Vorurteil - Anthropologie - Literatur: Der Vorurteilsdiskurs als Modus der Selbstaufklärung im 18. Jahrhundert 9783110909234, 9783484810334

This study argues that it would be a foreshortening of Enlightenment discourse to regard prejudice merely as one of the

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German Pages 488 [492] Year 2007

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Vorurteil - Anthropologie - Literatur: Der Vorurteilsdiskurs als Modus der Selbstaufklärung im 18. Jahrhundert
 9783110909234, 9783484810334

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Hallesche Beitr ge zur Europ ischen Aufkl rung Schriftenreihe des Interdisziplinren Zentrums fr die Erforschung der Europischen Aufklrung Martin-Luther-Universitt Halle-Wittenberg

33

Rainer Godel

Vorurteil – Anthropologie – Literatur Der Vorurteilsdiskurs als Modus der Selbstaufklrung im 18. Jahrhundert

n Max Niemeyer Verlag Tbingen

Wissenschaftlicher Beirat: Wolfgang Adam, Roger Bartlett, Manfred Beetz, Gunnar Berg, Reinhard Brandt, Lorraine Daston, Rainer Enskat, Jçrn Garber, Andreas Kleinert, Wilhelm Khlmann, Gabriela Lehmann-Carli, Wolfgang Levermann, Jean Mondot, Monika Neugebauer-Wçlk, Jrgen Osterhammel, Alberto Postigliola, Paul Raabe, Peter Hanns Reill, Heiner Schnelling, Jrgen Stolzenberg, Heinz Thoma, Sabine VolkBirke Redaktion: Ulrich Diehl Satz: Kornelia Grn

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-81033-4

ISSN 0948-6070

> Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, Cbersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier. Printed in Germany. Druck: Laupp & Gçbel GmbH, Nehren Einband: Geiger, Ammerbuch

Vorrede

Die Gefahr besteht also insgesamt darin, daß man […] gezwungen ist, die vertrauten Landschaften zu verlassen und fern von den gewohnten Garantien auf ein neues Gebiet vorzustoßen, das man noch nicht gerastert hat, und hin zu einem Endpunkt zu gelangen, der nicht leicht vorherzusehen ist. Michel Foucault

Die Frage „Könnte dies nicht auch anders sein?“ stünde wohl allen Urteilsprozessen gut an – selbst solchen, die ‚Vorurteile‘ zu entdecken suchen. Diese methodische Prämisse, im 18. Jahrhundert vielfach formuliert, getestet und begründet, weist weit über die historische Epoche der Aufklärung hinaus. Die Kompliziertheit, manches Mal gar die Komplexität von Selbstreflexion sollte aber auch heute – so meine ich – kein Hindernis, sondern ein Ansporn sein. Auch in diesem Sinne wäre auf die Aufklärung noch heute zu vertrauen – auf eine mutigere, reflexivere und praktischere Aufklärung indes, als sie heute vielfach wahrgenommen wird. Ein solcher Ansporn, ein solcher Wille zu fragen, das Wissen um die intellektuelle und die soziale Verpflichtung von Wissenschaft, stand hinter diesem Projekt. Es führt in das europäische 18. Jahrhundert und in die Möglichkeitsbedingungen seines Schreibens, Denkens und Lesens. Diese Habilitationsschrift ist am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in den Jahren 2001 bis 2005 entstanden. Sie ist ein Teilergebnis des Projektes Selbstaufklärung der Aufklärung. Individual-, Gesellschafts- und Menschheitsentwürfe in der anthropologischen Wende der Spätaufklärung, das die Wirkungen anthropologischen Denkens auf die europäische Literatur und Philosophie der Aufklärung untersuchte. Ohne die kooperative, jederzeit produktive und Konzentration wie Kommunikation ermöglichende Atmosphäre am IZEA hätte diese Arbeit nicht entstehen können. Hierfür danke ich insbesondere den Projektleitern Heinz Thoma, Manfred Beetz, Carsten Zelle, Jörn Garber und Monika Neugebauer-Wölk. Jede und jeden von ihnen zeichnet ein besonderes Interesse nicht nur am wissenschaftlichen Resultat aus, sondern sie alle haben in besonderer Weise auch Nachwuchswissenschaftler gefordert und gefördert. Ich danke auch den Freundinnen und Freunden und den Kollegen, die mit Rat und Sorge zur Arbeit beitrugen. Stellvertretend seien genannt: Harald Tausch, Tanja van Hoorn, Christophe Losfeld, Hermann Schüttler, Holger Zaunstöck, Aicke Bittner und Björn

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Schaff. Ich danke dem Organisationszentrum des IZEA, hier insbesondere Kornelia Grün und Christine Peter. Dank eines Forschungsstipendiums der Fritz-Thyssen-Stiftung der Franckeschen Stiftungen konnte diese Arbeit zu Ende geführt werden. Für das Stipendium, vor allem aber für die unbürokratische und schnelle Entscheidung, danke ich besonders. Auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke ich für die partielle Finanzierung des Habilitationsprojektes. Ich danke der Stammbibliothek am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung, namentlich Barbara Mahnhardt und Silvia Queck, der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, insbesondere Cornelia Hödt und Adelheid Hochheim, der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen zu Halle, der Marienbibliothek zu Halle, der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, der Universitäts- und Landesbibliothek Saarbrücken, der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, der Bayrischen Staatsbibliothek München, der Staatsbibliothek zu Berlin, der Burgerbibliothek zu Bern (hier insbesondere Denise Wittwer Hesse) und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aller genannten und nicht genannten Bibliotheken und Archive, die direkt oder indirekt am Zustandekommen der Arbeit beteiligt waren. In ganz besonderer Weise danke ich Gunhild Berg und meinen Eltern Maria und Hans-Jürgen Godel.

Madison/Wisconsin, im Juli 2006 Rainer Godel

Hinweise zur Schreib- und Zitierweise: Ich behalte gemäß guter wissenschaftlicher Praxis grundsätzlich Diktion und Schreibweise des Originaltextes bei. Auslassungen und Ergänzungen sind markiert. Besondere Formatierungsmerkmale der Originaltexte werden durchgängig kursiviert, sofern der Originaltext nicht mehrere unterschiedliche Arten der Hervorhebung aufweist. Hervorhebungen, die nicht dem Original entstammen, sind ausdrücklich gekennzeichnet. VI

Inhalt

1 Vorurteil: Begriff und Diskurs im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Vorurteilsdebatte als Modus aufklärerischer Selbstreflexion . . 1.2 Materiale und formale Vorurteilsbegriffe der Aufklärung . . . . . . . 1.3 Zur Lage der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Methodische Voraussetzungen: Eine interdiskursive Verwendungsgeschichte des Vorurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Theoretische Voraussetzungen: Aufklärung als integrales Konzept 2 Anthropologischer Diskurs und anthropologiebasierte Argumentationsfiguren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Konjunkturen anthropologischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Anthropologiebasierte Argumentationsfiguren. Zur Dualität normativer und nicht-normativer Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Sensualisierung: Rehabilitation der Sinne und Affektmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Naturalisierung und Sozialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Prospektive und retrospektive Historisierung . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Individuelle und kulturelle Empirisierung . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Immanente Reflexionsstrukturen. Wahrscheinlichkeit als Kategorie 2.4 Anthropologie und Vorurteilsdiskurs. Zum Zusammenhang der interdiskursiven Konstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Anthropologisierte Vorurteilskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Affekte und ihre Folgen: Affektmanagement und Erkenntnistheorie in der Vorurteilsdiskussion der Frühaufklärung . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Kritik der Vorurteile gegen anthropologische Einwände: Ch. Thomasius und G. F. Meier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Das Vorurteilsproblem aus Sicht der „Vernünftigen Ärzte“ . . 3.1.3 Vorurteilskritik in philosophischen und theologischen Texten der Jahrhundertmitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Selektive Anthropologisierung und rationale Vorurteilskritik in der Literatur: Ch. M. Wielands Lehrgedicht Die Natur der Dinge . . . .

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4 Vorurteilsrehabilitierung vor dem Hintergrund der anthropologischen Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

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4.1 Sozialisierung und prospektive Historisierung des Vorurteilsdiskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Sozialisierend-anthropologisierende Rehabilitierung von Vorurteilen bei J. J. Sucro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Politisch-religiöse Restitution von Vorurteilen bei F. C. von Moser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Die Restriktion der Anthropologie als Bedingung der Rehabilitierung von Vorurteilen bei Th. Abbt . . . . . . . . . . . . 4.2 Die pragmatischen Schranken menschlicher Erkenntnis und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Sozialpragmatische Zuspitzung des Vorurteilsdiskurses: G. F. Meiers Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Ein Versuch systemischer Reintegration: J. H. Lambert . . . . . 4.2.3 Zur Neugewichtung pragmatischer Argumente . . . . . . . . . . . 4.3 Naturalisierung und Sensualisierung als Grundlage der Restitution des Vorurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Anthropologiebasierter Probabilismus: J. G. H. Feder . . . . . . . 4.3.2 Naturalisierung und theologische Norm: J. B. Basedow . . . . . 4.3.3 Sensualisierte Vorurteilsrehabilitierung und die konfligierende Episteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5 Anthropologiebasierte Transformierung. Selbstaufklärung im literarischen Vorurteilsdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die neue Bedeutung der Reflexion. Transformative Vorurteilsrehabilitierung auf naturalisiert-historisierter Basis . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Anthropologiebasierte Argumentationsfiguren bei J. G. Herder . 5.1.2 Herders Vorurteilstheorie als immanente Gnoseologie . . . . . . . 5.1.3 ‚Metaschema der Erkenntnis‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: J. G. Hamanns Vorurteilstheorie in nuce . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 „wie ein gefärbtes Glas“: Zur metaphorischen Konstruktion des Zusammenhangs von optischer Wahrnehmung und Vorurteil . . . . . . 5.3 Empirische Anthropologie als vorurteilskritische Transformierung . . 5.3.1 Vorurteile und Anthropologie bei Georg Forster . . . . . . . . . . . 5.3.2 Anthropologiebasierte Beobachtungsmodelle . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 „Nur der Geist, welcher selbst denkt, […] erreicht seine Bestimmung.“ Forsters Transformierung des Vorurteilsdiskurses als Selbstaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Individuell-relativierte Empirisierung. Ein methodisches Plädoyer für vorsichtige Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Individuelle Erkenntnis im dynamischen Prozeß der Aufklärung: Das Modell G. Ch. Lichtenbergs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII

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5.4.2 Lichtenbergs rezeptionsästhetische Transformierung des Vorurteilsdiskurses. Möglichkeiten literarischen Schreibens . . . 5.4.3 „Gedankenexperimente“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Aufklärung und Vorurteil. Zur reflexiven Struktur des Vorurteilsdiskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1 Der aufgeklärte Vorurteilsdiskurs als Modell der Rezeptionssteuerung bei Ch. M. Wieland und J. K. Wezel . . . . . . . . . . . . 5.5.2 Erzählte Transformierung: Ein paar Goldkörner aus Maculatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.3 Narrative Möglichkeiten der Transformierung des Vorurteilsdiskurses in literarischen Texten; oder: „der Leser denkt, was er kann, und niemals, was er soll.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Transformierung – ein Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Instrumentalisierung des Vorurteils. Zur selektiven Einhegung anthropologischer Prämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Pragmatisch instrumentalisierte Vorurteilskritik als Reduktion anthropologisierter Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Instrumentalisierung gegen Instrumentalisierung: A. Hennings’ Philosophische Versuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 „Wahrheit entscheidet nicht durch Machtsprüche“. Der Disput um Hennings’ Olavides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Radikale Vorurteilskritik: Die Debatte um die „wahre Aufklärung“ . 6.2.1 Rationalisierung als Antwort auf das Normbedürfnis von Vorurteils- und Aufklärungsdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Politisierung als Renormierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Transformierung als selbstaufklärerischer Gegenpol der instrumentalisierten Vorurteilskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Normativ-kritische Instrumentalisierung des Vorurteils versus diskursive Transformierung. Wielands Gespräch über die Vorurtheile und seine Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Eine „Apologie der Vorurtheile“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Instrumentalisierte Ratio: eine anonyme Kritik an Wielands Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3 Die Verbindung von Aufklärungs- und Vorurteilsdiskurs . . . .

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7 Vorurteil, Aufklärung und Norm – ein Prospekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Verzeichnis der verwendeten Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Verzeichnis der verwendeten Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 IX

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Vorurteil: Begriff und Diskurs im 18. Jahrhundert

Our prejudices are our mistresses, [...] Philip Dormer Stanhope Earl of Chesterfield

1.1 Die Vorurteilsdebatte als Modus aufklärerischer Selbstreflexion Den Erfolg der Aufklärung messen Zeitgenossen oft am Erfolg der Vorurteilskritik: Allein gewiss ist es doch, dass nicht bloss einzelne Vorurtheile, sondern die ganze Richtung des Geistes, welche der Herrschaft von Vorurtheilen leicht Raum giebt, in hohem Grade vermindert worden ist, und dass die Schlaffheit und Abspannung, die unmittelbar auf einen solchen Zustand freilich erfolgen muss, nicht anders als vorübergehend und augenblicklich gedacht werden kann.1

Der von Wilhelm von Humboldt hier angedeutete Zusammenhang zwischen dem Stand der Vorurteilskritik und dem der Aufklärung impliziert eine Ebene, die in der Forschung bisher im Unterschied zu Präsenz und Konjunktur des Vorurteilsthemas kaum als zentrales Element der Vorurteilsdiskussion des 18. Jahrhunderts wahrgenommen wurde:2 Vorurteilskritik und Aufklärung (wie immer sie bestimmt wurden) bedingen, befördern, beeinflussen, katalysieren sich gegenseitig. Am Ende des Jahrhunderts geht man von einer wechselseitigen Wirksamkeit aus.3 Spätauf1

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Wilhelm von Humboldt: [Das 18. Jahrhundert] (1796/1797), in: Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften. Bd. II. Hg. Albert Leitzmann. Akademieausgabe. Berlin 1904, 1–112, hier S. 104. Vgl. grundlegend Werner Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie. Stuttgart 1983. Schneiders verkennt allerdings aus begriffsgeschichtlicher Perspektive den strukturellen Kontext der Diskussionen: daß Vorurteile auch schon zu anderen Zeiten bekämpft wurden und daß die Aufklärung auch andere Objekte hat (vgl. ebd., S. 14f.), betrifft die konzeptionelle Ebene, nicht die der Diskussionszusammenhänge. Dies schließt gerade nicht aus, daß Aufklärung und Vorurteil in engem Zusammenhang diskutiert wurden. Auf die Präsenz der Verbindung verweist Hans Adler: Aufklärung und Vorurteil oder: Philosophie und Volksbetrug, in: Edward Bialek (Hg.): Literatur im Zeugenstand. Beiträge zur deutschsprachigen Literatur- und Kulturgeschichte. Frankfurt/M. u.a. 2002, 657–676, insbes. S. 662f. Zur Forschungslage s.u. S. 18ff. Daß ein größeres Maß an zerstörten Vorurteilen zu mehr Aufklärung führe, wird auch zeitgenössisch (am Ende des Jahrhunderts) nicht mehr als Automatismus angesehen. Schalk erkennt in seiner Analyse des Präjudiz-Begriffs im romanischen Sprachraum (die entgegen der Titelankündigung auch deutschsprachige Belegquellen umfaßt) die Interaktion der beiden Bereiche und die integrative Bedeutung des Vorurteilsproblems, scheint aber nur einseitige Wirkungen nahezulegen. Vgl. Fritz Schalk: Praejudicium im Romanischen. Frankfurt/M. 1971, S. 5.

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klärer konstruieren einen integrativen Zusammenhang, der nicht nur Vorurteilskritik als Ziel der Aufklärung und Vorurteile als deren Objekte kennzeichnet, die, abhängig von der Vorurteilsdefinition, jeweils in unterschiedlicher Weise bekämpft werden müßten. Darüber hinaus läßt sich die Relevanz als spezifisch aufklärerisch definierter Denkverfahren an ihrer Stellung zum Vorurteilsproblem messen. Wenn Kant das Selbstdenken, die erste Maxime des gemeinen Menschenverstandes, als Maxime der „vorurtheilfreien […] Denkungsart“4 definiert, steht das Vorurteil nicht nur in einem Objektbezug zur Aufklärung: Wenn das Vorurteil einem Hang zur „Heteronomie der Vernunft“ entspricht, wenn es also die Vernunft zu Passivität anleitet, dann löst es die Gegenbewegung des Aufklärens aus, die als dynamische und integrative Denkform gedacht werden kann. Aufklärerisches Selberdenken, die Methode der Aufklärung, resultiert ex negativo aus dem Vorurteil. Eine solche modale Perspektive allerdings blieb sowohl für Kants Vorurteilsbegriff als auch für die bisherige Aufklärungsforschung folgenlos. Als genuin aufklärerisch gilt meist die Kritik der Vorurteile, nicht der durch sie ausgelöste Reflexionsprozeß. Auf diesem Wege allerdings bliebe die Methode der Aufklärung auf die logische Konstruktion von Objektivität versus Subjektivität beschränkt. Welchen Stellenwert hat das Vorurteil? Auf der Ebene der Objekte der Aufklärung findet man im 18. Jahrhundert ein weites Feld inhaltlich verwandter Begriffe, die nicht-wünschenswerte und damit zu kritisierende Zustände einzelner oder der Menschheit insgesamt kennzeichnen. Auf den ersten Blick scheint der Kampf gegen Vorurteile gleichrangig neben dem Kampf gegen Aberglauben, dem Kampf gegen Schwärmerei, dem Kampf gegen alles Dunkle und Undeutliche zu stehen. Selbst der Hinweis auf die originäre Verbindung von aufklärerischer Anstrengung und Vorurteilsdestruktion5 kann die Position der Vorurteildebatte nicht ausreichend 4

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Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urtheilskraft, in: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. V. 1.Abt. Werke. Bd. 5. Berlin 1913, § 40, S. 294. Hervorh. R. G. (Die Bände dieser Ausgabe werden im folgenden mit dem Kürzel AA und der Bandnummer zitiert.) Diese einschlägige Stelle hat in der Vorurteilsforschung des öfteren Berücksichtigung gefunden. Kant weist hier selbst über die zeitgenössische Präsenz des Themas deutlich hinaus. Als Indiz hierfür vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 13. Umgekehrt dient das folgende Zitat auch als einer der zentralen Nachweise zu Kants Aufklärungsbegriff: vgl. hierzu Horst Stuke: Aufklärung, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1. A–D. Stuttgart 1979 (11972), 243–342, hier S. 269ff. Hier ist für den deutschen Sprachraum, um den es hier in erster Linie gehen soll, Christian Thomasius zu nennen, dessen Lectiones de praeiudiciis (1689) auch als Initiation aufklärerischer Bemühungen gelten können. Vgl. zur Zuordnung von Thomasius zur Aufklärung u.a. Hans-Jürgen Engfer: Christian Thomasius. Erste Proklamation und erste Krise der Aufklärung in Deutschland, in: Werner Schneiders (Hg.): Christian Thomasius. 1655–1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung. Hamburg 1989, 21–36, zu Stufen und Textbestand von Thomasius’ Beitrag zur Vorurteilstheorie v. a. Manfred Beetz: Transparent gemachte Vorurteile. Zur Analyse der praejudicia auctoritatis et praecipitantiae in der Frühaufklärung, in: Rhetorik 3 (1983), 7–33, hier S. 13ff. und Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 94ff. Vgl. auch Fritz Brüggemann: [Einleitung zu] Christian Thomasius: De Praejudiciis oder Von den Vorurteilen, in: ders. (Hg.): Aus der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Christian Thomasius und

markieren. Der entscheidende Unterschied zu anderen Objekten der Aufklärung ist – so die hier vertretene These – , daß die Vorurteilsdebatte nicht auf definitorische und typologische Bestimmungen und die daraus resultierende Anstrengung, den Negativbegriff einzuhegen oder zu zerstören, beschränkt bleibt, sondern daß sie an der Entwicklung charakteristisch aufklärerischer Denkmodi eigenständig beteiligt ist. Die Diskussion um die Bekämpfung des Aberglaubens und die Schwärmerdebatte6 bilden zweifellos zwei zentrale inhaltliche Debatten innerhalb der Aufklärung. Sie sind zeitgenössisch in expliziter Form ähnlich präsent wie die Vorurteilsdebatte. Als in hohem Maße adaptionsfähig erweist sich die Schwärmerdiskussion, wie etwa Garve zeigt, der Phänomene affektiver Abweichung unter „Schwärmertum“ subsumiert.7 Die Behauptung, daß für Kant und Hegel der Kampf gegen den Aberglauben das „zentrale Anliegen der Aufklärung“ gewesen sei,8 beschränkt Aufklärung auf das Inhaltlich-Objekthafte. Der Anteil dieser zentralen Diskussionsfelder an der Ausformung der Aufklärung soll nicht bestritten werden. Doch bleiben diese Negativkomplexe weitgehend auf spezifische Themenkonstellationen beschränkt und beruhen damit tendenziell auf einem eingeschränkten Aufklärungsverständnis, das spezifische Objektbereiche segmentiert.9 Der Kampf gegen den

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Christian Weise. Weimar / Wien / Leipzig 1928, S. 28. Brüggemann druckt unter diesem Titel die einschlägigen Abschnitte aus der Einleitung zur Vernunftlehre und der Ausübung der Sittenlehre ab, nicht die Vorlesung: Christian Thomasius: Meine zu Leipzig Anno 1689. gehaltene Lectiones de praejudiciis, in: ders.: Vernünfftige und Christliche aber nicht Scheinheilige Thomasische Gedancken und Erinnerungen Uber allerhand Gemischte Philosophische und Juristische Händel. 3.Th. Halle 1725, 625–768. – Für den französischen Sprachraum, der deutschsprachige Diskussionen in vielem anregt, muß zusätzlich auf Descartes verwiesen werden. Das Charakteristikum der aufklärerischen Vorurteilsdebatte scheint allerdings zu verschwimmen, berücksichtigt man auf dieser rein begriffsgeschichtlichen Ebene, daß die Überwindung von traditionellen Vorurteilen schon vor Thomasius und Descartes als Signum wenigstens von Wissenschaftlichkeit galt. Vgl. zu Thomasius und Descartes auch Hans-Jürgen Engfer: Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophiegeschichtlichen Schemas. Paderborn / München / Wien u.a. 1996, S. 257f. Wesentliche Forschungsstandards zum Aberglauben: Hermann Bausinger: Aufklärung und Aberglaube, in: DVjs 37 (1963), 345–362; Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik. Tübingen 1992. Zur Schwärmerdebatte: Norbert Hinske (Hg.): Die Aufklärung und die Schwärmer. Hamburg 1988, im Umkreis der Empfindsamkeitsforschung: Dorothee Kimmich: Epikureische Aufklärungen. Philosophische und poetische Konzepte der Selbstsorge. Darmstadt 1993, S. 180ff. Vgl. Christian Garve: Ueber die Schwärmerey, in: ders.: Gesammelte Werke. Hg. Kurt Wölfel. 1.Abt. Die Aufsatzsammlungen. Bd. III. Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Literatur und dem gesellschaftlichen Leben. T. 5. Hildesheim / Zürich / New York 1985, 335–406, hier S. 353ff. Vgl. Werner Schneiders: Aberglauben, in: ders. (Hg.): Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. München 1995, 25–27, hier S. 25. Schneiders bezieht sich, ohne die Stelle konkret zu nennen, wohl auf die Fortführung des obigen Zitats aus der Kritik der Urteilskraft, wobei allerdings Kants typologische Zuordnung des Aberglaubens unter die Vorurteile unerwähnt bleibt. Aberglauben ist nach Kant das größte unter den Vorurteilen und als solches primäres Objekt der Aufklärung. (Vgl. Kant: Kritik der Urtheilskraft, § 40, S. 294.) Entsprechendes gilt auch für den Bereich des Wahnsinns, der zusätzlich noch in geringerem Maße als Gegenmodell der Aufklärung gelten kann. Vgl. hierzu Michel Foucault: Wahnsinn

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Aberglauben zielt auf das theologisch-religiöse Argumentationsfeld, die Schwärmerkritik erwächst aus der spätpietistischen Empfindsamkeitsdebatte.10 Der Unterschied zum Vorurteil liegt darin, daß der Vorurteilsbegriff ausdrücklich auch auf der modalen Ebene verwendet wird. Damit gewinnt die Vorurteilsdebatte eine explizit methodologische Perspektive, die die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen aufklärerischen Vorgehens in den Blick nimmt. Ergebnisse, Methoden und Erkenntnisse der Vorurteilsdebatte können zu unterschiedlichen Anwendungsgebieten führen.11 So hat der Vorurteilsbegriff in konkreten sozialhistorischen Zusammenhängen eine kaum zu übersehende Konjunktur, die auch partiell unter dem abgeleiteten Signum „Toleranz“ geführt wird.12 Die Begriffsgeschichte des Vorurteils vollzieht sich im Horizont der Sozialgeschichte, ohne sich auf letztere zu reduzieren13 und vor allem, ohne daß die Begriffsgeschichte in der Lage wäre, die modale Relevanz der Vorurteilsdebatte und deren integrative Verbindung mit aufklärerischem Selbstverständnis abzubilden. Exemplarisch sollen nur zwei Beispiele genannt werden, die deutlich machen, in welch weitgefaßten Diskussionsbereichen das Wort Verwendung finden kann: 1794 erscheint Der Tempel des Vorurtheils und des Aberglaubens oder Erholungsstunden eines Illuminaten. Publikumswirksam bedient sich der anonyme Autor gleich zweier heikler Begriffe, ohne sich aber an die jeweiligen

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und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Aus dem Frz. von Ulrich Köppen. Frankfurt/M. 1995 und für den literarischen Bereich Jutta Osinski: Über Vernunft und Wahnsinn. Studien zur literarischen Aufklärung in der Gegenwart und im 18. Jahrhundert. Bonn 1983. Unstreitig scheint mir der integrale Zusammenhang von Empfindsamkeit und Aufklärung. Vgl. Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. I. Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974, S. XI et passim. Darunter selbstverständlich auch zum Zusammenhang von Vorurteil und Aberglauben: Vgl. hierzu, insbesondere mit Blick auf Thomasius, Pott: Aufklärung und Aberglaube, S. 100ff. Vgl. u.a. Edith Nahler: Der Toleranzbegriff bei Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn. Leipzig (Diss. masch.) 1961, Karl-Heinrich Rengstorf: Der Toleranzgedanke bei Justus Möser, in: Möser-Forum 1 (1989), 88–98, Thomas Mautner: Moses Mendelssohn and the Right of Toleration, in: Michael Albrecht / Eva J. Engel / Norbert Hinske (Hg.): Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit. Tübingen 1994, 191–213, Ingrid Belke: Religion und Toleranz aus der Sicht Moses Mendelssohns und Gotthold Ephraim Lessings, in: Norbert Hinske (Hg.): Ich handle mit Vernunft [...] Moses Mendelssohn und die europäische Aufklärung. Hamburg 1981, 119–148, Ursula Stephan-Kopitzsch: Die Toleranzdiskussion im Spiegel überregionaler Aufklärungszeitschriften. Frankfurt/M. 1989, Klaus L. Berghahn: Grenzen der Toleranz. Juden und Christen im Zeitalter der Aufklärung. Köln 22001, Gisela Schlüter: Die französische Toleranzdebatte im Zeitalter der Aufklärung. Materiale und formale Aspekte. Tübingen 1992. Nicht berücksichtigt ist in dieser Liste die umfangreiche Literatur zur Toleranz bei Lessing. Zu methodischen Folgen der Variabilität des Begriffs s.u. S. 24ff. Vgl. zur Abgrenzung von Begriffs-, Sozial- und Verwendungsgeschichte Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt/M. 1994, S. 16f.

aktuellen Debatten – und sei es nur begrifflich – differenzierter anzuschließen.14 Unter dem Titel Widerlegung gewisser Vorurtheile welche noch bei Gewittern herrschen: Auch über den Nutzen der Wetterableiter werden 1791 naturwissenschaftliche Erkenntnisse über Gewitter verbreitet, um den nicht mehr ganz neuen, aber noch nicht flächendeckend durchgesetzten Blitzableiter bekannt zu machen.15 Im Bereich der Volksaufklärung, auf dessen Publikum offensichtlich auch diese Schrift zumindest partiell zielt, geht es unter dem Signum „Vorurteilskritik“ oft darum, konkrete Verbesserungen im landwirtschaftlichen Betrieb durchzusetzen.16 Häufig werden alte landwirtschaftliche (gelegentlich auch religiöse und pädagogische) Praktiken der Landbevölkerung als Vorurteile bezeichnet, ohne daß damit mehr als ein selektiver Bezug zur Theoriedebatte intendiert wäre. Um eine umfassende Bestandsaufnahme der Begriffsverwendungen von „Vorurteil“ im 18. Jahrhundert soll es hier aber nicht gehen. Als charakteristisch für den Vorurteilsdiskurs (und daran anschließend für die außerphilosophische Entwicklung von Erkenntnis- und Urteilsstrategien) soll vielmehr verdeutlicht werden, inwieweit das „Vorurteil“ als Innovations- und Abgrenzungsmerkmal des Selbstverständnisses von „Aufklärung“ in literarischen und paraliterarischen Genres verwendet wird. Dies geht über eine bloße Kontextualisierung in der Aufklärungsdebatte, die unterschiedslos alle Begriffe zu systematisieren versuchte, hinaus. Es soll gezeigt werden, inwieweit der Umgang mit dem Vorurteil zum modalen (nicht nur zum begrifflichen) Definitionsmerkmal von Aufklärung wird: Gerade die Aufhellung und Destruktion von Vorurteilen als Urteilsmuster (oder präziser und zugleich allgemeiner: der Umgang mit dem Problem) macht die Aufklärung in ihrer Selbsteinschätzung zur Aufklärung.17 Würde Aufklärung nur als Vorurteilskritik verstanden, könnte umgekehrt jegliche Rehabilitierung des Vorurteils von Vorurteilskritikern als anti-aufklärerisch identifiziert werden.18 Moses Mendelssohn stellt eine unmittelbar definitorische Beziehung zwischen Vorurteil und Aufklärung her, die er über den aufklärerischen

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[Anonym:] Der Tempel des Vorurtheils oder Erholungsstunden eines Illuminaten. [S. I.] 1794. Neben theologischen Fragen setzt sich der Autor mit Rousseaus Discours sur les sciences et les arts auseinander. Christian Gotthold August Urban: Widerlegung gewisser Vorurtheile welche noch bei Gewittern herrschen. Auch über den Nutzen der Wetterableiter. Eisenach 1791. Die Themenbreite der Volksaufklärung und ihre Nähe zum kritischen Vorurteilsbegriff läßt sich nachvollziehen anhand von Holger Böning / Reinhart Siegert: Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850. Bd. 1. Die Genese der Volksaufklärung und ihre Entwicklung bis 1780. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, Bd. 2. Der Höhepunkt der Volksaufklärung 1781– 1800 und ihre Zäsur durch die Französische Revolution. Stuttgart-Bad Cannstatt 2001. Vgl. Beetz: Transparent gemachte Vorurteile, S. 7 sowie Stuke: Aufklärung, S. 245, 269f. So verbindet sich im französischen Sprachraum (etwa in der Enzyklopädiedebatte), wie Delon nachgewiesen hat, das zeitgenössische Bewußtsein der „Krise der Aufklärung“ mit Positionen, die Vorurteile rehabilitieren. Vgl. Michel Delon: Réhabilitation des préjugés et crise des Lumières, in: Revue germanique internationale 3 (1995), 143–156.

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Gedanken der Perfektibilität vermittelt.19 Bei Mendelssohn sind Schwierigkeiten und Antriebe (und Schwierigkeiten als Antriebe) eines methodisch-aufklärerischen Vorgehens ungeachtet der begrifflichen und inhaltlichen Differenzen in ähnlicher Weise angelegt wie bereits bei Christian Thomasius. Thomasius bindet das Vorurteil definitorisch an seine destruktive Funktion für den menschlichen, aufklärerischen Erkenntnisprozeß. Vorurteile behindern die Wahrheitssuche und stehen nicht in Übereinstimmung mit der Vernunft.20 Damit stellt er das Vorurteilsproblem in einen Zusammenhang mit aufklärerischem Erkenntniszuwachs, der nicht ausschließlich in philosophischer Erkenntnistheorie fundiert ist.21 Begriffsbestimmungen des „Vorurteils“ implizieren im 18. Jahrhundert funktionale Überlegungen. „Vorurteil“ hat von Beginn der Aufklärung an einen über das Pragmatische, über das Soziale hinausweisenden Aspekt, der essentiell literarische und literarsoziologische Folgen zeitigt. Diese wiederum müssen keineswegs einseitig und eindeutig sein, sondern sie nutzen die Optionen des sich entwickelnden diskursiven Raums: und ist es endlich gar so weit gekommen, daß diese Filosofie ihre Wirkungen, unter dem beliebten Nahmen der Aufklärung, der Befreyung vom Joch alter Vorurtheile, usw. mit Hülfe unzähliger Bücher-Fabriken und Drucker-Pressen über alle Stände einer großen Nazion ausgebreitet und alle Arten von Köpfen in Gährung gesetzt hat: was Wunder, wenn endlich vor lauter Aufklärung, Freyheit zu denken, Eifersucht gegen alles menschliche und Mißtrauen gegen alles übermenschliche Ansehen, die Köpfe zu schwindeln anfangen [...].22

Die Befreiung vom „Joch“ der Vorurteile23 nur als objektives Ziel einzustufen, greift also offenbar schon für Zeitgenossen zu kurz, verbindet doch Wieland funk19

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Bei Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, findet Mendelssohn mangels einer expliziten Vorurteilstheorie nur einen Platz am Rande (S. 243). Vgl. dagegen Michael Albrecht: Moses Mendelssohn über Vorurteile, in: Frank Grunert / Friedrich Vollhardt (Hg.): Aufklärung als praktische Philosophie. Tübingen 1998, 297–315, Rainer Godel: „Eine unendliche Menge dunkeler Vorstellungen“. Zur Widerständigkeit von Empfindungen und Vorurteilen in der deutschen Spätaufklärung, in: DVjs 76,4 (2002), 542–576, hier S. 565ff. und kursorisch Adler: Aufklärung und Vorurteil, v.a. S. 665f. Vgl. Christian Thomasius: Introductio ad philosophiam aulicam, in: Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Hg. Werner Schneiders. Bd. 1. Hildesheim / Zürich / New York 1993, S. 121. Vgl. zur Entwicklung von Thomasius’ Vorurteilstheorie die vorzügliche Darstellung bei Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 92ff. „Aufklärung“ soll selbstverständlich nicht als begriffliche Fixation angenommen werden. Es handelt sich um einen variablen und transformierbaren Prozeß, der allzu eindeutige Ex-postZuschreibungen fester Verhältnisse obsolet oder zumindest als Konstruktionen erkennbar machen sollte. Das Konzept von „Aufklärung“ muß am jeweiligen historischen Ort immer wieder neu bestimmt werden. S.u. S. 33ff. Christoph Martin Wieland: Antworten und Gegenfragen auf die Zweifel und Anfragen eines vorgeblichen Weltbürgers, in: Wielands Gesammelte Schriften. Hg. von der Deutschen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1.Abt. Werke. Bd. 14. Prosaische Schriften I. 1773–1783. Hg. Wilhelm Kurrelmeyer. Berlin 1928, 422–436, hier S. 423. (Die Bände dieser Ausgabe werden im folgenden mit dem Kürzel AA und der Bandnummer zitiert.) Die Metapher läßt sich in eng verwandter Konnotation in zahlreichen Varianten aufklärerischen Denkens nachweisen. Vgl. etwa Georg Forster: Noch etwas über die Menschenraßen, in:

tionale Aspekte des aufklärerischen Fortschritts argumentativ mit der Befreiung von Vorurteilen, wenn er die möglichen Folgen einer breiten, aufklärerischen Vorurteilskritik thematisiert. Die gängige Metapher „Joch“ der Vorurteile steht hier nur exemplarisch für einen wesentlich umfassenderen Metaphernraum. Sie vermag essentielle Vorurteils-Merkmale anzudeuten, die auch in moderner sozialpsychologischer Vorurteilsforschung eine Rolle spielen: Eine Haltung autoritätsgläubiger Unterordnung fördert Vorurteile, und vorurteilige Urteilsbildungen bestehen auf kategorialer Ausschließlichkeit.24 Aber schon in der zeitgenössischen Diskussion kann diese scheinbar eindeutige Metapher kontextuell ironisiert werden, wenn etwa Johann Josias Sucro die Vorteile des „Jochs des Vorurtheils“ darstellt.25 Der Vorurteilsdiskurs des 18. Jahrhunderts weist demnach über die definitorischen Elemente hinaus eine der Entwicklung der Aufklärung eng verbundene Funktion auf. Daher zeigt Hinske, wenn er das „Vorurteil“ zu den Kampfbegriffen der Aufklärung rechnet,26 obwohl die kontrastive Metaphorik hier die differenziertere Funktionalität zu überdecken droht, die diskursiv entscheidende Richtung auf. Als eine unter mehreren hat Delon für den französischen Sprachraum eine ähnliche Entwicklung nachgewiesen.27

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Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR. Bd. 8. Kleine Schriften zu Philosophie und Zeitgeschichte. Bearb. von Siegfried Streller. Berlin 1974, 130–156, hier S. 140 (Die Bände dieser Ausgabe werden im folgenden mit dem Kürzel AA und der Bandnummer zitiert.); Johann Peter Uz: Versuch über die Kunst stets fröhlich zu seyn. Leipzig 1760, S. 23. Das hier zum „Joch der Meinungen“ abgewandelte Zitat dient als Motto in der Moralischen Wochenschrift Betrachtungen über die schädlichen Vorurtheile. Nürnberg 1765, S. 2. Auch in Joseph von Sonnenfels’ Wochenschrift Der Mann ohne Vorurtheil findet sich eine analoge Formulierung: vgl. Der Mann ohne Vorurtheil, in: [Joseph von] Sonnenfels gesammelte Schriften. Bd. 2. Wien 1783, hier S. 354. Vgl. im französischen Sprachraum: [Paul Henri Thiry d’Holbach / César Chesnau du Marsais]: Essai sur les préjugés, ou, De l’ influence des opinions sur les moeurs & sur le bonheur des Hommes. Ouvrage contenant l’apologie de la Philosophie. [London] 1770, S. 129. Kant spricht vom „Joch der Unmündigkeit“ in: Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: AA 8, 33–42, hier S. 36. Vgl. Theodor W. Adorno / Elke Frenkel-Brunswick / Daniel Levinson u.a.: The Authoritarian Personality. New York 1950 und Gordon W. Allport: The Nature of Prejudice. Unabridged 25th anniversary edition. Reading (Mass.) / Menlo Park (Cal.) / London u.a. 1979. Vgl. Johann Josias Sucro: Erfahrungen. 2.Th. Brandenburg 1759, S. 107. Vgl. Norbert Hinske: Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie, in: Raffaele Ciafardone (Hg.): Die Philosophie der deutschen Aufklärung. Texte und Darstellung. Stuttgart 1990, 407–458, hier S. 427ff. „Vorurteil“ sei die vermutlich wichtigste Kampfidee. Unter Kampfideen versteht Hinske Einstellungen, die sich der Verwirklichung der Aufklärung entgegenstellen. Hierzu rechnet er auch den Kampf gegen dunkle oder verworrene Vorstellungen und Aberglauben (426ff.). Vgl. auch ders.: Art. Aufklärung, in: Görres-Gesellschaft (Hg.): Staats-Lexikon. Recht – Wirtschaft – Gesellschaft in sieben Bden. Bd. 1. Freiburg / Basel / Wien 71995, Sp. 390–400, hier Sp. 395ff. Hier zählt Hinske neben dem Kampf gegen Vorurteile den Kampf gegen Aberglauben und gegen Schwärmerei zu den Kampfbegriffen. Insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Aberglauben tendiert meiner Meinung nach eher zu den abgeleiteten Ideen. Vgl. Delon: Réhabilitation des préjugés, S. 147.

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Dieser enge funktionale Zusammenhang von Aufklärung und Vorurteil legt nahe, daß eine Analyse der Vorurteilsdiskussion der Aufklärung über die begrifflich-formale Ebene hinaus die funktional-modale miteinbeziehen muß, damit ein differenzierteres und transdisziplinär fundiertes Bild der Epoche entsteht. Der diskursive Zusammenhang von Begriffsverwendungen und Umgangsvarianten mit dem Begriff gibt die letztlich genuin aufklärerische, methodische Frage der Selbstvergewisserung, der Abgrenzung und des reflektierten Umgangs mit Problemen zu beantworten auf. „Vorurteil“ wird zum Zuweisungs-, Selbstvergewisserungs- und Abgrenzungsbegriff, dessen Diskussion die Selbstaufklärung der Aufklärung auf methodischer Ebene befördert. Die Untersuchung des Umgangs mit dem Vorurteil in Popularphilosophie und Narrativik kann sich daher nicht in einer stoff- und motivgeschichtlichen Betrachtungsweise erschöpfen. Es soll deutlich werden, inwieweit philosophische Erklärungs- und Begründungsmuster gerade durch die entwickelten und wieder befragten Methoden der nicht nur philosophischen Vorurteilsdiskussion narrativ variiert, umgeschrieben oder aufgelöst werden können.28

1.2 Materiale und formale Vorurteilsbegriffe der Aufklärung Die definitorisch-typologische Ebene der Vorurteilsdiskussion, die weitgehend philosophischen Textsorten entstammt, bildet lediglich einen Teildiskurs. In zahlreichen Texten des 18. Jahrhunderts, die zum Thema beitragen, spielt eine definitorische Eingrenzung des Vorurteils kaum eine Rolle. Vielfach werden weder Begriff noch Typologie des Vorurteils systematisch entwickelt, obwohl die Notwendigkeit und die Arten der Bekämpfung von Vorurteilen, deren Nutzen und Funktionen sowie die Reichweite und die Grenzen der Vorurteilskritik ausdrücklich diskutiert werden. Vielfach bewegt sich diese Diskussion nicht mehr im schulphilosophischen Bereich – und doch bildet sie in der zeitgenössischen Wahrnehmung eine intensiv rezipierte und diskutierte Gruppe von Beiträgen zu einem der zentralen Diskursbereiche der Aufklärung. Die Diskussion in literarischen, essayistischen, popularphilosophischen Texten situiert Schneiders a priori als unter dem „Niveau“ der (philosophischen) Einzelwissenschaften.29 Demnach blendet er eine Vielzahl nicht definierender und typisierender Formen in seiner Monographie aus. Eine historisch adäquate Analyse, die den Zeithorizont abbildet, strebt Schneiders nicht an. Auch Gadamers vielzitierte Rehabilitation des Vorurteils, die gegen die vermeintliche aufklärerische Verengung vorzugehen vorgibt, geht an der historischen Dimension vorbei. 28

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Thoma spricht treffend von der „narrativen Auflösung philosophischer Begründungsparadoxien“. Vgl. Heinz Thoma: Vorurteil und Urteilsbildung in der Narrativik der französischen Spätaufklärung, in: Reinhard Bach u.a. (Hg.): Formen der Aufklärung und ihrer Rezeption. Expressions des Lumières et de leur réception. Tübingen 1999, 551–564, hier S. 562. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 35.

Gadamer schränkt den Vorurteilsbegriff der Aufklärung ein auf ein Verständnis des Vorurteils als ein zu bekämpfendes Falsches. Das Vorurteil werde durch die Aufklärung diskreditiert.30 Georg Friedrich Meier, dessen formale Vorurteilstheorie für weite Teile der spätaufklärerischen Diskussion wegweisend wurde, gilt daher für Gadamer tendenziell als Präromantiker. Die Romantik habe aufklärerische Bewertungen umgekehrt, das Alte aufgewertet, dadurch aber auch den Gegensatz von Mythos und Vernunft verdauert.31 Eine solche These reduziert den Umgang mit dem Vorurteilsproblem im 18. Jahrhundert auf die Ebene der Unterscheidung von Falschheit oder Wahrheit des Vorurteils, die bei Meier gerade nicht intendiert ist.32 Gadamers vielbesprochene Rehabilitierung des Vorurteils als hermeneutische Kondition wiederholt somit im Grunde nur eine in der Aufklärung selbst nicht nur bekannte, sondern sogar partiell die zeitgenössische Diskussion bestimmende These: Vorurteile können als methodologische Notwendigkeit im Rahmen von Erkenntnisprozessen verstanden werden. Reisinger und Scholz kann zugestimmt werden: Gadamer neige zur tendenziösen Vereinfachung der historischen Tatsachen und zur Nichtbeachtung von Differenzierungen, die in der Epoche der Aufklärung erarbeitet worden sind.33 Um so notwendiger erscheint es, Begriffstypen und Verwendungsformen des Vorurteils systematisch in historischer Perspektive zu unterscheiden. Auf begrifflich-definitorischer Ebene können im 18. Jahrhundert materiale und formale Vorurteilsbegriffe unterschieden werden. Hierzu sind zunächst zwei Vorbemerkungen notwendig. Erstens: Rehabilitierungen des Vorurteils, wie sie von der neueren Forschung mehrfach überzeugend aufgewiesen wurden,34 lösen sich argumentativ vielfach vollständig von definitorischen Voraussetzungen. Es handelt sich hier um eine der zentralen Verwendungsformen des Vorurteils, also eine der (hier im Mittelpunkt der Analyse stehenden) diskursiven Möglichkeiten des Umgangs mit ihnen. Zweitens: Auf der Grundlage vorwiegend von Vorurteilsdefinitionen und -typologien unterscheidet Schneiders die Phasen moralischer, gnoseologischer und pragmatischer Vorurteilstheorie, denen die Auflösung und Umwandlung der Vorurteilstheorie in deren Annäherung an Kantsche Vernunftkritik 30 31 32

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Vgl. Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 61990, S. 276f. (Gadamer: Gesammelte Werke. Bd. 1.) Vgl. ebd., S. 278. Vgl. zur Bedeutung Meiers für die Vorurteilstheorie: Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 208ff., Norbert Hinske: Georg Friedrich Meier und das Grundvorurteil der Erfahrungserkenntnis. Noch eine unbemerkt gebliebene Quelle der Kantschen Antinomienlehre, in: Claudio Cesa / Norbert Hinske / Sonia Carboncini (Hg.): Kant und sein Jahrhundert. Frankfurt/M. 1993, 103–121, Godel: „Eine unendliche Menge dunkeler Vorstellungen“, S. 552f. Vgl. Klaus Reisinger / O. R. Scholz: Vorurteil I, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 11. Basel 2001, Sp. 1250–1263, hier Sp. 1260. Vgl. Delon: Réhabilitation des préjugés und Karl Menges: Vom Vorteil des Vorurteils. Zur Rehabilitierung eines kritischen Aufklärungsbegriffs, in: Eijiro Iwasaki (Hg.): Begegnung mit dem „Fremden“. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Bd. 10. Hg. Yoshinori Shichiji. München 1991, 161–170.

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folge.35 Diese idealtypische Phasenbildung behält auf der Ebene philosophischer (meist logischer) Begriffsdefinitionen durchaus ihre Geltung. Doch muß zugleich betont werden, daß Aspekte historischer Gleichzeitigkeit gerade im außerphilosophischen Bereich wesentlich werden, da nicht selten ältere Begriffe tradiert werden. Vermeintlich nicht mehr zeitgemäße Begriffsverwendungen sind im Grunde eine Normalerscheinung.36 Analysierte man die Vorurteilsdebatte der Aufklärung nur auf der Grundlage innerphilosophischer Entwicklungen, verkürzte man aber den zeithistorischen Kontext: Schneiders vertritt die These, moralistische Vorurteilskritik trete in Frankreich zunehmend „fachspezifisch“ auf. Als Beispiel führt er Lequinios Abhandlung Les préjugés détruits an.37 Der philosophiehistorische Blick auf den kritischen Vorurteilsbegriff läßt Schneiders hier indes verkennen, daß Lequinio den Objektbereich des Vorurteils wesentlich erweitert – und gerade nicht fachbezogen einschränkt. Denn Lequinio nennt insgesamt 28 vorurteilsbeladene Bereiche, die die Aufklärung schlechthin zum vorurteilskritischen Politikum machen. Neben einer solchen Ausweitung und Gleichzeitigkeit verschiedener Definitionen ist für die Spätaufklärung die Tendenz charakteristisch, Definitionen des Vorurteils implizit vorauszusetzen. Zahlreiche implizite Definitionen knüpfen an Topoi des Vorurteilsdiskurses an, die aus philosophischer Sicht nicht mehr als zeitgemäß (oder wenigstens als zu undifferenziert) erscheinen. Der Vorurteilsdiskurs erweitert sich über explizite Vorurteilstheorien hinaus. Selbst logische Widerspruchsfreiheit kann nicht in allen Fällen erwartet werden. Als charakteristisch für ein solches Verfahren kann Adolph Freiherr von Knigge gelten. Ohne „Vorurteil“ ausdrücklich zu definieren, warnt Knigge im Umgang mit Menschen mehrfach vor übereilten, vorschnellen Urteilen,38 weist (ironisch) auf die Gefahren rein subjektiv zielgerichteter Vorurteilskritik hin39 und kontrastiert idealtypisch die „gesunde Vernunft“, klare, unparteiische, vorurteilsfreie Urteile, mit Vorurteilen.40 In dieser Zusammenstellung verbirgt sich eine undifferenzierte begriffliche Vermengung rationalistischer, anthropologischer oder diätetischer Positionen, die sich auch in Knigges differenziertem Verhältnis zu Rousseau widerspiegelt.41 Auch wenn 35 36 37

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Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 35f. Hier im Sinne des Normalitätsbegriffs von Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt/M. 151999, S. 25. Jean-Marie Lequinio: Les préjugés détruits [...]. Paris 21793. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 319. Lequinio vertritt einen material-falschen Vorurteilsbegriff: „Ce qu’on appelle préjugé, c’est une erreur générale à laquelle on tient sans vouloir y réfléchir ni s’en défaire, parce qu’on la croit une vérité.“ (Lequinio: Les préjugés détruits, S. 15.) Vgl. Adolph Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen. Hg. Gert Ueding. Frankfurt/M. 1977, S. 42, 48f. Vgl. ebd., S. 147f. Vgl. ebd., S. 358. Daß „gesunde Vernunft“ im Abschnitt über die Wahl eines passenden Arztes betont wird, scheint mir mehr als nur ein metaphorisches Spiel. Knigge spielt auf anthropologische Debatten der Zeit an. Die Metapher verwendet in der spätaufklärerischen Anthropologie u.a. Ernst

Knigge einen material-kritischen Begriff des Vorurteils inhaltlich in vielen Einzelargumentationen voraussetzt, steht der Begriffsentwurf weder im Zentrum der Argumentation noch erweist er sich als invariabel. Knigges Umgang kann hinsichtlich der Vorurteilstheorie demnach nicht unter einem qualitativen Aspekt der logischen Schlüssigkeit analysiert werden. Dennoch trägt er zum diskursiven Gesamtbild der Epoche bei. Die Vorurteilsdiskussion ist also über die Begriffsdefinitionen hinaus an ihren zeitgenössischen Funktionen, nicht an einer ex post konstruierten logischen Schlüssigkeit zu messen. Dennoch bilden Vorurteilsbegriffe den argumentativen Grundstock der Beiträge zum Vorurteilsdiskurs und damit auch vieler Beiträge zur Verortung der Aufklärung selbst. Materiale Definitionen von Vorurteilen, die in der Frühaufklärung die juristische Semantik ablösen,42 implizieren ein wahrheitsbezogenes Definiens. Vorurteile werden als falsche oder wahre Urteile, Meinungen, Aussagen, Thesen, Annahmen bestimmt. Auf der Grundlage dieser auf Wahrheit bezogenen Definition legitimieren sie präskriptive Verfahren, wie Vorurteile identifizierbar seien und wie mit diesen umzugehen sei. Überwiegend moralisch und gnoseologisch (je nach Grad des Vertrauens in die Durchdringungskraft und Wirksamkeit der Vernunft) begründen sich material-falsche Vorurteile in der Frühaufklärung.43 Variabel bleiben aber Typologie und Ursachenbestimmung, wobei die aus der rhetorischen und logischen Tradition rekrutierten Vorurteilstypen der praeiudicia auctoritatis, praecipitantiae, und mit Abstrichen die praeiudicia antiquitatis und affectuum in der philosophischen Diskussion lange bestimmend bleiben. Im Typologischen erweisen sich Thomasius und Wolff als schulbildend, doch wirkt auch Bacons Idolenlehre, obwohl nicht ausdrücklich als Vorurteilstheorie konzipiert,44 auf Vorurteilskritik und Literatur der deutschen Hoch- und Spätaufklärung. Georg Friedrich Meiers Typologie von Vorurteilen aus den Anfangsgründe[n] aller schönen Wissenschaften setzt Bacons Idolenlehre unmittelbar in Typen des Vorurteils um.45 Eine große Rolle spielen bereits bei materialen Vorurteilsbegriffen anthropolo-

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Platner: Anthropologie für Ärzte und Weltweise. 1.Th. Leipzig 1772, S. XIII, S. 192 et passim. Der Topos führt über Georg Friedrich Meier zeitlich zurück auch zu Moralischen Wochenschriften und in den Kreis der Halleschen Psychomediziner. Vgl. zu Knigge und Rousseau Karl-Heinz Göttert: Knigge oder: Von den Illusionen des anständigen Lebens. München 1995, S. 146ff. et passim. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 43, Reisinger / Scholz: Vorurteil I, Sp. 1251. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 84ff. Vgl. ebd., S. 56. Reisinger / Scholz: Vorurteil I, identifizieren Bacon als eine der „Quellen“ der Vorurteilstheorie, weisen aber dessen Wirkung nur auf England und Frankreich nach (vgl. Sp. 1251f., 1254). Vgl. ebenso Engfer: Empirismus versus Rationalismus?, S. 36ff. Als zu undifferenziert erweist sich auch in dieser Frage Jankowitz, der umstandslos Bacons „idola“ mit Vorurteilen gleichsetzt. Vgl. Wolf-Günther Jankowitz: Philosophie und Vorurteil. Untersuchungen zur Vorurteilshaftigkeit von Philosophie als Propädeutik einer Philosophie des Vorurteils. Meisenheim am Glan 1975, S. 20f. Vgl. Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. 2.Th. Halle 1749, § 368, S. 249f.

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gisch-inhaltliche Motive. Schon bei Thomasius gilt der affektive Gehalt der Vorurteile als charakteristisches Hindernis für deren Bekämpfung, so daß sogar ausdrücklich der Typus der praeiudicia affectuum identifiziert wird.46 Historisch steht der material-falsche Vorurteilsbegriff, der logische Falschheit als entscheidendes Definitionskriterium angibt, am Anfang der Aufklärung.47 Doch erweist sich dieser Begriff in vielen Bereichen als außerordentlich beständig.48 So definiert in den späten 1760er Jahren noch Franz Bob, Lehrer der Polizei-, Handlungs-, Finanzwissenschaft und Rhetorik in Freiburg: „Vorurtheile sind Irrthümer, die man ohne hinlängliche Untersuchung, ohne Anwendung der Vernunft, durch eine vorhergefaßte Meinung verleitet als Wahrheiten annimmt.“49 Eine solche Bestimmung von Vorurteilen als Irrtümern entstammt nicht nur der schulphilosophischen Tradition, sondern hat auch schon früh Eingang in die einschlägigen Lexika der Aufklärung gefunden. Schon bei Stephanus Chauvin wird Vorurteil definiert als „falsa opinio de re aliqua ante ejus prævium examen debitum in animo concepta.“50 Dabei sei die Vorsilbe „præ-“ nicht nur temporal zu verstehen, sondern auch kognitiv: Es handele sich nicht um Urteile, sondern um falsche Meinungen vor einem Urteil. Diese erstmalige Verdrängung des alten (juristischen) Wortgebrauchs im LexikonBereich abstrahiert auf der Grundlage des Descarteschen Zweifels vom Gnoseologischen.51 In dieser Tradition steht auch Zedlers Universal-Lexicon, das im Artikel Vorurteil definiert: Ein Vorurtheil ist nichts anders, als ein unrichtiges und nicht sattsam überlegtes Principium, welches man vor wahr annimmt, und nach demselbigen seine besondere Urtheile und Schlüsse einrichtet. Ein jegliches Vorurtheil ist ein Irthum; aber nicht ein jeder Irthum ist ein Vorurtheil.52

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Vgl. Christian Thomasius: Introductio ad philosophiam aulicam, S. 121. Vgl. zu Thomasius’ Vorurteilstheorie ausführlich Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 92ff., zur Frage der Widerständigkeit Godel: „Eine unendliche Menge dunkeler Vorstellungen“, S. 546ff. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 29ff., ders.: Vorurteil, in: ders. (Hg.): Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. München 1995, 438–440, hier S. 438. Reisinger und Scholz behaupten, als „Nominaldefinition“ von Vorurteilen werde gerne Descartes’ tendenziell formal-temporale Definition verwendet. Vgl. Reisinger / Scholz: Vorurteil. I, Sp. 1255. Dies trifft für die Aufklärung insgesamt nicht zu. Mit Schneiders wäre für die Frühaufklärung mehr die von Thomasius wie auch von Wolff angenommene logische Falschheit des Vorurteils als charakteristisch anzunehmen. Menges geht aber wohl zu weit, wenn er behauptet, seit ihrer ersten Thematisierung durch Bacon und Descartes würden Vorurteile „durchgängig“ als irrtümliche Urteile verstanden, bis Herder eine positive Wertung ermögliche. Vgl. Karl Menges: Vom Nationalgeist und seinen ‚Keimen‘. Zur Vorurteils-Apologetik bei Herder, Hamann und anderen ‚Patrioten‘, in: Helmut Scheuer (Hg.): Dichter und ihre Nation. Frankfurt/M. 1993, 103–120, hier S. 108. Franz Joseph Bob: Von dem Vorurtheile wider die Neurung in den Wissenschaften. o.O. [vermutl. Freiburg]1768, S. 3. Stephanus Chauvin: Lexicon philosophicum. Secundus curis, Leovardiae 1713, S. 514. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 49. Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste [...]. Bd. 50. Halle 1748, Sp. 1330f. Walchs Philosophisches Lexikon ist hier wort-

Vom „Vorurteil“ durch einen eigenen Artikel abgesetzt ist das „Präjudiz“. Dieses Lemma transportiert lediglich noch die ältere juristische Bedeutung.53 Das charakteristische Verbreitungsmedium solcher material-falscher Begriffe ist offensichtlich, obwohl Christian Wolff das Vorurteilsproblem tendenziell eher beiläufig behandelt,54 die Wolff-Schule, deren Ziel die Identifizierung von der Wahrheit entgegengesetzten Aussagen durch die ermächtigte Ratio bleibt. Material-wahre Vorurteilsbegriffe scheinen in Reinform im 18. Jahrhundert kaum vorhanden. Selbst Herders geradezu programmatische Definition bleibt an Funktionalität und Historizität gebunden: „Das Vorurtheil ist gut, zu seiner Zeit: denn es macht glücklich.“55 Diese positive Wendung schließt allerdings nicht ausdrücklich den Gedanken der Wahrheit von Vorurteilen, die Betonung der materialen Ebene, ein. Herders Begriffsrehabilitierung bewegt sich auf einer funktional vermittelten historisch-genetischen Analyseebene. Charakteristisch ist demnach eher Herders Begriffsverwendung als seine Definition. Auch Georg Christoph Lichtenberg verbindet in seinen Stellungnahmen zur Vorurteilsfrage formal-funktionale Fragen mit einer impliziten, möglichen Wahrheit der Vorurteile. Unter Bezug auf Johann Georg Heinrich Feder nimmt Lichtenberg an: „Es können die Vorurteile, sagt Feder, zuweilen vernünftige Vermutungs-Regeln sein.“56 Potentielle Vernünftigkeit, also materiale Wahrheit des Vorurteils, ist auch hier verschränkt mit einer formal-methodischen Definition. Das Argument der Wahrheit von Vorurteilen oder der potentiellen Verbindung vorurteiliger Vorstellungen mit wahren spielt insbesondere bei Lessing und Mendelssohn eine Rolle. Doch auch hier wird die Definition nicht zum entscheidenden Argument der Vorurteilstheorie. Bei Mendelssohn wird Wahrheit und damit nachgeordnet Nützlichkeit zum positiven Grund für eine Bewahrung von Vorurteilen. Unabhängig davon, ob der einzelne Mensch in der Lage sein kann, Vorurteile zu destruieren, soll ein Vorurteil bestehenbleiben, wenn es Wahres befördert.57 Lessing äußert in einem Brief an

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gleich. Der Artikel stimmt fast vollständig überein. Vgl. auch Johann Georg Walch: Philosophisches Lexicon. Mit einer kurzen kritischen Geschichte der Philosophie von Justus Christian Hennings. Bd. II. Leipzig 41775, Repr. Hildesheim 1968, Sp. 1431. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 49. Zur Aufnahme und Behandlung der juristischen Tradition bei Zedler vgl. Reisinger / Scholz: Vorurteil. I, Sp. 1251, Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon [...]. Bd. 29. Halle / Leipzig 1741, Sp. 59. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 158ff. Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, in: Herders sämmtliche Werke. Hg. Bernhard Suphan. Bd. 5. Berlin 1891, 475–586, hier S. 510. (Die Bände dieser Ausgabe werden im folgenden mit dem Kürzel SWS und der Bandnummer zitiert.) Ähnlich argumentiert auch Garve: „So haben auch die Vorurtheile beytragen müssen, die Menschen auf der Bahn der Cultur weiter zu bringen.“ Vgl. Christian Garve: Ueber die Maxime Rochefaucaults: das bürgerliche Air verliehrt sich zuweilen bey der Armee, niemahls am Hofe, in: ders.: Popularphilosophische Schriften über literarische, ästhetische und gesellschaftliche Gegenstände. Hg. Kurt Wölfel. Bd. 1. Stuttgart 1974, 559–716, hier S. 623f. Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher. I, in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 1. Sudelbücher I. Hg. Wolfgang Promies, München 1968, S. 584, Nr. F 871. Vgl. Albrecht: Mendelssohn über Vorurteile, S. 302f.

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Mendelssohn, er befürchte, mit seinen Vorurteilen zu vieles, potentiell Wahres, weggeworfen zu haben, was er werde wieder holen müssen.58 Wie diese charakteristische Auswahl zeigt, verbindet sich vorrangig in literarischen Texten das Argument einer potentiellen Wahrheit von Vorurteilen mit formalen oder funktionalen Überlegungen. Diese tendenzielle Formalisierung steht durchaus in der Tradition aufklärerischen Denkens. Denn schon bei Bayle stand mehr ein kritisches, zweifelndes Verfahren im Mittelpunkt als die Entwicklung eines eigenständigen Vorurteilsbegriffs. In Bayles Dictionnaire historique et critique fehlt ein Artikel zu „préjugé“; eine systematische Vorurteilstheorie auf der Grundlage eines festen Begriffes entwickelt Bayle nicht.59 Zudem wird auch in der von Gottsched betreuten Übersetzung eine begriffliche Fixierung und Zuweisung zum Vorurteilsbegriff eher ex post konstruiert. Nicht alles, was als „Vorurteil“ übersetzt wird, heißt auch bei Bayle „préjugé“.60 Herders Bayle-Rezeption wird diesem insofern gerechter, als sie mehr auf den konkreten Objekten der kritischen Untersuchung als auf einer begrifflichen Fixierung beruht.61 Formale Vorurteilsbegriffe,62 insbesondere die Begriffsbildungen Georg Friedrich Meiers und Immanuel Kants, erweisen sich für die philosophische und für die außerphilosophische Vorurteilsdiskussion der deutschen Spätaufklärung als wirksamer und folgenreicher als materiale Varianten. Obwohl schon Descartes’ Vorur-

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Vgl. Lessing an Mendelssohn am 9.1.1771, in: Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 12,2. Briefwechsel. II,2. Bearb. von Alexander Altmann, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976, S. 1. (Die Bände dieser Ausgabe werden im folgenden mit dem Kürzel JubA und der Bandnummer zitiert.) Edward S. Flajole („Lessing’s Retrieval of Lost Truths“, in: PMLA 74,1 (1959), 52–66, hier S. 53) identifiziert diese „verlorenen Wahrheiten“ Lessings als religiöse Überzeugungen. Dies greift meiner Meinung nach zu kurz, da es den Kontext der Äußerung nicht berücksichtigt. Vgl. Pierre Bayle: Dictionnaire historique et critique. Amsterdam / Leiden / Den Haag u.a. 5 1740. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 89. In Michel Delon: Préjugé, in: ders. (Hg.): Dictionnarie européen des Lumières. Paris 1997, 898–899, erscheint Bayle nicht. Vgl. Peter [Pierre] Bayle: Historisches und kritisches Wörterbuch. Nach der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt; auch mit einer Vorrede und verschiedenen Anmerkungen sonderlich bey anstößigen Stellen versehen, von Johann Christoph Gottscheden [...]. Leipzig 1741ff. Vgl. etwa im 3.T. die Artikel Mahomet, S. 258ff., insbesondere S. 273f. und Nicolle, v.a. S. 511f. Nicht nur „préjugé“ wird als „Vorurteil“ übersetzt, sondern auch u.a. „prévention“ oder „préoccupation“. Es ist somit problematisch, wenn Jacobs ausgerechnet Bayles Dictionnaire und Gottscheds Übersetzung als Beispiele dafür anführt, daß der Kampf gegen Vorurteile einer der Hauptimpulse der Aufklärung gewesen sei. Vgl. Jürgen Jacobs: Prosa der Aufklärung. Moralische Wochenschriften, Autobiographie, Satire, Roman. Kommentar zu einer Epoche. München 1976, S. 8f. Vgl. Johann Gottfried Herder: Bayle, in: SWS 23, 86–91, hier S. 87: „daß viele (von Bayles Schriften, R. G.) nicht mehr gelesen werden, kommt daher, daß wir über viele der albern Vorurtheile selbst wegsind, gegen die Er kämpfte.“ [aus: Adrastea. Bd. 1, 1.St. (1801)] Vgl. auch Herder: Auch eine Philosophie, S. 512: „der neueste Modeton der neuesten, insonderheit Französischen Philosophen, ist Zweifel!“ Vgl. Gerhard Sauder: Bayle-Rezeption in der deutschen Aufklärung, in: DVjs 49 (1975). Sonderheft „18. Jahrhundert“, 83–104, hier S. 100. Zu diesen rechnet auch das Praeiudicium in sensu iuridico, das Vorurteil als formale (nicht a priori wahre oder falsche) Phase in oder vor einem juristischen Prozeß identifiziert.

teilsdefinition die grundsätzliche Möglichkeit einer rein formalen oder temporalen Bestimmung von Vorurteilen eröffnet hatte,63 hatte sich bis etwa zur Jahrhundertmitte im philosophischen Diskurs der material-falsche Vorurteilsbegriff als Objekt der Ratio durchgesetzt. Mit Georg Friedrich Meiers ausführlicher Auseinandersetzung mit dem Vorurteilsbegriff gewinnen formale Begriffsdefinitionen entscheidend an Bedeutung – und dies nicht nur aus pragmatischen Gründen. Eine wesentliche Rolle spielt hier die allmähliche Auswanderung der Vorurteilsdiskussion aus dem Bereich der Logik. Aufgrund der weniger strikt philosophisch bestimmten Diskussion scheint der formale Begriff in Frankreich unproblematischer zu sein: Selbst in entschieden vorurteilskritischen Essais wie dem Essai sur les préjugés liegt der Schwerpunkt nicht auf einer material-negativen Vorurteilsbestimmung. Die definitorisch formale Bestimmung, die an die ältere juristische Definition angelehnt zu sein scheint,64 tut der Intensität der teils polemischen Kritik (zu der man in Deutschland einen material-negativen Begriff voraussetzen müßte) keinen Abbruch. Der implizite Widerspruch bleibt unreflektiert. Die intensive Diskussion des Essai in Deutschland zeigt sich durch die unklare Begrifflichkeit irritiert und thematisiert oft erst nach begrifflichen Korrekturen Fragen der Wahrheitserkenntnis, der Kirchenkritik und der Politik.65 Georg Friedrich Meier und Immanuel Kant werden für viele deutschsprachige Zeitgenossen, die sich explizit oder implizit auf Vorurteilsbegriffe beziehen, zu entscheidenden Anregern. Meier entwickelt einen formalen Vorurteilsbegriff, der nicht mehr auf die inhaltliche Falschheit des Vorurteils rekurriert. Neu ist bei Meier nicht die bloße Tatsache, daß er einen formalen Vorurteilsbegriff entwirft, sondern daß er diesen zur Grundlage der Vorurteilskritik und -theorie macht.66 Vorurteile sind für Meier vorgefaßte Meinungen im Sinne ungeprüfter Einstellungen. Sie müssen nicht unbedingt auch inhaltlich falsch sein: „Ein Vorurtheil ist ein Urtheil, welches wir für wahr halten, ehe wir die Gründe der Wahrheit desselben gehörig untersucht haben. Da nun die Wahrheit nicht von unsern Untersuchungen abhänget, so kan ein Vorurtheil wahr, es kan aber auch falsch seyn.“67 Der Form nach also sind alle Vorurteile falsch, inhaltlich können sie durchaus wahr sein, wie Meier in seiner Vernunftlehre, im Auszug aus der Vernunftlehre und schließlich auch in den Beyträgen zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Ge-

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Vgl. Reisinger / Scholz: Vorurteil. I, Sp. 1255. Vorurteile seien „des jugements qu’il porte ou des opinions qu’il adopte avant d’avoir examiné.“ d’Holbach / du Marsais: Essai sur les préjugés, S. 7. Einschlägig ist hier die Antwort Friedrichs II.: Examen de l’Essai sur les préjugés. Londres [Berlin] 1770. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 210. Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. [1.T.] Halle 1748, § 174, S. 410f.

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schlechts ausführlicher erläutert.68 Innerhalb der philosophischen Vorurteilstheorie fundiert Meier den Begriff erstmals auch in seiner Verwendung anthropologisch. Damit spiegelt er den Stand der zeitgenössischen anthropologischen Diskussion. Meiers Vorurteilsbegriff berücksichtigt, daß die Ratio als Unterscheidungskriterium wahrer und falscher Urteile aufgrund der Neubewertung der unteren Seelenkräfte an Kompetenz verliert. Immanuel Kant, der ungeachtet des Fehlens einer geschlossenen Vorurteilstheorie für viele Nachfolger auch hier stilbildend wurde, baut auf der formalen Definition Meiers auf, unterscheidet aber formal und inhaltlich Vorurteile und vorläufige Urteile.69 Vorläufige Urteile unterscheiden sich von anderen Urteilen der Form nach: Sie bieten keine endgültige Entscheidung, erweisen sich indes innerhalb der Heuristik eines Urteilsprozesses als notwendig, da sie zu sicheren und wahren Urteilen hinführen. Vorurteile sind bei Kant im Gegensatz zu vorläufigen Urteilen jedoch nicht mit dem Vorsatz zu weiterer Untersuchung verknüpft. Vorurteile weisen demnach den formalen Fehler auf, daß sie für endgültige Urteile gehalten werden, obwohl sie doch nur eine Etappe im Erkenntnisprozeß hätten darstellen sollen. Insofern sind sie verkehrte oder verkannte vorläufige Urteile.70 Einerseits also scheint für pragmatische Erkenntnis- und Entdeckensprozesse eine Fähigkeit zur Fällung vorläufiger Urteile notwendig zu sein: Um etwas zu entdecken [...], dazu gehört in vielen Fällen ein besonderes Talent, Bescheid wissen, wie man gut suchen soll: eine Naturgabe vorläufig zu urteilen (i u d i c p r a e v i i ), wo die Wahrheit wohl möchte zu finden sein; den Dingen auf die Spur kommen und die kleinsten Anlässe der Verwandtschaft zu benutzen, um das Gesuchte entdecken oder zu erfinden.71

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Eine solche Formalisierung, die sich definitorisch von Meier herleitet,72 rechnet mit einer möglichen positiven Funktion von Vorurteilen. Andererseits aber erliegt Kant gelegentlich, wie Schneiders gezeigt hat,73 der Gefahr, angesichts der auf ratio68

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Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 209f., Georg Friedrich Meier: Vernunftlehre. Nach der bei Johann Justinus Gebauer in Halle 1752 erschienenen ersten Aufl. in zwei Teilen hg., bearb. und mit einem Appendix versehen von Günter Schenk. T. 1. §§ 1–280. Halle 1997, insbesondere § 200ff., S. 237ff. [im Orig.: S. 271ff.], Georg Friedrich Meier: Auszug aus der Vernunftlehre. Halle 1752, §§ 168ff., S. 45f., Georg Friedrich Meier: Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts. Halle 1766, § 4, S. 7: „Alle Welt weiß, daß man durch (sic) Vorurtheile, alle diejenigen Urtheile versteht, die man aus Uebereilung für wahr hält; oder, denen man seinen Beyfall gibt, ohne vorher die rechten Gründe ihrer Wahrheit erwogen zu haben.“ Kants frühe Bestimmung von Vorurteil als Sammelbegriff von vorläufigem Urteil und Vorurteil im material-falschen Sinne lasse ich außer acht. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 283. Vgl. ebd., S. 284ff., 287f. Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: AA 7, 117–333, hier S. 223. Kursivierung im Orig. gesperrt, Sperrung in lateinischen Buchstaben. Vgl. zur Nähe Kants und Meiers Hinske: Meier und das Grundvorurteil der Erfahrungserkenntnis, 103–121. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 279, 291.

nalistischer Grundlage heiklen Frage der Wahrheit von falsch entstandenen Urteilen Vorurteile implizit wieder als material-falsche Urteile zu definieren und damit hinter den Stand der zeitgenössischen Diskussion zurückzufallen. Diese Diskrepanz zwischen Formalisierungsversuch und impliziter Materialisierung bei Kant führt letztlich wieder zur Ermächtigung der die Vorurteilsfrage entscheidenden Ratio: „Ein jedes Vorurteil ist ein principium irriger Urteile. Aus Vorurteilen entspringen also nicht Vorurtheile sondern irrige Urteile, und sie sind immer Quellen derselben [...]“.74 Kant scheint Vorurteile auch für theoretisch falsche Sätze zu halten.75 Damit ist auf der Begriffsebene die Formalisierung wieder aufgehoben. Diese zentralen Definitionen bleiben im öffentlichen Bewußtsein präsent. Allerdings erschöpft sich die Thematisierung des „Vorurteils“ in der Spätaufklärung nicht mehr in der erkenntnistheoretischen Diskussion, sondern sie entwickelt differenzierte Verwendungsformen des Vorurteilsbegriffs, die das selbstaufklärerische Potential stärken. Kants These, Vorurteile ermöglichten Erkenntnis, folgt der bezeichnende Nachsatz: „Die Logik der Schulen lehrt uns nichts hierüber.“76 Doch bleibt der Anspruch der Vernunftlehre, für Vorurteilstheorie disziplinär zuständig zu sein, in Kreisen akademischer Philosophie gelegentlich selbst dann bestehen, wenn ein formaler Vorurteilsbegriff die logische Begriffsdichotomie abgelöst hat: Der Göttinger Philosoph Samuel C. Hollmann etwa proklamiert einerseits einen formalen Vorurteilsbegriff, der vom Irrtum dezidiert zu scheiden sei, verortet die Vorurteilsdebatte andererseits aber als Teil der Vernunftlehre. Denn den Vorurteilen sei doch mit Vernunft beizukommen.77 Hergebrachte Vorurteilsbegriffe werden dessen ungeachtet zusehends semantisch variiert, indem sie in neuen Kontexten, vor allem im Rahmen der Debatte um Wirkung und Bedeutung der Aufklärung, diskutiert werden. Begriffsbasierte Verwendungen des Vorurteilsbegriffs konkurrieren mit funktionalen.78 Die entscheidende katalytische Rolle in diesem Widerstreit spielt der anthropologische Diskurs. 74 75 76

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Immanuel Kant: Logik Pölitz, in: AA 24, hier S. 548. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 291. Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 223. Dies korrespondiert damit, daß Kant die Vorurteilstheorie der Anthropologie, nicht der Logik zuweist. Die Logik zeige, wie wir uns des Verstandes bedienen sollten, nicht wie wir uns tatsächlich des Verstandes bedienten. Vgl. Kant: Logik Pölitz, S. 552. Vgl. Samuel C. Hollmann: Zufällige Gedanken über verschiedene wichtige Materien. Dritte Sammlung. Frankfurt / Leipzig 1772, S. 5f., 9, 27. Daß außerhalb philosophischer Logiken funktionale Überlegungen zu Vorurteilen auch auf eine längere Diskurstradition zurückgreifen können, zeigt das Beispiel Montaigne, der die positive psychische Funktion von Vorurteilen betont: „unter dem Schutz von Vorurteilen gelingt es der Seele wunderbar, zur inneren Ruhe zu gelangen.“ (Michel de Montaigne: Apologie des Raimond Sebond, in: ders.: Die Essais. Ausgewählt, übertragen und eingeleitet von Arthur Franz. Stuttgart 1984, 205–233, hier S. 211). Blumenberg identifiziert diesen Essai als „erste philosophische Anthropologie, die diesen Namen verdiente“, zieht von ihr aber ohne weitere Zwischenstufen – und somit stark verkürzend – eine Linie zu Kant. Vgl. Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, in: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981, 104–136, hier S. 109.

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1.3 Zur Lage der Forschung Die Diskussion um Vorurteile beschränkt sich in der Spätaufklärung nicht mehr auf Fragen der Definition, der Typologie und der vernunftgeleiteten Vorurteilskritik, sondern sie fokussiert Fragen der Sicherheit und Zuverlässigkeit von Erkennen und Urteilen. Diese Fragen werden in essayistischen und literarischen Formen nicht mehr nur gestellt, sondern zu neuen Formen des Umgangs mit dem Vorurteilsproblem entwickelt.79 Der Vorurteilsbegriff wird zu einem Deutungsmuster im Sinne Bollenbecks: Er entzieht sich einer konsensuellen Verbaldefinition und erzeugt aufgrund dieser begrifflichen Optionen Bestimmungsrelationen zur außerbegrifflichen Gegenwart, zum Nichtgesagten, Ausgegrenzten, selbst zu zukünftigen Möglichkeiten.80 Dies hat in der Forschung indes bisher kaum Berücksichtigung gefunden. Wenig beachtet wurden die Entwicklungslinien der Vorurteilsdiskussion, ihre gattungsüberschreitende Dynamik, ihre Entautonomisierung durch die zunehmende Relevanz anthropologischer Erkenntnisstrategien, ihre Modifizierungen durch theoretische und literarische Argumente. In der Forschung im deutschen Sprachraum zeichnet sich eine Diskrepanz zwischen philosophiehistorischer Beschränkung (auf der Basis von Schneiders’ Arbeit) und literaturwissenschaftlicher Erweiterung des Textcorpus ab.81 Der Unterschied besteht in erster Linie in den jeweils zugrundeliegenden (meist allerdings nicht explizit formulierten) Thesen über die Reichweite des Vorurteilsdiskurses. Die literaturwissenschaftliche Perspektive bleibt bisher meist auf Einzellesarten limitiert. Dagegen soll hier die diskursive Konstellation der spätaufklärerischen Vorurteilsdiskussion analysiert werden. Werner Schneiders’ Studie Aufklärung und Vorurteilskritik bleibt die wesentliche Material- und Analysegrundlage aller weiteren Arbeiten zur Vorurteilsdiskussion der deutschen Aufklärung. Auf breiter Quellenbasis analysiert Schneiders erstmals die Phasen der philosophischen Vorurteilsdiskussion. Dabei zieht er auch in weit größerem Maß als in der Philosophiegeschichte bis dahin üblich popularphilosophische und damit tendenziell eher randständig scheinende Quellen mit ein. Es gelingt Schneiders, die Vorurteilslehre der Aufklärung in ihren Details und Entwicklungen auf der Grundlage der Entwicklung des Vorurteilsbegriffs überzeugend darzustellen. Dennoch bleiben einige Defizite: Die Schulphilosophie verliert, wie Schneiders zeigt,82 in der öffentlichen Diskussion um die Vorurteile an Gewicht zugunsten neu entstehender Formen. Dennoch verfolgt er weitgehend die philosophische Traditionslinie Thomasius – Wolff – Meier – Kant anhand ihrer 79 80 81

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Hier ist weder eine Theorie vorautonomer Literatur noch eine Analyse literarischer Formen des 18. Jahrhunderts schlechthin intendiert. Vgl. Bollenbeck: Bildung und Kultur, S. 18. Nicht analysiert wird hier die Rolle einer Vorurteilstheorie im Rahmen der Philosophie selbst, etwa bei Nietzsche: vgl. hierzu u.a. Manfred Riedel (Hg.): „Jedes Wort ist ein Vorurteil“. Philosophie und Philologie in Nietzsches Denken. Köln 1999. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 244ff.

Begriffs- und Typologiebildung. Eine solche, eher traditionelle begriffsgeschichtliche Untersuchung, die überzeugend weite Teile der philosophischen Diskussion abdeckt,83 greift für den bei Schneiders lediglich skizzierten Grenzbereich von Literatur und Philosophie zu kurz. Zudem gewichtet Schneiders die anthropologischen Implikationen der Aufklärung eher gering, so daß die Folgen anthropologischer Argumente für die Vorurteilsdebatte unterbelichtet bleiben.84 Das Defizit Schneiders’ liegt darin, daß eine rein topologische Verankerung die Folgen des anthropologischen Diskurses für die Vorurteilsdiskussion nicht erschöpft. Infolge des Funktionswandels der Literatur in der Spätaufklärung und angesichts der gestiegenen Bedeutung anthropologischer Argumentationsformen wird hier dagegen nachzuweisen gesucht, daß sich die entscheidende strukturelle Innovation der Vorurteilsdiskussion der deutschen Spätaufklärung in anthropologisch katalysierten Foren (Literatur, Diskurs Anthropologie, Popularphilosophie) vollzieht. Aufgrund des überwiegend schulphilosophischen Fokus bei Schneiders scheint es auch erklärlich, daß die politischen und sozialen Funktionen, die die Vorurteilsdebatte in Deutschland von den späten 1770er Jahren an zunehmend übernimmt, weitgehend ausgeblendet bleiben. Die Frage nach der Reichweite der Vorurteilskritik in bezug auf die Selbstkritik der Aufklärung, die Schneiders selbst stellt und für deren Beantwortung er wesentliche Vorarbeiten geleistet hat,85 könnte über das Kantsche Modell der Selbstaufklärung hinausführen. Eine Lücke bei Schneiders sucht Michael Albrecht in einer Studie über Mendelssohns Vorurteilsbegriff zu beheben.86 Daß Schneiders Mendelssohn unberücksichtigt läßt, rechtfertigt Albrecht einerseits mit dem Fehlen einer geschlossenen Vorurteilstheorie bei Mendelssohn. Andererseits aber ordnet er Mendelssohns Beitrag einer der von Schneiders typologisierten Phasen der Vorurteilsdebatte zu.

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Auf die wenigen innerphilosophischen Einwände gegen Schneiders gehe ich nicht ausführlicher ein. Carboncini bemängelt in ihrer Rezension falsche Akzentuierungen etwa bei Wolff. Zurecht mahnt sie auch an, „Aufklärung“ und „Selbstdenken“ seien nicht klar bestimmt. Vgl. Sonia Carboncini: Rezension von Werner Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik [...], in: Studia Leibnitiana 17 (1985), 118–122. Für Engfer bleibt die Parallelisierung der Vorurteilskritik mit der Vernunftkritik bei Kant „eher undeutlich“. Er weist zudem darauf hin, das pietistische Erbe bleibe bei Schneiders unberücksichtigt. Vgl. Hans-Jürgen Engfer: Rezension von Werner Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik [...], in: Zeitschrift für philosophische Forschung 39 (1985), 143–146, hier S. 145f. Carboncini behauptet, Schneiders entgehe die „anthropologisch-pietistisch-sentimentale“ Seite der Aufklärung. Vgl. Carboncini: Rezension von Schneiders. Dies zu generalisieren, scheint mir unzulässig. Schneiders arbeitet die anthropologische Verankerung von Vorurteilen in den Tiefenschichten der Seele und deren Konsequenzen für die Vorurteilstheorie etwa bei Thomasius und Meier heraus, bleibt aber bei der Topologie stehen. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 105, 107f., 109, 111f., 213ff. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 226, ders.: Die wahre Aufklärung. Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung. Freiburg / München 1974. Vgl. Albrecht: Mendelssohn über Vorurteile. Zur Kritik an Albrecht vgl. Godel: „Eine unendliche Menge dunkeler Vorstellungen“, S. 566f.

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Als informierter Beiträger zu einschlägigen Lexika und Nachschlagewerken prägt Werner Schneiders’ philosophiehistorische Sicht auf die Vorurteilsdiskussion auch die Erstinformation über Stellenwert und Entwicklung der Diskussion im 18. Jahrhundert. Schneiders’ Artikel Vorurteil im von ihm selbst herausgegebenen Lexikon der Aufklärung bietet eine bündige und schlüssige Zusammenfassung der philosophiehistorischen Entwicklung auf der Grundlage seiner Monographie.87 Kritisch anzumerken bliebe nur, daß einschlägige germanistische Arbeiten im knappen Literaturverzeichnis zwar genannt werden, deren Folgerungen im Artikel aber keine Rolle spielen. In Delons Dictionnaire européen des Lumières kennzeichnet Schneiders seinen Artikel ausdrücklich als Darstellung der Vorurteilsthematik in der deutschen Philosophie. Über seine Monographie hinaus führt hier, daß Schneiders summierend betont, als beste Vorbeugung gegen Vorurteile gelte in der deutschen Schulphilosophie der Aufschub des Urteils (suspensio judicii).88 Der parallele, mit „Préjugé“ ohne weitere Spezifizierung überschriebene Artikel von Michel Delon dokumentiert aufgrund des kontrastierenden Quellencorpus (Delon verzeichnet in weit größerem Maße eine öffentliche, teils essayistische Diskussion in Frankreich) nicht nur auf der historischen Analyseebene elementare Differenzen zwischen der entstehenden Prägung des öffentlichen Diskurses in Frankreich und Deutschland, sondern wirft damit auch implizit die Frage auf, ob sich die deutsche Vorurteilsdiskussion denn tatsächlich in der philosophischen und in der konkretsozialen erschöpft.89 Binnendifferenzierungen und Entwicklungen innerhalb des philosophischen Vorurteilsdiskurses arbeitet Schneiders in seinem Aufsatz Vernünftiger Zweifel und wahre Eklektik heraus:90 Er situiert die Genese der aufklärerischen Vorurteilskritik im Übergang von Descartes zu Thomasius. Der eklektische Zweifel Claubergs werde hier zu einem Bindeglied, das den Skeptizismus in die Vorurteilskritik überführe. Der Zweifel werde nun zum Hauptmittel der Vorurteilsbekämpfung, verliere dabei aber an Radikalität.91 Ein solch weiter Eklektikbegriff, den Schneiders bis auf die Popularphilosophie ausweitet, ist auf Widerspruch gestoßen.92 Indem Schneiders diese Traditionslinie aufzeigt, schließt er allerdings – das ist das Verdienst dieser These – aus, daß Vorurteilstheorie nur als Erscheinung des philosophischen Höhenkamms analysiert wird.

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Vgl. Schneiders: Vorurteil, S. 438–440. Vgl. Werner Schneiders: Préjugé (Philosophie allemande), in: Michel Delon (Hg.): Dictionnaire européen des Lumières. Paris 1997, 900. Vgl. Delon: Préjugé, S. 898–899. Vgl. Werner Schneiders: Vernünftiger Zweifel und wahre Eklektik. Zur Entstehung des modernen Kritikbegriffes, in: Studia Leibnitiana 17 (1985), 143–161. Vgl. ebd., S. 150. Vgl. insbesondere Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994. Albrecht belegt einen „Verfallsprozeß der Eklektik“ im 18. Jahrhundert (S. 457f. et passim).

Ebenfalls auf philosophiehistorischer Grundlage argumentieren Reisinger und Scholz im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Kenntnisreich analysieren die Autoren die Begriffsentwicklung und Wurzeln der Diskussion. Schlüssig stellen sie deren unterschiedliche Entwicklung in England, Frankreich und Deutschland dar. Sie vertreten die These, die deutsche Schulphilosophie und Kant hätten die wesentlichen Beiträge zur Theorie und Systematisierung des Vorurteilsproblems geliefert.93 Doch diese Annahme verkürzt die Funktionen und die Breitenwirkung der deutschsprachigen Vorurteilsdiskussion des 18. Jahrhunderts. Daß Meiers Beitrag zur Vorurteilstheorie nicht wie bei Schneiders als „Pragmatisierung“, sondern als „Konkretisierung“ und „Popularisierung“ verbucht wird,94 legt eine Nähe zur sozialpragmatischen Vorurteilskritik der Volksaufklärung nahe, die bei Meier in dieser Form nicht intendiert ist. Daß Kant die Vorurteilstheorie mit der empirischen Psychologie in die Anthropologie versetzt habe,95 trifft zwar wissenschaftsgeschichtlich zu, nicht aber diskursgeschichtlich: Die Vorurteilstheorie findet schon bei Thomasius einen genuin anthropologischen Ort, der Vorurteilsursachen in den vernunftfreien Phasen der Kindheit sucht. Daß vor allem Meiers Vorurteilstheorie im Zentrum vieler Forschungsarbeiten steht, wird der Bedeutung der mit Meier einsetzenden Formalisierung des Vorurteilsbegriffs für die deutsche Spätaufklärung gerecht. Norbert Hinske weist überzeugend nach, daß Kants frühes, „irenisches“ Lösungsmodell zur Beilegung von Streitigkeiten auf der Rezeption der Vorurteilstheorie insbesondere Meiers beruht und daß sich darüber hinaus Kants Antinomienlehre insgesamt im Problemhorizont der Vorurteilstheorien des 18. Jahrhunderts bewegt.96 In methodischer und inhaltlicher Hinsicht völlig unzureichend bleiben die Versuche von Posch und Jankowitz, die Vorurteilsdiskussion mit (allerdings weitgehend unreflektierten) Mitteln systematischer Philosophie zu analysieren. Posch bietet eine methodisch diffuse, historisch blinde, stilistisch holprige Aneinanderreihung „interpretierter“ Belegstellen aus der Vorurteilstheorie, die dann aus Poschs gesundem Menschenverstand heraus kritisiert werden.97 Jankowitz versucht, Philosophen, die Vorurteilsfreiheit anstreben, Vorurteilsbehaftetheit nachzuweisen. Dies geschieht aber ohne einen historischen (oder aktuellen) Vorurteilsbegriff, der durch Jankowitz’ Verfahren für die Philosophie erst gegründet werden soll.98 So weist Jankowitz im Grunde mit tautologischer Methodik nur Inkonsistenzen nach, die Vorurteile genannt werden. Die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit der Vorurteilsproblematik des 18. Jahrhunderts setzt an der Frühaufklärung und damit an der Gründungsphase 93 94 95 96 97 98

Vgl. Reisinger / Scholz: Vorurteil. I, Sp. 1255. Vgl. ebd., Sp. 1257. Vgl. ebd., Sp. 1259. Vgl. Hinske: Meier und das Grundvorurteil der Erfahrungserkenntnis, S. 103–121. Vgl. Günter Posch: Über Vorurteile und notwendige Vorurteile. Phil. Diss. Innsbruck 1969. Vgl. Jankowitz: Philosophie und Vorurteil, S. 1f.

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einer systematischen Vorurteilstheorie der Aufklärung an. Manfred Beetz weist überzeugend auf, wie die Vorurteilskritik schon im Übergang vom Barock zur Aufklärung zu einem Thema der Literatur werden konnte.99 Der Schwerpunkt von Beetz’ Analyse liegt dabei nicht auf den literarischen Manifestationen der Vorurteilstheorie, sondern auf den rhetorischen und logischen Ursachen für diesen Wandlungsprozeß. Erstmals für den deutschen Sprachraum weist er auf die Eigenständigkeit literarischer Stellungnahmen zur Vorurteilsproblematik hin, wenn er konstatiert, daß die Literaten der Frühaufklärung den definitorischen Festlegungen etwa Thomasius’ nicht immer folgten.100 Gerhard Sauder skizziert anhand charakteristischer Beispiele die Entwicklung der aufklärerischen Vorurteilsdiskussion im Medium der Literatur.101 Sauder weist nach einer gerafften Darstellung der Positionen Hallers, der Moralischen Wochenschriften, Lessings, Wielands, Mendelssohns, Schillers und Hamanns mit dem Beginn der „verhältnismäßigen Aufklärung“ überzeugend nach, daß der vorurteilskritische Aufklärungsanspruch zunehmend relativiert wird. Die bei Kant diagnostizierte Umwertung der Vernunft zu einem affirmativen Werkzeug beraube die Vorurteilskritik ihrer Schärfe, so daß der aufklärerische Anspruch auf Vorurteilsfreiheit und Progreß nun kaum mehr kritisch geprüft werde.102 Diese These darf als Anregung verstanden werden, zu fragen, ob sich auch die Literatur der Spätaufklärung in ähnlicher Weise wie die Philosophie ihres selbstreflexiven Potentials begibt. Karl Menges konzentriert sich in seinen Arbeiten auf den Aspekt der Rehabilitierung des Vorurteils. An Herder, Meier, Abbt und Hamann zeigt Menges, mit welchen Argumenten Vorurteile als nicht destruierbar oder als erhaltenswert angesehen werden. Dabei arbeitet er insbesondere geschichtsphilosophische, politische und sozialpragmatische Faktoren heraus.103 Auch Hans Adler hebt vorwiegend auf den politischen Diskussionsraum ab, wenn er die preußische Preisfrage zum Volksbetrug ins Zentrum seines Aufsatzes zur Vorurteilsproblematik stellt.104 Zahlreiche Stellenhinweise zur Vorurteilsdiskussion in der deutschen Literatur bietet auch Fritz Schalks begriffsgeschichtliche Studie Praejudicium im Romanischen.105 Romanistische Studien zur Vorurteilsproblematik zeichnen sich dadurch aus, daß sie die Diskussionslage tendenziell gattungsüberschreitend wahrnehmen.106 Dadurch erweisen sie sich häufig vom Quellencorpus her bereits als 99 100 101

Vgl. Beetz: Transparent gemachte Vorurteile, S. 7–33. Vgl. ebd., S. 13. Vgl. Gerhard Sauder: Aufklärung des Vorurteils – Vorurteile der Aufklärung, in: DVjs 57,2 (1983), 259–277. 102 Vgl. ebd., S. 271ff. Methodisch knüpft Sauder (nicht unkritisch) an die Kritische Theorie an. 103 Vgl. Menges: Vorteil, 161–170, ders.: Nationalgeist, 103–120. 104 Vgl. Adler: Aufklärung und Vorurteil, 657–676. 105 Vgl. Schalk: Praejudicium, v.a. S. 51ff. 106 Die romanistische Forschung zur französischen Debatte hat die Überschneidung von primär philosophischen, literarischen und para-literarischen Texten herausgearbeitet. Schon Schalk

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interdisziplinär. Diese Differenz mag durch die historische Quellenlage im Frankreich des 18. Jahrhunderts, vielleicht aber auch durch die Fokussierung der deutschen Philosophiegeschichtsschreibung bedingt sein. Auf dieser diskursiv adäquateren Quellengrundlage können der Zusammenhang von Krisenwahrnehmung und Vorurteilsdiskurs wie die Funktionen und Tendenzen des Vorurteilsdiskurses in der Literatur überzeugend beleuchtet werden. Die Vielfalt der entwickelten Tendenzen des Vorurteilsdiskurses wird, wie unter anderem der von Ruth Amossy und Michel Delon edierte Sammelband ausweist,107 in der Romanistik durchweg nicht auf logische Vorurteilskonzepte beschränkt. Zur Forschungssituation kann resümiert werden: Die philosophiehistorische Aufarbeitung der Vorurteilsdiskussion der deutschen Aufklärung ist – nicht zuletzt auf der überzeugenden Basis von Werner Schneiders – weit fortgeschritten. Dabei hat sich die Philosophiegeschichte weitgehend auf begriffsgeschichtliche und typologische Ansätze zurückgezogen, die unvermeidlich die nicht definitorisch sichernden Beiträge zur Debatte im literarischen und paraliterarischen Bereich ausblenden. Für diese Gattungen liegt eine langsam zunehmende Zahl von Einzelstudien vor, die durchaus für Teilbereiche neue Erkenntnisse herausarbeiten. Problematisch sind allerdings durchweg ein methodischer und ein inhaltlicher Aspekt. Inhaltlich ist die Funktion des diskursiven Zusammenhangs von Anthropologie, Vorurteilsdiskussion und Literatur ein Forschungsdesiderat. Rolle und Funktion der Vorurteilsdiskussion in der spätaufklärerischen diskursiven Gemengelage, ihre Chancen, Möglichkeiten, ihre Umformungen in andere Medien wurden bisher kaum berücksichtigt. Eine umfassende Einordnung dieser erweiterten Vorurteilsdebatte in die zeitgenössische Diskussion steht bisher aus. Methodisch hat sich eine Begriffsgeschichte des Vorurteils für diesen Bereich als unzureichend herausgestellt – allein schon deswegen, weil sich die literarische Diskussion um die Vorurteilsproblematik von der definitorischen Ebene zunehmend ablöst. Die Beiträge Herders, Forsters, Wielands, Lichtenbergs zur Vorurteilsdiskussion beschränken

führt „philosophische“ neben literarisch-essayistischen Quellen an. Er weitet seine Untersuchung auch auf deutsche Quellen aus, ohne sich auf ein rein philosophisches Textcorpus zu beschränken. Schneiders’ berechtigte Kritik an Schalk, dieser gehe nur wortgeschichtlich vor und könne daher die Theorie des Vorurteils nicht in den Blick nehmen, berührt die Frage der Ausweitung des Textcorpus nicht. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 32. Die Frage des „Philosophischen“ in der Vorurteilstheorie spielt auch bei Brockmeier keine wesentliche Rolle. Vgl. Peter Brockmeier: Die Kritik der Vorurteile in der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts, in: ders. / Hermann H. Wetzel (Hg.): Französische Literatur in Einzeldarstellungen. Bd. 1. Von Rabelais bis Diderot. Stuttgart 1981, 321–399. Delon verbindet – ebenfalls mit einem breiteren Textcorpus – überzeugend die Thematisierung und Problematisierung von „Aufklärung“ mit der Rehabilitierung von Vorurteilen (als Verwendungsform des Begriffs). Vgl. Delon: Réhabilitation des préjugés. Die textstrategischen Chancen der Literatur arbeitet Thoma überzeugend heraus. Vgl. Thoma: Vorurteil und Urteilsbildung. 107 Vgl. Ruth Amossy / Michel Delon (Hg.): Critique et légitimité du préjugé (XVIIIe–XXe siècle). Bruxelles 1999.

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sich nicht auf definitorische und typologische Fragen und sind daher mit Begriffsoder Motivgeschichte nicht zu verorten. Im Zentrum der Analyse dieser Arbeit steht die deutschsprachige Vorurteilsdebatte als Modus der Selbstreflexion der Aufklärung. Es wird gezeigt, wie sie die Möglichkeiten hierzu auf der Basis der außerschulphilosophischen, literarischen und paraliterarischen Rezeption der anthropologischen Wende entwickelt.

1.4 Methodische Voraussetzungen: Eine interdiskursive Verwendungsgeschichte des Vorurteils Die Analyse der Diskussion um das Vorurteil als Modus der Selbstaufklärung verbietet ein rein fachspezifisches Vorgehen wie eine bloße Begriffsgeschichte. Das hier vorgeschlagene methodische Vorgehen orientiert sich an der Konstitution des Untersuchungsobjektes, also an der Beobachtung, daß der Vorurteilsbegriff im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmend funktional und nicht definitorisch verwendet wird. Der historische Diskussionsraum umfaßt nicht mehr nur den Begriff und dessen Wandel. Im Zentrum der Analyse stehen hier daher nicht das Signalwort „Vorurteil“ als begriffliche Kategorie, sondern dessen Kontextualisierungen. Daher schlage ich ein Modell vor, das Begriffs- und Verwendungsgeschichte integriert. Der semantische Wandel des Begriffs soll anhand seiner unterschiedlichen Verwendung in verschiedenen diskursiven Kontexten herausgearbeitet werden.108 Eine Verwendungsgeschichte löst Kosellecks Anspruch ein, über Systematisierung oder Addition historischer Quellenbelege hinauszuführen, indem sie dessen Orientierung am Begriffswandel die Orientierung an der Funktion von diskursiven Argumentationsformen entgegenhält.109 Zentrale Analysebene sind die textlich manifesten Charakteristika der Diskussion. Diese beschränken sich weder auf eine Wortgeschichte noch auf eine Geschichte der wissenschaftlichen Disziplinen. Die Analyse der Verwendung eines Begriffs umfaßt auch seine Konstitutions- und Gültigkeitsfelder, seine Gebrauchsregeln, nicht zuletzt auch die theoretischen Milieus, in denen er sich ausbildet und variiert.110 Noch nicht erfaßt sind damit aber die interne wie externe Struktur dieses Diskussionsraums sowie dessen Dynamik. Das Modell muß daher auch die Ebene der Diskursrelationen einschließen. 108

Vgl. Bollenbeck: Bildung und Kultur. Bollenbecks „Verwendungsgeschichte“ präzisiert Kosellecks begriffsgeschichtliches Modell, das nur den Wandel der Begriffsdefinitionen, nicht den der Funktionen nachvollziehen kann. Vgl. Reinhart Koselleck: Einleitung, in: Otto Brunner / Werner Conze / ders. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1. Stuttgart 1979 (11972), XIII–XXVII. 109 Kosellecks Begriffsgeschichte mischt im übrigen nicht immer ganz trennscharf Semasiologie und Onomasiologie. Vgl. Koselleck: Einleitung, S. XIX, XXIf. 110 Vgl. unter Bezug auf Canguilhem Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Übs. von Ulrich Köppen. Frankfurt/M. 1981, S. 11.

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Umfang und Formen der zum Vorurteilsproblem geführten Diskussionen machen sie zu Auseinandersetzungen, die nicht im Rahmen der Wissenschaftsgeschichte situiert werden können: Indem die Vorurteilstheorie den wissenschaftlichphilosophischen Rahmen universitärer Logik zunehmend verläßt, unterliegt sie einem erweiterten Umfeld von Diskussionselementen, die im Rahmen einer wissenschaftshistorischen Analyse nicht erfaßbar wären. Eine schwierige Übung für Wissenschaftler, auch für Geisteswissenschaftler, ist es, sich einzugestehen, daß Modelle wissenschaftlicher Disziplinen als Beschreibungskategorien für historische Entwicklungen nicht ausreichen,111 daß Paradigmenwechsel außerhalb einer von Wissenschaft geprägten Ordnung stattfinden,112 daß das Potential der Moderne sich nicht der Universität verdankt, sondern prä- und außeruniversitären Diskursen,113 daß eine „Geschichte der Denksysteme“114 (und sei es nur eine partielle) einer Wissenschaftsgeschichte vorangehen muß, daß entscheidende Impulse nicht immer von den kanonisierten Autoren (aus Wissenschaft und Literatur) ausgingen.115 Diese Analogien des historischen Befundes und der Möglichkeiten des Diskursbegriffs sprechen dafür, eine selektive Variante der Diskurstheorie als Modell für die Analyse der Vorurteilsdiskussion vorzuschlagen. Diskurse sollen dabei nicht auf einer begrifflichen Ebene bestimmt werden, sondern, Foucault folgend, auf der formalen:116 Sie werden als Ordnungen verstanden, die nach selbst- oder fremderzeugten Regelmäßigkeiten (Formationsregeln) generiert, transformiert und potentiell auch destruiert werden, als Mengen von

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Vgl. Paul Ziche: Anthropologie und Psychologie als Wissenschaften, in: Georg Eckardt / Matthias John / Temilo van Zantwijk / ders.: Anthropologie und empirische Psychologie um 1800. Ansätze einer Entwicklung zur Wissenschaft. Köln / Weimar / Wien 2001, 73–109, hier S. 78. 112 Diese Annahme erweitert Kuhns Begriff des Paradigmas über den wissenschaftlichen Bereich hinaus. Neuartigkeit und Offenheit einer Leistung kann auch im Diskursraum Paradigmen bilden. Gleichwohl bleibt umgekehrt die Bildung eines Paradigmas in den meisten Fällen Bedingung der Konstitution einer „reifen“, „normalen“ Wissenschaft. Vgl. Kuhn: Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 25f. 113 Vgl. Foucault: Archäologie, S. 268. Mit dem Aufweis außerwissenschaftlicher, prä-moderner Entwicklungen verbindet sich ideologiekritisches Potential. 114 Vgl. Michel Foucault: Wahrnehmung – Körper – Denken. Projet d’enseignement (1969), in: Bernhard J. Dotzler / Ernst Müller (Hg.): Wahrnehmung und Geschichte. Markierungen zur Aisthesis materialis. Berlin 1995, 1–5, hier S. 5. 115 Dabei wird hier mit der Verwendung des Diskursbegriffs nicht die Eigenverantwortlichkeit des Individuums geleugnet. Bourdieu sucht im Kontrast zu Foucault das Wissen generierende Subjekt einzubeziehen. Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übs. von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt/M. 2001, S. 340f. 116 Dem Schillernd-Unklaren des Diskursbegriffs soll hier durch die Beschneidung auf formale Merkmale entgegengewirkt werden. Vgl. zu Diskursbegriffen Manfred Frank: Was ist ein „Diskurs“? Zur „Archäologie“ Michel Foucaults, in: ders.: Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur deutsch-französischen Hermeneutik und Texttheorie. Erw. Neuausg. Frankfurt/M. 1990, 408–426 und Jürgen Link / Ursula Link-Heer: Diskurs / Interdiskurs und Literaturanalyse, in: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 20 (1990). H. 77. Helmut Kreuzer (Hg.): Philologische Grundbegriffe, 88–99, hier S. 88ff.

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„Aussagen, die einem gleichen Formationssystem angehören“.117 Die Einheit des Diskurses wird also weniger durch das gemeinsame Objekt, den Inhalt, gebildet als durch die den Raum strukturierenden formalen und in dieser Hinsicht systematisierenden Merkmale.118 Die diskursive Macht manifestiert sich, wie gerade beim Vorurteilsdiskurs sichtbar werden wird, nicht a priori in politischer Repression, sondern in der Frage, wie die Produktion des Diskurses kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird.119 Die begriffshistorisch-hermeneutische Frage nach dem Sinn der Wörter erreicht den konstruktiven Charakter der Formationssysteme von Diskursen nicht.120 Eine solche Verwendung des Diskursbegriffs prononciert den linguistischen Aspekt von Foucaults Diskursbegriff, ohne daß dabei der soziologische ausgeschlossen wird.121 Dies entspricht – soviel sei vorweggenommen – der historischen Analyse des Vorurteilsdiskurses. Nicht das soziale Vorurteil bestimmt das Reden über das Vorurteilsproblem, sondern der Diskurs erzeugt eine Vorurteilstheorie, die sich von der sozialen Realität von Beginn an nur vermittelt beeinflussen läßt. Der Kampf gegen konkrete soziale Vorurteile bleibt weitgehend unabhängig von den Elaborationsformen der Vorurteilstheorie. Dennoch wirken in den theoretischen Vorurteilsdiskurs soziale Praktiken in Form prä-soziologischer oder soziopsychologischer Reflexion ein. Der Gegenstand des Vorurteilsdiskurses existiert nur unter den komplexen Diskursbedingungen selbst. Die Relationen zwischen Elementen innerhalb des Diskurses verlaufen nicht notwendigerweise analog zu Beziehungen, die außerdiskursive Elemente betreffen. Die Analyse der Komplexität eines Diskurses muß daher von außerdiskursiven Pragmatisierungsformen gesondert werden.122 Um den Vorurteilsdiskurs adäquat typisieren zu können, muß von den konkreten Verhaltensanweisungen (z.B. zur Vorurteilsdestruktion) abstrahiert werden – die aller-

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Vgl. Foucault: Archäologie, S. 58, 92f., 156. Regeln sind integrale Bestandteile des Diskurses. Sie sind textlich variable, meist nicht definitorisch umschreibbare Abstraktionen von Kohärenzbedingungen. 118 Vgl. ebd., S. 50 und Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt/M. 151999, S. 203. 119 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Frz. von Walter Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt/M. 1998, S. 10, 16 et passim. 120 Vgl. Foucault: Archäologie, S. 72f., 88f., 108. 121 Vgl. Jürgen Link: Über ein Modell synchroner Systeme von Kollektivsymbolen sowie seine Rolle bei der Diskurs-Konstitution, in: ders. / Wulf Wülfing (Hg.): Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1984, 63–92, hier S. 63. Die von Link zwischen diesen beiden Aspekten konstatierte „Lücke“ muß allerdings m.E. nicht notwendig mit systemtheoretischen Mitteln geschlossen werden. Es handelt sich um komplementäre, nicht um adversative deskriptive Kategorien, die sich auf unterschiedliche Aspekte eines Diskurses beziehen: auf die Art und Konsistenz der Diskurselemente und auf die Mechanismen seiner Kohärenz und damit seines Funktionierens. 122 Vgl. Foucault: Archäologie, S. 68f., 70f.

