindergeneration21 erscheint die Position der Eltern als »Mangel an Teilnehmung [ ], weil euch das mangelt, was wir doch haben.« 22 Umgekehrt kann die empfindsam-schwärmerische, subjektiv-exklusive Emotionalität der Kinder aus der Sicht der Eltern nur als weltfremde »Narrheit«, als temporäre Verirrung und »Quelle des Elends« erscheinen: Elmire: [ ] Ich habe immer mehr für mich gelebt, als für andre, und meine Gefühle, meine Ideen, die sich durch eine frühzeitige Bildung entwickelten, machten von jeher das Glück meines Lebens. Olimpia: Und machen jetzt dein Elend. Was sind alle die edelsten Triebe und Empfindungen, da ihr in einer Welt lebt, wo sie nicht befriedigt werden können []!23 18
19
20
21 22
21
»Elmire (allein): Liebste, beste Mutter! Wie viel Eltern verkennen das Wohl ihrer Kinder, und sind für ihre dringendsten Empfindungen taub [ ]. Wo bin ich? Was will ich? Warum vertraut' ich ihr nicht schon lang meine Liebe und nicht meine Qual? Warum nicht eh?« (S. 17) Dies führt ihr Bericht über die Schlüsselszene der Vorgeschichte vor, in der sie Erwins Gabe der selbstgezogenen Pfirsiche zurückweist: »[ ] mir klopfte das Herz, ich fühlte, was er mir zu geben glaubte, was er mir gab. Und doch hatte ich Leichtsinn genug, nicht Leichtsinn, Bosheit! auch das drückts nicht aus! Gott weiß, was ich wollte — [ ] ich hatte sein Herz mit Füßen getreten.« (S. 20) Vgl. S. 2if.: »Gebet, tränenvolles Gebet, das mich auf die Knie wirft, wo ich mein ganzes Herz drinne ausgießen kann, ist das einzige Labsal meines gequälten Herzens []«. Hier wird die Bedeutung religiös gebundener Innerlichkeit für die Ausbildung der empfindsamen Emotionalität deutlich. Die narzißtische Lust am Schmerz Elmires, die sich auch vom Eremiten »Keinen Trost [ ],/ Nur Nahrung meinem Schmerz« (Duett S. 24) erhofft, weist Parallelen zum Schmerzkult in Goethes >Stella< (1775) auf. Elmire S. 18; ähnlich Erwin in seiner Arie S. 26. S. 18. Speziell Bernardo wird von beiden Jungen als kalt und als gefühlloser »Sophist« kritisiert. Entsprechend erscheint Erwin auch die Abfuhr durch Elmire als Zeichen mangelnden Gefühls (S. 27). S. 16.
470
Insofern ist es nur konsequent, wenn der andere Exponent der älteren Generation, Bernado,24 nun zum Drahtzieher wird, um über zahlreiche inszenierte Scheinsituationen den Konflikt aufzulösen und eine glückliche Lösung zu erreichen. Bernardo vereint dabei die typische Position eines Intriganten mit der eines allwissenden Deus-ex-machina.25 Der Deus-ex-machina Bernardo überführt die durch das Verhalten der beiden jungen Figuren drohenden Normbrüche in konventionsgetreues Verhalten.26 Bernardo inszeniert dazu das in der Komödientradition beliebte Theater im Theater, wobei der Anteil des Nonverbalen auffällig hoch ist.2"7 Was die einleitende Szene zwischen Olimpia und Elmire vorführt, wird analog bei Erwins erstem Auftritt in der Eremitage exponiert. Auch Erwin kommt mit seiner Emotionalität nicht klar.28 Auch für ihn resultiert aus seiner subjek24
25
26
27
28
Der genaue Status von Bernardo ist signifikanterweise undeutlich. Sein Verhältnis zu Elmire schwankt zwischen dem eines Bedienten (sie duzt ihn, während er sie siezt) und eines väterlichen Vertrauten: »nicht nur mein französischer Sprachmeister, sondern auch mein Freund und Vertrauter«, nennt ihn Elmire. Erwin wiederum redet ihn als »Mein Vater!« an (S. 34). Bernardo vereint funktional die Rolle der über dem Geschehen stehenden patriarchalischen Autorität mit der eines Opern-Confidente. Borchmeyer sieht in seinem Kommentar zu FA lediglich einen »Bedienten« in Bernardo, was m.E. der Funktion dieser Figur nicht gerecht wird. (Der oder die französische Sprachlehrer(in) ist im deutschen Singspiel eine häufig anzutreffende Figur; vgl. z.B. die Antoinette in Gotters >DorfgalaLandprediger< von J. M. R. Lenz (1777) nimmt die Titelfigur eine ähnlich starke Stellung wie Bernardo ein und erzieht z. B. seine Frau von der Empfindsamkeit weg; es erscheint daher alles andere als zufällig, daß Lenz erwähnt, in diesem Haushalt werde »Göthes Erwin durchgespielt« (Lenz 1992, S. 407). Zudem belegt der Hinweis auch möglicherweise verbreitete Rezeptionsweisen der Gattung Singspiel. Damit folgt Goethe einer älteren Konzeption des Deus-ex-machina, die sich im Familienschauspiel des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts dann wandelt; vgl. Ladendorf 1993, S. 114. Auffällig hoch ist die Bedeutung der Blicke der Figuren; ihr entspricht das Motiv des Nicht-Sprechen-Könnens (oder -Wollens): Elmire will am Anfang des Stücks gar nicht reden, Erwin als Eremit legt sich zunächst ein Schweigegebot auf und benötigt die Schreibtafel zur Kommunikation. »Du weißt, wie mein Herz in sich kämpft und bangt, daß Wonne und Verzweiflung es unaufhörlich bestürmen. Ach! warum bin ich so zärtlich, warum bin ich so treu!« (S. 27) Wichtig ist auch die Arie »Inneres Wühlen« (S. 26), die Erwins Auftrittsmonolog beendet und die in ihrem sprachlichen Gestus deutlich von seinem vorausgehenden Rosen-Strophenlied abweicht. »Inneres Wühlen« beschreibt die nicht zu befriedigende Dynamik der Gefühle (»ewig zu fühlen«) und benutzt dazu Kurzverse aus je einem Adoneus, die sich plastisch von den sonst vorherrschenden jambischen Gesangstexten abheben. Zugleich besteht der gesamte Text aus einem einzigen Satz, der sich auf den letzten Vers hinbewegt; dieser letzte Vers ist auch rhythmisch noch mehr verdichtet und gedrängt: Das letzte Verspaar besteht nur noch aus je einem Chorjambus. Die Sprache wirkt gepreßt, baut ein dichtes Netz aus Assonanzen und Reimen auf, denen aber inhaltliche Antithesen gegenüberstehen — alles in allem ein Text, der vom harmonischen Ideal des strophischen Liedes weit abweicht und die 471
tiven Emotionalität zunächst nur ein Schmerzkult mit religiösem Gepräge.29 Dabei rückt Erwin in die Nähe eine Melancholikers (zu den Implikationen s. u. bei >LilaLila< zeigt eine Variante dieses Motivs (s.u.). S. 20f.
Bernardos Position als Schlußposition erhält dabei das stärkere Gewicht: Er greift Erwins Formulierungen auf und dreht sie um. Bernardos Schlußvers benutzt den Reim von Erwins Schlußvers und faßt dadurch brennpunktartig die Gegensätze zusammen: Erwins »hinaus zu treiben« beantwortet Bernardo mit »immer bleiben«. Ahnlich geht Goethe bei dem späteren Duett Bernardo-Erwin vor, das aber noch etwas raffinierter dramaturgisch eingebunden ist (S. 29). Hier greift Bernardo auf die vorausgegangene Arie Erwins samt deren Reimen zurück, besetzt dieses Reimschema jetzt jedoch mit gegenteiligen Inhalten. (Durch diese Wiederaufnahme der Struktur entsteht ein Bogen über den dazwischenliegenden Dialog hinweg.) Indem Erwin anschließend seine Strophe unverändert wiederholt und Bernardo damit zurückweist, wird das Verfahren des antithetischen Umwertens vorausgehender Positionen ein weiteres Mal vorgeführt, wodurch auch deutlich wird, daß Erwin noch nicht weit genug ist, um aus seinem Schmerzkult hinauszufinden. Zugleich ergibt sich eine konventionelle ternäre Reprisen-Struktur. Dadurch wiederum wird Bernardo klar, daß er zu stärkeren Mitteln greifen muß: Daher folgt darauf sein starker emotionaler Appell an Erwin, der über das nonverbale Mittel des Augen-Blicks zusätzlich betont wird.
472
Figuren aus dem Konflikt der beiden Positionen: Erwin und Elmire können sich innerhalb der altständischen Ordnung nicht ausdrücken und nicht finden; dies gelingt erst durch die Verstellung und Inszenierung (Elmire kann sich nur aussprechen, weil sie sich dem außersozialen Eremiten gegenüber wähnt, andererseits glaubt auch Erwin nur an Elmires Aufrichtigkeit, weil sie sich gegenüber dem »fremden« Eremiten äußert). Goethe gestaltet den Konflikt des Stücks jedoch nicht zwischen den Positionen der Generationen, sondern als Problem der jungen Generation selbst, die im Ablauf des Stücks dazu gebracht wird, ihre neue Konzeption von Emotionalität mit den älteren Normen zu versöhnen. Die Position des Stücks scheint somit klar: Die empfindsame Schwärmerei der Kinder wird vom lebensklugen »Vater« 33 Bernardo geheilt, sie werden als Paar in die bürgerliche Existenz re-integriert. Obwohl schon der Titel die junge Generation ins Zentrum des Stücks rückt, werden deren Probleme mit ihrer Emotionalität letztlich vom Stück nicht ernst genommen.34 Der Lösungsweg gibt der anti-empfindsamen, ironischen Sicht Bernardos am Schluß recht: »es ist, war ihr [Olimpia, J. K.] so angelegen, als mir, euch Närrchen zusammen zu bringen. Und wir beide haben mit größter Sorgfalt auch schon euern häuslichen und politischen Zustand in Ordnung gebracht, woran sich's meistenteils bei so idealischen Leutchen zu stoßen pflegt.« 35 Die Anthropologie, die das Stück expliziert, führt vor, daß im Übergang von Stamm- zur Fortpflanzungsfamilie Gefühlsbetontheit und -exaltiertheit legitim sind, aber nur als kurze, letztlich wieder in die Ordnung führende Phase.30 !3
So redet ihn Erwin S. 34 an. Bernardo ist nach dem Muster des >zärtlichen Vaters< der empfindsamen Familiendramen gestaltet (vgl. Vogg 1993, bes. S. 88ff.). '4 Kennzeichnend sind die zahlreichen Diminutivformen, mit denen die Eltern über die Kinder reden; bemerkenswert ist auch die anakreondsch-unernste Terminologie, mit der Bernardo in seiner Arie (»Ein Schauspiel für Götter«, S. 24) über die Liebe spricht. Elmire dagegen spricht sich über die Liebe nur über Irritationen (s.u.) oder z.B. über paradoxe Stilformen wie den Concetto »in seinen nassen Blicken,/ [ ] welche Liebesglut« (S. 18) aus. 35 S. 35. Diese ironischen Brechungen des insgesamt doch sehr empfindsamen Stücks legen nahe, es zu parodieren, was faktisch auch geschehen ist: Eine anonyme Parodie, wahrscheinlich von Johann Heinrich Faber, erschien mit der Gattungsbezeichnung »Eine komische Oper ohne Titel in einem halben Aufzuge« ohne Verlagsort (wohl Frankfurt a.M.) 1775 (»Der Schauplatz ist neben dem von Erwin und Elmire«); vgl. ADB 31/1 (1777), S, 205, sowie Almanach der deutschen Musen, Leipzig 1776, S. 49. F. van Ingen übersieht diese ironischen Elemente, wenn er das Stück ausschließlich als voll entfaltete Empfindsamkeit mit Ossiannachfolge und Sesenheimton deutet (1990, S. no). }6 Entsprechende Einschätzungen sind auch aus der zeitgenössischen Rezeption belegt. So schreibt Friedrich Heinrich Jacobi am 28.1.1775 an Johann Georg Jacobi über das zuerst in der Zeitschrift >Iris< abgedruckte Libretto: »Seltsam ist, daß das Ganze sich so vortrefflich in die Iris schickt; ich möchte sagen, dafür ausdrücklich komponiert worden zu sein. Es ist gewissermaßen ein Stück zur Erziehung der Töchter.« (Zit. n. MA 1.2, 5.702) Die >Iris< hatte ein hauptsächlich weibliches Zielpublikum, was 473
Werden deren Grenzen überschritten, so muß (notfalls durch einen Deus-exmachina) die Ordnung wiederhergestellt werden. Aufschlußreich ist aus dieser Sicht, daß Goethe die Emotionalität der Kindergeneration auch formal als Symmetriestörung und Unregelmäßigkeit gestaltet. Dafür steht insbesondere Elmires Arie »Mit vollen Atemzügen« (S. 3of.), in der sie sich frei ausspricht, weil sie sich in der Natur allein und unbeobachtet wähnt. Diese lange Arie, die intimste Selbstaussprache Elmires im Stück, widerspricht auf allen Ebenen den Vorstellungen von Symmetrien, die konventionell mit Gesangstexten verbunden sind und die auch den überwiegenden Teil aller übrigen Gesangstexte des Stücks kennzeichnen. Sie ist weder strophisch noch reprisenartig angelegt, weist weder konstante rhythmische Strukturen oder Verslängen noch übergreifende Reimschemata auf: Jeder Teil dieser vierstrophigen Arie ist völlig abweichend vom vorherigen gestaltet.37 Dabei wecken die eingesetzten literarischen Mittel (Reime, Alliterationen, gesteigerte Bildhaftigkeit) und die z.T. konventionelle Natur-Topik38 ständig Erwartungen des Hörers, die konsequent irritiert und gebrochen werden: Die Arie hebt immer wieder als Naturgedicht an, endet aber mit Bildern der Störung. In der Arie exponiert Elmire ihr »Herz«, die eigene Emotionalität (es bildet funktional ein Gegenstück zu Erwins »Inneres Wühlen«, vgl. Anm. 28); diese aber findet Ausdruck als formale Irritation aller Erwartungen, als Unordnung, als Wendung vom friedlichen Idyll zum Chaos. Menschliche Emotionalität erscheint so als Störung der Ordnung auf vielen Ebenen. (In der zweiten Fassung hat die Arie einen anderen situativen Kontext und eine andere Funktion. Während sie in der ersten Fassung durch ein nicht weiter definiertes »Singen« Elmires bereits eingeführt ist39 — als ein Singen, das in seiner pastoralen Unschuld den extremsten Gegensatz zum unmittelbar vorher erwähnten Wunsch Erwins zu »sterben« markiert —, bildet sie dramentechnisch in der zweiten Fassung einen klassischen Monolog. Aus der Naivität des unmittelbaren, unbewußten Selbstausdrucks der in der Natur sich bewegenden Elmire wird in der zweiten Fassung eine bewußte Selbstreflexion, in der die Unregelmäßigkeiten eine andere Funktion erhalten. Goethe
37
38
39
sarkastisch in einer Besprechung in der ADB (33/2, 1778, S. 542f.) vermerkt wird: »Der ganze erste Auftritt ist entweder der Iris zu gefallen, oder vielleicht mit Faunenblick, als eine Satyre auf das weiche gezierte Wesen dieser Schrift, hingeschrieben. Zum Stück gehört er gar nicht.« (Der Abdruck, der auch die Musik Andres zu zwei Liedern enthält, nennt weder Autor noch Komponisten.) Möglicherweise ist die dritte Strophe als Accompagnato-Rezitativ gedacht, so daß eine Art Doppelarie entstünde. V.a. die Bildlichkeit der vierten Strophe erinnert stark an Opernarien der metastasianischen Tradition; im deutschen Bereich vgl. etwa die Arie der Anna in »Günther von Schwarzburg< II 4. Andre hat dies in seiner Vertonung als kurzes Melodram komponiert und damit die Erfolgsform der Zeit aufgegriffen; vgl. Abb. bei Bauman 1985, S.
474
hat den Text dort zudem um eine abrundende Schußstrophe erweitert, die wieder Glück und »neue Hoffnung« ausspricht.) Diese Rückkehr in die Ordnung wird anschließend vom Stück in den Gesangstexten hymnisch gefeiert als höchstes Glück: »O schauet hernieder,/ Ihr Götter, dies Glück« (Terzett S. 34). Dafür kommt der Musik elementare Bedeutung zu: Die beiden Terzette (die einzigen des Werks) spiegeln auch formal, im gemeinsamen Singen aller beteiligten Bühnenfiguren, die vollzogene Reintegration.40 Darüberhinaus aber gibt Goethe den entscheidenden Punkt der Anagnorisis als »Pause« ab an die Musik. Während auf der Textebene nicht viel mehr als eine Bestätigung der wiedergefundenen Identität geschieht, heißt es im Nebentext: »Die Musik wage es, die Gefühle dieser Pausen auszudrücken.«41 Am emotional wichtigsten Punkt des Stücks tritt die Sprache zugunsten der Musik zurück. Die Musik soll Gefühle wiedergeben und ist darin offenbar der Sprache überlegen; zudem wird die Musik gerade im Ausdruck der Emotionen hier zum Repräsentanten der »Ordnung«. (Ein Blick in die erhaltenen Vertonungen zeigt, daß die Komponisten diesen Anspruch kaum erfüllen konnten. 42 Andre flüchtet sich an dieser Stelle in eine bloße Fermate, 40
41
42
Zwischen den beiden Terzetten steht nur noch Erwins Abschiedsarie an die Eremitenhütte (S. 35), die die empfindsame Tränen-Topik kultiviert und in der Mittelstrophe durch das neue »Glück« ersetzt. S. 34. Der Kritiker (»Clwd.«) im Altonaer >Beytrag zum Reichs-Postreuter< vom 22.5.1775 wies speziell diesen Satz parodistisch zurück: »Mehr unverschämten Stolz wüßten wir nicht in jemand entdeckt zu haben. - Die Musik wage es so rühren zu wollen, als ich kann. Viel gesagt, Herr Autor! — Wäre nur ihr Drama nicht so schlecht gerathen. [ ] es ist kein Werth in ihrem Stücke - keine Moral - kein Witz - keine Munterkeit; []«. Der Rezensent begründet sein negatives Urteil vor allem mit der inszenierten »Beichte« Elmires vor dem Eremiten, in der er eine Verhöhnung und »offenbare Profanirung« der christlichen Religion sieht: »Das Beichten [ ] gehört nicht aufs Theater« (zit. n. Braun (Hg.) 1883/85, Bd. i, S. 109; Hervorhebung im Text). Die Erwartungen spätrationalistisch geprägter Hörer lassen sich hier ex negativo erkennen: Moral, Witz, Munterkeit, jedoch keine »Profanirung« und erst recht keine >übertriebene< Empfindsamkeit wie in der Regiebemerkung. - Dagegen findet sich noch 1793 eine fast identische Regieanweisung (»die Musick wage es, die süssen Empfindungen der Schläferin auszudrücken«) in Johann Joseph Hubers >SaphoErwin und Elmire< aus der Romanze von Angelina und Edwin aus dem 8. Buch von Oliver Goldsmiths empfindsamem Roman >The Vicar of Wakefield< (1766), der in Deutschland äußerst populär war. Unter dramaturgischen Gesichtspunkten ist für die Konzeption von >Erwin und Elmire< jedoch eine zentrale Differenz zu dieser Quelle bemerkenswert: Während in Goldsmiths Ballade die Identität des »Eremiten« bis zum Schluß unklar bleibt und die Spannung darüber bis zum Umschlagspunkt der Anagnorisis anhält, nimmt Goethe die Spannung bewußt heraus, indem er Erwin vorher einführt und die Verkleidung als Inszenierung Bernardos zeigt. Paradoxerweise scheint Goldsmiths Ballade unter dem Aspekt der Spannungsführung >dramatischer< konzipiert zu sein als das Bühnenwerk. 45 Daß Goethe ein so elementar bühnenwirksames Element eliminierte und überhaupt nahezu alles »äußere« Geschehen reduzierte, zeigt, daß es ihm offensichtlich bei der Gattung Musiktheater auf etwas ganz anderes ankam.46 Wie bei Weiße verschafft auch Goethe dem Publikum eine durchgängige Informationsüberlegenheit über 43
44
45
4Modernität< der ersten Fassung im Kontext ihrer Entstehungszeit vgl. a. van Ingen 1990, S. nof.
476
die Figuren. Die Darstellung fokussiert nicht spannende, überraschende Handlung, sondern ausschließlich die Emotionen der jungen Figuren47 und deren Re-Integration in die Anthropologie der Elterngeneration. Die Vision des Stücks zielt dabei darauf ab, die neue Emotionalität der Kindergeneration mit der ständischen Ordnung der alten zu vereinen — im Genre des populären Musiktheaters formuliert Goethe sozusagen einen umgekehrten, positiven >WertherIntriganten< Bernardo und die ständige Inszenierung falscher Tatsachen erreicht werden kann, zeigt sich gleichwohl das irritierende und subversive Potential, das die neue Emotionalität für die alte Ordnung bedeutet. Der innere Widerspruch scheint ungelöst: Ohne das Eingreifen eines äußeren Deus-exmachina wäre die Re-Integration offenbar kaum möglich gewesen. 1.2. Die zweite Fassung: »Das Ganze ist jetzt ein Quartett der Liebe« Schon früh sind in der Goethe-Philologie die Veränderungen aufmerksam registriert worden, die Goethe während seiner Italienischen Reise an zwei frühen Musiktheaterwerke, >Erwin und Elmire< und >Claudine von Villa BellaErwin und ElmireTeutsche Chronik« 1776, 76. Stück). Schubart bespricht das Stück in der Vertonung Andres als reine Reihung von Gefühlsinhalten: »einladende Zärtlichkeit, Frühlingsgefühl herrscht in der ersten Arie der Olympia; Elmire mit dem Dolch der Liebe in der Brust [ ] schmelzende, melancholische Zärtlichkeit in Erwins Andante [ ] dann das innere Wühlen, die höllische Qual, das Wutgebrüll unbefriedigter Liebe []« etc. (abgedruckt in MA 1.2, S. 702). Umgekehrt lehnt der junge J. M. Kraus Goethes frühe Libretti in der Emphase der Geniebewegung als kraftlos und verzärtelt ab (vgl. unten Teil III). Bötcher 1911. Aus neuerer Zeit vgl. z. B. die ähnlich argumentierenden Kommentare Dieter Borchmeyers in FA oder Bauman 1985, S. 25 iff. Dies ist (mit Ausnahme von Holtbernd 1992) in der Goethe-Forschung bislang kaum
477
An die Stelle der Differenz zweier Liebeskonzeptionen tritt jetzt nur noch ein Liebeskonzept, das quasi »experimentell« (Holtbernd) ausgelotet wird. Entsprechend ist die gesamte Ebene der Elterngeneration nun getilgt; ihre Konzeption von Emotionalität ist veraltet und fällt weg. Das Stück bewegt sich nur noch auf einer Ebene gleichaltriger (und gleichrangiger) Figuren. Damit entfällt auch die überlegene Intrigantenfigur des Bernardo, die die Dramaturgie der ersten Fassung trug. Das Stück führt nun einen völlig neuen Konflikt und eine gänzlich anders geartete Lösung vor. Goethe fügt, wie in der Tradition der italienischen Opera buffa üblich, ein zweites Liebespaar ein (mit italienischen Namen: Valerio und Rosa) und nutzt dies, um eine Fülle von Bezügen zwischen den beiden Paaren aufzubauen. Durch die Auflösung der Familienkonstellationen und den Wegfall des Drahtziehers Bernardo macht Goethe deutlich, daß die Figuren jetzt selbst eine Lösung für ihre emotionale Verwirrung finden müssen. Die Lösung wird nicht von einer älteren Autorität inszeniert, sondern muß von der (nun erwachsenen) Generation der Liebenden selbst aktiv erreicht werden. Durch das zweite Paar ergeben sich im Verlauf des Stücks vielfältige symmetrische wie asymmetrische Beziehungsmöglichkeiten, die Goethe zu einer Geometrie der Liebe gestaltet. Rosas Verhältnis zu Valerio wird von Goethe strekkenweise mit Parallelen zu dem von Elmire und Erwin versehen: In beiden Paaren ziehen sich die Männer als Reaktion auf das >Fehlverhalten< der Frauen von ihnen zurück, und die Frauen müssen sie suchen und wiedergewinnen. Goethe hat dieses >Fehlverhalten< spiegelbildlich gruppiert: Wo sich Elmire zu spröde verhält, d.h. zu wenig emotionale Teilnahme zeigt, ist Rosa zu eifersüchtig, von zu vielem emotionalen Engagement beherrscht. Aus der eindimensionalen Struktur der ersten Fassung wird somit ein doppelter Weg, in dem zwei Fehlverhalten korrigiert werden, die sich symmetrisch um eine imaginäre richtige Mitte der Leidenschaften gruppieren. gesehen worden. Im Gegenteil hat es sich dort zu einem Topos verfestigt, die frühen Fassungen von >Erwin und Elmire< und >Claudine von Villa Bella< als gelungener oder interessanter als die späteren zu betrachten; vgl. etwa die Äußerungen von Ursula Pellaton-Müller über die zweite Fassung des >ErwinEgmont< plaziert wurde:6i Die 59
So ließ etwa die Schauspielerin Friederike Unzelmann für eine Berliner Auffuhrung der >Claudine< alle Rezitative neu in Prosa abschreiben, um eine »natürliche« Deklamation zu erreichen; vgl. MA 3.1, S. 892. Zu den Axiomen von »natürlicher« vs. »künstlicher« Deklamation vgl. Fischer-Lichte 1988, Bd. 2. Auch Vulpius änderte für eine Aufführung in Weimar am 30.5.1795 diese Dialoge in Prosa um (vgl. MA 3.1, S. 892 sowie die Dokumente S. 894^). - Ob Goethe selbst die Blankverse als Rezitative komponiert haben wollte, ist nicht genau dingfest zu machen; möglicherweise sollten sie gesprochen werden. Reichardt schwankt bei seinen beiden Vertonungen bezeichnenderweise: In >Claudine< sieht er gesprochene Dialoge vor, in >Erwin und Elmire< sind dagegen alle Texte als Rezitative komponiert. Wenn man jedoch wie fast die gesamte Forschung - vom Einfluß der italienischen Buffa auf Goethes Umarbeitungen ausgeht, dann müßte man wohl Goethe die grundsätzliche Konzeption als Rezitative unterstellen. (Darauf deutet auch eine späte Äußerung Goethes in einem Brief an Anton [?] Polzelli, 24.5.1814; vgl. MA 3.1, S. 899.) Van Ingen weist auf eine andere Möglichkeit hin: Die Blankverse sind nach seiner Meinung auf die »Rezeption der Singspiele als Lesedramen« bezogen (1990, S. 122; damit widerspricht van Ingen allerdings selbst seiner These vom literarisch minderwertigen Charakter der Zweitfassungen). 60 Dies wird auch schon in einer Rezeption der Neuen ADB zu Reichardts Vertonung kritisch bemerkt: »Göthe's Poesie, deren hoher dichterischer Werth übrigens längst entschieden und allgemein anerkannt ist, scheint uns für Musik doch nicht durchgängig bequem zu seyn.« Es sei v. a. schwierig für den Komponisten, »in den ziemlich langen Recitativen nicht matt und langweilig zu werden.« (Neue ADB 11/2, 1794, S. 544f.) 61 Schon die frühe Fassung ist in einigen Punkten wesentlich regelmäßiger als etwa Goethes zeitgleicher >Götz von Berlichingen«; v.a. bewahrt sie die Einheit der Zeit und der Handlung. Dies stellt weniger eine »auffallende Rückkehr zur Regelpoetik« dar (Meyer igSoa, S. 149), sondern verdankt sich dem Vorbild der Opera-comique, das — wegen des retardierenden Charakters der Musikeinlagen — auf einer schlichten, einsträngigen Handlung und niedrigem dramatischen Tempo beruht, woraus sich die Einheiten fast von selbst ergeben (vgl. die obige Analyse zur >JagdSprechdramen< analog.64 Damit rückt Goethe demonstrativ von allen »Natürlichkeits«-Postulaten ab und greift eher auf die stilisierte »Künstlichkeit« der französischen tragedie classique bzw. der italienischen Oper zurück. Das aufklärerische Natürlichkeitsgebot wird dadurch von einem angeblich überzeitlich-universalen Prinzip (vgl. Teil III) zu einer spezifisch historisch-ideologischen Erscheinungsform. Eine Rezension der beiden Neufassungen zeigt, daß dies von den Zeitgenossen klar verstanden wurde: Wie es scheint, haben unsern Dichter die Gründe einiger Kunstrichter, die die Verse ganz aus dem Drama hinausvernünfteln, nicht überzeugt. Freylich ist das Publikum des Verses auf dem Theater entwöhnt, aber man gebe ihm nur vortrefliche Stücke darin, und es wird sich bald und gern wieder daran gewöhnen/'5
Zugleich aber tragen die versifizierten Rezitative konkret zur Veränderung der musikdramaturgischen Konzeption bei: Das Gefalle zwischen gesprochenem Dialog und Gesang wird durch die stilisierte Verssprache der Rezitative verringert, das ästhetische Problem des ständigen Bruches zwischen gesprochener Sprache und Musik abgemildert. Die musikalischen Nummern sind nicht mehr überwiegend retardierende Einlagen, sondern werden tendenziell in die dramatische Entwicklung eingebunden; sie sind jetzt (nach italienischem Vorbild) in die dramatische Aktion integriert, lösen sie aus oder treiben sie weiter und stellen Bezüge über das Werk hin her. Damit aber entfällt eine der Grundlagen der alten Singspielstruktur, die gerade auf der konstitutiven Differenz von Lied und Sprechtext beruhte; eine andere Dramaturgie entsteht.66 Auffällig ist zum Beispiel, wie Goethe das asymmetrische Potential der Terzett-Form zu einer Art Geometrie der Liebe nutzt. Wo die erste Fassung nur zwei Terzette in der Schlußszene aufwies, enthält die zweite Fassung jetzt drei Terzette und ein abschließendes Quartett/'7 Während die ersten beiden Terzette 64
65
66
67
Vgl. dazu Holtbernd 1992, S. 54f und Meyer igSoa, S. 157^, der dies kritisch als Entfremdung von der theatralischen Praxis deutet. Meyer geht jedoch von der grundsätzlich falschen These aus, die frühen Fassungen (die noch vor Goethes Weimarer Zeit entstanden) verdankten ihre Struktur der sozialen Position eines höfischen Poeten im »Bekanntenkreis der Residenz«, aus der die späteren Fassungen dann die Wendung an ein anonymes Lesepublikum vollzögen. So wie die frühen Fassungen keine höfische Kunst sind, sondern in Frankfurt entstehen, so sind auch die späteren Neufassungen nicht primär entfunktionalisierte Lesetexte für anonyme bürgerliche Buchkäufer. Gothaische gelehrte Zeitungen, 6.9.1788. Zit. n. Braun (Hg.) 1883-1885, Bd. 2, S. 22. Zur (topischen) Abqualifizierung des aufklärerischen »Kunstrichters« vgl. u. III.2. Dies übersieht Meyer 19803 grundlegend, der für Goethes gesamte Libretti die liedbetonte Dramaturgie der frühen Fassungen ansetzt (vgl. S. I53ff.). Vgl. allg. Kunze 1984, S. i84ff. Die Ausweitung der Bedeutung von Ensembles spiegelt die Beschäftigung Goethes mit der Opera buffa, für die die Ensembles konsitutiv sind.
484
in Szene I 2 jeweils das Paar Rosa/Valerio gemeinsam gegen Elmire stellen, stehen am Ende der Szene I 2 in »Ich muß, ich muß ihn sehen« (V. 3i9ff.) Elmire und Valerie gegen Rosa, wobei nun Rosa, wie zuvor Elmire, ihren Gesangstext antithetisch auf den des Duos bezieht.68 Die zweite Fassung vertieft und verdichtet durch die Figurenkonsteüationen die dramaturgische Bedeutung des Gesangs erheblich, indem sie ihn auf mehreren Ebenen in das Geschehen integriert und durch die strukturellen Bezüge zu den vorausgehenden Terzetten eine zusätzliche Verweisebene schafft. Dieses Terzett beantwortet das erste, indem es hier eine neue Paarung durchspielt, was Rosa konsequent zum Eifersuchtsausbruch bringt. Zwischen den Terzetten entsteht ein neues Netz asymmetrischer Bezüge, das es in dieser Art in der frühen Fassung nicht gibt und die das Werk als ästhetische Einheit verklammern.69 (Zugleich bündeln die Terzette auf der Figurenebene die beteiligten Figuren im Akt des gemeinsamen Singens trotz divergierender, ja konfligierender Positionen. Die Terzette signalisieren damit, daß diese Differenzen auf einer abstrakteren Ebene aufgehoben werden können. 70 ) Auf die Paarungen Valerio-Rosa und Valerio-Elmire folgen dann die (Duett-) Paarungen Rosa-Elmire bzw. Valerio-Erwin, erst in der Auflösung am Schluß dann die >korrekten< Paare Elmire-Erwin und Rosa-Valerio. Bis auf das Paar Rosa-Erwin sind somit alle möglichen Paarungen realisiert, jeweils drei pro Akt und mit achsensymmetrischen Bezügen.71 Zu der engeren dramaturgischen Verankerung der Musik trägt bei, daß die Figuren selbst den Einsatz der Musik reflektieren; die Figuren denken über ihre Empfindungen nach und können erst darüber ihr Verhalten ändern.72 Musik dient nicht mehr zum spontanen Ausdruck des Herzens, sondern als Mittel, mit dieser Emotionalität umzugehen. Daher fällt am entscheidenden Punkt der Anagnorisis (V. 857^) sowohl die Pause der Erstfassung weg als auch die Regieanweisung »Die Musik wage es, die Gefühle dieser Pausen auszudrücken« (s. o.). Was in der Erstfassung noch relativ unbeholfen aus der literarisch-drama68
69
70 71
72
In der Erstfassung war dieser Gesangstext als Duett Bernardo-Elmire angelegt, das Elmires heftigen Wunsch, den Eremiten zu sehen, exponierte und somit ihr Eingehen auf Bernardos Plan signalisierte. Die ursprüngliche Duettstruktur ist in der zweiten Fassung dadurch gewahrt, daß Elmire und Valerie sich allein glauben (und den alten Duett-Text singen), während sie von Rosa (mit neuem Text) beobachtet werden. Für Goethes Denken von der ästhetischen Einheit eines Werks her vgl. — in anderem Kontext — seine mahnende Bemerkung an Kayser: »doch erinnre ich Sie nochmals ehe sie es [>Jery und BätelySchuld< freispricht. Die Forschung hat in ihrer Fixierung auf (nie begründete) »literarische« Wertungskriterien diese Ausdeutungen der zweiten Fassung als Beleg für die angebliche Verminderung ihrer literarischen Qualität herangezogen: Der Dialog zerstöre »die ursprünglich zarte Andeutung« des Liedes (van Ingen 1990, S. 119). Damit aber ist der dramaturgische Stellenwert der Änderung, die neue Funktion des Liedes, völlig verkannt. Holtbernd 1992, S. 7 7 ff. 487
setzt, um Gefühle auszudrücken und zu verdeutlichen, schafft die Musik in der zweiten Fassung genau das Gegenteil: Sie bildet den Raum, in dem sich die Emotionen erst undeutlich bilden und indirekt klären können. Genau hier liegt m.E. die funktionale Differenz zum reinen Sprechtheater, dem diese Ausdrucksebene nicht zur Verfügung steht - und damit der innere Grund für die Konzeption des Werks als Singspiel. Die Erkenntnis dieser Gestaltungsmöglichkeiten über das deutlich verbal Fixierbare hinaus bildet m.E. den Hintergrund für die hartnäckige Faszination, mit der Goethe immer wieder sich am Musiktheater abarbeitete.
2. Wege aus der Empfindsamkeit? >Claudine von Villa Bella< 2.1. Die erste Fassung (1773/76) Die Erstfassung von >Erwin und Elmire< erwies sich als relativ erfolgreiches, häufig vertontes Werk, das offenbar den Ton der empfindsamen Gattung traf.80 Trotz dieses Erfolgs versuchte Goethe mit seinem folgenden Libretto (>Claudine von Villa BellaPrototyp< zu kopieren — so wie er auch auf den Erfolg des >Werther< den völlig anders gearteten Entwurf von >Wilhelm Meisters theatralische Sendung< folgen ließ. Die übliche Etikettierung der >Claudine von Villa Bella< als »Schwesterwerk« von >Erwin und Elmire< (z.B. bei Borchmeyer) täuscht darüber hinweg, daß Goethe in der Erstfassung der >Claudine< dramentechnisch ganz andere Wege einschlägt. Ging >Erwin und Elmire< von der französischen Opera-comique aus, so steht hinter der >Claudine< ein neues Muster: das spanische Theater der >Mantelund DegenMein Bruder in Apoll*. Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim. 2 Bde. Göttingen 1996, Bd. 2, S. 81). In Berlin erlebte das Stück bis 1782 22 Aufführungen (vgl. Litteratur- und Theater-Zeitung. Berlin 1782, Theil 3, S. 811); zum Bühnenerfolg vgl. (unvollständig) M A 1.2, S. 7Odff. sowie Bauman 1985, S. 155: »In the next three years it was set more times than any German libretto before it.« (Für den Erfolg des Werks spricht auch die oben Anm. 35 erwähnte Parodie.) Dies betont schon J. J. Eschenburg in seiner ADB-Rezension (31/2 [1777], S. 494). Weiteres Material dazu in Borchmeyers Kommentar FA I 4, S. iO27ff. Eine konkrete Quelle hat sich gleichwohl bis heute nicht dingfest machen lassen.
488
sinnungen mit vagabundischen Handlungen als ein glückliches Motiv für die Bühne betrachtete, das zwar in spanischen Gedichten nicht selten ist, aber uns neu war zu jener Zeit [ ].« 82 >Claudine von Villa Bella< zeigt also den bewußten Versuch Goethes, allmählich ausgetretene Wege einer Erfolgsgattung zu vermeiden und ihr neue Impulse hinzuzufügen. Zum mitteldeutschen Singspiel vom Schlage Weißes oder Andres mit seinen häufigen kleinbürgerlichen Bühnenfiguren, das der späte Goethe verächtlich als »Handwerks Opern« abqualifiziert, versucht die >Claudine von Villa Bella< einen innovativen Gegenentwurf. Das neue Muster, das nicht aus dem Bereich des Musiktheaters stammt, bewirkt ein völlig anderes Gewicht »äußerer« Handlungselemente als in >Erwin und ElmireClaudine von Villa BellaDichtung und WahrheitErwin und ElmireAuserlesene[n] Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur< (Lemgo 1776; s.u. Anm. 103) stößt sich seitenlang an der Freiheitsrede Crugantinos, formuliert eine moralinsaure Erwiderung darauf und bezeichnet sie als »erneuertet ] Beleidigung der menschlichen Ideen vom Guten und Bösen«, mit der Goethe, ebenso wie mit dem polygamen Schluß der >StellaDon GiovanniErwin und ElmireErwin und Elmire< den alleinigen Raum der jungen Generation bildete, erhält hier nun Konkurrenz durch die DonJuan-Figur Crugantino. Damit führt das Stück eine Debatte über die empfindsame Konzeption von Emotionalität, die über das Generationen-Modell von >Erwin und Elmire< weit hinausgeht. Dabei weisen die empfindsame Emotionalität Pedros und Claudines und die des freien Vaganten Crugantino zunächst einige Übereinstimmungen auf: Sowohl Empfindsame wie Abenteurer stehen in Opposition zur gesellschaftlichen Normalität. Die empfindsamen Figuren schwärmen vom Rückzug in die nicht sozial reglementierte Natur (vgl. Dialog Pedro-Claudine S. 86f), während der Vagant diesen Rückzug aus der Gesellschaft tatsächlich realisiert.90 Crugantinos Position erscheint als Radikalisie-
89
90
zwischen drei Männern, die sie zu dominieren versuchen. Die Vater-Tochter-Besetzung wird immer wieder thematisiert; man beachte etwa die versteckte Drohung des Vaters (S. 100) unmittelbar vor dem ersten heftigen Flirt Crugantinos. Besonders ausgeprägt durchzieht sie dann den gesamten Schluß und zeigt sich drastisch im Ringen der Männer um die leblose Claudine. — Zur Relevanz dieses Themas im zeitgenössischen Familiendrama vgl. Horstenkamp-Strake 1994. Die Vater-TochterThematik ist in Goethes Dramatik ausgesprochen selten, während sie in der Erzählliteratur v. a. des 19. Jahrhunderts häufig zu einem der großen Themen entfaltet wird (z.B. bei E. Th. A. Hoffmann oder Adalbert Stifter). Ähnlich wie in >Erwin und Elmire< erlaubt es der indirekte Raum des Gesangs Claudine, ihr Problem zu artikulieren, während sie im Dialog Pedros Avancen meist direkt abblockt. Ähnlich wie in >Wilhelm Meisters theatralische Sendung« wird auch für den normabweichenden Crugantino eine Art Kindheitspsychologie angeboten (vgl. Sebastianos Bericht S. 83). Hier gerät das zeittypische Interesse an individualpsychologischen Zusammenhängen in das Stück; es wird ebenso wie im Falle des >Wilhelm Meister« dann in der späteren Fassung wieder ausgeschieden zugunsten der betonten Kunstgestalt. 491
rung der empfindsamen Potentiale. Doch die Existenz des Vaganten dekouvriert gleichzeitig die empfindsame Vision als bloße, ohnmächtige Wunschprojektion, die letztlich den Normen der gemiedenen Normalität verpflichtet bleibt. Deshalb wird der Vagant von den Empfindsamen heimlich bewundert und zugleich bekämpft, bezeichnenderweise in erster Linie wegen seines Liebeslebens. (Umgekehrt erweist sich jedoch auch das Vagantenleben intern als der Normalität ähnlicher als geglaubt: Crugantino findet es schlicht »eine Langeweile, ein ewig Einerlei«; S. 93). Wird die Gültigkeit der empfindsamen Position durch die konkurrierende Ausstrahlung des Vaganten bereits reduziert, so werden die Schwierigkeiten der beiden empfindsamen Figuren zusätzlich komisch gebrochen durch die beiden neidischen Nichten Sybille und Camilla, zwei kleine Möchtegern-Intriganten aus dem Arsenal der Typenkomödie. Pedro erscheint aus deren Sicht als »Schulknabe«, »Hündgen« und »Äff«, »langweiliger träumiger Mann«, Claudine als »zärtliche Dulzinee«.91 Auch sie stellen Crugantino konkurrierend dagegen, dessen Position keine komischen Brechungen erfährt. Das empfindsame Liebeskonzept wird schließlich auf der Ebene des Stücks selbst komisch gebrochen, am deutlichsten in der »Mondschein«-Szene: Pedro hält hier den Nachtigallenruf, das vereinbarte Warnzeichen der Vaganten, für »Natur« und stimmt eine Liebesarie an, bei der die Nachtigall als Symbol seines Herzens firmiert (wodurch er den auf dem Baum sitzenden Crugantino am Stelldichein mit Claudine hindert, S. 96). Dadurch, daß Pedro — im Gegensatz zum Zuschauer — Zeichencharakter und Situationsbezug des Nachtigallenrufs nicht erkennen kann und die künstliche Nachtigall für Natur hält, wird er zur lächerlichen Figur. Pedros (als solcher nicht intern parodistisch gebrochener) empfindsamer Liebes-Schmerz-Kult wird durch den situativen Kontext lächerlich gemacht; dieses Verfahren baut Goethe etwas später zum Grundprinzip der »dramatischen Grille« >Triumf der Empfindsamkeit< (1777/78) aus. Wenn dagegen Crugantino das erste Mal in Person auftritt, ist sein Bild als Verkörperung des »ganz Anderen« bereits vorbereitet, die Neugier auf ihn dramentechnisch gesteigert.92 Crugantino tritt dabei jedoch nicht nur als Vagant auf, sondern zugleich als Sänger. Die »Mädeln« erringt er durch sein »Lied«, in dem sich seine Emotionalität scheinbar frei ausspricht. Damit kommt eine Facette ins Spiel, die bislang, bei der indirekten Charakterisierung '-" MA 1.2, S. 89. Die »Dulzinee« enthält wieder einen Hinweis auf den »spanischen« Hintergrund des Werks. 92 Die Struktur, daß eine wichtige Figur erst auftritt, nachdem sie bereits aus der Perspektive anderer Figuren gekennzeichnet wurde, ist für Goethes Singspiele fast schon topisch. Ihr bevorzugter Platz ist der Beginn des II. Aktes (bzw. analoge Positionen in Stücken ohne Akteinteilung); dort treten erstmals auf: Erwin, Crugantino/Rugantino, der Doktor in >Scherz, List und RacheUngleichen Hausgenossen< sowie Lila. 492
Crugantinos, noch keine Rolle spielte. Seine schöpferische und zeugende Kraft beschränkt sich nicht auf die Frauen, sondern umfaßt auch die künstlerische Ebene. Crugantino behauptet dieses Künstlertum nicht nur, sondern realisiert es sofort: Als Sänger gelingt dem Vaganten rasch die Kommunikation mit Claudine. Schon das erste Aufeinandertreffen beider ist als Duett gestaltet, in dessen Schlußstrophe sich beide zu gemeinsamem Singen vereinen.93 Die Musik bildet auch in der Folge die Brücke zwischen Crugantino und Claudine (s.u.). In seinen Liedern gelingt es Crugantino dann z.B. im Schloß, trotz der prekären Situation vor allen anderen Figuren verdeckt um Claudine zu werben und seine Gefühle für sie zum Ausdruck zu bringen. Gonzalo, der sich so sicher Herr über Claudines Emotionalität fühlt, bringt dies auch noch »scherzend« explizit zum Ausdruck (S. ), begreift Crugantinos Lied aber lediglich unter dem Aspekt seiner Kunstgestalt:94 Es kommt zum Exkurs über das richtige Lied, die »natürliche« Volkspoesie.95 Was Crugantino dann vorträgt, die Ballade vom »Buhlen«, ist nach dem Muster von G. A. Bürgers populärer >Lenore< gestaltet und knüpft zugleich an die beliebte Form der Romanze im Singspiel an.96 Crugantinos Schauerballade bildet einen raffiniert kalkulierten Wendepunkt der Szene: Sie wird schon zu Beginn wirkungsvoll unterbrochen durch die Schlüsselszene des einen Handlungsstranges (Sebastiane erkennt Crugantino); ihrer internen Spannungssteigerung entspricht dann die gehäufte Unruhe des pantomimischen Geschehens. Zudem löst der Abbruch der Ballade auf dem Gipfel ihrer internen Spannung einen Höhepunkt dramatischer Aktion aus 93
94
95
96
S. 9jf. Das Duett zwischen Pedro und Claudine S. Syf. bleibt dagegen bis zum Schluß solistisch-antithetisch und wird erst durch die hinzukommenden Nichten zu einem gemeinsamen Quartett ausgebaut. Goethes Verfahren, Gonzalo indirekt dadurch zu charakterisieren, daß er das Werbungslied lediglich als Kunstlied betrachtet, ohne dessen situative Konnotationen zu beachten, hat eine Parallele in der ersten Arie des Jery in >Jery und BätelyErwin und Elmire< nimmt dabei der Vater Gonzalo die Partei der Natur gegen die verzärtelten, »verwirrten« Lieder der zeitgenössischen »schönen Geister« ein. Der Altaristokrat erscheint als Rousseauist (»Das natürlichste, das beste!«), zugleich wird aber auch das reaktionäre Potential dieser Schwärmerei deutlich: Im Volkslied heben sich für Gonzalo die Ständeschranken zu einer diffusen Einheit der »Natur« auf (Bauern und Herren singen dasselbe »natürliche« Lied, S. ioif.), wodurch die Ständeordnung gerade stabilisiert wird. Zugleich macht Goethe mit dem Exkurs den Modecharakter der zeitgenössischen Volksliedbegeisterung deutlich (vgl. dazu, etwa bei Herder, Teil III.3). Vgl. dazu Borchmeyer in FA I 4, S. 1029^ >Lenore< erschien erstmals im Göttinger Musenalmanach 1774 und ist ihrerseits von Goethes »Götz von Berlichingen< beeinflußt. Zugleich nimmt Goethe damit auch die ältere Tradition der Romanzen vom Typ etwa der >Marianne< von Gleim (1756) auf, die seit Weiße auch gerne in das deutsche Singspiel integriert werden (vgl. o. II.i und II.6). Man muß also von einer mehrfachen Wechselwirkung zwischen den Formen der populären Lyrik und der Massengattung Singspiel ausgehen.
493
(Claudines erste Ohnmacht, hektische Wiederbelebungsversuche, Sebastianos Eindringen und die große Kampfszene).97 Die Spannungsbögen der Ballade selbst und der sie umgebenden Situation sind wirkungsvoll parallel geführt. Auch die folgende Szene ist durch einen linearen Spannungsbögen gekennzeichnet, der auf dem Höhepunkt durch einen ähnlichen Abbruch der Musik gekennzeichnet ist. Crugantinos Attacke auf die verkleidete Claudine erweitert sich über Pedros und Baskos Eingreifen vom Duett über das Terzett zu einem aktionsdominierten Quartett. Auf dem Höhepunkt der Aktion sieht Goethe zunächst reine Musik und Pantomime vor (»Tutti«, S. 113) - er gibt erneut auf einem dramatischen Höhepunkt die Kompetenz der Sprache ab (ähnlich wie bei der Anagnorisis-Szene der Erstfassung von >Erwin und ElmireEntfuhrung< (III 4) redet Pedrillo Cupido als »du mächtiger Herzensdieb« an. Gelegentlich, aber eher selten findet man Cupido in der Oper des 18. Jahrhunderts als bewaffneten Verteidiger der Standhaftigkeit dargestellt (etwa in Glucks >Orfeo< oder Gretrys >CephalusCosl fan tutte< — wo sonst ... (vgl. dazu Edmund J. Goehring: Despina, Cupid and the pastoral mode of Cost fan tutte. In: Cambridge Opera Journal 7 (1995), S. 107-133). Damit ist selbstverständlich nicht unterstellt, Goethes Cupido sei ein bewußtes Zitat aus der Traditionsreihe der Oper; schließlich gibt es auch eine mindestens ebenso lange literarische Traditionsreihe, die sich in der anakreontischen Lyrik nach 1750 ebenso wie später etwa in Goethes >Römischen Elegien< niederschlägt. Dennoch scheint mir unwahrscheinlich, daß Goethe (gerade in Italien) die Bezüge der Cupidofigur zur italienischen Operntradition nicht bemerkt haben sollte. 500
Lied zusätzlich noch eine weitere Ebene der Intertextualität: Für die wenigen Eingeweihten in Weimar, die die Genese des Gedichts kannten, rückt Rugantino durch das Lied in eine Parallele zum Autor Goethe selbst (— dem entspricht im Stück selbst die Verstärkung der Kennzeichnung Rugantinos als »Dichter«" 3 ), auch wenn sich Goethe Mühe gab, diese Ebene beim CupidoLied durch sein zerstückelndes Verfahren zu verwischen. 1 ' 4 Neben der Tendenz zur Allegorie bildet das oben erwähnte Bündel von Oppositionen die zentrale neue Ebene, die dem Stück in der Umarbeitung hinzugefügt wurde. Der neu thematisierte Gegensatz von »Ehre« und »Liebe« ist die konstitutive Opposition der höfischen französischen Barockoper schlechthin (gloirevs. amourY^ und findet sich auch zentral in der metastasianischen Opera seria. Goethe knüpft somit auf einer Meta-Ebene nun auch an die Gattung der großen Oper selbst an. Pedro vertritt zunächst eine Position, die dieser älteren höfischen Haltung entspricht: »Der verdient/ Die Liebe nur, der um der Ehre willen/ Im süßen Augenblicke von der Liebe/ Entschlossen-hoffend sich entfernen kann.« (V. 347ff.) Diese Haltung gerät aber bereits in Pedros unmittelbar anschließender Arie ins Wanken (V. 351-371). Die Unregelmäßigkeiten und Irregularitäten dieses Textes sprechen Bände: Während die beiden ersten Strophen noch durch (wenngleich intern bereits bemerkenswert unregelmäßige) Reime und vierhebige Trochäen eine scheinbar harmonische und stabile Position der »Ehre« aufbauen, bricht sich in der dritten Strophe etwas ganz anderes Bahn - eine sprachmusikalische Sinnlichkeit der Liebe: »Aber aus dem stillen Walde,/ Aus den Büschen/ Mit den Düften,/ Mit den frischen/ Kühlen Lüften,/ Führet Amor,/ Bringet Hymen/ Mir die Liebste, mir die Braut.« Hier werden ganz andere literarische Mittel als in den Anfangstrophen der »Ehre« eingesetzt: Vokalassonanzen (»ü/y«- und »i«-Vokale ), Anaphern, Parallelismen membrorum. Die Sprache thematisiert nicht nur andere Sinneswahrnehmungen als den abstrakten »Ruf der Ehre«, sondern erreicht auch selbst eine Klangsinnlichkeit, die ihresgleichen sucht. Die abschließenden, erneut anders gebauten Strophen betonen jetzt deutlich den Konflikt, den die Sinnlichkeit in Pedro ausgelöst hat.
111
Vgl. z.B. V. 399ff., die Orpheus-Anspielung V. 798f., die Maskierung als Dichter V. 885ff. etc.
"4 Vgl. Anm. 109. Besonders auffällig ist die stilistische und inhaltliche Nähe des Lieds zu den zeitgleichen >Römischen Elegien< Goethes mit ihren starken autobiographischen Dimensionen. "' Vgl. Jahn 1996. 1 ln Sieht man einmal vom Strophenanfang ab, so sind die einzigen Wörter dieser Strophe, die von der »ü«-/»i«-/»e«-Klanglichkeit abweichen, »Amor« und »Braut«. Hier ist (ohne zu forcieren) eine Dichte des Bedeutungsaufbaus durch Struktur erreicht, die kaum mehr steigerbar erscheint. 501
Auch auf der Ebene der Vaganten sind diese Oppositionen gestaltet. Basco wirft Rugantino vor, seine Pflichten gegenüber der Vagantengruppe wegen seiner Liebe zu vernachlässigen (V. joyff.). Der Konflikt von Liebe und Treue bildet dann den entscheidenden Punkt, an dem sich Basco und Rugantino scheiden. Wo Basco das alte Don-Juan-Ideal der Liebe ohne feste Bindungen verficht (V. 47iff.), will Rugantino seine Geliebte Lucinde entführen, um Treue und Liebe zu vereinen. Vergebens versucht Basco, ihm die Realitätsferne dieses Vorhabens klar zu machen; stattdessen spaltet Rugantino damit die Welt der Vaganten, ermöglicht aber gerade dadurch den positiven Ausgang des Stücks. Weder Pedro noch Rugantino können den alten Oppositionen folgen, die Ehre gegen Liebe stellen. Goethe benutzt die älteren Grund-Oppositionen der großen Oper als Folie, um gerade daran das Besondere der neuen Emotionalität zu zeigen, das solche Oppositionen nicht mehr zuläßt. Das Weltmodell ist universal: Die opake Macht der Emotionen betrifft jetzt, anders als in der Erstfassung, Pedro ebenso wie Rugantino, und die Probleme auf der höfischen Seite sind auch die der Vaganten. Aus den aneinandergereihten, kurzen Spannungsbögen der Erstfassung wird jetzt tendenziell ein großbogiges, abgeschlossenes »Werk«, dessen Tektonik ein hohes Maß innerer Bezüge aufweist. Der »geschlossenen« Struktur entspricht u.a. auch, daß alle Figuren jetzt dieselbe Sprache sprechen: Selbst der Vagant Basco spricht in Bibelgleichnissen und kunstvollen Bildern (vgl. V. 478ff.). Es geht nicht mehr um irgendwie geartete Mimesis einer Alltagswelt, sondern um klargelegten Kunstcharakter. Dies wird gerade bei der Schauerballade (vgl. V. 903ff.) auf die Spitze getrieben, die nun handlungsbezogen wie strukturell wesentlich vielfältiger verknüpft wird als in der ersten Fassung, wo sie mehr ein Kabinettstück als ein funktionales Element des gesamten Werks darstellt. Goethe macht an ihr nun eines der konstitutiven Elemente des Musiktheaters transparent: daß es eine andere Zeitstruktur hat als reines Sprechtheater, daß es mehr Zeit braucht als dieses, um vergleichbare Prozesse zu entwickeln. Anders als in der Erstfassung inszeniert Rugantino diese Ballade selbst, um Zeit zu gewinnen; daher wird die Ballade auch, anders als früher, nicht zwischen den Strophen unterbrochen, sondern erst am Höhepunkt abgebrochen. Dramenintern ist die Ballade somit mehrfach motiviert: Sie hilft Rugantino, Zeit zu gewinnen, damit aber erfüllt er zugleich, ohne es zu wissen, das Kalkül Alonzos, ihn im Haus zu halten. Im äußeren Kommunikationssystem macht Goethe gleichzeitig die Ballade für die Zuschauer als Inszenierung transparent; der langsamere Zeitverlauf beim Singen wird hier selbstreflektiert und handlungsstiftend eingesetzt. Zur Selbstreflexion der Gattung nutzt Goethe auch im Schlußakt diverse Möglichkeiten, so etwa, wenn er den Vaganten Basco Angst vor einem »schalen« Schluß formulieren läßt: »Und wie man sonst ein theatralisch Werk/ Mit Trauung oder Tod zu enden pflegt;/ So, furcht' ich, unser schwärmend lustig Leben/ Wird sich mit einer schalen Ordnung schließen.« (V. 1365^^) Die Ge502
fahr besteht in der Tat, weil die zweite Fassung anders als die erste zielstrebig auf die Reintegration Rugantinos in die Ordnung angelegt ist. Goethe vermeidet jedoch die Restitution einer »schalen Ordnung«, indem er Basco nicht diesen Weg gehen läßt. Was in der ersten Fassung nicht möglich war, weil dort Basco- und Rugantino-Funktion in der Crugantino-Figur widersprüchlich vereint waren, ist in der zweiten Fassung durch die Aufspaltung auf zwei Figuren möglich geworden: Die Reintegration in die Ordnung bei gleichzeitigem Offenbleiben für Alternativen. Weil der Deus-ex-Machina Sebastiane entfallen ist, zeigt das Stück nun (ähnlich wie bei >Erwin und ElmireClaudine af Villa BellaDie Fischerinn< und >Jery und BätelyScherz, List und Rache< (1784—1789) Anders als in den Neufassungen der älteren Stücke bezieht sich Goethe in >Scherz, List und Rache' 37 < offen auf das Vorbild der italienischen komischen Formen von Intermezzo und Opera buffa, die längst zur erfolgreichsten Thea134
135
136
137
Neben >Erwin und Elmire< und >Claudine von Villa Bella< arbeitet Goethe Ende der I78oer Jahre noch weitere frühe Werke um: >Lila< sowie >Triumf der Empfindsamkeit und die Schweizer Operette >Jery und BätelyJery und Bätely< wiederum neue Aspekte thematisiert (z. B. die Differenz von »Lied« und »Arie«; vgl. a. den wichtigen Brief Goethes an Kayser vom 29.12.1779 Anm. 10). Zu >Jery und Bätely< vgl. Holtbernd 1992, S. 27 — 50; Kempf 1992; Pazarkaya 1988. Karin Pendle (The transformation of a libretto: Goethes Jery and Bätely. In: Music and Letters 55 (1974), S. 7788) behandelt v. a. das Weiterleben dieses Singspiels bei Adolphe Adam und Eugene Scribe 1834; leider geht sie dabei nicht auf die interessante frühe Oper Gaetano Donizettis (>BetlyFischerinn< mit ihrer gezielten Anlage für den Tiefurter Park) erfüllen Meyers Kriterium der funktionalen Bindung an einen bestimmten Hof. Auch seine Behauptung, Goethe habe sich »erstmals in Weimar« intensiv mit dem Singspiel beschäftigt (ebd.), ist falsch. Ich benutze im folgenden die Verszählung nach MA.
508
tergattung Europas aufgestiegen waren. Nicht in >Erwin und Elmire< oder in >Claudine von Villa Bellas sondern in >Scherz, List und Rache< versuchte Goethe, eine deutsche Opera buffa zu schaffen. Ii8 Goethe betont diesen Zugriff, indem er das Werk aus Elementen und Konstellationen der Commedia deü'Arte aufbaut, deren Tradition auch die Grundlage für Intermezzo und Opera buffa bildet. 139 In Goethes Zugriff auf die Commedia dell'Arte aber scheinen untypische Problemfelder durch, die auch in anderen Werken Goethes gestaltet werden: Krankheit, Wahnsinn' 40 und Heilung - jetzt aber weder empfindsam noch tragisch gestaltet, sondern als vorgespielte Inszenierung. Zugleich baut Goethe den alten Buffa-Topos vom »Theater im Theater« konsequent aus zur Selbstreflexion der Gattung. Das Stück ist auf der Tradition von Molieres theatre Italien aufgebaut und variiert die Motive des alten verliebten Gecken und vor allem des betrogenen Betrügers. Der geizige Doktor hat die komischen Figuren Scapin und Scapine nach deren Aussage durch Erbschleicherei um eine Erbschaft gebracht, die sie sich durch eine Intrige wieder von ihm zurückholen. Die Intrige legitimiert sich somit als Selbsthilfe; gemäß einem Strukturgesetz der komischen Oper geschieht die Lösung durch moralisch zweifelhafte Mittel, die aber durch den vorausgegangenen Betrug des Doktors gerechtfertigt scheinen.' 4I Die komische Grundstruktur bildet aber nur eine Ebene des Werks, worauf Goethe selbst hingewiesen hat: Im Zentrum stehe der Umschlag von »Schalckheit zu Leidenschafft von Leidenschafft zu Schalckheit«.' 42 Dafür ist aufschlußreich, daß Goethe den Topos des Geizhalses in erotischer Sprache entfaltet. Der Doktor ist kein vertrockneter, hypochondrischer Alter (wie etwa Uberto in Pergolesis >La Serva padronaScherz, List und Rache< entfaltet Theater als permanente Aktion,' 5 0 die sich aber als Inszenierung stets selbst thematisiert. Die Technik der Informationsvergabe, die Goethe in diesem Stück benutzt, beruht zentral darauf, daß der Zuschauer über weite Strecken der Figur des Doktors homolog ist, weil er die Details der Intrige nicht kennt und sich von ihrer professionellen Entwicklung überraschen lassen muß. Die Zuschauer sind dem Doktor jedoch in einem wesentlichen Punkt überlegen: Sie kennen das Ziel und die Absicht der Scapins und wissen zugleich um den Charakter ihrer Intrige als inszeniertem Spiel. Die Komik der Doktorfigur entsteht dagegen daraus, daß er diese Inszenierung eben nicht durchschaut und für mimetische Nachahmung von Wirklichkeit, für bare Münze nimmt. Implizit führt das Stück somit auch einen Diskurs über >richtige< und >falsche< Rezeption
V. 839. Der hippokratische Eid legt gerade die ethische Verpflichtung des Arztes fest, sein Können nur zur Hilfeleistung einzusetzen. Gesteigert wird die Ironie noch dadurch, daß der Doktor im selben Atemzug auch noch Sokrates anruft, was angesichts der von ihm offensichtlich vergifteten Scapine geradezu eine freudsche Fehlleistung darstellt. Lediglich in Scapines Arie zu Beginn des IV. Aktes (V. 95off.) ist die wirbelnde Handlung durch ein eher lyrisches Element unterbrochen. Hier tritt Scapine auch für einen Moment aus der Figurentypik heraus und wird emotionaler und zärtlicher. Dies ist jedoch eine seltene Ausnahme im Stück. Kayser hat diesen seltenen Moment auf ähnlich ungewöhnliche Weise vertont: durch eine Arie mit obligatem Englisch-Horn.
von Theater, wobei die ältere rationalistische und empfindsame Position des Theaters als Widerspiegelung der Realität lächerlich gemacht wird. Dadurch, daß Goethe dies in einer Gattung des Musiktheaters entfaltet, wird zugleich auch die Verwendung der Musik zur Täuschung und Illusionserzeugung thematisiert. Die entscheidenden Stationen der Überlistung des Doktors verlaufen in den musikalischen Nummern, nicht im Dialog: Die Musik wird damit zum produktiven Mittel zur Ablösung der Nachahmungsästhetik. Das Theater wandelt sich von einem Ort des »Ausdrucks« zu einem selbstreflexiven Modell von Kunst. Insofern stehen Werke wie >Scherz, List und Rache< im selben Diskurs wie die anderen Dramen Goethes (speziell >Torquato TassoWilhelm Meisters theatralischer Sendung< zu den >Lehrjahren< zeigt, daß das Problem nicht auf die Dramen beschränkt bleibt, sondern auch im Bereich des Romans thematisiert wird. Auch dort wird aus einer zunächst psychologisch->realistischen< Kunstauffassung (vgl. etwa die Darstellung Wilhelms Kindheitsgeschichte) ein hochkomplexes, die eigene Kunstgestalt spiegelndes und thematisierendes »Werk«. Brief an Kayser vom 25.4.1785: Der Beginn des Schlußaktes bilde »das, in den letzten Ackten der Italiänischen Stücke, beliebte und hergebrachte Haupt Duett« (WA IV 7, S. 49). Dazu im Detail Holtbernd 1992, S. i72ff. unter Bezug auf Kunze 1967 und Osthoff 1968. Die Gewitterszene ist topisch in der französischen tragedie lyrique (vgl. Semrau 1993, S. 25) sowie in der Opera-comique und im mitteldeutschen Singspiel (vgl. o. II. i und II-4). Die Arie der Scapine »Hinüber, hinüber!« (V. 7i8ff.) verwendet die typischen Bilder großer Seria-Arien der Metastasio-Tradition: die sich kräuselnden Wellen, das schwankende Schiff, das Säuseln des Windes (vgl. o. Anm. 38). Derlei Stellen, die OpernTopoi aufgreifen, meinte Goethe offensichtlich, wenn er in einem meist falsch interpretierten Brief (unter Bezug auf diese Arie) behauptet, er habe »an schicklichen Orten dem Gesang die schuldigen Opfer gebracht.« (Brief an Kayser, 25.4.1785) Dies heißt gerade nicht, wie oft zu lesen, daß Goethe gewissermaßen die Logik der Handlungsdramaturgie rein musikalischen Kriterien geopfert hätte, etwa im Sinne der retardierenden Einlagen-Dramaturgie der Opera seria. Die betreffende Arie ist
512
Gegenüber der italienischen Intermezzo- und Buffa-Tradition weist das Stück jedoch auch gravierende Probleme auf, die es nun ermöglichen, die Differenz Goethes zur modernen italienischen Musikdramaturgie über das oben Ausgeführte hinaus genauer zu bestimmen. Goethe geht auch hier nicht primär von der Bühnenpraxis des Genres, sondern von literarischen Möglichkeiten und Qualitätsstandards aus. Daraus entsteht hier ein Problem, das Goethe später selbst einsah und ansprach:' 5n die Überforderung der Sänger. Das Stück ist für die geringe Zahl von drei Personen, die aus der Intermezzo-Tradition stammt, viel zu lange und zu elaboriert gestaltet. Es weist zu viele musikalische Partien auf: Scapine hat allein 13 Solo-Partien, zudem 12 Ensembles zu singen, während im Duchschnitt der zeitgenössischen Buffa drei bis vier Solo-Partien pro Partie normal sind.' 5 7 (Die musterbildenden Intermezzi von der Art der >Serva padrona< Pergolesis sind ohnehin viel kürzer, weil sie ja als Einlagen dienten.) Erschwerend kommen die langen, und (wie Holtbernd gezeigt hat' 58 ) häufig viel zu monologisch strukturierten Rezitative Goethes hinzu, die das Buffatypische Bühnentempo der schnellen Wechselreden und den charakteristischen Parlando-Stil geradezu verhindern. Das Stück erweist sich insgesamt als zu voller Aktion und engstens in die szenische Dramaturgie eingebunden; ihr Fehlen würde auch auf der Handlungsebene Verluste schaffen. - Wenn Holtbernd seine Interpretation auf der These aufbaut, Goethe habe im Scück die »Arienkonzepte« von Buffa und Seria vermischt, um die Charaktere vertiefen zu können (1992, S. 17if.), so scheine mir das in die falsche Richtung zu führen. Zum einen sind Stilelemente der Seria fester Bestandteil der Buffa und auch (seit Hiller) des Singspiels; zudem handelt es sich beim Schlußakt, auf den Holtbernds These offenbar gemünzt ist, vom Szenentyp her eben um eine Parodie, die Parodie der Unterweltsszenen der gro!3en Oper. Auch wenn die einzelnen Arien nicht alle parodiscisch zu verstehen sind, ist es doch der Szenentyp, in den sie eingebettet sind. Derartige Parodien der Szenarien der Seria aber gehören geradezu konsumtiv zum Arsenal der komischen Opernformen. Hieraus nun ein »Bemühen um die Integration von Seria-Figuren bei Goethe« (ebd.) ableiten zu wollen, scheint mir verfehlt. Auch die These von der charakterlichen Vertiefung der Commedia deü'Arte-Figuren trägt in meinen Augen nicht. Scapin und Scapine (ganz zu schweigen vom Doktor) bleiben bis zum Schluß die Masken der Commedia dell'Arte, auch wenn sie scheinbar »Arien der Empfindung« (ebd.) zu singen haben. 156 Vgl. die Äußerungen in den >Tag- und Jahres-Heften< 1819 (MA 14, S. i2f.) sowie den Eintrag in der »Italienischen ReiseUnfertig< abbrechende oder gestörte Reprisenstrukturen von Arien dagegen benutzen das konventionelle Reprisenschema von Dacapo- oder Dal-Segno-Arien als Folie, um szenische Vorgänge drastisch durch den Bruch von Erwartungen zu illustrieren.' 69 Die Arientexte versuchen häufig, die Musik zu integrieren und inhaltlich zu motivieren, am brillantesten in den inszenierten Arien der »kranken« Scapine. Vor allem in der »Paroxysmus«-Arie (V. 406ff.) ist die Musik als Auslöser der Normüberschreitungen gestaltet, jedoch wiederum ausschließlich mit rein literarischen Mitteln. 170 Insgesamt ist die Vielfalt und Flexibilität der Arien- und Duettformen, ihrer Reimschemata und metrischen Strukturen, sehr hoch getrieben, von Reprisenformen über kettenartige und rondohafte Formen bis zu szenisch bedingten,
B — B —A. Derartige Verläufe sind aus der Musik bekannt: Es handelt sich um »Krebs«-Strukturen (wobei hier der rückläufige Teil zusätzlich durch die zunehmende Beschleunigung verdichtet ist). 168 ;
170
Vgl. z.B. den Nebentext zu V. 389 oder zu V. 51 äff. Vgl. z.B. Scapines Arie V. 432—441: Die verkürzte und veränderte Reprise zeigt Scapines scheinbar völlig erschöpften Zustand. In der »Hunde«-Arie des Doktors, die mit »Wau! Wau!« beginnt (V. 759$".) entsteht durch den Nebentext eine Art verkürzter, beschädigter Reprise: Scapine gibt ihm »einen Tritt, daß er umfällt. Er bellt liegend fort und endigt die Arie« (MA 2.1, S. 449). Diese Arie ist das erste Bravourstück des »Spiels im Spiel«, bei dem Scapine ihre angebliche »Krankheit« virtuos ausspielt. Der Text gestaltet den Übergang von scheinbarer empfindsamer Melancholie in einen rasenden Veitstanz, der von der Musik selbst ausgelöst wird. Die Steigerung der Bewegung und der Leidenschaft Scapines wird durch metrische Veränderungen realisiert: Jede Strophe ist metrisch völlig anders gestaltet. Wie ein Signal dafür steht am Ende des ersten Verses bereits das die rhythmische Struktur verunsichernde Wort »Melancholien«. Die Anlage der Arie folgt der ungewöhnlichen, fünfteilig rückläufigen Form A-B-C-B-A. (Fünfstrophige Arientexte sind im Musiktheater der Zeit äußerst selten; auch dies zeigt wieder Goethes Ausgehen von praxisfernen, genuin literarischen Positionen.) Vgl. a. den Brief an Kayser vom 23.1.1786, in dem Goethe sein ungewöhnliches Verfahren expliziert und zu begründen versucht. Ganz anders liegt der Fall in der entfernt vergleichbaren OsminArie der >Entführung< (Nr. 3, s.o. II.6): Auch hier verändert sich ein Mensch aus seiner Normalität in eine Form der Raserei — doch hier wird dies allein von der Musik ins Werk gesetzt, während der Text und seine metrischen Struktur (vierhebige Jamben) gleichbleiben. - Zugleich parodiert Goethes Arientext auch wieder Topoi der empfindsamen Literatur, z.B. die »süßen Melodien« der »Nachtigall«, die in >Erwin und Elmire« noch weitgehend ungebrochen verwendet wurden.