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dings auf der Grundlage der theoretischen Fundierung durchaus Aufschlüsse über die erkenntnispraktische Umsetzung bieten können.123 Der Diskurs definiert sich durch die Wiederaufnahme und teils Variation alter Topoi als seriell. Wenn der Blick nicht auf die Vorstellungen hinter den Diskursen gerichtet wird, sondern Diskurse als geregelte Serien von Ereignissen behandelt werden, kann die Ebene der Elementrelationen angemessen berücksichtigt werden. Ereignis meint keinen materiell-praktischen Einbruch in den Diskurs, sondern eine Beschreibungskategorie für Beziehung, Koexistenz, Streuung und Überschneidung.124 Analysiert werden Korrelationen zwischen verschiedenen Ereignisserien und das vertikale System zwischen ihnen.125 Im Zentrum steht also die Frage: Welchen Faktoren unterliegen intra- wie interdiskursive Ereignisse des Vorurteilsdiskurses, und welche Funktionen werden durch diese übernommen? Formen strukturieren und konstituieren neue Inhalte und ermöglichen so erst Innovation. So steht die anthropologische Wende (deren Wirkung auf den Vorurteilsdiskurs hier in Frage steht) innerhalb des inhaltlichen Traditionsbestandes der älteren Anthropologie, aber sie schafft durch Zugriff, Auswahl, Neukombination, Wertung, Gewichtung und Variation eine neue „Form“. Dies ist in literarischen Texten mit einem literaturwissenschaftlich-rhetorischen Formbegriff nachweisbar, betrifft aber auch nicht-literarische Texte des „anthropologischen“ Diskurses. Es soll untersucht werden, wie sich Begriffsverwendungen aufeinander beziehen, wie sich Aussagen und Aussageformen gruppieren.126 Der Vorurteilsdiskurs der deutschsprachigen Aufklärung soll typologisch, nicht autorbezogen charakterisiert werden. Angesichts der nicht autonomen Vorurteilsdiskussion griffe eine isolierte Aufarbeitung dieses zentralen Teilbereichs der Aufklärungsdiskussion zu kurz: Die Vorurteilsdiskussion kann nicht als autonomes System analysiert werden, im Mittelpunkt müssen vielmehr die Relationen zwischen verschiedenen Diskursbereichen stehen, insbesondere zwischen Anthropologie, Vorurteilsdiskussion und der Diskussion um die Reichweite, Grenzen und Mittel der Aufklärung. Was als formales Diskursdefiniens gilt, gilt auch für Transferbewegungen zwischen Diskursen: Sie dürfen sich nicht nur auf begrifflich-motivische, sondern müssen sich auch auf formale Transfers, auf interdiskursive Relationen, beziehen.

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Vgl. hierzu Gunhild Berg: Erzählte Menschenkenntnis. Moralische Erzählungen und Verhaltensschriften der deutschsprachigen Spätaufklärung. Tübingen 2006. 124 Vgl. Foucault: Ordnung des Diskurses, S. 37f. 125 Untersucht werden „Folgen der Folgen“, der Tableaus und Entwicklungspunkte. Vgl. Foucault: Archäologie, S. 20 und ders.: Ordnung der Dinge, S. 10. 126 Vgl. Foucault: Archäologie, S. 44f., 48f.

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Das rezeptionsästhetische Modell Wolfgang Isers könnte eine methodische Basis zur Analyse solcher interdiskursiven Beziehungen bieten.127 Dessen Anwendung wäre aber problematisch: Iser bezieht sich nur auf isoliert betrachtete Texte und nicht auf diskursive Ereignisse. Er geht vom rezipierenden Leser aus und kann daher multipolare Relationen zwischen Diskursen nicht ausreichend beschreiben. Seine Begriffe legen zudem trotz formaler Bestimmung zu kleinteilige, vorwiegend inhaltlich-stilistische Elemente nahe. Die mit Isers Modell verbundene „Leerstellen“-These leitet die Leistungsfähigkeit der Literatur aus Zeugnissen der Moderne ab.128 Funktionen der Literatur im späten 18. Jahrhundert könnten als Ergebnisse eines abgeschlossenen Differenzierungsprozesses unterstellt werden. Der funktionalen Analyse der spätaufklärerischen Diskursrelationen in der vorliegenden Arbeit liegen dagegen keine Vorannahmen über Funktionen der Literatur zugrunde.129 Isers Begrifflichkeit setzt schließlich implizit einen vom Textrezipienten oder -produzenten gesteuerten Prozeß voraus, der das Gebiet des Nicht-Expliziten ausschließt.130 Auch Niklas Luhmanns Evolutionstheorie bietet keine hinreichenden Kriterien, um die Beziehungen zwischen Elementen von Systemen zu beschreiben. Luhmanns theoretisches Modell geht vom Anspruch her über die hier angestrebte analytische Methode hinaus, böte demnach vielleicht gar mehr als nur einen Beschreibungsmaßstab. Erstmals integriert Luhmann Anthropologie in die Entwicklungs-

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In Frage kämen Kennzeichnungen der Relevanz der (Text-)Form und die textnahe Beobachtung der Wechselwirkungen sowohl zwischen verschiedenen Texten (z.B. Textrepertoire, Selektionsprozesse), Textelementen (z.B. Struktur des Schemas, dialektische Vordergrund-Hintergrund-Beziehung) sowie zwischen Text und Leser (soziale Normen, Erwartungsnormen usw.). Vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1990, S. 115f., 143, 151ff., 154, 157f. 128 Iser selbst präzisiert, bei Leerstellen handele es sich nicht um konstituierende Qualitäten des Kunstcharakters eines Textes, sondern nur um Kommunikationsbedingungen des Textes. Vgl. Wolfgang Iser: Im Lichte der Kritik, in: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München 1975, 325–342, hier S. 326. Dennoch bleibt die Differenz zwischen den vorausgesetzten Hypothesen über die Leistung der Literatur überhaupt (Fiktion teilt etwas über Wirklichkeit mit) und den realen Funktionen eines Textes zu unbestimmt. Vgl. Iser: Akt des Lesens, S. 87f., 99f., auch Wilhelm Voßkamp: Literaturgeschichte als Funktionsgeschichte der Literatur (am Beispiel der frühneuzeitlichen Utopie), in: Thomas Cramer (Hg.): Literatur und Sprache im historischen Prozeß. Bd. 1. Literatur. Tübingen 1983, 32–54, hier S. 33f., 35. 129 Ich folge damit der Differenzierung, die Danneberg et al. als Desiderat in ihrem Forschungsüberblick kenntlich machen. Es geht um die Frage, welche Leistungen / Funktionen die Literatur über die sozialstrukturelle Organisation des Sozialsystems Literatur hinaus erbringen kann. Vgl. Lutz Danneberg u.a.: Germanistische Aufklärungsforschung seit den 70er Jahren, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 19,2 (1995), 172–192, hier S. 192. Nähme man an, Literatur schlechthin habe ein vorurteilskritisches Potential, verfehlte man die historische Dimension der Vorurteilsdiskussion. 130 Vgl. Iser: Akt des Lesens, S. 104f. Die Möglichkeit ungesteuerter Rezeption wird dagegen bei Foucault ausdrücklich eingeschlossen; vgl. Foucault: Archäologie, S. 183.

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dynamik des 18. Jahrhunderts als entscheidenden Faktor.131 Daneben sieht Luhmann völlig zurecht, daß die Systemdifferenzierung elementar auch die Beziehungen zwischen den Teilsystemen betrifft.132 Luhmanns Evolutionstheorie, die Variation, Selektion und Stabilisierung als evolutionäre Funktionen einführt, macht aber nicht sichtbar, wie auf der Ebene der „Elemente“, der des Textes selbst, Interaktionen möglich sind, auf welche Weise und mit welchen Mitteln Texte, Textgruppen, Wissensordnungen aufeinander einwirken. Luhmanns Vorschlag, zur Beschreibung dieser Interaktionen auf das Konzept der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien zurückzugreifen,133 intendiert eine Loslösung vom Argument, während Ziel meiner Analyse der Austausch von diskursiv wirksamen, aber textlich manifesten Argumenten ist. Ich unterscheide daher mit Jürgen Link spezial- und interdiskursive Elemente, um abzubilden, daß Diskurse einerseits zur spezifischen Konstituierung ihrer Gegenstände neigen (daß also Regeln der Disziplinierung innerhalb des Diskurses greifen), daß sie aber andererseits auch zur Reintegration, Kopplung, Verzahnung, zu einem regulativen Kontakt mit anderen Diskursen tendieren.134 Wissensproduktion ist nicht nur diskursintern, sondern auch diskursübergreifend Regeln unterworfen.135 Interdiskursive Relationen beziehen sich auf einzelne Motive, vor allem aber – das liegt bei der modalen Strukturierung des Vorurteilsdiskurses nahe – auf alle Elemente, Relationen, Verfahren, die gleichzeitig mehrere Spezialdiskurse charakterisieren.136 Insbesondere literarische Texte (diese These Links soll auch auf para-literarische Texte ausgeweitet werden) korrelieren nicht bloß oberflächlich-thematisch, sondern tiefenstrukturell mit interdiskursiven Dispositiven. Eine thematisch-motivische Suche nach Einflüssen wäre nicht signifikant.137 131

Vgl. Niklas Luhmann: Frühneuzeitliche Anthropologie. Theorietechnische Lösungen für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt/M. 1980, 162–234, hier S. 163. 132 Vgl. Niklas Luhmann: Systemtheorie, Evolutionstheorie, Kommunikationstheorie, in: ders.: Soziologische Aufklärung. Bd. 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft (1975). Opladen 3 1986, 193–203, hier S. 197. 133 Diese regulieren gleichsam den Austausch. Vgl. ebd., S. 199. 134 Vgl. Jürgen Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik, in: Jürgen Fohrmann / Harro Müller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt/M. 1988, 284–307, hier S. 285. 135 Vgl. ebd., S. 284f. 136 Vgl. Link / Link-Heer: Diskurs / Interdiskurs, S. 92 und Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 289. 137 Vgl. Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 286. Diese Annahme schließt eine rein motivische Suche nach Bezügen der Anthropologie zum Vorurteils-, Verhaltens-, Ästhetikdiskurs aus. Ein „positivistischer“ Aufweis von Motivgleichheiten verfehlt die Eigenart einer dynamischen Entwicklung diskursiver Unregelmäßigkeiten. Vgl. aber Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin / New York 1996, S. 339f. und dies.: Literarische oder historische Anthropologie? Zur Möglichkeit interdisziplinären Arbeitens am Beispiel von Literatur und Anthropologie, in: Walter Schmitz / Carsten Zelle (Hg.): Innovation und Transfer. Naturwissenschaft und Anthropologie. Dresden 2004, 195–207, hier S. 202.

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Der Interdiskurs bietet keine kohärente und widerspruchsfreie Organisation, kein geschlossenes Text- oder Argumentecorpus, sondern ein Repertoire von Formen, die in ihrer spezifischen, bis zu einem bestimmten Grad arbiträren Kombinatorik „Kultur“ erzeugen und „Gesellschaft“ mitbestimmen.138 Funktionselemente des Interdiskurses beziehen sich nicht auf unveränderliche, konkrete Praktiken, sondern sie verbinden unterschiedliche diskursive Ausprägungen. Sie sind durch Diskontinuität, Disparatheit und Fluktuation geprägt.139 Dieses Modell kann Foucaults Episteme-Begriff textlich konkretisieren: Episteme kann bestimmt werden als eine gemeinsame Relationsstruktur, als dominierende Verfaßtheit historisch differierender Diskurstypen auf der Grundlage eines historischen Apriori, eines historisch konkreten und textlich nachweisbaren Organisationsprinzips einer Erkenntnisepoche.140 Sie beschreibt die Gesamtheit der Beziehungen auf der Ebene der diskursiven Regelmäßigkeiten, die gemeinsame Regelhaftigkeit von Diskursen.141 Link analysiert die textliche Konkretisierung solcher diskursübergreifender Elemente und propagiert zugleich, eine interdiskursive Konfiguration als Menge diskursiver Elemente zu verstehen, die in mehrere Diskurse Eingang finden können.142 Dabei geht er aber historisch fehl, wenn er den interdiskursiven Charakter der Literatur erst nach der „enzyklopädischen“ Literatur Voltaires, Diderots und Rousseaus ansetzt und als Schaltstelle zur Modernität die „Weimarer Klassik“ dingfest macht. Wie sich gerade am Vorurteilsdiskurs zeigt, wird Literatur zeitgenössisch nicht notwendigerweise als isolierbare Aussageform verstanden. Nicht notwendig erscheint auch die (ideologische) Vorannahme, daß die Letztursache kulturspezifischer Systementwicklungen im Bereich sozialer Entwicklungen liegt.143 Sozialhistorische Elemente nehmen nicht a priori und zu allen Zeiten eine bestimmende interdiskursive Position ein. Link analysiert Kollektivsymbole weitgehend auf der Ebene der Metaphernverwendung.144 Darüber hinaus scheint mir auch in Hinblick auf die charakterist138

Vgl. Jürgen Link: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse. München 1983, S. 13ff., ders.: Über ein Modell synchroner Systeme, S. 78. 139 Vgl. Link: Elementare Literatur, S. 26f., 29f. 140 Vgl. Foucault: Archäologie, S. 184f., ders.: Ordnung der Dinge, S. 204. Den Unterschied in der „wissenschaftlichen“ Reichweite des Paradigma-Begriffs und von Foucaults diskursivem Episteme-Begriff übersieht Kögler, wenn er deren Übereinstimmung betont. Vgl. Hans Herbert Kögler: Michel Foucault. Stuttgart / Weimar 1994, S. 38f., 41. 141 Vgl. Kögler: Foucault, S. 39, Foucault: Archäologie, S. 272f. Dispositive hingegen können als interdiskursive Netzwerke verstanden werden, durch die selektiv das Wissen / die Verfahren und Rituale verschiedener Spezialdiskurse gekoppelt und gebündelt zum Einsatz gebracht werden können; vgl. Link: Elementare Literatur, S. 285f. Anders akzentuiert wird der Begriff (als strategische Mischform von diskursiven und nicht-diskursiven Elementen) bei Clemens Kammler: Historische Diskursanalyse (Michel Foucault), in: Klaus-Michael Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Opladen 21997, 32–56, hier S. 44. 142 Vgl. Link: Elementare Literatur, S. 16. 143 Vgl. in diesem Sinne: Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 297. 144 Vgl. etwa Link: Über ein Modell synchroner Systeme, S. 64ff. „Rede“ (ein geschlossener argumentativer Zusammenhang) wird als definitorisches Merkmal interdiskursiver und somit

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ische Form des diskursiven Austauschs der Transfer von Argumentationsmustern zentral, die aus interdiskursiven Zusammenhängen in Einzeldiskurse eindringen, gelegentlich gar Diskurse bestimmen. Im Vorurteilsdiskurs selbst treten an die funktionale Stelle des Deutungsmusters „Vorurteil“ als diskurskohärierende Elemente Argumentationsfiguren, die weitgehend aus anderen Diskursen stammen. Argumentationsfiguren sollen im Anschluß an Bollenbeck verstanden werden als argumentative Zusammenhänge, die textlich manifest, aber an keine festen sprachlichen Zeichen gebunden sind.145 Sie stammen aus dem Interdiskurs und haben somit die Möglichkeit, in verschiedenste Diskurse einzutreten. Die Kategorie der „Argumentationsfigur“ unterscheidet sich von der der geistesgeschichtlichen „Idee“ vornehmlich durch ihre Offenheit in sprachlicher und funktionaler Hinsicht. Hier ist keine „Ideengeschichte“ intendiert, die in Gefahr stünde, auf metaphorische Konstrukte zurückzugreifen. Argumentationsfiguren bilden kein kohärentes, hierarchisiertes oder normatives Ensemble, sondern sind jeweils unterschiedlich akzentuierbar und kombinierbar. Anders als „Mentalitäten“ bilden sie keine kollektiven Bewußtseinsstrukturen ab. Anders als Cassirers „Denkformen“ können sie in der Textanalyse sichtbar gemacht werden. Daß der interdiskursive Transfer sich im 18. Jahrhundert vornehmlich über argumentative Zusammenhänge, nicht über die Isolierung einzelner Topoi vollzieht, hängt mit dem disputativen Selbstverständnis der Aufklärung selbst zusammen. Ein adäquates Bild der Aufklärung entsteht nicht, wenn nur die theoretischen Konstruktionen in Form der ausgefeiltesten Gedanken abgezeichnet werden. In die Analyse müssen daher auch die formal nicht standardisierten Ausdrucksformen, deren unterschiedliche Kombinationen und die inhärenten Regeln der Kombinatorik einbezogen werden: „sie (die Aufklärung, R. G.) besteht überhaupt weniger in bestimmten einzelnen Sätzen, als in der Form und Art der gedanklichen Auseinandersetzung selbst.“146 Auf der Grundlage jeweils in unterschiedlicher Weise formal-regulativer binnen- und interdiskursiver Instrumente wird nach der Funktion der Vorurteilsdiskussion für die Selbstaufklärung der Aufklärung gefragt. Auf der Grundlage der elementarer Literatur angeführt, in Links Analysen spielt diese aber eine geringere Rolle; vgl. Link: Elementare Literatur, S. 26f.; Link / Link-Heer: Diskurs / Interdiskurs, S. 95. 145 Vgl. Georg Bollenbeck: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne. 1880–1945. Frankfurt/M. 1999, S. 50f. 146 Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Hamburg 1998 (11932), S. XIII. – Foucaults Metaebene des Archivs hingegen beinhaltet zwar den formalen Regelcharakter einzeldiskursiver Formationssysteme, nimmt aber eine Ebene der Formierung, Anordnung und Entwicklung von Diskursen insgesamt in den Blick, die einen Gesamtanalyseanspruch z. B. einer bestimmten Epoche unmittelbar aus den diskursiven Ereignissen und Konstellationen abzuleiten sucht. Vgl. Foucault: Archäologie, S. 186ff. Vgl. kritisch Frank: Was ist ein „Diskurs“?, S. 420ff. und ders.: „Ein Grundelement der historischen Analyse: die Diskontinutität.“ Die Epochenwende von 1775 in Foucaults „Archäologie“, in: ders.: Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur deutsch-französischen Hermeneutik und Texttheorie. Erw. Neuausg. Frankfurt/M. 1990, 362– 407, hier S. 367f. et passim.

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Analyse der diskursiven Verwendungsgeschichte des Vorurteilsbegriffs sollen Entstehung, Kontinuität und Wandel selbstreflexiver Prozesse in der Spätaufklärung analysiert werden. Diskurse werden als Praktiken in den Blick genommen, die sich überschneiden und berühren, die aber auch einander ausschließen oder ignorieren.147 Daher ergibt sich in bezug auf die Funktionalität von Diskurskontakten schon theoretisch ein breites Spektrum, das allerdings anhand empirischer Befunde, nicht anhand vorgängiger begrifflicher Zuweisungen charakterisiert wird.148 Es entsteht eine dynamische Matrix von Diskurs- und Argumentationsrelationen, deren jeweilige Relevanz am historischen Ort durch das diskursive Umfeld bestimmt wird. Die vorliegenden analytischen Instrumente erlauben es, die Struktur des Vorurteilsdiskurses über eine Begriffsgeschichte hinaus zu verfolgen. Interdiskursive Relationen werden analytisch als formale Transferbewegungen beschrieben. Damit strebe ich weder eine „Interpretation“ der jeweiligen literarischen und paraliterarischen Texte149 noch eine an Foucaultschen Maßstäben oder gar inhaltlichen Ergebnissen sich abarbeitende Diskursanalyse an.150 Die ästhetische Qualität und die ästhetischen Konsequenzen der Literatur überschreiten den Rahmen ihrer Funktionen im aufklärerischen Diskurs über Vorurteil und Urteilsbildung. Auch soll keine These über die Funktion von Literatur allgemein oder auch nur im ausgehenden 18. Jahrhundert a priori vorausgesetzt werden: Wird die Autonomisierung des Literatursystems als Resultat der neuen, exkludierenden Individualisierung im Bürgertum verstanden151 oder wird literarische Fiktionalität als Spiegel anthropologischer Grundmuster beschrieben,152 so könnte dies eine Teleologie nahelegen, die historischer Analyse nicht zukommt. Funktionen von Literatur können mithin nur vom Einzelfall ausgehend ermittelt werden. Die spezifische Validität literarischer Formen kann kaum in allgemeiner Thesenbildung, sondern muß vielmehr aus den Funktionen und Leistungen der Literatur selbst für jede 147 148

Vgl. Foucault: Ordnung des Diskurses, S. 34. Insofern wäre Wegmanns einschränkende Definition, ein Diskurs ermögliche Kommunikation, kontraproduktiv. Daß Diskurse dies nicht tun, kann nicht ausgeschlossen werden. Vgl. Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988, S. 13f. 149 Vgl. zum Anspruch einer Analyse Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 13. Eine Polemik, die die Möglichkeit von Interpretation im Gefolge Foucaults radikal negiert, ist hier nicht angestrebt. Vgl. auch Ralf Konersmann: Der Philosoph mit der Maske. Michel Foucaults „L’ordre du discours“, in: Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Frz. von Walter Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt/M. 1998, 51–94, hier S. 78f., 83f., Robert S. Leventhal: Introduction: Reading after Foucault, in: ders. (Hg.): Reading after Foucault. Institutions, Disciplines, and Technologies of the Self in Germany, 1750–1830. Detroit 1994, 1–27, hier S. 15f. 150 Foucaults Thesen zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts verfehlen den deutschen Sprachraum aufgrund fragmentarischer, philosophisch orientierter und widersprüchlicher Quellenkenntnis. 151 Vgl. Karl Eibl: Die Entstehung der Poesie. Frankfurt a.M. / Leipzig 1995, S. 42ff. 152 Vgl. Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt/M. 1993, S. 12f., 147f.

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historische Zeitphase je wieder aktuell ermittelt werden.153 Zur Multikausalität literarischer Entwicklungen gerade im ausgehenden 18. Jahrhundert trägt die interdiskursive Relation zwischen anthropologischem Wissen und Thesen über Vorurteile und Urteilsbildung signifikant, aber nicht singulär bei.154

1.5 Theoretische Voraussetzungen: Aufklärung als integrales Konzept Die deutschsprachige Vorurteilsdiskussion des 18. Jahrhunderts erzeugt einen Modus der Selbstaufklärung der Aufklärung. Diese Möglichkeit beruht darauf, daß Argumentationsfiguren der anthropologischen Wende zu Formationsregeln der Aufklärung werden. Dies mag widersprüchlich klingen: Wie kann ein Thema gleichzeitig der aufklärerischen Fortentwicklung der Ratio dienen und selbst anthropologisch-affektiv ‚belastet‘ sein? Eine solch verkürzte Frage ignorierte jedoch begriffliche Differenzierungen sowohl des Aufklärungsbegriffs als auch der Anthropologie der Zeit. Es erweist sich daher als notwendig, historische Voraussetzungen und Vorverständnisse zu klären. Zur historischen Voraussetzung gehören dabei nicht nur verschiedene Varianten von Definitionen der „Aufklärung“. Eine historische Analyse interdiskursiver Beziehungen des 18. Jahrhunderts muß, wenn sie methodisch über die konzeptionelle Ebene hinausgeht, auf theoretischer Ebene das jeweils aktuelle Gewicht der Diskurse; auch des Diskurses der Aufklärung, kennzeichnen.155

153

Daß eine solche Analyse noch Desiderat ist, betont Walter Erhart: Nach der Aufklärungsforschung?, in: Holger Dainat / Wilhelm Voßkamp (Hg.): Aufklärungsforschung in Deutschland, Heidelberg 1999, 99–128, hier S. 120 (Beihefte zum Euphorion 32). 154 Kausalitäten erweisen sich in der Wahrnehmung der Spätaufklärer selbst schon als zu komplex, um sie vollständig zu erfassen. Foucault läßt daher die Frage nach den Ursachen außer acht; vgl. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 14. Dies korrespondiert mit Foucaults philosophiekritischer These, es sei notwendig, Typen von Ereignissen unterschiedlichen Niveaus zu beschreiben, um sich gegen die Teleologie der Vernunft zu wenden. Vgl. Foucault: Archäologie, S. 16f., Konersmann: Philosoph, S. 88ff. In die Auseinandersetzung mit „idealen“ Geschichtsverläufen ist auch Foucaults Rückführung des Autors auf seine diskursiven Funktionen einzuordnen. Vgl. Michel Foucault: Was ist ein Autor?, in: ders.: Schriften zur Literatur. Aus dem Frz. übs. von Karin von Hofer. München 1974, 7-31 und ders.: Archäologie, S. 23f. Vgl. Jürgen Fohrmann: Über Autor, Werk und Leser aus poststrukturalistischer Sicht, in: Diskussion Deutsch 21 (1990). H. 116, 577–588, hier S. 582, Hilmar Kallweit: Zur „anthropologischen“ Wende in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – aus der Sicht des „Archäologen“ Michel Foucault, in: Wolfgang Küttler / Jörn Rüsen / Ernst Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs. Bd. 2. Anfänge modernen historischen Denkens. Frankfurt/M. 1994, 17–47, hier S. 38. 155 Foucault unterscheidet als Formen der Koexistenz lediglich das Feld der Präsenz, der Begleitumstände und das Erinnerungsgebiet, mithin nur eine zeitliche Dimension der Koexistenz des Erinnerten. Vgl. Foucault: Archäologie, S. 85f. Link führt das Modell der „diskursiven Position“ ein, beschreibt dies aber lediglich als positiv oder negativ wertende, sozial konnotierte Verwendung eines Kollektivsymbols. Vgl. Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 290; Link / Link-Heer: Diskurs / Interdiskurs, S. 97.

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Luhmanns Evolutionstheorie der Aufklärung, die die Interaktion verschiedener Systeme, darunter auch der Anthropologie, zu erklären sucht, setzt die Durchsetzung des Diskurses der Aufklärung voraus, deren Entwicklung zum sozial ausdifferenzierten Gesellschaftssystem er nachzeichnet.156 Luhmanns These, Hochkulturen beruhten auf der Reflexion kommunikativer Kontingenz,157 könnte zur Annahme verführen, das im Sinne einer Teleologie fortschrittlichste Sozial- und Kommunikationssystem sei am Ende des 18. Jahrhunderts zu finden. Diese These allerdings machte es kaum möglich, die Ablösung des erkenntnispraktischen Vorurteilsdiskurses vom sozialen Argumentationsraum und die Entautonomisierung des Teilsystems „Vorurteilsdebatte“ zum Jahrhundertende hin adäquat zu beschreiben. Es bedarf mithin einer nicht-teleologischen, diskursiv offenen Nomenklatur, um den theoretischen Status von Aufklärung sowohl auf begriffs- als auch auf diskursgeschichtlicher Ebene beschreiben zu können. Die Kategorien, die Reiner Wild zur Einordnung verschiedener Relevanzen von Verfahrensweisen und Formen verwendet,158 sollen auf inhaltliche, formale und rezeptionsbezogene Aspekte von interdiskursiven Relationen übertragen werden. Innerhalb derer können residuale, dominante und progredierende Ausprägungen unterschieden werden. Die inhaltliche Ebene markiert die Innovativität der verwendeten Argumente, Topoi und Handlungsmuster, die formale Ebene trifft Aussagen über die Innovativität der verhandelten Stilformen und Erzählhaltungen, die rezeptionsbezogene Ebene beschreibt die intendierte und faktische Rezeption des Diskurses. Wilds hier erweitertes Modell bezieht sich auf die Typologie von Raymond Williams, dessen Anliegen es bereits ist, Kultur, Literatur und Kunst in den Gesamtprozeß der gesellschaftlichen Entwicklung einzuordnen.159 Das Evaluationsmodell bezieht sich also schon in der ursprünglichen Fassung nicht nur auf die Ebene sozialer Standards, sondern es ermöglicht darüber hinaus die deskriptive Neutralisierung interdiskursiver Relationen, um auf begriffs- wie diskursgeschichtlicher Ebene die Valenz der zentralen Diskurse des 18. Jahrhunderts (einschließlich des sozialen) bestimmen zu können. Begriffsgeschichtlich kann eine breite Varianz von Aufklärungsdefinitionen belegt werden, die nicht auf die bekannteren Varianten zugespitzt werden können. Kants Bestimmung der Aufklärung als Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit hat neben Zustimmung auch Widerspruch nach sich gezogen – doch wurde sie insgesamt von den Zeitgenossen wenig beachtet.160 Sie 156 157 158

Vgl. Luhmann: Frühneuzeitliche Anthropologie, S. 172 et passim. Vgl. Luhmann: Systemtheorie, S. 199. Vgl. Reiner Wild: Literatur im Prozeß der Zivilisation. Entwurf einer theoretischen Grundlegung der Literaturwissenschaft. Stuttgart 1982. Luserkes These, die von Wild unterschiedenen Funktionen gingen in der kathartischen Funktion von Literatur auf, verkürzt meines Erachtens die Funktionalitätsmodi. Vgl. Matthias Luserke: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung. Stuttgart / Weimar 1995, S. 45f., 50. 159 Vgl. Raymond Williams: Marxism and Literature. Oxford 1977, S. 121ff. 160 Vgl. Stuke: Aufklärung, S. 265.

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muß zudem in den historischen Zusammenhang ihrer Entstehung, in den Umkreis der Berliner Mittwochsgesellschaft integriert werden. Dann wird deutlich, daß die virulenten theologischen und politischen Fragen die Zielstruktur von Kants knappem Essay deutlicher bestimmen als der vermeintliche Anspruch, eine allgemeingültige Lösung zu finden.161 In historischer Perspektive ist Kants Definition daher kaum als Signum der individual-autonomisierten Epoche geeignet, zumal sie die Selbstverantwortlichkeit des Individuums begrenzt.162 Eine Zuspitzung auf Kant wäre somit ahistorisch.163 Daß eine begriffliche Fassung aufgrund des metaphorischen Charakters des Begriffs „Aufklärung“ notwendig scheint, um Mißverständnisse zu vermeiden, ist allerdings Konsens wenigstens der Spätaufklärung.164 Nicht selten aber bezeichnet die Metaphorik ein Wortfeld, das nur ungenau bestimmt wird.165 Nicht selten auch wird der „Aufklärungs“-Begriff von seiner Funktion als Leitbegriff allen Tuns gelöst: So ordnet Mendelssohn Aufklärung und Kultur dem Zentralbegriff der Bildung unter.166 Unter den Auspizien der Verdichtung, Tradierung und Substitution des Begriffes, die Stuke als bestimmende Merkmale der Begriffsgeschichte herausgearbeitet hat,167 gelingt keine eindeutige Zuweisung. Denn auffällig bei vielen Argumentationen, die Aufklärung zu definieren suchen, ist die aufklärerischem Selbstverständnis geradezu konträre Vermeidung von Gegenargumenten: „Erstlich bedarf es wohl keines weitläufigen Beweises, [...]“, leitet Fischer seine Aufklärungsbestimmung ein.168 Was rechnen die Aufklärer selbst zur „Aufklärung“? Von welchen historischen Phasen grenzen sie sich ab? Welche Reichweite akzeptieren sie? Auch hier reicht Begriffsgeschichte nicht aus. In die Aufklärung wird häufig auch Widerständiges und Altes mit eingeschlossen. Zeitgenossen verankern die Berufung auf eine aufklärerische Tradition nicht selten zeitlich weit vor dem 18. Jahrhundert. Der transhistorische Aufklärungsbegriff ist keine Erfindung der historischen Wissenschaf161

Vgl. James Schmidt: The Question of Enlightenment. Kant, Mendelssohn, and the Mittwochsgesellschaft, in: Journal of the History of Ideas 50,2 (1989), 269–291, hier S. 285ff. Kant selbst sieht die Aufklärung der Künste und Wissenschaften kaum als prekär an. Vgl. Kant: Beantwortung der Frage, S. 41. Auch Hinske weist darauf hin, daß die Quellenlage von Kants Antwort von der Forschung weitgehend verkannt worden sei. Vgl. Norbert Hinske: Einleitung, in: ders. / Michael Albrecht (Hg.): Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift. Darmstadt 1973, XIII–LXIX, hier S. XLVIf. 162 Vgl. Stuke: Aufklärung, S. 265ff. 163 Mendelssohns Kritik an Kants Unterscheidung von öffentlichem und Privatgebrauch der Vernunft hat zeitgenössisch ihr Publikum gefunden. Vgl. Moses Mendelssohn: Öffentlicher und Privatgebrauch der Vernunft, in: JubA 8, 225–229. 164 Vgl. Gottlieb Nathanael Fischer: Was ist Aufklärung? in: Berlinisches Journal für Aufklärung 1,1 (1788), 12–46, hier S. 14. 165 Vgl. z.B. Johann Ludwig Ewald: Über Volksaufklärung, ihre Grenzen und Vorteile. Berlin 1790, S. 11. 166 Vgl. Moses Mendelssohn: Ueber die Frage: was heißt aufklären?, in: JubA 6,1, 113–119, hier S. 115. 167 Vgl. Stuke: Aufklärung, S. 243. 168 Vgl. Fischer: Was ist Aufklärung?, S. 30f.

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ten, sondern der Aufklärer selbst: Die „Geschichte der Aufklärung in Teutschland“ beginnt in der Reformation, wie nicht nur die Herausgeber des Berlinischen Journals meinen.169 Auf diesem Wege identifiziert die historische Wissenschaft nach dem 18. Jahrhundert „aufklärerische“ Anliegen transhistorisch von der Antike bis zur Gegenwart.170 Daneben zeichnet sich der Aufklärungsbegriff durch eine dezidierte soziale Transgression aus: Fragen nach der verhältnismäßigen Aufklärung stellen sich, sobald sich das Bürgertum als privilegierter Träger der Aufklärungsbewegung konstituiert hat.171 Im Gefolge volksaufklärerischer Bemühungen bedingen sich Aufklärungsverständnis und deren Reichweite gegenseitig.172 „Aufklärung“ überschreitet zudem als analytischer Begriff Diskursgrenzen. Sie kann nicht nur als inhaltliche Integration eines anderen (im Sinne des Anderen der Vernunft) verstanden werden, sondern auch als Metaebene der Progression, die ein bestimmtes, nicht nur rationales Methodenreservoir aufbietet. Auf diesen Weg begibt sich die Kantsche Unterscheidung von aufgeklärtem Zeitalter und Zeitalter der Aufklärung, doch bleibt bei Kant aufklärerische Tätigkeit noch an die Vernünftigkeit des

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Vgl. [Anonym:] Skizze einer Geschichte der Aufklärung in Teutschland, von der Reformation an bis auf Kant; und wie weit wir in der Aufklärung kommen können, wenn wir diesen Philosophen folgen?, in: Berlinisches Journal für Aufklärung 1,1 (1788), 71–95, hier S. 71ff., 160– 183; [Andreas Riem]: Ueber Aufklärung. Ob sie dem Staate – der Religion – oder überhaupt gefährlich sey, und seyn könne? Ein Wort zur Beherzigung für Regenten, Staatsmänner und Priester. Erstes Fragment. Berlin 31788, S. 69. Auch in Lorenz Marcel parallelisiert ein Kalvinist Aufklärung und Reformation: vgl. [Anonym:] Lorenz Marcel oder der Beobachter ohne Vorurtheil. Aus dem Frz. 4.Th. Potsdam 1782, S. 456. Ähnliche Vorstellungen finden sich bei G. Forster, A. Hennings und Rebmann: vgl. [August Hennings:] Einige Aehnlichkeit der Reformation und der Revolution, in: Schleswigsches ehemals Braunschweigisches Journal 1792. Bd. 2, 6.St., 173–198, Jörn Garber: Von der nützlichen zur harmonischen Gesellschaft: Norddeutscher Philanthropismus (J. H. Campe) und frühliberaler Ökonomismus (A. Hennings) im Vor- und Einflußfeld der Französischen Revolution, in: Arno Herzig / Inge Stephan / Hans G. Winter (Hg.): „Sie, und nicht Wir.“ Die Französische Revolution und ihre Wirkung auf Norddeutschland und das Reich. Bd. 1. Norddeutschland. Hamburg 1989, 245–287, hier S. 276, zu Forster: Harro Segeberg: Literarischer Jakobinismus in Deutschland. Theoretische und methodische Überlegungen zur Erforschung der radikalen Spätaufklärung, in: Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften. Bd. 3. Deutsches Bürgertum und literarische Intelligenz. 1750–1800. Hg. Bernd Lutz. Stuttgart 1974, 509–568, hier S. 521, zu Rebmann: Wolfgang Albrecht: Vom reformerischen zum revolutionär-demokratischen und liberalen Aufklärertum. Entwicklungen politisierter literarischer Spätaufklärung am Beispiel Georg Friedrich Rebmanns, in: Impulse. Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik. 13. Folge (1990), 147–200, hier S. 150. 170 Einen der intelligentesten Versuche zur viele Epochen übergreifenden Bestimmung aufklärerischer Merkmale unternimmt Jochen Schmidt: Einleitung. Aufklärung, Gegenaufklärung, Dialektik der Aufklärung, in: ders. (Hg.): Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart. Darmstadt 1989, 1–31. 171 Vgl. Gerhard Sauder: „Verhältnismäßige Aufklärung“. Zur bürgerlichen Ideologie am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 9 (1974), 102–126. 172 Vgl. exemplarisch Ewald: Über Volksaufklärung, S. 15. Vgl. zur Diskussion um den Aufklärungsbegriff der Volksaufklärung Holger Böning: Der „gemeine Mann“ als Adressat aufklärerischen Gedankengutes. Ein Forschungsbericht zur Volksaufklärung, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 12 (1988), 52–80, ders. / Reinhart Siegert: Volksaufklärung.

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Individuums gebunden.173 Die Diskussion um wahre Aufklärung, die auch zur Vorurteilsdebatte beiträgt, integriert interdiskursive Elemente in vermeintlich widersprüchlichen Positionen. Im Sinne der Aufklärung zu denken und zu handeln setzt zeitgenössisch nicht voraus, daß das Wort „Aufklärung“ konsensuell definiert wird. Aufklärung kann als dynamische und integrative Denkform verstanden werden, die nicht auf Inhaltlich-Objekthaftes reduziert werden kann. Sie zieht nicht unmittelbar einen Genitivus objectivus nach sich, einen aufzuklärenden Gegenstand, sondern sie ist als Methode verortbar, als Geschäft des Aufklärens. So unterscheidet Johann Christoph Greiling zwischen materieller und formeller Aufklärung, die beide noch einmal negativ (also kritisch) oder positiv (Wissen aufbauend) sein könnten. Es müsse zwischen Art und Gattung der Aufklärung unterschieden werden. Greiling lehnt alle einseitigen Definitionen ab: „Gewöhnlich wird der Begriff der Aufklärung nur von Seiten seines Inhalts und der Materie, oder dessen, was durch die aufklärerische Denkweise bestimmt, verbunden und gedacht wird, gefasst.“174 Rein begriffsgeschichtlich kommt erschwerend hinzu, daß der Begriff der „Aufklärung“ durch die Gegner der Aufklärungsbewegung relativ früh instrumentalisiert wurde,175 daß mithin die Begriffsdefinition, selbst die Begriffsverwendung, keine Aussage über Methode und Ziele des jeweils angestrebten Vorgehens zulassen. „Das Wort Aufklärung wird in unsern Zeiten oft sehr gemißbraucht und bedeutet nicht sowohl Veredlung des Geistes als Richtung desselben auf grillenhafte, spekulative und phantastische Spielwerke.“176 Vielleicht sei gar, wie Bertuch vorschlägt, der Nicht-Gebrauch des Begriffs „Aufklärung“ und die synonymische Ersetzung durch „gesunde Vernunft“ der Sache dienlicher.177 Die Charakteristika dieser Denkform, auch die gemeinsamen Grundüberzeugungen und die zeitgenössisch bestimmenden Themen können hier nicht abschließend bestimmt werden.178 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts überbietet die Relativität des Aufklärungsbegriffs die Summe aufklärerischer Definitionsanstrengungen: Da eine absolute Vollkommenheit derselben (der Aufklärung, R. G.), die in keinem Felde des menschlichen Strebens nach Erkenntniß noch Dunkelheiten und Irrthümer übrig ließe, auf Erden nicht zu erreichen ist, bleibt sie in jeder Bedeutung ein relativer Begriff, der sich auf be-

173 174

Vgl. Kant: Beantwortung der Frage, S. 40. Johann Christoph Greiling: Ideen zu einer künftigen Theorie der allgemeinen practischen Aufklärung. Leipzig 1795, S. 4, 9, 49ff. 175 Vgl. Hans-Wolf Jäger: Die These von der rhetorischen Verschwörung zur Zeit der Französischen Revolution, in: Text & Kontext 9,1 (1981), 47–55. 176 Knigge: Über den Umgang mit Menschen, S. 311. 177 Vgl. Friedrich Justin Bertuch: Vorschlag das Mode-Wort, Aufklärung, abzuschaffen, in: Journal des Luxus und der Moden. October 1792, 493–497, hier S. 495f. 178 Vgl. in formaler Hinsicht anregend: Jürgen Fohrmann: Aufklärung als Doppelpunkt (:), in: Helmut Schmiedt / Helmut J. Schneider (Hg.): Aufklärung als Form. Beiträge zu einem historischen und aktuellen Problem. Würzburg 1997, 64–79, Hinske: Grundideen.

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stimmte Gebiete des Wissenswürdigen und verschiedene Grade der Deutlichkeit und Richtigkeit der darin erlangten Einsichten bezieht.179

Aufklärung geriert sich als Auseinandersetzung, die sich in starkem Maße (wenn auch nicht ausschließlich) an der Rolle von Vernunft und Gefühl entzündet.180 Daß Auseinandersetzungen intensiver, öffentlicher und kontroverser werden, verdankt sich einer Öffnung – man könnte auch von „Liberalisierung“ sprechen – des Diskurses.181 Charakteristisch für die Aufklärung sind hierbei Art und Ausmaß der Auseinandersetzung selbst, vielleicht mehr als die Inhalte der Kontroversen. Die Frage nach dem Stellenwert des aufklärerischen Diskurses in der Zeit führt über die der begrifflichen Bestimmung hinaus. Aufklärung durchläuft eine Entwicklung vom progredierenden, zum dominanten und schließlich zum residualen Diskurs. Zunächst steht die formale Neuerung im Vordergrund, die sich durch die aktive Verwendung der deutschen Sprache auszeichnet. Verbunden wird hiermit auf Rezeptionsebene, ein breiteres Publikum anzustreben. Auch auf inhaltlicher Ebene setzt sich aufklärerisches Denken als progredierender Diskurs durch, indem neue philosophische Theoreme gesetzt und akzeptiert werden. Gleichzeitig erweitert sich die rezeptionsbezogene Progression zur Publikumswirksamkeit neuer aufklärerischer Medienformen. Zur Jahrhundertmitte kann der aufklärerische Diskurs als dominant betrachtet werden. Aus der alternativen literarischen Praxis, die auch „außer“-aufklärerische Impulse aufnimmt, entsteht im letzten Drittel des Jahrhunderts eine neue, aufklärerische Institution Literatur,182 die neue Formen entwickelt. Darauf folgt eine rezeptionsbezogene Residualisierung genuin aufklärerischer Literatur und schließlich – in der Rezeption etwa Nicolais durch die Romantiker – die Zuweisung eines rein archaischen Status. Aufklärung bleibt – das soll diese idealtypische und geraffte Skizze nicht verdecken – der dominante Diskurs des 18. Jahrhunderts, zumal sie auch andere Traditionen zu integrieren in der Lage ist. Das Pars pro toto Aufklärung steht für das 18. Jahrhundert. Eine solche Zuweisung ist ebenso schlüssig wie problematisch.183 Aufklärung ist ein sich dynamisch verändernder, variantenreicher, auch geographisch völlig unterschiedlich sich entwickelnder Prozeß, der sich nur in seiner Vielheit von unterschiedlich

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G. E. Petri: Aufklärung, in: J. S. Ersch / J. G. Gruber (Hg.): Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste [...]. 6.Th. Leipzig 1821, 306–308, hier S. 306. Vgl. auch Fohrmann: Aufklärung, S. 78. 180 Vgl. in dieser Hinsicht Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart 1981. 181 Moravia spricht von „epistemological liberalization“. Vgl. Sergio Moravia: The Enlightenment and the Sciences of Man, in: History of Science 18 (1980). H. 42. T. 2, 247–268, hier S. 247. 182 Vgl. Peter Bürger: Institution Literatur und Modernisierungsprozeß, in: ders. (Hg.): Zum Funktionswandel der Literatur. Frankfurt/M. 1983, 9–32, hier S. 17f. 183 Vgl. alternativ zum „Siècle de Frédéric II“: Claudia Schröder: „Siècle de Frédéric II“ und „Zeitalter der Aufklärung“. Epochenbegriffe im geschichtlichen Selbstverständnis der Aufklärung. Berlin 2002.

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motivierten Schritten, in deren spannungsreichem Zusammenwirken und durch die daraus resultierende Dynamik konstituiert.184 Das formal Nicht-Standardisierte gehört entscheidend zur Ausdrucksform der Aufklärung. Wenn das „aufklärerische“ 18. Jahrhundert an dessen Ende begrifflich fixiert wird, so kann der Standard einer vernünftigen, eindeutigen, „aufklärerischen“ Definition bereits obsolet werden. Wenn Georg Friedrich Rebmann die Bezeichnung „aufgeklärtes Jahrhundert“ ablehnt, so übernimmt er eine fiktionale Rolle: Es war vor einiger Zeit Mode, das Jahrhundert, in welchem wir leben, das philosophische oder das aufgeklärte Jahrhundert zu nennen. Schwerlich möchte iezt Jemand ohne Erröthen ihm mehr diesen Beynamen geben können. Wäre nicht etwa die Benennung: Jahrhundert der Widersprüche, oder der Contraste passender?185

Der vermeintlich aufklärerisch-rationale Vorgang des Benennens wird durch die fiktionale Distanzierung (hier in der Rede eines „Sonderlings“) formal in Frage gestellt. Doch auch die inhaltliche Dimension der neuen Benennung konterkariert die angenommene Dominanz des Aufklärerischen, obwohl sie durch die Ironisierung auf dem aufklärerischen Anspruch selbst beharrt. Auf dieser diskursiven Ebene scheint demnach eine Diskrepanz von wahrgenommener Realität und theoretischem Anspruch charakteristisch zu sein, die für die Selbstwahrnehmung aufklärerischer Bemühungen in der zweiten Jahrhunderthälfte kritisches Potential birgt. Aus der fiktiven Beobachterposition des naiven Fremden (ein beliebter Topos der Distanzierung) konstatiert Rudolf Wilhelm Zobel, Selbstzuschreibungen träfen weniger zu als die von außen kommenden Urteile anderer. Wer sich selbst Philosoph nenne, verdiene diesen Namen meist nicht. Dies führt Zobel als negatives Indiz für die Selbstzuschreibung „philosophisches Jahrhundert“ an.186 Die Residualisierung und Archaisierung des aufklärerischen Diskures betrifft die rezeptionsbezogene Ebene nur auf der Oberfläche: Nachwirkungen und Tendenzen der Aufklärung prägen von nun an die literarische Formensprache wie die philosophischen Inhalte. Dabei kann sowohl an die transzendentalphilosophische Suche nach universal gültigen Kategorien und Prämissen als auch an die Analyse der konkreten Voraussetzungen von Denken und Erleben angeschlossen werden, um aufklärerische Tradition zu bestimmen (einschließlich aller sich entwickelnden Formen der Technisierung und Reduzierung der Vernunft auf Pragmatik).187 Ob 184

Vgl. Ulrich im Hof: Das Europa der Aufklärung. Frankfurt a.M. / Wien 1993, S. 17 und Rudolf Vierhaus: Aufklärung als Prozeß – der Prozeß der Aufklärung, in: ders. (Hg.): Aufklärung als Prozeß. Hamburg 1988, 3–7, hier S. 5f. (Aufklärung 2,2 (1988)). 185 [Georg Friedrich Rebmann:] Einfälle und Gedankenspäne aus der Brieftasche eines Sonderlings, in: Historisch-politische Miscellen aus dem Jahrhundert der Contraste für unbefangene Leser. Germanien 1805, S. 138f. 186 Vgl. Rudolf Wilhelm Zobel: Unser Jahrhundert, in: ders.: Aufsätze aus der Philosophie und den schönen Wissenschaften. Greifswald 1770, 251–270, hier S. 258f. 187 Vgl. Kögler: Foucault, S. 2f.

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von einer „Kulmination“ der Aufklärung in der Weimarer Klassik geredet werden kann, mag strittig sein.188 Daß aber Elemente aufklärerischen Denkens, auch solche, die über den Primat der Ratio hinausführen, präsent bleiben und die literarische und philosophische Auseinandersetzung noch weit über die Jahrhundertwende hinaus bestimmen, scheint mir entscheidend. Doch soll hier kein transhistorisches Verständnis von Aufklärung auf dem bloßen Rezeptionsweg eingeführt werden. Ein solches stünde in Gefahr, einen generalisierenden und strittigen Begriff unzulässig und vorschnell (und damit nicht-aufklärerisch) zu übertragen. Methodisch bleibt der grundaufklärerische Zweifel als erkenntnistheoretische Prämisse in Geltung (mag man auch vom Scheitern der transhistorisch verstandenen Aufklärung sprechen). Wesentliche Aspekte literarischer Modernität entwickeln sich indes im 18. Jahrhundert aus dessen genuin aufklärerischer Problemlage.

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Vgl. Klaus Manger: Goethe und die deutschen Aufklärer, in: Goethe-Jahrbuch 2001, 46–57, hier S. 46.

2

Anthropologischer Diskurs und anthropologiebasierte Argumentationsfiguren

2.1 Konjunkturen anthropologischen Denkens Anthropologisches Denken ist in der germanistischen Forschung der letzten Jahrzehnte – allen philosophiehistorischen Widerständen zum Trotz – als einer der bestimmenden Faktoren für die Spätaufklärung identifiziert worden. Hier soll allerdings weder die umfangreiche Forschungslandschaft systematisiert noch „die“ Anthropologie des 18. Jahrhunderts generell aufgeschlossen werden.1 Es geht nicht darum, das anthropologische Wissen des 18. Jahrhunderts schlechthin zu beschreiben oder zu erklären. Auch soll kein anthropologischer Basisimpuls für jegliche Literatur vorausgesetzt werden.2 Schließlich soll hier auch keine historische 1

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Vgl. v.a. die methodischen Überlegungen der neueren Forschung: Heinz: Literarische oder historische Anthropologie? Heinz sucht durch die Scheidung von Anthropologie in einem allgemein philosophischen Sinne und von historischer Anthropologie (vgl. S. 196) Aufgabenfelder und Vorgehensweisen verschiedener Wissenschaften zu differenzieren. Das einzelanalytische Forschungsinteresse, das sie für lohnend hält, geht letztlich vom Anthropologiebegriff Platners aus, der für die Anthropologie des 18. Jahrhunderts nicht charakteristisch ist. Erhart unterscheidet hingegen zwischen einer historisch orientierten Anthropologieforschung, die Schwierigkeiten hat, den Bezug zur Literatur zu konstruieren, und einer methodisch reflektierten, die von den Quellentexten zu abstrahieren sucht. Vgl. Erhart: Nach der Aufklärungsforschung?, S. 112f. Vgl. auch ders.: Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Eine Fallstudie, in: IASL 25,1 (2000), 159–168. Stöckmann hat ein expliziteres Methodenbewußtsein angemahnt. Vgl. Ingo Stöckmann: Traumleiber. Zur Evolution des Menschenwissens im 17. und 18. Jahrhundert. Mit einer Vorbemerkung zur literarischen Anthropologie, in: IASL 26,2 (2001), 1–55, insbes. S. 5–15. Proß bemängelt die implizite Normativität vieler anthropologiehistorischer Ansätze. Vgl. Wolfgang Proß: Ideologie und Utopie einer neuen Disziplin: Kritische Bemerkungen zur ‚anthropologischen Wende‘ der Geisteswissenschaften, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 46,4 (1999), 508–518, hier S. 515. Der Forschungsbericht Wolfgang Riedels bleibt unverzichtbar: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft, in: IASL. 6. Sonderheft: Forschungsreferate. 3. Folge, Tübingen 1994, 93–157. Stienings Kritik an methodisch ambitionierter Anthropologieforschung zieht nicht in Betracht, daß die Ratio nicht die Rolle gespielt haben könnte, die ihr im Zeitalter Wolffs und Kants von jedem vernünftig denkenden Menschen eigentlich hätte zugestanden werden müssen. Vgl. Gideon Stiening: Body-lotion. Körpergeschichte und Literaturwissenschaft, in: Scientia Poetica 5 (2001), 183–215. So in Bornscheuers ansonsten anregender Studie. Vgl. Lothar Bornscheuer: Zum Bedarf an einem anthropologiegeschichtlichen Interpretationshorizont, in: Georg Stötzel (Hg.): Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. T. 2. Ältere Deutsche Literatur. Neuere Deutsche Literatur. Berlin / New York 1985, 420–438, hier S. 422, 436. Der Gedanke ist Grundlage des Iserschen Anthropologiemodells und der darauf fußenden, ertragreichen Forschung. Vgl. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Vgl. auch Blumenberg: Anthropologische Annäherung, S. 115f. zur Metapher als anthropologisches Grundelement, hierzu auch Herbert Kaiser: Metapher Mensch. Zur Aktualität der offenen Anthropo-

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Anthropologieforschung im Sinne der Geschichtswissenschaft betrieben werden, die subjektive Dispositionen des Menschen in den Mittelpunkt der historischen Analyse stellt.3 Der anthropologische Diskurs kommt hier als entscheidender Bestimmungsfaktor anderer aufklärerischer Diskurse in den Blick. Es wird ein heuristisches Modell vorgeschlagen, das es ermöglicht, die diskursive Konstellation wie die interdiskursive Rezeption anthropologischen und anthropologiebasierten Wissens analytisch faßbar zu machen, um dieses als Formationsregel des Vorurteilsdiskurses (und anderer Diskurse) begreifen zu können. Ich unterscheide drei verschiedene Ebenen des anthropologischen Diskurses. Diese heuristische Trennung beruht auf den historischen Wort- und Begriffsbefunden, systematisiert diese aber, um interdiskursive Relationen spezifizieren zu können. Ich unterscheide: erstens – die Ebene inhaltlich anthropologischer Diskussionen, der Konjunkturen anthropologischen Denkens (Kapitel 2.1), – zweitens – die Ebene der anthropologiebasierten Argumentationsfiguren (Kapitel 2.2) und – drittens – die Ebene der immanent relativistischen Reflexionsstrukturen (Kapitel 2.3). Diese systematische Teilung macht Diskursrelationen präziser beschreibbar, sie ist kein Abbild „der“ Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Charakteristisch für die erste Ebene, die Ebene inhaltlich anthropologischer Diskussionen, ist, daß nach inhaltlichen Wissensbestandteilen gefragt wird und die Antworten im wesentlichen aus Wissensgewinn, -akkumulation oder -erneuerung auf der Ebene der Themen und Topoi, des „anthropologischen“ Wissens, bestehen. Ex post zu definieren, was im 18. Jahrhundert zur „Anthropologie“ hätte gerechnet werden können, wäre ein ahistorisches und daher unangemessenes Verfahren. Die Frage, was inhaltlich zur Anthropologie gerechnet werden kann, erfordert mithin zunächst einen historisch-semantischen Zugang. Begriffsgeschichtlich bildet sich „Anthropologie“ schon seit dem 16. Jahrhundert als (bedingt) neue Form der „doctrina humanae naturae“ aus, die Säkularisationsimpluse aufnimmt. Charakteristisch ist bereits bei Otto Casmann die dichotomische Teilung von prä-psychologischer und somatologischer Komponente des Menschen, doch ist das integrative und doch gleichermaßen konfliktträchtige Potential, das im 18. Jahrhundert in der Nachfolge Descartes’ den Begriff modifizieren und differenzieren sollte, noch nicht präsent.4 In der Forschung gelten häufig

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logie der deutschen Spätaufklärung, in: Lothar Bornscheuer / Herbert Kaiser / Jens Kulenkampff (Hg.): Glaube, Kritik, Phantasie. Europäische Aufklärung in Religion und Politik, Wissenschaft und Literatur. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern u.a. 1993, 123–138. Vgl. Richard van Dülmen: Historische Anthropologie: Entwicklung, Probleme, Aufgaben. Köln / Weimar / Wien 2000, S. 32. Otto Casmann: Psychologia anthropologica; Sive animae humanae doctrina, Methodicé informata, capitibus dissecta, singulorumque Capitum disquisitionibus, ac controversarum questionum ventilationibus illustrata. Hannover 1594, S. 1. Zwar weist Linden darauf hin, bei Casmann sei die „Würde des Menschen“ der Ansatzpunkt, doch ist damit noch keine begriffsgeschichtliche Integration der beiden Teil-Anthropologien angestrebt, eher eine humanistisch begründete Meta-Ebene. Vgl. Mareta Linden: Untersuchungen zum Anthropologiebegriff des

Ernst Platner oder Immanuel Kant als Begründer der Anthropologie im 18. Jahrhundert: Hans-Jürgen Schings betont, Platner habe den Begriff terminologisch verbindlich gemacht. Auch weist er darauf hin, daß Platners Anthropologie für Ärzte und Weltweise (1772) zeitgleich zu Kants ersten Anthropologievorlesungen entstanden ist.5 Mareta Linden behauptet, Platner habe erstmals das Wort „Anthropologie“ für das Problem der Integration des Dualismus von Leib und Seele in eine Wissenschaft verwendet und sich dabei auf die empirische Nähe zu Erfahrungstatsachen berufen.6 Wolfgang Riedel stellt Platner als wichtigsten Repräsentanten der Spätaufklärungsanthropologie vor,7 betont aber an anderer Stelle, schon bei Basedow falle das gesamte philosophische Wissen abzüglich der Theologie unter die Bezeichnung Anthropologie.8 Alexander Košenina weist auf die intensive Rezeption Platners, gerade im literarischen Bereich, hin.9 Odo Marquard war noch mit der (philosophisch vorurteiligen) These aufgetreten, „Klarheit“ über ihre Stellung als Lebensweltphilosophie, also über ihre Positionierung im Wissenschaftsdiskurs

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18. Jahrhunderts. Bern / Frankfurt a.M. 1976, S. 1. Vgl. auch Odo Marquard: Anthropologie, in: Joachim Ritter / Guenther Bien u.a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1. Darmstadt 1971, Sp. 362–374, hier Sp. 363. Schon vor Casmann allerdings tragen im 16. Jahrhundert prä-psychologisch-medizinische Lehrbücher den Titel „Anthropologie“. Casmann scheint bevorzugt im 17. Jahrhundert rezipiert worden zu sein. Vgl. Udo Benzenhöfer: Psychiatrie und Anthropologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hürtgenwald 1993, S. 18ff. Vgl. zur Wortgeschichte seit dem frühen 16. Jahrhundert knapp Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987, S. 2f. Vgl. Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, S. 24. Vgl. Linden: Untersuchungen, S. 42f. Die Berufung auf Empirie kann als Zeichen der Wirkung des anthropologischen Diskurses auf andere Bereiche identifiziert werden. Vgl. Manfred Beetz: Die Körpersprache im Wandel der deutschen Rhetorik vom 17. zum 18. Jahrhundert, in: Joseph Kopperschmidt (Hg.): Rhetorische Anthropologie. Studien zum Homo rhetoricus. München 2000, 39–65, hier S. 39. Vgl. Riedel: Anthropologie und Literatur, S. 103f., 154. Der Anthropologie im Platnerschen Sinne sei für die Literatur vor und um 1800 eine ähnliche Rolle zugekommen wie nach 1900 der Psychoanalyse. Vgl. Wolfgang Riedel: Weltweisheit als Menschenlehre. Das philosophische Profil von Schillers Lehrer Abel, in: Johann Friedrich Abel. Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773–1782). Mit Einl., Übs., Kommentar und Bibliographie hg. von W. R. Würzburg 1995, 375–450, hier S. 421. Vgl. Johann Bernard Basedow: Philalethie. Neue Aussichten in die Wahrheiten und Religion der Vernunft bis in die Gränzen der glaubwürdigen Offenbarung. Altona 1764. Der erste Teil des ersten Bandes trägt den Titel Anthropologie, Oder die Lehre von des Menschen Natur. Genau genommen sind Anthropologie und Theologie Teile der theoretischen Philosophie, die bei Basedow als Philalethie abgehandelt wird. Vgl. Alexander Košenina: Nachwort, in: Ernst Platner: Anthropologie für Ärzte und Weltweise. T. 1. Mit einem Nachwort von A. K. Hildesheim / Zürich / New York 1998, 303–313, hier S. 303f. Vgl. auch ders.: Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der „philosophische Arzt“ und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul. Würzburg 1989 – eine der ersten Studien zur Wirkung anthropologischer Theoreme.

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der Zeit, gewinne die Anthropologie erst bei Kant.10 Carsten Zelle hat hingegen herausgearbeitet, daß wesentliche Aspekte der Anthropologiebestimmung Platners bereits in der Jahrhundertmitte in der „Hallischen Konstellation“ erscheinen und zu wissenschaftssystematischen Projekten ausgearbeitet werden.11 Diese Vordatierungsthese der „Anthropologie“ des 18. Jahrhunderts bestätigt sich begriffsgeschichtlich mit Blick auf Definitionen der Jahrhundertmitte.12 Schon in den 1740er und 50er Jahren weist der Anthropologiebegriff gegenüber dem seit dem Späthumanismus tradierten kumulativ-integrative Faktoren aus, die die disziplinär-begriffliche Erweiterung und Differenzierung Platners vorwegnehmen, ohne dessen Reduktion auf den psycho-physischen Zusammenhang schon zu vollziehen.13 Chauvins Lexicon philosophicum führt als vermutlich erstes Lexikon des 18. Jahrhunderts „Anthropologia“ als eigenes Stichwort auf. Chauvin bestimmt sie disziplinär als Teil der spekulativen Philosophie: „ANTHROPOLOGIA est philosophica de homine tractatio, seu scientia de homine; atque hæc tertiam philosophiæ speculativæ partem constituit.“14 Doch von diesen institutionell-systemischen Faktoren unabhängig gewinnt sie als Doppelwissenschaft vom menschlichen Körper und Geist (wenn auch deren Zusammenhang noch mit Hilfe der veraltenden spiritus-Lehre gezeichnet wird) eine doppelte Aufgabenstellung. Sie legitimiert sich als eine philosophische Teildisziplin, die die Art und Weise der Kooperation von Körper und Geist thematisiert.15 Wenn Georg Friedrich Meier knapp 40 Jahre später als „anthropologisch“ jede Wissenschaft kennzeichnet, die „die Kenntniß der menschlichen Natur und der 10

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Vgl. Marquard: Anthropologie, Sp. 365. Gegen Marquard argumentiert überzeugend Wolfgang Proß: Herder und die Anthropologie der Aufklärung, in: Johann Gottfried Herder. Werke. Bd. II. Herder und die Anthropologie der Aufklärung. Hg. W. P. München 1987, 1128–1216, hier S. 1132f. Auch philosophisch überrascht Marquards These, bezieht sich doch einer der Begründer der modernen philosophischen Anthropologie, A. Gehlen, ausdrücklich zustimmend auf Herder. Vgl. Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Mit einer Einführung von Karl-Siegbert Rehberg. Wiebelsheim 142004, S. 84 et passim. Vgl. u.a. Carsten Zelle: Sinnlichkeit und Therapie. Zur Gleichursprünglichkeit von Ästhetik und Anthropologie um 1750, in: ders. (Hg.): „Vernünftige Ärzte“. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen 2001, 5–24. Die Konjunktur der Anthropologie als Wissenschaftsentwurf wird vom Diskurs der anthropologischen Wende unterschieden. Košenina vermerkt die Vordatierung der anthropologischen Wende eher kritisch, doch sprechen die Quellen dafür, schon um 1750 eine rezeptionsbezogene Progression anthropologischer Inhalte anzunehmen – allerdings mit elementaren inhaltlichen Unterschieden zum Platner-Umkreis. Vgl. Košenina: Nachwort, S. 309f. Das wissenschaftssystematische Projekt, „Artzneygelahrtheit“ auch Philosophen zunutze zu machen, formulieren bereits Krüger und Unzer. Vgl. Johann Gottlob Krüger: Versuch einer Experimental-Seelenlehre. Halle / Helmstädt 1756, unpag. Vorrede, Johann August Unzer: Philosophische Betrachtung des menschlichen Körpers überhaupt. Halle 1750, unpag. Vorrede. Als markanteste Gemeinsamkeit der „philosophischen Ärzte“ verbucht Košenina die Suche nach einer Lösung für das Leib-Seele-Problem. Vgl. Alexander Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ‚eloquentia corporis‘ im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995, S. 11. Chauvin: Lexicon philosophicum, S. 46. Vgl. ebd.

gantzen Menschheit, befördert“,16 diese doppelte Aufgabe aber auch unter dem moralischen Aspekt der Pflicht zur Selbsterkenntnis verortet, gewinnt der Begriff trotz seiner eher unspezifischen Bestimmung eine integrative Funktion, die über die disziplinäre Separierung hinausweist. Wenige Seiten vorher umfaßte Meiers Bestimmung noch einen wesentlich weiteren Rahmen, der auf den noch unbestimmten Wissenschaftsstatus des Projekts „Anthropologie“ zurückzuführen sein könnte. Als anthropologisch, also „die Erkenntniß des Menschen auf eine merckliche Art“ befördernd, können für Meier nicht nur Wissenschaften gelten, sondern auch „Wahrheiten“, „Künste“ und „Dinge“.17 Dieses anthropologische Aufgabenfeld steht erkenntnishierarchisch an zweiter Stelle hinter der Erkenntnis Gottes. Selbsterkenntnis als anthropologische Aufgabe bildet das Zentrum aller Erkenntnis, die auf jene bezogen werden muß. Daß Meier zusätzlich die Kenntnis der ganzen Menschheit in die anthropologische Wissenschaft begrifflich zu integrieren sucht, könnte auf die erst später virulente ethnologische Perspektive vorausweisen,18 vielleicht aber auch nur argumentativen Notwendigkeiten zu verdanken sein. Der Historie, die als „Spiegel des menschlichen Hertzens“19 eingeführt wird, wird so ein disziplinärer Ort als anthropologische Hilfs-Wissenschaft zugewiesen, ohne diesen allerdings genauer zu bestimmen. Deutlicher wird der integrative Charakter des Anthropologiebegriffs im Eintrag in Zedlers Universal-Lexicon. Doch entspricht der thematisch polymorphen Struktur der Anthropologie noch keine disziplinäre. Anthropologie gilt hier als Teilgebiet der Physik, der Lehre von der Natur der Körper. Themen der Anthropologie seien die natürliche Beschaffenheit und der gesunde Zustand des Menschen, vor allem, was seine physikalischen und natürlichen Eigenschaften betreffe. Dies erweist sich aber im Artikel selbst bereits als konsensuelle Verallgemeinerung. Denn vom Begriff her gehöre auch die moralische Beschaffenheit des Menschen zur Anthropologie, seine Gemütskräfte, sein Willen, sein Verhalten wie auch grundsätzlich die Vernunftlehre. Beides sei aus eher wissenschaftspraktischen Gründen ausgelagert.20 Als „Lehre von dem Menschen“ figuriert Anthropologie auch bei Walch. Der einschlägige Artikel reduziert auf diskursiver (noch nicht disziplinärer) Ebene den Anthropologiebegriff auf die doppelte Lehre von der physischen und moralischen

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Georg Friedrich Meier: Philosophische Sittenlehre. 2.Th. Halle 1754, § 422, S. 435. Ebd., § 398, S. 368. Anthropologie als Ethnologie oder Kulturanthropologie fokussieren Wilhelm E. Mühlmann: Geschichte der Anthropologie. Bonn 1948, aber auch aufgrund der charakteristischen französischen Entwicklung Sergio Moravia: Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung. München 1973 und Werner Krauss: Zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Die Frühgeschichte der Menschheit im Blickpunkt der Aufklärung. Hg. Hans Kortum, Christa Gohrisch. München / Wien 1979. Meier: Philosophische Sittenlehre. 2.Th., § 422, S. 435. Vgl. Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon [...]. Anderer Bd. Halle / Leipzig 1732, Sp. 522.

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Natur.21 Integrativ wirkt die gegenseitige Verknüpfung der beiden Themenbereiche, die als Aufgabenstellung ausdrücklich angemahnt wird, als auch die – allerdings nur von Seiten des Gemütes ausgehende – Interaktion „mit der von GOtt intendirten wahren Glückseeligkeit“.22 Anthropologie umfaßt somit Aufgaben der Analyse des Körpers, der Seele, der gegenseitigen Zusammenhänge und der Zusammenhänge der Seele mit der (theologisch verstandenen) Bestimmung des Menschen.23 Die konzeptionelle Ebene vermischt sich in der Allgemeinen Encyclopädie Erschs und Grubers schließlich zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Bestimmung der Anthropologie über eine Summierung inhaltlicher Topoi. Als „Naturgeschichte und eigenthümliche Naturlehre des Menschen“ bestimmt, löst sich die Definition der Anthropologie zunehmend von der Wortgeschichte. Der Artikel Hoffbauers verdeutlicht, daß die diskursive und disziplinäre Entwicklung eine Vielzahl von Varianten hervorgebracht hat, die eine Systematisierung wesentlich erschweren. Die grundlegende Unterscheidung von moralphilosophischer und theologisch-dogmatischer Anthropologie wird bei Hoffbauer durch eine zweite abgelöst: durch die Unterscheidung von Anthropologie als Wissenschaft entweder vom Körper, von der Seele oder aber vom Zusammenhang zwischen beiden. Diese Unterscheidung wird dann allerdings um weitere Untersuchungsgebiete ergänzt, die sich der Systematik nicht mehr fügen. Zur Anthropologie gehöre auch die Untersuchung über den Verlauf des Menschenlebens von der Empfängnis bis zum Tod, die Lehre von den Abstammungs-Verschiedenheiten oder Rassen, „natürlich“ die Lehre vom Unterschied der Geschlechter, in weitestem Umfange auch die Geschichte der Ausbildung der Gattung und des Menschengeschlechtes, die sich dann wiederum in einzelne Zweige untergliedere.24 Nimmt man diese Lexikoneinträge zum Maßstab, zeichnet sich die begriffsgeschichtliche Entwicklung der „Anthropologie“ durch einen Wechsel von Reduktion und Erweiterung aus. Reduziert und konkretisiert die Anthropologie der Hoch- und Spätaufklärung ihre Anliegen auf das Problem des commercium mentis et corporis, 21 22

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Vgl. zu Walch auch Schings: Melancholie, S. 13. [Anonym:] Anthropologie, in: Johann Georg Walch: Philosophisches Lexicon [...]. Leipzig 1726, Sp. 106–107, hier Sp. 106. Unverändert, nur mit zusätzlichen Literaturhinweisen auf Platner und Iselin, erscheint der Artikel in der 2. Aufl.: Walch: Philosophisches Lexicon [...]. 2 Bde. Leipzig 21775, Sp. 172–173, hier Sp. 172. Lindens Interpretation des Walch-Artikels, es werde nur die physische Natur des Menschen thematisiert, da die anthropologia moralis nicht systematisch entwickelt werde, überzeugt kaum: Die anthropologia physica wird ebenso knapp behandelt. Wie bei Zedler, bei dem Linden einen ähnlichen Befund aufzuweisen sucht, sollte auch hier zwischen der definitorischen Ebene und der Wiedergabe der zeitgenössischen disziplinären Praxis unterschieden werden. Vgl. Linden: Untersuchungen, S. 19ff., zu Zedler S. 21. Bezold sieht bei Walch die integrative Komponente nur als „Spezialfall“. Vgl. Raimund Bezold: Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz. Würzburg 1984, S. 122. Vgl. Johann Christoph Hoffbauer: Anthropologie, in: J. S. Ersch / J. G. Gruber (Hg.): Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste […]. 4.Th. Leipzig 1820, 281–287.

wird mit der bald einsetzenden Konjunktur der ethnologischen Forschung und der Akzentuierung der Umfeldfaktoren als externe Einflüsse auf das Commercium die interaktive Ebene betont. Anthropologie wird schließlich um Fragestellungen erweitert, die generell als „zum Menschen gehörig“ oder diesen beeinflussend angesehen werden. Kants Unterscheidung von pragmatischer und physiologischer Anthropologie reduziert den pragmatischen Aspekt der Anthropologie, indem sie diese als Weltkenntnis versteht, mithin auf den sehr engen Ausschnitt der Ausbildung lebenspraktischer Klugheit,25 leistet aber die Verbindung von Erkenntnis und idealem Anspruch (in einigen Bereichen unter Verzicht auf den aktuellen Diskussionsstand seiner Zeit). Auch die vermeintlich umfassendere Bestimmung Kants, Metaphysik, Moral und Religion bezögen sich auf Anthropologie, die aus der vielzitierten Fragenfolge „1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch?“26 resultiert, impliziert eine pragmatische Anwendbarkeit zur konkreten Lebensführung, die aus methodologischen Überlegungen heraus physiologische Implikationen negiert.27 Die nominaldefinitorische Ebene zeigt somit angesichts des semantischen Wandels des Definiens mehr Probleme auf, als sie lösen kann. Realdefinitorisch soll daher versucht werden, die Ebene der zur Anthropologie im 18. Jahrhundert zugehörigen Themen und Topoi zu strukturieren. Die hier vorgestellte Heuristik stellt dabei weder den Anspruch, das unterschiedliche Gewicht der einzelnen Themen zu berücksichtigen, noch, den historischen Wandel dieser Gewichtungen abzubilden. Die hier vorgelegte Systematisierung dient nicht dazu, alle Bereiche der anthropologischen Diskussion des 18. Jahrhunderts trennscharf zu separieren. Zuordnungsund Gewichtungsrelevanzen verändern sich im Laufe der Entwicklung des anthropologischen Wissens. Themen, die sich bei einem Autor überschneiden, können sich bei einem anderen ausschließen. Ein erstes Thema, das zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts gerechnet wurde, war die Frage nach dem psychophysischen commercium mentis et corporis, nach

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Vgl. Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 119. Vgl. Heinz: Wissen vom Menschen, S. 47f. Schon Schings: Melancholie, S. 13, 26f., weist darauf hin, daß die Anthropologie der Zeit anders als Kant die Verbindung von Psychologie und medizinischer Physiologie im Rahmen der anti-metaphysischen Empirie favorisiere. Fauser reduziert Anthropologie auf eine popularphilosophische Theorie der Lebensführung. Vgl. Markus Fauser: Das Gespräch im 18. Jahrhundert: Rhetorik und Geselligkeit in Deutschland. Stuttgart 1991, S. 77ff. Immanuel Kants Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen. Hg. Gottlob Benjamin Jäsche. Neu hg. von Walter Kinkel. Leipzig 31920, S. 27. Diese Fragenfolge wäre als Initiation der Anthropologie des 18. Jahrhunderts gründlich mißverstanden. Brandt hat herausgearbeitet, daß Kants ursprüngliche Anthropologie-Konzeption wesentlich auf einem Konzept der empirischen Psychologie als nicht praxisorientierter Wissenschaft beruht und sich demnach vom Anspruch seines späteren, pragmatischen Konzeptes grundlegend unterscheidet. Die Konzeption wandele sich Anfang der 70er Jahre. Vgl. Reinhard Brandt: Ausgewählte Probleme der Kantischen Anthropologie, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart / Weimar 1994, 14– 32, S. 14, 16ff., 20ff.

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Art und Modus des Zusammenhangs von körperlichen und seelischen Reaktionen. Aus der Annahme des Doppelcharakters des Menschen als Sinnen- und Geisteswesen resultiert die Frage nach der gegenseitigen Interdependenz: Auf welchen Wegen beeinflussen sich Körper und Geist gegenseitig? Kann man nur von einem influxus physicus ausgehen, oder in welchem Zusammenhang steht er mit einem anzunehmenden Einfluß der Seele auf den Körper, einem influxus animae? Dieser Fragenkomplex wird zum zentralen Thema der disziplinären Anthropologie. Er knüpft einerseits an Descartes an, durch den diese Frage für das 18. Jahrhundert neu relevant wurde, andererseits profitiert er von der medizinisch gegründeten Diskussion seit dem frühen 18. Jahrhundert. Angesichts dieser differenten Quellen kann kaum überraschen, daß auch unterschiedlichste Lösungsmodelle präferiert werden.28 Die cartesianische Trennung der körperlichen und der geistigen Natur des Menschen hat nicht nur wissenschaftsgeschichtlich eine Fraktionierung anthropologischer Anstrengungen in der ersten Jahrhunderthälfte zur Folge,29 sondern auch Versuche, den Einfluß ungeachtet der physischen Trennung zu erklären. Grundlage ist dabei Descartes’ Kritik an iatromechanischen Modellen, die dazu tendierten, eine organische Sache auf die res extensa zu reduzieren.30 Okkasionalistisch wird dagegen angenommen, der Zusammenhang von Körper und Seele werde von Gott bei gelegentlichen Anlässen geleistet. Der Animismus oder Vitalismus Stahls und seiner Schüler propagiert die Seele als Bildnerin des Leibes oder als Lebensprinzip. Im Umkreis Mendelssohns werden metaphysische Ursachen für das Commercium aus der Tradition schulphilosophischer Theoreme wieder unter dem Stichwort „psychologische Cur“ aufgenommen.31 Von diesem Lösungsstrang (der bei allen Unterschieden im Detail von der physischen Trennung von Körper und Seele ausgeht) unterscheidet sich ein weiterer, der im Gefolge Leibniz’ eine prästabilierte Harmonie zwischen Körper und Seele annimmt, die auf ontologischer Ebene von Gott vorherbestimmt die Kommunikation zwischen einzelnen Monaden ermöglicht. Influxionistisch kann der göttliche Wirkanspruch zugunsten körperlicher Phänomene – also als Aufwertung des influxus physicus – zurückgewiesen werden. Zu solchen Varianten wiederum trägt die Entwicklung der medizinischanatomischen Forschung entscheidend bei. Diskussionen wie die zwischen Haller und La Mettrie entstehen um die Systemstelle naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Sensualistische Ansätze, die cum grano salis bis zu materialistischen ausge-

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Vgl. den Abriß dieser Problematik bei Rainer Specht: Commercium Mentis et Corporis. Stuttgart-Bad Cannstatt 1966; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Maschine und Teufel. Jean Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte. Freiburg / München 1975, S. 32ff. Vgl. Linden: Untersuchungen, S. 11. Vgl. Sergio Moravia: From Homme machine to Homme sensible. Changing eigtheenth-century models of man’s image, in: Journal of the History of Ideas 39,1 (1978), 45–60, hier S. 45ff., ders.: Enlightenment and the Sciences of Man, S. 252f. Vgl. Bezold: Popularphilosophie, S. 128ff.

baut werden, sehen Seele und Körper über die Sinne vermittelt.32 Hierfür kann die Leugnung der ideae innatae im Anschluß an Locke eine Voraussetzung sein,33 gemeinsamer Impuls ist aber, daß von außen kommende Einflüsse betont oder gar als ausschließlich entscheidend für die Tätigkeit des Individuums angesehen werden.34 Die „Weiterleitung“ dieser äußeren Einflüsse muß nun nur noch erklärt werden – und dies geschieht auf unterschiedliche Weise und mit durchaus divergenten Methodenansprüchen.35 Auf der anderen Seite wird etwa im psychophysischen Parallelismus Spinozas die göttliche Allnatur als das einzig bestimmende Prinzip eingeführt, von dem Geist und Körper nur zwei Facetten sind – eine Lösung, die das Vermittlungsproblem für randständig erklärt.36 Organistische Naturmodelle hingegen suggerieren die Eigentätigkeit des Individuums, das sich von äußeren Faktoren, im Zweifelsfall selbst von Gott, nicht leiten läßt.37 In der zweiten Jahrhunderthälfte setzen sich die als empirismusverträglich geltenden Erklärungen zunehmend gegen diejenigen durch, die dem Metaphysikverdacht unterliegen. Das „systema influxus physici“ beherrscht nun (in verschiedenen Varianten) die anthropologische Diskussion.38 Die Basis für diese Entwicklung bildet die Weiterentwicklung der empirisch orientierten Gehirn- und Nervenphysiologie, die vor allem Hartley, Haller und Boerhaave vorantreiben.39 Empirie

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So etwa Condillacs Anspruch, zu erklären, auf welche Art all unsere Erkenntnisse aus den Sinnen stammen. Vgl. Etienne Bonnot de Condillac: Abhandlung über die Empfindungen. Auf der Grundlage der Übs. von Eduard Johnson. Neu bearb., mit Einl., Anm. und Literaturhinweisen versehen und hg. von Lothar Kreimendahl. Hamburg 1983, S. 133. Zum Erklärungsmodell wird bei Condillac eine Neubewertung der „inquiétude“; vgl. ebd., S. 22. Vgl. ausführlicher Lothar Kreimendahl: Einleitung, in: ebd., XIX–XL, hier S. XXXVII, Sauder: Empfindsamkeit, S. 69f. Vgl. auch Platner: Anthropologie, § 179ff., S. 49ff. Vgl. Moravia: From Homme machine to Homme sensible, S. 58. All diesen Idealtypen von Lösungswegen stehen vermittelnde Wege gegenüber. Vgl. etwa Unzer: Philosophische Betrachtung, § 166f., S. 175f. Unzers Mittelweg besteht in der Annahme einer „Kraft“ im menschlichen Körper, die harmonische Bewegungen in der Seele hervorruft – auch dies keine neue Lösung. Anders in: Johann August Unzer: Neue Lehre von den Gemüthsbewegungen, mit einer Vorrede vom Gelde begleitet von Herrn Johann Gottlob Krügern. Hg. Carsten Zelle. Halle 1995, § 5f., S. 29ff.: Hier wird die physische Beschaffenheit der Nervenstränge für die Übertragungsrate der Affekte verantwortlich gemacht. – Krüger etabliert den inneren Zusammenhang von sinnlicher Wahrnehmung, Nerven und Empfindung. Vgl. Johanna Geyer-Kordesch: Die Psychologie des moralischen Handelns. Psychologie, Medizin und Dramentheorie bei G. E. Lessing, Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai. Phil. Diss. Massachussetts 1977, S. 33f. Vgl. hierzu den systematischen Überblick von Wilhelm Schmidt-Biggemann: Einführung, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart / Weimar 1994, 9–13 und Heinz: Wissen vom Menschen, S. 55ff. Vgl. Moravia: From Homme machine to Homme sensible, S. 58. Vgl. Riedel: Weltweisheit, S. 427. Vgl. zur Auseinandersetzung Stahl vs. Haller u.a. Košenina: Anthropologie, S. 96. Vgl. auch Moravia: From Homme machine to Homme sensible, zu Stahl S. 49ff., zu Haller S. 53ff. Vgl. zu Hallers Irritabilitätsthese Richard Toellner: Albrecht von Haller. Über die Einheit im Denken des letzten Universalgelehrten. Wiesbaden 1971, S. 173ff.

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und Erfahrung als Basis der Seelenlehre bestimmt auch schon Krügers Vorgehen um die Jahrhundertmitte: Eine Untersuchung von dem Wesen der Seele, und Beschreibung der verschiedenen Erklärungsarten der Würckung der Seele in den Leib, habe ich sowohl darum nicht beyzufügen gefunden, weil ich glaube daß es noch viel zu früh sey, von einer Sache zu sprechen, davon man so viel gesprochen hat; als insonderheit weil ich mich bloß an die Erfahrung gehalten.40

Ein zweites Thema der Anthropologie des 18. Jahrhunderts bilden die Affektstruktur des Menschen und seine Konturierung als „ganzer Mensch“. Gegen die Tendenz des 17. Jahrhunderts, den Menschen analytisch zu zergliedern, wird nun der Versuch unternommen, den „ganzen Menschen“ in die Grenzen positiven Wissens einzuordnen.41 Dieses Konzept schließt die unteren Erkenntnis- und Begehrungsvermögen und deren Klassifizierung in die Analyse ein. Es geht hier mithin nicht, wie beim ersten Thema, um Wege der Informationsvermittlung, sondern um die Konstitution des Menschen schlechthin. Charles Bonnet setzt die Fragen „Was ist die Empfindung, der Gedanke, der Wille, die Handlung?“ mit der anthropologischen Grundfrage „was ist der Mensch?“ gleich.42 Gegenstand der Betrachtung ist die prozessuale Entwicklung der menschlichen Fertigkeiten zu Empfinden und Denken, zu Wollen und Handeln. Anthropologisches Thema ist also nicht nur die Frage nach definitorischen Merkmalen des Menschen, sondern auch die (dynamisiert gedachte) Frage nach seinen unteren Erkenntnis- und Begehrungsvermögen: Welche Rolle spielen die Gemütsbewegungen, die unteren Seelenkräfte, die Empfindungen des Menschen? Können Erfahrungen eines Sinnesgebietes auf ein anderes übertragen werden (eine Frage, die an das Molyneuxsche Problem anschließt)?43 Welche Funktion haben Träume? All diese Fragen schließen dabei tendenziell das Dunkle wie das Unklare als Kategorie der Erkenntnisstärke oder -gewißheit ein. Die sukzessive Aufwertung der Aisthesis resultiert aus einem explizit gnoseologischen Zusammenhang. Das „Dunkle“ gewinnt einen erkenntnistheoretischen Eigenwert, wenn ihm eine neue Funktion zugeschrieben wird. Dunkle Erkenntnis wird zur ersten, grundlegenden und notwendigen Form der menschlichen Erkenntnis.44 Charakteristisch ist hier insbesondere Herders Erkenntnismodell, das das gnoseologisch Kompakte als das 40

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Krüger: Versuch, unpag. Vorrede. Vgl. zum Anspruch Krügers Carsten Zelle: Experimentalseelenlehre und Erfahrungsseelenkunde. Zur Unterscheidung von Erfahrung, Beobachtung und Experiment bei Johann Gottlob Krüger und Karl Philipp Moritz, in: ders. (Hg.): „Vernünftige Ärzte“. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen 2001, 173–185. Vgl. Moravia: Enlightenment and the Sciences of Man, S. 250ff. Charles Bonnet: Analytischer Versuch über die Seelenkräfte. Aus dem Frz. übs. und mit einigen Zusätzen vermehrt von Christian Gottfried Schütz. Bd. 1. Bremen / Leipzig 1770, S. 4. Molyneux beschäftigt die Frage, ob ein Blindgeborener, wenn er zufällig den Sehsinn erlangt, die ihm durch den Tastsinn bekannten Objekte identifizieren kann. Vgl. Hans Adler: Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie – Ästhetik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder. Hamburg 1990, S. 90f.

„Prägnante, Erkenntnis- und gar Gewißheitsträchtige“ ansieht.45 Solche Perspektiven resultieren implizit oder explizit aus der Erkenntnis der begrenzten Praxisfähigkeit des Rationalismus. Methodisch nutzen sie empirische Ansprüche und statistische Verfahren,46 um den Menschen nach Maßgabe seiner Vermögen zu inventarisieren, um ihn im Zustand des Handelns im Affektausdruck beschreiben zu können. Hieraus resultiert letztlich die Differenzierung von physischer und sittlicher Anthropologie.47 Grundlage ist eine philosophische und kulturelle Aufwertung der „Empfindungen“.48 Dies bedeutet aber nicht, daß Empfindungen nun generell den methodischen Primat gegenüber der Vernunft erlangt hätten. So ist etwa die Empfindsamkeit nicht als anti-vernünftig zu verstehen, sondern als Versuch, mit Hilfe der Vernunft auch die Empfindungen aufzuklären.49 Doch Empfindungen und Affekte erlangen über den Objektcharakter hinaus im anthropologischen Diskurs einen neuen Status im Verhältnis zur Vernunft. Insoweit diese Neubewertung des Verhältnisses von Vernunft und Empfindungen im Zentrum von Diskussionen steht, deren Selbstverständnis sie als diskurskonstitutiv für die Aufklärung ausweist, kann davon gesprochen werden, daß Aufklärung mit Intellektualismus nicht gleichzusetzen ist, sondern dieser (neben dem Empirismus) eine der Grundströmungen innerhalb des neuzeitlichen Rationalismus darstellt.50 Doch auf der anderen Seite beschreibt diese polemische Zuspitzung noch nicht einmal die anthropologische Diskussion erschöpfend. Denn mit der These der Gleichursprünglichkeit von Ästhetik und Anthropologie51 wird auch deutlich, daß die aisthetischen 45 46

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Vgl. ebd., S. IX. Vgl. Doris Bachmann-Medick: Die ästhetische Ordnung des Handelns. Moralphilosophie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1989, S. 4f. Auf Basis der Psychologie werde der Prozeß des Handelns analysefähig. Vgl. Jörn Garber: Von der ‚Geschichte des Menschen‘ zur ‚Geschichte der Menschheit‘. Anthropologie, Pädagogik und Zivilisationstheorie in der deutschen Spätaufklärung, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 5 (1999), 31–54, hier S. 31, Linden: Untersuchungen, S. 36ff. Vgl. Riedel: Anthropologie und Literatur, S. 105f. Vgl. zum Topos der „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ Kondylis: Aufklärung, S. 19 et passim. Vgl. Sauder: Empfindsamkeit, S. XI, XV, 125f. Vgl. Kondylis: Aufklärung, S. 34, 40, 51f. Hiervon unterscheidet Kondylis die Prägung des Rationalismus als „weltanschauliche Grundhaltung“ (im Gegensatz zu intellektualistischem Rationalismus als logisch-argumentative Ausführung). Vgl. ebd., S. 45. Diese Differenzierung sucht Aufklärung in der frühneuzeitlichen Tradition zu verankern, ohne damit Traditionsbrüche für unmöglich zu erklären. Als erkenntnistheoretischer Standpunkt hingegen unterscheiden sich Empirismus und Rationalismus vor allem in der Frage, ob auch Begriffe und Urteile zulässig sind, die ihre Quelle allein in der Ratio haben. Vgl. Engfer: Empirismus versus Rationalismus?, S. 13. Vgl. Zelle: Sinnlichkeit und Therapie, insbes. S. 10f., zu den gemeinsamen Wurzeln von Ästhetik und Anthropologie in Medizin und Pietismus: Geyer-Kordesch: Psychologie, S. 6f., Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750. Tübingen 1998, S. 1f. zur anthropologiegeschichtlichen Orientierung der Frage nach Einbildungskraft und Phantasie. Auch die Entstehung der Ästhetik könnte ein Indiz für eine Kritik an der vermeintlich einseitigen Methode Wolffs sein. Ästhetisierung

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Aspekte der ‚Rehabilitation der Sinne‘ in ganz anderer Weise fruchtbar werden: Die Ästhetik entsteht als neu konturierter Wissensbereich und als neue philosophische Disziplin an der Peripherie der Erkenntnislehre.52 Linden erkennt eine Rückkehr zum „ganzen Menschen“ um die Jahrhundertmitte.53 Die Anthropologie der Jahrhundertmitte suchte also die Reduktion der Anthropologie auf Physiologie, die das 17. und das frühe 18. Jahrhundert prägte,54 aufzuheben, indem sie den „ganzen Menschen“, also auch seine Psyche, wieder zu integrieren strebt: wir wollen uns den Menschen als ein Ganzes, als eine Maschine denken, die aus einer bestimmten Summe von Kräften und Organen besteht, und worin eine Reihe von Wirkungen vorgeht, die alle in Einem gemeinschaftlichen Mittelpunkte, den wir Seele nennen, sich endigen oder anfangen.55

Die Aufwertung der Sinnlichkeit verbindet sich mit dem Bemühen um Affektmanagement. Dieses anthropologische Thema tendiert zur Aufnahme und Weiterführung der Wolffschen Psychologia rationalis und empirica. Der „ganze Mensch“ erscheint kaum als Variable des Commercium-Problems, bei dem vorrangig der Modus der Verbindung strittig ist, sondern eher als umfassendere Sicht auf die menschlichen Vermögen. Hieran schließen Versuche an, die Hierarchie, Reichweite und Bestimmung der einzelnen Sinnesorgane innerhalb des Ganzen neu zu klassifizieren.56

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wird, etwa bei Ulrich, zum Ausdruck der Wendung gegen eine „trockene“ Mathematisierung. Vgl. Johann August Heinrich Ulrich: Erster Umriß einer Anleitung zu den philosophischen Wissenschaften zum Gebrauch der Vorlesungen. 1.Th. Vernunftlehre, Grundwissenschaft und natürliche Theologie. Jena 1772, S. 19ff. Schneider spricht von einer „anthropologische[n] Wende in der Ästhetik“ schon bei Buffon. Vgl. Sabine M. Schneider: Komplexere Ordnung. Die Dynamisierung der Natur im naturkundlichen Diskurs bei Buffon, in: Günter Oesterle, Harald Tausch (Hg.): Der imaginierte Garten. Göttingen 2001, 115–134, hier S. 122. Vgl. Adler: Prägnanz, S. 1 et passim. Vgl. Linden: Untersuchungen, S. 36. Vgl. Riedel: Weltweisheit, S. 425f. Aus dieser Neuorientierung der Anthropologie resultiert laut Riedel die (allerdings institutionell und methodologisch verspätete) Entwicklung der Psychologie zu einer eigenständigen Wissenschaft, deren Grundlagen ja mit Wolff bereits vorlagen. Vgl. zur Frage „Geschichte oder Vorgeschichte der Psychologie im 18. Jahrhundert“ Jürgen Jahnke: Psychologie im 18. Jahrhundert. Literaturbericht 1980 bis 1989, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 14,2 (1990), 253–278, hier S. 255; vgl. zu Wolff oder / und Leibniz als Wegbereiter der Psychologie: Hans-Jürgen Engfer: Konzeption des Psychischen und der Psychologie zwischen Leibniz und Wolff, in: Gerd Jüttemann (Hg.): Wegbereiter der Historischen Psychologie. München / Weinheim 1988, 23–27. Johann Karl Wezel: Versuch über die Kenntniß des Menschen, in: ders.: Gesamtausgabe in acht Bänden. Bd. 7. Versuch über die Kenntniß des Menschen. Rezensionen. Hg. Jutta Heinz. Schriften zur Pädagogik. Hg. Cathrin Blöss. Heidelberg 2001, hier 1.Th. (Leipzig 1784), S. 43. Vgl. hierzu – unter Betonung des Tastsinns – Ulrike Zeuch: Umkehrung der Sinneshierarchie. Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit. Tübingen 2000. Erinnert sei nur exemplarisch an Herders Plastik und Engels Über einige Eigenheiten des Gefühlssinnes. Johann Gottfried Herder: Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume, Riga 1778, in: SWS 8, 1–87; Johann Jakob Engel: Ueber einige Eigenheiten des Gefühlssinnes, in: ders.: Kleine Schriften. Berlin 1795, 153–176. Auch Condil-

„Ganzheit“ wird mit Elementen angereichert, die über die Konstitution des Individuums hinausreichen. Herder versteht Anthropologie als Theorie der Humanität, die wiederum zur Voraussetzung des „ganzen Menschen“ wird. Dieses Ganze kann nur erfahren werden, wenn der Entdecker sich selbst kennt.57 Der Verlust der „Ganzheit“ des Menschen kann aber auch in einem weiteren ökologischen Rahmen auf den Verlust der Verbindung zur Natur zurückgeführt werden. Dies kennzeichnet Positionen aus dem Umkreis des Sturm und Drang oder in der Nachfolge Rousseaus. Ein drittes anthropologisches Thema des 18. Jahrhunderts ist die Stellung des Menschen im Gesamt der Umwelt und des Universums. Die kosmoszentrische Kopernikanische Wende gewinnt im 18. Jahrhundert eine neue Dignität: Wie kann, so stellt sich nun das Problem, die Frage nach der psychophysischen Konstitution des Menschen mit der Frage nach dem Zusammenhang eines Ganzen, in dem der Mensch nicht mehr im Zentrum steht, vereinbart werden?58 Im Doppelaspekt von Binnenstruktur des Menschen und Außenwelt (Natur, Kultur) werden organologische Modelle,59 die den Menschen nicht separieren, sondern einschließen, als von außerhalb des Menschen kommend konstruiert. Ausgangspunkt für Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit ist nicht die anthropozentrische Perspektive des Menschen auf der Erde, sondern die kosmozentrische der Außenperspektive, die sich argumentativ dynamisch auf die Erde und den Menschen in seiner Verbindung mit Natur, Botanik und Tierwelt räumlich zubewegt und gleichzeitig in historischer Perspektive, nachdem die Dynamisierung als Entwicklungsmoment eingeführt ist, durch die Zeiten führt.60 Mit dem historiographisch-dynamischen Aspekt schließt Herder an eine Richtung der Anthropologie des 18. Jahrhunderts an, die auch seine Geschichtsphilosophie aus Auch eine Philosophie zur Geschichte der Bildung der Menschheit prägt. Auch diese Thematik stößt auf theologisch motivierte Widerstände.61 Charakteristisch ist aber bei Herder, daß er die naturwissenschaftliche Wende zur Neuzeit begrifflich

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lac entwirft eine Hierarchie der Sinne. Vgl. Condillac: Abhandlung, S. 213ff. Vgl. Proß: Herder, S. 1166, Adler: Prägnanz, S. 103ff. Vgl. Adler: Prägnanz, S. 119. Vgl. Proß: Herder, S. 1130. Vgl. Garber: Von der ‚Geschichte der Menschheit‘, S. 32. Vgl. Jörn Garber: Selbstreferenz und Objektivität: Organisationsmodelle von Menschheits- und Weltgeschichte in der deutschen Spätaufklärung, in: Hans Erich Bödeker / Peter Hanns Reill / Jürgen Schlumbohm (Hg.): Wissenschaft als kulturelle Praxis, 1750–1900. Göttingen 1999, 137–185, hier S. 175. Nisbet identifiziert in Herders Ideen Elemente der physischen und philosophischen Anthropologie sowie der Ethnologie. Vgl. Hugh Barr Nisbet: Herders anthropologische Anschauungen in den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, in: Jürgen Barkhoff / Eda Sagarra (Hg.): Anthropologie und Literatur um 1800. München 1992, 1–23, hier S. 2. Vgl. exemplarisch Johann Jakob Engel: Traum des Galilei, in: J. J. Engel’s Schriften. Bd. 1. Der Philosoph für die Welt. 1.Th. Berlin 1801, 239–258.

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mit der angestrebten Reduktion der Philosophie auf Anthropologie parallelisiert.62 Auch auf semantischer Ebene gleichen sich demnach Argumentationsfiguren von naturwissenschaftlichem und anthropologischem Diskurs an. In engem Zusammenhang mit den Folgen der Kopernikanischen Wende steht ein viertes Thema der Anthropologie: die Stellung des Menschen im Gesamt der Lebewesen, die durch die intensivierte Naturforschung erneut virulent wird. Wolfgang Proß weist darauf hin, daß der Ursprung anthropologischer Konjunkturen, die Natur und Geschichte verbinden, in der durch die Parallelität von naturwissenschaftlicher Entdeckung und Säkularisierung geförderten Einsicht liege, daß der Mensch am Rande der physikalischen Welt, aber im Zentrum des geistigen Lebens steht.63 Die Forschung hat die Wirkung insbesondere der sich rapide entwickelnden Naturwissenschaft auf die Literatur bereits seit einiger Zeit wahrgenommen,64 allerdings liegt bisher keine Gesamtschau vor, die aufzeigt, an welcher Systemstelle anthropologische Argumente im Zusammenhang Natur – Literatur auftreten. Grundlage dieses anthropologischen Themas ist die Einsicht, daß der Mensch prozessual und systemisch in die Natur eingebunden ist und denselben Entwicklungen und Regelhaftigkeiten unterliegt wie alle anderen Objekte der Natur.65 Die Naturgeschichte des Menschen untersucht mithin genuin „anthropologische“ Fragestellungen (vice versa: Die Anthropologie untersucht naturgeschichtliche Fragestellungen).66 Diese Natur-Einbindung wiederum wird erst durch den Wechsel von 62

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Vgl. Proß: Herder, S. 1133f., Johann Gottfried Herder: Wie die Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner und nützlicher werden kann, in: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 1. Frühe Schriften. 1764–1772. Hg. Ulrich Gaier. Frankfurt/M. 1985, 101–134, hier S. 103: „Philosophie wird auf Anthropologie zurückgezogen“, S. 132: „Einziehung der Philosophie auf Anthropologie“. Vgl. Proß: Herder, S. 1133. Vgl. exemplarisch Karl Richter: Literatur und Naturwissenschaft: eine Studie zur Lyrik der Aufklärung. München 1972; Monika Ammermann: Gemeines Leben. Gewandelter Naturbegriff und literarische Spätaufklärung. Lichtenberg, Wezel, Garve. Bonn 1978. Ammermann stellt den Zusammenhang der anthropologisch begründeten Naturdiskussion mit literarischen Formen dar. Sie bezieht den gewandelten Naturbegriff auf die Literatur der Spätaufklärung. Vgl. auch Riedel: Anthropologie und Literatur, S. 133ff. Vgl. Riedel: Anthropologie und Literatur, S. 107ff. Angesichts dieser wissensgeschichtlichen Überschneidung kann kaum davon gesprochen werden, die Anthropozentrik der Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts habe eine eigenständige Anthropologie verhindert. Vgl. hierzu Wolf Lepenies: Naturgeschichte und Anthropologie im 18. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 231 (1980), 21–41, hier S. 22. Mir scheint vielmehr das rapide Anwachsen kaum mehr überschaubaren Detailwissens das anspruchsvolle Projekt einer Einheitswissenschaft „Anthropologie“ noch vor dessen institutioneller Verankerung unmöglich gemacht zu haben. Denn die neuen Wissensbestandteile ordnen sich zunächst im jeweils kleinsten gemeinsamen Nenner: einer möglichst empirienah bestimmten Disziplinendifferenzierung, die selbst wieder problematisch wird. Daß ausgerechnet die Metaphysik wieder zum „Fluchtpunkt“ der Anthropologie wird, ist angesichts der Ausdifferenzierung empirischer Einzelzugänge unwahrscheinlich: Vgl. Helmut Pfotenhauer: Anthropologie, Transzendentalphilosophie, Klassizismus. Begründungen des Ästhetischen bei Schiller, Herder und Kant, in: Jürgen Barkhoff / Eda Sagarra (Hg.): Anthropologie und Literatur um 1800. München 1992, 72–97, hier S. 79f. Vgl. zur Problematik der „Zerstörung“ der Anthropologie als „Einheitswis-

der normativen Funktion des Naturbegriffs, die an theologisch-ethische Vorstellungen gebunden blieb, zu einer emanzipatorischen möglich, die in neuen Dichotomien das Verhältnis von Natur, Geschichte und Kultur bestimmt.67 An diese Neukonturierung des Naturbegriffs schließen sich weiterführende Fragen an: Ist das Commercium charakteristisch nur für den Menschen? Welche Position kann der Mensch in der Welt einnehmen in Abgrenzung zu Tieren und Engeln?68 Funktional erscheint hier der neu reflektierte und dynamisierte Gedanke der chain of being.69 Schon Montesquieu hatte die Notwendigkeit proklamiert, die Umwelt zu studieren, um den Menschen zu verstehen, da dieser zum großen Teil von exogenen Faktoren abhängig sei.70 Buffon fokussiert die Wechselbeziehungen von Mensch und „milieu“ in anthropogenetischen und biologisch-klassifikatorischen Fragen, bleibt aber der These der Sonderstellung des Menschen nahe, indem er den „homme moral“ als Unterscheidungsmerkmal einführt.71 Auch Linnés vermeintlich rein strukturale Klassifizierung beruht auf sozialanthropologischen Analogien.72 Wilhelm von Humboldt integriert systematisch die Untersuchung des Menschen in die der Natur. Da der Mensch der Natur (wie auch der Kultur und Idealität) zugehört, tragen naturwissenschaftliches Wissen um die Stellung des Menschen in der Natur und naturwissenschaftlich-empirische Methoden zur Anthropologie bei. Denn die naturhistorische Klassifizierung des Menschengeschlechts als Teilbereich anthropologischen Vorgehens dient dem Ideal des individuellen und sozialen Men-

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senschaft“ überzeugender: Hartmut Böhme: Einführung, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart / Weimar 1994, 139– 144, hier S. 139f. Vgl. Ammermann: Gemeines Leben, S. 14f., 24ff. Für Ammermann ist eine strikte Trennung problematisch. Ergänzend führt sie daher einen „ambivalenten“ Naturbegriff ein. Platner führt im Eingang seiner Anthropologie Unterschiede von Mensch, Tier und Pflanze ein. Vgl. Platner: Anthropologie, S. 4. In diesem Zusammenhang wird die Frage, ob Tiere eine Seele haben, intensiv diskutiert. Vgl. Krauss: Zur Anthropologie, S. 136ff. Vgl. Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Frankfurt/M. 1993, S. 221ff. Vgl. zu Montesquieus und Lamarcks „milieu“ Moravia: Enlightenment and the Sciences of Man, S. 255. Vgl. Moravia: Beobachtende Vernunft, S. 31ff., Lepenies: Naturgeschichte und Anthropologie, S. 23f. Lepenies verbindet den Verlust der Sonderstellung des Menschen mit Entmoralisierung und Historisierung. Vgl. Wolf Lepenies: Historisierung der Natur und Entmoralisierung der Wissenschaften seit dem 18. Jahrhundert, in: ders.: Gefährliche Wahlverwandtschaften. Essays zur Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart 1989, 7–38, hier S. 10, 16f., 28. Dougherty führt die Begründung der Sonderstellung des Menschen bei Buffon auf den Versuch zurück, das metaphysisch-theologische Menschenbild in ein humanistisch begründetes Ideal umzuwandeln. Dies scheint mir zu weit zu führen. Vgl. Frank W. P. Dougherty: Buffons Bedeutung für die Entwicklung des anthropologischen Denkens im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Gunter Mann / Franz Dumont (Hg.): Die Natur des Menschen. Probleme der Physischen Anthropologie und Rassenkunde (1750–1850). Stuttgart / New York 1990, 221–279, hier S. 223. Bei Condillac wird „Reflexion“ distinktiv. Vgl. Proß: Herder, S. 1150f. Vgl. Lepenies: Naturgeschichte und Anthropologie, S. 25. Vgl. zur Vergleichbarkeit der Linnéschen Beschreibungsvariablen mit Buffon Foucault: Ordnung der Dinge, S. 176ff.

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schen. Die vergleichende Anthropologie Humboldts ist ein „Zweig der philosophisch-praktischen Menschenkenntniss“.73 Wie die kosmologische Perspektive stößt auch die naturbezogene auf theologische wie philosophische Widerstände: Obwohl pantheistische Modelle Gott als Teil der Natur einbeziehen, wenn sie die Natur aufwerten, bedeuten auch sie eine Befreiung vom dogmatischen Anspruch der Theologie, wie die Reaktionen auf den Verdacht des Spinozismus nur zu gut zeigen.74 Droht nicht die Perfektiblität des Menschen (oder der Schöpfung schlechthin), die teleologisch auf Gottähnlichkeit ausgerichtet werden konnte, verloren zu gehen?75 Muß der Körper nicht als scriptura dei gelesen werden, und verbietet dies nicht seine Integration in einen Naturzusammenhang? Begibt man sich nicht der Autonomie der Vernunft, setzt man einen substantialistischen Seelenbegriff voraus?76 Die Fragestellungen zur Position des Menschen kumulieren in der ideologisch belasteteten Frage nach der Sonderstellung des Menschen im Universum und gegenüber den anderen Lebewesen, eine Frage, die wiederum zurückgeht auf die Rezeption von Ciceros scientia humanitatis einschließlich der Idee der dignitatis hominis in der Renaissance.77 Ein fünftes anthropologisches Thema umfaßt ethnographische Fragen der Entwicklung des Menschen und der aktuellen Varianz (also etwa den Versuch, verschiedene Menschenrassen zu unterscheiden). Die Bestimmung der Merkmale und Verschiedenheiten der menschlichen Gattung wird in der Deutschen Encyclopaedie als elementarer Bestandteil der allgemeinen Anthropologie definiert.78 Hier profitiert die deutsche Anthropologie wesentlich von Anregungen aus Frankreich, die dort letztlich in die Gründung der ethnologisch orientierten „Societé des Observateurs de l’Homme“ münden.79 Die räumlich geordnete Untersuchung der Rassen der Menschen verbindet sich mit klimatheoretischen Reflexionen oder mit der historischen Perspektive, die Frühformen der Menschheit in der Gegenwart auf der Erdoberfläche situiert.80 Neben der Rezeption Buffons war vor allem Johann 73 74 75

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Vgl. Wilhelm von Humboldt: Plan einer vergleichenden Anthropologie, in: Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften. Bd. I. Akademieausgabe. Berlin 1903, 377–410, hier S. 391. Vgl. Proß: Herder, S. 1130f., Kondylis: Aufklärung, S. 125f. An Versuchen, Perfektibilität und Entwicklung der Arten zu integrieren, mangelt es nicht. Bonnet konstatiert einen Fortschritt aller Arten, der die Beziehungen zwischen diesen unangetastet läßt. Die Zeitabfolge kann aber auch nur als Linie gesehen werden, entlang der alle Werte der im voraus erstellten Variablen folgen. Vgl. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 196, 199. Vgl. Riedel: Anthropologie und Literatur, S. 110. Vgl. Riedel: Weltweisheit, S. 422f. Vgl. Linden: Untersuchungen, S. 105. Vgl. Moravia: Beobachtende Vernunft, S. 8. Entscheidend für die „Societé“ wird, daß der Vorrang der empirischen Beobachtung mit dem Ziel, die menschliche Natur „ganz“ zu beobachten und so eine Naturgeschichte des Menschen zu eruieren, programmatisch verbunden wird; vgl. ebd., S. 64f., 66f. Vgl. auch Krauss: Zur Anthropologie, S. 9. Für Lepenies ist der historische Aspekt entscheidend für die Ausbildung der Ethnologie als eigenständiges Fach: Erst mit der Akzeptierung einer Entwicklungsgeschichte, die aus den Wilden die zeitgenössischen Vorfahren der „Zivilisierten“ machte, sei die Ethnologie zur wissenschaftlichen Disziplin geworden. Vgl. Lepenies: Naturgeschichte und Anthropologie, S. 38.

Friedrich Blumenbach für den deutschen Sprachraum entscheidend, dem es gelang, den Zwiespalt von teleologischer und physiko-mechanischer Kausalität in der Naturgeschichte zu überwinden.81 Historisch orientiert ist das sechste Thema der Anthropologie des 18. Jahrhunderts: Die Anthropologie entwirft eine Theorie der „Cultur des menschlichen Geschlechts“ auf der Grundlage der Untersuchung ihrer Gegenstände „in der Zeit“. Das Studium des Menschen „in der Geschichte“ gilt bei Johann Georg Feder nicht nur als methodischer Zugang, sondern auch als thematische Erweiterung der anthropologischen Aufgaben.82 Die Anthropologie wird dabei aufgelöst in eine Kulturgeschichte der Menschheit oder genauer: der menschlichen Gattung.83 Isaak Iselins Über die Geschichte der Menschheit kann als prototypisch für dieses anthropologische Thema gelten. Denn Iselin geht von der psychologischen Konstitution des Menschen aus, die er zur Grundlage seiner Geschichtskonstruktion macht. Er projiziert das Paradigma der Psychologie auf das Syntagma der Geschichte.84 Auch Karl Franz von Irwing identifiziert emotive Faktoren als Antriebe für kulturelle Weiterentwicklungen im historischen Prozeß.85 Die Perspektive des in der Geschichte stehenden Menschen verbindet sich mit der der Erdfläche, also der räumlichen Verteilung der historischen und gegenwärtigen Varianten.86 Dieses anthropologische Thema indes verliert immer dann an Relevanz, wenn die Einheit

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Die Klimatheorie ist vor-aufklärerischen Ursprungs, in der deutschen Aufklärung aber vor allem im Zuge der Montesquieu-Rezeption wirksam geworden. Vgl. Helmuth Kiesel: Das nationale Klima. Zur Entwicklung und Bedeutung eines ethnographischen Topos von der Renaissance bis zur Aufklärung, in: Conrad Wiedemann (Hg.): Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen. Stuttgart 1988, 123–134. Vgl. zu Montesquieu Robert Shackleton: The Evolution of Montesquieu’s Theory of Climate, in: Revue Internationale de Philosophie 9 (1955), 317–329. Vgl. Dougherty: Buffons Bedeutung, S. 233f. Vgl. Johann Georg Heinrich Feder: Grundriß der philosophischen Wissenschaften nebst der nöthigen Geschichte zum Gebrauch seiner Zuhörer. Coburg 21769, S. 117; vgl. Linden: Untersuchungen, S. 41. Vgl. Garber: Von der ‚Geschichte des Menschen‘, S. 30f. Vgl. Adler: Prägnanz, S. 151f. Vgl. Karl Franz von Irwing: Erfahrungen und Untersuchungen über den Menschen, Bd. 3. Berlin 1779, S. 238f. Hinweis bei Heinz: Wissen vom Menschen, S. 110. Vgl. Linden: Untersuchungen, S. 129 mit Hinweis auf: Johann Ith: Versuch einer Anthropologie oder Philosophie des Menschen nach seinen körperlichen Anlagen. Bd. I. Bern 1794. Iselins Konzept wirkt u.a. auch auf Johann Gottlieb Steeb: Über den Menschen nach den hauptsächlichsten Anlagen in seiner Natur. 3 Bde. Tübingen 1785, S. VIIIf., der kulturelle und historische Aspekte, ähnlich wie Wezel, in einem weiteren Maße zu integrieren sucht. Vgl. Heinz: Wissen vom Menschen, S. 37, 106f. Vgl. zu Iselin Ulrich ImHof: Isaak Iselin. Sein Leben und die Entwicklung seines Denkens bis zur Abfassung der „Geschichte der Menschheit“ von 1764. Bd. 1. Isaak Iselins Leben und Bildungsgang bis 1764. Basel 1947, Bd. 2. Iselins Stellung in der Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. Basel 1947; ders.: Isaak Iselin und die Spätaufklärung. Bern / München 1967.

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von Mensch und Natur zugunsten jeweils getrennter Geschichten aufgehoben wird.87 Auf der Ebene der Individualentwicklung entstehen als siebentes anthropologisches Thema Beschreibungsmuster für Einzelbiographien, die allerdings oft, wie überwiegend bei Karl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, im krankheitsbezogenen Einzelfall oder in deren Summierung verbleiben.88 Diesen Aspekt allerdings mit der Anthropologie – und sei es nur der 1770er oder 80er Jahre – zu identifizieren,89 hieße, eine didaktisch und methodisch motivierte Auswahl aus literarhistorischer Perspektive zum Ganzen zu erheben. Dieses Themengebiet wird im Zuge der Rezeption von Moritz’ „Erfahrungsseelenkunde“ bald weniger als ein genuin „anthropologisches“ verstanden, sondern der sich neu aufstellenden Psychologie zugerechnet. Ein achtes Thema schließlich führt ältere begriffliche Prägungen weiter. Die theologische Diskussion um die Bestimmung des Menschen war schon vor der Aufklärung eine der ‚anthropologischen‘ Fragen. Wie Adler vermutet, dürfte der Erfolg von Johann Joachim Spaldings Bestimmung des Menschen nicht zuletzt auf eine „Verquickung von Anthropologie und Religion“ zurückzuführen sein, die Säkularisierungstendenzen behutsam entgegenkam.90 Der Weg von der theologischen zur sozialen und philosophischen Anthropologie sei durch Verschiebung der Akzentsetzungen, weniger durch Brüche gekennzeichnet.91 Spaldings neologische Programmschrift92 rief eine Reihe von theologisch konnotierten Diskussionsbeiträgen hervor, von denen die beiden Abhandlungen Thomas Abbts und Moses Mendelssohns (und die Kommentare Mendelssohns zur Edition des gemeinsamen Briefwechsels) wohl am breitesten rezipiert wurden.93 Die Frage der Perfektibilität des Menschen, die sich in diesen Zusammenhängen stellt, kann auch über die theologische Konnotation der Entwicklung zum Besten hin hinausgehen, wenn die Perfektibilität als Charakteristikum des Menschen überhaupt identifiziert wird (ohne daß dieser a priori die göttliche Ordnung als Zielvorstellung inhärent wäre: 87

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Vgl. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 442. Foucault sieht dies schon am Anfang des 19. Jahrhunderts. Dagegen spricht die Integration von Natur, Geschichte, Einzelmensch und „Volk“ in der romantischen Naturforschung. Vgl. Sauder: Empfindsamkeit, S. 121f., zur Devianz: Schings: Melancholie, S. 30. So tendenziell Schings: Melancholie, S. 37ff. Daß Pfotenhauer seine Arbeit über „Selbstbiographien und ihre Geschichte“ Literarische Anthropologie nennt, ist mißverständlich. Vgl. Hans Adler: Die Bestimmung des Menschen. Spaldings Schrift als Ausgangspunkt einer offenen Anthropologie, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 18 (1994), 125–137, hier S. 130. Vgl. ebd., S. 134. Johann Joachim Spalding: [Betrachtung] über die Bestimmung des Menschen, erstmals o. O. 1748. Bis 1794 erscheinen 13, ständig erweiterte und geänderte Auflagen. Vgl. Thomas Abbt: Zweifel über die Bestimmung des Menschen, in: Mendelssohn. JubA 6,1, 7–18; Moses Mendelssohn: Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend. Gedruckt zu Schinznach, 1763, ebd., 18–25. Vgl. zur Rezeption insgesamt Giuseppe d’Alessandro: Die Wiederkehr eines Leitworts. Die „Bestimmung des Menschen“ als theologische, anthropologische und geschichtsphilosophische Frage der deutschen Spätaufklärung, in: Aufklärung 11,1 (1996), 21–47.

an ihre Stelle kann gegen Ende des Jahrhunderts das Humanitätsideal treten).94 Aber auch die Moralisierung der anthropologischen Erkenntnisziele in popularphilosophischen Texten (als Frage, wonach der Mensch streben solle) gründet auf der Perfektibilitätsidee. Die Textsorte „Anthropologie“ fokussiert selten alle genannten Aspekte. Sie zeichnet sich vielmehr dadurch aus, daß sie auch den natürlichen Anfang, die Konstitution und geschichtliche Entwicklung einzelner menschlicher Fähigkeiten, wie z.B. Sprache,95 Geschichte des menschlichen Verstandes oder die Geschlechterdifferenz in den Blick nimmt. Innerhalb der Textsorte „Anthropologie“ bilden sich jeweils spezifische thematische Mischungen aus. Als Beitrag zur Anthropologie können (da Gattungen und Genres auf Selbst- oder Fremdzuweisungen zurückgehen) auch Texte verstanden werden, die sich lediglich mit Teilaspekten beschäftigen. Jörn Garber sieht als Kennzeichen der Entwicklung der Anthropologie, daß die Handlungskontexte des Menschen im letzten Drittel des Jahrhunderts in die Gattung integriert würden. Er führt Peter Villaumes Geschichte des Menschen als Kompendium der anthropologischen Einzeltopoi an.96 Als „anthropologisch“ kann allerdings im späten 18. Jahrhundert jedes dieser Einzelthemen identifiziert werden. Die Anthropologie der Spätaufklärung stellt sich als Verbindung vieler Einzelthemen dar, als eine Summe (manches Mal auch als eine Quersumme) aus Psychologie, Metaphysik, Ethik, Medizin und Physiologie, als Überlagerung verschiedenster disziplinärer und (noch) nicht disziplinär gebundener Diskurse.97 Mit der Reihung dieser Fragestellungen, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts alle (wenn auch selten zugleich) als anthropologische betrachtet wurden, soll nicht die Anthropologie des 18. Jahrhunderts ahistorisch systematisiert werden. Es sollen viel94 95

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Vgl. Ith: Versuch, S. 76, Linden: Untersuchungen, S. 127, Heinz: Wissen vom Menschen, S. 73f. Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München 2002, S. 75, sieht dies fälschlicherweise als einziges Thema der Anthropologie. Vgl. u.a. Gerda Haßler: Sprachursprungsdebatte und anthropologische Horizonte der Aufklärung, in: Lothar Bornscheuer / Herbert Kaiser / Jens Kulenkampff (Hg.): Glaube, Kritik, Phantasie. Europäische Aufklärung in Religion und Politik, Wissenschaft und Literatur. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern u.a. 1993, 49– 66; Cordula Neis: Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts. Die Berliner Preisfrage nach dem Ursprung der Sprache (1771). Berlin 2003. Peter Villaume: Geschichte des Menschen. Dessau / Leipzig 1783. Vgl. Jörn Garber: Von der ‚Geschichte des Menschen‘, S. 33f., ders.: Selbstreferenz, S. 149. Zur Identifizierung von „Geschichte der Menschheit“ und „Wissenschaft vom Menschen“ vgl. bereits Felix Günther: Die Wissenschaft vom Menschen. Ein Beitrag zum deutschen Geistesleben im Zeitalter des Rationalismus mit besonderer Rücksicht auf die Entwickelung der deutschen Geschichtsphilosophie im 18. Jahrhundert. Gotha 1906, S. 24. Dieser Wissenschaft vom Menschen ordnet Günther ein breites Feld „neuerer“ Disziplinen zu: Psychologie, Anthropologie, Ethnographie, Ethnologie, Geschichte im allgemeinsten Sinne, Kulturgeschichte, Staatswissenschaften, Geschichte einzelner Wissenschaften und Geschichtsphilosophie. Diese Aufzählung stellt zwar die Vielfalt der Zugänge des 18. Jahrhunderts dar, doch kann die Binnendifferenzierung der Disziplinen des frühen 20. Jahrhunderts nicht zeitlich rückgewandt übertragen werden. Vgl. Košenina: Anthropologie, S. 9 et passim.

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mehr lediglich Themen- und Arbeitsbereiche in historischer Analyse identifiziert werden, die in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts die Position der Anthropologie in der zeitgenössischen Wissensmatrix bestimmten. Das Themenspektrum dessen, was als anthropologische Fragestellung angesehen werden konnte, erweiterte sich mithin im 18. Jahrhundert in mehrere Richtungen: durch die Einbeziehung „natürlicher“ und kosmologischer „Umweltfaktoren“, durch die Registrierung der gattungs- oder artspezifischen Unterschiedlichkeiten des Menschen im Gefolge der beginnenden ethnographischen Forschung, durch die Historisierung des Menschenbildes und nicht zuletzt auch durch die verstärkt wahrgenommene Dualität von Individuum und Gesellschaft, die eine Analyse der physischen Konstitution nur des Einzelmenschen als defizitär erscheinen ließ. Aber auch die Aspekte „traditioneller“ (gar antiker) Anthropologie rückten wieder verstärkt in den Blickpunkt der öffentlichen Diskussion, ohne daß damit bei jedem Versuch auch neue Fragen gestellt wurden. Daß die Anthropologie und die sich ausdifferenzierende Psychologie sich aufgrund des Anspruchs der Philosophie auf die nicht-rationalen Bereiche des Menschen konzentrierten und somit das Anthropologieverständnis eher verengt (dadurch aber wirksam) werde,98 kennzeichnet nur einen Teilbereich der Anthropologieentwicklung. Generell aber erlangen diese Fragen von der Jahrhundertmitte an in Deutschland eine neue Konjunktur.99 Doch nicht zu allen Fragen fand man inhaltlich neue Lösungen. Philosophiehistorisch findet man auch schon vor 1750 gelegentlich Themen des anthropologischen Spektrums „wahr“ beantwortet. Medizinhistorisch basiert die Entwicklung, vor allem in der ersten Jahrhunderthälfte, auf medizinischen Thesen des 17. Jahrhunderts, die nun empirisch erprobt und im Gefolge variiert wurden.100 Entscheidend für die Episteme der Aufklärung wird die Präsenz dieser im zeitgenössischen Verständnis anthropologischen Fragen ab der Jahrhundertmitte.101

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So Heinz: Wissen vom Menschen, S. 76. Pfotenhauer betont, daß der anthropologische Anspruch im 18. Jahrhundert selbstverständlich geworden sei und sich durchgesetzt habe. Vgl. Pfotenhauer: Literarische Anthropologie, S. 4. Lavagno spricht gar von einer „Anthropologisierung des Denkens“. Vgl. Christian Lavagno: Die Aufklärung im anthropologischen Schlummer, in: Wolfgang Klein / Waltraud NeumannBeyer (Hg.): Nach der Aufklärung? Beiträge zum Diskurs der Kulturwissenschaften. Berlin 1995, 221–230, hier S. 226. 100 Vgl. Moravia: From Homme machine to Homme sensible, S. 47f. 101 Eberhard konstatiert schon 1776, die Weltweisheit sei „aus dem Himmel der Schulen“ herabgezogen und in die „menschliche Gesellschaft“ eingeführt worden, indem sich Philosophen mit den „Empfindungen der menschlichen Seele“ beschäftigten. Vgl. Johann August Eberhard: Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens. Berlin 1776, S. 4. Vgl. hierzu Proß: Herder, S. 1128f. Die Voraussetzungen der generellen Hinwendung zur Anthropologie fassen konzise zusammen: Wilhelm Schmidt-Biggemann / Ralph Häfner: Richtungen und Tendenzen in der deutschen Aufklärungsforschung, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 19,2 (1995), 163–171, hier S. 168. Im Unterschied zur Forschungslage der 1990er Jahre wird diese Entwicklung hier nicht „anthropologische Wende“ genannt. S.u. S. 68!

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Diese Konjunktur verdankt sich nicht nur der spezifischen Situation im deutschsprachigen Raum, die sich selbst als lokal und regional differenziert erweist, sondern vor allem auch der unterschiedlichen Rezeption außerdeutscher Entwicklungen: Der französische Materialismus der 1750er und 60er Jahre wurde überwiegend als zu weit gehend empfunden, obwohl inhaltlich eine hohe Affinität zwischen influxionistischer deutscher Anthropologie und französischem physiologischen Materialismus bestand.102 Doch der Materialismus war atheistisch konnotiert, was den Positionen der meisten deutschen ‚Anthropologen‘ widersprach. Schon in Meiers und Langes Wochenschrift Der Mensch wird der Materialismus La Mettriescher Prägung aus theologischen Gründen abgelehnt.103 Auch Boureau-Deslandes’ sensualistische Variante des Ovidschen Pygmalion-Mythos gilt als theologisch inakzeptabel und fordert Bodmers Entgegnung.104 Johann Christoph Gottsched versieht die Übersetzung von Helvétius’ De l’esprit mit einem kritischen Vorwort, das „dem darinn enthaltenen Gifte gleich ein Gegengifte“ beifügen solle.105 Obwohl Haller sich dezidiert gegen La Mettrie wendet,106 bleibt die Wahrnehmung Hallers durch die Anthropologen nicht unbeeindruckt: Platner setzt sich in seiner Neuen Anthropologie von Hallers Reizphysiologie deutlich ab, um jeglichem Verdacht zu entgehen, er neige zu französisierendem Materialismus.107 Noch in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts also, aber auch noch verstärkt durch die konservative Revolutionskritik, waren materialistische Positionen in Deutschland suspekt.108 Der englisch-schottische Empirismus Lockescher, aber vor allem auch Humescher Prägung erlangte hingegen spätestens ab den 70er Jahren verstärkte

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Vgl. Riedel: Anthropologie und Literatur, S. 109. Vgl. Der Mensch, T. 2 (1751), 49.St., S. 48. Vgl. André-François Boureau-Deslandes: Pigmalion, Oder Die belebte Statue. Hamburg 1748 (11742, frz.); Johann Jacob Bodmer: Pygmalion und Elise, in: ders.: Neue Erzählungen verschiedener Verfasser. Frankfurt / Leipzig 1747; Proß: Herder, S. 1146f. 105 Vgl. [Claude Adrien Helvétius:] Discurs über den Geist des Menschen. Aus dem Frz. des Herrn Helvetius […] Mit einer Vorrede Joh. Christoph Gottscheds. Leipzig / Liegnitz 1760, unpag. Vorrede [S. 9]. Die Übersetzung stammt von Johann Gabriel Forkert. 106 Vgl. Karl S. Guthke: Haller, La Mettrie und die anonyme Schrift „L’homme plus que machine“, in: ders.: Wege zur Literatur. Studien zur deutschen Dichtungs- und Geistesgeschichte. Bern / München 1967, 9–15, Horst Thomé: Roman und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Vorgeschichte der deutschen Klassik. Frankfurt a.M. / Bern / Las Vegas 1978, S. 171f. Auch die Auseinandersetzung mit Buffon führt Haller mit dem physiko-theologischen Argument des „göttlichen Werkmeisters“. Vgl. Schneider: Komplexere Ordnung, S. 130f. 107 Vgl. Heinz: Wissen vom Menschen, S. 38f. Dennoch aber wird die Reizphysiologie, da sie auf empirischen Beobachtungen beruht, positiv rezipiert. Vgl. u.a. Platner: Anthropologie, § 223f., S. 63f. 108 Heinz sieht eine „Hochzeit“ materialistischer Anthropologien in den 1780er Jahren. Vgl. Heinz: Wissen vom Menschen, S. 36ff. Deutsche „Materialisten“ erweisen sich meist als vermittelnder als ihre französischen Vorbilder. Auch Bezold: Popularphilosophie, S. 125f., weist auf Michael Hißmann hin, nicht ohne zutreffend zu bemerken, Hißmanns monistische Lösung sei kein anthropologischer common sense.

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Bedeutung.109 Locke wirkt dabei nicht nur pragmatisch, sondern auch wissenschaftssystematisch anregend: Man konnte sich auf Locke berufen, um den Primat der mathematischen Methode zurückzuweisen, um empirische Beobachtung und empirisch-faktische Beschreibung zu stärken oder um einer (relativen) Pluralisierung kognitiver Strategien das Wort zu reden und Sinnesperzeption als legitimes Erfahrungsmittel zu integrieren.110 Auch die Naturzustandslehre aus Rousseaus Discours sur l’inégalité wirkt nicht nur auf historisierende anthropologische Darstellungen,111 die Naturforschung Buffons und Linnés gibt wesentliche methodische und klassifikatorische Anregungen, medizinische Entdeckungen stammen aus dem größeren europäischen Raum und überschreiten territoriale Grenzen. Im europäischen Vergleich bilden sich auf Ebene der einzelnen Länder unterschiedliche Prägungen aus. In Frankreich stehen sich konkurrierend anthropologische und sozio-politische Modelle gegenüber, in Schottland verbinden sich partiell anthropologische und philosophisch-empirische Modelle. Die Parallelität von Kontinuitäten und Diskontinuitäten auch im Transferprozeß prägt nationale wie europäische Entwicklungen. Anthropologie ist ein europäisches Projekt.

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Daß dennoch die „Verhinderungsgeschichte“ des deutschen Empirismus im 18. Jahrhundert zu schreiben sei, behauptet Kurt Röttgers: J. G. H. Feder – Beitrag zu einer Verhinderungsgeschichte eines deutschen Empirismus, in: Kant-Studien 75 (1984), 420–441, hier S. 421. Vor allem im popularphilosophischen Umfeld wird indes häufig auf Locke Bezug genommen. Die vermutlich erste deutsche Vorlesung über Lockes Essay Concerning Human Understanding hielt Georg Friedrich Meier auf Anordnung Friedrichs II. 1754 in Halle. Vgl. Günter Schenk: Leben und Werk des halleschen Aufklärers Georg Friedrich Meier. Halle 1994, S. 104f. Offensichtlich stieß sie auf sehr geringes Interesse. Vgl. schon Samuel Gotthold Lange: Leben Georg Friedrich Meiers. Halle 1778, S. 38f. Dennoch ging, vermittelt über Meiers Schriften, von dieser Vorlesung ein Anstoß für die Locke-Rezeption der deutschen Spätaufklärung aus. Er wurde v.a. in der Empfindsamkeit wirksam. Vgl. Sauder: Empfindsamkeit, S. 68f. Sauder betont neben Meier die Vorbereitung der Locke-Rezeption durch die Franzosen, durch Brucker und insbesondere die Übersetzungen der zweiten Jahrhunderthälfte. Klaus P. Fischer: John Locke in the German Enlightenment: An Interpretation, in: Journal of the History of Ideas 36 (1975), 431–446 hingegen vertritt die (nur schwach belegte) These, die Stärke der Wolff-Schule und die Rezeption der Franzosen habe die Locke-Wirkung in Deutschland eher behindert. Vgl. zur Rezeption Humes: Günter Gawlick / Lothar Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987. 110 Vgl. Moravia: Enlightenment and the Sciences of Man, S. 248. 111 Vgl. Herbert Jaumann: Rousseau in Deutschland. Forschungsgeschichte und Perspektiven, in: ders. (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Berlin / New York 1994, 1–22. Jaumann sondiert die Rezeption des theoretischen, literarischen und autobiographischen Werks Rousseaus in einem breiten historischen Rahmen. Peters untersucht die Wirkung Rousseaus auf Modelle der Geschichtsschreibung. Vgl. Martin Peters: Möglichkeiten und Grenzen der Rezeption Rousseaus in den deutschen Historiographien. Das Beispiel der Göttinger Professoren August Ludwig (von) Schlözer und Christoph Meiners, in: ebd., 267–289. Rehberg arbeitet u.a. den anthropologischen Anspruch Rousseaus heraus, der empiriegeleitetes Arbeiten impliziere, indem er Anthropologie durch Kulturkritik historisiere. Vgl. Karl-Siegbert Rehberg: Natur und Sachhingabe. Jean-Jacques Rousseau, die Anthropologie und ‚das Politische‘, in: ebd., 221–265. Krauss setzt Rousseaus Discours in den Zusammenhang der ethnologischen Anthropologie. Vgl. Krauss: Zur Anthropologie, S. 58f.

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Die Antworten auf die anthropologischen Fragen präferieren indes gelegentlich trotz aller Rezeptionsprozesse ältere Traditionen gegenüber neueren Ansätzen: Diskussionsbeiträge zum influxus physicus, animae oder idealis zitieren Leibniz und Descartes.112 Das „gesamte anthropologische Programm des 18. Jahrhunderts“ sieht Schings in neuhumanistischen Texten von Chiaramonti und Barclay vorweggenommen.113 Proß fächert in philologisch genauer Detailarbeit eine Vielzahl von Traditionen und Bezügen in Herders anthropologischen Schriften auf und akzentuiert die Radikalisierung der antiken Naturphilosophie als wesentliche Quelle der Anthropologie des 18. Jahrhunderts.114 Am Beispiel Johann Friedrich Abels hat Riedel exemplarisch verdeutlicht, daß sich die Entwicklung der Anthropologie, Popularphilosophie und Eklektik im 18. Jahrhundert Traditionen der Renaissance verdankt, die aufgrund des Traditionsbruchs des 17. Jahrhunderts mit Beginn der Frühaufklärung wiederentdeckt und fruchtbar gemacht werden konnten.115 Ursula Geitner führt an, die Anthropologie variiere den traditionellen Wissensbestand.116 Diese Liste älterer Bezüge ließe sich erweitern. Doch wäre damit der interdiskursive Transfer des anthropologischen Diskurses kaum erklärt. Denn um die Neudiskussion vielfältiger „anthropologischer“ Themen im Diskursgefüge des 18. Jahrhunderts analysieren zu können und nicht bei einer motivischen Auflistung vorgängiger ‚Traditionen‘ stehenzubleiben, muß das Paradigmatische117 des Diskurses der Aufklärung herausgearbeitet werden. Rezeptionsbezogen erweist sich der anthropologische Diskurs als progredierend, inhaltlich allerdings bietet er eine Mischung progredierender und residualer Ele112

Im Anschluß an die postume Veröffentlichung der Nouveaux Essais setzt eine erneute LeibnizRezeption ein. Vgl. Jeffrey Barnouw: The Philosophical Achievement and Historical Significance of Johann Nicolas Tetens, in: Studies in Eighteenth-Century Culture 9 (1979), 301–335, hier S. 305f. Sie konzentriert sich wieder auf die Unterscheidung „klarer“, „verworrener“, „deutlicher“ und „dunkler“ Vorstellungen. Vgl. zur begrifflichen Unterscheidung bei Leibniz: Hans Heinz Holz: Gottfried Wilhelm Leibniz. Frankfurt a.M. / New York 1992, S. 35, Hans Adler: Fundus animae – der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung, in: DVjs 62 (1988), 197–220, hier S. 199f., Catherine J. Minter: „Die Macht der dunklen Ideen“: A Leibnizian theme in German psychology and fiction between the late Enlightenment and Romanticism, in: German Life and Letters 54,2 (2001), 114–136, zur Gnoseologisierung dieser Unterscheidung um die Jahrhundertmitte Adler: Prägnanz, S. 90f. 113 Vgl. Schings: Melancholie, S. 19. 114 Vgl. Proß: Herder, insbes. S. 1157ff. 115 Vgl. Riedel: Weltweisheit, S. 422ff. 116 Vgl. Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992, S. 6f. Geitner konturiert allerdings nicht den anthropologischen Diskurs. 117 Daß im 18. Jahrhundert ein umfassender Paradigmenwechsel stattfindet, daß sich also Innovation durchsetzt und gleichzeitig die Problemkomplexität erhöht wird, scheint in der Dixhuitièmistik mittlerweile unstreitig. Hier wird die These vertreten, daß die anthropologische Wende das entscheidende Signum dieses Paradigmenwechsels ist, daß dieser allerdings nicht als revolutionäre Umwälzung an einen festen Zeitpunkt gebunden werden kann. Vgl. auch Jörn Garber: Die „Schere im Kopf des Autors“. Anthropomorphe Bewußtseinsgrenzen von Erfahrung (Georg Forster), in: Markus Bauer / Thomas Rahn (Hg.): Die Grenze. Begriff und Inszenierung. Berlin 1997, 13–36, hier S. 14.

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mente. Entscheidend ist die Konjunktur der Fragen, entscheidend sind die neuen Antwortmöglichkeiten und -wege. Man könnte als Indiz anführen, wie oft das einschlägige Pope-Motto „The proper study of mankind is man“ zitiert wird.118 Man könnte als Indiz anführen, daß Barthold Hinrich Brockes’ Lyrik, die teilweise die medizinisch-anatomischen Grundlagen der Anthropologie darstellt, ein großer Verkaufserfolg schon in den 1740er Jahren ist. Aus dieser inhaltlichen Wissensdimension heraus geht – das soll noch zur ersten, inhaltlichen Ebene gerechnet werden – eine wissenschaftshistorische Dimension hervor. Die ‚anthropologischen‘ Fragen stammen aus bisher unterschiedlich universitär gebundenen Wissensgebieten, und offensichtlich fühlen sich auch unterschiedliche Wissensgebiete dazu berufen, sie zu beantworten. Zum Problem wird die institutionelle Frage: In welchen Formen und an welchen Fakultäten der Universitäten soll man die anthropologischen Themen behandeln?119 Reicht die bisherige Fachorganisation hierzu aus? Teilweise bilden sich neue Fachbereiche aus. Bereits existente gewinnen neue oder neu zugeschnittene Arbeitsgebiete. Ein praeiudicium nimiae confidentiae im Sinne Christian Wolffs wäre es mithin,120 wenn Wissenschaftler, die in Wissenschaftskategorien zu denken gewohnt sind, auch die Anthropologie des 18. Jahrhunderts in erster Linie als Wissenschaft, als akademisches Fachgebiet, als universitäre Disziplin zu untersuchen trachteten.121 Lepenies weist darauf hin, daß es nicht die eine Anthropologie gebe, die alle Wissenschaften vom Menschen vereinige.122 Doch mit dieser Hypothese bliebe die Perspektive zu beschränkt: Gleich der Ästhetik umfaßt das Spektrum anthropologischen Wissens zum größten und wirksamsten Teil Äußerungsformen, die außerhalb 118

Anthropologie und praktische Philosophie erhielten mit und nach Pope ein größeres Gewicht, meint Ammermann: Gemeines Leben, S. 30. Doch beginnt diese Relevanzsteigerung für Ammermann schon mit Wolff – was begriffs- und diskursgeschichtlich korrigiert werden müßte. Dessen ungeachtet aber ist unstreitig Popes Motto eines der meistzitierten des 18. Jahrhunderts. Es sei exemplarisch nur Lichtenbergs Rezeption angeführt. Vgl. Wolfgang Promies: Georg Christoph Lichtenberg mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt. Reinbek 51999, S. 51. Auf Pope weist auch hin Cassirer: Philosophie der Aufklärung, S. 4. 119 Vgl. Paul Ziche: Anthropologie zwischen Physiologie und Naturphilosophie. Wissenschaftssystematische Aspekte der Fachgebiete Anthropologie und Psychologie um 1800, in: Olaf Breidbach / ders. (Hg.): Naturwissenschaften um 1800. Wissenschaftskultur in Jena – Weimar. Weimar 2001, 96–106, hier S. 96f. 120 Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 163ff., insbes. S. 166. 121 Vgl. Erhart: Nach der Aufklärungsforschung?, S. 106. Legt man, wie Ziche, Stichwehs Kriterien an, kann man von einer Disziplin „Anthropologie“ kaum sprechen. Stichweh stellt dar, daß sich Disziplinen in dem von ihm bestimmten Sinne erst in den Naturwissenschaften am Anfang des 19. Jahrhunderts ausdifferenzieren. Die Nichtübereinstimmung überrascht mithin nicht. Charakteristisch für die Anthropologie vor 1800 ist das Fehlen institutionalisierter Karrieremuster und einer homogenen Kommunikationsstruktur. Auch kann kaum von durchgehend akzeptiertem und repräsentiertem wissenschaftlichen Wissen die Rede sein. Im Falle der Anthropologie scheinen eher Akte der Begründung von Diskursivität in Frage zu stehen. Vgl. Rudolf Stichweh: Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen. Frankfurt/M. 1994, S. 17f.; Ziche: Anthropologie und Psychologie, S. 78. 122 Vgl. Lepenies: Naturgeschichte und Anthropologie, S. 38f.

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des Rahmens universitärer Bindungen entstanden sind. Wie die Ästhetik ist die Anthropologie des 18. Jahrhunderts eine diskursive Praxis, die sich nicht allein in einer Disziplin mit wissenschaftlichem Statut und Anspruch manifestiert.123 Der Bezug der Natur- und Kulturwissenschaften auf die anthropologischen Fragestellungen ermöglicht indes eine grundlegende Neuordnung der Wissenschaftsdisziplinen, ohne daß diese noch auf ein übergreifendes System der Philosophie bezogen bleiben müßten.124 Wo die anthropologische Seelenlehre ihren disziplinären Ort haben solle, wird spätestens in den frühen 1770er Jahren zu einem virulenten Problem, wie etwa Johann August Heinrich Ulrichs Mahnung zeigt: „Für eine erhebliche Lücke dürft es mancher halten, daß der Seelenlehre nirgends ein besonderer Plaz angewisen worden.“125 Platners Versuch, Anthropologie als Einheits- und Verbindungswissenschaft zu konturieren, greift auf seit einigen Jahren diskursinhärente Überlegungen zurück und führt diese weiter.126 Ausdrücklich leitet er sein disziplinäres Konzept aus der inhaltlichen Thesenbildung zur Frage des commercium mentis et corporis ab: „Der Mensch ist weder Körper, noch Seele allein; er ist die Harmonie von beyden, und der Arzt darf sich, wie mir dünkt, eben so wenig auf jene einschränken, als der Moralist auf diese.“127 Anthropologie definiert Platner als Betrachtung von „Körper und Seele in ihren jeweiligen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen“.128 Er setzt sie von Anatomie und Physiologie, die nur die menschliche Maschine ohne die Seele untersuchten, ebenso ab wie von Psychologie, die die Seele allein ohne Mitwirkung des Körpers betrachte.129 Auch Wezel leitet retrospektiv die Aufgabenstellung der Wissenschaft „Anthropologie“ aus dem Verlust der Ganzheit des Menschen ab: Dieses Band zwischen den beiden getrennten Theilen des Menschen wieder anzuknüpfen, war die Absicht einer Wissenschaft, die man Anthropologie nennte, die zwischen dem Geistigen

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Vgl. Foucault: Archäologie des Wissens, S. 253f. Diskursive Formationen führen nicht notwendig zur Konstituierung von Wissenschaften. Vgl. ebd., S. 257. Daher erwiese sich eine Analyse der Anthropologie nur als Wissenschaft auch methodologisch als defizitär. 124 Vgl. Garber: Selbstreferenz, hier S. 139. 125 Ulrich: Erster Umriß, unpag. Vorrede. 126 Platner selbst hatte noch 1770, also zwei Jahre vor Erscheinen seiner Anthropologie, behauptet, es gebe bekanntermaßen einen Zusammenhang der Lehre von der menschlichen Natur mit allen Wissenschaften. Vgl. Ernst Platner: Briefe eines Arztes an seinen Freund über den menschlichen Körper. Bd. 1. Leipzig 1770, [Vorrede] An Herrn Zimmermann, Königlichen Großbrittannischen Leibarzt in Hannover, S. XII. Platners Ausgangspunkt liegt hier nicht in der Frage der Reichweite der Philosophie, sondern in Defiziten der medizinischen Ausbildung. Vgl. ebd., S. VII. Ähnliche Ansätze formulierten die Halleschen „Vernünftigen Ärzte“ Krüger und Unzer bereits 14 bzw. 20 Jahre früher: s.o. S. 44! 127 Platner: Anthropologie, S. IV. 128 Ebd., S. XVII. 129 Ebd., S. XVIIf. Des disziplinbildenden Anspruchs ungeachtet, schreckt Platner davor zurück, seiner Anthropologie Lehrbuchcharakter zuzuschreiben; vgl. ebd., S. XIIIf., XXIV.

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und Körperlichen im Menschen die Gränzen festsetzen und uns belehren sollte, wie viel der Körper zu den Verrichtungen des Geistes beyträgt, und wie dieser Beytrag geschieht.130

Christian Heinrich Schmid räumt, indem er sich gegen Sulzers am Fakultätssystem orientiertes System der Wissenschaften und gegen den enzyklopädischen Baum der Wissenschaften wendet, der Anthropologie als integrative Philosophie des Körpers und der Seele den Vorrang im Wissenschaftssystem ein.131 „Anthropologie“ als psychophysische Naturlehre des Menschen setzt sich dennoch bis weit in die zweite Jahrhunderthälfte wissenschaftssystematisch nicht durch: Haller bestimmt Physiologie unter Rückgriff auf Galen als „Lehre von der Natur des Menschen“.132 Eine Wissenschaft „Anthropologie“ wird an dieser Stelle noch nicht einmal am Rande diskutiert, obwohl Platner sich doch positiv auf philosophische Ärzte wie Boerhaave, Tissot, Zimmermann und selbst Haller bezieht.133 Aber auch die Entwicklung der Psychologie zur eigenständigen Wissenschaft ist sowohl durch ihren Ursprung in einem übergeordneten Verständnis von Anthropologie charakterisiert134 als auch durch die Möglichkeit, sich auf die Wolffsche psychologia empirica zu berufen und die zwischenzeitlichen disziplinären Integrationsversuche, die sich akademisch als gescheitert erwiesen hatten, außer acht zu lassen. Wissenschaftssystematisch profitiert das 18. Jahrhundert von der Aufhebung der Wolffschen Unterordnung der psychologia empirica unter die psychologia rationalis gleich mehrfach: Ästhetik kann als eigenständige Wissenschaft konstituiert werden, die Seelenkunde erhält einen neuen wissenschaftlichen Stellenwert durch die Aufwertung der empirischen Psychologie, und die Anthropologie sucht beide Aspekte systematisch zu integrieren.135 Doch bringt die Wissenschaft vom Menschen, obwohl methodisch und inhaltlich eine Emanzipation aus der metaphysischen Seelenlehre der Schulphilosophie, auch Gegenbewegungen hervor, die der Schulphilosophie wieder näher stehen.136 Funktional konkurriert die Anthropologie 130 131

Wezel: Versuch. 1.Th., S. 11. Diesen Anspruch will Wezel selbst allerdings nicht einlösen. Vgl. Christian Heinrich Schmid: Ueber die Klassifikation und Rangordnung der Wissenschaften, in: Gothaisches Magazin der Künste und Wissenschaften 2 (1777), 231–251, hier S. 236. Vgl. Kallweit: Zur „anthropologischen“ Wende, S. 24ff. Schmids Einstufung zeichnet sich allerdings auch kaum durch begriffliche Klarheit aus. 132 Albrecht von Haller: Grundriß der Physiologie für Vorlesungen. Nach der vierten lat. mit den Verbesserungen und Zusätzen des Herrn Prof. Weisberg in Göttingen, vermehrten Ausg. aufs neue übs., und mit Anm. versehen durch Herrn Hofrath Sömmering in Mainz, mit einigen Anm. begleitet und besorgt von P. F. Meckel. Berlin 1788, S. V. 133 Vgl. Platner: Anthropologie, S. VIIIf. Boerhaaves „Genie“ wird wie Buffon ausdrücklich lobend erwähnt; vgl. ebd., § 735, S. 255. Auch Herder rechnet Zimmermann (zusammen mit Haller und Mead) zu den „Vertraute[n]“ des inneren Menschen, also zu den paradigmatischen Anthropologen. Vgl. Johann Gottfried Herder: Uebers Erkennen und Empfinden der Menschlichen Seele, in: SWS 8, 236–262, hier S. 250. 134 Vgl. Ziche: Anthropologie zwischen Physiologie und Naturphilosophie, S. 96f. 135 Vgl. Riedel: Weltweisheit, S. 431f., Sauder: Empfindsamkeit, S. 107. 136 Vgl. Bezold: Popularphilosophie, S. 11.

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am Jahrhundertende zusätzlich mit der Transzendentalphilosophie und der traditionellen Metaphysik137 – auch dies ein Indiz dafür, daß der philosophische KantPrimat die historische Situation nicht adäquat abzubilden in der Lage ist.138 Die auch in Deutschland virulente Konkurrenz zur entstehenden Ethnologie oder Ethnographie ist von der weitgehend philosophiefokussierten Forschung bisher kaum beachtet worden.139 Auch die Zuordnung anthropologischer Fragestellungen zu Fachbereichen changiert: Georg Friedrich Meier etwa behauptet, Anthropologie werde in allen Metaphysiken behandelt.140 Aber Anthropologie wird auch zum selbständigen Vorlesungsthema. Dabei ist die Zuständigkeit der Fachgebiete ebenso strittig wie das Proklamationsrecht neuer Themen, Fachgebiete und Disziplinen. Kernfragen der Anthropologie können als Teilgebiet der theoretischen wie der praktischen Philosophie, als isolierte Wissenschaft physiologischen, medizinischen oder philosophischen Zuschnitts,141 auch in Form der entstehenden Ethnologie oder anthropologischen Psychologie behandelt werden. Man ignorierte demnach die historische Quellenlage, verstände man die Anthropologie des 18. Jahrhunderts als philosophische Anthropologie (und demnach als alleiniges Aufgabengebiet der Philosophiegeschichte). Denn die Konjunktur anthropologischer Fragestellungen im 18. Jahrhundert trifft auf die Phase der Ausdifferenzierung eines eigenen Sozialsystems „Wissenschaft“ gegen die Philosophie, und sie greift mit dem empiriebasierten Methodeninventar ein Mittel auf, das Wissen für breitere Schichten verspricht.142 Anthropologie steht damit wissenschaftssystemisch wie funktional gegen den konservativen Anspruch der Philosophie, aus der heraus sie disziplinäre Anregungen erhält. Der Versuch, eine neue Disziplin zu begründen, zieht institutionenspezifische Fragen wie die nach der Durchsetzungsfähigkeit nach sich, da insbesondere die Anthropologie im Kreis der Kantianer durch die Kantsche Bevorzugung der prakti-

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Vgl. ebd., S. 94f. Hier wäre Foucault zu widersprechen: Kants Frage „Was ist der Mensch?“ als Initiation anthropologischer Diskussionen im 19. Jahrhundert zu betrachten greift insofern zu kurz, als diese Frage auf den vorgängigen anthropologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts zurückgreift. Vgl. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 410f. Foucault sieht allerdings, daß Kants Frage selbst – auch an ihrem systematischen Ort innerhalb von Kants Philosophie – das Empirische und das Transzendentale zu vermischen droht. 139 Einen lohnenswerten Versuch zur Analyse der naturwissenschaftlichen und ethnographischen Intertexte zu Georg Forsters Schriften unternimmt Tanja van Hoorn: Dem Leibe abgelesen. Georg Forster im Kontext der physischen Anthropologie im 18. Jahrhundert. Tübingen 2004. 140 Der Mensch, T. 2 (1751), 49.St., S. 42. Dennoch aber betont er die Notwendigkeit anthropologischen Forschens. 141 Vgl. (unter Ausschluß der Ethnologie, Theologie und weitgehend der Geschichtswissenschaft) zur Systematik Linden: Untersuchungen. 142 Vgl. Horst-Michael Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand. Zur philosophischen und poetologischen Begründung von Erfahrung und Urteil in der deutschen Aufklärung [...]. München 1982, S. 26.

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schen Philosophie über eine „subalterne“ Stellung nicht hinauskam.143 Während sich im französischen Sprachraum die Bandbreite „anthropologischer“ Wissenschaften zusehends auf die Ethnologie zuspitzt,144 wird die Rezeption der Anthropologie in Deutschland vorwiegend auf der Basis kantscher Prämissen fokussiert. Die Trias von Erfahrungsdruck, Akzeleration der Konzeptbildungen und Ausdifferenzierungen der Wissenschaften verursacht, daß sich in Deutschland eine „Einheitswissenschaft“ Anthropologie nicht konstituieren konnte,145 gleichwohl aber ein anthropologischer Diskurs, der die Topoi aufgreift und zu neuen Argumenten transformiert. Der Diskurswandel des 18. Jahrhunderts erschöpft sich nicht in topologischen und wissenschaftssystematischen Entwürfen. Der Begriff „anthropologische Wende“ soll also hierfür nicht reserviert sein.146 Kriterium für einen umfassenden Paradigmenwandel, wie er ab Mitte des 18. Jahrhunderts stattfindet,147 ist nicht die inhaltliche Progression der Anthropologie. Um einen Wandel der Episteme bewirken zu können, ist es erforderlich, daß neue Diskurse inhaltlich, formal und rezeptionsbezogen progredieren. Anthropologie als thematische Beschäftigung mit dem Menschen ist inhaltlich wenig, formal bestenfalls auf der Ebene der Wissenschaftsgeschichte progredierend zu nennen, und rezeptionsbezogen ist der interdiskursive Wandel auf der inhaltlich-anthropologischen Ebene nicht überzeugend erklärbar.148

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Vgl. Marquard: Anthropologie, Sp. 366. In dieser Hinsicht kann man kaum davon reden, Kant habe dem für wichtig und nützlich erachteten Wissen „das Statut einer neuen akademischen Disziplin“ gegeben. Vgl. Kallweit: Zur „anthropologischen“ Wende, S. 23. Dies verfehlt sowohl Versuche zur Verwissenschaftlichung der Anthropologie vor Kant als auch dessen Reduktionismus. Vgl. Proß: Herder, S. 1132. 144 Vgl. Moravia: Beobachtende Vernunft, S. 14, 20 et passim. 145 Vgl. Böhme: Einführung, S. 139f. 146 In die Irre führt, daß der Begriff „anthropologische“ oder „ethnologische Wende“ gelegentlich zur Bezeichnung einer gegenwärtigen wissenschaftlichen Entwicklung, nämlich der Hinwendung der Kulturwissenschaften zu „anthropologischen“ Fragestellungen, verwendet wird. Vgl. Doris Bachmann-Medick: Einleitung, in: dies. (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt/M. 1995, S. 7–64. Solchen Ansätzen schließe ich mich nicht an. Auch soll „anthropologische Wende“ nicht als wissenschaftsgeschichtliche Bezeichnung der philosophischen Wendung zum Anthropozentrismus verwendet werden, wie von Seifert eingeführt. Vgl. Friedrich Seifert: Zum Verständnis der anthropologischen Wende in der Philosophie, in: Blätter für deutsche Philosophie 8,6 (1934/35), 393–410. 147 Koselleck prägte für diesen Zeitraum den Begriff „Sattelzeit“. Vgl. Koselleck: Einleitung, S. XV et passim. Es bedeutete jedoch eine unzulässige Verkürzung der Wandlungsprozesse des späten 18. Jahrhunderts, reduzierte man diese auf die beschleunigten semantischen Begriffsveränderungen. Politisch-soziale Ursachen des Wandels fokussierte Koselleck schon in Kritik und Krise: Vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt/M. 81997, S. 6ff. Diesen gegenüber soll hier der anthropologische Diskurs als Katalysator der paradigmatischen Veränderungen betont werden. 148 Kondylis führt zwar über die Monokausalität manch philosophischer Aufklärungsbestimmungen hinaus, indem er die Struktur bipolarer Polemik als entscheidenden Antrieb der Aufklärung identifiziert, doch scheitert der Anspruch, eine „überzeugende Erklärung“ der Aufklärung bieten zu können, an der Diskrepanz von Quellenferne und inhaltlicher Argumentation. Vgl. Kondylis: Aufklärung, S. 22, 9, 53.

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Problematisch erscheint mir, daß die Anthropologie-Forschung oft zeitgenössische und Ex-post-Zuschreibungen vermischt, Disziplinen und Diskurse verwechselt, daß sie Begriffs-, Wort- und Diskursgeschichte methodisch ineinander mengt. Doch auch der einfachste Ausweg aus diesem Dilemma, die literarhistorische Aufarbeitung der ersten, inhaltlichen Ebene, führt oft nicht über die Suche nach Motiven hinaus. So gilt für Schings Wielands Don Sylvio als anthropologischer Roman, da der Erzähler offenbar über inhaltlich anthropologisches Wissen verfügt.149 Auch für Jutta Heinz gehört die anthropologische Thematik zum obligatorischen Gattungsmerkmal des anthropologischen Romans. Formal obligatorisch ist nach Heinz eine polyperspektivische Anlage, deren genuin anthropologische Herkunft noch etwas undeutlich bleibt.150 Aber der Gedanke führt in die richtige Richtung: Mit einer rein motivischen Suche nach anthropologischen Schlüsselbegriffen ist es nicht getan. Denn dann isolierte man einzelne Diskurselemente, ohne deren Relationen zu anderen in Betracht zu ziehen.

2.2 Anthropologiebasierte Argumentationsfiguren. Zur Dualität normativer und nicht-normativer Strategien Unmittelbar verbunden mit diesen inhaltlichen Überlegungen entstehen auf einer zweiten Ebene neue Argumentationsfiguren, im konkreten Text manifeste Argumentationsstrategien.151 Können diese als „anthropologische“ bezeichnet werden, obwohl sie über die anthropologische Thematik hinausreichen? Sie resultieren insofern aus der inhaltlich-anthropologischen Ebene, als sie zu dort aufgeworfenen anthropologischen Fragenkomplexen heuristische Lösungswege anbieten. Die textlich manifesten Verfahren der Sensualisierung, Naturalisierung, Historisierung und Empirisierung beruhen auf Fragestellungen, die inhaltlich anthropologischer Art

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Denn dieser kennt sich aus in der „Zergliederung der Empfindungen und Entwicklung der zartesten Triebfedern des menschlichen Herzens“. (Christoph Martin Wieland: Der Sieg der Natur über die Schwämerei oder die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva. Eine Geschichte worin alles Wunderbare natürlich zugeht. Zwei Teile, in: ders.: Werke. Hg. Fritz Martini / Hans Werner Seiffert. Bd. 1. München 1964, S. 268.) Vgl. Hans-Jürgen Schings: Der anthropologische Roman. Seine Entstehung und Krise im Zeitalter der Spätaufklärung, in: Bernhard Fabian / Wilhelm Schmidt-Biggemann / Rudolf Vierhaus (Hg.): Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen. München 1980, S. 247–275, hier S. 254. Bei Wielands Geschichte des Agathon hingegen macht Schings strukturelle Merkmale des Erzählens als anthropologische aus (vgl. ebd., S. 256), um schließlich den „anthropologischen Roman“ wieder als „Roman des Influxus physicus“ zu bestimmen (ebd., S. 267). Diese Unklarheit mindert allerdings den Wert von Schings’ wegweisendem Aufsatz kaum. 150 Vgl. Heinz: Literarische oder historische Anthropologie?, S. 203. Ein isolierter Einzeltopos mache noch keinen anthropologischen Roman. Vgl. Heinz: Wissen vom Menschen, S. 339f. Vgl. zur Kritik Erhart: Nach der Aufklärungsforschung?, S. 116f. 151 Zu Argumentationsstrategien als Kennzeichen der „anthropologischen Wende“ vgl. Garber: Selbstreferenz, v.a. S. 137.

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sind, doch gehen sie über diese hinaus:152 Die ungelöste Frage des „ganzen Menschen“ etwa, die Frage nach der Einheit physischer und sittlicher Bestandteile, erfordert eine Lösungsstrategie, die über das bisherige Methodeninventar hinausreicht, die die Einheit des empirischen, historischen und naturalisierenden Zugriffs auf diese Problematik sichert und sich zugleich der potentiellen Unzulänglichkeit jeder singulären Methodenausprägung bewußt ist.153 In diesem Sinne entsprächen die anthropologiebasierten Argumentationsverfahren dem Modus der Formation von Diskursen: Die inhaltlich-topologische Modifizierung ist, um transdiskursive Reichweite zu gewinnen, auf die Generierung von Formationsregeln angewiesen.154 Anthropologische Wende soll nicht als Kontinuum, sondern als sich fortschreibender Prozeß gedacht werden, der vom veränderten inhaltlich-anthropologischen Meßfeld ausgeht und der wesentliche Bestandteile des Interdiskurses der Spätaufklärung ausmacht. Wenn von der anthropologischen Wende um 1750 gesprochen wird, so verdeutlicht das das textlich manifeste Einsetzen eines Prozesses, in dessen Verlauf sich interdiskursive Argumentationsverfahren entwickeln und in verschiedenste Diskurse eingehen.155 In Hinblick auf das innerhalb der anthropologischen Wende virulente Wissenspotential kann die anthropologische Wende dahingehend präzisiert werden, daß sie vor allem in der Diskussion von Erkenntnisformen und -modellen progredierend wird. Die im folgenden entwickelten Erkenntnismethoden bilden die interdiskursiven Elemente, die aus dem inhaltlich bestimmten anthropologischen Diskurs gewonnen wurden, die nun aber als Argumentationsstrategien in andere Diskurse eingehen. Anthropologiebasierte Erkenntnismethoden sind keine philosophische Erkenntnistheorie. 2.2.1 Sensualisierung: Rehabilitation der Sinne und Affektmanagement Als Rehabilitation der Sinne sollen solche Argumentationsfiguren bestimmt werden, die die Sinne als legitime Entscheidungsinstanz, als Funktion des Erkenntnisgewinns und Wirkinstanz menschlicher Vorgänge einsetzen. Voraussetzung für 152

Luhmanns Nomenklatur „evolutionärer Funktionen“, die die Rolle der Anthropologie für die Entwicklung des Gesellschaftssystems zu beschreiben sucht, finalisiert die Systemrelationen, obwohl er die teleologische Perspektive aufzulösen strebt. Inhaltlich beobachtet Luhmann ganz ähnliche Phänomene. Vgl. Luhmann: Frühneuzeitliche Anthropologie, S. 164, 219. 153 Vgl. Garber: Selbstreferenz, S. 140. 154 Vgl. Foucault: Archäologie, S. 108f. 155 Vgl. Jörn Garber: Utopiekritik und Utopieadaption im Einflußfeld der „anthropologischen Wende“ der europäischen Spätaufklärung, in: Monika Neugebauer-Wölk / Richard Saage (Hg.): Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert. Vom utopischen Systementwurf im Zeitalter der Revolution. Tübingen 1996, 87–114, hier S. 87f. Garber verdeutlicht die Prozessualität des Beschreibungsmusters und arbeitet insbesondere die Rezeption der anthropologischen Argumentationsverfahren im Utopie-Diskurs heraus.

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solche Argumentationsfiguren ist, daß Baumgarten und Meier die Erkenntnishierarchie ergänzen und funktional verändern, indem die cognitio sensitiva nun zur Bedingung der höheren Erkenntnisvermögen wird.156 Mit Affektmanagement werden hingegen Argumentationsfiguren bezeichnet, die davon ausgehen, daß es notwendig sei, die Affekte zu kontrollieren, zu mäßigen, zu modulieren, zu kanalisieren und zu lenken, und die hierfür Strategien und Verfahren vorschlagen.157 Ein Schwerpunkt solcher Argumentationsverfahren liegt in der pädagogisch-philanthropischen Literatur der Spätaufklärung, die von einer Affektmodulierung durch Erziehung ausgeht. Aber auch in Platners Neuer Anthropologie wird das rechte Maß im Verhältnis des Geistigen und des Tierischen als idealer Zustand der menschlichen Seele angesehen.158 Das antike mesotes-Ideal kann dabei in der Popularphilosophie als Folie dienen.159 Argumentationsfiguren, die den Umgang mit den Sinnen betreffen, pauschal mit dem Prädikat „Anti-Intellektualismus“ zu versehen,160 scheint mir zu weit zu gehen: Denn der Verstand bleibt bis weit in die zweite Jahrhunderthälfte – zumindest im deutschsprachigen Diskurs – das weit überwiegende Erkenntnismittel. Affekte und Leidenschaften gelten vielmehr meist als Widerstände der klaren und deutlichen Verstandeserkenntnis, Widerstände, die man noch lange einer rationalen Kontrolle zu unterwerfen beabsichtigte.161 Argumentationsfiguren der Sensualisierung gehen gegen eine solche, oft bloß unterstellte rationale Kontrolle vor, doch müssen sie dazu nicht die Möglichkeiten der Ratio grundsätzlich leugnen. 2.2.2 Naturalisierung und Sozialisierung Mit dem Begriff Naturalisierung bezeichne ich Argumentationsfiguren, die Befunde in der außermenschlichen Natur auf Prozesse des Einzelmenschen oder einer Sozialgruppe übertragen. Die Betonung der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt führte zu der Frage, inwieweit diese Beziehung den Menschen stimuliere und bestimme.162 Voraussetzung ist hierfür meist das anthropologische Faktum der 156

Vgl. Kondylis: Aufklärung, S. 559f. Adler betont zurecht, die „dunkle“ Erkenntnis erhalte bei Meier über die der Grenzbezeichnung hinaus eine neue Funktion. Vgl. Adler: Prägnanz, S. 91. 157 Vgl. Zelle: Sinnlichkeit, S. 23f. 158 Vgl. Ernst Platner: Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Mit besonderer Rücksicht auf Physiologie, Pathologie, Moralphilosophie und Aesthetik. Bd. 1. Leipzig 1790, S. 266. 159 Vgl. Carsten Zelle: Fragen nach der Aufklärung und ihrem Ich in Anthropologie, Literatur und Ästhetik zwischen 1750 und 1800 (Sammelbesprechung), in: Das Achtzehnte Jahrhundert 17,1 (1993), 98–104, hier S. 101. Vgl. Johann Jakob Engel: Die Curmethoden, in: J. J. Engel’s Schriften. Bd. 1. Der Philosoph für die Welt. 1.Th. Berlin 1801, 356–364, hier S. 362. 160 So Garber: Utopiekritik, S. 88f. Garber schließt an Kondylis’ Bestimmung von „Intellektualismus“ an, der als entscheidend für die Aufklärung die Wendung gegen den vorgängigen Intellektualismus (als Symptom, aber nicht als Wesensmerkmal des Rationalismus) ansieht. Vgl. Kondylis: Aufklärung, S. 338 et passim. 161 Vgl. Godel: „Eine unendliche Menge dunkeler Vorstellungen“. 162 Vgl. Moravia: Enlightenment and the Sciences of Man, S. 255.

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Einbindung des Menschen in den großen Zusammenhang der Natur, als Tier unter Tieren (bei allen Unterschieden, die gleichfalls mitgedacht werden). Auch klimatheoretische Vorstellungen generieren diese Argumentationsfolge. Sozialisierung hingegen meint Argumentationsfiguren, die von der Einbindung des Menschen in einen naturgegebenen sozialen Zusammenhang ausgehen. Die Umwelt wird, vorwiegend im Rahmen von Naturrechtsentwürfen, als soziale konstruiert. Diese Argumente gründen auf der These, dem Menschen sei ein Instinktdefizit angeboren. Er sei nicht in der Lage, sich selbst zu erhalten, und daher auf die Verarbeitung der Umstände und die Einbindung in soziale Zusammenhänge angewiesen.163 Sozialisierende Argumentationsfiguren weisen auf die Wirkung der Erziehung und der Gesellschaft auf die menschliche Konstitution sowohl phylo- als auch ontogenetisch hin. Auch der Primat der Erziehung über die Affekte kann als anthropologisches Argument gewertet werden.164 Beide Typen von naturalisierend-sozialisierenden Argumentationsfiguren schließen linear: Wenn Herder in der Eingangspassage zu Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele auf Analogien von Mensch und Natur abhebt, führt er das Verfahren der Naturalisierung als Erkenntnismöglichkeit ein, begrenzt aber zugleich dessen Reichweite: „Je mehr wir indeß das große Schauspiel würkender Kräfte in der Natur sinnend ansehen, desto weniger können wir umhin, überall Aehnlichkeit mit uns zu fühlen, alles mit unsrer Empfindung zu beleben.“165 – „Aber wie? ist in dieser ‚Analogie zum Menschen‘ auch Wahrheit? Menschliche Wahrheit gewiß, und von einer höhern habe ich, so lange ich Mensch bin, keine Kunde.“166 Propagiert wird mithin nicht eine gewisse, sichere Erkenntnismöglichkeit, die die inhaltliche Verfaßtheit eines Gegenstandes (hier der Natur) auf einen anderen abbildet. Denn eine Wahrheit, die auf einer solchen Adäquation beruht, sei uns aufgrund der semantischen Verfaßtheit des menschlichen Denkens nicht zugänglich.167 Wahrheit verbindet sich nicht mit dem Inhalt der Analogie, sondern mit dem Verfahren des Analogieschlusses vom Umfeld auf den Menschen, 163 164

Vgl. mit Schwerpunkt auf der „Culturalisierung“ hierzu Garber: Utopiekritik, S. 90. Von dieser Argumentationsfigur unabhängig bleibt die Beobachtung, daß auch die faktische Neuorganisation des Sozialsystems gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf anthropologiebasierten Entwicklungen beruht. Vgl. Luhmann: Frühneuzeitliche Anthropologie, S. 163. Das Anthropologische ist also in doppelter Weise unmittelbar mit dem Sozialen verbunden. Es wäre allerdings ein Kurzschluß, „Aufklärung“ schlechthin mit dem funktional differenzierten Gesellschaftssystem gleichzusetzen. Wie die Entwicklung des Vorurteilsdiskurses zeigt, richtet sich gerade das Bemühen um Stabilisierung der bürgerlichen Gesellschaft gegen die progredierenden Formen der Selbstaufklärung. 165 Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume [1778], in: SWS 8, 165–235, hier S. 169. 166 Ebd., S. 170. 167 Vgl. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 6. Hg. Martin Bollacher. Frankfurt/M. 1989, S. 350. Vgl. Ulrich Gaier: Poesie oder Geschichtsphilosophie? Herders erkenntnistheoretische Antwort auf Kant, in: Martin Bollacher (Hg.): Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur. Würzburg 1994, 1–17, hier S. 3.

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mit der Struktur der adaptiven Prozessen zugrundeliegenden Analogisierungen.168 Der Vorwurf logischer Inkonsistenz der Erkenntnis, wie ihn Kant erhob und auch Teile der neueren Herder-Forschung zu bestätigen suchten,169 verfehlt demnach Herders Anliegen: Herder konstituiert mit dem analogischen Prinzip nicht inhaltlich-anthropologische Kenntnisse, indem er etwa behauptete, außermenschliche Strukturen seien adäquat auf menschliche übertragbar, sondern er proklamiert ein strukturiertes Erkenntnisverfahren, das sich seiner anthropozentrischen Wurzeln wie seiner Relativität bewußt ist, eine „Hermeneutik des Ermessens“,170 die auf die unauflösbare Einheit von äußeren Sinnesdaten, ihrer Wahrnehmung und intellektuellen Verarbeitung abhebt.171 Insoweit unterscheidet sich Herders Position von Argumenten, die aus der Milieu- und Klimatheorie in tendenziell eher materialistischer Weise die Schlüssigkeit einer unmittelbaren Übertragung zu gewinnen suchen.172 Weniger skrupulös als Herder leitet Johann Bernhard Basedow alle gemeinnützigen Erkenntnisse der Menschheit aus „allgemeinen analogischen Erfahrungen“ ab, „aus der Häufung der Wahrscheinlichkeit, und aus der vernünftigen Glaubenspflicht“.173 Die analogische Methode führt nicht nur zu anthropologischem, sondern zu philosophischem Wissen schlechthin: „Die allgemeinen Erfahrungen und die einzelnen Schlüsse aus denselben, sind ja offenbar analogische Erkenntnisse. Was wäre der Philosoph ohne dieselben?“174 Basedow geht also vom Ziel der Analogie, vom erlangbaren Wissen aus. Auch Systematisierungen externer Faktoren und daraus entwickelte Argumentationsfiguren, wie sie etwa Johann Karl Wezels Versuch über die Kenntniß des Menschen prägen, entsprechen naturalisierend-analogen Positionen der anthropologischen Wende. Wird Wezels Matrix der Vielfalt möglicher Einflußfaktoren auf die leibliche und seelische Entwicklung des Menschen argumentativ aufgegrif-

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Vgl. Gaier: Poesie, S. 5. Dagegen Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inégalité. Kritische Ausgabe des integralen Textes. Hg. Heinrich Meier. Paderborn / München / Wien 31993, S. 271. 169 Vgl. Hans Dietrich Irmscher: Beobachtungen zur Funktion der Analogie im Denken Herders, in: DVjs 55 (1981), 64–97, hier S. 69, 73. Proß weist darauf hin, daß Irmscher Herders naturwissenschaftlichen Gebrauch des Analogieprinzips „vielleicht“ „etwas zu gering“ veranschlage. Vgl. Wolfgang Proß: „Ein Reich unsichtbarer Kräfte“. Was kritisiert Kant an Herder?, in: Scientia Poetica 1 (1997), 62–119, hier S. 64. 170 Vgl. Gaier: Poesie, S. 9. Daß Herder die Prozessualität der Naturgeschichte zur Grundlage analoger Übertragungsprozesse macht, scheint Foucaults These zu bestätigen, die Naturgeschichte sei spätestens bei Buffon und Linné nicht mehr rein begrifflich organisiert. Vgl. Foucault: Archäologie, S. 84f. et passim. 171 Vgl. Pfotenhauer: Anthropologie, Transzendentalphilosophie, Klassizismus, S. 84f. 172 Auch Platner sieht die „Urtheilskraft“ als von „Clima, Alter, Temperament, natürlicher Beschaffenheit des Gehirns, Gemüthsverfassung“ abhängig. Vgl. Platner: Anthropologie, § 579, S. 195. 173 Johann Bernhard Basedow: Theoretisches System der gesunden Vernunft, ein akademisches Lehrbuch. Altona 1765, S. 5. Vgl. auch ders.: Philalethie, § 5, S. 4. 174 Basedow: Theoretisches System, § 26, S. 75.

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fen,175 entwickelt sich der Argumentationstypus der Naturalisierung / Sozialisierung, wobei Wezel die erkenntnistheoretische Problematik einer unmittelbaren Ableitung im System selbst bewußt ist.176 Wezel unterscheidet vier Klassen von Wirkungen im Menschen und deren allgemeine Ursachen. Zusätzlich identifiziert er Bedingungen, die die potentiellen Verbindungen zwischen den Wirkungen und deren Ursachen bestimmen. Nur diese lassen sich nach Wezel verläßlich bestimmen,177 so daß die Matrix selbst bei all ihrer Differenziertheit ein Moment des methodischen Zweifels in sich trägt. In ähnlicher Weise bieten Abels und Flögels Faktorenkataloge die Grundlage für naturalisierende Argumentationen, die den Zusammenhang von Körper und klimatischen Verhältnissen, der Erziehung und der sozialen Umstände, selbst der Bildung und Sprache als Modelle des Kulturvergleichs anführen.178 Die Grundlage beider Verfahren bildet empirische Beobachtung. Es geht in keinem Fall darum, aus bloßen Spekulationen assoziative Ketten zu bilden. Durch ihre explizit empirisch-erkenntnispraktische Fundierung unterscheiden sich die Verfahren der Naturalisierung und Sozialisierung von voraufklärerischen Analogiebildungen.179 Das Analogieprinzip rezipiert die empirische Methodenentwicklung insbesondere der Naturlehre. Herder weicht, indem er sich auf Hallers differenziertes Plädoyer für den Gebrauch von Hypothesen und Analogien, auf Buffons methodische Prämissen oder auf Henry Home Lord Kames’ These der erkenntnisleitenden Funktion der Analogie für die Naturgeschichte bezieht, von der Tradition in der Logik verorteter Analogieschlüsse explizit ab.180 In diesem Sinne kann man auch davon reden, daß das Prinzip der Analogie wiederbelebt wurde:181 Der (analogische) Vergleich ist „one of the principal cognitive acts of the modern human sciences.“182

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Vgl. Heinz: Wissen vom Menschen, S. 37, S. 69ff. Vgl. hierzu überzeugend Bezold: Popularphilosophie, S. 107f. Vgl. Wezel: Versuch. 1.Th., S. 67 zur Sicherheit der Bestimmung solcher Bedingungen, S. 44ff. zum Modell selbst. Daß die Reichweite von Analogiebildungen begrenzt ist, spielt etwa bei der Bezeichnung von Verändungen in den Nerven eine unmittelbare Rolle für Wezels Argumentation. Vgl. Wezel: Versuch über die Kenntniß des Menschen. 2.Th., S. 144. 178 Vgl. Johann Friedrich Abel: Einleitung in die Seelenlehre. Stuttgart 1786, Carl Friedrich Flögel: Geschichte des menschlichen Verstandes, Breslau 31776. Hinweis bei Riedel: Weltweisheit, S. 433. 179 So kann die Entwicklung analogischer Schlußformen differenziert bewertet werden: Wenn Meier und Buffon sich gegenüber Analogiebildungen skeptisch äußern, so betrifft dies die Frage der unmittelbaren Übertragbarkeit inhaltlicher Informationen per vernünftigem Analogieschluß. Vgl. Schneider: Komplexere Ordnung, S. 119. 180 Vgl. zu Herders Quellen Proß: „Ein Reich unsichtbarer Kräfte“, S. 64f. 181 Vgl. Moravia: Enlightenment and the Sciences of Man, S. 248. Hier kann das Analogie-Prinzip in der Aufklärung nicht analysiert werden. Vgl. Andre Rudolph: Figuren der Ähnlichkeit. Johann Georg Hamanns Analogiedenken im Kontext des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2006. 182 Moravia: Enlightenment and the Sciences of Man, S. 250.

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2.2.3 Prospektive und retrospektive Historisierung Prospektiv historisierend183 sollen Argumentationsfiguren genannt werden, die Urteile, Beobachtungen oder Erkenntnisse in den historischen Zusammenhang der jeweiligen Entwicklung setzen und sie – sei es aufgrund der anthropologischen Konstitution der Vergänglichkeit auf theologischer Ebene oder der evolutiven Prozessualität des Menschen184 – nur für befristet zeitlich gültig erklären. Solche Argumentationsfiguren enthalten dadurch eine utopische Komponente. Der Begriff „retrospektive Historisierung“ beschreibt Argumentationsfiguren, die die historische Genese eines Faktums berücksichtigen und diese von der gegenwärtigen Verortung zu unterscheiden einfordern. Beide Formen der Historisierung schließen kausal, gelegentlich auch teleologisch oder final. Das Verfahren der Historisierung in Verbindung mit Skeptizismus gegenüber bereits gefällten Urteilen stellt Hume dar: Daher müssen wir nach jedem Schlusse ein neues Urtheil fällen, das unser erstes Urtheil oder den Glauben daran wieder zweifelhaft macht und läutert; und wir müssen unsern Gesichtspunkt immer mehr erweitern, um eine Art von Geschichte von allen den Fällen zu erhalten, wo uns unser Verstand getäuscht hat, verglichen mit denen, wo sein Zeugnis richtig und treu war.185

Auch Condillac präferiert die Analyse der historischen Genese von Erkenntnis: Die Rekonstruktion jedes Erkenntnisvorgangs habe die Zerlegung seiner Prämissen, Umstände und Resultate zur Voraussetzung, die Selbstvergewisserung über die historische Prozessualität des Erkennens und deren Bedingungen. Diese genetische Rekonstruktion ist auf die Geschichte des Menschen schlechthin anwendbar, doch müssen externe Einflüsse wie Klima und Milieu, mithin Elemente der naturalisierenden Argumentation, gleichwertig berücksichtigt werden.186 Das endgültige Urteil wäre, wenn alle Empirie nicht ausreicht, wie Meiners formuliert, dem „Richterstuhl der Geschichte” zu überlassen.187 Auch das Erfah183

„Historisierung“ ortet Lepenies als Geschichtlich-Werden der Natur (und in dessen Gefolge auch der Naturwissenschaft) erst am Übergang zum 19. Jahrhundert. Vgl. Lepenies: Historisierung, S. 7, 21, 33. Historisierung meint hier dagegen Verfahren, die aus dieser Geschichtlichkeit argumentative Konsequenzen ziehen. 184 Daß der Mensch in der Geschichte steht und daher auch in der Geschichte anthropologisch analysiert werden müsse, wird bei Feder zum Methodenargument. Vgl. Linden: Untersuchungen, S. 41. 185 David Hume: Über die menschliche Natur. Aus dem Engl. nebst kritischen Versuchen zur Beurtheilung dieses Werks von Ludwig Heinrich Jakob. Bd. 1. Ueber den menschlichen Verstand. Halle 1790, S. 363. 186 Vgl. Proß: Herder, S. 1139ff., 1154. Proß bezieht sich auf die Erstausgabe von Condillacs Traité des systêmes (1749). Vgl. auch Thomé: Roman und Naturwissenschaft, S. 69f. Garber betont zurecht, daß Anthropologie und Geschichtsphilosophie nicht dichotomisch kontrastiert werden können: vgl. Jörn Garber: „So sind also die Hauptbestimmungen des Menschen [...]“. Anmerkungen zum Verhältnis von Geographie und Menschheitsgeschichte bei Georg Forster, in: ders. (Hg.): Wahrnehmung – Konstruktion – Text. Bilder des Wirklichen im Werk Georg Forsters. Tübingen 2000, 193–230, hier S. 227. 187 Vgl. Christoph Meiners: Historische Vergleichung der Sitten, und Verfassungen, der Gesetze, und Gewerbe, des Handels, und der Religion, der Wissenschaften, und Lehranstalten des Mit-

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rungsmodell Zimmermanns beruht auf historischer Kenntnis. Entscheidend ist das – durch das historische Wissen vorgeprägte – Wissen darüber, worauf man sehen soll, wenn man Erfahrung sammeln soll: „Die wahre Erfahrung hängt hauptsächlich von dem Kopfe des Menschen ab, der erfahren will.“188 Dieser Kopf muß mit dem historischen Wissen umzugehen verstehen und in der Lage sein, Erfahrung historisch zu situieren. Entsprechendes gilt umgekehrt: Beobachtungsgeist ist notwendig, um historische Kenntnis als Wissen über die Prozessualität der Geschichte zu erlangen.189 Universalhistorische Prozesse werden in der Spätaufklärung durch analogische Argumentationen aus der Genese des Individuums beschrieben.190 Anthropologische Interpretationen von „Geschichte“, die Geschichtswerke im letzten Drittel des Jahrhunderts bestimmen, gehen von der Parallelität von anthropologischer Verfaßtheit und historischer Entwicklung aus: Die Geschichtstheorie der Spätaufklärung bezieht sich auf die als komplex und historisch verstandene „Einheit des ganzen Menschen“, wenn sie Aussagen über die Makrogeschichte der Menschheit macht.191 Die Verfahren der Historisierung basieren also auf anthropologischen Umwertungen. Menschliches Leben und Erkennen wird nicht mehr nur als außerhalb der Geschichte stehendes biologisches Umfeld konzipiert, sondern auch als innerhalb der Geschichte stehend, als durch diese und die ihr elementaren Argu-

telalters mit denen unsers Jahrhunderts in Rücksicht auf die Vortheile, und Nachtheile der Aufklärung. Bd. 3. Hannover 1794, S. 529. Vgl. Schneiders: Wahre Aufklärung, S. 174. Bei Meiners löst sich das Geschichtsmodell zusehends von der Naturgeschichte. Vgl. Dougherty: Buffons Bedeutung, S. 238f. 188 Johann Georg Zimmermann: Von der Erfahrung in der Arzneykunst. I. Th. Zürich 1763, S. 47. 189 Vgl. ebd., S. 469. Foucault versteht Geschichte als „Seinsweise der Empirizität(en)“, als eine in der Prozessualität empirischer Wahrnehmungen und unter dem Zugriff empiristischer Ordnungs- und Funktionskriterien stehende Ereigniskette. Mit dieser These verlegt Foucault – im Bemühen, den historischen Bruch zwischen 1775 und 1825, mit einer Zäsur um die Jahrhundertwende, zu situieren – aufklärerische, anthropologische Argumentationsverfahren in eine Phase, in der die empirische Anthropologie metaphysisch aufgeladen wird. Vgl. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 270ff. Foucault verwendet die Bezeichnung „anthropologisch“ nicht im historischen Sinne, sondern als Beschreibung kritisch bewerteter subjektivistischer und einseitig humanistischer Ansätze. Vgl. ebd., S. 26f., 454, Foucault: Archäologie, S. 27. Vgl. zur Charakteristik dieses Paradigmenwechsels Frank: Grundelement, S. 384f.; Kallweit: Zur „anthropologischen“ Wende, S. 17, 21; Herbert Schnädelbach: Das Gesicht im Sand. Foucault und der anthropologische Schlummer, in: Axel Honneth / Thomas McCarthy / Claus Offe u.a. (Hg.): Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung. Frankfurt/M. 1989, 231–261, hier S. 239f.; Urs Marti: Michel Foucault. München 1981, S. 61; Lavagno: Aufklärung, S. 221f., Gunhild Berg: Der Prozeß der „anthropologischen Zwänge“ (Michel Foucault). Juristische, moralische und psychologische Verhandlungen am Beispiel der spätaufklärerischen Kriminalerzählungen August Gottlieb Meißners, in: Maximilian Bergengruen / Johannes F. Lehmann / Hubert Thüring (Hg.): Sexualität – Recht – Leben. Die Entstehung eines Dispositivs um 1800. München 2005, 195–216. 190 Vgl. Garber: Selbstreferenz, S. 137. 191 Vgl. ebd., S. 148f.

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mentationsfiguren bestimmt.192 Für Lichtenberg kann das Studium der Charaktere in der Geschichte unser heutiges Wissen befördern. Es kann einen „Auszug aus der Menge von Triebfedern“ bieten, die die historische Entwicklung bestimmten. Schilderungen großer Männer gelten als „Teile einer noch wenig bearbeiteteten Natur-Geschichte, nämlich der Naturgeschichte vom menschlichen Herzen.“193 Das Studium der Geschichte wird als Beitrag zum Naturstudium gerechtfertigt und analog konstruiert. Natürliche und historische Abläufe parallelisiert auch Engel: „er (der herrschende Geist der Zeit, R. G.) ist durch eine Folge von Jahrhunderten eben so unwidertreiblich herbeigeführt, als es durch die periodischen Umwälzungen des Himmels die Jahreszeiten sind“.194 Beide, Geschichte und Natur, bestimmen die besondere Gestalt in der historischen Entwicklung von Ländern und Staaten. Es handele sich, so Batscha, um einen „biologistisch aufgeladenen Geschichts- und Politikbegriff“, der die Abkehr vom cartesianischen Rationalismus signalisiere. Dessen Ursache liege schon darin, daß mit der Entdeckung physikalischer und moralischer Gesetzmäßigkeiten eines geschlossenen Zusammenhangs die Betrachtung von Zeiten und geographischen Räumen in ihrer spezifischen Eigenart einhergehe.195 Geschichtliche Argumente entstammen auch der Naturgeschichte, der verzeitlichten Anthropologie, der raumdifferenzierten Kulturanalyse.196 Historisierende Argumentationsfiguren werden auf bisher nicht-historisch konzipierte Bereiche übertragen. Engel proklamiert in seinem Essay An Herrn S**. Ueber den Werth der Aufklärung, er könne nicht absehen, wie die Frage nach der Aufklärung beantwortet werden könnte, „und zwar darum nicht, weil ich gar nicht absehe, wie ich sie endigen sollte. Da ich mir doch unmöglich herausnehmen könnte, die letzten unabänderlichen Resultate der Aufklärung festzusetzen: [...].“197 Vorläufige Annahmen

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Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt/M. 51991, S. 171. 193 Georg Christoph Lichtenberg: Von den Charakteren in der Geschichte, in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 497–501, hier S. 497. 194 J. J. Engel’s Schriften. Bd. 3. Der Fürstenspiegel. Berlin 1802, S. 172. 195 Vgl. Zwi Batscha: Bemerkungen zu J. J. Engels politischer Theorie, in: ders.: „Despotismus von jeder Art reizt zur Widersetzlichkeit“. Die Französische Revolution in der deutschen Popularphilosophie. Frankfurt/M. 1989, 219–247, hier S. 238f. 196 Vgl. Garber: Selbstreferenz, S. 138. Die These der „Verzeitlichung“ der Erfahrung geht zurück auf Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. München 1977. Seifert hat dagegen vorgebracht, man dürfe das theologisch konnotierte Konstanztheorem der Naturgeschichte nicht mit der traditionellen Naturauffassung verwechseln, um dann im Gegensatz zur Beständigkeit die Verzeitlichung der Natur zu konstruieren. Vgl. Arno Seifert: „Verzeitlichung“. Zur Kritik einer neuen Frühneuzeitkategorie, in: Zeitschrift für Historische Forschung 10 (1983), 447– 477, hier insbes. S. 474f. Seifert schlägt vor, auf den Begriff ganz zu verzichten. Vgl. ebd., S. 477. Mir scheint er als Beschreibungskategorie durchaus brauchbar, auch im Bewußtsein seines eingeschränkten und dadurch präzisierten Erklärungshorizonts. 197 Johann Jakob Engel: An Herrn S**. Über den Werth der Aufklärung, in: J. J. Engel’s Schriften. Bd. 2. Der Philosoph für die Welt. 2.Th. Berlin 1801, 316–332, hier S. 327f.

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müßten diesen Prozeß steuern. Auch der Erkenntnisprozeß als solcher ist historisiert, insofern er historischem Wandel unterliegt und dieser Wandel bewußt ist. Jede Erkenntnis ist nur zeitlich befristet, selbst die Erkenntnis der Aufklärung.198 2.2.4 Individuelle und kulturelle Empirisierung Ich verwende den Begriff „Empirisierung“ im Unterschied zu „Empirie“ oder „empirischer Methode“ zur Kennzeichnung von textlich manifesten Argumentationsfiguren. Empirisierungsmodelle suchen Schwierigkeiten der empirischen Beobachtung zu berücksichtigen. Denn auch dem vorurteilslosen Blick, der gleichsam absichtslos die Eindrücke der Dinge einwirken läßt und somit empirisch zu erfassen und zu bestimmen sucht, enthülle sich die Natur, wie Aufklärer zu erkennen glaubten, nicht in ihrer objektiven Wahrheit.199 Explizit verankert Johann Nicolas Tetens in der methodologischen Vorrede seiner Philosophischen Versuche nicht nur den Anspruch auf ein empiriegestütztes Vorgehen, das sich dem der hypothesenbildenden Metaphysiker entgegenstellt, sondern auch Wege, mit solchen Schwierigkeiten der Empirie umzugehen.200 Wezel, der in seinem Versuch über die Kenntniß des Menschen der Spekulation durch ein empiriebasiertes Verfahren entgegentreten will, reguliert die analytische empirische Erfahrung durch Vergleich und Synthese.201 „Individuelle Empirisierung“ meint Argumentationsfiguren, die empirische Beobachtung und empiriebasierten Schluß auf die Selbstpositionierung des Individuums in einem größeren Zusammenhang gründen; „kulturelle Empirisierung“ bezeichnet Argumentationsfiguren, die die Perspektive umkehren und empirische Beobachtung und empiriebasierten Schluß auf die Verteilung der Beobachtungs198

Lydia Leiste: Der Humanitätsgedanke in der Popularphilosophie der deutschen Aufklärung. Halle 1932, S. 25, weist auf Garves Versuch hin, die historische Gegenwart aus natürlichen Einwirkungen zu erklären. Fraglich ist, ob es sich beim anthropologischen Zweifel Engels um die inhaltliche Position einer Dialektik der Aufklärung handelt, wie Böhr annimmt. Vgl. Christoph Böhr: Johann Jakob Engel und die Geschichtsphilosophie Moses Mendelssohns, in: Michael Albrecht / Eva J. Engel / Norbert Hinske (Hg.): Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit. Tübingen 1994, 157–174, hier S. 164. Die Verwendung dieser historisierenden Argumentationsfigur spricht für eine erkenntnismethodische Perspektive. Auf individualpsychologischer Ebene entspricht diesem Modell Johann Jakob Engel: Die Bildsäule, in: J. J. Engel’s Schriften. Bd. 1. Der Philosoph für die Welt. 1.Th. Berlin 1801, 335–355. Vgl. Gunhild Berg / Rainer Godel: Engels Modell aufklärerischer Selbstbefragung. Selbstreflexivität und Urteilsbildung in Der Philosoph für die Welt, in: Alexander Košenina (Hg.): Johann Jakob Engel (1741–1802). Philosoph für die Welt, Ästhetiker und Dichter. Hannover 2005, 47–76. 199 So in bezug auf Buffon Schneider: Komplexere Ordnung, S. 122. 200 Vgl. Johann Nicolas Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig 1777, S. XVIf. Der empirische Anspruch leitet bereits die Vorrede ein: Vgl. ebd., S. IIIf. 201 Vgl. Wezel: Versuch. 1.Th., S. 12f. Der „Weg der Beobachtung und Erfahrung“ bleibt aber der richtige Weg zur Wahrheit, auch wenn Erkenntnis – hier ist Wezel sensualistischen Positionen nahe – nur aus den Wirkungen der Gegenstände auf die Sinne resultiert. Vgl. ebd., S. 27f.

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gegenstände im Gesamtraum der wahrgenommenen „Kultur“ gründen. „Kultur“ bedeutet dabei eine Erschließungsform der Wirklichkeit, die es dem anthropologisch defizienten Menschen ermöglicht, sich ordnend über die Natur zu erheben.202 August Hennings akzentuiert etymologisch den Aspekt der Bearbeitung eines Rohzustandes als Kultur.203 Argumente der kulturellen Empirisierung gehen von einer Vielzahl physischer und äußerer Einflüsse auf die menschlichen Leidenschaften aus, wobei vor allem ethnologische und völkergeschichtliche Aspekte in Frage stehen.204 Beide Formen der Empirisierung schließen induktiv-verifizierend. Wenn Forster sich auf eigene Erfahrung beruft, sich aber auch des eigenen Standpunkts bewußt ist und damit angesichts der Masse der Umstände, die auf den Menschen wirken, ein explizites Modell empirischer Wahrnehmung entwickelt, entspricht dies einem im Text manifesten anthropologiebasierten Verfahren, das nicht die theoretischen Prämissen diskutiert, sondern die Schwierigkeiten der Empirie textlich zu bewältigen sucht.205 Der Kulturvergleich ermöglicht die menschheitsgeschichtliche Einordnung fremder Kulturen als Frühformen der eigenen. Die dieser Norm unterliegende Tendenz zum Eurozentrismus hebt sich auf, wenn frühe Entwicklungsformen der Menschheit positiv konnotiert werden.206 Fremde Kulturen gelten als Belege für die Einheit des Menschengeschlechtes. Hier konkurrieren innerhalb der anthropologischen Wende die Modelle des „guten Wilden“ und der kulturfreien Wildheit.207

202

Vgl. Garber: Utopiekritik, S. 90. „Kultur“ impliziert im 18. Jahrhundert nicht notwendigerweise die normative Ebene der Selbstabgrenzung, die Elias betont. Vgl. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 1. Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Frankfurt/M. 1997, S. 92ff. Vgl. zur Entwicklung des „Kultur“-Begriffs Bollenbeck: Bildung und Kultur. 203 Vgl. August Hennings an Moses Mendelssohn am 21.10.1784, in: Mendelssohn. JubA 12,2, Brief Nr. 660, S. 228ff. 204 Heinz führt zu Weikards Der philosophische Arzt an, dieser benenne eine Vielzahl physischer und äußerer Einflüsse auf die menschlichen Leidenschaften. Vgl. Heinz: Wissen vom Menschen, S. 85. Vgl. zu Weikard auch unter Betonung des sozial normierenden Charakters seiner „Andrologie“ Schings: Melancholie, S. 21ff. 205 Vgl. Rotraut Fischer: Reisen als Erfahrungskunst. Georg Forsters „Ansichten vom Niederrhein“. Die „Wahrheit“ in den „Bildern des Wirklichen“. Frankfurt/M. 1990, insbes. S. 31ff., 89ff. 206 Vgl. Riedel: Anthropologie und Literatur, S. 116. 207 Vgl. Manfred Beetz / Rainer Godel: Entdeckte Vorurteile auf der Weltreise. Zu Georg Forsters empirischer Anthropologie und Anerkennung des Fremden, in: Ulrich Kronauer / Wilhelm Kühlmann (Hg.): Aufklärung. Stationen – Konflikte – Prozesse. Festschrift für Jörn Garber zum 65. Geburtstag, Eutin 2007; Rainer Godel: Der Wilde als Aufklärer? Kulturanthropologisch vermittelte Rezeptionssteuerung in Joseph von Sonnenfels’ „Mann ohne Vorurtheil“, in: Aufklärung 14 (2002), 205–232, hier S. 207ff. zur Typologie des Motivs des „Wilden“; Eberhard Berg: Zwischen den Welten. Über die Anthropologie der Aufklärung und ihr Verhältnis zu Entdeckungs-Reise und Welt-Erfahrung mit besonderem Blick auf das Werk Georg Forsters. Berlin 1982.

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Das Verfahren der Empirisierung bedingt eine Revolution der Darstellungsart: Da nicht mehr a priori davon ausgegangen werden kann, daß sich die empirischen Beobachtungsergebnisse zu einem in sich schlüssigen, systemisch organisierten Ganzen fügen, gewinnt das Mit- und Nebeneinander von Einzelbeobachtungen Bedeutung: Es entsteht die Form des tableaus, eine kontinuierliche, geordnete und allgemeine Übersicht, die dazu dienen soll, die noch immer angestrebte Vollständigkeit der Erkenntnis darstellbar zu machen.208 Empirisierung wirkt auch auf die Poetologie. Johann Georg Sulzer führt aus, zur vollkommenen Erzählung gehöre, daß sich der Dichter empirisch kundig macht. Eine naturgetreue Nachahmung ist aber nicht möglich, denn die empirische Welt ist komplex, und „Vernunft und Thorheit, Tugend und Laster zeigen sich [...] höchst selten in dem hellen Lichte und in der Gestalt, worin sie [...] sich dem Gemüth unvergeßlich und immer wirksam einprägen.“209 Kant präferiert eine andere Lösung. Im Unterschied zum Vorrang der Empirisierung im Anthropologiediskurs der Zeit unterscheidet Kant methodologisch zwischen Bemerken und Beobachten und warnt vor der unreflektierten Selbstbeobachtung, eine Warnung, die die vorsichtigen Modellbildungen des anthropologischen Diskurses zu übersehen scheint und die sich explizit von der „Erfahrungsseelenkunde“ distanziert.210 Die Argumentationsverfahren der anthropologischen Wende sind, so kann resümiert werden, nicht disziplinär gebunden. Sie finden sich in unterschiedlichen Ausprägungen und Intensitäten in Texten verschiedenster disziplinärer Provenienz und in Beiträgen zu verschiedensten (nicht nur anthropologischen) Problemen. Von dieser anthropologischen Wende geht die elementare Diskursänderung im 18. Jahrhundert und damit letztlich die diskursive Innovation aus. Nicht zuletzt erhält die Literatur durch die neuen Argumentationsformen wesentliche Anstöße zu ihrer Entwicklung. Doch differiert die Relevanz dieser Verfahren in unterschiedlichen lokalen und regionalen Ausprägungen: In pietistisch geprägten Städten war zwar durch die Gefühlskultur des Pietismus der Nährboden für die Aufwertung der Sinne bereitet,211 doch blieb die Anthropozentrik untolerierbar. Aufgrund ähnlicher theologischer Argumente verzögert sich die Anthropologie-Rezeption in katholischen Gebieten. Schließlich spielen im Preußen der Wöllnerschen Reformedikte 208

Vgl. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 188. Auch literarisch erhält das tableau spätestens mit Merciers Tableau de Paris Dignität. Vgl. Annette Graczyk: Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft. München 2004. 209 Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinander folgenden, Artikeln abgehandelt. 2.Th. Leipzig 21792, Art. Erzählung (Dichtkunst), 121–150, hier S. 122. 210 Vgl. Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 4, S. 132f., hierzu Brandt: Ausgewählte Probleme, S. 20. 211 Kausale Modelle, die mit dem Pietismus auch die Ursache für die Aufwertung von Empfindungen zu finden glauben, tragen nicht: vgl. Sauder: Empfindsamkeit, S. XVIII, Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 34.

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Fragen der sozialpolitischen Pragmatik eine entscheidende Rolle, die die allzu liberal scheinende Relativität der anthropologischen Argumentationsverfahren nicht genehm erscheinen lassen. Demnach verfehlte eine rein philosophiehistorische Beschäftigung mit der Anthropologie der Zeit, die die Funktionen von Erkenntnisverfahren nicht in Betracht zöge und stattdessen bestenfalls die Abbildung philosophischen Faktenwissens in anderen Textformen suchte, den interdiskursiven Charakter historischer Argumentationsverläufe. Auch eine Wissenschaftsgeschichte, die sich mit der sich ausbildenden Disziplin Anthropologie beschäftigte, müßte die methodische Frage nach der anthropologischen Wende innerhalb des disziplinären Diskurses stellen.

2.3 Immanente Reflexionsstrukturen. Wahrscheinlichkeit als Kategorie Der zeitgenössische Interdiskurs bildet diese neuen anthropologischen Denkformen in Texten nicht nur ab. Mit der neuen Selbstbestimmung des Menschen, der Konzentration auf die eigenen Kräfte gewinnt die Reflexion über die prinzipielle Begrenztheit menschlichen Erkennens an Bedeutung. Die Wahrheitsfrage verlagert sich nicht nur von der Logik hin zur Psychologie der Erkenntnis und ihrer Geschichte,212 sondern mit den Argumentationsverfahren der anthropologischen Wende beginnt auch in verschiedenen Diskursen eine Reflexion über deren Folgen und damit über die Chancen und Grenzen der Erkenntnis selbst. Da semantische Selbstverständlichkeiten verloren gehen, verlagert sich der Standpunkt der Reflexion auf eine Metaebene.213 Die Relativität von Erkenntnis und Urteilsbildung folgt somit wesentlich aus der anthropologischen Wissensvermehrung. Denn die Reflexion, die die Relativität der Erkenntnis zunehmend in Betracht zieht, geht von anthropologischen Argumenten und Verfaßtheiten aus: „Da all unsre Begriffe vom Menschen ausgehen oder auf ihn kommen: so muß nach diesem Mittelpunkt und der Art, wie er spinnt und würkt, die Quelle der grösten Irrthümer und der sichtlichsten Wahrheit aufgespürt werden, oder sie ist nirgend.“214 Es handelt sich also um eine Metareflexion von Erkenntnis, eine zusätzliche Erkenntnisebene, die die Verfahren selbst einer kritischen Prüfung unterzieht und die zur Erkenntnis von deren Unsicherheit, gelegentlich gar zu der Annahme gelangt, die Richtigkeit einer Wahrnehmung sei unrelevant.215 Dadurch unterscheidet sie sich von frühaufklärerischen Relativierungen von Erkenntnissicherheit: Thomasius führt noch die „Schwachheit unseres Verstandes“ und die „Schwierigkeit der Sachen“ als Ursa212 213

Vgl. Proß: Herder, S. 1135. Vgl. auch Niklas Luhmann: Kultur als historischer Begriff, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 4. Frankfurt/M. 1995, 31–54, hier S. 34f. 214 Herder: Plastik, S. 10. 215 Vgl. Proß: Herder, S. 1195f.

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chen an, wieso man nicht zu endgültigen Lösungen gelangen könne.216 In der Spätaufklärung wird die Ursache für Erkenntnisrelativismus zusehends dem modus philosophandi zugeschrieben. So führt Salomon Maimon kein Kriterium der „objektiven Wahrheit“ mehr an, sondern verlagert Wahrheit auf den Prozeß der Suche: Wahrheit sei „die Operation des Denkens selbst“. Ob Axiome und Resultate falsch sind, sei belanglos, denn die (immerhin logische, weil widerspruchsfreie) Konstruierbarkeit von Denkmöglichkeiten werde zur Wahrheitsgarantie.217 Die Beweislast für die Wahrheit von Thesen läßt sich nun im Umfeld der neuen Beobachtungs- und Erfahrungswissenschaften nicht mehr zweifelsfrei philosophisch fundieren, sondern nur durch neue Wissens-Systematiken legitimieren.218 Die Frage nach der Wahrheit wird hierbei, anders als in manchen materialistischen Entwürfen, nicht vollständig ausgeschaltet, sondern im methodischen Prozeß neu konstituiert.219 Ein solcher Probabilismus basiert auf anthropologischen Fundamenten.220 Naturalisierende Argumentationsfiguren scheinen kaum überschaubaren Parametern zu unterliegen. Angesichts der Komplexität empirischer Fakten ist der wieder integrierte skeptische Zweifel notwendiges Element empirischer Verfahren und dennoch nur ein Hilfsmittel zur wahrscheinlichen Erkenntnis.221 Schon Georg Friedrich Meier leitete aus der unendlichen Divergenz des Einzelnen ab, daß die

216

Vgl. Christian Thomasius: Einleitung zur Hoff-Philosophie [...], in: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. Werner Schneiders. Bd. 2. Hildesheim / Zürich / New York 1994, Kap. I, § 98, S. 54. Die begrenzte Erkenntniswahrheit empirischer Verfahren ist seit Galilei präsent: Es gebe keine anschauliche Evidenz der Wahrheit, das sinnlich Erfahrbare eröffne lediglich die phänomenale Oberfläche der Wirklichkeit. Vgl. Schmidt: Sinnlichkeit, S. 16. Mit der Verlagerung auf die Skepsis gegenüber dem Modus der Erkenntnisgewinnung wird auch die Kohärenz des Beobachteten fraglich. 217 Vgl. Salomon Maimon: Versuch über die Transscendentalphilosophie mit einem Anhang über die symbolische Erkenntniß und Anmerkungen, Berlin 1790, in: ders.: Gesammelte Werke. Hg. Valerio Verra. Bd. 2. Hildesheim / Zürich / New York 2000, 1–442, hier S. 152 und ders.: Ueber Wahrheit. Ein Brief des Hrn. S Maimon, an seinen edlen Freund L. in Berlin, in: ders.: Gesammelte Werke. Hg. Valerio Verra. Bd. 1. Hildesheim / Zürich / New York 2000, 599–616, hier S. 602f. (erstmals in: Berlinisches Journal für Aufklärung 5 (1789), 1.St., 67–84.) 218 Vgl. Garber: Selbstreferenz, S. 139, Foucault: Ordnung der Dinge, S. 177ff. 219 Wenn Hippias in Christoph Martin Wielands Agathon die Frage nach der Wahrheit für obsolet erklärt, da jede Darstellung von Wirklichkeit subjektiv gefärbt sei, so geht er über anthropologiebasierte, probabilistische Argumentationsstrategien hinaus, indem er materialistische Subjektivität verabsolutiert. Vgl. zu Hippias’ Materialismus Thomé: Roman und Naturwissenschaft, S. 127ff., Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands „Agathon“-Projekt. Tübingen 1991, S. 106ff., Jan-Dirk Müller: Wielands späte Romane. Untersuchungen zur Erzählweise und zur erzählten Wirklichkeit. München 1971, S. 35. 220 Diesem anthropologischen Wahrscheinlichkeitssystem steht Kants Position diametral entgegen, die Wahrscheinlichkeit als unzulässig aus dem Wissenschaftsdiskurs der Philosophie aus reiner Vernunft ausschließt. Vgl. Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: AA 4, 253–383, hier S. 369. 221 Vgl. Michael Hissmann: Psychologische Versuche. Ein Beytrag zur esoterischen Logik. Hannover / Göttingen 21788, S. 18. Vgl. zu Hissmann Heinz: Wissen vom Menschen, S. 37f., Sauder: Empfindsamkeit, S. 118.

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Reichweite menschlicher Erkenntnis beschränkt sei.222 Doch liegen die Schwierigkeiten bei Meier (und auch bei Buffon) noch in den Objekten, die von allzu vielen Faktoren bestimmt scheinen: „Zu demjenigen, wodurch ein eintzelnes Ding ein eintzelnes Ding in dieser Welt ist, gehören alle seine Beschaffenheiten, Grössen, Handlungen, Veränderungen, Wirckungen, Gründe, Folgen und Verhältnisse gegen alle anderen Dinge in dieser Welt.“223 Aus den Schwierigkeiten des empirischen Vorgehens selbst leitet Tetens den Versuch ab, Hypothesen- und Analogiebildung zu systematisieren und Kriterien für Gewißheit von Hypothesen anzugeben. Entscheidend für einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad von Analogien ist die Orientierung an qualitativen Kriterien, die den Analogieschluß logisch haltbar machen.224 Es geht Tetens also um einen methodischen Zugriff auf der Metaebene der Wissenschaftstheorie, der sich der Einschränkungen der Gewißheit bewußt ist, diese aber durch die Integration „verläßlicher“ Herangehensweisen zu bändigen sucht. Ein ähnliches Flottieren zwischen der Freigabe und der Einhegung probabilistischer Prämissen zeichnet viele Methodenüberlegungen im anthropologischen Diskurs der Spätaufklärung aus.225 Christian Gottlieb Selle schränkt die analogische Schlußart auf die Regel ein: „Dinge, die ähnliche Ursache haben, haben auch ähnliche Wirkung, und so umgekehrt.“226 Kausalschlüsse sind für Selle die Grundlage für Analogien. Marcus Herz betont, die analogische Schlußart beruhe nicht auf einer Kausalität (dies wäre eine Demonstration), sondern auf der Ähnlichkeit von beobachteten Eigenschaften. So gleiche die Anlage des Entwicklungssystems bei Tieren den Pflanzen. Dies aber ist ein analogischer Schluß, kein kausaler. Allerdings sei diese Schlußart fehleranfällig: „[...] dies kömmt eben daher, weil diese Schlußart nicht bündig, nicht demonstrativisch, sondern bloß ein Abkömmling von der Wahrscheinlichkeit ist, die selbst so oft trügt. Die Analogie gilt immer nur so lange, bis die Erfahrung uns vom Gegentheil überzeugt.“227 Solange die Analogie nicht widerlegt ist, bleibt sie ein richtiger Schluß.228 Marcus Herz betont ausdrücklich den Wahrscheinlichkeitscharakter analogisch-naturalisierender Schlüsse. Diese werden dadurch nicht diskreditiert, aber sie müssen dem rekursiven Verfahren der empirischen Überprüfung immer wieder unterworfen werden. Der empirische

222

Vgl. Georg Friedrich Meier: Betrachtungen über die Schrancken der menschlichen Erkenntnis. Halle 1755, S. 73. Vgl. Schneider: Komplexere Ordnung, S. 117. 223 Meier: Betrachtungen über die Schrancken, S. 74. 224 Vgl. Tetens: Philosophische Versuche, S. XXIVff. 225 Wezel umgeht die Problematik, indem er in der Unterscheidung von „Volkssystemen“ philosophische Hypothesen als aus Beobachtungen, Erfahrungen und Untersuchungen resultierend einführt. Vgl. Wezel: Versuch. 1.Th., S. 22. 226 Christian Gottlieb Selle: Von der analogischen Schlußart, in: Berlinische Monatsschrift 4 (1784), 185–187, hier S. 186. 227 Vgl. Marcus Herz: Ueber die analogische Schlußart, in: Berlinische Monatsschrift 4 (1784), 246–251, hier S. 250. 228 Vgl. ebd., S. 251.

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Zugriff trägt hier zur Einhegung der Unwahrscheinlichkeiten bei analogischen Verfahren bei, doch beseitigt er jene nicht. Eine solche Überlegung könnte auf Crusius zurückgehen: Die „Erwartung ähnlicher Fälle, oder die Analogie“ ist eine der Quellen der Wahrscheinlichkeit.229 Daß wahrscheinliche Annahmen mit völliger Gewißheit oft verwechselt werden, erklärt Crusius innerpsychisch. Jeder Grund der Wahrscheinlichkeit bringe in unserer Seele eine Geneigtheit hervor, den Satz eher für wahr als für falsch zu halten.230 Crusius strebt aber dennoch logische Gewißheit an. Die wahrscheinliche Erkenntnis findet bei Basedow Eingang in das philosophische Grundinventar. Der Unterschied zwischen der philosophischen und der gemeinen Erkenntnis bestehe nicht darin, daß jene strenge Demonstrationen vorführe, diese aber mit analogischen Schlüssen nur auf der Ebene der Wahrscheinlichkeit argumentiere. „Denn auch das philosophische Genie untersucht Wahrscheinlichkeiten, und den Werth mancher Zeugnisse und fremder Belehrungen; die feinern analogischen Schlüsse sind sein vorzügliches Erkenntnißmittel, […]“.231 Wahrscheinlichkeiten bilden den Grund für praktische Erkenntnisse und für moralisches Handeln, auch wenn sie sich von mathematischen Gewißheiten unterscheiden.232 Doch wird in der Spätaufklärung meist auch explizit Vorsicht bei analogischen Schlüssen angemahnt.233 Der auf der Ebene der Hermeneutik der Wahrnehmung konstatierbare Paradigmenwechsel vom analogischen Modell, das eine Abbildung von Sachen in Vorstellungen annimmt, zum arbiträren Zeichenmodell vollzieht die Arbitrarisierung außerhalb des analogischen Schlußverfahrens.234 Doch ist der

229

Vgl. Christian August Crusius: Weg zur Gewißheit und Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntniß. Leipzig 1747, § 384, S. 675. 230 Vgl. ebd., § 410, S. 730f. 231 Basedow: Theoretisches System, S. 38f. 232 Vgl. Basedow: Philalethie, § 130, S. 267. Auch die „Historischen Wahrheiten“ gehören zu dem, was „moralisch gewiß ist.“ (Ebd.) Vgl. auch ders.: Philalethie. Neue Aussichten in die Wahrheiten und Religion der Vernunft bis in die Gränzen der glaubwürdigen Offenbarung. Bd. 2. Altona 1764, § 64, S. 95f. 233 Vgl. Gunhild Berg: Schwierigkeiten der Gemütererkenntnis. Kritik und Funktionalisierung von Vorurteilen in der ‚Anthropognosie‘ Georg Friedrich Meiers, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 28,1 (2004), 9–26, hier S. 23. Meier warnt davor, Analogie mit Kausalität zu verwechseln. Ein solches Verfahren bezeichnet er als „Grundvorurteil der Erfahrungserkenntnis“. Auffällig ist die strukturelle Ähnlichkeit zwischen Meiers Vorurteilstypologie und Humes Grundprinzipien der Ideen- und Affektenassoziation. Vgl. auch Bachmann-Medick: Ästhetische Ordnung, S. 247. Auch Feders Bestimmung der Wahrscheinlichkeit korrespondiert mit Meiers analogischem Vorurteilstypus. Vgl. Johann Georg Heinrich Feder: Logik und Metaphysik nebst der Philosophischen Geschichte in Grundrissen. Göttingen 51778, § 57, S. 136: Vernünftige Wahrscheinlichkeit kann angenommen werden, „wenn man etwas gewahr wird, womit man dasjenige, was man vermuthet, zufolge vorhergehender Erfahrungen, oder der daraus entstandenen Begriffe und Urtheile, beständig oder gewöhnlich verknüpfet weiß; […]“. 234 Vgl. hierzu Albrecht Koschorke: Wissenschaften des Arbiträren. Die Revolutionierung der Sinnesphysiologie und die Entstehung der modernen Hermeneutik um 1800, in: Joseph Vogl (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999, 19–52, hier S. 21ff.

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analogisch-naturalisierenden Erklärungsart probabilistisches Potential bereits inhärent. Auch empirisierende Verfahren, die aus naturwissenschaftlich-biologischen Erklärungsformen resultieren, führen den empirisch notwendigen Skeptizismus weiter: Wenn Platner aufgrund der Verfaßtheit der menschlichen Wahrnehmung, die aus physiologischen Vorgängen schöpft und mithin nur die Wirkungen, nicht die Dinge selbst wahrnimmt, einen erkenntnistheoretischen Skeptizismus begründet,235 so gilt das noch in stärkerem Maße für Wahrnehmungs- und Urteilsmodelle, die auf eine explizite physiologische Betrachtung verzichten und die Wahrnehmung grundsätzlich für anfällig halten. Herder relativiert Erkenntnisgewißheit, indem er sie auf die nicht notwendig konsensuale individuelle Empfindung zurückführt: „Der tiefste Grund unsres Daseyns ist individuell, so wohl in Empfindungen als Gedanken.“236 Wird die Seele selbst zu einem von heteronomen äußeren Faktoren bestimmten Objekt, trägt die Polyvalenz kultureller und individuell prägender Faktoren auch zur methodologischen Verunsicherung bei. Entsprechendes gilt für äußere Einflüsse schlechthin: „Die aleatorischen Impulse eines blind wirkenden influxus circumstantiarum externarum pflanzen so dem Ich ein charakterbestimmendes Programm ein, dem es lebenslang unterworfen bleibt“237 – und das die Analyse dieses Ich schier unmöglich macht, so wäre zu ergänzen.238 Auch historisierende Argumentationsverfahren befördern Probabilismus: Der niedrig angesetzte Gewißheitsanspruch in den Beobachtungswissenschaften führt zur historischen Erweiterung der Beobachtungsgegenstände. Vergrößert man durch die historische Perspektivierung die Anzahl der Eindrücke, so müssen diese auch zeitlich geordnet (und damit vermittelt) wiedergegeben werden. Eine rein begriffliche Beweisführung wird ersetzt durch Beschreibungsformen, bei denen begriffliche und inhaltliche Unschärfen bewußt in Kauf genommen werden. Kontingenz entsteht durch die Parallelisierung von anthropologischem und historiographischem Anspruch. Kohärenz ist bei historischen Urteilen kaum zu erreichen, setzte sie doch eine tendenziell unendliche Beobachtungsdauer voraus.239 Die Komplexität der Faktoren, die menschliches Handeln bestimmen, wird durch die Integration des „Zufalls“ noch zusätzlich gesteigert: „Klima, Nahrungs- und Lebensart, Kunst oder Mode und Zufall bestimmen und erklären alles.“240 Doch wie der „Zufall“ zu fassen sei, kann nicht mehr konzise erklärt werden.

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Vgl. Heinz: Wissen vom Menschen, S. 63f. Schon G. F. Meier leitet wahrgenommene Wirkungen des Gegenstands explizit physiologisch her und begründet so eine subjektbezogene Relativierung der Erkenntnisgewißheit. Vgl. Berg: Schwierigkeiten, S. 19. 236 Herder: Vom Erkennen, S. 207. 237 Riedel: Weltweisheit, S. 434. 238 Vgl. Berg: Erzählte Menschenkenntnis, S. 86ff., 371ff. 239 Vgl. Garber: Selbstreferenz, S. 145f., 150f. 240 August Ludwig Schlözer: Weltgeschichte nach ihren HauptTheilen im Auszug und Zusammenhange. 2 Th. Göttingen 1785–1793, S. 36. Den Zusammenhang der Schlözerschen Welt-

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Zieht man die interdiskursive Konstellation der Wahrscheinlichkeitsdiskussion in Erwägung, verwundert es nicht, daß ein anthropologisches und ästhetisches Resümee der wichtigsten Argumente in einer Rezension zu finden ist, die auch als Beitrag zur Romantheorie gedacht ist: in Johann Karl Wezels Rezension von Sophiens Reise von Memel nach Sachsen.241 Theoretisch leitet Wezel das Wahrscheinlichkeitsproblem aus empirisierenden und naturalisierenden Argumentationsstrategien ab: Die Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit sind freylich relative Dinge, in Beziehung auf denjenigen, der davon urtheilen will: so wie der Zirkel der Erfahrung bey einem Menschen enger oder weiter ist, als bey einem andern, so ist auch sein Begriff von Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit enger oder weiter, und jeder Mensch thut bey der Beurtheilung derselben nichts anders, als daß er sein Gefühl zu Rathe zieht, ob eine Handlung, ein Charakter, eine Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen den innerhalb seiner Erfahrung liegenden Dingen von dieser Art analogisch ist.242

Diese subjektive Einschätzung von Wahrscheinlichkeit hängt nur von der Erfahrung des Urteilenden ab und findet nur innerhalb dieser statt. Als anthropologischer Entscheidungsgrund wird die sinnliche Wahrnehmung und die Empfindung des Individuums eingeführt: „Da uns also nun ein allgemeiner zuverläßiger Meridian für die Wahrscheinlichkeit fehlt, so ist nichts übrig, als daß jeder, wie bey Beurtheilung der Wahrheit, den Ausspruch seines Gefühls und seine Gründe sagt, ohne entscheiden zu wollen – [...]“.243 Wezel unterscheidet zwei Möglichkeiten, wie die Wahrscheinlichkeit einer Begebenheit beurteilt werden könne. Zum einen durch die Betrachtung der Begebenheiten als Wirkung eines Geistes. Es müsse untersucht werden, ob die Begebenheit den übrigen geäußerten Grundsätzen, Neigungen, Leidenschaften, der Denkart und Handlungsweise analog ist, ob und wie sie also mit den äußeren Umständen der „Natur“ übereinstimmt. Zum zweiten kann Wahrscheinlichkeit beurteilt werden, indem man die Begebenheit als bloßes Faktum, als Wirkung und Ursache betrachtet. Handlungszusammenhänge können isoliert werden, eine analytische Zergliederung der Umstände muß auf den konkreten Zusammenhang bezogen werden.244 An dieser Stelle setzt sich poetische Wahrscheinlichkeit tendenziell von der historischen ab, da sie eigene Gesetzmä-

historie zur Naturgeschichte im Gefolge Buffons beleuchtet Dougherty: Buffons Bedeutung, S. 238. 241 Vgl. Johann Karl Wezel: [Rezension von] Sophiens Reise von Memel nach Sachsen. [...]; erstmals in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 19 (1776). 2.St., 269–292, in: ders.: Gesamtausgabe in acht Bänden. Bd. 7. Versuch über die Kenntniß des Menschen. Rezensionen. Hg. Jutta Heinz. Schriften zur Pädagogik. Hg. Cathrin Blöss. Heidelberg 2001, 285–299. 242 Ebd., S. 292. 243 Ebd., S. 293. 244 Vgl. ebd. Knapp zu Wezels Wahrscheinlichkeitskonzept Christian Berthold: Fiktion und Vieldeutigkeit. Zur Entstehung moderner Kulturtechniken des Lesens im 18. Jahrhundert. Tübingen 1993, S. 158.