5 l6
vielstrophigen Arien (wie etwa das gespielte Duett in der ersten Arie des Scapin I ? I ). Innerhalb der Arien setzt Goethe oft metrische Irregularitäten als Zeichen für die zunehmende Leidenschaft ein.' 72 (Wie sehr er damit gegen Normen verstieß, wird aus einer älteren Bemerkung J. J. Eschenburgs aus dem Jahr 1773 deutlich. Im Vorwort zur Ausgabe des Librettos >Basilio und Quiteria< von Daniel Schiebeier schreibt Eschenburg: »Die Arien besonders könnten grosse Verbesserung leiden. [ ] In einer Arie fünf verschiedene Versarten. Das heißt dem Componisten es recht sauer machen.« 173 Auch Kayser bemängelte dies wiederholt an Goethes Text.) Die verschwenderische Biegsamkeit der Sprache setzt sich in den Rezitativen fort, in denen Goethe nach eigener Aussage »weder den Reim gesucht noch gemieden«' 74 hat. Hier findet sich eine Fülle von Zwischenformen, die den Gegensatz von Rezitativ- und Ariensprache abmildern und aufheben. Goethes Versuche, die langen Rezitative durch unterschiedliche Metrisierungen und Reimtechniken aufzulockern und zu beleben, worauf er selbst in den Briefen an Kayser hinwies,' 75 verdanken sich dagegen wohl auch einem Bewußtsein, daß diese mitunter zu lange und schwerfällig zu geraten drohten. Dieses Problem war aber dadurch gerade nicht zu lösen, weil durch Goethes Verfahren der elaborierte und streckenweise nahezu überstilisierte Charakter des Textes nicht reduziert, sondern noch verstärkt wird. Daß Goethe dieses Grundproblem des Stücks durch genuin literarische Gestaltungsmittel zu lösen versuchte, setzt nicht nur »auf einer Ebene an [ ], die für die Buffa keine Relevanz hat«,' 76 sondern erweist sich sogar als kontraproduktiv: Es engt den Komponisten ein und verhindert den so buffatypischen Zusammenprall verschiedener Codes und Sprachschichten (bei Goethe sprechen alle Figuren des Stücks dieselbe komplexe und flexible Kunst-Sprache). In der Zusammenarbeit mit Kayser veränderte Goethe dies daher auf offenbar wiederholte Kritik Kaysers und schrieb auch einige der Arien in regelmäßigere Metrik um. 177 Zum Problem des Textes wird gerade seine hohe Selbstreferenz, seine ausgefeilte literarische Strukturiertheit und sein autonomer Kunst-Werk-Charakter. 171
172 173
174 175
176 177
V. 97ff.; Kayser setzt dieses immanente Duett durch den konsequenten Wechsel zwischen zwei Satztypen innerhalb der Arie um (Adagio-Alla breve vs. /«-Piü lento). Vgl. besonders die »Paroxysmus«-Arie der Scapine, V. 466ff. Schiebeier 1773, S. 67. Vgl. a. o. II.i, Anm. 23. Der Text wurde vertont von G. Ph. Telemann (1761). Brief an Kayser vom 25.4.1785. Vgl. besonders den Brief vom 23.1.1786, der zugleich Kaysers Einwände gegen Goethes Verfahren deutlich werden läßt. Goethe beruft sich auf Gluck und Klopstock und rechtfertigt die Wirkung der metrischen Differenzen, die sich schon einstelle, »wenn ich nur zu lesen, zu deklamieren brauche.« Erneut zeigt sich in dieser Verteidigung Goethes, wie er vom Wort und der Deklamation statt von der Musik her denkt. Holtbernd 1992, S. 177. Vgl. Brief an Kayser, 28.2.1786. 517
>Scherz, List und Rache< war dasjenige Libretto Goethes, an dem er am längsten arbeitete: von 1784 bis 1789; zudem ist es das erste Stück, das in direkter Zusammenarbeit mit einem Komponisten entstand, worauf Goethe mehrfach selbst hinwies.178 Das Problem bei dieser Zusammenarbeit aber war Goethes Dominanz gegenüber Kayser. (Die Briefe zeigen, daß Goethe mit seinen Vorschlägen die Vertonung bis in die Details festzulegen versuchte; die wiederholten Beteuerungen der angeblichen >Freiheit des Komponisten< verbrämen nur, daß genau das Gegenteil geschieht.) Goethe verhielt sich keineswegs so »selbstlos«, wie immer wieder in der Forschung behauptet wird.179 Es ging ihm nicht primär darum, Kayser am deutschen Theater zu positionieren, sondern vor allem darum, sich selbst als führende Figur einer modernen und erfolgreichen Theatergattung in Deutschland zu etablieren. Goethes Ziel war nichts Geringeres, als mit der Übertragung und Umkonzeption der europaweit erfolgreichsten Theatergattung die deutschen Bühnen zu erobern.'80 Daraus erklärt sich auch seine unwirsche Haltung zur >Entführung aus dem SerailScherz, List und Rache< in Bezug zur >Entführung aus dem Serail< und läßt in verräterischen Formulierungen einerseits großes Bedauern über das eigene
518
dürfte, auch wenn dies von Goethe nicht direkt ausgesprochen wird, auch die ausufernde Nationaltheater-Debatte182 eine Rolle spielen: der Wunsch, die Vorherrschaft der Italiener auf dem deutschen Theater zu beenden, sie sozusagen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen und zugleich deren Position zu übernehmen. Goethe versuchte ja nicht nur, ein Stück in der Art der Buffa zu schreiben, sondern diese zugleich auch zu übertrumpfen: »Es ist ein Bravourstück, haben wir keine Akteurs dafür; so mögen sie sich daran und dazu bilden.« 183 Obwohl Goethe in >Scherz, List und Rache< die Musik als Mittel immer wieder höchst effektvoll zu integrieren versteht, mußte sein Versuch einer Spitzen-Buffa von literarischem Rang jedoch scheitern, weil Goethe die dramatische Spannung nicht von den Grundlagen der Gattung, den musikalischen Möglichkeiten her aufbaut. 184 Er konzipiert auch die Buffa aus der Sicht einer Dramaturgie, die den konstitutiven Eigenwert der musikalischen Mittel nicht erkennt und sie einem spezifisch anderen dramaturgischen Konzept unterordnet.
3.2. »Die Ungleichen Hausgenossen< (1785/1786) Auch das kurz nach >Scherz, List und Rache< begonnene Projekt >Die Ungleichen HausgenossenLe nozze di FigaroScherz, List und Rache< lösen. Dennoch zeigt schon der fertiggestellte I. Akt, daß Goethe erneut die dramaturgischen Gattungskonventionen unberücksichtigt läßt. Er beginnt nicht mit einer üblichen, aus musikalischen Gründen so wichtigen »Introduktions«-Szene, sondern mit
182
I8i 184
185
186
Stück, andererseits wenig Sympathie für den Konkurrenten durchscheinen: »Alles unser Bemühen aber, uns im Einfachen und Beschränkten abzuschließen, ging verloren, als Mozart auftrat. Die Entführung aus dem Serail schlug alles nieder, und es ist auf dem Theater von unserem so sorgsam gearbeiteten Stück niemals die Rede gewesen.« Der in der gleichen Zeit weitergeführte und Mitte 1786 in die Krise geratende Romanentwurf >Wilhelm Meisters theatralische Sendung< steuert bekanntlich auf eine Existenz Wilhelms als Begründer eines neuen deutschen Nationaltheaters und »deutscher Shakespeare« hin. Brief an Kayser, 23.1.1786. Stefan Kunze hat eindrucksvoll nachgewiesen, wie in Italien »die Konzipierung des Buffo-Librettos von der Musik her und auf bestimmte Musikstücke hin erfolgt«. (Kunze 1967, S. 86) Vgl. a. Osthoff 1968 und Holtbernd 1992, S. 178. Unter Goethes Skizzen zu den »Ungleichen Hausgenossen« findet sich auch ein Szenar zu >Le nozze di Figaro< (abgedruckt in MA 2.1 S. 491), die am i. Mai 1784 in Wien uraufgeführt worden waren. Dies zeigt, daß Goethe das zeitgenössische Musiktheater genauestens beobachtete. Hartmut Reinhardt im Kommentar MA 2.1, S. 723. 519
dem Gegenteil: mit einer monologischen Cavatine der >prima buffa< Rosette, die ihre Liebes Verwirrung ausdrückt. Eine derartige Eröffnung könnte nicht weiter entfernt sein von den Traditionen der Opera buffa, die konventionell entweder mit einer großen Apertura-Szene »immer von mehreren Singstimmen und immer lärmend« 187 oder aber zumindest mit einer unmittelbar handlungsbestimmenden Aktion beginnt (wie in >Le nozze di FigaroNozze di Figaro< angelegt werden sollte. Doch der Gegensatz zu Da Ponte liegt unmittelbar auf der Hand. Wo Da Fontes I. Akt sofort mitten in die Aktion führt und sich während der Anfangsaktion des Ausmessens bereits die wesentlichen Themen des Werks abzeichnen, arbeitet Goethe mit relativ umständlichen, indirekten und rein sprachlichen Charakterisierungen der Personen. Nach dem prologartigen Beginn, der zunächst nichts als die gegenseitige Liebe Flavio-Rosette exponiert und in einem Duett endet (V. 1-92), braucht Goethe lange Textpassagen (V. 93-314, d.h. den Hauptteil des Aktes), um die Problemstellung zu entfalten und die anderen Personen in umfangreichen, monologisierenden Partien Rosettes zu charakterisieren; Flavio ist dabei oft nicht mehr als ein Stichwortgeber. Goethe verstößt damit wieder gegen die Grundlagen der italienischen Buffa, »deren sprachliches Medium nicht der Dialog wie im Sprechtheater [ ] und nicht der Monolog (in der Oper die betrachtende Arie) ist, sondern das von mehreren Personen bestrittene Gespäch.«189 Auch wenn man den Entwurfscharakter des Textes berücksichtigen muß, sind Tempo und Dynamik dieses I. Akts schon von der Grundkonzeption her etwa dem I. Akt Da Fontes weit unterlegen. Andererseits zeigt schon der fragmentarische Entwurf Goethes z.T. virtuos gehandhabte literarische Kunststücke, etwa in dem Finale des I. Akts (V. 3i5ff.), das über fast 80 Verse hin nahezu ausschließlich mit ganzen zwei Reimwörtern spielt und dies gegen Ende noch beschleunigt, bevor es in einen strophischen Rundgesang der Beteiligten mündet. (Auch der PrologAbschnitt V. 1—92 ist von der einleitenden Cavatine Rosettes über Flavios Ant187
188 I8y
Vorrede zu: Opere Teatrali di Giambattista Lorenzi, Bd. 2. Napoli 1813; zit. n. Kunze 1967, S. 86. MA 2.1,8.484. Kunze 1967, S. 85.
520
wort bis zum abschließenden Duett durch Reimschema und -Wörter zu einer Einheit verklammert.) Die Auftrittsarien von Poet (V. 192-201) und Pumper (V. 271—279) sind ebenfalls über gemeinsame Reimwörter und das Versschema aufeinander bezogen, wodurch sie sich gegenseitig parodieren. Im Entwurf zum IV. Akt sind sehr wirkungsvoll Genres von Musik einander gegenübergestellt: Der Poet bereitet eine Bläserserenade vor, wogegen sein Gegner Pumper Militärmusik einsetzt. Hier zeigt Goethe wieder, wie schon in >Scherz, List und RacheLe nozze di Figaro< schlecht verbergen kann. Erneut zeigt sich jedoch der große Unterschied: Weil Goethe die Komik nicht aus der musikalischen Handlungsstruktur der Buffa gewinnt, sondern aus der Typenkomik, erhält der Poet wiederum langatmige Passagen (V. 506—550), die die Handlung kaum voran bringen. Goethe erliegt immer wieder der Verführung, die die Figur des Poeten bietet: Die Partien des Poeten sind zwar einerseits literarische Kabinettstückchen, andererseits verbleiben sie weitgehend in einem vordergründigen Bereich von Typenkomik, der auf die eigentliche Handlung aufgesetzt wirkt und diese hemmt. Eine etwas merkwürdig positionierte und in der Figurenhierarchie >zu tief< angesiedelte Anagnorisis-Szene sah Goethe für den IV. Akt vor: Pumper entpuppt sich als Neffe Flavios.'91 Da hier aber nur eine grobe Skizze vorliegt, ist nicht ganz klar, ob Goethe dies unter Umständen wie im >Figaro< 192 als Parodie einer traditionellen Anagnorisis-Szene anlegen wollte. Ihr folgt ein Trinkspruch, wiederum ein topisches Element der Opera buffa. 193 Auch der Entwurf der >Ungleichen Hausgenossen< zeigt also, daß Goethe (trotz einzelner Korrekturen an den Problempunkten von >Scherz, List und Rache< und trotz der engen Anlehnung an Da Fontes >FigaroDon GiovanniSchriften< aufgenommenen Musiktheaterwerke von ihm umgearbeitet wurde und somit eine gewisse Zäsur seiner Musiktheaterwerke bedeutet.201 Nach der Umarbeitung von >Lila< entstehen ausschließlich Fragmente (s.o.). 197
198
199
200 201
Das Spiel im Spiel ist für das Singspiel seit seinen Anfängen topisch; vgl. etwa Weißes >Der Teufel ist los< (Tl. i). Die erste Fassung zeigt genuin höfische Verwendungszusammenhänge; sie entstand zum Geburtstag der Herzogin Louise für das Weimarer Liebhabertheater und wurde ein weiteres Mal anläßlich eines Besuchs des Prinzen Ferdinand von Braunschweig aufgeführt. Die genaue Gattungsbezeichnung ist ebenso unklar wie der Titel des verschollenen Textes. Karl Siegmund von Seckendorff, der die Musik zur ersten Fassung schrieb, bezeichnet es als Feenspiel, während die »Weimarischen Wöchentlichen Anzeigen« vom 1.2.1777 es als »Operette mit untermischten Tänzen« klassifizierten (vgl. MA 2.1, 5.615). Diener (1971) hat die verschiedenen Fassungen rekonstruiert und die Unterschiede beschrieben (bes. S. 104-146). (Nach dem Druck 1790 verändert Goethe in den späteren Werkausgaben bei Cotta den Text weiter, allerdings im Rahmen der üblichen Korrekturen ohne gravierende Veränderungen.) Diener (S. 22ff.) diskutiert auch die Gattungsfrage und versucht, das Werk in die Gattung der Festspiele und Maskenzüge Goethes einzureihen, wobei sich das von ihm skizzierte dreiphasige Modell der Festspiele gerade nicht mit der Struktur der >Lila< deckt. Man müßte >Lila< wohl eher als Mischung verschiedener Gattungsstrukturen ansehen, unter denen Singspiel und Festspiel wohl die wesentlichsten sind. Zu möglichen Quellen des Stücks vgl. Diener 1971, S. i9f.; MA 2.1, S. 616; FA I 5, S. 939ff. Zitiert nach MA 2.1, S. 131 — 160. Die Neufassung von >Erwin und Elmire* wird am 10. Januar 1788 zur Einrichtung der Satzvorlage nach Weimar geschickt, >Claudine von Villa Bella< am 9. Februar 1788; >Lila< wird Ende März als »fertig« gemeldet (Brief Goethes an Herzog Carl August, 28.3.1788), geht aber erst am 9.9.1789 an Göschen ab. — Goethe benutzt auch in der 3. Fassung der >Lila< einige Grundelemente der Opera buffa, setzt diese aber in völlig anderem Kontext ein. Dazu zählt neben zahlreichen Details das zweite Liebespaar Friedrich-Marianne, das erst in der 3. Fassung neu eingefügt wurde, oder das Motiv der Verkleidung (die nun strukturelle Bedeutung erhält). 523
Das Stück weckt zu Beginn die Erwartung festlichen Musiktheaters; ähnlich wie in >Claudine von Villa Bella< steht zu Beginn eine turbulente Tanzszene einer größeren »Gesellschaft junger Leute beiderlei Geschlechts«. Dieser Beginn, der einem Topos der Opera buffa entspricht, 202 wird aber sofort abgebrochen durch den ersten Auftritt des Grafen Friedrich. Die Erwartungshaltung der Hörer wird drastisch enttäuscht: Der gesamte I. Akt bleibt in der Folge ohne Musik, weil ihre festliche, gemeinschaftsstiftende Kraft der Situation des Stücks widerspricht, wie Friedrich betont. 203 Schon dieser Beginn des Werks thematisiert damit die Verbindung von Musik, Ballett und Tanz zu einer kulturellen Lebensform. Die »Krankheit« Lilas, auf die Friedrich verweist, stört die gemeinschaftlichen Normen dieser Lebensform (die in diesem Stück als Lebensform einer rein aristokratischen Gesellschaft dargestellt ist) und führt diese in eine Krise. Sie zeigt zugleich implizit, daß die Verhaltensnormen dieser Kultur zur Bewältigung der Krise nicht ausreichen. Das Stück führt damit eine doppelte Normstörung vor: Die Störung durch die »Krankheit« der Figur Lila wird zur Störung der kulturellen Lebensform überhaupt. Lila wird im folgenden von den Figuren als Melancholikerin beschrieben, der »die Phantasien den Kopf verrückt haben«. 204 Melancholie und Hypochondrie gelten seit der frühen Aufklärung als subversive Störungen normgerechten Verhaltens, die bekämpft und »geheilt« werden müssen. Dies geschieht einerseits in der medizinischen Debatte des späten 18. Jahrhunderts, in der im Streit zweier Grundsatzpositionen, der »physiologisch« und der »psychisch« ausgerichteten, verschiedene Heilungsmodelle diskutiert und entwickelt werden, 205 302 203
204
205
Vgl. die Ausführungen bei Kunze 1967, S. 85. Goethe thematisiert dies ein zweites Mal explizit beim Auftritt Mariannes, die betont: »Ich habe diese ganze Zeit her mein Klavier nicht angerührt, keinen Ton gesungen.« (S. 133). — Anders wird dies in der späten Vertonung durch Friedrich Ludwig Seidel 1818 für die Berliner Linden-Oper gestaltet (vgl. Holtbernd 1992, S. in): Seidel fügt in den ersten Akt einen Chor und ein Terzett ein. Dort zeigt sich ein anderes musikdramaturgisches Konzept von Oper, für das ein derart musikloser Akt offenbar unmöglich war. Friedrich S. 132. Vgl. a. ders. S. 138: »Wenn ich sagen soll, so glaube ich, dai3 ihr Wahnsinn schon damals seinen Anfang genommen hat; aber wer unterscheidet ihn von der tiefen Melancholie, in der sie vergraben war?« Die Namensgebung enthält wahrscheinlich auch eine farbensymbolische Komponente, wie Goethes Besprechung der Farbe lila in seiner >Farbenlehre< nahelegt; vgl. MA 2.1, S. 619. Die physiologische Position führt seelische Prozesse auf allein körperliche Auslöser zurück und ist in ihrer anti-metaphysischen Wende — auch gegen religiöse Konzeptionen - eine Schlüsseldisziplin der Aufklärung; so heißt es etwa 1777 bei dem Göttinger Michael Hissmann: »Ist die menschliche Seele Materie: so müssen wir nothwendig eine neue Psychologie haben, die nur der physiologische und anatomische Psycholog schreiben kann.« (Michael Hissmann: Psychologische Versuche, ein Beytrag zur esoterischen Logik. Leipzig/Frankfurt 1777, S. n; zit. n. Schings 1973, S. 20). Demgegenüber betonen die Psychiker die Unabhängigkeit der Seele und der menschlichen Vorstellungswelt von der Physiologie. Diener 1971 hat das medizini-
524
aber andererseits gerade auch in der Literatur. Das Thema der Therapien und »Schwärmerkuren« ist eines der großen Themen der spätaufklärerischen Literatur: »Abschaffung der Melancholie ist für Aufklärer aller Schattierungen ein Leitprinzip des Fortschritts.« 206 Auch hier vollzieht sich im Geniekult der jyyoer Jahre eine Umwertung: Schon Lavater trennt die »erhabene« Melancholie des Genies von der »trägen« des gemeinen Mannes, und diese »erhabene« Melancholie wird ihm gerade wegen ihrer abweichenden Qualitäten zur »Mutter der Genialität«. 207 Der »Wahnsinn« Lilas hat also auch eine poetologische Dimension, wobei Goethe eine aufschlußreiche, ambivalente Einschätzung zeigt: Einerseits ist Lilas Melancholie eindeutig als heilungsbedürftige Krankheit gezeichnet — die Heilung der Melancholikerin wäre dann auch als poetologische Aussage lesbar, als Distanzierung von den Prämissen der Genies. Andererseits aber nimmt Goethe diese Abweichung ernst, statt sie zu unterdrücken. Das Stück führt den Sieg der »psychischen Kur« über die autoritäre Vernunft der Spätaufklärer vor, lehnt damit deren materialistische, von der französischen Aufklärung (z.B. d'Holbach oder Lamettrie) geprägte Physiologie ab. Goethe schließt sich somit weder der spätaufklärerischen Verurteilung noch der geniezeitlichen Hochschätzung der Melancholie an. Stattdessen führt er die kulturellen Formen von Musik und Musiktheater als Möglichkeiten der Korrektur von Normstörungen vor. Während etwa in Wielands >Don Sylvio von Rosalva< (einem Text, zu dem >Lila< mehr als zufällige Bezüge aufweist) die Heilung Don Sylvios als »Sieg der Natur über die Schwärmerei« 208 gefaßt ist, ist es bei Goethe die Kulturform des Musiktheaters, die die Melancholie heilt.
206
207
208
sehe und anthropologische Umfeld Goethes skizziert; S. I52ff. beschreibt er z.B. das (spätere) Modell »psychischer Kuren« der Psychologen und Philosophen Reil und Hoffbauer, mit denen Goethe in persönlichem Kontakt stand. Daneben wäre auf das Phänomen des Mesmerismus zu verweisen, der in der Literatur um 1800 eine große Rolle spielt, etwa bei E. Th. A. Hoffmann. Schings 1973, S. 73. Zu den Schwärmerkuren im Roman der Goethezeit vgl. jetzt a. Manfred Engel: Der Roman der Goethezeit. 2 Bde. Stuttgart 1993 (Habil.Schr. Erlangen), bes. Bd. i, S. i55ff. und S. 258ff. Vgl. a. den Forschungsbericht von Riedel 1994 sowie allg. Georg Reuchlin: Die Heilung des Wahnsinns bei Goethe: Orest, Lila, der Harfner und Sperata. Frankfurt a.M. u.a. 1983. Vgl. Mattenklott 1968, bes. S. 43ff. Vgl. a. Borchmeyer (FA I 5, S. 943ff.) und van Ingen (1990, S. 113). Nicht zufällig findet sich im Stück eine - distanzierende Anspielung auf Lavater, wenn Sophie Verazio spöttisch als »Physiognomist« abqualifiziert (S. 135). So der Titel des Romans von 1764. Zu Wielands Roman vgl. Schings 1973, S. I97ff.; zu Parallelen zu >Lila< vgl. Borchmeyer FA I 5, S. 944f. >Don Sylvio< wurde mehrmals als Singspiel aufgeführt: 1782 in Wien (Der blaue Schmetterling oder Der Sieg der Natur über die Schwärmerey. Komisches Singspiel in 3 Aufzügen nach Wieland von Maximilian Ulbrich [Text und Musik], Burgtheater 2.4.1782), 1796 in Schleswig (Samuel Gottlieb Bürde/Otto Christian Friedrich Phanty), 1797 in Oels (Bürde/Sigismund Sander) und Braunschweig (Bürde/Gottlob Bachmann) oder 1799 in Berlin (Bürde/Karl Wilhelm Müller); vgl. Teil IV. Zur Bühnengeschichte im 18. Jahrhundert 525
Musik und Musiktheater209 erscheinen zu Beginn und am Ende des Werks als Steigerungen einer positiven gesellschaftlichen Normalität und als Garanten der Gemeinschaft. Diese Werte-Gemeinschaft der Gesellschaft ist jedoch durch Lilas normstörende Melancholie gestört, und daher wird ihre Repräsentation durch Musik unterbunden; die Trauer Lilas hat sich auf das gesamte Hauswesen ausgebreitet, die Normen scheinen nicht mehr restituierbar. Das Stück setzt zu Beginn zwei verschiedene Wege der Heilung von Störungen einander entgegen, thematisiert also zweifach das Verhältnis von Vernunft und »Wahnsinn«. Die autoritäre Vernunft, die den »Wahnsinn« (wie auch die Musik) unterdrückt, kann Lilas Krankheit nicht heilen, sondern nur ausgrenzen: Lila zieht sich als Folge der Behandlungen immer weiter von der Normalität ihres früheren Lebens zurück. 210 Die falsche Therapie durch die autoritäre Vernunft der Ärzte führt zu Beginn zum Gegenteil des Beabsichtigten: Sie gefährdet nun auch die Ordnung der Normalität selbst. 211 Lila reagiert auf die falschen Therapien mit einem Verhalten, das als klare Antithese aller gesellschaftlich-kulturellen Normierungen vorgeführt wird: Sie schläft tagsüber, wacht nachts, zieht »mit losem Haar« wie ein Geist in der Natur umher und meidet alle Menschen; ihr Verhalten ist die Negation der bisherigen Wertegemeinschaft schlechthin. 212 Erst mit Verazio kommt ein Arzt, der die Unfähig-
209
210
211
212
vgl. G. Bobrik: Wielands >Oberon< und >Don Sylvio< auf der deutschen Singspielbühne. Diss. München 1909. Bemerkenswert: scheint mir die Differenz in der Einschätzung von Musik und Musiktheater. Wie aus Friedrichs Bericht (S. 138) hervorgeht, reicht Musik (bzw. Tanz) alleine nicht zur Heilung aus. Erst die bewußte Inszenierung als Musik-Theater, die dann das Stück selbst vollzieht, ermöglicht die Heilung. Nicht die antidiskursive Musik allein, die wenige Jahre später im romantischen »Mythos Musik« (Lubkoll 1993) zum Leitbild wird, sondern deren Einbindung in die Theateraktivität steht im Zentrum des Stücks. Nur die Kulturform des inszenierten Musiktheaters bietet das Medium, Phantasie und Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen. Der Baron beschreibt die Verhaltensweisen der Ärzte: »O ja, wenn sie nur was zu sezieren, klystieren, elektrisieren haben, sind sie bei der Hand, um nur zu sehen, was eins für ein Gesicht dazu schneid't, und zu versichern, daß sie es wie im Spiegel voraus gesehen hätten. [ ] Mir schaudert's, wenn ich an die Kuren denke, die man mit ihr gemacht hat, und ich zittre, zu was für weitern Grausamkeiten gegen sie man mich verleiten wollte, und fast verleitet hätte.« (S. 135?.) Die Kritik der Ärzte (der »Zahnbrecher« mit ihren »Pferdearzneien«, wie Lucie sie pejorativ nennt, S. 133) ähnelt der impliziten Kritik am Doktor in >Scherz, List und Rache< (s. o.). Zu entsprechenden zeitgenössischen Therapien vgl. Diener 1971, S. I73ff. Dies ist in der Verknüpfung der Personen gestaltet. Friedrichs Verbindung mit Marianne wird durch die Normstörung Lilas verhindert; vgl. S. 133?. Vgl. Friedrich S. 139. Der »Wahnsinn« Lilas bildet die exakte Negation der Ordnung und ist somit untrennbar mit dieser verbunden. »Wahnsinn« ist kein eigenwertiger Bereich mit eigenen Gesetzen, sondern führt zwangsläufig letztlich immer wieder in die Ordnung zurück. Ganz anders behandeln etwa die Opern des frühen 19. Jahrhundert das Thema »Wahnsinn«: Sie bauen die expressiven Möglichkeiten des »Wahnsinns« zu einem eigenwertigen, effektvollen Bereich aus (vgl. z.B. Donizettis >Lucia
526
keit der autoritären Unterdrückungstherapien erkennt und eine andere, >poetische< Therapie entwirft; sie beruht auf einer >anderen VernunftUnvernünftiges< inszeniert. 21? Goethe führt vor, daß nicht die autoritäre Vernunft siegt, 2 ' 4 die die Abweichung von der Norm einfach wieder an diese anzupassen versucht, sondern eine >poetische VernunftNormalität< zu beharren. Diese >poetische Vernunft< kann somit als einzige zwischen den Bereichen von Norm und Abweichung vermitteln, die durch die autoritäre Vernunft streng voneinander getrennt und (auch räumlich) abgegrenzt werden: »Man verbietet uns in den Teil des Parks zu kommen, wo sie sich aufhält.« (Lucie S. 132) Die autoritäre Vernunft unterbindet die Kommunikation beider Sphären, die doch einzig den Gegensatz auflösen kann, wie sich dann zeigt. 2 ' 5 Verkörperung der >poetischen Vernunft< ist die Figur des Verazio, der zum Regisseur wird, ihr Medium die Gattung Musiktheater, die im Spiel-im-Spiel als Medium der >poetischen Vernunft< selbst inszeniert wird. Indem Verazio diese Potentiale der Gattung zielbewußt einsetzen kann, wird er zugleich zu einem Künstler — die Vernunft, die der autoritären der anderen Ärzte überlegen ist, ist die poetische Vernunft des Künstlers, und das Musiktheater wird zur kulturellen Opposition gegen die technokratisch-autoritäre Vernunft der physiologisch orientierten Ärzte. Während deren Anthropologie darauf beruht, die Leidenschaften als Erreger von Krankheiten anzusehen und also zu bändigen, zielt Verazios Therapie umgekehrt gerade darauf, die menschlichen Leidenschaften zu wecken und gezielt (bis zum Schock hin) zu erregen. 2 ' 6 Die Leidenschaften
213
214
215
216
di Lammermoor< oder Bellinis >I Puritani< [beide 1835]); vgl. dazu Holtbernd 1992, S. i97f·, und Sieghart Döhring: Die Wahnsinnsszene. In: Heinz Becker (Hg.): Die »couleur locale« in der Oper des 19. Jahrhunderts. Regensburg 1976, S. 279—314. Dieser Wahnsinn ist als Leidenschaft völlig anders konzipiert als die Melancholie Lilas. Als Verazio erstmals den Gedanken formuliert, »Phantasie durch Phantasie [zu] kurieren« (S. 140), hält der Baron dies bezeichnenderweise für »Torheiten«. Dies ist ein neues Motiv der 2. und 3. Fassung: In der Erstfassung arbeiten auch die Feen noch mit autoritären Mitteln (vgl. z.B. die Droharie der Fee Almaide, abgedruckt bei Diener 1971, S. 43). Zwischen der Erstfassung und den späteren liegt ein völlig verändertes Problempotential. Zur historischen Ausgrenzung des »Wahnsinns« vgl. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt a. M. 1973 [zuerst 1961]. G. Diener hat auf ähnliche Positionen bei den Vertretern det »psychischen Kuren« verwiesen, z.B. bei F. C. G. Scheidemantel: Die Leidenschaften als Heilmittel betrachtet (1787) und v. a. bei den Ärzten im Umfeld der Universitäten Jena und Halle; vgl. Diener 1971, S. I58f., S. I04ff. Als weiteren wichtigen Faktor bezeichnet er die englischen Theorien des »moral managements«, die seit 1758 diskutiert werden (ebd. S. 160).
527
werden in diesem Stück als ambivalent vorgeführt: Lilas »Krankheit« entsteht aus ihrer übergroßen Liebe zu ihrem Mann; andererseits sind ihre Leidenschaften gerade das einzige positive Rettungsmittel aus der »Krankheit«. In Goethes Konzeption der Leidenschaften im Stück sind Erfüllung und Störung auf eine Weise verschränkt, die im deutschen Musiktheater dieser Zeit selten ist und allenfalls im Melodram Parallelen hat: Selbst eine scheinbar unstreitig positiv zu wertende Leidenschaft wie die personal-exklusive Liebe erscheint ambivalent - sie kann zur Störung, aber auch zur Heilung führen. Die Leidenschaften sind weder eindeutig positiv noch negativ, sondern eröffnen einen Raum des Uneindeutigen, der zum eigentlichen Raum des Spiels wird. Damit aber schließt sich der Kreis zur poetologischen Einschätzung des Musiktheaters, dem konventionell genau diese Ambivalenz sowie die von Verazio angestrebte Fähigkeit, die menschlichen Leidenschaften (positiv wie negativ) zu wecken und zu beeinflussen, zugeschrieben werden. Anthropologie und Poetologie verschränken sich. In >Lila< erhält die Musik eine äußerst aufschlußreiche Zwitterposition zugeschrieben. Einerseits fungiert Musik als Repräsentant einer ungestörten Ordnung, wie im Beginn des Stücks deutlich wird. Andererseits sind Musik und Musiktheater die Medien jener »anderen VernunftDie heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik«) betonen gerade die zerstörerische Dimension.
528
der »Paroxysmus«-Arie der Scapine in >Scherz, List und Rache< (s.o.) spielerisch gefaßt erscheint, wird hier zu einer grundsätzlichen Aussage vertieft. Zudem bietet die Musik eben auch Raum für den Ausdruck und die Darstellung der Störung und des Normabweichenden, wie es in der ersten Arie Lilas zutage tritt. >Lila< thematisiert somit sowohl die persönlichkeitsverändernden wie auch die subversiven Wirkungsmöglichkeiten der Musik und des Musiktheaters, die von den zeitgenössischen Theoretikern meist abgelehnt, ausgeschlossen und verdrängt werden (vgl. Teil III). Das Stück führt somit auch einen Diskurs über die Wirkungsweisen von Musik und Musiktheater: Ihre Wirkungen resultieren daraus, daß sie als unbestimmte, nicht völlig in ihrem Bedeutungsgehalt fixierte Kräfte auf die menschliche Psyche wirken, den Menschen für und über Emotionen öffnen. Erst das Medium Musik ermöglicht die Kommunikation mit Lila, die auf rein vernunftorientierter, verbaler Ebene nicht mehr möglich erscheint. 2 ' 8 Die Struktur des Werks schwankt zwischen schauspielgeprägtem »Festspiel mit Gesang und Tanz« 2 ' 9 in den Rahmenteilen und dem Binnengeschehen der Akte II—IV. Im Einleitungsakt funktionalisiert Goethe dabei die Negation des Musiktheaters inhaltlich, während er die Binnenakte überwiegend als inszeniertes Musiktheater gestaltet, das schrittweise zurück in die Normalität führt. Diese Normalwelt, die im szenischen Code z.B. auch an den Kleidern kenntlich gemacht wird, 220 ist vollständig im letzten Viertel des IV. Akts restituiert (S. 159, Z. 30), so daß sich eine Rahmenstruktur ergibt, die auch durch die Spielorte (Schloß — freie Natur 221 - Schloßgarten) szenisch hergestellt wird. Dabei ist der stilistische Kontrast zwischen der Normalität des Rahmengeschehens und dem inszenierten Singspiel deutlich ausgestaltet: Während im Rah218
219 220
221
Dafür ist bezeichnend, wie die Informationen behandelt werden, die über die einzige Verbindungslinie zu Lila, das Kammermädchen »Nette«, in die Normalität gelangen. Während Nettes Berichte über Lilas Erzählungen von anderen Figuren, besonders dem am meisten der Normalität verhafteten Graf Altenstein, als Nonsens, »wunderbare Sachen« und »weitläufige Geschichte« abgetan werden, entwickelt Verazio gerade aus diesen Informationen seine Therapie (vgl. bes. S. 139^). Seine >poetische Vernunft< kann »wunderbare Sachen« und der »weitläufige Geschichte« anhören und diese weiterdichten, wo andere nur autoritär verwerfen. Untertitel der 2. Fassung. Vgl. dazu den späten Brief Goethes an Karl Friedrich Graf von Brühl vom 1.10.1818 (FA I 5, S. 937f.; anläßlich der Berliner Aufführung von Seidels Vertonung), der Goethes sorgsame Konzeption dieses Codes, gerade auch an den Übergangspunkten von Rahmen-Normalität und Binnenspiel erkennen läßt. Akt II: »Romantische Gegend eines Parks«; III: »Rauher Wald, im Grunde eine Höhle«; IV: »Wald«. In der Abfolge der Naturräume zeigt sich eine Entfernung und Rückkehr zur Ordnung der gestalteten Natur, die dem inhaltlichen Verlauf von Lilas Heilung entspricht: Der entscheidende Wendepunkt liegt im kulturell wie räumlich entferntesten Punkt, im »rauhen Wald« des III. Aktes. 529
menakt eine alltagsnahe Sprache herrscht (kurze Sätze, Anakoluthe etc.), wird im Binnenspiel das überhöhte, stilisierte und >unnatürliche< Sprechen des Musiktheaters inhaltlich funktionalisiert. Mit Ausnahme der metrischen Ebene (Goethe behält die Prosa des Anfangs bei) sprechen alle Figuren im Binnengeschehen des inszenierten Spiels so, wie z.B. Wielands Figuren in >Alceste< sprechen. Das kunstvoll-künstliche Sprechen findet in einem Raum der Abweichung von der Normalität statt. Die Normverstöße des Musiktheaters, die in der poetologischen Theorie des 18. Jahrhunderts unter den Leitdoktrinen der Nachahmung und Wahrscheinlichkeit so häufig bemängelt wurden (s. Teil III), werden hier als inhaltlich konstitutive Elemente eingebracht. Goethe thematisiert so den gattungstheoretisch prekären Status des Musiktheaters auf einer Meta-Ebene und funktionalisiert ihn zugleich. Das Musiktheater ahmt nicht die Ordnung der Wirklichkeit (notwendigerweise unvollkommen) nach, sondern inszeniert sie und kann gerade deshalb diese Ordnung restituieren. Insgesamt ist das inszenierte Musiktheater der Akte II und III als diffiziles Gewebe dreier unterschiedlich gerichteter Kräfte angelegt: die schrittweise Reintegration Lilas in die Normalität, ihre gegenläufig gerichteten »Rückfälle« und die steuernden Eingriffe des Magus. Die wesentlichen Schritte vollziehen sich dabei in den musikalischen Partien, in Arien und Duetten, Chören, Tanz und Pantomime, die durch szenische Elemente und Lichtregie unterstützt werden. Gerade Tanz und Ballett erhalten hohe Bedeutung: Sie repräsentieren szenisch, wie in der barocken Oper, besonders eindrucksvoll Ordnung im Raum und in der Zeit. 222 Die entscheidenden Erkenntnisse Lilas verlaufen dabei im sinnlichen Bereich: Es ist die »Stimme« des Magus, zu der sie anfangs Vertrauen schöpft, 223 wodurch das inszenierte Spiel ermöglicht wird; und die Aufhebung der Inszenierung wird stufenweise durch das körperliche »Anfassen« und Berühren der anderen Figuren erreicht.224 Die >Anagnorisis< vollzieht sich Die hohe Bedeutung der Ballettszenen mag mit dem Repräsentationscharakter der Gattung Festspiel zusammenhängen (Borchmeyer), hat m.E. hier aber auch noch tiefere Bedeutung. Das Ballett ist als eine nonverbale Ausdruckskunst besonders geeignet, die nicht-diskursive Vernunft von Verazios psychischer Therapie umzusetzen. Das Ballett zeigt ein weiteres Mal die Überlegenheit der >poetischen< Vernunft über die autoritäre. Zugleich erscheint das Ballett als ausschließlich sinnliche Kunstform, die auf alle linguistischen Zeichen verzichtet; dies entspricht der Bedeutung sinnlicher Komponenten für Lilas Heilung. Schließlich repräsentiert Ballett als geordnete Bewegung mehrerer Personen im Raum auch grundsätzlich die Ordnung der Gemeinschaft, in die sich hier Lila stufenweise re-integriert (vgl. bes. S. 146, wo Lila in den Kreistanz der Feen eindringt und damit nonverbal und unbewußt schon sehr früh ihren Rückkehrwunsch zum Ausdruck bringt). — Zur Bedeutung des Balletts für das barocke Theater vgl. Fischer-Lichte 1988 Bd. 2, S. 6of. »Dein Wort, deine Stimme zieht mich an.« (S. 143) Vgl. a. Holtbernd 1992, S. 113. »Lila [zu Friedrich] Du bist es (Sie faßt ihn an.) Seid Zeugen, meine Hände, daß ich ihn wieder habe!« (S. 151) Die gefangenen Männer »küssen ihr die Hände«, als sie sie wiedererkennt (ebd.), bei der Wiedererkennung der Frauen heißt es »Alle begrüßen 530
schrittweise; was konventionell einen großen dramatischen Umschlags- oder Schlußpunkt bildet, ist hier als langer Prozeß gestaltet. Dabei fällt die fast rituelle 225 Abfolge der Geschlechter auf: Die Anagnorisis beginnt bei Friedrich und den Männern (III. Akt, S. 151); danach folgen die Frauen (IV. Akt, S. 158), und erst am Schluß erkennt Lila dann ihren Gemahl wieder (S. 159). Bei der Anlage der Gesangstexte ist bemerkenswert, daß Goethe hier einen anderen Weg als in den meisten seiner anderen Libretti einschlägt. Goethe vermeidet demonstrativ in >Lila< den Typus der großen Dacapo-Arie: Ihr repräsentativer Charakter schien ihm offenbar in der intimen Welt dieses Stücks fehl am Platz zu sein. 226 Nur eine einzige Arie ist als konventionelle Reprisen-Arie konzipiert: die Arie der Fee Almaide (II. Akt, S. 146), die auch den üblichen kontrastierenden, etwas freier gestalteten Mittelteil erkennen läßt. Doch bezeichnenderweise hat Goethe diese Arie so eingebunden, daß sie kaum als »große« Dacapo-Arie vertont werden kann. Denn gerade der Mittelteil der Arie wird nach einem kurzen Dialog als Text des Feenchores aufgegriffen und wiederholt. Was szenisch unmittelbar plausibel ist (die Feen beteuern die Aussagen ihrer Anführerin Almaide), scheint musikalisch angesichts der großen satztechnischen Differenzen zwischen Solo-Arie und Chor schwierig umzusetzen. Wenn sich der Komponist, was nahe liegt, um die Identität von Arienteil und Chor auch im Melodischen bemüht, muß bereits der Mittelteil der Arie arienuntypisch einfach gehalten werden, um nachher vom Chor übernommen werden zu können. 227 Goethe hat hier wieder eine kreative und auf der Textebene überaus überzeugende Gestaltung gefunden, die aber musikalisch problematisch wirkt und ungewöhnliche Lösungen erfordert. Insgesamt überwiegen strophische, meist zweiteilige Arientexte, die intern zahlreiche Unregelmäßigkeiten aufweisen. Diese Unregelmäßigkeiten sind in der Regel wiederum inhaltlich bezogen. Während Lilas erste Arie (»Ich schwinde, verschwinde«, S. 142; zweistrophig) sowohl vom Reimschema als auch von der metrischen Gestaltung völlig unregelmäßig 228 angelegt ist und somit auf ihren ver-rückten inneren Zustand verweist,
225
226
227
228
sie, umarmen sie, küssen ihr die Hände.« (S. 158); am Schluß bei der Begegnung mit ihrem Mann steht die Umarmung (S. 159). Goethe benutzt zahlreiche rituelle Elemente (etwa Lilas Speisung, Waschung und ihr weißes Kleid). Auch die Tänze sind mitunter als rituelle Tänze angelegt. In der ersten Fassung, die für das Weimarer Liebhabertheater bestimmt war, könnte dies auch aufführungspraktische Gründe haben. Die Struktur der in Italien entstandenen dritten Fassung kann jedoch m.E. nicht mehr auf derart konkrete Einschränkungen zurückgeführt werden. Bei kaum einer zeitgenössischen Dacapo-Arie könnte man sich den Mittelteil chorisch gesungen vorstellen (selbst wenn man sich den Feenchor nicht mehrstimmig, sondern einstimmig denkt). Holtbernds These, Lilas Gesänge wiesen »eine weitaus größere Regelmäßigkeit auf« als die Feenchöre (Holtbernd 1992, S. 117), trifft nur bedingt zu, wie diese erste Arie Lilas zeigt. Die Feenchöre bilden schon vom musikalischen Typus her den falschen
531
singt der Magus im Anschluß (S. 145) eine weitgehend regelmäßig geformte, ebenfalls zweistrophige Arie. 229 Norm und Abweichung sind in der Struktur dieser aufeinander folgenden Arientexte direkt miteinander konfrontiert. Die Leidenschaften als Störung regelmäßiger poetischer Strukturen prägen jedoch nicht nur die Gesänge der »kranken« Lila, sondern z.B. auch Friedrichs Arie, mit der er sein vorzeitiges Aus-der-Rolle-Fallen230 (IV. Akt, S. I55f.) begründet. Hier ist es nicht der »Wahnsinn«, sondern die (positive) Leidenschaft der Liebe, die die Arie stört; zwar ist das trochäische Metrum ungestört, doch die Strophengliederung, die anfangs auf kreuzgereimte Vierzeiler hinauszulaufen scheint, wird im Laufe der Arie völlig durcheinandergebracht. Umgekehrt schlägt im Falle der sich re-integrierenden Lila (III. Akt, S. 154) ihre Ungeduld, endlich den Gemahl wiederzusehen, sich gerade in einer äußerst wechselhaften Metrik und Verszeilenlänge nieder.231 Die Textgestalt spiegelt schon optisch ihre Unruhe; daß diese Unruhe hier aber positiv zu werten ist und nichts mehr mit der gestörten Unregelmäßigkeit ihrer ersten Arie (S. 142) zu tun hat, verdeutlicht der anschließende Chor, der Lilas Arie bestätigend eine zweite, formal gleichgehaltene Strophe hinzufügt (S. I55). 232 Obwohl es bei der Thematik des Stücks naheliegend hätte erscheinen können, verzichtet Goethe somit auf die große expressive Arie und zielt stattdessen auf strophische
229
230
231
232
Bezugspunkt für Lilas Arien: Sie wären eher mit den Chören des IV. Akts zu vergleichen, während Lilas Arien mit den anderen Soloarien zusammen zu sehen sind. Diese Arie, die später zum berühmtesten Text aus >Lila< wurde, enthält nur eine einzige metrische Abweichung, die wiederum inhaltliche Funktion hat: »[Allen Gewalten/] zum Trutz sich erhalten« weicht durch die auftaktige Struktur von den sonst konsequent durchgehaltenen, abtaktigen adonischen Versen ab; der »Trutz« bestimmt auch die Versgestalt. Die Szene zu Beginn des IV. Akts zwischen Marianne und Friedrich, bei der Friedrich vorzeitig aus der Rolle fällt (die einzige größere Szene, die gegenüber der 2. Fassung völlig neu hinzukam), hat zwei Funktionen: zum einen eine retardierende, nachdem auf der Lila-Ebene sich die Lösung bereits am Ende des II. Akts deutlich abzeichnet. Zum anderen soll sie die im I. Akt angefangene Nebenhandlung Marianne-Friedrich fortführen und zu einem gewissen Abschlui3 bringen, damit dann das eigentliche Finale von der Nebenhandlung entlastet ist. Ähnliches gilt für Lilas Schlußarie (»Am Ziele«, S. 159), die insgesamt erheblich regelmäßiger ist, in der aber ihre charakteristische Unruhe im Wechsel der Verszeilenlänge und der metrischen Struktur noch nachzittert. Lila thematisiert ihre Unruhe, »das bangende Herz«, auch explizit: Sie ist noch nicht völlig am Ziel, noch fehlt die Begegnung mit ihrem Mann. Der Text weicht somit graduell, aber nicht prinzipiell von Lilas vorausgehender Arie am Ende des III. Aktes ab. Holtbernds Diskussion der Lila-Arien scheint mir grundsätzlich verzeichnet, weil er hier einen finalen Prozeß von Begrenztheit zu freier Expression konstruiert, der Goethes raffinierter Gestaltung von Norm und Abweichung in den Gesangstexten nicht gerecht wird. Hier erscheint also erneut der Übergang eines solistischen Gesangs in den Chor (vgl. o. Anm. 227). Im Gegensatz zur Arie der Almaide ist dies hier jedoch für den Komponisten unproblematischer, weil eine strophische Struktur vorliegt.
532
Liedformen. Die Strophik ist jedoch nur in einer Minderzahl von Gesangstexten als solche durchgehalten, meist in denen der wiedergewonnenen Normalität (S. I58ff.); ansonsten bildet die Strophenform allenfalls noch die Folie, auf der verschieden motivierte Abweichungen sprachliche Gestalt finden. (Dies gilt besonders auch für die Feenchöre233 mit ihren meist einstrophigen, unregelmäßigen Texten. Das Unregelmäßige wird besonders bei diesen Chören zum eigentlichen Raum der Poesie, während die regelmäßigen Strukturen der Welt der Normalität zugeordnet sind. 234 ) Goethe zeigt somit hohe Flexibilität und Einfallsreichtum beim Umgang mit den Gesangstexten,235 deren Strukturen selbst bedeutungstragend werden. Das Grundthema von Norm und Abweichung, von der Ambivalenz der Leidenschaften als Störung und als Therapie prägt die sprachliche Anlage bis in ihre Mikroebenen. Mit diesem Vorgehen aber erschwert Goethe es zugleich dem Komponisten. Die Vielfalt, subtile sprachliche Finesse und bedeutungstragende Durchgestaltung der Gesangstexte bis in die Details lassen kaum zu, konventionelle Modelle wie die Reprisenarie oder selbst strophische Formen zu verwenden; sogar die für die zeitgenössische Musik so zentrale Perioden-Satztechnik ist nur bedingt einsetzbar.231 Indem Goethe in diesem Stück die Inszenierung des Musiktheaters direkt vorführt, treibt er die Selbstreflexion des Mediums auf eine Spitze. Zwar 233
234
235
236
Dazu Hokbernd 1992, S. n^ff., der z.B. den Bewegungscharakter hervorhebt, den der Auftrittschor der Feen (MA 2.1, S. I45f.) bereits in der Sprachgestalt aufweist (» Da-Lontano «-E ffekt). In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, daß Goethe außerhalb der Libretti diejenigen Texte, die er für eine Vertonung als Einzellied schrieb, normalerweise äußerst regelmäßig hielt; daher lehnte er auch die Durchkomposition von Mignons Lied aus >Wilhelm Meisters Lehrjahre* durch Beethoven oder Spohr ab, weil die Komponisten diese deutlich angelegte strophische Regelmäßigkeit zerstört hätten (Gespräch mit Tomaschek vom 6.8.1822; vgl. Schwab 1965, S. 53, Anm. 169). Auch daher muß der Funktion des Unregelmäßigen in den Libretti hohes Gewicht beigemessen werden. Insgesamt fällt auf, daß Goethe überwiegend daktylische Texte schreibt, die nur gelegentlich durch Übergänge in Jamben >gestört< werden. Damit weicht >Lila< deutlich von den anderen Texten Goethes sowie erst recht der Singspieltradition ab, in denen in der Regel jambische Gesangstexte vorherrschen. Zu den Verfahren, mit denen Seckendorff in seiner Vertonung der i. Fassung den periodischen Satz zu retten versuchte (z. B. durch Wiederholungen von Textpartikeln oder instrumentale Ausfüllungen) vgl. Beispiele bei Hokbernd 1992, S. iigff., der auch an einem Beispiel ausführt, wie Seckendorff dadurch den von Goethe intendierten Sinn verfehlt. Seckendorff vertont im alten Stil, d.h. nutzt oberflächlich die Affektrhetorik, statt den dramaturgischen Sinn der betreffenden Arie zu berücksichtigen. Das Stück hatte keinen Bühnenerfolg, ebensowenig wie die Vertonungen der 3. Fassung durch Reichardt (1791) oder Friedrich Ludwig Seidel (Berlin 1818). Zur weiteren Geschichte des Werks auf der Opernbühne zählt z.B. ein Plan von Richard Strauss, der 1895/1896 >Lila< in einer textlichen Einrichtung von Cosima Wagner vertonen wollte (vgl. dazu Kohler 1984). 533
stimmt es mit den poetologischen Paradigmen der Zeit völlig überein, Musik als Darstellung des Wunderbaren (wie z. B. der Feenwelt) einzusetzen: Hier aber wird das Wunderbare in seinem Charakter als zielgerichtete menschliche Produktion vorgeführt. Hier herrscht keine Emphase des Übernatürlichen wie in den wenig späteren Texten Wackenroders oder anderer Frühromantiker, sondern im Gegenteil ein durchaus kritisches Durchschaubar-Machen seiner Inszenierung. (Die kritische Intention Goethes zeigt sich auch daran, daß er in der dritten Fassung die märchenhaften Elemente der zweiten Fassung deutlich reduzierte.237) Das Musiktheater wird zu einer Kulturform, in der die Defizite der autoritären instrumentellen Vernunft deutlich werden, und die zugleich ihren Charakter der Inszenierung selbstreflexiv transparent macht. Noch einmal stellt sich die Frage nach der geringen bühnenpraktischen Wirkung von Goethes Entwürfen, die bis heute in der Forschung unbeantwortet ist und gerne etwas verlegen beiseite geschoben wird.238 Mir scheinen dafür im wesentlichen zwei Gründe maßgeblich: Zum einen ist Goethes zunehmend elaborierte Sprachgestalt, die entgegen seinen häufigen Beteuerungen eben gerade nicht als Unterordnung der Sprache unter die Musik angesehen werden kann, für die Komponisten problematisch. Sie verhindert ein unmittelbares Anknüpfen an die üblichen Formen der Singspieltradition. Wie bei >Scherz, List und Rache< deutlich wurde, verstieß Goethe dabei z.T. gegen elementare Grundbedingungen der komischen Gattungen. Zum anderen ist gerade der zunehmende Zug zur Selbstreflexion des Musiktheaters und seines Kunstcharakters, als Offenlegung einer Metaebene, offenbar im Umfeld der Gattungstraditionen zu anspruchsvoll.239 Dafür sprechen gewisse Parallelen zu gleichzeitigen italienischen oder auch deutschen Versuchen in Wien, die Produktion von Musiktheater selbst zu thematisieren, denen ebenfalls kein großer Erfolg beschieden ist (wenngleich aus verschiedenen Gründen, die jeweils differenziert zu betrachten wären).240 Es scheint, daß die Selbstrefle237
238
23!>
240
So fallt z.B. der gesamte IV. Akt der Zweitfassung mit der märchenhaften Befreiung der Spinnerinnen weg. Zu den Unterschieden der Fassungen vgl. Diener 1971, S. 104-146. Vgl. z.B. die dokumentierte Tagungs-Diskussion über den Vortrag van Ingens (1990, S. i28ff.). Dies wird noch in den i82oer Jahren an Hegels >Ästhetik< deutlich, wenn dieser anhand der >Zauberflöte< generell »eine gewisse mittlere Art von Poesie, welche wir Deutschen kaum mehr als Poesie gelten lassen«, als am geeignetsten für die Musik bezeichnet, »das Einzelne nicht ausarbeitend, überhaupt mehr bemüht, Umrisse zu geben als dichterisch vollständig ausgeprägte Werke« (G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III. Werke Bd. 15. Frankfurt a. M. 1970, S. 2o6f.; vgl. dazu a. Kunze 1984, S. 624). Ich denke hier an Werke wie Stephanies/Mozarts >Schauspieldirektor< (KV 486, 1786), Da Fontes Pasticcio >L'ape musicale< (Wien 1789), Bretzners/Dittersdorfs >Die opera buffa< (Oels/Wien 1798) oder auch Cimarosas >L'impresario in angustie< (Neapel
534
xion, selbst die nur ansatzweise, vom zeitgenössischen Publikum nicht toleriert wurde. Das Publikum tendiert Richtung Illusionstheater und Familiendramatik einerseits, zu exotischen und wunderbaren Stoffen andererseits. V.a. der kritische Ansatz eines Stücks wie >LilaClaudine von Villa BellaScherz, List und RacheLilaErwin und Elmire< und >Claudine von Villa Bella< vorführen, spiegelt das: Die Figuren können Sinn nicht mehr als vorgeformten von außen übernehmen, sondern müssen ihn selbst entwickeln und definieren. Sie können sich nicht mehr in
iy86/Wien 1793). Dabei muß allerdings berücksichtigt werden, daß eine zumindest partielle Parodie der großen Oper zu den konstitutiven Grundelementen der komischen Formen, v. a. der Oper buffa, gehört; allerdings ist auffällig, daß gerade diejenigen dieser Stücke, die dieses Grundelement zu ihrem eigenen Stoff ausbauen und in Richtung Selbstreflexion tendieren, erfolglos bleiben. Goethe interessierte sich kaum zufällig gerade auch für diesen Typ von Werken: Cimarosas Buffa übersetzte er selbst 1791 und ließ das Werk mehrfach in Weimar aufführen; 1796 veranlaßte er Vulpius, Mozarts >Schauspieldirektor< in dieses Werk zu integrieren, so daß ein Pasticcio unter dem Titel theatralische Abenteuer< entstand, das oft aufgeführt wurde. - Stephanie und Mozart handeln von den freien Theaterunternehmern, die auf eigenes finanzielles Risiko arbeiten müssen und sich stets im Spagat zwischen gutem Geschmack und guten Einnahmen befindet (BufF: »Ich bitt' Sie, bleiben Sie mit ihrem guten Geschmack zu Haus, er hat Sie beinahe an Bettelstab gebracht.« NMA II/5, Bd. 15, hg. von Gerhard Groll. Kassel u.ö. 1958, S. 18). Hier wird eine Rezeption kritisch reflektiert, bei der künstlerische Qualität offenbar weniger geachtet wird als Schaueffekte und Starwesen — gemeinsames Problem der höfischen italienischen Oper und des sozial divergenteren deutschen Musiktheaters.
535
traditionelle Ordnungen re-integrieren (wie noch in der Erstfassung von >Erwin und ElmireEntführung aus dem Serail· charakteristisch ausprägte, zu finden. Die Tendenz Goethes zum geschlossenen »Werk«-Charakter und zur Auslotung aller immanenten literarischen Möglichkeiten eines Librettos wirkt sich im Gegenteil hemmend für die musikalische und szenische Ebene aus. Der Versuch, das Musiktheater von der literarischen Seite her neu zu durchdenken, neue ästhetische Ordnung durch literarische Stringenz aufzubauen, scheitert in der Praxis. Konsequenzen hat Goethes lange Beschäftigung mit dem Musiktheater dennoch, in einer umgekehrten Weise: in der Integration von Komponenten des Musiktheaters in eine neue Art von Sprechtheater. Die musiktheatralischen Züge, die große Teile des >Faust< prägen,241 verdanken sich Goethes Faszination und seiner hartnäckigen Auseinandersetzung mit dem Medium Musiktheater. Der Desillusionierungsprozeß, den Goethe mit seiner Librettistik erlebt, verstärkt zugleich die Ausprägung eines neuen klassizistischen Kunstkonzepts in Weimar. Die sozialintegrative Konzeption populärer Kunst, wie sie die Singspiele Weißes und Hillers, aber auch die Erstfassung von >Erwin und Elmire< erfolgreich verkörpern, erfährt ihre schärfste Kritik 1791 in Schillers Rezension von Bürgers Gedichten. Gegenüber der vagen Allgemeinheit der empfindsamen Populärkultur und ihrem unklaren »Volks«-Begriff betont Schiller gerade die Inhomogenität der Gesellschaft, die es verbiete, überhaupt von einem einheitlichen Volk als Publikum zu sprechen. Die gesellschaftliche Differenzierung hat dabei laut Schiller auch die menschlichen Sinne erfaßt; es gibt kein von Natur aus allen Menschen gemeinsames Empfinden als Potential der sozialen Integration, sondern nur eine je kulturell und sozial präformierte Sinnlichkeit. (Genau dieser Begriff einer allgemeinen Empfindungs-Gemeinschaft bildet die Grundlagen des empfindsamen Musiktheaters; s.o. II.i.) Die Konsequenzen, die
241
Ich meine besonders die Euphorien-Szene und die nordische Walpurgisnacht von >Faust IFaust IIFaustZauberflöteZauberflöte< ihre auch dramaturgisch konsequente Lösung.
537
8. Die Ordnung der Gefühle. Schikaneder/Mozart: >Die Zauberflöte < (1791)
i. Synkretismus und Amalgamierung von Traditionen Auf andere Weise, als es die aufklärerische Nationaltheater-Bewegung intendiert hatte, entsteht nach 1790 ein nationales >Theater für alle< - nicht, wie die aufklärerische Intelligenz meist annahm, von >obenuntenZauberflöteZauberflöteZauberflöte< ein Machwerk? München 1978 (Musik-Konzepte 3). 538
hend unbekannten Eisbergs dar. Er birgt kein individuelles »Geheimnis«, 5 sondern durchaus epochen- und gattungstypische Strukturen, die allerdings der Erkenntnis entzogen werden, stilisiert man sie zum Spezifikum des Textes. Daß Schikaneders Text so zahlreiche und divergente Einschätzungen gefunden hat nicht nur im 20. Jahrhundert, sondern bereits bei den Zeitgenossen —, hat Gründe in der Machart des Textes selbst, dessen hervorstechende Merkmale Diskontinuität und ein raffinierter Synkretismus sind, der im Dienste der Theaterwirksamkeit die zur Verfügung stehenden Repertoires (z. T. auch aus zweiter oder dritter Hand) plündert und so rücksichtslos wie artifiziell vermischt. Wo etwa Goethe in seinen Libretti von ausgefeilten literarischen Kategorien wie Stringenz, künstlerischer Ökonomie und Reflexivität ausgeht (zu Lasten der musikalischen und szenischen Ebenen), setzt Schikaneder bei den bühnentechnischen und aufführungspraktischen Möglichkeiten des Theaterapparats an, die er unter dem harten Konkurrenzdruck der privat getragenen Wiener Vorstadtbühnen (v. a. im kommerziellen Wettkampf mit dem Leopoldstädter Theater K. v. Marinellis) bis an die Grenzen ausreizt.6 Ähnliches gilt - auf anderer Ebene - für Mozarts Musik, die die bislang immer noch weitgehend getrennten musikalischen Sphären von Seria, Buffa und Singspiel amalgamiert, aber auch die Errungenschaften des Melodrams7 und der Instrumentalmusik einbe5
6
7
Obwohl an Kommentaren, Analysen, Erklärungsversuchen usw. zur >Zauberflöte< wahrlich kein Mangel herrscht, erscheinen weiterhin Jahr für Jahr Arbeiten, die für sich in Anspruch nehmen, das »Geheimnis« der >Zauberflöte< »aufzudecken«. Je nach Weltanschauung der Autoren wird dieses angebliche »Geheimnis« dann in mythischen Archetypen, im Kampf von Matriarchat und Patriarchat, im Freimaurertum oder in der Dialektik der Aufklärung »entdeckt«. Einen älteren, aber immer noch faszinierenden Überblick über die Ausdeutungsgeschichte bietet Bliimml 1923. In der Folgezeit hatten viele Bühnen, v. a. im Norden Deutschlands, große Probleme mit dem für sie zu aufwendigen Werk; die noch ganz in der barocken Tradition stehenden Flugwerke und Maschinen der Wiener Theater waren in anderen Teilen des deutschen Raums nicht (oder nicht mehr) vorhanden. Die >Zauberflöte< zählt in ihren bühnentechnischen Anforderungen zu den anspruchsvollsten Opern des klassischen Repertoires; vgl. die bei Deutsch (Hg.) 1961, S. 444, dokumentierte Debatte in Berlin 1792. Davon zeugen auch zahlreiche vereinfachende Bearbeitungen (z.B. in Passau 1793)· Mozarts kurzzeitige Begeisterung für das Melodram ist bekannt (vgl. o, II.4, Anm. 133). Mozarts Musik zielt jedoch auf die »widerspruchsvollen, dramatischen Beziehungen zwischen den Personen« (Scheit 1995, S. 147; sehr ähnlich Kunze 1984, S. 616) — also auf eine Ebene, die es im Melodram mit seiner monologischen Struktur praktisch.nicht gibt. Damit wird schlagartig die Begrenztheit des Melodrams deutlich — und auch wohl der Grund, weshalb Mozart bei aller Begeisterung für das Genre eben doch kein Melodram vollendete, sondern zur Form der Oper zurückkehrte, aber die satztechnischen Errungenschaften der Melodramenepoche darin aufnahm. Nur die Oper erlaubte, das eigentliche musikdramatische Potential der neuen, diskontinuierlichen Satztechnik zu gestalten. — Melodramatische Einsprengsel in Opern und Singspielen lassen sich gleichwohl ab den I77oer Jahren häufig finden, z.B. auch in anderen Wiener Singspielen der Zeit: etwa in Henslers/Müllers >Sonnenfest der
539
zieht. Schikaneder wie Mozart zeigen eine ähnliche Stoßrichtung: alle künstlerischen Möglichkeiten der Gegenwart auszuschöpfen und daraus einen neuartigen Typ von Musiktheater zu entwickeln. Aus dieser Vielstimmigkeit und den Überlagerungen verschiedenster Traditionen resultiert ein Phänomen, das man in Anlehnung an Michail Bachtin als »Dialogizität« bezeichnen könnte.8 Wo Werke wie >Alceste< oder >Günther von Schwarzburg< die »Monologizität« klarer, hierarchisch gegliederter Ordnungen aufbauen, sind den Ordnungen der >Zauberflöte< die Brüche immanent. Der Synkretismus des Textes zeigt sich neben der zentralen Verbindung >hoher< und >niederer< Genres besonders auf ideologischer Ebene. Schikaneder vermischt heterogene Mythologeme aus Altägypten, der griechischen Antike und dem Mittelalter9 mit aktuellen, orientalisierenden Kunstmärchen und BraminenMedeaZauberflöte< (anders als in seiner >ThamosYvain< von Chrestien de Troyes und dem Beginn der >ZauberflöteIwein< von Hartmann von Aue durch den Kustos der Wiener Universitätsbibliothek K.J. Michaeler in Frage (Iwain, ein Heldengedicht vom Ritter Hartmann. Wien 1786/87). Michaeler war (wie Mozart) Mitglied der Freimaurerloge »Zur wahren Eintracht«; auch Schikaneder hatte Bezüge zu den Freimaurern (s. u.). Allerdings lassen sich zahlreiche der Übereinstimmungen auch aus den anderen Quellen herleiten, so daß der >YvainWigalois< von Wirnt von Grävenberc (bzw. dessen Vorlage >Le Chevalier du PapegauFiesko< (vgl. dort IV 2 mit >Zauberflöte< I 15: Tamino an den Pforten), daneben auch mit den >Räubern< oder mit Lessings >PhilotasMiß Sara Sampson< und >Minna von BarnhelmSturmSethosWilhelm Meisters theatralische Sendung< (I 8) oder in E. Th. A. Hoffmanns >Das steinerne Herz< belegen die Verbreitung des Stoffs ebenso wie ein Opernversuch von Maler Müller (vgl. Friedrich Adolf Schmidt: Maler Müllers Stellung in der Entwicklung des musikalischen Dramas. In: GRM 28 (1940), S. 179). Vgl. allg. Jahn I994C.
543
mer« (I 9), der Haremswächter Monostatos (der die Tradition der Türkenoper24 fortsetzt) und das Märchenmotiv der magischen Musikinstrumente 25 zeigen die vielfältigen Traditionen, die der Bühnenpraktiker Schikaneder vermischt. Hinzu kommen schließlich, in der deutschen Forschung oft übersehen, die aktuellen politischen Funktionalisierungen einiger Motivfelder durch die Französischen Revolution: der Sonnenmythos der Revolution, der den Sonnenmythos der Monarchie ablöst,26 und der Ägyptenkult.27 In diesen beiden Feldern berühren sich barocke Traditionen und moderne politische Aktualisierung so eng, daß beides kaum zu trennen ist.28 Der Mischcharakter des Werks verdankt sich zum einen dem Produktionsort des Vorstadttheaters mit seiner Volkstheatertradition, zum anderen der Personalunion von Autor, Schauspieler, Sänger, Prinzipal und Regisseur, mit der Schikaneder in einer über 150 Jahre alten Theaterpraxis steht.29 Mischungen heterogener Mythen und Ideologeme bilden jedoch keineswegs ein individuelles Charakteristikum des >ZauberflöteZauberflöte< als »gattungssprengendes« Werk31 nicht sinnvoll; sie sprengt durch ihren Synkretismus die verfügbaren Gattungen nicht, sondern fügt deren Elemente neu zusammen, wie dies auch andere zeitgenössische Werke versuchen. Das Phänomen des Synkretismus spiegelt auf ideologischer Ebene, daß die stratifizierte alteuropäische Gesellschaft mit der Klammer der christlichen Religion sich im späten 18. Jahrhundert zu einer funktionalen verändert, in 24
Vgl. allg. Betzwieser 1989 sowie oben II.6 zur Figur des Osmin. Die magischen Musikinstrumente sind ein häufiges Märchenmotiv. Vgl. Gisela Just: Magische Musik im Märchen. Untersuchungen zur Funktion magischen Singens und Spielens in Volkserzählungen. Frankfurt a. M. u.ö. 1991 (Artes Populäres 20). 26 Vgl. Starobinski 1977, S. 4off., S. 189. Deutliche Bezüge zwischen der Revolution und Sonnen-Mythologie zeigen sich in den 17 goer Jahren etwa in Goethes > Hermann und Dorothea< (Klio, V. 6ff.; 1796/97). 27 Ägyptische Mysterien, speziell der Isis-Mythos, bildeten einen besonderen Bestandteil der Festkultur der Französischen Revolution; vgl. Jurgis Baltrusaidis: La Quere d'Isis. Paris 1967. 28 Der Sonnenmythos im Kontext einer Struktur »Einheit — Störung/Spaltung — Wiederherstellung der Einheit« stammt ursprünglich aus der Gegenreformation (vgl. Miller 1979, S. 100) und wird dann sowohl vom absolutistischen Machtverständnis als auch — im umdeutenden Zugriff auf dessen ideologische Strukturen — von der Französischen Revolution aktualisiert. — Im österreichisch-böhmischen Barock sind auch ägyptisierende Requisiten nicht unüblich; vgl. Kunze 1984, S. 58if. 29 Schikaneders Rollen- und Stückrepertoire umfaßt die gesamte Breite dramatisch-musikalischer Stilformen; vgl. Hein (Hg.) et al. 1989, S. 98. 30 Dies gilt für alle Genres: vgl. etwa Lessings >Nathan der WeiseGeisterseher< oder >Braut von MessinaRunenberg< etc. " Vgl. Kunze 1984, S. 25
544
der das Christentum zunehmend Funktion und Geltungsanspruch als alleinige Welterklärungsinstanz verliert. Es wird zu einem von vielen Elementen, die bunt neu zusammengewürfelt werden können und die ohne Rücksicht auf ihre ursprüngliche Logik und Funktion verfügbar werden. Beschleunigt wird dieser Prozeß durch die Französische Revolution, deren neue politische Mythologie die alten Normsysteme relativiert oder zerstört. Die Abwertung der christlichen Religion von der zentralen Wertordnung zu einem mythologischen System neben anderen läßt sich nun auch in Mozarts Vertonung wiederfinden, auf einer rein musikalischen Ebene. Im Gesang der Geharnischten (II 28) schrieb Mozart eine Choralbearbeitung des protestantischen Chorais »Ach Gott, vom Himmel sieh darein«, eines Luther-Chorals, der »seit den frühesten reformatorischen Liedpublikationen zum Kernbestand des evangelischen liturgischen Gemeindegesangs zählt«. 32 Damit löste er die Tradition der protestantischen Choralbearbeitung aus ihrem angestammten historischen und funktionalen Bezug; aus einer prägenden und charakteristischen Form protestantischer Kirchenmusik wird ein im Zusammenhang der >Zauberflöte< verfremdend wirkender Kunstgriff, der »gänzlich außerhalb der damals — insbesondere im katholischen Raum — gültigen Musik« 33 liegt. Aus einer funktionalen, inhaltlich gebundenen Form wird ein frei verfügbares Kunstmittel. Mozart säkularisiert den Choral samt der ihm zugehörigen kirchenmusikalischen Satztechnik: Keinerlei speziell kirchliche Bezüge sind der Choralbearbeitung mehr beigemessen, sie gewährleistet als ein musikalisches Mittel neben anderen lediglich den besonderen Ernst und den Bedeutungsanspruch der dramatischen Situation. Mozart nimmt dem Choral auch kompositorisch seine kirchliche Alleingültigkeit: Er stellt ihn als eigenständige Schicht in den Bläsern neben andere Schichten des musikalischen Satzes (Streicher34), ohne ihn mit diesen zu verbinden. Der Choral bildet nur eine Schicht eines musikalischen Satzes der »Dialogizität«. Mozart schreibt keine Stilkopie, 35 sondern greift zu einem (extremen) künstlerischen Mittel für eine extreme dramatische Situation: den Beginn des letzten Prüfungswegs. 32
33 34
35
Albrecht Jürgens: Christliche Ritter in der >ZauberflöteKunst des reinen SatzesMissa Sancti Henrici< von Heinrich Ignaz Franz Biber). Dies übersieht Willaschek 1996, S. 350. Stefan Kunze hat dagegen im Detail ausgeführt, wie sehr sich Mozart hier etwa von der Choralbearbeitung J. S. Bachs unterscheidet. 545
Angesichts dieser Situation führt die philologische Suche nach einzelnen »Quellen« und Vorlagen, nach 1850 vom norddeutschen Protestanten Otto Jahn36 begonnen, in die Irre. Da kaum angenommen werden kann (obwohl das in der Forschung immer wieder unterschwellig geschieht), daß der vielbeschäftigte Schikaneder ausführliche Quellenstudien für sein Libretto betrieben hätte,37 ist dieser Synkretismus aus der Theaterpraxis zu verstehen, in der Schikaneder verankert war (— und die Forschern wie Jahn bereits fremd geworden war): Er griff mit dem sicheren Gefühl für theatralische Wirkung zahlreiche Möglichkeiten auf, die ihm die Literatur der Zeit bot, ohne literarische Stimmigkeit zum obersten Grundsatz zu machen.'8 Damit perpetuiert Schikaneder bewährte Schemata und Handlungsmuster, die auch in seinen späteren Libretti immer wieder auftauchen: v. a. das Schema von Prüfung und Belohnung, die fremde, möglichst exotische Umgebung sowie die Verbindung eines >hohen< und eines >niederen< Paares. Wesentlicher als alle Quellenstudien sind daher die Traditionen des Wiener Volks- und Zaubertheaters (mit seinen »Maschinen«Effekten, während die Theaterreformer unter Joseph II. gerade das Machinenwesen zu eliminieren versuchten39), auf deren Grundlage erst Schikaneders Zugriff auf die Stoffmöglichkeiten der umgebenden Literatur erfolgte, der er oft nicht mehr als allgemeine Anregungen entnahm. Wien als im späten 18. Jahrhundert einzigartiger Schnittpunkt verschiedener Theatertraditionen und musikalischer Stile stellte eine singuläre Fülle von Anschlußmöglichkeiten zur Verfügung, die Mozart und Schikaneder aus ihrer langjährigen Bühnenpraxis heraus auszureizen imstande waren. Die >Zauberflöte< konnte nur in dem spezifi36
J7
38
39
Otto Jahn: W. A. Mozart. 4 Bde. Leipzig 1856 — 59 u.ö. (erheblich überarbeitete Ausgabe von Hermann Abert in 2 Bänden, zuletzt Leipzig "1989/1990). Zujahns Musikästhetik vgl. Andreas Eichhorn: » . . . aus einem inneren Keim Ideen entwickeln ...« Zur Musikanschauung Otto Jahns. In: AfMw 52 (1995), S. 220 — 235. Allerdings zog sich der Entstehungsprozeß länger hin, als meistens gesehen wird. Bereits in einem Brief Schikaneders an Mozart vom 5. September 1790 geht Schikaneder auf Details der vorletzten Szene ein und akzeptiert einen Vorschlag Mozarts. (Auch dies spricht gegen die »Bruchtheorie«, derzufolge das Libretto im Juli 1791 erst in groben Zügen vorhanden gewesen wäre). Entsprechend verteidigte sich Schikaneder auch immer wieder gegen die Vorwürfe mangelnder literarischer Qualität, die ihm v. a. von den »Kunstrichtern« aus dem protestantischen Bereich entgegenschlugen: »[] ich schreibe nicht für Leser, ich schreibe für die Bühne, dahin verweise ich selbst meinen Herrn Rezensenten und — er mache sich alsdann noch lustig.« (Vorerinnerung zu: Der Grandprofos. Regensburg 1787). Vgl. ähnlich sein Vorwort zu: Der Spiegel von Arkadien. Wien: Ochß 1795. Ndr. in: Maske u. Kothurn i (1955), S. 360. Vgl. dazu Michtner 1970, S. I4of. Michtner übersieht allerdings die Differenz zwischen den Reformansätzen und dem realen Publikumsverhalten, wenn er etwa behauptet, daß 1782 »das Interesse an der barocken Flugmaschinerie gleichfalls längst erloschen« gewesen sei. Nicht nur die >Zauberflöte< (vgl. die Dokumente bei Deutsch (Hg.) 1961, S. 358 u.ö.), sondern zahlreiche Wiener Singspiele zeigen das Gegenteil.