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ßigkeiten zu erlangen in der Lage ist. Doch bleibt die gemeinsame Basis die anthropologisch-ästhetische Aufwertung sinnlicher Urteilsprozesse. Wahrscheinlichkeitsmodelle im 18. Jahrhundert entstehen in wissenschaftlicher Organisationsform in Poetik und Ästhetik, wo sie sich oft auch mit dem poetologisch seit der Frühaufklärung fruchtbaren „Wunderbaren“ verbinden, in Logik und Metaphysik, wo sich die Systematisierung bloß wahrscheinlicher Erkenntnis und ihre Funktionalisierung im rationalen Erkenntnisprozeß als gängiges Projekt der Aufklärung erweist,245 und schließlich auch in der Mathematik, die eine stochastische Theorie zu konzipieren beginnt.246 Innerhalb literarischer Formen steht Wahrscheinlichkeit für Nicht-Fiktives, wenn nicht mehr der „Schein der Wahrheit“ gemeint ist, sondern eine literarische Produktionsregel.247 Da sich disziplinär anthropologische Texte meist unter dem Primat der Logik oder Metaphysik ansiedeln, greifen sie selbst auf traditionelle Wahrscheinlichkeitstheoreme zurück und suchen diese in neue Modelle zu integrieren, ohne damit eine Relativierung der Erkenntnisgewißheit schlechthin anzustreben. Es wird vielmehr lebenspraktischanthropologisch nach dem Verhältnis von „strenger Wahrheit“ und den individualanthropologischen sowie soziokulturellen Bedingungen und Interessen für Wahrheit (etwa im Sinne der common sense-Debatte) gefragt. Im Rahmen anthropologischer Argumentationsformen erreichen probabilistische Argumente allerdings eine noch größere Relevanz als im Wissenschaftssystem. Komplexität und Kontingenz bestimmen Methodik und Ergebnis anthropologischer Fragen, so daß der logische Anspruch auf „Wahrheit“ diskreditiert erscheint.248 In Organismusmodellen und durch sie veranlaßt entstehen konjekturale Verfahren, die die Relativität der neueren naturwissenschaftlichen Erkenntnisse auf einen anthropozentrischen Zusammenhang übertragen. Das Paradigma der Konjektur manifestiert sich, auch, so müßte man Stefan Metzger ergänzen, im Organismusdiskurs.249 In der Frage von Erkenntnis und Urteil entsteht damit metareflexiv eine Verunsi245

Vgl. Johann Heinrich Lambert: Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung von Irrtum und Schein. Bd. 1. Berlin 1990 (Leipzig 11764). Vgl. zu Lambert Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist. Göttingen 2002, S. 353ff. 246 Campe zeigt in seiner akribischen Rekonstruktion der Wahrscheinlichkeitstheorie des 18. Jahrhunderts, wie Theorien der poetologischen und mathematischen Wahrscheinlichkeit den rhetorischen Topos im 18. Jahrhundert ablösen. Dieser Wandel emergiert wieder in literarischen Entwicklungen. Vgl. Campe: Spiel, S. 7f. Vgl. auch Rüdiger Campe: „Improbable Probability“. On Evidence in the Eighteenth Century, in: Germanic Review 76 (2001), 143–161, zu Wielands Agathon S. 152ff.; ders.: Wahrscheinliche Geschichte – poetologische Kategorie und mathematische Funktion. Zum Beispiel der Statistik in Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in Weltbürgerlicher Absicht“, in: Joseph Vogl (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999, 209–230, dort auch zu Agathon, S. 217ff. 247 Vgl. Berthold: Fiktion, S. 93. 248 Vgl. zur Aufwertung des „Zufalls“ Wegmann: Diskurse, S. 14f. Zu Folgen der KontingenzErfahrungen vgl. Eibl: Entstehung der Poesie, S. 125ff. 249 Vgl. Stefan Metzger: Die Konjektur des Organismus. Wahrscheinlichkeitsdenken und Performanz im späten 18. Jahrhundert. München 2002, S. 17.

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cherung, die sich von philosophischem Skeptizismus unterscheidet:250 Diese Form des Probabilismus und Relativismus bleibt nicht auf philosophische Textgattungen beschränkt, sondern sie bildet sich in literarischen und paraliterarischen Gattungen, vorwiegend im Essay und im Roman der Spätaufklärung, aus.251 Sie beruht auf dem Anspruch, empiriebasiert vorzugehen und keine Metaphysik zu betreiben. Obwohl „Wahrscheinlichkeit“ in der Disziplin „Anthropologie“ kaum kategorial bestimmend wird, resultiert der diskursive Probabilismus aus Kontingenzerfahrungen anthropologischer Argumente außerhalb der Disziplin. So konstatiert Justus Christian Hennings die grundlegende probabilistische Verfaßtheit seelenkundlichen Wissens: Untersuchet aber die Vernunft nach der Strenge ihrer Beweisgründe, so erkennet man sogleich, daß der menschliche Verstand bey aller Anstrengung seiner Kräfte in psychologischen Untersuchungen noch dunkle Flecken behalte, und daß auch die jenigen, welche durch Witz und rednerische Schminke ihre Wendungen und Talente als völlig überzeugend bey der grossen Welt geltend zu machen suchen, dennoch nur einen Grad der Wahrscheinlichkeit bald mehr, bald weniger erhöhen.252

Hieraus folgt der hypothetische Charakter psychologischen Wissens: „Alles, was wir von der Seele mit Gewißheit wissen, kann in wenigen Blättern ausgedrückt werden. [...] Mit einem Worte, die Seelenlehre ist der rechte Sitz und Residenz der Hypothesen.“253 Auf modaler Ebene wird für die Rezeption des anthropologischen Diskurses entscheidend, daß die anthropologisch fundierten Verfahren der Aufklärung auf die Methoden selbst angewendet werden. Es findet eine Selbstreflexion der Aufklärung statt als verfahrensbezogene Metaebene der Reflexion, nicht nur als Bestimmung dessen, was Aufklärung sei.254 Der anthropologische Diskurs (nicht: die Anthropologie) bildet in diesem Sinne ein Element der öffentlichen Auseinandersetzung, in der sich Aufklärung ereignet. Sie stellt einen Katalysator dar für Prozesse der erkenntnismodalen Selbstreflexivität, die als Selbstaufklärung, als Anwendung aufklärerischer Methoden auf die Aufklärung selbst, bestimmt werden können. Diese Modalisierung von Erkenntnissen und Wahrheiten führt dazu, daß 250

Stöckmann spricht im Anschluß an Koschorke davon, die Anthropologie sei darauf angewiesen, die Unlösbarkeit des Leib-Seele-Problems zugleich einzugestehen und zu mißachten. Vgl. Stöckmann: Traumleiber, S. 28, Koschorke: Körperströme, S. 128. 251 Schon Cassirer merkt an, Relativität von Wahrheit und Notwendigkeit werde ein „Lieblingsthema“ der allgemeinen Literatur. Vgl. Cassirer: Philosophie der Aufklärung, S. 153f. Doch ist umgekehrt die Isolierung binnenliterarischer oder poetologischer Wahrscheinlichkeitstheoreme nicht unproblematisch. Vgl. Berthold: Fiktion, S. 77ff. 252 Justus Christian Hennings: Geschichte von den Seelen der Menschen und Thiere. Pragmatisch entworfen. Halle 1774, S. 11f. 253 Ebd., S. 12. Wahrscheinlichkeit bedeutet aber auch bei Hennings nicht grundsätzliche Unmöglichkeit von Erkenntnis. Vgl. Christoph Böhr: Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, S. 64f. 254 Diese Selbstreflexion führt über Fragen nach der „wahren Aufklärung“ hinaus. Vgl. zur Diskussion um Begriff und Reichweite der Aufklärung Schneiders: Wahre Aufklärung, S. 18ff.

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rationalistisch gewonnene Wahrheit delegitimiert wird. Vor Kants Kritiken, schon in den 60er und 70er Jahren, setzt sich in literarischen und literartheoretischen Texten der Gedanke der Polyvalenz von Wahrheit und Wahrheits-Findung durch, das Problem, das Kant durch die Scheidung apriorischer und aposteriorischer Zugriffe theoretisch zu lösen wußte. Die Modalisierung der aufklärerischen Selbstreflexion ermöglicht, daß nicht-philosophische Gattungen und Genres philosophische Aporien aufzeigen und zu neuen Lösungwegen transformieren.255 Exemplarisch mag hierfür Georg Christoph Lichtenbergs Option der konjunktivischen Frage stehen, die selbst in empirisch-experimentalphysikalischen Angelegenheiten die Entscheidungsfindung dem metareflexiven Forschen des Lesers überläßt und die die Möglichkeit anderer Lösungen und anderer Methoden ständig offenhält.256 Skepsis muß nun nicht mehr mit einem philosophischen Verfahrenstopos begründet werden, sondern resultiert aus der Komplexität der Empirie. Karl Philipp Moritz proklamiert, erst das Sich-Irren-Können gebe unserer Denkkraft Freiheit und Selbsttätigkeit.257 Die Defizite der menschlichen Erkenntnis bedeuten also auch ein Moment der Freiheit, das zur aufklärerischen Progression verpflichtet. Zur empirischen Bestandsaufnahme gehört aber auch, daß die individuelle Selbstbeobachtung durch Distanzierung zu relativieren gesucht wird.258 Auch Schlözers Modell der „Geschichte der Weltgeschichte“, das den Prozeß des Erzählens von Geschichte als metareflexiven Akt berücksichtigt, führt die Metaebene als potentiell selbstreflexive Ebene der Wissenschaften ein, doch ohne daß hier Urteilsbildung generell reflexiv relativiert würde. Das Modell selbst sichert den reflektierten Charakter der dargestellten Erkenntnis, so daß die Einzelurteile nicht mehr befragt werden müssen.259 Aufklärung wird also nicht nur dadurch motiviert, daß sie ein relationales Defizit der Erkenntnis konstatiert, sondern sie wendet diese Relationalität in ein selbstreflexives Verfahren.260 Charakteristisch für diese dritte Ebene des anthropologi255

Vgl. grundlegend Heinz Thoma: Philosophie – Anthropologie – Erzählen. Der Roman als Instrument der Selbstaufklärung der Aufklärung, in: Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes. Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 21,1/2 (1997), 55–77. 256 In Lichtenbergs Anmerkungen zu Erxlebens Anfangsgründe der Naturlehre signalisiert die Chiffre „?L.“ den methodischen, konjunktivischen Zweifel. Vgl. Johann Christian Polykarp Erxleben: Anfangsgründe der Naturlehre. Mit Zusätzen von G. C. Lichtenberg. Göttingen 3 1784, S. 111, 455, 475, 532, ders.: Anfangsgründe der Naturlehre. Mit Verbesserungen und vielen Zusätzen von G. C. Lichtenberg. Göttingen 61794, S. 77, 460f. Vgl. Albrecht Schöne: Aufklärung aus dem Geist der Experimentalphysik. Lichtenbergsche Konjunktive. München 1982, S. 122f. Lichtenberg selbst äußert zur Relevanz der Hypothesen: „Ich sehe solche Hypothesen in der Physik für nichts weiter an als bequeme Bilder, sich die Vorstellung des Ganzen zu erleichtern.“ Erxleben: Anfangsgründe. 3. Aufl., Vorrede, XXIII–XXX, hier S. XXIX. 257 Vgl. Karl Philipp Moritz: Fortsetzung der Revision der drei ersten Bände dieses Magazins, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde 4 (1786), 2.St., 1–24, hier S. 16f. 258 Vgl. ausführlicher Kallweit: Zur „anthropologischen“ Wende, S. 27ff. Moritz argumentiert empirisierend, der Schwierigkeiten der Empirie bewußt. Vgl. ebd., S. 34. 259 Vgl. Garber: Selbstreferenz, S. 166f. 260 Vgl. zur Motivation von Aufklärung durch das Dunkle Fohrmann: Aufklärung, S. 78.

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schen Diskurses ist, daß ein philosophisches Thema durch Metareflexion in einen allgemeinen Diskurs überführt wird. Die Reichweite der Selbstreflexion kann dabei disziplinär begrenzt oder aufklärerisch frei sein. Die Erkenntnistheorie, bisher der Philosophie vorbehalten, wird innerhalb ganz anderer Gattungen wesentlich erweitert, indem Schwierigkeiten und Probleme von Urteil und Erkenntnis nicht nur thematisch werden, sondern im Prozeß der Erkenntnis zu dessen inhärenter Reflexion mit beitragen. Sie wird zu einer modalen Stufung des Erkenntnisfortschrittes. Selbstaufklärung besteht darin, daß eine Metaebene der Reflexion die bisherige ergebnisoffen immer wieder überprüft. Selbstaufklärung ist ein methodisches Verfahren, das nicht erst die Resultate der Aufklärung, sondern schon den Prozeß der Erkenntnisgewinnung reflektiert. Die inhaltlich-wissenschaftsgeschichtliche, die argumentative und die modalmetareflexive Ebene der Anthropologie wirken in jeweils unterschiedlicher Weise auf andere Diskurse. Die anthropologische Wende bleibt nicht nur auf einige wenige Autoren des sogenannten Höhenkamms beschränkt.261 Sie prägt nicht zuletzt den Vorurteilsdiskurs.

2.4 Anthropologie und Vorurteilsdiskurs. Zum Zusammenhang der interdiskursiven Konstellation Das vorgestellte heuristische Modell erhebt nicht den Anspruch, überschneidungsfrei Ebenen und Formen des anthropologischen Diskurses analytisch getrennt zu haben. Voraussetzung seiner Anwendbarkeit ist vielmehr gerade die dichte Verbindung der jeweiligen Formen und Ebenen, die gemeinsam das regulative System interdiskursiver Beziehungen bilden. Die zentrale These für die Analyse der Vorurteilsdiskussion der deutschen Spätaufklärung geht von einer doppelten interdiskursiven Relation des anthropologischen Diskurses und des Vorurteilsdiskurses aus. Die anthropologische Wende wirkt einerseits durch die Aufnahme von Wissen aus dem im engeren Sinne anthropologischen Spezialdiskurs (z. B. die Verankerung von Vorurteilen in den Tiefenschichten der Seele), andererseits aber auch durch die Aufnahme und Verarbeitung von Argumentationsstrategien aus dem interdiskursiven Bereich, der auf der Grundlage des anthropologischen Diskurses generiert wird.262 Aus dem inhaltlichen Bezug auf den Spezialdiskurs entstehen Figuren anthropologiebasierten Argumentierens, die nicht mehr auf den wissenschaftlichen Diskurs reduziert werden können. Mit der zunehmenden Literarisierung und Interdiskursivierung des Vorurteilsdiskurses bezieht er sich weniger auf 261 262

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So auch, den etwas unscharfen „Ideen“-Begriff verwendend, Riedel: Weltweisheit, S. 402. In diesem Sinne ist die anthropologische Wende eine Formationsregel für den Vorurteilsdiskurs. Die konkreten Argumentationsfiguren der zweiten und dritten Ebene werden zu elementaren Diskurskennzeichen. Vgl. Foucault: Archäologie, S. 52.

den Spezialdiskurs Anthropologie als auf anthropologische Teile des Interdiskurses. Die Vorurteilsdiskussion nimmt nicht nur die interdiskursiven Elemente (als Argumentationsfiguren) auf, sondern sie wird selbst durch diese transformiert. Die hier vorgestellte interdiskursive Heuristik gewinnt einen diskursiven Erklärungs-, nicht nur einen analytischen Beschreibungswert für die Ausbildung von Wissensprozessen in der deutschen Spätaufklärung. Es wird die These vertreten, daß interdiskursive „Transferregeln“263 aus dem anthropologischen Diskurs gewonnen werden, im Vorurteilsdiskurs eine gnoseologische Perspektive erhalten und so literarische Prozesse der Spätaufklärung bedingen. Die „artistische Emanzipation“ der Literatur ist auch dadurch bedingt, daß sich der literarische Diskurs interdiskursiven Einflüssen öffnet. Im folgenden soll zwischen vier Grundtypen des Vorurteilsdiskurses unterschieden werden. Kritische (Abschnitt 3) und rehabilitierende Verwendungsformen (Abschnitt 4) basieren auf einem meist noch explizit formulierten, selbst aber virulenten Wandlungen unterliegenden Vorurteilsbegriff. Vorurteile sollen destruiert oder eben (partiell) rehabilitiert werden, weil sie bestimmte konzeptuelle Merkmale aufweisen, die diesen Schluß nahelegen. Mit der Problematisierung der Frage der Modi des Umgangs mit den Vorurteilen wird aber auch die Eindeutigkeit der jeweils grundierenden Norm suspekt: Transformierende Verwendungsformen (Abschnitt 5) lösen den Vorurteilsdiskurs aus der begrifflich-konzeptuellen Engführung und fokussieren die modalen Optionen des Diskurses, die sich als anthropologiebasierte Gnoseologie erweisen. Instrumentalisierende Verwendungsformen des Vorurteilsdiskurses schließlich (Abschnitt 6), die formal wieder auf Begriffsbestimmungen basieren können, unterlegen eine neue, externe normative Regularität. Vorurteile werden hier auf den Status eines Kampfbegriffs reduziert. Die hier vorgestellte Typologie soll – trotz der Tendenz zu diskursiv offeneren Modellen in der Spätaufklärung – nicht als chronologisch sukzessive Folge mißverstanden werden. Eine solche Annahme müßte auf der Simplifizierung aufbauen, daß sich der Vorurteilsdiskurs innerhalb einer Textgattung als geschlossene, vielleicht gar als kausale Abfolge vollzieht. Die hier vorgelegte Analyse sucht zu erweisen, daß sich die entscheidenden Wandlungen des Vorurteilsdiskurses, die seine elementare Relevanz für die Aufklärung ausmachen, nicht innerhalb einer Gattung (auch und gerade nicht innerhalb philosophischer Texte) vollziehen. Es wird von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ausgegangen, die nahelegt, daß sich das interdiskursive Reservoir nicht nur akontinuierlich aufbaut, sondern auf es auch nicht homolog zugegriffen wird. Daher wird auch darauf verzichtet, die Formen des Vorurteilsdiskurses mit zeitlichen Phasenmodellen zu kongruieren. Die Typologie bildet auch keine Teleologie ab, die etwa den erkenntnistheoretischen Perspektivismus der transformierenden Verwendungsformen als Gipfelpunkt 263

Die Analyse solcher „Transferregeln“ sieht Stöckmann (Traumleiber, S. 14) zurecht als Desiderat.

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der Aufklärung voraussetzte. Es soll vielmehr analytisch erwiesen werden, wie sich im Gefolge der Austarierung diskursexterner wie -interner Normierungen ein Selbstverständnis der Aufklärung als modal-reflexive Selbstaufklärung ausbildet, wie dieses aber auch im Zuge der Renormierung des Diskurses zu instrumentalisierenden Formen führt. Die Typologie schließlich soll nicht als Abfolge von Paradigmenwechseln im Sinne einer jeweils revolutionären Wandlung verstanden werden.264 Die Vorurteilsdiskussion wandelt sich in sukzessiven Schritten, gelegentlich gar in Schritten, die, neue anthropologiebasierte Argumente aufnehmend, den Anschein erwecken, als würden sie vom bisherigen Weg abweichen. Gemeinsam ist allen vier Formen des Vorurteilsdiskurses der deutschen Spätaufklärung, daß sie den philosophischen Diskurs, der die diskursive Regulationsmacht (im übrigen bis zur Soziologisierung der Vorurteilsdiskussion im 20. Jahrhundert) innezuhaben schien, entscheidend entgrenzen und seiner Funktion für die Frage des Umgangs mit den Vorurteilen entheben. Denn der Vorurteilsdiskurs der deutschen Aufklärung beruht auf divergenten Rezeptionsprozessen anthropologischer Diskurse und Interdiskurse, auf Elementen anthropologiebasierten Argumentierens, das sich nicht im Philosophischen erschöpft. Über die diesen Argumentationsformen inhärente probabilistische Komponente wird der Diskurs entnormiert und ermöglicht in den transformierenden Verwendungsformen die freie Reflexion des Rezipienten. Die vier Verwendungsvarianten des Vorurteilsdiskurses bilden unterschiedliche Modelle der Selbstreflexivität und damit nicht nur die grundierende Verfassung der Selbstaufklärung, sondern auch deren unterschiedlichste Praxisformen aus. Aufklärung im Sinne des hier zugrundeliegenden integrativen Aufklärungsbegriffs erweist sich durch den Widerstreit normativer Prämissen, nicht alleine durch deren inhaltlich-pragmatische Füllung mit den Ingredienzien aufklärerischer Qualitäten. Es ist der Streit, der die Aufklärung ausmacht, nicht die Reinheit ihres Verstandes.

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Vgl. Kuhn: Struktur, S. 25.

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Anthropologisierte Vorurteilskritik

3.1 Affekte und ihre Folgen: Affektmanagement und Erkenntnistheorie in der Vorurteilsdiskussion der Frühaufklärung „Die Aufklärung zieht gegen Täuschung und Vorurtheil zu Felde.“1 Diese aus den späten 80er Jahren des 18. Jahrhunderts stammende apodiktische These des Predigers, Publizisten und Wöllner-Kritikers Andreas Riem scheint den Konsens auch der Dixhuitièmistik zu beschreiben.2 Vorurteile bildeten den Gegenpol zur Aufklärung, ihre Aufdeckung und Zerstörung liege demnach im Interesse aller Aufklärer. Wer sich für Vorurteile ausspricht oder über Wege des Umgangs mit dem Vorurteil nachdenkt, scheint nicht in das Bild der vorurteilskritischen Philosophie der Aufklärung zu passen. Auch im Umkreis entschlossener Spätaufklärer, bei Riem und Gottlieb Nathanael Fischer etwa, scheint die Sachlage klar, obwohl doch deren philosophischer Anspruch dem politisch-publizistischen untergeordnet bleibt. Es scheint – auch angesichts der umfassenden Vorarbeiten Werner Schneiders’3 – kaum mehr notwendig, den Aspekt der Vorurteilskritik der Aufklärung umfassend darzustellen. Dies ist auch hier nicht die Absicht. Es soll vielmehr gezeigt werden, wie schon innerhalb logischer oder moralphilosophischer Formationsregeln anthropologiebasierte Argumente (teils in rudimentärer Form) in der kritischen Vorurteilsdiskussion verwendet werden und wie sich hierdurch Aporien andeuten, die man noch eindeutig, meist begriffsbasiert zu lösen sucht. Mit dem begrifflichen Wandel des „Vorurteils“ (der sich schon in den frühen Schriften des halleschen Philosophen und Baumgarten-Exegeten Georg Friedrich Meier in den 40er Jahren des 18. Jahrhunderts zeigt) können die teils bereits seit der Frühaufklärung präsenten, nun aber erweiterten und neu situierten anthropologischen Argumentationsformen den Diskurs regulieren: Die Diskrepanz zwischen rationaler Vorurteilskritik und deren anthropologiebasierter Komplexität beginnt sich als Problem zu etablieren.

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Riem: Ueber Aufklärung. Erstes Fragment, S. 29. Zum Verständnis von Aufklärung als Vorurteilskritik in der Forschung s.o. S. 18ff.! Vgl. zu Riems Aufklärungsverständnis Stuke: Aufklärung, S. 274f., zum Zusammenhang Schneiders: Wahre Aufklärung, S. 74ff., zur Wöllner-Debatte Dirk Kemper: Der historische Kontext, in: ders. (Hg.): Mißbrauchte Aufklärung? Schriften zum preußischen Religionsedikt vom 9. Juli 1788. Begleitbd. Hildesheim / Zürich / New York 1996, 55–111, hier S. 72f. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik.

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3.1.1 Kritik der Vorurteile gegen anthropologische Einwände: Ch. Thomasius und G. F. Meier Die moralische Vorurteilskritik von Christian Thomasius gilt, weit über den Topos hinaus, er selbst habe mit Vorurteilen entschieden aufgeräumt, als grundlegender Orientierungsmaßstab vieler späterer Stellungnahmen.4 Hier soll indes die Vorurteilstheorie Thomasius’ nicht umfassend gesichtet oder analysiert werden.5 Im Zentrum steht die Frage, inwieweit Thomasius’ affektive Verankerung seiner Vorurteilslehre ein Problemfeld umreißt (mehr denn beantwortet), das schließlich für die Hoch- und Spätaufklärung zentral werden sollte. Die Analyse konzentriert sich ausschließlich auf den interdiskursiven Zusammenhang, der durch die Trias Vorurteil – Anthropologie – Urteilsbildung beschrieben wird. Den Beitrag aller hier behandelten Autoren zur Philosophie-, Literatur- oder Wissensgeschichte vollständig zu eruieren ist nicht beabsichtigt und wäre auch deshalb kontraproduktiv, weil dies den Blick verstellte auf eine für die Aufklärung distinktive Frage: Welche Konzepte für den Umgang mit Vorurteilen kann man entwickeln angesichts der drängenden Anthropologisierung? Thomasius verbindet seinen eklektischen Anspruch, sich zu keiner „Secte“ zu schlagen, mit dem Ziel, „bloß nach der Erkäntniß seiner Vernunfft“ zu gehen.6 Diese Wendung zum eigenständigen Denken ist charakteristisch für Thomasius’ frühe Eklektik – im Gegensatz zum selektiven Eklektizismus, der die Thesen anderer akkumuliert.7 Selbstdenken widerspricht der Unterwerfung unter ein einseitiges System. Es erfordert einen Prozeß der kritischen Überprüfung eigener Vorannahmen, eine Methode, „die Sache ein wenig reiffer zu überlegen / und in meinen Kopffe auffzuräumen“.8 Diese metaphorischen Umschreibungen, die auf die Freiheit des Selberdenkens abheben, zielen auf zwei Typen des Vorurteils, die Thomasius bei sich nun getilgt, aber in der Welt noch immer wirksam sieht: „die Vor4

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Vgl. ebd., S. 92, zu Stufen und Textbestand von Thomasius’ Beitrag zur Vorurteilstheorie v.a. Beetz: Transparent gemachte Vorurteile, S. 12ff.; Brüggemann: Einleitung, S. 28; Engfer: Empirismus versus Rationalismus?, S. 258ff. Zur Innovativität Thomasius’ im Hinblick auf die Art des Philosophierens vgl. Helmut Holzhey: Initiiert Thomasius einen neuen Philosophentypus?, in: Werner Schneiders (Hg.): Christian Thomasius. 1655–1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung. Hamburg 1989, 37–51. Vgl. auch Riedel: Weltweisheit als Menschenlehre, S. 404, 410ff. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 92ff., Beetz: Transparent gemachte Vorurteile, S. 32f. Christian Thomasius: Ausübung der Vernunftlehre, in: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. Werner Schneiders. Bd. 9. Hildesheim / Zürich / New York 1998, Widmung, S. a4 v. Vgl. Albrecht: Eklektik, S. 398ff., 406, vgl. auch differenzierter zur Spezifik der Eklektik bei Thomasius ders.: Thomasius – kein Eklektiker?, in: Werner Schneiders (Hg.): Christian Thomasius: 1655–1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung. Hamburg 1989, 73–94, zur Forschungslage S. 74f., zum Zusammenhang von Selbstdenken und Eklektik S. 92f. Thomasius: Ausübung der Vernunftlehre, Widmung, S. a3 v. Thomasius bezieht sich hier auf Ehrenfried Walther von Tschirnhaus: Medicina mentis sive artis invenienda praecepta generalia. Leipzig 1695.

urtheile menschlicher Authorität und Præcipitanz“.9 Deren Beseitigung ermöglicht erst freies, selbständiges Denken.10 Vorurteile stehen der Wahrheitssuche entgegen: „erroneas opiniones [...] à consecutione veritatis maximè abducentes, quæ, quoniam communiter præcedunt judicium firmum & rectæ rationi congruens, appellantur præjudicia.“11 Diese vorurteilskritische Konstellation, die hier mit wenigen Sätzen skizziert wird, erweist sich bei Thomasius als moralphilosophisches und damit praktisches Problem. Seine deutschsprachigen Lectiones de praejudiciis, die er 1689 noch in Leipzig hielt, verstehen sich als Behandlung der Frage der Vorurteile im Rahmen moralphilosophischer Pragmatik.12 Doch konnten angesichts der offensichtlichen Vorurteilsbefangenheit vieler Menschen die Bekämpfungsstrategien nicht auf rationale Optionen beschränkt bleiben. Methodisch mußten Affekt und Ratio und damit auch Körper und Geist als Träger der jeweiligen Erkenntnisformen integriert werden.13 Thomasius’ Einleitung zu der Vernunfft-Lehre formuliert bereits die Notwendigkeit, den Menschen als ganzen Menschen, in der Vereinigung von Körper und Geist zu verstehen. Dieses anthropologische Grundverständnis ermöglicht die vernunftgemäße Erkenntnis der Wahrheit: „Wenn der Mensch nicht weiß, worinnen seine Vernunfft bestehet, wie will er dieselbe brauchen die Wahrheit zu erforschen. Wie will er aber wissen, was seine Vernunfft sey, wen er nicht vorher weiß, was er der gantze Mensch sey.“14 Daß hier das für die Anthropologie der Aufklärung folgenreiche Konzept des „ganzen Menschen“ formuliert wird, hat in der Forschung schon Beachtung gefunden.15 Doch kann kaum davon die Rede sein, die Logik werde hier – wie in der Hochaufklärung – bereits psychologisch fundiert, denn der „gantze Mensch“ steht hier nicht als Instanz des Erkenntnisprozesses in Frage, als die er zur wahren Erkenntnis beitragen könnte, sondern lediglich als Objekt der Erkenntnis. Das Vorgehen der empirisch-naturwissenschaftlichen Experimentalwissenschaften unterliegt einem Verdikt.16 Obwohl Thomasius die affektiven und voluntativen Aspekte 9

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Thomasius: Ausübung der Vernunftlehre, Widmung, S. a4 r. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 92f. Später sollte Thomasius seine Typologie noch weiter differenzieren; vgl. ebd., S. 94ff. Vgl. Albrecht: Eklektik, S. 401f., auch unter Bezug auf Christian Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, in positiones succinctè contractae. [...]. Frankfurt a.M. / Leipzig 1688. Thomasius: Introductio ad philosophicam aulicam, S. 121. Schneiders skizziert die doppelte Zielrichtung der Vorurteilstheorie Thomasius’ zutreffend: Sie ordnet sich der Logik zu, gewinnt aber auch moralisch-praktische Bedeutung. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 111f. Vgl. Godel: „Eine unendliche Menge dunkeler Vorstellungen“, S. 546ff. Christian Thomasius: Einleitung zu der Vernunfft-Lehre, in: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. Werner Schneiders. Bd. 8. Hildesheim / Zürich / New York 1998, S. 95. Vgl. u.a. Kondylis: Aufklärung, S. 549f., Ulrich Gaier: „ [...] ein Empfindungssystem, der ganze Mensch“. Grundlagen von Hölderlins poetologischer Anthropologie im 18. Jahrhundert, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart / Weimar 1994, 724–746, hier S. 728ff. Vgl. u.a. hierzu Friedrich Vollhardt: „Die Finsternüß ist nunmehro vorbey“. Begründung und Selbstverständnis der Aufklärung im Werk von Christian Thomasius, in: ders. (Hg.): Christian

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des Menschen zum Erkenntnisgegenstand macht, bewirkt dies noch keine modale Erweiterung des Erkenntnisprozesses. Von anthropologiebasiertem Erkennen ist (noch) nicht die Rede. Doch erweist sich die Kenntnis der Affekte, Neigungen und Triebe des Menschen als notwendig, um vernunftgemäß nach der Wahrheit suchen zu können. Das Affektive bildet eine Bedingung der Erkenntnis. Darüber hinaus aber kommt es auch als Zielbereich der Verstandesverbesserung bei Thomasius in den Blick: Innerhalb seines dreistufigen Erkenntnismodells folgt auf die Kenntnis des ganzen Menschen (die die Gemütsbewegungen und Neigungen einschließt) die Verstandesverbesserung, die schließlich im dritten Schritt zur Verbesserung des Willens führt. Die Emendatio intellectus dient der Emendatio voluntatis.17 Diesem integrativen Idealmodell menschlicher Erkenntnis steht jedoch in der Lebenspraxis die oben zitierte Bestimmung der Vorurteile entgegen. Denn die Wahrheitssuche wird durch Vorurteile, durch irrige oder irreführende Meinungen behindert. Die Ratio kann den Willen des Menschen nur schwer steuern, weil dieser der affektiven Prägung durch Vorurteile unterliegt: „Præiudicia hæc vel dependent ab intellectu vel à voluntate malè informatis.“18 Ist die schlechte Informiertheit des Verstandes noch rational zu bewältigen, so behindert doch der affektive Gehalt der Vorurteile ihre Bekämpfung, wie der Typus der præiudicia affectuum ausweist. Bei diesen wird der Verstand des Menschen durch die Affekte und durch den von ihnen abhängigen Willen so sehr benebelt, daß die Wahrheit nicht mehr erkennbar ist.19 Trotz des grundlegenden Vertrauens Thomasius’ auf die Distinktionsfähigkeit des Verstandes (auch des eigenen) erweist sich beim Blick auf die menschliche Ontogenese die elementare Dimension des Problems der affektiven Vorurteile. Falsche Meinungen, die aus der Dominanz der affektiven und voluntativen Erkenntnis entstehen, sind insbesondere dann nicht zu vermeiden, wenn die menschliche Ratio noch ungenügend ausgebildet ist. Vorurteilskritik scheint vor allem in der frühen Kindheit fast unmöglich, weil Affekte herrschen. Die Hauptursache der Vorurteile ist „der elende Zustand des Verstandes des Menschen in seiner Jugend“.20 Wenn Affekte (wie in der Kindheit) zu stark sind, sind Vorurteile unvermeidbar. Schon Descartes hatte – in Abwandlung von Bacons Idolenlehre – die These vertreten, die Unfertigkeit des kindlichen Verstandes habe zur Folge, daß das Kind Meinungen der Lehrer ungeprüft übernehme und über sinnliche Gegenstände urteile, ohne sie deutlich, rational zu erkennen.21

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Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen 1997, 3–13, hier S. 8f. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 93. Thomasius: Introductio ad philosophicam aulicam, S. 121. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 95. Thomasius: Einleitung zu der Vernunfft-Lehre, S. 305. Vgl. Engfer: Empirismus versus Rationalismus?, S. 56.

Doch führt Thomasius’ pragmatische Perspektive über diese Bestimmung hinaus. Für den Prozeß der Meinungsbildung im Kindesalter könne es umgekehrt auch sinnvoll und notwendig sein, daß Kinder Vorurteile, insbesondere praeiudicia auctoritatis in Form der Meinungen ihrer Eltern und Lehrer aufnähmen.22 Thomasius verwahrt sich gegen vorurteilskritische Einwände, das Vorurteil der Autorität sei zufällig und kontingent: „Das praejudicium autoritatis ist freylich nicht absolute oder schlechterdings und physice nothwendig, sondern moraliter und wenn man den allgemeinen Zustand der Menschen betrachtet.“23 Damit führt er ein pragmatisches Argument ein, das Vorurteile zwar nicht grundlegend rehabilitiert, sie aber im Zusammenhang der moralischen Praxis, abhängig von den jeweiligen Gegebenheiten, für partiell notwendig erklärt, zumal sie eben nicht immer vermeidbar sind. Obwohl demnach bei Thomasius positive Funktionen der Affekte in den Blick kommen – von einer vollgültigen Sensualisierung kann noch nicht die Rede sein –, obwohl also die Frage des Affektmanagements eindringlich formuliert wird, bleibt seine Vorurteilstheorie im Rahmen logisch-erkenntnistheoretischer Wahrheitssuche. Thomasius propagiert den gründlichen vernünftigen Zweifel als ausreichendes Mittel zu Selbsterkenntnis und Selbstkritik, als Weg, die eigene, im Selbstdenken zum Ausdruck kommende Vernunft zum Maßstab des Urteils zu machen. Diese Selbstkritik führe zur Überwindung der falschen Meinung und so zur Wahrheit. Vorurteile bleiben Hindernisse der Wahrheitssuche, die wegen des logischen und moralischen Primats der Wahrheit destruiert werden müssen, soweit dies möglich ist. Denn mit Blick auf die Wahrheit stehe zu befürchten, daß Vorurteile, die erhalten bleiben, weitere Erkenntnis verhindern und zu falschen Urteilen führen.24 22 23

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Vgl. Thomasius: Lectiones de praejudiciis, S. 708ff. Ebd., S. 709. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 101. Engfer führt an, das Argument stamme bereits von Descartes und werde von Thomasius aufgenommen. Vgl. Engfer: Empirismus versus Rationalismus?, S. 56, 257, 265. Die Vermischung von Empfindungen und Ideen bei Kindern konstatieren auch Locke und Leibniz. Dies faßt Feder in Rezeption des englisch-schottischen Empirismus als Ideenassoziation. Vgl. u.a. Johann Georg Heinrich Feder: Untersuchungen über den menschlichen Willen dessen Naturtriebe, Veränderlichkeit, Verhältniß zur Tugend und Glückseligkeit und die Grundregeln, die menschlichen Gemüther zur erkennen und zu regieren. 4 Theile. Göttingen / Lemgo 1779–1793, hier 1.Th., S. 67f. Gegen die übliche Annahme der Vorurteilsbelastetheit von Kindern argumentiert Knigge: „sie (die Kinder, R. G.) empfangen manche Eindrücke weit schneller, haben noch eine große Anzahl Vorurteile weniger gefaßt – kurz, wer Menschen studieren will, der versäume nicht, sich unter Kinder zu mischen!“ (Knigge: Über den Umgang mit Menschen, S. 143) Der Topos wird in der Aufklärung häufig verwendet, auch unabhängig von einem konkreten, intertextuellen Hinweis auf Thomasius, der erst in der Spätaufklärung auch namentlich als Bezugspunkt aufklärerischer Vorurteilskritik wiederentdeckt wurde: In einem biographischen Porträt von Thomasius in der Berlinischen Monatsschrift wird als seine wesentliche Leistung die „Errettung aus den schmählichen Ketten der Vorurtheile und des Aberglaubens“ gewürdigt. [Anonym:] Christian Thomasius; geb. am Neujahrstage 1655; gest. d. 23 Septemb. 1728, in: Berlinische Monatsschrift 23 (1794), 11–45, hier S. 17f. Vgl. auch die Fortsetzungen des Artikels: [Anonym:] Christian Thomas, ebd., 160–200; [Anonym:] Christian Thomas. (Beschluß [...]), ebd., 216– 254. Dieser dritte, abschließende Teil ist mit „Z.“ (vermutlich für Zöllner) signiert. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 92ff., 96, 99, 101.

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Die Reichweite anthropologiebasierter Argumente bleibt bei Thomasius eingeschränkt. Aufgrund der Erweiterung des philosophisch-logischen Erkenntnisgegenstandes auf den „ganzen Menschen“ können Affekte zwar als Teile des Erkenntnisprozesses in die gnoseologische Diskussion eingeführt und als Quellen des Vorurteils explizit bestimmt werden. Dennoch bleiben die affektiv verankerten Vorurteile, da sie material-falsche Meinungen sind, im Rahmen der Wahr-falschDichotomie per Ratio destruierbar. Das thomasianische Modell der Vorurteilskritik ist also insofern statisch, als es davon ausgeht, daß die Wahrheit trotz aller Widerstände per Vernunft erreichbar ist. Die bei Thomasius sichtbaren Ansätze zu einer anthropologischen Fundierung des Vorurteilsdiskurses sahen sich, blickt man auf die diskursive Konstellation der Frühaufklärung, mit eminenten Durchsetzungsschwierigkeiten konfrontiert. Das hat einen wesentlichen Grund in der Reichweite der Philosophie Christian Wolffs. Insbesondere drei Aspekte wurden für die Vorurteilsdiskussion relevant. Erstens: Die virulente Subordinierung der psychologia empirica unter die psychologia rationalis schrieb dem interdiskursiven, anthropologischen Argumentationsreservoir, das in Thomasius’ Stellung zur Vorurteilsfrage einging, im wesentlichen die Rolle von Hilfswissen (bestenfalls einer Hilfswissenschaft) zu. Zweitens: Die inhaltliche und methodische Konzeptbildung Wolffs lief auf eine Wiederauffrischung des alten, pneumatologischen Wissens über die Seele hinaus, das die Frage des commercium mentis et corporis letztlich für eindeutig beantwortet hielt.25 Die Legitimation anthropologischer Fragen wurde so gleichsam untergraben. Drittens: Wolffs Vorurteilstheorie selbst blieb (wie die der meisten seiner Schüler) rudimentär. Schneiders spricht von der „Vernachlässigung“ des Vorurteilsproblems bei Wolff, die ihren wissenschaftssystematischen Grund im effektiven Vorrang der Vernunft vor Erfahrung und Willen hat.26 Das Vorurteil wird bei Wolff zu einem rein erkenntnistheoretischen und damit per Vernunftschluß lösbaren Problem, das sich von den ethisch-moralischen und psychologischen Aspekten löst, die Thomasius thematisiert hatte.27 Damit der Vorurteilsdiskurs wieder zu einem Problem der Aufklärung wurde, bedurfte es demnach nicht nur des Aufbaus des anthropologischen Interdiskurses, sondern auch der Umwertung der wissenschaftlichen Hierarchien.28 Damit verband 25

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Vgl. Wolfgang Riedel: Erster Psychologismus. Umbau des Seelenbegriffs in der deutschen Spätaufklärung, in: Jörn Garber / Heinz Thoma (Hg.): Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert. Tübingen 2004, 1–17, hier S. 5, knapp auch ders.: Influxus physicus und Seelenstärke. Empirische Psychologie und moralische Erzählung in der deutschen Spätaufklärung und bei Jacob Friedrich Abel, in: Jürgen Barkhoff / Eda Sagarra (Hg.): Anthropologie und Literatur um 1800. München 1992, 24–52, hier S. 25. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 158f. Vgl. ebd., S. 169. Die Entwicklung der Ästhetik ist nur eine der Bedingungen für die Neukonzipierung des anthropologischen Diskurses und im Anschluß daran der Vorurteilstheorie. Vgl. zu Naturwissenschaft und Ästhetik (ohne den anthropologischen Diskurs umfassender zu berücksichtigen):

sich in der zeitgenössischen Episteme die neue Relevanz naturwissenschaftlicher und empirischer Verfahren. Die Durchsetzung der Sensualisierung basiert, wie man weiß, entscheidend auf Alexander Gottlieb Baumgartens Formel von der Ästhetik als „Scientia sensitive cognoscendi et proponendi“.29 Insbesondere die populärere Form, die Georg Friedrich Meier Baumgartens Überlegungen gab, trug zur diskursiven Ermächtigung der unteren Begehrungs- und Erkenntnisvermögen des Menschen entscheidend bei. In seinem ästhetischen Systementwurf der Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften sieht Meier das sinnliche Urteil als dem verstandesgemäßen gleichberechtigt an. Meiers „Critik der Schertze“ umfaßt auch die „Kunst, den Geschmack zu bilden, und [sie] lehrt von den Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten, auf eine sinnliche Art, urtheilen.“30 Die Kritik als Urteilslehre umfaßt hier explizit auch Urteile, die nicht auf einer rationalen Basis beruhen. Dieser methodischen Erweiterung entspricht auf inhaltlicher Seite die Aufwertung der menschlichen Affektstruktur als psychologischer Untersuchungsgegenstand.31 „Gemüthsbewegungen“ waren schon vor Meier ein Thema philosophischer Betrachtung. Meier selbst bezieht sich in seiner Theoretische[n] Lehre von den Gemüthsbewegungen ausdrücklich auf die metaphysische Behandlung des Themas bei Wolff und Baumgarten.32 Entscheidend wird aber die Erweiterung des diskursiven Relevanzbereichs der Lehre: Die Wissenschaft von den Gemütsbewegungen trägt, wie Meier seinen Anspruch formuliert, zur Selbst- und Fremderkenntnis bei. Ihr Nutzen bestehe in der „genaueren Erkenntniß der menschlichen Seele, ja, des gantzen Menschen überhaupt“.33 Während bei Baumgarten die dunkle Erkenntnis noch nicht im Zentrum der Aesthetica stand, sondern sich mit dem Status eines Anteils an der Wissenschaft von der klaren und verworrenen Erkenntnis begnügen mußte,34 wird bei Meier das erkenntnistheoretisch Dunkle zu einem anthropologi-

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Michael Jäger: Die Ästhetik als Antwort auf das kopernikanische Weltbild. Die Beziehungen zwischen den Naturwissenschaften und der Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens und Georg Friedrich Meiers. Hildesheim / Zürich / New York 1984. Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica. Pars III. Psychologia, in: ders.: Texte zur Grundlegung der Ästhetik. Übs. und Hg. Hans Rudolf Schweizer. Hamburg 1983, S. 16. Selbstverständlich soll nicht suggeriert werden, Baumgarten habe völlig eigenständig ein neues System geschaffen. Das Verständnis sinnlicher Erfahrung als „analogon rationis“ geht auf Wolff zurück. Vgl. Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand, S. 32. Georg Friedrich Meier: Gedancken von Schertzen. Halle 1744, unpag. Vorrede, S. 8f. Vgl. die programmatischen Passagen in: ders.: Anfangsgründe. [T. 1], unpag. Vorrede, S. a r, 7f. Vgl. zur psychologischen Fundierung der Ästhetik bei Meier und zu den Unterschieden und Parallelen zu Batteux Friedrich Vollhardt: Die Grundregel des Geschmacks – Zur Theorie der Naturnachahmung bei Charles Batteux und Georg Friedrich Meier, in: Theodor Verweyen / Hans-Joachim Kertscher (Hg.): Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung. Tübingen 1995, 26–36. Vgl. Georg Friedrich Meier: Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt. Halle 1744, unpag. Vorrede, [S. 5]. Ebd., S. 13. Vgl. Adler: Fundus animae, S. 205f.

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schen Datum, das mit den ihm adäquaten Mitteln analysiert werden konnte.35 Am Anfang des sich in der Psyche vollziehenden sukzessiven Erkenntnisprozesses steht das Dunkle. Eindeutigkeit und Klarheit der Erkenntnis resultieren aus der Bearbeitung dunkler Erkenntnis: „Die dunckeln Vorstellungen machen den Grund der Seele aus, sie sind das Chaos, welches die Seele bearbeitet, und daraus, die klaren Begriffe und Bilder von dieser Welt, in sich durch eine Art der Schöpffung hervorbringet.“36 Dieser Gedanke bleibt nicht auf Meiers Psychologie beschränkt. Ähnlich formuliert Meier einige Jahre später in der Vernunftlehre: „Die dunkele Erkenntnis ist das Chaos der Seele, der rohe Klumpen Materie, den die schöpferische Kraft der Seele bearbeitet, und aus welchem sie nach und nach alle klare Erkenntnis zusammensetzt.“37 Eine „Umkehrung der Erkenntnishierarchie“ bahnt sich an.38 Obwohl der Erkenntnisprozeß alle menschlichen Vermögen umfaßt (und allen eine spezifische Funktion in der menschlichen Erkenntnis zuweist), ist damit nicht impliziert, daß auf diesem Wege eine vollständige Erkenntnis erreicht werden könne. Die anthropologische Komplexität dringt auf das Terrain der Gnoseologie. Die „Schrancken der menschlichen Erkenntnis“ werden durch Meier anthropologisch bestimmt. Da alle Begriffe auf den tendenziell unzuverlässigen Empfindungen beruhen, können wir nicht davon ausgehen, daß wir alle Erkenntniskräfte besitzen, die für eine vollständige Erkenntnis notwendig wären.39 Selbst aus der Perspektive individueller Wahrnehmung ist Erkenntnis notwendig beschränkt, denn die unendliche Divergenz der Erscheinungen bekräftigt die naturwissenschaftlich fundierte Dezentrierungserfahrung: Denn da wir Menschen kein eintziges Sand-Korn in der Welt vollkommen kennen, und da so gar ein eintziges Sand-Korn, ein eintziger Wasser-Tropfen eine Welt ist, die wir nicht völlig verstehen und durchforschen können: wie unendlich vieles ist uns nicht auch in denjenigen eintzelnen Dingen unbekannt, die wir täglich vor Augen haben?40

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Vgl. Wolfram Mauser: Georg Friedrich Meiers Apologie des geselligen Lachens, in: Theodor Verweyen / Hans-Joachim Kertscher (Hg.): Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung. Tübingen 1995, 120–132, hier S. 123. Meier: Theoretische Lehre, S. 56f. Georg Friedrich Meier: Vernunftlehre. Halle 1752, S. 195. Vgl. Adler: Prägnanz, S. 108 und Gerhard Sauder: ‚Dunkle‘ Aufklärung, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 21,1 (1997), 61–68, hier S. 64. Vgl. Kondylis: Aufklärung, S. 558ff., Gabriele Dürbeck: Fiktion und Wirklichkeit in Philosophie und Ästhetik. Zur Konzeption der Einbildungskraft bei Christian Wolff und Georg Friedrich Meier, in: Daniel Fulda / Thomas Prüfer (Hg.): Faktenglaube und fiktionales Wissen: zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst in der Moderne. Frankfurt a.M. / Berlin u.a. 1996, 25– 42, hier S. 32f. Vgl. Meier: Betrachtungen über die Schrancken, S. 8f., 48ff. In einem vermutlich Lange zuzurechnenden Stück aus Der Mensch wird ausdrücklich ein Vernunftdefizit als Ursache für die Grenzen menschlichen Wissens benannt: „Der Mensch ist nicht gemacht, alles zu wissen; sein Verstand ist nicht ausgerüstet, alles zu ergründen.“ (Der Mensch. T. 4 (1752), 139.St., S. 78.) Vgl. Meier: Betrachtungen über die Schrancken, S. 73. Vgl. Schneider: Komplexere Ordnung, S. 117f.

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Das naturalisierende Argument führt dazu, daß die Einschränkung der menschlichen Fähigkeiten auf die den Tieren ähnliche Option, sich die Welt nach der Lage ihres Körpers vorzustellen, diskutiert wird.41 Letztlich bleibt die Konzentration auf die „practischen Wahrheiten“.42 Dadurch erhält die Lebenspraxis anthropologiebasiert einen wesentlichen Anteil an der Konzipierung des Erkenntnismodells. Schwierig bleibt es aber, ein Gleichgewicht zwischen den unteren und den oberen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen zu erreichen. Daher ist es notwendig, so Meier, den anthropologisch anfälligen Bearbeitungsprozeß des seelischen Grundes zu steuern.43 Dabei geht Meier von der Proportionalität der anthropologischen Grundausstattung des Menschen aus, proklamiert aber eine idealische, nicht eine physische Übereinstimmung von Körper und Seele.44 Wird die untere Begehrungskraft in Bewegung gesetzt, so stößt sie die Entstehung von vernünftigem wie von unvernünftigem Begehren an. Gleichzeitig muß aber auch die untere Erkenntniskraft des Menschen wirksam werden.45 Dies spiegelt die Annahme, der Mensch sei ein vernünftiges und ein voluntatives Wesen. Die Beteiligung von Vernunft und Willen an der Entstehung von Leidenschaften legt demnach den Schluß nahe, daß

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Vgl. Meier: Betrachtungen über die Schrancken, S. 68. Dies geht auf eine von Wolff oder Baumgarten entlehnte Vorstellung zurück. Vgl. Bezold: Popularphilosophie, S. 141 (in bezug auf eine entsprechende Passage bei Flögel). Doch bleibt dies nicht die präferierte Lösung. In der Wochenschrift Das Reich der Natur und der Sitten gilt als charakteristisches Merkmal des Menschen im Unterschied zu den Tieren das Zusammenspiel von Vernunft und Sinnen. Vgl. Das Reich der Natur und der Sitten, eine moralische Wochenschrift. [Hg. Georg Friedrich Meier / Samuel Gotthold Lange]. 12 Teile. Halle 1757–1762, hier 1.Th. Halle 1757, 3.St., S. 34. Vgl. Meier: Betrachtungen über die Schrancken, S. 88. Diese Rückführung auf das praktische Leben wird von Meier noch theologisch begründet. Der Wink der göttlichen Vorsehung verweise den Menschen auf diese Einschränkung: vgl. ebd., S. 87. Vgl. Meier: Theoretische Lehre, S. 120. Eine eminente Gefahr droht: „Die Leidenschaften entwafnen gleichsam die Seele, sie reissen ihr die Mittel aus den Händen, die sie wider dieselbe brauchen könnte.“ Krüger hatte das Proportionalitätsgesetz in seine für die „Vernünftigen Ärzte“ gültige Form gebracht: „Wenn in dem Cörper eines Menschen oder eines Thieres eine Empfindung entsteht, so erfolgt an dem Orte, wo sie hervorgebracht wird, jederzeit eine Bewegung, die dieser Empfindung proportional ist.“ (Johann Gottlob Krüger: Naturlehre. 2.Th., welcher die Physiologie, oder Lehre von dem Leben und der Gesundheit der Menschen in sich fasset. Halle 1743, S. 71). Vgl. zum Krügerschen Gesetz ausführlich Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin / New York 2003, S. 57ff. Meier stört an Krügers Proportionalitätsgesetz offenbar dessen mathematisierbare Form. Nowitzki führt S. 59 an, Krüger mache erst in der 2. Auflage der Naturlehre „ernst damit, das Gesetz mathematisch zu explizieren.“ Meier reagiert allerdings schon kritisch auf die 1. Auflage. Auch Unzer rezipiert das Proportionalitätstheorem. Vgl. Tanja van Hoorn: Affektenlehre – rhetorisch und medizinisch. Zur Entstehung der Anthropologie um 1750 in Halle, in: Rhetorik 23 (2005), 81–94, hier S. 91, Carsten Zelle: Nachwort, in: Johann August Unzer: Neue Lehre von den Gemüthsbewegungen, mit einer Vorrede vom Gelde begleitet von Herrn Johann Gottlob Krügern. Hg. Carsten Zelle. Halle 1995, 70–96, hier S. 85. Recht undifferenziert bleibt in Hinblick auf den Zusammenhang von Krüger, Meier und Unzer Geyer-Kordesch: Psychologie des moralischen Handelns, S. 29ff. Vgl. Meier: Theoretische Lehre, S. 80.

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auch beide Elemente der anthropologischen Konstitution des Menschen an deren Steuerung beteiligt sein müssen.46 Das anthropologiebasierte Argumentationsverfahren des Affektmanagements gewinnt bei Meier schon in den 1740er Jahren Gestalt. Meier nennt in der Theoretischen Lehre fünf Regeln zur Bekämpfung von Leidenschaften: 1) Man muß die Lebhaftigkeit der Vorstellungen vermindern. 2) Man muß die sinnliche Gewisheit vermindern, oder die Erkenntniß ungewiß machen. 3) Das Leben der Erkenntniß muß vermindert werden. 4) Man muß den Gebrauch der obern Kräfte der Seele zur Würcklichkeit bringen, befördern, und vermehren. [...] 5) Man bediene sich dabey gewisser Kunstgriffe und Hülfsmittel, wodurch man die gantze Arbeit befördern und erleichtern kan.47

In erster Linie die vierte Regel entspräche dem Primat rationalen Vorgehens, wie es Wolffs rationale Affektsteuerung vorsähe. Zwar betont Meier, diese Regel halte er für die beste, weil sie einem vernünftigen Wesen am „anständigsten“ sei und sie die dauerhafteste Wirkung zeitige, aber dennoch gilt das Ungewißmachen von Überzeugungen durch die Verdunkelung oder Verwirrung der Erkenntnis als legitimes Mittel, falsche Affekte zu erschüttern.48 Dieses zwischen rationaler und nicht-rationaler Steuerung, zwischen Logik und Psychologie changierende Modell des Erkenntnisprozesses, das deutliche Anzeichen der Anthropologisierung trägt und sie gleichzeitig zu verdecken sucht, hat Konsequenzen für die Vorurteilstheorie des frühen Meier. Dennoch aber bleibt er in den 40er und 50er Jahren weitgehend einem vorurteilskritischen Vorgehen treu, das aufklärerische Ziele durch den Primat der Ratio zu erreichen sucht. Die Verortung der Vorurteile in den Sinnen kann auf ein negativ konnotiertes Defizit des Verstandes zurückgeführt werden: „Zu den Schwachheiten des menschlichen Verstandes, gehören auch die Vorurtheile.“49 Sie gründen indes nicht nur in den Sinnen, sondern wirken auch auf diese, indem sie rationale Argumente überwiegen: „Die Bezauberung der Sinne beruhet allemal auf gewissen Vorurtheilen.“50 Sie müssen daher aufgedeckt werden, um zu einem vernünftigen Affektmanagement (im Sinne der vierten, von Meier angeführten Steuerungsregel) zu gelangen: „Sie (die Vorurteile, R. G.) sind eine Pest der Sinne, die im Finstern schleicht. Es ist überhaupt ungemein nöthig und nützlich, daß man die Vorurtheile des menschlichen Geschlechts entdecke.“51 Bacons vorurteilskritische Haltung wird zustimmend zitiert: „Man kann nicht genung sagen, wie tyrannisch uns die Vorurtheile beherrschen; Baco nennt sie aber mit Recht logische Götzen, […]“.52 46 47 48 49 50 51 52

Vgl. ebd., S. 306ff. Ebd., S. 308f. Vgl. zur Affekttheorie Meiers: Godel: „Eine unendliche Menge dunkeler Vorstellungen“, S. 549ff., 556f. Meier: Anfangsgründe. [1.Th.], S. 410. Meier: Anfangsgründe. 2.Th., S. 195. Ebd., S. 196. Ebd., S. 249.

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Diese vorurteilskritische Haltung Meiers um die Jahrhundertmitte wird indes durch ihn selbst zweifach konterkariert. Zum einen berücksichtigt er ausdrücklich die bei Thomasius erstmals wirksame Verankerung von Vorurteilen in der frühen Kindheit. Vorurteile kommen auch als notwendige erste Erfahrungen in den Blick.53 Zum zweiten offeriert die Definition des Vorurteils, die Meier in den Anfangsgründen formuliert, die Möglichkeit, den Vorurteilsdiskurs aus der den harschen Urteilen Meiers zugrundeliegenden Wahr-falsch-Dichotomie auszusondern. Denn Meiers Begriffsbestimmung erweist sich hier bereits als formale: „Ein Vorurtheil ist ein Urtheil, welches wir für wahr halten, ehe wir die Gründe der Wahrheit desselben gehörig untersucht haben. Da nun die Wahrheit nicht von unsern Untersuchungen abhänget, so kan ein Vorurtheil wahr, es kan aber auch falsch seyn.“54 Falsch ist es nur – hier vermischt Meier offenbar logische Fehler und moralisch fragwürdiges Handeln im Begriff des „Falschen“ –, wenn man andere durch Vorurteile oder zu Vorurteilen zu überreden sucht.55 Diese Mischung anthropologiebasierter Unvermeidbarkeit oder Notwendigkeit mit der formalen Begriffsdefinition hat jedoch noch nicht zur Folge, daß Meier seinen vorurteilskritischen Impetus aufgibt. Um so weniger tut er dies in seiner Vernunftlehre, die weitgehend im Rahmen rationalistischen Argumentierens verbleibt, obwohl sie mit dem formalen Vorurteilsbegriff von wolffschen Strukturen abweicht. Auch hier bestimmt Meier Vorurteile als vorgefaßte Meinungen, die nicht inhaltlich falsch sein müssen.56 Die Frage, wie Vorurteilskritik betrieben werden kann, ist kaum strittig.57 Innerhalb philosophischer Textgattungen weisen anthropologiebasierte Argumente zur Mitte des Jahrhunderts somit offenbar noch eine durch den Primat der Ratio limitierte diskursive Reichweite auf. Beim Blick auf literaturnähere Textgattungen erweist sich beim selben Autor, daß abseits der logischen Regeln der Vorurteilsdiskurs neue, pragmatische Formationsregeln erhält. Im 1753 erschienenen 177. Stück der Moralischen Wochenschrift Der Mensch, die Meier zusammen mit Samuel Gotthold Lange herausgab, wird die Frage der Vorurteile ausdrücklich thematisiert. Eine spezifische Mischung aus anthropologischen, rhetorischen, ästhetischen, naturwissenschaftlichen, logischen und theologischen Anleihen zeichnet gerade diese Moralische Wochenschrift aus.58 Die formale Definition des 53 54 55 56 57 58

Vgl. ebd., S. 205ff. Diese Position findet sich auch in: Der Mensch. T. 11 (1756), 425.St., S. 81. Meier: Anfangsgründe. [1.Th.], S. 410. Vgl. ebd., S. 410f. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 209f. Vgl. ebd., S. 212f. Vgl. Rainer Godel: Anthropologie und Fiktion. Zur diskursiven Formation der Moralischen Wochenschrift ‚Der Mensch‘ (1751–56), in: Hans-Joachim Kertscher / Manfred Beetz (Hg.): Anakreontische Aufklärung. Tübingen 2005, 123–143, Wolfgang Martens: Zur Thematisierung von „schöner Literatur“ in Samuel Gotthold Langes und Georg Friedrich Meiers Moralischen Wochenschriften „Der Gesellige“ und „Der Mensch“, in: Theodor Verweyen / Hans-Joachim

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Vorurteils in der Wochenschrift entspricht inhaltlich der auch in den philosophischen Schriften verwendeten Begriffsbestimmung Meiers: „Ein Vorurtheil ist ein Urtheil, das man zu frühe, ohne hinlängliche Untersuchung und Wissenschaft der Gründe, fället.“59 In einer für die Gattung typischen Exempelerzählung wird allerdings weniger die formale Definition zum Ausgangspunkt der Argumentation denn die Wirkungsmacht der Vorurteile, ihre „grosse Gewalt auf den Menschen“.60 Der Protagonist der Erzählung, ein Kaufmann namens Munter, formuliert die Konsequenzen, nachdem er berichtet hat, Vorurteile seiner Kunden nicht genügend bei seiner Entscheidungsfindung in Geschäftsdingen berücksichtigt zu haben: „Ich habe dieser Begebenheit nachher ernstlicher nachgedacht, und gefunden, daß die Vorurtheile eine solche Herrschaft ausüben, daß man zum öftern genöthigt wird, ihnen nachzugeben.“61 Die Kenntnis von Vorurteilen erweist sich somit auch als profitabel. In einem zwischengeschalteten Kommentar diskutieren die Herausgeber die Frage, inwieweit Vorurteile zu erhalten seien. Sie kommen dabei, anders als Meiers theoretische Schriften in den 1740er und 50er Jahren, zu dem Ergebnis, daß eine partielle Rehabilitierung des Vorurteils unvermeidlich, in manchen Fällen gar notwendig sei: „Wir sehen also, daß das menschliche Geschlecht nicht nur nie ohne Vorurtheile ist, sondern auch um seines Besten willen gewisse Vorurtheile nöthig hat, nemlich solche, die der Wahrheit keinen Abbruch thun, und keinen Schaden anrichten.“62 Im Resümee wird hier also die Notwendigkeit von wahren oder unschädlichen Vorurteilen betont. Diese Position wäre nun in der Tat diskrepant zu der rationalistischen Vorurteilskritik der theoretischen Schriften, doch entspricht sie Wolffs Nutzen-Schaden-Prinzip in seiner praktischen Philosophie. Damit überträgt sie die Vorurteilsdiskussion ins Lebensweltliche. Bei genauerem Blick auf die Argumentationsführung erweist sich, daß zwar die anthropologische Unvermeidbarkeit von Vorurteilen nicht in Frage steht, daß Vorurteile aber vor dem Resümee als „entschuldbar“ angesehen wurden, wenn sie nicht schaden, und lediglich im Fall religiöser Vorurteile in Übereinstimmung mit der Wahrheit als „notwendig und nützlich“ gelten können.63 Letztlich bleibt die Vorurteilskritik doch an das Kriterium der Wahrheit gebunden, wenn auch der Gedanke, daß Vorurteile unvermeidbar sein können, zum ersten Mal explizit argumentative Relevanz gewinnt. Pragmatische Wissensvermittlung als Vorurteilskritik steht auch im Zentrum, wenn die Herausgeber der Wochenschrift den Gedanken der menschlichen Perfektibilität auf die konkrete soziale Struktur abbilden. Zwar gilt das Streben nach

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Kertscher (Hg.): Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung. Tübingen 1995, 133–145, hier S. 140f. Der Mensch. T. 5 (1753), 177.St., S. 20. Ebd., S. 24. Ebd., S. 19. Ebd., S. 24. Vgl. ebd., S. 20, 23.

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Erkenntniserweiterung als genuin menschlich, doch erweist es sich beim gemeinen Mann offenbar als problematisch. Es helfe aber schon, wenn man „Vorurtheile, deren wir nur zu sehr gewohnt sind“, ablege, um zur lebenspraktischen Besserung beizutragen: Der gemeine Mann werde so „vorsichtiger, geselliger, vergnügter und glücklicher“.64 Vorwiegend Argumente der Gesellschaftsethik tragen also dazu bei, daß sich der Vorurteilsdiskurs aus der rein logischen Dichotomie zu befreien beginnt. Auch in der Wochenschrift insgesamt zeigt sich der umfassende interdiskursive Einfluß anthropologiebasierter Argumente: Im moralpragmatischen Zusammenhang der Wochenschrift gilt als unstrittig, daß psychologisches Wissen Relevanz für die Sittenlehre, die Religion und für das gesamte Verhalten des Menschen hat.65 Denn der große Einfluß der Sinne auf menschliches Verhalten steht außer Frage – selbst bei Menschen, von denen eine rationale Affektkontrolle erwartet wird.66 Menschliches Verhalten wird grundlegend individualisiert: „Jeder Mensch hat seinen eignen Sinn, er denkt und handelt, wie es die Zeit, die Umstände, in welchen er lebt, sein Alter, sein Geschlecht, oder seine Neigung und die Erziehung es mit sich bringt [...].“67 Eine historisierte Theorie des natürlichen Einflusses auf die menschliche Entwicklung liegt nahe. Was die Konstitution des Menschen selbst angeht, so erweisen sich Verstand und Wille als zwei untrennbare Bestandteile der Seele. Daher müssen Fehler, die zu Vorurteilen führen, nicht dem verderbten Willen, sondern (in erster Linie) dem offenbar verantwortlicheren Verstand zugeschrieben werden, wie Meier und Lange demonstrieren: „Der eigentliche Fehler liegt also nicht in dem Willen, sondern in einem unbedachtsamen und übereilten Urtheile des Verstandes, welcher mehr den sinnlichen und lebhaften, als den dunklen, aber richtigern Vorstellungen seinen Beyfall ertheile.“68 Steht daher die Entscheidung an, ob Verstand oder Wille letztverantwortlich für Vorurteile sind, neigen Meier und Lange wieder zu Wolffschem Intellektualismus, der eindeutiger als Thomasius’ Voluntarismus Vorurteilskritik zu ermöglichen scheint, da Vorurteile als logisch-falsche und demnach verstandesgemäß zu bewältigende Irrtümer betrachtet werden können.69 Freidenken und Wahrheit bleiben, wie Meier und Lange an anderer Stelle in der Wochenschrift formulieren, aufeinander bezogen: „Ein Mensch mag denken was er will; allein er kan die Gesetze der Wahrheit nicht ändern; wenn er recht frey denken will, so muß er die Wahrheit erkennen, und über die Vor64 65

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Der Mensch. T. 9 (1755), 351.St., S. 111. Vgl. Der Mensch, T. 6 (1753), 250.St., S. 305. Vgl. zur moraldidaktischen Intention der Wochenschriften Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968, zu Der Mensch ders.: Nachwort des Herausgebers, in: Der Mensch. T. 11 und 12 (1756), 413*–457*. Vgl. Der Mensch. T. 7 (1754), 277.St., S. 172. Der Mensch, T. 6 (1753), 245.St., S. 250. Der Mensch, T. 9 (1755), 374.St., S. 365. Dieses Vorhaben entspricht dem der Theoretischen Lehre von den Gemüthsbewegungen. Vgl. zur Differenzierung dieser beiden Positionen Reisinger / Scholz: Vorurteil I, Sp. 1255f.

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urtheile herrschen.“70 Freiheit zu denken schließt in bezug auf andere nicht aus, daß wahre Vorurteile für die didaktische Vermittlung der Wahrheit eingesetzt werden.71 Wird indes die doxa-Theorie mit der Vorurteilstheorie schlechthin gleichgesetzt, wie dies einige Jahre später in der Wochenschrift Das Reich der Natur und der Sitten geschieht, so stellt sich die Frage nach der Funktion von Vorurteilen neu. Dann kann ihre Rehabilitierung als subjektive Meinungen naheliegen, soweit sie positive oder zu vernachlässigende Wirkungen zeitigen.72 Doch die tiefere Ursache der Vorurteile liegt in den unteren Vermögen, in den Sinnen selbst, die ein Fehlverhalten des Verstandes erst ermöglichen. Die Gegenmaßnahmen gegen eine solche Prävalenz der Sinne vor dem Verstand zielen demnach auch im Falle praktischer, lebensnaher Entscheidungen auf das (hier deutlicher den sinnlichen Verfahren zuneigende) Gebot der Affektsteuerung, das Meier theoretisch formuliert: „Man muß den rechten Grund angreifen, und die sinnlichen Vorstellungen solcher Menschen entweder schwächen, oder durch gegenseitige sinnliche Vorstellungen zu unterdrücken suchen.“73 Mäßigung als Mittel des Affektmanagements, die auch als wirksames Gegenmittel gegen ein übergroßes Vorurteil des Zutrauens oder Mißtrauens gilt, wird hier durch Fremdeinwirkung zu erzeugen gesucht.74 3.1.2 Das Vorurteilsproblem aus Sicht der „Vernünftigen Ärzte“ Anthropologiebasierte Argumentationsverfahren gewinnen schon in den 1740er und 50er Jahren diskursives Gewicht auch für herkömmlich nicht anthropologisch bestimmte Diskurse, ohne daß sie dadurch dem aufklärerischen Impetus grundlegend widersprechen.75 Sie beginnen, dem Vorurteilsdiskurs neue Formationsregeln zu verleihen. Doch erweist sich innerhalb philosophischer Textsorten die Anthropologisierung noch als prekär. Es entsteht eine argumentative Diskrepanz, die die Widersprüche zwischen den primär wirksamen Verfahren der Sensualisierung und des Affektmanagements sowie dem Wolffschen Primat der Ratio aufzeigt. Das vorurteilskritische Verfahren bleibt innerhalb der Philosophie weitgehend in Gel70 71

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Der Mensch, T. 4 (1752), 160.St., S. 272. Vgl. Günter Gawlick: G. F. Meiers Theorie der Freiheit zu denken und zu reden, in: Frank Grunert / Friedrich Vollhardt (Hg.): Aufklärung als praktische Philosophie. Tübingen 1998, 281–295, hier S. 285. Vgl. Das Reich der Natur und der Sitten, T. 10 (1761), 338.St., S. 217f. Der Mensch, T. 9 (1755), 374.St., S. 367f. Vgl. auch ebd., 355.St., S. 155f. In dieser Hinsicht ist auch Martens’ Befund zu erweitern, der die Abstriche am vernunftoptimistischen Aufklärungskurs bei den halleschen Moralischen Wochenschriften auf die sich erst allmählich aufweichende Konfrontation mit pietistischen Vorstellungen zurückführt. Vgl. Wolfgang Martens: Moralische Wochenschriften in Halle, in: Günter Jerouschek / Arno Sames (Hg.): Aufklärung und Erneuerung. Beiträge zur Geschichte der Universität Halle im ersten Jahrhundert ihres Bestehens (1694–1806). Hanau / Halle 1994, 86–94, hier S. 90. Vgl. zur diskursiven Formation in der Jahrhundertmitte in Halle auch Godel: Anthropologie und Fiktion.

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tung. Außerhalb akademisch-philosophischer Textsorten indes erhalten anthropologiebasierte Argumentationsfiguren ein größeres Gewicht. Die Herausgeber der dafür prädestinierten Moralischen Wochenschriften wenden sich lebenspraktischen Fragen zu. Sie beginnen, moralische Präskriptionen nicht mehr an den vorgängigen Prämissen zu orientieren, sondern an der Möglichkeit, ihnen gemäß zu handeln. Die sich anbahnende Entmächtigung der Ratio löst differenzierte Stellungnahmen zum Vorurteilsproblem aus. Die „Vernünftigen Ärzte“ propagieren im Halle der Jahrhundertmitte eine Neuverortung der Wissenschaften vom Menschen, die zum gegenseitigen Nutzen die medizinische mit der philosophischen Seelenlehre, oder auch gelegentlich grundlegender, Medizin mit Philosophie verbindet. Johann August Unzer stellt die Frage (die er selbst zu beantworten sich anschickt), „ob man nicht eine mitlere Wissenschaft finden könnte, die so zu sagen, zwischen der Weltweisheit und Arzneiwissenschaft zu stehen kommen müste, […]“.76 Im Rahmen der neu fundierten Seelenlehren kommen Vorurteile als Resultate seelischer Prozesse in den Blick. Dabei werden das neue, empirische Verständnis der Psychologie und die inhärente Umwertung der Wissenschaftshierarchien insofern funktional, als sie auch den logischen Vorurteilsdiskurs entgrenzen. Mit den empirisch erfahrbaren Wirkungen und Unvermeidbarkeiten der Vorurteile kann nun gerechnet werden. Entscheidend ist nicht die inhaltlich-definitorische Bestimmung, sondern der Stellenwert anthropologischer Argumente. Die Vorurteilsfrage überschreitet die Grenzen philosophischer Wissenschaft, indem Vorurteile als legitimer Gegenstand auch der Seelenlehren medizinischer Provenienz angesehen werden. Die bei Thomasius schon angelegte Anthropologisierung des Problems, die sich noch auf die Sensualisierung beschränkte, kann mit erweiterten, empirisierten und naturalisierten Argumentationsstrategien gestützt werden. Dies soll exemplarisch an Johann Gottlob Krügers Versuch einer ExperimentalSeelenlehre gezeigt werden.77 Suchte man auf rein begriffsgeschichtlicher Ebene nach Krügers Beitrag zur Vorurteilsdiskussion, würde man kaum fündig. Denn er entwickelt keine Vorurteils-Theorie, die einer expliziten Begriffsbestimmung bedürfte, um Kohärenzansprüchen zu genügen. Dennoch liegt bei Krüger ein material-falscher Vorurteilsbegriff zugrunde, der Vorurteilskritik zum Maßstab des Handelns macht. Eine wesentliche methodische Norm Krügers liegt in der Vermeidung voreiliger Urteile.78 Bedingung der Erkenntnis ist für Krüger Vorurteils-

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Unzer: Philosophische Betrachtung, unpag. Vorrede, S. 4r f. Zur Bedeutung der „Vernünftigen Ärzte“ für die Anthropologie der Jahrhundertmitte vgl. Zelle: Sinnlichkeit und Therapie, 5–24, ders.: Erfahrung, Ästhetik und mittleres Maß: Die Stellung von Unzer, Krüger und E. A. Nicolai in der anthropologischen Wende um 1750, in: Jörn Steigerwald / Daniela Watzke (Hg.): Reiz – Imagination – Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung der Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680–1830). Würzburg 2003, 203–224. Vgl. Krüger: Versuch, Vorrede, S. *2 r f.

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freiheit, eine „unpartheyische[n] Feder“.79 Umgekehrt kann der Zweifel an Fakten, die empirisch erwiesen sind und daher als wahr gelten können, nur auf Vorurteilen beruhen: „Man müste sehr viele Vorurtheile haben, wenn man daran (an einem ausreichend beglaubigten Faktum, R. G.) zweifeln wollte.“80 Als Ziel des eigenen Vorgehens formuliert Krüger optimistisch: „So viel ist gewiß, daß ein Unternehmen von dieser Art am geschicktesten ist, die Seelenlehre in ein helleres Licht zu setzen; indem es die Wolcken der Vorurtheile vertreibt, die einen Gegenstand verfinstern, der uns natürlicher Weis der liebenswürdigste seyn muß.“81 Vorurteile behindern also die wahre Erkenntnis. Doch spielt Krüger mit dieser metaphorischen Umschreibung auch darauf an, daß Vorurteile die Aufmerksamkeit vom natürlichen Interesse an der menschlichen Konstitution ablenken. Sein Schüler und Kollege Ernst Anton Nicolai führt an, „das Vorurtheil, welches von der Gewohnheit herstamt, verändert die Gemüther der Menschen unvermerkt dergestalt, daß sie sich um die Ursachen seltsamer, aber nicht gewöhnlicher Dinge bekümmern, [...].“82 Nicolai leitet hieraus sein vorurteilskritisch motiviertes Interesse am „natürlichen“ Vorgang des Lachens ab, während Krüger seinen Untersuchungsgegenstand, die menschliche Psyche, mit ebenso vorurteilskritischer Methode anzugehen verspricht.83 Vorurteilsfreiheit ist bei Krüger wie bei Nicolai Bedingung wissenschaftlicher Neuerung. Vorurteile widersprechen für Krüger der Wahrheit, die mit aufklärerischer Lichtmetaphorik beschworen wird. Dabei geht er davon aus, daß die Aufklärung schon wesentliche Fortschritte auf ihrem Weg zur Wahrheit erreicht hat: „Ihr Licht (das Licht der Fackel der Wahrheit, R. G.) hat sich in unsern Tagen mehr als jemals hervorgethan, Dunst, Einbildung, Irrthum und Thorheit vertrieben, […]“.84 Als notwendige Bedingung für ein weiteres Fortschreiten auf diesem vorurteilsund irrtumskritischen Weg benennt Krüger ein methodisches Vorgehen. Krüger beansprucht, „Geschichtschreiber“ der menschlichen Seele zu sein und bloß auf die empirische Erfahrung zu vertrauen.85 Indem er retrospektive Historisierung mit Empirisierung verbindet, begrenzt er methodisch das verfügbare Wissen: Eine Untersuchung von dem Wesen der Seele, und Beschreibung der verschiedenen Erklärungsarten der Würckung der Seele in den Leib, habe ich sowohl darum nicht beyzufügen für nöthig gefunden, weil ich glaube daß es noch viel zu früh sey, von einer Sache zu sprechen,

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Ebd., S. 3. Ebd., S. 13. Ebd., S. 21f. Vgl. hierzu Sauder: Empfindsamkeit, S. 111f. Ernst Anton Nicolai: Abhandlung von dem Lachen in einem Glückwunschschreiben an Herrn Christian Gottl. Koetschken [...]. Halle 1746, S. 10. Vgl. Rainer Godel: Der Mensch – ein „lächerliches Thier“? Eine psychophysische Theorie des Lachens bei Ernst Anton Nicolai und Georg Friedrich Meier und ihre Folgen, in: Aufklärung 17 (2005), 187–214. Krüger: Versuch, Vorrede, S. * 5 v f. Vgl. ebd., unpag. Vorrede, vorletzte Seite ohne Bogenbezeichnung.

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davon man so viel gesprochen hat; als insonderheit weil ich mich bloß an die Erfahrung gehalten.86

Doch weicht diese vom Anspruch her radikale Empirisierung auch den Wahrheitsanspruch auf. Denn eine eindeutige Erkenntnis der Wahrheit wird mit dem Mittel empirischer Beobachtung schwierig: „So ist es mit der Wahrheit. Bald zeigt sie sich uns auf der rechten, und bald auf der lincken Seite, und zum Unglücke sieht sie auf der einen Seite gantz anders aus, als auf der andern.“87 Die individuelle Vielfalt von Affektausprägungen (und damit eine ebenfalls uneindeutige Wahrheit) begründet auch Unzer ausdrücklich mit Argumenten aus dem anthropologischen Interdiskurs, indem er eine verkürzte Klima- und Milieutheorie als Grund für Affektunterschiede anführt.88 Individuelle Unterschiede in der Wahrnehmung sind somit wahrscheinlich, doch läßt sich deren Spezifik nicht ermitteln, wie Krüger ausführt: „Man kann ohnmöglich wißen, ob sich ein Mensch die Sachen, welche er empfindet, gerade so, wie der andere vorstellet.“89 Doch führen die Grenzen der Empirie nicht dazu, daß Vernunft als alleingültiges Erkenntnisinstrument wieder eingesetzt würde. Krüger nimmt vielmehr die schon von Thomasius in die Frage der Erkenntnis und Urteilsbildung eingeführte Perspektive der ontogenetischen Entwicklung auf, um die sukzessive Ausbildung von Wahrnehmung, Urteilsbildung und Vernunftschluß in der Kindheit zu begründen.90 Bedingung für Urteile ist die Vorstellungskraft der Seele: „die Seele [könnte] sich keine Begriffe, folglich keine Urtheile und Vernunftschlüße machen [...], wenn sie keine Kraft hätte, sich Sachen vorzustellen.“91 Hier liegt möglicherweise die von Condillac 1754, zwei Jahre vor Erscheinen von Krügers Experimental-Seelenlehre, formulierte sensualistische Hypothese zugrunde, Urteile beruhten auf dem Vergleich von Sinneseindrücken.92 Auch Verstandesleistungen verankert Krüger unter Bezug auf Herman Boerhaave ausdrücklich physiologisch. Denn die Wirkungen des Verstandes seien mit dem Zustand des Leibes so sehr verbunden, daß man die Wirkung der nicht-körperlichen Seelenkräfte überschätze. Ein reiner Verstand, der rein rationale Urteile fällen und Vorurteilsfreiheit praktisch wirksam machen könnte, weil er von körperlichen und externen Bedingungen

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Ebd., unpag. Vorrede, S. *2 r f. Vgl. zu Krügers Methode Zelle: Experimentalseelenlehre und Erfahrungsseelenkunde, 173–185, Godel: Der Mensch – ein „lächerliches Thier“?, S. 210f., Heinz: Wissen vom Menschen, S. 27f. Krüger: Versuch, S. 33. Vgl. Johann August Unzer: Neue Lehre von den Gemüthsbewegungen, mit einer Vorrede vom Gelde begleitet von Herrn Johann Gottlob Krügern. Hg. Carsten Zelle. Halle 1995, S. 64. Krüger: Versuch, S. 104. Vgl. ebd., S. 53. Ebd., S. 44. Vgl. Etienne Bonnot de Condillac: Extrait raisonné du traité des sensations, in: ders.: Traité des sensations. Traité des animaux. Paris 1984, S. 287, 289ff., 292, ders.: Abhandlung über die Empfindungen, S. 6f. et passim.

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autark wäre, ist für Krüger undenkbar.93 Dies bedingt allerdings, daß die rationale Selbststeuerung des eigenen Verhaltens und damit verbunden rationale Vorurteilskritik nur eingeschränkt möglich sind. Affekte und Gewohnheiten, die Ursachen von Vorurteilen, steuern vielmehr alle Tätigkeiten des Menschen: „Man redet, man gehet, man ißt, man trinckt, man schläft aus Gewohnheit; aber ich sage noch mehr, man denckt auch aus Gewohnheit.“94 Jene Einschränkung der Freiheit des menschlichen Willens und Verstandes macht eine rein rationale Vorurteilskritik – so wünschenswert sie bleibt – diffizil. Die Ausbildung der Urteilsfähigkeit in der Ontogenese des Menschen ist also paradigmatisch. Wie ein Kind sukzessiv zu gehen lernt, so lernt es auch zu denken. Falsche Urteile und irreguläre Vernunftschlüsse können nur durch die Erfahrung korrigiert werden: „Allein die Erfahrung verbeßert alle diese Fehler, und die Empfindung wird unsere Lehrmeisterin, […]“.95 Zwar strebt Krüger Vorurteilskritik an, doch verbindet sich diese mit anthropologiebasierten Erkenntnisproblemen, die letztlich zu einem pragmatischen Lösungsvorschlag für das Problem des Umgangs mit den Vorurteilen führen: In denen Fällen, da es mein Beruff nicht erfordert, pflege ich überhaupt keinem Menschen zu wiedersprechen, von dem ich sehe, oder vorher weiß, daß er eingewurtzelte Vorurtheile besitzet. Ich halte es vor genug, wenn ich seine lächerlichen Einfälle nicht würcklich bekräfftige; und ihm erst alsdenn, wenn er mich bittet, meine Meynung zu entdecken, zuversichtlich sage, daß ich einen andern Glauben hätte.96

Krüger führt ein pragmatisches Kriterium ein, das aufklärerische Vorurteilskritik auf das praktisch Relevante beschränkt. Zwar verbietet sich auch die Verstärkung von Vorurteilen anderer, doch liegt Vorurteilskritik in der Verantwortung des einzelnen, der wenigstens Interesse an abweichenden Meinungen zeigen muß. Diesem ersten Schritt des Aufzuklärenden folgt dann in Krügers pragmatischem Modell der Vorurteilskritik die Darstellung der eigenen Position. Diese allerdings wird ausdrücklich nicht als Wahrheit, sondern lediglich – der anthropologiebasierten Relativierung der Erkenntnis eingedenk – als abweichender „Glauben“ markiert. Krügers Verfahren der Vorurteilskritik rechnet mit affektiven Widerständen und mit der limitierten Aufnahmefähigkeit des Gegenübers: Doch bediene ich mich allemahl der Vorsichtigkeit, daß ich niemahls mit der Thüre ins Haus falle, sondern einem jedweden auf besondere Art nach seiner Erkenntniß mit Bescheidenheit begegne, und dasjenige, was ich ihm auf einmahl nicht wiederlegen kann, dennoch suche, nach und nach aus dem Kopfe zu bringen.97

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Vgl. Krüger: Versuch, S. 231, 234. Ebd., S. 268. Vgl. hierzu auch Heinz: Wissen vom Menschen, S. 78f. Krüger: Versuch, S. 55. Ebd., S. 128. Ebd., S. 128f.

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Vorurteilskritik wird als Prozeß verstanden, der nicht vom Idealtypus vernunftgesteuerten Handelns, sondern von der pragmatischen Einsicht in die anthropologische Beschränktheit geprägt ist.98 3.1.3 Vorurteilskritik in philosophischen und theologischen Texten der Jahrhundertmitte Diese anthropologiebasierte Prozessualität, die formal wie inhaltlich ein progredierendes Element des Vorurteilsdiskurses bildet, fehlt in zeitgleichen philosophischen Texten, die die Vorurteilsfrage thematisieren. Es zeigt sich eine grundlegende methodische Differenz: Weil nun die Erfahrung von einzelen wirklichen Fällen nichts als besondere Urtheile geben kann: so unterscheidet sich dadurch ein bloßer Empiricus in der Arzeney, Mechanik, Chymie, Politik u.s.w. von einem verständigen Manne, der mit Einsicht urtheilet. Jener schliesset vom Besondern aufs Besondere, falsch; dieser aus dem Allgemeinen, richtig.99

Im selben Jahr wie Krügers Experimental-Seelenlehre lehnt Hermann Samuel Reimarus so den empirisch-analytischen Anspruch der Mediziner ab. Dies schließt aber für Reimarus eine Pragmatisierung der Logik nicht aus, die nun in den Dienst der Aufklärung tritt.100 Erkenntnistheoretisch erhält die „gesunde“, praktische Vernunft wesentliche Relevanz. Als zweite Erkenntnisstufe, die der historischen folgt, führt Reimarus die „natürliche Weltweisheit“ ein, „nach Anleitung der sich gelassenen, ungekünstelten, gesunden Vernunft.“101 Diese „philosophie du bon sens“ besteht darin, daß „Menschen, ohne deutliche Regeln zu wissen, nach dem Maasse ihrer Fähigkeit, Erfahrung und Uebung, anfangen, über die Dinge, welche wirklich sind, und über deren innere Beschaffenheit, Ursachen, Wirkungen und Nutzen zu denken und zu

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Hier soll keine Vorurteilstheorie innerhalb der „Wissenschaft“ der Anthropologie konstruiert werden. Das Beispiel Krüger zeigt, daß anthropologisch-psychologische Lehrgebäude nicht vollständig mit dem Potential des Interdiskurses kongruieren müssen. Ähnlich verhält es sich bei Platner, der in der Anthropologie für Ärzte und Weltweise einen material-negativen Vorurteilsbegriff vertritt. Die Konsequenzen der Anthropologisierung vollzieht er hier nicht nach: „Auf eben diese Art (durch eine reiche und lebhafte Phantasie, R. G.) hindert Affekt und Vorurtheil, d.h. eine lebhafte, imaginarische Idee von dem Gegentheile des zu glaubenden Satzes, die Ueberzeugung.“ (Ernst Platner: Anthropologie für Ärzte und Weltweise. 1. Th. Leipzig 1772, Repr. Hildesheim 1998, S. 197f., Hervorh. R. G.) 99 Hermann Samuel Reimarus: Vernunftlehre. Nachdr. der 1. Aufl. von 1756 mit fortlaufenden Hinweisen auf die Parallelen der 3. Aufl. von 1766. Hg. Frieder Lötzsch. München 1979, S. 160. 100 Vgl. Werner Schneiders: Praktische Logik. Zur Vernunftlehre der Aufklärung im Hinblick auf Reimarus, in: Wolfgang Walter / Ludwig Borinski (Hg.): Logik im Zeitalter der Aufklärung. Studien zur „Vernunftlehre“ von Hermann Samuel Reimarus. Göttingen 1980, 75–92, hier S. 78. 101 Reimarus: Vernunftlehre, S. 4.

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urtheilen.“102 Vorurteile kommen als Hindernisse schon auf dieser Stufe natürlicher Erkenntnis in den Blick – auf der Ebene des praktischen, lebensnotwendigen Wissens und seiner Gewinnung.103 In der Stufung des Erkenntnisprozesses erhält auch Wahrheit einen prozessualen Charakter. Reimarus nimmt verschiedene Stufen der Gewißheit oder Wahrscheinlichkeit an, die sich nur graduell unterscheiden.104 Dabei allerdings bleibt die Wahrheit eines Urteils logisch an die Identität von Subjekt- und Prädikatbegriff gebunden; grundsätzlich kann Wahrheit erreicht werden, da sie als Übereinstimmung zwischen dem Denken und den Dingen an sich gilt.105 So geht der Anspruch der Vernunft gar ideologisch gestärkt aus der Auseinandersetzung mit den „Empirici“, doch bezieht er sich nun auf ein genauer umgrenztes Gebiet: Alles, was zu abstrakt, zu fern von der Glückseligkeit oder zu zweideutig ist, müsse aus der Weltweisheit verbannt werden.106 Trotz dieses Primats der Logik aber stehen Reimarus’ Überlegungen der anthropologischen Fundierung nicht grundlegend fern. Die Vernunft stelle als vis naturae ein genuin menschliches Signum dar.107 Auch in der Definition der Philosophie und ihrer Aufgaben geht Reimarus von der Bestimmung des Menschen aus, dessen Vernunft naturgemäß nach Wahrheit und dessen Wille nach dem Guten strebe. Doch bleibt seine Anthropologie auch theologisch fundiert.108 Der disziplinäre Ort der Psychologie liegt für Reimarus wie für Wolff innerhalb der theoretisch-betrachtenden Philosophie, nicht in der sittlich-pragmatischen.109 Im Rahmen der Logik wird der Gedanke, daß sich Dunkelheit der Erhellung widersetze, umgesetzt, indem angenommen wird, Unwissenheit könne nicht einfach durch Wissen

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Ebd., S. 4f. Weitere Erkenntnisstufen sind die philosophische oder gelehrte und die mathematische Erkenntnis; vgl. ebd., S. 7f. Vgl. Reimarus: Vernunftlehre, S. 6. Vgl. ebd., S. 474f. Dies sieht Hinske als Unterschied zu Wolff. Engfer bezieht die Differenzierung auf Leibniz. Vgl. Norbert Hinske: Reimarus zwischen Wolff und Kant, 9–32, hier S. 26f., Hans-Jürgen Engfer: Die Urteilstheorie von H. S. Reimarus und die Stellung seiner ‚Vernunftlehre‘ zwischen Wolff und Kant, 33–58, hier S. 40, beide in: Wolfgang Walter / Ludwig Borinski (Hg.): Logik im Zeitalter der Aufklärung. Studien zur „Vernunftlehre“ von Hermann Samuel Reimarus. Göttingen 1980. Reimarus selbst: „Ein Urtheil ist demnach die Einsicht von der Einstimmung oder dem Wiederspruche zweyer Begriffe.“ (Reimarus: Vernunftlehre, S. 144). 106 Vgl. Reimarus: Vernunftlehre, S. 15f. Schmidt-Biggemann prägt für Reimarus’ Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes den Begriff der „Apologie der Vernunft“. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Von der Apologie zur Kritik. Der Rezeptionsrahmen der Theodizee, in: ders.: Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung. Frankfurt/M. 1988, 61–72, hier S. 68. 107 Vgl. Hinske: Reimarus zwischen Wolff und Kant, S. 25. 108 Vgl. Reimarus: Vernunftlehre, S. 1. Vgl. Else Walravens: H. S. Reimarus und G. E. Lessing. Zwei Richtungen von Aufklärung in Deutschland, in: Tijdschrift voor de Studie von de Verlichting en van het vrije Denken 10,1–3 (1982), 57–73, hier S. 65. 109 Vgl. Reimarus: Vernunftlehre, S. 10f. 103 104 105

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ersetzt werden. Vielmehr müsse erst der hartnäckige falsche Schein zerstört werden.110 So kommen für Reimarus Vorurteile innerhalb der Logik als Gegenteil der Wahrheit in den Blick, als „Sätze, welche man ohne Untersuchung als wahr angenommen, und worauf man andere irrige Urtheile gründet.“111 Vorurteile sind Haupthindernisse richtiger Urteile.112 Faktisch hält Reimarus somit am Kriterium der Unwahrheit, an einem material-falschen Vorurteilsbegriff, fest. Doch auch in der Frage der Vorurteile zeigt sich die Gemengelage von rationalistischen und anthropologiebasierten Argumenten. Psychologisch mutet die Vorstellung an, daß das Hauptproblem des Vorurteils nicht die Unwissenheit, also nicht nur ein rationales Kriterium, ist, sondern die fehlende deutliche Bewußtheit.113 Denn der Irrtum kommt „nicht sowohl aus dem Mangel der nöthigen Erkenntniß, als aus der Unwissenheit unsers Mangels an nöthiger Erkenntniß.“114 Die Verankerung der Vorurteile in den Affekten (und ursächlich auch im Willen) läßt eine vollständige, unmittelbare Vorurteilsbekämpfung für Reimarus schwierig erscheinen. In der Apologie präferiert er ein sukzessives Vorgehen, das das Unkraut der alten Vorurteile nicht mit Gewalt ausrottet, sondern wartet, „bis Wahrheit von selbst mehr und mehr durchdringt“.115 Die Nicht-Bewußtheit vorurteilshafter Sätze macht deren Bekämpfung zwar schwierig, doch kann der richtig angewendete „vernünftige Zweifel“ auch hier zum Erfolg führen.116 Die potentielle Befangenheit in Vorurteilen erfordert für jeden einzelnen Menschen, „nach erhaltener Fertigkeit in der Vernunftkunst, alles von Grund aus regelmäßig untersuchen, ob es wahr oder falsch sey.“117 Der Zweifel ist das entscheidende „Mittel zur Wahrheit“.118 Reimarus’ Vernunftlehre zielt mithin letztlich auf eine Rationalisierung der Lebenspraxis selbst. Während zur gleichen Zeit die „Vernünftigen Ärzte“ anthropologiebasierte Argumente zur Relativierung lebenspraktischer Erkenntnis einführen, wenden sich philosophische Diskursteilnehmer zwar zur Lebenspraxis, inten-

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Vgl. Hinske: Reimarus zwischen Wolff und Kant, S. 23. Im Unterschied zu Kant liegen die Grenzen der Vernunft für Reimarus auf seiten der Analysis (der Erkennbarkeit), nicht auf seiten der Synthesis. 111 Reimarus: Vernunftlehre, S. 384. 112 Vgl. Schneiders: Praktische Logik, S. 87f. 113 Vgl. hierzu ebd., S. 90, ders.: Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland. Hamburg 1990, S. 245. 114 Reimarus: Vernunftlehre, S. 444. Ähnlich auch in der 3. Aufl.: Vorurteile beruhen auf dem Mangel an der zur Einsicht erforderlichen Klarheit, und man kenne auch den wirklichen Grund der Irrtümer nicht. Vgl. Hermann Samuel Reimarus: Vernunftlehre. Nachdr. der 3. Aufl. von 1766 mit fortlaufenden Hinweisen auf die Parallelen der 2. und 4. Aufl. Hg. Frieder Lötzsch. München 1979, S. 385. 115 Hermann Samuel Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Hg. Gerhard Alexander. Frankfurt/M. 1972, S. 57. 116 Vgl. Schneiders: Praktische Logik, S. 92. 117 Reimarus: Vernunftlehre, S. 452. 118 Ebd., S. 492.

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dieren aber deren vernünftige Organisation im Gefolge Wolffs.119 Die Ablehnung des Wolffschen Systemgedankens wurde zur Voraussetzung einer Neufundierung auch des Vorurteilsdiskurses außerhalb der theoretischen Logik und außerhalb rational-kritischer Zugriffe.120 Doch gelingt es Christian August Crusius innerhalb der Erkenntnistheorie nur auf der Basis einer sinnesdefinierten Wahrheit, den Verstand nicht mehr als Letztbegründung der Vorurteilstheorie einzuführen: „Diese Uebereinstimmung der Sinne mit sich selbst mit Hinzunehmung des vorigen, daß die Empfindungen reale Objecte haben […], nennet man gemeiniglich die Wahrheit der Sinne, welche man dem Irrthume entgegen setzet, als ob die Sinne betrögen.“121 – „Es ist also das Vorwahrhalten oder der Beyfall keine blosse Wirckung des Verstandes, sondern er ist eine gemischte Wirckung unserer Seele […], darzu sowohl der Verstand als der Wille das Seinige beytragen muß.“122 Auf der Grundlage eines solchen, an Thomasius orientierten Voluntarismus erhält auch der Wahrscheinlichkeitsbegriff neue Relevanz.123 Der erfolgversprechende Erkenntnisweg ist der „Weg der Wahrscheinlichkeit“.124 Mit dieser Hermeneutik der Probabilität werden sensualisierende Strategien wirksam, doch bleiben die Auswirkungen auf Crusius’ Vorurteilskonzept fragmentarisch. Denn der nun naheliegende Gedanke, daß Unwissenheit oder mangelnde Bewußtheit das tiefliegende Problem der Vorurteile sei, daß der von Affekten geleitete freie Wille unser Urteil beeinflusse, führt noch nicht dazu, daß der Vorurteilsbegriff von der Wahr-falschDichotomie befreit würde, sondern gründet diese nur neu im Voluntarismus. Zwar weisen Habitualität, Subjektivität und mangelnder Bewußtseinsstatus bei Vorurteilen auf ein neues Konzept hin,125 doch stellt sich die Frage des Umgangs mit den Vorurteilen für Crusius noch nicht neu. Denn das Vorurteil bleibt grundlegend negativ konnotiert, es wird gar von vernünftigen Annahmen, für die wenigstens die Wahrscheinlichkeit spricht, ausdrücklich abgegrenzt: „man muß eine vernünftige Präsumtion der Autorität nicht mit dem verwirren, was ein Vorurtheil der Autorität ist. Die erstere beruhet auf Gründen, bey diesem aber handelt man ohne Gründe, oder man gehet in seinem Vertrauen weiter, als die Gründe reichen.“126 Die Kritik der Vorurteile bleibt weiter nicht nur gerechtfertigt, sondern auch notwendig.

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Vgl. Schneiders: Praktische Logik, S. 82. Vgl. auch Horst Dreitzel: Zur Entwicklung und Eigenart der ‚eklektischen Philosophie‘, in: Zeitschrift für historische Forschung 18 (1991), 281–343, hier S. 293. 121 Crusius: Weg zur Gewißheit, S. 783. 122 Ebd., S. 794. 123 Auf die Nähe zu Thomasius weisen hin Reisinger / Scholz: Vorurteil I, Sp. 1255f. 124 Vgl. Crusius: Weg zur Gewißheit, S. 1087. 125 Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 188ff., 190. 126 Christian August Crusius: Gründliche Belehrung vom Aberglauben zur Aufklärung des Unterschieds zwischen Religion und Aberglauben. Aus dem Lat. übs. von Christian Friedrich Pezold. Leipzig 1767, S. 218. Abergläubische haben demnach eine Reihe von Vorurteilen, die die Bekämpfung des Aberglaubens schwierig machen; vgl. ebd., S. 284ff., 357ff.

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Der Theologe Johann Gottlieb Töllner beschreitet einen anderen Weg, der aber wie Crusius am Wahrheitskriterium anknüpft. Töllner nutzt den Begriff der Wahrheit zu einer kritischen Musterung der typologischen Differenzierung von praeiudica antiquitatis und novitatis.127 Er führt Gründe an, wieso das Vorurteil für das Althergebrachte und das Vorurteil für das Neue durchaus wahr sein können – oder wenigstens hypothetisch innerhalb eines Erkenntnisprozesses als wahr angenommen werden können. Doch auch er verbietet sich eine „tiefsinnige psychologische Untersuchung“ und reduziert sowohl die Restitution als auch die Kritik an den Vorurteilen des Altertums und der Neuheit auf die Möglichkeit, daß Stärke oder Schwäche des Verstandes zugrundeliegen könne.128 Zwar spreche einiges dafür, daß das positive Vorurteil für das Neue stärkere Gründe für sich habe als das Vorurteil für das Altertum einer Erkenntnis,129 doch resümiert Töllner: „daß eine Erkentnis alt oder neu ist, das ist offenbar etwas, das ganz ausser derselben ist: ein blosser historischer Umstand derselben.“130 Töllner nimmt hier die Argumentationsfigur retrospektiver Historisierung auf, indem er die historische Bedingtheit von Erkenntnis berücksichtigt. In dieser Hinsicht erweist sich die Unterscheidung verschiedener Typen des Vorurteils als wenig sinntragend. Der binnenphilosophisch reglementierte Vorurteilsdiskurs verliert seine typologische Komponente, ohne daß Töllner auch das rationale Kriterium der Vernunft aufgibt, das zur kritischen Unterscheidung von wahren und falschen Vorurteilen notwendig ist: „Darum lasset uns die Mittel, Wahrheit und Irrtum zu unterscheiden, welche uns verliehen sind, dankbar gebrauchen, und sowohl diejenigen mit Mitleiden betrachten, welche für alles alte streiten, weil es alt ist, als diejenigen, welche für alles alte eckelt, weil es alt ist.“131 Die Vorurteilstheorie verliert bei Töllner wesentliche Aspekte,132 doch erweist sich die binnenphilosophische Verbindung von Ratio und Vorurteilskritik in der logisch wie theologisch normativen Argumentation als beständig. Noch zu Beginn der 1770er Jahre sollte der Göttinger Philosoph Samuel C. Hollmann Vorurteile vom Irrtum zwar definitorisch unterscheiden, der formalen

127

Vgl. Johann Gottlieb Töllner: Von dem Vorurteile des Altertums und der Neuigkeit einer Erkenntnis, in: ders.: Kurze vermischte Aufsätze. Bd. 1. Frankfurt/O. 1767, 1–20. 128 Vgl. ebd., S. 2f. 129 Vgl. ebd., S. 15. 130 Ebd., S. 17. 131 Ebd., S. 19. 132 Vgl. Friedrich Just Riedel: Johann Gottlieb Töllners [...] vermischte Aufsätze. Erste Sammlung. [...], in: Philosophische Bibliothek 1 (1769), 137–151, hier S. 140f. Riedel plädiert für die Reetablierung des tendenziell eher wahren Vorurteils des Altertums und bestreitet damit Töllners Konzentration auf eigenständige, von Vorurteilen jeglichen Typus’ unbeeinflußte Wahrheitssuche. Ähnlich wie Töllner bevorzugt bereits Wagner die kritische Prüfung beider Typen von Vorurteilen. Doch plädiert er – in dieser Hinsicht eher Riedel ähnlich – aus sozialpsychologischen Gründen eher für die Bewahrung des Alten, „weil man sonst ohne Noth und Nutzen andere irre macht, die des alten und gemeinen gewohnt sind“. (Friedrich Wagner: Versuch Einer gründlichen Untersuchung, welches Der wahre Begriff Von der Freyheit des Willens sey? [...]. Berlin 1730, S. 32.) Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 192.

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Zuordnung zur Vernunftlehre allerdings treu bleiben.133 Er vollzieht zwar lebenspraktische Argumente nach, doch ändert dies nicht seine Haltung zur Vorurteilsfrage. Hollmann bestimmt Vorurteile begriffsgeschichtlich aus der antiken Tradition. Für Cicero lägen Vorurteile dann vor, wenn man etwas ohne genugsamen Grund für wahr annehme. Es handele sich dann um eine praeiudicata opinio.134 Hieraus leitet er eine Definition ab: Nach diesem Verstande des Worts kann man nun alle einzelne Begriffe, Sätze und Meinungen, die man für wahr, richtig und gewiß, hält, und annimmt, ehe man von der Wahrheit und Richtigkeit derselben aus tüchtigen Gründen überführt ist, mit allem Recht Vorurtheile, und praeiudicia, nennen; sonderlich wenn unser Beyfall bloß auf das Urtheil anderer, die bey uns in einigen Ansehen stehen, gegründet ist […].135

Dieser formale Vorurteilsbegriff unterscheidet Vorurteile von eigenen Irrtümern, irrigen Gedanken, fehlerhaften Vorstellungen und Urteilen. Hollmann weiß auch um die Unvermeidbarkeit der Vorurteile in der frühesten Kindheit. Richtige Begriffe lerne man erst nach langer Zeit unterscheiden. Die Quelle aller Vorurteile liege hauptsächlich im blinden Beifall für dasjenige, was wir von anderen lernen. Dessen Ursache wiederum sei die ungegründete Liebe und Neigung zu den lehrenden Personen.136 In Kritik an Budde wie an Thomasius schließt Hollmann somit Leidenschaften und den menschlichen Willen als potentielle Quellen der Vorurteile aus, benennt aber mit den Neigungen eine andere affektive Haltung als deren Ursache.137 Hollmann propagiert einen formalen Vorurteilsbegriff und nimmt partiell Argumente der Sensualisierung auf. Dennoch aber verbleibt Vorurteilskritik als zentrale Aufgabe innerhalb der Logik: Vorurteile gelten als „gefährliche Feinde der Wahrheit, der Ruhe, und Glückseligkeit der Menschen“, vor denen die Logik zu warnen habe, die sie kenntlich und unschädlich machen müsse.138 Diese nun inkonsistent erscheinende Schlußfolgerung offenbart sich vor dem Hintergrund der zwischenzeitlichen Vorurteilsdiskussion als Abweisung literarisierter Formen. Denn ausdrücklich unterzieht Hollmann den literarischen Vorurteilsdiskurs einer harschen und hier kaum begründeten Kritik: „Doch viele unserer heutigen Schriftsteller scheinen auch diese Lehre (die Vernunftlehre, deren Teil die Vorurteilskritik ist, R. G.) als eine alte verlegene Waare anzusehen, die sie zu ihrem Galanteriekram nicht brauchen.“139 Die Fronten zwischen der rationalen Vorurteilskritik philosophischer Provenienz und den literarischen Formen des Umgangs mit dem Vorurteilsproblem scheinen früh verhärtet. 133

Vgl. zu Hollmann ausführlich, auch die Wandlungen von dessen Positionen nachzeichnend Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 183ff. 134 Vgl. Hollmann: Zufällige Gedanken, S. 3f. 135 Ebd., S. 5f. 136 Vgl. ebd., S. 7ff., 11. 137 Vgl. ebd., S. 15f. 138 Vgl. ebd., S. 27. 139 Ebd.

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Die Anerkennung anthropologiebasierter Argumente bedingt, wie anhand dieser Beispiele zu sehen war, innerhalb des philosophischen Argumentationsbereiches noch keine Umwälzung der Vorurteilsfrage. Selbst die Wendung gegen den als systemisch verstandenen Wolffianismus bietet hierfür noch keine hinreichende Bedingung. Denn die kritische Destruktion von Vorurteilen bleibt hier, aller Widerstände ungeachtet, erstrebtes Ziel.

3.2 Selektive Anthropologisierung und rationale Vorurteilskritik in der Literatur: Ch. M. Wielands Lehrgedicht Die Natur der Dinge Der Vorurteilsdiskurs der Jahrhundertmitte bleibt nicht auf die limitierte Rezeption des anthropologischen Interdiskurses in Philosophie und Theologie beschränkt. Die Optionen anthropologiebasierten Denkens wurden gerade im Zusammenhang der Metaphysikkritik eingelöst. Im Zuge der Aufwertung anthropozentrischer Erfahrungswissenschaften in der Jahrhundertmitte können die Opponenten des metaphysisch-theologischen Diskurses, der die Frage nach der Stellung des Menschen in der Weltordnung behandelt, auf neuen physiologischen Grundlagen, aber auch mit neuen Strategien argumentieren. Denn nun können empirische Resultate der Anthropologie zur Beantwortung der virulenten Fragen herangezogen werden, kann die Wendung gegen metaphysische Spekulation, gegen die Isolation des individuellen Beobachtungsobjekts, gegen die theologische Letztbegründung des menschlichen Seins und schließlich auch gegen den (vermeintlichen) Systemzwang des Rationalismus auf neue physiologische und psychologisch-ästhetische Grundlagen gestellt werden.140 Vorwiegend die physiologische Anthropologie, aber auch die Verfahren der Sensualisierung und Naturalisierung gewinnen neue diskursive Dignität. Die noch vorwiegend inhaltlich bestimmte Anthropologie im Übergang prägt auch literarische Formen des Vorurteilsdiskurses, die sich aus dem Zusammenhang philosophischer Logik und Erkenntnistheorie vorsichtig zu emanzipieren beginnen. Dabei wurden, wie das Beispiel des frühen Wieland zeigt, zunächst vorwiegend die Aspekte der Commercium-Debatte inhaltlich rezipiert. Christoph Martin Wieland kennt bereits in den frühen 1750er Jahren die älteren anthropologischen Kerndebatten. Doch verortet er sie noch innerhalb der herkömmlichen diskursiven Konstellation. Wieland führt in seinem Lehrgedicht Die Natur der Dinge, das mit Protektion G. F. Meiers publiziert wurde, die Widerlegung von Lukrez’ De rerum natura, die Diskussion um den Substanzendualismus Descartes’ und um die Monadenlehre Leibniz’ auf die theologische Legitimation des sich in der Natur offenbarenden Gottes zurück:

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Vgl. Zelle: Sinnlichkeit und Therapie, S. 5ff., Schmidt-Biggemann / Häfner: Richtungen.

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Wer nur mit freyem Blick und einem Geist voll Klarheit, Sich in das Ganze wagt, den rührt die höchste Wahrheit Mit Stimmen mancher Art, aus ungezähltem Mund Macht ihm selbst die Natur der Gottheit Daseyn kund.141

Damit bezieht sich Wieland selektiv auf eines der primären Themen der Anthropologie des 18. Jahrhunderts, integriert es aber noch nicht in einen genuin anthropologischen Diskurszusammenhang, der ihn an antiken wie modernen Materialismus zu gemahnen scheint.142 Jene metaphysische Ausrichtung der Anthropologie könnte für den in dieser Hinsicht an der physischen Anthropologie seiner Hallenser Kollegen geschulten Georg Friedrich Meier ein wesentlicher Einwand gegen die inhaltliche Konzeption des Wielandschen Lehrgedichts gewesen sein. Meier unterscheidet in seiner Vorrede zur Erstausgabe von Wielands Die Natur der Dinge ausdrücklich zwischen der literarischen Form, der er zustimmt, und den philosophischen Inhalten, die er, ohne allerdings seine Kritik zu konkretisieren, ablehnt.143 Wenn Schings daher konstatiert, der junge Philosoph Wieland gehe achtlos an der Anthropologie vorbei, weil für ihn eher die Angelologie zuständig sei,144 so verkürzt er die Anthropologie der Jahrhundertmitte um die durchaus noch präsente theologische Formationsregel. Die These, daß Anthropologie mit Theologie, der Mensch und dessen Erforschung immer mit Gott und dem Glauben verbunden sei, war zur Jahrhundertmitte (und darüber hinaus) noch weit verbreitet. Wielands Naturbegriff in den frühen 50er Jahren ist deutlich normativ. Er bleibt an theologisch-ethische Vorstellungen gebunden. Die Natur des Menschen wird als von Gott geschaffen und damit als positiv angesehen; Kunst legitimiert sich durch die reproduzierende Darstellung göttlicher Ordnung.145 Doch Wieland geht noch 141

Christoph Martin Wieland: Die Natur der Dinge in sechs Büchern, in: AA 1, 5–129, hier S. 17, V. 77–80. (Im folgenden: Wieland: Natur der Dinge (AA)) Wieland veränderte das Lehrgedicht im Verlauf mehrerer neuer Auflagen gravierend. Hierüber legt er im Vorbericht zur Ausgabe letzter Hand Rechenschaft ab. Vgl. Christoph Martin Wieland: Die Natur der Dinge oder die vollkommenste Welt. Ein Lehrgedicht in sechs Büchern. 1751, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Supplemente. Bd. 1. Leipzig 1798, S. 10f. (Im folgenden: Wieland: Natur der Dinge (Göschen)). Vgl. zum Zusammenhang mit dem Epikureismus Dorothee Kimmich: Christoph Martin Wielands Epikureismus. Ars vivendi und der Widerstand gegen eine Dialektik der Aufklärung, in: Wieland-Studien 3 (1996), 47–74, hier S. 49. 142 Vgl. Margit Hacker: Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien: Christoph Martin Wielands „Natur der Dinge“. Würzburg 1989, S. 1f. 143 Vgl. Georg Friedrich Meier: Vorrede, in: [Christoph Martin Wieland:] Die Natur der Dinge in sechs Büchern. Halle 1752, unpag. Diese Unterscheidung entspricht Meiers Betrachtungen über den ersten Grundsatz aller schönen Künste. Vgl. Hans-Joachim Kertscher / Günter Schenk: Nachwort und Textkommentare, in: Georg Friedrich Meier: Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen in drei Teilen. Hg. von dens. T. 3: Philosophische Ästhetik – Literaturtheorie – Neue Deutsche Literatur. Halle 2002, 207–232, hier S. 211. Inhaltliche Parallelen zwischen Meier und Wieland zeigt auf: Hans-Joachim Kertscher: Georg Friedrich Meier und Christoph Martin Wieland, in: Erich Donnert (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit. Bd. 2. Frühmoderne. Weimar / Köln / Wien 1997, 125–137, hier S. 127, 132ff. 144 Vgl. Schings: Der anthropologische Roman, S. 248. 145 Vgl. zur normativen Funktion des Naturbegriffs Ammermann: Gemeines Leben, S. 15ff.

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einen Schritt weiter als Leibniz, auf den er in Die Natur der Dinge Bezug nimmt, indem er auf der Basis der Emanationslehre über die Funktion der Natur hinaus auch Aussagen über die Gesamtstruktur der Schöpfung trifft und ihr die absolute Harmonie aller ihrer Teile zuschreibt.146 Im Konzept der chain of being werden nicht nur die Abgrenzung von Mensch und Tier und das antimaterialistisch verstandene Problem des commercium mentis et corporis zu strukturierenden Systemstellen, sondern Wieland dynamisiert das Modell, indem er es teleologisch auf Gott ausrichtet und jedem Wesen die Möglichkeit individueller, ethischer Vervollkommnung zugesteht.147 Die Zeit bricht in das Modell der Kette der Lebewesen ein, ohne die alte Eschatologie aufzugeben.148 Die metaphysische Letztbegründung resultiert dabei aus einer immanent-transzendenten Vorstellung: Ein Gott ist es, durch den ich aus dem Nichts gedrungen: So ruft die frohe Welt mit Millionen Zungen; So stimmt in meiner Brust dem jauchzenden Geschrey Der ewgen Schöpfungen ein stiller Zeuge bey.149

Der Gleichlauf von Natur- und Gotteserkenntnis entspricht physikotheologischen Mustern, die Wieland an Brockes studiert hatte.150 Daß Gott durch die Natur erkannt werden könne, bestätigt für Wieland wiederum das Zeugnis der Vernunft. Als sensualistisch geordnet erweist sich auch diese dynamische Perspektive selbst. Denn der Übergang auf der Stufenleiter der Lebewesen bedarf eines Triebes zur Selbstvervollkommnung, nicht nur der rationalen Erkenntnis.151 In der Frage des commercium mentis et corporis bleibt Wieland metaphysischen Antworten treu.152 Denn würde die Vermischung der Sphären des Göttlichen und des Menschlichen spinozistisch zu weit getrieben, würde die von Gott gestiftete moralische Norm letztlich angreifbar.153 Wird das chain of being-Konzept moralistisch aufgeladen und Natur gleichzeitig als Datenbasis für vernünftige Erkenntnis wie als Ausdruck der göttlichen, moralischen Norm verstanden, verbinden sich 146

Vgl. Frank Baudach: Die Dichtungsauffassung des jungen Wieland, in: Theodor Verweyen / Hans-Joachim Kertscher (Hg.): Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung. Tübingen 1995, 187–199, hier S. 193, ders.: Planeten der Unschuld – Kinder der Natur. Die Naturstandsutopie in der deutschen und westeuropäischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 1993, S. 289f. 147 Vgl. Baudach: Dichtungsauffassung, S. 193, ausführlicher ders.: Planeten der Unschuld, S. 297f., auch Schings: Der anthropologische Roman, S. 249, Hacker: Ordnungsutopien, S. 7, 19ff., v.a. 57ff. 148 Vgl. (ohne Bezug auf Wieland) Lovejoy: Die große Kette der Wesen, S. 297. Die Idee der chain of being entwickelt Wieland v.a. im zweiten Buch der Natur der Dinge. Er nutzt hierzu das biblische Bild der Jakobsleiter. Vgl. Wieland: Natur der Dinge (AA), S. 52, V. 601ff. 149 Wieland: Natur der Dinge (AA), S. 26, V. 419–422. „Welt“ und „Schöpfung“ entsprechen metonymisch der „Natur“. Vgl. auch Wieland: Natur der Dinge (Göschen), S. 41, V. 397ff. 150 Vgl. Hacker: Ordnungsutopien, S. 14. 151 Vgl. Baudach: Planeten der Unschuld, S. 297. 152 Vgl. Schings: Der anthropologische Roman, S. 249. 153 Vgl. Hacker: Ordnungsutopien, S. 9.

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Erkenntnisgegenstand und -methode. Aus dieser Doppelung resultiert für die Aufklärung ein eminentes Begründungsproblem: „Geist“ (Vernunft) muß sich auf das Sein (als physische Natur) wie auf das Sollen (als moralischer Natur) zugleich beziehen.154 Im Rahmen der anthropologischen Modellbildung muß Wieland demnach auf die Hilfskonstruktion eines ätherischen, unsichtbaren und unsterblichen Leibs und auf die Einheit der Gottheit zurückgreifen, um die Dynamik der Entwicklung erklären und in einem synthetischen Modell aufheben zu können, ohne das Modell der prästabilierten Harmonie vollständig zu übernehmen.155 Damit sucht Wieland den psychologischen Erfahrungsdruck zu integrieren, der ihn auch zur partiellen Aufnahme sensualistischer Argumentationsformen und einer interdiskursiven Anthropologie-Rezeption über die inhaltliche Thematik hinaus nötigt. Man griffe zu kurz, führte man die Aufwertung der Sinne bei Wieland ausschließlich auf innerästhetische Faktoren wie die poetologischen Positionen von Bodmer und Breitinger oder aber auf Wirkungen des Pietismus zurück.156 Denn das „sensualistische Weltbild“ Wielands greift darüber hinaus auf die Höherbewertung der sinnlichen Erkenntnis- und Begehrungskräfte zurück, die gleichzeitig in Ästhetik und Anthropologie der Zeit virulent werden. Die Aufwertung poetischer Einbildungskraft besitzt integrativen Charakter, da die Fiktion des Möglichen auch Aussagen über das Wirkliche der Natur (in anderen Erdteilen oder zu anderen Zeiten) einschließt.157 Die Poesie verbindet in der Darstellung Wahrheit mit Schönheit.158 Auch naturalisierende Argumentationsstategien liegen Wieland in Die Natur der Dinge nicht fern: Die poetische Naturnachahmung besteht für Wieland nicht nur in der Nachahmung konkreter Naturschönheiten, sondern auch in der Übertragung des inhärenten geistigen Sinnes und symbolischer Verweisungsverfahren auf die Kunstschönheiten.159 Analogisch verbindet Wieland die Erkenntnis der Natur mit Optionen der Kunst, ohne dies auf Wissen über den Menschen selbst auszuweiten. Diese Anthropologisierung bleibt Fragment. Wieland vollzieht die im Gefolge anthropologiebasierter Argumentationsstrategien entstehenden gnoseologischen Folgen noch nicht. Sein Diskurs vom Menschen unterliegt noch theologischen Regeln, die eine probabilistische Aufweichung der Erkenntnissicherheit allzu pre-

154 155

Vgl. Kondylis: Aufklärung, S. 15, zu Wieland Baudach: Dichtungsauffassung, S. 197, 199. Vgl. Schings: Der anthropologische Roman, S. 250f., Hacker: Ordnungsutopien, S. 51f., John A. McCarthy: Wielands Metamorphose, in: DVjs 49 (1975). Sonderheft, 149*–167*, hier S. 157*. 156 Eine Affinität zum Pietismus ist in Die Natur der Dinge nicht sichtbar. Vgl. Hacker: Ordnungsutopien, S. 17f. Frey verfehlt den Diskurs der Anthropologie daher völlig. Vgl. Pascal Frey: Die Virtuosität des Glücks. Der ‚ganze Mensch‘ in der Anthropologie Christoph Martin Wielands, in: Studien zur Germanistik. Pécs 3 (1993), 49–64. 157 Vgl. Baudach: Dichtungsauffassung, S. 187f., 192. 158 Vgl. Christoph Martin Wieland: Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts ‚Der Noah‘, in: AA 3, 299–518, hier S. 312. Hinweis bei Baudach: Dichtungsauffassung, S. 189. 159 Vgl. Baudach: Dichtungsauffassung, S. 194f.

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kär machen würden. Wieland hält zu Beginn der 50er Jahre noch am rationalistischen Wahrheitsverständnis fest.160 Mit Wolff sieht Wieland die Ursache für moralisches Fehlverhalten und letztlich auch für Vorurteile in unzureichender Erkenntnis.161 Die Konsequenzen aus Naturalisierung und Sensualisierung zieht er noch nicht. Wahrheit kontrastiert nicht nur mit dem Irrtum, sondern sie leitet auch den Menschen dazu an, seine Empfindungen um rationale Kontrolle zu bereichern, wie Wieland im sechsten Brief der Briefe von Verstorbenen an hinterlassene Freunde schreibt: Aber sie (die Wahrheit, R. G.) öffnet die Augen, und weht die Nebel des Irrthums Und der Gewohnheit weg, die ihm (dem Menschen, R. G.) die Schönheit der Schöpfung Neidisch entziehn; sie lehrt ihn empfinden, und aus der Empfindung, Mit Betrachtung vermählt, Gedanken zeugen. [...]162

Wahrheit ist Erkenntnisziel und Erkenntnismittel gleichzeitig. Doch bleibt die Erkenntnis der Wahrheit durchaus problematisch, wie Wieland im selben Versepos dokumentiert: [...] Wie selten ists möglich, Unter tausend kaum sichtbar’n verschlungnen Ideen, die wahren Stets aus den falschen zu kennen, [...].163

Die klare und deutliche Erkenntnis der Wahrheit bleibt das Ziel, doch steht diesem sowohl das Problem der Dunkelheit (das kaum Sichtbare) als auch das der Verworrenheit insbesondere zusammengesetzter Vorstellungen entgegen. Mit dieser doppelten Dichotomie wiederholt Wieland in wenigen Versen die von Leibniz stammende Differenzierung von Erkenntnisgraden, die für die anthropologiebasierte Gnoseologie des 18. Jahrhunderts entscheidend werden sollte.164 Es muß ein weiterer Faktor hinzukommen, um Wahrheit zu erkennen: der Beistand der höchsten Wahrheit Gottes. Dieser dient dazu, das Dasein Gottes in der Natur zu erkennen,165 erweist sich darüber hinaus aber auch zur generellen Wahrheitsfindung als unerläßlich. Göttliche Wahrheit ist gleichzeitig Ziel und Mittel der Erkenntnis. Wieland versucht, die metaphysisch-systemhafte Spekulation zu restituieren, indem er das 160

Dies sollte sich später eklatant ändern: s.u. S. 319f. Thomé stellt Wielands Natur der Dinge in den Zusammenhang der „Restauration des Rationalismus“. Vgl. Thomé: Roman und Naturwissenschaft, S. 75ff. 161 Vgl. Baudach: Planeten der Unschuld, S. 295. 162 Christoph Martin Wieland: Briefe von Verstorbenen an hinterlassene Freunde (1753), in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Supplemente. Bd. 2. Leipzig 1798, 201–471, Sechster Brief, S. 362, V. 110–113. 163 Ebd., S. 367, V. 166ff. 164 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Meditationes de cognitione, veritate et ideis, in: ders.: Opuscules metaphysiques. Kleine Schriften zur Metaphysik. Hg. Hans Heinz Holz. Darmstadt 2 1985, 32–47, hier S. 32. Vgl. Adler: Fundus animae, S. 199f. Meiers Unterscheidung von absolut und relativ dunkler Erkenntnis greift Wieland hier nicht auf. Vgl. hierzu Adler: Prägnanz, S. 98f. Hier sind indes die dunklen Ideen von den „petites perceptions“ Leibniz’ separiert. 165 Vgl. Wieland: Natur der Dinge (AA), S. 17, V. 80.

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Scheitern naturwissenschaftlicher Methodik erweisen möchte.166 Denn die empirische Sinneserfahrung alleine sei trügerisch: Doch da die Sinne uns mit tausend Bildern trügen, Die nur in uns, und nicht im Gegenstande, liegen, Ist nicht die Wissenschaft, die man auf sie gegründt, Ein leeres Hirngespinnst, das vor der Wahrheit schwindt?167

Die Beschränktheit menschlicher Erkenntnis, die aus der Diskrepanz von Sinneswahrnehmung und Gegenstand resultiert, begrenzt indes weder den Drang noch den Willen nach ihr. Im Vernunftoptimismus Wielands verbindet sich die göttliche Inspiration mit der Leistungsfähigkeit der „umleuchtete[n] Vernunft“.168 Denn auch der menschliche Verstand alleine ist begrenzt, führt er doch gelegentlich zu unberechtigten Zweifeln an der Existenz Gottes und an dessen Sichtbarkeit durch die Natur: „[...] das Ganze übersehen / Ist größrer Geister Werk; [...]“.169 Die poetische Darstellung der so gefundenen Wahrheit ist wiederum auf die Mithilfe poetischer Einbildungskraft angewiesen, wie schon die unteren Erkenntniskräfte ihren limitierten Beitrag zur Wahrheitsfindung geleistet hatten.170 Obwohl Wieland inhaltliche und formale Fragmente des anthropologischen Diskurses diskutiert und aufgreift, schließt seine theozentrische Gnoseologie eine Anthropologisierung des Vorurteilsdiskurses weitgehend aus. Der frühe Wieland beharrt auf einem material-falschen Vorurteilsbegriff. Ein ursprünglicher, idyllischer Naturzustand, der Züge des goldenen Zeitalters trägt, in dem Pflanzen, Tiere und Menschen innerhalb einer göttlichen Weltordnung friedlich koexistierten, ist frei von Vorurteilen. Der Blick auf die Natur im Modus utopischer, rückwärtsgewandter Historisierung zeigt Vorurteilsfreiheit als Ideal menschlichen Seins, das ein Gegenbild zur Gegenwart des lyrischen Ich zeichnet: Da die Natur auf Hygeln und in Thälern In Thieren und in unverwöhnten Menschen Mit seelger ungebundner Einfalt wyrkte: Zeigt mir die Glyklichen in ihrer Unschuld, Frey von der Kunst, unwissend in Begierden Und Vorurtheilen, die der stolzen Nachwelt Die Menschlichkeit mit ihren Freuden raubten.171

166 167 168 169 170 171

Vgl. Thomé: Roman und Naturwissenschaft, S. 85f. Wieland: Natur der Dinge (AA), S. 102, V. 207–210. Vgl. ebd., S. 103, V. 246. Ebd., S. 31, V. 616f. Vgl. ebd., S. 15, V. 19ff. Christoph Martin Wieland: Erzæhlungen. Heilbronn 1752, unpag. Eingang. Die Änderungen in der Göschen-Ausgabe gehen wesentlich über die Korrektur der recht eigenwilligen Schreibung der Originalausgabe und über stilistische Verbesserungen hinaus. So ist das Idealbild deutlich als dichterische Fiktion gekennzeichnet, indem die Muse, die dem Dichter das Bild präsentiert, dies nun „in dichterischen Träumen“ tut. „Begierden“ werden durch die eindeutiger negativ

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Jener Kontrast von Vorurteil und idyllischem Naturzustand geht noch vor Erscheinen von Rousseaus Discours sur l’inégalité auf zwei Motivbereiche zurück: Einerseits zeichnen Naturstandskonzeptionen der Frühaufklärung den vorgesellschaftlichen Zustand als friedliche Idylle, in dem Freiheit, Wahrheit und Gerechtigkeit (und mit ihnen die Frage der Vorurteile) nicht problematisch sind.172 Andererseits kennt Wieland auch das Arkadien-Motiv, das in der bukolischen Dichtung des Barock und der Anakreontik neue Konjunkturen erlebte. Vorurteile bewirken chaotische Unordnung und verhindern damit die Erkenntnis der göttlichen Ordnung in der Natur: „Doch weis das Vorurtheil, das alle Menschen nähren, / Die schönste Ordnung selbst chaotisch zu verkehren.“173 Da der idyllische Naturzustand für Wieland die (göttliche) Wahrheit offenbart, muß das Vorurteil als ungezügelte Begierde oder als träges Beharren der Wahrheit widersprechen. „So rührt sie (die Wahrheit, R. G.) auch den Blick, den der Gewohnheit Nacht / Und der Begierden Wuth empfindungslos gemacht.“174 Wie Vernunft den Begehrungskräften als Anleitung gegeben ist,175 so kann das Vorurteil durch Mäßigung und Wahl – Kennzeichen der Weisheit – vermieden werden: „Des Weisen Urtheil fälscht des Pöbels Irthum nicht; / Kein schimmernd Vorurtheil gibt seiner Wahl Gewicht.“176 Göttliche Eingebung, Vernunft und Poesie (als gesteuerte Umsetzung der unteren Erkenntnis- und Begehrungsvermögen) wirken demnach zusammen: „Der Weisheit himmlisch Licht zerstreut den alten Wahn“.177 Die menschlichen Sinne haben unter Anleitung der Vernunft ihren Anteil an der Vorurteilsdestruktion. Allein aber können sie nichts gegen Vorurteile ausrichten. Selbst die poetische Sublimationsform der Sinnlichkeit ist keine eigene

konnotierten „Triebe“ ersetzt. Vgl. Christoph Martin Wieland: Erzählungen, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Supplemente. Bd. 2. Leipzig 1798, 45–200, hier S. 55. 172 Locke charakterisiert den Naturzustand als friedfertig, von Gleichheit geprägt und sich selbst organisierend. Vgl. John Locke: Über die Regierung (The Second Treatise of Government). Übs. Dorothee Tidow, Hg. Peter Cornelius Mayer-Tasch. Stuttgart 1983, S. 5ff. Rousseau sollte im Discours den Naturzustand ähnlich charakterisieren und gleichfalls Vorurteile der Vernunft, dem Glück und der Tugend kontrastieren. Er begründet ihre Entstehung mit der aufkommenden Ungleichheit. Vgl. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit, S. 260. 173 Wieland: Natur der Dinge (AA), S. 17, V. 81f. 174 Ebd., S. 16, V. 23f. In der in die Ausgabe letzter Hand aufgenommenen Fassung ist „der Begierden Wuth“ durch „träges Vorurtheil“ ersetzt: Vorurteile erzeugen eine Trägheit der Wahrnehmung, die hier mittels einer Hypallage adjectivi dem Vorurteil selbst zugesprochen wird. Vgl. Wieland: Natur der Dinge (Göschen), S. 17, V. 24. 175 In der Fassung der Ausgabe letzter Hand von Wielands Moralischen Briefen ist gar von der Vernunft als „Mentor“ des Triebs die Rede. Vgl. Christoph Martin Wieland: Moralische Briefe in Versen. 1752, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Supplemente. Bd. 1. Leipzig 1798, 275–428, 3. Brief, S. 319, V. 43. 176 Christoph Martin Wieland: Zwölf moralische Briefe in Versen, in: AA 1, 223–310, hier S. 245, V. 133f. 177 Wieland: Natur der Dinge (AA), S. 16, V. 48. In der Ausgabe letzter Hand wird als Wirkung der Poesie ausdrücklich die Destruktion von Vorurteilen festgehalten: „Die Vorurtheile fliehn, die seinen Geist beschwerten“ (Wieland: Natur der Dinge (Göschen), S. 18, V. 42).

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Form der Wahrheitsgewinnung. Erforderlich ist vielmehr die vernunftmäßig abgesicherte und von Gott angeleitete Wahrheit: Dir, göttliche Vernunft, dir bleibt der Wahrheit Preis, Nur wenn man dich verliert, weicht man vom ebnen Gleis; Durch dich will ich die Macht geschärfter Zweifel dämpfen, Und, vor die Gottheit selbst, das Vorurtheil bekämpfen.178

Frei von Vorurteilen, durch keine falschen Perspektiven und kein „gekünstelt Glas“ getrübt, kann sich die Vernunft „mit aufgeklärten Blicken“ zu Gott aufschwingen, indem sie in jedem Detail der Natur dessen göttliches Wirken rekognosziert.179 Die Destruktion von Vorurteilen erweist sich nicht nur als metaphysisch begründetes, sondern darüber hinaus auch als lebenspraktisches Problem. Die Wirklichkeit soll durch praktische, moralische Bemühung der metaphysischen Norm angeglichen werden.180 Als Idealtypus weiser Vorurteilskritik wird Sokrates angeführt, der die Weisheit „zuerst zur Erden abgeführt“ habe.181 Doch betont Wieland hier im Unterschied zur späteren popularphilosophischen Sokrates-Rezeption nicht die Dialogizität und Offenheit des sokratischen Erkenntnisverfahrens, sondern die deiktische Geste des Sokrates, der ein diätetisch positiver Effekt zugeschrieben wird: „Er, ein erklärter Feind von Wahn und Vorurtheil, / Zeigt uns das ächte Guth und macht die Herzen heil“.182 Wielands frühe Vorurteilstheorie beruht auf einer selektiven Anthropologisierung, die sich noch einem geschlossenen metaphysischen Systementwurf verpflichtet sieht. In der brieflichen Diskussion Wielands mit Johann Georg Zimmermann über Hartleys Observations on Man allerdings sollte sich – durch das Einfallstor der psycho-physischen Anthropologie – der große Systemwille auflösen. Wieland akzeptierte zunächst das Influxus physicus-Prinzip und verwendete schließlich auch verstärkt anthropologiebasierte Argumentationsformen.183 Die

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Wieland: Natur der Dinge (AA), S. 34, V. 756–759. Die begrenzte Reichweite poetischer Darstellungsformen wird in der Ausgabe letzter Hand noch plastischer formuliert: „Allein vor Fabeln bebt des Zweiflers Kühnheit nicht, / Du, Wahrheit, bists allein, die seine Waffen bricht“ (Wieland: Natur der Dinge (Göschen), S. 59, V. 685f.). 179 Vgl. Wieland: Natur der Dinge (AA), S. 19, V. 159ff. 180 Vgl. Baudach: Planeten der Unschuld, S. 302. 181 Vgl. Wieland: Zwölf moralische Briefe, S. 290, V. 180. 182 Ebd., S. 291, V. 183f. 183 Vgl. David Hartley: Observations on Man, his Frame, his Duty, and his Expectations. London 1749. Zimmermann übersendet Wieland das Buch Ende April 1756. Vgl. Johann Georg Zimmermann an Wieland am 28.4.1756, in: Christoph Martin Wieland: Briefwechsel. Bd. 1. Briefe der Bildungsjahre (1.6.1750–2.6.1760). Hg. Hans Werner Seiffert. Berlin 1963, Briefnr. 220, S. 256. Vgl. Schings: Der anthropologische Roman, S. 251, Thomé: Roman und Naturwissenschaft, S. 120ff. Langenbachers Befund, Zimmermann habe den empfindsamen Schwärmer und seraphischen Sänger Wieland ins „anthropologisch Konkrete“ herabgestimmt, verkennt, daß Wieland mit der Akzeptanz des Influxus-Prinzips nur eine andere Lösung innerhalb des an-

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anfänglichen Widerstände Wielands gegen das Influxus-Prinzip sind moralischer Natur: Zwar akzeptiert er die Vorstellung, der Leib sei ein Spiegel der Seele, doch verteidigt er deren Eigenständigkeit, die moralisches Handeln ermöglicht.184 Doch wenn er Natur- und Wahrheitsbegriff schließlich neu bewertet, vollzieht Wieland nicht nur die These vom Influxus physicus nach, sondern er reduziert die metaphysischen Anteile seiner Argumentationsverfahren auf anthropologisierte Formen, die auch für die Entwicklung seiner Vorurteilstheorie nicht ohne Folgen bleiben sollten.185 In literarischen Genres zeigt sich dieser Wandel in der Abkehr vom hermeneutischen Prinzip voraufklärerischer Analogismen hin zu einem neuen Zeichenverständnis der Repräsentation.186 Wieland erkennt darüber hinaus aber auch die Eigenständigkeit des anthropologischen Diskurses an, die durch die Rezeption Zimmermanns verstärkte Einsicht, daß eine Erkenntnistheorie außerhalb der Metaphysik zwar auf Konjekturen angewiesen ist und sich vom metaphysischen wie vom logischen Wahrheitsbegriff verabschieden muß, daß sie aber einen prozessualen Weg bietet, mit den Aporien der Gnoseologie umzugehen. Wieland faßt seine eigene Wandlung in das Bild der Abkehr von bisherigen Überzeugungen und literarischen Formen und der Rückkehr zu seinem natürlichen Ausgangspunkt: Non sum qualis eram, mon cher Zimmermann; sans m’etonner d’avoir été enthousiaste, Hexametriste, ascete, prophete et mystique, il y a bien du tems que je suis revenu, grace à Dieu, de tout cela, et que je me trouve tout naturellement au point d’ou je suis parti il y a dix ans.187

Vollzogen sei eine „metamorphose, ou si vous voulés [un] retablissement dans ma forme naturelle“.188 Wie auch an der Vorurteilstheorie Wielands gezeigt werden konnte, sind indes wesentliche Argumentationsstrategien Wieland auch schon in den frühen 50er Jahren präsent.189 Wieland vollzieht nun im Rahmen seiner außerphilosophischen Erkenntnistheorie die Konsequenzen nach, die die anthropologische Wende der Jahrhundertmitte bereits nahelegte. Die Konstanz einzelner inhaltlicher Prämissen verbindet sich mit einem tiefgreifenden diskursiven Wandel.

thropologischen Kernproblems favorisiert. Vgl. Johann Georg Zimmermann: Mit Skalpell und Federkiel. Hg. Andreas Langenbacher. Bern / Stuttgart / Wien 1995, S. 95. 184 Vgl. Wieland an Zimmermann am 12. / 14. 6. 1756, in: Wieland: Briefwechsel. Bd. 1, Briefnr. 224, S. 260. 185 Vgl. Schings: Der anthropologische Roman, S. 252f. 186 Schings macht den Wandel an Don Sylvio von Rosalva mit Foucaultschen Kategorien fest. Vgl. Schings: Der anthropologische Roman, S. 253ff. Über den epistemologischen Wandel der Zeichenhermeneutik hinaus bedingt die Anwendung anthropologiebasierter Argumentationsverfahren auch einen Wandel in der Texthermeneutik. 187 Wieland an Zimmermann am 8. 11. 1762, in: Wieland: Briefwechsel. Bd. 3. Briefe der Biberacher Amtsjahre (6. 6. 1760 – 20. 5. 1769). Bearb. Renate Petermann / Hans Werner Seiffert. Berlin 1975, Briefnr. 122, S. 129. 188 Ebd., S. 130. 189 Vgl. McCarthy: Wielands Metamorphose, S. 166f., zur Forschung S. 149f. Sengle, der die These von Wielands Wende popularisierte, sieht eine „bestürzend plötzliche[n] und tiefgreifende[n] Wandlung“. Vgl. Friedrich Sengle: Wieland. Stuttgart 1949, S. 92.

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Vorurteilsrehabilitierung vor dem Hintergrund der anthropologischen Wende

4.1 Sozialisierung und prospektive Historisierung des Vorurteilsdiskurses Als Problem der Vorurteilsdiskussion hatte sich in den 1740er und 50er Jahren erwiesen, daß sich zwei Innovationen kaum vereinbaren ließen: Einerseits waren sensualisierende Argumentationsstrategien kaum mehr von der Hand zu weisen. Andererseits wurde die formale Neubegründung des Vorurteilsbegriffs, die aus binnenlogischen Defiziten entstanden war, zum Anlaß der Reflexion von Verwendungsvarianten des Vorurteils. Vorurteilskritik mußte nun neu legitimiert werden. Aus der Verbindung dieser beiden Argumentationsstränge resultierte die Frage, mit welchem Maßstab man beurteilen könne, ob, von wem und gegebenenfalls welche Vorurteile noch zerstört werden müßten und welche auf der anderen Seite ohne Gefahr (doch für wen?) erhalten oder gar gestützt werden könnten. Eine Frage, die sich auf der rein definitorischen Ebene als nicht beantwortbar zeigte, sofern man nicht grundsätzlich zum material-falschen Vorurteilsbegriff zurückkehrte1 – hatte doch gerade die formale Definition Meiers diese Frage erst nahegelegt. Die Lösung bestand vielfach darin, daß die Lebenspraxis nun zum Argument wurde. Dieses erforderte aber selbst neue Maßstäbe, um nicht einer beliebigen Rehabilitation von Vorurteilen das Wort zu reden. Insbesondere die Entlogisierung des Diskurses erzeugte argumentative Konflikte, sobald sie als dessen Regulationsnorm in Frage kam. Dieser normative Kontrast sollte die Episteme der deutschen Spätaufklärung prägen.2 4.1.1 Sozialisierend-anthropologisierende Rehabilitierung von Vorurteilen bei J. J. Sucro In diesem Dilemma findet sich die Generation der Meier-Schüler, die die in Halle im Bereich der Ästhetik, Anthropologie und Medizin erarbeiteten Positionen aufgenommen hatten und nun zu eigenständigen Argumenten transferierten – so auch 1

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Vielleicht ist dieses Dilemma eine Ursache, daß die Vorurteilstheorie mit Abstrichen bei Wolff, aber auch bei seinen unmittelbaren Schülern nur eine untergeordnete Rolle spielt und sich die Diskussion in Bereiche verschiebt, denen noch ein festes Fundament eignet. Um die Jahrhundertmitte wurde Vorurteilskritik vor allem das Thema der katholischen Philosophie und Theologie. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 200. Vgl. Rainer Godel: The Progress of Enlightenment and the Rehabilitation of Prejudice. Arguments and Traditions of the German Debate about Prejudice in the 1750s and 1760s, in: Hans Adler (Hg.): Prejudice and Enlightenment. Proceedings of the 37th Wisconsin Workshop. Hildesheim 2006.

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der Theologe Johann Josias Sucro. Wie die gemessen an seiner knappen Lebensdauer recht umfangreiche Publikationsliste ausweist, nahm Sucro regen Anteil an zeitgenössischen philosophischen und theologischen Diskussionen, nutzte aber auch mit eigenen poetischen Produktionen andere mediale Formen. Charakteristisch für die literarische Produktion Sucros ist sein Lehrgedicht Die beste Welt, ein philosophischer Dialog, der den Leibniz-Wolffschen Gedanken der besten aller Welten entwickelt und Gegenargumente zu widerlegen sucht. Die Vorurteilshaltigkeit aller menschlichen Schlüsse wird dabei als Argument gegen die These der Welt als beste aller Welten angeführt: „Noch stets rühmt sich ein Volk, dem Fleiß und Demuth fehlt, / Mit Schlüssen ohne Kraft, vom Vorurtheil gestählt; [...]“.3 Deutlich wird an dieser Stelle bereits, daß das anthropologische Argument, Vorurteile hätten eine Reichweite, die sich gegen die Vernunft partiell behaupten könne, immerhin die Dignität eines ernsthaften Einwands gewinnt. Die Widmung des zweiten Teils von Sucros philosophischem Hauptwerk Erfahrungen konstituiert einen Zitatzusammenhang zum Ort und Milieu, in dem Sucro sein Studium absolviert hatte: Sucro widmet das Buch „Herrn Professor Meier in Halle“.4 Deutlich wird in der Lobrede, die in Form einer anakreontischen Hymne an einen Freund auftritt, daß Sucro auf die Erfahrung eines Studiums in Halle, wahrscheinlich in den 40er Jahren, glücklich zurückblickt.5 Die Lobdichtung thematisiert ausdrücklich, daß der persönliche Dank durch dessen Verschriftlichung ersetzt wird: „Gönne die Freude mir denn, in unbeneideten Zeugen, / In diesen Blättern Dir dankbar zu seyn.“6 Damit konstituiert Sucro eine Kommunikationssituation, die anthropologische Vorannahmen der Zeit aufnimmt. Die mediale Sublimierung von Gefühlen ermöglicht sich hier in Form des öffentlichen Panegyrikums. Der anthropologische Überschuß, dessen Ausdruck nicht nur notwendig erscheint, sondern nun auch medial möglich wird, transformiert sich in die Schrift,7 wenn diese Transformation auch reduktiv bleibt: Denn der „ganze Mensch“ bleibt unvollständig. Als Mangel wird aber nicht das Fehlen der Ratio empfunden, die zum Gefühlsausdruck nicht mehr notwendig scheint, sondern die nicht präsente Körperlichkeit. „Ja, Du erlaubest es mir; wie könnt ich länger wol schweigen, /

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Johann Josias Sucro: Die beste Welt. Ein Lehrgedicht. Halle 1747, S. 4. Vgl. J[ohann] J[osias] Sucro: Erfahrungen. Vier Theile. Brandenburg 1758–1760. Im folgenden beziehe ich mich überwiegend auf: Erfahrungen. 2.Th. Brandenburg 1759. Die Vorrede zum ersten Teil enthält eine implizite Widmung an „Freunde“. Sucro ordnet das Buch hier den moralischen Schriften zu, weist damit ausdrücklich auf den theologisch-moralischen Impetus seines Werks hin und schließt mit der üblichen Captatio benevolentiae, die „gerechte“ Beurteilungen zu erhoffen vorgibt. Vgl. Sucro: Erfahrungen. 1.Th. Brandenburg 21758, unpag. Ein Anzeichen für eine genauere Datierung könnte sein, daß die Vorrede von Sucros Zwey poetische Sendschreiben bereits Magdeburg als Aufenthaltsort ausweist. Sucro könnte sein Studium mithin 1747 schon abgeschlossen haben. Vgl. [Johann Josias Sucro]: Zwey poetische Sendschreiben von S**. Halle 1747, unpag., zweite Seite des Vorworts. Sucro: Erfahrungen. 2.Th., unpag., sechste Seite der Widmung. Vgl. zu solchen Prozessen Koschorke: Körperströme, S. 191 et passim.

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Denke, wie lang ist dies Herz nicht schon Dein!“8 Die anthropologisch-ästhetische Konstellation, der Sucro in Halle begegnete, ermöglicht den adäquaten Gefühlsausdruck. Und dennoch: Die gleichsam „empfindsame“ Reduktion verdeutlicht bereits, daß Rehabilitation der Sinne und Affektmanagement ihren diskursiven Ort noch nicht endgültig gefunden haben.9 Hier eine kritische Korrektur des in Halle reformulierten Ganzheitsanspruchs zu vermuten, würde sicher zu weit führen.10 Doch deutet sich die Relevanz anthropologisch-sensualistischer Argumente an, die das Konglomerat ästhetischer, anthropologischer, rhetorischer, theologischer und hermeneutischer Innovationen im Halle der 50er Jahre kennzeichnet.11 Diese Konstellation prägt entscheidend Sucros Argumentation zur Frage, ob und inwieweit Vorurteile erhalten werden sollten, eine Frage, die in einem der zentralen Kapitel der Erfahrungen thematisiert wird. Der Großteil der Argumente, die Sucro für eine anthropologische und sozialpragmatische Rehabilitierung von Vorurteilen anführt und diskutiert, stammen aus der halleschen Tradition. Ein interdiskursiver Zusammenhang, der Argumente explizit auch in andere, hier tendenziell eher popularphilosophische Textformen aufzunehmen erlaubt, besteht nicht nur zu Georg Friedrich Meier und zu Johann Georg Krüger – beide werden ausdrücklich mehrfach angeführt12 –, sondern auch implizit zu Baumgartens Umkehrung der Sinneshierarchie, die die Voraussetzung für die fragile Gewichtung von Ratio und Gefühl bei Sucro bildet. Auch die Tradition medizinischer Anthropologie überträgt Sucro ausdrücklich auf die ihn beschäftigende Problematik der Vorurteilstheorie: Wer die Stärke der Vorurtheile, die Macht des Irrthums kennt, wem die Natur der menschlichen Seele und ihre Kräfte bekandt sind, wer es weis, was zu ihrer Gesundheit, zu ihrer Vollkommenheit und Glückseligkeit gehört, der wird sie nicht von allen Krankheiten, von allen Fehlern und Schwachheiten frey sprechen; auch nicht einmal die Seele, welche sich durch einen höhern

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Sucro: Erfahrungen. 2.Th., unpag., sechste Seite der Widmung. Insofern unterscheidet sich Sucro von anderer anakreontischer Dichtung, der es gerade gelingt, die Wirkung von Phantasieinhalten auf den Körper darstellbar zu machen. Vgl. hierzu Wolfram Mauser: Anakreon als Therapie? Zur medizinisch-diätetischen Begründung der Rokokodichtung, in: ders.: Konzepte aufgeklärter Lebensführung. Literarische Kultur im frühmodernen Deutschland. Würzburg 2000, 301–329, hier S. 301 et passim. Der Bruder Johann Josias Sucros, Johann Georg, setzt sich ausdrücklich mit seinem akademischen Lehrer Georg Friedrich Meier auseinander: Vgl. Johann Georg Sucro: Widerlegung der Gedancken von Gespenstern. Halle 1748. Vgl. Zelle: Sinnlichkeit und Therapie, Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Sucro bezieht sich auf Krügers Versuch einer Experimental-Seelenlehre. Vgl. Sucro. Erfahrungen. 1.Th., S. 43f., 4.Th., S. 133, 42ff., v.a. 46: Der Körper wird hier als Spiegel vorgestellt, in dem die Seele sich selbst erblickt. Der hier angedeutete Topos der Verbindung von Innerlichkeit und äußerem Ausdruck bildet schon bei Krüger, weit vor der physiognomischen Konjunktur der 70er Jahre, ein zentrales Thema der Menschen(er)kenntnis. Sucros Lösung des Fremderkenntnisdilemmas propagiert wiederum Meiers „liebreiches“ Urteil. Vgl. ebd., S. 61. Vgl. hierzu Berg: Schwierigkeiten, S. 21. – Meier-Verweise durchziehen das gesamte Werk.

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Grad des Verstandes, der Vernunft, und durch eine edle Gemüthsart von andern Seelen unterscheidet.13

Gesundheit und Krankheit von Seele und Körper werden zu diätetischen Indizien für die Vorurteilsdiskussion. Doch handelt es sich nicht nur um eine „Diätetik der Vernunft“,14 sondern um eine, die den gesamten menschlichen Organismus umfaßt. Schließlich hatte schon Meier die affektive Äußerung des Lachens als diätetisches Heilmittel empfohlen.15 Auch Joachim Langes Bestimmung von Vorurteilen als Auswirkungen einer Krankheit des Geistes könnte anklingen.16 Hier verbinden sich unmittelbar medizinisch-anthropologische Themen mit der Vorurteilstheorie.17 Doch bleibt diese Verbindung hier auf einen inhaltlichen Transfer beschränkt und zunächst folgenlos für die Frage, wie man denn mit Vorurteilen umzugehen habe. Sucro stellt seine Vorurteilstheorie geschlossen in einem umfangreichen Kapitel des zweiten Teils vor. Als Titelmotto des Kapitels führt er eine Sentenz an, die die anthropologische Dualität des ganzen Menschen als beeinflußbare Effekte benennt: „Die Mode und der Wahn ertheilt der Welt Befehle; / Die eine für den Leib, der andre für die Seele.“18 Sucro setzt mit einer These ein, die zunächst nicht darauf hindeutet, daß er hier einen eigenständigen Beitrag zum Vorurteilsdiskurs entwickelt: Die Mode erteile dem Leib Befehle, doch sei es schadlos möglich, diesen zu folgen.19 Heikler ist aber offenbar ein unkontrollierter Einfluß auf die

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Sucro: Erfahrungen. 3.Th., S. 57. So bezeichnet Schings das Remedium für Melancholie, das die französische Aufklärung anführt. Vgl. Schings: Melancholie, S. 195. Ähnlich auch Sauder zu Thümmel. Vgl. Gerhard Sauder: Der reisende Epikureer. Studien zu Moritz August von Thümmels Roman „Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich“. Heidelberg 1968, S. 71: Selbstobjektivierung wird hier als Mittel gegen Hypochondrie angeführt. Vgl. Meier: Gedancken von Schertzen, Mauser: Meiers Apologie, S. 126. Vgl. Joachim Lange: Medicina mentis, qua, præmissa medica sapientiæ historia, ostensaque ac rejecta Philomoria, secundum veræ philosophiæ principia, ægræ mentis sanatio, ac sanatæ usus in veri rectique investigatione ac communicatione, in gratiam traditur eorum, qui per solidam eruditionem ad veram sapientiam contendunt. Berlin 1708, S. 297: „Fons præjudiciorum generalis est ægritudo mentis; [...].“ Spätere Lehrbücher der Anthropologie widmen der Diätetik oft eigene Kapitel. Vgl. u.a. Johann Daniel Metzger: Medizinisch-philosophische Anthropologie für Aerzte und Nichtärzte, Weißenfels. Leipzig 1790; Paulus Usteri: Grundlage medicinisch-anthropologischer Vorlesungen für Nichtärzte. Nebst einer raisonnirenden Uebersicht der dahin einschlagenden Literatur. Zürich 1791. Vgl. Benzenhöfer: Psychiatrie und Anthropologie, S. 29f. Diese Linie beginnt indes schon mit Unzer, Bolten und Krüger in der Jahrhundertmitte. Vgl. Zelle: Erfahrung, Ästhetik und mittleres Maß, S. 210ff. Sucro: Erfahrungen. 2.Th., S. 84. Das Motto stammt aus Johann Jakob Dusch: Versuch von der menschlichen Vernunft, und ihrem Gebrauche, in: [ders.]: Drey Gedichte von dem Verfasser der vermischten Werke in verschiedenen Arten der Dichtkunst. Altona / Leipzig 1756, S. 39. Vgl. Sucro: Erfahrungen. 2.Th., S. 85f. Der Grund für den Wandel der Moden sei, daß man sich nicht Mühe gebe, die Vorzüglichkeit einer Mode „nach Gründen zu beurtheilen.“ (Ebd., S. 85.) Sucro erkennt, anders als später Garve, auch keine sozialpsychologische Funktion des Wandels der Mode. Vgl. Christian Garve: Ueber die Moden, in: ders.: Popularphilosophische Schriften über literarische, ästhetische und gesellschaftliche Gegenstände. Hg. Kurt Wölfel.

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Seele: „Aber der Wahn, das Vorurtheil ertheilt für die Seele Befehle, das hat schon mehr zu sagen.“20 Denn: „Die Vorurtheile mögen gut, oder schlecht seyn, so findet allemal dabey ein Irrthum statt, der sehr gefährlich werden kann, wenn wir nicht auf unserer Hut sind.“21 Daß im Vorsatz die inhaltliche Bewertung des Vorurteils dezidiert offen gehalten wird, spricht für die Übernahme des a priori wertfreien, formalen Vorurteilskonzepts Meiers. Doch die weitere Beweisführung führt über die neutrale Form Meiers hinaus. Denn mit Vorurteilen ist nach Sucro ein Irrtum verbunden, der nicht nur der Irrtum eines falschen oder falsch angewendeten Schlußverfahrens ist. Dieser Irrtum begründet sich in einer Differenz, die Wahrheit noch mit Hilfe rationaler Überlegungen als erreichbar ansieht: „Wir glauben eine gewisse Erkenntniß zu haben, und haben sie doch nicht. Wir glauben Kennzeichen der Wahrheit entdeckt zu haben, und haben sie doch nicht entdeckt.“22 Doch auch ungegründete Zustimmung und die Verwerfung von Sachverhalten, ohne die Gründe dafür reflektiert zu haben, entsprechen diesem Muster. Aus Meiers formalem Vorurteilsbegriff folgt zunächst eine inhaltliche Erweiterung, die Sucro übernimmt: „Es ist wahr, es giebt Vorurtheile, die vollkommen richtig sind, die die Wahrheit auf ihrer Seite haben: [...]“.23 Darüber hinaus aber reflektiert Sucro die logischen und vor allem die pragmatischen Folgen, würde ein solcher Vorurteilsbegriff ohne Einschränkung übernommen. Sucro fokussiert funktionale Applikationen einer vollständigen Rehabilitierung von Vorurteilen: „Aber die Wahrheit kann viel verlieren, wenn sie aus einem Vorurtheil angenommen wird. Ich glaube hier eine Quelle der Freygeisterey zu entdecken, aus der in unsren Tagen die meisten Spötter der Religion ihren (sic) Gift zu schöpfen scheinen.“24 Für Sucro erweist sich mithin vor allem die Funktion von Vorurteilen in Hinsicht auf religiöse Überzeugungen als prekär: Würde grundsätzlich angenommen, daß jedes Vorurteil toleriert werden muß (oder gar gut ist), dann könnten auch logisch falsche oder der Religion schädliche Vorurteile auf diesem Wege eingeführt werden. Dies konfligiert zusätzlich mit der seit Thomasius in der Diskussion der Aufklärung gängigen und nach der Jahrhundertmitte kaum mehr strittigen anthropologischen Annahme, Kinder müßten aus Mangel an Vernunft ihre Begriffe zunächst ausschließlich durch Vorurteile, insbesondere praeiudicia autoritatis, bilden (oder könnten zumindest nicht anders).25 Diese religiöse Aufklärung befördernde Annahme rehabilitiert Vorurteile der frühen Kindheit aus anthropologischen Gründen. Verbunden mit der unstrittigen Notwendigkeit, Kinder schon in frühester Kindheit religiöse und moralische

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Bd. 1. Stuttgart 1974, 381–558. [Orig.: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben. 1.Th. Breslau 1792, 117–294.] Sucro: Erfahrungen. 2.Th., S. 87. Ebd. Ebd. Ebd., S. 88. Ebd. Vgl. Thomasius: Lectiones de praejudiciis, S. 708ff. Er führt das pragmatische Argument ein, Vorurteile seien im praktischen, moralischen Leben unvermeidbar.

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Vorschriften zu lehren, entsteht jedoch, wie Sucro betont, eine Gefahr, gibt man der Rehabilitation von Vorurteilen grundsätzlich freien Raum: Die Wahrheiten der Religion sind ihnen (den Menschen, R. G.) von Kind auf vorgesagt worden. Sie (die Kinder, R. G.) haben sie (die Wahrheiten der Religion, R. G.) aus Vorurtheil angenommen, und nun verwerfen sie dieselben aus einem neuen Vorurtheile: daß das alles falsch sey, was man aus einem Vorurtheile angenommen.26

Das Problem besteht offensichtlich nicht nur darin, daß eine falsche Meinung durch ein Vorurteil übernommen werden könnte, sondern auch darin, daß Wahrheiten durch radikale Vorurteilskritik verlorengehen könnten. Dies erweist sich als ernsthafte Schwierigkeit, die sich aus der Gleichzeitigkeit eines formalen Vorurteilsbegriffs und der grundlegenden Notwendigkeit, Vernunft zum Maßstab des Handelns zu machen, ergibt. Verläßt man die Ebene einer simplen logischen Dichotomie und zieht in Erwägung, daß Vorurteile nicht grundlegend inhaltlich falsch sind, indem man sie als Defizite des Erkenntnisweges identifiziert, erweist sich ein Abgrenzungskriterium als notwendig. Dieses muß in der Lage sein, den vorurteiligen Weg der Erkenntnis von anderen, rationalen Wegen zu unterscheiden, und möglichst auch sicherstellen, daß jeweils der Weg identifiziert werden kann, der wahrscheinlicher zur „Wahrheit“ führt. Sucros Plädoyer zielt auf einen Mittelweg: Würden alle Vorurteile zerstört, zerstörte man die wahren Vorurteile mit. Sähe man aber von der Vorurteilskritik völlig ab, weil die negativen Folgen der zerstörten wahren Vorurteile zu überwiegen scheinen, akzeptierte man auch Vorurteile, die wahrscheinlich schädlich oder falsch sind. Das praeiudicium pro praeiudicio erzeugt auch unangebrachte Toleranz gegenüber falschen Vorurteilen. Der entscheidende Aspekt für Sucro ist hier, daß dieser Widerspruch auf der Grundlage der anthropologischen Diversität und der formal-logischen Bestimmung des Vorurteilsbegriffs nicht lösbar ist. Sucros Rehabilitierung des Vorurteils ist sich, insoweit sie sie mit einem formalen Vorurteilsbegriff verbindet, ihrer Schwierigkeiten bewußt. Wenn ein bescheidener Philosoph dazu aufrufe, ihn zu kritisieren, so meint Sucro, dann befördere dieses Verhalten das Vorurteil des Ansehens, da er durch sein eigenes Beispiel bewundernswerte Bescheidenheit demonstriere.27 Vorurteilskritik und Vorurteilsgenerierung stützen sich gegenseitig. Vorurteil wird hier als psychisches Reaktionsmuster eingeführt, das ungeachtet aller vernunftmäßigen Reflexion wirkt und das zum Medium wird, mit dessen Hilfe Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Meinungen ausgetragen werden.28 Demnach wäre es nach Sucro ein Fehler,

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Sucro: Erfahrungen. 2.Th., S. 88. Vgl. ebd., S. 90. Dies entspricht auf einer anderen Ebene der These Kondylis’, Polemik und Konfrontation seien die entscheidenden Merkmale der Aufklärung. Dies macht, sobald die Ratio ihre Definitionsmacht in der zeitgenössischen Wahrnehmung verliert, auch vor dem vermeintlich eindeutigen Negativbegriff des Vorurteils nicht halt. Vgl. Kondylis: Aufklärung, S. 9f. et passim.

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anzunehmen, daß die Aufklärung alle Vorurteile und allen Wahn jemals zerstöre: „Die aufgeklärtesten Zeiten sind so wenig frey von der Herrschaft des Wahns, als die finstern es gewesen sind.“29 Die sich zwingend aus anthropologischen Prämissen ergebende prospektive Historisierung der Aufklärung desillusioniert diejenigen, die an die Utopie der Vorurteilsfreiheit glauben. Denn Vorurteile sind ein psychisches Verhaltensmuster, das unabhängig von rationaler Überlegung zu einer anthropologischen Konstante wird, da auch radikale Vorurteilskritik oder Vorurteilsfreiheit Vorurteile generieren oder auf ihnen aufbauen. Zudem sind Wahrheitssuche und Zweifel beschwerlich, so daß eine psychische, voluntative Reaktion pragmatisch verankert wird. „Die Menschen lieben die Wahrheit, aber sie glauben bey ihrem natürlichen Rechte derselben nicht, daß sie es ihnen sehr sauer machen müsse, um von ihnen entdeckt zu werden.“30 Dieses Argument, das mit der Trägheit des Willens als Kontrapunkt der ungestörten Tätigkeit der Vernunft rechnet, führt erneut Affektmanagement als Hindernis vollständiger Vorurteilskritik ein. Damit wird gegen die Hochschätzung der Vernunft, etwa aus Wolffschen Prämissen, ein praxisbezogener Befund dargestellt, der es unmöglich scheinen läßt, alle Vorurteile zu vermeiden: „Und ich glaube, so wenig der Mensch im Stande ist, alle seine Erkenntniß bis zu einer mathematischen Gewißheit hinaufzuführen, eben so wenig ist er im Stande, alle Vorurtheile zu vermeiden.“31 Bezieht sich dieser Befund zunächst nur auf das Vorurteil des Ansehens, so wird er nun auch auf die Vorurteile des Altertums, der Neuigkeit, des Lehrgebäudes und der Völkerschaft übertragen.32 Auch mit dieser Typologie bezieht sich Sucro auf Meier, ohne daß dieser hier als Gewährsmann explizit genannt wird: Sucros Typologie verkürzt zwar die Vorurteilstypen, die Meier in seiner Vernunftlehre benannt hatte, doch spricht schon die außergewöhnliche Begrifflichkeit (etwa beim Vorurteil des Lehrgebäudes und der Völkerschaft) dafür, daß er unmittelbar aus Meier zitiert.33 Sucros Folgerung ist eindeutig: „Aus allen diesen Betrachtungen glaube ich den Schluß ziehen zu können: daß Vorurtheile in der Welt seyn müssen.“34 Nur wenige Menschen könnten Wahrheit erreichen, die menschliche Vernunft sei grundlegend von „unvermeidlichen Finsternissen [...] umhüllet“, und

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Sucro: Erfahrungen. 2.Th., S. 88f. Ebd., S. 92. Ebd., S. 93. Vgl. ebd., S. 100. Vgl. hierzu Meier: Vernunftlehre, § 202, S. 275ff. Meier arbeitet diese Typologie allerdings kaum aus, ordnet sie auch der grundlegenden Unterscheidung von quasi fachspezifischen Vorurteilen und innerhalb der Logik noch einmal der Unterscheidung der Vorurteile des zu großen Zutrauens und des zu großen Mißtrauens unter. Vgl. ausführlicher Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 210f. In den späteren Beyträgen unterscheidet Meier vorrangig zwischen den beiden Grundvorurteilen der Erfahrungserkenntnis und der Vernunfterkenntnis. Vgl. Hinske: Meier und das Grundvorurteil der Erfahrungserkenntnis. Sucro: Erfahrungen. 2.Th., S. 106.

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so müßten Vorurteile oft der Vernunft aushelfen.35 Vorurteile haben also – rechnet man mit der Anfälligkeit der Ratio – eine psychisch stabilisierende Funktion, die die Defizite der Vernunft überdecken kann und Menschen so zu defizitären, aber notwendigen Entscheidungen und zu empiriebasiertem Handeln führt, wenn rationales Vorgehen versagt oder sich als zu langsam erwiesen hat. „Wollen wir nicht in einer trägen Unthätigkeit bleiben, so müssen wir unsere Zuflucht zu den Vorurtheilen nehmen, die uns da weiter führen, wo der Ausspruch der Vernunft uns stecken ließ.“36 Entschiedener als noch sein Lehrer Meier proklamiert Sucro die lebenspraktische Notwendigkeit, zu vorschnellen Urteilen Zuflucht zu nehmen, welche auf einer empirischen Bestandsaufnahme basieren. Diese grundlegende These, daß empirische Urteile pragmatisch notwendig sind, spiegelt sich bereits im titelgebenden Bekenntnis zu eigenen Erfahrungen. Daß Sucro, auch ohne ihn ausdrücklich anzuführen, an Locke anknüpft, ist wahrscheinlich. Denn Meier hatte sich in der Vernunftlehre, die Sucro offenbar genau kannte, auf Locke bezogen und empirische Grundsätze adaptiert.37 Inhaltlich äquivalent zu Sucro ist vor allem die Annahme, daß Erfahrung (Locke sieht Erfahrung als einzige Quelle für alle Inhalte des menschlichen Bewußtseins an) Vorurteile verursachen kann.38 Doch wird dies von Sucro, anders als bei Berkeley und Locke und eher mit Meier, als notwendig, noch nicht einmal in allen Fällen als Übel angesehen. Daß Sucro auch die zeitgenössisch aktuelle Diskussion um Wahrnehmung und Erkenntnis in den historischen Wissenschaften und in der Hermeneutik kennt, wird auch an anderer Stelle der Erfahrungen deutlich. Sucro referiert, unterschiedliche „Gesichtspunkte“ erzeugten unterschiedliche Urteile. Hier wird die Montaignesche Sentenz, niemals hätten zwei Menschen die gleiche Sache ganz in derselben Weise beurteilt, mit der Terminologie Chladenius’ verbunden: „Es kommt auf den Gesichtspunkt an, aus welchem wir sie (die Sache, R. G.) betrachten.“39 35

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Vgl. ebd. Sucro bezieht sich, ohne die Stelle genau anzugeben, auf Fontenelles Gespräch von Vorurteilen zwischen Strato und Raphael von Urbino. Im Original: „Les Préjugez sont le suplément de la raison.“ (Bernard de Fontenelle: Nouveaux dialogues des morts. Nouvelle Edition augmentée. Amsterdam o.J., S. 213.) Vgl. Bernhard de Fontenelle: Gespräche der Todten und Plutons Urtheil über dieselben. Zum erstenmahl ins Teutsche übs., und mit einer Vorrede, von Gesprächen überhaupt versehen von Joh. Chr. Gottsched. Leipzig 1727, 145–151, hier S. 151. Sucro: Erfahrungen. 2.Th., S. 107. Vgl. Manfred Beetz: Georg Friedrich Meiers semiotische Hermeneutik, in: ders. / Guiseppe Cacciatore (Hg.): Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung. Weimar 2000, 17–30, hier S. 22. Vgl. Engfer: Empirismus versus Rationalismus?, S. 293. Sucro: Erfahrungen. 4.Th., S. 5. Vgl. Michel de Montaigne: Über die Erfahrung, in: ders.: Die Essais. Ausgewählt, übertragen und eingeleitet von Arthur Franz. Stuttgart 1984, 359–375, hier S. 359. Vgl. das Konzept des Sehepunktes: Johann Martin Chladenius: Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schriften. Leipzig 1742, § 310, S. 189. Ausführlicher hierzu s.u. S. 247f. Die Bekanntschaft mit Chladenius geht wohl über die Kenntnis von dessen einschlägigen Schriften hinaus: Sucros Bruder Christoph Joseph war Lehrer am Gymnasium in Coburg, wo auch Chladenius wirkte. Vgl. Christoph Joseph Sucro: Haereses grammaticas in

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Diese empirisierenden Argumentationsstränge verbinden sich, wenn auch recht unspezifisch, bei Sucro mit sozialpsychologischen Argumenten, die den Erhalt des sozialen Renommees in den Mittelpunkt stellen. Dies demonstriert Sucro an der Frage, ob es für einen Sohn sinnvoll sein kann, in der Denkungsart des Vaters verhaftet zu bleiben: „Wie vortheilhaft ist seiner Vernunft (der des Sohnes, R. G.) das Joch des Vorurtheils, des Ansehens?“40 Sucro argumentiert psychologisch: Wenn der Sohn nicht den Vorurteilen des Vaters folgte, könnte von anderen erkannt werden, daß seine eigene Vernunft zu schwach ist, um selber richtig nachzudenken. Doch wird diese psychische Stabilisierung des Individuums auch für die Gesellschaft insgesamt funktional. Denn die Bewahrung tradierter Meinungen, denen mehrheitlich nicht widersprochen wird, erhält auch die Reputation des einzelnen innerhalb der Gesellschaft.41 Der Akzent von Sucros Argumentation verlagert sich auf eine sozialisierende Perspektive. Da der Mensch der bestehenden gesellschaftlichen Struktur verbunden und auf deren Akzeptanz angewiesen ist, erscheint es notwendig, gemeinsam anerkannten Grundannahmen zuzustimmen. Demnach erweist sich die Akzeptanz eines bestimmten Systems als erforderlich. Eklektik und Selbstdenken gelten als immanente Gefahr für den sozialen Frieden. Eine solche These hebt auch ältere Verbindungen von Eklektik, Selberdenken und Freiheit von Vorurteilen auf, indem sie eine Sozialanthropologie der Integration des einzelnen in die Gesellschaft zum Maßstab macht. Jakob Brucker hatte noch konstatiert: Nempe illus solus nobis eclecticus philosophus est, qui procul ire iusso omni auctoritatis, venerationis, antiquitatis, sectae, similiumque praeiudicio ad vnam rationis connatae regulam respicit, exque rerum, quas considerandas sibi statuit, natura, indole, et proprietatibus essentialibus clara et euidentia principia haurit, ex quibus iustis ratiocinandi legibus vsus, conclusiones deinde de problematibus philosophicis deducit: [...].42

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Academia Oxoniensi [...] damnatas recensit et ad solennem inaugurationem novi professoris Latinae et Graecae Linguae omnisque Humanioris Doctrinae Christophori Iosephii Sucro [...] In acroaterio Gymnasii Casimiriani perficiendam omnes qui gymnasio nostro favent demisse obseqviose et permanenter invitat Ioannes Martinus Chladenius. Coburg o.J. [1745]. Sucro: Erfahrungen. 2.Th., S. 107. Sucro selbst verweist auf Daniel Georg Morhof: Polyhistor, in tres tomos, literarium, philosophicum et practicum [...]. Lib. II. Lubecae 1707, Cap. XI, § 28. Dort geht es allerdings vorwiegend um einen Idealentwurf akademischer Ausbildung. Sucro weicht mit seinem Beispiel hier mithin von seinem aus dem Leben gegriffenen Beispiel einer Vater-Sohn-Beziehung ab. Vgl. Sucro: Erfahrungen. 2.Th., S. 107f. Jakob Brucker: Historia critica philosophiae a tempore resuscitatarum in occidente litterarum ad nostra tempora. Tomi IV. Pars altera. Leipzig 1744, S. 4. Albrecht übersetzt: „Nur derjenige ist für mich ein eklektischer Philosoph, der, nachdem er jedes Vorurteil der Autorität, der Würde, des Altertums, der Sekte (oder ähnliches) ausgeschaltet hat, bloß der Richtschnur der angeborenen Vernunft folgt und aus der Natur, Eigenart und den wesentlichen Eigenschaften der Dinge, die er zu betrachten vorhat, klare und evidente Grundsätze schöpft, aus denen er, indem er die richtigen Gesetze des Schließens gebraucht, sodann Schlußfolgerungen bezüglich der philosophischen Probleme ableitet.“ (Albrecht: Eklektik, S. 548).

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J. J. Sucro bleibt, wenn er auf die sozialen Gefahren eines solchen Selberdenkens hinweist, äquidistant zur älteren Eklektik wie zur Verankerung des Wahrheitskriteriums in der allgemeinen Verständlichkeit, wie sie die spätere Popularphilosophie auszeichnete.43 Doch diese Argumente, die sozialisierende, die Sinne rehabilitierende oder affektsteuernde Akzente setzen, führen bei Sucro nicht dazu, daß er von der grundlegenden aufklärerischen Anstregung, Vorurteile zu destruieren, abweicht. Er plädiert ausdrücklich nicht dafür, daß Vorurteile pauschal bestehen bleiben sollten. Denn dies würde jede philosophische Erkenntnis überflüssig machen. Die „groben“ Vorurteile, so Sucro, sollten auf jeden Fall bekämpft werden – und sei es, um den Verstand zu üben: Selbst die Vorurtheile, diese Krankheiten der Seele, von welchen er (der Mensch, R. G.) nicht ganz frey bleiben kann, erfordern es, daß er seine Vernunft [...] durch ein angestrengtes Nachdenken übe, daß er sie in allen den Dingen gebrauche, wo er sie mit Vortheil gebrauchen kann, damit sie auch in den Fällen lerne richtig gehen, wo sie nicht Zeit, nicht Gelegenheit hat, nach ihren Regeln eine weitläuftige und mühsame Untersuchung anzustellen.44

Der Prozeß der Vorurteilskritik wird zum Versuchsfeld des Verstandes. Mit dieser Akzentuierung, die vom Ergebnis des Prozesses absieht und diesen selbst zum Indiz für die Weiterentwicklung individueller aufklärerischer Fertigkeiten macht, deutet sich bereits eine Tendenz der Vorurteilsdiskussion an, die sich später als entscheidend erweisen sollte: Die Vorurteilsdiskussion mündet in die modale Frage, wie Prozesse der Wahrnehmung, des Erkennens und Urteilens gesteuert und gestaltet werden sollten. Doch bleibt Sucros Kriterium der „groben“ Vorurteile noch reichlich unbestimmt, so daß auch seine Hoffnung etwas vorschnell daherkommt: Sucro glaubt, den Grad der Aufklärung des Gegenübers am Grad der noch bestehenden Vorurteile erkennen zu können, also an der Reichweite der Vorurteile destruierenden Vernunft und der Valenz des Auswahlprozesses: „Wenn ich glaube, daß der Vernünftigste nicht ohne Vorurtheile sey, so glaube ich doch, daß ich in seinen Vorurtheilen selbst den vernünftigen Mann erkennen werde.“45 Der Vernünftige läßt andere Vorurteile erkennen als der Unvernünftige. Sucros Vorurteilstheorie bleibt von prekärer Ambivalenz bestimmt. Der Stellenwert rehabilitierender und kritischer Argumente scheint nicht endgültig geklärt. Daß Vorurteile aus psychischen Gründen nicht vermieden werden können, daß sie in der Kindheit notwendig oder unvermeidbar sind, daß sie Vernunft legitimerweise ersetzen können, daß sie darüber hinaus aber auch einen wesentlichen Bei43

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Vgl. Dreitzel: Entwicklung und Eigenart, S. 291. Vgl. auch Norbert Hinske: Einleitung. Eklektik, Selbstdenken, Mündigkeit – drei verschiedene Formulierungen einer und derselben Programmidee, in: ders. (Hg.): Eklektik, Selbstdenken, Mündigkeit. Hamburg 1986, 5–7, ders.: Grundideen, S. 417ff., ders.: Art. Aufklärung, Sp. 390–400. Sucro: Erfahrungen. 2.Th., S. 109f. Ebd., S. 110. Dies präzisiert Sucro allerdings nicht.

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trag leisten, um das Individuum in die Gesellschaft zu integrieren, soll mit dem Anspruch verbunden werden, daß Vorurteilskritik grundsätzlich ein Zeichen der Aufklärung ist. Die sozialisierende Problematik wird hier explizit in den Zusammenhang der Vorurteilsdiskussion gestellt, ohne daß sie hier bereits die Relevanz einer Formationsregel gewinnt. 4.1.2 Politisch-religiöse Restitution von Vorurteilen bei F. C. von Moser Viele der Argumente Sucros prägten die Diskussion der 1750er und 60er Jahre. Doch verschiebt sich das Gewicht der einzelnen anthropologiebasierten Argumentationsfiguren, sobald die Disziplinierungsregel des politischen Diskurses greift. Man griffe aber zu kurz, würde man etwa Friedrich Carl von Mosers Beherzigungen46 auf ihren politischen Pragmatismus reduzieren und nur als Beispiel für eine Politisierung der Debatte vereinnahmen. Moser betont innerhalb des Diskurses politische und vor allem religiöse Argumente. Auch für Moser liefert Anthropologie Argumente für die Behandlung der Vorurteilsproblematik.47 Moser zitiert an entscheidenden Stellen Sucro selbst. Darüber hinaus aber zieht Moser einen Teil seiner Argumente aus einer einschlägigen Quelle, die geradezu paradigmatisch für die anthropologische Gemengelage der 50er Jahre steht: die von Meier und Lange in Halle edierte Wochenschrift Der Mensch.48 Mosers Ansatz in den Beherzigungen geht, wie schon die Vorrede ausweist, über einen logisch-erkenntnistheoretischen Beitrag zum Vorurteilsdiskurs hinaus. Die Schrift enthalte den Anfang und teils auch „Grund-Sätze eines größern Wercks vom politischen Aberglauben, worinn die in der großen Welt gewöhnlichste practische Irrthümer und Vorurtheile untersucht und beleuchtet werden sollen.“49 Moser 46

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Ich zitiere aus der Erstausgabe: [Friedrich Carl von Moser:] Beherzigungen. Frankfurt/M. 1761. Dieses Buch ist innerhalb kurzer Zeit in mehreren Auflagen erschienen. Die dritte, „verbesserte“ Auflage (Frankfurt/M. 1762) enthält identische Kapitelüberschriften, auch der Gesamtumfang ist unverändert. Nur in einer Ausgabe wird das Buch als 2. Teil der Vorgängerschrift Mosers, Herr und Diener, ausgewiesen. Hier wird Moser ausdrücklich als Autor genannt. Vgl. Friedrich Carl von Moser: Der Herr und der Diener. Geschildert mit patriotischer Freyheit. T. 2: Beherzigungen. Frankfurt / Leipzig 1761. Vgl. Menges: Nationalgeist, S. 107, vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 232–236. Vgl. zu Moser Ursula J. Becher: Moralische, juristische und politische Argumentationsstrategien bei Friedrich Carl von Moser, in: Hans Erich Bödeker / Ulrich Herrmann (Hg.): Aufklärung als Politisierung – Politisierung der Aufklärung. Hamburg 1987, 178–195. Becher behauptet im Wissen um zeitweilige Kontakte Mosers zum Pietismus, pietistische Sprachbilder überdeckten die Struktur der Beziehung von Ich und Welt; vgl. ebd., S. 180. Gegen diese These spricht aber Mosers Verdikt über die Pietisten seiner Gegenwart. Vgl. Moser: Beherzigungen, S. 129f. Zur Funktion der religiösen Argumentationsstrategie bei Moser s.u. S. 147. Vgl. zur Wochenschrift Godel: Anthropologie und Fiktion, Wolfgang Martens: Nachwort des Herausgebers, in: Der Mensch. Eine Moralische Wochenschrift. Hg. Samuel Gotthold Lange / Georg Friedrich Meier. Neu hg. Wolfgang Martens. T. 11/12 (1756). Hildesheim / Zürich / New York 1992, 413*–457*, hier S. 423*, ders.: Moralische Wochenschriften in Halle. Moser: Beherzigungen, unpag. Vorrede, S. 1.

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konnotiert eklektisches Vorgehen ausdrücklich positiv: Er rechne es sich zum Verdienst, „die Gedancken großer Männer mit unpartheyischer Wahrheits-Liebe geprüft und benutzt zu haben“.50 Hatte Sucro noch auf die sozialpolitischen Gefahren eines solchen eklektischen Selberdenkens hingewiesen, so sucht Moser hiermit seine Zugehörigkeit zur Aufklärung zu legitimieren, ohne daß er sich aller möglichen Konsequenzen bewußt ist, die Sucro demonstriert hatte. In diesem sozialpragmatischen Sinne, der in der Formel „politischer Aberglaube“ zwei zunächst scheinbar divergente Diskursbereiche vereint, weitet sich die Diskussion der Irrtümer und Vorurteile auf die Diskussion über Toleranz und die „Freyheit zu dencken“ aus.51 Wenn Menschen ihre Bestimmung nicht erreichten, sei dies, so Moser, auf eine Fehlleistung der Vernunft zurückzuführen. Übergroßes Vertrauen auf Vernunft führe dazu, daß der Mensch sich überschätze: „Die Vernunft läßt sich ihr Recht nicht nehmen, den Menschen zu erinnern, was er ist und was er werden könnte. Sie weißt ihm den Weg, ist sie aber der Weg selbst?“52 Wissensdurst ist tendenziell negativ konnotiert, denn er führt zum Verlassen des Glücks, zum Aufgeben der Ruhe sowie zur unstillbaren Suche nach vernünftigen Lösungen für offene Fragen. Doch hat Mosers Vernunftskepsis auch eine Gegenseite. Während einerseits ein Zuviel an Ratio die Abweichung vom göttlich vorgegebenen Weg initiiert, kann Vernunft andererseits auch zur Beruhigung beitragen, wenn die menschliche Seele das Zuviel an Eindrücken und skeptischen Einwänden nicht mehr zu verarbeiten imstande ist.53 Die Ratio wird so – über den logischen Impetus der Frühaufklärung hinaus – wichtig für die Psyche, obwohl sie nur eine begrenzte Reichweite hat. Vorurteile werden bei Moser zentral für die Frage der Bestimmung des Menschen:54 Denn je weniger die Menschen über ein Problem nachdächten, desto mehr bestünden sie auf vorgefaßte Meinungen: „aus einem ungeprüften Gedancken, aus einer Gefälligkeit, aus einem bejahenden Stillschweigen wird ein Recht.“55 Vorurteile erweisen sich demnach nicht nur als anthropologisch resistent – ein Argument, das bereits die frühaufklärerische Vorurteilsdiskussion kannte –,56 sondern auch in gewissem Maße als sozial erwünscht. Während bei Sucro Vorurteile neben einer funktionierenden Vernunft durchaus möglich waren, entsteht die Schwierigkeit bei

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Ebd., unpag. Vorrede, S. 2. Das erste Kapitel ist überschrieben: Von den Vorurtheilen und der Freyheit zu dencken. Moser: Beherzigungen, S. 9. Vgl. ebd., S. 8ff. Diese anthropologische Fundierung kann sich auf die frühaufklärerische Vorurteilstheorie berufen. Auch Thomasius begann seine Lectiones de praejudiciis mit der Feststellung: „Ein jeder Mensch wünschet, daß er ein glüseelig (sic) und vergnügtes Leben führen möchte.“ (Thomasius: Lectiones de praejudiciis, S. 628.) Hieraus ergibt sich ein „anthropologisches“ Defizit. Moser: Beherzigungen, S. 11. Vgl. Beetz: Transparent gemachte Vorurteile, S. 18. Für Thomasius ist der Mangel an Willen zur Vorurteilsbekämpfung ein anthropologisches Faktum. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 112, Sauder: Aufklärung des Vorurteils, hier S. 261.

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Moser aus einem dichotomischen Verhältnis zur Reichweite der Vernunft. Weder Vernunft noch unvernünftige Meinungen seien Lösungswege für alles menschliche Streben. Allerdings bleibt diese Position von einer anti-aufklärerischen Vernunftskepsis entfernt.57 Denn Moser kritisiert nicht grundsätzlich das aufklärerisch konnotierte Fortschrittsstreben des Menschen, sondern er wägt lediglich dessen Mittel ab. Als Antriebe menschlichen Handelns identifiziert Moser Ehrgeiz und Eitelkeit. Er führt als Gewährsmann für diese These Blaise Pascal an, dessen Gedanken in Der Mensch berührt und teils weiter ausgeführt würden.58 Im angeführten Stück der Wochenschrift werden wie schon bei Pascal selbst theologische Argumente angeführt, um den Menschen zur Vermeidung von Eitelkeit anzuhalten.59 Diese Argumentation sucht die anthropologische Naturalisierung in einen von Gott gegebenen Zusammenhang zu integrieren. Die Hoheit des Menschen, die von seiner Gottesebenbildlichkeit herrühre, manifestiere sich darin, sich nicht über andere zu erheben, die ihre Fähigkeiten zu tätiger Arbeit einsetzen.60 Für den zeitgenössischen Leser dürfte es kaum notwendig gewesen sein, die theologischen Implikationen des Moserschen Gedankens zu belegen. Daß Moser sich gerade bei religiösen Argumenten des Menschen als Zitatquelle bedient, weist darauf hin, daß beide Texte eine konservativere Haltung bevorzugen. Denn auch Meier und Lange haben in ihrer Wochenschrift – der hallischen Konstellation geschuldet – nicht die progredierend-deistischen Positionen bezogen, die zeitgenössisch schon möglich waren.61 Umgekehrt werden die religiös fundierten Argumente Mosers für Vorurteilspraktiker attraktiv, die sich der Kritik realer Vorurteile zuwenden: So verweist Justus Christian Hennings ausdrücklich auf Mosers Beherzigungen, um das höchste Ziel des Menschen einzuführen, schwankt aber zwischen dem formalen Konzept des Vorurteilsbegriffs und einer material-falschen Variante.62 57

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Vgl. zur Unterscheidung von Kritik an Aufklärung, Gegenaufklärung und Konservativismus Wolfgang Albrecht / Christoph Weiß: Einleitende Bemerkungen zur Beantwortung der Frage: Was heißt Gegenaufklärung?, in: dies. (Hg.): Von „Obscuranten“ und „Eudämonisten“. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert. St. Ingbert 1997, 7–34, hier S. 10, 15. Vgl. Moser: Beherzigungen, S. 9f. Angeführt wird: Der Mensch, T. 4 (1752), 134.St., S. 9–16. Mit dem Hinweis auf Pascals Apologie des Christentums, die die Kritik der Aufklärung vorbereitete, ist das Ziel von Mosers Argumentation deutlich präformiert. Sie wendet sich im Namen eines „konservativen“ Christentums gegen probabilistische Zumutungen. Dies aber wird zum Teil des Problems: Denn anthropologische Erfahrung, die Eindeutigkeiten relativierte, konnte auch Moser nicht mehr leugnen. Selbstliebe gilt bei Pascal als Zerrüttungsprinzip aller zwischenmenschlichen Beziehungen, aus dem nur der Weg zu Gott eine Lösung biete. Vgl. Karl-Heinz Göttert: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie. München 1988, S. 70. Vgl. Der Mensch. T. 4. (1752), 134.St., S. 15f. Hier transferiert sich das protestantische Arbeitsethos in eine Anthropologie der Gottesebenbildlichkeit. Vgl. hierzu Martens: Nachwort des Herausgebers, S. 437f.* Vgl. Justus Christian Hennings: Verjährte Vorurtheile in verschiedenen Abhandlungen bestritten. Riga 1778, hier S. 4ff., v.a. S. 6. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 250f.

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Moser verfolgt den religiösen Argumentationsstrang zunächst nicht weiter. Er führt sozialisierend einen zweiten externen Faktor ein, der die Natur des Menschen beeinflußt: den „Einfluß der Societät in die Natur des Menschen“.63 Entworfen wird in wenigen Sätzen ein Modell der Menschheitsgeschichte, das die anthropologische Historisierung in die Bildung von Staaten überführt: „Die Menschen haben sich früh genug in Gesellschaften zusammen geschlossen, aus welchen nach und nach die bekannte Regierungs-Formen erwachsen seynd.“64 Moser gibt Montesquieus Esprit des Lois als zentrale Quelle an, auf dessen Schwingen er, Moser, sich „über die Nebel der Vorurtheile“65 erhebe. Moser greift auf den gängigen Bildbereich der Aufklärung zurück, die Licht und Dunkelheit scheide. Indem er die verworrene und undeutliche Erkenntnis, die als Quelle der Vorurteile gilt, in die adäquate Metapher des „Nebels“ umbildet, bekennt er sich zu grundlegender aufklärerischer Anstrengung. Moser argumentiert an dieser Stelle zweisträngig. Einerseits führt er an, die von Montesquieu exemplarisch genannten Völker und Staatsformen paßten nicht zu den deutschen Verhältnissen, ein Argument, das auf nationalen Eigensinn wie auf die diversifizierte politische Organisationsform des Alten Reiches verweist. Andererseits aber zitiert Moser Rousseau, um methodische Einwände gegen Montesquieus allzu idealistische Konstruktion einzuführen. Es sei ein Fehler der Politiker, aus dem Naheliegenden auf die Natur des Nicht-Sichtbaren zu schließen.66 Dies erinnert an den Topos der Vorurteilskritik, man solle voreilige Schlüsse vermeiden, insbesondere, wenn sie die Erkenntnisfähigkeit eines Sinnes überschreiten. Auf dieser erkenntnispraktischen Grundlage kritisiert Moser Montesquieus Idealtypen der Staatsformen.67 Eine einseitig naturalisierende Perspektive, die bestimmte Staatsformen bestimmten Menschentypen als natürliche zuordnet, lehnt er ab: Die Natur geht überhaupt über die Kunst, die angebohrne Triebe der Menschen seynd aller Orten einerley und lassen sich nicht, wie (die Kräuter von dem vertrauten Bruder der Natur, dem Ritter Linnäus,) nach den Regierungs-Formen eintheilen, wohl aber können dieselbe eine Paßion vor der andern schwächen und die andere desto herrschender werden lassen; [...].68

Moser schränkt die Reichweite naturalisierender Bestimmungen des Menschen zugunsten einer individuellen, affektiven Pragmatik des jeweils einzelnen Lebens ein. Auch hier gilt wieder Meiers Wochenschrift als Gewähr für Moser. Eltern und Erziehung prägten die Entwicklung des Menschen. Daher könne die statische Naturordnung nicht das Kriterium sein, nach dem Regierungsformen systematisiert 63 64 65 66 67

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Moser: Beherzigungen, S. 13. Ebd. Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 15f. Schneiders betont, Mosers Werk sei in Auseinandersetzung mit Montesquieu entstanden. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 233. Der politisch-soziale Diskurs würde jedoch verkürzt, sähe man in Mosers Beherzigungen nur eine Rezeption der Toleranzdebatte. Moser: Beherzigungen, S. 17f.

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werden.69 Der politisch machtbewußte Diskurs unterscheidet verschiedene Klassen von Menschen nach ihrem Abstand von der simplen „Natur“. So sei bedauerlicherweise der „Pöbel“ nicht unbeträchtlich, „eine grosse Menge Menschen, welche unglücklicher Weise ihrem alleinigen Natur-Trieb überlassen und an den Bau ihrer Seele nicht die mindeste oder doch bey weitem nicht hinreichende Pflege und Wartung gewendet worden.“70 Auf der Grundlage dieser selektiven, sozialpolitisch tingierten Formierung anthropologischer Argumente entwickelt Moser ein Konzept des Umgangs mit Vorurteilen, das einerseits der affektiven Prägung Rechnung trägt, andererseits aber auch sozialpolitisch-ökonomische Interessen berücksichtigt. „Ein jeder macht sich daher die Welt nach seiner Idee, das ist, um es noch deutlicher zu sagen, nach seinem Vortheil.“71 Weltkonstruktion unterliegt also nicht nur der eigenen affektiven Beeinflussung, sondern verdankt sich auch einer aktiven Konstruktion, die sich am Maßstab des Eigennutzes orientiert. Innerhalb dieses Prozesses übernehmen Vorurteile tendenziell die Rolle der Vernunft bei Menschen, die nicht zum Vernunftgebrauch in der Lage sind. Moser bestimmt Vorurteile nicht eindeutig, tendiert aber offensichtlich zu einer Annäherung an das formale Konzept Meiers, ohne die Konsequenzen im Blick zu haben: „Ein Vorurtheil ist eine Meynung oder die Folge einer Meynung, welche man vor so wahr, richtig und bekannt annimmt, daß man sichs nicht einst beygeben läßt, ihren Grund zu prüfen.“72 Die Nähe zum formalen Vorurteilsbegriff ergibt sich hier dadurch, daß Moser die Frage der Wahrheit des Vorurteils letztlich unbeantwortet läßt. Er geht auf die aufgeworfene Frage, was der Unterschied zwischen einer Meinung und der Folge einer Meinung sei, nicht weiter ein und bleibt bei seiner recht vagen Begriffsbestimmung.73 Moser leitet zwei Grundtypen des Vorurteils ab. Er unterscheidet Vorurteile, die „Würckungen der menschlichen Art zu denken überhaupt“74 sind, und solche, die außerhalb abstrakt-logischer Betrachtungen liegen. Jene flössen aus der Schwäche des menschlichen Verstandes. Sie seien daher weder zu vermeiden noch erfolgreich zu bekämpfen. Schon hier scheint die formale Definition aufgehoben, denn Vorurteile werden als logische Fehler, als Irrtümer des Verstandes betrachtet. Dem zweiten Typus widmet Moser mehr Aufmerksamkeit. Diese Vorurteile seien in den

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Vgl. ebd., S. 18. Hier der Hinweis auf: Der Mensch, T. 4. (1752), 137.St., S. 49. Dort finden sich fast wortgleiche Passagen: „Wir haben unsern Eltern unser Leben und Daseyn zu danken; allein der rechte Gebrauch des Lebens, die rechte Anwendung unserer Natur ist eine wichtige Sache, als daß sie uns mit der Geburt allein ertheilet werden könte.“ Moser: Beherzigungen, S. 18f. Ebd., S. 27. Die Lesart „Vorurtheil“, die Menges anführt, scheint ein Lesefehler zu sein. Auch in der von Menges als Quelle angeführten Auflage der Beherzigungen als 2. Teil des Der Herr und der Diener steht „Vortheil“, nicht „Vorurtheil“. Vgl. Moser: Herr und Diener. T. 2, S. 19, Menges: Nationalgeist, S. 112, Menges: Vorteil, S. 166. Moser: Beherzigungen, S. 28. Vgl. auch Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 233. Moser: Beherzigungen, S. 28.

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menschlichen Verstand und in die menschliche Denkungsart so sehr „eingewoben“, daß der Mensch sie in alle Stände seines Lebens mit hinübertrage.75 Hier unterscheidet Moser zwischen neun Subtypen.76 Einigen der genannten Vorurteile wird hier schon en passant eine legitime Notwendigkeit attestiert, die an die allerdings nur kursorisch vermerkte Notwendigkeit des Staatswohls gebunden ist. Diffizil wird für Moser aber vorrangig innerhalb dieses zweiten Typus der Vorurteile die Anlehnung an den formalen Vorurteilsbegriff. Denn weil er Vorurteile formal definiert, daraus sich aber folgern läßt, daß sie auch wahr oder wenigstens notwendig sein können, ergibt sich ein Problem, das die Regelhaftigkeit des Vorurteilsdiskurses betrifft. Gilt als Inklusionsregel, daß Vorurteile nicht material bestimmt werden, dann können innerhalb des Vorurteilsdiskurses mehrere Vorurteile konkurrieren, die alle den Anspruch erheben könnten, „wahr“ zu sein, ein Anspruch, der per definitionem aus dem Diskurs ausgeschlossen worden war. Vorurteile haben ihre geographischen und historischen Moden, die auch veränderliche Vorannahmen über deren Wahrheit mit einschließen, wie Moser unter Bezug auf Pascal anführt: „On ne voit presque rien de juste ou d’injuste, qui ne change de qualité en changeant de climat.“77 Ein historisierend-empirisierendes Argument wird zwar auf klimatische Faktoren und damit auf eine verknappte Milieutheorie verkürzt, doch historisiert es die potentielle und diskursiv nun mögliche Wahrheit des Vorurteils.78 Wieder bezieht Moser sich ausdrücklich auf Sucro, der sich mit dem Dilemma des Maßstabs der Kritik an eben dieser Stelle auseinandergesetzt hatte. Vorurteile streiten vielfältig miteinander: „Eine Wahrheit wird aus Vorurtheil angenommen und aus einem neuen Vorurtheil wieder verworfen.“79 Dies sei eine unerschöpfliche Quelle der Freigeisterei.80 Sucro und Moser registrieren eine ähnliche Problematik. Doch gelangen sie in der Frage der Reichweite und der Funktionen des Vorurteilsdiskurses nicht zu identischen Resultaten. Während Sucro auf die Fähigkeit des Individuums vertraut, den Unterschied zwischen dem Notwendigen und dem Schädlichen auszumachen

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Ebd. Mosers Typologie schließt an Meiers Unterscheidung von logischen und ästhetischen Vorurteilen in der Vernunftlehre an. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 212f. Vgl. Moser: Beherzigungen, S. 28ff.: Er unterscheidet das Vorurteil von den Sekten einer Religion, das Vorurteil der Völkerschaft, das Vorurteil des Ansehens (der Person oder der Meinung zugleich), der Geburt, des Standes, der Würden und aller äußerer Ehrzeichen, des Respekts, das Vorurteil des Körpers, der Kleidung und des äußern An- und Aufzugs, das Vorurteil der Bewunderung des Altertums und des Herkommens, das Vorurteil der Neuigkeit und schließlich als das „miserabelste unter allen [...] das Vorurtheil, welches man vor den Werth eines Vorurtheils hat.“ (Ebd., S. 36) Ebd., S. 38, Fußnote. Moser berücksichtigt den geschichtlichen Wandel von Vorurteilen. Entscheidend ist aber, daß hierdurch die Frage nach der Wahrheit von Vorurteilen und nach dem Maßstab für den Umgang mit ihnen verschärft wird. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 234. Moser: Beherzigungen, S. 40. Moser bezieht sich hier wortähnlich auf Sucro: Erfahrungen. 2.Th., S. 85. Vgl. Moser: Beherzigungen, S. 40f., Sucro: Erfahrungen. 2.Th., S. 85.

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und so schädliche und tolerable Vorurteile zu identifizieren, führt Moser einen politisch distinktiven Faktor in den Diskurs ein, der diesen für eine institutionalisierte Anbindung anfällig macht. Die Wohlfahrt der Gesellschaft und das Fortbestehen sozialer Stabilität seien Kriterien, um die guten Vorurteile von den schlechten zu trennen. Die politische Wirkabsicht Mosers, die auf die Reformierung des politischen Systems von innen heraus zielt, infiltriert den Vorurteilsdiskurs, ohne die Diskrepanz von Begriff und Umgang dadurch lösen zu können.81 Er versucht, die generelle Fähigkeit des Menschen, Vorurteile per Vernunft zu vermeiden, mit der logischen Frage zu vereinen, ob dies notwendig oder ratsam ist – in Hinblick auf das Fortbestehen der sozialen Ordnung.82 Die anthropologische Basis dieser Argumentation entstammt Sucro, den Moser fast wörtlich zitiert: „Es muß also an deren Stelle (der der Vernunft, R. G.) etwas seyn, das würcksam genug ist, ihres Willens Herr zu werden, dis seynd die Vorurtheile; die Vollmacht, kraft deren andere bereits in ihre Seele gedacht haben.“83 Diese voluntaristisch regulative Funktion unterliegt allerdings sozialer Differenzierung: Denn das Ausmaß der Bekämpfung von Vorurteilen wird durch die jeweils individuelle (allerdings sozial verursachte) Fähigkeit hierzu und durch die soziale Angemessenheit solchen Tuns begrenzt: „Es ist billig und wird jedem vernünftigen Menschen zur Pflicht, sich von so vielen Vorurtheilen los zu machen, als nach dem innern Gehalt seiner Seelen-Kräfte möglich und nach seinen äusern Verhältnissen räthlich und nöthig ist.“84 Bei aller Ähnlichkeit zur durch Sucro vermittelten affektiven und voluntativen Vorurteilstheorie unterscheiden sich Mosers Folgerungen. Denn die Frage, ob ein Vorurteil zerstört oder erhalten werden sollte, darf nicht mehr das Individuum selbst entscheiden.85 Diese Entscheidung obliegt dem sozial reglementierenden ständischen System und damit politischen Notwendigkeiten: Die Klasse, zu der man gehört, bestimmt die Reichweite der Vorurteilskritik. Diese Klassen sind weniger durch den unveränderlichen sozialen Status bestimmt als vielmehr durch den Vernunftgrad, der Individuen ihrem spezifischen Stand zuordnet. Vernunft ist dabei nicht nur ein positives Kriterium, an dem sich die zugestandene Ehrzuweisung orientiert, sondern auch ein negatives, das soziale 81 82 83

84 85

Vgl. zur politischen Intention Mosers Becher: Argumentationsstrategien, S. 178. Vgl. Moser: Beherzigungen, S. 42. Ebd., S. 27. J. Ch. Hennings nimmt dieses Argument, Vorurteile ersetzten die defizitäre Vernunft, wieder auf. Vgl. Hennings: Verjährte Vorurtheile, S. 133. Hennings zitiert Moser allerdings nicht wörtlich, sondern möglicherweise aus dem Gedächtnis. Diese positive Funktion der Vorurteile widerspricht Hennings’ Warnung: „Vorurtheile, jene aus übereilten und unstatthaften Gründen entstandene Urtheile der Sterblichen, welche zwar die Menschen, wo sie unrecht haben, nicht überzeugen, dennoch aber überschreien, sind die gefährlichsten Hindernisse das Wohl und die Glückseligkeit der menschlichen Gesellschaft zu befördern.“ (Ebd., S. 309.) Hier löst sich der pragmatische Diskurs von theoretischen Reflexionen. Moser: Beherzigungen, S. 42. Vgl. dagegen Becher: Argumentationsstrategien, S. 181. Vom autonomen Individuum, das Becher bei Moser findet, kann in seiner politischen Vorurteilstheorie kaum die Rede sein.

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Klassifizierungen festschreibt. Jeder habe je nach seinen Vernunftfähigkeiten die Möglichkeit, Vorurteile zu zerstören. Doch wer aus Mangel an Vernunft nur „die bloße Schaale des Menschen“ trage, wer nur „den ersten Rang unter den Thieren“ behaupte,86 könne weder Vorurteile zerstören noch Kriterien gewinnen, ob er bestimmte Vorurteile zerstören oder bewahren solle. Moser verweist auf die lebenspraktische Aufgabe der Vorurteile, die Vernunft bei denen zu vertreten, die der Vernunft nicht mächtig sind. Doch aus dem anthropologischen Befund, daß die unteren Begehrungs- und Erkenntnisvermögen wirksam sind, wird ein sozialanthropologischer, der behauptet, ein solcher Zustand sei sinnvoll. Moser bezieht sich erneut in einer Fußnote auf Sucro, wenn er behauptet, es sei schwierig und mühsam, alles auf erste Gründe zurückführen zu wollen.87 Doch was für Sucro ein Hindernis der Aufklärung ist, für dessen Beseitigung möglichst große Anstrengungen zu unternehmen sind,88 ist für Moser ein endgültiger Befund in der Praxis. „Es giebt zwar in der Theorie keine weise Thorheiten und vernünftige Irrthümer, in der Praxi aber häufig; es wird keine philosophische und noch weniger moralische Ketzerey seyn, zu sagen: Es giebt nothwendige Vorurtheile.“89 Die natürliche Freiheit des Menschen ist durch die politische Freiheit eines Volkes, durch dessen bürgerliche Gesellschaftsordnung, Regierungsform und zugrundeliegende Verfassung beschränkt – ein Gedanke, der Montesquieus politischen Vorrang der Staatsorganisation aufnimmt.90 Daher muß auch die Freiheit zu denken auf der Basis dieser Bedingungen beschränkt werden. Vorurteile, die konservierende Funktionen haben, sollten über alle Klassen hinweg als notwendig angesehen werden: „Es seynd dahero alle diejenige Vorurtheile nöthig, so das grosse Band der menschlichen und bürgerlichen Gesellschaft erhalten helfen; [...]“.91 Damit ist ein Maßstab für die Erhaltung der Vorurteile gewonnen, der bisher externe Elemente des Interdiskurses zur Formationsregel des Vorurteilsdiskurses macht. Ein solches erhaltenswertes Vorurteil ist das positive Vorurteil des Standes. Wenn jemand überzeugt ist, daß der eigene Stand anderen Ständen vorzuziehen ist, wird er seinen Söhnen empfehlen, denselben Beruf zu ergreifen. Dies bewahrt in Mosers volkswirtschaftlicher Perspektive avant la lettre die Berufsdifferenzierung 86 87

88 89 90 91

Moser: Beherzigungen, S. 45. Vgl. zu diesem „sozialanthropologischen Schema“ ausführlicher Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 234f. Vgl. Moser: Beherzigungen, S. 47. Moser weist hier auf den 2. Teil der Erfahrungen hin, diesmal ohne konkrete Seitenzahl. Das von Moser angeführte Argument findet sich bei Sucro verschiedentlich, etwa auch im Kapitel Die größten und scheinbarsten Handlungen verlieren sehr oft viel von ihrem Werthe, wenn man bis zu ihren Quellen zurückgeht, S. 59–83. Dieses Kapitel steht unmittelbar vor dem oben zitierten Die Mode und der Wahn [...]. Vgl. Sucro: Erfahrungen. 2.Th., S. 59ff. Moser: Beherzigungen, S. 50. Vgl. ebd., S. 154, 163. Ebd., S. 51. Schon Stammler weist darauf hin, daß Moser verschiedene Bereiche von „Freiheit“ unterscheidet. Vgl. Wolfgang Stammler: Politische Schlagworte in der Zeit der Aufklärung, in: ders. (Hg.): Lebenskräfte in der abendländischen Geistesgeschichte. Marburg 1948, 199–259, hier S. 205f.

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innerhalb des Staates. Zudem sichert es, daß jeder in seinem Stand zufrieden und glücklich seine Lust an der Arbeit erhält.92 Diese Annahme suggeriert, daß der gegenwärtige Zustand des Staates und der Gesellschaft derjenige ist, der keiner weiteren Evolution unterliegen muß oder sollte. Von ökonomischer Entwicklung ist noch keine Rede.93 „Von eben dieser Gattung nothwendiger Vorurtheile seynd alle Meynungen, welche zur Sicherheit eines Staats, der Obrigkeit und der Gesetze mitwürcken.“94 Unangetastet bleiben also nicht nur diejenigen Vorurteile, deren Zerstörung direkte Auswirkungen auf die Staats- und Regierungsform haben, sondern auch solche, deren Abschaffung einen psychomechanischen Wirkungsmechanismus in Gang setzen würde, dessen Folgen wiederum Unzufriedenheit und damit Rebellionswillen wären. Daher sind auch solche Vorurteile unangetastet zu lassen, „deren Aufklärung oder Benehmung die glückseelige Ruhe und Unwissenheit eines Menschen störte, ohne daß es gleichwohl möglich wäre, seinen Zustand zu verbessern.“95 Was wie ein lebenspraktischer Hinweis klingt, beinhaltet Mosers politisch-restriktives Programm: Zu erhalten sei auch das Vorurteil, daß die Pracht der Reichen durch die Armen zu akzeptieren sei, da sonst Unruhe und Ungemach drohe.96 Denn generell dienen Vorurteile auch dazu, trotz möglicher Defizite und Fehler der bürgerlichen Gesellschaft Loyalität zu erhalten, indem sie die Annahme verankern, die Verfassung des Staates, in dem man geboren ist, sei die beste.97 Letztlich wird die Entscheidung des Staates maßgeblich für das Maß der Zerstörung von Vorurteilen. Zusätzlich gelte es, den Aufwand der erlaubten Destruktion zu bedenken. Sucht 92 93

94 95 96

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Vgl. Moser: Beherzigungen, S. 51ff. Diese Form konservativen Denkens entspricht dem ersten von Epstein entwickelten Idealtypus des Konservativismus, dem Verteidiger des Status quo. Vgl. Klaus Epstein: Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland. Der Ausgangspunkt: Die Herausforderung durch die Französische Revolution. 1770–1806. Frankfurt a.M. / Berlin / Wien 1973, S. 19f. Moser wäre generell aber eher als Reformkonservativer einzuschätzen; vgl. ebd., S. 285f. Moser: Beherzigungen, S. 56. Ebd. Vgl. ebd., S. 57f. Vgl. zum politischen Wirkungsanspruch der Popularphilosophie der Spätaufklärung (zu der auch Moser bedingt gerechnet werden kann) Zwi Batscha: „Despotismus von jeder Art reizt zur Widersetzlichkeit“. Die Französische Revolution in der deutschen Popularphilosophie. Frankfurt/M. 1989, Segeberg: Literarischer Jakobinismus. Daß Böhrs Versuch, die „Philosophie für die Welt“ der Spätaufklärung monographisch zu beschreiben, diesen politischen Argumentationskreis weitgehend ausblendet, mag ein Zeichen für die gelegentliche diskursive Verengung philosophischer Wissenschaftsperspektiven sein. Vgl. Böhr: Philosophie für die Welt. Vgl. Rainer Godel: Rendre l’historie de la philosophie populaire? Christoph Böhrs Versuch der Rehabilitierung der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts, in: IASL-Online, eingestellt am 11.01.2004: http://iasl.uni-muenchen.de Dies übernimmt J. C. Hennings: Verjährte Vorurtheile, S. 121, direkt von Moser. Andererseits behauptet er, Vorurteile stünden der „Sicherheit des Staates und der von der Religion abhangenden Ruhe der Seele“ entgegen (ebd., S. 309). Charakteristisch für Hennings ist, daß er trotz eines vehementen und kenntnisreichen Plädoyers für das anthropologische Wissen um das commercium mentis et corporis dessen Problematik für den Vorurteilsdiskurs nicht erkennt, sondern es vielmehr als Argument für die Destruktion eines vermeintlichen Vorurteils (der Bestattung in Kirchengewölben) nutzt. Vgl. ebd., S. 329ff.

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jemand, bei anderen gegen solche Vorurteile vorzugehen, die in der Natur des Volkes tief verankert sind, so muß er zunächst entscheiden, ob die Größe des Vorurteils dessen Bekämpfung erforderlich macht. Im Falle des positiven Befundes ist kontinuierliche Anstrengung, Weisheit in der Wahl der Mittel, des richtigen Zeitpunktes und der richtigen Durchsetzungsgeschwindigkeit notwendig. Dieses Verfahren jedoch können nur wenige Vernünftige überhaupt wählen, und es hängt zudem davon ab, ob die Bekämpfung des Vorurteils im Interesse von Staat – und Aufklärung liegt.98 Anhand des revolutionären Potentials unterscheidet Moser später zwischen wahrer und falscher Aufklärung: Das Geschäft von jener (der wahren, R. G.) ist Licht, Wahrheit, Wachsthum und Ausbreitung von beyden, Harmonie, Ordnung, Ruhe und Friede in und über das ganze Menschen-Geschlecht. Das Geschäft von dieser ist Verblendung statt Erleuchtung, Bethörung statt Belehrung, Zerstörung, Zwitracht statt Eintracht, Frechheit statt Freyheit, schadenfrohe Verwirrung der Köpfe und Verführung der menschlichen Herzen.99

Es sei nur dann sinnvoll, Licht anzuzünden, wenn es nicht gefährlich oder nicht sowieso schon hell sei.100 Mit dieser Metapher knüpft Moser an aufklärerische Ziele wie an die reformkonservative Position der Staats- und Gesellschaftsbewahrung an, die nach der Französischen Revolution umso dringlicher zu bekräftigen war.101 Doch mit dieser Bindung an den obrigkeitlichen Maßstab ist in den Beherzigungen die Frage noch nicht endgültig geklärt, welche Reichweite Vorurteilskritik haben kann. Mosers Plädoyer für eine (weitreichende) Rehabilitierung von Vorurteilen wird begrenzt und begründet durch die Wohlfahrt und Dauerhaftigkeit der staatlichen Ordnung. Doch einen Vorurteilstypus schließt Moser ausdrücklich von großzügiger Erhaltung aus: „ruchlose und schändliche Mode-Principia“, die sich gegen Religion wenden. Jede Art von „Religions-Spötterey“ seien Vorurteile, die zu allen Zeiten angegriffen werden dürften und müßten.102 Hier verbinden sich in

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Vgl. Moser: Beherzigungen, S. 74f. Mosers Argumentation führt zu legalistischen Schlüssen. An die Gesetze müsse man sich immer halten, betont Moser; vgl. ebd., S. 73. Das zugrundeliegende Menschenbild Mosers erscheint daher zwiespältig. Der aktive Bürger bleibt an seine eigenen rationalen Fähigkeiten, seinen eigenen Stand und an die Wohlfahrt des Staates als Ganzes gebunden. 99 [Friedrich Carl von Moser:] Wahre und falsche politische Aufklärung (geschrieben im Jan. 1792), in: Neues Patriotisches Archiv für Deutschland. Hg. Friedrich Carl von Moser. Bd. 1. Mannheim / Leipzig 1792, 527–536, hier S. 529. Epstein schreibt den kompletten Text des Essays Moser zu. Vgl. Epstein: Ursprünge, S. 581. Moser zitiert im ersten Teil einen Text von Matthias Claudius: Schreiben des Kaisers von J-p-n an einen gewißen –, in: [Matthias Claudius:] Asmus omnia sua secum portans, oder Sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen, V. Th. Carlsruhe 1790, 94–95. Claudius verabschiedet sich allerdings von zentralen Ideologemen der Aufklärung. Vgl. Albrecht / Weiß: Einleitende Bemerkungen, S. 26. 100 Vgl. Moser: Aufklärung, S. 530. 101 Schneiders rechnet Moser daher zu den Vertretern „relativer“ Aufklärung, die hier sozial restringiert ist. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 233. 102 Vgl. Moser: Beherzigungen, S. 76ff.