546
sehen »System« Wien entstehen, das als einzige Metropole des deutschen Raums auch sozial eine gärende Dynamik wie keine andere deutsche Stadt aufwies.40 Diese Dynamik schlägt sich u.a. in der Vielfalt der privaten Vorstadttheater nieder, der gleichfalls nichts Vergleichbares im deutschen Raum gegenübersteht, und in der die Altwiener Volkstheater-Elemente ihre Zuflucht vor den Theaterreformern finden.41 Vorstadt-Publikum aber bedeutet keineswegs ausschließlich (klein)bürgerliches Publikum, sondern im Gegenteil primär ein heterogenes, gemischtes Publikum: Schikaneders Theater lag nahe am Zentrum Wiens, und Besuche aus den beamtenbürgerlichen Eliten und auch aus höchsten aristokratischen Kreisen in den Vorstadttheatern sind vielfach belegt.42 Das Problem vieler bisheriger Arbeiten zum >ZauberflöteZauberflöte< primär ein Investitionsgeschäft als Ausstattungs- und Prunkstück. 44 Es ging Schikaneder in seinem >Patchwork< aus Versatzstücken aller Art nicht um literarische Stringenz oder Originalität, sondern primär um Theaterwirksamkeit für heterogene Publiken und Ansprüche (worauf schon Goethe mehrfach hinwies45) — und um Raum für die Musik. Daß das >ZauberflöteLuluWilhelm Meisters Lehrjahre«). Besonders deutlich hat dies Michael Titzmann herausgearbeitet (Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit 1770—1830. In: Jürgen Link/Wulf Wülfing (Hg.): Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1984, S. loo—120). 49 Vgl. Branscombe 1991, bes. S. 32 und Koch 19693, S. 82. Zu Wenzel Müller vgl. allg. Walter Krone: Wenzel Müller. Ein Beitrag zur Geschichte der komischen Oper. Diss. Berlin 1906; Rudolf Haas: Wenzel Müller. In: MJB 1953, S. 8iff. '° Hein (Hg.) et al. 1989, S. 102. 51 Vorrede zum >Spiegel von Arkadiem, Maske und Kothurn i (1955), S. 360. 548
breite vom schlichten Strophenlied bis zu den großen Seria-Arien der Königin, vom liedhaften Duett bis zu den großen, komplex und disparat gebauten Finali realisiert. Mozart rückt nicht vorgegebene Strukturen (hierarchische Ordnungen des Textes, formale Muster und Konventionen der Musik) ins Zentrum, sondern die Vielfalt und Ambivalenz der einzelnen Figuren und ihrer Perspektiven. Wo Schikaneders Text (gattungstypisch) zu einer Typenhaftigkeit der Figuren tendiert, unterläuft Mozarts Musik dies. Von ihr erhalten die Figuren ihre Theatralität und ihre plastische Realität. 52 Dadurch, daß Mozart die einzelnen Figuren musikalisch auslotet und zu ihrem Recht kommen läßt, ergibt sich nun eine interne »Dialogizität« auch der Musik, die die ideologischen Strukturen des Textes abschleift. Mozarts Musik entzieht sich jeder Affirmation. Sarastro ist musikalisch nicht wichtiger als sein Untergebener Monostatos, Prinz Tamino nicht mehr wert als der Vogelmensch Papageno. Mozart schleift die Hierarchien ab und schafft eine musikalische Landschaft kontrastierender Perspektiven und Stile. Dieser »Dialogizität« und Heterogenität aber stellt Mozart zugleich starke, konstruktiv gerichtete Kräfte entgegen. Die großformale Tektonik (z.B. der Tonartenfolge) schafft einen Bezugsrahmen, in dem sich intern eine maximale Vielstimmigkeit entfalten kann. Anders als in der »Monologizität« der bruchlosen Ableitungstechniken des Generalbaßzeitalters kann Mozarts Satztechnik die musikalischen Gebilde frei disponieren durch den Bezug auf neutrale Koordinationssysteme.53 Damit eröffnet sich die Möglichkeit einer musikalischen Dramaturgie, die keineswegs identisch mit der Handlungsdramaturgie des Librettos sein muß. Das aber ist erst möglich auf der Grundlage einer Autonomie der Musik, 54 von der auch die Struktur des Librettos bereits ausgeht.55
2. Tamino-Arie Daher soll auch hier zunächst von der Musik ausgegangen und an einem konkreten Beispiel auf die Auswirkungen hingewiesen werden, die die Autonomie und die »Dialogizität« von Mozarts Musik für das anthropologische Verständ52
51 54 55
Dies zeigt sich deutlich im Vergleich mit Henslers/Müllers >SonnenfestSonnenfest der Braminen< (1790, Produktion der Leopoldstädter Konkurrenzbühne), wo die junge Insulanerin Bella in ihrer ersten Arie (I 5) dramaturgisch wie textlich die Tamino-Arie vorwegzunehmen scheint: Wie ist mir zu Muth, Mir kochet das Blut Ich fühl etwas schlagen Ich kann es nicht sagen — Da gehts - titiri - ti Bald lach' ich ha — ha -ha — Bald wein' ich — hi — hi — hi — 56
57
Vgl. bes. Thrasybulos Georgiades: Schubert. Musik und Lyrik. Göttingen 1967, S. i22ff., sowie Kunze 1984, S. 598ff.; eher dramaturgisch-psychologische Aspekte finden sich bei Willaschek 1996, S. 3t5ff. Vgl. Borchmeyer 1992, S. 5.
550
Ich weiß nicht, was es ist, Ob das wohl Liebe ist? Ja — ja — Nein - nein — Die Liebe muß es seyn Was der Bramin von Liebe spricht Nein, nein, nein, nein, das glaub ich nicht. 58
Im Vergleich mit diesem Arientext wird allerdings auch die Qualität des Schikanedertextes deutlich: Dies Bildniß ist bezaubernd schön, Wie noch kein Auge je gesehn! Ich fühl es, wie dies Götterbild Mein Herz mit neuer Regung füllt. Dies etwas kann ich zwar nicht nennen; Doch fühl ichs hier wie Feuer brennen. Soll die Empfindung Liebe seyn? Ja, ja! die Liebe ists allein. O wenn ich sie nur finden könnte! O wenn sie doch schon vor mir stände! Ich würde — würde — warm und rein — Was würde ich! — Sie voll Entzücken An diesen heißen Bußen drücken, Und ewig wäre sie dann mein.59
Es handelt sich um ein Sonett,60 was dichtungstheoretisch bemerkenswert ist. Denn die Form des Sonetts, die ihre erste Blütezeit in der deutschen Literatur im 17. Jahrhundert hatte, galt der aufklärerischen Poetik als veraltet und wurde z.B. von Gottsched, Bodmer und Breitinger abgelehnt. Schikaneders Rückgriff auf die angeblich veraltete Sonettform fügt sich in die Reihe der barocken 58
59
60
Das Sonnenfest der Braminen. Ein heroisch=komisches Original=Singspiel in zwey Aufzügen, für die k.k. privil. Marinellische Schaubühne von Karl Friedrich Hensler. Die Musik ist von Herrn Wenzel Müller, Kapellmeister. Wien 1790. Repr. GO 22, S. 15. Der von Müller komponierte Text weicht vom Text des Librettodrucks strekkenweise ab. Die Zauberflöte. Eine große Oper in zwei Aufzügen. Von Emmanuel Schikaneder. Die Musik ist von Herrn Wolfgang Amade Mozart, Kapellmeister, und wirklichen k.k. Kammerkompositeur. Köln: Langen 1794. Repr. Köln 1991, S. 11 [ich zitiere nach diesem Librettodruck, weil er textlich identisch ist mit dem Wiener Erstdruck, aber durch den neuen Faksimile-Nachdruck leichter zu erreichen ist als jener. Der einzige philologisch verläßliche Neudruck liegt in Rommel (Hg.) 1935/39, Bd. i, S. 263-318, vor.] Vgl. Georgiades 1967 [wie Anm. 56], S. I22ff. Hermann Dechant (Arie und Ensemble. Zur Entwicklungsgeschichte der Oper. Bd. i, Darmstadt 1993) erkennt dagegen die konstitutive Sonettstruktur nicht: »Der Arie No. 3 des Tamino [ ] liegen drei Textstrophen zugrunde [ ].« Nicht einmal der Blick auf Mozarts Musik kann Dechant erschüttern; ungerührt konstatiert er, daß von dieser angeblichen dritten Strophe »zunächst nur drei Zeilen vertont« werden (S. 1670. Die hier erkennbare Ungenauigkeit kennzeichnet leider das ganze Buch Dechants. 551
Traditionen in der >Zauberflöte< ein; er zeigt somit erneut die hohe Bedeutung des barocken Hintergrundes als einer selbstverständlichen Bezugsgrundlage, über die die süddeutschen Autoren frei verfügen können, während die aufklärerische Poetik im protestantischen Bereich zahlreiche Traditionen abbricht. Erst gegen Ende des Jahrhunderts kommt es dort, etwa im Werk Gottfried August Bürgers, zu Ansätzen einer Wiederbelebung, deren Status jedoch umstritten bleibt; noch im frühen 19. Jahrhundert versuchen die Brüder Humboldt mühsam, das Sonett in der Berliner Salonkultur wieder einzubürgern. 6 ' Schikaneders Sonett erscheint freilich weniger von literarischen Normen bestimmt; dies zeigt etwa die Fülle der »unreinen« Reime, die bei einem vertonten Text, anders als bei einem reinen Lesetext, kaum ins Gewicht fallen. Es handelt sich um keine tendenziell autonome Kunstlyrik nach primär literarischen Kriterien (wie etwa bei dem Sonett, das Goethe in >Jery und BätelyFreyschütz< (1821) ist diese Situation konstitutiv. Darüber hinaus wird dies auch zu einer dominanten Struktur der erzählenden Literatur des 19. Jahrhunderts (von Tiecks >Runenberg< bis zu Raabes >Zum Wilden MannZauberflöte< dar, die in dieser Arie wie in einem Brennglas gebündelt erscheint. Taminos Liebe wird ja gezielt ausgelöst von der Königin, die ihm das Bild68 ihrer Tochter zuspielt und dessen Wirkung auf ihn beobachtet. Tamino erfüllt in seiner dynamischen Reaktion, die offenbar genau so zu erwarten war, ihr Kalkül; sein Verlieben bildet »das Siegel für die Integration des jungen Mannes in die Ordnung der regierenden Macht — sei dies nun die Macht der Königin und ihres Frauenstaates, sei es die Verfügungsgewalt von Sarastros freimaurerisch-aufgeklärtem Männerbund. Tamino tritt in ein hochentwickeltes, streng kodifiziertes Kultursystem ein, und seine Verbindung mit Pamina stellt die rituelle Bestätigung dafür dar, dass er die geltenden moralischen, politischen und philosophischen Normen übernommen hat [].«69 Auch in der Bella-Arie vollzieht sich Vergleichbares: Durch ihre personal-exklusive Liebe zeigt Bella, daß sie derselben Anthropologie folgt wie der fremde Europäer, während ihre braminische Umgebung andere kulturelle Normen hat und kein Verständnis für den Europäer aufbringen kann. 68
69
Auch die Bildnisbegegnung ist ein barocker Topos, der v. a. für den >hohen< Staatsroman und das Drama charakteristisch ist. Auch in der barocken Oper begegnet sie häufig (so häufig, daß mit dem Motiv schon wieder gespielt werden kann: So findet sich in Aurelio Aurelis Opernlibretto >L'Antigona delusa d'Alceste< (ca. 1664) ein falsches Bildnis); im deutschen Bereich wären Beispiele z. B. Barthold Feinds/Reinhard Keisers >Masagniello Furioso< (1706; Szene II 10) oder Hayms/Händels >Radamisto< (1720; 1722 in Hamburg auf deutsch gegeben udT >Zenobia oder Das Muster rechtschaffener ehelicher Liebereine< Dominantseptakkord tritt erst im allerletzten Moment ein, nachdem er noch auf der vierten Zählzeit durch den Vorhalt g getrübt erscheint. Zudem ist der Takt durch eine kurze Generalpause (Aussparen des bisher konstitutiven Auftaktes: eine aposiopesis-figur) vom vorigen abgesetzt und erscheint wider Erwarten im piano nach vorausgehendem forte, in tiefer Lage (tiefster Ton der Singstimme überhaupt; Nonsprung abwärts) und abtaktig. Tamino befindet sich auf einer »Entdeckungsreise ins eigene Ich«84 mit Ungewissem Ausgang. 80
Umkehrung des Sextgangs von T. 3 in T. 50; Motivwiederholung T. 52ff. Hier verwendet Mozart jeweils verminderte Akkorde in der Funktion verkürzter Doppeldominantsept- bzw. -septnonakkorde (in Quintlage). Sie heben sich von der sonst so klar erscheinenden Harmonik ab (in T. 12 besonders, weil durch den kadenzierenden T. 11 eigentlich ein Es-Dur-Grundakkord statt des überraschenden verminderten Septakkords erwartet wird). 82 Diese Passage (T. 2c>{{., »die Liebe«) weist eigentümliche Inversionen zu T. jff. auf (dem noch sprachlich unbestimmten »ich fühl' es«), ist aber nun harmonisch erheblich labiler (Wechsel von Sekund- und Terzquartakkord von B-Dur mit subdominantischem Es-Dur-Sextakkord). 83 Bezeichnend auch die insistierende Wiederholung des Wortes »Liebe«, die sich deutlich von den sonst sparsamen Wort Wiederholungen in dieser Arie abhebt. 8 4 Willaschek 1996, S. 317. 81
558
Dagegen bringt die folgende erste Terzine nun scheinbar83 die Lösung: einen breiten Orgelpunkt auf B (T. 34-43). Nach zweimaligem Ansatz86 gerät Tamino jedoch ins Stocken (»ich würde — «): Über dem scheinbar stabilen Grundton tritt eine Fülle rascher, unruhiger harmonischer Wechsel ein, die zudem durch die häufigen chromatischen Vorhalte undeutlich wirken und kaum zu fassen sind. Der Partitursatz spaltet sich in den schnellen Wechsel von Bläsern und Streichern (mit Seufzermotiven), was zugleich eine neue räumliche Tiefe des Klangs ergibt. Es wirkt, als blitzte eine Fülle von Möglichkeiten in Tamino auf, ohne daß er sich ihrer bemächtigen könnte. Nach der überraschenden, »bewußtseinschaffenden« 87 Generalpause wird durch das nun klare, über vier Takte ausgebreitete und befestigte Es-Dur das B-Dur des vorigen Abschnitts umgedeutet: Aus dem Orgelpunkt, der scheinbaren Lösung, wird die Dominante der >eigentlichen< Haupttonart. Dadurch wird der ganze vorige Abschnitt zur Vorbereitung des Eigentlichen, das jetzt eintritt: Tamino ist sich über sich und seine neue Emotionalität klar geworden. Nachdem dies in Es-Dur über vier Takte breit befestigt und durch das lange crescendo bestätigt wurde, hat Mozart den (utopischen) Wunsch nach der ewig konstanten Liebe (»und ewig wäre sie dann mein«) wiederum mit einer einfachen, aber wirkungsvollen harmonischen Wendung versehen: In T. 49 wird das herrschende Es-Dur zu einem Septakkord mit dominantischer Funktion; anstelle des zu erwartenden As-Dur erscheint (nach kurzer, gliedernder Pause in der Taktmitte) dessen parallele Moll-Tonart f-Moll in Terzlage. Im Gegensatz zu der raschen rhythmischen Bewegung zuvor halten die Streicher nun den Akkord als lange Note aus. Die zwei Takte 50/51 setzen sich ab von allem Vorherigen, wie ein träumerischer Moment des Innehaltens. Die nun (T. 52ff.) folgende reprisenartige wörtliche Wiederholung der T. roff. mit neuem Text wirkt dagegen wie ein ungemein plastischer musikalischer Moment der Heimkehr. Noch die kleinsten Nuancen stehen im Dienst dieser dramaturgischen Konzeption: so etwa die unscheinbare, aber so spürbare Dehnung des Auftakts zu T. 10 (Sechzehntel, »mein [Herz]«) im Auftakt zu T. 52 (Achtel, »und [e-wig]«), so auch die ausweitenden Gebärden des Schlusses. Mozart erreicht mit überaus schlichten und ökonomischen Mitteln eine Plastizität und Präzision der musikalischen Dramaturgie, die kaum ihresgleichen kennt. 88 Er illustriert äußere Vorgänge nicht, sondern verwandelt sie in musi85
86
87 88
Anders Kunze 1984, S. 605, der hier bereits die Realität der neuen Liebe erreicht sieht. Taminos Melodie kehrt hier die Anfangsgeste (T. 3/4) um: statt Skalengang eine Sept abwärts nun Skalengang eine Sept aufwärts. Kunze 1984, S. 606; ähnlich Willaschek 1996, S. 317. Dies wurde auch schon von der zeitgenössischen Kritik bemerkt, die Mozart (v. a. im norddeutschen Schrifttum) zunächst häufig Überladenheit des Satzes vorwarf (vgl. o. H.6 und u. Teil III). Dagegen heißt es über die >Zauberflöte< etwa im Journal des
559
kaiische Konstruktion. Auch auf anderen Ebenen des musikalischen Satzes, etwa auf melodischer89 oder auf der Ebene der Taktgruppen-Tektonik mit ihren oft unregelmäßigen und asymmetrischen Elementen, ließen sich diese Beobachtungen fortführen und vertiefen.90 Es gibt keinen virtuosen Selbstzweck: Die Tamino-Arie weicht radikal ab von den Konventionen einer Auftritts-Arie eines hohen »primo uomo«. Dies zeigt ein vergleichender Blick auf die entsprechende Arie des Belmonte (»O wie ängstlich«) aus der >Entführung aus dem SerailZauberflöte< davon ganz abweicht, und große Muster eines schönen, edlen und einfachen Gesanges giebt.« Die Melodik ist bei aller Schlichtheit und trotz relativ geringem Ambitus von einer plastischen und >sprechenden< Qualität, in der z.B. der Spitzenton äs' keinen virtuosen Zwecken dient, sondern inhaltlich genauestens bezogen wird (T. 9: »Götterbild«; T. 37/39: Taminos Wendung zu Pamina; T. 48: sein »heißer Busen«, T. 50/55/59: Besiegelung der »ewigen« Treue). Dies gilt auch z.B. für die wenigen Koloraturen Taminos: Kennzeichnen sie zunächst Taminos »Herz« (T. 10, zusätzlich herausgehoben durch die Textwiederholung) und »Empfindung« (T. 24), so stiftet der Rückgriff auf das »Herz«-Motiv ab T. 52 (der einzige motivische Rückgriff in dieser Arie) nun Koloraturen auf »ewig«. Das verleiht der insgesamt alles andere als symmetrisch gebauten Arie einerseits eine äußerst sinnfällige musikalische Abrundung, eine Art Dacapo-Effekt ohne ein wirkliches Dacapo; zum anderen stimmt die dadurch entstehende, reprisenähnliche Struktur textlich mit dem abschließenden Gestus der Schlußzeile überein — und dramaturgisch mit der nun veränderten Situation Taminos. »An die Stelle wiederkehrender und variierter, die einmal festgelegte Struktur festigender Elemente — jeder komponierende Zeitgenosse Mozarts wäre so verfahren —, treten [ ] einzelne Glieder und Fragmente, die in voneinander getrennten Abschnitten so aneinandergereiht werden, daß in jedem neuen Gedanken die Substanz des vorangegangenen aufgehoben ist.« (Willaschek 1996, S. 31 jf.) Für vertiefte Analysen der Arie vgl. o. Anm. 56. Die Arie des Belmonte (Nr. 4) weist viele Parallelen zur Tamino-Arie auf. In beiden Arien beschreibt der hohe Liebhaber seine Liebe und ihre bis ins Körperliche reichenden Auswirkungen. Stephanies Text erfüllt die typische Konvention einer Opernarie des frühen und mittleren 18. Jahrhunderts: das monologische Innehalten und Darstellen eines bestimmten Affektzustandes. Die Liebe, um die es hier geht, ist schon vor Beginn der Arie klar; die Arie beschreibt einen bestimmten Zustand der körperlichen Auswirkungen dieser Liebe in der dramatischen Situation der Trennung. Was in der Tamino-Arie sich vor den Augen und Ohren des Publikums vollzieht, ist demgegenüber etwas vollkommen anderes: kein bekannter, topischer Affekt, sondern eine Öffnung ins Unbekannte.
560
lig: keine ausgedehnte Einleitung, keine Koloraturen, keine Virtuosität wie in der Belmonte-Arie; stattdessen eine Genauigkeit und Schlichtheit, die die universale Verständlichkeit des Vorgangs und des dargestellten Gefühls sichert. Hinzu kommt, daß Tamino, anders als Belmonte, keine weitere Arie zu singen hat - auch dies ist äußerst ungewöhnlich für das Rollenfach des hohen Liebhabers. Tamino tritt (nicht auf der Handlungsebene, aber sehr wohl auf musikalischer Ebene) immer mehr zurück. Es scheint, als ob seine musikalische Funktion primär in der Darstellung der neuen Emotion liege. Danach treten andere Gesichtspunkte in den Vordergrund: Es geht in der >Zauberflöte< um anderes als um eine konventionelle Liebesgeschichte ä la >Entführung aus dem Serail< um die Regulierung und Integration dieser neuen Emotion. Dafür spricht auch, daß es in der >Zauberflöte< nicht einmal ein Duett der beiden Liebenden gibt. In der >Zauberflöte< kommt es viel radikaler als in der >Entführung< zum Ab- und Umbau herkömmlicher musikalischer Gestaltungsmittel, wo diese der dramatischen Intention entgegenstehen (keine Dacapo-Arien, kaum Arien-Einleitungen, nur >versteckte< Reprisen etc.). Deutlich zeigt sich dies in der Verwendung von Koloraturen.92 Was in der >Entführung< noch zum Selbstzweck, d.h. zur Selbstdarstellung der Sänger tendierte (»der Cavalieri geläufige Gurgel«), wird in der >Zauberflöte< funktionalisiert. Nur die Königin und das hohe Paar haben Koloraturen; das betont ihre >hohe< Ebene. Bei der Königin sind die Koloraturen am auffälligsten und heben sie in ihrem ekstatisch-bedrohlichen Funkeln von allen anderen Figuren ab.9i Die Opera seria als der traditionelle musikalische Raum von Königen wird hier als Anspielungsraum dramatisch funktionalisiert; 94 zugleich zeichnen die extremen und im Kontext des Werkes seltsam wirkenden Koloraturen der Königin den Charakter ihrer eigentümlichen und unheimlichen, unheilvollen Natur. 92
93
94
Sehr bezeichnend ist dafür der erste Entwurf zur Introduktion, in dem Mozart zunächst eine große Kadenz der Drei Damen vorgesehen hatte (vgl. NMA 5/19, S. 371), die gerade ihre Macht durch das Töten der Schlange demonstriert hatten. Dieser musikalisch äußerst wirkungsvolle Abschluß eines Ensembles durch eine gemeinsame Kadenz mit Koloraturen fällt dann aber der dramaturgischen Sensibilität Mozarts zum Opfer und wird durch zwei schlichte Wiederholungstakte ersetzt. Die musikalischen Mittel dürfen sich nicht mehr verselbständigen, und wo sie dazu tendieren, opfert sie Mozart, auch wenn sie aus einer rein musikalischen Logik am Platz scheinen könnten. Aufführungsgeschichtlich wurden jedoch auch bei anderen Figuren die Koloraturen oft wieder durch die Verzierungspraxis eingerührt (vgl. Branscombe 1991, S. 1590. Darin spiegelt sich eine Anpassung an ältere Normen und Unverständnis für Mozarts Funktionalisierung des Gestaltungsmittels, die offenbar von der zeitgenössischen Norm abwich. Auf sehr ähnliche Weise hat Mozart dies in >Le nozze di Figaro< gestaltet, wo der Graf Almaviva als einzige Figur eine typische >hohe< Seria-Arie singt (»Vedrö, mentre io sospiro«, Nr. 18) und dadurch auch musikalisch von den anderen Figuren abgehoben und getrennt wird. 5 6l
Im Vergleich zur >Entführung aus dem Serail< wird auch deutlich, wie wenige Wiederholungen95 es in der Musik der >Zauberflöte< gibt. Mozart tendiert zur dramatischen Ausfüllung und Verdichtung jedes Augenblicks. Im Zentrum der Gestaltung stehen nicht musikalische Konventionen oder sprachliche Strukturen, sondern die einzelne Bühnenfigur und ihre dramatische Situation. Erst auf dieser satztechnischen Stufe wird die neue Anthropologie, die in der sich verändernden Tamino-Figur auf der Bühne plastisch Gestalt findet, auch musikalisch gestaltbar. Die dekorative orchestrale Prachtentfaltung, die noch die >Entführung aus dem Serail< kennzeichnete, ist gestrichen. Das mag ausgelöst sein von der Produktions- und Rezeptionspraxis des Vorstadttheaters, bei dem Mozart im Verhältnis zur Hofoper z. B. bescheidenere Orchester-Möglichkeiten zur Verfügung standen96 und bei der die repräsentative Prachtentfaltung fehl am Platz erschienen wäre. Die Begrenztheiten werden jedoch zum bewußt eingesetzten Sinnträger. Lediglich die beiden Zauberinstrumente erhalten solistische Passagen, ganz im Gegensatz zur häufigen Verwendung konzertierender Instrumente in der >Entführung< oder bei Zeitgenossen.97 Doch auch die obligaten Flötenpartien sind technisch schlichter als etwa in der >Entführung< (vgl. dort etwa die »Martern«-Arie Nr. n). Mozart läßt beim ersten Flötensolo (Finale i) gerade genug Zeit für die Orpheus-Anspielung, dann bricht er das Rondo ab, um dramatisch weiterzukommen.98 Auch die Chöre sind auf ein Minimum reduziert und gewährleisten zugleich ein Maximum an Bedeutung.99 Die Zielrichtung Mozarts, den musikalischen Satz so schlank wie möglich zu halten, zeigt sich auch an den Änderungen, die er nachträglich am Autograph vornahm. Wie Gernot Gruber erkannt hat, reduzieren 30 dieser Änderungen den Satz, während nur 7 ihn ausdehnen oder verstärken.100 95
96
97
98
99
100
Außer den Strophenliedern und wenigen unwesentlichen Details praktisch nur 14 Takte in Nr. i und der Marsch im II. Finale. Doch auch Textpartikel werden von Mozart nur sehr selten wiederholt; hier liegt eine große Differenz zum Verfahren sowohl der italienischen Oper als auch des deutschen Musiktheaters. Zur Geschichte und Situation des Freihaustheaters auf der Wieden vgl. Otto Erich Deutsch 1937: Das Freihaustheater auf der Wieden 1787—1801. Wien 1937 und Eise Spiesberger 1980: Das Freihaus. Wien/Hamburg 1980 (Wiener Geschichtsbücher 25). Das Orchester des Freihaustheaters hatte jedoch in den frühen i79oer Jahren mit etwa 35 Musikern eine beachtliche Größe, auch verglichen mit der Wiener Hofoper und ihrem Orchester (1781: 37 Musiker). Vgl. z.B. die Violin- und Oboen-Soli in >MedeaGünther von Schwarzburg< (bis hin zu Hörn oder Viola). Auch das Ballett, das auch in den Vorstadttheatern zum Musiktheater gehörte, wird aufs Äußerste reduziert; lediglich in der »Orpheus«-Szene findet sich mit dem Tierballett eine Schwundform der topischen Ballett-Szenen. (In der >Entführung< fehlt das Ballett, weil Joseph II. zu dieser Zeit das Ballett am Nationaltheater aus Kostengründen abgeschafft hatte.) Vgl. Thr. Georgiades: Der Chor »Triumph, Triumph, du edles Paar« aus dem 2. Finale der Zauberflöte. In: Ders. 1977, S. 145 — 156. Gernot Gruber: Das Autograph der >Zauberflötefalsche< Paar Pamina-Papageno. Gegen alle Gesetze des Genres und der Rollenfach-Traditionen verbindet Mozart hier die >hohe< Liebhaberin und die komische Figur zum Duett, während dem Liebespaar kein Duett zugebilligt wird. 101 Dieses Duett aber hat musikalisch so deutliche Bezüge zur Tamino-Arie, daß daraus die Zentralstellung der neuen Emotionalität deutlich wird: Das Duett bestätigt Taminos Arie aus einer anderen Perspektive und bildet eine Art »Rahmen« der individuellen Tamino-Arie.102 Mit ihrem oft wiederholten Schlußvers »Mann und Weib und Weib und Mann/ Reichen an die Gottheit an« bestätigen Pamina und Papageno auch aus einer anderen Perspektive die Aufwertung der Liebe zu einem summum bonum (s. u.)· Nicht
des philologischen Befundes. In: MJB 1967, S. 127— 149 und MJB 1968—70, S. 99IIO. 101
102
Ungewöhnlich ist auch die Paarung der Außenstimmen Sopran—Baß. Mozart hat diesem Duett liedhaften Charakter verliehen, aber bei aller Schlichtheit beide Figuren mit individuellen Zügen versehen (vgl. Paminas Figurationen). Vgl. Kunze 1984, S. 588; Willaschek 1996, S. 306. 563
zuletzt deshalb gehörte das Duett bei den Zeitgenossen zu den beliebtesten Stücken des Werks.103
3. Veränderungen im Verständnis von Emotionen Dynamische Vorstellungen von Emotionen, wie sie an der Tamino-Arie sichtbar wurden, signalisieren eine neue Transformation im Verständnis menschlicher Emotionalität in den iy9oer Jahren. Diese Transformation zu einer neuartigen Anthropologie, wie sie im künstlerischen Verfahren der Tamino-Arie aufblitzt, entwickelt sich aus der anhand des Melodrams dargestellten Konzeption (s.o. II.4), die in zahlreichen Punkten übernommen bzw. weitergeführt wird. Allerdings sind die Konsequenzen, die jetzt gezogen werden, z.T. wesentlich andere. 3.1. Weitergeltende Regularitäten Von den anhand des Melodrams ausgeführten Regularitäten behalten einige Bestimmungen ihre grundsätzliche Gültigkeit: das grundlegende MesallianceVerbot (Alter, Sozialstatus); die Regel der Rivalitätsvermeidung (die z. B. Sarastro in I 18 betont); die notwendige Gegenseitigkeit der Liebe (Sarastro in I 18); die Annahme der Konstanz von Emotionen wie der Liebe (Tamino I 4, Königin I 6) und von personalen Beziehungen.104 Ebenso bleibt weiterhin die direkte erotische Ebene weitgehend ausgeklammert: Die Beziehung TaminoPamina ist auffallend unerotisch angelegt. (Eine Ausnahme bildet dabei Papageno, der dieser Anthropologie ohnehin nur begrenzt folgt, s. u.) Wie im Bereich der Melodramen ist in den Wiener Werken der iy9oer Jahre (wie der >Zauberflöte< oder dem >Sonnenfest der Braminen Vgl. NMA 5/19, S. X.
104 105
Vgl. o. II-4 sowie allg. Titzmann 1990, S. I4off. Dies bezieht sich nur auf die Ebene des offiziellen Selbstverständnisses; denn auf der Handlungsebene verhalten sich die Eingeweihten keineswegs immer nach ihrer Ideologie.
564
tionen auf (die »kochende«106 Rache der Königin, Monostatos' »Feuer« II 7), erweisen sich dadurch als negativ, werden aber in Mozarts Musik mitunter verständlich gemacht (z. B. in der Monostatos-Arie, oder bei der Königin der Nacht). Papageno schließlich kann die kulturell geforderten Restriktionen nicht erfüllen, kommt aber dennoch zu einem positiven Schluß. Der Ausschluß negativer Emotionen ist daher nicht mehr selbstverständlich wie in der älteren Anthropologie, sondern wird als eine (privilegierte) Möglichkeit neben anderen vorgeführt, die das Subjekt selbst wählen muß. Dargestellt wird dies im Modell der Initiation. In der Figur Paminas schließlich werden sogar die negativen Emotionen (wie Leid) als wichtige, existentielle Erfahrung und als Voraussetzung zur Lösung des Stücks gestaltet. Ebenfalls wie in den Melodramen werden nun Gefühle sowohl begrenzter als auch tendenziell unbegrenzter Intensität dargestellt: Die Tamino-Arie führt vor den Augen der Zuschauer vor, wie die Intensität des neuen dynamischen Gefühls die Figur aus ihrer Normalität herausrückt.107 In der Figur Taminos wird dabei einerseits die Gefühlsdarstellung intensiviert, zugleich aber auch demonstriert, daß die unbegrenzte Intensität nicht zum Ziel führt, sondern erst einer Einschränkung auf das richtige, sozial-integrative Maß bedarf. Dagegen weisen die negativen Figuren wie Monostatos oder die Königin eine unbeherrschte Intensität der Gefühle auf, die sie disqualifiziert. Die Liebeskonzeptionen vervielfältigen sich. Die Königin versteht Liebe im alten, strategisch-rationalen Sinne des ancien regime als taktische Verheiratung der Kinder aus Machtgründen; Pamina dient ihr als Köder im Machtkampf (erst für Tamino, dann [II 30] für Monostatos). Dagegen steht das neue Konzept der personalen exklusiven Liebe bei Pamina-Tamino, das durch den Prüfungsweg >gereinigt< und in kulturelle Normierungen eingebunden wird. An diesem nicht mehr rationalen begründbaren Liebeskonzept108 scheitert das strategischtaktische Verhalten der Königin: Es verstößt gegen grundsätzliche Axiome der neuen Exklusions-Individualität. Zwar gelingt die von ihr inaugurierte Verbindung Tamino-Pamina, aber gerade nicht zur Erfüllung des ursprünglich intendierten Zwecks, der dem neuen Liebeskonzept fremd ist.109 In der Anthropolo106
Titzmann 1990, S. 163. Dies ist dramaturgisch eingebunden durch die Regieanweisung am Ende der vorigen Szene: »Tamino ist gleich beym Empfang des Bildnisses aufmerksam geworden; seine Liebe nimmt zu, ob er gleich für all diese Reden taub schien.« 108 Die Exklusions-Individualität ist in der >Zauberflöte< schon in der Introduktion (Nr. i) vorgeformt: Die drei Damen, zunächst als Kollektiv handelnd, individuieren sich durch die Schönheit Taminos, die individuelle Liebe (und damit auch Streit) auslöst — und den »amour naissant« der Tamino-Arie vorwegnimmt. 109 Vgl. folgende Nachschrift W. A. Mozarts zu einem Brief von Maria Anna Mozart an Leopold vom 7.2.1778: »dem H: von schidenhofen war es nothwendig sich eine reiche frau zu wählen; das macht sein adl. Noble leüte müssen nie nach gusto und liebe heyrathen, sondern Nur aus intereße, und allerhand nebenabsichten; es stünde auch 107
565
gie der (Früh)Aufklärung sind die Liebesbeziehungen durch überindividuelle Eigenschaften geregelt; dem einzelnen Subjekt als Träger dieser Eigenschaften steht stets eine Gruppe möglicher Partner gegenüber, die untereinander austauschbar sind. Dagegen beruht die neue Anthropologie der Exklusions-individualität auf der Vorstellung von der individuellen Unaustauschbarkeit und Unersetzlichkeit der Partner. Das Subjekt definiert sich und seinen Partner jetzt nicht mehr durch überindividuelle Eigenschaften und Zugehörigkeiten, sondern gerade durch seine individuelle Emotionalität als unaustauschbares Subjekt. Dagegen lehnen sich die niederen und komischen Figuren oft auf bzw. brechen diese neue Norm: Barzalo und Mika im >SonnenfestZauberflöte< ist deutlich, daß sich z.B. Paminas Gefühle ihrer Mutter gegenüber deutlich von denen gegenüber Tamino unterscheiden. Diese Ausdifferenzierung führt zu einer potentiellen Aufwertung der Liebe zum affektiv höchsten Wert überhaupt (vs. Freundschaft, Familie etc.). Die Partnerschaft wird zum »summum bonum« verklärt, das mit der Gottheit konkurriert oder sie ersetzt111 und das ideologischen Sinn stiftet. Wenn Individuum und Partner je einmalig und unersetzbar sind, dann führt ein Festhalten am TheodizeeGedanken dazu, daß es für jedes Subjekt nur genau einen vorbestimmten Partner gibt. Dies gewährleistet, daß es selbst für eine so exotische Figur wie Papageno eine einzige passende Partnerin gibt: Papagena. Diese Theodizee ist jedoch säkularisiert: Die Gesellschaft der Eingeweihten ersetzt eine transzendente Größe und gewährleistet die Theodizee.
110
111
solchen hohen Personnen gar nicht gut wenn sie ihre frau etwa noch liebeten, nachdemm sie schon ihre Schuldigkeit gethan, und ihnen einen Plumpen Majorads=herrn zur weit gebracht hat. aber wir arme gemeine leüte, wir müssen nicht allein eine fraunehmen, die wir und die uns liebt, sondern wir därfen, können, und wollen so eine nehmen, weil wir nicht Noble, nicht hochgebohren und adlich, und nicht reich sind, wohl aber niedrig, schlecht und arm, folglich keine reiche frau brauchen, weil unser reichthum nur mit uns ausstirbt, denn wir haben ihn im köpf; — — «. (MBA 2, S. 263f.) Vgl. die Porcia-Arie in >BrutusSonnenfest der Braminen< führt die höchstwertige Liebe zu Normverstößen, so etwa als Rechtfertigung für Lauras Betrug am Gouverneur (I 13, I 15, II 10) oder in der Verletzung der grundlegenden Regel der Rivalitätsvermeidung am Ende des Stücks: Eduard steht zwischen Bella und Laura, und keine der Frauen wird negativ gewertet. 567
bricht Papageno diese Vorstellung: Sein Selbstmordversuch II 29 ist einerseits Reaktion auf den Verlust des Partners, parodiert aber zugleich die ganze Konzeption. Denn Papageno insistiert gerade nicht auf der Unersetzbarkeit des Partners, sondern flirtet mit dem Publikum: Er würde potentiell jede Partnerin akzeptieren. Eine Vorstufe dazu sind die Melancholikerinnen (Konstanzes »Traurigkeit«; Lauras »Melancholie«); auch sie verweigern sich dem Zwang zur >falschen< Liebe ihrer Entführer, der als Zerstörung ihrer subjektiven Emotionalität verstanden wird, und nehmen lieber die Verletzung durch »Martern aller Arten« dafür in Kauf. Im Gegensatz zur >Zauberflöte< aber stellt für sie der Selbstmord keine Alternative dar, sondern wird tabuisiert.114 Eine weitere Gefahr der neuen Anthropologie liegt in Täuschung und (Selbst-) Betrug durch die positive emotionale Besetzung eines anderen. Die grundsätzlich geforderte positive emotionale Hinwendung zu einer anderen Figur wird verwechselbar mit deren moralischer Positivität. Dies zeigt die >Zauberflöte< ausführlich. Tamino täuscht sich in der Königin, weil er positiv emotional eingenommen ist. Es erweist sich, daß die Grundregel der Unterstellung der Positivität des Anderen und die generelle Vertrauensbereitschaft, die die empfindsame Anthropologie kennzeichnet, nicht vor Täuschung oder Manipulation schützt. Skepsis oder Mißtrauen lösen dieses Problem jedoch nicht; Mißtrauen bleibt nach wie vor eine grundsätzlich negative Eigenschaft, die den abqualifizierten Figuren zu eigen ist (Monostatos). Schutz vor der Täuschung bietet Tamino in der >Zauberflöte< allein die Unterwerfung unter die Renormierungsinstanz des Ordens, die klarstellt, was negativ und was positiv zu werten sei. 3.3. Strategien zur Begrenzung der Risiken Diese und verwandte Risiken kennzeichnen bereits die Anthropologie, die anhand der Melodramen dargestellt wurde (vgl. o. II.4). Doch wo dies in den Melodramen zu offenen, aporetischen Strukturen führt, versuchen die Werke der i79oer Jahre, die Risiken der neuen Anthropologie auszuschalten. Dies führt zu Renormierungen auf mehreren Ebenen, die keine bloße Wiedereinsetzung der älteren Anthropologie bedeuten, sondern aus den Aporien der neuen Exklusions-Individualität resultieren. Diese Renormierungsversuche scheinen mitverantwortlich für die große zeitgenössische Faszinationskraft des Werkes.115 Zu-
114
115
In der >Entführung aus dem Serail< wird, im Unterschied etwa zum >SonnenfestZauberflöte< — ein Mittel politischer Agitation in Mannheim 1794. In: Pinscher (Hg.) 1994, S. 197-208. Dabei unterscheiden sich die beiden Orden in ihren Ideologemen kaum: Was die Drei Damen in I 8 fordern, könnte ebenso gut aus der Sarastro-Welt stammen: »Bekämen doch die Lügner alle,/ Ein [solches] Schloß vor ihren Mund;/ Statt Haß, Verläumdung, schwarzer Galle/ Bestünde Lieb und Bruderbund.« Vgl. Volker Hoffmann: Strukturwandel in den >Teufelspaktgeschichten< des 19. Jahrhunderts. In: Michael Titzmann (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991, S. 117 — 128. 569
womit durch die Eheschließung die Zwischenphase definitiv abgeschlossen ist. Zugleich bedeutet diese Initiation auch einen Zugewinn an Wissen, Erkenntnis und »Bildung« der Figur; der Ablauf des Stücks ist damit einem »Aufklärungs«-Prozeß äquivalent. Als Telos des Stücks dient nicht mehr - konventionell — die Vereinigung eines >hohen< Paars, sondern dessen Mündigwerden: Die anschließende Vereinigung selbst wird nicht mehr dargestellt, nur noch angedeutet. Die Vereinigung steht im Zeichen eines verwandelten Wesens und ist dessen Entwicklung untergeordnet. Die Initiation Taminos und der mit ihr verbundene, freiwillig eingegangene119 Prüfungsweg aber beruhen in erster Linie auf einer Unterdrückung unmittelbarer, >natürlicher< Verhaltensweisen und auf vollständiger Affektkontrolle.120 »Standhaft, duldsam und verschwiegen« muß der Initiand sein (I 15), Mut und »Tugend« (II i) besitzen; der Prüfungsweg selbst fordert Isolation, Reduktion der Sinne, absolute Unterwerfung unter »jede Prüfung« (II 3), Schweigegebot und »Reinigung« (II 10) durch die Überwindung der vier Naturelemente Feuer, Wasser, Luft und Erde (II 28). Die geforderte Isolation als Rückzug aus der Gemeinschaft und der menschlichen Kommunikation fungiert als symbolisches Äquivalent von Tod und Wiedergeburt; dem entspricht die Raumsymbolik, bei der Tamino in der Feuer- und Wasserprobe hinabsteigt in dunkle, außersoziale, inner- bzw. unterirdische Räume, in denen die Naturelemente herschen, und von dort wieder hinaufsteigt in die neue Ordnung: »in einen Tempel, welcher hell beleuchtet ist. [ ] Dieser Anblick muß den vollkommensten Glanz darstellen.« (II 28) Lichtregie und Raumsymbolik unterstützen die zentrale Bewegung des Stücks. (Der Übertritt Taminos aus dem Bereich der Königin in die neue Vernunft-Ordnung Sarastros wird unterstrichen durch eine Gegenbewegung im Stück: Monostatos' Übergang zur Königin.) Während diese Muster in der Literatur der Goethezeit rekurrent sind, ist in der >Zauberflöte< ungewöhnlich, daß die Initiation vervielfacht wird. Auf der einen Seite steht Papageno neben Tamino und verstößt gegen alle Bedingungen der Prüfung (er plappert unentwegt, ist ängstlich, nicht standhaft und auch nicht bereit, den Regeln zu folgen). Statt die »männlich« codierten Forderungen zu erfüllen, »weint« er (II 22). Papageno vollzieht den symbolisch ritualisierten Prozeß von Tod und Neugeburt nicht und kann sich nicht aus seiner kreatürlichen Existenz lösen. Dennoch gelangt auch er zum Ziel einer adäqua119
120
Die Integration des Subjekts in die neue Ordnung einer Elite ist im Falle Taminos (ähnlich wie in Goethes >Wilhelm MeisterDschinnistan< (s.o. Anm. 18) wird dort explizit als Weg gegen den »Taumel rascher Leidenschaften« begründet.
570
ten Partnerin; damit wird die Macht des Initiationsmodells im Stück gebrochen (s. u.)· Noch erstaunlicher und gravierender freilich ist die Teilnahme Paminas am letzten, entscheidenden Stück des Prüfungswegs, was von den Eingeweihten ausdrücklich bestätigt wird: »Ein Weib, das Nacht und Tod nicht scheut/ Ist würdig und wird eingeweiht.« (II 28) Während die Initiation eines jungen Mannes wie Tamino ein konventionelles literarisches Modell der Zeit bildet, ist die Teilnahme einer Frau ungewöhnlich; noch ungewöhnlicher, daß sie dabei zur Führerin wird. Taminos Weg erscheint konventionell: Durch die im Prüfungsweg dokumentierte Beherrschung der eigenen Affektnatur wird der Initiand in die elitäre Gemeinschaft der »Eingeweihten« aufgenommen, d.h.: in den inneren Kreis der Macht. In II 18 entscheidet sich Tamino, direkt vor die Alternative Liebe vs. Initiation gestellt, ohne Zögern für den Orden. Zum zentralen Lexem im II. Akt wird das Wortfeld von »Ruhe«/»Stille« (II 26 u.ö.). Ganz anders dagegen Pamina: Ihre Liebe bildet dagegen immer wieder einen Faktor von »Unruhe« (II 2i, II 26). Wo Tamino die (selbstgesetzte) Prüfung als Ritual und Aufstieg in eine neue Ordnung erlebt, wird Pamina nicht in deren >Spielregeln< eingeweiht. Sie erlebt den symbolischen Prüfungsweg als existentielle Bedrohung, als Gewissenskonflikt ohne Ziel und Richtung. 121 Erst diese existentielle Erfahrung aber ermöglicht die Lösung des Werks auch für Tamino: Erst durch Paminas Todesbereitschaft (eine im Denksystem der Zeit typisch »männliche« Eigenschaft, die z. B. explizit vom männlichen Initianden gefordert wird [II 3]), kann Pamina Tamino zum Ziel führen. Die Bedeutung der Pamina-Handlung macht deutlich, welche Spannung zwischen dem neuen Liebeskonzept und der geforderten Affektkontrolle besteht. Pamina deutet Taminos Initiationsweg als Verlust seiner Liebe. »Verschmähter Liebe Leiden« bedeutet dabei eine ähnliche Verletzung der Exklusions-Individualität wie im Falle Medeas; Pamina reagiert darauf allerdings rollenkonform mit dem Selbstmordversuch statt Fremdaggression: Wo Medea Jason haßt, betont Pamina, daß sie Tamino »nimmermehr kann hassen« (II 27). Auch darin zeigen sich die renormierenden Kräfte des Stücks, die normgefährdende Gefühlsintensitäten einschränken. Neben die Tendenz zur Aufwertung der Liebe zum sinnstiftenden summum bonum (s.o.) werden so korrigierende Einschränkungen und andere Sinnträger gestellt: die neue Ordnung der »Weisheitslehre«, ähnlich im >Sonnenfest< die »Humanität« als allgemeine Verbrüderung. Die Affektkontrolle differenziert Tamino von Papageno und Sarastro von der Königin (mit ihren unkontrollierten Affekten von Machtgier, Haß und Rache). Die Integration der Liebe in »Tugend«-Konzepte bedeutet besonders eine Begrenzung von Autonomie und Individualität. Dies wird an der Entwicklung der Tamino-Figur deutlich vorgeführt. Er verliert im Verlauf des Stückes immer 131
Vgl. Willaschek 1996, S. 298; Branscombe 1991, S. 202. 57l
mehr an Profil und Handlungsfähigkeit und wird fast völlig zu einem Demonstrationsobjekt von anderen Gnaden. Gerade im Hinblick auf Mozarts Da Ponte-Opern ist die Blässe der Tamino-Figur auffällig und charakteristisch. Taminos einzige wirklich individuelle Leistung besteht in der Reaktion auf Paminas Porträt, das ihm gezielt in die Hände gespielt wurde; nur hier wird er einer solistischen Arie würdig. Danach demonstriert die Tamino-Figur hauptsächlich das Problem der Verbindung von individueller Emotionalität und Integration. Damit aber wird ihre eigene Individualität immer undeutlicher. Die Eingrenzung der individuellen Autonomie, die Renormierungstendenzen, werden v. a. im semantischen Bereich von »Führung« bzw. »Leitung/ Lenkung« deutlich. Tamino ist zu Beginn des Stücks hilflos, ohnmächtig und hat sich in der Fremde verirrt. Erst unterwirft er sich der Lenkung durch die Königin, ist dann ohne die Führung der Drei Knaben hilflos, wie Papageno in I 14 betont, dann gibt er sich der uneinsehbaren Führung der Eingeweihten anheim, schließlich führt ihn Pamina. Tamino ist fast ständig fremdbestimmt; nur in der Arie, in seinem Vorführen der individuellen Liebe, gewinnt er Profil. (Dies bestätigt auch rückblickend die Funktion dieser Arie als Kristallisationspunkt der neuen Anthropologie.) Alle auf Initiation beruhenden Orden ziehen eine Grenze zwischen den Eingeweihten und den Außenstehenden. Das Normensystem der Orden beruht daher zentral auf der Ausgrenzung der anderen Teilen der Bevölkerung. Die >Zauberflöte< erzählt die Geschichte eines Machtwechsels, der sich durch Ausgrenzungen konstituiert und durch Affektkontrolle legitimiert. Die neue Macht, die Sarastro breit mit altabsolutistischen Mitteln demonstriert (Triumphwagen, Jubelchor, Löwen; musikalische Insignien: Trompeten und Pauken; die Jagd als fürstliche Beschäftigung; die Bestrafung des Monostatos; die Schlußapotheose122), wird auf dem Ausschluß all dessen errichtet, was sich ihren neuen Normierungsversuchen nicht fügt. Dieser autoritäre Zug wird von Sarastro deutlich ausgesprochen: »Wen solche Lehren nicht erfreu'n,/ Verdien[e]t nicht ein Mensch zu seyn« (II 12). Damit aber wird der innere Widerspruch erkennbar zwischen der Ideologie einer postulierten allgemeinen Menschenliebe (»In diesen heil'gen Mauern/ Wo Mensch den Menschen liebt«), die nur in einem Innen-Raum gilt, und dem Ausschluß alles Störenden als »NichtMensch«. (Daß dieser Widerspruch deutlich wird, ist kein gestalterisches Unvermögen Schikaneders, sondern eine Grunddialektik der bürgerlichen Aufklärung. 123 ) Die aus dieser Sicht negative Seite, den durch Affekte beherrschten Antityp, verkörpert die Königin der Nacht, die in der wilden, ungezähmten Bergnatur 122
123
Der lieto fine wird von Mozart als Apotheose gestaltet, in deutlicher Differenz zu den Zwielicht-ironischen Schlüssen der >Cosi< oder des >Don GiovanniSonnenfest< auf dem Konflikt von universalem, positivem Naturrecht 124
125
126
127
Aufschlußreich ist in diesem Erkenntnisprozeß die Rolle von Taminos feudaler Herkunft. Dient sie ihm im I. Aufzug, in der Ordnung der Königin, altfeudal als abgrenzendes Standesdenken (I 2: Papageno: »Wer ich bin? [ ] Ein Mensch, wie du. — Wenn ich dich nun fragte, wer du bist?« Tamino: »So würde ich dir antworten, daß ich aus fürstlichem Geblüte bin.«), so kehrt sich dies in der Ideologie der Sarastrowelt genau um zum Axiom der natürlichen Gleichheit der Menschen (II i: Sprecher: »Er ist Prinz, — « Sarastro: »Noch mehr - - Er ist Mensch«). »Ein Weiser prüft und achtet nicht,/ Was der gemeine Pöbel spricht.« (II 5) — Auf anderer Ebene bringt Schikaneder im Gespräch der Sklaven (I 10) >Volk< als Stimmen von unten ins Spiel. »Wenn mir ja die Götter eine Papagena bestimmten, warum denn mit so viel Gefahren sie erringen?« (II 6) Vgl. Fischer 1993, bes. S. 22ff. Papageno stellt die positiv-tolerable Natursinnlichkeit dar, Monostatos komplementär dazu eine negative, irrationale.
573
gegen korrupte religiöse/staatliche Vorschriften: Die positiven Figuren folgen dem Naturrecht, auch gegen kulturelle Gebote.128 Das »Herz« und seine Stimme erscheinen als tiefere Begründung als kulturelle Morallehren. Verglichen damit ist in der >Zauberflöte< das Verhältnis der neuen Ordnung zum Naturrecht problematisch. Das Naturrecht stellt keine eindeutig positive Kraft dar, weil es den Ausgrenzungen widerspricht, die die Basis des neuen Ordnungssystems bilden. Dagegen steht die Sarastro-Welt, die dem Naturrecht eine neue kulturelle Überformung entgegensetzt: die neue Anthropologie mit ihrer transformierten Emotionalität. (Diese Differenz wird von Mozart musikalisch umgesetzt im »Faunenflötchen« Papagenos als >NaturKulturhoch< vs. >niederOttone< (1723). Als Kontrast sei auf die negativen Figuren in der Oper des 19. Jahrhunderts verwiesen, die auch musikalisch entweder ausschließlich negativ gezeichnet werden (Kaspar im >FreyschützEuryantheLohengrinZauberflöte< erweist sich so als Aufeinanderprallen verschiedener Anthropologien: Die Königin verkörpert, textlich von Schikaneder ebenso wie musikalisch durch die Seria-Anspielungen von Mozart realisiert, das alte Menschenbild. Dies zeigt sich deutlich an ihrem oben beschriebenen, taktischen Verständnis von Liebe. Die Königin arbeitet mit den Mitteln absolutistischer Kabinettspolitik 141 und mit der Seria-typischen Intrige. Das hohe Bewußtsein Mozarts für diesen Problemgehalt des Werks zeigt sich daran, daß er den Zusammenstoß der beiden Anthropologien als Zusammenprall zweier musikalischer Konzeptionen in dem Kontrast der beiden Arien der Königin (Nr. 14) und Sarastros (Nr. 15) musikalisch umsetzt. Dieses Arienpaar bildet den größten Gegensatz im Werk, einen Stilkontrast, wie er schärfer im Rahmen des klassischen Stils kaum denkbar erscheint. Der großen, >künstlichen< Seria-Rache-Arie der Königin, in der sich der alte Rache-Affekt in barokker Größe austobt, steht das schlichte, >natürliche< Strophenlied gegenüber — zwei »akustische Embleme« 142 für die gegensätzlichen Anthropologien. Die beiden Stücke bilden den größten tonartlichen Gegensatz innerhalb des Werks (d-Moll vs. E-Dur); der extremen Sopran-Arie, die ihre mörderischen Koloraturketten bis zum/"" hochschraubt, antwortet die ruhige, koloraturlose Bewegung des Basses, der äußerst erregten Arie das getragene Lied. Auch musikalisch stehen sich in diesem extrem gegensätzlichen Paar die alte Affektivität und die neue Affekt-Kontrolle gegenüber. Mozart reißt den Gegensatz auf, wertet aber nicht.
"8 Vgl. Willaschek 1996, S. 3i8ff. '39 Vgl. z.B. Hildesheimer 1977 [wie Anm. 4], S. 329. 140 Die bekannte »Brüche-Hypothese läßt sich inzwischen auch durch neuere philologische Untersuchungen zu Mozarts Autograph widerlegen. Die Erkenntnisse aus den von Mozart verwendeten Papiersorten, Tinten usw. zeigen, daß Mozart (wie auch in seinen anderen Opern) das Werk nicht der Handlungsreihenfolge nach komponierte. Er begann offenbar zunächst mit der >hohen< Ebene des Stücks (über beide Aufzüge hin!), schrieb dann ebenso die Papageno-Stücke usw. (vgl. Köhler 1983). Das Stück ist also nicht, wie es die romantische »Bruch«-Hypothese voraussetzt, der Handlungsreihenfolge nach entstanden, so daß es im i. Finale hatte umkonzipiert werden können. 141 Vgl. Nagel 1988, S. 26. Sarastro herrscht dagegen »modern« mittels universaler Ideologie. 142 Nagel 1988, S. 31. 578
Neben dem Gegensatz zwischen der Anthropologie der Sarastro- und der Königin-Welt zeigt das Werk noch einen weiteren. Tamino lernt bei seiner Integration in die Sarastro-Welt, seine Emotionen der neuen Anthropologie anzupassen und der Hierarchie der »Weisheit« und »Vernunft« unterzuordnen. Neben Tamino aber steht Papageno. Papageno vollzieht, wie oben schon ausgeführt wurde, breite Bereiche des neuen Emotionskonzepts und der neuen Ordnungsversuche nicht mit. Für ihn bleibt »Liebe« ein kreatürliches Phänomen ohne moralisch-tugendhafte Überhöhungen, der Nahrungsaufnahme gleichgeordnet, auf direkte Sinnlichkeit 143 und ungehemmte Fortpflanzung zielend. Die Ideologeme von der Liebe als summum bonum und von der Unaustauschbarkeit des Partners unterläuft und parodiert er. Sein Verhältnis zu Papagena bildet den größten Gegensatz zu dem Liebeskonzept, das im Stück anhand der Tamino-Figur entwickelt wird: Hier wirkt keine lebensverändernde Kraft, hier gibt es nicht den alles entscheidenden Moment der entstehenden Liebe. Dagegen steht ein Pragmatiker, der zugreift, wenn sich eine Möglichkeit bietet, »solange ich keine Schönere sehe« (II 24), bzw. der auf die Liebe verzichtet, wenn sie ihm zu teuer erkauft erscheint (»ich bleibe ledig« II 3). Dennoch erhält auch er die eine unaustauschbare, genau für ihn passende Partnerin. Während Tamino sich die Vereinigung mit Pamina verdienen muß, erhält Papageno seinen Partner durch Gnade von oben. Dadurch aber, daß auch Papageno am Schluß belohnt wird, ohne daß er den Prüfungsweg der Integration in die neue Ordnung bestanden hätte, relativiert sich diese neue Ordnung. >Hohe< und >niedere< Anthropologie bestehen unterschiedlich und doch gleichberechtigt nebeneinander. Ähnlich wie im musikalischen Gegensatz von Sarastro und Königin entsteht auch hier Kontingenz. Völlig anders ist dies etwa in der >Entführung aus dem Serail< gehandhabt. Dort ist die anthropologische Konzeption von »Liebe« universal und geschlossen, sie umfaßt hohes und niederes Paar und selbst die Gegenseite, den Bassa und Osmin (Duett mit Pedrillo Nr. 14). In der >Zauberflöte< dagegen folgen der >hohe< Liebhaber Tamino und der >niedere< Papageno völlig verschiedenen Strategien und Liebeskonzeptionen. Die universale Anthropologie der Entführung aus dem Serail« ist zersplittert in eine Vielfalt, die sich gegenseitig dekonstruiert. An Papageno werden die Renormierungsversuche der Eingeweihten ebenso zuschanden, wie umgekehrt die theatralische Plastik Papagenos die Blässe und Typenhaftigkeit Taminos erst recht betont. Die Vielfalt der anthropologischen Konzeptionen in diesem Werk bricht die geschlossene Anthropologie von Frühaufklärung/Empfindsamkeit auf, die nicht ohne Grund eben gerade die »lustige Figur« als einen blinden Fleck auszuschließen versucht hatte.144 M* Vg\. von Matt 1992. 144 Auch die Hamburger Barockoper hatte bereits Phänomene verschiedender Anthropologien dargestellt, meist durch die komische Figur. Durch Wolff und Gottsched
579
4·2. Geschlechterrollen Daß hier eine geschlossene anthropologische Konzeption aufgebrochen wird, zeigt sich auch in der Besetzung der Geschlechterrollen. In der Ideologie der Eingeweihten wird dem weiblichen Geschlecht zunächst keinerlei Autonomie zugestanden; die Frauen haben keinen Zutritt zum Zentrum der Macht. Schon der verstorbene Mann der Königin betonte dies: »Deine Pflicht ist, dich und deine Tochter, der Führung weiser Männer zu überlassen.« (II 8). Diese Ideologie führt Sarastro direkt und bruchlos fort: »Ein Mann muß eure Herzen leiten,/ Denn ohne ihn pflegt jedes Weib/ Aus ihrem Wirkungskreis zu schreiten.« (I 18). Die in der frühen Empfindsamkeit beginnende ideologische Systematisierung der Geschlechterrollen bringt der Männerbund scheinbar zu einem Endpunkt, in dem Weiblichkeit auf bloße Unterordnung und Passivität reduziert und ausgegrenzt wird. Allerdings (und das wird häufig übersehen) unterläuft die >Zauberflöte< diese ideologischen Fixierungen des Männerordens. Schon der Beginn des Stücks weist eine inverse Struktur der Geschlechterstereotypen auf: Der männliche >Held< Tamino fällt in >weibische< Ohnmacht, die Drei Damen töten >männlich< die Schlange und befreien ihn. 145 Noch viel deutlicher wird das zweite Finale. Pamina, die ihre Automonie im Beharren auf der Unersetzbarkeit des Partners und in ihrer Todesbereitschaft bewahrt (vgl. II 10 u.ö.), durchbricht die Misogynie der Eingeweihten und wird schließlich von den Geharnischten akzeptiert: »Ein Weib, das Nacht und Tod nicht scheut,/ Ist würdig und wird eingeweiht.« (II 28) Die Tatsache, daß Pamina in den Schlußprüfungen zur Führerin Taminos wird, verkehrt dann das Verhältnis sogar ins Gegenteil — »die zu Rettende wird Retterin«. 146 Die Schlußlösung der >ZauberflötebarockenCosi fan tutteZauberflöte< dagegen relativiert die Macht der Kleinfamilie als typischer Organisationsform bürgerlicher Dramatik, ohne sie zu zerstören. Auch im >Sonnenfest< ist die Funktion der Kleinfamilie unklar, da am Schluß ein Mann zwischen zwei Frauen übrig bleibt, denen er gleich verbunden ist und die er offenbar beide bei sich behalten will. Das Stück löst dieses Dilemma nicht, sondern läßt den Vorhang allgemeiner Verbrüderung fallen. 4.4. Macht und Autorität Die >Zauberflöte< stellt nicht einfach den Sieg einer neuen über eine ältere Macht dar (wie z.B. das >SonnenfestZauberflöte< tritt so implizit »das Problem der Autorität und ihrer Begründung« 157 auf. Auf doppelte Weise führt die >Zauberflöte< Machtverlagerungen vor: Taminos Ohnmacht zu Beginn führt zur Rettung durch eine höhere Schutzmacht; im II. Akt wird diese erste Schutzmacht von einer stärkeren Macht verdrängt. Macht ist nicht mehr, wie in den älteren Singspielen, eine vorgegebene, geordnete und unbezweifelte Größe, sondern etwas Veränderbares. Ihre Legitimation wird unsicher. Die neue Macht Sarastros wird als begrenzte, zugleich selbstgesetzte, menschengemachte vorge155
156
157
Die Flöte stammt aus der Vorzeit vor der Spaltung (Welteiche II 28), symbolisiert also den Zustand, wo die Dichotomien noch nicht existierten. Vgl. Nachwort zu Schikaneder/Winter 1992. Auch die Zauberinstrumente verlieren, wie im >Spiegel von Arkadien< (Schikaneder/Süßmayer 1795), immer mehr ihre inhaltliche Kraft und werden zu einem pittoresken Reiz. Starobinski 1977, S. 153. 583
führt — und gerade deshalb muß sie das verbrämen, indem sie universalen Gültigkeitsanspruch erhebt. Dieser aber wird vom Stück und von der Dialogizität der Musik dekonstruiert. 4.5. Teleologie und Kontingenz Die Unklarheit über das Zentrum der Macht erhält am Schluß eine weitere, übergreifende Dimension: die von Teleologie und Kontingenz. Während die Eingeweihten mit universalem Anspruch eine Teleologie entwerfen, die durch Unterwerfung, Initiation und Affektkontrolle zu »Schönheit und Weisheit« führen soll,158 erreicht auch Papageno sein Ziel, obwohl er ausdrücklich beim Prüfungsweg versagt. Papageno gelangt ans »Ziel« wie Tamino mittels der Zauberinstrumente (und mit Unterstützung der Dei-ex-machina); er erreicht es jedoch ohne den Prüfungs- und Initiationsweg. Dadurch ist der Prüfungs- und Initiationsweg in seiner Macht und seinem universalen Anspruch gebrochen: Die erste und letzte Solo-Partie gehören Papageno, nicht dem >hohenSonnenfestZauberflöte< das ideologische Schema der Belohnung durch Familienglück bei, unterwandert jedoch in der Belohnung Papagenos seine Aussagekraft. Die Dei-ex-machina der Drei Knaben dienen nicht mehr wie in älteren Werken dazu, drohende Normbrüche in konventionsgetreues Verhalten umzuwandeln; sie erscheinen als verständnisvolle Retter derjenigen, die aus Liebe oder Unerfahrenheit falsche Wege einschlagen.101 Sie unterstützen damit nicht primär die neuen Normen der Sarastrowelt, sondern bestätigen die Glücksbestrebungen der Figuren: Papagenos ebenso wie Paminas. Auch darin aber zeigen sich Kontingenz-Erscheinungen. Die immer wieder monierten Widersprüche des Textes, seine unübersichtliche Handlungsführung und problematische Informationsvergabe, beruhen auch auf dem Problem von Teleologie und Kontingenz — einem Problem, das auch der Roman des späten 18. Jahrhunderts in seinen fortgeschrittensten Werken thematisiert: etwa in Wielands >Agathon< oder Goethes >Wilhelm Meisten.102 Die lockere Fügung auf der Textebene nutzt Mozart zu einem gegensätzlichen Verfahren: zu einer Strenge der musikalischen Konstruktion, die den dramatischen Vordergrund übergreift.' 63 Statt der kleinteiligen Episodenstruktur des Textes zu folgen (wie z. B. Wenzel Müller im >Sonnenfest< oder Peter Winter im >LabyrinthVorhof< des in Es-Dur beginnenden Prüfungswegs des 2. Finales.
585
(Daß und wie Schikaneders Text diesem Phänomen Raum läßt, ist, wie Stefan Kunze hervorgehoben hat, eine seiner Qualitäten.165) Das aber bedeutet: Die ideologische Kraft in diesem Werk, die auf den Ebenen von Text und Dramaturgie geschwächt ist, wandert jetzt in die Musik. Die Teleologie, die inhaltlich nicht mehr verbürgt werden kann, wird von der autonomen musikalischen Konstruktion geleistet. Mozart schafft musikalisch eine Teleologie, die aber zugleich auf einer hohen internen Vielfalt und Dialogizität beruht. Am besten läßt sich die Autonomie der musikalischen Konstruktion Mozarts an den beiden großen Finali erkennen. Die Finali erhalten in der >Zauberflöte< weit höhere Bedeutung als in allen vorausgehenden deutschen Werken, die >Entführung aus dem Serail· Inbegriffen. Zugespitzt formuliert, erhalten innerhalb der >Zauberflöte< die einzelnen Arien gegenüber den weit ausholenden, jeweils gut halbstündigen Finali fast schon eine Randbedeutung. 166 Die ausgedehnten Finali stellen eine Erbschaft der Opera buffa und der italienischen Opern Mozarts dar.107 Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch gravierende Differenzen zu den italienischen Finali. Die italienischen Finali zeigen eine Zunahme an Verwirrung, Komplexität, große Beschleunigung, Zunahme der rhythmischen Bewegungsenergie und Massierung aller Stimmen am Ende.'68 Die >ZauberflöteZauberflöte< einem undramatischen Klangcharakter, der nun auch in der Buffa-Tradition völlig unübliche Elemente integrieren kann: lange Rezitative (i. Finale), ariose Abschnitte, Choralbearbeitung und instrumentale Passagen (Marsch 2. Finale). Die formale Konstruktion der >ZauberflöteZauberflöte< zeigt eine generelle, quantitative Reduzierung der Solo-Arie gegenüber der Seria-Tradition verpflichteten Werken (>AlcesteGünther von SchwarzburgEntführung aus dem SerailZauberflötenZauberflöte< gravierend von der Produktion des Umfelds, z. B. Henslers/Müllers >Sonnenfestnormales< (Accompagnato-) Rezitativ im Stile italienischer Opern.'69 Mozart löst diese Form immer wieder in Richtung auf ein expressives Arioso auf; das Orchester nimmt dabei verschiedenste Funktionen an (bis hin zur Wiedergabe unausgesprochener Gefühle) und wird zu einer neuen Aussageebene jenseits der Sprache. Dabei ist auffällig, wie Mozart die Versform170 des Schikanedertextes auflöst durch einen prosodischen, aperiodischen Wechsel von melodischer und deklamatorischer Gestik, die einzelne Textpassagen besonders heraushebt. Emphase und nüchterner Dialog wechseln rasch, unvorhersehbar und lückenlos ab. Das Tempo variiert extrem, die Instrumentation wechselt ständig; zudem weist die gesamte Sprecherszene eine extreme modulatorische Dichte auf: Sie durchmißt auf engem Raum den gesamten Bereich von As-Dur bis H-Dur, d. h. praktisch das gesamte Tonartenspektrum des Werks.17' Auch die Motivik ist äußerst flexibel gehandhabt: Singulären Elementen stehen zusammenhangstiftende Wiederholungen und Korrespondenzen gegenüber.'72 Mit dieser avantgardistisch wirkenden Technik 169
170
171 172
In Mozarts anderen Opern sind die Accompagnati entweder rein akkordisch oder als Sätze mit motivisch durchgebildeter Begleitung angelegt; vgl. Wolff 1984, bes. S. 241 f. Die Versform anstelle der Dialog-Prosa zeigt an, daß Schikaneder sich den Text offenbar gesungen, als Duett vertont vorstellte. Vgl. Wolff 1984, S. 240. Ebd. S. 243ff. Eine besonders wesentliche Reminiszenz stellt dabei in T. 141 der Rückgriff auf den Anfang des Rezitativs der Königin dar. Dieses Zitat benutzt Mozart 587
erreicht Mozart »ein Maximum an dramatischer Spannung, inhaltsmäßiger Differenzierung und musikalischer Kohärenz.«173 Das Finale ist zusammengehalten durch eine klar gebaute Bogenform. Mozart gliedert die vier Szenen Schikaneders in sieben Abschnitte mit der Tonartenfolge C—[Rez.]-C-G—C-F—C. Trotz der auffälligen Faktur und der besonderen Veränderung, die die Sprecherszene bedeutet, ist diese in einen gerichteten Prozeß eingebunden. Er beginnt und endet in C-Dur, das mit den Morallehren der Drei Knaben bzw. des Chores verbunden ist. Dadurch wird zugleich eine Verklammerung zur i. Nummer des Aktes geschaffen, der Introduktion, die sich von c-Moll nach C-Dur wendet. Nicht nur das Finale, sondern der gesamte I. Akt weist eine klar gerichtete Tonartendisposition auf, bei der CDur den Rahmen bildet und die Tonartenabfolge spiegelsymmetrisch verläuft (s. o.). Allerdings bildet C-Dur nur einen Binnenrahmen, der großformal nochmals eingefaßt wird durch das Es-Dur von Ouvertüre und 2. Finale. Der Sprecherszene entspricht innerhalb der siebenteiligen Bogenform des Finales die erste Begegnung Tamino-Pamina, die durch eine klare F-Dur-Tonalität ebenfalls vom Rest des Finales abgehoben ist (T. 44iff). (Mozart stellt damit einen Bezug her, der auf der Textebene gar nicht existiert.) Die Erfüllung, die Tamino hier in der Umarmung Paminas sucht, erweist sich schon durch die subdominantische Tonalität als vorschnell. (Mozart wird im 2. Finale, an der letzten Begegnung Taminos mit Pamina vor der entscheidenden Feuerund Wasserprobe, auf die F-Dur-Tonalität zurückkommen.) Auch der abschließende Chor in C-Dur zeigt trotz seiner abschließenden Gebärde, daß hier noch kein Abschluß erreicht ist. Dieser bleibt der Es-Dur-Haupttonalität des 2. Finales vorbehalten. Öffnet so das i. Finale das Stück neu, so bringt das 2. Finale die teleologische Lösung. Zwischen beiden Finali hat Mozart dabei eine Fülle genuin musikalischer Bezüge geschaffen. Diese reichen z.B. von den analog komponierten Eröffnungsszenen der Drei Knaben 174 über die Integration der C-Dur-Tonalität in die Es-Dur-Welt des 2. Finales, die Analogien zwischen Sprecher- und Geharnischtenszene zur signifikanten solistischen Verwendung der Zauberinstru-
173
174
zu der Stelle »O ew'ge Nacht! wann wirst du schwinden?«, die den Anfang des Ausgangs Taminos aus dem nächtlichen Reich der Königin bedeutet. Wolff 1984, S. 247. Daß Mozart diese neuartige Lösung nicht leicht fiel, belegen die erhaltenen Skizzen, die bei Mozart meist auf kompositorische Problemfälle verweisen; vgl. ebd. S. 241 f. Auch den Zeitgenossen bereitete diese innovatorische Stelle Probleme; in der Passauer Bearbeitung von 1793 ist das Rezitativ enorm verkürzt. In der Vorrede der Bearbeitung wird deutlich, daß das Besondere dieser Stelle nicht als sinnvoll, sondern als bloße Störung verstanden wurde. (Die Zauberflöte./| Eine/ große Opera/ in/ zwey Aufzügen./ Nach Schikaneder für kleinere Theater frey,/ jedoch ohne mindesten Abbruch der Mu=/ sik umgearbeitet./| Die Musik ist von Apollo Mozzart. Passau: Niklas Ambrosi 1793. Repr. Linz 1991.) Vgl. Kunze 1984, S. 614.
588
mente usw.175 Das 2. Finale greift die Problemstellungen des ersten auch musikalisch auf und bringt sie zur Lösung.' 76 Beispielhaft dafür ist der Marsch im letzten Finale. Er steht an entscheidender Stelle und markiert den letzten Prüfungsweg der Initianden. Hier wird das Besondere an Mozarts Ansatz deutlich greifbar. Kaum ein anderer Komponist der Zeit hätte darauf verzichtet, die bildhaften Elemente der Feuer- und Wasserprobe umzusetzen (tonmalerische Konventionen standen in Fülle zur Verfügung); auch Schikaneder selbst ging offenbar von derartigen Vorstellungen aus (»man hört Feuergeprassel, und Windegeheul, manchmal auch den Ton eines dumpfen Donners, und Wassergeräusch«). Dergleichen aber hätte eine konstruktive und teleologisch gerichtete Kraft der Musik nur verhindert. Mozart vertont die Feuer- und Wasserprobe daher völlig anders, ohne jedes Zugeständnis an äußere Bebilderung, dagegen voller interner Bezugsfelder. Die C-DurTonalität des Marsches verweist zurück auf das erste Finale (in dem auch die Flöte als Zauberinstrument bereits solistisch eingesetzt wurde). Die Bühnenhandlung bleibt stehen, an ihre Stelle tritt die Musik, die zum alleinigen Träger der Situation wird. Ein Marsch ist generell der Inbegriff musikalisch geordneter Bewegung in der Zeit (— den Gegensatz dazu bildet das ungeordnete Hereinstürzen von Figuren, das für die italienischen Finali so kennzeichnend ist). Taminos und Paminas Integration in die neue Ordnung wird hier durch eine Form musikalischer Ordnung realisiert. Das Hauptinstrument dieses Marsches aber ist ungewöhnlicherweise die Flöte, das Zauberinstrument, die sich über einem kargen harmonischen Gerüst von Posaunen und Pauke erhebt.177 Die Faktur der Flötenpartie ist dabei besonders merkwürdig und ungewöhnlich: Mozart imitiert weder vokale Formen noch die konstitutive Periodik und Symmetrie von Märschen, sondern schreibt eine Flötenpartie, die sich immer mehr in improvisatorische Abspaltungen auflöst. Mozart gestaltet die sehr differenziert artikulierte Flötenstimme gerade nicht marschartig, sondern als »Bild 175
176
177
Auch im 2. Finale erscheint ein (kurzes) Rezitativ Sarastros. Hier aber steht es für den lösenden Übergang in den Es-Dur-Schluß. Nagel 1988, S. 23, hat darauf hingewiesen, daß der I. Akt, anders als der II., wie eine ältere Gnadenoper endet. Auch in den beiden Finali ließe sich somit erneut der Gegensatz zweier Anthropologien auffinden. — In Mozarts Finali zeigt sich auch der entscheidende Unterschied zum künstlerischen Verfahren der barocken Oper. Dort sind gerade die Finali nicht konstruktiv wichtig für das gesamte Werk; der Begriff der Werkeinheit ist ein völlig anderer. In den barocken Werken verbürgen eher die Texte teleologische Konzeptionen, während die Musik weitgehend anti-teleologisch angelegt ist. Eine musikalische Parallele (Flötensolo mit Pauke), allerdings ohne die finale Funktion, findet sich in der 3. Nr. des IV. Akts von Antonio Salieris Oper >Axur, re d'OrmusZauberflöteAntwort auf Herrn D. Hudemanns Abhandlung von den Vorzügen der Oper vor Tragödien und ComödienDemetrioIssipile< u.a. Libretti wurden in Wien als deutsche Trauerspiele gegeben. Vgl. dazu bes. Putalivo 1990, die am Beispiel des >Demetrio< die dramentechnische Qualität und die Aufführbarkeit der Metastasio-Libretti ohne Musik herausarbeitet. Erschwerend für den Ausbau einer
614
Urteilskriterien aber kann Gottsched in der hochartifiziellen Operngattung nur eine Störung seines Lebensraumes erkennen. Die Sinnlichkeit bildet eine große Gefahr, weil sie den Leitanspruch der Vernunft stört; ihr stehen die moralischen Werte gegenüber: Einordnung in das Ganze, Arbeit, Fleiß, Tugend. Gottscheds allgemeines Verdikt über die gefährliche Oper fällt daher in diesem Punkt eindeutig aus: Ich sehe über das dieselbe so an, wie sie ist; nehmlich als eine Beförderung der Wollust und Verderberin guter Sitten. Die zärtlichsten Thöne, die geilesten Poesien, und die unzüchtigsten Bewegungen der Opern = Helden und ihrer verliebten Göttinnen bezaubern die unvorsichtigen Gemüther, und flößen ihr ein Gifft ein [ ].·'8
Oper erscheint dem Bürger Gottsched als Ausdruck aristokratischer Verschwendung und »unmoralischer« Sinnlichkeit, deren Logik als Instrument höfischer Selbstdefmition und Machtausübung er nicht mehr (an)erkennen will. Die Wirkungsmöglichkeiten der Musik werden ihm so zum eitlen Selbstzweck, der sich sozial äußerst schädlich auswirke, da die Oper nicht auf die bürgerliche Lebenswirklichkeit anwendbar sei. Kunst soll nicht mehr repräsentieren, sondern moralisch orientieren.39 Die neue Öffentlichkeit benötigt nicht mehr den Verweiszusammenhang von Kunst auf die ständisch geordnete Hierarchie, sondern die Orientierung in einer Hierarchien abschleifenden und sich immer unübersichtlicher ausdifferenzierenden Sozialwelt. Der Kunstrichter geht dabei grundsätzlich von der Unerfahrenheit der neuen Rezipienten aus, die vor den Versuchungen der Fiktionalität beschützt werden müßten. Richtet sich Gottscheds Bann allgemein gegen die Form der Oper, so wird dennoch implizit deutlich, daß er am heftigsten gegen die spätbarocke deutschsprachige Oper mit ihren Zentren in Hamburg, Leipzig, Braunschweig oder Weißenfels polemisiert;40 ähnliches gilt für Bodmer und Breitinger. 4 ' Die ita-
38 iy
40
41
eigenständigen Gattungstheorie war auch das verbreitete Theorem, die Oper sei eine Nachahmung der antiken Tragödie. Dieses Theorem hat eine lange Vorgeschichte seit den Anfängen der Oper. Auch Zeno betont Anfang des 18. Jahrhunderts, die antike Tragödie sei das Muster, das die Oper nachzuahmen versuchen solle; vgl. Strohm 1979, S. 311. Gottsched 1730, S. 606, In Gottscheds Auszug aus Batteux findet sich folgende Passage mit einem aufschlußreichen Zusatz von Gottsched: »Allein weil die meisten nur im Kopfe, und nicht im Herzen Christen sind: so ist es für die bürgerliche Gesellschaft auch schon sehr vortheilhaft, wenn man den Leuten nur solche Gesinnungen beybringet, die gleichsam der evangelischen Tugenden Stelle bekleiden. [Zusatz Gottscheds:] Dieß aber thun die schönen Künste.« (Gottsched 1754, S. 67) Vgl. die Schlußbemerkungen 1730 und 1751 sowie Gottsched 1734, dessen Kritik nur auf deutsche Libretti (v. a. Postels) gerichtet ist. Bodmers Posirionen zur Oper unterscheiden sich in den Hauptpunkten wenig von denen Gottscheds; sein Hauptziel war ebenfalls der bedeutende Hamburger Librettist Christian Heinrich Postel; vgl. dazu Flaherty 1978, S. i45f. 615
lienische Hofoper seiner Zeit erschien ihm wohl insgesamt weniger gefährlich für ein bürgerliches Publikum, das zu ihr kaum Zutritt hatte (und schon rein sprachlich wenig verstehen konnte). Die deutsche Oper wird zum Antityp des reformierten Sprechtheaters aber auch deshalb, weil sie dessen Aufbau ökonomisch durch ihren hohen Aufwand behindert. 42 Es ist nun bezeichnend, daß gerade die Transformation der älteren Oper zur italienischen »Opera seria« Zenos und Metastasios, die sich etwa zeitgleich mit Gottscheds Verdikten allgemein durchsetzt, in wesentlichen Zügen Gottscheds Forderungen entspricht: Ausschluß »wunderbarer« und übernatürlicher Phänomene, Wegfall der allegorisch-mythologischen Prologe, Vereinfachung des »Plots«, Reduktion von Nebenhandlungen, Eliminieren der komischen Figur, »moralische« Wirkung, die die Bedeutung der »verliebten Romanstreiche« in den Hintergrund drängt, Orientierung an der Tragödie, d. h. >literarischer< Charakter des Librettos etc.43 Diese Entsprechungen sind nicht zufällig: Sowohl Metastasio als auch Gottsched orientieren sich am Vorbild der klassizistischen französischen Tragödie.44 Sowohl Zeno/Metastasio als auch Gottscheds Theorie bringen so ein Unbehagen an der älteren Oper zum Ausdruck. Hält man sich das vor Augen, wird zweierlei deutlich: Zum einen ist Gottscheds Haltung nicht die Position eines weltfremden Theorie-Papstes, sondern läßt sich mit den aktuellen Veränderungen der Kunst-Praxis auf ganz anderer Ebene korrelieren;45 andererseits erfaßt Gottscheds Verdikt gerade nicht die aktuelle Form der Oper (die Opera seria), sondern polemisiert gegen einen älteren Formtyp, der aus ganz anders gearteten Bedingungen entstand und der gerade von der klassizistischen Variante verdrängt wird. Daß Gottsched die neue Opera seria nicht zur Kenntnis nahm als eine Gattung, die seinen Postulaten in zahlreichen Punkten entsprochen hätte, zeigt brennpunktartig noch einmal die zentralen Ansatzpunkte und Grenzen seiner Theorie auf. Für Gottscheds Ziel, den Auf42 4i
44
45
Vgl. Meyer igSob, S. 2Oof. Vgl. Strohm 1979, S. 311; Plachta 1994, S. 174. Metastasio selbst äußerte, seine Dramen bedürften der Musik nicht, um ihre Wirkung zu entfalten (vgl. Kunze 1967, S. 91). Vgl. dazu Putalivo 1990. Das Bewußtsein dafür ist um 1780 noch ungebrochen; vgl. etwa den Vergleich, den Hiller 1786, S. i23ff. zwischen Racines >Atalie< und Metastasios >Gioas, Re di Giuda< vornimmt. (Nicht zufällig findet sich diese ausführliche Beschäftigung mit Metastasio in einer Schrift, die Hiller, nach seiner Leipziger Zeit, als »Herzoglich Curländischer Kapellmeister« veröffentlicht.) Dem entspricht biographisch, daß Gottsched sowohl an der musikalischen Entwicklung seiner Zeit durchaus interessiert war, als auch die Entwicklung der Oper verfolgte und selbst mit ihren praktischen Problemen vertraut war. Nicht zufällig stammt von ihm die erste Bibliographie von Opern- und Singspieltexten (Gottsched 1765), und nicht ohne Grund zählten mehrere nicht unbedeutende Musiker zu seinem Umkreis (z.B. J. A. Scheibe, J. A. Hiller, L. Mizler); vgl. dazu Rieck 1985 (wie Anm. 25).
616
bau und die Verankerung eines deutschen Theaters, war die Seria unbrauchbar.40 Ihr höfischer Funktionszusammenhang kollidiert mit der Leitdoktrin der Mimesis-Fähigkeit einer »bürgerlichen« Lebenswelt. Das Paradox von Gottscheds Opernkritik liegt jedoch darin, daß er mit einer am französischen Klassizismus orientierten Poetik gegen eine Gattung polemisiert, die sich gerade an diesen Normen zu orientieren beginnt. Die »Operette«, die Gottsched in der ersten Auflage der >Critischen Dichtkunst von 1730 noch gar nicht erwähnt hatte, erscheint in der vierten Auflage (1751) als Diminutiv (>kleine OperLa Serva padronaCritischen Dichtkunst (1751) beglückwünscht er die Deutschen zu ihrem »zunehmenden guten Geschmack« (S. 754), der sich am Aussterben 46
47
48
Dies wird sehr deutlich in Gottscheds Antwort auf Uffenbachs Verteidigung der Oper. Hier betont Gottsched, er habe in Dresden eine italienische Oper (>Cajus FabritiusDer Teufel ist losDer kleine Prophet von Böhmischbroda< (1753), getarnt als Übersetzung aus dem Französischen. (Das Original, >Le petit prophete de Boehmischbroda< des deutschen Freiherrn Friedrich-Melchior Grimm erschien 1753 in Paris und stellt eine böse Satire auf die französische Oper seiner Zeit dar, die sich auf den Pariser »Buffonistenstreit« von 1752 um die Legitimität der italienischen Musik bezieht. Grimms Text zielt auf die Unterstützung der neuen italienischen komischen Intermezzi, während er in Deutschland umfunktionalisiert wird zur Kritik der komischen Formen.) Gottscheds Frau Luise Adelgunde Victorie übertrug den Text, den Grimm selbst am 23.6.1753 an Gottsched geschickt hatte, auf die Leipziger Situation: durch Namensänderungen und Anspielungen, in denen in alttestamentarischer Pose die Geschichte des »regelmäßigen Trauerspiels« der Gottsched-Schule als »Offenbarung« wiedergegeben wird (vgl. Minor 1880, S. I49ff). Die Wendung Kochs zum Musiktheater erscheint als persönlicher Treuebruch, als Abtrünnigkeit vom rechten Weg und den Geboten, die Gottvater Gottsched überzeitlich begründet hatte: »Aber siehe! Neuber ward abtrünnig von meinen Geboten, denn sein Weib wollte klüger sein als der Mann. — Darum erweckte ich Schönemann, daß er ausging von dieser verwirrten Bande und stiftete eine neue. — Aber auch er fiel ab von meinem Wege und wich auf die Bahn des Singens und der Wildheit der Engländer und hüb an zu spielen den Sydney und Coffeys Schuhflicker, den man nennet >Der Teufel ist losniederen< musikalischen Genres deutlich greifbar. So schreibt er 1780 über seinen früheren Schüler J. A. P. Schulz: »Schulz ist ein besonders tüchtiger Mensch, nur schade, daß er die gelehrte Musik verläßt, und sich abgiebt mit solchen Narreteien wie die comische Operetten, obwohl mit Beibehaltung des reinen Satzes, wovon Hiller, Neefe und dergleichen absolut keinen Begriff haben.« (Brief an J. N. Forkel, Frühjahr 1780, zit. n. O. Rieß: Johann Abraham Peter Schulz' Leben. In: SIMG XV (1913/1914), S. 219). Das ist der zentrale Unterschied zur vorausgehenden Poetik, die die Affekte nicht systematisiert und an Theologie oder Moral bindet. Christoph Nichelmann: Die Melodie nach ihrem Wesen sowohl, als nach ihren Eigenschaften. Danzig 1755, S. n. »Ihre Eindrücke befördern die Fertigkeit, Liebe, Güte und Mitleid zu empfinden und geben unsern Leidenschaften die nützlichste Mäßigung, als worinn das wahre Wesen
626
Krause zeichnet sich bereits der Übergang zu neuen anthropologischen Konzeptionen ab: »Die weichen und biegsamen Gemüther sind in der Welt die besten und brauchbarsten; die trotzigen taugen zu wenig würklich edlen Dingen.« 80 Hier ist eines der Einfallstore des empfindsamen Diskurses erkennbar: Die Hochwertung des »weichen und biegsamen Gemüths« ist das zentrale Kennzeichen der empfindsamen Ideologie, die Abwertung des »trotzigen« zeigt die Frontstellung der frühen Empfindsamkeit zur Welt des strategisch-taktischen höfischen Interessenkampfes.81
4. Veränderungen von System und Gattung: Zentrale Positionen Von Gottsched bis Krause argumentieren die rationalistischen Theoretiker weitgehend auf der Basis einiger grundlegender Übereinstimmungen, die hier vereinfachend auf drei Ebenen zusammengefaßt werden sollen. Ebene i: Wahrnehmung der Gattung Musiktheater
In der Auseinandersetzung mit Gottscheds radikaler Opernkritik schälen sich in den i75oer Jahren einige Grundzüge der rationalistischen Ansätze gegenüber der Gattung heraus. Diese rationalistischen Grundpositionen prägen auch einen Großteil der erwähnten gottschedkritischen oder reformorientierten Ansätze und haben z.T. Entsprechungen in der Gattungsentwicklung der italienischen Opera seria. Diese rationalistische Grundhaltung gegenüber der »unreinen« Gattung des Musiktheaters läßt sich in folgenden Hauptpunkten bündeln: — Die Oper gilt als Forum einer (meist negativ gewerteten) Sinnlichkeit, sowohl inhaltlich als von der medialen Präsentation. Demgegenüber erheben die meisten Theoretiker die Forderung nach »sittlicher« statt sinnlicher Wirkung: Die Übermittlung moralischer Normen gilt theoretisch als Hauptaufgabe auch des Musiktheaters. — Die Gattung Oper wird von ihrer hohen Position in den barocken Poetiken abgewertet. Die ältere Oper vom Typ der Hamburger Oper wird überwiegend als reformbedürftig angesehen oder ganz verworfen. Sie gilt als unna-
der Tugend besteht.« (Krause 1752, S. 39). Ähnliche Argumentationen finden sich in den I74oer Jahren in Frankreich, z.B. bei Remond de Saint-Mard (Reflexions de l'Opera [1741], in: Ders.: CEuvres. Paris 1749, Bd. 5). Krause 1752, S. 39f. Vgl. Wegmann 1984. Diese Kampfstellung gegen den »Höfling« und seine Verhaltensmuster bleibt auch für die Geniebewegung konstitutiv; ein besonders schönes Beispiel dafür bietet der 2. Teil von Lenz' >Landprediger< (1777). 627
türlich, verworren und schwülstig. Neben Gottscheds radikaler Ablehnung existieren verschiedene Reformansätze. Sie alle zeugen vom Versuch, den theatralischen Code der Barockzeit umzubauen und dessen bedeutungstragende Elemente dann auszuschließen, wenn sie der neuen Mimesis-Doktrin widersprechen könnten. Das zentrale Mimesis-Konzept kann allerdings nur durch Hilfskonstruktionen mit der Gattung, v. a. mit der Musik, vereint werden und führt für fast alle Theoretiker zu Problemen mit der Gattung. Daher steht die Gattung, anders als im Barock, unter permanentem Legitimationsdruck. Die Oper wird absolut textzentriert wahrgenommen, die Musik auf eine rein abbildende Hilfskunst reduziert und die multimediale Aufführungsituation ausgeklammert.82 Man reflektiert kaum, daß das Libretto eigene systematische und funktionale Problemstellungen hat, sondern unterwirft es »literarischen« Normen:83 Der Stil des Textes darf nicht hochtrabend, ausschweifend oder schwülstig sein, wie Gottsched Postels Libretti kritisiert, Handlungsführung und »Intrige« müssen einfach und wahrscheinlich sein etc. Auch der Operntext muß den allgemeinen Forderungen nach Wahrscheinlichkeit und dramaturgischer Stringenz genügen; demgegenüber dürfen sich die musikalischen Parameter ebensowenig verselbständigen wie die szenischen.84 82
Vgl. z.B. Gottsched 1751, S. J2of. Die Gegenposition dazu nimmt Johann Mattheson ein: »Der Text ist gar kein Stück der Music, vielweniger das edelste oder vornehmste. Denn die Music kan auch ohne Text bestehen, und alle Passionen oder Gedancken, mit dem blossen wohl=zusammen=gefügten Klange, ausdrücken. [] Die Materie, womit ein Componist eigentlich zu schaffen hat, ist der Klang; und nicht der Text.« (Mattheson 1722-1725 Bd. 2, S. 295^) Konkret für die Oper bedeutet das: »Wenn uns eine Arie gefällt, [ ] so bekümmert man sich nicht viel um die Worte; wie mans in einer Oper wahrnimmt, welche man nicht lesen würde, doch aber bey der Vorstellung mit Bewunderung anhöret.« (Mattheson 1744, S. 54) Die Differenz zum textzentrierten gottschedianischen Ansatz ist deutlich markiert. Das bedeutet jedoch keine Lizenz für den Librettisten: »Die Verse dürfen ja eben darum nicht gleich von allen starken Gedanken, von allen scharfsinnigen, nachdrücklichen Einfallen leer seyn.« (Ebd. S. 32) "·' Dieses Verhalten der Aufklärungstheoretiker wurde von der protestantisch dominierten Germanistik des 19. Jahrhunderts weitertradiert und wirkte bis weit ins 20. Jahrhundert nach: das Opernlibretto als minderwertige, unseriöse Textgattung. Noch bei Brüggemann heißt es etwa 1937: »Wer die Oper dieser Zeit kennt, kann Gottsched nicht so gram sein, daß er der Oper so feindlich gesinnt war.« (Brüggemann (Hg.) 1937, S. 13; dabei wäre interessant zu wissen, welche Opern der Gottschedzeit Brüggemann um 1930 kennen konnte — bühnenpraktisch wohl keine einzige.) 84 Aufschlußreich hierfür sind etwa die Ausführungen Ramlers, der einerseits eine gewisse Spezifik des Librettos anerkennt, aber dennoch alle anderen Codes dem Text unterordnet. Ramler definiert 1756 die Aufgaben des Librettisten so: »Der Poet muß hier kurz seyn, und hat kein so weitläuftiges Feld zur Entwickelung, als in der ordentlichen Tragödie. Er muß Paßionen in sein Gedicht bringen, welche die Musik gut ausdrückt, und sie oft abändern, damit die stete Gleichheit der Töne nicht misfalle. Er muß Worte mit guten Vocalen wählen, auch schöne Versarten in seinen Arien 628
Allgemein fordert man Affektidentität zwischen Libretto und Musik. (Daß es etwa bei Händel Situationen gibt, in denen Musik und Text auseinanderfallen, 85 ist in diesem theoretischen Rahmen nicht wahrnehmbar.) Entsprechendes gilt für die Wertung des Sprechtheaters und seiner Aufführungsebene: Die Bewertung orientiert sich einseitig am »Text« und ignoriert die Bedingungen der »Aufführung«. 86 — Allgemein abgelehnt werden die komischen Figuren sowie die Vermischung komischer und ernster Elemente (wie sie z. B. für die ältere Oper,8"7 speziell die Libretti der Hamburger Oper, kennzeichnend und konstitutiv ist). Die Theoretiker insistieren gegenüber den »bunten und seltsamen Veränderungen« der barocken Oper auf den klassizistischen drei Einheiten (wobei in der Frage der Einheit des Ortes mitunter etwas liberaler geurteilt wird); dies deckt sich weitgehend mit dem Reformmodell Zenos und Metastasios, so daß dieses bereits als eine rationalistische Veränderung der Oper des 17. Jahrhunderts zu verstehen ist.88 Auch das Maschinenwesen des barocken Theaters wird verworfen. Aus der »vertikalen« Ausrichtung des barocken Theaters zwischen Himmel und Hölle »kehrt das Theater wieder zur Horizontale der irdischen Welt als Achse der Vernunft zurück.« 89 — Die semantisch präzisierbare Vokalmusik hat grundsätzlich Vorrang vor der als unbestimmt und leer angesehenen Instrumentalmusik; 90 im Falle der
85 86
87 88
89 90
würden der Musik eine gute Hülfe leisten. Er muß keinem Sänger eine Rolle geben, woran er sich zu Tode singen würde, sondern sie nach ihrer verschiedenen Fähigkeit behutsam abfassen. Er muß die musikalischen Duetten und Terzetten wahrscheinlich anbringen: eine schwere Arbeit! Auch muß er auf die Tänze und Decorationen ein Auge haben, und mit seiner Handlung nur solche verknüpfen, wobey viel Kunst und Verstand zu zeigen ist.« (Wie Anm. 64, S. 91). Vgl. z.B. Jahn 1996. Dieses Axiom bleibt bis ins 19. Jahrhundert konstant. So ist z.B. für ein Leipziger Conversations-Lexicon von 1830 »ein Drama, das nur bei der Aufführung, nicht beim Lesen auf den Hörer wirkt, ein schlechtes Gedicht.« (Conversations-Lexicon. Allgemeine deutsche Realenzyklopaedie fuer die gebildeten Staende. 7. Originalauflage. Leipzig 1830. Bd. 3, S. 282) Vgl. Mehltretter 1994. Die Beschreibung, die Scheibe 1737 von einem »guten Singspiele« gibt, liest sich wie die Beschreibung eines Metastasio-Librettos: Einheit der Handlung und der Zeit; eigene, durchgehaltene und stimmige Figurencharakteristik; Wahrscheinlichkeit und Einfachheit der Handlung; nur sechs bis acht Personen [!]; Belohnung der Tugend bzw. Bestrafung des Lasters (vgl. Stompor (Hg.) 1975, S. 35). Vgl. allg. Jahn i994b, bes. S. 152; zu Zeno vgl. Robert Freeman 1967: Opera without Drama: Currents of Change in Italian Opera, 1675 to 1725, and the Roles Played Therein by Zeno, Caldara and Others. Ann Arbor 1981 (Diss. Princeton 1967). Fischer-Lichte 1988, Bd. 2, S. 96. Dies betonen v.a. die französischen Theoretiker, z.B. Rousseau oder D'Alembert: »Alle diese Musik, die bloß für die Instrumente ist, [ ] sagt weder dem Verstande noch dem Herzen etwas« (Über die Freyheit der Musik. In: Hiller (Hg.) 1766/70, Bd. 3, S. 296f. [Orig.: De la liberte de la Musique. Amsterdam 1759]). Ähnliches 629
—
-
-
—
—
—
91
92 93
Oper bedeutet das konkret die Forderung nach Reduktion oder semantischer Fixierung ihrer instrumentalen Teile (Ouvertüre, Zwischenspiele).91 Instanz der Rezeption der Gattung soll der Verstand sein, nicht die Sinne. Das multimediale Spektakel Oper soll daher so weit wie nur möglich an die Normen der »gesäuberten Schaubühne« angeglichen werden. Daher gelten den Theoretikern Affektkataloge und Tonmalerei als beste Mittel der Vertonung. Die Beziehung von Text und musikalischer/szenischer Realisation wird als einfache Transformation verstanden, die via Verstand erfaßt werden kann. Der Verstand des Rezipienten stellt die Übereinstimmung der semiotischen Codes fest, die die rationale Einrichtung der Welt ausdrücken, und bezieht daraus sein Vergnügen. Batteux versucht, die Oper auf Stoffbereiche des Übernatürlichen und Mythologischen festzulegen, um Kollisionen mit dem Wahrscheinlichkeitspostulaten zu vermeiden. In Deutschland dagegen wird das Übernatürliche als Stoffbereich in der Regel ganz abgelehnt.92 Es wird intern nicht differenziert zwischen >hohen< und komischen Formen (die sich ja gattungshistorisch auch gerade erst ausbilden). Bewertungsmaßstab ist das Trauerspiel als poetologisch höchste Form. Zusammengesetzte und vermischte Formen wie die Oper gelten grundsätzlich als den »reinen« Formen unterlegen. (Eine abweichende Position hierzu vertritt die Baumgarten-Schule.93) Die handwerkliche Ebene fällt häufig den allgemeinen Fragen nach der Legitimation der Gattung zum Opfer; sie wird in der Regel parallel zur Gattung der Cantate behandelt. Dabei stehen meist Fragen der Musik-Text-Relation im Vordergrund, z. B. der richtigen Deklamation oder der angebrachten Versfüße. Arie und Rezitativ werden nach ihren Inhalten deutlich getrennt und sollen daher auch vom Komponisten unterschiedlich behandelt werden. Es bleibt jedoch bei vagen und allgemeinen Bemerkungen: Die Arie solle »das munterste, sinnreichste und beweglichste« wiedergeben, das Rezitativ gilt für Mattheson, Quantz oder Krause. In seinem Auszug aus Bacteux spricht auch Gottsched 1754 davon, daß Musik ohne Text oder Tanz tot sei, Körper ohne Geist, weil unverständlich; vgl. Gottsched 1754, bes. S. 183 — 218. Auch Marpurg trennt Vokalmusik als »die Lehre für das Gemüthe« und Instrumentalmusik als »die Lust für das Ohr«; durch reine Instrumentalmusik würde »nur das Ohr gekitzelt, ohne daß der Verstand etwas denken kann.« (zit. n. Küster 1992, S. 66). Noch z.B. bei Lessing in der >Hamburgischen Dramaturgie< oder bei Gluck (>AlcesteBeurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst^ Wenn verschiedene Gattungen ihre »Vorzüge mit einander vereinigen, so bekomt man das allerschönste der Poesie« (wie Anm. 60, S. 359). In polemischer Wendung gegen Gottscheds Gattungspurismus verweist er auf die Formen des Emblems, der Ode und der Kantate als Beispiele.
630
»Erzählungen, Vernunftschlüsse, Sittenlehren u. dgl.« (Gottsched). Dramaturgische Erfordernisse werden kaum gestreift. Ebene 2: Dominante poetologiscbe Parameter
Diese Wahrnehmung der Gattung wird grundsätzlich bei fast allen Autoren von folgenden zentralen poetologischen Positionen bestimmt: — Ziel der Poetik ist der Versuch, die reale künstlerische Gattungsvielfalt normativ zu systematisieren. — Die zentrierende Doktrin ist die Festlegung der Kunst auf Nachahmung der Natur; von dieser Doktrin gehen auch die Verteidiger der Oper aus. — Aus der Nachahmung der Natur resultieren die weiteren Forderungen nach Wahrscheinlichkeit, »Sittlichkeit« und moralischem »Nutzen« von Kunst. Es gibt keinen ästhetischen Eigenwert von Kunst, sondern primär deren moralische Funktion: »Schönheit« ergibt sich aus der Befolgung der Regeln.94 Aus den verschiedenen moralischen Funktionen resultiert die Betonung klassizistischer Reinheit der einzelnen Gattungen. — Das Kunstwerk muß die Ordnung der Natur widerspiegeln, ohne sie zu »verwirren«; daraus resultieren die poetologischen Grundforderungen nach Regelmäßigkeit und disziplinierter Harmonie. Die Gattungen dienen als »Regulative der Empfindung, des Geschmacks und des moralischen Nutzens«. 95 - Zentrale Erkenntnis- und Beurteilungsinstanz ist der Verstand, flankiert von der Kategorie des »guten Geschmacks«; die Sinne bilden nur das »Tor« oder den »Canal« für die äußeren Eindrücke. 9 Die Regeln gelten sowohl für Produktion wie auch für Rezeption, oder umgekehrt: die Wirkung der Kunst wird analog ihrer Produktion gedacht und folgt denselben Regeln. — Daraus resultiert als ideale Haltung die Distanz von Produzent und Rezipient zum Kunstwerk. 94
Krause becont: »Ich halte den Wohlklang nur alsdenn für eine Schönheit, wenn er die Wortfügung nicht unterbricht, noch mit der Natur der Sachen und der Gedanken streitet, sondern sie vielmehr unterstützt.« (Krause 1752, S. 190) Auch Mattheson geht bei aller Gegnerschaft zu Gottsched von denselben moralischen Axiomen wie dieser aus: »Das ist ein Stück der Sitten-Lehre, die ein vollkommener Ton-Meister auf alle Weise inne haben muß, will er anders Tugenden und Laster mit seinen Klängen wol vorstellen, und dem Gemüthe des Zuhörers die Liebe zu jenen, und den Abscheu vor diesen geschickt einflössen. Denn das ist die rechte Eigenschafft der Music, daß sie eine Zucht-Lehre sey.« (J. Mattheson: Der vollkommene Capell-Meister. Hamburg 1739, Repr. Kassel u.a. 1987, S. 15) '·>' Scherpe 1968, S. 8af. 96 Damit führt die rationalistische Theorie das spätbarocke Verständnis fort, das etwa 1727 noch bei dem Jesuiten Franciscus Lang erkennbar ist: »Die Sinne sind nämlich das Tor der Seele, durch das jetzt noch die Erscheinungen der Dinge ins Gemach der Affekte eintreten.« (Lang 1727, S. 200; vgl. Fischer-Lichte 1988, Bd. 2, S. 40) 631
- Die Regeln sind, weil auf die Natur und deren unveränderbare Gesetze gestützt, universal und überzeitlich gültig; der Theorie fehlt jede Art historischer Differenzierung. — Gestützt auf die universalen Regeln, entsteht die neue Handlungsrolle des »Kunstrichters«. Kunst wird nicht mehr ausschließlich in ständisch-exklusiven Bezügen wahrgenommen, sondern gilt potentiell als Angelegenheit (teil-) öffentlichen Räsonnements. Allerdings besteht ein hierarchisches Gefalle vom »Kunstrichter« zum »Liebhaber« (die neue Öffentlichkeit ist zugleich Adressat und Schüler); die Debatte findet daher noch weitgehend innerhalb der Autoritäten der »Kunstrichter« statt. Ebene 3; Grundlegende
Transformationen
Die Entwicklungen im Bereich der Theorie und der Gattungsgeschichte zeigen gemeinsame Tendenzen: beide lassen sich als Reaktionen auf die ältere barocke Konzeption von Theater verstehen. Diese wird offenbar jetzt auf breiterer Front als ungenügend empfunden — und zwar nicht nur in der Rezeption, sondern auch im Bereich der Produktion (Metastasio). Diese barocke Konzeption wird jetzt in Theorie und Praxis (unabhängig voneinander) umgebaut: An die Stelle einer Repräsentation »künstlicher« Zeichen tritt nun die Nachahmung der »Natur«. In diesem Umbauprozeß bleiben einzelne Elemente des theatralischen Codes noch bestehen (v. a. der kinesische Code97), während die anderen rasch abgebaut werden. Dahinter steht ein verändertes Verständnis von »Natur«: 98 Der neue »Natur«-Begriff des Rationalismus versteht Natur als eine apriorisch gegebene, rationale Ordnung, die nun prinzipiell vom Verstand (nicht von den Sinnen) vollständig erkannt werden kann. Diese Ordnung ist überzeitlich stabil, ebenso wie die in dieser Natur begründete Anthropologie.99 »Natur« und politischgesellschaftliche Einrichtung erscheinen prinzipiell als sinnvolle Ordnung, die sich im Kunstwerk widerspiegeln muß.100 Für das Verständnis der menschlichen Natur, die rationalistische Anthropologie, gilt: - Sie ist geprägt von der Dominanz der »oberen Erkenntnisvermögen«: Nur der Verstand kann die rationale Ordnung der Natur erkennen, die Sinne 97 98 99
100
Vgl. Fischer-Lichte 1988, Bd. 2, S. 9iff. Zum barocken Natur-Begriff vgl. ebd. S. loff. Eine signifikant andere Position vertreten in dieser Hinsicht die Schweizer Bodmer und Breitinger, die von einem eher dynamisch ausgerichteten Natur-Begriff ausgehen. Daher beharrt Gottsched auf der Identität von ständischer Sozialordnung und zugehörigen dramatischen Gattungen. — Zum Verhältnis von Natur und Kunst betont der spätere dänische Hofkapellmeister J. A. Scheibe 1737: »Die Kunst gibt keineswegs der Natur eine Schönheit, wohl aber die Natur der Kunst. Die Natur besitzt schon an sich selbst alles, was vortrefflich ist, und braucht von der Kunst nicht erst die Schminke zu borgen. Je größer oder vielmehr je ausschweifender die Kunst ist und je weiter sie für sich selbst geht, desto mehr entfernt sie sich von der Natur.« (Scheibe
632
sind unzuverlässig und täuschen (dies ändert sich bei Baumgarten und seiner Schule); — Sinnlichkeit und sinnliche Lust sind daher negativ besetzt (als Gefährdung des Erkenntnisanspruchs des »Verstands«). - Menschliche Emotionalität wird als Summe prinzipiell durch den Verstand erkennbarer, exakt bestimmbarer und beherrschbarer Affekte systematisiert. 101 Die menschliche Emotionalität ist universal, die menschliche Natur wird als prinzipiell immer und überall gleich vorausgesetzt. Für das Theater bedeutet das, daß man ein bezüglich der Universalität dieser Emotionalität einheitliches Publikum unterstellt.
101
(Hg.) 1737/1740, S. 79) Die Gegenposition vertritt 1738 im Streit mit Scheibe Johann Abraham Birnbaum, Rechtswissenschaftler und Dozent für Rhetorik an der Universität Leipzig: »daß die Natur von sich selbst nicht alles besitze, was vortrefflich ist und daß sie erst von der Kunst ihr brauchbares Wesen und ihre Zierde erhält.« (ebd. S. 1077) Zu Birnbaum vgl. Hans Joachim Kreutzer: Johann Sebastian Bach und das literarische Leipzig der Aufklärung. In: Bach-Jb. 77 (1991), S. 27-29. Die gesamte Auseinandersetzung Scheibe-Birnbaum über J. S. Bach ist dokumentiert in Scheibe (Hg.) 1737/1740, S. 833—1036; vgl. dazu Reckow 1993. In Christian Wolffs >Psychologia empirica< (1733) ist es das erklärte Ziel, alle bekannten seelischen Prozesse voneinander abzugrenzen und sie möglichst klar zu definieren; in den §§ 603 — 879 bietet Wolffeine vollständige Lehre von den Affekten als »actus animae«. Noch Kant geht in der »Kritik der Urtheilskraft< von ähnlichen Grundannahmen aus. 6 33
2. »Empfindung«. Veränderungen der rationalistischen Konzeptionen nach 1750
Während die von Gottsched ausgelöste Operndebatte weiterläuft, vollziehen sich nach der Jahrhundertmitte zwei wesentliche Veränderungen. Zum einen wandelt sich die Gattungspraxis: Der Siegeszug der durch die metastasianische Opernreform abgespaltenen komischen Formen bestimmt zunehmend die Theaterwirklichkeit (Opera buffa, Opera-comique, Singspiel); der Bedarf an Libretti steigt - und eine Leerstelle der bisherigen Theoriediskussion wird in der Praxis unübersehbar deutlich. Zum anderen wandelt sich das Verständnis zentraler Grundlagen des rationalistischen Denksystems. Veränderungen des »Natur«-Begriffs wie auch der anthropologischen Konzeption vom Menschen und seiner Emotionalität lassen jetzt die poetologischen Doktrinen mit ihren implizierten Grundannahmen zunehmend fragwürdiger erscheinen, ohne daß jedoch explizit mit den poetologischen Grundaxiomen gebrochen würde. Die Veränderungen vollziehen sich im Rahmen der vorgegebenen Denkweisen und Begriffe, bis sich später in den lyyoer Jahren mit dem Begriff des OriginalGenies ein wirkungsmächtiges Gegenmodell auf breiterer Front durchsetzt. Allerdings verlaufen diese Entwicklungen keineswegs linear-prozeßhaft, sondern erscheinen immer wieder als immanentes Abarbeiten von Spannungsverhältnissen, das nun streckenweise unabhängig von der Praxis abläuft und immer wieder auch von Teilen der Autoren und Rezipienten nicht mitvollzogen wird. Der für den hier behandelten Zusammenhang entscheidende Wandel betrifft die Konzeption der menschlichen Natur: die Aufwertung der menschlichen Empfindungen zu einer anthropologischen Grundkonstante und deren tendenzielle Verankerung in einer naturrechtlich fundierten Ethik, nicht mehr in einer christlichen Morallehre. Dieser Prozeß, für den sich in Deutschland der Begriff der »Empfindsamkeit« eingebürgert hat, vollzieht eine Entwicklung nach, die in England und Frankreich Jahrzehnte früher in Gang kam, wie schon die Wortgeschichte1 zeigt. Die Empfindsamkeit tendiert zu einer säkularisierten Sozialphilosophie; einen ihrer zentralen Austragungsorte bildet die Reflexion über Kunst, in der sich das empfindsame Selbstverständnis und die empfindsame Öffentlichkeit überhaupt erst ausbilden. Auf die Kunsttheorie bezogen, stellt sich das neue Problem, wie die Wirkung der Kunst auf die menschlichen Empfindungen einzuschätzen sei, wenn diese nun nicht mehr hierarchischen 1
634
Vgl. Jäger 1969, S. i3ff.; Cowart 1984; Hirschmann 1995, Sp. ij66f.
Instanzen (wie der christlichen Morallehre oder der frühaufklärerischen Vernunft) allein untergeordnet werden. Dieses Problem ist der rationalistischen Theorie noch weitgehend fremd, da hier die Wirkung der Kunst auf den Verstand im Zentrum steht. Nach der Jahrhundertmitte stellt sich dagegen immer dringlicher die Frage, wie die Wirkung von Kunst auf die menschlichen Empfindungen mit den neuen anthropologischen, sozialen und ethischen Konzeptionen zu verbinden sei. Diese Probleme betreffen direkt die Formen des Musiktheaters, da diesen allgemein (schon in der frühaufklärerischen Theorie) eine besonders große Wirkungskraft und Sinnlichkeit zugeschrieben wird. Den Rahmen der Debatte bildet allerdings weiterhin das rationalistische Theoriesystem, innerhalb dessen und mit dessen Axiomen die Auseinandersetzung geführt wird. Die rationalistischen Positionen, v. a. die Forderungen nach Naturnachahmung und Tugendlehre,2 bestimmen noch in den lyooer/yoer Jahren die mittel- und norddeutsche Diskussion um das deutsche Musiktheater in hohem Maße und bleiben bis ins 19. Jahrhundert hinein eine wirkungsmächtige Größe, wenngleich sich ihr Inhalt partiell verschoben hat. Es ist erstaunlich, wie zählebig die Theoriediskussion die alten Argumentationsmuster der Gottschedzeit weiterschleppt, 3 obwohl die Theatersituation, gegen die sich Gottsched ursprünglich richtete, längst in rapidem Umbruch begriffen und gerade im Musiktheater einer veränderten Theaterpraxis gewichen ist. Diese Zählebigkeit der theoretischen Auseinandersetzung aber hat entscheidende Konsequenzen: Theaterpraxis und theoretische Reflexion fallen zunehmend auseinander. Die Theorie diskutiert überwiegend normativ allgemeine Probleme der großen Oper, die es in der deutschsprachigen Theaterpraxis seit den späten 17 3oer Jahren faktisch nicht mehr gibt. Die neuentstehenden Formen im komischen Bereich bleiben jedoch weitgehend ohne theoretische Reflexion. Es gibt bis zum Ende des Jahrhunderts nur wenige Ansätze zu einer Gattungstheorie der deutschen Oper im engeren Sinn oder zu einer Theorie der komischen Musiktheaterformen, obwohl gerade diese seit den späten lyooer Jahren den Löwenanteil der Theaterrepertoires bilden. Diese Diskrepanz von Theorie und Praxis ist nur möglich, weil die rationalistische Poetik mit normativen Postulaten arbeitet und die eher deskriptive Tradition der barocken Poetiken abbricht. Da die praktischen Probleme der Librettisten nach 1766 aber immer mehr zunehmen und eine eher deskriptiv-handwerkliche Poetik immer 2
3
Ähnlich, wenngleich weitaus gemäßigter, äußert sich z. B. Voltaire, der eine Kunscform kritisiert, »wo man bei der Zerstörung einer Stadt Arietten singt und um ein Grab tanzen muß«; vgl. Holmström 1967, S. 33. Noch 1803 sieht sich der Meier-Schülerjohann August Eberhard zu heftigen Attakken auf die Gottsched-Schule veranlaßt, wobei noch einmal das Mimesis-Gebot für die Oper abgelehnt wird und die z.T. 70 Jahre alten Argumentationen wiederholt werden; vgl. Johann August Eberhard: Handbuch der Ästhetik (in Briefen). 4 Teile, Berlin 1803, bes. 23. Brief. 635
dringlicher scheint, beginnen zahlreiche Autoren, am Wert dieses normativen Theoriesystems zu zweifeln. Auch von daher werden die ausgeschlossenen Formen des Musiktheaters zu einer Bruchstelle der rationalistischen Gattungstheorie.4 Mit den Erfolgen der neueren Musiktheaterformen und dem sprunghaft steigenden Bedarf an Libretti kommt es nach etwa 1766 auch verstärkt zur öffentlichen Kritik von Musiktheaterwerken oder der Gattung selbst; dabei wird oft der Mangel an theoretischer und gattungspoetischer Reflexion des neueren deutschen Musiktheaters betont. Diese Äußerungen kommen in erster Linie von den Autoren selbst, die häufig der Kunstform »Libretto« relativ hilflos gegenüberstehen.5 Das rationalistische Modell, Oper als Regeldrama mit Musik in das System einzubinden, funktioniert in der Praxis nicht, da hier die anderen funktionalen Bedingtheiten eines Librettos gegenüber einem Sprechdrama hervortreten. Das Verfassen von Libretti wird jetzt von Autoren wie Weiße, Wieland, Reichardt oder Herder als eigenständige literarische Kunstform begriffen, die aber mit den konventionellen poetologischen Kriterien kaum zu erfassen ist und somit neuer theoretischer Begründung bedarf. Diese aber wird nicht mehr im engeren Zirkel einer communitas litteraria gesucht, sondern im öffentlichen Räsonnement behandelt, als Problem, das grundsätzlich alle Interessierten angeht. Der soziologische Ort der Theoriebildung beginnt sich zu verschieben, und es zeichnet sich ab, daß die akademische Debatte mit ihrer Fixierung auf die rationalistische Tradition ihre Dominanz verlieren wird.
4
5
So heißt es schon 1751 bei Johann Adolph Schlegel unter Verweis auf die Oper: »Nichts läßt sich bey ihr [der Poesie, J. K.] schwerer bestimmen, als eine gewisse Anzahl von Gattungen, auf die sie sich einzuschränken genöthigt seyn soll. Die Alten wußten bis auf die Zeiten Lucils von der poetischen Satyre wenig, oder nichts. Unsre Zeiten haben die Oper, das Schäferspiel, die poetische Allegorie, die Cantate, und verschiedne andre besondre Gattungen von Schauspielen und Liedern erfunden, welche neue Namen verdienten« (Einschränkung der schönen Künste auf Einen einzigen Grundsatz, aus dem Französischen übersetzt, und mit einem Anhange einiger eignen Abhandlungen versehen. Leipzig: Weidmann 1751, S. 308). Diese Unsicherheit wird selbst bei einem stark in der Regelpoetik verhafteten Autor wie Daniel Schiebeier deutlich. In seinen »Anmerkungen zu Lisuart und Dariolette« betont er 1767: »Ich weiß, daß der Plan meines Stückes fehlerhaft ist, und berufe mich nicht zur Entschuldigung darauf, daß mein Stück eine Oper sey, und daß man dieser etwas zu gute halten müsse. Warum soll denn eine Oper nicht eben sowohl einen ordentlichen Plan haben, wie ein anderes Schauspiel? Ich bin sehr oft unglücklich in Dialogue gewesen. Ich bin ein Anfänger in der Kunst, und muß lernen. Das erträglichste in meinem Stücke ist vielleicht der musikalische Theil desselben, weil ich mich bestrebt habe meinen Arien etwas von derjenigen Symmetrie zu geben, welche bey Versen, die in die Musik gesetzt werden sollen, ganz unumgänglich nöthig ist. Ich wünsche recht sehr, daß ein anderer, etwas bessers in diesem Fache liefern möge.« (In: Hiller (Hg.) 1766/70, Bd. II [2.11.1767], S. 138)
636
Bei den theoretischen Bemühungen der Autoren wiederum ist bemerkenswert, daß die Autoren (trotz weitverbreitetem »Patriotismus«) nicht an die älteren deutschen Traditionen anknüpfen: Weder in der Produktion noch in der theoretischen Reflexion greift man nach 1760 auf die Traditionen von vor 1740 (etwa der Hamburger Oper) zurück, die als regelrecht abgeschnitten betrachtet werden müssen. Nur in der Kritik der Gattung herrscht Kontinuität — die Verurteilung der Kunstform Oper durch die rationalistische Poetologie, mit der sich auch die neuen Singspielformen auseinandersetzen müssen, hat lange Traditionen im Pietismus (seit etwa 1680, z.B. in Hamburg) und im frühen Rationalismus6 und bleibt bis ans Ende des 18. Jahrhunderts als Argumentationsmuster in Kraft. Obwohl in der Auseinandersetzung mit diesen Positionen in den 172oer/3oer Jahren ein Niveau erreicht ist, das argumentativ lange nicht überboten wird (besonders bei Johann Mattheson mit seiner Rezeption des englischen Empirismus), können die Autoren nach 1760 offenbar nicht auf diese theoretischen Verteidigungslinien zurückgreifen. Teile der Auseinandersetzungen der i72oer/3oer Jahre wiederholen sich deshalb nach i~/6o.7 Das Dilemma der Autoren nach 1760 hat somit zwei Ursachen: Zum einen fehlt durch die Abwertung und Ausschließung der »unreinen Gattung« des Musiktheaters aus der rationalistischen Poetologie weitgehend ein theoretischer Bezugsrahmen zur Produktion — es gibt um 1766 keine handwerkliche Gattungspoetik der aktuellen Musiktheaterformen. 8 Zum anderen ist durch die sozialgeschichtlichen Umwälzungen in der Theaterpraxis kein Anknüpfen an die älteren Traditionen möglich, so daß auch keine Vorbilder und praktischen Muster zur Verfügung stehen. Diese Lücke füllen dann die dominanten Muster der fremdsprachlichen Traditionen: hauptsächlich Metastasio und seine Schule bzw. die französischen Opera-comique-Dichter wie Favart, Lesage, Sedaine, Marmontel. Durch die Defizite der poetologischen Theoriebildung bedingt, gehen einige Autoren dazu über, an die Stelle normativer Verfügungen die deskriptive Be6 7
H
Vgl. Flaherty 1978, S. i8ff. So ist z.B. auffällig, daß Teile der Argumentation, mit der Barthold Feind in seinen >Gedancken von der Opera< (Stade 1708) die französische Tragödie kritisiert, in Wielands Auseinandersetzung mit der (auf das Vorbild der französischen Tragödie gestützten) metastasianischen Opera seria wiederkehren, ohne daß aber ein Rückbezug auf Feind feststellbar wäre. Die Probleme bleiben, die älteren Lösungsversuche werden jedoch nicht mehr zur Kenntnis genommen. Selbst in dem ausgearbeitetsten Entwurf einer Systematik »musikalischer Poesie«, bei Krause 1752, blockiert die Nachahmungsdoktrin die Ausbildung echter Gattungspoetik. Krause beschäftigt sich überwiegend mit Fragen der Abbildung und Nachahmung in der Musik (v. a. Tonmalerei, Figurenlehre etc.), berücksichtigt aber dramatische Aspekte kaum (trotz Abschnitten wie »Von den verschiedenen Gattungen ganzer Singgedichte«). Krause fordert eher allgemein Einfachheit der Handlung, Verzicht auf Nebenhandlungen und volkstümliche Arien. 637
Schreibung von Musterwerken zu setzen: z.B. Reichardt 1774 (>Die JagdAlcesteAlcesteKaufmann von SmyrnaAlceste< ablehnt: durch eine polemische Betonung der Inkongruenz von poetischen bzw. musikalischen Mitteln und dramatischer Wirkung. Diese Art theatralischer »Analyse« stellt also den Ersatz und zugleich die Transformation einer handwerklichen Gattungspoetik dar; in ihrem literarisierenden, z.T. assoziativ-poetisierenden Ton überführen diese Analysen nun das Musikwerk in einen neuen Diskurs, der in die Musikbeschreibungen der empfindsamen und nachempfindsamen Romane mündet. In der Auseinandersetzung mit der rationalistisch-normativen Theorie schlagen nun die Verteidiger des neuen Musiktheaters zunächst verschiedene Hauptstrategien ein. Der Widerspruch zwischen der rationalistischen Poetik und der erfolgreichen Gattung führt entweder Schritt für Schritt zur Auflösung des Systems zugunsten der Gattung (i.) oder zu theoretischen Anpassungsversuchen, die durch Reformen von Gattung und System die Unvereinbarkeit aufzuheben versuchen (2.); dazwischen liegen Versuche, dem Genre durch eine Neukonzeption eine neue Verankerung an den Höfen zu verschaffen (3.).
i. Auflösung der Mimesis-Doktrin In Johann Adam Hillers früher Abhandlung von der Nachahmung der Natur in der Musik (1754) läßt sich eine zentrale Verschiebung des poetologischen Diskurses ablesen, in der die Mimesis-Doktrin ihre dominante Position verliert. Der Komponist Hiller hörte in Leipzig Gottscheds Vorlesungen, verkehrte aber mehr in dem sezessionistischen Zirkel um Geliert.10 Ausgehend vom System 9
10
So beschreibt Reichardt etwa die Tätigkeit des Komponisten: »Er nimmt den Vers, den er itzt componiren will, vor sich, und nachdem er die Situation in ihrer Verbindung mit dem Vorhergegangenen und Folgenden überdacht, denkt er an den Charakter der Person, die nun singen soll; und wenn er denn noch geschwind einen mitleidigen Blick auf unsre armen Theatersänger [ ] geworfen, so liest er den Vers so lange, bis ihm der Gesang dazu von Selbsten kömmt.« (Reichardt 1774, S. I2f.) Ganz im Gegensatz etwa zu den rationalistischen Bestimmungen über den Schaffensvorgang (vgl. o. III. i Anm. 75) deutet Reichardt diesen als intuitiven Prozeß, ausgerichtet am dramaturgischen Zusammenhang. Vgl. Hillers Autobiographie (1784, bes. S. 297).
638
Charles Batteux' versucht auch Hiller, die Nachahmung als Grundlage der Musik zu bestimmen, zeigt aber, daß jede künstlerische Nachahmung der realen Vorlage gegenüber immer »unnatürlich« sein müsse.11 Gottscheds Kritik der Unnatürlichkeit der Oper greift so für Hiller ins Leere; es sei das Hauptproblem der Opernkritiker, daß sie diese grundlegende Differenz nicht beachteten. Gegen die regelorientierte Betrachtung der »Kunstrichter« setzt Hiller die aus der Erfahrung gewonnene Psychologie des Publikums: Es sei belegt, daß die Zuschauer Vergnügen an der Oper hätten, obwohl ihnen die mangelnde Übereinstimmung mit der Realität bewußt sei. Dieses Faktum ist für ihn jedoch nicht erklärbar, da auch Hiller von der Naturnachahmung als höchstem Prinzip der Kunst durchdrungen ist: Ich weis nicht was uns so gutwillig machet, daß wir uns hintergehen lassen, ohne es gewahr zu werden; oder wenn wir es merken, daß wir uns nicht wegen des Betruges schadlos zu halten suchen? Ist vielleicht eine geheime Neigung zum Sonderbaren und Fremden Schuld daran? oder haben wir zu wenig Herz, uns der Gewalt der Töne zu widersetzen? Es ist dieses ein Räthsel, das die Vernunft nicht leicht lösen wird, weil es ihr gleichsam nur im Traume vorgeleget wird."
Die Unsicherheit Hillers kennzeichner einen Paradigmenwechsel. Neben die Beurteilung durch die Vernunft mittels tradierter Regeln und Normen tritt hier eine neue Instanz, auch wenn sie noch nicht benannt werden kann und rätselhaft erscheint. Vor allem die Multimedialität der Gattung verhindert laut Hiller die Beurteilung nach dem Text allein und den »kalten Regeln« der Regelpoetik; an ihre Stelle tritt sinnliche Rezeption: »Man muß hier einzig und allein das Herz urtheilen lassen. Die Musik wird Natur seyn, wenn dieses von ihr eingenommen wird.«' 3 »Natur« bestimmt Hiller hier nicht mehr als apriorische, rationale Ordnung, sondern als Wirkung auf die menschlichen Sinne. In der sinnlichen Rezeption aber sind alle Menschen potentiell gleich, so daß der Kunstrichter dadurch seine auf Regelkompetenz gestützte Vorrangstellung verliert. Die Kritiker der Oper erscheinen Hiller daher als »Zu fühllos, die süsse Gewalt der Töne zu empfinden, oder zu stolz es zu gestehen, daß man sie eben wie eine ungelehrte Seele empfinde [].«' 4 " Die künstlerische Nachahmung macht das Nachzuahmende vollkommener, »indem sie die in vielen Gegenständen zerstreuten Züge sammlet, und in ein schönes Ganze zusammen bringet« (Hiller 1754, S. 521), um »mit einem Worte, die Natur schöner und vollkommner zu machen, als sie in einzeln Theilen ist« (S. 527). Ähnliche Überlegungen bilden einen Grundpfeiler von Mendelssohns etwas späterer Kritik an Batteux, in der die »Schönheit« als Zweck der Künste angesehen und anstelle der »Nachahmung« zur Grundlage eines Systems der Künste gemacht wird; vgl. Mendelssohn 1757, S. 24of. 12 Hiller 1754, S. 534. 11
14
Ebd.
S. J22f.
Ebd. S. 529 mit direktem Bezug auf Gottsched. Die Argumentation geht auf DuBos zurück, der 1719 ein allen Menschen gleiches »sentiment« zur Instanz des ästhetischen Urteils erhoben hatte (vgl. z. B. Jean Baptiste DuBos: Reflexions critiques 639
Trotz der Beibehaltung der zentrierenden Doktrin der Mimesis läßt sich bei Hiller eine wesentliche Verschiebung erkennen, die auch in anderen Schriften um die Mitte der i75oer Jahre begegnet.'5 Bei der Musik falle »der Verstand« als Beurteilungsinstanz des Nachahmungsgrades aus, weil er mit logischen und rationalen Klassifikationen und Benennungen arbeite. lf> Dagegen sei es das »Herz«, mit dem Musik rezipiert werde: »Wir werden so unvermerkt, so sanft von ihr gerührt, daß wir nicht wissen, was wir empfinden; oder besser, daß wir unsrer Empfindung keinen Namen geben können. Dieses Gefühl der Töne ist uns unbekannt, aber es erwecket uns Vergnügen, und das ist uns genug.«1"7 Gegen die Dominanz der verstand-orientierten Rede steht jetzt (im Anschluß an Batteux) eine Erfahrung, die der rationalistischen Theorie widerstrebt: »Es giebt Empfindungen, die sich besser fühlen als ausdrücken lassen []. [] Die Bedürfnisse des Herzens sind unvermeidlicher und dringender, als die des Verstandes.«' 8 Entsprechend verschiebt sich der Sinn der Kunst von der »nützlichen« Nachahmung zur Wirkung auf die Sinne.' 9 Obwohl die Mimesis-Doktrin noch gültig gehalten wird, zeichnet sich intern bereits eine neue Leitdoktrin ab, die in der Folge zur entscheidenden neuen Norm wird: das Gefühl, das
15
16
17 18 19
sur la Poesie et sur la Peinture. Paris 1719 [Repr. Genf 1967], Teil 2, S. 340) und der selbst den modernen Typus des Nicht-Fachmanns verkörperte. Voltaire schrieb über ihn: »Alle Künstler lesen mit Gewinn seine Überlegungen über die Dichtung, die Malerei und die Musik. Dennoch konnte er keine Noten lesen, hat niemals Verse schreiben können und besaß nicht ein Gemälde.« (Zit. n. Dahlhaus/Zimmermann (Hg.) 1984, S. 14) Vgl. allg. Flaherty 1978, S. 180; Martino 1972, S. 45ff. Sehr ähnlich äußert sich etwa der Lübecker Kantor Caspar Ruetz: »Nicht allein die Gemüthsbewegungen und Leidenschaften, welche zugleich Vorwürfe der Poesie und Redekunst sind, sondern auch tausend andere Empfindungen, die eben deswegen nicht können genant und beschrieben werden, weil sie keine Vorwürfe der Beredtsamkeit sind, sind der Musik unterworfen. [ ] In diesen lezten ist die Musik keine Copie der Natur, sondern das Original Selbsten.« (In: Marpurg (Hg.) 1754/78, Bd. I, S. 273 — 311, hier S. 293). Noch deutlicher heißt es bei Hillers Leipziger Zeitgenossen Johann Wilhelm Hertel (1726-1789): Die Oper »wird auch nicht zum Lesen, sondern zum Singen gemacht; man kann daher nicht mit kaltem Blute von einer Oper urtheilen, sondern man muß die ganze Vorstellung derselben sehen, hören und fühlen.« (Sammlung Musikalischer Schriften, größtentheils aus den Werken der Italiäner und Franzosen übersetzt, und mit Anmerkungen versehen. 2 Teile, Leipzig 1757/58, S. 217). Hier ist die Multimedialität als Grundlage der Sinnlichkeit der Oper erfaßt. »Die Rede drücket die Leidenschaft nur dadurch aus, daß sie dieselbe nennet. Sie gelanget später zu dem Herzen, und nicht eher, als bis sie den Verstand vorher gewonnen hat.« (Hiller 1754, S. 52of.) Dies ist bei Batteux vorgeprägt; vgl. Batteux 1746, Tl. III, 3. Abschnitt, i. Kapitel. Hiller 1754, S. 523. Ebd. S. 5 23ff. Ebd. S. 525f.: In der Poesie werden wir »die verlangte Leidenschaft zwar erkennen, aber sie noch nicht empfinden, bis der Ton, gezeuget von der Leidenschaft selbst, über die Worte gehörig ausgebreitet wird [ ]«.
640
nun nicht mehr aus der Summe separierbarer Affekte besteht, sondern unbenannte »Empfindung« ist. Daneben zeigt H i Hers Aufsatz auch eine weitere Veränderung, die den Natur-Begriff betrifft. Neben der Nachahmung der Empfindungen sieht er eine der Hauptaufgaben der Musik in der Nachahmung empirischer, sinnlich wahrgenommener Natur, also derjenigen Dinge, die der Natur überhaupt zugehören, und sich dem Menschen nur vermittelst der äusserlichen Sinne mittheilen. [ ] Wie ein Maler alle Gegenstände, die ins Auge fallen, dem Auge wieder auf seinem Gemälde vorstellet; so trägt die Musik dem Ohre Dinge vor, die in der Natur selbst nur durch das Ohr können begriffen werden.20
Es geht bei der »Nachahmung der Natur« also nicht mehr (wie in der LeibnizTradition) darum, die apriorisch vorgegebene, vernünftige Ordnung der Welt dem Verstand zu vermitteln, sondern um die abbildende Nachahmung der sinnlich wahrgenommenen Natur. Das musikalische Mittel dazu ist grundsätzlich noch immer die Tonmalerei, bei der man jedoch große Vorsicht anwenden müsse, um nicht »abentheuerlich« oder »einfältig« zu werden (Hillers Vorbild ist in diesem Punkt J. A. Hasse).21 Das rationalistische Verständnis der Musik, das sich auf die alte Konzeption als »ars musica« aus dem Bereich der mathematischen artes liberales (Quadrivium) herleitete, wird abgelöst von einem neuen Verständnis einer sinnlichen, auf das Gehör wirkenden, daher »natürlichen« Kunst. 22
Ebd. S. 532. Betrachtet man eines der repräsentativsten und erfolgreichsten deutschsprachigen Werke dieser Zeit, die Passionskantate >Der Tod Jesu< (1754/55) von Carl Heinrich Graun auf Text von Ramler, so findet man diese Art der Tonmalerei und des abbildenden Zugriffs auf den Text: vgl. z. B. den Chor Nr. 2: »Sein Odem ist schwach: seine Tage sind abgekürzet. Seine Seele ist voll Jammer« (stockende Rhythmik, absinkende Melodik, Aposiopesen, Chromatik und Passus durusculi für »Jammer« etc.); Arie Nr. 3, Mittelteil »wenn ich den Richter kommen höre mit Waag" und Donner, und die Sphäre von seinem Fußtritt bebt« (Donner: Streichereinwürfe im fortissimo als Dreiklangsbrechung, »bebende Sphäre« durch Bogenvibrato etc.); Chor Nr. 14: »Christus hat uns ein Vorbild gelassen, auf daß wir sollen nachfolgen seinen Fußstapfen« (Fuge). Offensichtlich war es Ramlers Bestreben, den Text möglichst bildhaft und plastisch anzulegen, was Graun dann z.T. durch Rückgriffe auf die tradierten musikalischen Topoi dann umsetzte, wobei er allzu direkte und platte Assoziationen aber mied (etwa beim Annageln an das Kreuz, das z.B. Telemann wesentlich drastisch-realistischer abbildete). — Unter den veränderten Prämissen der Geniezeit kritisiert Herder dann explizit dieses Werk 1773: »Wer spricht? wer singt? erzählt sich Etwas in den Rezitativen - so kalt! so scholastisch! [] locus communis in der besten Gestalt!« (Briefwechsel über Ossian; H W 2, S. 498) Die quadriviale ars musica ist schon im 17. Jahrhundert praktisch aus allen Universitäts-Lehrplänen verschwunden - mit der Ausnahme von Leipzig, wo Lorenz Mizler sich bis 1743 mit den mathematisch-philosophischen Grundlagen der Musik beschäftigte; vgl. Reckow 1993, S. 211. Zur quadrivialen Konzeption vgl. Eva Hirtler: Die 641
Mit der grundsätzlichen Veränderung des Mimesis-Konzepts der Frühaufklärer reduziert Hiller auch die Bedeutung des Wahrscheinlichkeitsgebots: Die Musik als verschönernde Kunst »hat die Freyheit, sich über die Natur zu erheben so weit sie kann, wenn sie nur dieselbe nicht ganz aus dem Gesichte verlieret; und wenn wir nur die Natur nicht ganz in ihren Tönen vermissen, so ist es uns eben so viel, als ob wir sie ganz darinnen gefunden hätten.« 23 Innerhalb gewisser, bei Hiller nicht genau bestimmter Grenzen darf die Musik also vom Wahrscheinlichkeitsgebot und der direkten Natur-Kopie abweichen. Auch von daher erscheint Hiller Gottscheds Ansatz als unzureichend. Mit der verschönernden Aufgabe der Kunst gegenüber einer sinnlich wahrgenommenen, nicht immer vollkommenen Natur geht auch eine verschönernde Funktion gegenüber den menschlichen Empfindungen einher. Die Hauptaufgabe der Musik, Empfindungen darzustellen, bedeutet auch hier keine Kopie der wirklichen Empfindungen, sondern ihre Verschönerung und Standardisierung. Die Musik soll schwache Empfindungen verstärken, heftige dagegen mäßigen: So wird die Musik zwar die Wuth eines Rasenden nachahmen, aber nicht mit Unsinn: Sie wird ihn allemal vernünftig und ein wenig regelmäßig rasen lassen. Denn ohne diese Vorsichtigkeit würden wir es ihrer Nachahmung wenig Dank wissen, wenn sie mehr Entsetzen als Vergnügen bey uns erweckete.24
Hier knüpft Hiller an die rationalistischen Positionen an, die die barocke Balance von Regelbefolgung und Regeldurchbrechung zerstört hatten. Während im barocken Theatersystem die Darstellung auch heftigster und das Maß überschreitender Affekte legitim war (und ausdrücklich gelehrt wurde 25 ), wird nun jede Regeldurchbrechung, etwa durch negativ gewertete oder zu intensive Empfindungen, abgelehnt oder diese bestenfalls »vernünftig und ein wenig regelmäßig« umgeformt. Aus der barocken Anthropologie des »vir perculsus«, des von möglichst heftigen Affekten hin- und her-gerissenen Menschen,26 wird eine neue Sozial-Anthropologie des Maßes: »Unser Herz ist mehr für die ruhigen und sanften Empfindungen eingenommen; es wird durch die gewaltsamen zu stark angegriffen, es wird von ihrer Last unterdrücket.« 27 Diese EinschränMusik als scientia mathematica von der Spätantike bis zum Barock, Frankfurt a. M. u.a. 1995 (Europ. Hochschulschr. Reihe 36, Bd. 137). 2 ' Hiller 1754, S. 522. 24
Ebd. S. 522.