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Mosers Beitrag zum Vorurteilsdiskurs anthropologische, legalistische und moraltheologische Prinzipien, wobei der diskursive Primat der moralischen Vorschrift zukommt.103 Religiöse „Wahrheiten“, egal wie sie erlangt wurden, bleiben unbehelligt. Binnendiskursiv verschiebt sich hier die Gewichtung rehabilitierender Argumente. Das anthropologische Argumentationsreservoir aus Sensualisierung, Affektmanagement, Naturalisierung und Sozialisierung wird gegenüber den traditionalistischeren, moral-theologischen Argumenten herabgestuft. Zwar werden anthropologische Argumente herangezogen, um zu begründen, wie man mit dem Vorurteil umgehen könne, doch wertet Moser den anthropologischen Diskurs und dessen Anteile am interdiskursiven Regelreservoir grundsätzlich ab: „Es ist vielleicht seit Erschaffung der Welt über den Menschen und die Tugend nicht so viel geschrieben worden, als seit etlich und dreysig Jahren und, von dem grossen Haufen dieser Menschen-Lehrer zu sagen, kommts je länger je schlechter und schlimmer.“104 Das Dilemma zwischen der Natur des Menschen und dem formalen Vorurteilsbegriff, das Sucro dazu genötigt hatte, die Rehabilitierung von Vorurteilen mit Maßstäben vorsichtigen und notwendigen Handelns zu versehen, wird nun an einen neuen Maßstab gebunden, der Individualisierung im Ergebnis aufhebt. Staat und Religion als dessen moralische Prämisse entscheiden über die Zulässigkeit von Vorurteilen. Die Herrschenden selbst haben dafür Sorge zu tragen, daß sie dem moralischen Verhaltenskodex der Religion folgen. Das ist die Bedingung für die Legitimität ihres Herrschaftsanspruchs, aber auch die Voraussetzung dafür, dessen pragmatischer Umsetzung eine Reichweite zuzugestehen, die in die Vernunfttätigkeit des Individuums eingreift.105 Das Problem ist nun kein Problem der Vorurteile

103

Daß moralische Kategorien, insbesondere diejenigen, die aus christlichen Prinzipien abgeleitet werden, für Moser entscheidend sind, zeigt Becher: Argumentationsstrategien, S. 179, 182. Moser: Beherzigungen, S. 89. Moser datiert diese Konjunktur moralisch-anthropologischer Schriften schon auf die 1720er und 30er Jahre, eine Zeit, in der die Philosophie selbst kaum durch neue Anstrengungen zur Klärung der angesprochenen Fragen glänzte. Dies könnte auf Mosers Jenaer Anatomie-Studium zurückzuführen sein, in dem er die auch unter der Bezeichnung „Anthropologia“ vermittelten neuen physiologischen Resultate der Frage nach dem Menschen kennengelernt haben dürfte. Vgl. Hermann Friedrich Teichmeyer: Elementa anthropologiae, sive theoria corporis humanae, in qua omnium partium actiones, ex recentissimis inventis anatomicis, et rationibus, tum physicis, tum chimicis, tum denique mechanicis, declarantur. Jena 1719. Teichmeyer war ab 1719 ao. Medizin-Professor, 1727 Professor für Botanik, Chirurgie, Anatomie in Jena. Vgl. Johannes Günther: Lebensskizzen der Professoren der Universität Jena seit 1558 bis 1858. Aalen 1979 (Jena 11858), S. 192. 105 Vgl. Moser: Beherzigungen, S. 90ff. Moser proklamiert eine Dualität von Verantwortung und Anspruch: Er kritisiert, unter der Bezeichnung „politische Tugenden“ werde die Herrschenden gelehrt, wie sie „diese Triebe zum Hochmuth und Wollust [...] unterhalten, temperiren und benutzen sollen.“ (Ebd., S. 90) Vgl. Becher: Argumentationsstrategien, S. 179. Daß der moralische Anspruch an die Herrschenden das eigenverantwortliche Handeln der Regierten einzuschränken droht, muß nach Moser in Kauf genommen werden. Jaumann weist auf Mosers Kontroverse mit Schlözer hin, in der Moser noch 1791/92 das Gottesgnadentum als Legitimation monarchischer Herrschaft verteidigt. Vgl. Herbert Jaumann: Politische Vernunft, anthro104

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mehr, sondern eines der Moralität des Souveräns und der Grenzen des Freidenkertums. Indem er den Souverän auf die Übereinstimmung mit christlichem Moralverständnis verpflichtet, kann Moser Kritik an absolutistischer Herrschaftswillkür üben.106 Doch bedeutet dies noch keine demokratische, liberale Staatsverfassung. Konsequenterweise erfährt die „Freyheit zu dencken“ in der folgenden Argumentation Mosers eine restringierende Umdeutung. Denn sie wird einerseits im praktischen Handeln in die Schranken der Vernunftschlüsse und der Erfahrung gewiesen, andererseits müsse göttliche Gnade dazukommen, um Denkfreiheit zu einer „wahren“ zu komplettieren.107 Diese elementaren Unterschiede politisch-religiöser und sozialisierendanthropologisierender Rehabilitierung werden wieder sichtbar, als Moser erneut auf Sucro Bezug nimmt. Hatte Sucro noch angeführt: „Wenn ich glaube, daß der Vernünftigste nicht ohne Vorurtheile sey, so glaube ich doch, daß ich in seinen Vorurtheilen selbst den vernünftigen Mann erkennen werde“,108 so fokussiert Moser bei der Wiedergabe des ähnlichen Gedankens vernunfttypischer Vorurteile einen sozialen, einer Vernunftdifferenz gleichkommenden Unterschied: „Ein freyer Geist wird sich selbst in seinen Vorurtheilen noch von dem Pöbel unterscheiden, man wird auch alsdann den Weisen noch in ihm erkennen.“109 Dabei spezifiziert Moser zwar die Art der Vorurteile nicht, die bei einem freien Geist erhalten blieben und an denen er zu erkennen sei, er schreibt ihm aber – seien die Handlungen auch denen der kleinen Geister gleich – andere Gründe, anderes Vorgehen und andere Motive zu: „Ein großer Geist thut also oft eben das, was ein kleiner thut; er thut aber nicht nur das, sondern er thut es auch mit einer andern Art, aus andern Gründen und in einer anderen Absicht.“110 Da Moser hier keine Typologie der Vorurteile des Weisen anschließt, bleibt der Bereich derjenigen Vorurteile, die religiösen Grundsätzen nicht widersprechen und die somit grundsätzlich rehabilitierungsfähig sind, dem Diskursgemisch anthropologischer und aufklärerischer Formationsregeln weiterhin verpflichtet. Für Moser ist dies kein Widerspruch zur Aufklärung. Denn diese solle sich nach Moser an der Wohlfahrt des Staates richten, der seinerseits am Christentum orientiert bleiben

pologischer Vorbehalt, dichterische Fiktion. Zu Wielands Kritik des Politischen, in: Modern Language Notes 99,3 (1984), 461–478, hier S. 469. 106 Hier steht Moser in der Tradition seines Vaters Johann Jacob. Vgl. Fritz Valjavec: Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770–1815. Königstein/Ts. 1978, S. 45ff. 107 Vgl. Moser: Beherzigungen, S. 119. Erfahrungen mit der Obrigkeit sollte zunächst gesammelt werden, bevor man deren Urteile und Maßnahmen kritisch betrachtet. Vgl. ebd., S. 106ff. Ebd., S. 122: „Diese durch die Vernunft, Erfahrung und göttliches Licht erworbene und der Seele geschenckte Fähigkeit und Macht, würcket allmählig eine gewissere höhere Denckungs-Art, [...]; die wahre Freyheit zu dencken.“ 108 Sucro: Erfahrungen. 2.Th., S. 110. 109 Moser: Beherzigungen, S. 140f. 110 Ebd., S. 140.

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solle.111 Moser bleibt dieser Position noch 30 Jahre später, in seinem Essay Wahre und falsche politische Aufklärung, treu: Alle Aufklärung, die sich nicht auf Religion gründet und stüzet, [...] ist nicht nur der Weg der Verderbniß, Sittenlosigkeit und Lastern, sondern auch zur Auflösung und Zertrümmerung aller bürgerlichen Gesellschaft, zur Befehdung des menschlichen Geschlechts unter sich selbst, die mit der Philosophie anfangen und mit Scalpiren und Menschenfreßen aufhören würde.112

Bedingung jeglichen aufklärerischen Tuns ist Ruhe und Pragmatismus.113 Doch erweitert diese Abstufung innerhalb ihres Selbstverständnisses als aufklärerisches Modell schon Begriff und Konzept der Aufklärung in den frühen 1760er Jahren: Denn der Aufklärungsbegriff ist hier nicht mehr an rationale Modi gebunden, sondern er trägt bereits der Diskursmacht anthropologisierter Argumentationsstrategien Rechnung. Diese verbinden sich mit der Problematik, wie Aufklärung, Religion und Stabilität des Gesellschafts- und Herrschaftssystems zu vereinbaren sind.114 4.1.3 Die Restriktion der Anthropologie als Bedingung der Rehabilitierung von Vorurteilen bei Th. Abbt Auf den Zusammenhang von Vorurteilserhaltung und Erfordernissen an einen „guten“ Bürger bezieht sich auch eine der Preisfragen, die die Berner Patriotische Gesellschaft 1762 ausschrieb: „Finden sich dergleichen vorurtheile, die eine ehrerbietung verdienen, und die ein guter bürger öffentlich anzugreifen sich bedenken machen soll?“115 Die Preisfrage nach der Verschonung von Vorurteilen war eine 111

Menges und Schneiders sind in dieser Hinsicht zu korrigieren. Beide sehen bei Moser die politische Legitimität als Letztbegründung. Vgl. Menges: Nationalgeist, S. 112f., Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 233ff. 112 Moser: Aufklärung, S. 533f. Vgl. auch Zwi Batscha: Einleitung, in: ders. (Hg.): Aufklärung und Gedankenfreiheit. Fünfzehn Anregungen, aus der Geschichte zu lernen. Frankfurt/M. 1977, 7–42, hier S. 22. 113 Vgl. Moser: Aufklärung, S. 534f. 114 Mosers Programm entspricht der verhältnismäßigen Aufklärung. Vgl. Sauder: Verhältnismäßige Aufklärung. Vgl. auch Becher: Argumentationsstrategien, S. 193. Im Widerspruch dazu steht ihr vorheriger Befund, einige Faktoren sprächen gegen eine Zuordnung Mosers zur Aufklärung; vgl. ebd., S. 183. Doch kann von Gegenaufklärung bei Moser nicht gesprochen werden, auch wenn das Problemfeld für philosophische Ansprüche nicht befriedigend ausgemessen sein mag. Im 19. Jahrhundert galt Moser durchaus als Aufklärer. Vgl. etwa G. P.: Die nationale Bedeutung Friedrichs des Großen, in: Deutsche Vierteljahrs-Schrift 4,1 (1841), 169– 244, hier S. 192f. 115 In dieser Formulierung findet sich die Frage, aufnotiert von Daniel von Fellenberg, im Familienarchiv von Fellenberg, Burgerbibliothek Bern, Nr. 149 (5), unpag., als zweite der vier vorgeschlagenen Preisfragen. Die französische Fassung lautet: „Est il des prejugés respectables, qu’un bon citoyen doive sa faire un scrupule de combattre publiquement?“ (Ebd.) Vgl. zur Patriotischen Gesellschaft Margret Genna-Stalder: Die Patriotische Gesellschaft in Bern. 1762– 1766. Bern 1974; W. F. von Mülinen: Daniel Fellenberg und die Patriotische Gesellschaft in Bern, in: Neujahrsblatt. Hg. vom Historischen Verein des Kantons Bern für 1901. Bern 1900,

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von zunächst vieren, die in einer Reihe renommierter Zeitschriften öffentlich ausgeschrieben wurden.116 Hintergrund der publizistischen Offensive, die die neugegründete Patriotische Gesellschaft117 zu Bern einleitete, war vor allem die Debatte um die motivationalen Grundlagen von Patriotismus, die den Berner Kreis um Daniel Fellenberg und Vinzenz Bernhard Tscharner wie auch den Baseler Stadtschreiber Isaak Iselin beschäftigten. Die öffentliche Resonanz auf die Preisfragen blieb gering. Zu allen Preisfragen gingen insgesamt nur 20 Antworten ein, auch die wiederholte Ausschreibung brachte quantitativ und qualitativ kein erfreulicheres Ergebnis.118 Die Mitglieder der Gesellschaft sahen schließlich keine der eingereichten Antworten als preiswürdig an, ausgezeichnet wurde ein externer Beitrag, der sich nicht unmittelbar einer Preisfrage widmete.119

3–42; Emil Erné: Die schweizerischen Sozietäten. Lexikalische Darstellung der Reformgesellschaften des 18. Jahrhunderts in der Schweiz. Zürich 1988, S. 206ff., wenig informativ Hans Hubrig: Die patriotischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts. Weinheim 1957, S. 79ff. Über Tscharner, einen der Gründer, informiert ausführlich Enid Stoye: Vincent Bernard de Tscharner. 1728–1778. A study of Swiss culture in the eighteenth century. Fribourg 1954. Vgl. auch Im Hof: Iselin. Bd. 1, S. 252ff. 116 Genna-Stalder führt folgende Zeitschriften an, die angeschrieben worden seien: Le Journal des Scavans, L’Avantcoureur, Bibliotheque des Sciences et des Beaux Arts, Göttingische Anzeigen, Critical Review, The London Chronicle, Bibliothek der schönen Wissenschaften und Mercure suisse/Journal helvetique. Vgl. Genna-Stalder: Patriotische Gesellschaft, S. 40f. Nicht überall ist die Ankündigung allerdings auch erschienen. Darüber hinaus wurden die Preisfragen annonciert in: Briefe die neueste Litteratur betreffend 13 (1762). Beschluß des 223. Briefes, 180– 182. Wieder in: Mendelssohn JubA 5,1, S. 507. Die erweiterte Wiederholungsankündigung findet sich in: Briefe die neueste Litteratur betreffend 16 (1763). 262. Brief, 136–138; und in: Johann Georg Hamann: [Ankündigung], Königsbergsche Gelehrte und Politische Zeitungen. 9.St. 2.März 1764, in: ders.: Sämtliche Werke. Hg. Josef Nadler. Bd. IV. Kleine Schriften. 1750–1788. Wuppertal / Tübingen 1999 (Wien 11952), S. 275. 117 Im Briefwechsel zwischen Fellenberg und Iselin kommt der Gedanke der Gründung einer Patriotischen Gesellschaft erstmals am 7.3.1762 zur Sprache. Vgl. Genna-Stalder: Patriotische Gesellschaft, S. 33. 118 Vgl. ebd., S. 106ff., 126ff. Nur wenige Antworten wurden publiziert. Vgl. [Anonym:] Reponse A deux Questions proposées dans le Journal Helvétique de Mai, pag. 554. A Mr. de ***, in: Journal Helvetique ou Recueil de Pieces Fugitives de Literature Choisie; De Poësie; de Traits d’Histoire ancienne & moderne; de Découvertes des Sciences & des Arts; de Nouvelles de la République des Lettres; & de diverses autres Particularités interessantes & curieuses, tant de Suisse, que des Païs Etrangers. Dedié au roi. Juillet 1762. Neuchatel 1762, 11–23. Abbts Antwort erschien erst postum. Vgl. Thomas Abbt: Abhandlung über die Frage: „Finden sich dergleichen Vorurtheile, die Ehrerbietung verdienen, und die ein guter Bürger öffentlich anzugreifen sich ein Bedenken machen soll?“, in: ders.: Vermischte Werke. 4.Th. Berlin / Stettin 1780, 135–188. Mit einiger Verspätung fand die Vorurteils-Preisfrage allerdings noch Beachtung: s.u. S. 183f., 186f. Möglicherweise antwortete Herder (beinahe mit Erfolg) auf eine andere der Preisfragen. Vgl. Genna-Stalder: Patriotische Gesellschaft, S. 135f. Gemeint ist Herders Wie können die Wahrheiten der Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner und nützlicher werden?, die erste Fassung des Essays Problem: wie die Philosophie zum besten des Volkes allgemeiner und nützlicher gemacht werden kann. Vgl. Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden. Bd. 1. Frühe Schriften. Hg. Ulrich Gaier. Frankfurt/M. 1985, S. 969. 119 Vgl. Genna-Stalder: Patriotische Gesellschaft, S. 127, 142. Ausgezeichnet wurde zunächst Mably, nach der Wiederholungsausschreibung ein ebenfalls externer Essay von Beccaria.

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Über Erwartungen der Patriotischen Gesellschaft kann trefflich spekuliert werden. Doch markieren Stellungnahmen aus dem Umkreis der Gesellschaft die möglichen Positionen im Vorurteilsdiskurs und machen dadurch deutlich, daß der Diskurs sich schon in den frühen 1760er Jahren neu ordnete. Jean-Jacques Rousseau, dessen Aufnahme in die Gesellschaft kontrovers diskutiert wurde, der aber im Briefwechsel mit dem Plan der Preisfragen vertraut gemacht wurde, antwortet Vinzenz Bernhard Tscharner abschlägig: Si j’avois à traitter votre seconde question, je ne puis vous dissimuler que je me déclarerois avec Platon pour l’affirmative, ce qui surement n’étoit pas vôtre intention en la proposant. Faites comme l’Académie françoise qui prescrit le parti qu’on doit prendre et se garde bien de mettre en problème les questions sur lesquelles elle a peur qu’on ne dise la vérité.120

Nur solche Vorurteile, so Rousseau, könnten zerstört werden, die durch Irrtum entstanden seien. Diejenigen, deren Ursache die menschliche Fehlerhaftigkeit sei, könnten nur mit dieser zerstört werden. Zunächst müsse man daher die Menschen weise machen, ehe man sie die Wahrheit lehre – zumal Wahrheit unter den Menschen kaum etwas ausgerichtet habe, weil diese sich immer mehr durch ihre Leidenschaften als durch ihre Einsichten lenken ließen.121 Bemerkenswert ist, daß Rousseau eine vorurteilskritische Haltung der Berner vermutet, von der er sich ausdrücklich absetzt, indem er Ursachen von Vorurteilen sowohl in der Ratio als auch in den Affekten der Menschen anführt. Material-falsche Vorurteile wären demnach zwar kritisierbar, doch müßte dies hinter der wesentlicheren Aufgabe zurückstehen, Weisheit zu vermitteln. Weisheit fungiert dabei als psychische, nicht mehr als rationale Bestimmung, die auf die grundlegende Aufwertung der Sinne reagiert. Daß er mit einer solchen Position indes nicht fern von der Berner Meinung gelegen haben könnte, legt Isaak Iselins Über die Geschichte der Menschheit nahe. Denn auch Iselin betont die Möglichkeit, Gutes psychologisch, vor allem in der Frühphase der Erziehung, zu verankern. Auch hier steht der anthropologische Wirkmechanismus im Zentrum: Das Gute, das Gemeinnützige, muß also in junge Seelen verpflanzt werden, um zu keimen und zu gedeihen. Es ist eine vergebliche Mühe, an der Verbesserung der Alten zu arbeiten. Vorzüglich sind die Vorurtheile der Gelehrten und der Staatsmänner unbesiegbar, wie überhaupt jeder Mensch in dem Handwerke, welches er immer getrieben hat, am wenigsten fähig ist, die Fehler und die Misbräuche zu empfinden.122

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Jean-Jacques Rousseau an Vincent Bernard Tscharner am 29.4.1762, in: Correspondance Générale de J.-J. Rousseau. Hg. Théophile Dufour. Tome 7ème. Le Contrat Social et l’Émile (Décembre 1761 – juin 1762). Paris 1927, Briefnr. 1347, S. 205. 121 Vgl. ebd., S. 202f., Genna-Stalder: Patriotische Gesellschaft, S. 59. 122 Isaak Iselin: Über die Geschichte der Menschheit. Neue mit dem Leben des Verfassers vermehrte Aufl. o. O. 1791, S. 78.

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Dieser Fokus entspricht Iselins Konzept einer Menschheitsgeschichte, die auf psychischen Dispositionen basiert und aus diesen heraus eine Teleologie entwickelt.123 Beide Anmerkungen zeigen, daß im Vorurteilsdiskurs der frühen 1760er Jahre anthropologiebasierte Argumentationsstrategien vorrangig den Umgang mit den Sinnen betreffen und aus diesem Naturalisierungs- und Sozialisierungsmodelle ableiten. Die Berner Preisfrage gab Thomas Abbt die Möglichkeit, die Frage der Rehabilitierung von Vorurteilen unter neuen Auspizien zu diskutieren und dabei auch die bisher ungelöste Frage einzubeziehen, welchen externen Maßstab es für eine unvermeidliche Rehabilitierung geben könne. Das Dilemma bestand darin, daß eine Diskrepanz sichtbar wurde zwischen dem formalen Begriff des Vorurteils, der die grundlegende Möglichkeit offerierte, Vorurteile zu erhalten, und der mit ihr verbundenen Gefahr, daß auch falsche oder schädliche Vorurteile im praktischen Leben erhalten bleiben könnten. Als notwendig erwies sich ein Maßstab, der außerhalb der rein logischen Argumentation liegen mußte. Die Frage des Maßstabes konnte mit Hilfe sensualer Argumentationsformen nicht gelöst werden. Abbts biographische Verbindung zu Halle und Meier, aber auch die Kenntnis von Mosers Beherzigungen bildet den argumentativen Rahmen für seine eigene Stellungnahme zur Preisfrage,124 die sich zudem an der Problematik von Eigenliebe und Patriotismus orientiert. Auf den ersten Blick scheinen Abbt und Moser ähnliche Positionen einzunehmen.125 Tatsächlich stimmen viele Schlußfolgerungen, etwa in der Frage der Vaterlandsliebe, durchaus überein. Blickt man jedoch auf die argumentative Struktur beider Texte, so wird deutlich, daß der entscheidende Unterschied darin liegt, daß Abbt religiöse Formationsregeln für diskursextern erklärt. Dadurch erhalten auch

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Vgl. Adler: Prägnanz, S. 151f., Heinz: Wissen vom Menschen, S. 106. Die Bedeutung der Psychologie bei Iselin verdeutlicht auch sein Lob Mendelssohns in einem an diesen gerichteten Brief: „Um die Menschen glücklich zu machen muß man nothwendig den Geist und das Gemüth derselben kennen.“ (Isaak Iselin an Moses Mendelssohn am 25.6.1762, in: Mendelssohn JubA 11, S. 343.) Vgl. hierzu Hans-Joachim Schneider: Moses Mendelssohns Anthropologie und Ästhetik. Zum Begriff der Popularphilosophie. Münster 1970, S. 63f. 124 Abbt studierte seit 1756 Theologie, Mathematik, Geschichte und Philosophie in Halle, wo er anschließend auch lehrte. Vgl. Hans-Erich Bödeker: Thomas Abbt (1738–1766), in: Günter Birtsch (Hg.): Patriotismus. Hamburg 1991, 103–105, hier S. 103 (Aufklärung 4,2 (1991)). Abbt trug zur von Meier und Lange edierten Wochenschrift Das Reich der Natur und der Sitten bei. Vgl. Martens: Moralische Wochenschriften in Halle, S. 91, [Johann Erich Biester]: Vorbericht, in: Thomas Abbts vermischte Werke. 6.Th. welcher Briefe und Fragmente enthält. Berlin / Stettin 1781, III–XLII, hier S. V. 125 Vgl. Menges: Vorteil, S. 166f., ders.: Nationalgeist, S. 111ff. Abbt wurde als Mitglied der Berner Patriotischen Gesellschaft abgelehnt, weil seine Positionen zu sehr denen Mosers ähnelten. Vgl. Genna-Stalder: Patriotische Gesellschaft, S. 89. Vgl. Burgerbibliothek Bern, Familienarchiv von Fellenberg, Nr. 152: Korrespondenz (1), Brief Nr. 43, Brief Fellenbergs an Iselin vom 30.7.1762: Abbts Vom Tode für das Vaterland gleiche zu sehr Mosers Deklamationen. Fellenberg empfiehlt, Abbt noch nicht zur Mitgliedschaft einzuladen, bis eine bessere Beurteilung aufgrund der erwarteten Empfehlung Mendelssohns möglich sei.

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die historisierenden und sozialisierenden Argumentationsverfahren eine neue Relevanz. Abbt grenzt sich in seiner Rezension von Mosers Beherzigungen deutlich ab.126 Kritisch vermerkt Abbt, er denke nicht immer übereinstimmend mit dem Verfasser. Insbesondere sei Moser „auf die Erfindung der sogenannten politischen Tugenden in Absonderung von den Christlichen sehr übel zu sprechen.“127 Abbt lehnt den Vorrang christlicher Argumente vor den politischen (und sei es als Argumentationszusammenhang für die Stabilität der gesellschaftlichen Verhältnisse) ab. Er entwickelt das Modell einer „Welttugend“, die „Bestimmung des Verhältnisses der Handlungen zur Ordnung oder Vollkommenheit des Ganzen“, die von einer christlich präskribierten Moral unabhängig ist.128 Diese Welttugend, die dem einzelnen einsichtig sein könne, stellt das ideale Fundament gesellschaftlicher Organisation dar.129 Der Gesetzgeber müsse mithin nicht eine metaphysische christliche Tugend berücksichtigen, sondern eine am Gemeinwohl orientierte, die Maßstab für alle Mitglieder der Gesellschaft sein kann. Abbt sucht eine säkularisierte Argumentationsstrategie in den Diskurs über Gesellschaftsformen einzuführen. Der Unterschied zu Moser ist deutlich, dem nun vorgeworfen werden könne, Vernunftwahrheiten zu „lästern, um den geoffenbarten zu schmeicheln.“130 Abbts Ziel besteht also darin, religiöse Argumentationsstrategien aus dem Vorurteilsdiskurs wie aus dem Diskurs über Staatsform und Gesellschaft zugunsten anthropologiebasierter auszuschließen.131 Auch in der Auseinandersetzung über Johann Peter Süßmilchs Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts plädiert Abbt für eine strikte Trennung religiöser und weltlicher Argumentationsbereiche. Er wendet sich gegen die Neigung Süßmilchs, bevölkerungsstatistische Beobachtungen ins Physikotheologische zu wenden. Damit wird der Staat aus theonomen Begründungszusammenhängen herausgelöst.132 Für Abbt ist Moral 126

Abbt kritisiert keineswegs nur Stil und Begriffsbildung an Mosers Beherzigungen, wie Bruno Strauss meint; vgl. Mendelssohn: JubA 11, S. 489. 127 Thomas Abbt: [Rezension von Moser: Beherzigungen. T. 2], in: Briefe, die neueste Litteratur betreffend 11 (1761). 179. Brief, 14–16, hier S. 14. 128 Vgl. Thomas Abbt: [Rezension von Moser: Beherzigungen. T. 3], in: Briefe, die neueste Litteratur betreffend 11 (1761). Beschluß des 179. Briefes, 17–25, hier S. 19. 129 Vgl. ebd., S. 20f. 130 Thomas Abbt: [Rezension von Moser: Beherzigungen. T. 5], in: Briefe, die neueste Litteratur betreffend 11 (1761). 180. Brief, 26–32, hier S. 32. 131 Vgl. Hans Erich Bödeker: Thomas Abbt: Patriot, Bürger und bürgerliches Bewußtsein, in: Rudolf Vierhaus (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung. Heidelberg 1981, 221–253, hier S. 228. Bödeker weist v.a. an der Frage der Bestimmung des Menschen Folgen der „anthropologischen Wendung“ nach. 132 Vgl. Johann Peter Süßmilch: Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben. Zwote und ganz umgearbeitete Ausgabe. Zwei Teile. Berlin 1761f. Vgl. Stefan Lorenz: Skeptizismus und natürliche Religion. Thomas Abbt und Moses Mendelssohn in ihrer Debatte über Johann Joachim Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘, in: Michael Albrecht / Eva J. Engel / Norbert Hinske (Hg.): Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit. Tübingen 1994, 113–133, hier

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keine von außen gesetzte Norm, sondern sie beruht auf dem subjektiven Gefühl einer objektiven Ordnung, der man nicht entgegenhandeln darf.133 Denn eine durch Religion oktroyierte Moral (und sei sie noch so wahr) widerspräche dem freifließenden Progreß der Aufklärung. Religion muß in den Dienst des Staates treten. Diese evidente Diskrepanz zur Argumentationsstruktur, die Mosers Beherzigungen prägt, belegt auch Abbts von Biester überlieferte Absicht, „Gegenbeherzigungen“ zu schreiben.134 Für die Frage der Rehabilitierung von Vorurteilen wird entscheidend, daß Abbt die anthropologiebasierte Argumentationsfigur der Sozialisierung stärkt. Eine Lösung für die philosophische Aporie scheint sich anzudeuten. Diese Selbstverständigung über Reichweite und Funktion interdiskursiver Argumente, die Abbt gleich zu Beginn seines Essays unternimmt, bildet den Hintergrund für Abbts Beantwortung der Berner Preisfrage: „Nichts leichter, als verschiedene der schwersten Fragen zu beantworten: so bald man nur die Natur des Menschen, die Beschaffenheit der Dinge neben ihm, und die Verhältnisse, die daraus für ihn entspringen, ausser Acht lassen will!“135 Man könne sich auf „Orakel“ und „Einbildungskraft“ verlassen, anthropologische Erkenntnis ohne empirische Basis suchen, komme dann aber nicht zu befriedigenden Ergebnissen.136 Die Natur des Menschen entspricht bei Abbt der integrativen Verbindung von Körper und Seele. Damit fokussiert er den inhaltlichen Zentralbereich der zeitgenössischen anthropologischen Diskussion: die Debatte um das commercium mentis et corporis. Abbt verbindet diese unmittelbar mit dem Primat der Sinne: „Erst Empfindungen und Gefühl; dann Gedanken und Nachsinnen.“137 Wissen über den Menschen ist notwendig für Erkenntnisprozesse schlechthin. Diese methodologische Perspektive suggeriert bereits einen potentiellen Primat der anthropologischen Menschenkenntnis über die metaphysische Spekulation: „Keine Kentnis ist für uns wichtiger, als die S. 122. Abbt tendiert zu deistischen Positionen, die allerdings keine vollständige Abwendung von der christlichen Bestimmung des Menschen bedeuten. Vgl. Abbt: Zweifel; Otto Gruber: Herder und Abbt. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. Marburg 1934, S. 46f.; Bödeker: Abbt: Patriot, S. 229. 133 Vgl. Gruber: Herder und Abbt, S. 8. 134 Vgl. Biester: Vorbericht, S. XXXVf. Abbt bespricht auch Mosers Gesammelte moralische Schriften kritisch. Er reklamiert übertriebene „Dreistigkeit“, „selbstausgedachte Urtheile“ sowie unnötige und falsche Wiederholungen. Vgl. [Thomas Abbt:] Friedrich Carls von Moser gesammelte moralische und politische Schriften. Bd. 2 [...], in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 2 (1766). 1.St., 3–19, hier S. 3f. 135 Abbt: Abhandlung, S. 137f. 136 Vgl. ebd., S. 138. 137 Thomas Abbt: Von dem Einflusse des Schönen auf die strengern Wissenschaften, in: Thomas Abbt: Vermischte Werke. 4.Th. welcher vermischte Aufsätze enthält. Berlin / Stettin 1780, 25– 58, hier S. 41. Vgl. auch Gruber: Herder und Abbt, S. 14f., Jan Rachold: Die aufklärerische Vernunft im Spannungsfeld zwischen rationalistisch-metaphysischer und politisch-sozialer Deutung. Frankfurt/M. 1999, S. 182. Daß Abbt die Aufwertung der Sinne aus dem französischen Materialismus übernommen habe (vgl. ebd., S. 183), trifft nicht zu. Abbt kennt auch Baumgarten, Meier und Shaftesbury.

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Kentnis unser selbst; keine Philosophie erheblicher, als diejenige, welche den Menschen zum Gegenstand hat.“138 Doch der anthropologische Diskurs umfaßt für Abbt mehr als nur die Frage nach dem Verhältnis von Körper und Seele. Er schließt ausdrücklich auch die auf den Menschen bezogenen und die von diesem ausgehenden Relationen ein und wird so zu einem relationalen. Nachdem Abbt die Möglichkeit widerlegt hat, daß Anthropologisches völlig außer acht gelassen werden könne, sieht er sich zu einer pragmatischen Reduktion der Komplexität der anthropologischen Faktoren genötigt. Er beschränkt seinen Untersuchungsschwerpunkt: auf die Stellung des Menschen in der Gesellschaft, mithin auf einen Teil der „Verhältnisse, die daraus (aus den Beschaffenheiten der Dinge neben dem Menschen, R. G.) für ihn entspringen“.139 Diese Restriktion soll keine allgemeinverbindliche Definition bieten. Sie verankert die sozialisierende Perspektive ausdrücklich in der lebensweltlich-anthropologischen Beobachtung, daß es subjektiv unterschiedliche Bestimmungen des „Guten“ geben kann. Die Erkenntnisqualität ist dabei abhängig von der Qualität des Subjekts und von den übrigen Kenntnissen, den Einflüssen von Natur, gesellschaftlicher Stellung, Erziehung. Diese „schlingen sich einander zu einem Ganzen“, das nicht nur das gesamte Spektrum anthropologischer Einflußfaktoren umfaßt,140 sondern auch Handlungsmotivation im praktischen Leben schafft. Abbt positioniert sich ausdrücklich „ausserhalb der Schule“,141 da er diskursive Relevanz zur Klärung erkenntnispraktischer Fragen nicht mehr der philosophischen Logik und der akademischen Erkenntnistheorie zuschreibt, sondern auch Resultate schwacher, irriger oder unklarer Erkenntnis gelten läßt. Der Prozeß relationaler Erkenntnisgewinnung abseits der Logik ist entscheidend bestimmt durch die Stellung, „die er (der Mensch, R. G.) von seiner Geburt an auch in der bürgerlichen Gesellschaft nimmt, und durch seine Erziehung sich vollends recht eigen macht.“142 Den popularphilosophischen Topos, Sokrates habe mit einer „Kette“ die Weltweisheit vom Himmel herabgezogen, transferiert Abbt zu einer Kritik an der metaphysischen Interpretation des Chain of being-Gedankens: Man müsse sich um das „nahe Ende“ der Kette kümmern.143 Damit verbindet Abbt anthropologische

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Thomas Abbt: Von dem verschiedenen Gebrauch der alten Geschichte, in: Wöchentliche Hallische Anzeigen 1760, Nr. XII, 24. März, Sp. 177–187, hier Sp. 185. 139 Abbt: Abhandlung, S. 138. 140 Vgl. ebd., S. 140f. 141 Ebd., S. 140. 142 Ebd. 143 Vgl. ebd., S. 139. Das Bild, Sokrates habe als erster die Philosophie vom Himmel herabgezogen, stammt aus Ciceros Tusculanae disputationes. (Marcus Tullius Cicero: Gespräche in Tusculum. Lat.-dt. Neu hg. Olof Gigon. München 21970, 5. Buch, § 10, S. 324.) Es wird zu einem der zentralen Bilder der deutschen Popularphilosophie. Vgl. Böhr: Philosophie für die Welt, S. 29.

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Erfahrungsräume mit dem popularphilosophisch-pragmatischen Anspruch der deutschen Spätaufklärung.144 Daß, diese Prämissen vorausgesetzt, eine begriffliche Zuspitzung des Vorurteilsdiskurses nicht weiterhilft, um die Frage zu klären, welchen Maßstab es für die Erkenntnis „guter“ Vorurteile gebe, bildet den Ausgangspunkt für Abbts tentative Begriffsdefinition, die sich geradezu selbst aufhebt. Abbt sehe nicht, „was für Licht eine bloße Worterklärung“145 geben würde. Diese vermeintlich beiläufige Metapher konstatiert eine erkenntnispraktische Differenz zwischen reiner Logik und praktischer Aufklärung. Denn der von Abbt nun angeführten, konventionellen Definition wird zugleich eine begrenzte Reichweite zugestanden.146 Praktischen Erkenntnisgewinn verspricht, nach der psychischen Fundierung von Vorurteilen und damit nach deren Ursache zu fragen: „Hingegen muß uns die Aufmerksamkeit, die wir dem Ursprunge und dem Anwachse der Vorurtheile in unserer Seele widmen, nothwendig viel weiter führen; [...]“.147 Konsequent erteilt Abbt rein logischen Definitionsversuchen eine Absage. Vielmehr leitet er die definitorische Basis seiner Vorurteilstheorie erkenntnispsychologisch ab.148 Charakteristisch für Abbts Argumentation ist, daß er dabei Meiers Formalisierung des Vorurteilsbegriffs definitorisch erweitert, indem er psychische Entstehungsmechanismen formal falscher Schlüsse anführt, die mit erkenntnistheoretischen Begrifflichkeiten beschrieben werden können und die dennoch die diskursformative Potenz des sensualistischen Arguments für unhintergehbar erklären. Abbt unterscheidet drei Ursachenklassen von Vorurteilen: Empfindungen, bei denen Verwechslungen oder die Ablösung von Urteilen von Empfindungen (formal) falsche Vorurteile generieren; „Urtheile, deren Subjekte wir blos dem Namen nach kennen“,149 bei denen ein fehlender Erkenntnisschritt, die mangelnde Erwägung der inneren Wahrscheinlichkeit, zu Vorurteilen führt; schließlich Urteile, deren falsche abstrakte Prädikate aus bekannten sinnlichen Eigenschaften gewonnen werden. Diese vermeintlich strikt logische Trennung bedeutet indes nicht, daß er zu einem materialen Vorurteilsbegriff zurückkehrte. Denn Abbt sondiert Entstehungsmechanismen, die gleichermaßen zu falschen wie zu wahren Urteilen führen können. Als hochgradig problematisch erweise sich sogar, daß Einzelurteile in der Lebenspraxis nicht separierbar seien, sondern „mannichfaltig untereinander geknetet, und folglich so genau vermenget“ seien.150 Dies hat zur Folge, daß „selten eines (ein Urteil, R. G.) geradehin für falsch erklärt wird, ohne zwanzig oder hundert andre, die nach der

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Vgl. zur Hinwendung Abbts zu Fragen der praktischen Lebensführung und der auf sie bezogenen ethischen und politischen Reflexionen Bödeker: Abbt: Patriot, S. 230f. 145 Abbt: Abhandlung, S. 142. 146 Vgl. ebd., S. 142f. 147 Ebd., S. 143. 148 Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 238. 149 Abbt: Abhandlung, S. 144. 150 Ebd., S. 148.

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nämlichen Analogie gemacht, und oft wahr sind, falsch scheinen zu lassen, [...]“.151 Der Vorurteilsdiskurs weitet sich erstmals zu einem Urteilsdiskurs aus. Doch mit der Anerkennung der anthropologischen Reichweite der Vorurteilsproblematik, die auch hier über die Formalisierung des Begriffs vermittelt wird, wird das Problem der Komplexität der interdiskursiven anthropologischen Argumente erst virulent. Abbt ist sich des Dilemmas bewußt, das durch die Gleichzeitigkeit von Formalisierung, Anthropologisierung und Verlebensweltlichung des Vorurteilsdiskurses entstehen muß – zumindest solange, bis kein Modus gefunden ist, wie psychische Widerständigkeiten dauerhaft und sicher überwunden werden können. Abbt reduziert argumentativ die komplexen externen Bedingungen, die den Menschen beeinflussen, auf das soziale System der ihn betreffenden Gegenwart, das bereits existierende Ständesystem, indem er den Pragmatismus der Spätaufklärung funktionalisiert. Da in jeder bürgerlichen Gesellschaft Stände eingeführt sind, sei es Aufgabe jedes einzelnen, sich und sein Denken innerhalb des Ständesystems einzuordnen.152 Wahrnehmungs- und Urteilsprozesse unterliegen damit vorrangig sozialen Standortbedingungen: „eine jede so gewählte Beschäftigung macht den Standort eines Menschen aus, von welchem her die Gegenstände, und folglich auch die Ideen derselben um ihn herumliegen.“153 Diese sozialisierende Argumentationsstrategie wird ausdrücklich aus anthropologiebasierter Komplexität gewonnen. Gesellschaft nimmt unmittelbaren Einfluß auf das Individuum und auf dessen Urteilsprozesse. Wenn dieser Einfluß unvermeidbar ist (im Hintergrund steht hier die undiskutierte naturrechtliche Annahme des Menschen als sich sozial organisierendes Wesen), besteht eine legitime Forderung der Regierung darin, daß Bürger in ihrem Handeln, nicht nur in ihrem Urteilen, der gewählten Beschäftigung und der intrinsischen Motivation der „Denkungsart“ folgen sollen: „Diese Denkungsart begreift also nebst den Regeln oder Sätzen zum Handeln, auch die Bewegungsgründe, woraus der Antrieb dazu herkömmt; [...]“.154 Da Abbt nicht zwischen öffentlichem und Privatgebrauch der Vernunft unterscheidet,155 mithin die Reichweite sozialisie151 152 153 154 155

Ebd., S. 148f. Vgl. ebd., S. 149f. Ebd., S. 150f. Ebd., S. 152. Genau genommen, bietet auch Kants diesbezügliche Differenzierung keine grundsätzliche Lösung für das Problem öffentlicher Meinungsäußerung. Denn seine Unterscheidung bezieht nur den wissenschaftlich-öffentlichen Diskurs und den privat-beruflichen (im Staatsdienst) mit ein, unterschätzt aber den entscheidenden Diskursraum der Spätaufklärung: die nicht-wissenschaftliche, aber öffentliche Auseinandersetzung von Personen, die nicht im Staatsdienst stehen und sich nicht vertraglich auf gemeinsame Ziele verpflichtet haben. Vgl. zu dieser Bestimmung des „Privaten“ bei Kant Schmidt: The Question of Enlightenment, S. 288.) Zudem bleibt Aufklärung auf den religiösen Diskurs und mit Abstrichen auf die Gesetzgebung beschränkt. Die „bürgerliche Öffentlichkeit“ umfaßt mehr als nur die akademische Öffentlichkeit. Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt/M. 41990, S. 81f., 86f., 181f.

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render Diskursstrategien nicht differenziert, reduziert die ständische Denkungsart den anthropologischen Zusammenhang des Menschen mit der Natur und mit den außerindividuellen Umständen auf die vorgegebene Gesellschaftsstruktur. Dies ist ein selbst gewählter Gesichtspunkt, über dessen reduktiven Charakter für Abbt kein Zweifel besteht, der sich aber als notwendig zur Vermeidung vorurteilsrehabilitierender Aporien erwiesen hat: „Man erinnere sich immer an den Gesichtspunkt, aus dem ich die ganze Frage, gleich vom Anfange an, betrachtet habe. Bürgerliche Gesellschaft! Politische Verfassung! Der Mensch nicht nur Mensch, sondern auch Bürger!“156 Die Positionierung des Menschen innerhalb des eigenen Standes wird zum Hebel für Abbts Argumentation, die die individuelle anthropologische Konstitution, um deren Relevanz Abbt durchaus weiß, vernachlässigt.157 Die motivationale Basis für ein an soziopolitischen Gegebenheiten orientiertes Handeln wird im Idealfall durch einen anthropologischen Prozeß geschaffen, der sich die Widerständigkeit von Affekten und Neigungen zunutze macht: Die „Einprägung wohlgewogener Neigungen“, mit anderen Worten: die Installierung von Vorurteilen, die nach Reflexion für notwendig gehalten werden, ist für Abbt der Idealfall der aufklärerischen Didaxe, die sich der „Ordnung der Regierung“ verpflichtet.158 Doch ist auf der anderen Seite die Verankerung abstrakter, rational nachvollziehbarer Wohlverhaltensvorschriften nicht immer möglich.159 Ein Hindernis für das angestrebte Ziel stellt dies aber nicht dar, denn der rationale Nachvollzug abstrakter Verhaltensvorschriften ist für Wohlverhalten nicht notwendig. Auch hier zeigt sich Abbts pragmatische Orientierung am Staatswohl: Bleiben nur die Menge und die Stärke der Bewegungsgründe erhalten, die die Gesellschaft den Menschen zu ihren Handlungen einprägen muß, „so ist die Einrichtung ihres Denkens und ihrer Kenntniß gut. Denn was ist gut? Das unfehlbar, was die beste Ordnung nicht störet.“160 Eine Aufklärung, die die Ordnung der Gesellschaft als (rational) legitimierte ansieht, nutzt die anthropologische Anfälligkeit des Individuums zur Verankerung gesellschaftsstabilisierender Meinungen. Doch fungiert dieses affirmative Staatsverständnis hier lediglich im Rahmen sozialisierender Argumentationsstrategien, die sich als Reduktion von Komplexität verstehen. Denn daß es außerhalb der den Menschen beeinflussenden sozialen Faktoren noch andere anthropologische Konstanten gibt, ist ebensowenig ausgeschlossen wie die Vorstellung, daß die soziale Ordnung immer konstant bleiben müsse. Abbt intendiert eine pragmatische Verknappung der Problematik, welchen Maßstab man für eine unvermeidbare Rehabilitierung der Vorurteile zugrundelegen könne. Dabei liegt ein 156 157

Abbt: Abhandlung, S. 167. Ähnlich strukturiert Abbt auch seine Antwort auf die Frage nach der Bestimmung des Menschen. Vgl. Bödeker: Abbt: Patriot, S. 229ff. 158 Vgl. Abbt: Abhandlung, S. 152f. 159 Vgl. ebd., S. 156. 160 Ebd. Menges: Nationalgeist, S. 112, weist zurecht darauf hin, daß dieser Ordnungsgedanke Moser und Abbt gemeinsam ist.

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funktionales Verständnis zugrunde, das Vorurteile an ihre positive Wirkung für die Gesellschaft bindet, nicht an materiale Aspekte logischer Wahrheit oder Falschheit. Auf der Grundlage eines formalisierten Vorurteilsbegriffs kann ihre positive Funktion, ihre „relative Güte“ in den Blick geraten, die allerdings an das aktuelle Verständnis einer relativen Aufklärung gebunden ist.161 Von dieser positiven Funktion der Vorurteile leitet sich auch das adäquate Verhalten ihnen gegenüber ab. Abbt argumentiert hier in der Struktur parallel zu seinem Essay Vom Verdienste.162 Zur Spezifizierung des Begriffs der „Ehrerbietung“, der auch von den Bernern zur Kennzeichnung einer möglichen Verhaltenspräskription gebraucht wurde, orientiert sich Abbt an der nicht-deutschen Semantik, die „Ehrerbietung“ als Verhalten versteht, das sich an situativen Optionen des Beurteilten orientiert. Ehrerbietung bedeutet „gewisse Eigenschaften, unter denen Umständen worunter sie sich äussern, nicht abändern oder bessern zu wollen, sondern ihren Werth nach der Möglichkeit desselben schätzen.“163 Eine ehrerbietige Reaktion verlangt mithin Schweigen gegenüber Vorurteilen, die als funktional für die Gesellschaft erkannt worden sind. Ein solches Verhalten ist einem Stand angemessen, der in der Lage ist, aus politischen Notwendigkeiten abstrakte Handlungsmaximen abzuleiten.164 Eine so geäußerte Ehrerbietung müsse in „Liebe zur Ordnung, zur Weltordnung, zur Societätordnung“165 gründen. Damit sind soziopolitisch affirmative Kriterien für rehabilitationsfähige Vorurteile benannt. Erfüllt ein Vorurteil diese Kriterien nicht, entfällt die positive Vorannahme der Ehrerbietung und damit auch die Verpflichtung zum Schweigen.166 Entscheidend ist mithin der funktionale Aspekt. Die Rehabilitierung von Vorurteilen wird an gemeinschaftliche und individuelle Zwecke gebunden. Zu den gemeinschaftlichen rechnet Abbt: die Sorge jedes Bürgers für die Erhaltung und Vermehrung seines Eigentums und die Sorge für das Ganze im Verhältnis zu seinem Eigentum. Zu den besonderen zählt er das Einpflanzen der Liebe zum Geburtsland, die Befestigung der Neigung zur bestehenden Regierungsform und das Anflammen von Eifer.167 Diese soziopolitisch-affirmative Liste bildet die funda161

Abbt: Abhandlung, S. 158. Vgl. auch ebd., S. 160. Vgl. Menges: Vorteil, S. 167, ders.: Nationalgeist, S. 113, Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 239f. Sauder zeigt, daß der Begriff der „verhältnismäßigen Aufklärung“ auch der Abgrenzung der Aufklärer gegenüber den niederen sozialen Schichten dient: Dies steht für Abbt, anders als für Moser, nicht im Zentrum. Vgl. Sauder: Verhältnismäßige Aufklärung, S. 116. 162 Vgl. Thomas Abbt: Vom Verdienste. 3.Aufl., in: Thomas Abbts vermischte Werke. 1.Th. welcher die Abhandlung vom Verdienste enthält. Berlin / Stettin 1772, 1–316. 163 Abbt: Abhandlung, S. 159. Dem entspricht die Differenzierung zwischen dem französischen und dem deutschen Wortgebrauch von „Tugend“ – nach dem Handlungsresultat versus nach der Handlungsmotivation; vgl. Abbt: Vom Verdienste, S. 203. 164 Vgl. Abbt: Abhandlung, S. 162f. 165 Ebd., S. 165. 166 Vgl. ebd. Schneiders bleibt in dieser Hinsicht unpräzise. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 240f. 167 Vgl. Abbt: Abhandlung, S. 168f.

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mentale Prämisse in Abbts Beweiskette. Denn sie selbst gewinnt den Status eines unbefragten Theorems. Die soziopolitische Argumentation resultiert aus der gezielten Reduzierung anthropologischer Komplexität. Da nur eine restringierte Auswahl anthropologiebasierter Argumente wahrgenommen wird – um, wie Abbt betont, den Erfordernissen der Preisfrage gerecht zu werden –, kann die grundlegende Ambiguität anthropologischer Argumente und die hieraus notwendig spezifisch skeptische Erkenntnisform nicht zur Geltung kommen: Affirmation ergibt sich zwingend aus Restriktion. Abbt vermeidet es jedoch, konkrete erhaltenswerte Vorurteile zu nennen. Vielmehr entwickelt er anhand ihrer Funktion für die Gesellschaft aus den Kriterien – unter der Prämisse seines bewußten anthropologischen Reduktionsprozesses – eine Typologie, Klassen von Vorurteilen, die „gut“ seien. Hierzu rechnet er Vorurteile, die dem Bürger eine Liebe zum Leben einprägen, solche, die die Sorge für die Kinder bestärken, Vorurteile, die aufmuntern, auf einen guten Namen und auf die Ehre der Mitbürger zu sehen, Vorurteile, die dazu anreizen, Mittel zu Vermehrung des Eigentums zu suchen.168 Vorurteile sind aber auch gut, die die Sorge für Leben, Vermögen, Ehre jedes Mitbürgers erwecken, die den Bürger anreizen, sein Leben für den Staat aufzuopfern, die ihn veranlassen, über andere mit Milde und Nachsicht zu urteilen. Vorurteile, die die Liebe zu seinem Geburtslande bestärken, die den Bürger überzeugen, daß er nach der bestehenden Regierungsform am besten regiert werde, auch Vorurteile, die den Bürger überzeugen, daß die Unternehmungen seines Oberherrn vom Glück begünstigt seien, und schließlich schlechthin Vorurteile, die Denken und Handeln des Bürgers in Übereinstimmung mit der Regierung bringen, zählen gleichfalls zu den erhaltenswerten Vorurteilen.169 Sie regeln das soziale Miteinander auf vertikaler wie auf horizontaler Ebene, indem sie sich am Gedanken der Befriedung des Vorhandenen orientieren und diesen zu großen Teilen von der tatsächlichen Performanz der Regierung ablösen.170 Die Verantwortung des Bürgers geht dabei ausdrücklich über die Grenzen seines eigenen Standes hinaus, indem sein Verhalten auch am Gesamtwohl des Staates orientiert wird.171 Mäßigung ist dabei notwendig, Mißbrauch kann nicht toleriert werden. Auf dieser funktionalen Grundlage kann die Frage, ob Vorurteile erhalten werden sollten, innerhalb eines sich am Sozialen messenden Argumentationsraumes beantwortet werden. Religiöse Überzeugungen spielen als Begründungszusam-

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In diesem Bereich warnt Abbt gleichzeitig aber vor schädlichen Vorurteilen. Vgl. Abbt: Abhandlung, S. 169ff. Die Frage des Maßstabs der Restitution stellt sich hier erneut, etwa im Vergleich mit der Wochenschrift Das Reich der Natur und der Sitten. Dort wird davon abgeraten, „ohne Einschränkung eine lasterhafte Regierung, oder den Prinzen, welcher einige Fehler begehet, zu lästern.“ Das Reich der Natur und der Sitten, 9.Th. (1761), 298.St., S. 116. Wann Kritik legitim ist, wird auch in Abbts Abhandlung nicht präzisiert. 171 Vgl. Bödeker: Abbt: Patriot, S. 233. Dies unterscheidet den Bürger vom Untertanen.

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menhang bei Abbt keine Rolle mehr. Er lehnt Mosers Fundierung in religiöser Moral ausdrücklich ab. Insbesondere didaktische Anstrengungen sollten am soziopolitischen Zusammenhang orientiert werden, durch den sie garantiert werden, nicht am religiösen: „Lehrer der Religion, denket doch, daß ihr von der Societät zu diesem Lehramte berufen seyd; und unterrichtet für sie den Bürger, und nicht blos den Christen!“172 Dies gilt auch insbesondere für den Fall, daß auf funktionalem Weg Vorurteile als für den Staat nützlich und damit erhaltenswert eingestuft werden, die im Widerspruch zur christlichen Religion stehen. Aufgabe des Religionslehrers wäre es dann, „bessere Gründe unterzuschieben.“173 Das Vorurteil als Handlungsmotivation könnte dann durch religiösem Empfinden adäquate motivationale Grundlagen ersetzt werden, aber das Handlungsziel, das sich am funktionalen Zugewinn der bestehenden politischen und sozialen Struktur orientiert, ändert sich nicht. Unter dieser Prämisse stellt sich die Frage nach den Vorurteilen der Religion selbst nicht, da deren funktionaler Wert für die politische und soziale Organisation den Maßstab für eine potentielle Erhaltung darstellt. Dies widerspricht sowohl dem vorwiegend in Frankreich virulenten Bemühen, Vorurteile der Religion zu destruieren, als auch der von Moser eingeführten Hierarchie moralischer Präskriptionen. Das Staatshandeln soll bei Abbt nicht durch religiöse Normen limitiert werden, sondern durch verbindliche legislatorische Akte.174 Sozialisierung bleibt nicht die einzige anthropologiebasierte Argumentationsfigur, die Abbt zur Beantwortung der Frage nach den erhaltenswerten Vorurteilen nutzt. Denn im engen Zusammenhang mit jener steht die Auflösung der sozialen Statik, werden potentielle historische Wandlungen berücksichtigt – eine Frage, die zwar in der Berner Formulierung selbst nicht angedeutet war, deren Relevanz sich allerdings durchaus aus der menschheitsgeschichtlichen Perspektivierung der Berner Preisfragen bei Isaak Iselin175 erschließen läßt. Im Zuge der Präferenz empirisierenden Vorgehens proklamierte Abbt schon 1760 den sammelnden Rückblick auf historische Ereignisse als Beobachtungsmaterial, das erkenntnissichernd wirksam werden kann.176 Doch zielt Abbt damit letztlich nicht auf eine retrospektive Historisierung, die sich der unterschiedlichen zeitgenössischen Standpunkte in der Vergangenheit 172 173 174

Abbt: Abhandlung, S. 180. Vgl. hierzu Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 242. Abbt: Abhandlung, S. 179. Vgl. Bödeker: Abbt: Patriot, S. 238. Gewissermaßen eine unpräzise Mischung dieser Argumente, verbunden mit aufklärerisch-rationalem Optimismus, präsentiert eine andere Antwort auf die Berner Preisfrage: Vgl. [Anonym:] Reponse A deux Questions, S. 22f. Vorurteile, die die Religion betreffen, aber keinen Schaden anrichten, sollten erhalten bleiben. Auch solche religiösen Vorurteile, zu denen die Vernunft nicht durchdringen könne, die also anthropologisch widerständig sind, werden rehabilitiert. Die inhärente Problematik der Komplexität anthropologiebasierter Faktoren, die Abbt durch die vorgängige Reduktion auf sozialisierende Argumentationsstrategien zu lösen sucht, wird hier nicht erkannt. 175 S.o. S. 151. Vgl. Abbt: Abhandlung, S. 141, 181. Abbt selbst gesteht zu, die Frage scheine „dem ersten Anblicke nach nicht zur Hauptfrage zu gehören.“ (Ebd., S. 141). 176 Vgl. Abbt: Von dem verschiedenen Gebrauch, Sp. 185.

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versichert. Für Abbt stellt sich im Essay über die Vorurteile vielmehr abschließend die Frage nach der zukünftigen Dauer der nun funktional bestimmten Rehabilitierung. Der geschichtliche Wandel von Begründungsmustern wie auch von Staatsund Regierungsformen ist nicht zu leugnen, wie Abbt anführt: Beim Blick auf die „Geschichte des menschlichen Verstandes“177 könne man feststellen, daß sich Licht und Schatten auf der Erde ändern.178 Mit diesen zentralen aufklärerischen Metaphern rückt die prospektive Historisierung als Wahrnehmungsperspektive in den Blick, die es gleichzeitig ermöglicht, den Prozeß der Rehabilitierung von Vorurteilen mit dem Progreß der Aufklärung eng zu verknüpfen: So wie die Macht dieser Erde ihre Perioden hat, während derer sie sich in Einem Lande aufhält, und nach deren Verfliessung sie mit eisernen Füssen, deren Tritte ihren bisherigen Aufenthalt zerquetschen, in andre Gegenden wandert; auf die nämliche Art geht auch das Licht der Erkentniß von einem Volke zum andern fort, [...].179

Das Argumentationsverfahren prospektiver Historisierung vollzieht sich hier im naturalisierenden Modus, der die gemeinsame anthropologische Grundlage beider Argumente umso deutlicher macht.180 Denn analogisch wird aus dem natürlichen Wandel von Licht und Schatten sowohl der Wandel politischen Einflusses (oder politischer Verhältnisse schlechthin) als auch die Veränderung von Erkenntnisstufen, mithin von Aufklärung, abgeleitet. Entscheidend für den Geschichtsschreiber ist, genau anzugeben, welchen „geographischen Punkt“ er einnimmt und „von Zeit zu Zeit den Leser daran [zu] erinnern, wie weit wir mit einander fortgerückt sind.“181 Die historisierende Umorientierung auch der Geschichtsmodelle selbst (vom zyklischen zum progressiven) bedingt eine neue Reflexivität der Aufklärungskonzeption, die sich nun unter der Perspektive eines historischen Wandels die Frage nach der zukünftigen Aufklärung stellen kann und die sich dabei dennoch der tendenziellen Kontingenz ihrer Erkenntnis bewußt bleiben muß.182 So entscheidet letztlich der Fortschritt der Aufklärung, wie lange die soziopolitisch funktionalisierte Rehabilitierung von Vorurteilen andauert. Abbts Rehabilitierung von Vorurteilen spricht sich somit nicht nur von jeglichem gegenaufkläre-

177 178 179 180

Abbt: Abhandlung, S. 181. Vgl. ebd., S. 182f. Ebd., S. 182. Die enge Verbindung von Psychologie und Geschichtsschreibung in Abbts Vom Verdienste betont Gruber: Herder und Abbt, S. 41. 181 Vgl. Thomas Abbt: Plan einer allgemeinen Weltgeschichte, in: Thomas Abbts vermischte Werke. 6.Th. welcher Briefe und Fragmente enthält. Berlin / Stettin 1781, 137–140, hier S. 137. 182 Vgl. Hans Erich Bödeker: Prozesse und Strukturen politischer Bewußtseinsbildung der deutschen Aufklärung, in: ders. / Ulrich Herrmann (Hg.): Aufklärung als Politisierung – Politisierung der Aufklärung. Hamburg 1987, 10–31, hier S. 12f., Menges: Nationalgeist, S. 105ff., unterscheidet überzeugend zwischen dem prospektiven und dem retrospektiven Blick auf die Geschichte, weist allerdings nur dem rückwärtsgewandten die Möglichkeit zu, selbstaufklärerische Prozesse zu initiieren.

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risch-konservativen Irrationalismus los, sondern verankert sich auch in der grundsätzlichen Befangenheit der aufklärerischen Vorurteilskritik selbst – aus anthropologischen Gründen.183 Die Entscheidung darüber bleibt dem aufgeklärten Individuum überlassen, das sich im Progreß der Aufklärung von jeglicher Bevormundung befreit: „der Kopf des Lesers muß in den Stand gesetzt werden, dergleichen (perspektivische Schlüsse, R. G.) [...] selbst herauszubringen.“184 Hier deutet sich der Übergang zu transformierenden Diskursformen der Vorurteilsdebatte bereits an, die es schließlich ermöglichen wird, daß aufklärerische Selbstreflexion elementar an den Vorurteilsdiskurs gebunden wird. Für Abbts Abhandlung aber ist der Zielpunkt noch unstrittig, der die Problematik der Vorurteilsrehabilitierung lösen wird. Im Zuge aufklärerischen Fortschritts, der die Beziehungen zwischen unbekannten Völkern verstärken und damit die Optionen multiperspektivischer Erkenntnis erhöhen wird, stellt sich der Prozeß der Befreiung von Vorurteilen als erreichbares Ziel dar.185 „Dann verschwindet beym Aufgehen der hellen Verstandessonne jedes einzelne Vorurtheil von selbst in Nacht zurück; [...].“186 Aufklärerische „Freyheit des menschlichen Geistes“ ist eine notwendige Bedingung für den Fortschritt der Aufklärung.187 Diese wiederum muß durch den sich an Prinzipien der Aufklärung orientierenden Staat gewährleistet werden. Dieses Modell eines verantwortlichen Staatshandelns, das sich nicht an religiösen Präskriptionen, sondern an aufklärerischen Zielen orientiert, glaubte Abbt im Preußen Friedrichs zu finden.188 Abbt versteht sich dabei selbst als Aufklärer,189 doch bindet er die Rehabilitierung von Vorurteilen an die Einschätzung politischer und sozialer Ziele und Möglichkeiten. Damit indes weitet er den Bereich der Aufklärung aus: Denn Aufklärung beschränkt sich nun nicht mehr nur auf das literarisierte Bürgertum oder auf philosophierende Gelehrte, sondern wird zu einem für ökonomische und politische Bereiche essentiellen Projekt. Abbts Versuch, auf der Grundlage anthropologiebasierter Argumentationsstrategien die Frage der Rehabilitierung von Vorurteilen zu klären, weist insofern auf die Transformierung des Vorurteilsdiskurses voraus, als er prospektive Historisierung als Argument einführt und die Vorurteilsfrage damit an aufklärerische Progression 183 184 185 186 187 188

Vgl. Menges: Vorteil, S. 167, ders.: Nationalgeist, S. 113. Abbt: Plan, S. 140. Vgl. Abbt: Abhandlung, S. 185ff. Ebd., S. 187. Ebd. Vgl. Bödeker: Abbt: Patriot, S. 242. Bis in die Staatsform hinein schwebt Preußen Abbt als Vorbild für ein ideales Vaterland vor. Vgl. Bödeker: Thomas Abbt, S. 104f. Die Debatte um die Reichweite und Bedeutung der Meinungsfreiheit in Preußen gewinnt in den 80er Jahren, nach der Volksbetrugspreisfrage und schon vor den Wöllnerschen Edikten, neue Brisanz. Insofern stellt die Berner Preisfrage einen Vorläufer der Preisfrage nach dem Volksbetrug dar. Vgl. Adler: Aufklärung und Vorurteil, S. 671. S.u. S. 361ff. 189 Vgl. Bödeker: Thomas Abbt, S. 103. Zu Abbts Versuch, ein neues soziales und moralisches Verständnis der bürgerlichen Gesellschaft unter Bezug auf ein antik-republikanisches Gesellschafts- und Staatsmodell zu entwickeln, vgl. Rachold: Aufklärerische Vernunft, S. 219f., 221.

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bindet. Doch ist der Status der begrifflichen und der modalen Optionen noch an eine Reduktion anthropologischer Strategien gebunden. Abbt isoliert die anthropologiebasierte Argumentationsstrategie der Sozialisierung. Der Primat der Religion im Vorurteilsdiskurs wird als diskursextern ausgeschlossen. Indem Abbt hier demnach potentielle Formationsregeln klassifiziert und dabei theologische Argumente abwertet, wird Religion nicht mehr als formative Diskursregel, sondern bestenfalls als praktisches Anwendungsgebiet angesehen. Damit wird sie letztlich zum Objekt einer moralisierten Vorurteilsdebatte, die in die diskursive Abtrennung von Toleranzdebatte und Volksaufklärung mündet. Mit der Rezeption anthropologiebasierter Argumentationsstrategien ändern sich Modi der Wahrnehmung und der Erkenntnis. Sie führen über bisherige Konzepte der Vorurteilsdiskussion hinaus und kündigen neue Aspekte der Prozessualisierung an. Je mehr der Vorurteilsdiskurs anthropologisiert wird, desto mehr löst er sich als theoretischer Diskurs über Erkennen und Urteilen von pragmatischen Absichten. Der politische Anwendungsbereich wird zum Exemplum einer Vorurteilsdiskussion, die sich nun zunehmend Fragen nach ihrer Modalisierung stellen muß.

4.2 Die pragmatischen Schranken menschlicher Erkenntnis und ihre Folgen 4.2.1 Sozialpragmatische Zuspitzung des Vorurteilsdiskurses: G. F. Meiers Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts Anthropologiebasierte Argumentationsverfahren werden im Vorurteilsdiskurs in einem ausdifferenzierten Spektrum selektiver Prozesse wirksam. Ihre Effekte können sich überschneiden, doch eignet allen rehabilitierenden Verwendungsformen eine spezifische Mischung normativer und nicht-normativer Aspekte. Dieses Spannungsfeld von normativer Vorurteilskritik und normenfreierer Vorurteilsrehabilitierung zeichnet auch einen der wirkungsvollsten Texte zur Vorurteilstheorie der deutschen Spätaufklärung aus:190 Georg Friedrich Meier faßt in seinen Beyträgen zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts nicht nur seine eigenen Positionen aus den 1740er und 50er Jahren neu, sondern er entgrenzt auch den philosophisch-logischen Diskurszusammenhang, indem er das Inventar der Argumente der anthropologischen Wende in neuer Weise mit formal typologischen Überlegungen verbindet. Dazu bedarf es zunächst einer Entdisziplinierung. Der 190

Menges vertritt die These, Meiers Beyträge seien, von J. H. Lamberts Rezension abgesehen (s.u. S. 179f.), ohne Beachtung geblieben, und sie hätten einen marginalen Diskurs lediglich einiger Außenseiter begründet. Vgl. Menges: Nationalgeist, S. 111. Vgl. dagegen Hinske: Grundvorurteil, der die Bedeutung Meiers für die Antinomienlehre Kants herausarbeitet. Auch Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 208, betont die Bedeutung Meiers.

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Zugriff auf den Vorurteilsdiskurs gilt für Meier nicht mehr als genuines Recht der Logik.191 Die Detektion von Vorurteilen ist ein interdisziplinäres Projekt: „in allen Wissenschaften ist man bemühet, diejenigen Vorurtheile der Menschen zu entdecken, welche in den Umfang derselben gehören.“192 Expliziter als in seinen früheren Schriften nimmt Meier in den Beyträgen den Vorurteilsbegriff aus der rein logischen, materialen Wahr-falsch-Dichotomie heraus.193 Das Vorurteil wird nicht mehr als falsches Urteil bestimmt, sondern als unzureichendes Urteilsverfahren.194 Vorurteile sind eine unrichtige Art zu urteilen. Dadurch wird der Vorurteilsbegriff unabhängig vom Wahrheitsgehalt des so getroffenen Urteils. „Wenn also auch unser Verstand, auf ein Gerathewohl und blindlings, urtheilt: so kan er demohnerachtet, von ohngefähr, manchmal richtig urtheilen. Und es kan demnach, ein Vorurtheil, ein richtiges Urtheil seyn.“195 Aus logischen Gründen – da nach dem Gesetz vom zureichenden Grunde auch alle Vorurteile in der Erkenntnis des Menschen zureichend gegründet sein müßten – wendet sich Meier innerhalb des Wolffschen Systems gegen die Definition von Vorurteilen als ungegründeten (und daher falschen) Urteilen. Bezieht sich ein Vorurteil (quasi zufälligerweise) auf Wahres, so können auch wahre Urteile entstehen.196 Vorurteile sind demnach „alle diejenigen Urtheile [...], die man aus Uebereilung für wahr hält; oder, denen man seinen Beyfall gibt, ohne vorher die rechten Gründe ihrer Wahrheit erwogen zu haben.“197 Da nicht mehr die Richtigkeit oder Wahrheit des Vorurteils den definitorischen Kernpunkt darstellt, sondern das Fehlen angemessener Überprüfung, kann auch die Wahrheit des Vorurteils nicht mehr Maßstab für den Umgang mit Vorurteilen, für deren Destruktion oder Rehabilitation sein. Denn: „Die Wahrheit hanget nicht, von der Art unserer Untersuchung, ab.“198 Meier modalisiert die Vorurteilsdiskussion, indem er deren Fokus auf das Zustandekommen von Urteilen und Vorurteilen richtet. Urteils- und Vorurteilstheorie fallen dabei in eins: „Die Urtheile der Menschen sind gewöhnlicher Weise,

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Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, faßt Meiers Text als zentrale Ausprägung des „gnoseologischen Pragmatismus“ (S. 208ff.). Mit dieser Kennzeichnung ist Meiers Erkenntnisskeptizismus mit seiner Weltzuwendung verbunden, doch bilden auch die anthropologische Basis und die soziale Restriktion der Aufklärung wesentliche Merkmale von Meiers Theorie. 192 Meier: Beyträge, S. 3. 193 Vgl. auch Godel: Eine unendliche Menge, S. 549ff. 194 Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 210. Schneiders sieht hierin eine Weiterentwicklung von Wolffs Positionen. Zum Verhältnis von Meier und Wolff s.o. S. 102. M. E. hat zur Genese des formalen Vorurteilsbegriffs bei Meier entscheidend die im Vergleich zu Wolff weit umfassendere Rezeption des anthropologischen Interdiskurses beigetragen. Auch die Loslösung der Vernunft vom Intellekt bewirkt eine Neustrukturierung der Vermögenslehre. Vgl. Schenk: Leben und Werk, S. 107. 195 Meier: Beyträge, S. 21. 196 Vgl. ebd., S. 15, 21. 197 Ebd., S. 7. 198 Ebd., S. 21. Vgl. hierzu auch Hinske: Grundvorurteil, S. 113f.

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und in den meisten Fällen, nichts anders als Vorurtheile.“199 Auch der Schaden der Vorurteile liegt daher vorwiegend im modalen Bereich, nämlich erstens in der „Scheingewißheit“, die weitere Untersuchung überflüssig scheinen läßt; zweitens in der Entwicklung der Fertigkeit des Verstandes, aus Übereilung zu urteilen, also schnelle, voreilige Entscheidungen zu treffen; drittens in der auf der affektiven Wirkung der Gewohnheit basierenden Entwöhnung, nach echten Gründen zu urteilen.200 Vorurteile beeinflussen demnach, wenn sie wirksam werden, die affektive Steuerung von Erkenntnisprozessen. Darüber hinaus überwiegen affektive Aspekte die rationale Reflexion: „Was helfen die vernünftigen Beweise wider die Hexereyen, wider die Bedeutung der Cometen, bey den meisten Leuten?“201 Daß die Ratio in diesen beiden Bereichen nicht wirkungsvoll ist, ist ein bereits bekanntes Argument. Pierre Bayle, auf dessen Pensées diverses sur la comète Meier hier anspielt, gibt sich keinen Illusionen hin: „Qu’on raisonne de son mieux avec des gens preoccupez de ces pensées, on n’y gagnera jamais rien.“202 Bayle sucht, um die Vorurteile über die negative Vorbedeutung einer Kometenerscheinung auszutreiben, deren Gegensatz zum christlichen Glauben herauszuarbeiten. Auch Thomasius argumentiert in seinen Schriften zur Kritik der Hexenverfolgung theologisch.203 Den Glauben an Hexen und Zauberei führt er auf das „Vorurtheil menschlicher auctorität“ zurück, das er mit seiner Dissertation Vom Ursprung und Fortgang des Inquisitions Processes Wieder die Hexen zu bestreiten sucht, indem er die Neuheit der Hexenmythen beweist.204 Da die Vernunft, die logisch Wahres von Falschem trennen könnte, nur eine beschränkte Reichweite hat, erweist sich für Meier eine detaillierte Untersuchung der Vorurteile als notwendig.205 Der philosophische Anspruch auf verstandesmäßig fundierte Vorurteilsfreiheit wird auch in der von Meier und Lange edierten Moralischen Wochenschrift Das Reich der Natur und der Sitten mit der lebensweltlichen Realität konfrontiert. „Sie (die Weltweisheit, R. G.) will uns von unsern Vorurtheilen befreyen, und an unserm Verstande arbeiten, daß er von denselben frey bleibe.“206 Dem steht aber die didaktisch-kritische Praxis entgegen: „Wo finden wir 199

Meier: Beyträge, S. 8. Vgl. zu dieser Sentenz auch Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 214f. 200 Vgl. Meier: Beyträge, S. 24f.; Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 216. 201 Meier: Beyträge, S. 26. 202 Pierre Bayle: Pensées diverses sur la comète. Édition critique avec une introduction et des notes. Paris 1911, S. 3f. 203 Vgl. Günter Jerouschek: Hexenverfolgung / Hexenprozesse, in: Werner Schneiders (Hg.): Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. München 1995, 178–179, hier S. 179. 204 Christian Thomasius: Historische Untersuchung Vom Ursprung und Fortgang des Inquisitions Processes Wieder die Hexen, Worinnen deutlich erwiesen wird / daß der Teuffel / welcher nach der gemeinen Meynung pacta mit denen Hexen macht / mit denenselben buhlet / und sie auff den Blockers-Berg führet / nicht über anderthalb hundert Jahr alt sey / [...]. Halle 1712, S. 3. 205 Vgl. Meier: Beyträge, S. 29. 206 Das Reich der Natur und der Sitten, 9.Th. (1761), 298.St., S. 114.

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einen, von keinen Vorurtheilen eingenommenen Mann, von dessen Händen man getrost und ohne Bedenken ein sicheres Lehrgebäude annehmen könne?“207 Problematisch ist hier nicht der Systemcharakter angenommener Lehrmeinungen – vielleicht ist Meier doch zu viel Wolffianer, als daß er dies bedenklich finden könnte –, sondern der Prozeß, der vor der inhaltlichen Erkenntnis liegt. Mit der Formalisierung des Begriffs und der daraus abgeleiteten Modalisierung des Diskurses entzieht Meier dem Vorurteilsdiskurs eine wesentliche regulative Norm. Denn Vorgehen, Legitimität und Grenzen der Vorurteilskritik können nun in Frage gestellt werden. Es stellt sich eine evidente Frage: Wie kann der Maßstab bestimmt werden, an dem sich der Umgang mit den Vorurteilen orientieren könnte? Die Rezeption anthropologiebasierter Argumentationsverfahren macht den Sachverhalt nicht einfacher. Doch waren jene kaum mehr von der Hand zu weisen, verankert doch Meier selbst die Kenntnis der Vorurteile explizit in der Kenntnis des Menschen: „Wer die Menschen zu kennen sucht, der kan sich leicht überzeugen, daß er so lange eine sehr schlechte Kenntniß des menschlichen Geschlechts besitzt, so lange er die Vorurtheile der Menschen nicht gehörig einsieht.“208 Denn der menschliche Charakter entstehe größtenteils aus Vorurteilen. Demnach nutze die Vorurteilslehre der „Kenntniß der menschlichen Natur überhaupt“.209 Genetisch und funktional sind Vorurteile und Leidenschaften analog. Beide gründen in den unteren Erkenntniskräften der Seele, beide sind beeinflußt vom Willen des Menschen. Damit unterliegen sie auch denselben Gesetzmäßigkeiten und vor allem denselben Steuerungsproblemen.210 Die Schwierigkeit, das Dunkle zu kontrollieren, hat zur Folge, daß Meier von Vorurteilskritik in einigen Fällen explizit absieht: „Urtheile, deren Gegenstände unerhebliche Kleinigkeiten sind, und durch welche Handlungen entstehen, auf welche beynahe Nichts ankommt“,211 könnten ohne Bedenken übereilt durch Vorurteile gefällt werden. Diese Rehabilitierung beruht auf sensualisierten Widerständen: „Es kostet ungemein viel Mühe, einem Strome, der seinen Dam niedergerissen, etwas entgegen zu bauen. So verhälts sichs auch bey grossen Leidenschaften.“212 Die affektive Verankerung von Vorurteilen trägt dazu bei, sie partiell zu rehabilitieren. Aufgrund des formalen Vorurteilsbegriffs kommt das anthropologische Argument, es sei schwierig, Leidenschaften zu steuern, zur Geltung. Die Neudefinition ermöglicht es, anthropologiebasierte Verfahren in den Vorurteilsdiskurs zu integrieren. Auch die in den Beyträgen entworfene neue Typologie der Vorurteile verdankt sich dem anthropologischen Inventar. Meier systematisiert Vorurteile weder nach den Gegenständen der Urteile noch nach ihren Ursachen, sondern nach ihren 207 208 209 210 211 212

Ebd. Meier: Beyträge, S. 4. Vgl. auch Der Mensch, T. 5 (1753), 177.St., S. 24. Meier: Beyträge, S. 5. Vgl. ausführlicher zu diesen Parallelen Godel: Eine unendliche Menge, S. 551f. Meier: Beyträge, S. 103. Meier: Theoretische Lehre, S. 307.

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zugrundeliegenden Erkenntnisarten,213 nach ihrer Herkunft aus der Erkenntnis „a posteriore“, die auf Erfahrungen und Empfindungen zurückgeführt werden kann, oder der Erkenntnis „a priore“, die auf Vernunft vertraut.214 Das Vorurteil der Erfahrungserkenntnis besteht darin, „daß unsere Empfindungen uns die Beschaffenheit und Grösse, oder eine innerliche Bestimmung der Gegenstände unserer Empfindungen, vorstellen.“215 In seinen Ausführungen zu diesem Vorurteilstypus nimmt Meier anthropologiebasierte Argumente auf: Die bei David Hume angelegte Kritik des Kausalitätsprinzips verbindet sich mit dem Gedanken der Begrenztheit menschlicher Erkenntnis schlechthin, die beide auf das Verfahren der Naturalisierung bezogen werden.216 Gewohnheit (customs) bestimmt nach Hume die Verbindung zweier üblicherweise gleichzeitig auftretender Gegenstände in der Einbildungskraft: „when we have been accustom’d to see one object united to another, our imagination passes from the first to the second, by a natural transition, which precedes reflection, and which cannot be prevented by it.“217 Auch die zugrundeliegende These Meiers, Empfindungen erzeugten Vorstellungen und Urteile, verrät die Rezeption empirisch-sensualistischer Positionen. Dabei steht Meier Lockes „nihil est in intellectu quod non ante fuerit in sensu“, das die unmittelbare Verbindung von Empfindung und Verstandeserkenntnis supponiert, näher als der Erweiterung Condillacs, der zwischen „Sehen“ und methodischem „Anschauen“ unterscheidet.218 Das Vorurteil der Vernunfterkenntnis besteht für Meier in der Annahme: „was unserer gesamten vorhergehenden Erkenntniß, die wir für wahr halten, gemäß ist, und aus derselben hergeleitet werden kan, ist wahr; was aber derselben widerspricht, ist falsch.“219 Es sei ein übliches Vorurteil, alles am Maßstab der bisherigen Erkenntnis zu messen.220 Dem Vernunftoptimismus, der aus Erfahrungen kausale Schlüsse zieht, wird ein empirisches Korrektiv beigegeben.221 213

Schon in der Vernunftlehre unterscheidet Meier zwischen logischen und ästhetischen Vorurteilen. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 211. 214 Vgl. Meier: Beyträge, S. 30. Vgl. zu Parallelen und Differenzen dieser Vorurteilstypologie zu Kant Hinske: Grundvorurteil, S. 115f. Hinske merkt an, bei Meier finde sich noch keine grundsätzliche erkenntnistheoretische oder ontologische Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand; vgl. ebd., S. 217. 215 Meier: Beyträge, S. 31. 216 Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 217f. 217 David Hume: A treatise of human nature. Hg. Ernest C. Mossner. Harmondsworth 1969, S. 197. Diese Gewohnheit führt dazu, daß alle Menschen annehmen, daß von wiederholten Einzelfällen auf andere Fälle logisch zu schließen wäre – was faktisch nach Hume nicht gerechtfertigt ist. 218 Vgl. Condillac: Abhandlung über die Empfindungen, S. 133. 219 Meier: Beyträge, S. 43. 220 Vgl. ebd., S. 44. 221 Ähnliche Argumente zeichnen auch die Wochenschrift Der Mensch aus. Vgl. Godel: Anthropologie und Fiktion. Martens kontrastiert dem Vernunftoptimismus eher die theologische Norm. Vgl. Martens: Moralische Wochenschriften in Halle, S. 90. Vgl. auch Vollhardt: Die Grundregel des Geschmacks, S. 35.

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Anthropologiebasierte Argumentationsformen bestimmen indes nicht nur die Ausdifferenzierung der Typologie – ein genuin binnenphilosophisches Problem ohne pragmatische Reichweite –, sondern auch den Umgang mit Vorurteilen. Meier greift auch in den Beyträgen auf den Topos der Verankerung der Vorurteile im Kindesalter zurück. Damit integriert er sensualisierende Argumente, die die Sinneserfahrung als ontogenetische Entwicklungsstufe gegenüber der Vernunfterfahrung aufwerten. „So lange ein Mensch ein Kind ist, das ist, so lange er den Gebrauch seiner Vernunft noch nicht erlangt hat; so lange sind, seine Urtheile, lauter Vorurtheile.“222 Denn Urteile können, wenn sie (noch) nicht durch den Verstand kontrolliert werden können, nur formal falsche Urteile, also Vorurteile sein. Wenn aber die modal-formale Falschheit eines Urteils nicht notwendigerweise die logische Falschheit nach sich zieht, kann die frühkindliche Phase der Vorurteilsbildung als natürliche Notwendigkeit bestimmt werden. Denn ein logischer Fehler würde der göttlich geordneten Natur widersprechen. Alle Urteile der Kinder sind demnach „auf eine natürlich nothwendige Art“ Vorurteile.223 Über diese ontogenetische Perspektive hinaus gelten Vorurteile für Meier als Ausgangspunkte aller menschlichen Erkenntnis. Denn erst durch Gelehrsamkeit könnten theoretisch Vorurteile vermieden werden.224 Phylogenetisch führt Meier die anthropologische These der Vorurteilsbefallenheit des Menschen an anderer Stelle allerdings auf den Sündenfall zurück.225 Dies deutet an, daß theologische Argumentationsformen auch für den Vorurteilsdiskurs Meiers Regulationsmacht beanspruchen. Meier weitet das Argument individueller Empirisierung auf die Entwicklung der menschlichen Vermögen aus. Die erwachende Vernunft unterliege immer dem Vorurteil der Vernunfterkenntnis, das annehme, daß alles, was der bisherigen Erkenntnis entspricht, gut sei.226 In der Natur der menschlichen Seele finde sich zu jeder Zeit eine „unendliche Menge dunkeler Vorstellungen“, derer sich die menschliche Seele nicht bewußt ist und die die Urteilsprozesse prägen.227 Partiell dunkle Erkenntnis ist für Meier der Normalfall.228 Der hier formulierte anthropologische Befund überträgt den Gedanken der frühkindlichen Notwendigkeit undeutlicher Vorstellungen auf das herkömmliche Denkverfahren vernunftbegabter Erwachsener. Damit verallgemeinert Meier die Unsicherheit dar222 223

Meier: Beyträge, S. 80. Ebd., S. 81. Genau genommen, unterliegen Kinder zunächst v.a. dem Vorurteil der Erfahrungserkenntnis, das an der Beobachtung der Wirkungen ansetzt und diese noch nicht zu Urteilen verbindet. 224 Vgl. ebd., S. 91f. 225 Vgl. Schenk: Leben und Werk, S. 127. Schenk bezieht sich auf Georg Friedrich Meier: Betrachtungen über das Verhältniß der Weltweisheit gegen die Gottesgelahrtheit. Halle 1759. 226 Vgl. Meier: Beyträge, S. 82. 227 Ebd., S. 97. Schon die Kennzeichnung als „Natur der Seele“ weist darauf hin, daß hier naturalisierende Argumentationsstrategien partiell rezipiert werden. 228 Vgl. Adler: Fundus animae, S. 207. Auf die Unterscheidung der Arten dunkler Erkenntnis, mit der Meier Leibniz’ und Wolffs Typologie ausdifferenziert, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Vgl. hierzu Adler: Prägnanz, S. 90f.

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über, wie stark normative Faktoren den Menschen beeinflussen. Denn mit der Prävalenz nicht-vernünftiger Vorstellungen und Urteile muß immer gerechnet werden, da die Kapazität des menschlichen Geistes beschränkt ist. Die große Menge dunkeler Vorstellungen resultiert daraus, daß in den Fundus der Seele abgesunkene Vorstellungen, die einst klar waren, nur noch dunkel und ungenau erinnert werden, sobald sich das Bewußtsein des Menschen von der Vergegenwärtigung abwendet.229 Selbstbeobachtung, die die eigene Verblendung aufdecken könnte, ist daher schwierig.230 Denn Erfahrung alleine reicht nicht aus, um sichere Erkenntnis über die eigene Vorurteilsbefangenheit zu gewinnen, da der falsche Umgang mit Erfahrung als einer der beiden Grundtypen des Vorurteils bestimmt wurde. Sensualisierend nimmt Meier an, unsere Sinne erblickten nur die Scheidewand, die zwischen den Gegenständen und den Sinnen stehe und auf der sich die „Würkungen“ der Gegenstände abbildeten.231 „Unsere Sinne erblicken nichts, als diese Scheidewand.“232 Meier dehnt die in Platons „Höhlengleichnis“ bereits angelegte These von der Subjektivität der Sinnesempfindungen auf die Empfindungen der Seele aus.233 Empirisierung und Sensualisierung schließen demnach den Zuwachs relativer Erkenntnis ein. Sie bedingen so die Notwendigkeit, die Vernunft als Gegenmittel wieder in den erkenntnistheoretischen Diskurs zu integrieren und ihr normative Funktionen zuzugestehen. Die Vernunft muß nach Meier auf die standardisierten Ziele der aufklärerischen Beobachtung, auf Selbst- und Weltkenntnis (die die Kenntnis der Vorurteile einschließt), darüber hinaus aber auch auf wohlüberlegte Schlüsse von Wirkungen auf Ursachen gerichtet werden. Urteile können per Vernunft auf grundlegende Empfindungen zurückgeführt werden und so zu klaren werden.234 Vernunft gilt gar beim Vorurteil der Vernunfterkenntnis als effektives Antidot gegen Vorurteile: Es müsse, um das Vorurteil zu vermeiden, nur „nach den Regeln der mathematischen Lehrart“ ohne Übereilung von vorne gedacht werden, bis jegliches Urteil auf den Identitäts- und den Widerspruchssatz zurückgeführt sei.235 Mit der Reintegration der Ratio in den Vorurteilsdiskurs begrenzt Meier die

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Das Absinken und Wiederauftauchen von Vorstellungen suggeriert ein Kreislaufmodell. Vgl. generell zur Bedeutung von Zirkulationsmodellen als Kategorie neuzeitlicher Wissenschaft und Wirtschaft Foucault: Ordnung der Dinge, S. 211ff., Harald Schmidt / Marcus Sandl: Einleitung, in: dies. (Hg.): Gedächtnis und Zirkulation. Der Diskurs des Kreislaufes im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Göttingen 2002, 9–21, Koschorke: Körperströme, S. 15ff. 230 Kant übernimmt die rigorose Relativierung der Selbsterfahrung von Meier. Vgl. Hinske: Grundvorurteil, S. 119. 231 Vgl. Meier: Beyträge, S. 58. 232 Ebd. 233 Vgl. ebd., S. 34, Hinske: Grundvorurteil, S. 118f. 234 Vgl. Meier: Beyträge, S. 62f., 64f. 235 Vgl. ebd., S. 67.

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Reichweite anthropologiebasierter Argumente. Gegen Locke wird Wolff wieder aufgewertet. Doch ist Meiers Konzept insgesamt trotz dieses Versuchs, die Ratio zum distinktiven Faktor zu erklären, wesentlich von den anthropologiebasierten Argumentationsverfahren der Naturalisierung, Sozialisierung, kulturellen Empirisierung und retrospektiven Historisierung geprägt. In Hinblick auf die merkwürdig zwiespältige Rolle der Ratio kann weniger von internen Widersprüchen Meiers die Rede sein als von dem Versuch, der durch die Anthropologisierung drohenden Entnormierung des Vorurteilsdiskurses durch residuale Normen entgegenzuwirken. Der systemische Stellenwert der Vernunft bei Meier differiert entscheidend von demjenigen, den diese bei Wolff einnimmt: Vernunft kann für Meier pragmatisch als ergänzende und vermittelnde Erkenntnisstrategie wirksam werden. Die Denkungsart eines Menschen wird von Umgebungs- und Sozialisationsfaktoren bestimmt, „von seiner Erziehung, Lebensart, Profeßion, von seinem Alter, Temperamente, von seinen Neigungen und Leidenschaften.“236 Voluntaristisch ist der praktische Gebrauch der so anthropologisch konditionierten Denkungsarten von der jeweiligen Aktualisierung des menschlichen Willens abhängig. Die affektiv-voluntaristische Neigung zu bestimmten Vorstellungen erzeugt übereilte Urteile, formal falsche Vorurteile: „Was das Herz wünscht, glaubt der Verstand, aber aus Uebereilung: denn gleichwie es sehr angenehme Unwahrheiten gibt, also gibt es auch sehr unangenehme Wahrheiten.“237 Schon in Der Mensch nutzt Meier wörtlich die erste Sentenz dieses Zitats, um die Diskrepanz von vernünftigem Nachdenken und affektiv-voluntativer Prägung zu kennzeichnen: In der Fortsetzungsgeschichte der Begebenheiten der Jungfer Elisabeth Irrwisch wird der sehnliche Wunsch einer alten Witwe, wieder zu heiraten, als Grund dafür angeführt, daß sie nicht erkennen kann, daß Herr Hochsinn, der ihr die Ehe versprach, sich von ihr nur aushalten läßt.238 Die anthropologische Verankerung des Menschen im Gesamtkomplex der ihn inner- und außerpsychisch bestimmenden Umstände reflektiert eine naturalisierte Position des Einzelmenschen in nicht überschaubaren Zusammenhängen.239 Gewohnheit und affektive Prägung bestimmen Erkenntnis und Urteilsbildung. Anthropologiebasierte Argumente bedingen darüber hinaus, daß Meier die Eindeutigkeit der Erreichbarkeit von Wahrheit tendenziell relativiert. In die Annahme einer göttlichen Ordnung sucht Meier seine Wahrheitskonzeption zu integrieren, indem er vollständige Wahrheit als Summe der vorhandenen Einzelwahrheiten aller Menschen versteht.240 Doch im Einzelfall sind verschiedene Gewißheitsstufen der Erkenntnis zu nuancieren. In der Vernunftlehre unterscheidet Meier 236 237 238 239 240

Ebd., S. 54. Ebd., S. 54f. Vgl. hierzu auch Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 220. Vgl. Der Mensch. T. 11 (1756), 442.St., Zitat S. 292. Vgl. zur Funktion der Seele: Georg Friedrich Meier: Metaphysik. 2.Th. Halle 21765, S. 11. Vgl. Schenk: Leben und Werk, S. 13.

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zwischen den konträren Polen gewisser und seichter Erkenntnis.241 Auf der Skala der möglichen Perfektionsgrade der Wahrheit gewinnt das Wahrheitsähnliche einen distinktiven Eigenwert, der auch „poetische Wahrscheinlichkeit“ einschließt. In der Vorrede zu Christoph Martin Wielands Lehrgedicht Die Natur der Dinge hatte Meier schon 1752 poetische Wahrscheinlichkeit als legitimes Qualitätsmerkmal von Dichtung eingeführt. Philosophische und gelehrte Irrthümer können oft in eine angenehme Poesie eingehüllt werden, und sie können oft eine größere poetische Wahrscheinlichkeit haben, als die ihnen entgegengesetzten philosophischen Wahrheiten. Man kann also einen Dichter überhaupt deswegen nicht tadeln, und ihm vorwerfen, als wenn er wider die Regeln der Dichtkunst gesündiget, wenn er etwa Sachen vorgetragen, von denen man nach der Vernunftlehre beweisen kann, daß sie keine Statt finden können.242

Damit eröffnet sich schon bei Meier ein Weg zur Transformierung der Vorurteilsdiskussion, indem eine nicht der Vernunftwahrheit entsprechende poetische Wahrscheinlichkeit für legitim erklärt wird. Eine prozessuale Rehabilitierung des Vorurteils wäre möglich, wenn der Vorgang der Vorurteilskritik nicht nur von der Vernunft bestimmt würde. Doch geht Meier diesen sich hier andeutenden Schritt in seiner Vorurteilslehre nicht. Ein Urteil über poetische Wahrscheinlichkeit kann nur auf der Basis retrospektiver Historisierung getroffen werden: Man müsse sich in die Zeit zurückversetzen, um beurteilen zu können, ob etwa Homers Epen poetisch wahrscheinlich sind. Der Blickpunkt der Gegenwart reicht nicht aus, um ein adäquates Urteil treffen zu können.243 Diese theoretische Zurüstung mit anthropologischem Relativismus ermöglicht Meier eine neue Antwort auf die normativ prekäre Frage, „ob nemlich ein Mensch, alle Vorurtheile, müsse zu verhüten suchen?“244 In dieser allgemeinen Form erklärt Meier die Frage für unsinnig – für einen vermeintlichen Wolffianer und für ein Verständnis von Aufklärung als Vorurteilskritik eine erstaunliche, aber durchaus naheliegende Behauptung. Denn die unterschiedliche Ausstattung der Menschen mit Vernunft, die anthropologische Divergenz individueller Rationalität, stehe der vollständigen Bekämpfung von Vorurteilen entgegen.245 Konsequent unterscheidet Meier zwischen verschiedenen Graden der Erkenntnis, die von der anthropologisch 241 242

Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 209. Meier: Vorrede, unpag. Vgl. hierzu Kertscher: Meier und Wieland, S. 125f. und Hacker: Ordnungsutopien. Meier beteiligt sich auch an der poetologischen Debatte um poetische Wahrscheinlichkeit zwischen Bodmer / Breitinger und Gottsched. 243 Vgl. Meier: Beyträge, S. 47. Dierse sieht in der Tatsache, daß Meier auf die Problematik der geschichtlichen Differenzen von Denkungsarten Bezug nimmt, eine Anlehnung an Semler. Vgl. Ulrich Dierse: Nachträge zu G. F. Meiers Religionsphilosophie, in: Lothar Kreimendahl / Hans-Ulrich Hoche / Werner Strube (Hg.): Aufklärung und Skepsis. Studien zur Philosophie und Geistesgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, 33–46, hier S. 45. Vgl. auch Johann Salomo Semler: Pensées hazardées sur quelques prejuges a l’égard des humanitez. Halle 1750. 244 Meier: Beyträge, S. 98f. 245 Vgl. ebd., S. 99.

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unterschiedlich konditionierten Vernunftfähigkeit der Menschen abhängt. Die abstrakte, vernünftige und gelehrte Erkenntnis, die Grundvorurteile zu vermeiden imstande ist, kann in ihrer vollständigen Form nur von einem Gelehrten erreicht werden, indem er sich stellt, „als wenn er noch gar nichts von demselben (vom Gegenstand der Erkenntnis, R. G.) wüßte“.246 Vollständige Gewißheit kann nur in einigen Urteilen von wenigen vernünftigen Menschen und echten Gelehrten nach und nach erreicht werden.247 Ein grundlegender Erkenntnisskeptizismus kann Meier nicht zugeschrieben werden.248 Wohl aber ist die gesamte Erkenntnis der meisten Menschen ungewiß; selbst bei erfahrenen Männern muß mit einem limitierten Verstand gerechnet werden, wie die Herausgeber der Wochenschrift Das Reich der Natur und der Sitten bekennen.249 Dies gilt selbst für die verständigsten Vertreter der Aufklärung: „die Vernunft keines Menschen ist eine allgemeine Vernunft. Der allervernünftigste Mensch ist es nur, in Absicht einiger Gegenstände der Vernunft.“250 Den Gegenpol zur vernünftigen und gelehrten bildet die undeutliche, sinnliche und ungelehrte Erkenntnis, bei der man die „Gegenstände wie durch einen dicken Nebel“ erblickt.251 Meier hebt mit der Metapher des „Nebels“ auf den erkenntnisverhindernden Effekt der Vorurteile ab. „Nebel“ kann als eine der zentralen Metaphern der Vorurteilsdiskussion gelten, die gerade im Umfeld rehabilitierender Positionen häufig verwendet wird.252 Doch scheint die wahrnehmungseinschränkende Wirkung der Vorurteile sozial distinktiv zu sein: Denn mit den von Meier eingeführten Erkenntnistypen verbindet sich eine soziale Abgrenzung, die die stratifikatorische Ordnung der bestehenden Gesellschaft stützt. Die Schranken der Erkenntnis werden für den Vorurteilsdiskurs gnoseologisch relevant, doch werden sie in erster Linie sozial bestimmt. Selbst innerhalb der Gruppe der Gelehrten erkennt Meier eine intellektuelle Rangordnung, indem er unechte von echten Gelehrten abgrenzt.253 Auch insgesamt fehle vielen Menschen die Möglichkeit, systematisch Vorurteile per Ratio zu bekämpfen. Denn der Einfältige und Dumme bleibe immer der „Sclave seiner Sinnlichkeit“.254 Lediglich der Zufall kann gelegentlich dazu beitragen, daß es auch dem Einfältigen und Dummen gelingt, trotz seiner Vorurteile die Wahrheit zu erkennen. Dieses Zugeständnis ist wohl dem formalen Vorurteilsbegriff geschuldet. Insgesamt aber 246 247 248 249 250 251 252 253 254

Ebd., S. 77f. Vgl. auch zur Klassifizierung der Erkenntnisarten ebd., S. 70ff. Vgl. ebd., S. 111. Vgl. Meier: Betrachtungen über die Schrancken, S. 74f. Vgl. Das Reich der Natur und der Sitten. 9.Th. (1761), S. 115. Meier: Beyträge, S. 88. Ebd., S. 73. Moser und Lambert verwenden die Metapher einschlägig: s.o. S. 140, s.u. S. 181. Vgl. Meier: Beyträge, S. 88f. Ebd., S. 85. Martens benennt als Kennzeichen auch der von Meier mitherausgegebenen Moralischen Wochenschriften die Abgrenzung nach unten und die fehlende Infragestellung der ständischen Ordnung. Vgl. Martens: Moralische Wochenschriften in Halle, S. 92.

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könne, so Meier in einer sozialpragmatischen Zuspitzung seines Beitrags zum Vorurteilsdiskurs, sinnvoll nur die Frage gestellt werden, ob denn alle Vorurteile bekämpft werden dürften, die bekämpft werden können.255 Meier sucht den Vorurteilsdiskurs gegen anthropologische Widerstände zu renormieren. Die Differenz zwischen der anthropologiebasierten Widerständigkeit von Vorurteilen bei jedem einzelnen und den Verstandesoperationen zu deren Aufdeckung und Kritik, die sich insbesondere bei den verstandesmäßig wenig Begabten als eminent erweist, stellt die normative Frage nach der Machbarkeit und Sinnhaftigkeit und damit letztlich nach der Reichweite und den Möglichkeiten der Aufklärung. Offenbar ist für Meier gerade an dieser prekären Stelle eine Norm erforderlich, nachdem die Ratio in der Praxis als Entscheidungsinstanz delegitimiert worden war. Meier differenziert auch die Vorurteilskritik sozialständisch-normativ. Die meisten Menschen seien nicht in der Lage, essentielle Glaubensmeinungen vernunftgemäß einzusehen. Hier offenbart sich das punctum saliens der Vorurteilstheorie bei Meier: Wenn christlich-religiöse Überzeugungen formal meist als Vorurteile angesehen werden müssen, so stellt sich die Frage, wie sie dennoch, da man von deren Wahrheit zweifelsfrei überzeugt ist, als legitim angesehen werden können. Falls der Mensch zur rationalen Überprüfung seiner Glaubensansichten in der Lage ist, solle er dies tun.256 Viele Menschen vertrauten aber, da Vorurteile oft dazu dienen, wahre und notwendige Einsichten zu erhalten, völlig zurecht auf diese, statt sich am vernunftgemäßen Beweis zu versuchen und dabei womöglich zu scheitern. Die soziale Praxis hat Vorrang vor der Logik. Manche Menschen also dürften überhaupt kein Vorurteil vermeiden; vermutlich meint Meier diejenigen, deren Verstand er schlechthin keine Eigenleistung zutraut. Kein Mensch dürfe alle seine Vorurteile verhüten,257 denn ein so vollständig ausgebildeter Verstand, daß auch alle Glaubensmeinungen rational begründet werden könnten, kann von niemandem erwartet werden. Manchmal gar – und hier offenbart sich die Pragmatisierung auch des Vernunftbegriffs selbst – „erfodert es auch die wahre Vernunft, manche Urtheile ohne Vernunft zu fällen“.258 Meier begrenzt den aufklärerischen Vernunftoptimismus zugunsten der Bewahrung moraltheologischer Grundlagen. Anthropologiebasierter Erkenntnisskeptizismus und theologischer Dogmatismus verbinden sich zu einer sozial restriktiven Variante der Aufklärung.259 Dabei unterliegt die soziale Restriktion selbst dem „Zufall“ des göttlichen Willens. Denn die Erkenntnismöglichkeit des einzelnen

255 256 257 258 259

Vgl. Meier: Beyträge, S. 85. Vgl. ebd., S. 102. Vgl. ebd., S. 99. Ebd., S. 100. Mir scheint fraglich, ob von einer „faktischen Widerrufung“ der Vorurteilskritik durch Meier gesprochen werden kann. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 213. Meier sucht eine partielle Rehabilitierung von Vorurteilen, die anthropologiebasierten Schwierigkeiten und die Orientierung am sozialpragmatischen Handeln-Können zu integrieren.

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(und damit die Möglichkeit, Vorurteile kritisch zu überprüfen) erweist sich letztlich als abhängig vom Glück der Geburt und der Zugehörigkeit zu einem Stand, der durch Bildungsmöglichkeiten und Erziehungspraxis privilegiert ist.260 „Kein Mensch gelanget zu diesen Sitten und Gesinnungen, welcher nicht unter politen Leuten und in aufgeklärten gesittetern Zeiten, durch sein gutes Glück, gebohren wird.“261 Die bürgerliche Aufklärung reproduziert sich selbst. Mit der Entlogisierung des Vorurteilsdiskurses, die sich im formalen Begriff manifestiert, delegitimiert sich nicht auch die Erwartung einer diskursregulativen Norm. Diese wird von Meier theologisch befriedigt: Vorurteile seien „Uebereilungssünden des menschlichen Verstandes“,262 und damit im Grunde eine moralische Verfehlung. Die Vorurteilsbekämpfung folgt daher in erster Linie dem Maßstab moralischer Gefährdung. Vermeidbare Vorurteile müßten dann vermieden werden, wenn sie „merklich gefährlich“ sind,263 wenn sie Moral oder Seelenheil der Menschen gefährdeten. Umgekehrt solle jeder, der dazu rational in der Lage ist, sich per Vernunftprüfung zur wahren Religion bekennen und seine religiösen Vorurteile ablegen.264 Aber auch Vorurteilsrehabilitierung mißt sich am Maß moralischen Nutzens. Manchmal müßten falsche Vorurteile bestehen bleiben, etwa wenn sie dazu dienen, größere oder moral-theologisch schwerwiegendere Vorurteile zu verhindern. Auch aus Menschenliebe kann von Vorurteilskritik abgesehen werden, wenn die Kritik der Vorurteile den Mitmenschen nur verunsichern würde.265 Wie die anthropologische Schätzung der menschlichen Vermögen werden auch moralische Verbindlichkeit und Tugendhaftigkeit sozial differenziert. Tugendhafte und erkennende Menschen (in dieser Zusammenstellung offenbart sich der Gleichlauf von Moral und Erkenntnis) seien „Auserwählte GOttes“,266 Unvollkommenheiten ein „blosses Unglück“.267 Versöhnlich lindert Meier die moralische Verantwortlichkeit des Menschen mit kulturalisierenden Argumenten: „Wer unter den Menschenfressern gebohren und erzogen worden, der kan nicht anders, er muß eine unmenschliche wilde und nach Menschenfleisch gierige Gemüthsbeschaffenheit haben.“268 Der Gedanke kultureller Prägung von Verhaltensweisen ist Meier offenbar präsent, wenn er ihn auch mit eurozentrischer Nomenklatur ausdrückt.

260 261 262 263 264

Vgl. Meier: Beyträge, S. 113ff. Ebd., S. 119. Ebd., S. 6. Ebd., S. 102. Vgl. ebd. Aufgrund der Befangenheit jedes Menschen in den Vorurteilen der Kindheit kann jedoch nicht erwartet werden, daß eine vollständige „Reinigung“ der Religion gelingt. Vgl. Dierse: Nachträge, S. 43. 265 Vgl. Meier: Beyträge, S. 108. 266 Ebd., S. 121. 267 Ebd. 268 Ebd., S. 127.

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Meier weiß aber auch, daß die kausale Rückführung von Handeln auf Moral zu weit gehen kann. Resümierend empfiehlt er Mäßigung: Er (der großmütige Menschenfreund, R. G.) wird vielmehr geneigt seyn, in allen einzeln Fällen die gelindere Parthey zu ergreifen, und wenigstens mit Mäßigung urtheilen, daß in dem Irrthume und Laster eines Menschen nicht alles moralisch ist, und ihm selbst könne zugerechnet werden.269

Der Zusammenhang von Moral- und Vorurteilsdiskurs beschäftigt Meier weiter. Er behandelt ihn noch 1771 im vierten Teil seiner Untersuchung verschiedener Materien aus der Weltweisheit, in der Untersuchung Von einigen Vorurtheilen, welche eine unrichtige Schätzung der Sittlichkeit verursachen. Das Vorurteilsproblem wird hier moraltheologisch verankert. Herrschende Vorurteile widersprächen göttlichen Wahrheiten.270 Doch sucht Meier auch hier die moralische Argumentation mit der anthropologiebasierten zu verbinden. Die Debatte erweitert sich zu einer moralpsychologischen. Der Schaden, den eine Sünde anrichte – wir erinnern: Vorurteile gelten als „Uebereilungssünde des menschlichen Verstandes“ – sei nicht nach der Wirkung in der Körperwelt zu bemessen, sondern nach der psychischen Motivation des Handelnden.271 Meier proklamiert hier eine nach intrinsischen Motivationen klassifizierende Gesinnungsethik. Das Messen an körperlichen Folgen sei ein „falsches Vorurtheil“.272 Die explizite Betonung der Falschheit dieses Vorurteils läßt den Schluß zu, daß Meier auch hier einen formalen Vorurteilsbegriff vertritt, der wahre Vorurteile nicht ausschließt. Dies wird deutlich, wenn Meier unter strikter Abgrenzung der Diskursbereiche die juristische Relevanz „sündhafter“ Handlungen, die eine körperliche Beeinträchtigung des Opfers nach sich ziehen, diskutiert. Denn hier verliert das falsche Vorurteil, je größer der körperliche Schaden, desto größer die Verfehlung, seinen Irrtumscharakter.273 Juristisch werde gerade anhand des körperlichen Schadens geurteilt. Das „bisher bestrittene Vorurtheil [hört auf], ein irriges Vorurtheil zu seyn.“274 Der moral-theologische Diskurs unterscheidet sich also evident vom juristischen. Ein „Vorurtheil“ kann in beiden Kontexten eine völlig unterschiedliche Wertung erfahren.275

269 270

Ebd., S. 129. (Hervorh. R. G.) Vgl. Georg Friedrich Meier: Die dreyzehnte Untersuchung, von einigen Vorurtheilen, welche eine unrichtige Schätzung der Sittlichkeit verursachen, in: ders.: Untersuchung verschiedener Materien aus der Weltweisheit. 4.Th. Halle 1771, 131–174, hier S. 133. 271 Vgl. ebd., S. 135ff., 156. 272 Ebd., S. 137. 273 Vgl. ebd., S. 151f. 274 Ebd. 275 Wenn Meier hier von Vorurteilen im juristischen Kontext spricht, so meint er ein konkretes Vorurteil, das im juristischen Kontext anders gewertet werden kann, nicht die grundsätzliche Möglichkeit, daß das praejudicium in sensu juridico eine wertneutrale Position innerhalb einer rechtlichen Rangordnung von Urteilen beschreibt. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 38ff. Es stellt sich allerdings die Frage, ob das Vorurteil, da Meier die Gründe für seine Wahrheit geliefert hat, noch als solches zu spezifizieren ist.

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Anthropologiebasiert bezieht Meier auch die psychische Introspektion in die Frage der Vorurteilsvermeidung und -kritik ein. Explizit rechnet er wie in den Beyträgen mit der kulturalisierenden Prägung des Menschen durch überlieferte Traditionen, durch das „Vorurtheil der Gewohnheit“.276 So bewerteten die Griechen das Aufessen der Toten ebenso als verwerflich wie umgekehrt die Indianer die Totenverbrennung.277 Die Einschätzung beider Bestattungsriten unterliege kulturell-gewohnheitsmäßiger Prägung. Diese wiederum sei auf die die Eigengruppe vorziehende Eigenliebe zurückzuführen: „Wir glauben, daß unsere eigene Natur die ächte wahre menschliche Natur sey, [...]“.278 Innerhalb des moraltheologischen Bereichs ist die moralische Besserung des Menschen ein individuelles wie kollektives Ziel. Die psychisch fundierte Beobachtung und die Konditionierung der sinnlichen Erkenntnis, ihre Relation zur vernünftigen, ist auf die Verbesserung der menschlichen Vermögen angelegt.279 Zwar erhält die ästhetische Verbesserung einen genuin anthropologischen Eigenwert gegenüber der Herrschaft der Vernunft,280 doch bleibt auch diese von Erkenntnisprozessen abhängig. „Zur moralischen Besserung wird nothwendig erfordert, daß man die Grösse seines eigenen moralischen Verderbens aufs genaueste kennen lerne.“281 Hierzu ist nach Meier ein vorurteilsfreies Selbsturteil erforderlich.282 Ein solches wäre aber, nimmt man die sozialklassifikatorische Differenzierung aus den Beyträgen wieder auf, nur den Gelehrten (im günstigsten Falle) möglich. Wie in

276 277

Meier: Untersuchung von einigen Vorurtheilen, S. 166. Bestattungsriten dienen häufig als Beispiel für kulturelle Prägungen und Vorurteile. So auch bei David Hume: Of Moral Prejudices [1742], in: ders.: Essays. Moral, political, and literary. Bd. 2. Hg. T. H. Green / T. H. Grose. New York / London 1889, 371–375, hier S. 372f. 278 Meier: Untersuchung von einigen Vorurtheilen, S. 167. Negative Wirkungen der Eigenliebe konstatiert auch: Der Gesellige. Eine Moralische Wochenschrift. Hg. Samuel Gotthold Lange / Georg Friedrich Meier. T. 1/2 (1748). Neu hg. Wolfgang Martens. Hildesheim / Zürich / New York 1987, 21.St., S. 182. In Der Mensch gehen die Herausgeber davon aus, daß das Vorurteil des Zu- oder Mißtrauens zu sich selbst auf falsch dimensionierter Eigenliebe basiert, also nicht die Eigenliebe als solche negativ zu werten ist, sondern nur deren vom mittleren Maß abweichende Stärke. Vgl. Der Mensch, T. 9 (1755), 355. St., S. 158. Kames’ Elements of Criticism propagieren ein durch Selbstempfindung und Eigenliebe geleitetes empirisches Studium der Natur. Vollhardt weist Meiers Kames-Rezeption mit einer Stelle aus dem Glückseligen nach. Vgl. Vollhardt: Grundregel des Geschmacks, S. 35. Kertscher hat allerdings nachgewiesen, daß Lange die Wochenschrift Der Glückselige alleine verfaßte. Vgl. Hans-Joachim Kertscher: Der Verleger Johann Justinus Gebauer. Halle 1998, S. 42f. 279 Vgl. Dürbeck: Fiktion und Wirklichkeit, S. 35. Cassirer spricht vom „humanistischen Imperativ“ Baumgartens. Vgl. Cassirer: Philosophie der Aufklärung, S. 471. 280 Vgl. Gabriele Dürbeck: Georg Friedrich Meiers Konzept der Einbildungskraft, in: Transactions of the Ninth International Congress on the Enlightenment. Bd. 2. Oxford 1996, 814–816, hier S. 815. 281 Meier: Untersuchung von einigen Vorurtheilen, S. 150. 282 Vgl. ebd.