25
Vgl. etwa die Ausführungen bei Lang 1727 über die Darstellung von Wut (Lang 1727, S. 2Ooff.) und oben II.6. Vgl. Fischer-Lichte 1988, Bd. 2, S. 85; Dahinaus 1981. Hiller 1754, S. 542. Ähnlich stellt Reichardt in seinem Roman >Leben des berühmten Tonkünstlers H. W. Gulden nachher genannt Guglielmo Enrico Fiorino< (1779) höfische Oper und Singspiel einander entgegen: Die Opera seria zeigt für ihn nur künstliche Charaktere, die von extremen Affekten geschüttelt werden, leere Künstlichkeit ohne »fühlendes Herz«; die Opernsängerin prostituiert sich. Das Singspiel dagegen
26 27
642
kung der Emotionen auf ein »vernünftiges« Maß bleibt bis auf den Höhepunkt der Empfindsamkeit ein zentrales anthropologisches Dogma (s.o. II.2). Aus dieser Einschränkung ergibt sich auch ein charakteristisches Mißtrauen gegenüber der reinen Instrumentalmusik, deren Wirkungskraft nicht kontrollierbar erscheint: »Die Musik hat geheime Zugänge zu dem Herzen, die wir noch nicht entdecket haben, und die wir vor ihr zu beschützen nicht im Stande sind.« 28 Daher bevorzugt selbst der Musiker Hiller in durchaus rationalistischer Tradition die Vokalmusik, in der die Sprache die Deutlichkeit und Verständlichkeit sichert, gegenüber der Instrumentalmusik. 29 Anders als die Frühaufklärer zeigt Hiller jedoch Skepsis gegenüber den Wirkungsmöglichkeiten der Sprache: Die Sprache reicht »nicht bis auf die geheimen und feinen Empfindungen«; allerdings kann sie zur Unterscheidung und Definition der Empfindungen eingesetzt werden.30 Hiller postuliert im Gegensatz zu den Frühaufklärern eine Gleichwertigkeit von Musik und Sprache bei der Vokalmusik; er wertet so die Musik von der reinen Hilfskunst zum gleichwertigen Partner auf. Zugleich lehnt er Gottscheds Kritik der Gattungsunreinheit ab: Gerade die Vereinigung der Künste erzeuge Vollkommenheit. 3 ' Bei Hiller zeigen sich also trotz der grundsätzlichen Beibehaltung rationalistischer Positionen32 einige zentrale Veränderungen ihrer Inhalte, die für die
Jg 29 30
31
v
ist mit schlichtem Gemüt, Empfindsamkeit, »Herz« und einem Kind (statt der reifen Sängerin) verbunden. Hiller 1754, S. 523. Ebd. S. 52yf. Auch hier bestehen Parallelen zu Moses Mendelssohn. Ebd. S. 525. Mit der Idee der begrifflichen Auflösbarkeit der Empfindungen steht Hiller wiederum deutlich in rationalistischen Denktraditionen. Übernahme und Absetzen von der Tradition überlappen sich hier. Ebd. S. 524. — Diese Position hatte wenige Jahre zuvor bereits Georg Friedrich Meier vertreten (s.o.). Obwohl ich keine direkten Bezüge zwischen Hiller und der Baumgarten-Schule nachweisen kann, stehen Hillers Überlegungen generell der BaumgartenSchule sehr nahe, besonders in der Aufwertung der sinnlichen Erkenntnisvermögen, die erstmals prononciert von Baumgarten als Problem der rationalistischen Theorie erkannt worden waren. (Alexander Gottlieb Baumgarten: Aesthetica. Frankfurt a. d. Oder 1750. Repr. Hildesheim 1961, Prolegomena § i. Baumgarten selbst behandelt die Musik in seinem Fragment gebliebenen Entwurf kaum; ihr Platz wäre im nie begonnenen 2. Teil seines Entwurfs gewesen, und über Baumgartens musikalische Kompetenz kann allenfalls spekuliert werden. Zu Baumgarten vgl, Verweyen (Hg.) 1995, bes. die Beiträge von Werner Strube: A. G. Baumgartens Theorie des Gedichts, S. 1 — 2 5 , und von Theodor Verweyen/Gunther Witting: Zur Rezeption Baumgartens bei Uz, Gleim und Rudnick, S. 101-120.) Neben den bereits erwähnten Hauptaxiomen gilt dies etwa für die Einschränkung des Wunderbaren und die Betonung des »guten Geschmacks«: »Ueberhaupt ist die Neigung zum Wunderbaren beständig eine gefährliche Klippe für die Künste gewesen. Der gute Geschmack, durch den sie allein schön waren, scheiterte gar bald daran, und die Künste verlohren sich in eine Nacht von Schwulst und Barbarey. Lauter Blendwerk kam an die Stelle des Wahrhaften; und an statt des ächten Glanzes umgab nichts, als ein falscher Schimmer die Werke der Kunst.« (Hiller 1754, S. 538, bezogen 643
i75 oer Jahre und die folgende Zeit charakteristisch bleiben. Sie betreffen die Umformung des Natur-Begriffs von einer apriorischen, vom Verstand erkennbaren Ordnung in eine empirische, sinnlich wahrnehmbare Natur, die Abwertung der zentralen Vernunft-Hierarchie und die Aufwertung sinnlicher Erkenntnis, die Betonung der Wirkung von Kunst gegenüber einer überwiegenden Produktionspoetik, die Aufwertung der Musik und der vermischten Gattungen sowie Ansätze zur Psychologisierung des Publikums und zur Kritik des rationalistischen »Kunstrichters«. Ähnlich, aber wesentlicher heftiger wird diese Figur des Kunstrichters vom Schlage Gottscheds 1755 vom frühen Friedrich Nicolai attackiert, der Gottscheds Opernkritik als Musterbeispiel für dessen diktatorische Stupidität, künstlerische Gefühllosigkeit und Pedanterei hinstellt. Der zentrale Fehler Gottscheds liegt für Nicolai darin, daß er die Multimedialität des Genres nicht berücksichtigt habe und allein von den Texten her urteile; Gottsched verdamme etwas, das er gar nicht kenne. Ähnlich wie in der Fehde zwischen Rousseau und Rameau lehnt Nicolai Gottsched als »Pedanten« ab, »der bis auf die Kunstwörter der Kunst unwissend ist, über die er mit der größten Dreistigkeit urteilt [], der mit der diktatorischen Amtsmiene von Dingen, die er nicht versteht, spricht, als wenn er sie verstünde!« 33 Bei Nicolai findet sich nun auch der Versuch, die für Hiller rätselhafte Wirkung der Musik psychologisch zu fassen: Sie wirke direkt auf die »unteren Seelenkräfte« und könne dadurch (unabhängig von der Wahrnehmung des Verstandes) die gesamte Breite menschlicher Emotionalität beeinflussen. Nicolai zeigt sich dabei von den theoretischen Entwicklungen bei Baumgarten und seiner Schule beeinflußt. 34 We-
33
34
auf Instrumentalmusik, besonders das Virtuosenkonzert) Charakteristisch ist dabei wiederum, daß Hiller nur einen »mäßige[n] Gebrauch« des Wunderbaren zuläßt (S. 540): »Nur gewisse Ausfälle über die Gränzen des natürlichen, in das Gebiete des wunderbaren, wobey man aber einige baldige Rückkehr nicht vergessen muß, sind es, die die Bewunderung der Ohren und den Beyfall der Herzen zugleich haben werden.« (S. 542) Friedrich Nicolai: Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland [1755]. Hg. v. Georg Ellinger. Berlin 1894. Dritter Brief. S. 14 — 27, hier S. 14. (In diesen Briefen findet sich die erste Verwendung des Wortes »empfindsam« in Deutschland; vgl. Cowart 1984, S. 262.) Nicolai greift im dritten Brief direkt Gottscheds kommentierten Auszug aus Batteux an, ohne die Autorität Batteux' anzutasten. Besonders heftig reagiert Nicolai auf Bemerkungen Gottscheds, daß Musik ohne Text tot sei und Konzerte ohne Gesang keinen Beifall finden könnten; vgl. Gottsched 1754, bes. S. 183-218. - Nicolai beließ es nicht bei der Theorie; 1766 schrieb er ein Singspiel (>Der lustige Schulmeisters das schon vom Titel her auf den >Lustigen Schuster< verweist). Es wurde von dem Musikästhetiker C. G. Krause vertont und von der Schuchschen Gesellschaft aufgeführt. (Schmid IJJ^SL, S. 162, behauptet, das Werk sei sogar »vor der Königinn gespielt« worden, was wiederum Plümicke 1781, S. 256, als »grundfalsch« bezeichnet.) Vgl. Flaherty 1978, S. 1891!
644
gen der direkten Wirkung der Musik könnten auch an sich schlechte Libretti durch die Musik zu guten Opern werden; durch diese Argumentation wird es Nicolai möglich, die Oper grundsätzlich zu verteidigen und zugleich trotz aller Unterschiede zu Gottsched dessen abschätzige Beurteilung der Libretti von Postel zu teilen. Auch in seiner wenig späteren Abhandlung vom Trauerspiele^ lehnt Nicolai entschieden Gottscheds Forderung nach »Sittenlehre« auf dem Theater ab; an deren Stelle setzt er die moralisch zweckfreie »Erregung der Leidenschaften« und die »Rührung« als wichtigste Aufgaben des Theaters. Diesen Positionen bleibt Nicolai bis ins frühe 19. Jahrhundert treu. Diese Aufwertung der »unteren Seelenkräfte«, der sinnlichen, multimedialen Rezeption der Oper und der Wirkung (»Rührung«) als wichtigstem Prinzip des Theaters entzieht der rationalistischen Regelpoetik einen ihrer tragenden Pfeiler, obwohl Hiller wie Nicolai zunächst innerhalb der rationalistischen Axiome argumentieren (und sich zentral auf Batteux beziehen). Damit ist das frührationalistische Argumentationsgebäude intern ausgehöhlt und partiell funktionslos geworden; die Beibehaltung der Terminologie und der Argumentationsmethoden verschleiert dies nur. Beide Autoren kommen dabei von unterschiedlichen Ausgangspunkten her und werden hauptsächlich durch das gemeinsame Feindbild Gottsched zusammengehalten, wie sich zehn Jahre später bei der Beurteilung des neuen poetologischen Leitmodells, des »Genies«, erweist. Für Hiller bildet die Abwertung der gelehrten Regelpoetik einen Punkt, an dem später der Geniekult ansetzen kann, den er unterstützt. 36 Für Nicolai dagegen blieb das Muster der rationalistischen italienischen Seria-Oper dominant, das er gegen Gottsched ebenso verteidigte wie gegen die späteren deutschtümelnden Genie-Konzeptionen z. B. des KIopstock-Kreises. Schon Glucks sogenannte »Opernreform« ging für Nicolai in die Irre.37 Wenn sich, wie bei Hiller ansatzweise erkennbar, der Sinn der Kunst von der moralisch nützlichen Natur-Nachahmung auf das Vergnügen des »Herzens« verschiebt, eröffnen sich dem Musiktheater neue poetologische Legitimationsmöglichkeiten, die gegenüber den Sittlichkeitsdoktrinen das Recht des Publi35
Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Bd. i, i. Stück. Leipzig I 757> S. 17—68. Das Trauerspiel dürfe zwar »nicht wider die Sittlichkeit streiten«, sein Hauptzweck aber sei die »Rührung«, nicht die Tugend- oder Morallehre; vgl. a. Lessings briefliche Antwort auf Nicolai (G. E. Lessing: Werke, hg. v. H. G. Göpfert. Bd. 4, München 1973, S. 160-163). 36 Vgl. umgekehrt etwa Reichardts Einschätzung Hillers als »Genie«, der nicht durch Nachahmung gelernt habe (Reichardt 1774, S. ijf.)· 37 Dennoch bleiben Nicolai und Hiller biographisch einander durchaus gewogen, wie sich aus Nicolais Nachruf auf Hiller erkennen läßt (Über einige Nachrichten von J. A. Hiller. In: Neue Berlinische Monatsschrift, Januar 1805). Dies spricht für die aufklärerische Streitkultur, die sich bei allem Dissens doch grundsätzlicher Übereinstimmungen bewußt ist. 645
kums auf »Vergnügen« betonen. Gottsched hatte »Vergnügen« an der Kunst nur insoweit akzeptiert, als es zur Förderung der »Tugend« diente, und z.B. ironisch formuliert: »Wenn es bey theatralischen Vorstellungen bloß auf die Vergnügung ankäme: So würde ich am ersten bekennen, daß die Oper das Meisterstück der Schaubühne sey.«38 Dies wird in den iy6oer Jahren nun anscheinend ohne Probleme unterlaufen. Autoren wie Christian Felix Weiße lösen explizit das »Vergnügen« von seinen »tugendhaften« Einbindungen und schreiben ihm potentiellen Eigenwert zu. Weiße betont 1768 speziell für das neue Genre der »komischen Oper«: [ ] sie hat viel Unwahrscheinlichkeiten, sündiget oft wider die angenommenen Regeln der dramatischen Dichtkunst und die Moral — freylich muß diese oft dem Vergnügen weichen! Also machet sie aber doch Vergnügen? [ ] mithin ist ja ein großer Theil von der Absicht des Schauspiels erreichet? Denn man mag mit einer noch so feyerlichen Mine für die Sittlichkeit desselben streiten: wir wollen es seinen Gegnern gerne einräumen, daß wir unsere Erhohlung, unser Vergnügen dabey mit zum Hauptzwecke machen [ ].39
Das Vergnügen wird zu einem legitimen »Hauptzweck« des Theaters aufgewertet, der potentiell gleichwertig neben die Forderungen nach Belehrung, Moral oder Wahrscheinlichkeit tritt. 40 Die zunehmende Trennung von Arbeit und Freizeit erzeugt und legitimiert für Weiße das Bedürfnis nach »Erhohlung« in der Freizeit und macht dieses als einen »Nutzen« der Kunst faßbar, der nicht mehr primär inhaltlich über Moral und Mimesis abgesichert werden muß (Weiße spricht sogar von der »Pflicht [ ], sich zu vergnügen«). 4 ' Der Zuschauer weiß, daß Musiktheater nutzlos, ja möglicherweise absurd gegenüber seiner Alltagsrealität erscheint — aber das hindert ihn nicht am i!i
39
40
41
Gottsched: Beyträge Zur Critischen Historic Der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. 5. Stück, Leipzig 1733, S. 651. Als dann der Erfolgszeitraum der Operetten beginnt, kann Gottsched nicht mehr ironisch reagieren. Vorrede (unpaginiert) zu: Christian Felix Weisse: Komische Opern. Erster Band. Leipzig 1768. Auch bei Schusky (Hg.) 1980, S. I3f. Ähnliche Argumente finden sich bei Johann Elias Schlegel (Abhandlung von der Nachahmung. 1742 — 1745), bei Christian Gottfried Krause (1752, S. 372f., 380) und 1755 bei dem Hamburger Wilhelm Adolph Paulli: »Allein, da der Endzweck der Oper einzig und allein die Belustigung der Sinnen ist, so kömmt es hauptsächlich darauf an, ob dasjenige, was unsere Sinnen vergnügen soll, nothwendig natürlich seyn müsse? Ich glaube nicht, daß dieses nothwendig erfordert werde, und bin vielmehr der Meynung, daß es genug sey, wenn solche Vorstellungen nur nicht wiedersprechend sind.« (Poesie und Prosa zum Nutzen und Vergnügen. Teil I. Hamburg 1755, Nr. 47 (22.11.1755), S. 372; vgl. Flaherty 1978, S. I70ff.) Mit ähnlichen Gedanken rechtfertigt bereits die spätbarocke »Ceremonialwissenschaft« (etwa Julius Bernhard von Rohr) die Opern, allerdings absolutistisch bezogen auf den Fürsten: Wenn der Fürst sich in der Oper erholen und ablenken könne, könne er sich hinterher umso intensiver wieder seinen Arbeiten widmen. Bei Weiße wird dieses barocke Schema jetzt aus seinen absolutistischen Implikationen gelöst.
646
Vergnügen daran. Das poetologische Interesse richtet sich jetzt eher auf Fragen, wie dieses Vergnügen zustandekommt, als auf Probleme der Mimesis. Während Hiller die Mimesis als Zentraldoktrin noch aufrechterhält, hat sie bei Weiße ihre zentrale Kraft eingebüßt. (Wie lange diese Diskussionen dennoch weiterlaufen, zeigt sich z.B. in Goethes >Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke< (1798), wo der »Zuschauer« im Streitgespräch betont: »Ich erinnre mich zwar noch wohl, wie man sonst die Oper, eben wegen ihrer groben Unwahrscheinlichkeit, lächerlich machen wollte, und wie ich von jeher demungeachtet das größte Vergnügen dabei empfand und immer mehr empfinde, je reicher und vollkommner sie geworden ist.« 42 ) Hinzukommt, daß Weiße zunehmend dazu tendiert, »Nachahmung« als Kopie der Realität zu aufzufassen. Damit aber legitimiert Weiße dann den Einbezug der zuvor als niedrig ausgegrenzten Lebenswelten: »Muß man sich die niedrigen Sitten im menschlichen Leben gefallen lassen, warum sollte man ein Gemälde davon, wenn man nicht die Gränzen der Bescheidenheit übertritt, ganz auf dem Theater verdammen?« 43 Kunst erscheint hier als Kopie (»Gemälde«) der Realität, allenfalls noch durch die »Gränzen der Bescheidenheit« eingegrenzt. Mit der Legitimierung des Vergnügens geht nun die Einsicht einher, ein Libretto dürfe gerade nicht wie bei Gottsched nach den Regeln des literarischen Theaters beurteilt werden. In einem Rückblick auf den »Komischen Krieg« in Leipzig, der durch Gottscheds Kritik an dem Singspiel >Der Teufel ist los< ausgelöst wurde, schreibt Weiße: »Der Fehler war, daß man diese kleine Schäkerey mit ganz fremden Augen ansah und nach den strengen Regeln der Komödie beurtheilen wollte. Der Streit ist vorüber: das Stück ist auf dem Theater geblieben []«. 44 Weiße pointiert hier den blinden Fleck von Gottscheds System: die fehlende Berücksichtigung der eigenen Bedingtheiten eines Librettos. Für den Theaterpraktiker Weiße steht die Multimedialität des Musiktheaters im Mittelpunkt. Zugleich zeigt die Bemerkung, das Stück habe sich trotz der Verdikte auf dem Theater gehalten, wie die rationalistische Kritik hier selbst ihre Autorität beschädigt hat. Durch die Zulassung eines legitimen Vergnügens als Hauptzweck des Theaters entsteht jedoch ein neues Abgrenzungsproblem, da das »Vergnügen« in der rationalistischen Poetik (ebenso wie z.B. in der in Leipzig nach wie vor starken theologischen Kritik) durchgängig mit dem Odium des »Unmoralischen« behaftet ist. Dieses Problem wird in Weißes späterem Vorbericht zur Ausgabe seiner >Komischen Opern< (Karlsruhe 1778) deutlich. Dieser Vorbericht enthält Weißes Reaktion auf scharfe Verrisse, die seine letzten Libretti in spätrationalistischen Zeitschriften gerade wegen ihrer Anlage auf den Publi42
MA 4.2, S. 91. Vorrede 1768 (wie Anm. 39). «* Ebd. 43
647
kumsgeschmack hin als »Verbrechen gegen den guten Geschmack« erfahren hatten. 45 Hier nimmt er nun, auf den faktischen Erfolg seiner Singspiele verweisend, selbstbewußt eine neue, spezifisch moralische Funktion für seine Libretti in Anspruch, die im Zusammenhang mit der Entwicklung einer neuen Geselligkeits-Kultur (s. o.) steht: Doch der besondere Zweck, den ich mir dabey vorsetzte, war, das kleine gesellschaftliche Lied unter uns einzuführen. [ ] Alle Gesänge, die bey der Vorstellung gefielen, waren bald in aller Munde, machten einen Theil des gesellschaftlichen Vergnügens aus, und giengen so gar zu dem gemeinen Volke über. Man hörte sie auf den Gassen, in den Wirthshäusern und auf den Hauptwachen, in der Stadt und auf dem Lande, von Bürger- und Bauernvolk singen. Statt daß ich mich dessen schämen sollte, mache ich es mir vielmehr zum Verdienste, weil ich dadurch so glücklich gewesen, manches ungezogene, schmutzige Lied zu verdrängen, und das allgemeine Vergnügen bis auf den gemeinen Mann zu befördern.40
Das Vergnügen wird nun von seinem »unmoralischen« Beigeschmack gelöst und erhält eine spezifische, mittelständische Moralität zugesprochen, die auf der Verdrängung einer »schmutzigen« Volkskultur beruht - eine Strategie, die in der Tat im 18. Jahrhundert sehr erfolgreich von städtischen Aufklärern betrieben wurde und die die faktische Zerstörung der älteren Volkskultur (wie auch der ländlichen Kulturformen) bewirkte.47 Nach den erhaltenen Rezeptionszeugnissen scheinen einzelne Stücke aus Weißes/Hillers Werken eine ganz neue Art von Breitenerfolg erreicht zu haben48 — auf wessen Kosten diese
45
46
47
48
Vgl. die Rezensionen von Weißes >Komische[n] Opern< in der ADB (19/2, S. 429438; s.u.) sowie in der >Deutsche[n] Bibliothek der schönen Wissenschaften< von C. A. Klotz (Bd. 6, 23. Stück, S. 443ff); vgl. dazu auch Weiße 1806. Noch der positivistisch orientierte Forscher Jakob Minor kann sich 1880 nicht von dieser Sichtweise lösen: »Besonders die letzten Stücke, in denen er selbsterfundene Stoffe behandelte, trugen dem Geschmacke des Publikums auf nicht zu billigende Weise Rechnung.« (Minor 1880, S. 181) Vorbericht zu: Christian Felix Weisse: Komische Opern. Erster Band. Karlsruhe 1778 (Zit. n. Schusky (Hg.) 1980, S. 5of). Ein Echo findet diese Strategie Weißes 1781 u.a. bei dem bayerischen Benediktiner Joachim Schuhbauer (vgl. Schuhbauer 1781, S. 231). Wenn Weiße hier betont, die im niederen Volk kursierenden Lieder durch gereinigte Schlager ersetzt zu haben, so kann dies als Parallele zu der etwa gleichzeitigen Ausmerzung der ländlichen Kultur durch städtische Intellektuelle gesehen werden: Aufklärerische »Volkserziehung« bedeutet in der Praxis die Vernichtung des Laienspiels, des Kalenderwesens, des Passionsspiels in Bayern etc. Vgl. Meyer 1982, bes. S. iSoff; weiteres Material zu diesem Problemkreis bei Schleuning 1984. Agricola betont in seiner ADB-Rezension der >Jagd< (ADB 17/2, S. 566), Hannchens Lied von der Bleiche »weis, in Berlin wenigstens, die Hälfte der Einwohner auswendig, sie wird in allen Straßen, auf allen Spatziergängen, auf allen Wasserfahrten, auf allen Paraden gesungen und gespielt.« Ähnliches berichten Reichardt (1774) und Schubart (1784, S. 106); vgl. o. II.i.
648
Wirkung möglicherweise ging, läßt sich bezeichnenderweise nicht einmal mehr ahnen.49 Während bei Gottsched Naturnachahmung und sittlicher Anspruch konstitutiv miteinander verflochten sind (das Theater wirkt sittlich, weil es Mimesis betreibt und uns so vorbildhaftes, konkret anwendbares Verhalten vorführt oder uns vor realen Fehlern schützt), durchtrennt Weiße diese Verbindung. Er widerlegt den Vorwurf der fehlenden Naturnachahmung seiner Libretti nicht, verweist aber auf den dennoch erreichten sittlichen Nutzen: »manches ungezogene, schmutzige Lied zu verdrängen«. Das neue deutsche Musiktheater erscheint so (auf Kosten der eigentlichen, als solche nicht begriffenen VolksKultur) als aufklärerisch und sittlich — nicht trotz, sondern gerade wegen des Vergnügens, das es seinem Publikum bereitet. Mimesis-Konzepte und Tugend-/Laster-Dramaturgie spielen dafür keine Rolle mehr, um so mehr die Stiftung einer neuen Gemeinschaft über das gemeinsame, schlagerartige Lied (s.o. II.i). 5 ° Der Begriff von »Moralität« ändert sich, und nicht zufällig beschleunigt gerade das geschmähte Musiktheater die Ablösung der rigiden rationalistischen Moral-Theorie. Zugleich stellen Weißes Ausführungen einen Reflex neuer Publikumsschichten dar, für die »Vergnügen« im Rahmen der neuen empfindsamen Gemeinschaft tendenziell zum Wert an sich wird. Allerdings beruht das gereinigte Vergnügen, das Weißes Libretti bieten, in hohem Maß auf innerer Anpassung an die Normen der rationalistischen Regelpoetik; seine Stücke, die vom Vorbild der französischen Opera-comique geprägt sind, sind absolut regelmäßig angelegt, beachten die Einheiten weitgehend, eliminieren die komischen Figuren, tilgen Grobianismen und stehen in ihrer Regelhaftigkeit, in ihren alltagsnahen Sujets und ihrer Moralität den grundlegenden Forderungen Gottscheds durchaus nahe. 5 ' Weißes Singspiel erweist sich so einerseits 49
50
51
Dabei zeigt sich Weißes Sensibilität daran, daß er den elitär begrenzten Charakter des aufklärerischen Kulturbegriffs durchaus verspürt und die soziale und historische Relativität dieser poetologischen Doktrinen benennt: »Vielleicht, dachte ich dabey, sind wir zu iiberekel, daß wir alle Scenen aus dem niedrigen gemeinen Leben vom Theater verbannen wollen, da wir doch aus unsern Gemäldekabinetten die Flamänder deswegen nicht verbannen, weil sie uns Bauerngelage vorstellen, und auch andere gesittete Nationen, nämlich Engländer, Franzosen und Italiäner, den Dichtern, die sie damit belustiget, keine Vorwürfe deswegen gemacht haben.« (Vorrede 1778, wie Anm. 46, S. 52) 1812 ironisiert E. Th. A. Hoffmann diese Argumentation in seinen >Gedanken über den hohen Wert der Musik« (AmZ, 29.7.1812; Buchausgabe 1814 in Bd. i der >PhantasiestückeHarlekin, oder Vertheidigung des Groteske= Komischem (1761), es sei der »größte Lobspruch, den man einer Oper oder einem Heldengedicht, welches seine eigne Welt hat, geben kann, [ ] daß beide in Vergleichung unsrer Welt völlig unnatürlich sind«. 54 Auf dem Titelblatt
52 53
54
mit der dramatischen Situation zu verbinden, den Übergang vom Dialog zum Singen wahrscheinlicher zu motivieren. Dies bleibt charakteristisch für die mittel- und norddeutschen Singspiel bis hin zu Friedrich Kinds >Freyschützhohen< Formen zu; für ihn liegt die entscheidende Funktion der Operette (wie des Stegreifspiels) darin, das Publikum aus seinem Alltagstrott zu befreien, durch Vergnügen zur Imagination anzuregen und in einem kleinen Ausschnitt schöpferische Phantasie freizusetzen. Dahinter steht eine Anthropologie, die zentrale rationalistische Axiome neu faßt: Möser geht — im Anschluß an Breitinger62 - von einem dynamischen Naturbegriff aus, der als sich stets entwickelnder Organismus unbegrenzter Möglichkeiten nicht durch den Verstand und dessen Operationen reglementiert oder vorhergesagt werden könne. Hatte die (Früh-)Aufklärung die Welt von einer apriori gegebenen Natur und von unveränderlichen, universalen und überzeitlich stabilen Regeln bestimmt gesehen, die vom Verstand erkannt werden können, so wird diese stabile Ordnung nun abgelöst von der Idee einer sich stets verändernden, unendlichen Natur. Der Verstand erscheint nun als zu begrenzt, um diese dynamische Natur zu erfassen; ihm gegenüber wertet Möser die Phantasie als diejenige charakteristische menschliche Fähigkeit auf, die ein direktes, intuitives Er58 59
60 nl
62
Möser 1982, S. 33of. Ebd. S. 307. Zur Ablehnung der Franzosen vgl. a. Mösers anonym publizierte Schrift: Ueber die deutsche Sprache und Litteratur. Osnabrück: Schmidt 1781, eine Streitschrift gegen Friedrich II. De la Litterature Allemande (Berlin 1780). Möser 1982, S. 306. Flaherty 1978, S. 240. Gays Werk wird in der 2. Auflage des >Harlekin< ebenfalls am Rande vor Kritik in Schutz genommen (Möser 1982, S. 337). Vgl. J.J. Breitinger: Critische Dichtkunst []. Zürich 1740, S. i^6(.: »Da nun die Poesie eine Nachahmung der Schöpfung und der Natur nicht nur in dem Würcklichen, sondern auch in dem Möglichen ist, so muß ihre Dichtung, die eine Art Schöpfung ist, ihre Wahrscheinlichkeit entweder in der Übereinstimmung mit den gegenwärtiger Zeit eingeführten Gesetzen und dem Laufe der Natur gründen, oder in den Kräften der Natur, welche sie bey ändern Absichten nach unsern Begriffen hätte ausüben können.«
652
fassen der universalen Wahrheiten ermögliche, gerade weil sie von den logischen Beschränkungen der Verstandesoperationen frei sei. Deshalb hätten Bilder, Symbole, Allegorien und eben auch die Musik stets stärkere Wirkung als rein rationale Argumente/'3 (Daher verteidigt Mösers Harlekin die Oper mit ihrer Vielfalt und Wirkungskraft, während er zugleich das klassizistische französische Trauerspiel verspottet als »das lange Gerippe des Trauerspiels«, das beim Zuschauer keine Wirkung, sondern nur »schläfrigen Ekel« auslöse.64) Mösers Natur-Begriff ist nur einer der verschiedenen Transformationen, die der frühaufklärerische »Natur«-Begriff um die Jahrhundertmitte erfährt. Die entscheidende Transformation, die sich langfristig durchsetzt, überführt den apriorischen Naturbegriff in einen empirischen, der die Natur als das sinnlich Wahrnehmbare bestimmt; Natur-Erkenntnis vollzieht sich nicht (wie noch bei Wolff) ausschließlich im Bereich logischer Operationen, sondern ist ohne sinnliche Wahrnehmung gar nicht möglich.05 Die Vernunft verliert, wie schon bei Hiller erkennbar, ihren zentralen Status, die sinnliche Wahrnehmung tritt gleichberechtigt an ihre Seite. Damit wandelt sich die »Natur« von der naturgesetzlichen, unbelebten Ordnung der Materie zur lebendigen Natur des fühlenden Menschen, die sich spontan und individuell zu äußern vermag. Damit verändert sich zugleich die Vorstellung von der menschlichen Emotionalität. Die Vorstellung von klar abgrenzbaren Affekten weicht einer Mannigfaltigkeit, ja potentiellen Grenzenlosigkeit der menschlichen Leidenschaften: »Die Natur ist unerschöpflich an Gestalten, worin sie ihre Reizungen den begierigen Augen verschwendet, und Sitten und Leidenschaften sind ebenso mannigfaltig als die unterschiednen Menschengesichter.« (Diese Vorstellungen prägen später auch die Ansätze der Geniebewegung, etwa in der zentralen Bedeutung der »Mannigfaltigkeit der Charaktere« bei Lenz, s.u.) Mösers Harlekin sieht die Wahrheit seiner Anthropologie »in der Physik und Metaphysik des menschlichen Herzens augenscheinlich gegründet«, 67 nicht in der abstrak6}
64
65
66 67
Schreiben an den Herrn Vicar in Savoyen abzugeben bey dem Herrn Johann Jacob Rousseau. Neue Auflage. Bremen: J. H. Cramer 1777 (der Erstdruck Hamburg 1763 gilt als verschollen); vgl. Flaherty 1978, S. 239; Bück (Hg.) 1994, S. 40. (Ähnlich argumentiert Eschenburg 1783, S. 24 und S. 66f., den die Forderung nach möglichst großer Wirkung zur Hochwertung der Allegorie führt.) Möser 1982, S. 317. Dennoch verurteilt Möser das Trauerspiel keineswegs grundsätzlich (vgl. ebd. S. 325); seine Theatertheorie lebt gerade von der Vielfalt der theatralischen Formen. Diese Positionen sind bereits im späten 17. Jahrhundert im englischen Empirismus ausgeprägt (z. B. bei John Locke) und prägen dann auch die Ansätze von David Hume. Zu einer zentralen Vorbildfigur wird in Deutschland der schwedische Naturforscher Carl von Linne mit seinem auf empirischer Beobachtung beruhenden System der Pflanzen und Tiere. Möser 1982, S. 310. Ebd. S. 320. 6 53
ten, universalen Rationalität der Wölfischen Vernunft. 68 Es gibt für Möser daher auch nicht mehr den einen, allgemeingültigen »guten Geschmack« als zentrale ästhetische Kategorie der Frühaufklärung, sondern den subjektiven, »unterschiedenen Geschmack der Menschen«, nach dem »mancher über dasjenige weint, worüber der andre aus vollem Halse lacht.«69 Die Veränderungen im Natur-Begriff ziehen Veränderungen in der poetologischen Diskussion nach sich.70 Die Mannigfaltigkeit der (menschlichen wie außermenschlichen) Natur können gerade diejenigen Formen einfangen, die sich der Einförmigkeit des rationalistischen Gattungssystems nicht fügen. Dies leisten z.B. die Opern gerade in der Vielfalt und Uneinheitlichkeit ihrer Stoffe, die in vertikalem Schnitt die gesamte Natur von den Geisterwelten bis hinunter zu den unterirdischen Wesen umfassen können, statt sich mit den Beschränkungen einer Gattungstheorie zufrieden zu geben: Wie mannigfaltig ist nicht das Heldengedichte und die Oper in ihrem Geschlecht! Die Verfasser von beiden haben bald aus der höhern Geiscerwelt, bald aus der Helden = und Rittergeschichte, bald unter den Menschenkindern, bald unter den Tieren, bald aus den unterirdischen Klüften der Gnomen ihre Personen und Schilderungen gewählt [ ] und überhaupt alle in der Nachahmung ergötzenden Gegenstände in eben so unterschiedenen Arten geschildert, als die Natur in ihren Werken beobachtet, wo unzählige Stücke zu einer Art und unzählige Arten zu einem Geschlecht gehören.71
Wenn die Kunst primär die phantastische Vielfalt der Natur widerspiegeln soll, dann verfallen auch die aufklärerischen Festlegungen auf eine bessernde, moralisierende Funktion der Kunst (samt ihrem poetologischen Regelgerüst) dem Verdikt. Möser fragt seine Leser direkt, ob es denn wirklich »eine Neigung zur Besserung sei, welche sie der Schaubühne zuführt.« 72 Er legitimiert gegenüber der moralisierenden Funktionszuweisung das Recht, »sich aufzumuntern und zu ergötzen«, wobei er erneut die zentralen Beispiele aus dem Bereich der Musik holt: »Wir lieben den Tanz nicht, um unsre Sitten zu bessern [ ]. Wir hören eine lustige Musik nicht, weil Graun und Pergolesi unsre Herzen bekehren. Nein, wir suchen bloß uns zu besänftigen, zu beruhigen, zu erheitern und den ermüdeten Geist zu ernsthaftem Pflichten zu bereiten.« 73 Damit kann 68
69 70 71 12
73
»Allein meine gelehrten Feinde [ ] denken nicht, daß mancher einen Geruch kaum empfinde, welcher dem ändern schon die schwersten Kopfschmerzen verursacht.« (Möser 1982, S. 322) Möser 1982, S. 326. Vgl. Fischer-Lichte 1988, Bd. 2, S. 98ff. (unter Bezug auf Foucault). Möser 1982, S. 31 if. (Auffällig ist die vertikale Reihung der Stoffbereiche). Ebd. S. 315. Ebd. S. 315. Die Argumentation Möser läuft allerdings letztlich wieder auf eine neue Sittlichkeitsfunktion der Bühne hinaus; das komische Theater erreicht »wohltätiges Lachen« und »gemeinnützige Bewegung«, es stabilisiert die Arbeitskraft, wirkt schädlicher »Schwermut« entgegen und hat so eine gesellschaftlich stabilisierende Funktion (vgl. ebd. S. 3i6ff.).
654
Harlekin nun auch die komischen Theater-Formen aufwerten und gleichberechtigt neben die tragischen Gattungen stellen; die ältere, letztlich ständisch begründete Hierarchie der Gattungstheorie weicht einer allgemeinen Gleichwertigkeit der Formen, die von ihrer ständeübergreifenden Publikumsresonanz bestätigt wird. Mösers Parteinahme auch für die populären Formen der >niederen< Kunst zeigt so letztlich auch eine synthetisierende Gesellschaftstheorie: Das Vergnügen muß zugelassen werden, um eine sinnvolle Ordnung der Verhältnisse zu stabilisieren, weil die Ausgewogenheit von Arbeit (als der zentralen Größe) und Vergnügen der menschlichen Natur inhärent sei.74 Mösers Schrift mit ihrer Betonung der subjektiven, kreativen Phantasie findet in Deutschland ein starkes Echo, sowohl bei Gleichaltrigen wie Gerstenberg, Lessing oder Nicolai als auch bei der jüngeren Generation (Herder, Goethe, Reichardt, Knigge); in einer revidierten Fassung erscheint sie erneut 1777, auf dem Höhepunkt der Geniebewegung.75 (Noch 1794 zitiert sie J. F. Schütze in einer Besprechung der >ZauberflöteZauberflöte< als höchste Qualität zu loben.76) Mösers Schrift aus dem Jahr 74
75
76
»Wenn ich Policeycommisarius wäre, es sollte mir anders gehen, die Leute sollten mir wenigstens ein- oder zweymal im Jahr auf der Kirms oder Faßnacht, völlige Freyheit haben einige Bände springen zu lassen.« (J. Möser: Etwas zur Policey der Freuden für die Landleute. In: Wöchentliche Osnabrückischen Anzeigen, 28. 10. 1781; zit. n. Bück (Hg.) 1994, S. I5of.) Wo jedoch die anthropologische Festlegung des Menschen auf Arbeit und Vergnügen nicht erfüllt wird, zeigt sich bei Möser die typische Dialektik der Aufklärung. Wenn die Vernunft der Einzelnen nicht zureicht, um z. B. den bürgerlichen Arbeitsbegriff als Grundlage allgemeiner Wohlfahrt einzusehen, muß dieser durch staatliche Maßnahmen (»Policey«) durchgesetzt werden: Möser will z.B. die Armut im Hochstift Osnabrück durch die Einrichtung eines »Zuchtund Arbeitshauses« aus der Welt schaffen. Arme, Bettler, selbst ledige Frauen usw. werden nun zu unehrenhaften Personen erklärt: »Armut muß verächtlich bleiben«; ein gesunder Mensch sei nie arm, denn der »Reichtum bestehet nicht in Gelde, sondern in Stärke, Geschicklichkeit und Fleisse.« Wenn die Vernunft der sozialen Außenseiter offenbar nicht ausreicht, um diese Maximen zu beherzigen, dürfen sie legitimerweise vom Staat dazu gezwungen oder aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Vgl. Mösers Beiträge in den von ihm herausgegebenen »Wöchentlichen Osnabrückischen Anzeigen« (bes. Jg. VI, 1767); dazu Bück (Hg.) 1994, S. 120 und S. I40ff; vgl. allg. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 4 i98i); kritisch auch Münz 1984, S. 189-197. Im Jahr 1797 nimmt Friedrich Nicolai sie in seine Ausgabe der >Vermischten Schriften< Mösers auf. Das Werk erschien zudem 1766 in London in englischer Übersetzung, daneben sind französische und dänische Übersetzungen bekannt. Schmid (17753, S. 137) erwähnt eine Übersetzung ins Englische von 1761, die sich nicht verifizieren läßt. (Angesichts der relativen Unzuverlässigkeit der Angaben bei Schmid generell handelt es sich wohl um die Ausgabe von 1766.) Schütze 1794, S. 689; vgL. Schusky (Hg.) 1980, S. 100. Chr. H. Schmid charakterisiert 1775 die Schrift Mösers: »Harlekin würde damit vor jedem Parlamente seine Sache gewonnen haben, aber in Deutschland hat er demunerachtet bis jetzo die Restitution noch nicht erlangen können.« (Schmid 17753, S. 137) 655
iy6i ist in ihrem Umfeld die radikalste Stellungnahme zur Oper (ihre Modernität zeigt schon ein Vergleich etwa mit Eschenburgs späterer, wesentlich zahmerer Schrift, s. u.). Sie zeugt ebenso wie die anderen beschriebenen Lösungsversuche davon, daß die rationalistischen Doktrinen vom Schlage Gottscheds zunehmend als Probleme erkannt werden und ihre Gültigkeit verlieren. Gerade an der Behandlung des Musiktheaters werden diese schneller deutlich als in anderen Bereichen (z.B. in der Theorie der Trauerspiels). Keiner der jüngeren Autoren kommt daran vorbei, daß die neuen Musiktheaterformen die rationalistischen Maßstäbe bezüglich Nachahmung, Moral oder Regelmäßigkeit verletzen. Dies wird aber nun im Gegenteil zunehmend zu einer Art positivem Gattungsmerkmal. Die fehlende Mimesis und die angeblichen Regellosigkeiten der Musiktheaterformen (bei gleichzeitigem Erfolg) bilden somit Problemfelder, an denen die Begrenztheiten der rationalistischen Mimesis-Theorien auch schon den Zeitgenossen deutlich werden. Das Musiktheater wird damit zu einer Herausforderung der rationalistischen Kunsttheorien überhaupt, zu einem Element ihrer Transformation. In letzter Konsequenz werden dabei Wert und Anwendbarkeit der klassizistischen Dramentheorien auf das Musiktheater generell bestritten - und damit ihre postulierte Gültigkeit für alle Bereiche des Theaters: Die komische Oper hat Fehler, das ist unwidersprechlich; allein sie hat auch Schönheiten die uns vollkommen schadlos halten, die uns so einnehmen, daß wir die Fehler bey der Vorstellung selbst nicht, nur alsdenn bemerken, wenn wir zu Hause das Ganze mit kaltem Blute untersuchen. Für dieses letztere aber, ist die comische Oper nicht gemacht. Sie soll uns auf eine Stunde in einen angenehmen Traum wiegen []. Dieses ist, dünkt mich, der Gesichtspunkt, aus dem wir diese Dichtungsart betrachten müssen, wenn wir richtig davon urtheilen wollen.77
2. Reform durch »Reinigung« des Musiktheaters Eine ganz andere Ausrichtungen zeigt eine Gruppe norddeutscher Theoretiker, die durch Reformen von System und Gattung versuchen, das Musiktheater in das poetologische System zu integrieren, ohne die rationalistischen Hauptdoktrinen explizit zu problematisieren. Der junge J. F. Reichardt, der in den frühen ryyoer Jahren engen Umgang mit Hiller, aber auch mit Nicolai und Ramler pflegt, schöpft bereits aus der Erfahrung, daß sich der Singspieltyp Hillers
77
Anonymus (L. M. N.): Schreiben über die komische Oper, aus dem Hannoverischen Magazin 50tes Stück. 1769. In: J. A. Hiller (Hg.): Anhang zu den wöchentlichen Nachrichten und Anmerkungen die Musik betreffend. 12. Stück. Leipzig 1769, S. 9of. (auch bei Schusky (Hg.) 1980, S. 15).
656
und Weißes in der Theaterpraxis auf breiter Ebene durchgesetzt hat. 70 Seine Ausführungen (1774) stellen nun konkret das komische Musiktheater, das Singspiel, ins Zentrum. Reichardts Denken geht dabei grundsätzlich von den rationalistischen Hauptdoktrinen aus: Nachahmung der »Natur«, Nützlichkeit und Wahrscheinlichkeit bilden für ihn nach wie vor die Pfeiler jeder Kunst und Kunsttheorie. Sollen diese rationalistischen Konzeptionen für die neue Praxis jedoch überhaupt noch Wirkung entfalten, dann muß Gottscheds Aburteilung des Musiktheaters ersetzt werden durch die Idee einer »reinigenden« Reform der real existierenden Praxis. Reichardt führt zunächst die bekannten Einwände der rationalistischen Theorie auf: »Von der moralischen Seite und von Seiten des Geschmacks überhaupt, scheint also alles wider die Operetten zu schreyn«. 79 Allerdings erreichen diese Einwände die Gattungspraxis offenbar nicht: Die komischen Opern »sind nun einmal da und haben eine solche Menge eifriger Anhänger, daß alles Predigen darwider gewiß fruchtlos seyn würde. Man suche sie also lieber zu verbessern, um ihr dadurch die Nutzbarkeit zu geben, die ihr möglich ist.«80 Reichardt zielt darauf ab, das Musiktheater durch Reformen mit den rationalistischen Grundaxiomen in Einklang zu bringen.8' So stellt er Gottscheds Kritik an der Unnatürlichkeit des Singens entgegen, es sei durchaus »vernünftig« und »in unsrer eigenen Empfindung gegründet«, im Zustand hoher affektiver Erregung zu singen.82 Daher sollte das Singen 78
79 80 81
82
Reichardt lehnt die Argumentation Weißes explizit ab: »Aber das Vergnügen der Zuschauer und Zuhörer? — O mein Herr, hätten Sie, für ihre comische Oper, sich lieber bemühe, ein schönes Lustspiel, eine Minna, eine Amalia zu schreiben: so würden Sie das Publicum mehr und auf eine beßre Art vergnügt haben [ ]« (Reichardt 1774, S. 6). In der Priorität des Sprechtheaters zeigt sich sein grundsätzlich rationalistischer, gottschedkonformer Zugang. Einen (methodisch allerdings vollkommen unzulänglichen) Überblick über Reichardts Musikästhetik bietet Paul Sieber: J. Fr. Reichardt als Musikästhetiker. Seine Anschauungen über Wesen und Wirkung der Musik. Baden-Baden 1971 [Diss. Basel 1929, EA Straßburg 1930], bes. S. 51 — 111. Reichardt 1776, I.Teil [1774], S. I49f. Reichardt 1774, S. 6. Zu den rationalistischen Axiomen, die Reichardt noch bis ans Ende des Jahrhunderts aufrechterhält, gehört u.a. auch seine Betonung des Zentralaffekts. Noch 1791 lehnt Reichardt die »höchst unnatürlichen« Sonaten, Symphonien und Konzerte ab, »wo es erst lustig, dann mit einmal traurig und stracks wieder lustig hergeht«. Dagegen fordert er: »Wir würden daher wahrlich gewinnen, wenn wir jedem unserer Instrumentalstücke nur einen Charakter gäben oder bei solchen, die aus verschiedenen Stükken bestehen sollen, die wahre Nuancierung einer Leidenschaft [ ] suchten.« (Reichardt: Geist des Musikalischen Kunstmagazins. Berlin 1791, S. 70) Diese Positionen sind angesichts des aktuellen Stands der Instrumentalmusik extrem konservativ. Reichardt 1776, 2. Teil, S. 24. Noch 1810 benutzt Kotzebue ein ähnliches Muster, wenn er in der Vorrede seines »Liederspiels« >Deodata< (ursprünglich ein »romantisches Schauspiel« udT >Das Gespenst normalen Figuren in der Oper auf wenige extreme Momente beschränkt bleiben.83 Dies gelte aber nicht für andere Figuren: »Mit den Herren Rittern und ihren Stallmeistern, den lieben Feen und ihren dienstbaren Geistern verhält sich das Ding ganz anders.«84 Schon Batteux hatte ähnlich argumentiert und als Konsequenz aus den rationalistischen Forderungen die Gattung auf das Übernatürliche und Wunderbare hin orientiert. Dadurch kollidieren das grundsätzliche Mimesis-Gebot und die »Unwahrscheinlichkeit« des Musiktheaters nicht mehr miteinander: Für die Darstellung übernatürlicher oder historischer Welten verlieren Nachahmungspostulate ihre Gültigkeit, zugleich aber gefährdet die »unnatürliche« Gattung das grundsätzliche Mimesisgebot nicht mehr. Das Singen würde so, im besten Einklang mit den Theoriepostulaten, zur Sprache des Wunderbaren und zum unterscheidenden Merkmal zwischen Natur und Übernatürlichem: »Das Singen würde auf die Art die unterscheidende Sprache aller derer für uns sonderbaren und wunderbaren Geschöpfe seyn []. Die blos menschlichen Geschöpfe müßten denn also in solcher Gesellschaft nicht mitsingen.« 85 Das Wunderbare und Exotische wird bei Reichardt zum Bezugspunkt der Gattung, um diese mit den Wahrscheinlichkeitspostulaten in Einklang zu setzen. Damit aber wird (gegen Gottscheds Intentionen) nun eine antimimeti-
83
84
85
die handelnden Personen wirklich in diesem Augenblick hätten singen können. Daher findet man hier weder Arien noch Duette und dergleichen Lächerlichkeiten [].« Der rechtfertigende Ton dieser Vorrede zeigt deutlich, daß die rationalistischen Axiome (partiell) bis ins 19. Jahrhundert in Kraft bleiben. (E. Th. A. Hoffmann ironisiert Kotzebues Stück dann in den >SerapionsbrüdernWalmir und Gertraud, oder man kann es ja probirenDer neue Gutsherr< (Leipzig 1781) ähnlich: »Um aber das Unnatürliche in der Form so viel als möglich zu mindern, sollte man die Scene imer auf das Land oder in die fabelhaften und Ritter-Zeiten legen; hier läßt sich der Gesang noch am ehsten ohne gar zu große Widersinnigkeit anbringen. Aus dem itzigen städtischen Leben entlehnte Sujets sollten wir Deutsche uns um so mehr enthalten mit Gesängen zu verbrämen [ ].« Reichardt 1776, 2. Tl., S. 27f.
658
sehe Kunst in das rationalistische Kunstsystem integriert und theoretisch legitimiert, was eine weitere sozialgeschichtliche Implikation hat: »Historisch gesehen legitimiert Reichardts rationalistische Bewältigung des Wunderbaren nicht nur die Oper, sondern auch das allegorische Personal vor allem der Pround Epiloge, der Vor- und Nachspiele des höfischen Theaters, die dem Fürstenlob dienten - und die ab den yoer Jahren nun auch wieder - wie zu Beginn des Jahrhunderts - in deutscher Sprache geschrieben und gesungen wurden.« 86 Mit der Hinwendung zum Wunderbaren als Gegenstandsbereich des deutschen Singspiels entwirft Reichardt allerdings eine Theorie, die von der empirischen Realität der Singspiele der Zeit weit entfernt ist87 und die erst (und in anderer Form als bei Reichardt skizziert) in den süddeutschen Singspielen der rySoer Jahre ihre Entsprechung findet. Es mutet daher merkwürdig inkonsequent an, daß Reichardt seine Theorie in der Praxis am Beispiel von Weißes/ Hillers >Jagd< exemplifiziert. Schon daran zeigt sich, wie auch bei Reichardt theoretische Reflexion und Praxis differieren. Überhaupt muten seine theoretischen Reformideen merkwürdig praxisfremd an und werden in Reichardts eigenen Musiktheaterwerken auch in keiner Weise so realisiert. Seine theoretischen Versuche, das Musiktheater mit den Doktrinen in Einklang zu bringen, wirken so eher wie eine Pflichtübung, eine Verbeugung des jungen Reichardt vor der Autorität des rationalistischen Systems, als daß sie als praxisrelevante Reformvorschläge einzuschätzen wären. Ganz in aufklärerischen Theorietraditionen steht Reichardt auch, wenn er bei aller Kritik am bestehenden Singspiel doch versucht, dessen »Nutzen« zu bestimmen: Es könnte »das Verdienst haben, das Ohr des Publikums zu bilden, und den Gesang allgemeiner zu machen.« 88 (Auch aus diesen Erwägungen resultiert später Reichardts Entwicklung des »Liederspiels« als einer Gattung, die durch theoretische Erwägungen über den Wert und Nutzen des Volkslieds [Rousseau, Herder] angestoßen wurde und gezielt pädagogischen Absichten folgte: Bewußt einfach und schlicht gehaltene Volkslieder als einzige Elemente des »Liederspiels« sollten über die Bühne in die Breite wirken und, ähnlich wie 86
Kj
S8
Meyer 19803, S. 152. Zu fragen wäre allerdings, ob die höfischen Formen überhaupt einer theoretischen Legitimation seitens eines bürgerlichen Autors bedurften. Mir scheint eher, daß Reichardt hier aus der Erfahrung solcher höfischer Theaterformen die Integration des Wunderbaren in die rationalistische Theorie vornimmt. Der frühe Strang, der mit Elementen der Zauberei arbeitet (etwa >Der Teufel ist los< von Weiße nach Coffey, 1752, oder >Walmir und Getraude< von Michaelis [vgl. Anm. 84]), wird relativ schnell abgelöst von den auf dem Land spielenden Sujets mit ihrem Anspruch auf »Vernunft« und »Natürlichkeit«. Bezeichnend ist dafür die Transformation des Zauberermotivs in Michaelis' >Der Einspruch« (Druck Leipzig 1772, Musik von C. G. Neefe). Dort dienen die Zauberelemente dazu, den Bauern Merten gerade von seinem »Aberglauben« zu heilen. Die Zauberei steht also im Dienste rationalistischer Vernunft. Reichardt 1776, Bd. i, S. 150. 659
bei Weiße, den Geschmack des Publikums verbessern.89) Volkspädagogische Überlegungen lösen bei Reichardt moralisch-inhaltliche Sittlichkeitsvorstellungen ab, die dennoch in weiten Teilen des Bürgertums in Kraft bleiben.90 Gegenüber der rationalistischen Theorie hat sich jedoch bei Reichardt eine bedeutende Verschiebung im Bereich der anthropologischen Konzeption ergeben, die die bereits bei Hiller und Weiße erkennbare Linie weiterzieht. Das Ideal Reichardts ist der »gefällige, natürliche und rührende Gesang«, zentrale Instanz die »Natur«. Die Erkenntnis der »Natur« aber gewährleistet für Reichardt nicht der Verstand, sondern das unverbildete Gefühl.91 Das bei Hiller noch als Nebeneinander von Verstand und Herz gefaßte Verhältnis ist bei Reichardt bereits einer neuen Hierarchie gewichen: Das »Gefühl« erhält bei ihm das ästhetische Primat. Wenn nun aber das Gefühl die entscheidende Instanz zur Rezeption und Beurteilung von Kunst wird, ändern sich auch die Bedingungen ihrer Produktion. Der Künstler benötigt ein Mittel, um seine Rezipienten direkt auf der Ebene der unverbildeten, sinnlichen Rezeption anzusprechen. Dieses Mittel sieht Reichardt in der Melodie. Daher fordert Reichardt den Vorrang der Melodie vor der Harmonie; der Fehler der älteren Musiker sei es gewesen, zu sehr über Problemen der Harmonielehre gegrübelt zu haben, statt
89 90
91
Vgl. dazu Winkler 1991. Noch 1795 muß sich J. A. Hiller, als Thomaskantor auch zuständig für das Alumnat, gegenüber dem Magistrat der Stadt Leipzig gegen die Beschwerde eines »Churfürstl. Sachs. Strassen-Bereuters« Rück wehren, der folgendes ausführt: »Wie weit es schon auf gedachter Schule gekommen sey, kann man daraus ersehen, daß der Herr Musicdirector seinen musikalischen Günstlingen erlaubt in die Komödie zu gehen, wo sie weniger auf die Music (welches vielleicht der Zweck sein mag) als auf die lächerlichen Worte und Stellungen der Schauspieler [ ] Achtung geben, [ ] Ich setze hier nur noch so viel hinzu, daß zwar die Gewohnheit, Komödien auf Schulen spielen zu lassen gar nicht neu sey; daß aber gleichwohl die öftere und traurige Erfahrung genugsam gelehret habe, wie nachtheilig dieselbe den Sitten und dem Fleisse (zumahl durch mancherley fade und unmoralische Stücke dergleichen itzt leider die meisten Operetten sind) in den rohen und leicht zu verderbenden Gemüthern der Jugend jederzeit gewesen sey.« Der jetzige Zustand der Thomasschule sei eine »Ächtung der Wissenschaften und den Fortschritten der Aufklährung«, dagegen müsse der Magistrat alles tun, »um die frühzeitige Cultur des Verstandes wieder in ihre ehemaligen, von der Musik ihr geraubten Rechte zu setzen«. (Zit. n. Peiser 1894, S. I29ff.) Der Druck derartiger Vorstellungen muß bis Ende des Jahrhunderts grundsätzlich mitbedacht werden. Selbst das Singspiel Hillerscher Prägung kann nicht einfach als »bürgerliche« Gattung vereinnahmt werden, sondern wird von breiten bürgerlichen Kreisen abgelehnt. Daher kritisiert Reichardt auch z. B. J. S. Bachs >Goldberg-Variationen« als schwer verständlich und ein bloßes »Spiel des Witzes und Verstandes.« Auch an Bachs Vokalwerken setzt Reichardt aus, die Deklamation sei gezwungen und unnatürlich sowie zu sehr an der Bedeutung einzelner Wörter orientiert. Vgl. Fischer-Dieskau 1992, S. 27. Die Rezeption von Musik über ein allgemeines »Gefühl« findet sich vorgezeichnet bereits bei Batteux (1746, Tl. III., 3. Abschnitt, Kap. 3); sie ist bei ihm jedoch noch eingeschränkt durch den grundlegenden Systemgrundsatz der Natur-Nachahmung.
660
Natur und Wirkung des Gesanges zu bedenken. Der Aufwertung der Melodie zu einer angeborenen, unmittelbaren Sprache der Empfindungen, die direkt auf den Hörer wirke, liegen erhebliche sozialgeschichtliche und anthropologische Implikationen 92 zugrunde, die der Verschiebung im »Natur«-Begriff zwischen Rationalismus und Empfindsamkeit entsprechen. Die in ihren Implikationen weit über rein kompositorische Sachverhalte hinausgehende Dichotomic von »Melodie« versus »Harmonie« bildet in Deutschland seit Mattheson93 das Signum aufklärerischer Musiktheorie: Die »Anthropologie der Aufklärung betrachtete die Melodie zunächst als zentrales Symptom menschlicher Natürlichkeit und insofern auch als einen zentralen Zugang zum unverbildeten Wesen des Menschen schlechthin.« 94 (Bezeichnenderweise erscheint hier, in der aufklärerischen Melodiedoktrin, lange vor Winckelmann die Formel von der »edlen Einfalt«: »Die bloße Melodie bewegt in ihrer edlen Einfalt, Klarheit und Deutlichkeit die Herzen solchergestalt, daß sie oft alle harmonischen Künste übertrifft.« 95 ) Ihr gegenüber wird die harmoni92
93
94 95
Dies ist v. a. in der Auseinandersetzung zwischen Rousseau und Rameau sichtbar, in der sich auch politisch zwei konträre Positionen gegenüberstehen, später im Buffonistenstreit. Vgl. dazu Giilke 1984 und Reckow 1993. Das Ideologische der Dichotomic Melodie versus Harmonie im Buffonistenstreit wird auch daran deutlich, daß Rameaus Opern und Opera-Balletts ja ihrerseits Reformen der älteren Form bei Lully etc. darstellen und keineswegs als unmelodischer, unnatürlich verdickter Kontrapunkt charakterisiert werden können, wie dies Rousseau polemisch tut (vgl. Rousseau: Brief über die französische Musik [1753]. In: Rousseau 1984, S. 47 — 98). Z. B. Mattheson 1722/25 Bd. i, S. 244, S. 345ff-; Ders.: Kern melodischer Wissenschaft. Hamburg 1737; Scheibe (Hg.) 1737/40, S. 7: »Die Zeiten sind nicht eben allzulange verflossen, da man in einem ändern Vorurtheile steckte. Man wollte nämlich lauter Harmonien machen. Die Melodie war nichts. Man wollte in der Kirche, bey Hofe, und so gar auch auf der Schaubühne mit Gewalt künstlich seyn.« Zahlreiche weitere Beispiele finden sich bei Schleuning 1984, S. 363ff.; vgl. a. Lubkoll 1993, S. 34ff., S. 41 — 52. (Die Argumentation bei Lubkoll scheint mir allerdings auf dem Kopf zu stehen. Sie schreibt der aufklärerischen Melodielehre als »entscheidende Neuerung [ ] die Begründung einer Ausdrucksästhetik als Alternative zu einer mathematischen Bestimmung der Musik [ ]« zu (S. 51), während die Melodielehre m.E. eher umgekehrt als Begleiterscheinung bzw. Ergebnis des Zerfalls der rationalistischen Mimesis-Theorien zu verstehen ist. Der grundlegende Wandel vollzieht sich in der Einschätzung der »Natur«; erst dieser Wandel ermöglicht dann die Aufwertung der Melodie. Nicht die Melodiebetonung begründet die Ausdrucksästhetik, sondern diese ermöglicht die Aufwertung der Melodie.) Reckow 1993, S. 226. Mattheson: Grundlage einer musikalischen Ehrenpforte. Hamburg 1740, Vorbericht. Die Formel findet sich im musiktheoretischen Schrifttum wiederholt zur Kennzeichnung einer »guten Melodie«; vgl. Boßler 1789, S. j: »[] eine edle Einfalt in der Melodie, durch welche jede Ueberladung mit Verzierungen, jede gewagte Passage, jede Dunkelheit im Saz und Vortrag vermieden wird.« Vgl. a. Schleuning 1984, S. 368. Der Topos von der Natürlichkeit und edlen Einfalt richtet sich dann, wie aus dem Zitat ersichtlich, zusätzlich gegen die Verzierungspraxis v. a. der italienischen Sänger. Im ästhetischen Axiom manifestiert sich zugleich ein kunst- und sozialgeschichtlicher Bruch.
661
sehe Ebene96 der Musik, die für den Rationalisten Rameau noch die unwandelbare physikalisch-naturgesetzliche Basis aller Musik bedeutete, abgewertet zu einer rein regelhaften, »künstlichen« und wirkungshemmenden Größe: Schon J. J. Quantz bezeichnet die deutsche Barockmusik als »harmonisch und vollstimmig, aber nicht melodisch und reizend [ ], mehr künstlich, als begreiflich und gefällig; mehr für das Gesicht als für das Gehör [].« 97 Bei C. F. Cramer wird dies dann zu einem generellen Axiom der Empfindsamkeit: »Die Harmonie ist in der Musik, was die Logik in der Rede. Der Mutterwitz bedarf der künstlichen Vernunftregeln gar nicht, oder doch nur selten; sein Gefühl leitet ihn, und es leitet ihn richtig. Nur ein verwahrloseter Kopf hingegen wagt es, uns Vernunftschlüsse aus Barokko und Barbara vorzulegen, wo wir den Ideengang eines denkenden Mannes zu erwarten hoften.«98 Der »denkende Mann« der Empfindsamkeit zeichnet sich dadurch aus, daß er gerade auf nur logische »Vernunftschlüsse« verzichtet und sich statt ihrer vom »Gefühl« leiten läßt. Nur das Gefühl als universale Sprache einer unverbildeten Natur leitet richtig. In dieser neuen Anthropologie steht die »Melodie« für die lebendige menschliche Natur,99 die sich im Gesang spontan (und zunehmend individuell) ausdrükken kann — die »künstliche« Harmonie dagegen repräsentiert die alte Konzeption einer apriorischen Ordnung der »Natur«, die jetzt als unbeseelte, tote Materie erscheint. 100 Während sich sowohl die Verteidiger der Harmonie (Rameau) als auch die Verfechter des neuen Melodieprimats (Mattheson, Rousseau usw.) auf »die Natur« berufen, hat sich der Inhalt des »Natur«-Begriffs entscheidend gewandelt (s. o.). 96
97
ljii 99
100
»Harmonie« meint im 18. Jahrhundert nicht die Ebene von Akkordzusammenfügungen wie in der »Harmonielehre« des späteren 19. Jahrhunderts; mit »Harmonie« ist im 18. Jahrhundert alles gemeint, was nicht »Melodie« ist, auch z.B. der mehrstimmige polyphone Satz. Dadurch wird auch klar, inwiefern Rameaus Position vielen Zeitgenossen wie eine Verkehrung der Verhältnisse erscheinen mußte: Daß der polyphone Satz nicht aus »Melodien« zusammengesetzt sein sollte, sondern umgekehrt diese »Melodien« aus der Polyphonic abzuleiten seien, mußte wohl schwer verständlich sein. Quantz 1752, S. 325. Vgl. a. Ernst Gottlieb Baron: Abriss einer Abhandlung von der Melodie: eine Materie der Zeit. Berlin 1756. Gramer 1786, Jg. II H. 2, S. 905. Schon Scheibe fundiert im Gegensatz zu Rameau den Primat der Melodie in der menschlichen Seele, nicht mehr in einer objektiven Natur, und betont, »daß eine natürliche Melodie, oder vielmehr eine uns angebohrne Neigung zu der Musik, die eigentlich aus der Seele entsteht, der erste Grund der Musik ist [ ]« (Scheibe (Hg.) 1737/1740, S. 53). Der Versuch des späten Goethe, eine >Tonlehre< als Ergänzung der >Farbenlehre< zu schreiben, stellt bezeichnenderweise einen Versuch dar, diese beiden Ebenen zu versöhnen, die physikalisch-mathematischen Grundlagen der Musik mit der neuen anthropologischen Ebene zu verbinden. Die Dichotomie der aufklärerischen Musiktheorie soll durch eine Synthese ersetzt werden. Vgl. dazu Goethe: Farbenlehre [1808], §§ 747-75° ( , S. 2250, sowie seinen Brief an Zelter vom 6.9.1826.
662
Auch für den Aufstieg des deutschen Singspiels stellt die Überzeugung vom Vorrang der Melodie mit ihren anthropologischen Implikationen eine wesentliche Grundlage dar. Die Formen der komischen Oper mit ihrem melodiebetonten Satz erscheinen als ideale musikalische Verwirklichung der Vorstellung vom gefühlsbewegten, singenden Menschen. (Auch hier verändern sich im Verlauf der Entwicklung die Konstellationen. Je mehr die empfindsamen Autoren die Dominanz der Melodie betonen, desto mehr rücken eher konservative, spätrationalistische Autoren wie z. B. J. N. Forkel vom Melodieprimat ab und fordern jetzt wieder eine solide Harmonie als Zentrum des musikalischen Satzes.101 Allerdings wird die Harmonie als Teil einer positiven »Logik der Musik« auch von Forkel jetzt nicht mehr in ihrer mathematischen Verwurzelung, sondern in ihrer Sprachanalogie gesehen.102 Und es ist ja in der Tat gerade auch die Wiedereinführung komplexerer Harmonik und kontrapunktischer Mittel, die dann der Musik der Wiener Klassiker ihre Spannbreite verleiht.) Wenn das Gefühl nun zur Hauptinstanz der Rezeption werden soll, dann muß die poetologische Reflexion in erster Linie um die Frage der Wirkung kreisen. Für höhere Wirkung aber benötigt das Theater laut Reichardt höhere Illusionskraft. Das rationalistische Konzept der Nachahmung einer aprioischen, vom Verstand einzusehenden Natur-Ordnung wird so bei Reichardt durch die Vorstellung abgelöst, die empirische Realität illusionär nachzuahmen. Dies 101
102
Forkel, später in Göttingen Lehrer von Wackenroder und Tieck, schreibt 1778 in seiner Rezension von Charles Avisons »Versuch über den musikalischen Ausdruck< (dt. 1775, s.u. Anm. 230), wobei er keineswegs zufällig wieder zum Vergleich mit der Malerei greift: »Die gegenwärtig herrschende Mode, alle Musik auf eine einzelne Stimme einzuschränken, und eben dadurch alle wahre Harmonie zu vernachlässigen, wird daher vom Verf. für einen sehr beträchtlichen Fehler erachtet. In der That ist dieser Fehler so groß, als der seyn würde, welchen ein Maler macht, der in seinen Gemälden bloß für Zeichnung sorgen, das Colorit aber gänzlich vernachlässigen oder hintansetzen wollte. Die Harmonie, sagt unser Verf. dient vornehmlich dazu die vielfache Arbeit und Kunst einer guten Komposition zu zeigen und auseinander zu setzen, die, bey einer guten und vollkommenen Ausführung aller Stimmen, jene edlen Wirkungen hervorbringt, welche wir oft bey großen Musiken wahrnehmen.« (Forkel 1778/1779, Bd. 2, S. 152) Mit dem Bild von Colorit vs. Zeichnung greift Forkel eine Formulierung aus Glucks >AlcesteBerglingerJagd< mit ihrer Darstellung des ländlichen Lebens bis in die soziologische Verankerung der Musikstile hinein mustergültig erfüllt. Anders als Gottsched sieht Reichardt die komischen Musiktheaterformen nicht als abzulehnende, unsittliche und »unmoralische« Formen an, die die Erkenntnis der Natur und ihrer Ordnung stören. Er betrachtet sie als dialektische Notwendigkeit für die >hohen< Formen: Man sah in Deutschland nie lieber und eifriger Trauerspiele, als da das Possenspiel noch im Gang war. In Wien zauberte das heroische, unbeschreiblich große und edle Noverrische Ballet jeden Kunstfreund in eine neue Welt, zu einer Zeit, da mehr als Eine Bande Haupt = und Staatsakteurs und Seiltänzer ihr Glück bey demselben Publikum machte. Die italiänische große Oper war nie vollkommner, als zur Zeit der possenhaften Intermezzos.103
Ganz im Gegensatz zum rationalistischen Versuch einer Verengung der Theaterpraxis betont Reichardt die Notwendigkeit einer möglichst großen Spannbreite des Theaterlebens. Nicht eine einheitliche Moral für alle Gattungen, sondern eine Vielfalt von deren Funktionen stehen für Reichardt im Zentrum. In Anlehnung an Möser (s.o.) fordert Reichardt daher auch die Wiedereinführung des Stegreiftheaters: »Wir haben gewiß durch Verbannung des Possenspiels weit mehr verlohren, als wir gewonnen haben durch Einführung des rührenden Dramas, wo nun der Herr Vater oft den Hanswurst im schwarzen Samtrocke spielt.« '°4 Auch die Funktion des Kunstrichters verschiebt sich. Reichardt versteht sich selbst durchaus als Kunstrichter: allerdings nicht mehr als gelehrt-elitär vom Schlage Gottscheds, sondern als freundschaftlich-egalitär. Seine »Zergliederung« des Musters Hiller wendet sich ausdrücklich auch an Laien, indem er bewußt auf Fachterminologie und Fremdwörter verzichtet.105 Ebenso verändert sich auch die handwerkliche Ebene der Gattungspoetik im engeren Sinne durch den Aufstieg des »Gefühls«: Die Sprache des musikalischen Dichters sey überhaupt die natürliche Sprache der Empfindungen und Leidenschaften. Daher er denn auch diese vor allen Dingen auf das sorgfältigste studieren muß; denn sie allein ist die Sprache, die der wahren Musik fähig ist. Hauptsächlich ist mein Rath für die musikalischen Dichter dieser, daß er sich nicht an die gewöhnlichen Formen der Singestücke binde; nicht just Oden, Cantaten oder Opern mache; sondern er wähle ein Sujet, welches eine für das Herz interessante Handlung hat; und dieses behandle er nach der Art der guten dramatischen Dichter. In der Versifikation erlaube er sich alle Arten der Sylbenmaaße, und wähle zu jeder Stelle, zu jeder Scene das Sylbenmaaß, von dem er glaubt, daß es zu dem Ausdrucke der Empfindung am geschicktesten sey. Nunmehr aber überlasse er es dem verständigen und empfindungsvollen Componisten, seine Verse zu Recitativen, Ariosen, Arien, Duetten und Chören abzutheilen.100 I0
' Reichardt 1782, S. 162. Ebd. 105 Reichardt 1774, S. 20; dort findet sich auch eine Typologie der Zuhörer. 106 Ebd. S. 113; vgl. a. S. 117.
104
664
Auch die Reste einer handwerklichen Gattungspoetik, die z. B. bei Gottsched Rezitativtext von Arientext, Ode von Cantate trennte, werden hier im Namen der »Empfindung« und des »Herzens« getilgt: Die literarischen Differenzen der Formteile werden gelöscht. Lediglich die Forderung, der Librettist solle sich am »guten dramatischen Dichter« orientieren, verweist noch auf ältere Axiome. Verse gelten jetzt auch außerhalb der Oper als »musikalisch«, wenn sie durch fließende Rhythmik oder melodiösen Versbau potentielle Sangbarkeit verbürgen könnten (z. B. in der Lyrik bei J. P. Uz, Klopstock oder Wieland; anders wird die Bestimmung erst bei Schiller107). Bei Reichardt wird somit deutlich, wie sein Versuch, die Gattung zugunsten des Systems zu reformieren, unter der Hand zu einer Veränderung des Systems führt. Seine Schrift stammt nicht aus der akademischen Kunstdiskussion und belegt gerade das zunehmende öffentliche Interesse an der ästhetischen Theorie. In der akademischen Debatte halten sich die rationalistischen Positionen teilweise noch erheblich länger; allerdings ist auch hier unverkennbar, daß sich das rationalistische System verändert. Die Versuche, das rationalistische System zu retten, erzwingen seine Transformation. Noch enger als Reichardt versucht der Bodmerschüler und Wolffianer Johann George Sulzer,108 die Musiktheaterformen durch Reformen mit den klassizistischen Doktrinen vereinbar zu machen. Sulzers Eintrag »Oper; Opera« in der verbreiteten und auch international anerkannten Allgemeinen Theorie der Schönen Künste< (begonnen ab 1756, EA 1771-74, erweitert 2 i792-i794) zeigt sein starkes Schwanken in der Einschätzung der Gattung.109 Sein Vorschlag eines »verbesserten« Musiktheaters läuft nach wie vor auf eine textzentrierte Dramenform mit »sittlicher« Wirkung hinaus, die von der Musik nur unterstützt werden sollte. Die Oper solle (wie alle schönen Künste) »von dem Unrath des darin vorkommenden kindischen Zeuges gereiniget, und bey seiner so überwiegenden Kraft auf einen edlern und größern Zwek, als der bloße Zeitvertreib ist, angewendet werden können.« 110 Signifikant dabei ist, daß Sulzer (anders als Batteux oder Reichardt) für die Oper grundsätzlich alle Stoffe 107 I0ii
109
110
Vgl. Schimpf 1988, S. Sulzer beruft sich zudem ausdrücklich auf Baumgarten und versucht, die bisher eher vernachlässigte Musik in den Bereich der Ästhetik zu integrieren. Zu Sulzer vgl. Serauky 1929,8. 106-116; Scherpe 1968,8. 205-219; Flaherty 1978,8. 244^; Zelle 1987, S. 358ff. Wie ungewohnt Sulzers starke Betonung der Musik im Rahmen der Ästhetik auf manche Zeitgenossen wirkte, belegt folgende Passage aus einer Rezension: »Mancher glaubt sich, wenn er das Buch bei Seite legt, dadurch entschuldigt, daß so vieles bloß für den Musikus darin enthalten sei.« (Teutscher Merkur, 9. Bd. Weimar 1775, S. 277) Art. »Oper; Opera«; Sulzer 1792/94, Bd. 3, S. 572. Von wem dieser Artikel stammt, ob von Sulzer selbst oder einem seiner Mitarbeiter, etwa J. A. P. Schulz, ist nicht eindeutig zu klären. Art. »Oper; Opera«; Sulzer 1792/94, Bd. 3, S. 577. 665
zuläßt — mit einer einzigen Einschränkung: »daß die Handlung keinen eilfertigen Gang, und keine schweren Verwiklungen habe.« 111 In der Ablehnung der »Verwiklung«, der zentralen Kategorie der älteren italienischen und deutschen Oper, und der Forderung nach »Einheit des Stoffes« 112 folgt Sulzer Gottsched. Neu gegenüber Gottsched aber ist die psychologische Wende Sulzers, auf die schon Herder in seiner ADB-Rezension113 aufmerksam macht. Sulzer lehnt die »Verwiklungen« deshalb ab, weil durch sie »mehr der Verstand als die Empfindung beschäfftiget wird«," 4 und definiert die grundsätzliche Aufgabe aller Poesie als »die Kunst den Vorstellungen [ ] den höchsten Grad der sinnlichen Kraft zu geben.«" 5 Ähnlich wie bei Hiller, Weiße und Reichardt verliert der Verstand seine zentrale Rolle; daher stehen jetzt Wirkungsaspekte im Mittelpunkt, während Mimesis-Gesichtspunkte nicht mehr wesentlich erscheinen. Während aber Reichardt noch versucht, das Mimesis-Postulat durch die Festlegung des Musiktheaters auf »wunderbare« Stoffe zu retten, ist dies bei Sulzer schon Vergangenheit: »Bey Widerlegung des Einwurfes, daß es überhaupt unnatürlich sey, Menschen bey einer ernsthaften Handlung durchaus singend einzuführen, wollen wir uns nicht aufhalten. [ ] So ungereimt die Oper scheinet, wenn man blos die kahlen Begriffe, die der Verstand sich davon macht, entwikelt, so einnehmend ist sie, wenn man auch nur eine recht gute Scene davon gesehen hat.«" 6 Unter dem Primat der Wirkung wird die Oper nun sogar potentiell zur höchsten Kunstform überhaupt: Wer dieses recht bedenket, wird leicht begreifen, daß kein Werk der Kunst der Oper an Lebhaftigkeit der Würkung gleich kommen könne. Äug und Ohr und Einbildungskraft, alle Spannfedern der Leidenschaften werden da zugleich ins Spiel gesetzt. [ ] So verächtlich also die Oper in ihrer gewöhnlichen Verunstaltung ist, und so wenig sie den großen Aufwand, den sie verursachet, verdienet, so wichtig und ehrwürdig könnte sie seyn, wenn sie auf den Hauptzwek aller schönen Künste geleitet [ ] würde." 7 Die Ersetzung des Nachahmungspostulats durch ein wirkungsbezogenes bedeutet eine Umwertung der bisherigen Hierarchie: Stand bei Gottsched die un111
Ebd. S. 578. Ebd. S. 579. 113 ADB 22/i (1774), S. 5-92. (Auch in Herder, SW Bd. 5, S. 377) "4 Art. »Oper; Opera«; Sulzer 1792/94, Bd. 3, S, 578. "' Art. »Dichtkunst. Poesie«; Sulzer 1792/94, Bd. i, S. 619. 116 Art. »Oper; Opera«; Sulzer 1792/94, Bd. 3, S. 580. 117 Ebd. S. 583^ Am bestehenden Operntyp kritisiert Sulzer v. a. die »Einförmigkeit der Arien« und reiht sich damit indirekt in die Reihen derer ein, die Unbehagen an der metastasianischen Tradition kennzeichnet (s. u.). Auch hier erhofft sich Sulzer die Rettung ausschließlich vom Librettisten: dieser müsse sich »von selbst Mittel genug ausdenken, der Einförmigkeit der Arien auszuweichen. Wenn ers schiklich findet, wird er ein Lied, eine Ode, zwischen die gewöhnlichen Arien, Chöre, Duette und Terzette natürlich [!] anzubringen wissen.« (Ebd. S. 578f.) 112
666
natürliche und unreine Oper an unterster Stelle innerhalb der Künste, wird sie jetzt potentiell zur höchsten Kunstform. »Eine solche Oper wäre allerdings eine völlig neue Art des Drama [].«" B Das theoretische Denken über Oper erhält hier einen Zug nach vorne, zu einer noch utopischen Idealform hin, woran dann später u.a. die Überlegungen der Weimarer anknüpfen können. Dagegen werden reine Instrumentalwerke auch bei Sulzer weiterhin abgewertet: »wo die Gegenstände der Empfindung selbst müssen geschildert, oder kennbar gemacht werden, da hat die Musik die Unterstützung der Sprache nöthig. [ ] Hieraus lernen wir mit völliger Gewißheit, daß die Musik erst ihre völlige Würkung thut, wenn sie mit der Dichtkunst vereiniget ist.« Sulzer betont, »daß die Musik, in der nicht irgend eine Leidenschaft, oder Empfindung sich in einer verständlichen Sprache äußert, nichts, als ein bloßes Geräusch sey.«' t y Das Lied, das Oratorium und noch mehr die Oper erscheinen so zwangsläufig als die zentralen musikalischen Formen. 120 Sulzers Theorie zeigt insgesamt eine charakteristische Wende in der Einschätzung der Gattung Oper an. Er kritisiert zwar die vorhandenen Opern z.T. noch unter der Wirkung der rationalistischen Doktrinen als unwahrscheinlich, unnatürlich und abenteuerlich; er lehnt die musikalischen Eigengesetzlichkeiten der Gattung entschieden ab und erwartet die Lösung von stärkerer Bindung der Libretti an die Regelpoetik der Tragödie. Trotz dieser Kritik, die die Argumente gegen die Oper fast schon paradigmatisch bündelt, steht für ihn jedoch außer Frage, daß die Oper eigentlich die höchste dramatische Kunstform sein könnte. Wie weit Sulzers Überlegungen von der Theaterpraxis seiner Zeit entfernt sind, zeigen seine wenigen Verweise auf konkrete Muster. Anzusteuerndes Vorbild für die Oper ist ihm die antike Tragödie, »die im Grund eine würkliche Oper war«;' 2 ' die darauf ausgerichtete Reform der Oper solle von den Librettisten ausgehen.122 Als Vorbilder empfiehlt Sulzer jedoch Ossian und Klopstocks 118
Ebd. S. 579.
119
Art. »Instrumentalmusik«; Sulzer 1792/94, Bd. 2, S. 678; ähnlich Batteux 1746 (Tl. III, 3. Abschnitt, Kap. 3). Derartige Positionen hallen noch in Zeiten nach, wo sie angesichts der künstlerischen Praxis anachronistisch wirken (vgl. z.B. Hans Adolph Friedrich v. Eschstruth: Musicalische Bibliothek, r. Stück. Marburg/Gießen 1784, S. 109). Vgl. Art. »Lied«: »Ich meinerseits wollte lieber ein schönes Lied als zehn der künstlichsten Sonaten oder zwanzig rauschende Konzerten gemacht haben.« (Sulzer 1775, Teil 2, S. 273; die Ausgabe 1792/94 formuliert hier bereits defensiver) Ähnlich schreibt der Kieler C. F. Cramer über das Liebhaberkonzert in Detmold: »So sehr Instrumentalmusik hier auch Beifall findet, so ungleich mehr findet ihn die Vocalmusik. Eine simple Arie gefällt mehr als das beste Concert.« (Cramer 1783/86, Jg. II H. i, S. 220) Art. »Oper; Opera«; Sulzer 1792/94, Bd. 3, S. 578. Vgl. a. Art. »Tragödie«. Ähnlich formuliert Meiners: »Das Griechische Trauerspiel, das mehr Oper, als Trauerspiel im heutigen Geschmack war [ ]« (Meiners 1787, S. 106). Art. »Oper; Opera«; Sulzer 1792/94, Bd. 3, S. 580.
120
121
122
667
nordische »Bardiete«, die weder mit dem aktuellen Musiktheater noch mit der antiken Tragödie viel gemein haben und nur sehr begrenzt als Musiktheaterformen angesehen werden können (s.u.). Hier überlagern sich aktuelle Axiome unterschiedlicher Provenienz, die Hochwertung der griechischen Antike und der patriotische Kult des »Nordischen« zu einer charakteristischen Mischung, in der die Oper wieder einmal in erster Linie unter »literarischen« Gesichtspunkten begriffen wird. (Entsprechende Werke, die eher als Trauerspiele mit Chören denn als Musiktheaterformen zu bezeichnen wären, entstehen im Kopenhagener Umfeld Klopstocks, z.B. von Heinrich Wilhelm v. Gerstenberg,123 von dem Sulzer in einigen Punkten abhängig scheint; s.u.). Daß es keine aktuelle Form großer deutscher Oper gibt, sieht Sulzer als Schuld der rationalistischen Verurteilung der Gattung an und betont dabei zugleich seine Differenz zu diesen »Kunstrichtern«: »Unsere Kunstrichter, anstatt auf die Verbesserung derselben [der frühdeutschen Oper, J. K.] zu denken, declamirten, unter Anführung des Hrn. Prof. Gottsched, sie endlich zu Boden.«124 Dem Siegeszug der komischen Formen auf der Bühne trägt Sulzer durch eine gegenüber Gottsched neue Bestimmung der Operette Rechnung; sie wird nicht mehr als kleine Oper definiert, sondern als Vereinigung von Musik »mit der Comödie«; sie habe »seit kurzem sich der deutschen comischen Schaubühne so bemächtiget, daß sie die eigentliche Comödie davon zu verdrängen droht.« 125 Erneut stellt Sulzer die Wirkungskraft der Gattung in das Zentrum seiner Überlegungen: »Man muß gestehen, daß die Musik [ ] überaus geschikt ist, das Poßirliche zu verstärken, und dem Lächerlichen eine Schärfe zu geben, welche weder die Rede noch die Gebehrden, noch der Tanz zu erreichen vermögen.« 126 Sulzer verteidigt die Operette durch ihre makrobiotische Wirkung, da »das Lachen auch seinen guten Nutzen hat, und in manchen Fällen sowol der Gesundheit als dem Gemüthe sehr zuträglich ist«; man müsse daher nur darauf achten, »daß sie nicht zu herrschend werde, und daß der gute Geschmak sie beständig begleite.«127 Als Kriterium der Abgrenzung von hoher und niederer Gattung zählt nun eine ins Anthropologische gewendete Bestimmung: Operette und Oper sollen sich primär im Grade der dargestellten Empfindungen unterscheiden. Der großen Oper sollen »starke Leidenschaften« vorbehalten sein, während die Operette »sanftere Empfindungen, Fröhlichkeit und bloßes
123
124 125 126
127
Minona, oder Die Angelsachsen. Ein tragisches Melodrama in vier Akten. Hamburg 1785; Musik [verschollen] von J. A. P. Schulz; Aufführungen sind nicht ermittelbar; vgl. Schimpf 1988, S. 240, und Flaherty 1978, S. 246^ Art. »Oper; Opera«, Sulzer 1792/94, Bd. 3, S. 6oif. Art. »Operetten; Comische Opern«; Sulzer 1792/94, Bd. 3, S. 6o2f. Ebd. S. 603. Ebd. In der Kategorie des »guten Geschmaks« verweist Sulzer auf rationalistische Traditionen.
668
Ergötzen« schildern solle.' 28 Während Sulzer im Bereich der großen Oper keine realen Entsprechungen für seine »gereinigte« Konzeption vorweisen kann und daher relativ praxisfremd argumentiert, kann er im Bereich der Operette auf ein konkretes Modell verweisen: Sulzer sieht die komischen Opern Weißes und Heermanns bereits als Reformstücke in seinem Sinne an, aus denen »allmählig ein ganz neues musikalisches Drama [] von gutem Werth []« entstehen werde, nämlich »eine neue sehr angenehme Art eines mehr sittlichen, als leidenschaftlichen Schauspiels«. 129 Diese Aufwertung der Komischen Oper wird ermöglicht durch die Abwertung und Ausgrenzung der ursprünglichen Form des unterhaltenden Musiktheaters zum »gassenliedermäßigen« Intermezzo - ein Pendant zu Weißes Aussagen (s.o.). Sulzer definiert die komische Oper als eine dritte Gattung »von gemäßigtem sittlichen Inhalt, die zwischen der hohen tragischen Oper und dem niedrigen Intermezzo gleichsam in der Mitte stehen« solle.130 Diese Mittelstellung bezieht Sulzer dann auch auf die Musik: »Der Tonsetzer müßte dabey auch den gar zu gemeinen und gassenliedermäßigen Ton verlassen; edel und fein, nur nicht prächtig, feyerlich, oder erhaben zu seyn, sich befleißigen.« 13 ' Ganz an die Ausführungen Weißes und H i Hers angelehnt erscheint auch die abschließende spezifische Bewertung des »Nutzens« der Operetten: »daß dadurch eine Menge in Poesie und Musik guter Lieder und angenehmer kleiner Arien [ ] von der Schaubühne in Gesellschaften und in einsame Cabinetter verbreitet würde.« 132 Sulzers popularphilosophische Theorie, die in den zahlreichen Artikeln seines Lexikons regelrecht verzettelt ist, findet eine systematische Ausarbeitung bei J. J. Eschenburg,' 33 der sich selbst in verschiedensten Funktionen mit der 128
Ebd. Ebd. S. 6o3f. 130 Ebd. S. 603. Ganz ähnlich versucht der Mannheimer Georg Vogler seine Operette >Der Kaufmann von Smyrna< als mittlere Gattung zu situieren, nun allerdings zugleich auch zwischen französischem und italienischem Stil: »so muß man diese Operette als eine dritte und mittlere Gattung zwischen den niederen Färsen, aber niedlichen Tonsezungen [] der Franzosen, und der italienischen Opera Seria annehmen.« (Vogler 1778—1781, Bd. 2, S. 186) Dies hat Konsequenzen bis in die Faktur der Musik; vgl. Betzwieser 1991, bes. S. 131. 111 Art. »Operetten; Comische Opern«; Sulzer 1792/94, Bd. 3, S. 604. 112 Ebd. 131 Eschenburg 1783. Laut Vorrede entstand der Traktat 12 Jahre vor dem Druck (d.h. 1771); er gehört auch inhaltlich eher in den Umkreis der in den frühen ijjoet Jahren aktuellen Diskussionen. Das Werk, gedacht »zur Grundlage bey Vorlesungen«, wurde gleichwohl viel und lange benutzt: weitere Auflagen und Nachdrucke erschienen 1789, 1790, 1805, 1812, 1817 und 1836, eine französische Übersetzung in Petersburg 1789, eine holländische 1832. Zu Eschenburgs Hintergrund vgl. das aufschlußreiche Verzeichnis seiner musikalischen Bibliothek bei Lütteken 1996 sowie allg. Fritz Meyen: Johann Joachim Eschenburg. 1743—1820. Professor am Collegium Carolinum zu Braunschweig. Kurzer Abriß seines Lebens und Schaffens nebst Bibliographie. Braunschweig 1957; Manfred Pirscher: Johann Joachim Eschenburg. Ein Beitrag zur 129
669
komischen Oper befaßt hatte. Er betont im Anfangskapitel unter Berufung auf Sulzer und Mendelssohn (und in Abgrenzung zu Batteux) den grundlegenden Paradigmenwechsel von der Mimesis zur Wirkung auf die Empfindungen, der hier als vollzogen dargestellt wird: Alle schönen Künste und Wissenschaften wirken also durch sinnlich vollkommene Darstellung auf unser äussres und innres Empfindungsvermögen. Und eben in dieser durch die Kunst dargestellten, und den Gegenständen unsrer Empfindung eingeprägten sinnlichen Vollkommenheit, ist ihr Wesen und ihr höchster Grundsatz zu setzen, wenn man einmal die Bestimmung desselben für nöthig hält. Wenigstens verträgt dieser Grundsatz eine weit leichtere und allgemeinere Anwendung, als wenn man die Nachahmung der schönen Natur dafür annimmt.' 34 Seine Bestimmung des »Nutzens« der Kunst verläßt dementsprechend die Ebene moralischer Inhalte und knüpft an Axiome an, die schon bei Weiße (und Sulzer) betont wurden: Die schönen Künste »dienen zur Uebung und Verfeinerung der Sinne und der Einbildungskraft, zur Bildung und Nahrung des Geschmacks, zur Entwicklung der Thätigkeit und Fähigkeiten des Geistes, zur Beförderung des geselligen und theilnehmenden Vergnügens unter den Menschen. Sie [ ] machen uns zur Ausübung unsrer Pflichten williger und geneigter.«' 35 Kunst erscheint, ähnlich wie bei Weiße und Möser, als soziales Therapeutikum, das via »Vergnügen« die Erfüllung der unbezweifelten »Pflichten« des Einzelnen erleichtert. Eschenburgs Hauptaxiom ist jetzt die sinnliche, rührende Wirkung der Kunst. Dies führt ihn zu einer Theorie des Illusionstheaters: Je größer die Illusion, desto höher die Wirkung.' 3Ö Zentrales Ziel des Theaters ist die Illusion (»Täuschung«) des Zuschauers; daher muß grundsätzlich Alltagsnähe (auch in Kostümen und Szene) gesucht werden. Die dramatische Handlung Literatur- und Wissenschaftsgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. Diss. Münster 1960; Achim Höher: Johann Joachim Eschenburg: Germanist und Komparatist vor dem Scheideweg. In: Hendrik Birus (Hg.): Germanistik und Komparatistik. DFGSymposion 1993. Stuttgart/Weimar 1995, S. 571 — 592. 134 Eschenburg 1783, S. 8. Vgl. a. ebd. S. 15: »Je mehr Sinnlichkeit der Künstler den Eindrücken zu geben gewußt, [] desto dauerhafter ist die Wirkung seiner Kunst.« Die dauerhafte Wirkung von Kunst bestimmt sich nicht mehr aus universalen Regeln des Verstands, sondern aus der möglichst großen Sinnlichkeit der Kunst. Im Gegensatz zu Gottscheds Auffassung vom rational distanzierten Schaffensprozeß (s. o.) reaktiviert Eschenburg dazu auch das alte Axiom des furor poeticus (vgl. ebd. S. 17). '·" Eschenburg 1783, S. 9. 136 Das verbreitete Axiom begegnet bereits bei Nicolai (Abhandlung vom Trauerspiele. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste. Bd. i/i (1757), S. 17 — 68). Nicolai betont allerdings, anders als Eschenburg, daß eine allzugroße Natürlichkeit der Darstellung die Illusion nicht befördere, sondern verhindere. Illusion entstehe aus Rührung, nicht aus Naturnachahmung. Zum Begriff der Illusion vgl. allg. Werner Strube: Ästhetische Illusion. Ein kritischer Beitrag zur Geschichte der Wirkungsästhetik des 18. Jahrhunderts. Diss. Bochum 1971. 670
muß im Theater in erster Linie leicht faßlich und einfach sein; Rührung ist wichtiger und wirkungsvoller als »flüchtige Ueberraschung«, daher solle »der Zusammenhang mancher verwickelter Umstände mehr den handelnden Personen, als dem Zuschauer, räthselhaft und ungewiß seyn«. 137 Eschenburg fordert die durchgehende Informationsüberlegenheit der Zuschauer über die Figuren, wie sie in der >Jagd< wie auch in >Alceste< erkennbar ist. Da Eschenburg diese Alltagsnähe gerade im Musiktheater musterhaft realisiert sieht, bildet das »Singspiel« bei ihm eine der drei dramatischen Hauptgattungen neben Lustspiel und Trauerspiel:'38 nicht die »künstliche« große Oper, sondern die spezifische Form des mittel- und norddeutschen Singspiels mit der scheinbaren Kopie ländlichen Lebens. Grundsätzlich zeigt jedoch auch Eschenburg die typische Haltung, das Musiktheater aus den höher bewerteten Formen des Sprechtheacers abzuleiten. Entsprechend unterwirft er es den zentralen dramatischen Normen des literarischen Theaters: Einheit der Handlung, in untergeordnetem Maße auch Einheit der Zeit und des Ortes, Ablehnung häufiger Schauplatzwechsel, wie sie für die ältere deutsche Oper charakteristisch waren. 139 Zwar enthält Eschenburgs System auch die große Oper, der jedoch trotz höheren poetologischen Rangs weniger Gewicht zukommt. Die Oper teilt Eschenburg in die »ernsthafte« oder »grosse« Oper und in die »scherzhafte«. Beide Gattungen werden von epischen bzw. dramatischen Gattungen abgeleitet: die komische Oper vom Lustspiel' 40 sowie der »komischen Epopöe«; die ernsthafte Oper differenziert er in »Götteroper«, die er mit dem Epos zusammensieht (wegen der Legitimität des Wunderbaren), und in die »Heldenoper«, die er am Trauerspiel ausrichtet.' 41 Die komische Oper unterscheide sich von
'·" "K "9 M °
141
Eschenburg 1783, S. 167. Ebd. S. 163. Ebd. S. 1651". Das Lustspiel teilt Eschenburg allgemein in das »hohe« und das »niedre« Lustspiel, das Possenspiel, »worin das Niedrigkomische, das doch immer in den Gränzen der Sittsamkeit bleiben muß, durchgängig herrscht« (ebd. S. 174). Als Antityp wird eine ausgegrenzte Form des >unsittlichem Possenspiels erkennbar. Wegen des höheren Illusionsgrads bevorzugt Eschenburg für die Lustspielformen Prosa, obwohl er die Versform der tradierten Lustspiele der Alten und der Franzosen betont (S. 178). Im Lustspiel komme außerdem dem Nonverbalen mehr Gewicht zu als beim Trauerspiel (S. i78f.). Eschenburg 1783, S. 194^ Gleichwohl muß Eschenburg einige zentrale Unterschiede zum Trauerspiel konstatieren: den glücklichen Ausgang, den »lyrischen« Dialog, die »grössere Einfachheit des Plans« und die dreiaktige Form (S. 195, S. i68f). Dies bleibt jedoch für seine Besprechung folgenlos, in der die Normen des Sprechtheaters unmodifiziert durchschlagen: Hauptforderung bleibt die dramaturgische Stringenz. Praktische Beispiele für die ernsthafte Oper findet Eschenburg in Deutschland nicht; lediglich die beiden Wieland-Libretti finden positive Erwähnung (S. 200). Eschenburg favorisiert grundsätzlich »historische Subjekte« (wie in der metastasianischen Seria) statt »mythischer« oder »romantischer« (d. h. Rittererzählungen). 671
der grossen durch die »geringere Würde und Wichtigkeit des Inhalts« 142 und durch den Stoff aus der Sphäre des gemeinen Lebens; statt des Rezitativs könne auch prosaischer Dialog verwendet werden (»Lustspiele mit Gesang«). Gegenstandsbereich der komischen Oper sei die »Schilderung der Sitten, mehrentheils des bürgerlichen oder ländlichen Lebens«. Dabei müsse die komische »Intrigue« einfacher als im Lustspiel gehalten werden. Die Szenen benötigen »schnellern Fortgang und leichtere Verbindung« als in der Komödie. In diesen wenigen Ansätzen zeigt sich ein beginnendes Bewußtsein von der funktionalen Differenz der komischen Oper von der Komödie. Eschenburg, der vielfältig mit der Praxis der komischen Opern verbunden war, ist einer der wenigen Theoretiker seiner Zeit, der dies wenigstens ansatzweise reflektiert. Für Eschenburg resultiert aus dem zentralen Wirkungsziel des Theaters nun auch eine veränderte Bewertung der Handlungsstrukturen. Die Forderung nach Wirkung bedingt, daß das »Neue« und »Unerwartete« zu einer wichtigen Kategorie aufgewertet wird (wegen der »lebhaftere[n] Erregung unsrer Aufmerksamkeit«); damit kehrt eine zentrale Kategorie der barocken Operndramaturgie in die Diskussion zurück. Eine dominante Grenze dafür und für die neue Zentralkategorie der (rührenden) Wirkung aber stellt für Eschenburg der nach wie vor aufrechterhaltene gute »Geschmack« dar; er ist nötig, um nicht »ins Unnatürliche, Gezwungene und Gesuchte« zu verfallen und eine Verabsolutierung der neuen Wirkungsdoktrin zu verhindern. 143 Auch das Wunderbare, das die Wirkung des Neuen und Unerwarteten verstärkt und das Eschenburg als legitimen Stoffbereich der großen Oper ansieht, müsse mit Wahrscheinlichkeit und hypothetischer Möglichkeit verbunden sein, »damit es nicht chimärisch, übertrieben, und wiedersinnig werde« und um richtig wirken zu können. 144 Bei Eschenburg zeigt sich das rationalistische System nur noch in wenigen Elementen konstitutiv (z.B. in der Behandlung des Trauerspiels'45); als ein142
Ebd. S. 200; ebenso S. 201: »Das Leidenschaftliche derselben hat nicht die Würde und Stärke der ernsthaften Oper«. Das alte Ständekriterium transformiert sich zu einem anthropologischen.
'«5 Ebd. 144 145
S. 22ff.
Ähnlich hatten schon Bodmer oder auch Riedel argumentiert. Das Trauerspiel wird, wie in der Poetik des 17. Jahrhunderts, noch immer mit dem Epos zusammengesehen (ebd. S. 1850. Der Abschnitt über das Trauerspiel ist in jeder Hinsicht der konservativste Abschnitt von Eschenburgs Poetik; hier gilt die Nachahmungsdoktrin in der Theorie noch uneingeschränkt, alles »Wunderbare« ist ausgeschlossen, Corneille und Racine erscheinen als Vorbilder neben Shakespeare und Lillo (S. iSjf., S. 192). Abgelehnt wird nur Seneca, das große Muster für die Tragödien des 17. Jahrhunderts (vgl. Schings 1971). Wie konservativ Eschenburg hier ist, wird deutlich an der Poetik von Meiners 1787, der sich sonst weitgehend auf Eschenburg stützt, beim Trauerspiel aber andere Wege geht (Ablehnung von Corneille als »unwahr« und »kalt«, Ablehnung der Verbindlichkeit der drei Einheiten, Zulassung reiner Verbrecherfiguren, Zulassung von Prosa etc.; vgl. Meiners 1787, S. 99ff.; Meiners ist dafür im Bereich des Romans, der nur in einem Anhang behandelt wird,
672
schränkende Kraft aber prägt es seinen gesamten Ansatz. Die neue Zentralkategorie der (rührenden) Wirkung bedarf der steten Eingrenzung durch den guten »Geschmack«, da sie in Konsequenz auf die völlige Auflösung des rationalistischen Systems hinausliefe. Vor dieser Konsequenz scheut Eschenburg wie fast alle empfindsamen Theoretiker zurück. Daß Eschenburgs Behandlung der Oper dennoch innerhalb der poetologischen Systemschriften seines Umfeldes zu den moderneren Einschätzungen 146 gezählt werden muß, zeigt das Beispiel des in vielen Punkten von ihm abhängigen Göttinger Professors Christoph Meiners. Meiners zeigt sich der »grossen Oper« gegenüber rationalistisch reserviert: Es gebe darin »vieles, womit sich Personen von durchdringendem Verstande niemals werden versöhnen können.« 147 Ironisch fügt er hinzu, daß man aus der Tatsache, daß es in Deutschland und England keine großen Librettisten gebe, keine »nachtheilige Vermuthung für den dichterischen Geist dieser Nationen ziehen könne.« 148 Anders aber wertet der Spätaufklärer Meiners die komische Oper: Sie sei »viel natürlicher, als die grosse Oper, und hat daher auch unter den aufgeklärtesten Nationen viel mehr Beyfall gefunden.«' 49 Speziell die »Teutschen« hätten hier (neben den Franzosen) die »grösten Meisterstücke hervorgebracht. [ ] Die Namen der Teutschen, Weisse, Michaelis, Gotter, Engel, Meißner, und Göthe brauchen Liebhabern der Teutschen Dicht=Kunst nicht erst genannt werden.«' 50 Hier wird (soweit ich sehen kann: erstmals) registriert, daß der mittel- und norddeutsche Singspieltyp mit rationalistischen Grundannahmen weitaus leichter vereinbar ist als die große Oper, sobald die einengende Vorstellung des »Unmoralischen« der komischen Formen wegfällt.
wesentlich rigider als Eschenburg, der ihn im Rhetorik-Kapitel zustimmend bespricht). In der Theaterpraxis hat eine derart ausgerichtete Tragödienform in den I77oer/I78oer Jahren längst ihre dominierende Rolle eingebüßt; dafür ist gerade die Starrheit der in der Theorie hochgehaltenen Gattung verantwortlich. In merkwürdig unverbundener Form setzt Eschenburg neben diese alten Axiome dann Elemente aus Lessings >Hamburgischer Dramaturgie« (Ablehnung völlig positiver oder völlig negativer Charaktere, Betonung des Mitleids etc.). Vom »heroischen« Trauerspiel trennt er dann (nach dem »äussern Rang« der Figuren) ein »bürgerliches Trauerspiel«. 146 Eschenburg hat im Übrigen keine Probleme, einerseits Singspiele zu übersetzen und zu verfassen, andererseits Shakespeare zu übersetzen und zu loben - dies zeigt seine Übergangsstellung wie seine Differenz zur Geniebewegung an; vgl. unten III.3). 147 Meiners 1787, S. 261. 148 Ebd. S. 262. I4i) Ebd. ' 5 ° Ebd. S. 263. 673
3- Wielands höfisierende Neukonzeption Mit der zunehmenden Einsicht in die Grenzen des rationalistischen Systems sind die poetologischen Probleme der Gattung Oper noch nicht gelöst. Es fehlt an einem neuen Code, der die Veränderungen in der Bestimmung von Mensch und Natur poetologisch neu fassen würde. Solange die neuen anthropologischen Bewertungen der menschlichen Empfindung sich nicht in der theoretischen Reflexion niederschlagen, solange kollidiert das Sinnlichkeitspotential der Oper in der Theorie mit der aufrechterhaltenen Gefühlsdefinition der rationalistischen (Früh-) Aufklärung.' 51 Vor allem fehlt bis in die lyyoer Jahre hinein außerhalb der komischen Opern ein deutsches Werk, das die theoretisch diskutierten Möglichkeiten der Oper in der Praxis erprobte. Diese Lücke füllt erst Wieland mit dem ihm eigenen Gespür für aktuelle Strömungen. Er verbindet in einem breit angelegten Vorstoß die praktische Realisation (>AlcesteDas Urtheil des Midas< attackiert. '53 Vgl. o. sowie z.B. Joachim Christoph Nemeitz: Vernünfftige Gedancken Über allerhand Historische/Critische und Moralische Materien. Teil 6, Frankfurt a. M. 1745, bes. S. iÖ2f.; Johann Elias Schlegel: Vorrede des Uebersetzers zu Der Ruhmredige [1745]. In: Ders.: Aesthetische und Dramaturgische Schriften, hg. v. Johann v. Antoniewicz. Stuttgart 1887, S. 163^ (vgl. Flaherty 1978, S. I38ff.) Eine direkte Argumentationslinie von diesen Schriften zu Wieland erscheint jedoch kaum wahrscheinlich. 674
wenn er die Nachahmungsdoktrin durch die Betonung der künstlerischen Fiktionalität ablehnt: Beym Singspiele treten Dichter, Komponist und Sänger vor uns hin, und sagen: >Wir wollen einen Versuch machen wie weit wir es vereinigt bringen können, euch eine interessante dramatische Fabel bis zum möglichsten Grade der Täuschung darzustellen. [ ] Der Mahler, der euch die Opferung der Ifigenia, auf ein Stück Leinwand gemahlt, in einem schön geschnitzten und vergoldeten Rahmen hinstellt, verlangt nicht, daß ihr glauben sollt, seine Ifigenia, sein Agamemnon, sein Kalchas, leben und athmen in vollem Ernst; ihm genüget vollkommen, wenn sie euch, trotz eurer Überzeugung daß sie nur gemalt sind, zu leben und zu athmen scheinen. Gesteht unsern zu eurem Vergnügen verbundenen Schwesterkünsten das nehmliche Recht zu. Wenn wir es in gewissen entscheidenden Augenblicken bis zur Täuschung eurer Fantasie bringen, euer Herz erschüttern, eure Augen mit Thränen erfüllen, — so haben wir was wir wollten, und verlangen nichts mehr. [ ]Alceste< und die flankierenden Aufsätze im >Deutschen MerkurDie AbderitenAlceste< als Musterwerk feiern. Dreßler hat wenig Mühe, Wielands Theorie (gegen dessen eigene Intention) mit dem »Patriotismus« des Klopstock-Kreises zu vermitteln: Ziel ist die Schaffung eines »vaterländischen« Musiktheaters. Dreßler übersetzt Wielands Theorie in ein nationales Erziehungsprogramm, das auf einer empfindsamen Anthropologie beruht. Er betont v. a. die sozialpädagogischen Wirkungen der musikalischen Formen: »Empfindungen ins Herz flößen«, »es öffnen, weich und sanfter Eindrücke fähig machen, unsern Geschmack bilden, daß wir fähig werden, das Gute, Schlechte und Mittelmäßige zu empfinden.« 184 Dreßler fordert wie Wieland die Unterstützung von oben;'85 dem deutschen Musiktheater fehle nicht die innere Substanz, sondern hauptsächlich »Allgemeiner patriotischer Fürsten Schutz«.186 Die Wanderbühnen werden dagegen wie bei Wieland als untauglich für niveauvolles Musiktheater angesehen. Nur die institutionelle Verankerung könne den Aufbau eines deutschen Musiktheaters ermöglichen, das den Ausländern gleichwertig sei. (Ähnlich argumentiert gleichzeitig auch der Mannheimer Georg Joseph Vogler.) Den Fürsten versucht Dreßler seine Vorschläge schmackhaft zu machen, indem er darauf verweist, daß stehende deut181 Ifi2
I8i
184 185
186
So z.B. bei Flaherty 1978, S. 280. Wielands Roman erschien ab 1774 im >MerkurÜberfremdung< der großen Höfe. Der Arie werden andere Formen an die Seite gestellt (Lied, Chanson), die ständisch-soziologisch gebunden werden (Reichardt). Uneinheitliche Haltung zum Rezitativ. 234 Neue Versuche, den »Nutzen« des Musiktheaters zu bestimmen, umfassen volkspädagogische Ziele (Verbreitung des gereinigten Lieds, Aufbau einer neuen geselligen Gesangskultur, Verdrängen »schmutziger« Volkskultur etc.).
Ebene 2: Dominante poetologische Parameter — Die Doktrin der Nachahmung einer apriorischen Natur verliert allmählich ihre zentrierende Funktion, der Zusammenhang von Naturnachahmung und sittlicher Funktion wird aufgelöst. - Neue Leitdoktrin wird die Wirkung von Kunst auf das menschliche Gefühl. Kunst soll nicht nachahmen oder belehren, sondern primär »rühren« und Gemeinschaft stiften. In der gemeinsamen Rührung durch die Kunst bestätigen sich die Rezipienten gegenseitig die Übereinstimmung zentraler Werte und Weltbilder. (»Sittlichkeit« und »Nutzen« von Kunst werden in der »Rührung« als sozialer Funktion gesehen.) — Das Fiktionalitätsbewußtsein erhöht sich in der Auseinandersetzung mit dem rationalistischen Mimesis-Postulat: Jede künstlerische Nachahmung ist gegenüber der empirischen Natur »unnatürlich«, muß aber dennoch als 233
234
Die Ausdifferenzierung »ernster« und »komischer« Gattungen geschieht z.T. nach dem Grad der dargestellten Empfindungen (vgl. Sulzer). Dies zeigt erneut den Primat der »Empfindung«. Vgl. Bauman 1981; Neumann 1962.
696
»natürlich« präsentiert werden, um die beabsichtigte Rührung zu erreichen. 2 " Diese Wirkung erfordert leichte Verständlichkeit und Übertragbarkeit von Kunst. Abgelehnt wird daher die verstandesbezogene Regelorientierung, dagegen bevorzugt ein Illusionstheater gefordert. Kunst soll auf die menschlichen Sinne zielen und spontane Rezeption ermöglichen. Die Aufwertung des Wirkungsaspekts von Kunst führt zur Aufwertung der »Empfindung« als wesentlicher Instanz der Rezeption (s.o.). Analog wird das »Vergnügen« an Kunst von einer potentiell unmoralischen zu einer sittlichen Kategorie umgewertet. Das »Vergnügen« bedarf keiner Regeln: Die normative (»kalte«) Regelpoetik wird zunehmend abgelehnt, ihre Systematisierung wirkt jedoch weiter.236 Die Regeln alleine garantieren nicht die geforderte Wirkung, sondern werden immer häufiger als Verhinderung von Vergnügen und Wirkung denunziert. Allenfalls das Zusammenspiel von Empfindung und Regelunterstützung wird toleriert. »Schönheit« wird von »Nutzen« etc. getrennt. Kategorien wie das »Neue«, »Überraschende« und »Unerwartete« werden legitimiert. Der »gute Geschmack« bleibt aber als Regulativ in Kraft, um die Wirkungsmöglichkeiten auf das erwünschte Maß zu begrenzen. Der Rezipient soll sich in das Kunstwerk versetzen können; die rationalistische Distanz von Produzent und Rezipient zum Kunstwerk verringert sich. Die menschliche Emotionalität wird grundsätzlich als allgemein gleich und universal konzipiert. Daher hat der »Kunstrichter« keinen Vorsprung mehr vor den »Laien«. Die Rolle wandelt sich von der regelgestützten Autorität zum egalitär-kollegialen Freund; wo er dies nicht tut, wird er als Pedant abgelehnt; in der Dichotomic »Kenner« vs. »Liebhaber« erhält der Liebhaber zunehmend den Vorrang.
Bei der poetologischen Diskussion um das Singspiel wird das Problem der Fiktionalität bewußt. Während die Oper als durchgehende Musikalisierung entweder ganz verworfen oder von vorneherein als Fiktionalität mit eigenen Gesetzen akzeptiert wird, bricht beim Singspiel der Konflikt zwischen »Fiktion« und »Realität« permanent intern auf. Durch die gesuchte Nähe zu den Lebenswelten und die Nähe zur Schauspieldramaturgie einerseits (vgl. o. II.i), die immer wieder einbrechende Musikalisierung mit ihren eigenen Gesetzen (Zeitverläufe) andererseits entsteht eine permanente Reibung von Fiktionalität und Realitätsimitation. So betont z.B. Eschenburg in der Einleitung seiner Theorie ausdrücklich, daß »die Regeln der Poetick nicht hinlänglich sind, einen Dichter zu bilden.« Allerdings benötige sowohl der Dichter sie dennoch »zur bessern, zweckmässigern Richtung seiner Talente, und der dadurch zu bewirkenden grössern Vollkommenheit seiner Gedichte« und ebenso der Rezipient »zur Gründlichkeit und Bestimmtheit seiner Urtheile« (Eschenburg 1783, S. 41). Vgl. ähnlich Sulzer 1792/94, Art. »Regeln, Kunstregeln«. 697
- Die poetologischen Debatten verbreitern sich in das öffentliche »Räsonnement« hinein durch neue Medien (Zeitschriften, Almanache, Rezensionen). - Es beginnt eine nationale und historische Differenzierung bei gleichzeitigem Weiterwirken universaler und überzeitlicher Ansprüche (Normierung und Universalität des »Gefühls«)· Ebene 3: Grundlegende Transformationen
Die Veränderungen der poetologischen Maximen wie der realen Gattungsentwicklung beruhen auf einigen Veränderungen grundlegender Annahmen: — Der Natur-Begriff verschiebt sich zu einer sinnlich wahrnehmbaren, empirisch gegebenen Natur statt einer apriorischen Ordnung, die nur über den Verstand erkannt werden kann. Sinnliche Wahrnehmungen werden nun als unabdingbare Voraussetzung der Verstandes-Operationen erkannt: Erkenntnis ist nicht ausschließlich durch logische Operationen möglich, sondern erfordert genaue Beobachtungen (Einfluß der empirisch vorgehenden Naturwissenschaften, z.B. Linne). Dadurch werden ältere statisch-überzeitliche Natur-Konzeptionen abgebaut; z.T. werden auch weitergehende dynamische Modelle vertreten (Möser). (Bei allen empirischen Zügen bleibt der empfindsame Natur-Begriff selbstverständlich ein kulturelles Konstrukt: Der englische Garten als Gebilde kunstvoller Kunstlosigkeit wird nicht zufällig zu einem Modell des empfindsamen Naturverständnisses und zu einem Lieblingsort empfindsamer Kunst.) — Analog werden bei der menschlichen »Natur« den »oberen Erkenntnisvermögen« zunehmend die »unteren« gleichwertig an die Seite gestellt. - Menschliche Emotionalität erscheint nicht mehr als Summe prinzipiell durch den Verstand erkennbarer, exakt bestimmbarer und beherrschbarer Affekte, sondern als Mischung verschiedener Gefühle. Trotz der Schwierigkeiten bei der Benennung und Trennung dieser »Empfindungen« gelten diese als grundsätzlich separierbar und werden durch klare Standardisierung, Normierung und Wertung eingegrenzt. - Daher sind die »Empfindungen« prinzipiell bei allen Menschen, die der eigenen Kultur angehören, gleich (symmetrisch reglementierter Gefühlsbegriff); man unterstellt eine bezüglich dieser Emotionalität einheitliche Menschheit bzw. Publikum (und erhebt damit eine Ideologie mittlerer Schichten zu einer reklamierten Allgemeingültigkeit). Die (inneren) Gefühle sind daher auch grundsätzlich vollständig kommunizierbar. - Sinnlichkeit und sinnliche Lust werden nicht mehr grundsätzlich negativ besetzt (als Gefährdung des Leitanspruchs des »Verstands«), aber von der abzulehnenden Form der »groben Wollust« (z.B. der barocken Oper) unterschieden. - Sinnlichkeit und menschliche Emotionalität werden zu einer Instanz von eigener Moralität aufgewertet: Der Mensch gilt von Natur aus als grundsätz698
lieh gut. Gefährlich dafür ist die kalte Verstellung höfischer Zweckrationalität, die als »Täuschung« oder »Verstellung« abgelehnt wird. Je »natürlicher« sich ein Mensch gibt, desto besser; je einfacher und »natürlicher« eine Kunstform, desto besser. Bevorzugte Kunstformen werden daher jetzt (neben der komischen Oper) der Briefroman, die Autobiographie, das Tagebuch. — Grundsätzlich wird die Identität von Gefühl und künstlerischem Ausdruck als möglich angesehen, wobei jedoch die Sprache z.T. als unzulänglich und der (strategischen) Täuschung unterworfen erscheint. Dagegen wird der nonverbale Code der Musik aufgewertet: Die Musik stellt die eigentliche, unverfälschte »Sprache der Leidenschaften« dar (Rousseau, Wieland, Dreßler). Jede rhetorisch geprägte oder gar ironische Sprachverwendung wird dagegen abgelehnt, weil sie die angenommene Identität unterläuft. Die höfisch-aristokratische Redeweise, wie sie sich in den Klugheitslehren und »Ceremoniell«-Schriften kodifiziert hatte, wird daher ebenso zum Feindbild wie ein politisch-strategisches Denken. (Die großen Höfe erscheinen nicht als politisches Feindbild, sondern als Ort einer abweichenden Interaktionsmoral, die aus Sicht der empfindsamen Autoren nur als Ort des sittlichen Verderbens dargestellt werden kann. 237 ) Für diese Transformation, die ich im folgenden als »empfindsame« bezeichne, gilt ähnliches wie für die oben dargestellte der Frühaufklärung. Die neue Instanz, die die Diskussion zentriert, die »Empfindungen«, ist bereits in den älteren Poetiken verankert, besonders in der sensualistischen Richtung des französischen Klassizismus (DuBos etc., auch bei Batteux)238 und deren deutscher Rezeption (z.B. bei Krause).239 Diese Kategorie wird jetzt poetologisch aus ihrer Latenz befreit und zum neuen Zentralaxiom, dem offenbar höhere Erklärungskraft als der (zunehmend mißverstandenen) Mimesis-Doktrin zugeschrieben werden konnte. Zugleich führt die empfindsame Transformation einige der rationalistischen Axiome unverändert fort, während andere ausgetauscht oder verändert werden. Dies erzeugt interne Spannungen, die in einer zweiten Transformationsstufe abgearbeitet werden. Noch während sich die empfindsame Poetik gegen die rationalistische breit durchsetzt, vollzieht sich an ihrer Basis eine neue Umwertung leitender Axiome. 237 238
239
Vgl. dazu allg. Wegmann 1984, S. 6off. Dort sind die Empfindungen jedoch grundsätzlich der hierarchischen Wertung durch die Vernunft untergeordnet: Musik soll Empfindungen und Leidenschaften ausdrükken und solche Gefühle im Rezipienten erwecken, die es wert sind, nachempfunden zu werden. Krauses Übergangsposition zwischen rationalistischen und empfindsamen Positionen zeigt sich in seiner Forderung, Musik solle nicht nur »malen«, sondern auch »rühren«. Cowart 1984, S. 259, betont die Bedeutung von DuBos' sensualistischer Theorie für Krause und Nicolai. 699
3· »Individualität«. Radikalisierungen und Aporien der empfindsamen Position
Das ungelöste interne Problem der empfindsamen Theorien ist das konfliktträchtige Doppelgebot von Empfindung und Sozialitätsgebot. Nur die relative Flachheit der »Empfindungen« ermöglicht das Funktionieren des empfindsamen Codes.1 In dem Augenblick jedoch, in dem die Empfindungen aus dieser Flachheit zum Maßstab der »Individualität« aufgewertet und vertieft werden, geraten sie zwangsläufig mit dem Sozialitätsgebot in Konflikt; das empfindsame Denksystem wird fragwürdig. In den ryyoer Jahren radikalisiert daher eine Reihe jüngerer Autoren die Konsequenzen, die sich aus den empfindsamen Transformationen der rationalistischen Poetik ergeben. Diese Autoren stehen zwar in einigen Punkten in gemeinsamer Abwehrhaltung mit den »Empfindsamen« gegen die weiterwirkenden rationalistischen Doktrinen, problematisieren aber bereits Teile der empfindsamen Doktrinen. Das betrifft v. a. diejenigen Teile der empfindsamen Poetik, die ältere Axiome konstant halten, aber auch Beschränkungen innerhalb des empfindsamen Diskurses. Die neuen Doktrinen, die sich um Zentralbegriffe wie (Exklusions-)»Individualität« und »Originalgenie« anlagern und ausbilden, entbinden latente Potentiale der Empfindsamkeit, indem sie deren zentrale Prämissen problematisieren. Die neuen Positionen sind zwar eindeutig minoritär, zentrieren aber die Debatte. Eigentlich lösen erst sie den latenten Konflikt rationalistischer und empfindsamer Haltungen aus; die Radikalisierung der Empfindsamkeit durch die »Original-Genies« erzeugt von rationalistischer Seite aus nun die Kritik an der »Empfindelei«. 2 Der Geniekult läßt rationalistische und empfindsame Positionen auseinanderbrechen, nachdem zuvor (besonders in den i75oer Jahren) zunächst häufig versucht wurde, die empfindsamen Positionen innerhalb rationalistischer Rahmen, als Ergänzung, nicht als Gegensatz, zu formulieren. Der Geniekult erzeugt in erster Linie Probleme für die empfindsamen Theoretiker selbst. Von zwei Seiten aus kommen die empfindsamen Doktrinen unter Druck: seitens des Geniekults, der in der Zuspitzung empfindsamer Axiome deren Aporien aufzeigt, wie seitens einiger Rationalisten, die die EmpfindsaWegmann 1984, S. 54ff. Vgl. Sauder 1973/1980 und Wegmann 1984. Zum Genie-Begriff im 18. Jahrhundert vgl. allg. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. Darmstadt 2i988, Bd. i. 700
men als Wegbereiter des fatalen Genie-Irrwegs brandmarken. Daraus resultiert ein bemerkenswertes Schwanken empfindsamer Autoren und Theoretiker: Sollen sie nun die Geniebewegung unterstützen (wie z.B. Hiller oder z.T. Reichardt) oder eher den weitergeführten rationalistischen Grundpostulaten treu bleiben (Nicolai, Eschenburg, z.T. Engel)? Die neuen »Radikal-Empfindsamen« werden daher teilweise vereint von rationalistischer wie von empfindsamer Seite attackiert; andere empfindsame Theoretiker lehnen zwar die Radikalisierungen der Genies ab, verteidigen sie aber dennoch gegen die Angriffe der rationalistischen Kritik. 3 Dies alles zeigt deutlich, daß die Radikalisierungsversuche, obzwar minoritär, kein Randphänomen darstellen, sondern zum Zentrum der theoretischen Debatte über Kunst werden. Das Hauptproblem, das die Geniebewegung aufwirft, ist dabei, wie sich die nun exklusiv konzipierte und radikalisierte Individualität der Empfindungen zum Sozialitätsgebot der Empfindsamkeit verhält. Darin ist eine Erfahrung des Scheiterns verarbeitet: Da sich die Funktionsmechanismen der Gesellschaft nicht den empfindsamen Imperativen fügen, bricht ein zunehmender Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft auf, der der frühen Empfindsamkeit noch fremd war und von ihren Theoretikern nicht zugelassen wurde. Die exklusive Individualität löst die Eingrenzungen der empfindsamen Gefühlsgemeinschaft auf: Das Individuum erfährt seine Identität jetzt nicht mehr im geselligen Kreis standardisierter, empfindsamer Freundschaften, sondern gerade in der subjektiven Differenz, im Rückzug aus der »kalten« Gesellschaft, ihren Ansprüchen und Regularitäten. (Die »Kälte« der gesellschaftlichen Zweckrationalität aber wird erst erzeugt durch den empfindsamen Rückzug aus der Theorie der Gesellschaft — von der Empfindsamkeit selbst, die alles strategischpolitische Denken als »kalt« verpönt.) Die fortschreitende gesellschaftliche Ausdifferenzierung führt dazu, daß die fiktive Gemeinschaft der Empfindsamen zerbricht in elitäre Individuen, die ihre Individualität jetzt am besten in der Abkehr von allen Formen sozialen Lebens erfüllen können. Der Geniekult zieht Linien fort, die bereits im empfindsamen Denksystem angelegt sind. Die eingegrenzten »Empfindungen« werden zu subjektiv-exklusiven »Leidenschaften« radikalisiert, die Wirkung von Kunst von der »Rührung« zur »Erschütterung«. Zum Hauptproblem der Kunsttheorie wird so die Frage, wie diese Radikalisierungen sich mit den tradierten Normen und Funktionen von Kunst vertragen. Der Geniekult radikalisiert das Potential, das die empfindsame Schwerpunktverlagerung von der Mimesis auf die Wirkung von Kunst latent enthält, das aber wegen sozialer und moralischer Restriktionen von den empfindsamen Theoretikern nicht ausgelotet wurde. Gefordert wird die nicht mehr auflösbare, schlagartig überwältigende Wirkung von Kunst und
Vgl. dazu Wegmann 1984; Titzmann 1990, S. 157. 701
die individuelle, nicht mehr gemeinsame, möglichst totale Empfindung. In seinen >Anmerkungen übers Theater< betont J. M. R. Lenz 1774: - so viel ist gewiß, daß unsere Seele von ganzem Herzen wünscht, weder successiv zu erkennen, noch zu wollen. Wir möchten mit einem Blick durch die innerste Natur aller Wesen dringen, mit einer Empfindung alle Wonne, die in der Natur ist, aufnehmen und mit uns vereinigen.4 [ ] Daher sehen sich die heutigen Aristoteliker, die bloß Leidenschaften ohne Charakteren malen, [ ] genötigt, eine gewisse Psychologie für alle ihre handelnden Personen anzunehmen [ ]. Große Philosophen mögen diese Herren immer sein, große allgemeine Menschenkenntnis, Gesetze der menschlichen Seele Kenntnis, aber wo bleibt die individuelle^
Dagegen setzt Lenz das neue Grundprinzip, »die Mannigfaltigkeit der Charaktere und Psychologien«/' Die Forderung nach Individualität destruiert potentiell alle Sozialitätsgebote der empfindsamen Poetologie. Die individuelle Empfindung hat zugleich einen neuen Totalitätsanspruch: Das Genie versteht sich als Stellvertreter einer Natürlichkeit, die der kalte und stumpfe Rest der Gesellschaft durch die Sozialitätszwänge verloren hat. Zu den Gegnern des neuen Stils ernennt Lenz folgerichtig die Gemeinschaft »des ganzen feinern Publikums«. 7 Im Bereich des Musiktheaters treffen die Originalgenies auf eine gegenüber der frühen Empfindsamkeit völlig veränderte Situation. Während die deutschen Musiktheaterformen in der Empfindsamkeit erst als neue Gattung aufgebaut und etabliert werden und so zum weitgehend positiv begriffenen Signum des eigenen Diskurses werden können, steht den Genies nun eine in der Theaterpraxis etablierte Form gegenüber: das Singspiel. Diese Gattung ist gerade eng mit den Axiomen der älteren Empfindsamkeit korreliert (Rührung, Sinnlichkeit mit moralischer Funktion der Gemeinschaftsstiftung, Affirmation gemeinsamer Werte und Gefühle) und wird daher von der Geniebewegung weitgehend ausgespart oder als lächerlich abqualifiziert. Im >Pandaemonium Germanicum< von Lenz, das in Form einer dramatischen Skizze eine polemische Diskussion über das Theater führt, erscheint C. F. Weiße als ein lächerlicher, undeutschfranzösisch geprägter Höfling: WEISSE. Belieben Sie nur ein Pröbgen einer ändern Art. Nimmt den Hut untern Arm und trippelt auf den Zehen. Mais mon Dieu — ah ah ah - im Soubrettenton Vous etes un sot animal, Monsieur, voyez mes larmes.8
L·s /armes, die Tränen der Empfindsamkeit, sind veraltet und lächerlich, sozial geprägter Code statt individueller Wahrheit: Weiße spricht »mit feiner Stimme wie unter der Maske«. Er wird dann in der folgenden Szene von den wahren 4 5
6 7
8
Lenz 1774, S. 433. Ebd. S. 438 (Hervorhebungen von Lenz). Vgl. allg. Schmidt (wie Anm. 2), S. i68ff., der die Stelle als direkt gegen Lessing gerichtet deutet. Lenz 1774, S. 446. Ebd. S. 435. Szene II 5; Lenz 1992, S. 176.
702
Genies vertrieben: Lessing, Klopstock, Herder und Shakespeare. Als ein erstes >Massenphänoment
1777 betont der Theaterprinzipal Großmann beim Gesuch um Spielerlaubnis in Frankfurt a. M., seine Truppe sei imstande, »die besten Trauer-, Schau- und Lustspiele sowie grosse Singestücke mit Hülfe der feinsten Dekorationen, grosser Maschinen und schneller Veränderungen des Theaters aufs Beste darstellen zu können.« (Zit. n. Mentzel 1887, S. 342) Die plakativ betonten Maschinen und der schnelle Kulissenwechsel waren bis zur Jahrhundertmitte noch ausschließliches Kennzeichen der italienischen Hofopern, werden dann aber von den Wanderbühnen, den Trägern des deutschen Singspiels übernommen. Vgl. allg. a. Maurer-Schmoock 1982. Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (MA 1.2, S. 250). Bei den meisten der jungen Autoren enthält die Forderung nach »Individualität« zugleich die Tendenz zu 705
i. Individuelle Leidenschaft und sozial geregelte »Empfindung«; Nachahmung und »Ausdruck« Die Mimesis-Doktrin bleibt ein topisches Element der Diskussion über Musiktheater, verliert aber in den lyyoer Jahren endgültig ihre diskursbestimmende Funktion.' 9 Neben die empfindsame Leitdoktrin der Wiedergabe gemeinsamer »Empfindungen« tritt nun ihre Radikalisierung zum individuell-exklusiven »Ausdruck der Leidenschaften«. In der Begrifflichkeit vollzieht sich die Abkehr vom »Affekt« über die »vermischten Empfindungen« (z. B. bei Moses Mendelssohn) zum »Ausdruck der Leidenschaften« und ähnlichen Formulierungen. 20 Die wirkungsästhetische Wende der empfindsamen Theoretiker wird radikalisiert: Man fordert nun maximale Wirkung, d.h. in erster Linie nicht mehr sanfte »Rührung«, sondern »Erschütterung« und die empathische Übertragung von Leidenschaften. Nicht mehr die gemeinsame, normierte Empfindung, sondern die möglichst intensive individuelle Erschütterung wird zum Ziel der Kunstproduktion erklärt. Dafür taugt nun die rationalistische Regelpoetik immer weniger; sie wird ab den lyyoer Jahren explizit als Hemmnis begriffen. 21
19
20
21
privilegierten Ansprüchen des außergewöhnlichen Subjekts. Nur wo diese verweigert werden, erfolgt die Revolte (z. B. im typischen Kampf gegen den älteren Bruder, der die privilegierte Rolle besetzt). Bei Kraus heißt es: »Jezt, wo alles selbst Dichter, Musiker und Maler ist, wo alles drüber theoreit, noch im Ernste der Musik die Ehre anthun wollen, sie unter die darstellenden Künste aufzunehmen, ist eine Sache, die nun keines Dankes mehr wert ist.« (Kraus 1778, S. 3) Dagegen bleiben spätrationalistische Theoretiker noch bis ins frühe 19. Jahrhundert beim Begriff des »Affekts« und der in ihm enthaltenen Vorstellung der Differenzierbarkeit und Trennbarkeit. Hier ist eine häufig zu beobachtende Verspätung vieler Theoretiker erkennbar, die sich bevorzugt »horizontal« auf die ältere Theoriebildung beziehen, was zur Konstanz älterer Axiome führt, die in der Gattungspraxis ebenso wie in der Anthropologie z.T. längst ihre Gültigkeit verloren haben. Dieser ältere, mechanistische Affektbegriffist z.B. weiter wirksam bei Karl Heinrich Heydenreich (System der Ästhetik, Leipzig 1790) oder bei Heinrich Christoph Koch (Musikalisches Lexikon, Frankfurt 1802, Art. »Leidenschaft, Affekt«), wo es heißt: »Der Ausdruck leidenschaftlicher Empfindungen ist der Hauptgegenstand der Tonkunst. [ ] Die Lehre von den Affecten [ ] scheint bey dem ersten Anblicke so vielumfassend und verwickelt, die Menge der einzelnen leidenschaftlichen Seelenbewegungen so groß und unübersehbar, daß [man glaubt,] [ ] sich hier in einer endlosen Gegend zu befinden. [ ] Allein bey einem fortgesetzten Nachdenken wird man gar bald gewahr, daß [ ] sich dennoch eine kleine Anzahl einfacher Affecten bestimmen und beschreiben lasse, von denen die meisten vorkommenden bloße Mischungen sind, und auf welche die Theorie der gesammten Leidenschaften, als auf sichern Grund gebauet werden kann.« Auch der eher rationalistisch geprägte junge Reichardt lehnt schon 1774 das Lernen durch Nachahmung am Beispiel von Hillers Verhältnis zu Hasse und Graun ab: »Das mehreste also, was er von beyden annahm, raubte er ihnen nicht, sondern es wurde durch die schon entwickelten Begriffe jener Männer, nur aus seiner Seele, als dunkle,
706
Hatte die Empfindsamkeit bei der Frage nach den konkreten Regularitäten eines Librettos noch in doppelter Weise rationalistische Axiome fortgeführt (über die Bindung an die Dramaturgie des Sprechtheaters und über die Vorbildfigur der metastasianischen Seria), so wird auch das Libretto jetzt umkonzipiert zum spontanen und direkten Ausdruck der selbstempfundenen Leidenschaften seines Autors, deren Wahrheit gerade durch die Abkehr von »steifer« und »frostiger« Regelhaftigkeit verbürgt werde. Dies findet sich nicht nur bei den Autoren, die der Geniebewegung nahestehen, sondern auch bei empfindsamen Autoren. Die Löschung der MimesisDoktrin ist einer der Punkte, wo Empfindsame und Geniebewegung in den i77oer Jahren an einem Strang ziehen. So lehnt Reichardt schon 1774 das gesamte zur Verfügung stehende Arsenal der älteren Poetik-Traktate für den Libretristen ab, obwohl er nicht im Umkreis der Geniebewegung steht: Ueberhaupc also spare der musikalische Dichter all die überflüßigen, unbestimmt leidenschaftlichen, witzigen und lehrreichen Verse, und überhebe sich der zwangvollen Zeilenzahl, der pompösen vielsylbigen Worte, und - das Lied ausgenommen — wo er ihm nicht als von selbst kommt, auch des Reims: gebe dem Tonkünstler nur in hochleidenschaftlichen Situazionen, bestimmte Momente der Leidenschaft in natürlich darstellenden, akzentvollen Worten mit bedeutenden harmonischem Versbau, gereimt oder ungereimt.2''
Auch die Reste einer handwerklichen Gattungspoetik, die z.B. Rezitativtext von Arientext trennte, werden hier im Namen der »Empfindung« und des »Herzens« getilgt: Die literarischen Differenzen der Formteile werden gelöscht. Die zunehmend verabsolutierte Zentral-Doktrin von der Kunst als Erregung der Leidenschaften hat zur Folge, daß intern wie extern die formale Differenzierung der Gattungen verfällt; nicht nur bei Reichardt, sondern ähnlich bei Schink, 23 Gerstenberg oder Herder. Der Antityp, gegen den sich Reichardts Anmerkungen richten, ist Metastasio (s. u.). Ihn lehnt er — unter Bezug auf vorgeblich >anthropologische< Grund-
22 2i
verworrene Begriffe, die in ihr schon lagen, hervorgerufen und klar gemacht. So, glaube ich, ist das Studium jedes Genie's beschaffen [ ]; und der Mann, der ein Genie leitete, kann hernach zu diesem nicht sagen: ich bin dein Lehrmeister; — das sage er nur dem, der sein Nachahmer bleibt.« (Reichardt 1774, S. ijf.) Reichardt 1782, S. 163. »Der Dichter und der Componist sey der Leidenschaft voll, die er schildern will, lasse sich von ihr begeistern; und diese Begeisterung wird ihm gerade das leidenschaftlichste Silbenmaß, den leidenschaftlichsten Ton eingeben, den er braucht, ohne daß er nöthig hat nachzusehen, ob auch Metastasio dies Silbenmaß gebraucht habe. Wenn Sprache der Leidenschaft in dem Text herrscht; so ist Ein Silbenmaß so singbar als das Andre []« (Schink in Schusky (Hg.) 1980, S. 77; vgl. ähnlich Schink: Über das musikalische Duodrama, mit oder ohne Gesang. In: Theater-Kalender Gotha 1778, S. 60-69, bes. S. 66). 707
lagen - als Muster für deutsche Dichter ab, denn Italiener und Deutsche unterschieden sich durch die »Leidenschaft«: Der kältere nachsinnende Deutsche wird nur durch Ueberzeugung in die Leidenschaft andrer versetzt, für ihn kann sich der Dichter so leicht nicht des wahren Ganges der Leidenschaft und der genauen Darlegung ihrer Moriven überheben. Daher entstehen mehr Exposizionsszenen, linderer Gang der Leidenschaft. Ist aber die Leidenschaft einmal in ihm rege gemacht, dann gräbt sie sich desto tiefer bey ihm ein, dann verweilt er williger bey ihr, und hat da nur Seufzer und Thränen, wo der Italiäner schon wieder Bravo und Händegeklatsch bereit hat.24
Aus der empfindsamen Anthropologie soll hier die Begründung nationaler Differenzen hergeleitet werden. Ihr Geltungsanspruch überdeckt auch die Frage, wie es denn mit den deutschen Oberschichten und ihrer Pflege der italienischen Oper aussehe. Dieser Aspekt interessiert Reichardt jedoch nicht; sein Hauptinteresse gilt der Entwicklung einer eigenständigen deutschen Librettistik, die sich zunächst aus einer blinden Metastasio-Nachfolge lösen müsse. Das Vorbild Metastasio wird ersetzt von einer Genie-Ideologie: selbst die Italiener begännen zu fühlen, »sie müssen ihren Metastasio, trotz aller seiner äußern Schönheit verbrennen, um wieder Raum zu freyen Genieaufflug zu gewinnen. Junge genievolle Komponisten bearbeiten auch schon lieber die rauheste Poesie, die ihnen nun mehr freye Bahn giebt; und die besten neuern iraliänischen Komponisten bearbeiten deshalb lieber und glücklicher die komische Oper als die heroische.«25 Es erscheint mir keineswegs zufällig, daß sich Reichardt im gleichen Zusammenhang auf ein Vorbild bezieht, das mit der zeitgenössischen Theaterpraxis fast nichts gemeinsam hat: »Klopstock ist hierinn das vollkommenste Muster, und vorzüglich hiedurch der größte musikalische Dichter für wahre Musik. Freylich ist diese wenig für unser Theater und Theaterpublikum anzuwenden.« 26 Auch Hiller läßt jetzt ähnliche Entwicklungen erkennen und rückt 1781 entschieden von seinem früheren Bezugspunkt Batteux ab: Wäre die Musik, nach der Meynung des Batteux, eine nachahmende Kunst; [ ] so würde man leicht ihrer Wirkung auf die Spur kommen können [ ]. [ ] Eine armselige Kunst würde sie seyn, wenn sie uns nichts, als solche frostige Tonbilder darstellen wollte. Und wie unbedeutend, wie eingeschränkt wäre unser Vergnügen, wenn wir in allen Concerten nur Meere brausen, Bäche murmeln, Winde pfeifen und Nachtigal24 25
26
Reichardt 1782, S. 162. Ebd. S. 163. (Noch 1774 war Reichardts Urteil noch wesentlich moderater ausgefallen; vgl. Reichardt 1774, S. ic>7ff.) Die Kritik des Theoretikers Reichardt hinderte den Komponisten Reichardt nicht, nach zahlreichen Jugendvertonungen von Metastasio-Texten noch 1791 mit >UOlimpiade< ein komplettes Metastasio-Libretto zu verronen. Ebd., Hervorhebungen von Reichardt. Auch Sulzer stellt Klopstock als Vorbild für den Librettisten hin (Sulzer 1792/94, Bd. 3, S. 578f.) und läßt die eigentlich dramaturgische Ebene aus.
708
len singen hörten! Auch zugegeben, daß sie die Sprache der Leidenschaften sey, so läuft man doch damit noch Gefahr, einen wahren Grundsatz falsch anzuwenden, und ihren Wirkungskreis in zu enge Gränzen einzuschließen; wenn man, z.E. so wie Batteux, für jede Leidenschaft einen gewissen natürlichen Ton, wodurch sie sich kenntlich machen soll, annimmt, und diesen der Musik, als das Muster der Nachahmung aufdringen will. [ ] Selbst die Vereinigung der Poesie mit der Musik kann dieser letztern nachtheilig werden, wenn man ihr, als einer selbständigen Sprache der Leidenschaften, nicht gleiche Rechte mit jener einräumen, sondern sie zu einer blos nachtretenden Magd erniedrigen will. 27
Hiller löst sich hier von der möglichst exakten Fixierung der Musik durch die Sprache, wie sie bislang von den meisten Theoretikern, auch von Hiller selbst, gefordert wurde. Musik wird im Anschluß an Chabanon zur »selbständigen Sprache der Leidenschaften« mit »eigene[r] Metaphysik«.28 (Chabanon ordnet daher die Instrumentalmusik ausdrücklich der Vokalmusik über und sucht nach ihren Eigengesetzlichkeiten.29) Demgegenüber wird der Vorrang des Verstands und der Regelpoetik, die Hiller 1754 in seiner frühen Abhandlung noch unangetastet gelassen hatte, nun explizit verworfen. An ihre Stelle tritt jetzt das instinkthaft schaffende Genie: Die, die sie [die schönen Künste] zuerst erfanden und mit Glück ausübten, wurden von einem innern Gefühle geleitet, wovon sie selbst keine ändern, als dunkle Begriffe hatten. Sie gehorchten dem Triebe des Genies, eines Genies, das man den Instinct zu großen Dingen nennen kann. Nie sind die Regeln eher entstanden als die Beyspiele; die Vernunft hat auch nie dem Genie voraus gesagt, was es machen soll. Dieses arbeitet blos unter der Leitung des Gefühls. 30
Jeder Anschein des künstlich-kunstvoll Hergestellten verfällt daher dem Verdikt. Die neue Kunstkonzeption soll den unmittelbaren Ausdruck individueller, ungeregelter Gefühle gewährleisten; diese Unmittelbarkeit aber setzt die Abkehr von aller offenen Artifizialität voraus. Alle normierende, künstlerische Überformung wird zugunsten einer unverfälschten »Natur« abgelehnt.31 Dabei 27
Hiller 1781, Vorrede an J. G. Naumann, S. 3 ff. Bei dieser Schrift handelt es sich um eine kommentierte Übersetzung der Musikästhetik von Michel de Chabanon [Paris 1779], der gezielt die Nachahmungspoetik zu widerlegen versucht, was Hiller in seinen Kommentaren fortsetzt.
2i!
Hiller 1781, Einleitung S. XIV. Vgl. z.B. Hiller 1781, S. 58, S. 68. Hiller 1781, Vorrede, S. if.