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Meiers Beyträgen sind auch in seiner Untersuchung von einigen Vorurtheilen der Gelehrte und der Tugendhafte identisch.283 Meiers Vorurteilstheorie eignet mithin eine Basisdiskrepanz zwischen den für die Rehabilitierung des Vorurteils sprechenden Argumenten der formalen Begrifflichkeit und der anthropologiebasierten Probabilität des Erkennens einerseits und den Reaktionen auf den so drohenden Normverlust des Vorurteilsdiskurses andererseits, die die Ratio als Mittel eindeutiger Vorurteilskritik, das über die Affekte herrscht, wieder zu ermächtigen suchen, die den Vorurteilsdiskurs moral-theologisch fundieren und die nicht zuletzt Aufklärung sozialpragmatisch limitieren. Meier knüpft dabei nicht in allen Punkten an die angelegte Wissenschaftssystematik an, innerhalb der auch affektiv-anthropologischen Wissensbereichen Normierungsmöglichkeiten zugeschrieben werden: Logik, Ästhetik und Ethik zielen laut Meier auf die Vervollkommnung anthropologischer Teilbereiche, mithin auf die Produktion einer verläßlichen Norm.284 Bei Meier befreit sich die Vorurteilsdiskussion angesichts der anthropologischen Argumentationsverfahren und der Formalisierung des Vorurteilsbegriffs zunächst von logisch-normativen Regulationsprinzipien. Doch das diskursive Bedürfnis nach restriktiver Regulierung nach außen (das mit dem nach innen wirkenden nicht identisch sein muß) bedingte mit der sozialständischen Pragmatisierung auch eine Renormierung. Obwohl die Ratio zunächst delegitimiert und gegenüber den unteren Erkenntnisvermögen abgewertet wurde, kann sie nun, da eine normative Basis wieder notwendig erscheint, an anderer funktionaler Stelle in ihr Recht treten, ohne daß Meier dabei dem Vorwurf einer wolffschen Systembildung unterläge. Einer Instrumentalisierung der Vernunft für vernunftferne Zwecke sucht Meier entgegenzutreten, wobei er die rationale Zugänglichkeit des Vorurteilsproblems auf Umwegen wieder einführt.285 Wird Vorurteilskritik wie üblich als Fortschritt der Aufklärung verstanden, so ist für Meier der vernünftige Zweifel der Antrieb eines solchen Fortschritts. Zwar ändert sich die Zielrichtung der Vorurteilskritik: Diese prüft nurmehr, ob die getroffenen Urteile begründet sind.286 Doch ist diese Prüfung durch die Ratio selbst relativ verläßlich. Normative Leitlinie wird für Meier die rational erkennbare Moral. 283

Der Gedanke, daß seine Ineinssetzung von Moral und Erkenntnis und seine These, nur Gelehrte könnten bestenfalls vorurteilsfrei sein, vielleicht selbst auf dem Vorurteil der Eigenliebe basiert, kommt dem gelehrten Philosophen nicht. 284 Vgl. zur Funktion von Ästhetik, Logik und Ethik Günter Schenk: Die Begründung der Trias ‚Ästhetik, Logik, Ethik‘ als normative Wissenschaft durch Georg Friedrich Meier (1718– 1777), in: Günter Jerouschek / Arno Sames (Hg.): Aufklärung und Erneuerung. Beiträge zur Geschichte der Universität Halle im ersten Jahrhundert ihres Bestehens (1694–1806). Hanau / Halle 1994, 106–118, hier S. 116. Vgl. auch Schenk: Leben und Werk, S. 30. Daß das Wissenschaftssystem Meiers einem eindeutigen Erziehungsauftrag unterliegt, wie Schenk annimmt, scheint mir nicht plausibel. Vgl. Godel: Eine unendliche Menge, S. 556. 285 Vgl. zur Wendung Meiers gegen die Verwendung von „Vernunft“ als Argument durch die Religionsspötter Gawlick: Meiers Theorie der Freiheit, S. 283. 286 Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 212.

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Dies verbindet die Frage nach der Legitimität der Moral mit der Ratio und der sozialen Abstufung der Aufklärung. Die Reichweite der Aufklärung ist bei Meier sozialpragmatisch begrenzt.287 Indem dem Diskurs der Aufklärung eine sozialpragmatische Exklusionsregel zugerechnet wird, kann für den Vorurteilsdiskurs eine eindeutige Normierung durchgesetzt werden. Die Komplexität des Vorurteilsdiskurses, die aus den rehabilitierenden Positionen resultiert, läßt allerdings einen unmittelbaren Bezug zur gerade in der Spätaufklärung intendierten Praxis brüchig erscheinen. Weder steht die praktische Vorurteilskritik der Volksaufklärung in Frage noch die Wirksamkeit derjenigen Strategien, die Dichotomien aufweichen. Meiers Aufforderung an den vernünftigen Leser, die Fragen nach der jetzt und in Zukunft möglichen Vorurteilskritik selbst zu entscheiden,288 bleibt zwiespältig. Denn ein eigenverantwortliches Nachdenken des Lesers, das Strategien der Bewältigung von Komplexität selbst entwickelte, ist für Meier doch kaum möglich. Dennoch aber bedeutet Meiers umfassende Rehabilitierung des Vorurteils insofern einen wesentlichen Baustein der Selbstaufklärung der Aufklärung, als die Reflexion des Umgangs mit dem Vorurteilsproblem nun theoretisch vom Aufklärenden selbst ausgehen könnte. Die wesentlichen anthropologiebasierten Argumente haben in den Vorurteilsdiskurs Eingang gefunden, wenn sie auch die Modi des Umgangs mit dem Vorurteil noch nicht entscheidend ändern. 4.2.2 Ein Versuch systemischer Reintegration: J. H. Lambert Johann Heinrich Lambert erweitert die Vorurteilstheorie um eine differenzierende und systematisierende Anthropologisierung, die auf einem empirisch-analytischen Methodenverständnis innerhalb der Philosophie basiert.289 In seiner Rezension von Meiers Beyträgen zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts vermerkt Lambert, daß Meiers Beyträge nicht Teil eines geschlossenen philosophischen Systems seien, sondern zu einer Reihe von Untersuchungen „über einzelne in die Weltweisheit einschlagende Materien“ gehörten.290 Lambert fordert eine klarere begriffliche Abgrenzung von „Vorurteil“ und verwandten Begriffen: 287

Vgl. ebd., S. 226. Reiss spricht vom „vaterländischen Sendungsbewußtsein“ Meiers. Vgl. Hans Reiss: Georg Friedrich Meier (1718–1777) und die Verbreitung der Ästhetik, in: Hans Esselborn / Werner Keller (Hg.): Geschichtlichkeit und Gegenwart. Köln / Weimar / Wien 1994, 13– 34, hier S. 17. Daß das Ziel der Konservierung des sozialen Status quo auch mit politisch aktivem Patriotismus verbunden sein müsse, ist ein hermeneutischer Anachronismus, der die spezifische Situation des 18. Jahrhunderts verfehlt. 288 Vgl. Meier: Beyträge, S. 94. 289 Riedel erkennt eine Traditionslinie, die vom englischen Empirismus zu Lamberts und Lichtenbergs „Experimentalphysik“ führe. Vgl. Riedel: Weltweisheit als Menschenlehre, S. 418f. 290 Johann Heinrich Lambert: G. F. Meiers Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts, in: ders.: Philosophische Schriften. Hg. Hans Werner Arndt. Bd. 7. Hildesheim 1969, 206–212, hier S. 206.

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„So z.E. daß man in vielen Fällen den Schein nicht als Schein erkennt, ist eben nicht sogleich ein Vorurtheil; es kann bloßer Mangel an genauerer Einsicht, ein bloßer Irrthum seyn.“291 Meiers Definition erweitere den Begriff zu sehr. Die Ursache für Meiers „widersinnige Sätze“, die die partielle Beibehaltung von Vorurteilen forderten, sieht Lambert nicht ganz zu Unrecht in der Verbindung anthropologiebasierter Skepsis mit dem formalen Vorurteilsbegriff: „Wir glauben, Herr M. hätte sich den Sceptikern weniger blosgegeben, und die Paradoxa glücklich vermeiden können, wenn er den Begriff eines Vorurtheils mehr eingeschränket hätte, [...]“.292 Lambert fordert, Vorurteil und vorläufiges Urteil abzugrenzen – eine Unterscheidung, die Kant später begrifflich identisch, aber inhaltlich abweichend aufnahm.293 Ähnlich wie Meier führt auch Lambert den Aspekt des Handelns als potentiellen Bestimmungsfaktor der Vorurteilsdiskussion ein: [Vorurteile] scheinen [...] Maximen zu seyn, nach welchen jemand aus confusen Vorstellungen, und gewöhnlich mit gutem Willen handelt und denket, ungeachtet man ihm Vorstellungen dawider gemacht hat, daß sie entweder ganz irrig, oder wenigstens nicht durchaus richtig seyn.294

Vorurteile wären demnach eine spezifische Form material-falscher Handlungs- und Erkenntnismaximen: solche, die im Unterschied zum Irrtum trotz Überzeugungsarbeit anderer bestehen bleiben. Diese Zuspitzung des formalen Begriffs Meiers sucht Lambert allerdings voluntativ zu erweitern. Lambert nimmt residuale Argumente wieder auf, offenbar um die Schwierigkeiten, die sich aus dem rein formalen Begriff für die Pragmatik ergeben könnten, einzudämmen und systemisch zu integrieren. Obwohl Lambert sich von Meier deutlich abgrenzt, auch indem er den auf jeglichen Gegenstand bezogenen (descarteschen) Zweifel ablehnt und Meiers Stil dezidiert kritisiert,295 sind beide sich einig in der anthropologischen Relevanz des Vorurteilsdiskurses. Er habe eine eminente Bedeutung „für das menschliche Geschlecht“.296 Lambert sucht den formalen Vorurteilsbegriff Meiers, dem er mangelnde Präzision vorwirft, durch einen differenzierteren material-falschen zu ersetzen, ohne die pragmatische Perspektive Meiers grundlegend aufzugeben. Doch bleibt bei Lambert der Vorurteilsdiskurs der erkenntnistheoretischen Perspektive subsumiert, wie sein Neues Organon ausweist. Hier sucht Lambert die 291

Ebd., S. 210. Vgl. auch ebd., S. 209, Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 228f., Reisinger / Scholz: Vorurteil I, Sp. 1257. Lambert: Meiers Beyträge, S. 209. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 283ff. Während Kant den Unterschied zwischen Vorurteil und vorläufigem Urteil darin sieht, daß das erstere nicht mit dem Vorsatz zu weiterer Untersuchung verbunden sei, nennt Lambert als Kennzeichen des Vorurteils, daß es etwas „Verhaßtes“ habe – im Unterschied zum ‚bescheidenen‘ vorläufigen Urteil. Vgl. Lambert: Meiers Beyträge, S. 210. Die Lakonik Lamberts läßt allerdings keine begründete Vermutung zu, ob er mit „Bescheidenheit“ Bewußtsein der begrenzten Reichweite eines solchen Urteils beim Urteilenden selbst meint – und damit ein Kant durchaus ähnliches Kriterium. 294 Lambert: Meiers Beyträge, S. 210. 295 Vgl. ebd., S. 210f. 296 Ebd., S. 207. 292 293

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Erkenntnistheorie systematisch neu zu fundieren,297 wobei er auch das Vorurteil diskutiert. Lambert rezipiert wesentliche Aspekte des anthropologischen Interdiskurses und sucht diese in ein konsistentes System zu integrieren. Eigene Erfahrungen, die dem Menschen in Form von Empfindungen zukommen, seien – so deduziert Lambert im Abschnitt Dianoiologie oder Lehre von den Gesetzen des Denkens – nie unvermengt. Denn für Erfahrungen ist charakteristisch, „daß sich mit den Empfindungen der Sache zugleich andre schon vorhin gehabte Vorstellungen einmengen, besonders, wenn man die Sache mit vorgefaßten Meinungen, Leidenschaften oder Vorurteilen anschaut.“298 Vorurteile behindern mithin eine klare Erkenntnis sowohl auf Ebene der unteren wie der oberen Erkenntnisvermögen: „Die Vorurteile, Leidenschaften und vorgefaßten Meinungen sind in Absicht auf die Einbildungskraft und den Verstand, was ein Nebel, ein Dunst, ein blendend Licht, ein gefärbtes Glas etc. für die Augen sind.“299 Die zeitgenössisch gängige Lichtmetaphorik ordnet Vorurteile dem gegenaufklärerischen Bereich zu und benennt auf der anderen Seite klare Erkenntnis als Bedingung der Aufklärung. In der Metaphernakkumulation wird aber auch deutlich, daß es sich bei Vorurteilen offenbar um ein empirisches Wahrnehmungsproblem handelt, um eine durch die Medien der Aufnahme („gefärbtes Glas“) verfälschte Erkenntnis, die gar in der Metapher des „Nebels“ der verworrenen Erkenntnis analog gesetzt wird – also eine an sich klare Erkenntnis, die nur aufgrund des Mangels an erkennbaren Merkmalen nicht deutlich unterscheidbar ist.300 Das an der Ratio vorbeigehende Erschleichen von Begriffen und Sätzen kennzeichnet Vorurteile. Diese eigne man sich nicht nur unbewußt an, man erkenne auch im nachhinein nicht, daß ihnen keine „lautere[n] Erfahrungen“ zugrundeliegen.301 Doch verbindet Lambert die sensualisierenden Argumente des Interdiskurses mit dem Potential der Ratio. Gegenüber der „gemeinen“ und der

297

Schenk / Gehlhar sprechen davon, Lambert strebe eine „Reformierung der Logik“ an. Vgl. Günter Schenk / Fritz Gehlhar: Der Philosoph, Logiker, Mathematiker und Naturwissenschaftler Johann Heinrich Lambert, in: Wolfgang Förster (Hg.): Aufklärung in Berlin. Berlin 1989, 130–164, hier S. 145. 298 Lambert: Neues Organon. Bd. 1, S. 279. 299 Ebd. 300 Die Metaphorik Lamberts verweist auf den optischen Perspektivismus von Haller und Chladenius wie auf die Erkenntnistheorie Leibniz’. Zur Metaphorik des „gefärbten Glases“ s.u. S. 246ff. Vgl. zur „Nebel“-Metapher Werner Schneiders: Irrtum, Schein und Vorurteil. Zu Lamberts Theorie der Scheinerkenntnis, in: Colloque international et interdisciplinaire JeanHenri Lambert. Hg. vom Centre National de la Recherche Scientifique. Paris 1979, 147–152, S. 151f. Hinske weist darauf hin, daß die Methodendiskussion der 60er Jahre mit der Bevorzugung eines analytischen Vorgehens innerhalb der Philosophie den Begründungszusammenhang für die Hell-Dunkel-Metaphorik schuf (vielleicht sollte man vorsichtiger sagen: neu zu konstituieren versuchte). Vgl. Norbert Hinske: Aufklärung über Aufklärung. Zu Werner Schneiders’ Buch ‚Die wahre Aufklärung‘, in: Studia Leibnitiana 8 (1976), 120–127, hier S. 124f. 301 Vgl. Lambert: Neues Organon. Bd. 1, S. 279.

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„historischen“ schreibt Lambert der „wissenschaftlichen“ Erkenntnis die größte Reichweite und Zuverlässigkeit zu, da diese sich durch Rationalität auszeichne.302 Zur Grundlage seiner Alethiologie oder Lehre von der Wahrheit, eines weiteren zentralen Abschnitts des Neuen Organon, wird der Satz des Widerspruchs. Dieser sei schon wegen des Widerstrebens der Vernunft gegen die Annahme, A sei nicht A, wahr.303 Wahrheit wird bei Lambert dem Irrtum eindeutig kontrastiert. Das Irrige liege nicht in einfachen Begriffen, sondern „in ihrer Verbindung und Zusammensetzung“ zu einem Urteil.304 Lambert folgert hieraus, daß zusammengesetzte Begriffe, die Irrtümer bergen, nicht notwendig nur aus Irrtümern bestehen, sondern auch Wahres beinhalten: „Denn da kein Irrtum ohne eingemengtes Wahres ist, [...] so ist klar, daß, wenn man denselben ganz verwerfen wollte, man zugleich auch das mit eingemengte Wahre verwerfen würde.“305 Weil der Irrtum also mit Wahrheit verbunden ist, kann er nicht pauschal verworfen, sondern muß partiell bewahrt werden. Meier betont zwar in den Beyträgen nicht in erster Linie die Verbindung von Irrtum und Wahrheit, doch in Das Reich der Natur und der Sitten gilt der Irrtum immerhin als Umgebungsfaktor der Wahrheit: „Die Wahrheit ist so zu reden allenthalben mit dem Irrthume umgeben.“306 Lambert ordnet die Vorurteilsdiskussion in der engeren, begriffsorientierteren Fassung in die Diskussion um Schein und Irrtum ein.307 Schein und Irrtum können aus subjektiven Quellen resultieren. Der „Schein“ ist ein „Mittelding“ zwischen dem Wahren und Falschen: „dieser (der Schein, R. G.) macht, daß wir uns die Dinge sehr oft unter einer andern Gestalt vorstellen, und leicht das, was sie zu sein scheinen, für das nehmen, was sie wirklich sind, oder hinwiederum dieses mit jenem verwechseln.“308 Lambert überträgt hier den metaphysischen Begriff des „Scheins“ auf das erkenntnistheoretische Problem der Eindeutigkeit des Erkennens, das nicht zuletzt durch den anthropologischen Interdiskurs verstärkt virulent geworden war. Lambert geht noch einen Schritt weiter, indem er seine Typologie des Scheins physiologisch gründet. Beim „organischen Schein“ würden die Empfindungsnerven durch Flüsse ohne äußeren Anreiz, also durch eine Selbsttätigkeit der Sinne im körperlichen Verstand, tätig. Daneben existieren als subjektive Quellen des Scheins der physische Schein des Eindrucks, der idealische Schein, der nicht aus Eindrücken resultiert, und der psychologische Schein – ungeprüfte Bilder der Einbil302

Vgl. Gesine Lenore Schiewer: Cognitio symbolica. Lamberts semiotische Wissenschaft und ihre Diskussion bei Herder, Jean Paul und Novalis. Tübingen 1996, S. 146f. 303 Lambert: Neues Organon. Bd. 1, S. 418. 304 Ebd., S. 428f. 305 Ebd., S. 433. 306 Das Reich der Natur und der Sitten, 9.Th. (1761), 298.St., S. 115. 307 Vgl. Schneiders: Irrtum, Schein und Vorurteil. 308 Johann Heinrich Lambert: Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung von Irrtum und Schein. Bd. 2. Berlin 1990 (Nachdr. der Ausgabe Leipzig 1764), S. 645.

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dungskraft.309 Der „moralische Schein“ rührt von den Leidenschaften her.310 Grundsätzlich existierten subjektive, objektive und relative Quellen des Scheins, deren Verwechslung zu Irrtümern führen könne.311 Auch in der Rezension von Meiers Beyträgen unterscheidet Lambert konzeptionell zwischen der fehlenden und damit irrtümlichen Erkenntnis des Scheins und dem Vorurteil.312 Das Vorurteil ist mit dem „Vorsatz dabey zu beharren“ verbunden.313 Doch ist bei Schein und Vorurteil die Problematik anthropologiebasierten Erkennens identisch. Beide unterliegen der Perspektivität der Wahrnehmung: „Der Ort des Auges wird an sich der Gesichtspunkt genennet, [...]“.314 Das Auge sehe immer nur eine Seite der Sache. Unklarheit der empirischen Wahrnehmung ist an die Relativität der Beobachterperspektive gebunden. Jene Metaphern für die Perspektivität der Erkenntnis gelten für Lambert bereits innerhalb des „Gedankenreichs“, also für die logische Erkenntnis, als eingeführte Begriffe.315 Lambert versucht, eine material-falsche Definition des Vorurteils zu restituieren und dennoch die anthropologische Widerständigkeit von Vorurteilen und die Schwierigkeiten, sie zu erkennen, ernst zu nehmen. Doch bildet Lamberts Vorurteilstheorie insofern einen Gegenpol zu Meiers sozialer Pragmatisierung, als er die Umsetzungsmöglichkeiten letztlich nicht reflektiert. Die Frage nach den Modi des Umgangs mit Vorurteilen oder auch nur nach den Mitteln der Vorurteilskritik stellt sich für Lambert nicht.316 4.2.3 Zur Neugewichtung pragmatischer Argumente Zentrale Argumente der sozialisierend-historisierenden und gnoseologisch-sozialpragmatischen Rehabilitierung des Vorurteils resümiert und diskutiert ein knapper, 1770 erschienener popularphilosophischer Essay, der die bisherigen Ansätze neu zu gewichten sucht. Rudolf Wilhelm Zobel317 beantwortet in Ueber die Vorurtheile nicht nur die Berner Preisfrage zur Ehrerbietung gegenüber Vorurteilen, auf die schon Thomas Abbt reagiert hatte,318 sondern er verdeutlicht auch die Problematik 309 310 311 312 313 314 315 316

Vgl. ebd., S. 649, 655f. Ebd., S. 656. Vgl. ebd., vgl. auch Schneiders: Irrtum, Schein und Vorurteil, S. 150. Vgl. Lambert: Meiers Beyträge, S. 210. Ebd., S. 210f. Lambert: Neues Organon. Bd. 2, S. 657. Ebd., S. 658. Lamberts philosophisches Denken, insbesondere seinen Entwurf einer zeichenbezogenen Form von Erkenntnis und dessen Rezeption, analysiert Schiewer: Cognitio symbolica. 317 Meusel führt den Namen Rudolph Heinrich Zobel an, während auf den Titelseiten der Publikationen „Wilhelm“ als zweiter Vorname angegeben ist. Vgl. Johann Georg Meusel: Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller, Bd. XV. Leipzig 1816, Repr. Hildesheim 1968, S. 445f. 318 Zum Zusammenhang der Preisfrage s.o. S. 149f. Auch Zobel gehört offenbar nicht zu den Einsendern, sondern antwortet ex post.

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vorurteilsrehabilitierender Positionen. Wenn der Vorurteilsbegriff sein logisches Fundament verliert, steht der Vorurteilsdiskurs in Gefahr, eine befestigende Norm zu verlieren. Zobel bezieht sich ausdrücklich auf die scheinbar leicht zu entscheidende Preisfrage, die er wörtlich anführt.319 Er hebt mit einer Begriffsklärung an: „Im gemeinen Leben bedeutet zuweilen Irrthum und Vorurtheil einerley; aber bey einer genauern Bestimmung der Begriffe zeigt es sich, daß der Irrthum stets falsch seyn müsse, das Vorurtheil hingegen oft Wahrheit seyn könne.“320 Zobel unterstellt hier einen material-wahren Vorurteilsbegriff, der allerdings konjunktivisch eingeschränkt und so in die Nähe eines formalen Begriffs gerückt wird. Den „Philosophen“ wird die diskursive Bestimmungsmacht über das „Vorurteil“ abgesprochen. Auch dies spricht dafür, daß Zobels Argumentation letztlich ein formaler Vorurteilsbegriff zugrundeliegt. Philosophen wird unterstellt, sie bestimmten mit einem „Machtspruch: das ist ein Vorurtheil!“321 Hier zeigt sich Zobels Einsicht in die grundlegenden Normierung des Vorurteilsdiskurses. Zobel konkretisiert seinen begriffsbasierten Zugang, indem er eine Definition des Vorurteils zum Ausgangspunkt seiner weiteren Argumentation macht. Ein Vorurteil sei „eine Meynung, die man annimmt, ohne hinlängliche Gründe dafür angeben zu können.“322 Damit verkürzt er im Grunde die Argumentation Meiers, der etwa in Der Mensch explizit die fehlende hinlängliche Untersuchung der Gründe als Kriterium für ein Vorurteil formuliert hatte: „Ein Vorurtheil ist ein Urtheil, das man zu frühe, ohne hinlängliche Untersuchung und Wissenschaft der Gründe, fället.“323 Zobels nicht ganz deutliche Formulierung läßt zunächst sowohl die Frage offen, ob hinlängliche Gründe für die Annahme der Meinung fehlen, als auch, wieso diese fehlen. Bei Zobel wie bei Meier ist nicht gemeint, daß es grundsätzlich keine hinlänglichen Gründe für ein Vorurteil gebe (das hätte eine materialfalsche Definition zur Folge, von der sich Meier und Zobel abgrenzen), sondern daß derjenige, der Vorurteile hat, selbst keine hinlänglichen Gründe dafür angeben könne. Es handelt sich mithin auch bei Zobel um eine unzureichende Untersuchung der Meinungen, einen Fehler im methodischen Zugang zum eigenen Wissen. Konsequenterweise geht er demnach davon aus, daß es sehr viele Vorurteile gebe und niemand von ihnen frei sei.324 Meinungen, für die keine Gründe angegeben werden könnten, könnten allerdings durchaus wahr sein. Zobel führt Wahrheiten in der Religion, aber auch in den meisten freien Handlungen der Menschen als Belege an. 319

Vgl. Rudolf Wilhelm Zobel: Ueber die Vorurtheile, in: ders.: Aufsätze aus der Philosophie und den schönen Wissenschaften. Greifswald 1770, 103–138, hier S. 105. Ebd., S. 105f. Ebd., S. 106. Ebd. Der Mensch. T. 5. (1753), 177.St., S. 20. Auch in seinen wenige Jahre vor Zobels Essay erschienenen Beyträgen gibt Meier die fehlende Erwägung rechter Gründe als Kriterium an. Vgl. Meier: Beyträge, S. 7. 324 Vgl. Zobel: Ueber die Vorurtheile, S. 106f. 320 321 322 323

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Hieraus könne geschlossen werden, daß Vorurteile Ehrerbietung verdienen, wenn sie „würkliche Wahrheiten“ sind.325 Die Möglichkeit, daß Vorurteile wahr sein können, entbinde allerdings niemanden, der dazu in der Lage ist, von der Arbeit an der Erkenntnis der Gründe.326 Verbliebe die Vorurteilsdiskussion bei Zobel auf dieser subjektiven Erkenntnisebene, wäre die Lösung kaum problematisch. Bezieht man jedoch die gesellschaftspolitische Dimension des Vorurteilsproblems mit ein, die die Preisfrage zu berücksichtigen anmahnte, so stellt sich das Problem, wie die Vorurteile der anderen öffentlich, aufklärerisch-didaktisch bekämpft werden könnten.327 Hier offenbart sich die aus der Entnormierung der Definition entstandene Schwierigkeit, daß, wenn logische Falschheit nicht mehr der entscheidende Maßstab für die Vorurteilskritik sein konnte, ein neues Maß gefunden werden mußte. Zobel orientiert sich wie Abbt an der Integration individuell unterschiedlicher Denkungsarten in das Wohl der bürgerlichen Gesellschaft. Ein jeder denke, wie es seine Erziehung, sein Temperament und seine äussere Umstände mit sich bringen! Wenn seine Denkungsart nur nicht das Glück der bürgerlichen Gesellschaft hindert, wenn sie nur dazu angewendet werden kann, die Ruhe, die Sicherheit und den Wohlstand des Staats zu befördern, so wird eben diese Verschiedenheit zum Vortheil des Ganzen gelenkt werden können.328

Die positiven Staatsziele verbinden sich mit der Moralität des einzelnen, die dann zum distinktiven Kriterium wird, wenn sie durch die Vorurteile anderer gefährdet ist. Ein guter Bürger ist verpflichtet, „alle Vorurtheile öffentlich anzugreifen, die den moralischen Charakter seiner Mitbürger verschlimmern; [...]“.329 Wenn aber keine Wahrheit an die Stelle des Vorurteils treten kann, darf es nicht angegriffen werden.330 Ähnlich wie bei Moser und Abbt steht die gesellschaftsstabilisierende Funktion althergebrachter Meinungen bei Zobel im Vordergrund; ähnlich wie bei Mendelssohn wird – wenn schon Vorurteile trotz der in ihnen potentiell enthaltenen Wahrheit destruiert werden sollen – die Ersetzung durch (vollständigere) Wahrheit zur Bedingung für deren Kritik.331 Diese Argumentation sucht Zobel nun durch Beispiele zu stützen, die die Vielfalt historisierender wie kulturalisierender Perspektiven zumindest andeuten. Zobels erstes Beispiel rekurriert hierbei auf die Geschichte der römischen Republik: 325 326 327

Ebd., S. 109. Vgl. ebd. Zobel argumentiert hier ähnlich wie Meier und Mendelssohn. Zobel fordert dazu auf, falsche Vorurteile öffentlich anzugreifen, wenn sie schlechten Einfluß auf den moralischen Charakter der Menschen haben. Vorurteile aber, die nicht unmittelbar mit der Moral zusammenhängen oder diese gar bessern, sollten erhalten bleiben. Mit dieser These wolle er aber keineswegs einer Verbreitung von Irrtümern das Wort reden. Vielmehr plädiere er dafür, vorhandene Irrtümer „zu guten Zwecken“ zu leiten; vgl. ebd., S. 110f. 328 Ebd., S. 113. 329 Ebd., S. 114. 330 Vgl. ebd., S. 114f. 331 Vgl. Godel: Eine unendliche Menge, S. 568f.

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Er führt Numa, einen der legendären Könige von Rom, als Exempel dafür an, daß ohne das instrumentalisierte Vorurteil der Religion der Staat nicht zu seiner Größe gelangt wäre.332 Auffällig ist, daß Zobel an dieser Stelle seiner Argumentation bis in die Beispiele hinein mit Joseph von Sonnenfels übereinstimmt. In seiner Moralischen Wochenschrift Der Mann ohne Vorurtheil stellt Sonnenfels 1766 dar, daß es im antiken Rom wegen der positiven Funktion der Vorurteile der Religion unmöglich gewesen sei, diese zu bekämpfen. Ein vorurteilskritischer Impuls, der sich im alten Rom gegen die Vorurteile der Religion gerichtet hätte, hätte mit heftigem Widerstand gerade derjenigen rechnen müssen, die sich Vorurteile zunutze machen, um den Staat vernünftig zu lenken: Wenn ich so über die heiligen Loose und andere abergläubischen Uebungen meinen Witz ausgekramt hätte; so hätten mich die Väter ohne Zweifel in Stücken, […] zerrissen: ‚Unglücklicher, hätten sie geschrieen, [...] glaubst du vielleicht, wir sind weniger als du von der Nichtigkeit dieser Dinge überzeugt? aber sieh diese Flut des Volkes, ohne Absicht, ohne Nachdenken, ohne Mässigung im Glücke, ohne Kopf im Unglücke! diesen Haufen von Bauern, und Soldaten, und Freygelassenen, die nach unsrer elenden Regierungsverfassung von den wichtigsten Angelegenheiten entscheiden, wovon sie nicht mehr verstehen, als die Wörter! wolltest du, daß wir kein Mittel in Händen hätten, diese ungestüme und dumme Menge nach unsrer Absicht zu lenken?‘333

Auch Sonnenfels zeigt, daß die Rehabilitierung religiöser Vorurteile mit dem Gesellschafts- und Staatsnutzen gerechtfertigt wird. Wie Zobel bezieht er sich auf die Berner Preisfrage, die er allerdings fälschlich einer „Akademie“ zuschreibt.334 Sonnenfels führt in seiner theoretischen Antwort ebenfalls das sozialanthropologische Argument des Wohlstands der Gesellschaft an. Dabei setzt er letztlich Vorurteilsfreiheit, moralisches Verhalten und Staatswohl gleich, so daß er zu einer dezidierten Vorurteilskritik rät. Auf der Basis derselben Argumente gelangt er mithin (theoretisch) zu einer vorurteilskritischen Haltung.335 Zobel dagegen plädiert für eine Rehabilitierung des Vorurteils. Denn er verbindet die Fortexistenz der religiösen Norm (und sei es eben aus Vorurteil) mit der Fortexistenz des Staates. Damit gelingt es ihm, eine entscheidende Formationsregel 332

Vgl. Zobel: Ueber die Vorurtheile, S. 116. Zobel spricht hier von den positiven Wirkungen der unter dem Monarchen Numa entwickelten Vorurteile der Religion für die römische Republik. 333 Der Mann ohne Vorurtheil. [2.Jg.], in: [Joseph von] Sonnenfels gesammelte Schriften. Bd. 3. Wien 1783, 3.Abt., 1.St., S. 214f. Vgl. zu Sonnenfels: Godel: Der Wilde als Aufklärer?, S. 226ff. Sonnenfels’ Beitrag zum Vorurteilsdiskurs erschöpft sich nicht in der theoretischen Erörterung. Vielmehr führt die literarische Form zur Eigenaktivität des Rezipienten. Vgl. zur Wochenschrift Der Mann ohne Vorurtheil auch Roland Krebs: Une revue de l’Aufklärung viennoise: „L’homme sans préjugés“ de Joseph von Sonnenfels. 1765–1767, in: Pierre Grappin (Hg.): L’Allemagne des Lumières. Périodiques, Correspondances, Témoignages. Paris 1982, 215–233. 334 Vgl. Der Mann ohne Vorurtheil. [2.Jg.] 3.Abt., S. 213. Zobel nennt als Urheber der Preisfrage (ebenfalls nicht ganz zutreffend) die Helvetische Gesellschaft. Er selbst gibt an, aus Journalen von der Ausschreibung erfahren zu haben. Vgl. Rudolf Wilhelm Zobel: Vorrede, in: ders.: Aufsätze aus der Philosophie und den schönen Wissenschaften. Greifswald 1770, unpag. 335 Vgl. Der Mann ohne Vorurtheil, [2.Jg.] 3.Abt., S. 220f.

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des Vorurteilsdiskurses zu bestimmen: Wenn ein Maßstab gewonnen werden muß, an dem sich der Vorurteilsdiskurs messen lassen muß, wenn eine Norm gefunden werden muß, die den Umgang mit Vorurteilen regelt, so plädiert Zobel dafür, den traditionell normierenden Bereich der religiösen Überzeugungen als Fundament der zu bewahrenden Staatsordnung zu befestigen. Damit wird dieser Bereich grundlegend vom kritischen Impuls der Aufklärung und von Vorurteilskritik ausgeschlossen. Doch kann auch Zobel nicht leugnen, daß empirisch-anthropologische Fakten die Entscheidung, die Religion als Objekt aus dem kritischen Verfahren des Aufklärungsdiskurses auszunehmen, fragwürdig werden lassen. Der Hang der Menschen zur Sinnlichkeit gilt für Zobel als Hindernis für die Akzeptanz der Religion.336 In einer Exempelgeschichte in Form eines Moralischen Charakters sucht Zobel zu beweisen, daß eine mit Balance und Ausgewogenheit der Meinungen verbundene Religion die ideale Disposition für die menschliche Glückseligkeit darstellt, daß diese auf der anderen Seite aber auch immer gefährdet ist: „Der Mensch bleibt selten auf der Mittelstrasse.“337 Auch diese Metaphorik ist bei anderen Autoren, die für eine (partielle) Rehabilitierung des Vorurteils plädieren, gängig. Moser benennt in den Beherzigungen die Mittelstraße als ausgleichende und damit rechte Norm für menschliches Verhalten.338 Die Moralische Wochenschrift Der Mensch verbindet sie gar unmittelbar mit dem Mäßigung anstrebenden religiösen Anspruch des Christentums.339 In der moraldidaktischen Verhaltenstheorie erhält die Metapher der „Mittelstraße“ bei Garve eine entscheidende Bedeutung für die Ausbalancierung des rechten Verhaltens – ein Aspekt, den auch Zobel bereits formuliert.340 Bei diesem gilt aber der Primat der Religion – auch hierin wieder Moser ähnlich. Denn das System der Religion muß unangefochten bleiben, „sollten auch einige Vorurtheile mit untermischet seyn.“341 In der Verbindung naturalisierender und sozialisierender Argumente identifiziert Zobel daher auch den Erhalt der bürgerlichen Gesellschaft und des politischen Systems (auf der Basis der Religion) als der Vorurteilskritik übergeordnete Zielsetzung: „Alle Völker und Staaten haben dergleichen irrige Meynungen, die sie für 336 337 338 339

Vgl. Zobel: Ueber die Vorurtheile, S. 121. Ebd., S. 123. Vgl. Moser: Beherzigungen, S. 138f. Das 34. Stück des Menschen trägt den Titel: Von der Mittelstrasse des Christenthums zwischen den Stoikern und Epicurern. Vgl. Der Mensch, T. 1 (1751), 34.St. 340 Garve verwendet die „Mittelstraßen“-Metapher bei der Diskussion pragmatischer Moral. Vgl. Garve: Ueber die Maxime Rochefaucaults, S. 599. Vgl. ähnlich ebd. S. 609, 660. Auch bei Moden plädiert Garve für die „Mittelstraße“: vgl. Garve: Ueber die Moden, S. 536. Altmayer vertritt die These, die „Mittelstraßen“-Regel diene bei Garve dazu, die allgemein-menschliche, ständeübergreifende, bürgerliche Geselligkeit herbeizuführen. Vgl. Claus Altmayer: Aufklärung als Popularphilosophie. Bürgerliches Individuum und Öffentlichkeit bei Christian Garve. St. Ingbert 1992, S. 357. Bei Zobel dient die Mittelstraße als Argument zur bürgerlichen Befriedung gegenüber potentiell die Staatsruhe gefährdenden Vorurteilskritikern. 341 Zobel: Ueber die Vorurtheile, S. 123.

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wahr annehmen, und die einen Zug in ihrem National-Charakter und in ihren politischen Systemen ausmachen.“342 So sei etwa der Nationalstolz eines jeden Volkes in unterschiedlicher Weise charakteristisch. Diese National-Vorurteile trügen zur Fortdauer und zum Bestand des Staates bei. Auch dieses Argument Zobels gründet in politischer Vorurteilsrehabilitierung.343 Nationalvorurteile führt auch Meier als Beispiele für einen an Bacons idola fori angelehnten Typus von Vorurteilen an, der von vielen Menschen „durch eine allgemeine Verabredung und Uebereinstimmung“ angenommen werde.344 Auch in der Vernunftlehre nennt er einen Vorurteilstypus „Vorurteil der Völkerschaft“.345 Der Erhalt und das Glück des Staates stehen in Zobels rehabilitierender Argumentation, ähnlich wie bei Abbt, im Zentrum: Auch wenn die Triebfedern des Staates Vorurteile sein mögen, so sei dieser doch immer glücklicher, wenn die Maschine im Gange gehalten werde. Dabei resultiert das Glück des Staates aus der Summe der Glückszustände der einzelnen Staatsbürger, die von der Vorurteilskritik nicht aus ihrer „Ruhe“ gerissen werden dürften.346 Knigge wird später im Umgang mit Menschen dieses Ruhebedürfnis an die Ambivalenz des Aufklärungsbegriffs knüpfen: „Man vergesse nicht, daß das, was wir Aufklärung nennen, andern vielleicht Verfinsterung scheint. Man schone die Vorurteile, die andern Ruhe gewähren. Man beraube niemand, ohne ihm etwas Besseres an die Stelle dessen zu geben, was man ihm nimmt.“347 Bei Zobel bleibt die Warnung vor der Aufdeckung von Vorurteilen auf die standesspezifischen Vorurteile bezogen. Auch hier gilt Kontinuität als Maß. Zobel nimmt das Argument auf, Vorurteile ermöglichten menschliches Handeln. Nur wenige Triebfedern menschlichen Handelns seien auf Wahrheit gegründet, doch müßten für gesellschaftsadäquates Handeln Vorurteile erhalten bleiben – wie etwa das Vorurteil der Jugend, das die Fehlerlosigkeit der Erzieher annimmt.348 Offenbar sucht Zobel für die aus der formalen Begrifflichkeit abgeleitete Rehabilitierung von Vorurteilen einen Maßstab, den er in einer Mischung pragmatischer und politischer Argumente zu finden glaubt. Das anthropologiebasierte Argumentationsreservoir trägt zu dieser sozialpragmatischen Rehabilitierung probabilistisches Verunsicherungspotential bei, doch gründet die Suche nach einer

342 343

Ebd., S. 124. Vgl. zum historisch-politischen Profil der Debatte um „Nationalgeist“ und „Nationalvorurteile“ Menges: Nationalgeist, S. 105ff., zur Verbindung zur Vorurteilsdebatte ebd., S. 108f. 344 Vgl. Meier: Anfangsgründe. 2.Th., S. 250. 345 Vgl. Meier: Vernunftlehre, S. 275ff. Dieser Typus wiederum wird von Moser und von Sucro rezipiert; vgl. Moser: Beherzigungen, S. 29, Sucro: Erfahrungen, S. 100. 346 Vgl. Zobel: Ueber die Vorurtheile, S. 130f. 347 Knigge: Über den Umgang mit Menschen, S. 53. Vgl. zu Knigges Aufklärungsverständnis Martin Rector: Knigge oder die Grenzen der Aufklärung, in: ders. (Hg.): Zwischen Weltklugheit und Moral. Der Aufklärer Adolph Freiherr Knigge. Göttingen 1999, 9–20; Göttert: Knigge. 348 Vgl. Zobel: Ueber die Vorurtheile, S. 132f., 135.

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neuen Norm des Vorurteilsdiskurses zunächst in der Umkehrung (und damit dem Fraglichwerden) des logisch-konzeptuellen Zugangs. Die Vorurteilsdebatte reflektiert nicht in erster Linie die Anthropologisierung, sondern die Lösung vom Begrifflichen: Wir mögen also mit dem Vorurtheil einen Begrif verbinden, welchen wir wollen; wir mögen es für eine wahre Meynung halten, der aber hinlängliche Gründe fehlen, oder wir mögen Vorurtheil und Irrthum als gleichgültige Namen ansehen, so wird doch in beyden Fällen eine ähnliche Entscheidung erfolgen müssen.349

Der philosophischen Diskussion um die Begriffsbestimmung des Vorurteils und damit der logischen Formationsregel spricht Zobel Relevanz für die pragmatischen Fragen nach der Anwendung der Vorurteilstheorie und der realen Vorurteilsdestruktion ab. Auch ohne Gründe, abseits jeder Ratio, müßten neben Wahrheiten auch Irrtümer geduldet werden, wenn deren Zerstörung größeren Schaden brächte. Denn Irrtümer sind – hier nähert sich Zobel dem Konzept der „verworrenen Vorstellungen“ bei Lambert – gelegentlich mit Wahrheiten verbunden. „Man kann daher sicher annehmen, daß Vorurtheile, die allgemein und herrschend sind, nicht ganz falsch seyn können.“350 Offenbar gibt es für Zobel höhere Zwecke, primäre Normen, die den Vorurteilsdiskurs regulieren: Denn das Streben des Menschen nach Vollkommenheit besitzt für Zobel den argumentativen Primat. Sozialpragmatische Formen des Vorurteilsdiskurses konstituieren sich in einem Ensemble von Argumenten, das sich kaum mehr dem philosophischen Systemanspruch unterwirft, sondern das diesen in Gattung und Aussageform transzendiert. So kann es auch kaum verwundern, daß ein konzises Resümee der pragmatischrehabilitierenden Vorurteilstheorie in einer Moralischen Wochenschrift zu finden ist. Der Glückselige diskutiert im 274. Stück die Frage der nützlichen und schädlichen Vorurteile.351 Genannt werden acht Aspekte, die die Diskussion um die Rehabilitierung bis dato bestimmten. Erstens: Philosophische Vorurteilstheorie sei wirkungslos geblieben: „Die Weisheitslehrer mögen noch so viel wider die herschenden Vorurtheile schreiben und reden, so bleibts doch wol beym Alten: mundus regitur opinionibus.“352 Zweitens: Vorurteile können positive wie negative Wirkungen zeitigen.353 Drittens: Gegen die vollständige Zerstörung von Vorurteilen werden pragmatische Argumente angeführt: „Die Beschaffenheit des gegenwärtigen Lebens gestattet es nicht, alle und jede Vorurtheile so schlechterdings zu verwerfen.“354 Viertens: Im Zuge der Renormierungsbemühungen angesichts eines zugrundeliegenden formalen Vorurteilsbegriffs wird die wahre Moral als Maßstab 349 350 351

Ebd., S. 137. Ebd., S. 138. Der Glückselige, eine moralische Wochenschrift. 12 Teile. Halle 1763–1768, hier 9.Th. (1767), S. 65ff. 352 Ebd., S. 65. 353 Vgl. ebd. 354 Ebd., S. 66.

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reinstalliert.355 Diese stammt aus den religiösen Überzeugungen, so daß Vorurteile für das Christentum erhalten bleiben, umgekehrt aber Vorurteile gegenüber der Religion dem Verdikt verfallen. Fünftens: Am Beispiel der Erziehung wird demonstriert, daß ein positives Vorurteil des Zutrauens zu Eltern wie zu Lehrern erforderlich ist.356 Auch im pragmatischen Anwendungsfall erweist sich die Norm der Moralisierung als frei von Vorurteilskritik. Sechstens: Vorurteile dienen dazu, ein ruhiges Leben der Untertanen und damit gesellschaftspolitische Affirmation herbeizuführen: „Ihrer (der Vorurteile, R. G.) Macht muß es bisweilen zugeschrieben werden, daß die Unterthanen ruhig leben und keinen Aufruhr wider ihre Obrigkeiten erregen.“357 Siebtens: Die Vorurteile besitzen einen kaum zu unterschätzenden Wert für die menschliche Glückseligkeit und für die Funktionalität der menschlichen Gesellschaft, da sie Handeln ermöglichen, indem sie Entscheidungsprozesse beschleunigen.358 Achtens: Mit diesen Argumenten kann das grundlegende Changieren zwischen Normativität und Normenfreiheit noch nicht zu verallgemeinerbaren Maximen geführt werden. Doch deutet sich mit der Schlußwendung des 274. Stückes des Glückseligen an, daß die Weiterentwicklung des Vorurteilsdiskurses die Frage der Rezeptionssteuerung und der reflexiven Perspektivik in den Blick nehmen würde: wir berufen uns getrost auf das unpartheyische Zeugniß unserer Leser und bitten diejenigen, welchen der Glückselige mißfällt, daß sie nur ihre vorgefaßte Meinungen ablegen wollen, welche sie wider alle und jede Wochenblätter ohne Ausnahme zu unterhalten pflegen.359

Die Hoffnung, daß die Rezipienten bloß ihre allgemeinen Vorurteile abzulegen brauchten, um den Glückseligen schätzen zu können, entbehrt nicht einer ironischen Pointe. Denn daß es schwierig ist, zwischen den restituierbaren und den kritisierbaren Vorurteilen zu scheiden, hatte doch nicht zuletzt der Glückselige zur Genüge demonstriert.

4.3 Naturalisierung und Sensualisierung als Grundlage der Restitution des Vorurteils Die bisher analysierten Varianten der Rehabilitierung des Vorurteils vertrauen darauf, der Notwendigkeit, Vorurteile zu erhalten, Grenzen setzen zu können. Hierzu befördern sie genuin externe Normen zu Formationsregeln des Vorurteilsdiskurses. Doch übernehmen sie kaum sensualisierende Argumentationsfiguren der anthropologischen Wende. Vielmehr suchen sie in unterschiedlicher Weise die 355 356 357 358 359

Vgl. ebd., S. 65f. Vgl. ebd., S. 66, 68ff. Ebd., S. 73. Vgl. ebd., S. 75. Ebd., S. 80.

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Ratio selbst oder aber die Verfaßtheit von Religion und Staat gegen das Andringen der Affekte anzuführen. Ein solcher Ausweg verbietet sich sensualisierend-naturalisierenden Rehabilitierungen des Vorurteils, die ein erkenntnistheoretisch (mehr oder minder) geschlossenes System entwickeln, das keinen externen Regulierungen unterliegt, sondern das die Macht der Sinne innerhalb der vermögenspsychologischen Argumentation zu begrenzen sucht. 4.3.1 Anthropologiebasierter Probabilismus: J. G. H. Feder Das Beispiel des Göttinger Professors für Philosophie Johann Georg Heinrich Feder vermag die sukzessive Stärkung sensualisierender und naturalisierender Argumente zu verdeutlichen. Doch kann an Feder auch die begrenzte Reichweite anthropologisch-popularphilosophischer Systembildungen in Hinblick auf den akademisch-philosophischen Diskurs abgelesen werden. Daß sich Feders Empirismus (von Anthropologie wäre gesondert zu reden) nicht durchsetzte, findet seine Ursache sowohl in der Rezeption von Feders Kontroverse mit Kant, an deren Eskalation wohlmeinende Kantianer nicht unbeteiligt waren, als auch in der Integration empirischer Methoden in Kants Systementwurf.360 In Feders Grundriß der philosophischen Wissenschaften bleiben anthropologische Argumente fragmentarisch. Die rationale Logik bestimmt noch relativ unbeeinträchtigt die Möglichkeit der Wahrheitsgewinnung in Erkennen und Urteilen. Als Ausweis der Wahrheit gilt für Feder die Übereinstimmung von Vorstellung und Gegenstand, von Namen und Wesen, von Rede und Gedanken.361 Prinzipiell ist Wahrheit in der Erkenntnis möglich, doch müsse diese These angesichts der Selbstaktivität der Seele, die über den Vernunftschluß hinausgeht, eingeschränkt werden: „Indem unsere Seele ihre Begriffe absondert, trennet und verbindet, und sich neue Begriffe schafft: so kann Widerspruch und Irrthum in unsere Erkenntniß kommen.“362 Die offenbar in Anlehnung an Lambert entwickelte These, Wahrheit und Irrtum seien verbunden, läßt aber nicht den Schluß zu, daß Wahrheit nicht eindeutig erkennbar sei: Denn der Identitätssatz biete ja eine hinreichende Grundlage hierfür.363 Doch ist die Möglichkeit des Irrtums ursächlich mit Urteilsprozessen verbunden.364 Problematisch werden für Feder insbesondere solche Fälle, in denen ein 360

Vgl. Röttgers: Feder, S. 437, Reinhard Brandt: Feder und Kant, in: Kant-Studien 80 (1980), 249–264, hier S. 250, 259ff. Feder bearbeitete die von Garve stammende Rezension von Kants Kritik der reinen Vernunft: Vgl. Altmayer: Aufklärung als Popularphilosophie, S. 22f. 361 Vgl. Feder: Grundriß, S. 60f. 362 Ebd., S. 63. 363 Vgl. ebd., S. 63f. Daß Feder sich auf Lambert bezieht, läßt sich nicht nur aufgrund der inhaltlichen Parallelen vermuten. Feder nennt im Kapitel Beytrag zur philosophischen Bücherkenntniß für die jeweiligen Teildisziplinen einschlägige Titel. Im Bereich der Logik führt Feder unter anderen auch Lamberts Neues Organon an. Vgl. ebd., S. 348f. 364 Vgl. ebd., S. 66.

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Urteil auf ein Urteil anderer gründet, das ohne vorherige Prüfung angenommen wird. Das seit der Frühaufklärung gängige Beispiel der Urteilsbildung in der frühen Kindheit führt auch Feder an, überträgt es aber auf die Urteilsbildung Erwachsener: „Wir überkommen in der Kindheit Begriffe und Meynungen anderer, ehe wir sie zu prüfen im Stande sind, ja ehe wir es gewahr werden; und oftmals eben also im gesellschaftlichen Umgang.“365 Der ungeprüften Übernahme liegt daher nicht eine Wahrheitshypothese zugrunde, sondern die affektive Annahme, den anderen, von denen man die Urteile übernimmt, könne man vertrauen. Es handelt sich also nicht nur um unreflektierte, sondern sogar um vorreflexive Prozesse, die Feder nun als Vorurteile bezeichnet: „Solche Meynungen, die man angenommen hat, mehr weil sie andere hatten, als aus Einsicht in den Zusammenhang der Wahrheiten, heissen Vorurtheile.“366 Diese Begriffsklärung, die Vorurteile als übereilte und aus Vertrauen in die Autorität anderer angenommene Meinungen kennzeichnet, ergänzt Feder allerdings auch mit Hinweisen auf andere Vorurteilsbestimmungen. Man bezeichne auch die Folgerungen aus diesen Meinungen („ihre Abkömmlinge“) oder auch ganz allgemein „alle irrige Urtheile, die man wieder auf andere anwendet“, als Vorurteile.367 Feder schöpft hier das Spektrum möglicher Vorurteilsdefinitionen bis auf die Variante einer material-wahren Definition aus. Zwar spricht er in seiner Definition nicht ausdrücklich von der Falschheit des Vorurteils, doch liegt der Verdacht nahe, daß Vorurteile für Feder im Grundriß doch Irrtümer sind. Denn Nachdenken gilt als Mittel gegen Vorurteile. Feder nennt pragmatische Regeln zur Vermeidung von Irrtümern, die im wesentlichen auf die Kraft der Reflexion gegen die als falsch verstandenen Irrtümer und Vorurteile (hier scheinen die Begriffe äquivalent) vertrauen.368 Dem entspricht die Zuordnung der Vorurteilsproblematik zum Logik-Kapitel. Anthropologie erscheint im Grundriß als ein pragmatisches Problem der Klugheitslehre.369 Zur Klugheit sei die „Kenntniß der Welt und der Menschen höchst nothwendig“.370 Feder empfiehlt daher ein empirisches Beobachtungsprogramm, das auf die Diversität natürlicher Umstände, auf die Quellen psychischen Wissens, auf die systemisch geleitete eigene Beobachtung, auf Introspektion und nicht zuletzt auf die zeitliche und lokale Varianz des Beobachtungsgegenstandes Rücksicht nimmt.371 Neigungen und Affekte überwiegen die rationale Selbstkontrolle. Sensualistisch führt Feder die „Macht der Gewohnheit“ als Argument ein:

365 366 367 368 369

Ebd., S. 67. Ebd., S. 68. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 68f. Vgl. zur Nähe von praktischer Philosophie und Anthropologie bei Feder Berg: Erzählte Menschenkenntnis, S. 162. 370 Feder: Grundriß, S. 322. 371 Vgl. ebd., S. 322f.

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also ist aus der Erfahrung bekannt, und aus allgemeinen Gründen leicht einzusehen, daß eine Neigung, der man lange gefolgt, eben dadurch eine solche Stärke erhalte, daß sie Natur zu seyn scheinet, daß sie wie ein Grundtrieb sich verhält, Handlungen veranlasset, bey denen sich keine jenem wahren Grundtriebe gemäße Absicht angeben lässet, ja die den Entschliessungen und praktischen Grundlagen des nemlichen Menschen selbst vielmals entgegen sind.372

Die Macht der Gewohnheit bildet eines der gängigen Erklärungsschemata für Vorurteile in der Aufklärung. Auch hier läßt sich eine Spur zurückverfolgen zur halleschen Vorurteilstheorie der 1750er und 60er Jahre. Johann Gottlob Krüger, der von Feder mehrfach zur Lektüre empfohlen wird, sah ebenfalls Gewohnheit als Ursache des menschlichen Handelns und Denkens.373 Auch Der Glückselige diskutiert in mehreren Stücken die „Macht der Gewohnheit“ und ihre Folgen, wobei zunächst psychische Ursachen für schädliche Wirkungen der Gewohnheit benannt werden, um in einem anderen Stück deren positive Folgen für die Steuerung der Affekte, für die menschliche Glückseligkeit und für die Befriedung von Staat und Gesellschaft zu betonen.374 Bildet die psychische Konstitution des Menschen einen Teil der praktischen Philosophie, so können Vorurteile auch als Hindernisse der Tugend in den Blick kommen.375 Feder betrachtet Vorurteile nun unter moralischer Prämisse als „Meynungen, die den Bewegungsgründen zur Tugend entgegen gesetzt sind“.376 Für Feder sind dabei Tugend und Ratio funktional identisch. Denn den tugendschädlichen Vorurteilen ist mit einem Reservoir an Bekämpfungsstrategien beizukommen, das im wesentlichen auf rationale Vorurteilskritik und die logische Wahr-falschDichotomie abhebt: „Was du einmal für wahr erkannt hast, und für wahr erkennen mußt, so oft die Vernunft ruhig und frey genug ist, die Wahrheit einzusehen, dies, dies allein, muß deine Handlungen bestimmen.“377 Eine ständige Selbstprüfung ist dabei notwendig. Wenn die eigene Ratio nicht ausreicht, dürfe man darauf vertrauen, daß das „allgemeine Lob“ ein sicheres Kennzeichen für die Entscheidung sei, von wem man dasjenige lernen könne, was „zur guten Lebensart und zum Wohlstand gehöret“.378 Um aber solche Entscheidungen nach Gründen treffen zu können, ist anthropologische Menschenkenntnis vonnöten. In Feders Grundriß manifestiert sich einerseits der Versuch, auf einer methodisch reflektierten Basis die rationalistische Einhegung des Vorurteilsproblems wiederherzustellen, während andererseits die pragmatische Anthropologisierung und die Formalisierung des Vorurteilsbegriffs der interdiskursiven Rezeption der rehabilitierenden Vorurteilsdiskussion und der Anthropologie zu verdanken sein könnten. Feder nimmt nicht nur Meiers Beyträge zu der Lehre von den Vorurthei372 373 374 375 376 377 378

Ebd., S. 237f. S.o. S. 110. Vgl. Feder: Grundriß, S. 347, 358, 361. Vgl. Der Glückselige. 4.Th. (1764), 129.St., S. 385ff. und 5.Th. (1765), S. 113ff. Vgl. Feder: Grundriß, S. 302. Ebd. Ebd., S. 306. Ebd., S. 308.

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len des menschlichen Geschlechts auf seine Leseliste auf, sondern auch Krügers Träume, Helvetius’ De l’esprit, Abbts Vom Verdienste, Henry Home Lord Kames’ Grundsätze der Kritik, Baumgartens Metaphysik, Bonnet, Newton, Eberhard, Buffon, Linné, Basedow, Mosers Beherzigungen, Rousseaus Discours sur l’inégalité, den Contrat social, den Emile – um nur einige ausgewählte Titel zu nennen.379 Läse man Feders Listen vermischter Schriften und der Schriften zur praktischen Philosophie als Kompendium des anthropologischen Diskurses der Hochaufklärung, es müßte kaum etwas hinzugefügt werden. Man kann demnach davon ausgehen, daß Feder die Forschungslage bestens kennt, als er 1772 Ernst Platners Anthropologie für Ärzte und Weltweise rezensiert.380 Betonte Feder in seinem Grundriß den Nutzen der Anthropologie für die praktische Philosophie, so beginnt er seine Platner-Rezension mit der Notwendigkeit, Anthropologie als Verbindungswissenschaft vom ganzen Menschen zu konstituieren: „Die medicinische Kenntniß des menschlichen Körpers kann nicht ohne Psychologische Kenntnisse, und die Seelenlehre noch weniger ohne gewisse medicinische Beobachtungen und Lehren bestehen.“381 Unstrittig ist der gegenseitige Nutzen von medizinischen und psychologischen Kenntnissen, welche mangels anderer disziplinärer Zuordnung noch immer der Philosophie zugeschrieben werden. Methodisch deutet Feder durch die Verbindung von „Beobachtungen und Lehren“ jedoch bereits eine Erweiterung seiner im Grundriß noch primär rationalen Verfahren an. Denn empirisches Vorwissen muß sich mit Selbstdenken auch in der Rezeption von Platners Anthropologie gewinnbringend verbinden: Es (das Buch, R. G.) wird gewiß bey allen denen dem V. Ehre machen, die in der ächten Psychologie nicht mehr zu fremd sind, und überhaupt Bücher zu schätzen wissen, in welchen ein Reichthum von Erkenntniß liegt, aber nur für selbstdenkende und genugsam vorbereitete Leser.382

Mit den Untersuchungen über den menschlichen Willen legt Feder einen anthropologisch-empirischen Systementwurf vor, den er „empirisch-analogische Philosophie“ nennt.383 Damit rekurriert er auf die anthropologiebasierten Argumentationsformen der Empirisierung und Naturalisierung, die sein methodisches Vorgehen mehr denn die inhaltlichen Aspekte der Untersuchungen prägen. Feder konzipiert diese als praktische Philosophie in Analogie zu Lockes Essay Concerning Human Understanding.384

379 380

Vgl. ebd., S. 346ff., 363ff. Vgl. Johann Georg Heinrich Feder: [Rezension von: Ernst Platner: Anthropologie für Aerzte und Weltweise], in: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 1772, 67.St., 571–574. 381 Ebd., S. 571. 382 Ebd., S. 574. 383 Vgl. Röttgers: Feder, S. 422. 384 Vgl. Brandt: Feder und Kant, S. 254.

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Feder geht davon aus, daß der Mensch sich selbst der wichtigste Gegenstand seiner Erkenntnis ist. Problematisch ist aber der in der Ontogenese beobachtbare zeitliche Vorsprung der Außen- vor der Selbstwahrnehmung: Unermüdet im Eifer, das Wesen eines jedweden Dings zu entwickeln, die einfachsten Kräfte und die verborgensten Gesetze der Natur zu ergründen, verabsäumt er sein Herz zu erforschen, wo doch auch so mancherley Täuschungen dem flüchtigen Alltagsblicke die Wahrheit verbergen können.385

Nicht nur der Mangel an Reflexivität erscheint hier methodisch prekär, sondern auch die Introspektion selbst. Ein „flüchtiger Alltagsblick“ fiele leicht auf „Täuschungen“ herein und reichte zur wissenschaftlich gesicherten Erkenntnis nicht aus. Die Komplexität des menschlichen Erkennens, ein zentrales anthropologiebasiertes Argument, liegt den Schwierigkeiten zugrunde. Die Wissenschaften, die sich mit den Dingen außerhalb des Menschen beschäftigen, müssen die anthropologische Selbstperspektive ergänzen. Denn – und hier zeigt sich das naturalisierende Argument – die Relationen des Menschen zu den Dingen außerhalb bestimmt diesen: Selbst zur Kenntniß seiner eigenen Natur dient dem Menschen jedwede andere Wissenschaft. Sie ist das Werk seiner Kräfte; und der Mensch kann sich nicht gerade zu aus sich selbst kennen lernen. Nur durch die Bemerkung seiner Verhältnisse zu andern Dingen, dessen, was er thut, was er will, und was er leidet, kennt er sich.386

Kulturalisierende und historisierende Aspekte treten zu den empirisierenden, die die Masse der Beobachtungsobjekte thematisieren, hinzu.387 Die Untersuchungen bilden die natürliche Folge menschlicher Erkenntnis ab, indem sie psychologische Erkenntnisse zugrundelegen, um die menschliche Natur zu analysieren. Die Beschäftigung mit den eigenen Affekten, Leidenschaften, dem eigenen Willen, den eigenen Handlungen, Charaktereigenschaften und mit dem organischen Funktionieren des eigenen Körpers bildet die erste Stufe des empirischen Modells. Die öffentliche Diskussion dieser Beobachtungen erweitert die empirische Urteilsbasis für den Vergleich und die Bildung von Hypothesen und Analogien. Hieraus werden naturgemäße Maximen abgeleitet und schließlich in die moralpragmatische Frage des rechten Gebrauchs der Willens- und Verstandeskräfte überführt.388 Das hier nur knapp skizzierte empirische Modell Feders setzt sich vom systemischen Vorgehen ab, das deduktive Schlüsse präferiert. Sammeln und Vergleichen

385 386 387

Feder: Untersuchungen. 1.Th., S. 2. Ebd. Vgl. ebd., S. 4. Vgl. zur Zeitabhängigkeit des Urteils über das moralisch Gute Röttgers: Feder, S. 429; zur Betonung der Geschichte gegenüber der Metaphysik Linden: Untersuchungen, S. 41. 388 Vgl. Röttgers: Feder, S. 422f. Man verkürzte den Anspruch der Untersuchungen um die moralpragmatische Dimension, rechnete man sie der Gattung Anthropologie zu. Vgl. Berg: Erzählte Menschenkenntnis, S. 109f.

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von Einzelbeobachtungen ist für Feder der einzig gangbare Weg der Menschenkenntnis. Zudem rechnet er mit den Schwierigkeiten der Empirisierung: „Geometrisch erwiesene“ Wahrheit sei so nie zu gewinnen.389 Die Distanz zu rationalistischen Systementwürfen könnte kaum deutlicher sein. Wolff habe wohl „die Wissenschaft, von welcher hier die Rede ist, bearbeitet.“390 Feder meint hier insbesondere Wolffs praktische Philosophie und empirische Psychologie. Allerdings, so Feder, habe Wolff aufgrund seines nicht-empiriebasierten Vorgehens „eine zu magere, skeletirte Vorstellung der Natur“ gewonnen.391 Feder verschränkt in seiner praktischen Philosophie empirische Methodik mit anthropologiebasierter Erkenntnisskepsis. Anthropologische Inhalte (wie die Thesen zum commercium, die Diskussion von Affekten und Neigungen) und anthropologiebasierte Argumentationsverfahren, die zur Psychologisierung des Handelns und zur Relativierung der Erkenntnisgewißheit führen, prägen Feders Erkenntnistheorie und Urteilslehre. Vor diesem Hintergrund muß Schneiders’ Befund korrigiert werden, Feders Vorurteilstheorie bleibe „ohne klares Ergebnis“ und nehme eine Zwischenstellung zwischen Universitäts- und Popularphilosophie ein.392 Feder bietet ein prototypisches Beispiel dafür, daß der anthropologische Interdiskurs Regulationsformen auch für die (praktische) Philosophie bereitstellt.393 Im Unterschied zu sozialpragmatischen und politischen Formen der Rehabilitierung des Vorurteils stehen hier sensualisierend-naturalisierende Argumente im Zentrum. Da es sich allerdings um Texte philosophisch-disziplinärer Provenienz handelt, artikuliert der sich öffnende Vorurteilsdiskurs seine Verengung gleich mit. Feder bleibt skeptisch gegenüber allzu weitreichenden Konsequenzen der Naturalisierung und versucht, alle Erkenntnis geregelten empirischen Verfahren zu unterwerfen. Feders Logik und Metaphysik setzt sich, wie der Autor in der Vorrede selbst betont, vom Grundriß der Philosophischen Wissenschaften ab, da dieser „unbrauchbar“ geworden sei.394 Logik wird hier im Gefolge Lockes psychologisch umgedeutet.395 Feder sieht die Legitimation von Vorurteilen denn auch nicht mehr in ihrem möglichen Beitrag zu wahrer Erkenntnis, sondern in pragmatischer Handlungsrelevanz: Vorurteile sind insofern funktional, als sie Urteile der Men389 390 391

Vgl. Feder: Untersuchungen, S. 15. Ebd., S. 19. Ebd., S. 21. In der Generation Feders war „Eklektik“ zum Schlagwort für die Befreiung von der Herrschaft des Wolffschen Rationalismus geworden. Vgl. Dreitzel: Entwicklung und Eigenart, S. 294. 392 Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 247, 244. 393 Riedel nennt dies „Psychologisierung der Philosophie“. Vgl. Riedel: Anthropologie und Literatur, S. 106f. 394 Vgl. Johann Georg Heinrich Feder: Logik und Metaphysik nebst der Philosophischen Geschichte in Grundrissen. Göttingen / Gotha 21770, Vorrede zur ersten Ausgabe, S. *2. 395 Vgl. Brandt: Feder und Kant, S. 253.

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schen beschleunigen, aktives, entscheidungsfreudiges und situationsangepaßtes Handeln ermöglichen.396 Schnelle Entscheidungen, die auf der Grundlage unvollständiger Erkenntnis gefällt werden, gelten für Feder auch in den Untersuchungen über den menschlichen Willen als notwendig: „Aber der menschliche Verstand kann auch bey unvollständiger Erkenntniß und nicht gegen allen Irrthum sicher stellenden Gründen zum Urtheil sich bestimmen; und muß es bey dringenden Bedürfnissen und wichtigen Antrieben zum Handeln.“397 Diese lebenspraktische Wendung führt dazu, daß das Vorurteil vom material-falschen Irrtum separiert wird. Urteile ohne gehörige Untersuchung, im Grundriß noch als allgemeinste Irrtumsursache angeführt, werden nun als Vorurteile bestimmt, die nicht in allen Fällen „notwendig auf Irrtum“ führten.398 Übereilung im Urteilen gilt anthropologisch wegen des Einflusses der Neigungen als unvermeidbar.399 Die affektive Struktur des Menschen wird so nicht nur zum bloß gnoseologischen Faktum (auch dies entwickelte bereits das rationalistische Vernunftvertrauen weiter), sondern sogar zum wesentlichen Einflußfaktor auf Operationen auch der oberen Erkenntniskräfte: „Es folget aus den vorhergehenden, und die Erfahrung lehret es in unzähligen Beyspielen von vielerley Art, daß der Zustand des Gemüths, die Begierden und Neigungen, die ein Mensch heget, einen gewaltigen Einfluß auf seine Begriffe, Urteile und Meynungen haben.“400 So ist vieles in unserer Erkenntnis auf Vorurteile gegründet. Grundsätzlich bestimmen Vorurteile auch den Urteilsprozeß über sie selbst. Nimmt man die metareflexive Ebene der Struktur von Erkenntnisprozessen in den Blick, so wird deutlich, daß das Vertrauen in die rationale Einsicht grundsätzlich durch vorgängige Urteile und Neigungen erschüttert ist. Aus Vorurteil halte man manches für Vorurteil, was es nicht sei.401 Schneiders charakterisiert diese Sentenz lediglich als „witzige Schlußbemerkung“.402 Dies greift zu kurz: Feder formuliert hier eine These, die die Reichweite der Logik eminent limitiert. Sie nimmt das Problem der Metareflexivität (m.a.W. der Selbstaufklärung) in den Blick. Denn jede Erkenntnis ist nach Feder Vorurteilen unterworfen und weicht damit tendenziell vom vollständigen Wahrheitsanspruch ab. Die Interessenlenkung durch den Willen und die empirisch beschränkte Perspektive tun ein übriges, um Vorurteilen im Gesamt der menschlichen Erkenntnisprozesse ein quantitatives Übergewicht zu verschaffen:403 „Ueberhaupt aber suchen wir das, was wir wünschen; [...] Was der Mensch wünschet, glaubt er 396 397 398

Feder: Logik und Metaphysik (2. Aufl.), S. 265. Feder: Untersuchungen. 4.Th., S. 15. Vgl. Röttgers: Feder, S. 425. Vgl. Feder: Grundriß, S. 68. Vgl. Feder: Logik und Metaphysik (2. Aufl.), S. 266. Ein Irrtum liegt nur dann vor, wenn unsichere Merkmale zum Grund der Urteile gemacht werden – nicht, wenn nur die Prüfung ausbleibt. 399 Vgl. ebd., S. 267. 400 Ebd., S. 261. 401 Vgl. ebd., S. 267f. 402 Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 248. 403 Vgl. Feder: Logik und Metaphysik (2. Aufl.), S. 261.

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leicht.“404 Hier verbinden sich voluntaristische Argumente, wie sie auch Thomasius schon vorbrachte, mit sensualisierenden und empirisierenden zur Erkenntnis, daß das Vorurteil unvermeidlich ist. Dessen Bekämpfung ist daher auch schwierig. Denn je länger ein Vorurteil gehegt wurde, desto tiefer hat es sich „eingedrucket“.405 Verbindet sich mit ihm eine voluntaristische Neigung, erschwert dies die Selbstkritik zusätzlich, zu der eben nicht nur eine gesunde Vernunft, sondern auch eine „eigene Lust“ notwendig ist – ein affektives Gegenmittel gegen den Affekt des Vorurteils.406 Denn insbesondere die Vorurteile, die mit den „Triebfedern“ des Herzens zusammenhängen, seien nur schwierig auszurotten. Als wirksames Mittel gegen Vorurteile gilt die Verbreiterung der empirischen Basis. Soziale und kulturübergreifende Kontakte, die Erweiterung und Vervielfältigung der „Verbindungen der Menschen unter einander“ tragen nach Feder zum Abbau von Vorurteilen und Abneigungen bei.407 Wahrheit extrapoliert sich aus dem Vergleich subjektiver Meinungen in einem fortdauernden Prozeß. Anthropologiebasierte Argumentationsfiguren schränken die Reichweite der Logik entscheidend ein. Zum Maßstab der Rehabilitierung des Vorurteils wird bei Feder die lebenspraktische Vernunft, wie er in der fünften Auflage in einem ergänzenden Zusatz eindeutig formuliert: „Es können die Vorurtheile bisweilen vernünftige Vermuthungsregeln [...] sein.“408 Statt logischer Wahrheit kann durch solche Vermutungsregeln eine „vernünftige Wahrscheinlichkeit“ erreicht werden.409 Zu diesen Vermutungsregeln gehört die Annahme von Wahrscheinlichkeiten, Kausalzusammenhängen und beständigen Verknüpfungen.410 Das Vorurteil wird also heuristisch gerechtfertigt.411 Der anthropologiebasierte Probabilismus erweist sich hier als nicht bloß unvermeidbare, sondern als sinnfällige Erkenntnisstufe für das praktische Leben. Wahrscheinlichkeit, nicht Wahrheit wird zur Re404 405

Ebd., S. 262. Ebd., S. 267. Die sensualistische Metapher des „Eindrucks“ suggeriert eine physiologische Wirkung psychischer Prozesse und steht so prototypisch für einen anthropologisch-ganzheitlichen Zusammenhang. Feder selbst nennt Helvétius und Locke als Quellen; vgl. ebd., S. 265. 406 Vgl. ebd., S. 268. 407 Vgl. Feder: Untersuchungen. 2.Th. (1782), S. 684f. Vgl. Röttgers: Feder, S. 432. Dies ist einer der (wenigen) Aspekte, in denen die neuere empirische Sozialforschung den Aufklärungsoptimismus desillusionieren konnte. Bei festgefügten Vorurteilen und Stereotypen gegenüber Personengruppen wird der positive Gegenbeweis oft als „Ausnahme“ verbucht. Vgl. zu den Schwierigkeiten des „contact approach“ Peter O. Güttler: Sozialpsychologie. Soziale Einstellungen, Vorurteile, Einstellungsänderungen. München / Wien 32000, S. 144. 408 Feder: Logik und Metaphysik (5. Aufl.), S. 185. Diese Bemerkung wurde von Feders Göttinger Kollegen Georg Christoph Lichtenberg aufgenommen: „Die lächerlichsten Moden können ein Übergang zu etwas sein, was wir auf keinem andern [Wege] gefunden hätten. Es können die Vorurteile, sagt Feder, zuweilen vernünftige Vermutungs-Regeln sein.“ (Lichtenberg: Sudelbücher I, F 871, S. 584.) Lichtenbergs Sudelbuch-Eintrag stammt aus dem Winter 1777/1778. 409 Vgl. Feder: Logik und Metaphysik (5. Aufl.), S. 136. 410 Vgl. ebd. 411 Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 248.

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gulationsnorm des Vorurteilsdiskurses. Da Vorurteile nicht immer Irrtum erzeugen, sind sie nur dann verwerflich, wenn auf sie zu stark vertraut wird oder dann, wenn „es bessere Erkenntnißgründe gäbe“.412 Wahrheit ist nicht vollständig delegitimiert, doch wird sie erkenntnispraktisch auf den Status der häufigeren, bloß wahrscheinlichen Urteile zurückgeführt. 4.3.2 Naturalisierung und theologische Norm: J. B. Basedow Auch Johann Bernhard Basedow berücksichtigt die erkenntnispraktische Dimension, wenn er versucht, sensualistische Formen der Urteilsbildung in das Erkenntnissystem zu integrieren. Jede gemeinnützige Erkenntnis erhält zwar eine nichtlogische, naturalisierte Perspektive, die Wahrscheinlichkeit zum Grund des Urteils macht, doch verliert der Urteils- und Vorurteilsdiskurs dadurch nicht jegliche Norm. „Alle gemeinnützige Erkenntnisse der Menschen erhalten ihre Gewißheit aus allgemeinen analogischen Erfahrungen, aus der Häufung der Wahrscheinlichkeit, und aus der vernünftigen Glaubenspflicht, [...]“.413 Analogie und Glaubenspflicht gehören für Basedow im Unterschied zu den von ihm kritisierten „Systematikern“ zu den Erkenntnisgründen.414 Doch bleibt jene naturalisierte Wahrscheinlichkeit nicht auf den Bereich der gemeinen Erkenntnis beschränkt, sondern betrifft auch die philosophische. Zur Entlogisierung des Erkenntnis- und Urteilsdiskurses tritt mithin auch eine Pragmatisierung der Philosophie: „Denn auch das philosophische Genie untersucht Wahrscheinlichkeiten, und den Werth mancher Zeugnisse und fremder Belehrungen; die feinern analogischen Schlüsse sind sein vorzügliches Erkenntnißmittel, [...]“.415 Der Unterschied historischer und gemeiner Erkenntnis bestehe darin, daß letztere sich „auf ein sorgloses, unverständiges und übereilendes Vertrauen auf die ersten Einfälle, oder auf ununtersuchte Zeugnisse und Belehrungen“ gründe.416 Die gemeine Erkenntnis wäre somit im Sinne eines formalen Vorurteilsbegriffs vorurteilsbelastet. Doch Basedows Beweisführung läßt den Schluß zu, daß auch gemeine Erkenntnis vollgültig ist. Denn Vorurteilsbeladenheit und Wahrheit schlössen sich nicht aus, weil jene Verbindung göttlich gewollt sei: Gott habe den Menschen eine Vernunft geschenkt, „die zwar den ungereimtesten Vorurtheilen unterworfen ist, aber dennoch in einer besonders angenehmen und nützlichen Harmonie mit der Wahrheit steht“.417 Hier tritt die theologische Norm als Letztbegründung an die Stelle der Logik. Sie übernimmt deren Funktionen nicht innerhalb des Erkenntnisprozesses, sondern als dessen Legitimation, die Wahrscheinlichkeit und Vorurteile als 412 413 414 415 416 417

Johann Georg Heinrich Feder: Grundsätze der Logik und Metaphysik. Göttingen 1794, S. 134. Basedow: Theoretisches System [Erstes Buch], S. 5. Vgl. ebd., S. 5f. Ebd., S. 38f. Ebd., S. 39f. Ebd., S. 47.

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unvermeidbare und notwendige Resultate menschlichen Erkennens und Urteils anerkennt. Basedow unterscheidet sich in dieser Hinsicht elementar von Chladenius, der zwar gleichfalls historische Erkenntnis an Wahrscheinlichkeit bindet, diese jedoch als der göttlich geordneten Natur entgegengesetzte und damit nicht vollständige Stufe der Erkenntnis ansieht.418 Wahrheit wird letztlich bei Basedow vorurteilsabhängig bestimmt: „Wahr ist ein Satz, der geglaubt werden muß.“419 So gelten Wahrheit und eine analogisch-naturalisierte Wahrscheinlichkeit als graduelle Abstufungen menschlicher Erkenntnis.420 Wahrscheinlichkeit ist eine unvermeidbare Zwischenstufe der Erkenntnis, die „besser, als das Gegentheil, mit unserer wesentlichen Denkart übereinstimmt.“421 Auf dieser Grundlage werden auch Vorurteile gnoseologisch und pragmatisch rehabilitiert; sie widersprechen nicht der integrierten theologischen Norm. „Zur Gattung der Vorurtheile gehören also höchstviele Gedanken der meisten Menschen; sowol, wenn sie etwas gewiß glauben, als wenn sie etwas vermuthen.“422 Basedow unterscheidet darüber hinaus zwischen persönlichen und allgemeinen Erfahrungen, um die Legitimation von „Präsumtionen“ in der Religion zu begründen.423 Die zugrundeliegende formal-logische Perspektive wird also einerseits auf der Ebene religiöser Wahrheiten zugunsten der Wahrscheinlichkeit in pragmatischen Zusammenhängen zurückgestellt, andererseits aber auch sensualisierend delegitimiert: Angewöhnte Urteile würden nur schwerlich durch Einsicht benommen, sie kehrten oft wegen des Triebs der Gewohnheit zurück.424 „Gleich wie aus den Urtheilen der Menschen viele Neigungen entspringen; so haben wiederum die Neigungen großen Einfluß in die Urtheile. Mancher hofft leicht, was er heftig verlangt, mancher vermuthet leicht, was er heftig verabscheut.“425 Das sozialpragmatische Wissen um die Vorurteilsanfälligkeit der Menschen, die sensualisierende Begründung dieses Wissens mit der Anfälligkeit der menschlichen Urteilsprozesse für Neigungen, die naturalisierende Annahme graduell unterschiedlicher Erkenntnisgewißheiten und die Renormierung des Vorurteilsdiskurses durch die These, das menschliche Erkenntnisdefizit sei göttlich gewollt, führen bei Basedow zu einem pragmatisch-limitierten Verständnis der Aufgaben der Aufklärung. Doch vertraut der philanthropische Pädagoge Basedow auf die durch neue 418

Vgl. Johann Martin Chladenius: Vernünftige Gedanken von dem Wahrscheinlichen und desselben gefährlichen Mißbrauche. Hg. und mit Anm. von Urban Gottlob Thorschmiden. Stralsund / Greifswald / Leipzig 1748, S. 6. 419 Basedow: Theoretisches System [Zweytes Buch], S. 69. 420 Vgl. ebd., S. 75. 421 Ebd., S. 93. 422 Ebd., S. 99f. 423 Vgl. Basedow: Theoretisches System [Erstes Buch], S. 49. 424 Vgl. ebd., S. 75. 425 Ebd., S. 92f. Im Brief an Basedow setzt Mendelssohn die Wirkung der Vorurteile der herrschenden Nation mit der affektiven „Kaltsinnigkeit“ gleich. Vgl. Moses Mendelssohn an Johann Bernhard Basedow im April (?) 1768, in: Mendelssohn. JubA 12,1, S. 160. Vgl. auch Albrecht: Mendelssohn über Vorurteile, S. 300f.

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Formen des Unterrichts erreichbare Aufklärung: „Aber gar leicht läßt sich derselbe (der Unterricht, R. G.) so verbessern, daß die dem großen Haufen vorgetragenen und von ihm geglaubten Beweisgründe lauter richtige Beweisgründe würden.“426 4.3.3 Sensualisierte Vorurteilsrehabilitierung und die konfligierende Episteme Naturalisierende und sensualisierende Argumentationsverfahren nutzt auch Johann Georg Sulzer zur Begründung vorurteilsrehabilitierender Überlegungen. Sulzer kehrt die disziplinäre Rangordnung innerhalb der Psychologie unter Berufung auf Baumgarten um und schließt die „dunkeln Gegenden“ des menschlichen Geistes in die Psychologia empirica ein.427 Empfindungen werden aufgewertet und als Erkenntnisformen verstanden, in denen sich die Seele ihrer eigenen Tätigkeit oder ihres Strebens nach Tätigkeit bewußt wird.428 Diese „Aufwertung der Sinne“ führt aber nicht gleichzeitig zur „Demontage der mathematischen Erkenntnis“429 (oder gar schlechthin der intellektuellen). Denn Sulzer unterscheidet erkenntnishierarchisch die Stufen der sinnlichen, der intellektuellen und der moralischen Erkenntnis. Hieraus leitet er den Anspruch ab, Moralphilosoph und nicht bloß Ästhetiker zu sein.430 Die sensualisierende Argumentation Sulzers hat keinen konfligierenden,

426

Basedow: Theoretisches System [Zweytes Buch], S. 101. Riedel sieht bei Basedow einen Zusammenhang zwischen der auf Thomasius beruhenden Bestrebung um Extramuralisierung der Philosophie und der Entstehung der Pädagogik. Vgl. Riedel: Weltweisheit, S. 410. 427 Vgl. zu Sulzer: Wolfgang Riedel: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart / Weimar 1994, 410–439, hier S. 412f. Nach Sulzer stehen alle „Feinde der Vernunft“ in den „dunkeln Gegenden der Seele“. Vgl. Johann Georg Sulzer: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes: Daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe sondern selbst gegen dringende Antriebe und Gründe handelt und urtheilet, in: ders.: Vermischte philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. Leipzig 1773, 99–121, hier S. 117. Vgl. auch Adler: Fundus animae, S. 203, Hans Erich Bödeker: Konzept und Klassifikation der Wissenschaften bei Johann Georg Sulzer (1720–1779), in: Martin Fontius / Helmut Holzhey (Hg.): Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Berlin 1996, 325–339, hier S. 336, Godel: Eine unendliche Menge, S. 557ff. Steigerwald suggeriert eine Ähnlichkeit des von Sulzer formulierten Prinzips der Wahrnehmung mit Klopstocks Darstellungs-Konzept. Vgl. Jörn Steigerwald: Schwindelgefühle. Das literarische Paradigma der ‚Darstellung‘ als Anthropologikum (Klopstock, Sulzer, Herz, Hoffmann), in: Thomas Lange / Harald Neumeyer (Hg.): Kunst und Wissenschaft um 1800. Würzburg 2000, 109–131, hier S. 117f. Vgl. zu Sulzers „Theorie der schönen Künste“ auch Élisabeth Décultot: Éléments d’une histoire interculturelle de l’esthétique. L’exemple de la ‚Théorie générale des beaux-arts‘ de Johann Georg Sulzer, in: Revue germanique internationale 10 (1998), 141–160. 428 Vgl. Sauder: Empfindsamkeit, S. 116f. 429 Dies behauptet Rachold: Aufklärerische Vernunft, S. 179. 430 Vgl. Gerhard Sauder: Mendelssohns Theorie der Empfindungen im zeitgenössischen Kontext, in: Erhard Bahr / Edward P. Harris / Laurence G. Lyon (Hg.): Humanität und Dialog: Lessing und Mendelssohn in neuer Sicht. Detroit / München 1982, 237–248, hier S. 240; Johan van der Zande: Johann Georg Sulzer’s ‚Allgemeine Theorie der schönen Künste‘, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 22,1 (1998), 87–101, hier S. 101.

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sondern einen integrativen Anspruch auf „denkendes Empfinden“ und „sinnliches Denken“.431 Die interdiskursive Konstellation wirkt unmittelbar auf Sulzers Beitrag zum Vorurteilsproblem. Den Kern von Sulzers Argumentation bildet hier die Neubestimmung der Bewußtheit und deren Folgen für Erkenntnisprozesse.432 Wie Sulzer im Essay Von dem Bewußtseyn und seinem Einflusse in unsre Urtheile ausführt, setzt Urteilen einen Prozeß bewußter (nicht notwendig rationaler) Distinktion voraus. Fehlt aber beim Menschen die Fähigkeit, zwischen seinem Wesen und den Ideen, die ihn beschäftigen, zwischen Subjekt und Objekt also, zu unterscheiden, so ist nicht nur die essentielle Bedingung für Selbst-Bewußtsein (und in der Nachfolge Individualität) gestört, sondern auch die Urteilsfähigkeit entscheidend eingeschränkt.433 Fehlt eine vernünftige Bestimmung des Selbst, die aus einem im Bewußtsein aktualisierten Akt der Distinktion hervorgehen muß, so ist auch vernünftiges Urteilen und Handeln nicht möglich. Doch verbietet sich auf der anderen Seite auch der einen Automatismus suggerierende Schluß, der freie Wille führe notwendig zu vernünftigen Urteilen. Denn offenbar bedarf es einer Erklärung für unbewußtes Handeln (oder Nicht-Handeln), das dem freien Willen zu widersprechen scheint, einer Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes: Daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe sondern selbst gegen dringende Antriebe und Gründe handelt und urtheilet.434 Sulzer behandelt im gleichnamigen Essay zwei paradox scheinende Sätze, die ins Zentrum anthropologischer Problemstellungen dringen: Einige menschliche Handlungen, die frei scheinen, geschähen manchmal „ohne Beytritt des Willens“ und vor allem „gegen das Wohlgefallen der Seele und gegen alle ihre Bemühungen, sie zu verhindern“.435 In anderen Fällen bleibe Handeln aus, obwohl der Wille hierzu vorhanden sei.436 Bei Urteilen seien die gleichen Probleme empirisch erweisbar. Der Einfluß des per Vernunft steuerbaren Willens auf Handeln und Urteilen der Menschen scheint anthropologisch limitiert. Eine rein theoretische Diskussion um die Freiheit des Menschen erklärt Sulzer für irrelevant: „Er (der Mensch, R. G.) 431 432 433

Vgl. Kondylis: Aufklärung, S. 592f. Sulzer setzt an der Frage der Sicherheit der Wahrheit, nicht an der der Wahrheit selber an. Vgl. Johann Georg Sulzer: Von dem Bewußtseyn und seinem Einflusse in unsre Urtheile, in: ders.: Vermischte philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. Leipzig 1773, 199–224, hier S. 201. 434 Die Abhandlung Sulzers mit diesem Titel wurde 1773 in deutscher Sprache veröffentlicht. 1759 hatte Sulzer die Thesen in französischer Fassung vor der Berliner Akademie vorgetragen. Vgl. Johann Georg Sulzer: Explication d’un paradoxe psychologique; Que non seulement l’homme agit & juge quelquefois sans motifs & sans raisons apparentes, mais même malgré des motifs pressans & des raisons convainquantes, in: Histoire de l’Academie Royale des Sciences et des Belles-Lettres. Bd. 14 (1759). Berlin 1766, 433–450. 435 Sulzer: Erklärung, S. 99. Vgl. auch ders.: Explication, S. 430: „ces mêmes actions s’exécutent, non seulement sans que la volonté y accede, mais contre le gré de l’ame & malgré tous les efforts qu’elle fait pour les empêcher.“ 436 Vgl. Sulzer: Erklärung, S. 99. Vgl. auch Minter: Macht der dunklen Ideen, S. 117.

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sey frey oder nicht, so wird er allezeit das seyn, wozu ihn der Zusammenfluß der Umstände gemacht hat.“437 Der naturalisierende Einfluß der Umstände prägt den Menschen in lebensweltlich-pragmatischer, nicht in idealer Perspektive. Der Wandel kultureller Einflüsse erzeugt auch unterschiedliche Neigungen und Leidenschaften: könnte ein Mensch unter allen verschiednen Nationen der Erde leben so würde er nacheinander alle verschiednen Neigungen und Leidenschaften annehmen, die unter den mancherley Himmelsstrichen herrschen; [...] Die Umstände, worin wir uns in dem Laufe unsers Lebens befinden, geben gleichsam dieser noch unbestimmten Kraft der Seele die Richtung.438

Diese „Kraft der Seele“ lasse sich kaum analytisch fassen. Die Neufundierung von Naturwissenschaft und Natur setzt den Menschen in einen komplexen Zusammenhang von Bestimmungsfaktoren, die nicht-logisches Handeln und Urteilen empirisch anfällig machen, die aber auch gleichzeitig die Unvermeidbarkeit solchen Handelns aufgrund der Grenzen menschlichen Erkennens konstatieren. Empirische Wahrnehmung, die die Grundlage der Urteilsbildung bieten könnte, bleibt fragmentarisch. Die Dinge in der Welt sind „höchst selten in dem hellen Lichte und in der Gestalt, worinn sie zur Lehre oder Warnung sich dem Gemüth unvergeßlich und immer würksam einprägen.“439 Kulturelle Empirisierung und Naturalisierung bedingen die Reichweite menschlicher Erkenntnis. Angesichts dieser methodischen Relativierungen scheint für Sulzer ein disziplinär neuer Zugriff auf den Menschen als Erkenntnisgegenstand notwendig. „Meine einzige Absicht ist, etwas mehr Licht über die Physik der Seele zu verbreiten.“440 Intendiert ist eine „Naturlehre der Seele“, die Sulzer als Manko der Philosophie bestimmt.441 Das empirische Verfahren der Naturbeobachtung, das

437

Sulzer: Erklärung, S. 100. „Libre ou non, il sera toujours ce que le concours des circonstances aura fait de lui.“ (Sulzer: Explication, S. 434) Vgl. Riedel: Erkennen und Empfinden, S. 419f. 438 Johann Georg Sulzer: Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen, in: ders.: Vermischte philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. Leipzig 1773, 1–98, hier S. 17. Vgl. Wolfgang Proß: „Meine einzige Absicht ist, etwas mehr Licht über die Physik der Seele zu verbreiten“. Johann Georg Sulzer (1720–1799), in: Hellmut Thomke / Martin Bircher / ders. (Hg.): Helvetien und Deutschland. Kulturelle Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland in der Zeit von 1770 bis 1830. Amsterdam 1994, 133–148, hier S. 137. Der Gedanke Sulzers, daß sich die kulturelle Prägung des Menschen auf seine Neigungen auswirkt, wird häufig rezipiert. Auf Sulzer bezieht sich u.a. Johann Leberecht Münnich: Versuch die aufgegebene Frage zu beantworten: Kann irgend eine Art von Täuschung dem Volke zuträglich seyn? sie bestehe nun darinn, daß man es zu neuen Irrthümern verleitet, oder die alten eingewurzelten fortdauern lässet? [...]. Brandenburg 1781, S. 10. 439 Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. 2.Th., Art. Erzählung (Dichtkunst), S. 122. 440 Sulzer: Erklärung, S. 100. In der Metaphorik der französischen Originalfassung offenbart sich noch deutlicher die Beziehung zu Sulzers Aufklärungsverständnis: „Mon seul dessein est de répandre quelques nouvelles lumieres sur la physique de l’ame.“ (Sulzer: Explication, S. 434) 441 Vgl. Sulzer: Von dem Bewußtseyn, S. 199. Herders wissenschaftssystematischer Entwurf im Journal wiederholt die Forderung nach einer Psychologie als „Physik der Seele“. Vgl. Johann

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üblicherweise vom Menschen ausgeht, schließt diesen nun mit ein. Die „Physik der Seele“ gewinnt damit mehr als nur einen Ort im wissenschaftlich-disziplinären System: Sie zielt auf den Richtungswechsel der naturwissenschaftlichen Methode.442 Empirie und Beobachtung werden zum Ausgangspunkt der methodischen Neufundierung der Psychologie, die sich gegen das spekulative, metaphysische und letztlich pneumatische Vorgehen in Wolffs Psychologia rationalis wendet.443 Einflußfaktoren auf den menschlichen Willen liegen für Sulzer außerhalb des Menschen und auch außerhalb des Bereichs, der vom Menschen durch Willensoder Verstandesleistungen beeinflußt werden könnte. Nicht die Lockesche „uneasiness“ oder die Condillacsche „inquiétude“, also intrinsische Faktoren, präformieren den Willen bei Sulzer.444 Er zieht vielmehr ein Kompendium vielfältiger möglicher Einflüsse in Erwägung, die auf empirischem Weg erst auf grundlegende Ursachen zurückgeführt werden müßten.445 Hieraus entsteht eine Variation der Erkenntnistheorie, die auch menschliche Urteils- und Vorurteilsbildung unter den Bedingungen der Empirisierung betrachtet. Die unvollständigen Wahrnehmungen und Ideen bedingen in der menschlichen Erkenntnis eine unsichere Urteilsgrundlage: Wenn es also darum zu thun ist, einen auf unsern Zustand sich beziehenden Entschluß zu fassen, oder auch nur ein Urtheil über uns selbst zu fällen, so kann dieser Entschluß oder dieses Urtheil bloß nach den wenigen Besonderheiten, welche in dem Bewußtseyn eine merkliche Klarheit haben, bestimmt werden.446

Die Mannigfaltigkeit der Umstände wird zum Argument für die Relativität der Empfindungen und damit auch für die daraus resultierende Unsicherheit der Urteilsprozesse. Menschliche Erkenntnis hat ihre Grenzen.447 Dunkle Empfindungen und Vorstellungen resultieren aus dem unüberschaubaren Andringen vielfältiger Wahrnehmungen. Körperliche Reaktionen sind oft weder vernunft- noch willensgesteuert, wie Sulzer an Beispielen aus der Lebenswirklichkeit vorführt: „Es ist Gottfried Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769, in: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 9/2. Hg. Rainer Wisbert / Klaus Pradel. Frankfurt/M. 1997, 9–126, hier S. 49. 442 Sulzer intendiert eine Psychophysiologie. Vgl. Proß: Meine einzige Absicht, S. 134f. Diese zieht eminente methodische Folgen nach sich. Riedel führt die „Physik der Seele“ auf die naturgeschichtliche Konzeption der psychologia empirica bei Wolff zurück. Der Unterschied zu Wolff liegt aber in der Umkehrung der wissenschaftlichen Hierarchie. Für Sulzer ist der empirische Zugang zur psychischen Verfaßtheit des Menschen relevanter. Vgl. Riedel: Influxus physicus, S. 25. 443 Vgl. Riedel: Erster Psychologismus, hier S. 7, 4f. 444 Vgl. zu Condillac und Locke Kreimendahl: Einleitung, S. XXXVII. 445 Sulzer steht also Humes Idee nahe, das höchste Ziel der menschlichen Erkenntnis sei die empirische Ermittlung und Systematisierung von Ursachen für die mannigfaltigen Naturerscheinungen. Sulzer edierte Humes Enquiry Concerning Human Understanding. Vgl. David Hume: Philosophische Versuche über die menschliche Erkenntnis. Als dessen vermischter Schriften 2.Th. Hamburg / Leipzig 1755. Vgl. Gawlick / Kreimendahl: Hume, S. 20f. 446 Sulzer: Von dem Bewußtseyn, S. 207. 447 Vgl. auch Johann Georg Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft, in: ders.: Vermischte philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. Leipzig 1773, 244–281, hier S. 249.

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[...] kein Theil unsers Körpers, der nicht oft seine Dienste unserm Willen verweigere und sich nicht oft gegen unsern Willen bewege und wirke.“448 Aus diesen empirischen Beobachtungen folgert Sulzer, es müsse eine „den Bemühungen des Willens überlegene Kraft“ in uns sein, die uns dazu bringe, gegen unser „Gutbefinden“ zu handeln und sogar, „daß uns zuweilen eine ähnliche Kraft nöthiget, etwas für falsch oder wahr anzusehen, wovon wir doch zuverläßig wissen, daß es wahr oder falsch ist.“449 Bei dieser Kraft handelt es sich um die „dunklen Vorstellungen“. Riedel charakterisiert diese Motivationen zutreffend als „Theorie intrapsychischer Fremdbestimmung“.450 Dunkle Vorstellungen wirkten nicht nur auf die Empfindungen und die Verstandestätigkeit des Menschen allgemein, sondern auch auf das Urteilsvermögen des Menschen im besonderen. Da sie die Urteile der Menschen beeinflussen, könne angenommen werden, daß ein großer Anteil menschlicher Urteile nicht rationaler Herkunft sind. Dunkle Vorstellungen können Vorurteile, inhaltlich falsche Urteile, erzeugen. Sulzer vollzieht mithin nicht die Formalisierung des Vorurteilsbegriffs nach, die bei Meier zur Öffnung des Vorurteilsdiskurses geführt hatte, doch fokussiert er ähnlich wie dieser die Folgen der Empirisierung für Wahrnehmung und Urteilsbildung. Nun muß man bemerken, daß eine jede Sache verschiedene Seiten bat [sic], und daß es bey dem Urtheile, welches wir davon fällen, bloß darauf ankommt, von welcher Seite wir sie betrachten. Verschiedene Gesichtspunkte bringen auch verschiedene Urtheile hervor.451

Perspektivische Wahrnehmung bedingt einen Perspektivismus der Urteilsbildung. Chladenius, der den Gedanken der Sehepunkte in die Hermeneutik der Geschichtswissenschaft einführte, gesteht die grundsätzliche Möglichkeit zu, von einem Geschehen mehr als eine richtige Vorstellung zu besitzen.452 Doch ist für Chladenius die wahre Erkenntnis einer Sache möglich, obwohl Wahrheit erst aus der Schnittmenge der Einzelperspektiven hermeneutisch geschlossen werden muß.453 Sulzer betont dagegen, empirische Komplexität behindere tendenziell

448

Sulzer: Erklärung, S. 103. Sulzer bezieht sich hier auf Montaignes Essais. Vgl. Michel de Montaigne: Von der Stärke der Einbildungskraft, in: ders.: Versuche, nebst des Verfassers Leben, nach der neuesten Ausgabe des Herrn Peter Coste ins Deutsche übersetzt. 1.Th. Leipzig 1753, S. 146ff. Vgl. auch Sulzer: Explication, S. 436. Hier zitiert er fast wörtlich das französische Original nach der Ausgabe von Pierre Coste: vgl. Michel de Montaigne: De la force de l’imagination, in: ders.: Essais. Donnez sur les plus anciennes & les plus correctes Editions: Augmentez de plusieurs Lettres de l’Auteur, & où les Passages Grecs, Latins & Italiens, sont traduits plus fidellement, & citez plus exactement que dans aucune des précédentes. [...] Hg. Pierre Coste. Bd. 1. London 41739, 158–183, hier S. 171. 449 Sulzer: Erklärung, S. 105. Vgl. ders.: Explication, S. 438. 450 Vgl. Riedel: Weltweisheit, S. 436. 451 Sulzer: Erklärung, S. 109. Vgl. ders.: Explication, S. 440. 452 Vgl. Chladenius: Einleitung, S. 185. 453 Vgl. Peter Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik. Hg. Jean Bollack und Helen Stierlin. Frankfurt/M. 1975, S. 83.

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sichere Erkenntnis. Verschiedene Sehepunkte könnten auch subjektiv zusammenfallen, man könne auch gleichzeitig zwei oder mehrere sich widersprechende Vorstellungen von einer Sache, so zum Beispiel eine dunkle und eine klare, haben.454 Zur empirisierenden Argumentation tritt eine sensualisierend-physiologisierende hinzu. Da Seele und Nervensystem physiologisch verbunden sind, die Seele gar ohne eine analogische Bewegung in den Nerven keine sinnlichen Empfindungen haben kann, muß die Bewegung des Nervensystems auch bei zusammengesetzten Vorstellungen der Seele stärker sein als bei einfachen, vom Verstand gesteuerten.455 Der Verstand, der einfachere und klarere Vorstellungen erzeugt, hat also Schwierigkeiten, sich gegenüber komplexeren Vorstellungen durchzusetzen, die das Nervensystem intensiver mitbeanspruchen. Die dunklen und komplexen Vorurteile gewinnen mithin ein psychisches Übergewicht vor rationalen Entscheidungen, insbesondere wenn sie mit vernünftiger Urteilsbildung verwechselt werden oder wenn sie tief oder lange in der menschlichen Psyche verankert sind.456 Der Topos der frühkindlichen Verankerung von Vorurteilen erhält hier nicht nur eine eindeutig negative Konnotation, sondern er wird auch durch die psychische Wirkung des Dunklen erklärt. Die rationale Überprüfung solcher Vorurteile ist kaum möglich, da man, so Sulzer, an demjenigen nicht zweifeln könne, „was man zu empfinden glaubet“.457 Vorurteile erweisen sich als kritikresistent, sofern man sich hierzu nur der Ratio bedient, da bei dunklen Vorstellungen der komplexe Eindruck als ganzer wirksam wird. Dieß ist [...] der wahre Ursprung der tyrannischen Macht der Vorurtheile, der Leidenschaften, der vorgefaßten Meynungen, und so vieler andern Feinde der Vernunft. Sie stehen in den dunkeln Gegenden der Seele, wo man ihre feindliche Bewegungen und listige Unternehmungen nicht eher gewahr wird, bis es zu späte ist, sich dagegen zu setzen, und eben dieses verschaffet ihnen fast immer einen unfehlbaren Sieg.458

Die sensualisierende Rehabilitation der Vorurteile, die Sulzer proklamiert, resultiert mithin nicht aus einer positiven Funktion von Vorurteilen im menschlichen Erkenntnisprozeß oder im Prozeß der Aufklärung generell, sondern nur aus deren

454 455

Vgl. Sulzer: Erklärung, S. 110. Vgl. Proß: Meine einzige Absicht, S. 139f. Proß legt dar, Sulzer habe sich auf die „Schule“ Stahls, insbesondere den halleschen Anatomen Georg Daniel Coschwitz und auf Johann Gottlob Krüger bezogen. Vgl. ebd., S. 142f. Überlegungen zur physiologischen Begründung des commercium mentis et corporis finden sich auch bei anderen Medizinern. Vgl. Zelle: Nachwort und ders.: Sinnlichkeit und Therapie. 456 Vgl. Sulzer: Erklärung, S. 115. 457 Ebd., S. 116. 458 Ebd., S. 117. „Voilà si je ne me trompe la vraye origine de la puissance tirannique des passions, des préjugés, des préventions & de tant d’autres ennemis de la raison. Ils sont postés dans les régions obscures de l’ame, où, si l’on decouvre leurs manoeuvres ce n’est que lorsqu’il est trop tard pour s’y opposer; c’est ce qui leur donne presque toujours une victoire assurée.“ (Sulzer: Explication, S. 447.) Vgl. Riedel: Erkennen und Empfinden, S. 422.

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Unvermeidbarkeit. Doch ist für Sulzer ebenso unstrittig, daß es die Aufgabe des Menschen bleibt, Vorurteile zu zerstören, da sie der Vernunftbestimmung des Menschen entgegenstehen. Sulzer hält trotz der anthropologiebasierten Rehabilitierung des Vorurteils an der logischen Norm fest. Auf der anderen Seite ist auch evident, daß die Ratio alleine nicht ausreicht, Vorurteile zu bekämpfen.459 Sulzer entwickelt eine alternative Strategie der Vorurteilskritik, die die Vorurteile verursachenden Empfindungen auch zu deren Gegenmittel aufwertet, die aber dennoch dem vernünftigen Schluß die Schlüsselrolle als strategische Anleitung zur Vorurteilskritik zuweist.460 Denn Wahrheit – der Gegenpol zu den logisch falschen Vorurteilen – kann nur durch die Vernunft entdeckt werden. Um die durch den Vernunftschluß gewonnene Wahrheit in der menschlichen Psyche zum Ersatz der Vorurteile zu machen, muß die wirkmächtigere verworrene Erkenntnis installiert werden. Dunkle Erkenntnis wird so durch eine klare, aber verworrene ersetzt. Man darf nur denselben Vernunftschluß so oft wiederholen, und denselben Bewegungsgrund so oft erwegen, bis wir mit beyden recht bekannt werden. Alsdann erinnert man sich derselben bey allen Gelegenheiten leicht; die deutliche Erkenntniß, die man anfänglich davon hatte, verwandelt sich dadurch in eine anschauende und verworrene Erkenntniß; und dieß ist es eben, was ihr die antreibende Kraft giebt.461

Der Vernunftschluß kann in der Form der Empfindung mit den empfundenen Vorurteilen konkurrieren.462 Sulzers Beitrag zum Vorurteilsdiskurs sucht den rationalistischen Vernunftoptimismus zu akzeptieren, gleichzeitig aber den Wirkungsmodus der Vernunft angesichts der anthropologiebasierten Einwände sensualistisch zu modifizieren. Die rationalistische Aufklärung bedient sich der Waffen ihrer vermeintlichen Gegner.463 Sulzers Rehabilitierung der Vorurteile bezieht sich nur auf die anthropologisch gegründete Unvermeidbarkeit deren Entstehens, nicht aber auf eine gleichartige Notwendigkeit, sie bestehen zu lassen. Denn für Sulzer muß sich in der Dichotomie von logischer Vorurteilskritik und anthropologischer Unvermeidbarkeit das Projekt der Aufklärung bewähren. Sulzer stuft die Wirksamkeit der Ratio herab, erkennt aber, daß der Verlust der logischen Formationsregel des Vorurteilsdiskurses den aufklärerischen Progreß gefährden würde. Trotz der „anthropologischen Achsendrehung“ schreibt Sulzer dem Vorurteil im selbstaufklärerischen Erkenntnisprozeß noch keine Funktion zu.464

459 460 461 462

Vgl. Sulzer: Erklärung, S. 120. Vgl. Riedel: Erkennen und Empfinden, S. 426f., Godel: Eine unendliche Menge, S. 564. Sulzer: Erklärung, S. 120f. Vgl. ders.: Explication, S. 450. Mendelssohn hält für den Anfang einer solchen Wiederholungskette einen Vorsatz für notwendig, der sich dann zu einem Automatismus verselbständige. Vgl. Moses Mendelssohn: Psychologische Betrachtungen auf Veranlassung einer von dem Herrn Oberkonsistorialrath Spalding an sich selbst gemachten Erfahrung, in: JubA 6,1, 163–180, hier S. 166. 463 Godel: Eine unendliche Menge, S. 564. 464 Begriff von Riedel: Erkennen und Empfinden, S. 410.