29 30 31
Selbst Autoren, die nicht der Geniebewegung zuzurechnen sind, zeigen den Einfluß dieser Axiome, z.B. J. J. Eschenburg, der über die Kunst des Schauspielers ausführt: »Die Kunst [ ] ist dann am vollkommensten, wenn sie am wenigsten Kunst, sondern leichte, durch sich selbst thätige Natur zu seyn scheint.« (Eschenburg 1783, S. 178) Dagegen verteidigen Spätaufklärer wie Forkel die kulturelle Formung von »Natur«: »[ ] sieht man nicht täglich, daß die Natur ohne Wartung und Pflege nichts hervorbringt, als Dornen und Disteln, wo bey gehöriger Sorgfalt Blumen und Früchte zu ziehen sind? Sollte denn die Tonkunst unter allen übrigen Geschenken der Natur allein kein Recht auf die Sorgfalt unseres Geistes haben, um eben so wie jene aus 709
radikalisieren die Genies auch den »Natur«-Begriff: Er gibt nun nicht mehr eine ursprünglich gute und sinnvolle Ordnung der Empfindsamen wieder, die es gegen die verdorbene höfisch-taktische Welt der Höfe wiederzufinden gelte, sondern erscheint unter dem Einfluß Rousseaus als kulturkritische Ursprünglichkeit, die das ungeregelte Gefühl gegenüber der standardisierten »Empfindung« legitimiert. Dem steht allerdings das gleichzeitige Ziel möglichst starker Wirkung entgegen, für das nun die Theorie des Erhabenen wichtig wird und aus ihrer poetologischen Latenz entfaltet wird. 32 Für die angestrebte Wirkung und den Eindruck der Erhabenheit benötigt der Künstler wiederum bestimmte künstlerische Strategien, die er als solche aber nicht explizieren darf. Die diskrepanten Axiome von »Erhabenheit« und »Natürlichkeit« führen zu einer spezifischen Kunst der Kunstlosigkeit, einer Rhetorik der Rhetoriktilgung. Nicht mehr die offene Artifizialität eines Werks bestimmt seinen Wert, sondern seine Fähigkeit, Leidenschaften zu übertragen.33 Ähnlich heißt es 1781 bei dem bayerischen Benediktiner Joachim Schuhbauer: Die besten Theatermelodien scheinen mir vorzüglich jene zu seyn, welche das Ansehen haben, als hätte sie der Tonsetzer von wahrer Empfindung des Textes beseelt ganz ohne ängstliche Gewissenshaftigkeit hingeschrieben; welche sich gleichsam von selbst ohne Zuthun der Kunst forthelfen, und nicht allein die Ohren kützeln, sondern in das Herz ertönen; die immer mehr Leidenschaft für die handelnden Personen, als Bewunderung für den Künstler erregen [ ].34
32
33
34
ihrer natürlichen Wildheit herausgerissen, gepflegt, veredelt und verschönert zu werden?« (J. N. Fprkel: Von der Theorie der Musik in so fern sie Liebehabern und Kennern nothwendig und nützlich ist. In: Cramer (Hg.) 1783/1786, Jg. i Bd. 2, S. 857^). Vgl. zur poetologischen Diskussion über das »Erhabene« im früheren 18. Jahrhundert Zelle 1987; Verweyen (Hg.) 1995; W. Strube: Der Begriff des Erhabenen in der deutschsprachigen Ästhetik des 18. Jahrhunderts. In: Lothar Kreimendahl (Hg.): Aufklärung und Skepsis. Stuttgart/Bad Cannstatt 1995, S. 272 — 302. »[Hartknopf] verstand die Kunst, durch die Musik auf die Leidenschaften zu wirken — darum trug er immer seine Flöte bei sich in der Tasche - und durch unablässige Uebung hatte er es so weit gebracht, daß er oft durch ein paar Griffe, die er, wie von ohngefähr that, aufgebrachte Gemüther besänftigen, Bekümmerte aufrichten, und den Verzagten neue Hoffnung einflößen konnte. Es war weiter nichts künstliches bei der Sache, als daß der gewählte Ton grade eingreifen mußte, wo er sollte. — Und denn war es oft eine sehr simple Kadenz, oder Tonfall, welche die wunderbare Wirkung hervorbrachten. [ ] Das höchste in der Musik liegt in der Kenntniß ihrer einfachsten Elemente.« (Karl Philipp Moritz: Andreas Hartknopf. Berlin 1786, Repr. Stuttgart 1968, S. 13 iff.) - Die Idee einer Rhetorik der Rhetoriktilgung findet sich schon bei Charles Avison entwickelt, der als Ziel der Leidenschaftsübertragung der Musik vorschlägt, »an unaffected Strain of Nature and Simplicity« gerade durch den bewußten Einsatz künstlerischer Mittel hervorzurufen ( 2 i753 [wie u. Anm. 143], 2. Tl., 3. Abschnitt). Schuhbauer 1781, S. 231.
710
Der neuen Genieästhetik zufolge entsteht die beste Musik »gleichsam von selbst«; faktisch aber definiert sie sich jetzt ex negative: durch das Unterlassen und Verleugnen all dessen, was bisher musikalische Wirkung verbürgte. Der regelorientierten »alten steifen, frostigen Theoriegravität« und »dem buntscheckichten Harlekinsgenius der neuern auswärtigen Komponisten« 55 stellt Schuhbauer seine betont »deutsche« Konzeption entgegen, die »Leidenschaft« an die Stelle regelorientierter Kunst setzt. Regelgeleitete Vernunft könne argumentieren und beweisen, aber nicht rühren; dies könnten am besten Musik und Mimik, »die eigentliche Sprache der Empfindungen, und die deutlichsten Organe des Herzens und der Seele«.36 Eine derartige Poetik kann kaum mehr handwerkliche Orientierung vermitteln, führt aber nun unter neuer Zentralprämisse die Polemik gegen die italienische Opera seria fort. Deren Artifizialität wird nun nicht mehr als fehlende Mimesis gerügt, sondern als mangelnde »Empfindung«: Sie ist »frostig«, der »deutschen« Art der Empfindung nicht adäquat. Typische Formen wie die Dacapo-Arie (die z.B. noch von Wieland aufrechterhalten wurde) verfallen dem Verdikt: Der Ausdruck erkaltet manchmal über die [ ] unnöthigen Wiederholungen einzelner Motive [ ]; wie viel edle Wärme muß er erst verlieren, wenn man beynahe das Ganze wiederholt, und den Schlag der Empfindung nicht, weil es die Natur der Sache so fodert, sondern weil es ein altes Herkommen so befiehlt, unnatürlich ins Lange dehnt? Jeder gut musikalische Ausdruck legt sich schon das erstemal so stark ins Herz der Zuhörer, daß er nichts weniger als einer Wiederholung bedarf, welche [ ] die erregte Empfindung wieder herabstimmt, die Illusion verräth, mehr Kälte als Gefühl verbreitet[],"
Neben diesen Punkten, an denen Empfindsame und Geniekultier gemeinsam gegen die älteren rationalistischen Vorstellungen angehen, setzen sich die jungen Originalgenies jedoch in anderen Feldern entschieden von den empfindsamen Axiomen ab, was sich meist durch polemische Attacken auf deren führende Repräsentanten abspielt. Durch die neue Leitdoktrin vom unverstellten und direkten Ausdruck möglichst individueller Leidenschaften werden einige der Grundannahmen der vorausgehenden Empfindsamkeit zum Problem. Besonders die Normierung und Standardisierung der »Empfindungen« wird als eng und starr begriffen und durch den Ausdruck möglichst individualistischer, d.h. eben gerade nicht mehr gemeinschaftsstiftender Leidenschaften ersetzt. 35
Ebd. S. 232. »Tonleere Worte, so wie sie ohne Empfindung in der Vernunft entstehen, erklären unsere Gedanken immer ganz ohne Leidenschaft; sie wirken mit Unterricht und Beweisen auf den Verstand; aber gewinnen, rühren, und überreden werden sie, wenn man sich nicht wenigst die gehörigen Töne dazu einbildet, nimmermehr. Die Töne sind, wie die Gebärden, die eigentliche Sprache der Empfindungen, und die deutlichsten Organe des Herzens und der Seele. In Tönen und Gebärden verstehen sich, wie in einer gemeinsamen Sprache, alle Nationen der Welt.« (Schuhbauer 1781, S. I79f.) " Schuhbauer 1781, S. 234^ 36
Diese neuen subjektiven Leidenschaften sind nicht mehr separierbare Affekte oder bestimmbare Empfindungen. Dies betont z.B. der junge J. M. Kraus: »Sachen, die ihrer Mannichfaltigkeit wegen in aller Welt sich nicht bestimmen lassen können, auch nur in so weit, als wir gekommen sind, genau in so ein Tabellchen zu bringen? [ ] als wäre Dreschen und Komponiren einerlei. [] Rezeptchen für Leidenschaften!«38 Rezeptionsorgan ist für Kraus nur noch das »Herz«: Packt nun die Theoretiker alle, vor und von Kircher angefangen, Fux, Rameau und die übrigen inclusive bis auf unsern lieben Kirnberger und Marburg, die fürn Kopf schrieben, zusammen, und transport!« sie, wenn ihr wollt, nach Amerika oder Griechenland [ ]. Mit denen also [ ] sind wir fertig.39
Die Theoretiker, die »eine Tonkunst, wie ein — Kochbuch« schreiben und »mit einem raisonirenden Werkchen unterm Arm, das ganz mit Quintessenzen von Regeln fürs Gefül angefüllt ist, [ ] in Apolls Tempel tappen«,40 dienen nur noch zur Zielscheibe einer Polemik, in der sich das neue Denken konstituiert. Damit entfallen das Mimesis-Postulat ebenso wie die empfindsamen Reformversuche (z. B. des jungen Reichardt). Bei der »großen Oper« betont Kraus: Musik muß die Sprache der Leidenschaften seyn — hier am meisten. Es gibt keine Leidenschaft in der Welt, die sich in dem Menschen singend äussert — Natur kann also hier nicht nachgeahmt werden im eigentlichen Verstande, sondern die ganze Wirkung, die Poesie mit Musik auf uns machen kann, beruht darauf, daß sie so stark ist, uns das Unnatürliche vergessen zu machen.4'
Am »leichtesten und gewissesten« aber lasse man sich »vom Wunderbaren, wenn es uns interessant gemacht wird«, täuschen.42 Dies führt erneut zur Abgrenzung von der metastasianischen Opera seria: »Ich verwerfe aus diesem Grund alle blos historische Opern als widernatürlich.« 43 Die Betonung der Wirkung führt Kraus auch zu einem sehr schlicht gedachten Verhältnis von Dichter und Komponist, das alle möglichen Probleme unter dem Primat der Wirkung negiert: »Denn — ein wahrer Dichter und ein wahrer Musiker ver-
38
Kraus 1778, S. 22. w Ebd. S. 13. 40 Ebd. S. i 3 f. 41 Ebd. S. 23f. 42 Ebd. S. 24. 43 Ebd. S. 25. Explizit als abzulehnende historische Opernhelden werden Cato und Cäsar genannt: Der negative Bezug auf Metastasio ist deutlich. Später vertont Kraus jedoch selbstverständlich auch Metastasio-Texte. Mir scheint es nicht unbedingt nötig, diese Werke als reine Handwerksübungen rechtfertigen zu wollen (wie Lühning in Riedel (Hg.) 1987); Kraus war immerhin inzwischen Hofkapellmeister in Stockholm geworden und somit Teil eines internationalen Systems, zu dem Metastasio wesentlich gehörte (vgl. a. o. Anm. 25). 712
stehn sich - sie haben einerlei Anlage und Gabe zu einerlei Entzweck, Leidenschaften auszudrücken.« 44 Die Aufwertung der Wirkung führt zu einer weiteren Verschiebung gegenüber der empfindsamen Doktrin. War dort die Musik gegenüber dem Text zwar aufgewertet, aber dennoch grundsätzlich untergeordnet konzipiert worden, so wertet Kraus nun den Text definitiv gegenüber der Musik ab: »Wird der Zuhörer weichherzig, so hat die eigentliche Poesie so viel Antheil daran, als Malerei — mehr nicht! [ ] Freilich kann Musik nicht nur eine schon bestimmte Leidenschaft, sondern auch den Uebergang von einer zur ändern schildern. Gehören aber hiezu Worte, die unter Musik gelegt sind? Thut dies die Poesie?«45 Entscheidendes Medium der Leidenschaften wird die Musik: »Weil der Dichter nur von Leidenschaft seine Personen sprechen läßt — beim Musiker aber die Leidenschaft selbst reden muß []«. 46 Hier formuliert Kraus ein typisches Axiom der späten lyyoer Jahre, das z.B. auch in zahlreichen Romanen dieser Zeit begegnet:47 die Musik als reine Sprache der Leidenschaften. Sie strömt aus dem Herzen des Komponisten und übertrifft an Intensität und Authentizität allen gesprochenen Text; sie gilt als individueller Selbstausdruck einer Person und löst sich zunehmend von konkreten >InhaltenAlceste< (1767). Sowohl Gluck wie Kraus knüpfen dabei an ältere Debatten aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts an; vgl. dazu Bittmann 1991, S. i79ff. 713
undramatische, illusionsstörende Haltung, die »Unnatürlichkeit« der Textwiederholungen und der langen Koloraturen (vgl, seine Parodie der Herkules-Arie in Wielands >AlcesteAlceste< so selbstverständlich, daß er das Rezitativ in seinen Schriften über das Werk überhaupt nicht thematisierte). Kraus kritisiert auch die »buntschäckigten Balletten«: »Verderben sie nicht alle mögliche Wirkung, die sie in ihrem Gange gewaltsam unterbrechen?« 52 Der einzige deutsche Autor, der nach Kraus die Forderungen der Leidenschaft für eine deutsche Oper erfüllen könnte, ist wieder einmal Klopstock; neben ihm allenfalls noch die jungen Stürmer wie Maler Müller oder F.v. Stolberg.53 Die vorhandenen deutschen Werke (z.B. »Wieland, Göthe, Gotter, Weise, Jakobi usw.«) verfallen erbarmungslos und undifferenziert dem Verdikt. Sie sind für Kraus allesamt Belege der abzulehnenden, kraftlosen Empfindsamkeit: »Kennt ihr sie und habt bei Günthern von Schwarzburg, bei Waldern gefült - wäret ihr mit der Jagd — mit Milton und Elmire zufrieden — verlangt euer Herz nichts weiter: so dankt Gott, daß er euch ein Herz gegeben hat, das so leicht zu befriedigen ist - Ihr bleibt gesund dabei, denn Natura paucis contenta.«54 Diese Polemik gegen die aktuellen Werke wird von den ausführlichen und heftigen Angriffen auf Wielands >Alceste< verstärkt; die gesamte Schrift von Kraus zielt so über die Auseinandersetzung mit älteren rationalistischen Positionen hinaus zentral auf die aktuellen Konzeptionen der Empfindsamkeit. Der Hauptkritikpunkt an Wielands >AlcesteWalderMilton und ElmireAlcesteNatürlichen< mit der ästhetischen Praxis kollidiert, wird sogar bei Sulzer erkennbar, für den die Kastratenstimme einerseits die ästhetisch vollkommenste Stimme darstellt, andererseits unnatürlich und daher abzulehnen ist: »Die Stimme der Castraten, zu geschweigen, daß sie durch grausame und die Menschheit schändende Mittel erzwungen wird, und selten geräth, verbindet, wenn sie auch am vollkommensten ist, mit ihrer Annehmlichkeit doch so viel unnatürliches, daß sie mit einer schönen weiblichen Stimme nicht in Vergleichung zu ziehen ist.« (Art. »Stimme« in Sulzer 1792/94 Bd. 4, S. 463) Vgl. allg. Bittmann 1991, S. 235ff. Vgl. etwa die Zeichnung der Opernsängerin bei Reichardt 1779. Später wird die Verbindung von Opernsängerin und Unmoral nahezu topisch; vgl. Theilacker 1987. In seiner Selbstanalyse seiner deutschen Operette >Der Kaufmann von Smyrna< geht Vogler stets vom jeweiligen Grundaffekt und den textgegebenen Bildern aus und zeigt die musikalischen Entsprechungen auf. Ähnlich verfährt später etwa noch Wilhelm Heinse in seinem Roman >Hildegard von Hohenthal< (1795/96). In den Werkanalysen, aus denen ein großer Teil des Romans besteht, geht Heinse wie Vogler von den jeweils grundlegenden Affektkomplexen des Textes aus; die Musik wird dann lediglich als >Übersetzung< dieser Affekte verstanden; vgl. Reichardts Bewertung des Romans in seiner Schrift >Über Hildegard von Hohenthal< (Berlin 1797). Es ist daher signifikant und in der bisherigen Forschung völlig übersehen worden, daß das Ziel, auf das der Roman zuläuft, die Oper, die Lockmann komponiert und die von Hildegard zum Erfolg geführt wird, ein reales Libretto hat: Metastasios >Achille in SciroKaufmann von Smyrna< und Voglers Selbstanalyse dazu; vgl. dazu Betzwieser 1991 und allg. Veit 1987, S. 329f. Dafür spricht auch, daß Vogler in diesen Punkten N. Jommelli als sein Vorbild nennt. »Die Opernmusik muß den äussersten Grad der Empfindung erreichen, sie muß die Herzen zu menschenfreundlichen Theilnehmungen stimmen, den Geist gegen alles Unrecht in Harnisch bringen, [ ] und im ganzen muß doch viel Gesang, viel leichtfliessendes herrschen um die Ohren zu ergötzen.« (Vogler: Art. »Ergötzen« in: Deutsche Encyclopädie [wie Anm. 77], Bd. VIII, S. 741) Vogler: Art. »Entwurf«. Ebd. S. 482. Vogler 1778-81, Bd. 1,8.305. 721
plan, der das ganze Werk zu einer Einheit umklammern würde. Entsprechend kritisiert Vogler auch die spätere >RosamundeRosamundeGeschichte der Abderiten« den »eingebildeten Kenner« — er »zwingt sich zu lachen, wo Leute, die sich ihrem natürlichen Gefühl überlassen, Thränen im Auge haben, und, wo diese lachen, die Nase zu rümpfen []« (SW 19, S. 353 ff.). Vgl. Kraus 1778, S. 91; ähnlich z.B. Schuhbauer 1781, S. I70f. Lenz 1774, S. 441; vgl. a. sein >Pandaemonium Germanicum< (1775, Szene I 3; Lenz 1992, S. l o ^ f . ) . Cramer 1783/1786 Jg. II H. 2, S. 1060. Der bei Cramer abgedruckte Text wird von Schusky (Hg.) 1980, S. 69, als »anonyme Besprechung von Mozarts >Entführung< (1786)« bezeichnet. Der Autor läßt sich jedoch durchaus namhaft machen: Der Text stammt von J. F. Schink, in dessen >Dramaturgischen Fragmenten< (Graz 1782) sich die Rezension (lediglich in anderer, eigenwilliger Orthographie) findet; s.o. II.6. 723
sehe Kenntnisse erscheinen als unnötig, ja störend; zum entscheidenden Organ der Kunst- und Welterkenntnis überhaupt wird das eigene individuelle »Herz«: »Wenn Componist und Sänger so mit vereinten Kräften arbeiten, den wahren Zweck der Musik zu erfüllen: so muß auch unser Herz dadurch intereßirt werden, und wo die Kunst unser Herz intereßirt, da ist auch ihr Eindruck dauernd und bleibend.«95 Das »Herz« aber steht jetzt in Opposition zum regelgeleiteten, kalten »Verstand«: »Auch schätzt er meinen Verstand und meine Talente mehr als dies Herz, das doch mein einziger Stolz ist, das ganz allein die Quelle von allem ist, aller Kraft, aller Seligkeit und allen Elendes. Ach, was ich weiß, kann jeder wissen — mein Herz habe ich allein.«96 Diese Entwicklung, die Polemik gegen die Kunstrichter und die Abkehr von der Regelpoetik, mit der auch alle gattungsspezifischen Differenzierungen potentiell dem Argwohn verfallen, wird von den spätrationalistisch geprägten Gegnern der Genie-Ästhetik heftig bekämpft. Sie sehen gerade in diesen poetologischen Differenzierungen die Entsprechung zur sozialen Differenzierung. Aufklärer wie Nicolai oder Möser bleiben bei aller Kritik dem System differenzierter Stände verbunden. Auch deshalb verteidigt Nicolai die ständegebundene Form der Opera seria und polemisiert z. B. gegen den neuen Volkslied-Kult der jüngeren Autoren. Das Volkslied wird von den jüngeren Autoren im Rückgriff auf Rousseau zu einem neuen Paradigma einer »natürlichen«, nicht durch steife Kunstregeln verdorbenen Kunst aufgewertet.97 Für die Genies ersetzt das Volkslied als ästhetisches Modell das Kunstlied mit seiner empfindsamen Gemeinschaftsstiftung vom Modell Weißes. Gegen diesen Kult veröffentlicht Nicolai 1777 anonym eine Sammlung barockisierender »Volckslieder«,98 mit
95 96 97
98
Eine Gegenposition zur Abwertung des Kenners vertritt Chabanon 1779 (dt. Hiller 1781), der die Probleme der >unwissenden< Menge bei der Beurteilung von Kunst deutlich macht: »Noch ein andrer Umstand hilft das Urtheil der Unwissenden verdächtig zu machen; und dieser ist, daß sie selten blos nach ihrem Gefühl urtheilen. [ ] Sie haben aus dem Munde der Kunstverständigen einige Worte aufgehascht, wissen aber mit der Anwendung derselben sich nicht recht zu helfen. Ich habe solch schlecht abgerichtete Papagoyen gesehen, welche den Reichthum der Harmonie an einer Musik lobten, wenn sie immer nackt und blos auf ein paar Akkorden herumkroch.« (Hiller 1781, S. 197) Schink in: Gramer 1783/1786 Jg. II H. 2, S. 1061. Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. MA 1.2, S. 259. Konkrete Bedeutung erlangen die Volkslieder im Bereich des Singspiels zunächst bei Goethe, besonders in der >Fischerinn< (1781), die u.a. vier Balladen nach Vorlagen aus der Volksliedersammlung Herders gestaltet, darunter den >Erlkönigs aber eytel Mummerey mit den Kerlen, 's sind doch Versemacher.« 99 Konkrete Angriffsziele sind Herder100 und Bürger, deren Volksliedtheoreme in spöttischer Weise als haltlose Übertreibungen gezeigt werden. Nicolai legt den Finger auf die Wunde der Kunst der Kunstlosigkeit: Wer wie Herder oder Bürger ein »Volkslied« neu dichtet, verbirgt nur, daß er als »Versemacher« eben doch nach poetologischen Kriterien vorgeht. Das neue Volkslied der Genies ist genauso ein Kunstprodukt wie die von diesen attackierte ältere Verskunst. Das Interesse für ursprünglich-»natürliche« Volks-Kunst wird von »Seuberlich«-Nicolai als Modeerscheinung abgewertet; ihr hält er nun eine Sammlung von Liedern entgegen, die alles andere als poetisch sind. Sie gehören nach Nicolai in das Volk und seine Lebenspraxis, wo sie tradiert werden und in konkreten Zusammenhängen stehen. Dagegen müsse der Autor seine Differenz zu dieser Kulturschicht erkennen und seiner eigenen treu bleiben: »Entweder bleibt furnembe vnndt gelarte Leutte, dychtet vnndt schreybt denn in Gottes=Namen, für furnembe vnndt gelarte Leutt, wi sichs geburt; oder werdet Handwerckspurschen vnndt Kesselflicker, sonst könnt ir für Handwerckspurschen vnndt Kesselflicker fast nicht schreyben vnndt dychten.« 10 ' Wahre Kunst dagegen könne nicht »wie'n Piltz aus feuchtem Balcken, vngeseet vnndt vnverlangt, aus innerem Drang hervorschwellen.« Sie ist ein »edles Hand-
99
100
101
mück ann der Elbe. Erster Jahrgang. Berlynn vnndc Stettynn verlegts Friedrich Nicolai 1777 (Ndr., hg. v. Johannes Bolte, Weimar 1918). Der fiktive Bänkelsänger Wunderlich, der in der Vorrede in Anspielung auf Hans Sachs als »eyn gewaltiger Meystersenger« bezeichnet wird, ist einerseits ein Deckname für G. W. Steinacker, Musiklehrer an Basedows Philanthropinum in Dessau, andererseits eine polemische Anspielung auf G. A. Bürger, der 1776 im > Deutschen Museum< einen Beitrag zur Volksdichtung mit dem Titel >Aus Daniel Wunderlichs Buch< veröffentlicht hatte; vgl. Schwab 1965, S. I20f. und Winkler 1991, S. ii7ff. Bürger hatte behauptet, die großen Epen Homers seien ursprünglich Volksgesänge gewesen, wogegen Nicolai in seiner Vorrede polemisiert. Lessing wie Herder kritisierten Nicolais Almanach scharf. — An Nicolais Almanach arbeirete auch Reichardt mit, der 22 der 64 Lieder-Melodien beisteuerte; vgl. Winkler 1991, S. ii9ff. (Wie geschickt er dabei den Volkston kopierte, zeigt sich daran, daß die Vermischung >echter< alter Melodien mit neukomponierten im 19. Jahrhundert nicht mehr erkannt wurde; Johannes Brahms hielt den gesamten Almanach für ein echtes Volksprodukt und nahm einige der Melodien in seine »Deutschen Volkslieder« auf.) Ebd. S. i i . Die zitierte Stelle über die »Wurfe vnndt Sprunge« wendet sich direkt gegen Herders Aufsatz >Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker< (entstanden 1771, veröffentlicht 1773 in >Von Deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blatten). Wie Anm. 98, S. 20. 725
werk« — die keineswegs zufällig gewählte barocke Einkleidung entspricht einem noch ganz in barocken Traditionen stehenden Dichtungsbegriff.102 Nicolai legt damit die Crux einer Kunst der Kunstlosigkeit bloß. Während die jungen Autoren der Geniebewegung den Eindruck des unmittelbaren und unreflektierten Gefühlsausdrucks durch gezielte Verstöße gegen pragmatische und syntaktische Sprachregeln und durch einen gesuchten Unterschicht-Code erzeugen, ironisiert Nicolai die Künstlichkeit dieses Vorgehens, das durch die realen Unterschichten (»Handwerckspurschen vnndt Kesselflicker«) gar nicht dechiffrierbar ist. Auch in ihrer angeblichen Rhetoriktilgung bleiben die Genies »Versemacher«, statt wie behauptet »natürliche« Gefühle unverfälscht auszudrücken.
4. Musiktheater und »Bildung eines Nationalcharacters« Die rationalistischen Theorien mit ihren universalen und ahistorischen Grundannahmen differenzieren Kunst kaum national, sondern verstehen grundsätzlich die gesamte europäische Tradition als Einheit. Der ahistorische Vernunft-Begriff der Frühaufklärung wird zunehmend durch die Erkenntnis der Differenz der historischen Phänomene gebrochen. Mit der Reduktion des verstandesbezogenen Universalismus kommt es in der zweiten Jahrhunderthälfte zum Ausdifferenzieren nationaler Kulturvorstellungen. In dem Moment, wo der apriorische Naturbegriff der Frühaufklärung zu einem empirisch-sensualistischen sich wandelt, erscheint plötzlich auch das auf jenem beruhende Regeldrama als »unnatürlich«; diese Unnatürlichkeit aber wird nun häufig national bezogen: Das frühaufklärerische Regeldrama erscheint jetzt nicht nur als »unnatürlich«, sondern als »undeutsch« und französisch.103 Ähnliches spielt sich im Bereich des Musiktheaters ab. Zahlreiche Theoretiker fragen schon in der späten Empfindsamkeit nach dem Zusammenhang von Musiktheater und der Bildung eines Nationalcharakters. Hatte Gottsched noch eine deutsche Oper als Hindernis für den Aufbau einer deutschen Theaterkultur von europäischem Niveau angesehen, so zielen einige Autoren (Wieland, Dreßler) auf die institutionelle Verankerung einer spezifisch deutschen Opernform, die die kulturelle deutsche 102
101
Bei Harsdörffer heißt es etwa: »Einen Zahnbrecher/ einen Taschenspieler/ einen Gaukkler/ einen Pritschemeister und Spruchsprecher kan er [der >büffelhirnige< Pöbel, J. K.] verstehen/ und mit Belieben anhören/ aber ein rechtes poetisches Gedicht/ gehöret nicht für den gemeinen Pövel/ sondern für Gelehrte und mehr verständige Leute.« (Georg Philipp Harsdörffer: Gespreechsspiele Sechster Theil. Nürnberg 1646, Cassandra S. 43) Vgl. z.B. Lessings Polemiken im 17. Literaturbrief und in der Hamburgischen Dramaturgie; vgl. a. Engel 1786, der davon spricht, das Versdrama mache »sein Glück nur noch an Deutschlands undeutschen Höfen, aber schwerlich in Deutschland.« (Tl. 2, S. 79)
7 26
Eigenständigkeit auch auf diesem, von Ausländern beherrschten Gebiet dokumentieren sollte. V.a. die italienische Opera seria an den deutschen Fürstenhöfen wird dabei vom bewunderten und nachgeahmten Vorbild zum Feindbild, weniger wegen ihrer höfischen Funktion als wegen ihrer angeblichen nationalen Andersartigkeit. I04 Die Geniebewegung führt diese Ansätze fort. Besonders Metastasio wird jetzt vom bewunderten Muster (z.B. bei Schiebeier, Eschenburg, Hiller,105 Weiße, Meißner, Sulzer, Herder u.a.) zum abgelehnten, »undeutschen« Antityp (Reichardt, Lenz, Schink). Die neuen Leitbilder wie Gluck oder Klopstock müssen v.a. eine Eigenschaft haben - deutsch zu sein. Zugleich verschärft sich die Kritik an denjenigen deutschen Komponisten, die als Hofkomponisten weiterhin hauptsächlich italienische Seria-Opern schreiben. Die Begeisterung für Gluck bildet schon früher eine Trennlinie der Argumentationen — und eine der großen Präfigurationen der Genieepoche. Schon in der Empfindsamkeit fraktionieren sich die Opernverteidiger anhand der Beurteilung Glucks zwischen den Anhängern seiner Opern (z.B. Hiller, Wieland, Goethe) und den konservativen Verteidigern der älteren italienischen Seria-Oper (samt deren sozialen Implikationen), etwa J. F. Agricola. Nicht nur der preußische Hochader06 spricht gegen Gluck, auch manche aus dem Lager der bürgerlichen Aufklärer wie Friedrich Nicolai, der ein großer Verfechter der älteren italieni104
105
106
Dahinter stehen eminente sozialgeschichtliche Probleme, die aber von den Theoretikern nur selten benannt werden: Die Polemik gegen die italienische Oper richtet sich in erster Linie gegen die hochbezahlten ausländischen Konkurrenten der deutschen Autoren an den großen Höfen (vgl. Meyer 19803, S. 128, sowie Maurer-Schmoock 1982 und Schleuning 1984). Hiller betont noch 1786, »wie edel, wie groß, wie erhaben, welch ein Lehrer der Tugend, der Treue, des Gehorsams, der Vaterlandsliebe [sie! J. K.], der Pflichten jedes Standes« Metastasio sei (Hiller 1786, S. 21; nicht zufällig entsteht Hillers MetastasioBuch jedoch in seiner Zeit als Herzoglich Kurländischer Kapellmeister, nicht in seiner Leipziger Zeit). Geradezu antithetisch zur Kritik der Genies an Metastasio behauptet Hiller: »Man kann ihn unmöglich lesen, oder auf dem Theater seine Tragödien vorstellen sehen, ohne von der Leidenschaft hingerissen zu werden, die er erregen will.« (Ebd. S. 148) Außerdem betont er »die Deutlichkeit und Kürze seines Dialogs« (S. 154), während doch gerade das angeblich Weitschweifige und Unnatürliche gerade der Rezitative stets von den Metastasio-Kritikern hervorgehoben wird. Reichardt berichtet aus seinem Anstellungsgespräch als Hofkapellmeister bei Friedrich II. Ende 1775: »Der König ließ mich aber nicht ausreden, sondern fiel mit den heftigsten Ausdrücken und Schimpfworten sehr hart über Gluck her, der gar keinen Gesang habe und nichts vom großen Operngenre verstehe usw. Er duldete darüber auch wenig Widerspruch []« (zit. n. Fischer-Dieskau 1992, 8.90). Die preußische Prinzessin Anna Amalia kritisiert noch 1785 in einem Brief an den Komponisten J. A. P. Schulz: »Der Herr Gluck nach meinem Sinne, wird nimmermehr für einen habilen Mann in der Composition passiren können. Er hat i. gar keine Invention, 2. eine schlechte elende Melodie und 3. gar keinen Accent, keine Expression, es gleicht sich alles. Weit entfernt von Graun und Hasse [ ]. Hingegen findet er mehr Vergnü-
727
sehen Seria-Oper blieb und für den Gluck in die Irre ging, der in Paris im Umkreis der Enzyclopädisten lebende Friedrich Melchior Grimm 107 oder der spätrationalistisch orientierte Johann Nikolaus Forkel.108 Dies sind jeweils Autoren, die sich dann nicht der neuen Originalgenie-Bewegung anschließen oder sie direkt bekämpfen. Mit Gluck orientieren sich die Genies jedoch an einem höfischen Künstler, der bei allen Reformansätzen letztlich das alte klassizistische System unangetastet läßt — und der eben gerade keine deutschen »Original«-Werke schuf. Nach dem Siebenjährigen Krieg zeigt sich im gesamten deutschen Bereich eine Welle des »Patriotismus«, die sich als »eine neue Form sozialen Verhaltens in den deutschen Bildungsschichten« 109 durchsetzt. Die Betonung des »Deutschen« hat dabei noch keinen eindeutigen (etwa nationalistischen) Gehalt,110 sondern bündelt im Wesentlichen vier verschiedene Bedeutungen: deutsch als Sprache eines gemeinsamen Kulturraums (zu dem etwa auch die deutschsprachige Schweiz gezählt wird); deutsch als Abgrenzung vom Romanischen auch synonym mit »germanisch« (Ossian oder Shakespeare erscheinen dementsprechend als deutsch oder zumindest als verwandt); sozial als Signum des Volks und »altdeutscher« Traditionen gegen die international ausgerichtete (Hoch)Aristokratie (z.B. manifest in der Kleidung); politisch als zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehörig.1" Gerade die Unscharfe dieser Bedeutungsvielfalt ermöglicht den breiten Erfolg »patriotischer« Gedanken um 1770; derselbe Begriff konnte von den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen unterschiedlich gefüllt werden. (Aus dieser sehr differenten Gemengelage konstruieren die Literaturgeschichten des 19. und 20. Jahrhunderts dann eine nationale Bewegung, was der historischen Situation des 18. Jahrhunderts in keiner Weise entspricht. 112 )
107
108
109
110 111 112
gen an Transposition. Sie ist nicht ganz zu verwerfen, denn wenn ein Takt oft wiederholt wird, behält ihn der Zuhörer desto leichter, es scheint aber auch, als wenn es Mangel der Gedanken wäre. Endlich und überhaupt ist die ganz Oper [>Iphigenie en TaurideDer Kaufmann von Smyrna< ein (im Umfeld relativ singuläres) Gegenstück zur französischen Operacomique mit italienisch beeinflußter Musik; vgl. dazu Betzwieser 1991. 114 Fingal und Komala. Eine große deutsche Oper. In: Reichardt 1782, S. 165f. 115 Scheibe 1749; vgl. Rez. von C. G. Krause in: Marpurg (Hg.) 1754/78, Bd. I, 2. Stück [1754], S. 93-141. 116 Klopstocks »Bardiete« wie >Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne< (1769) sind ausdrücklich nicht als »Lesedramen« gedacht, sondern enthalten zahlreiche Hinweise für Gestik, Tanz, Instrumentalmusik und nonverbale Elemente (vgl. Flaherty 1978, S. 242ff). Zum antimimetischen Ansatz Klopstocks vgl. Gerstenbergs Rezension von >Hermanns Schlacht< in det Hamburgischen Neuen Zeitung 1769. Auch die erhaltenen Chöre Glucks zeigen seine Suche nach einer neuen, antimimetischen musikalischen Sprache. 729
Der (relativ) umfassendste theoretische Entwurf aus dem Klopstock-Kreis stammt von H. W. v. Gerstenberg (1770) und macht schon im Titel seine polemische Absicht deutlich: »Schlechte Einrichtung des Italienischen Singgedichts. Warum ahmen Deutsche sie nach?« 1 ' 7 Der Aufsatz zeigt deutlich, wie die Suche nach einer kulturellen deutschen Nationalidentität Hand in Hand geht mit der Neudefinition des Musiktheaters als Forum der Sinnlichkeit. Gerstenberg polemisiert gegen die italienische Seria-Oper vor allem deshalb, weil sie seiner Grunddefinition des Musiktheaters (»Singgedichts«) widerspricht, nach der »die Natur des Gesanges darin bestehe, daß er die Worte, deren er sich als Zeichen bedient, in Tongemälde der Empfindung verwandelt.«118 Das aber leiste die hochartifizielle Form der italienischen Aria gerade nicht. Doch auch die Form des Rezitativs verstößt für Gerstenberg gegen die grundsätzlichen Bedingungen eines »Singgedichts«: Eine »Deklamation« von Texten, die »ihre Worte nur als Zeichen und nicht als solche Gemälde vorträgt«, 119 dürfe nicht gesungen werden. Daher sei die italienische Oper mit ihrer Mischung aus Arie und Rezitativ eine Unform, ein »widersinniges und geschmackloses Ganze«. 120 Wo aber liegen die Möglichkeiten eines spezifisch deutschen Musiktheaters, wenn die bisher unbezweifelt als höchste Form geltende Opera seria nicht nachgeahmt werden soll? Gerstenberg rekurriert zunächst auf rationalistische Axiome und visiert eine neue Form der Tragödie an, die durch die Musik in ihrer Wirkung gesteigert werden solle. 121 Der rein rationale Gehalt von Wörtern übertrage sich nicht von selbst auf die »Seele«; dazu sei die sinnliche Unterstützung durch andere Codes nötig, z.B. der »Ton der nämlichen Worte, Accent, Modulation; [ ] die Mine, mit der ich sie ausspreche: [ ] So wird aus Worten, aus Resultaten, das Tongemälde der Empfindungen, das Resultirende«. 122 Diese Betonung der erhöhten Wirkung durch Multimedialität ist eine der Signaturen der neuen Geniedoktrinen. 123 Eine Form dieser sinnli117
Gerstenberg 1770. Gerstenberg nahm den Aufsatz 1815 unverändert in seine »Vermischten Schriften« (Altona 1815, 3. Bd.) auf, änderte aber den Titel zu >Über Rezitativ und Arie in der italienischen Singkomposition< und gab eine Ergänzung unter dem Titel >Schreiben eines Freundes, durch den vorstehenden Aufsatz veranlaßt^ bei. Zu Gerstenberg vgl. a. Flaherty 1978, S. 249, sowie allg. Klaus Gerth: Studien zu Gerstenbergs Poetik. Ein Beitrag zur Umschichtung der ästhetischen und poetischen Grundbegriffe im 18. Jahrhundert. Göttingen 1960 (Palaestra 231). 118 Gerstenberg 1770, S. 116. "' Ebd. 120 Ebd. S. 134. 121 Ebd. S. 119. Musik versteht Gerstenberg dabei acomistisch als Reihung von Einzeltönen; die Töne wiederum könne man »als Bilder brauchen, woran wir die Empfindungen, die in dem Herzen eines anderen vorgehen, symbolisch erkennen«. Die Töne bilden für Gerstenberg einen semiotischen Code, der sich von der Semiotik der Wörter unterscheidet und es ermöglicht, die Leidenschaften nonverbal zu übertragen. 122
Ebd. S. I2if.
13J
Ebd.
730
S. 122.
eben Unterstützung ist für Gerstenberg das »natürliche Singen«; Zwischenformen zwischen Arie und Rezitativ wie Arioso und Accompagnato-Rezitativ empfiehlt er daher stärkerer Beachtung. 124 Wenn das Singen aber zur eigenständigen Kunstform des »Gesangs« wird, überformt dessen Kunstcharakter durch seinen eigenen semiotischen Code wiederum jene natürliche Übertragung der »Empfindungen« 125 und ist daher abzulehnen. Gerstenberg versucht so, die Axiome der »Natürlichkeit« und die spezifische »Kunst der Kunstlosigkeit« der Geniezeit auf die Formen der Oper zu übertragen. Damit verfällt besonders die Darstellung musikalischer Virtuosität in Form der italienischen Koloraturarien dem Verdikt. Sie verstoßen gegen die grundsätzliche Bestimmung als »Tongemälde der Empfindung«, bei dem die Worte »zugleich als Zeichen vollkommen deutlich, und als Gemälde vollkommen empfindbar« sein sollten. 126 Die Lösung erhofft sich Gerstenberg von einem rezitierenden, syllabischen Gesangsstil, den er aus dem Trauerspiel der griechischen Antike herzuleiten versucht. 127 Gerstenberg sucht nach einer textzentrierten Dramenform, die durch die unterstützende Funktion der Musik höhere »Empfindung« ermöglicht als die klassizistische Tragödie. Die Hoffnungen, die Gerstenberg auf die Oper richtet, entspringen einem Defizit der vorhandenen Sprechtheaterformen: Welch ein Werk könnte die Oper seyn! welch ein Werk, wenn man sich gleich Anfangs um die Franzosen und Italiener, und ihre alten Madrigale, und ihre gothischen Begriffe unbekümmert gelassen hätte! welch ein Werk, wenn man noch itzt die eigenthümliche Welt der Oper, (ich meyne hier weder Götter, noch Feen, noch Sylphen, noch Zaubrer, ich meyne die Welt einer edlen und der Gottheit würdigen Imagination), so zu nutzen versuchte, als schon das blosse Ideal derselben die brüderlichen Genien der Dichtkunst und der Tonkunst dazu einladet. 128
Die sinnliche Übertragung der Leidenschaften durch die Musik stellt sich Gerstenberg durchaus in älteren Traditionen vor, indem er die Musik auf das »Malen« bestimmter Inhalte festzulegen versucht. 129 Dem dagegen opponierenden Potential der Musik als eigenständigem Code begegnet Gerstenberg mit unverhohlenem Mißtrauen: »Keiner Kunst sind feste Schranken, welche man [ ] nie überschreiten sollte, so nothwendig, als der Musik. Die Musik hat [ ] so eine 124
125
126
127
I2fi 129
Damit beschreibt er im Grunde indirekt die Haupttechniken des wenige Jahre später in Deutschland so verbreiteten Melodrams. »Das Singen drückt den Zustand unsers Herzens aus, und drückt ihn auch nicht aus; es drückt ihn aus, als Singen, und drückt ihn nicht aus, als Gesang.« Ebd. S. 122. Ebd. S. 129. Wo, »wie in den Trauerspielen der Alten, nicht der Gesang, sondern die Recitation den Ton des Werks bestimmt«. (Ebd. S. 133) Ebd. S. 136. An derartige Überlegung knüpft Sulzer an, s.o. Dies wird auch aus seiner Polemik gegen den »galanten« Stil deutlich, gegen den er sich im Bewußtsein des Unzeitgemäßen auf Händel und dessen »unmelodischen Eigensinne« beruft; vgl. ebd. S. 135. 731
Menge von Mitteln, die alle, wenn man nicht beständig Rücksicht auf die Bestimmung der Kunst nimmt, so leicht kleine Hauptzwecke werden können!« 130 Hier zeigt sich seine Verankerung in den älteren Axiomen deutlich. Daher ist für Gerstenberg konsequent der Aufstieg der Instrumentalmusik ein Element des Verfalls, weil sich hier die musikalischen Mittel »gar zu zweydeutig« verselbständigen, ohne an präzisierbare Codes gebunden zu sein: »[] der Ausdruck der Leidenschaften wird ein Spielwerk der Instrumentt [sie], und die menschliche Stimme dient nur noch, so zu sagen, zum Epigraph instrumentalischer Gemälde.« I3r Diese Sinnlichkeit jedoch ist bei Gerstenberg nicht mehr in den Grenzen der empfindsamen Sozialität gehalten; dies v. a. zeigt seine Zugehörigkeit zur neuen Geniebewegung. Gerade der Oper und dem Gesang schreibt Gerstenberg ausdrücklich zu, daß hier auch die negativen, dunklen Affekte wie Haß, Rache, Verzweiflung gestaltet werden können, ohne >moralisch< funktionalisiert zu sein. Gerstenberg betont die Bedeutung der Phantasie, die universale Wahrheiten erkennen könne, für die der Verstand zu begrenzt sei.132 Auch daher ist ihm die Kunstform der Oper so wichtig: Sie wird bei ihm umgedeutet zum Symbol künstlerischer Freiheit, einer zweiten poetischen Natur, während die polemisch abqualifizierte italienische Opera seria lediglich eine »kalte«, oberflächliche und wirkungslose Artifizialität verkörpert. Gerstenberg gehört dabei durchaus zu den Verfechtern des komischen Musiktheaters: Er bewundert und verteidigt die >Beggar's OperaHamletJagd< auf, vgl. o. II.i.). Entsprechend fordert Engel vom Singspielkomponisten, er solle »ausdrücken« und nicht »malen«, was jetzt als schlimmster Verstoß gegen das Ausdrucksprinzip gilt.' 43 »Ausdruck«, die sinnliche Darstellung von Seelenzuständen, bestimmt Engel als die wesentliche Funktion aller Kunst; daher lehnt Engel die bei den Theoretikern der Frühaufklärung so beliebte musikalische Tonmalerei entschieden ab — und daher kann nun Gesang, statt als »unnatürliche« Art des Sprechens gebrandmarkt zu werden, zum Vorbild für die Deklamation des Schauspielers werden. Denn der Gesang habe sich schon länger von dem Nachahmungsgebot gelöst: »Die höhere lyrische Declamation ist der Gesang; für den Gesang ist die Regel vom Ausdruck schon lange festgesetzt [].« M 4 Der Ausdruck als sinnliche Darstellung von Seelenzuständen muß dabei jedoch diesen Seelenzuständen angemessen bleiben: Das alte Decorum des Standes wird durch eine neues anthropologisch-psychologisches Modell abgelöst. Für jeden Seelenzustand muß der Dichter wie der Komponist die jeweils angemessene Form des Ausdrucks finden. Beim Verhältnis von Ausdruck und Seelenzustand sind zwei Fehler zu vermeiden: daß der Ausdruck den Seelenzustand nicht erreicht (der Fehler der »Kälte«) oder ihn überspannt (der Fehler »des falschen Pathos, des Schwulstes, der Ziererey«): Das empfindungsvolle Lied, von welchem Charakter es sey, will nicht bloß hergesagt, es will gesungen werden; wie richtig, wie gefühlvoll es declamirt werde, so deucht uns doch, daß ihm noch nicht sein volles Recht widerfahre: erst dann sind wir befrie141
142
144
144
Zu Engel vgl. Serauky 1929, S. 142—144; Scherpe 1968, S. 134—168; Fischer-Lichte 1988, Bd. 2, S. 156-176. Engel 1780 und 1786, Tl. 2, S. 93; dort betont Engel, »daß nicht die vollkommenste Aehnlichkeit mit der Natur, sondern die vollkommenste Wirkung das höchste Verdienst« der Dichtkunst sei. Für den frühaufklärerischen Mimesis-Begriff hat Engel nur noch Spott übrig: »wenn man diesen Grundsatz durch keine nähern Bestimmungen einschränkt, so läßt sich eben mit ihm die ganze Dichtkunst zu Grunde richten.« (Ebd., S. 88) — Wenn Stephane Mallarme 1864 als neues Prinzip der Symbolisten fordert, man solle nicht die Sache abbilden, sondern die Wirkung, die sie ausübt, so ist dies längst in den Debatten des späten 18. Jahrhunderts vorgeprägt. Engel 1780. Ähnlich hatte bereits Charles Avison argumentiert: »Ebenso wird der Komponist, der nach jedem einzelnen Adjektiv oder nach jeder Metaphet greift, die der Text ihm bietet, um seine Kraft der Nachahmung zu beweisen, unweigerlich das wahre Ziel seiner Komposition verfehlen und sich um so unzulänglicher zeigen, je pathetischer oder erhabener sein Textdichter ist.« (An essay on musical expression. London 2 i753, 2. Teil, 3. Abschnitt; zit. n. d. Us. v. Dahlhaus/Zimmermann (Hg.) 1984, S. 53). Engel 1786, Tl. 2, 8.67. 735
digt, wenn der schlichte Laut zum musikalischen Ton und der noch schwankende Rhythmus zum Tact wird. Hingegen ein gesungener Brief, wie man ihn hie und da in französischen Opern findet: wer kann ihn, wenigstens das erste Mal, ohne Lächeln oder Kopfschütteln hören?' 45
Abgelehnt wird hier der »unnatürliche« Code der älteren Oper, der eben auch das Singen eines Briefes erfordert 146 (in der italienischen Opera buffa gehört die Briefschreibeszene sogar zu den Standard-Topoi147). Grundsätzlich darf sich laut Engel der musikalische Ausdruck (wie jeder andere künstlerische Ausdruck) nicht auf einen künstlich konstituierten Bedeutungscode stützen, sondern muß sich an den »natürlichen« Codes orientieren; er muß unmittelbar und allgemein verständlich sein, um die nötige Wirkung erreichen zu können.148 Dies erfolgt v. a. durch die Verbindung der Musik mit dem Wort; der reinen Instrumentalmusik traut auch Engel nicht zu, ein eigenes, »ausdrückendes« Bedeutungssystem aufzubauen. Der musikalische Ausdruck von Seelenzuständen gilt ihm erst dann als »natürlich«, wenn er direkt und allgemein verständlich ist. Konsequent bezieht Engel nun die Theorie der Kunst nicht mehr philosophisch (als »schöne Wissenschaft«), sondern anthropologisch-psychologisch: Die Dichtkunst bildet ebenso wie die Schauspielkunst einen »abgerissenen Theil der Seelenlehre«,149 sie beschäftigt sich in ihrem wesentlichsten Teil mit den Wirkungen auf die Zustände der Seele und deren Veränderungen. Diese neue Auffassung der Dichtungslehre setzt die genaue Kenntnis der seelischen Vorgänge bei Dichter wie Komponist (aber auch beim Schauspieler oder Sänger) voraus. Dabei stößt Engel auf das Problem, daß keine adäquate Gliederung oder Terminologie seelischer Zustände existiert. Anders aber als die meisten Apologeten der Empfindsamkeit oder die Original-Genies, für die gerade die Unnennbarkeit und Untrennbarkeit der »Leidenschaften« das wesentliche Kennzeichen der menschlichen Emotionalität ist, sucht Engel nach einer ex-
'45 Ebd. Tl. 2, S. 72f. 146 147
'4)f
149
Vgl. die Briefszene in >Günther von SchwarzburgIdeen zu einer Mimik< 1785/86 ein eigenes, binäres Modell als Grundlage für die Klassifikation gestischer und mimischer Zeichen zu entwickeln, das (spätaufklärerisch) den Anspruch erhebt, alle einfachen, nicht zusammengesetzten Seelenzustände vollständig zu erfassen.151 Diese systematische Klassifikation der einzelnen Seelenzustände ergänzt Engel dann durch die Herausarbeitung und exakte Beschreibung ihrer jeweils gesetzmäßigen Verlaufsformen. Engel geht von dem Axiom aus, daß körperliche und seelische Veränderungen analog verlaufen. Grundannahme bleibt die rationalistische Vorstellung einer universalen, prinzipiell bei allen gleichen menschlichen Natur, die sich wie Pflanzen oder Käfer erforschen und systematisieren lasse: eine Antiposition zu den zentralen Dogmen der Genie-Bewegung (vgl. o.). Engels Ansatz zielt auf eine ahistorische und universale Systematik der menschlichen Seelenzustände, die als prinzipiell vollständig klassifizierbar und auf dem Theater durch analoge Repräsentationen darstellbar gedacht werden.' 52 Auch insgesamt steht Engel deutlich in rationalistischen Traditionen, was ihn immer wieder in Gegensatz zu empfindsamen und genieästhetischen Positionen bringt. Engel verteidigt z.B. ausdrücklich Regeln gegen die »Genies«: Nicht alles, was nach Regeln gemacht werde, sei als »kalt oder ängstlich« einzustufen.' 5? Die rationalistischen Ansätze werden bei Engel jedoch überdacht und weiterentwickelt; sein Versuch zeugt von dem hohen Interesse des späten 18. Jahrhunderts an psychologischen Prozessen, das nun zur Modifikation der dafür relativ unsensiblen frühaufklärerischen Positionen zwingt. 154 En150
151 152
153
15-4
Engel 1786, Tl. i, S. 40f. Justus Möser hatte dagegen noch das Eigenrecht der poetischen Gattungen gegenüber Systematisierungszwängen betont, für die exemplarisch der Name Linne steht. Mösers Harlekin führt aus: »manche Blume ist an einer Doris Busen ganz stolz verblühet, deren Geschlecht vom Ritter Linne niemals bestimmt worden. [ ] Vielleicht ist es mir auch weit rühmlicher, ein eignes Tier in meiner Art zu bleiben, als wie der Löwe zum Katzengeschlecht gezählt zu werden.« (Möser 1982, S. 310) Vgl. die Übersicht bei Fischer-Lichte 1988, Bd. 2, S. 165. Vgl. Fischer-Lichte 1988, Bd. 2, S. Ij2(f. Die einzelnen Zeichen, die die Seelenzustände repräsentieren, sind dabei unwandelbar und fest einer Bedeutung zugeordnet; sie verändern ihren Bedeutungswert auch in der Kombination mit anderen Zeichen nicht. Engel 1786, S. lyff. Ähnliches gilt z.B. für Forkel, der im Bereich der Musik die Bedeutung von Regeln für den Fortschritt verteidigt (Forkel 1788, Einleitung § 28) und die »Willkür« der neueren Komponisten schmäht. Vgl. etwa auch die Flut der Publikationen zum Thema »Erfahrungsseelenkunde« in den 178oer Jahren.
737
gel bezieht daher auch die »vermischten Empfindungen« 155 ein, die erst die Empfindsamkeit und anschließend die Geniebewegung zunehmend in den Mittelpunkt gerückt hatten. Für diese vermischten Empfindungen aber steht beispielhaft das Musiktheater: Bezeichnenderweise zieht Engel für die Darstellung der »vermischten Empfindungen« ein ausführliches Beispiel aus Wielands >A1ceste< heran.156 Die neue Argumentation von der »Seelenlehre« her führt jedoch nun dazu, daß Engel auch eine neue Theorie der vermischten als der höchsten Gattungen entwickelt: Der Grund dieser Regel liegt ganz deutlich in dem Gesetz der Lebhaftigkeit. Alle Vereinzelung und Zerreißung schwächt, hingegen alle Verbindung und Harmonie erhebt sie. [ ] Die Befolgung dieser Regel vorausgesetzt, kann nun wohl die Bemerkung keinem Zweifel mehr unterworfen seyn: daß ein Werk um so dichterischer ist, je eine zusammengesetztere Form es hat.' 57
Nicht mehr eine fiktive Gattungsreinheit ist das Maß aller Dinge, sondern im Gegenteil die »Lebhaftigkeit« der zusammengesetzten Formen. Entsprechend lehnt Engel daher das klassizistische Vers-Trauerspiel als »unnatürlich« und wirkungshemmend ab, verteidigt aber zugleich die Oper. Die Oper als zusammengesetzte »Summe« der beteiligten Künste hat laut Engel eine derart starke Wirkung auf den Zuschauer, daß demgegenüber ihre Unnatürlichkeiten, die Engel in rationalistischen Traditionen gleichwohl konstatiert, nicht ins Gewicht fallen. Der Gesang fesselt und bezaubert durch den wollüstigsten der feinern Sinne die Seele so sehr, versenkt sie so tief in den Genuß des Gegenwärtigen, daß man die Mißhelligkeit zwischen dem Ausdrucke und der auszudrückenden Seelenfassung, die Verwechslung des lyrischen Affects mit dem dramatischen, entweder nicht mehr bemerkt oder sie doch nicht achtet. Die Wahrheit der Darstellung wird freylich geschwächt, und in sofern auch die Wirkung; allein was auf dieser Seite verloren geht, wird auf der andren gewonnen; was an Wahrheit mangelt, wird durch Schönheit vergütet. Selbst das Abgeschmackte des Plans, das Uebelzusammenhangende des Begebenheiten, das ganz Verfehlte mancher Empfindungen verbirgt sich; man wird das Grobe und Ungleiche des Fadens über den Perlen nicht inne, die der Tonkünstler an ihm aufgereiht hat. Mit einer so großen, so mächtigen Wirkung ist die, welche das bloße Sylbenmaaß hervorbringt, durchaus nicht in Vergleichung zu setzen.1'8 155
156 157 158
Engel 1786, Tl. i, S. 2o8ff. (Für unterschiedlich gerichtete, starke Empfindungen betont Engel jedoch, daß diese der — z.B. sukzessiven — Vermittlung bedürfen; vgl. z.B. ebd. Tl. 2, S. 109 f., S. i38ff. Dafür zieht Engel ein Beispiel aus Wielands >Alceste< heran; vgl. ebd. Tl. 2, S. i~jjff.) Engel 1786, Tl. i, S. 2i 5 ff. Engel 1783, S. }6 £ Engel 1786, Tl. 2, S. i i8f. (Hier zeichnen sich bereits Wahrnehmungsweisen ab, die dann im 20. Jahrhundert kulminieren, wo Oper überwiegend als »schöne« Musik, als Sammlung »schöner Stellen«, rezipiert wird, während ihr dramatischer Gehalt als nebensächlich abgetan wird.)
738
Bei aller reaktiven Abwehr bezeugt auch Engel letztlich die neue Dominanz des Geniekults: Die Ablösung der Nachahmungsdoktrin, die Forderung nach »Ausdruck«, die Verankerung der menschlichen Emotionalität jenseits des Verstands greifen zentrale Axiome der Genies zustimmend auf. Besonders deutlich wird dies bei seiner Einschätzung der Oper. Hier sind brennpunktartig noch einmal die neuen Axiome der Kunsttheorie gebündelt. Oper wirkt auf »den wollüstigsten der feinern Sinne«, stellt also die sinnlichste Kunstform dar. Die Oper ist zwar unnatürlich und verstößt gegen dramaturgische Grundsätze und die »Wahrheit« des Theaters; ihre große Wirkung rechtfertigt jedoch diese Verstöße. Sie erreicht - im Gegensatz zum klassizistischen Trauerspiel in Versen - das Ziel aller Kunst, den Zuschauer zu »fesseln«, und ersetzt durch Schönheit, was ihr an Wahrheit der Illusion abgeht. Die Aufgabe des Theaters sieht Engel (im Anschluß an Lessing) darin, »eine ganze ununterbrochene Folge von Empfindungen« so darzustellen, »daß jede ihren wahren Grad der Stärke, ihre gehörige Dauer, ihre richtige Nuance erhalte, und nirgends etwas Grundloses, nirgends eine Lücke, ein Sprung sey.« I5v An die Stelle der Doktrin von der dramaturgischen Stringenz tritt hier eine Stringenz in der Darstellung der menschlichen Emotionalität, die vom Musiktheater besser geleistet werden könne als vom reinen Sprechtheater.
6. Das Transitorische als ästhetisches Modell Die »Ausdrucks«-Forderung verändert so ab den lyyoer Jahren einige der bisher zentralen Axiome in der konkreten Einschätzung des Musiktheaters — auch bei Autoren wie Engel, die nicht der Genieästhetik anhängen. Während bislang nahezu alle Theoretiker vom absoluten Vorrang des Textes ausgingen, werden nun die Musik und die multimediale Aufführungssituation aufgewertet: Sie schaffen den »Ausdruck«, »Erschütterung« und Pathos; sie gewährleisten die Übertragung der Leidenschaften und sind darin den bisher als Vorbildern dienenden Sprechtheaterformen überlegen. Die dramaturgische Stringenz, wesentliches Ergebnis der theoretischen Orientierung des Musiktheaters am Sprechtheater und dessen klassizistischen Normen, verliert an argumentativem Gewicht.' 60 (Auch daher wird Metastasio nun so emphatisch abge159 160
Engel 1786, Tl. 2, S. 115. Dies kennzeichnet in den lySoer Jahren nicht mehr nur die engere poetologische Diskussion, sondern greift zunehmend in die Breite der Aufführungspraxis. Oper wird zu einem selbstverständlichen Gegenstück zum Sprechtheater, gerade weil es bei ihr offenbar auf die dramaturgische Stringenz nicht mehr ankommt. So betont etwa der Prinzipal Ludwig Schmidt 1786 auf einem Theaterzettel: »Im Trauerspiel will man weinen, im Lustspiel lachen, in der Oper verlangt man Musik. >Es ist nicht natürlich, sich einander anzusingend Es ist auch unnatürlich, einen Zeitraum von mehrern Jah739
lehnt. l f i l ) Dagegen bemerken die Theoretiker zunehmend den Eigenwert der Musik und der Aufführungssituation. Dabei kommt es zur Erkenntnis, daß der transitorische Charakter von Musik und Musiktheater kein Mangel ist (wie in den rationalistischen und empfindsamen Systemen), sondern gerade die anthropologischen Qualitäten verbürgt. Über diese Erkenntnis wird der Weg frei zu einem neuen Modell autonomer Strukturbeschreibung, das dann das spontane Denkmodell der Geniezeit ablöst. Damit wird auch der jahrhundertlange Vorrang der Vokal- vor der Instrumentalmusik allmählich abgebaut: Gerade der semantisch unbestimmten Instrumentalmusik wird jetzt zugeschrieben, den »Ausdruck« der unnennbaren, exklusiven und unauflöslichen Empfindungen zu ermöglichen. Diese Empfindungen finden jetzt ihren Ort nicht mehr in der Festlegung des Hörens durch Textvorgaben, sondern gerade in der Freiheit des individuellen Hörprozesses bei der wortlosen Instrumentalmusik (s. u.). (Realgeschichtlich entspricht dem der Aufschwung der Instrumentalmusik durch die Gründung zahlreicher bürgerlicher Musikgesellschaften in vielen Städten des Reichsgebiets,'62 was wiederum den Beginn von Konzertsaal-Bauten bedeutet, in denen sich nun die
lnl
102
ren in eine 3 Stunden lange Handlung zu zwingen, und doch liebt man solche Schauspiele. Seit Shakespeare Zeiten ist man über alle Regeln weg galoppirt, und doch ist es natürlich; und der herrlichen Empfindung wegen, die Musik ihren Freunden gewährt, kann man ihr ja den Fehler, dächt' ich, wohl verzeihen. [ ] Glücklich aber werde ich mich schätzen, wenn einst, so unbedeutend auch unsere musikalischen Kehlen und das dazu erforderliche Talent in verwöhnten, oder noch gar nicht gewöhnten Ohren seyn mag, edle Kunstfreunde sagen: — nicht, wir haben Oper gesehen, sondern — wir haben Opern gehört.« (Theaterzettelsammlung der ÜB Erlangen, 13.5.1786) Der Beleg ist deshalb wertvoll, weil er offenbar im Publikum verbreitete Maximen aufgreift und funktional zur Werbung einsetzt. Der Zusammenhang von Metastasio-Kritik und der Erkenntnis, daß Sprechdrama und Musiktheater grundsätzlich verschieden seien, zeigt sich z.B. bei Schink. Er betont 1782: »Daß nicht jeder dramatische Stoff ein Stoff für die Oper sey; daß eine Fabel, ein Character, eine Situation im recitirenden Schauspiel von vortreflicher Wirkung seyn, im Singspiel aber äusserst kalt lassen kann: [ ]. Und doch ist alles, was nicht offenbar Leidenschaft und Empfindung in einem hohen Grade ist, ganz wider den Zweck des lyrischen, gänzlich unter den Kräften der Musikphilosophie; und Kaltblütigkeit, Politik und Raisonnement sind zwar dramatisch, aber sie sind schlechterdings nicht lyrischdramatisch. Denn Musik ist nicht für den Verstand; sie ist für die Empfindung. [ ] Darin hat eben der grosse Metastasio so oft gefehlt; darum ist eben dieser berühmte lyrische Dichter so oft mit all seiner musikalischen Wörterwahl, mit allen seinen ausgesuchten weichsten und singbarsten Silben, der unmusikalischste, unlyrischste Dichter, der existieren kann. Er läßt seine Helden oft Sachen singen, die gar keines Gesanges fähig sind, für die der musikalische Ausdruck gänzlich todt ist.« (Zit. n. Schusky (Hg.) 1980, S. 72) Vgl. Gradenwitz 1991, S. iS^ff.; Schleuning 1984, S. 101-284; Balet 1936, S. 388f; Heinrich W. Schwab: Konzert. Öffentliche Musikdarbietung vom 17. bis 19. Jahrhundert. Leipzig 1971.
740
Aufwertung der Instrumentalmusik auch materiell verkörpert.' 1J Musikhistorisch vollzieht sich gleichzeitig der Aufstieg bzw. die Neufassung der Instrumentalformen (Sonate, Symphonie); die sogenannte Mannheimer Schule ebenso wie etwa die Klaviermusik C. Ph. E. Bachs zeigen ihrerseits den Aufstieg der reinen Instrumentalmusik. 164 ) In der Aufwertung der (Instrumental-)Musik als Ausdrucksform von Empfindungen, für die es keine Sprache mehr gibt, spiegelt sich ein zunehmendes Bewußtsein von den Defiziten der Sprache, wie es den älteren Aufklärern noch völlig fremd war. Die Musik kann erst dann als Medium einer Sprachkritik verstanden werden (die dann in der romantischen Theorie voll entfaltet werden wird 105 ), wenn sie nicht mehr in erster Linie an die Sprache gebunden oder primär als abbildende Kunst begriffen wird. In den frühen ijjoet Jahren kommen entscheidende Einflüsse aus der englischen Theorie, die die bisherige Vorbildrolle der französischen relativieren.' 66 Eine wichtige Vermittlerfigur dabei ist Johann Joachim Eschenburg in Braunschweig, der z.B. Daniel Webbs Betrachtungen über die Verwandtschaft der Poesie und der Musik< l 6 y oder Charles Avisons »Versuch über den musikalischen Ausdruck< übersetzt.'68 Webbs vom englischen Empirismus geprägte Anthropologie begreift Musik als rein sinnliches Phänomen. Die Schrift wird in Deutschland schnell und breit rezipiert;109 sie paßt in eine Situation, in der die in der frühen Empfindsamkeit noch als Zusammenspiel von Verstand und Sinnen gefaßte Rezeption von Musik sich zu einer ausschließlich sinnlichen verschiebt. Daher wird Webbs Schrift auch von Theoretikern wie Forkel kritisiert, die rationalistische Traditionen (und Metaphoriken) weiterführen: [ ] die Musik wird also zu einem bloß sinnlichen Gegenstand gemacht, und dadurch gleichsam von allen intellektuellen Wirkungen ausgeschlossen. So wenig aber die Farben eines Gemäldes die Hauptursache der Wirkung desselben seyn können, [ ]
'6i Vgl. dazu Schleuning 1984, S. 154^ mit Materialien. 164 Klopstock entwarf 1789 ein Denkmal für C. Ph. E. Bach in der Hamburger Michaeliskirche mit der Inschrift: »War groß in der vom Worte geleiteten, noch größer in der kühnen sprachlosen Musik.« (Zit. n. Schleuning 1984, S. 501) 165 Vgl. Lubkoll 1993. 166 Zur englischen Musiktheorie vgl. Nikolaus de Palezieux: Die Lehre vom Ausdruck in der englischen Musikästhetik des 18. Jahrhunderts. Hamburg 1981; Neubauer 1986; Wilhelm Seidel: Zur Revision der Nachahmungsästhetik durch Adam Smith. In: Jobst Peter Fricke (Hg.): Die Sprache der Musik. FS K. W. Niemöller. Regensburg 1989, 8.495-511. 167 Leipzig 1771. Originalausgabe: Observations on the correspondence between poetry and music. London 1769. Eschenburgs Übersetzung wurde rezensiert von Herder in ADB 17/1, S. 205-212 (abgedr. auch in SW V, S. 309-311). Leipzig 1775. Originalausgabe: An essay on musical expression. London 1752. 2. Aufl. »with alterations and large additions« ebd. 1753, 3ebd. 1775. Repr. der 2. Auflage New York 1967. Rezension von Forkel (1778/1779, Bd. 2, S. 152). 169 Im Nachlaßkatalog von Chr. Felix Weiße fand sie sich gleich zweimal (Weiße 1806).
741
eben so wenig, deucht uns, können die Töne, sie mögen in ihren Bewegungen dieser oder jener Leidenschaft so genau zusammenstimmen wie sie wollen, als Hauptursache musikalischer Wirkungen angesehen werden.' 70
Was Forkel hier an Webb kritisiert, entwickelt sich in der Folge zu den Kennzeichen der Musiktheorie der Geniebewegung: die Emanzipation des sinnlichen Hörens gegenüber einem rational orientierten, die Bevorzugung von Musik als sinnlichem Ausdruck der Leidenschaften gegenüber ihren »intellektuellen Wirkungen«. 171 Entsprechend wird auch Avisons Schrift mit ihrer radikalen Kritik an der Nachahmungsästhetik trotz Forkeis Einwänden in Deutschland zu einer Art Programmschrift der neuen musikalischen »Ausdrucks«-Kunst. 172 Die Veränderungen in der Auffassung von Musik und Musiktheater spiegeln sich am deutlichsten bei Herder, der in seinen zahlreichen verstreuten Anmerkungen dazu die Konsequenzen und Probleme der neuen Leitdoktrinen auf den Punkt bringt und zugleich eine bemerkenswerte Entwicklung durchmacht, die ihn um 1800 zu völlig anderen Bestimmungen führt als in seinen frühen Schriften.' 73 In den frühen >Kritischen Wäldchen< versteht Herder seine Ästhetik bewußt als Gegenentwurf zu den Systemen und Kompendien seiner Vorgänger:174 Er schreibt betont induktiv-unsystematisch und lehnt eine einheitliche Ästhetik für alle Künste ab. Die Basis der >kritischen Poetik< des Rationalismus, die Suche nach einem normativen Grundprinzip aller schönen Künste und Wissenschaften (s.o.), wird damit als veraltet verworfen. Statt einer derartigen »Ästhetik von oben herab« versucht Herder jetzt, kunstspezifische, in den menschlichen Sinnen verankerte Theorien einzelner Künste zu entwickeln; die
170
171
172 173
174
Forkel 1778/79, Bd. 2, S. i28f. Zu Forkeis Anti-Genie-Position vgl. a. seine sehr aufschlußreiche Rezension der f-Moll-Sonate von C. Ph. E. Bach in Forkel 1784, S. 22-38. Die Vorstellung von der Musik als Hort der Sinnlichkeit hatte direkte Konsequenzen für die Musik im Bildungsprogramm für Mädchen; vgl. Gradenwitz 1991, z. B. 224ff. Vgl. Küster 1992, S. 6 u.ö. Über Herders Beziehungen zur Musik informieren überblicksweise Hans Günther: J. G. Herders Stellung zur Musik. Leipzig 1903; Wolfgang Nufer: Herders Ideen zur Verbindung von Poesie, Musik und Tanz. Berlin 1929. [Diss. München 1928; Germ. Stud. 74] Repr. Nendeln/Hildesheim 1967; Serauky 1929; Kirby 1962; Köhler 1995. Die >Kritischen Wäldchen< richten sich konkret gegen Christian Adolph Klotz, Rhetorik-Professor in Halle, und seine Anhänger; das vierte >Wäldchen< zerlegt v. a. F. J. Riedels Theorie der schönen Künste und Wissenschaften, Jena 1767, ein Kompendium ästhetischer Positionen der I75oer und 6oer Jahre. Riedel hatte v.a. Baumgartens Ästhetik kritisiert; Herder geht daher zunächst von Baumgartenschen Positionen aus, bringt aber auch neuere Entwicklungen ein. Vgl. Solms 1990, der auch Herders Musiktheorie auf Baumgartens Philosophie bezieht und sie als Versuch versteht, den Anspruch einer wissenschaftlichen Ästhetik einzulösen. Das vierte >Wäldchen< gab Herder nicht zur Publikation frei; es erschien gedruckt erst posthum 1846. Der bedeutende Beitrag zur Musikästhetik konnte also praktisch keine zeitgenössische Wirkung entfalten.
742
Ästhetik wird so (statt einer regelgebenden Wissenschaft) »ein schwerer Theil der Anthropologie«.175 Als Methode der Ästhetik wird damit eine schlüssige Analyse der menschlichen Sinnlichkeit notwendig. Diese sucht Herder, produktiv von Baumgarten ausgehend, in vierfacher Hinsicht zu bestimmen: Sinnlich leitet auf die Quelle und das Medium gewißer Vorstellungen, und das sind die Sinne', es bedeutet die Seelenkräfte, die solche Vorstellungen bilden, das sind die sogenannten untern Fähigkeiten des Geistes: es carakterisirt die Art der Vorstellungen, verworren und eben in der reichen, beschäftigenden Verworrenheit angenehm zu denken, d.i. sinnlich', es weiset endlich auch auf die Stärke der Vorstellungen, mit der sie begeistern, und sinnliche Leidenschaft erregen. (SW IV, S. 132)
Aus der normativen »kritischen« Poetik wird eine hermeneutisch verfahrende Ästhetik. Dies impliziert, daß die Analyse das zu begrifflicher Deutlichkeit führen muß, was der sinnlichen Anschauung schon bekannt ist; die sinnlichen Vorstellungen gehen der Vernunfttätigkeit voraus und liegen ihr zu Grunde. Angesichts dieser Definition muß gerade das Musiktheater als ideale künstlerische Verkörperung all dieser vier Aspekte von »Sinnlichkeit« erscheinen: durch die sinnliche Rezeption der multimedialen Gattung, die Aufnahme durch die »untern Fähigkeiten des Geistes«, den Mangel an begrifflicher Deutlichkeit und die Stärke der Leidenschaftserregung. Das vierte >Kritische Wäldchen < (1769) entwickelt daher aus diesen Grundgedanken eine allgemeine Musikästhetik, die sich zentral gegen die rationalistischen Theorien Rameaus wendet (Abschnitte 6—8). Herder lehnt eine Fundierung der Musiktheorie in den mathematisch-physikalischen Gesetzen der Töne ab und fordert emphatisch eine Ästhetik der menschlichen Empfindungen, die er aus den drei Hauptsinnen »Gesicht« (Auge), »Gehör« und »Gefühl« (Tastsinn) abzuleiten versuchr. Das »Gehör« erscheint dabei als »der innigste, der tiefste der Sinne«; 176 die Musik hat daher von allen Künsten die stärkste Wirkung auf die Seele. Diese Wirkungen liegen für Herder nicht außerhalb, sondern innerhalb der menschlichen Seele; das musikalisch Schöne ist daher nicht theoretisch-abstrakt erfaßbar: Musik [ ] erregt eine Folge inniger Empfindungen, wahr, aber nicht deutlich, nicht anschauend, nur äußerst dunkel. Du wärest, Jüngling, in ihrem dunklen Hörsaale: sie klagte, sie seufzte, sie stürmte, sie jauchzte; du fühltest alles, du fühltest mit jeder Saite mit. Aber worüber wars, daß sie, und du mit ihr, klagtest, seufztest, jauchztest, stürmtest? Kein Schatte von Anschauung. Alles regte sich nur im dunkelsten Abgrund deiner Seele, wie ein lebender Wind die Tiefe des Ozeans erregt. (SW IV, S. i6if.)
175
176
SW IV, S. 25. Vgl. dazu aüg. Hans Dietrich Irmscher: Zur Ästhetik des jungen Herder. In: Sauder (Hg.) 1987, S. 43-76, der neben Baumgartens Ästhetik weitere Anregungen diskutiert, die in Herders »in jener Zeit [] singuläre Psychologie der Sinne« (S. 63) eingingen: z.B. Bacon, Locke, Diderot, Condillac. SW IV, S. i n .
743
Statt in der theoretischen Abstraktion faßt Herder das Wesen der Musik in ihrer physiologischen Bedeutung: »Wenn die Natur keinen nähern Weg an die Menschliche Seele wußte, als durchs Ohr vermittelst der Sprache, und keinen nähern Weg an die Leidenschaft, als durchs Ohr vermittelst der Schälle, der Töne, der Accente - Muse der Tonkunst, welche Eingebungen sind in Deiner Hand, um die Physiologie der Menschlichen Seele zu enträtseln.« 177 Die Aufwertung des »Gehör«-Sinns impliziert eine Abwertung des »Gesicht«-Sinns und damit zugleich einen Angriff auf einen zentralen Metaphernbereich des Rationalismus (»Licht«, »Auge« etc.).'70 Auch Herder ist dabei tief in der empfindsamen Dichotomic von Melodie und Harmonie verankert (s.o.); seine Ästhetik definiert Musik einseitig als (melodische) Sukzession und wertet die Harmonie als lediglich objektive >Logik< des toten Schalls ab. So kommt es zu einem vernichtenden Urteil über die Musikgeschichte der letzten 300 Jahre, die Herder für eine einzige Fehlentwicklung erklärt — mit Ausnahme Italiens und seiner melodiebetonten Musik. Auch wenn die Oper im vierten >Kritischen Wäldchen< nicht explizit thematisiert wird, bildet sie (in Gestalt der italienischen Oper) einen Fluchtpunkt der Poetologie der >Kritischen Wäldchenvon außen werden die Empfindungen der Musik erzeugt/ sondern in uns, in uns; von außen kommt uns nur der allbewegende süße Klang, der, harmonisch und melodisch erregt, was seiner fähig ist, auch harmonisch und melodisch reget.«202 Musik wird zu einer metaphysischen Größe: »denn sie ist Geist, verwandt mit der großer Natur innersten Kraft, der Bewegung. Was anschaulich dem Menschen nicht werden kann, wird ihm in ihrer Weise, in ihrer Weise allein, mittheilbar, die Welt des Unsichtbaren.« 203 Dadurch wird jetzt der Weg frei zur Anerkennung der Instrumentalmusik: Gedanken zu bezeichnen ist uns die Rede gegeben; Empfindungen stammelt sie nur, und drückt in ihnen mehr aus durch das was sie nicht, als was sie saget. [ ] Auch die Musik muß Freiheit haben, allein zu sprechen, wie ja die Zunge für sich spricht, und Gesang und Rede nicht völlig dieselben Werkzeuge gebrauchen. Ohne Worte, blos durch und an sich, hat sich die Musik zur Kunst ihrer Art gebildet. Pan, der auf seinem Schilfrohr die Echo rief und keine Worte, keine Gebehrden dazu brauchte, Er war Pan, Aufrufer und Verkündiger der Musik des Universums. [ ] Orpheus durch die Sprache seines Saitenspiels bewegte den Orkus; Worten eines Sterblichen hätten die Eumeniden nicht gehorchet.204
Die Vorrangstellung der Vokalmusik und speziell der Oper, die auch für den frühen Herder noch fraglos galt, ist hier beendet; es ist kein Zufall, daß die >Kalligone< zur Oper ebenso kaum noch Stellung nimmt wie Herders >AdrasteaHeros der deutschen Musikkünstlichen< Kastraten-Erotik).214 Auch auf juristischer Ebene wirkt sich der Kult des Originalen aus. Er führt zur endgültigen Durchsetzung des autorschaftlichen Urheberrechts; damit wandelt sich der Eigentumsbegriff bei Auftragswerken, und Nutzungsbeschränkungen werden abgebaut. Entsprechende Auseinandersetzungen im Bereich der höfischen Oper sind etwa von N. Jommelli in Stuttgart oder von den Erben Christoph Graupners in Darmstadt belegt.215 Werkintern verändern sich die Vorstellungen über Zitat und Parodie, die als musikalische Verfahren Jahrhunderte lang unproblematisch benutzt wurden, im 18. Jahrhundert jedoch zunehmend kritisch beurteilt wurden, wobei die Entlehnung von Werkteilen bei künstlerischer Neuformung noch als unproblematisch galt. Im Geniekult verfestigt sich die Ablehnung dieser Verfahren extrem; waren früher Verfahren wie Pasticcio, musikalische Parodie oder die Übernahme erfolgreicher Arien in neue Opern vollkommen unproblematisch, 216 so reicht nun schon der Verdacht einer Ähnlichkeit (etwa von zwei Akkorden [!]) aus, um einen Komponisten als »unoriginal« abzuqualifizieren. 1783 mußte sich etwa Johann Andre gegen Plagiatsvorwürfe wehren: Ihm wurde vorgeworfen, Musik von Piccinni plagiiert zu haben. Diese Vorwürfe kamen nicht etwa von Piccinni oder wurden in seinem Namen erhoben, sondern wurden aus der >kritischen Öffentlichkeit laut. In einer 1783 publizierten Erklärung weist Andre schon den Verdacht bloß geringfügiger Ähnlichkeiten als ehrverletzend zurück und verlangt den öffentlichen Abdruck der jeweils fraglichen Stellen. »Geschieht das nicht, so wird das richtende Publikum meine Unschuld daraus erkennen.« 217 Die autorschaftliche 214
215
216
217
In der Literatur des 19. Jahrhunderts sind Frauen, die Instrumente (außer dem Klavier) spielen, in der Regel erotisch defekt oder Mannweiber; vgl. z.B. Stifters >Zwei Schwestern< oder >TurmalinverlorenDavidde penitente< KV 469), bezeichnenderweise auf ein unvollendetes, also für die Praxis >wertloses< Werk (die c-MollMesse KV 427). Zit. n. Pohlmann 1962 [wie Anm. 215], S. 99.
752
»Originalität« und das diese fordernde »richtende Publikum« bilden nun zwei Seiten einer Medaille: »Originalität« wird zum Anspruch und zum schöpferischen Zwang, der die Produktion verändert. Parallel zu dieser Verfestigung der schöpferischen Leistung zu einem originalen und nicht abänderbaren Kodex läuft der Kampf gegen die Verzierungspraxis v. a. der italienischen Sänger, die zusätzlich durch die empfindsamen Axiome der »Natürlichkeit« und der schlichten Melodie zu einem Antityp geworden war. 2 ' 8 Mit dem Zug zur »Autonomie«-Ästhetik kommt es dann insgesamt zum Versuch, möglichst viele Parameter der Aufführungsebene bereits im Werk festzuschreiben. Das Musiktheater wird aus einer in vielen Punkten partiell »offenen« Form zu einem abgeschlossenen, möglichst weit schriftlich festgelegten »Werk«. Damit aber verändern sich dann auch die ästhetischen Paradigmen seiner Rezeption: weg vom einfachen sinnlichen Vergnügen, hin zum Bewußtsein der Kunstgestalt. Damit ist nach 1800, wie Rüdiger Campe gezeigt hat, ein langer Prozeß des Übergangs »vom rhetorischen Herstellen (und der rhetorischen analysis der Texte) zum hermeneutischen Verstehen (und dem ihm innewohnenden Konzept der einen Sprache und der Rolle der autorschaftlichen Produktivität in ihr)« 219 abgeschlossen.
8. Zentrale Positionen der Geniebewegung Ebene i: Wahrnehmung der Gattung Musiktheater — Die Einschätzung des Musiktheaters ist ambivalent. Die komischen Formen werden durchgängig als kraftlos und verbraucht verworfen. Die große Oper wird dann abgelehnt, wenn sie als höfische und unnatürliche Kunstform wahrgenommen wird (z. B. Lenz); sie wird jedoch dann theoretisch hoch geschätzt, wenn sie als wirkungsstärkste Form des Theaters verstanden wird (Kraus, Schubart), die neu aufzubauen wäre. Besonders einzelne Axiome wie die Gattungsmischung oder die multimediale Wirkung werden verstärkt reflektiert. — Die große Oper erscheint nach wie vor als Forum der Sinnlichkeit. Diese Sinnlichkeit wird nun aber anders verstanden als in der Empfindsamkeit: Sie bricht potentiell mit allen Begrenzungen und steht nicht mehr für eine soziale Empfindungsgemeinschaft, sondern für die ungleichen Individuen, die sich gerade in ihrer Sinnlichkeit unterscheiden.
218
219
Die Kritik am Verzierungswesen der Sänger und der daraus resultierenden Textunverständlichkeit beginnt bereits im frühen 18. Jahrhundert; vgl. dazu Bittmann 1991, S. 2i iff. Campe 1987, S. 516.
753
— Gefordert werden »Ausdruck« und maximale Wirkung. Das Theater soll nicht lediglich »Vergnügen« oder Rührung bereiten, sondern »erschüttern«. Dafür dient die große Oper mit ihrer Multimedialität und ihrem spezifischen Pathos partiell als Vorbild. Man fordert nun jedoch deutsche OriginalWerke. Metastasio wird vom Vorbild zum Antityp; Gluck dagegen gilt überwiegend als vorbildhaftes Original-Genie, dem man nur vorwirft, keine deutschen Werke geschaffen zu haben. - Die Regeln und Bestimmungen der Regelpoetik werden grundsätzlich verworfen, ebenso die Orientierung am Modell des klassizistischen Schauspiels. — Auch die empfindsamen Doktrinen der »Einfachheit« und »Natürlichkeit« werden nicht mehr als Leitdoktrinen aufrecht erhalten. Ihnen ist das neue Ausdrucks- und Wirkungsziel übergeordnet. Abgelehnt wird allerdings das »unnatürlich sentimentale« empfindsame Musiktheater (Lenz). - »Erschütterung« tendiert zum Selbstzweck. Wenn sie dazu führt, wird die Artifizialität der Gattung Oper positiv bewertet; speziell im Zusammenhang mit der Theorie des Erhabenen kommt der künstlerischen Selbstreferenz höhere Bedeutung zu. Allerdings gilt gleichzeitig auch das Axiom möglichst großer »Natürlichkeit« weiter — es entsteht eine spezifische Rhetorik der Rhetoriktilgung. — Betont wird die Multimedialität der Gattung und dabei speziell die Funktion der Musik. Sie repräsentiert in ihrer »Undeutlichkeit« die neuen Vorstellungen von den dunklen, verbal »unnennbaren« Leidenschaften am besten. Musik erhält ästhetischen Eigenwert; sie repräsentiert den Ausdruck besser als die verbalen Codes, die nun zunehmend als defizitär erscheinen.220 Musik soll nicht ein Libretto abbilden, sondern als »Sprache der Leidenschaften« den eigentlichen Ausdruck gewährleisten. (Potentiell ist nun ein Verhältnis der Komplementarität und sogar des Widerspruchs von Musik und Text denkbar, auch wenn es von den Theoretikern nicht thematisiert wird). — Damit wird auch der Vorrang der Vokal- vor der Instrumentalmusik abgebaut. Gerade die unbestimmte Instrumentalmusik gewährleistet den »Ausdruck« am besten. — Das Libretto soll sich nicht am Schauspiel orientieren, sondern auf die neue Ausdrucksebene der Musik zugeschnitten werden; z. T. wird der Text explizit der Musik untergeordnet (Herder). Intern wird nicht mehr differenziert zwischen sprachlicher Behandlung von Rezitativ und Arie oder zwischen unterschiedlichen Versmaßen; stattdessen zählt nur noch die spontane Erregung der Leidenschaften.
Dies wird dann explizit in der romantischen Musikästhetik; vgl. z.B. Dahinaus 1978 oder Lubkoll 1993.
754
— Das Libretto soll spontaner Ausdruck der Leidenschaften des Autors sein; daher entfällt die bisherige Vorbildhaftigkeit »literarischer« Normen oder der Sprache der Begriffe. — Auch die Forderungen nach Wahrscheinlichkeit und dramaturgischer Stringenz eines Librettos werden in diesem Kontext überflüssig. Wichtiger sind Kategorien wie das Neue, Unwahrscheinliche, Unerwartete, Erschütternde. Die »Deutlichkeit« von Kunst wird zugunsten stärkerer »Wirkung« abgelehnt. — Gefordert werden stattdessen »innere Wahrheit«, Echtheit und maximale Stärke der dargestellten Gefühle. Die nonverbalen Codes sollen ein unverfälschtes Abbild der Seele gewährleisten: Musik gilt als unverfälschtes Abbild der Seele, ihre semantische Unbestimmtheit der Musik wird zur positiven anthropologischen Qualität. - Die Trennung von Rezitativ und Arie wird als unnatürlich, wirkungshemmend verworfen; speziell das Rezitativ wird überwiegend als wirkungsstörend abgelehnt. Einige Theoretiker fordern das Accompagnato-Rezitativ oder gar eine Art durchkomponierter Oper (Gerstenberg). Auch die Theorie des Melodrams versucht, die als Defizit der Oper begriffene Spaltung von Rezitativ und Arie zu lösen und eine durchgängige Wirkung zu erreichen. — Die Dacapo-Arie wird als langweilig, wirkungshemmend und veraltet abgelehnt. Gute Musik zeichnet sich dadurch aus, daß sie schon beim ersten Hören so stark und spontan verständlich ist, daß jede Wiederholung nur stört. — Tonmalerei wird endgültig abgelehnt. Dagegen kommt es zunehmend zur Betonung der Eigengesetzlichkeit musikalischer Strukturen (Herder). — Über den zulässigen Stoffbereich herrscht Uneinheitlichkeit: Die meisten Autoren fordern nordische Mythologie (Gerstenberg, Kraus) statt der griechischen und lehnen historische Sujets eher ab; allgemein bevorzugt man »wunderbare« Stoffe. - Man fordert Einfachheit der Ausstattung und grenzt sich sozial vom höfischen Prachtaufwand, national von den ausländischen Formen ab, besonders von der als »kraftlos« und »frostig« abgewerteten französischen Oper. - Das Musiktheater erfährt eine neue Funktionsbestimmung, die gerade im Erwecken nicht mehr separierbarer, »unnennbarer« Leidenschaften liegt. Die Leidenschaftsdarstellung emanzipiert sich von den empfindsamen Einschränkungen. Damit wird die Musik tendenziell zum Vorbild der Sprache aufgewertet. Ebene 2: Dominante poetologische Parameter — Das rationalistische System wird nahezu komplett verworfen. Auch die als »verspielt«, »eintönig« und »schwächlich« kritisierte empfindsame Poetik wird grundsätzlich abgelehnt, obwohl in einigen Bereichen empfindsame Axiome weiterwirken. 755
— Die neue Kunst soll den unmittelbaren Ausdruck individueller, ungeregelter Gefühle darstellen; offene Artifizialität wird abgelehnt. Kunst als normierende Überformung wird zugunsten einer unverfälschten »Natur« abgelehnt; z.T. kommt es zur Bevorzugung »natürlicher« Formen (wie Volkslied) anstelle oder in Konkurrenz zu den etablierten. — Dem steht allerdings das gleichzeitige Ziel möglichst starker Wirkung entgegen, das an die Theorie des Erhabenen anknüpft. Die diskrepanten Axiome von »Erhabenheit« und »Natürlichkeit« führen zu einer spezifischen Kunst der Kunstlosigkeit, einer Rhetorik der Rhetoriktilgung. Dies erlaubt wiederum, Formen wie die Oper als theoretisch höchste Form der Kunst zu konzipieren (Kraus, Herder, Schubart). — Der Geniekult verweigert selbst die Systembildung. Das poetologische Denken vollzieht sich überwiegend in Fragmenten oder Polemiken. Dabei wird tendenziell alle gattungstheoretische Differenzierung aufgehoben; die vermischten Gattungen erscheinen als höchste Gattungen (Engel). - Der Künstler soll nicht etwas nachahmen, sondern sich selbst, sein »Innerstes« ausdrücken. Instanz der Rezeption sind ausschließlich die Sinne in expliziter Opposition zum Verstand. Man fordert spontan-intuitive Rezeption statt gelehrt-rationaler Beurteilung, wozu gerade die nonverbalen Codes wichtig sind. - Ziel der Kunst ist die möglichst intensive Wirkung; »Pathos« statt »Ethos«; (individuelle) »Erschütterung« statt (gemeinsamer) »Rührung«. Kunst soll keine soziale Gemeinschaft stiften, sondern nur auf den Kreis der eingeweihten Kraft-Genies wirken. Wer die Genie-Positionen nicht mitvollzieht, wird zunehmend als kalt und gefühllos ausgegrenzt. Die Genies richten sich an ihresgleichen, an die Kenner; der »Liebhaber« als typischer Rezipient der Empfindsamkeit soll draußen bleiben. — »Sittlichkeit« und moralischer »Nutzen« von Kunst werden ausdrücklich abgelehnt; Kunst wird zum Selbstzweck ohne Katharsis-Ansprüche o.a. aufgewertet. Auch die Kategorie des »Geschmacks« wird verabschiedet. — Zugelassen, z.T. gefordert, werden nun bisher ausgeschlossene Wirkungen von Kunst wie Schrecken und Entsetzen (ohne moralische Funktion). — Die Doktrin der maximalen Wirkung impliziert den ständigen Verschleiß der Mittel und erfordert ständige Neuheit oder Grenzüberschreitung. (Insofern ist der Geniekult ein Analogen und eine ideale Doktrin zum sich etablierenden wirtschaftlichen Markt, der ebenso ständig neue Impulse benötigt.) - Im Verhältnis zum Rezipienten soll keine Distanz, sondern maximale Nähe von Produzent und Rezipient zum Kunstwerk herrschen — zugunsten einer »spontanen« Expressivität (Fiktion der Spontaneität und Unmittelbarkeit). — Die funktionale Rolle des »Kunstrichters« wird als lächerliche Figur abgelehnt. Auch die Genies üben jedoch ihre eigene Kunstrichterei aus; diese vollzieht sich bevorzugt in Form der Polemik gegen zentrale empfindsame Autoren (z.B. Weiße, Wieland, C. Ph. E. Bach, z.T. Hiller). 756
— Nationale und historische Differenzierung: die Genies propagieren einen spezifisch deutschen Weg (ohne universale und überzeitliche Ansprüche). — Die Entwicklung der Bühnenpraxis wird von den Genie-Konzeptionen kaum berührt. Die Einschätzung der Oper hat v. a. Wirkung auf das Sprechtheater, während es kaum zur Produktion von Libretti oder gar von Opern aus dem Umfeld der Original-Genies kommt. Ebene 3: Grundlegende Transformationen — Diese poetologischen Maximen beruhen auf einer Anthropologie, die die Standardisierungen der empfindsamen Anthropologie quantitativ und qualitativ aufhebt und Abweichung statt Norm in den Mittelpunkt stellt, — Die Verschiedenheit der menschlichen Emotionalität wird betont; zugleich können die menschlichen Emotionen nicht mehr differenziert und rational getrennt werden, sondern werden als je charakteristisches, amorphes Bündel begriffen, das die »Subjektivität« des einzelnen verbürgt. (Auch Engels Systematisierungsversuch gelingt keine Linne-sche Geschlossenheit mehr.) — Das Medium der Sprache mit der ihm eigenen Rationalität widerspricht der menschliche Emotionalität; sie muß empfunden werden, im Bereich der verbalen Codes bleibt sie nur unklar und unnennbar. Sie ist nicht mehr vom Verstand dominiert, nicht mehr separierbar und einfach transformierbar, nur noch individuell bestimmbar, daher nicht mehr prinzipiell bei allen Menschen gleich (asymmetrischer Gefühlsbegriff); man unterstellt kein bezüglich dieser Emotionalität einheitliches Publikum mehr. — Man präsupponiert ein elitäres Individuum (»Originalität«, »Genie«), dessen Wert gerade in der Differenz zur Norm der Masse liegt. - Insofern gerät hier der rationalistische Subjektbegriff in eine Aporie: Einerseits setzt das Konzept des Genies die Idee des freien und ursprünglichen, unbegrenzt sprachmächtigen Subjekts voraus, andererseits stößt es an die Grenzen des Sagbaren und Ausdrückbaren. - Statisch-überzeitliche Natur-Konzeptionen werden abgebaut, z.T. durch dynamische Modelle (Herder) ersetzt. Die Natur ist keine erkennbare Ordnung mit eigener stabiler Rationalität, sondern tendiert zu einer »blinden« Dynamik. — Die vorgefundene gesellschaftliche Einrichtung wird nicht mehr als prinzipiell sinnvolle Ordnung verstanden, die sich im Kunstwerk widerspiegeln müsse.
757
4- »Ästhetische Autonomie«. Renormierungen der i79oer Jahre
Das Original-Genie muß immer etwas Außergewöhnliches schaffen, um die angestrebte »unerhörte« Wirkung zu erreichen. Es kann sich daher nicht auf Vorbilder, Normen oder standardisierte Relationen beziehen, sondern muß von diesen gerade abweichen. Dieses Verfahren gerät selbstverständlich dann in Aporien, wenn das Prinzip der Abweichung selbst wieder zur Norm geworden ist.1 Die Versuche der Klassiker, einen neuen regelhaften Code aufzubauen, stellen eine Antwort auf diese Aporien dar. Zugleich beruhen sie auf den Diskursen der vorausgehenden Geniezeit und und bauen auf deren Entwicklungen auf. So bietet die Divergenz von »Natürlichkeits«- und »Wirkungs«-Doktrin, die sich in der Einschätzung der großen Oper durch die Genies zeigt, den Ansatz zu einer Revision des »Natürlichkeits«-Gebots. Wenn es möglich ist, daß die große Oper trotz elementarer Verstöße gegen »Natürlichkeits«- und »Nachahmungs«-Gebote höchste Wirkung erreichen kann, dann kann sie in diesem Punkt als Vorbild auch für das Sprechtheater angesehen werden. Dies formuliert Schiller in den iy9oer Jahren mit direkten Konsequenzen für seine eigene dramatische Praxis. Auch wenn es sich dabei nur um eine minoritäre Position der iy9oer Jahre handelt, bündelt diese gleichwohl die Wahrnehmung der Gattung.
Schön illustriert dies eine Anekdote, die Reichardt über den Weimarer Hofkapellmeister Ernst Wilhelm Wolf, Günstling der Herzogin Anna Amalia, berichtet: »Man weiß, daß er in seinen ersten Arbeiten einer der besten Nachahmer der Bachischen Ciaviermanier war. Auf einmal fieng er an, davon abzuweichen. Als ich über die glückliche Änderung seiner Manier mit ihm sprach, sagte er mir sehr naiv: »Ich habe lange geglaubt, es gäbe nichts höheres in der Welt als [C. Ph. E.] Bach; und ein Ciavierkomponist könne und müsse auch nichts anders denken, als ihm nachzuahmen. Nun aber ist hier zu Lande seit Göthens Ankunft alles original geworden. Da dacht ich, du mußt doch auch suchen, original zu seyn.Kritik der UrteilskraftÜber Charakterdarstellung in der MusikHoren< publizierte, verwirft Körner die Nachahmungsästhetik ausdrücklich; doch auch der Kult des »Ausdrucks« wird nun kritisch bedacht: »Ein besserer Geschmack [als die Tonmalerei, J. K.] fängt an, allgemeiner sich auszubreiten. Ausdruck menschlicher Empfindung tritt an die Stelle eines seelenlosen Geräusches. Aber ist dieß der Punkt, wo der Tonkünstler stehenbleiben darf, oder giebt es für ihn noch ein höheres Ziel?« 7 Körner reflektiert das zentrale Axiom von Empfindsamkeit und Geniekult kritisch; damit werden zugleich auch die wirkungsästhetischen Grundlagen der Empfindsamkeit problematisiert: So lange der Tonkiinstler kein höheres Ziel kennt als das Vergnügen seines Publikums, so sind es bloß die Eigenheiten dieses Publikums, die ihn in der Wahl und Behandlung seines Stoffes bestimmen. Bald wird er durch schmetterndes Geräusch erschüttern, bald zartere Nerven durch schmelzende Töne reizen, bald einen Zuhörer der mehr denkt als empfindet, durch künstliche Zusammenstellungen und kühne Übergänge beschäftigen. Ihm ist die Musik bloß angenehme Kunst; davon, daß sie etwas mehr seyn könne, hat er keinen Begriff. Mit dem Eintritte hingegen in das Reich der Schönheit unterwirft sich auch der Tonkünstler ganz ändern Gesetzen. Befreit von aller äußern Herrschaft der Vorurtheile, Moden und Launen seines Zeitalters wird er desto strenger gegen sich selbst, und sein einziges Bestreben ist, seinen Werken einen unabhängigen, selbstständigen Werth zu geben.8
Körner löst die Musik aus den wirkungsästhetischen Bindungen an bestimmte Publiken und deren Anforderungen; er sucht danach, »was für jede Kunst [ ] ohne Beziehung auf die Empfänglichkeit eines besondern Publikums an sich selbsr darstellungswürdig ist.« 9 Gegen die empfindsame Konzeption von Musik als Quelle des Vergnügens und der geselligen Erholung und Selbstbestätigung stellt die klassische Ästhetik nun das »Reich der Schönheit«, in dem die Musik eigengesetzlich und autonom nach ihrem »selbstständigen Werth« sucht und in dem zugleich die Legitimität reiner Unterhaltung bestritten wird (was entscheidende Folgen für das bildungsbürgerliche Theater des 19. Jahrhunderts haben wird). Der Geniekult wandelt sich dabei zur Idee eines nach den Gesetzen der autonomen Kunst selbst frei schaffenden Künstlers; sozialgeschichtlich entspricht dem der Wandel der Komponistenrolle zum >freienfreie< Tätigkeit legitimiert: »In den Schöpfungen seiner Phantasie soll die Würde der menschlichen Natur erscheinen.« 10 Die Zielrichtung von Körners Aufsatz, »daß nicht die Leidenschaft, sondern der Character das Object der musikalischen Darstellung sein müsse«, 11 verwirft direkt die zentrale Maxime der Geniebewegung. Worin aber liegt nun jenes »höhere Ziel« der Musik, demzuliebe Körner die rigorose Abkoppelung der Kunst vom Geschmack des Publikums fordert? Körner siedelt es in der Aufgabe der »Charakterdarstellung« an. Er trennt den menschlichen »Charakter« (»Ethos«) als etwas »Beharrliches« vom vorübergehenden »leidenschaftlichen Zustand« (»Pathos«), der abgewertet wird. Die künstlerische Darstellung eines »Charakters« versinnlicht den innersten Kern der menschlichen Natur, »die Kraft, welche gegen alle Einwirkungen der Außenwelt, und gegen alle innere Stürme der Leidenschaft ihre Unabhängigkeit behauptet, [ ] und diese Freiheit ist es, welche uns durch Darstellung eines Charakters versinnlicht wird.« 1 2 Auch der Musiker muß daher versuchen, den »Charakter« darzustellen, nicht die Ausnahmesituation der »Leidenschaften« um ihrer selbst willen: [ ] bei dem Musiker kann der Wahn leicht entstehen, daß es ihm möglich sei, Gemütsbewegungen als etwas Selbstständiges zu versinnlichen. Begnügt er sich dann, ein Chaos von Tonen zu liefern, das ein unzusammenhängendes Gemisch von Leidenschaften ausdrückt, so hat er freilich ein leichtes Spiel, aber auf den Namen eines Künstlers darf er nicht Anspruch machen. Erkennt er hingegen das Bedürfnis der Einheit, so sucht er sie vergebens in einer Reihe von leidenschaftlichen Zuständen. Hier ist nichts als Mannichfaltigkeit, stete Veränderung, Wachsen und Abnehmen. Will er einen einzelnen Zustand festhalten, so wird er einförmig, matt und schleppend. [ ] Ihn täuscht die Wirkung seines gemißbrauchten Talents, weil der niedrigste Ausdruck gerade der allgemein verständlichste ist. [ ] Er wird der Sklave seines Publikums, anstatt es zu beherrschen. 1 '
Körners klassische Musikästhetik entspringt aus der Ablehnung zentraler Dogmen der Geniebewegung (Chaos der »leidenschaftlichen Zustände«) und der älteren rationalistischen Theorie (Einförmigkeit des festgehaltenen »einzelnen Zustands«); folgerichtig reduziert Körner auch den Primat der »Melodie« und mißt der »Harmonie« wieder einen zentralen Anteil am musikalischen Ausdruck bei, auch wenn (gegen Rousseau gewendet) »neuere Theoretiker [ ] an dem Werthe der Harmonie überhaupt noch gezweifelt haben.«' 4 10
Ebd. S. 148. Brief vom 15.3.1795 an Schiller, in dem Körner auf Schillers Kritik an seinem HörenAufsatz eingeht [wie Anm. 6, Bd. III, S. ivoff.]. 12 Körner 1795, S. 148. Der Begriff des »Charakters« setzt die »Individualitäts«-Diskussion der Geniezeit voraus; vgl. z.B. Sulzers Artikel »Charakter«. '* Ebd. 14 Ebd. S. 158. Körner arbeitete an einer weiteren Schrift mit dem bezeichnenden Titel >Vertheidigung der Harmonie gegen Rousseau« (vgl. Schillers Briefwechsel mit Kör11
7 6l
Körner sucht — in Forcsetzung des >Kalliasabsolutistische< Herrschaft einer »Idee« gefährdet, sondern auch durch eine entgegengesetzte Haltung: Ein unbegränzter Trieb nach Darstellung würde sogar endlich die Form durch den Stoff zerstören. Die höchste Leidenschaft ist starr und sprachlos. Soll Tanz, Gesang und Poesie auch dann noch fortdauern, so muß etwas von der Wahrheit aufgeopfert werden [ ].'7
»Charakterdarstellung« in der Musik bedeutet demgegenüber die harmonische Balance von Einheit und Mannigfaltigkeit, das Prinzip des Einheitlichen gerade in der Mannigfaltigkeit ihrer sinnlichen Wirkungen (— was für Körner in der reinen Instrumentalmusik ebenso, wenn nicht besser möglich ist als in der Vokalmusik18). Mit diesem Charakterbegriff wendet sich Körner auch gegen
15 16 17 18
ner [wie Anm. 6], Bd. III, S. 186), die nicht erhalten ist. — Neben die bekannte Dichotomic stellt Körner als dritte zentrale Ebene den »Rhythmus«. Die Reduzierung der Melodie entspricht der Abwertung der melodiegetragenen Vokalmusik; Fluchtpunkt von Körners Musikästhetik ist nicht mehr die Oper, sondern die Instrumentalmusik. Schillers Briefwechsel mit Körner [wie Anm. 6], Bd. III, S. 100. Vgl. dazu a. Körners Brief an Schiller vom 7.11.1794 [wie Anm. 6, Bd. II, S. isaf.]. Körner 1795, S. 150. »Die Musik würde das Ideal eines Charakters so wenig als irgend einen ändern Gegenstand darstellen können, wenn der Vorwurf gegründet wäre, daß sie für sich allein uns nichts bestimmtes zu denken gebe. Noch jetzt aber ist dieß eine herrschende Meinung bei einem großen Theile des Publikums. Noch immer hält man Poesie, Schauspiel oder Tanz für nöthig, um jenen Mangel an Bestimmtheit zu ergänzen, und wo die Musik als selbstständige Kunst auftritt, verkennt man den Sinn ihrer Produkte, weil er sich nicht in Worte und Gestalten übertragen läßt.« (Körner 1795, S. 149) Körner beantwortet damit am Ende des Jahrhunderts Bernard Fontenelles berühmte, die rationalistische Haltung brennpunktartig bündelnde Frage »Sonate, que-me-veux-tu?« Gerade die Nicht-Übertragbarkeit der Musik in verbale Codes, die
762
die musikkritischen Argumentationen Kants und Schillers, denen zufolge die sinnliche Kraft der Musik ihre ästhetische Wirkung beschränke. Für Körner beruht die ästhetische Wirkung der Musik gerade auf ihrer Sinnlichkeit, sofern sie richtig (zur Charakterdarstellung) verwendet wird. Zugleich entwirft er, vor den Romantikern, eine Art Theorie der >absoluten MusikKritik der Urteilkraft< die Musik wegen ihrer primär sinnlichen Qualität abgewertet (§ 53; Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Berlin 1968. Bd. 5, S. 320ff). »Denn das Gemüt des Zuschauers soll auch in der heftigsten Passion seine Freiheit behalten, es soll kein Raub der Eindrücke sein, sondern sich immer klar und heiter von den Rührungen scheiden, die es erleidet.« (Wie Anm. 26, S. 822) Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 22. Brief (in: wie Anm. 33, S. 639).
766
Bei Schiller ist die »Rührungs«-Ästhetik der lyyoer und I78oer Jahre (die zur gleichen Zeit etwa bei Jean Paul36 weitergeführt wird) durch eine idealistische Konzeption abgelöst: In der Formgestalt der Musik bewähre sich die innere Freiheit gegenüber der Macht der Sinne und Affekte. 37 (Schillers Konzeption ist freilich in ihrer Zeit eine minoritäre und hat für die Entwicklung der Gattung Musiktheater zunächst keine Konsequenzen.) Schillers musikalischer Bezugspunkt ist neben Gluck (hierin bruchlos den Glück-Kult der Genies weiterführend) die klassizistische späte Opera seria, etwa in der Ausprägung durch Niccolo Jommelli. Aus dem um 1800 Veralteten wird so im anderen Medium des Dramas das ganz Neue. Das Anknüpfen an veraltete musikalische Modelle führte bei Schiller allerdings dazu, daß er anders als etwa Körner - kein Verständnis für die aktuellen Entwicklungen der Wiener Klassiker aufbringen konnte; bekannt ist, daß er etwa Haydns >Schöpfung< als »charakterlos« ablehnte.·38
2. Goethe: Die Oper als ästhetischer Schein Auch Goethe greift mit ähnlicher Zielrichtung wie Schiller auf die Oper zurück, um an ihr die zentrale Bedeutung der eigengesetzlichen »Konsequenz eines Kunstwerks« aufzuzeigen. Schon in den >Tag- und Jahresheften< zu 1789 hatte er »die reine Opernform [ ] vielleicht die günstigste aller dramatischen« genannt. 39 In >Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke. Ein GesprächPropyläen< veröffentlicht, dient gerade die Oper in ihrer spezifischen >Unwahrscheinlichkeit< dazu,
36
57
iff 39
Wie stark Jean Paul die musiktheoretischen und -ästhetischen Debatten seit den lyyoer Jahren rezipierte, belegt eindrucksvoll die Studie von Georg Schünemann (Jean Pauls Gedanken zur Musik. In: ZfMw 16 (1934), S. 385-404) mit umfangreichen Lektürelisten Jean Pauls. Vgl. Brief an Körner, 10.3.1795; zit. bei Seifert 1956, S. 94f. Körner dagegen versucht in seiner Antwort gegenüber Schiller, die Wirkung der Musik anthropologisch zu fundieren: »Die Macht der Musik beruht meines Erachtens weder auf dem körperlichen (sinnlichen) noch auf dem geistigen (intellectuellen) Theil allein, sondern auf beiden zugleich: weil sie auf den Menschen als ein sinnlich-vernünftiges Wesen wirkt. Diese Wirkung gründet sich aber auf physiologische und anthropologische Principien, über die ich zur Zeit noch sehr wenig zu sagen weiß.« (Brief vom 15.3.1795 an Schiller, zit. ebd. S. 130) Vgl. dazu Dahinaus 1974 oder Zeman 1994. MA 14, S. 14. Die Bemerkung bezieht sich auf das Lustspiel >Der Groß-CophtaPalmira< von Antonio Salieri, das gemalte Zuschauer enthielt. 41 Goethe konfrontiert nun einen »Zuschauer«, der dies als Störung der Illusion kritisiert und vom Theater Wahrheit und Wahrscheinlichkeit fordert, mit einem »Anwalt«, der das Bühnenbild verteidigt. Dabei kommt es zur Neudefinition des Illusions-Begriffs: Die täuschende Kraft der Kunst entspringt für den Anwalt aus der inneren Wahrheit des Kunstwerks und gerade nicht, wie der Zuschauer im Sinne der älteren Ästhetik fordert, aus der äußeren der Naturnachahmung: Anwalt. Wir sprachen vorher der Oper eine Art Wahrscheinlichkeit ab; wir behaupteten, daß sie keineswegs das, was sie nachahmt, wahrscheinlich darstelle; können wir ihr aber eine innere Wahrheit, die aus der Konsequenz eines Kunstwerks entspringt, ableugnen? [ ] Sollte nun nicht daraus folgen, daß das Kunstwerk und das Naturwahre völlig verschieden sei, und daß der Künstler keineswegs streben solle noch dürfe, daß sein Werk eigentlich als ein Naturwerk erscheine?42
Hier sind in Frageform zentrale Positionen Schillers aufgegriffen. Goethe geht allerdings noch einen Schritt weiter, indem er nun seinen »Anwalt« die Kategorie des Scheins am Beispiel der Oper etablieren läßt. Kunst soll gerade nicht die empirische Natur nachahmen, sondern allenfalls »nur einen Schein des Wahren« aufweisen. Die eigentliche Wahrheit einer Oper (wie jedes Kunstwerks) beruht dagegen auf der inneren Übereinstimmung, auf der konsequenten Ausbildung ihrer künstlerischen Autonomie. Wer dies nicht erkennen kann, wird als Rezipient abgewertet: Anwalt, [ ] Nur dem ganz ungebildeten Zuschauer kann ein Kunstwerk als ein Naturwerk erscheinen, und ein solcher ist dem Künstler auch lieb und wert, ob er gleich nur auf der untersten Stufe steht. Leider aber nur so lange, als der Künstler sich zu ihm herabläßt, wird jener zufrieden sein, niemals wird er sich mit dem echten Künstler erheben [ ].43
Die Wendung von der Wirkungsästhetik zu einer Ästhetik des absoluten Kunstwerks führt zu einer hierarchischen Struktur vom Künstler zum Rezipienten, die die Empfindsamkeit gerade zu minimieren versucht hatte. Diese Rezeption wird jetzt verworfen: Zuschauer. Sollte der ungebildete Liebhaber nicht eben deswegen verlangen, daß ein Kunstwerk natürlich sei, um es nur auf eine natürliche, oft rohe und gemeine Weise
40
41 42 4i
Das Gespräch steht in engem inhaltlichen Zusammenhang mit der vorausgehenden Einleitung in die PropyläenFaust II < weist eine Fülle von Opernelementen auf, sondern auch die meisten anderen Dramen Goethes aus seiner reifen Zeit zeigen in vielfältigen Formen den Einfluß der Musik und des Musiktheaters auf sein literarisches Denken.47 Die klassischen Ansätze zur Theorie des Musiktheaters beruhen auf der Ablehnung mimetischer Funktionen, der Betonung der künstlerischen Selbstreferenz und dem Aufbau einer eigenen poetischen Welt in der Mischung der Künste. Diese Axiome bestimmen in den iy9oer Jahren zunehmend die allgemeine Debatte. Ähnliches vertritt z.B. seit Mitte der iy9oer Jahre der KantSchüler Christian Friedrich Michaelis: Die Musik »stellt also den Geist der Kunst, in seiner Freiheit und Eigentümlichkeit, ganz rein dar. [ ] Vollendete musikalische Werke haben ihren Wert nicht etwa bloß darin, daß sie etwas anderes vorstellen, etwas anderes bedeuten, sondern in dem, was sie selbst sind, in ihrem eigenen unvergleichlichen Wesen.«48 An diese Ästhetik der autonomen Musik knüpft dann auch die romantische Musikästhetik ebenso an wie 50 Jahre später Eduard Hanslicks Formästhetik.49 So heißt es etwa bei Tieck 1799:
47 48
49
Vgl. o. Il.y sowie Holtbernd 1992, bes. S. 237ff. Christian Friedrich Michaelis: Über das Idealische der Tonkunst. In: AmZ 1808, S. 449ff. Vgl. Dahlhaus 19883, S. i8f.; Lubkoll 1993, S. Soff. Das Hören von Musik wird bei Michaelis vom rauschhaften Ausdruck der Leidenschaften zu einer ethischen Bildungsidee umkonzipiert: »So erhebt sich der Geist über den Sturm der Leidenschaften in einer energischen wilden Musik (eines Händel, Mozart oder Hayden) durch die moralischen Ideen der Vernunft, und ästhetisches Wohlgefallen an dem erhabenen Ausdrucke mischt sich mit dem hohen (moralischen) Gefühl menschlicher Würde und Selbständigkeit.« (Über den Geist der Tonkunst mit Rücksicht auf Kants Kritik der ästhetischen Urtheilskraft. 2 Bde. Leipzig 1795/1800, S. 45) Vgl. a. ders.: Über den Rang der Tonkunst unter den schönen Künsten. In: AmZ 1799, S. i83ff. Vgl. z.B. Novalis: »Vollkommene Oper ist eine Vereinigung aller, die höchste Stufe des Dramas.« (Fragmente 1798, zit. n. Stompor (Hg.) 1975, S. 70) Zu den frühromantischen Positionen vgl. allg. Naumann 1988 und Lubkoll 1993 sowie die Sammlung repräsentativer Texte von Naumann (Hg.) 1994; zu Hanslick vgl. Dahlhaus 19883, S. i8ff.
770
»Ja diese Töne, die die Kunst auf wunderbare Weise entdeckt hat, und sie auf den verschiedensten Wegen sucht, sind von einer durchaus verschiedenen Natur, sie ahmen nicht nach, sie verschönern nicht, sondern sie sind eine abgesonderte Welt für sich selbst.« 50 Die romantische Metaphysik der Instrumentalmusik bei Wackenroder/Tieck oder E. Th. A. Hoffmann (in seiner berühmten Rezension von Beethovens Fünfter Symphonie von 1810) zeigt deutliche Parallelen zur klassischen Kunsttheorie, ebenso wie der emphatische Anti-Naturalismus der Frühromantiker überhaupt: Ja keine Nachahmung der Natur. Die Poesie ist durchaus das Gegentheil. Höchstens kann die Nachahmung der Natur, der Wircklichkeit nur allegorisch [ ] oder des tragischen und lustigen Effects wegen hin und wieder gebraucht werden. Alles muß poetisch seyn. 51
Die Romantiker lösen sich jedoch von der Antisinnlichkeit der idealistischen Anthropologie. Beide Theorie-Ansätze über Kunst aber sind nicht denkbar ohne das Musiktheater als produktives Ferment des theoretischen Denkens im 18. Jahrhundert. Um 1800 jedoch verliert das Musiktheater seine den ästhetischen Diskurs bestimmende Kraft. Der Diskurs verschiebt sich, wie schon bei Herder oder Körner erkennbar, von der Vokalmusik und dem Musiktheater auf die wortlose Instrumentalmusik: Der »Mythos Musik« entsteht, in dem Musik nun nicht mehr als Sprache der Empfindungen verstanden wird, sondern als Medium »unendlicher Sehnsucht«. 52 Ex negative zeigt diese Umwertung noch einmal die Bedeutung des Musiktheaters für das poetologische Denken im 18. Jahrhundert: die neue Ästhetik muß einen Paradigmenwechsel weg vom Musiktheater vollziehen, um sich zu konstituieren.
50
Ludwig Tieck: Töne. In: Wackenroder/Tieck: Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst. In: W. H. Wackenroder: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-Kritische Ausgabe. Bd. i, hg. v. Silvio Vietta. Heidelberg 1991, S. 147-252, hier S. 236; vgl. dazu Dahlhaus igSSa, S. I5ff., sowie allg. Lubkoll 1993. 51 Novalis an seinen Bruder Karl, Ende März 1800; in: Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe, hg. v. Hans-Joachim Mahl und Richard Samuel. Bd. i. München/Wien 1978, S. 737. ' 2 Dies kann die Musik gerade wegen ihrer Selbstreferenz leisten: Aus der Gefühlsästhetik der Empfindsamkeit wird so eine Art Strukturästhetik. Dafür aber steht nun in erster Linie die Instrumentalmusik; die Oper verlierr ihren dominanten Rang. Damit ist auch ein Wechsel in der Kommunikationsstruktur verbunden: aus der geselligen Rezeption des Musiktheaters wird in der romantischen Theorie die isolierte Kontemplation im »Geisterreich der Töne«. Vgl. Lubkoll 1993, S. ii9ff. 771
3- Zentrale Positionen der klassischen Ästhetik Ebene i: Wahrnehmung der Gattung Musiktheater - Die große Oper wird als Vorbild zur Entwicklung einer neuen anti-mimetischen Kunst begriffen (Schiller). Die komische Oper dagegen wird wie in der Genieästhetik zurückgewiesen. — Ihre sinnlichen Aspekte werden zurückgedrängt (sie dienen nur zur Vorbereitung des »Gemüts«), dagegen ihre Differenz zur Realität positiv betont. Gerade die große Opera seria gilt als höchst artifizielle Gattung, die darin die Idee der ästhetischen »Freiheit« mustergültig realisieren kann. Daher soll das Opernlibretto das Sprechtheater reformieren (Schiller). — Die Doktrinen der »Einfachheit« und »Natürlichkeit«, die Empfindsamkeit und Geniebewegung teilten, werden abgelehnt. Ihnen ist das neue Ziel übergeordnet: die Erhabenheit der autonomen Kunst. - Das Wunderbare und Übernatürliche ist daher selbstverständlicher und legitimer Stoffbereich der Oper. — Die Multimedialität der Gattung wird positiv begriffen. Sie hat eine doppelte Funktion: Einerseits soll sie als Element der Verfremdung und Illusionsbrechung gegenüber der »wirklichen Welt« Mimesis verhindern: sie hebt die theatralische »Täuschung« auf. Andererseits soll sie zur sinnlichen Übertragung der »poetischen Freiheit« dienen. — Probleme bereitet Schiller die Musik, die als ein schwer zu kontrollierendes sinnliches Potential erscheint, das die befreiende Wirkung von Kunst behindern kann. Besonders deutlich grenzt sich Schiller von der Musikrezeption der Empfindsamen und der Genies ab. Die Musik darf keinen Eigenwert erhalten oder sich gegenüber dem Text verselbständigen. Die immanenten Möglichkeiten der Musik gelten Schiller nur da als legitim, wo sie in die »Veredlung« münden, zur zentralen Kategorie der »Form« finden. Gleichzeitig erscheint jedoch die Musik zur Unterstützung der Wirkungsabsicht unverzichtbar: Wenn Musik Form »findet«, dann beweist sie gerade die innere Freiheit gegenüber der Macht der Sinne und Affekte. Oper soll nicht Gefühle oder Sinnliches ausdrücken, sondern ästhetische Stringenz verkörpern. - Vokalmusik gilt daher als der Instrumentalmusik überlegen; 53 dies bildet einen Differenzpunkt zwischen klassizistischen und romantischen Positionen. 51
Vgl. die Äußerungen Wilhelm Meisters gegen den Harfner in >Wilhelm Meisters LehrjahreOper< gefunden wird, erinnert mich an den lächerlichen Menschen, der sich mit seinen eigenen Armen in die Luft zu heben versucht: was dieser Narr, und was die Oper nach jenem Begriffe versuchen, sind reine Unmöglichkeiten. Jener Opernbegriff fordert nicht etwa von der Musik einen Mißbrauch, sondern — wie ich sagte — eine Unmöglichkeit! Die Musik kann nie Mittel werden, man mag sie stoßen, schrauben, foltern: als Ton, als Trommelwirbel, auf ihren rohesten und einfachsten Stufen überwindet sie noch die Dichtung und erniedrigt sie zu ihrem Wiederscheine. Die Oper als Kunstgattung nach jenem Begriff ist somit nicht sowohl Verwirrung der Musik, als eine irrthümliche Vorstellung der Aesthetik. 5 "
58
Friedrich Nietzsche: Nachgelassenes Fragment (Ende 1870 oder Anfang 1871). In: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München 2 I988, Bd. 7, S. iSjff. Nietzsche knüpft an Überlegungen Schopenhauers an (vgl. z.B.: Zur Metaphysik des Schönen und Aesthetik. In: Parerga und Paralipomena II [1851], Kap. XIX, bes. § 2190°.).
775
VIERTER TEIL Dokumentation
Verzeichnis aufgeführter deutscher Musiktheater-Werke 1760-1800
Das folgende Verzeichnis umfaßt aufgeführte deutschsprachige Musiktheaterwerke des Zeitraums 1760 bis 1800. Es beruht auf Spielplanverzeichnissen und ist nicht bibliographisch orientiert: Ziel war nicht, die heute noch vorhandenen Druckzeugnisse zu verzeichnen, sondern einen Eindruck von den aufführungspraktischen Dimensionen des Genres zu erhalten. Ein derartiges Verzeichnis existiert bislang nicht, sieht man einmal von dem rund 75 Jahre alten, in vielen Details fehlerhaften Ansatz von Franz Stieger (1923) ab. Auch der große Libretti-Katalog von RISM ist völlig anders ausgerichtet: Er dokumentiert einerseits nur die heute noch in deutschen Bibliotheken vorhandenen Librettidrucke aller Sprachen, umfaßt andererseits die Bestände in Österreich und der Schweiz nicht. Ein Verzeichnis der aufgeführten Stücke scheint mir aus mehreren Gründen sinnvoll zu sein: — Nicht alle Werke, die aufgeführt worden, sind im 18. Jahrhundert auch gedruckt worden, geschweige denn erhalten geblieben. Für die Breitenwirkung des Genres aber ist in erster Linie seine tatsächliche historische Verbreitung wichtig, die nur über die Aufführungen dokumentiert werden kann. — Ein reines Druckverzeichnis bietet ein schiefes Bild, weil es einseitig bestimmte Druckorte überrepräsentiert. Gerade die kleinen Orte aber, die mitunter über gar keine Druckerei verfügten, waren wichtig für die Vielfalt der Theaterpraxis. — Ein am Maßstab gedruckter Texte orientiertes Verzeichnis wird meist den protestantischen Raum gegenüber dem katholischen überbetonen, da buchdruck- und buchhandelsgeschichtlich gerade im späten 18. Jahrhundert der protestantische Bereich wesentlich stärker expandiert als der katholische. (Erst in den I79oer Jahren zieht Wien in etwa gleich.) In der Theaterpraxis jedoch ist der katholische Bereich dem protestantischen quantitativ mindestens gleichwertig. Insgesamt erwies sich keines der bisherigen Verzeichnisse als vollständig, wobei auch mein Verzeichnis keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Erst die Fertigstellung von Reinhart Meyers >Bibliographia Dramatica< wird einen einigermaßen vollständigen Blick auf die dramatische Produktion des Zeitraums ermöglichen. Dennoch halte ich ein eigenes Verzeichnis des deutschen Musiktheaters auch dann noch für sinnvoll, da Meyer die gesamte Theaterpraxis dokumentiert, so daß das Musiktheater wiederum aus seiner Bibliographie extrahiert werden müßte.
778
Das Besondere eines derartigen Verzeichnisses liegt darin, daß zu einem großen Teil Werke aufgeführt werden, die nicht mehr erhalten sind. Vor allem die Musik ist heute nur noch in geringem Maße überliefert, zugleich aber oft wenig erforscht. Dadurch ergeben sich besondere Probleme der Absicherung. Häufig sind die Angaben auf Theaterzetteln unvollständig oder ungenau, und nicht immer war es möglich, fehlende Angaben stichhaltig und sicher zu ergänzen. (Gerade die Neigung, unvollständige Angaben nach anderen Quellen zu vervollständigen, wie sie etwa der große Libretti-Katalog von RISM zeigt, erweist sich in der Praxis oft als Fehlerquelle ersten Ranges, vor allem bei mehrfach vertonten Werken.) Angaben, die von mir ergänzt wurden, finden sich in der Folge in eckigen Klammern; in Zweifelsfällen wurde lieber auf eine Angabe verzichtet, als spekulativ vorzugehen. In das Verzeichnis aufgenommen wurden Werke des Musiktheaters, wenn sie original in deutscher Sprache komponiert wurden. Ausgeschlossen wurden daher alle Übersetzungen mit beibehaltener Originalmusik, 1 aufgenommen wurden jedoch übersetzte Libretti, wenn diese in Deutschland mit neuer Musik vertont wurden. Während hier die Abgrenzung relativ leicht möglich ist, sind einige andere Aufnahmekriterien problematischer, da die Grenzen in der historischen Praxis fließend sind. Ausgeschlossen wurden reine Bühnenmusiken, die in der Regel aus instrumentalen Zwischenaktmusiken und Chören bestehen; aufgenommen wurden dagegen Lust- und Trauerspiele mit Gesang. Da einerseits auch das »Sprechtheater« der Zeit Musikanteile aufwies, andererseits die Musik heute gerade meist fehlt, ist hier die Abgrenzung im Detail oft schwierig. Ähnliches gilt für das zweite wichtige Auswahlkriterium: Aufgenommen sollten nur Werke werden, die auf eine szenische Realisation hin angelegt wurden: also z.B. keine Oratorien, wohl aber szenisch aufgeführte »geistliche Singspiele«. Damit fällt ein bedeutender Komplex heraus, z.B. die im protestantischen Raum viel aufgeführten »musikalischen Dramen« des Magdeburgers J. H. Rolle2 oder etwa C. Ph. E. Bachs >Israeliten in der WüsteLa Clochette< [1766]).- M: J. A. Hiller.- Leipzig (Ranstädter Tor) 18.5.; weitere Auff. Wien 7.6.1779 (Alte Jos. Bühne), 3.11.1783 (Fasanth.).- Drucke Hamburg 1768; Leipzig: Dyk 1771, 1776 und 1777; o.O. 1771; Karlsruhe: Schmieder 1778; Prag: Diesbach 1785; Bregenz: Brentano 1791. Druck KLA Leipzig: Breitkopf 1769, 2 i77O Der frohlockende Schäfer. Musikalisches Vorspiel.- Mannheim 5.11. Die Hochzeit auf der Alm. Singspiel.— T: F. Reichsiegel.— M: Michael Haydn.— Salzburg (Universitätsth.) 6.5.— Druck o.O. [Salzburg] 2 i768.— [Musikalisch erweiterte Neufassung 1776] Matz und Anna [Anne], oder: Wurst wider Wurst. Färse (2).- T: Johann Christian Ast.M: Anton Laube.— Stralsund April; weitere Auff. Berlin (Döbbelin) 17.4.1777 Der Capellmeister und die Schülerinn. Komische Oper (2).— T: J. C. Ast.— M: A. Laube.- Stralsund April; weitere Auff. Berlin (Döbbelin) 5.5.1777 Garzias []. Trauerspiel [mit Musik].- M: J. Lederer.- Ulm (Kloster Wengen) 2.9.Druck Ulm: Wagner o.J. [1768] Bastien und Bastienne. Singspiel (i).- T: J. A. Schachtner nach F. W. Weiskern und J. Müller nach Marie-Justine Favart >Les amours de Bastien und Bastienne< [Parodie auf Rousseaus »Devin du village«, 1752].- M: W. A. Mozart.- Wien, September. Hanswurst, der lustige Seifensieder. Lust- und Singspiel (2).— Wien [?].— Druck Wien 1768
1769 Das Erntefest. Singspiel (i).— T und M: C. G. Weisflog.— Bautzen Das Monden-Reich. Operette (3).— M: Johann Christian Frischmuch.- Berlin (Döbbeiin) Die verliebte Unschuld. Singspiel.— Berlin 15.4. Fräulein von Ueberklug und Herr Gleichzu. Operette (2).- M: Frisch.- Braunschweig (Kleines Fürstl. Theater) 9.1. Hans Hüttenstock. Komische Oper.— M: Leonti Meyer von Schauensee.— Luzern (Kloster) Die Stärke der väterlichen Liebe. Singspiel (3).— M: Franz Josef Sebastiani.— Mannheim Die Verwechslung, oder: Der Teufel in allen Ecken. Komische Oper (3).- T: C. L. Reuling [nach d. Frz.].— M: Franz Andreas Holly [Frantiiek Ondrrej Holy].— Prag.— [Lief offenbar auch unter dem Titel >Die verwandelten WeiberLa Jardiniere de VincennesLa Bergere des AlpesBlaise le savetierLa Guerra< [1760]).- M: J. A. Hiller. — Berlin (Koch Behrensstr.) 17.8.— Druck Leipzig: Böhme 1773. Druck KLA Leipzig: Breitkopf 1773 Der Deserteur. Singspiel.- [T: nach Sedaine?].- M: J. M. Helmig.- Breslau (Taschengasse, Wäser) Das Milchmädchen [und die beiden Jäger]. Singspiel.— [T: nach Louis Anseaumes Libretto >Les Deux Chasseurs et la laitiereNarcisse et PierronLe Barbier de Seville«).— M: J. Andre.— Berlin (Döbbelin) 2.10.; weitere Aufführung z.B. Wien (Fasanth.) 23.9.1783.Druck Offenbach: Weiß 1776 Deukalion und Pyrrha. Musikalisches Drama mit Gesängen (2).— T: Karl Emil Schubert [nach St.-Foix].- M: F. A. Holly.- Berlin.- Druck Breslau/Leipzig: Gutsch 1779.[Im Vorwort des Drucks wird Hollys Musik erwähnt, und es heißt, daß auch C. B. Über an einer Vertonung arbeite. Dafür läßt sich kein Aufführungbeleg finden; das bei Schimpf angegebene Datum Berlin (Döbbelin) 12.5.1776 ist eine Verwechslung mit der Vertonung von Anton Laube] Orpheus und Euridice. Duodrama.- T: J. F. Schink.- [vielleicht Berlin 1776/77] Andromeda. Monodrama.- M: G. v. Baumgarten.— Breslau.— Druck KLA Breslau: Korn d.Ä. 1776 Das Opfer der Treue. Vorspiel mit Gesängen.— T: K. E. Schubert.— M: F. A. Holly.— Breslau 24.1.— Druck Breslau/Leipzig: Gutsch 1779 [Rez. ADB 43/2, S. 4O9ff.] Das Grab des Mufti oder: Die beyden Geizigen. Komische Oper (2).- T: A. G. Meißner [nach Charles-Georges Fenouillot de Falbaire >Les deux Avares< [1770] für Gretry].— M: Gotthilf v. Baumgarten.— Breslau (Wäser).— Druck Leipzig: Dyk 1776. Druck KLA Breslau: Meyer 1778 [Rez. ADB 30/1, S. 239 und 46/1, S. 184] Philemon und Baucis. Singspiel.— M: J. Böhm.— Brunn Die Amerikanerinn. Lyrisches Gemälde.— T: H. W. v. Gerstenberg.— M: J. C. F. Bach.Bückeburg [?].— Druck Riga 1776. Druck KLA Hamburg 1787 [in: Bach: >Musicalische NebenstundenDer KinderfreundWalder< und Marmontel >SylvainZemire et AzorErastSiegwartDas Grab in Arkadien^ Drucke Leipzig 1779 und Druck Berlin 1788 [überarbeiteter Text zur vorhandenen Musik Schmittbaurs]. Der Schiffbruch. Märchen (4).- T: H. Graf von Spaur. - M: Nikolaus Mühle.- Königsberg Fremore und Melime. Schauspiel mit Gesang (3).— T: H. Graf v. Spaur.— M: N. Mühle.— Königsberg Der Küster im Stroh. Singspiel.— M: Karl Siegmund Schönbeck. — Königsberg 798
Fremore und Melime. Schauspiel mit Gesang (3).— T: »von einem jungen Kavalier« [Graf Spaur].— M: J. Michl.— Mainz (Th. an der großen Bleiche) Januar. — Drucke Frankfurt a. M. 1778; Augsburg 1780 Der Schiffbruch. Mährchen (4).— T: »von dem Verfasser von Fremor und Zelinde [sie!]« [Graf Spaur].— M: Franz Hugo Freiherr von Kerpen.— Mainz (Th. a. d. gr. Bleiche) Januar.- Druck Frankfurt a.M. 1778 Azakia. Singspiel (3).— T: C. F. Schwan.— M: Christian Cannabich.— [Mannheim?].— Druck Mannheim: Schwan 1778 Die drei Pächter. Oper (3).- T: Wilhelm Gottlieb Becker.- M: Friedrich Schwindl.Mühlhausen (Schweiz); [weitere Auff. Dessau?].- Druck Gotha 1778 [Rez. ADB 4i/ i,S. 159] Die reisenden Komödianten. Singspiel (3).— T: G. W. Burmann.— M: J. Michl.— München (Neues Th.) Der gerettete Ismael. Geistliches Singspiel.- M: Vitus Karl (Chorregent aus Niesbach).— Au nächst München (Waisenhaus zu St. Andre und Johannes dem Täufer).— Druck o.O. 1778 Die Matrosen. Singspiel (2).- T und M: Ludwig Ysenburg v. Buri.— Neuwieä.— Drucke Neuwied: Gehra 1787; o.O. 1788 Die beste Wahl, oder: Das von den Göttern bestimmte Loos [Das Loos der Götter]. Singspiel.— T: J. Nuth u.a.— M: Johann Joseph Friebert.— Nürnberg 19.2.; Passau (Fürstl. Th.) 1780 Philint und Lucinde, oder: Eins sucht das andere [Eines ist nicht das Andere]. Ländliche Operette (i). — T: Ludwig Erdmann.— M: Gerbert.— Regensburg um 1778.- Druck Regensburg 1778 [Rez. ADB 38/2, S. 46if.] Das Milchmädchen [und die beiden Jäger]. Singspiel.— [T: nach Louis Anseaume].— M: J. C. Kaffka.— Regensburg Die Zigeuner. Farce (5).— T: H. F. Möller [nach Cervantes].- M: J. C. Kaffka.— Regensburg; weitere Auff. München 1778 Lukas und Hannchen. Singspiel.— [T: J. J. Eschenburg nach Favart].— M: J. C. Kaffka.— Regensburg Der Zauberer. Singspiel.— T: Thomson.— M: A. v. Boecklinsau.— Rust i. Br. um 1778 Das Denkmal des guten Herzens. Singspiel.- M: A. Poli.— Stuttgart 10.i. (Schüleraufführung zum Geburtstag der Reichsgräfin von Hohenheim) Licht und Schatten, oder Moritz und Ismael, ein ungleiches Paar. Operette.— T: J. Lederer [nach J. J. Engels Lustspiel >Der EdelknabeHistoriae PhilippicaeLa Belle Arsene< für Monsigny].- M: Johann Nikolaus Franz Seydelmann.— Dresden (Churfürstl. Kleines Th.) 3.3.; weitere Auff. Leipzig (Ranstädter Tor).— Drucke Hirschberg: 800
Krahns Witwe 1776; Leipzig: Dyk 1778; Wien ca. 1780. Druck KLA Leipzig: Breitkopf 1779 Der Faßbinder. Singspiel.— T: [nach dem Frz.].— M: Johann Huldreich Rohm.— Frankfurt a. M. König David. Geistliches Singspiel.— Freising 1779 Magnoald der bey den jülischen Bergklippen große, und wunderthätige Algoyer Apostel.— Fiissen (vorgestellet von der wohllöblichen Bürgerschaft).- Druck Augsburg: Stadlberger 1779 Pygmalion. Monodrama.- T: F. W. Gotter [nach Rousseau].— M: Georg Benda.- Gotha (Schloßth.) 20.9.- Drucke Gotha: Ettinger 1779 [Rez. ADB 46/2, 8.438]. Druck KLA Leipzig 1780.— [Sehr verbreitetes Stück; weitere Auff. und Drucke vgl. Schimpf 1988, S. 229f.] Der Hufschmied. Singspiel.— M: J. F. Reichardt.— Hamburg 1779 Selma und Gemaldor. Vorspiel mit Arien.- T: G. T. M. Kühl.- Jena (»bey der Geburt der Erbprinzessin zu Sachsen-Weimar«).— Druck Jena: Rudolph 1779 Der Irrwisch, oder: Endlich fand er Sie. Operette (3).- T: C. F. Bretzner.- M: F. Preu.Leipzig (Ranstädter Tor).— Drucke Leipzig: C. F. Schneider 1779 [in Bretzner: Operetten, i. Bd.] und ebd. 1788 [Rez. ADB 41/2, S. 4576°.] Das Grab des Mufti oder: Die beyden [zwey] Geizigen. Komische Oper (2).- T: A. G. Meißner [nach Charles-Georges Fenouillot de Falbaire].- M: J. A. Hiüer.- Leipzig (Ranstädter Tor) 17.1.; weitere Auff. Berlin (Döbbelin) 29.7.1780.— Druck Leipzig: Dyk 1778. Druck KLA Leipzig: Dyk 1779 [Rez. ADB 46/1, S. 184] Ino. Musikalisches Drama (i).— T: Johann C. Brandes.— M: J. F. Reichardt.— Leipzig (Ranstädter Tor) 4.8.- Drucke Erfurt o.J. [1780]; o.O. [Berlin] 1781; Berlin 1782; Leipzig: Dyk 1790 und 1791; Pilsen 1791. Druck KLA Leipzig 1779. Repr. Partitur GO 4 Die wüste Insel. Singspiel (i).— T: A. G. Meißner nach Metastasio [>L'isola disabitataLe Mariage forceKurze Thorheit ist die beste«; vgl. Berlin 1780] Rinald. Singspiel (3).- T: Christoph Städele.- M: Christoph Rheineck.- Memmingen [?] September (zur Hochzeit des »Grafen von Wolfegg und Friedberg [ ] mit der Gräfin von Konigsegg«).— Druck Memmingen [1779] Cephalus und Prokris. Singspiel.— T: K. W. Ramler.— M: Franz Adam Veichtner.— Mitau [?].- Druck KLA Berlin 1779 Das Liebesgrab. Schauspiel mit Gesang (3).- T: W. G. Becker [nach dem Frz.].- M: Friedrich Schwindl.— Mühlhausen (Schweiz).- Druck Heidelberg 1779 [Rez. ADB 43/2, S. 4O7ff.] Lenardo und Blandine. Melodram (i).- T: J. F. Goez [nach G. A. Bürgers Ballade, die wiederum auf Boccaccio zurückgeht].- M: P. Winter.- München (National-Schaubühne) 25.6.— Drucke »Valladolid/Mainz« 1779; München 1779 (zwei Auflagen); Augsburg 1779 und 1785 sowie in Goez 1783, S. 92-103. Repr. Partitur GO Der Blick in die Zukunft. Musikalischer Prolog.— T: A. M. Sprickmann.- M: Herfort.— Münster Der Kohlenbrenner. Singspiel [Lustspiel mit Gesang] (l).— T und M: Ysenburg von Buri.— Neuwied.— Druck Neuwied: Gehra und Haupt 1789 Erwin und Emma. Singspiel.— T: E. Schikaneder [?].— Nürnberg.— [Rez. ADB 41/2, S. 462f.] 801
Der Barbier auf dem Lande. Singspiel.- M: K. C. Agthe.- Petersburg (Dt. Th.) Lindor und Ismene, oder das Grab in Arkadien. Operette (i). — T: Julius Graf v, Soden u. Sassanfart.- M: N. Mühle.- Petersburg (Dt. Th.) Die Wilddiebe. Oper.— [T: A. M. Sprickmann und Stühle].— M: N. Mühle.— Petersburg (Dt. Th.) Die Bezauberten. Oper (2).- M: Anton Thomas Kunz.- Prag (Kotzenth.) Das Fest der Dankbarkeit. Prolog mit Musik, Tänzen etc.- T: Andreas Schöpf.— M: Domorganist Fembacher.- Regensburg (Schöpf).- Druck Regensburg: Montag 1779 und 1780 Die Wilddiebe. Singspiel.— [T: A. M. Sprickmann und Stühle].— M: A. v. Boecklinsau.— Rust i. Br. Das Orakel. Singspiel.- M: A. v. Boecklinsau.— Rust Der englische Patriot. Singspiel.- M: Michael Haydn.- Salzburg ca. 1779 Der Preiß der Tugend. Allegorisches Singspiel [Vorspiel].— [M: August Poli?].— Stuttgart lo.i. (Schüleraufführung zum Geburtstag der Reichsgräfin von Hohenheim).— Druck o.O. [Stuttgart 1779] Der Schulze im Dorfe, oder: Der verliebte Herr Doctor. Komische Oper (3).— T: G. E. Heermann.— M: Christian Ludwig Dieter.— Stuttgart (Herzogl. National-Schaubühne) 10.5.; weitere Auff. Wien (Alte Josefst.) 14.6.1779.- Druck Weimar: Hoffmann 1779 [Rez. ADB 38/1, S. I46f.] Lottchen am Hofe. Singspiel.- [T: C. F. Weiße nach Favart].- M: Johann Rudolf Zumsteeg.- Stuttgart 8.6. Der abgedankte Offizier, oder Joseph der Gute. Komische Oper (5).— T und M: F. J. Lederer.— Ulm (Kloster Wengen) 3.9.— Druck Ulm: Wagner 1779 Lila [2. Fassung]. Festspiel mit Gesang und Tanz.— T: J. W. Goethe.— M: K. S. v. Seckendorff— Weimar (Liebhaberth.) 10.6.— Vgl. II.7 Euridice.- T: F. H. v. Einsiedel.— M: K. S. v. Seckendorff — Weimar 3.9.- [Parodie auf Wielands/Schweitzers >AlcesteLes souliers mordoresPhilon und Theone< bzw. »Almansor und NadineLe Mariage forceAlter schützt für Thorheit nichts 1779] Der Tempel der Wahrheit. Prolog mit Gesang und Tanz.- T: Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer.- M: Friedrich Wilhelm Heinrich Benda.— Berlin (Döbbelin) 25.9. Der Irrwisch, oder: Endlich fand er Sie. Operette (3).- T: C. F. Bretzner.- M: O. K. E. v. Kospoth.- Berlin (Döbbelin) 2.10.- Drucke o.O. 1780; o.O. 1784; o.O. 1787 Das wüthende Heer, oder: Das Mädchen im Thurme. Operette (3).- T: C. F. Bretzner.— M: J. Andre.- Berlin (Döbbelin) 22.11. Die Jahresfeier. Musikalischer Prolog.— T: G. F. W. Großmann.— M: C. G. Neefe.— Bonn 16.5. Der Tempel des Friedens. Singspiel.— M: F. A. Holly.- Breslau Deucalion und Pyrrha. Musikalisches Drama (2) [Melodram mit Gesang und Tanz].- T: K. E. Schubert [frei nach St.-Foix].— M: F. A. Holly.— Breslau (Th. i.d. Taschengasse) 8. 2.
Die Alpenhütte.— M: Ehrenberg.— Dessau [?] ca. 1780 Adelheit von Veitheim. Schauspiel mit Gesang (4).— T: G. F. W. Großmann.— M: C. G. Neefe.— Frankfurt a.M. (Th. im Junghof) 23.9.— Drucke Konstanz o.J. [ca. 1780]; Leipzig: Dyk 1781; Berlin 1782; o.O. 1783; Frankfurt a. M./Leipzig: Imhof 1784 und 2 1786; Hamburg: Michaelsen 1786, o.O. 1791 Der verliebte Maler. Singspiel.— M: J. H. Rohm.- Frankfurt a.M. Der zweite Hochzeitstag. Singspiel.— T: H. Seyfried.- M: J. F. Pregel.- Frankfurt a.M. Kain und Abel. Singspiel.- M: Augustin Ullinger.— Freising 5.9.— Druck o.O. [Freising] 1780 Der ehrliche Schweitzer. Singspiel (2).— T: Caroline Luise von Klenke.- M: Heinrich Christoph Hattasch.— Hamburg (Gänsemarkt).— Druck Berlin/Leipzig: Decker 1776.— [Der Druck enthält einen Anhang von Arientexten, so daß das Werk sowohl mit als auch ohne Musik aufgeführt werden kann; als Schauspiel aufgef. Berlin (Döbbelin) 5.3.1777] Der Barbier von Bagdad. Singspiel.— T: Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius [nach Palissot].— M: H. C. Hattasch.— Hamburg nach 1780.— Druck in: Theater-Journal für Deutschland vom Jahre 1780, Tl. 15 803
Das tartarische Gesetz, oder: das grausame Geschick. Singspiel (3).- T: F.W. Gotter [nach Gozzi].- M: Louis Eberhard.- Hanau Der lahme Husar. Komische Oper (2).- T: Friedrich Karl Koch.- M: J. N. F. Seydelmann.- Leipzig (Ranstädter Tor) 17.7.; weitere Auff. Weimar (Hofth.) Winter 1784.- Drucke Dresden/Leipzig: Breitkopf 1784; o.O. [Weimar] 1784 Der Meyerhof. Operette.- [T: nach Goldoni >La cascina