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Da nur Affekte gegen Affekte wirksam sind (wie Sulzers empfohlenes Gegenmittel gegen die Vorurteile zur Genüge beweist), erhält die Ästhetik bei Sulzer einen didaktischen Auftrag innerhalb der Gelehrsamkeit.465 Sie wird zu einer „Theorie der psychischen Manipulation“.466 Der rhetorische Zweck des Erzählens bestehe darin, „dem Zuhörer den Verlauf der Sachen so vorzustellen, daß sein Urtheil darüber gelenkt werde.“467 Die Eindeutigkeit der Rezeptionssteuerung soll Zweifel und Unsicherheit zugunsten gewisser Erkenntnis beseitigen. „Jede Erzählung muß die geschehene Sache klar und wahrhaft, oder wahrscheinlich, vorstellen, damit der Zuhörer über keinen zur Sache gehörigen Umstand in Ungewißheit oder Zweifel bleibt.“468 Die ästhetisch wirksamen Formen der Rede und der Literatur tragen dazu bei, die Vorurteile der Rezipienten zu destruieren, indem sie wahre Urteile bereitstellen.469 Das didaktische Erziehungsprogramm, zu dem auch die Künste beitragen, reagiert auf Sulzers skeptische Diagnose des Standes der Aufklärung, wie er sie im Brief an Samuel Anton Wilhelmi formuliert: „De nos jours la Lumière n’éclaire et ne dirige qu’un très petit nombre d’hommes. On se felicite sur le bonheur de nos tems ou la Raison, la Philosophie et les moeurs ont dissipé la barbarie. Mais elle ne me paroit rien moins que dissipée parmi la Multitude.“470 Aufklärung erfordert für Sulzer ein normativ-didaktisches Vorgehen, das das Problem der Vorurteile als klärbar annimmt. Sensualisierende und naturalisierende Strategien führen im Vorurteilsdiskurs zu wissenschaftlich-disziplinären wie methodischen Problemen, die die normative Gewißheit der Erkenntnis in Frage stellen. Wenn der Jenaer Philosophieprofessor Johann August Heinrich Ulrich in seinem Ersten Umriß einer Anleitung zu den philosophischen Wissenschaften die disziplinäre Ordnung der philosophischen Wissenschaften thematisiert, so macht er zunächst das wissenschaftssystematische Problem deutlich. Werden anthropologisch-psychologische Erkenntnisse aufgewertet, so stellt sich die Frage, wie eine Wissenschaft, die sich diesen Themen widmet, disziplinär verortet werden kann. „Für eine erhebliche Lücke dürft es mancher halten, daß der Seelenlehre nirgends ein besonderer Plaz angewisen worden. Nach dem Herkommen ist sie gemeiniglich ein Theil der Metaphysic. Dahin konnte ich sie nach meiner Idee nicht bringen.“471 Gegen die pneumatische Her-

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Künste ordnen sich außer-künstlerischen Zielen unter, die dem Vorrang der Philosophie unter den Wissenschaften entsprechen. Vgl. van der Zande: Sulzer’s „Allgemeine Theorie“, S. 87, Bödeker: Konzept und Klassifikation, S. 334f. 466 Riedel: Erkennen und Empfinden, S. 429. Vgl. van der Zande: Sulzer’s „Allgemeine Theorie“, S. 88. 467 Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste, Art. Erzählung (Beredsamkeit), S. 118. 468 Ebd., S. 118f. 469 Vgl. Riedel: Erkennen und Empfinden, S. 429. 470 Johann Georg Sulzer an Samuel Anton Wilhelmi am 6. Mai 1762, in: Familienarchiv von Fellenberg, Burgerbibliothek Bern, Nr. 155 (3) Varia, unpag. Teilabdruck des Briefes bei Genna-Stalder: Patriotische Gesellschaft, S. 64f. 471 Ulrich: Erster Umriß, unpag. Vorrede.

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kunft der psychologia rationalis Wolffs setzt Ulrich eine interdisziplinäre Seelenlehre, die vor allem medizinische Erkenntnisse berücksichtigt. Mithilfe von Basedows Differenzierung von außerordentlich und ordentlich gewissen Wahrheiten negiert Ulrich Wolffs Begrenzung des Wahrheitsbegriffs auf mathematisch erweisbare Sätze,472 doch grenzt er sich auch methodisch vom Beitrag der Historie, Ästhetik und Literatur zur (psychologischen) Anthropologie ab: „Wieland, Iselin, Zambaldi, Ferguson haben gewiß in ihren Schrifften vortrefliche Philosophie über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Aber wie viel Vermuthungen und analogische Schlüsse!“473 Während einerseits Sensualisierung und Empirisierung als notwendige methodische Prämissen gelten, scheint andererseits die Ratio als erkenntnistheoretische Norm in Frage zu stehen, wenn man den anthropologiebasierten Argumentationsformen eine zu große Reichweite zugesteht. Doch ist für Ulrich auch der disziplinäre Nutzen der schönen Wissenschaften nicht von der Hand zu weisen. Sie seien nicht nur „Puz und Zierrath“ der Philosophie, sondern deren notwendiger Bestandteil.474 Ziel für Ulrich muß eine „anschauende Erkenntniß“ sein, zu der Geschichte, Naturlehre und vor allem Ästhetik beitragen.475 Der „gute Geschmack“ wird zum Medium des Transports aufklärerischer Wahrheiten sowohl für den „gemeinen Menschenverstand“ als auch für den „Dencker“. Die probabilistischen Folgen der Sensualisierung stehen hier also weniger im Zentrum der Argumentation als die didaktische Vermittlungs- und Erkenntnisleistung ästhetischer Prämissen. Der „gute Geschmack“ gilt als Anleitung zum kürzesten Weg zur Wahrheit, der nicht über die „ermüdenden und eckelhafften Weitläuftigkeiten einer gewißen Methode und lauter schulgerechte[r] Schlüße“ führen müsse.476 Ulrich überträgt logische Schlußregeln in den innerpsychischen Bereich: „Unsere Seele wird durch Uebereinstimmung und Widerspruch in ihrem Urtheil über Wahrheit und Irrthum bestimmt.“477 Der sensus communis lehre uns diese Übereinstimmung oder diesen Widerspruch und damit letztlich Wahrheit erkennen.478 Trotz dieses sensualisierten Erkenntnisprozesses bleibt die Möglichkeit von affektiv-emotiv verursachten Irrtümern bestehen.479

472 473

Vgl. ebd., S. 7f. Ebd., S. 8. Ulrich übernimmt die Gewißheitsstufen vermutlich von Basedow: Philalethie, S. 263. 474 Vgl. Ulrich: Erster Umriß, S. 19f. 475 Vgl. ebd., S. 23, 26 et passim. 476 Vgl. ebd., S. 28. 477 Ebd., S. 32. Ulrich knüpft an Crusius an: vgl. Crusius: Weg zur Gewißheit, S. 95. 478 Vgl. Ulrich: Erster Umriß, S. 33. Ulrich bezieht sich auf Locke, Reid, Beattie, Hoffmann, Riedel und Feder. 479 Die häufigste Quelle der Irrtümer sei die Übereilung im Urteilen, doch auch Affekte und Leidenschaften verursachten Irrtümer. Vgl. ebd., S. 203, 207. Ulrich verweist auf Henry Home, Lord Kames: Grundsätze der Critik, in drey Theilen. Aus dem Engl übs. [von Johann Nicolaus Meinhard]. 1.Th. Leipzig 1763, S. 225.

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Vorurteile kommen bei Ulrich als Ursachen dieser Übereilung im Urteilen in den Blick. Ulrich unterscheidet den formalen vom materialen Vorurteilsbegriff. Dabei schreibt er jenem eine Definition „in der weitläuftigen Bedeutung“ zu: Vorurteile seien „alle Meynungen, die man ohne genugsame Prüfung angenommen hat, und solchergestalt bringt mich nicht jedes Vorurtheil auf Irrthümer.“480 Daß Ulrich hier die Religionserkenntnis als Beispiel anführt, zeugt davon, daß er sich des theologischen Problems bewußt ist, das entstünde, wenn Vorurteile rein formal definiert und damit der Vorurteilsdiskurs jeglicher normativer Regeln beraubt würde.481 Als entscheidendes Charakteristikum führt Ulrich für Vorurteile „im engern Sinn“ ein logisch-normatives Kriterium ein. Vorurteile sind „allgemeine irrige Sätze [...], welche practisch werden, d.i. auf welche wir weiter im Denken und Handeln bauen. [...] Sie (die Vorurteile, R. G.) werden [...] die Quellen anderer Irrthümer, [...]“.482 Damit überführt Ulrich die Vorurteilsfrage wieder in den logischen Bereich. Doch anthropologiebasierte Argumente bedingen eine Zwischenposition, die in bezug auf den Umgang mit Vorurteilen einerseits die Notwendigkeit erhaltenswerter Vorurteile proklamiert – im Fall nämlich, daß diese nicht durch eine adäquate Wahrheit ersetzt werden könnten –, die aber andererseits auch die praktische Unmöglichkeit anerkennt, daß alles angezweifelt wird.483 Im Zuge anthropologiebasierter Argumentationsformen drohte der Erkenntnisund Vorurteilsdiskurs zu einem relativistischen zu werden. Dieser Entwicklung sollte binnenphilosophisch durch regulative Normen Einhalt geboten werden. Ein solches Vorgehen erweist sich, wie Johann Nicolas Tetens zeigt, als Methodenproblem. Tetens thematisiert in seinen Philosophischen Versuchen über die menschliche Natur und ihre Entwickelung die methodischen Schwierigkeiten erkenntnispraktischen Vorgehens.484 Er geht davon aus, daß vorgeprägte Ideen, die zum Fundus der Seele oder zum Allgemeingut eines sensus communis gehören, die Wahrnehmung im Guten wie im Schlechten prägen: „Wie viel tausend Beobachtungsfehler haben nicht hierinn ihren Grund, da die Gemeinbilder oft ein gefärbtes Glas sind, das unsere Empfindung täuschet.“485 Seelische Antriebe, Gefühle und Resultate der Einbildungskraft bestimmen die Wahrnehmung. Innere Empfindungen und Vor-

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Ulrich: Erster Umriß, S. 209. Wie Ulrichs Literaturhinweise verdeutlichen, kennt er Meiers Beyträge und damit die Formalisierung des Vorurteilsdiskurses aus erster Hand. Vgl. ebd., S. 210f. 482 Ebd., S. 210. 483 Vgl. ebd., S. 211, 213. 484 Vgl. auch Franz Futterknecht: Physiologie und Anthropologie – Johann Carl Wezels Menschenbild im philosophischen Kontext seiner Zeit, in: Helmut Laufhütte / Jürgen Landwehr (Hg.): Literaturgeschichte als Profession. Tübingen 1993, 145–178, hier S. 172f. 485 Tetens: Philosophische Versuche, S. 362.

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stellungen erhalten bei Tetens handlungsprägende Ausdrucksqualitäten.486 Logisches Urteilen setzt Ideen voraus, da es „eine Gewahrnehmung einer Beziehung der Ideen“ ist.487 Auf die empirische Beobachtung folgt in Tetens’ Klassifikation deren analytische Zergliederung und schließlich der synthetisierende Vergleich, das logische Urteil.488 Die kritische Begründung objektiven Wissens basiert auf der Verbindung empirischer und rationaler Prozesse, die über die Richtigkeit von Urteilen entscheidet. Ob ein Urtheil richtig oder unrichtig, das hängt also theils von der gegenwärtigen Beziehung der Ideen ab; theils von der Richtigkeit des Gewahrnehmens, ob die gegenwärtige Beziehung dieselbe sey, als diejenige, mit der sie zusammen fällt, und durch welche sie gewahrgenommen wird.489

Der unterschiedlich intensive Einsatz der im Idealfall verbundenen Erkenntnisstufen erzeugt unterschiedliche Grade von Urteilssicherheit: Tetens führt „blinde Reflexionsäußerungen“ ein, spontane Ad-hoc-Urteile ohne große Anstrengung der Denkkraft. Diese sind „natürlich nothwendige Wirkungen unserer Seele, über die wir geradezu wenigstens, keine Gewalt haben.“490 Ähnlich wie Sulzer willkürliche Körperbewegungen einführt, erkennt Tetens eine Erkenntnisstufe, die sich unmittelbar der Natur verdankt: „Die ersten Urtheile des gemeinen Verstandes [...] sind Wirkungen der Natur [...]“.491 Sie zu behindern liege nicht in unserer Gewalt. Doch sucht Tetens die relativierende Naturalisierung durch ein empirisch basiertes Erkenntnisprogramm zu konterkarieren. Er vertritt eine explizit begründete, dem naturwissenschaftlichen Verfahren folgende empirische Methodik: „Sie (die von Tetens propagierte Methode, R. G.) ist die beobachtende, die Lock bey dem Verstande, und unsere Psychologen in der Erfahrungs-Seelenkunde befolgt haben.“492 Er verbindet den philosophisch-disziplinären empirischen Anspruch mit dem antisystemisch-philosophischen.493 Tetens grenzt sein eigenes Vorgehen von dem der (disziplinären) „Anthropologen“ ab, deren metaphysisch-spekulative Erklärungen er als systemfern von der Hand weist.494 Letztlich zielt er auf eine 486

Vgl. Barnouw: Philosophical Achievement, S. 318. Tetens’ Position gleicht hier der J. J. Engels. Vgl. Beetz: Körpersprache, S. 47. Zu Unterschieden von Engel und Tetens vgl. Bachmann-Medick: Ästhetische Ordnung, S. 129f. 487 Tetens: Philosophische Versuche, S. 365. 488 Vgl. ebd., S. XIVff., Heinz: Wissen vom Menschen, S. 32f. Dessoir sieht in Tetens Philosophischen Versuchen den Gipfel der wissenschaftlichen Psychologie des 18. Jahrhunderts. Vgl. Max Dessoir: Geschichte der neueren deutschen Psychologie. Bd. 1. Berlin 21902, S. 356. In der Darstellung von Tetens’ Methode bleibt Dessoir allerdings oberflächlich; vgl. ebd., S. 337f. 489 Tetens: Philosophische Versuche, S. 368. 490 Ebd., S. 475. 491 Ebd., S. 477. Tetens bezieht sich auf die 1774er Preisfrage der Berlinischen Akademie, die Sulzer formuliert hatte. Vgl. Barnouw: Philosophical Achievement, S. 320f. 492 Tetens: Philosophische Versuche, S. III. 493 Barnouw weist empirisch-anthropologische Quellen Tetens’ nach, u.a. Leibniz, Helvétius, Condillac, Bonnet, Hume und Reid. Vgl. Barnouw: Philosophical Achievement, S. 313, 318ff. 494 Vgl. Tetens: Philosophische Versuche, S. IVf.

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kritische Begründung objektiv rationalen Wissens. Empirische Erkenntnis macht eine generelle Theorie nicht überflüssig, sondern sie führt zu ihr hin.495 In Tetens’ Versuchen zeigt sich die konfligierende Episteme. Tetens fokussiert das erkenntnispraktische Kernproblem des Vorurteilsdiskurses, das er durch seine ausdifferenzierte Methodologie zu lösen sucht. Doch rehabilitierende Lösungen des Vorurteilsproblems scheinen kaum mehr überzeugend. Im Vorurteilsdiskurs sind nun Antworten notwendig, die sich dem prekären Problem der Modalität des Diskurses zuwenden.

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Vgl. Barnouw: Philosophical Achievement, S. 308.

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Anthropologiebasierte Transformierung. Selbstaufklärung im literarischen Vorurteilsdiskurs

Rehabilitierende Formen des Vorurteilsdiskurses erkennen die spezifische Problematik der Normativität des Vorurteilsdiskurses, doch vermögen sie diese noch nicht zu lösen. Angesichts der Unzulänglichkeit der Formationsregeln des Diskurses greifen sie zwar auf das interdiskursive anthropologische Reservoir zurück, legen aber überwiegend logisch-konzeptionelle Zugänge zugrunde. In einer ersten Variante führen Sozialisierung und prospektive Historisierung dazu, daß der politische Interdiskurs als externe Norm herangezogen wird. Sozialpragmatische Rehabilitierungsformen – die zweite Variante – vertrauen auf eine soziologische Abgrenzung der Adressaten des Vorurteilsdiskurses, um innerhalb eines umgrenzten Raumes eine Normierung durchzusetzen. Steht in der dritten Variante eine sensualistische Vorurteilsrehabilitierung im Vordergrund, die das Vorurteil mit der Akzeptanz oder Geltendmachung der unteren, dunklen Erkenntniskräfte aufwertet, verstärkt sich das Problem des Maßstabs und der Mittel des Vorurteilsdiskurses: Wie kann über eine zum Individualismus tendierende Sensualisierung aufklärerische Progression erzeugt werden? Die anthropologiebasierte Rehabilitierung des Vorurteils resultiert nicht aus der Furcht der Aufklärung vor der Wahrheit. Sie ist kein Rückfall in die Mythologie, sondern sie erprobt Alternativen zum einseitigen Rationalismus, weil sie um dessen Defizite weiß.1 Rehabilitierend-restitutive Verwendungsformen des Vorurteils erweisen sich in dreifacher Weise als limitiert. Sie rezipieren zum ersten nur ein eingeschränktes Reservoir anthropologiebasierter Argumentationsfiguren, da sie sich überwiegend noch im Rahmen des philosophisch-definitorischen Diskurses bewegen. Die rationale Wahrheitskontrolle wird nicht aufgegeben. Zweitens: Zusehends wird als (ungelöstes) Problem sichtbar, wie ein solcher Vorurteilsdiskurs einen Beitrag zur Dynamik der Aufklärung noch zu leisten imstande sein könnte: Wie ist Aufklärung möglich, wenn die Kritik der Vorurteile für unmöglich oder unnötig erklärt wird?2 Drittens: Die neue Komplexität des Vorurteilsdiskurses läßt den Bezug zur in der Popularphilosophie der Spätaufklärung intendierten Praxis brüchig werden. Der Vorurteilsdiskurs fluktuiert zwischen dem Normbedürfnis der praktischen Vorurteilskritik und der rezeptionsbezogenen Wirksamkeit der neuen anthropologieba-

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Vgl. dagegen Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M. 1998, S. 3f. Die Argumente der Rehabilitierung werden auch in Frankreich zu Kernen politischer Thesen, doch reichen sie über die anti-philosophische und gegenrevolutionäre Debatte hinaus. Vgl. Delon: Réhabilitation des préjugés, S. 152f., auch ders.: Les Lumières et la dialectique du préjugé. L’exemple de Mme de Staël, in: Ruth Amossy / ders. (Hg.): Critique et légitimité du préjugé (XVIIIe–XXe siècle). Bruxelles 1999, 65–72.

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sierten Strategien. Auf all diese Fragen antworten Versuche, den Vorurteilsdiskurs in einen Diskurs selbstaufklärerischer Aktivität des Rezipienten zu transformieren.

5.1 Die neue Bedeutung der Reflexion. Transformative Vorurteilsrehabilitierung auf naturalisiert-historisierter Basis 5.1.1 Anthropologiebasierte Argumentationsfiguren bei J. G. Herder Johann Gottfried Herders Beitrag zum Vorurteilsdiskurs des 18. Jahrhunderts setzt an diesen Problemen begriffsbasierter Vorurteilsrehabilitierungen an. Herder entwirft eine Vorurteilstheorie, die es ermöglicht, auch die Restitution von Vorurteilen in ein Konzept von Aufklärung produktiv zu integrieren. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Vorurteilstheorie ist Herders umfassende Berücksichtigung anthropologiebasierter Argumentationsformen. Deren Grundlage bildet Herders schon im Journal meiner Reise im Jahr 1769 ausdrücklich formuliertes anthropologisches Erkenntnisinteresse. In der Reflexion eigener Ziele und Möglichkeiten erkennt Herder die Notwendigkeit, in der Geschichte aller Zeiten Data über Triebfedern der menschlichen Seele zu sammeln, anthropologisch-psychologische Kenntnisse auf empirisch-historischem Weg zu erhalten.3 Hier deutet sich eine doppelte Funktion anthropologiebasierter Verfahren an: Diese werden nicht nur als textuelle Strategien vollzogen, sondern sie gewinnen auch den Status eines hermeneutischen Prinzips. Damit ist ein Schritt auf dem Weg zur Transformierung des Vorurteilsdiskurses bereits gegangen, die darin mündet, daß die Textstruktur selbst mittels ihrer rezeptionssteuernden Aspekte die Perspektivik des Erkennens und Urteilens umsetzen kann. Indem die Urteilsproblematik mit der Neubewertung der Prägnanz des Dunklen verbunden wird, verändert sich das gnoseologische Paradigma qualitativ.4 Herders anthropologischer Anspruch resultiert aus der methodischen Verbindung von Psychologie und Physiologie, die auf eine Einheitswissenschaft vom Menschen zuführt: Meines geringen Erachtens ist keine Psychologie, die nicht in jedem Schritte bestimmte Physiologie sei, möglich. Hallers physiologisches Werk zur Psychologie erhoben und wie Pygmalions Statue mit Geist belebet – alsdenn können wir etwas übers Denken und Empfinden sagen.5

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Vgl. Herder: Journal, S. 30. Adler weist zurecht darauf hin, daß die cognitio historica als Grundlage aller menschlichen Erkenntnis im 18. Jahrhundert immer an das je isolierte akkumulierte Faktenwissen gebunden ist. Vgl. Hans Adler: Monumentalfragment und Totalität: Johann Gottfried Herders Stellung zum diskursiven Konstrukt der Geschichtsphilosophie, in: Monatshefte für deutschen Unterricht 90,1 (1988), 5–16, hier S. 7. Vgl. Adler: Prägnanz, S. 91. Herder: Vom Erkennen, S. 180.

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Mit diesen Quellenangaben sind die Gewährsleute für Herders Argumentation benannt: Albrecht von Hallers Physiologie – Herder bezieht sich vorrangig auf den vierten Band von Hallers Elementa physiologiae corporis humani – und die sensualistische Wiederaufnahme des Pygmalion-Motivs vor allem durch Etienne Bonnot de Condillacs Traité des sensations und Charles Bonnets Essai analytique sur les facultés de l’âme.6 Die wissenschaftstheoretische Forderung, die sich in Herders Metakritik als Forderung nach einer „Physiologie der menschlichen Erkenntniskräfte“ manifestiert,7 fußt auf einem empiriebasierten Befund. Grundlage jeder psychischen Empfindung ist nach Herder ein physischer Reiz – ein Gedanke, den er aus Hallers Lehre von der Irritabilität des Muskels entlehnt.8 Herder überträgt den physiologischen Reizbegriff auf den Bereich der Affekte und Sensationen. Seine sensualistische Argumentation gewinnt physiologischen Grund. Das Nervengebäude leitet das „Meer innerer Sinnlichkeit“,9 das von außen gespeist wird, indem sich alle Wahrnehmungen in Auge und Gehirn abbilden.10 Innerhalb des commercium mentis et corporis ist für Herder ein influxus in beide Richtungen möglich: Die Seele besitzt ebenso Einfluß auf den Körper wie umgekehrt.11 Physische Gesundheit bedingt dabei psychische Stabilität sowie Freiheit von Zerstreuungen und Vorurteilen.12 Im fragilen Gleichgewicht von Ratio und Emotion überwiegen Affekte und affektgeleitete Interessen die Vernunft, spätestens wenn es um praktisches Handeln geht. Die Verbindung von Ratio und Affekt erweist sich immer wieder als brüchig: „Kopf und Herz ist einmal getrennt: der Mensch ist leider! so weit, um nicht nach dem was er weiß, sondern was er mag, zu handeln.“13 Eine Lösung dieser Problematik kann indes nicht in einer Ermächtigung der Ratio bestehen, denn diese

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Etienne Bonnot de Condillac: Traité des sensations. A Madame La Comtesse de Vassé. London 1754; Charles Bonnet: Essai analytique sur les facultés de l’ame. 2 Bde. Kopenhagen / Genf 2 1769 ; (deutsche Übs.: Bonnet: Analytischer Versuch). An anderer Stelle bezieht sich Herder ausdrücklich auf die ältere medizinische Tradition; vgl. Herder: Vom Erkennen, S. 200f. Vgl. zum „Pygmalion“-Motiv Proß: Herder und die Anthropologie, S. 1145f., zu Herders HallerRezeption ders.: „Ein Reich unsichtbarer Kräfte“, S. 78ff., knapp auch Simon Richter: Medizinischer und ästhetischer Diskurs im 18. Jahrhundert: Herder und Haller über Reiz, in: Lessing Yearbook 25 (1993), 83–95, hier S. 88f. Vgl. Johann Gottfried Herder: Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, in: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 8. Schriften zu Literatur und Philosophie. 1792–1800. Hg. Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt/M. 1998, 303–640, hier S. 343. Vgl. Herder: Vom Erkennen, S. 171. Vgl. ebd., S. 190. Vgl. Herder: Journal, S. 123. Vgl. Herder: Vom Erkennen, S. 191f. Braungart bezieht diese These Herders auf Stahl. Vgl. Georg Braungart: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne. Tübingen 1995, S. 92f. Vgl. Herder: Vom Erkennen, S. 232. Mit der Aufwertung der dunklen Empfindungen verbindet sich die Vorstellung, das „Herz“ sei das Zentrum menschlicher Körperlichkeit und Sinnlichkeit. Vgl. ebd., S. 172. Herder: Auch eine Philosophie, S. 541.

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hat eine begrenzte Reichweite.14 Ist die individuelle Menschenvernunft auf diese Weise schon problematisch, so ist es umso mehr die Idee einer „allgemeinen“ Menschenvernunft. Herder weist darauf hin, daß der Begriff der „allgemeinen Menschenvernunft“ stets in Gefahr steht, zugunsten eigener Trägheit instrumentalisiert zu werden.15 Kants transzendentaler Ermächtigung der Vernunft schreibt Herder, da jene apriorisch nicht auf Empirisches rekurriert, das Etikett einer „Übervernunft“ zu, die in „Wortlarven“ konstituiert werde.16 In Konsequenz des sensualisierenden Argumentationsganges sieht Herder daher Wahrnehmung als von den Sinnen abhängig an. Er betont dabei die Funktion der Sinne als untereinander verschiedene, aber jeweils eigenständige Erkenntnisweisen.17 Die Sinne bilden ein notwendiges Erkenntnismittel, doch impliziert dies keine vollständige Delegitimierung der Vernunft.18 Denn die zentrale Rolle der Aisthesis fundiert die Stufung von empirischer Wahrnehmung, sprachlichem Ausdruck und reflektierender, wenngleich sensualistisch gegründeter Vernunft. Unter dem Primat des sensualistischen Arguments wird Vernunft zum Organ der Verarbeitung von Wahrnehmungen.19 Die „Richtigkeit“ der empirischen Wahrnehmung ist, da sie in einem umfassenderen gnoseologischen Modell aufgehoben ist, zunächst wenig relevant.20 Diese Überlegungen bleiben nicht folgenlos für Herders Modell der Wissensdidaxe: Systemisch-theoretisches Erlernen, das bloß die Ratio anspricht, ist für den Bereich der primären Wissensvermittlung im Kindesalter wenig sinnvoll: „Hast du je einem Kinde aus der Philosophischen Grammatik Sprache beigebracht?“21 Die Kritik Herders bezieht sich vorrangig (schon vor dem Erscheinen von Kants Kritiken) auf die rationalistische Philosophie, die sich von den Bedürfnissen des prakti-

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Vgl. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 1. Frühe Schriften. Hg. Ulrich Gaier. Frankfurt/M. 1985, 695–810, hier S. 753. Vgl. Herder: Vom Erkennen, S. 213f. Vgl. Herder: Metakritik, S. 343. Vgl. auch ebd., S. 471 et passim. Vgl. Herder: Vom Erkennen, S. 187f. Herder bezieht sich kritisch auf: Johann George Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen und des Vermögens zu empfinden, befindet, in: ders.: Vermischte philosophische Schriften. [T. 1.] Leipzig 1773, 225–243. Sulzer begründet die Unabhängigkeit des Gefühls von oberen Erkenntnisvermögen. Vgl. Marion Heinz: Sensualistischer Idealismus. Untersuchungen zur Erkenntnistheorie des jungen Herder (1763–1778). Hamburg 1994, S. 113f., 137ff. Vgl. Proß: Herder und die Anthropologie, S. 1169f. Vgl. Marion Heinz: Historismus oder Metaphysik? Zu Herders Bückeburger Geschichtsphilosophie, in: Martin Bollacher (Hg.): Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur. Würzburg 1994, 75–85, hier S. 77; Gaier: Poesie oder Geschichtsphilosophie?, S. 8. Vgl. Proß: Herder und die Anthropologie, S. 1195f. Herz identifiziert dagegen die Einheit des Subjekts als „anthropologische Mitte“ bei Herder, die einseitigen Empirismus verbiete und die das Bindeglied zwischen Ästhetik und Geschichtsphilosophie darstelle. Vgl. Andreas Herz: Dunkler Spiegel – helles Dasein. Natur, Geschichte, Kunst im Werk Johann Gottfried Herders. Heidelberg 1996, S. 201f. Herder: Auch eine Philosophie, S. 485.

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schen Lebens entfernt und damit ihrer Wirksamkeit beraubt habe.22 Wirkung wird zum entscheidenden Unterschied zwischen den Sinnen und der Vernunft: „Aber Empfindung, Bewegung, Handlung – [...] als Werkzeug in den Händen des Zeitlaufs, welche Macht! welche Würkung! Herz und nicht Kopf genährt! mit Neigungen und Trieben alles gebunden, nicht mit kränkelnden Gedanken!“23 Im Zentrum stehen die Wirkungsmöglichkeiten des einzelnen unter den Bedingungen der Gegenwart.24 Der Vorteil der Wirksamkeit überwiegt dabei die Nachteile, daß ein solches Verfahren der Wissensgewinnung möglicherweise kein eindeutiges Ziel aufweist und daß es nicht den geraden Weg der Erkenntnis gehen kann. So erweist sich die langsame Vernunft auch nicht als geeignetes Mittel, um die für Herder unstrittige Verwandtschaft von Sinnen und Gefühl zu erkennen, die den physiologischen Sensualismus über die aisthetische Vermittlung zum psychologischen Faktum macht.25 Am Maßstab der Wirksamkeit gemessen, können die Ratio wie die wissenschaftlichen Disziplinen, die auf rationalen Erkenntnisverfahren basieren, gegen „Lieblingswahn“ nichts ausrichten.26 Dies gilt für jede Einseitigkeit: „Bloßes Spekulieren und Sentimentalisiren hilft nichts: jenes stumpft die Seele, wie dies das Herz ab.“27 Notwendig ist vielmehr eine am anthropologischen Idealtypus „ganzer Mensch“ orientierte Verbindung von Erkennen und Wollen: „sie sind nur Eine Energie der Seele“.28 Durch die voluntative Absicherung des Erkenntnisprozesses kann dieser wieder an die externe Norm der „Menschheit“ gebunden werden.29 Aktives, selbstbestimmtes, mündiges Handeln beruht bei Herder nicht auf rationaler Emanzipation, sondern auf einer sensualisierten Erkenntnis. Der in diesem psychologisch-anthropologischen Modell verfaßte Prozeß menschlichen Erkennens und Handelns unterliegt vielfältigen externen Einflüssen. Herder rezipiert die Klimatheorien des 18. Jahrhunderts. Das jeweilige Klima und damit die spezifische geographische Lage bestimme die Lebensweise, den Körperbau, die Arbeit, Künste und den geistigen Horizont der Menschen, die dem jeweiligen Klima gemeinsam ausgesetzt sind: „der ganze Gesichtskreis ihrer Seele (der der sinnlichen Völker, R. G.) ist klimatisch.“30 Während Isaak Iselin einschränkt, daß die räumlich verortbaren Klimafaktoren nicht die alleinige Ursache für menschliche Entwicklung seien,31 erweitert Herder diesen naturalisierenden Argu-

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Vgl. ebd., S. 535f. Ebd., S. 525f. Vgl. Jürgen Brummack: Herders Polemik gegen die ‚Aufklärung‘, in: Jochen Schmidt (Hg.): Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart. Darmstadt 1989, 277–293, hier S. 288. Vgl. Herder: Abhandlung über den Ursprung, S. 744. Vgl. Herder: Uebers Erkennen [1774], S. 251. Herder: Vom Erkennen, S. 214. Ebd., S. 199. Vgl. ebd., S. 199f. Herder: Ideen, S. 259. Vgl. Iselin: Über die Geschichte der Menschheit, S. 42ff.

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mentationsgang. Er proklamiert mit dem Exempel der natürlichen Einflüsse ein strukturiertes Erkenntnisverfahren, das auf anthropologiezentrierte Relativität abhebt: eine „Hermeneutik des Ermessens“.32 Herders Rekurs auf klimatheoretische Vorstellungen bleibt so nicht bei der bloßen Annahme des rezeptiven Einflusses stehen, sondern integriert diese in ein gnoseologisches Modell, das empirische Daten, ihre historisierte Perzeption und ihre anthropozentrische Verarbeitung vereint.33 In dieser gnoseologischen Perspektive verbindet sich die empirisierende Arbitrarität mit der Naturalisierung.34 Hierzu trägt die Anerkennung der Organisation der Natur bei, die deren Komplexität für den Wahrnehmenden nicht auflöst, sie aber als Ganzes erfaßbar macht – im Unterschied zum rational-philosophischen Zugang: „der Philosoph muß Einen Faden der Empfindung liegen lassen, indem er den anderen verfolgt – in der Natur aber sind alle die Fäden Ein Gewebe!“35 Zusammensetzung ist eine Bedingung der Organisation, die aber auch deren Erkenntnis erschwert: Denn was ist eine Organisation, als eine Masse unendlich-vieler zusammengedrängter Kräfte, deren größter Teil eben des Zusammenhangs wegen von andern Kräften eingeschränkt, unterdrückt oder wenigstens unsern Augen so versteckt wird, daß wir [...] nur das Gebilde sehen, das sich zur Notdurft des Ganzen so und nicht anders organisieren muß.36

Gleichzeitig ermöglicht Organisation aber auch ‚Sensationen‘ und damit Erkenntnis.37 Die Organisation der Natur und mit ihr die des Menschen rekurrieren nicht nur auf eine bipolare Harmonie von Individuum und Gattung, sondern auch auf die integrative Funktion des Organisationsmodells schlechthin, das zur Bedingung anthropologiebasierten Erkennens wird. Herder fokussiert nicht die Inhalte der Erkenntnis, sondern die prozessualisierte Struktur von auf den Organismus bezogenen Perzeptionen.38 Analogische Schlüsse von der Natur auf den Einzelmenschen werden bei Herder durch die organische Einheit der Natur legitimiert.39 Die Naturalisierung des Menschen, wie sie Herder schon in Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele argumentativ umsetzt, kann per Analogieschluß Zusammenhänge und Parallelen in einer Form aufzeigen, die auf die sinnesbasierte Konstruktionsfähigkeit des Menschen rekurriert. Voraussetzung hierfür ist die 32 33

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Vgl. Gaier: Poesie oder Geschichtsphilosophie, S. 9. Vgl. Pfotenhauer: Anthropologie, Transzendentalphilosophie, Klassizismus, S. 84f., Adler: Prägnanz, S. X, 106. Proß geht in seiner Analyse von der zeitlichen Dimension aus, sieht aber gleichfalls Milieu und Klima als integrative Aspekte von Herders Modell. Vgl. Proß: Herder und die Anthropologie, S. 1154. Das tertium comparationis liegt m.E. in Herders impliziter Urteilstheorie, nicht in der Naturlehre, wie Proß annimmt. Vgl. Proß: „Ein Reich unsichtbarer Kräfte“, S. 73. Herder: Abhandlung über den Ursprung, S. 745. Vgl. zur „Idee vom Ganzen“ bei Herder Kondylis: Aufklärung, S. 619, 621f. Herder: Ideen, S. 168. Vgl. zum Organisationsbegriff Garber: Selbstreferenz, S. 180. Vgl. Herder: Journal, S. 120. Vgl. Gaier: Poesie oder Geschichtsphilosophie, S. 5. Vgl. Nisbet: Herders anthropologische Anschauungen, S. 2f.

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Annahme eines organisierten Zusammenhangs zwischen äußeren Gegenständen, den Sinnesorganen und den innerpsychischen Vorgängen.40 Naturalisierende Analogien, die vom menschlichen Erkenntnisdrang ausgehen, tragen demnach zum einen zu einem empirischen Lernprozeß bei.41 Durch den Bildcharakter solcher Analogien, die bis in den Bereich der physiologischen Organisation des Menschen reichen, können „Theorien“ größerer Reichweite entstehen.42 Damit übernimmt die Naturalisierung auch im wissenschaftssystematischen Bereich Funktionen rationaler Schlußverfahren, da sie zur unabhängigen Hypothesenbildung ermächtigt. Zum anderen aber dürfen solche Analogieschlüsse nicht von einem rein äußerlichen Befund ausgehen, wie Herder demonstriert, indem er sich von rein physiognomischen Gleichsetzungen distanziert: „Wie manche Tiere, die uns von außen so unähnlich scheinen, sind uns im Innern, im Knochenbau, in den vornehmsten Lebensund Empfindungsteilen, ja in den Lebensverrichtungen selbst auf die auffallendste Weise ähnlich.“43 Diese kritischen Anmerkungen Herders zielen gegen veräußerlichte Naturanalogien, gegen „Spiele[n] der Einbildung“.44 Denn auch der Analogieschluß muß auf das Ganze der Natur zielen, nicht auf einzelne, oberflächliche, isolierte Vergleichspunkte: „Es ist also anatomisch und physiologisch wahr, daß durch die ganze belebte Schöpfung unsrer Erde das Analogon Einer Organisation herrsche; [...]“.45 Das Labyrinth der Schöpfung ist geordnet nach Maßgabe nachweisbarer, aber nicht rein äußerlicher Ähnlichkeiten.46 Der Aufweis dieser Ähnlichkeiten in der Analogie dient dazu, die Multipolarität der geschichtlichen Dynamik auszudrücken.47 Jene Schlüsse sind Modi des Erkennens. Statt inhaltliche Parallelen bloß aufzuzeigen, weisen sie auf strukturelle Ähnlichkeiten hin und werden so zum Erkenntnis ermöglichenden, nicht bloß zum illustrierenden Moment.48 Elementar ist für Herder die integrative Funktion anthropologiebasierter Argumentationsformen. Wie Naturalisierung immer auf Historisierung und Sozialisierung verweist, so ist auch empirische Erfahrung kosmologisch-anthropologisch bedingt. Folge man der Erfahrung, so erkenne man, daß die Seele nichts aus sich erkennt, sondern „was ihr von innen und außen ihr Weltall zuströmt“.49 Empirie bestätigt die Notwendigkeit anthropologiebasierten Erkennens. Verstand, Gewis-

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Vgl. Herder: Vom Erkennen, S. 169f., Proß: Meine einzige Absicht, S. 139. Vgl. Herder: Journal, S. 16 et passim. Vgl. Herder: Vom Erkennen, S. 170, 173. Herder: Ideen, S. 74. Vgl. ebd. Bollacher löst im Kommentar auf, daß Herder sich hier gegen Robinets analytische Methode wendet; vgl. ebd., S. 959. Mit Robinet verbindet Herder aber die Vorstellung eines ganzheitlichen Naturprozesses. Vgl. Proß: Herder und die Anthropologie, S. 1160f. Herder: Ideen, S. 76. Vgl. hierzu ausführlicher Proß: „Ein Reich unsichtbarer Kräfte“, S. 87. Vgl. Garber: Selbstreferenz, S. 179. Vgl. Irmscher: Beobachtungen, S. 78. Vgl. Gaiers Kritik an Irmscher in: Gaier: Poesie oder Geschichtsphilosophie, S. 4f., 6. Herder: Vom Erkennen, S. 194.

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sen, Willen und Freiheit werden als komplementäre Fähigkeiten der „Gotteskraft unsrer Seele, ‚innere in sich blickende Thätigkeit, Bewußtseyn, Apperception‘“ subordiniert.50 „Kurz, alle diese Kräfte sind im Grunde nur Eine Kraft, wenn sie menschlich, gut und nützlich seyn sollen, und das ist Verstand, Anschauung mit innerm Bewußtseyn.“51 Auch in seiner Metakritik der Kritik der reinen Vernunft greift Herder auf diesen empirisch funktionalisierten Kraft-Begriff Leibnizscher Provenienz und das ebenfalls Leibniz entlehnte Stufenleitermodell der menschlichen Erkenntnis zurück. Dabei betont er die Einheit und Zusammengehörigkeit von Verstand und Sinnlichkeit, die im unitaristischen Kraft-Modell aufgehen.52 Doch auch empirische Erkenntnis hat Grenzen: Über die nachvollziehbaren Beziehungen der Organe des menschlichen Körpers zueinander hinaus muß eine tieferliegende Erstursache angenommen werden, ein von Gott geknüpftes „geistiges Band“, das nicht erkannt werden kann, sondern „geglaubt“ werden muß.53 Auch fragmentarisches empirisches Wissen bleibt wirksam, da es an die von Gott garantierte, jeweils auf den einzelnen Sinn bezogene Wahrheit gebunden ist: Kein Sinn, als Sinn kann sie (die Seele, R. G.) trügen: alle Vorstellungen, selbst die dunkelsten, sind prägnant von Wahrheit im Schoosse der Empfindung: Irrthum ist nichts als eine Vermischung und Zusammenwerfung zu vieler Theile, deren Grund wir noch nicht sehen [...].54

Das gnoseologisch Kompakte wird hier zum Prägnanten und damit zum Erkenntnis sichernden Fundus.55 Menschliche Erkenntnis hängt vom dunklen Empfinden ab.56 Wissen konstituiert sich im Urteil über das Urteil der Sinne als Erkenntnisebene, die über die Ersterkenntnis der Sinneswahrnehmung hinausgeht.57 Herders gnoseologisches Modell umfaßt analog zur Dynamisierung der chain of being, in der sich die Natur perfektioniert, mehrere Stufen, die die Urteile des Verstandes und die Urteile der Empfindungen verbinden.58 Erkennen ist ein produktives Handeln, das aus der Vielfalt der Eindrücke und Urteile Einheiten konstituiert und diese Synthesen hermeneutisch umsetzt.59 Damit geht Herder über die zugrundeliegende These Condillacs hinaus: Dieser kennzeichnet attention, comparaison und 50 51 52

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Ebd., S. 195. Ebd., S. 196. Vgl. Herder: Metakritik, S. 366, 452, 592, 604. Zeuch versucht zu zeigen, daß Herders KraftModell innere Widersprüche birgt und den historischen Wandel der Bestimmung der menschlichen Seele nicht überzeugend erklären kann. Die Frage nach der „Wahrheit“ der Konzeptbildungen ist allerdings m.E. sekundär. Vgl. Ulrike Zeuch: „Kraft“ als Inbegriff menschlicher Seelentätigkeit in der Anthropologie der Spätaufklärung (Herder und Moritz), in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 43 (1999), 99–122, hier S. 110f., 122. Vgl. Herder: Vom Erkennen, S. 174f. Herder: Uebers Erkennen [1774], S. 242. Vgl. Adler: Prägnanz, S. IX, 100. Dunkelheit ist eine positive Bedingung von Erfahrung, aber auch des Vergnügens – im Unterschied zu Sulzer. Vgl. Minter: Macht der dunklen Ideen, S. 119. Vgl. Adler: Prägnanz, S. 98f. Vgl. Herder: Vom Erkennen, S. 176, Herder: Uebers Erkennen [1774], S. 247. Vgl. Gaier: Poesie oder Geschichtsphilosophie, S. 2.

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jugement als Formen der Sensationen. Der gnoseologische Urteilsprozeß ist in den Sinnen selbst begründet. Denn Urteile beruhen auf dem Vergleich von Sinneseindrücken. Als solche können sie gelegentlich falsch sein, doch ebenso gut (und in den meisten Fällen) auch zutreffen.60 Naturalisierende und empirisierende Argumentationsfiguren verbinden sich mit historisierenden. Die historische Perspektive Herders erkennt im Wandel der Zeiten auch einen Wandel der Denkungsart.61 In der Hypothese, Gutes könne auf der Welt als gleichverteilt angesehen werden, beziehe man die geographische und zeitliche Divergenz in den Perspektivismus mit ein, verbinden sich Raum- und Zeitdivergenz zur Historisierung. Diese Mannigfaltigkeit macht die Erklärung selbst einfacher Konstellationen zu einer komplexen Aufgabe. Daher ist für Herder die Preisfrage der Berner Patriotischen Gesellschaft, welches Volk jemals das glücklichste gewesen sei, ahistorisch und sinnlos: „jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!“62 Diese fast beiläufige Komparation mit einem naturwissenschaftlichen Faktum impliziert zweierlei: Historische Erkenntnis unterliegt erstens denselben empirischen Erfahrungsgrundsätzen wie naturwissenschaftliche. Zweitens: Wissen über den Menschen ist dem Wissen über die Natur vergleichbar, ja, es ist diesem sogar inhärent. Denn im Modus retrospektiver Historisierung kann die Entwicklung sozialer Gemeinschaften mit Naturmetaphern beschrieben werden: Jedes Volk hat „seine Periode des Wachsthums, der Blüthe und der Abnahme gehabt; [...]“.63 Historische Erkenntnis bedient sich natürlich-organologischer Metaphern. Gleich der Natur werden auch Raum und Zeit in den Modus der Erkenntnis integriert.64 Während die rein theoretische Antwort schon durch Glauben, Erfahren und Empfinden transzendiert wird, kann durch die Überwindung raum-zeitlicher Erkenntnisschranken Erkennen zusätzlich historisiert werden. Die Naturalisierung der Naturlehre und geographischen Kulturanalyse verbindet sich mit der Historie der Völker zur Naturgeschichte.65 Selbstbeobachtung ergänzt das Verfahren.66 Das hypothetische Resultat eines solchen rückwärts und auf das urteilende Selbst gewandten gnoseologischen Schritts kulminiert wieder in einer Naturanalogie: „Wie ein Baum bin ich gewachsen: der Keim war da; aber Luft, Erde und alle Elemente, die ich nicht um mich faßte, mußten beitragen, den Keim, die Frucht, den Baum zu bilden.“67 60 61 62 63 64 65 66 67

Condillac: Extrait raisonné, S. 287, 289ff., 292, ders.: Abhandlung, S. 6f. et passim. Vgl. Adler: Prägnanz, S. 97. Vgl. Herder: Ideen, S. 658. Herder: Auch eine Philosophie, S. 509. Es handelt sich um die dritte der Berner Preisfragen. Ausführlicher zu diesen s.o. S. 149ff. Ebd., S. 504. Vgl. Proß: Herder und die Anthropologie, S. 1172. Vgl. Herder: Journal, S. 43f. Vgl. Herder: Vom Erkennen, S. 181. Ebd., S. 198.

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Herders anthropologiebasiertes Erkenntnismodell dehnt die individuelle auf die kulturelle Empirisierung aus. Der unterschiedlich starke Beitrag der einzelnen Sinne wäre, so Herder, über verschiedene Länder, Zeiten, aber auch über verschiedene Kulturformen der Völker zu verfolgen. Dabei formuliert Herder als gnoseologische Hypothese, daß all diese differenten Beiträge letztlich im wieder individuellen inneren Menschen zusammenfließen.68 Doch nicht nur der Unterschied individueller Konstitutionen macht den Wahrnehmungsprozeß komplex. Das Muster der Individualität überträgt Herder auf den kulturanthropologischen Vergleich: „Wie einzelne Menschen, so sind noch mehr Familien und Völker von einander verschieden; nach dem Kreise ihrer Empfindungs- richtet sich auch ihre Denkart.“69 5.1.2 Herders Vorurteilstheorie als immanente Gnoseologie Diese komplexe, fragmentarische Erkenntnistheorie Herders bleibt nicht folgenlos für seinen Beitrag zum Vorurteilsdiskurs. Herder definiert indes „Vorurteil“ nicht explizit. Sein lexikalisches Inventar hebt vor allem auf die Funktionen der Vorurteile ab. Er geht mithin schon von der Entlogisierung des Vorurteilsdiskurses aus. Auf der Grundlage der anthropologiebasierten Sensualisierung situiert Herder Vorurteile im dunklen Grund der Seele. Herders Blick öffnet sich für die Verankerung der Vorurteile in den prärationalen Schichten der menschlichen Seele, wenn er versucht, den „ganzen“ Menschen wieder – wie im antiken Griechenland – zum Objekt und zum Subjekt der Beobachtung zu machen.70 Eine solche integrativganzheitliche Vorstellung hebt nicht nur auf die gleichgewichtige, harmonische Ausprägung von Kopf und Herz ab,71 sondern im Gegensatz zu Sulzer und Eberhard (aber mit Tetens übereinstimmend) auf die gemeinsame anthropologische Wurzel von Denken und Fühlen.72 „Erkennen ist also nicht ohne Empfindung: Empfindung nicht ohne ein gewisses Erkennen.“73 Der konstitutive Zusammenhang von Erkennen und Empfinden und, von diesen ausgehend, deren Verbindung mit den anthropologischen Fertigkeiten des Individuums erweitert den Vorurteilsdiskurs zu einem Diskurs über Erkennen und Urteilen des Menschen.74 Wenn die Seele nach Analogien handelt und Empfindungen „Formeln ihrer Übung im Erkennen“ sind,75 so bedeutet dies für den Vorurteilsdiskurs, daß Vorurteile als Modi der

68 69 70 71 72 73 74 75

Vgl. ebd., S. 188f. Ebd., S. 210. Vgl. auch ebd., S. 220f. Vgl. Herder: Vom Erkennen, S. 217. Vgl. Heinz: Wissen vom Menschen, S. 80. Vgl. Barnouw: Philosophical Achievement, S. 320f. Herder: Uebers Erkennen [1774], S. 237. Vgl. Heinz: Sensualistischer Idealismus, S. 138. Vgl. exemplarisch Herder: Vom Erkennen, S. 207, Herder: Uebers Erkennen [1774], S. 248. Auch bei Iselin ist die Abhängigkeit der Seele vom Leib an das Konzept der Ganzheit gebunden. Vgl. Iselin: Über die Geschichte der Menschheit, S. 40.

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Erkenntnis, nicht als falsche Ergebnisse eines Erkenntnisprozesses in den Blick kommen. Für diesen impliziten material-wahren Vorurteilsbegriff wird die Anerkennung sinnlicher Empfindung zum zentralen Argument. So bestimmt Herder Nationalvorurteile als Meinungen des Volks, über gewisse ihnen unerklärliche Dinge: Fabeln, die sie sogleich mit dem Stammlen der Sprache von ihren Erziehern lernen, die sich also aus den ältesten Zeiten von den Stammvätern herunter erben: die sich bei einem sinnlichen Volk, das sich statt der Weisheit und Wissenschaften, mit dem Hirtenleben, dem Ackerbau, und den Künsten abgiebt, sehr lange Zeit erhalten können, [...].76

Gewohnheit und Tradition bestimmen nicht nur individuelles wie kollektives menschliches Handeln, sondern sie ermöglichen es geradezu.77 Diese als Vorurteile gekennzeichneten affektiven Handlungsimpulse müssen gestärkt werden, um aktivem Handeln des Menschen den Weg zu ebnen, zu welchem Erkenntnis und Empfindung gemeinsam beitragen. Ein Übermaß an Räsonnement schwächt gerade jene Vorurteile, die zur Aktivität des Menschen anleiten, und ersetzt sie durch andere, die zur „Ermattung“ des Menschen führen.78 „Das liebe, matte, ärgerliche, unnütze Freidenken, Ersatz für alles, was sie (die Menschen, R. G.) vielleicht mehr brauchten – Herz! Wärme! Blut! Menschheit! Leben!“79 Doch ist nicht jede Reflexion ein inaktiver Zustand. Herder versteht sie verzeitlicht als Prozeß: „Überlegung ist eine Handlung der Seele, nicht ein Zustand.“80 Reflexion ist so in neuer Weise funktionalisiert, doch verliert sie nicht völlig ihre Funktion für menschliche Erkenntnis. Herders Polemik zur Restituierung von Vorurteilen richtet sich gegen den vermeintlichen Widerspruch im „Freidenken“: nicht gegen die intendierte Freiheit, sondern gegen die dieser widersprechende, alleinige Beherrschung des ganzen Menschen durch die handlungsverhindernde Ratio. Freiheit ist gebunden an aktives Handeln. Obwohl Herder Metaphysik und vereinseitigende Logik als Konstitutionsregeln für den Wahrheitsbegriff ablehnt, schließt er nicht aus, daß „Wahrheit“ erreicht werden könne. Doch ist sie in den anthropologiebasierten Verfahren selbst aufzufinden, nicht in der inhaltlichen Adäquation von Begriff und Sache:81 „Aber wie? ist in dieser ‚Analogie zum Menschen‘ auch Wahrheit? Menschliche Wahrheit gewiß, und von einer höhern habe ich, so lange ich Mensch bin, keine Kunde.“82

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Johann Gottfried Herder: Über die neuere deutsche Literatur. Zwote Sammlung von Fragmenten. Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Literatur betreffend. 1767, in: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 1. Frühe Schriften. 1764–1772. Hg. Ulrich Gaier. Frankfurt/M. 1985, 261– 365, hier S. 281. Vgl. zur Parallele zu Moser Menges: Nationalgeist, S. 107. Vgl. Herder: Ideen, S. 304ff. Vgl. Herder: Auch eine Philosophie, S. 537f. Ebd., S. 538. Herder: Metakritik, S. 474. Vgl. Gaier: Poesie oder Geschichtsphilosophie, S. 3f., 14. Herder: Vom Erkennen, S. 170.

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Wahrheit wird nicht aufgegeben, aber mittels eines sensualisierten Vorurteilskonzepts neu bestimmt: Die stille Aehnlichkeit, die ich im Ganzen meiner Schöpfung, meiner Seele und meines Lebens empfinde und ahnde: der große Geist, der mich anwehet und mir im Kleinen und Großen, in der sichtbaren und unsichtbaren Welt Einen Gang, Einerley Gesetze zeiget: der ist mein Siegel der Wahrheit.83

Sinnesdaten und Erfahrung führen verläßlicher zu Wahrheiten als logische Schlüsse.84 „Wahrheit“ löst sich aus dem logischen Bereich und verankert sich im praktischen Handeln: „Erkenntniß und Empfindung leben nur in That, in Wahrheit.“85 Im Blick auf die Ontogenese des Menschen erkennt Herder, daß in der frühen Kindheit notwendige Vorurteile entstehen.86 Die Kindheit ist diejenige Entwicklungsphase, in der die Seele am wirksamsten ist. Doch ist weder die Wirksamkeit der Seele negativ konnotiert noch ist mit diesem Aufweis ausgeschlossen, daß die Seele auch in anderen Entwicklungsphasen des Menschen zu Wirksamkeit gelangt: „Unsre Kindheit ist ein dunkler Traum von Vorstellungen, so wie er gleichsam nur auf das Pflanzengefühl folgen kann; aber in diesem dunkeln Traume würkt die Seele mit allen Kräften.“87 Die Kindheit des Menschen erweist sich als in die chain of being integrierbare Entwicklungsphase organisierten Lebens. Sie wird in der Spezifik ihrer undeutlichen und fragmentarischen Erkenntnis positiv funktional, ohne daß eine solche Erkenntnis auf rationalerem Wege wiederholbar wäre: „Sich ihres Ursprungs aber erinnern? deutlich erinnern? wie könnte sie das? [...] Das alles aber sind nur einzelne kleine Fragmente; [...]“.88 Die Behauptung, Vorurteile seien im Kindesalter notwendig, beruht auf der Voraussetzung, daß sich Verstandesfähigkeiten im Laufe der kindlichen Entwicklung erst nachgeordnet ausbilden.

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Ebd., S. 171. Vgl. Wulf Koepke: Herder’s Craft of Communication, in: Robert Ginsburg (Hg.): The Philosopher as Writer. The Eighteenth Century. Selinsgrove / London / Toronto 1987, 94–121, hier S. 96. Herder: Vom Erkennen, S. 217. Vgl. Herder: Abhandlung über den Ursprung, S. 786. Im Unterschied zu Herder schließt Iselin aus derselben Beobachtung, daß Vorurteile vermieden werden müssen. Gutes und Gemeinnütziges solle aber als positives Vorurteil bereits in der frühen Kindheit verankert werden. Vgl. Iselin: Über die Geschichte der Menschheit, S. 73, 75, 78, 88. Vorurteile können aber auch der sozialen Struktur zugeschrieben werden. Vgl. Isaak Iselin: Schinznach, dritte Unterredung. Der Mensch in seinen verschiedenen Verhältnissen betrachtet, in: Isaac Iselins vermischte Schriften. Bd. 1. Zürich 1770, 62–94, hier S. 84. Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder. Oder Betrachtungen über die Wißenschaft und Kunst des Schönen. Viertes Wäldchen über Riedels Theorie der schönen Künste [1769], in: SWS 4, 1–198, hier S. 31. Vgl. hierzu Minter: Macht der dunklen Ideen, S. 129. Herder: Kritische Wälder, S. 31. Vgl. zur chain of being auch Herder: Vom Erkennen, S. 229. Iselin sieht als wesentlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier innerhalb der chain of being die Vernunftfähigkeit des Menschen. Vgl. Iselin: Über die Geschichte der Menschheit, S. 11, 29.

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Hier weicht Herder von Condillac entscheidend ab. Denn dieser betont die Gleichzeitigkeit der verstandesmäßigen und der sinnlichen Urteilskraft: „la faculté de raisonner commence aussitôt que nos sens commencent à se développer“.89 Trotz der sensualistischen Argumentation Condillacs stellt sich unter diesen Bedingungen die Frage der Vorurteilskritik neu, da die Unvermeidbarkeit von Vorurteilen nicht mehr aus einem anthropologischen Faktum erklärt werden kann, wie das bei Herder und in der vorgängigen deutschen Tradition der Fall ist. Wenn bei Condillac der Verstand schon in der frühen Kindheit entwickelt ist, entstehen Vorurteile nicht zwingend notwendig, und sie wären vermeidbar. Condillac intendiert denn auch die Bekämpfung von Vorurteilen. Hierzu entwirft er im Unterschied zu Herder ein Modell, das verläßliche Urteile auf wiederholte sinnliche Wahrnehmungen gründet und das vor vorschnellen Verallgemeinerungen und rationalen Abstraktionen warnt.90 Das Beispiel Condillac zeigt, daß eine sensualistische Argumentation nicht notwendig zur Rehabilitierung des Vorurteils führen muß. Doch bildet Herders material-wahrer Vorurteilsbegriff nicht die zwingende Grundlage der Argumentation. Denn die Wahrheit der Vorurteile bleibt unzulänglich: „In der Sprache des Lebens nennen wir falsch aufgenommene Begriffe und halbwahre Meinungen Vorurteile; sinnlos-gelernte Worte sind solche, wir nehmen sie auf, gewöhnen uns an sie, und rechnen mit ihnen unbedacht weiter.“91 Dagegen weist Herder im Zusammenhang einer der prägnantesten Formulierungen des Individualitätstopos des Sturm und Drang darauf hin, daß Wahrheit nicht das alleinige Kriterium zur Beurteilung von (Vor-)Urteilen sein könne: „Jedermann weiß, wie öfters, zumal bei plötzlichen Leidenschaften, uns unser erstes Urtheil trüge; und wie Gegentheils der erste Eindruck an Frische und Neuheit nichts seines Gleichen habe.“92 Hier kommt die mögliche positive Funktion von Vorurteilen in den Blick, nicht deren logische Fixierung. So habe es sich in früheren Zeiten als notwendig erwiesen, Vorurteile anzuerkennen und nicht kritisch zu befragen: diese sogenannte Vorurtheile, ohne Barbara celarent aufgefaßt, und von keiner Demonstration des Naturrechts begleitet, wie stark, wie tief, wie nützlich und ewig! – Grundsäulen alles deßen, was später über sie gebaut werden soll, oder vielmehr schon ganz und gar Keime, aus denen sich alles Spätere und Schwächere [...] entwickelt – [...].93

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Etienne Bonnot de Condillac: Cours d’études pour l’instruction du Prince de Parme. Discours préliminaire, in: Œuvres de Condillac. Revues, corrigées par l’Auteur, imprimées sur ses manuscrits autographes, et augmentées de la Langue des Calculs. [...] Bd. 5. Paris 1798, S. lj. Vgl. Condillac: Abhandlung, S. 151, 194ff. Herder: Metakritik, S. 522. Herder: Vom Erkennen, S. 209. Herder: Auch eine Philosophie, S. 482. Vgl. hierzu knapp, ohne allerdings den Hintergrund aufklärerischer Vorurteilstheorie zu (er)kennen, Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt/M. 41999, S. 176f.

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Vorurteile sind menschheitspsychologisch notwendige Stufen der Entwicklung, die einen sinnstabilisierenden Effekt haben.94 Eine willkürliche Vorurteilsbekämpfung, die deren Funktionalität ignorierte, kann daher nicht sinnvoll sein. Herder überträgt das Argumentationsverfahren der Historisierung auf die Historisierung von Vorurteilen: „Mit jedem neuen Geschlecht kommt eine neue Denkart empor, [...].“95 Denn die Norm der individuellen und kollektiven Denkarten erweist sich als für die jeweilige historische Stufe funktional notwendig – unabhängig davon, ob sie dies auch für spätere Stufen sein kann. Die Relativität der Norm bedingt, daß auch Herders Gegenwart sich verpflichten muß, alte Normen und Vorurteile in Hinblick auf ihre positive Funktion für das 18. Jahrhundert zu befragen. Wie Menges völlig zutreffend zeigt, geht es Herder keineswegs um eine unreflektierte imitatio veterum, sondern um die Einbettung des Vorurteilsdiskurses in Prozesse hermeneutischer Kritik.96 Da Bildung auf Erfahrung, Tat und Anwendung des Lebens ausgerichtet ist, mithin den Bedingungen eines nicht-rationalen Erkennens gerecht wird, kann gar die Generierung von Vorurteilen hilfreich sein, sofern diese eine zentrale Funktion für die Gegenwart erfüllen.97 Herder faßt die sich in historischer Perspektive wandelnde Funktionalität von Vorurteilen in das naturalisierende Bild eines Baumes: Die organische Gestalt des Baumes ändere sich im Lauf der Geschichte, und doch habe jeder Teil des Baumes seine spezifische Funktion, seine bestimmten Gestaltmerkmale und Vor- und Nachteile, die je nach Gesamteindruck unterschiedlich zutage treten.98 Herder zufolge liegt die Ursache vieler heutiger Mißverständnisse über die Frage der Vorurteile darin, daß die historische Perspektive fehlt. Eine genetischhistorische Betrachtung muß dabei in der Parallele von Onto- und Phylogenese die jeweils am historischen Zustand gemessene Funktion von Vorurteilen anerkennen: Gibts nicht in jedem Menschenleben ein Alter, wo wir durch trockne und kalte Vernunft nichts, aber durch Neigung, Bildung, nach Autorität Alles lernen? wo wir für Grübelei und Raisonnement des Guten, Wahren und Schönen kein Ohr, keinen Sinn, keine Seele; aber für die sogenannten Vorurtheile und Eindrücke der Erziehung Alles haben – [...].99

In historischer Perspektive kann der Nutzen von Vorurteilen mittels ihrer Funktion spezifiziert werden. Sie bewirken soziale Stabilität, individuelles und soziales Glück und ermöglichen so die Entwicklung von Individuen und Völkern: „Das Vorurtheil ist gut, zu seiner Zeit: denn es macht glücklich. Es drängt Völker zu ihrem Mittelpunkte zusammen, macht sie vester auf ihrem Stamme, blühender in ihrer Art, brünstiger und also auch glückseliger in ihren Neigungen und 94 95 96 97 98 99

Vgl. Menges: Vorteil, S. 162f., ders.: Nationalgeist, S. 107. Herder: Ideen, S. 543. Vgl. Menges: Vorteil, S. 162f. Vgl. Herder: Auch eine Philosophie, S. 543. Vgl. ebd., S. 554. Ebd., S. 482. Auch Herders Entwurf eines Erziehungsprogramms im Journal meiner Reise parallelisiert Onto- und Phylogenese. Vgl. Herder: Journal, S. 116.

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Zwecken.“100 Herder hält aufgrund der anthropologischen Defizienz des Menschen die Bildung kulturell-sozialer Gemeinschaften für notwendig. Vorurteile könnten für deren Zusammenhalt funktional werden und eine gemeinsame Denkart der sozialen Gruppe erzeugen.101 Die positive Funktion der Vorurteile erstreckt sich auch auf den ästhetischen Bereich. Die Dichtkunst, nichts bietend als „schöne Vorurtheile“,102 trägt elementar zur Veredelung des Menschen bei. Im Unterschied zum Programm Schillers ist die Veredelung des Menschen bei Herder nicht an die Wahrheit der Tugend gebunden. Zwar darf für Herder das Genie nicht von der Tugend isoliert werden, doch kann diese auch in Vorurteilen zum Ausdruck kommen, die empirisch vom Einzelmenschen erfahren werden.103 Doch der Maßstab der Vorurteilsrehabilitierung bleibt diskursextern. Die durch Vorurteile geförderte Veredlung muß sich an Humanität orientieren, um Erkenntnis und Handeln in Einklang zu bringen: „Menschheit ist das edle Maas, nach dem wir erkennen und handeln: [...]“.104 Das Wachstum der aus der Natur geschöpften Humanität entspricht dem Wachstum der wahren Aufklärung. Gegen eine solche Ordnung der Natur vermögen alle Leidenschaften und Vorurteile nichts.105 Auf der Grundlage anthropologiebasierter Argumentationsverfahren entphilosophisiert und entrhetorisiert Herder die Vorurteilstheorie, indem er die Hierarchie der Wissenschaften umkehrt. Der Mensch solle sich, so Herder in seiner Bückeburger Geschichtsphilosophie, „vom Worte des Fachphilosophen“ nicht irre machen lassen und stattdessen auf voluntative, affektive und historisch überlieferte Meinungen vertrauen.106 Daß aber ein Fachphilosoph überhaupt in den Ruch geraten kann, jemanden irrezuführen, indiziert, daß Logik und psychologische Anthropologie ihre Funktionen getauscht haben. Die Logik muß sich nun, will sie sich 100

Herder: Auch eine Philosophie, S. 510. Vgl. Menges: Nationalgeist, S. 108f. Nicht nur in dieser Hinsicht eignet sich Herder Vicos historisiert-positives Vorurteilsverständnis an, ohne dessen Deszendenzthese nachzuvollziehen. Vgl. zu Vico Blumenberg: Lesbarkeit, S. 176, zu Herders Vico-Bezügen Wolfgang Proß: Herder und Vico: Wissenssoziologische Voraussetzungen des historischen Denkens, in: Gerhard Sauder (Hg.): Johann Gottfried Herder 1744–1803. Hamburg 1987, 88–113. Ähnlich Garve: Ueber die Maxime Rochefaucaults, S. 623f. 101 Vgl. Herder: Ursprung, S. 785f., 799f. Da die angegebenen Stellen aus Herders Sprachursprungsschrift der Argumentationsführung zur Vorurteilsproblematik auch in anderen Texten entspricht, kann – bei aller Vorsicht gegenüber dem rhetorischen Gestus der Abhandlung über den Ursprung der Sprache – vermutet werden, daß es sich nicht um ein ironisches Zitat handelt, sondern um einen funktionalen Bestandteil von Herders Vorurteilstheorie. 102 Herder: Auch eine Philosophie, S. 508, vgl. auch ders.: Vom Erkennen, S. 171. 103 Vgl. Herder: Vom Erkennen, S. 218ff., Friedrich Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede, in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 17. Historische Schriften. T. 1. Hg. Karl-Heinz Hahn. Weimar 1970, 359–376, hier S. 366. 104 Herder: Vom Erkennen, S. 199. „Menschheit“ bedeutet, wie der Kontext zeigt, hier eher „Humanität“ als „Menschentum“. Stuke bemerkt, daß „Humanität“ bei Herder „Aufklärung“ als Zentralbegriff ablöse. Dennoch positioniert Herders seine Vorurteilstheorie innerhalb der Aufklärung. Vgl. Stuke: Aufklärung, S. 298. Vgl. auch Garber: Selbstreferenz, S. 180. 105 Vgl. Herder: Ideen, S. 641. 106 Herder: Auch eine Philosophie, S. 482.

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nicht aus dem erkenntnistheoretischen Diskurs verabschieden, mit dem Status einer ergänzenden Erkenntnisstrategie bescheiden, die zudem noch ihre Bezeichnung der Psychologie entlehnt. In Herders idealem Aufklärungs- und Bildungsprogramm soll sie „eine ExperimentalSeelenlehre der obern Kräfte“ werden.107 Damit rekurriert Herder begrifflich auf den schon von Krüger im Versuch einer ExperimentalSeelenlehre formulierten Anspruch, „Geschichtschreiber“ der menschlichen Seele zu sein und nur die empirischen Erfahrungen zu nutzen.108 Das Verhältnis von historisch-empirischem und „philosophischem“ Zugang zu den Gegenwartsproblemen wird neu bewertet.109 Herder zeigt, daß sich die rationalistische Philosophie in der Wahl ihres Erkenntnisobjekts nicht an ihre eigenen Maßgaben zu halten in der Lage war. Ihr graue es vor dem Abgrund dunkler Empfindungen, Kräfte und Reize.110 Damit unterläge sie den eigenen Affekten, die sie doch als Analyseobjekt ausschließt. Intendiert ist mit dieser Neubestimmung der Disziplinen nicht eine Umkehrung wissenschaftlicher Hierarchien um ihrer selbst willen. Herder wertet die bestehende Struktur um, indem er der Philosophie mit den Sinnen ein neues Erkenntnisobjekt und mit dem in der Anthropologie erlernbaren empirischen Anspruch einen neuen methodischen Leitfaden vorschlägt. Die Psychologie adaptiert naturwissenschaftliche Verfahren. So wie die Psychologie als „Physik der Seele“ gezeichnet wird, gerät die Logik zu einer „Philosophie der Sinne“.111 Um der Erkenntnisfunktion der Sinne einen auch disziplinär angemessenen Ort zu garantieren, muß demnach Philosophie Anthropologie werden: „Philosophie wird auf Anthropologie zurückgezogen“.112 Diese Anthropologisierung der philosophischen Logik bildet einen unverzichtbaren Bestandteil der Neukonzeption der Vorurteilstheorie. Denn die traditionelle Diskursregulation ist nun aufgrund des Wandels der Episteme obsolet geworden: Wenn eine rationale Philosophie die wesentlichen Resultate nicht mehr hervorbringen kann, dann kann sie auch die Frage der Vorurteile nicht mehr zu klären 107

Herder: Journal, S. 49. Heinz‘ Kennzeichnung von Auch eine Philosophie als „metaphysischpsychologisch“ führt daher m.E. in die Irre. Vgl. Heinz: Historismus, S. 79. Vgl. Krüger: Versuch, unpag. Vorrede, S. 9. Proß legt dar, Herder berufe sich in der ersten Fassung seines Essays über Erkennen und Empfinden (1774) nicht auf Haller, sondern v.a. auf Krüger. Vgl. Proß: „Ein Reich unsichtbarer Kräfte“, S. 79. Daß Krüger zwischen Stahls Vitalismus und Hoffmanns Iatromechanik schwanke, scheint mir aber zu unpräzise. Vgl. Zelle: Experimentalseelenlehre und Erfahrungsseelenkunde. 109 Vgl. Brummack: Herders Polemik, S. 290. 110 Vgl. Herder: Vom Erkennen, S. 179. 111 Vgl. Herder: Journal, S. 49f., 109. Herder übernimmt die Idee einer naturwissenschaftlichen Psychologie aus Huartes von Lessing übersetztem Examen de los ingenios (1575). 112 Johann Gottfried Herder: [Wie die Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner und nützlicher werden kann], in: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 1. Frühe Schriften. 1764–1772. Hg. Ulrich Gaier. Frankfurt/M. 1985, 101–134, hier S. 103. Vgl. auch ebd., S. 132, 134. Hierzu Hans Adler: Ästhetische und anästhetische Wissenschaft. Kants Herder-Kritik als Dokument moderner Paradigmenkonkurrenz, in: DVjs 68 (1994), 66–76, hier S. 75, Proß: Herder und die Anthropologie, S. 1133f. 108

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beanspruchen. Der Weg zur Diskursivierung der Vorurteilsdiskussion steht damit offen. Die neu konzipierte Philosophie ermöglicht einen neuen Umgang mit der Vorurteilsfrage. Sie kann sich gegen das „sinnlose Vorurtheil von Lernen, Langsamreifen, Tiefeindringen und Spätbeurtheilen“ wenden und ein „schönes, leichtes, freies Urtheil“ fällen.113 Damit wird das traditionelle Gegenmittel der Vorurteilskritik, die Aussetzung des Urteils, gegen eine lebenspraktische Handlungsfähigkeit abgewogen, das praeiudicium praecipitantiae wird umgekehrt. Diese Revision selbst kann nun als Vorurteilskritik verstanden werden, die darauf abzielt, Aktivität und Handlungsfähigkeit des Individuums herzustellen. Das Verhältnis von Vorurteilskritik und -rehabilitierung, das sich am Handeln, nicht an der Reflexion orientiert, tariert sich am Balancemaßstab der Modulation aus: Mäßigung und Mischung bestimmen die anthropologische Konditioniertheit des Menschen, so daß auch der sich im Bereich des Anthropologischen vollziehende Umgang mit den Vorurteilen auf die Normativität des mesotes-Ideals rekurriert.114 Der mäßige, sokratische Scherz bildet dabei – hier ist Herder Shaftesburys test of ridicule nahe – ein wirksames affektives Mittel gegen Wahn und Vorurteile.115 Indem Herder die diskursiven Regulationen des Vorurteilsdiskurses verschiebt, geht er den entscheidenden Schritt zu dessen Transformierung. Da Herder konsequent auf anthropologiebasierte Argumentationsformen zurückgreift, kann er nicht umhin, auch die probabilistischen Konsequenzen der anthropologischen Wende nachzuvollziehen. Der äußeren Einflüssen zu verdankende Zufall markiert schon in den ersten Sätzen von Herders Journal meiner Reise die Bedeutung externer anthropologischer Faktoren: „Ein großer Teil unsrer Lebensbegebenheiten hängt 113 114

Herder: Auch eine Philosophie, S. 536. Vgl. Herder: Vom Erkennen, S. 173. Diese Beschränkung gilt auch für das Genie-Verständnis, das Herder 1778 in Abgrenzung zum exaltierten Genie-Wesen formuliert, vgl. ebd., S. 222f. Schings weist darauf hin, daß Herders Genie-Modell auf die ingenia-Lehre der Renaissance und des Humanismus zurückgehe. Vgl. Schings: Melancholie, S. 18. Vgl. zum späteren GenieBegriff Johann Gottfried Herder: Kalligone, in: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 8. Schriften zu Literatur und Philosophie. 1792–1800. Hg. Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt/M. 1998, 641–964, hier S. 835ff. 115 Vgl. Herder: Metakritik, S. 573. Shaftesburys Verlachprobe zielt darauf ab, als „Probierstein der Wahrheit“ Vorurteile und Fanatismus durch öffentlichen Spott zu entlarven. Vgl. Anthony Earl of Shaftesbury: Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times. London 1711; Moses Mendelssohn: [Rezension von:] M. Akenside: The Pleasures of Imagination, in: JubA 4, 95– 117, hier S. 107f.; Moses Mendelssohn an Gotthold Ephraim Lessing am 26.12.1755, in: JubA 11, S. 30. Mendelssohn differenziert hier, dieses Verfahren könne dann sinnvoll sein, wenn es der Unterscheidung des Lächerlichen vom Burlesken diene. Später unterscheidet er zwischen dem feinen Spott Shaftesburys und der groben Satire. Vgl. Moses Mendelssohn: Soll man der einreißenden Schwärmerey durch Satyre oder durch äußere Verbindung entgegenarbeiten?, in: JubA 6,1, 137–141, hier S. 139. Sulzer kritisiert das Verfahren. Vgl. Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste [...]. 3.Th. Leipzig 21793, S. 140f. Vgl. zu Shaftesburys „test of ridicule“ Karl-Heinz Schwabe: Nachwort, in: Anthony Earl of Shaftesbury: Der gesellige Enthusiast. Philosophische Essays. Hg. Karl-Heinz Schwabe. München / Leipzig / Weimar 1990, 383–404, hier S. 391.

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würklich vom Wurf von Zufällen ab.“116 „Zufälle“ entsprechen hier nicht einer metaphysischen Konditionierung durch die unabänderliche Ergebenheit des Menschen in sein von Gott gewolltes Schicksal, sondern der anthropologiebasierten Relativität von Einflüssen auf den Menschen und sein Handeln.117 Eine solche Kontingenz schließt aber auf der anderen Seite eigenständiges, selbstaktives Handeln eines autonomen Subjekts auf der Basis der Erfahrung nicht aus.118 Denn gegen den Zufall wird der eigene Entschluß gestellt – im Falle des Journals die eigene Entscheidung, sich vom bisherigen Leben durch die Reise abzuwenden. Daß Herder reist, ermöglicht eine zeitliche wie räumliche Erweiterung der Erfahrung.119 Daß Herder reisen „mußte“, leitet er aus der empirischen Sammlung von Daten über die eigene affektive Befindlichkeit ab: „Ich gefiel mir nicht“ wird als Formel der affektiven Abneigung auf mehrere Rollen in sozialen Zusammenhängen übertragen.120 Die Reise wird zum Perspektivwechsel, der es zwar nicht ermöglicht, den Zufällen zu entkommen – sie kennzeichnen auch den Reiseverlauf selbst –, der aber eigenes Handeln voraussetzt. Ein solches bildet auch den Gegenpol zur mangelnden Objektivität primärer Erkenntnis: „Der tiefste Grund unsres Daseyns ist individuell, so wohl in Empfindungen als Gedanken.“121 Damit verwirft Herder nicht die Allgemeinverbindlichkeit jeglichen objektiven Denkens, sondern er rekurriert nur auf ein gnoseologisches Stufenmodell, in dem die individuell-empirische Erkenntnis die Basis allen Erkennens bildet und doch die Ratio den Anspruch auf Objektivierung aufrechterhält. Der gnoseologische Probabilismus Herders beruht auf dem Menschen äußerlichen wie innerlichen Faktoren. Während die Natur von „zu viele[n] kleine[n] Lokalursachen“ abhängt,122 tragen auch erste Eindrücke zur Relativierung von Wahrscheinlichkeit bei: „Sie (die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit, R. G.) richtet sich nach ersten Eindrücken: nach ihrer Masse, Gestalt und Vielheit.“123 Herder kennt die aktuelle mathematische und logische Wahrscheinlichkeitstheorie, wie er selbst mit Nennung Humes, Mendelssohns, Bernoullis und Lamberts verdeutlicht.124 Doch geht er über deren Resultate hinaus, indem er 116 117

Herder: Journal, S. 11. Herder erläutert, auch Bildung und Fortbildung einer Nation seien „ein Werk des Schicksals: Resultat tausend mitwürkender Ursachen, gleichsam des ganzen Elements, in dem sie leben.“ (Herder: Auch eine Philosophie, S. 539.) „Schicksal“ ist bei Herder keine metaphysische Kategorie, sondern „die natürliche Folge unsrer Handlungen, unsrer Art zu denken, zu sehen, zu wirken.“ (Johann Gottfried Herder: Das eigene Schicksal, in: SWS 18, 404–420, hier S. 405.) 118 Vgl. Adler: Monumentalfragment, S. 12. 119 Vgl. Lothar Pikulik: Zeiterfahrung im Sturm und Drang, in: Aurora 54 (1994), 1–17, hier S. 8. 120 Vgl. Herder: Journal, S. 11. 121 Herder: Vom Erkennen, S. 207. 122 Vgl. Herder: Ideen, S. 29f. 123 Herder: Journal, S. 26. 124 Vgl. ebd. Gemeint sind David Hume: Of Probability, in: ders.: Philosophical Essays concerning Human Understanding. London 1748, 93–97; Moses Mendelssohn: Gedanken von der Wahrscheinlichkeit, in: JubA 1, 147–164; Jakob Bernoulli: Ars conjectandi, opus posthumum. Ac-

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postuliert, daß auch Wahrscheinlichkeitsannahmen selbst relativierenden Umständen unterliegen, die aus anthropologiebasiertem Probabilismus fließen: „Es gibt also eine eigne Gestalt des Gefühls von Wahrscheinlichkeiten, nach dem Maß der Seelenkräfte, nach Proportion der Einbildungskraft zum Urteil, des Scharfsinns zum Witze, des Verstandes zur ersten Lebhaftigkeit der Eindrücke, [...]“.125 Die hier intendierte anthropologische Wahrscheinlichkeitstheorie, die die proportionalen Relationen zum Maßstab phänomenologischer Befunde macht, setzt die Ratio nicht wieder in den Rang eines objektivierenden Leitvermögens, sondern wertet psychologisch-anthropologische Konditionen als empirische Basis für Schlüsse, die nicht in erster Linie logischen Geltungsansprüchen unterliegen. Diese relativistischen Konsequenzen zieht Herder, ohne dafür die Idee der theologischen Letztbegründung aufgeben zu müssen. Hierzu entwickelt er ein an Spinoza orientiertes integratives Erkenntnismodell.126 Der Probabilismus Herders schöpft nicht nur aus den sensualisierenden Strategien psychologischer Introspektion, sondern auch aus den analogischen Schlüssen zur Natur, in die Gott als bestimmendes Prinzip verwoben ist. Der fließend-dynamische Zusammenhang innerhalb der Natur deckt die Uneindeutigkeiten der Naturerkenntnis auf: „Ueberhaupt ist in der Natur nichts geschieden, alles fließt durch unmerkliche Uebergänge aufund ineinander; [...]“.127 Herders hieran anschließende Kritik an Leibniz wendet sich so auch gegen den Versuch, die Vielfalt der Natur durch eine eindeutige systemische Lösung zu ordnen.128 Auch auf diese naturbedingte Vielfalt spielt Herder mit der Metapher des Baumes an: „Eben das nicht-Eine, das Verwirrte, der reiche Überfluß von Ästen und Zweigen; das macht seine Natur!“129 Diese naturalisierte Ambivalenz fordert für Herders Erkenntnismodell einen konjekturalen Perspektivismus.130 Innerhalb der Geschichtsphilosophie demonstriert Herder exemplarisch, daß die Perspektive und die jeweilige kulturelle und historische Situation des Historikers in das Bild eingehen, das dieser von der Geschichte entwirft. Der empirische Beobachter nimmt zunächst „Chaos“ und Trümcedit tractatus de seriebus infinitis, et epistolae Gallicè scripta de ludo pilae reticularis. Basel 1713 (für Herders Übertragung auf andere Bereiche dürfte vor allem der vierte Teil dieser Schrift relevant geworden sein; vgl. S. 210ff.), Lambert: Neues Organon. Bd. 2, v.a. S. 730ff. Vgl. auch Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. 125 Herder: Journal, S. 27. 126 Es kann daher nicht davon die Rede sein, Herder kompensiere relativistische Konsequenzen durch Prinzipiendenken, das auf die Gegenwärtigkeit des Schöpfergottes abhebe. Vgl. Bezold: Popularphilosophie, S. 104. 127 Herder: Vom Erkennen, S. 178. 128 Vgl. ebd., Kondylis: Aufklärung, S. 624. 129 Herder: Auch eine Philosophie, S. 529. 130 Vgl. Metzger: Konjektur, S. 128ff. Metzger bietet auch eine generalisierende Topik der Konjekturalität, die allerdings zur Temporalisierung von Urteilsprozessen nur ungenau abgrenzt; vgl. ebd., S. 132ff. Sein Modell bleibt leider in Hinsicht auf den anthropologischen Diskurs defizitär, weil er zwar den naturwissenschaftlichen Organismusbegriff als Quelle „konjekturalen“ Denkens namhaft macht, Anthropologie aber nur als eine parallele Entwicklung und zudem nur mit Blick auf die „Disziplin“ einführt; vgl. ebd., S. 205f.

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mer wahr, da ihm die Konstruktion des Ganzen verwehrt bleibt.131 Verläßliche Urteile sind aufgrund der eingeschränkten empirischen Datenmenge nicht möglich: „wer bin ich, daß ich urtheile, da ich eben nur den grossen Saal queer durchgehe, und einen Seitenwinkel des grossen verdeckten Gemäldes im dunkelsten Schimmer beäuge?“132 Die Urteilsfähigkeit ist hier aufgrund mehrerer Bedingungen probabilistisch eingeschränkt: Die Suche nach den Urteilsgründen vollzieht sich in einer dynamischen, nicht statischen Konstellation, in der Bewegung des Gehens. Diese allerdings ist kaum systematisch, nicht an den geraden Weg gebunden, sondern führt quer durch den Saal, so daß sich das Verhältnis von Nähe und Ferne zu den Seitenwänden (an denen das beobachtete Gemälde hängen dürfte) ändert. Eine konstante Raumwahrnehmung ist nicht möglich. Metaphorisch ist hier das ständige Fortschreiten der Zeit als Historisierung in die Raumanalogie überführt. Doch auch wenn von Zeit- und Raumverschiebungen abgesehen werden könnte, ist die Schwierigkeit, die richtige Beobachtungsdistanz zu finden, nicht zu übersehen, wie Herder an anderer Stelle bemerkt: „Wenn du das Angesicht dicht an dem Bilde hältst, an dem Spane schnitzelst, an jenem Farbenklümpchen klaubest: nie siehest du das ganze Bild – siehest nichts weniger als Bild!“133 Selbst das Wiedererkennen des Objekts ist nicht möglich. Dies entspricht – ohne daß der Begriff hier fallen muß – den Kriterien dunkler Erkenntnis, deren signifkantestes Kennzeichen darin liegt, daß die Objektunterscheidung nicht möglich ist.134 Hier liegt die Problematik im Standort des Individuums selbst. Doch bleibt ein Gesamtanblick, wie im erstgenannten Zitat deutlich wird, auch aus externen Gründen verwehrt. Sichtbar ist nur ein Seitenwinkel, da das Gesamte durch nicht im Beobachter liegende Umstände verdeckt ist, und es zudem in Dunkelheit – hier erscheint das Signalwort – liegt. Was dem Individuum angesichts dieser problematischen Datenbasis bliebe, wäre, durch Urteilsenthaltung Vorurteile zu vermeiden.135 Die grundlegende Schwierigkeit, aufgrund von Beobachtungen zu verläßlichen Urteilen zu kommen, läßt indes nicht den Schluß zu, daß die Welt ein chaotischer und sinnfreier Raum wäre. Denn Herders Modell perspektivischer Urteilsbildung liegt die inhärente Norm einer von Gott gewollten Undurchschaubarkeit zugrun131 132 133 134 135

Vgl. Garber: Selbstreferenz, S. 178. Garber bezieht sich auf Herder: Ideen, S. 55. Herder: Auch eine Philosophie, S. 585. Ebd., S. 504. Vgl. zu dieser Unterscheidung schon bei Leibniz Adler: Fundus animae, hier S. 199f. Theoretisch unterscheidet auch Garve subjektive und objektive Urteilshindernisse. Zu den ersten zählen Gesetze, die wir mit allen vernünftigen Geschöpfen unserer Gattung gemein haben, und Bestimmungsregeln unserer Handlungen, die von unsrer individuellen und zufälligen Lage und Ausbildung herkommen. Objektive Hindernisse liegen entweder in Eigenschaften, die den Gegenständen wesentlich und immer zukommen, oder in solchen, die sie nur zufällig begleiten. Garve hebt auf eine statische Urteilssituation ab, die die raum-zeitliche Dynamik, die für Herder entscheidend ist, nicht berücksichtigt. Wahrheit kann für Garve daher eindeutiger erreicht werden. Vgl. Christian Garve: Ueber die öffentliche Meinung, in: ders.: Popularphilosophische Schriften über literarische, ästhetische und gesellschaftliche Gegenstände. Hg. Kurt Wölfel. Bd. 2. Stuttgart 1974, 1263–1306, hier S. 1276f.

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de.136 Im probabilistisch anfälligen Vorurteilsdiskurs erweitern reflektierte Beobachtung und systemisch-anthropologiebasierte Urteilsbildung die Möglichkeiten des Erkennens. Die Standortgebundenheit des Verstehens muß nach Herder in jeden Urteilsprozeß integriert werden. Der Urteilende müsse sich der Tradition, die auch zur Vorurteilsbekämpfung befähigt, und seines Standpunktes innerhalb der „Kette von Wirkungen“ bewußt sein.137 Die auf der Beobachtung ruhende Projektion verkürzt die räumliche und zeitliche Mehrdimensionalität des Beobachtungsgegenstandes: Ich sehe doch immer von diesem Ganzen aus meinem Gesichtspunkt nach meinem Auge nur Eine Fläche und Seite und in solcher zeichne ich den an sich vielseitigen Körper projektiert hin: d. i. ich schreibe nur Geschichte, wie sie mir erscheinet, wie ich sie weiß.138

Die Beobachtung ist nur hypothetisch ergänzbar. Aber die historische Projektion kann in Form der Geschichtskonstruktion eine ausgleichende Funktion übernehmen: Herders Geschichtsphilosophie wird zu einer Konjektur des Möglichen. Da der Gleichlauf von historischer und räumlicher Perspektivierung Hypothesenbildung ermöglicht, plädiert Herder für ein hermeneutisches Verständnis fremder Muster und ihrer spezifischen Prädispositionen.139 Das hermeneutische Modell Herders beruht nicht auf textgebundener Interpretation, sondern auf sensualistischer Empathie, die auch die jeweils herrschenden Vorurteile einschließt: „[...] antworte nicht aus dem Worte, sondern gehe in das Zeitalter, in die Himmelsgegend, die ganze Geschichte, fühle dich in alles hinein [...]“.140 Intendiert ist eine historisch-genetische Analyse der historischen und geographischen Bedingungen, die berücksichtigt, daß vergangene Zeiten nicht nach den Idealen der Beurteilergegenwart, nach der „Kinderwaage deines Jahrhunderts“,141 beurteilt werden dürfen, sondern daß Urteile der jeweiligen Situation und dem jeweiligen Entwicklungsstand des Objekts gerecht werden müssen.142 Die Universalgeschichten Humes und Robertsons werden daher ebenso kritisiert wie Voltaires und Iselins Menschheitsgeschichten. Sie hätten nach der Form ihrer Zeit „Geschichte gemodelt“.143 Herder entwickelt ein historiographisches Alternativmodell zur Universalgeschichte, das die Perspektivität der Urteils- und Vorurteilsbildung in die zeit-räumliche Dynamik

136 137

Vgl. Herder: Auch eine Philosophie, S. 558f. Vgl. Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter. Vierte Sammlung. 1792, in: SWS 16, 1–128, hier S. 35. In der ursprünglichen Fassung spricht Herder noch plastischer davon, die geerbten Maximen gäben auch Kraft, „das Joch knechtischer, genealogischer und thierischer Vorurtheile abzuschütteln“ (ebd.). 138 Johann Gottfried Herder: Denkmahl Johann Winkelmanns, in: SWS 8, 437–483, hier S. 466. 139 Vgl. Menges: Nationalgeist, S. 109. 140 Herder: Auch eine Philosophie, S. 503. 141 Ebd., S. 507. 142 Vgl. ebd., S. 490. Vgl. zur historisierenden Hermeneutik als Merkmal Herders schon Cassirer: Philosophie der Aufklärung, S. 308ff. 143 Vgl. Herder: Auch eine Philosophie, S. 508, 511.

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integriert.144 Herder fordert mithin nicht nur historische Urteile, die, alleine genommen, auch zu einer perfektibilistischen Teleologie zur Gegenwart hin führen könnten, sondern er vollzieht das Argumentationsverfahren der retrospektiven Historisierung, indem er den Urteilsprozeß selbst dynamisiert. Das dynamische Vertrauen auf den „Richterstuhl der Geschichte“ verbindet Christoph Meiners’ Geschichtsentwurf mit Herders organologischem Modell.145 Dennoch unterscheiden sich beide Konzepte. Denn Meiners präferiert, obwohl er das anthropologische Konzept des influxus nachvollzieht, eine teleologische Perspektive,146 die probabilistische Hypothesen bei der angenommenen Entwicklung zum Guten hin unterschlägt. Auch für Meiners gilt aber die Geschichte der Menschheit als Instrument der Vorurteilskritik.147 Für Schiller dagegen ist die Gegenwart der Maßstab für den Akt der Geschichtsschreibung. Aufgabe des Philosophen ist die Systematisierung der Daten, wobei sich analogische Schlüsse mit der Historisierung der Geschichte zu Vorurteilsfreiheit verbinden.148 Die individuelle Prägung von Urteilsprozessen bietet für Herder ein weiteres Argument für eine an probabilistischen Hypothesen orientierte Vorurteilstheorie. Individualität umfaßt nicht nur die anthropologische Separierung des zu Autonomie fähigen Einzelwesens, sondern auch die als individuell aufgefaßte sozial-kulturelle Perspektive einer Nation. Denn auch Nationen fällten für sie spezifische Urteile. Menschheit gilt als Individualität höherer, allgemeinerer Ordnung.149 Auch die Vorstellung der Individualität wird aus einer Analogie zur Natur abgeleitet: „Sind in der Natur keine zwei Blätter eines Baums einander gleich: so sinds noch weniger zwei Menschengesichte und zwei menschliche Organisationen.“150 Die Idee einer solchen natürlichen Individualität, die in anthropologischen Konditionen gründet, plausibilisiert die Hypothese der wertfreien Gleichrangigkeit von Entwicklungsmöglichkeiten: „Die Menschheit ist ein so reicher Entwurf von Anlagen 144

Bei Herder von einer „Rettung“ der Geschichte vor einer „rationalistischen“ Universaltheorie (Bezold: Popularphilosophie, S. 95) zu sprechen, scheint mir zu stark akzentuiert. 145 Vgl. Meiners: Historische Vergleichung. Bd. 3, S. 529. Vgl. Garber: Selbstreferenz, S. 153ff., Schneiders: Wahre Aufklärung, S. 174. 146 Vgl. Garber: Selbstreferenz, S. 154. 147 Vgl. Christoph Meiners: Grundriß der Geschichte der Menschheit. Lemgo 1785, unpag., S. **2v, **3r: „Wenn es wahr ist, daß die Geschichte viele schimpfliche, den Geist sowohl als das Herz des Menschen verengende Vorurtheile ausrottet, daß sie die blinde Anhänglichkeit an den Sitten und Gewohnheiten der Nation, welcher man angehört, an ihren Meynungen, und Verfassung, [...] entweder vertilgt, oder wenigstens schwächt: wenn ferner die Geschichte zwar nicht die einzige aber gewiß die ergiebigste Quelle der Menschenkenntniß ist, in dem sie uns den Menschen nicht bloß in einem eingeschränkten Winkel, und dem kurzen Zeitraume eines Menschenlebens, sondern in allen Jahrhunderten, in allen Theilen der Erde, auf allen Stuffen der Cultur, und unter allen Regierungsformen und Religionen zeigt: [...] wenn, sage ich, alle diese Vortheile der Geschichte nicht ungegründet sind, so kann man sie von der Geschichte der Menschheit im vollsten Maasse erwarten.“ 148 Vgl. Schiller: Was heißt und zu welchem Ende, S. 371f., 375. 149 Vgl. Heinz: Historismus, S. 82f. 150 Herder: Ideen, S. 251.

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und Kräften, daß, weil alles in der Natur auf der bestimmtesten Individualität ruhet, auch ihre großen und vielen Anlagen nicht anders als unter Millionen verteilt auf unserm Planeten erscheinen konnten.“151 Da jede menschliche Vollkommenheit individuell ist, kann auch die Selbsteinschätzung des eigenen Wertes oder des Wertes der eigenen Zeit nur ironisch dem „Gipfel des Baums“ verglichen werden.152 Individualität wird so zum Maßstab und zur Grenze der Probabilität. Sie erlaubt eigene Urteile, doch verbietet sie gleichzeitig, diese zu allgemeingültigen zu erklären. Angesichts der Relevanz anthropologiebasierter Argumentationsformen, die einen rein definitorischen und typologischen Zugang zum Vorurteilsproblem prekär werden lassen, kann kaum erwartet werden, daß Herder eine geschlossene Vorurteilstheorie entwickelt. Dennoch aber leistet er einen zentralen Beitrag zum Vorurteilsdiskurs der deutschsprachigen Spätaufklärung. Indem er den Vorurteilsdiskurs für menschheitsgeschichtliche, aisthetische und letztlich anthropologische Perspektiven öffnet, gelingt es ihm, diesem neue Formationsregeln hinzuzufügen. Wenn Herder die Frage thematisiert, wie Vorurteile entstehen, so geschieht dies nicht im Rahmen einer Typologie, sondern im Rahmen einer diskursiven Verständigung über die Entstehung von Meinungen und Urteilen. Schon im Journal meiner Reise proklamiert Herder die Notwendigkeit einer Volkssemiotik.153 Die soziale Abgrenzung der Genese von Vorurteilen erweist sich jedoch nicht als sozial diskriminierend, sondern sie nimmt in überschaubaren sozialen Gruppen und Konstellationen anthropologische Grundkonditionierungen wahr. „Das Schiff ist das Urbild einer sehr besondern und strengen Regierungsform.“154 In dieser Form erweist sich ein Grundmuster menschlichen Verhaltens. Aus spezifischen Situationen resultieren psychische Prägungen. So neigen Seeleute zur Überinterpretation und mythischen Überhöhung einzelner Daten, weil sie genötigt sind, auf kleinste Vorboten und Anzeichen zu achten, die über Leben und Tod entscheiden können.155 Die Hypothese der Koinzidenz von Schicksalsabhängigkeit und Aberglauben stammt aus David Humes Natural History of Religion, wie Herders eigenes Exzerpt ausweist:156 „Je mehr Jemand durch Glücksfälle regiert wird, desto mehr

151 152 153

Ebd., S. 648. Vgl. Herder: Auch eine Philosophie, S. 505, 554. Vgl. Herder: Journal, S. 21f. Der analytische Ansatzpunkt für Herder liegt in der sprachlichen Form. Häfner führt die Semiotik Herders auf Lambert zurück. Vgl. Ralph Häfner: Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre. Studien zu Quellen und zur Methode seines Geschichtsdenkens. Hamburg 1995, S. 91. 154 Herder: Journal, S. 20. 155 Vgl. ebd., S. 22f. 156 Vgl. Hans Dietrich Irmscher: Herders Seereisen in den Jahren 1769 und 1770. Variationen einer Daseinsmetapher, in: Joseph K. Kohnen (Hg.): Königsberg-Studien. Beiträge zu einem besonderen Kapitel der deutschen Geistesgeschichte des 18. und angehenden 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1998, 163–178, hier S. 175.

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voll Aberglauben, wie Schiffer und Spieler; [...]“.157 Im Journal weitet Herder diesen Gedanken zu einer Theorie der Genese von Vorurteilen aus. Verbunden mit der allgemein-menschlichen Neigung zu poetischer Phantasie und zum Glauben an Wunderbares kann exemplarisch gezeigt werden, wie Mythen und Vorurteile entstehen und wie sie, das menschliche Interesse am poetischen Erzählen nutzend, verstetigt werden.158 Das Vorurteil kann zu einem – allerdings unsicheren – semiotischen Faktum werden. Doch ist dies, wie Herder weiß, nicht die einzig relevante Perspektive des Vorurteilsdiskurses. Die psychische Disposition aus Kindheitserfahrungen funktioniert analog dem Beispiel der Seefahrt. Sie ermöglicht konjekturale Schlüsse auf die (göttliche) Wahrheit, die durch die Ratio weder kontrolliert noch bekämpft werden können: Eine spätere Vernunft, der Anschein eines Augenblicks kann nicht Träume der Kindheit, den Glauben eines ganzen Lebens zerstören: jede etwas ähnliche Erzählung, die man als wahr gehört (obgleich von Unwissenden, von halben Abenteurern) hat sie bestätigt: jedes Abenteuer, das wir selbst erfahren, bestätigt – wer will sie wiederlegen?159

Hieraus kann eine philosophische „Theorie“ entwickelt werden, die den Glauben an „Mythologie“ und an „Fabeln“ erklärt, welcher dem Wirkmechanismus der Vorurteile entspricht. Nicht rational überprüfbare Strukturen können nur in ihrer Genese erklärt werden. Dadurch werden sie zu einer generativen Poetik der dichterischen Einbildungskraft: „eine Theorie der Fabel, eine Philosophische Geschichte wachender Träume, eine Genetische Erklärung des Wunderbaren und Abenteuerlichen aus der Menschlichen Natur, eine Logik für das Dichtungsvermögen: [...]“.160 Vorurteile bilden eine unvermeidbare anthropologische Grundkonstante, die für die Welterklärung jedes Menschen funktional wird. 5.1.3 ‚Metaschema der Erkenntnis‘ Herder geht – in vielem tentativ und ohne dies zu einem geschlossenen Konzept zu entwickeln – einen entscheidenden Schritt zur Transformierung des Vorurteilsdiskurses, indem er die Darstellungsform an seinem Erkenntnis- und Urteilsmodell ausrichtet. So schafft er Voraussetzungen dafür, auf Rezeptionsseite neue, individuelle Lösungen für das komplexe Problem des Umgangs mit Vorurteilen zu ermöglichen. In Adrastea erkennt Herder die Aufspaltung des Lesers in die Rolle eines intrinsischen Teilnehmers am poetischen Geschehen und in die eines reflek-

157

Johann Gottfried Herder: Hume: natürliche Geschichte der Religion, in: SWS 32, 193–197, hier S. 194. 158 Vgl. Herder: Journal, S. 25. 159 Ebd. 160 Ebd., S. 26. Herders Vorstellung einer genetischen Rekonstruktion der Erkenntnis (auch der vorurteiligen) entspricht Condillac. Vgl. Proß: Herder und die Anthropologie, S. 1140f., Adler: Prägnanz, S. 126, 137f.

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tierenden Beobachters: „Und wie in Träumen empfinden wir auch bei ihnen (den Märchen, R. G.), unser doppeltes Ich, den träumenden und den Traumanschauenden Geist, den Erzähler und Hörer.“161 Die Einsicht in diese beiden Rollenpotentiale eröffnet der Problematik der Vorurteilstheorie, wie ein Umgang mit Vorurteilen eingeübt werden könne, neue Lösungsoptionen. Auch Herders Modell der Geschichtsschreibung betont, durch das „Erzählen der Geschichte“ könnten Zusammenhänge (auf Rezeptionsseite) gestiftet werden: „Im Erzählen der Geschichte wird dieser [der Verstand, R. G.] also die größeste Wahrheit, im Fassen und Beurteilen den vollständigsten Zusammenhang suchen [...]“.162 Die literarisierte Rezeptionssteuerung ermöglicht einen selbstaktiven Vorgang auf Rezeptionsseite, der inhaltliche Positionen nachvollziehbar macht, der aber tendenziell auch eigene Lösungen der Rezipienten befördert. Auch Condillac empfiehlt dem Leser seines Traité des sensations eine einfühlsame Rezeptionshaltung: J’avertis donc qu’il est très-important de se mettre exactement à la place de la statue que nous allons observer. Il faut commencer d’exister avec elle, n’avoir qu’un seul sens, quand elle n’en a qu’un; n’acquérir que les idées qu’elle acquiert, ne contracter que les habitudes qu’elle contracte; en un mot, il faut n’être ce qu’elle est.163

Ein solches Verfahren der Einfühlung, bei Condillac noch als Postulat formuliert, wird bei Herder zur poetologisch-ästhetischen Bedingung. Wo die Analyse an ihre Grenzen stößt, tritt der Modus der Einfühlung in sein Recht, ohne damit den Anspruch auf unmittelbare „Wahrheit“ wiederherzustellen.164 Herder aber favorisiert hier nicht ungebundene Intuition, Imagination oder Spekulation. Einfühlung bleibt vielmehr an die (Lektüre-)Erfahrung gebunden und wird so zu einem hermeneutischen Prinzip.165 Der metareflexive Charakter der modernen Poesie zeitigt eminente Folgen für die inhärenten Rezeptionssteuerungsprozesse. Wird Natürlichkeit der Empfindung in der Poesie zu erzeugen gesucht, muß eine Empfindung vorgestellt werden, von deren Darstellung vermutet wird, daß sie beim Leser oder Hörer als natürliche rezipiert werde.166 Nur im Urteilen über das Dargestellte (und im Urteilen über das eigene Urteil) vollzieht sich eine wirkungsvolle Rezeption. Urteilen ist dabei, den sensualistischen Überlegungen Condillacs folgend, nicht auf das Urteil der Ratio beschränkt, sondern schließt ausdrücklich das Urteil der Empfindungen mit ein. Diesem Urteil auf Rezeptionsseite entspricht auf Produktionsseite die cognitio 161

Johann Gottfried Herder: Adrastea, in: SWS 23, 17–584, hier S. 289. Vgl. zu dieser Stelle Erich Kleinschmidt: Fiktion und Identifikation. Zur Ästhetik der Leserrolle im deutschen Roman zwischen 1750 und 1780, in: DVjs 53 (1979), 49–73, hier S. 72. 162 Herder: Ideen, S. 568. Vgl. Gaier: Poesie oder Geschichtsphilosophie, S. 12. 163 Etienne Bonnot de Condillac: Traité des sensations, in: ders.: Traité des sensations. Traité des animaux. Paris 1984, S. 9. 164 Vgl. Braungart: Leibhafter Sinn, S. 90. 165 Vgl. Adler: Monumentalfragment, S. 10, 13. 166 Vgl. Adler: Prägnanz, S. 139f.

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poetica, die dichterische Hypothesenbildung, die wesentlich zur Erkenntnis beiträgt.167 Die literarischen Formen und Genres, die Herder wählt, entsprechen der Notwendigkeit, Rezeptionssteuerung von Didaxe zu unterscheiden.168 Dabei erweist es sich nicht einmal immer als notwendig, die eigene Position eindeutig zu markieren, da im dialektischen Prozeß von Rede und Gegenrede, im Zusammenspiel von Vers und Prosa, von Märchen und Abhandlung ein Urteilsprozeß des Rezipienten initiiert wird. Gaier vertritt am Beispiel von Herders Sprachursprungsschrift überzeugend die These, daß Herders inszenatorische Schreibstrategien eine sprachlich-erkenntniskritische Alternative zur rationalen Erkenntnis (auch der Transzendentalphilosophie) entwickelten.169 Nur die dynamische Bewegung der Prosa, die im Akt des Inszenierens den Prozeß der Erkenntnis nachbildet, kann die Wahrheit hervorbringen. Der Ausgangspunkt der Abhandlung über den Ursprung der Sprache liegt darin, daß Herder die 1769er Berliner Preisfrage, ob die Menschen imstande seien, Sprache zu erfinden, für wissenschaftlich oder philosophisch nicht beantwortbar hält.170 Daher entwickelt er eine „trialogisch inszenierte[n] Argumentation“,171 die die drei Hauptformen der Antworten auf die gestellte Frage alternativ nebeneinanderschaltet: Die Abhandlung vollzieht deduktiv-intellektualistische, naturwissenschaftlich-induktive und analogisch-historische Argumentationen, ohne einer von diesen den Primat zuzuerkennen und ohne eine der von ihnen gefundenen „Lösungen“ Allgemeinverbindlichkeit zuzusprechen.172 Der Fokus rezeptiver Aufmerksamkeit verlagert sich tendenziell vom Inhalt des Gesagten auf den Modus des Sagens, so daß ein den Vorurteilsdiskurs transformierender Urteilsprozeß generiert wird, der auf die Eigenaktivität des Rezipienten vertraut.173 Auch in Vom Erkennen und Empfinden steht nicht der Gehalt der wissenschaftlichen Modelle als solcher im Zentrum, sondern der Akt der Trans167 168 169

Vgl. ebd., S. 133. Vgl. Koepke: Herder’s Craft of Communication, S. 107. Vgl. Ulrich Gaier: Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache als ‚Schrift eines Witztölpels’, in: Gottfried Gabriel / Christiane Schildknecht (Hg.): Literarische Formen der Philosophie. Stuttgart 1990, 155–165, hier S. 165, auch ders.: Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1988, S. 75ff. 170 Vgl. Gaier: Herders Abhandlung, S. 159f. Auch Hamann hält die Frage für nicht beantwortbar und wirft Herder nach der Lektüre von dessen Antwort vor, er habe sich an Rationalisten, Sensualisten oder Analogisten verkauft. Vgl. ebd., S. 157. 171 Vgl. ebd., S. 163. 172 Vgl. Ulrich Gaier: Gegenaufklärung im Namen des Logos: Hamann und Herder, in: Jochen Schmidt (Hg.): Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart. Darmstadt 1989, 261–276, hier S. 273f. Obwohl Haßler die Sprachursprungsdebatte als „Funktion anthropologischer Probleme“ analysiert, wird sie der Bedeutung der sprachlichen Form nicht gerecht. Vgl. Haßler: Sprachursprungsdebatte, S. 50f. 173 Herder rezipiert Sulzers wiederum an Meier und Lockes angelehntes Konzept der „Aufmerksamkeit“: vgl. Proß: Herder und die Anthropologie, S. 1188ff. Vgl. zur „Aufmerksamkeit“ ausführlich Bachmann-Medick: Ästhetische Ordnung, S. 175ff.

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zendierung der Wissenschaftssprache.174 In Herders Ideen legen die textdynamische Konstruktion, die Raum-Zeit-Analogie und die Hypothese der strukturierten Ordnung des Raumes dem Rezipienten einen eigenständigen Urteilsprozeß nahe, der nicht nur die Beobachtungsperspektive nachvollzieht, sondern der auch zum wandlungsfähigen Urteil über die Vereinbarkeit von Perspektive und Inhalt anhält. Kants polemische Kritik an Herders Ideen begeht denn auch den Kardinalfehler, poetisches und philosophisches Denken zu vermischen.175 Ungeachtet des Anliegens, eine anthropozentrische Erkenntnistheorie zu entwickeln, eine Metaphysik der Sitten, für die Kant selbst den Begriff einer „negativen“ Wissenschaft prägte,176 verkennt Kant die Funktion poetologischen Sprechens.177 Die grundlegende Differenz beider Konzepte kann weder auf die Ausgangskonstellation der jeweiligen Geschichtstheorien oder Naturlehren reduziert noch auf Kants Versuch fokussiert werden, das Wissenschaftssystem der Zeit neu zu gewichten.178 Umgekehrt kann auch Herders Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft kaum auf Kants Verständnis rechnen – so dies denn von Herder intendiert gewesen wäre. Denn auch in der Metakritik werden die Einwände Herders gegen die transzendentale Reflexion auf die Selbstreflexion der Erkenntnis nicht im Modus philosophisch-logischer Deduktion vorgetragen, sondern, wie schon der Eingang zeigt, dem rezeptiv-ästhetischen Prozeß der Lektüre und Urteilsfindung des Rezipienten selbst überantwortet. Denn die Vorrede des ersten Teils der Metakritik setzt mit einer Traumerzählung ein, einer Gattung literarischer Anthropologie, die der philosophischen Deduktion eindeutig kontrastiert: „Auf seiner Reise ins Tal der akademischen Weisheit entschlief vorm Eingang desselben ein ermatteter Jüngling.“179 Herders Essay erhebt also in doppelter Weise überhaupt nicht den Anspruch, im Genre des philosophischen Diskurses zu reden: Im Traum werden rational nicht überprüfbare Affekte, das für die Erkenntnis in Herders Sicht prägnante Dunkle, wirksam, und schließlich ist der (niedere) Bereich universitärer Philosophie noch nicht einmal erreicht, als der Traum einsetzt. Selbstironisch überantwortet Herder 174

Vgl. hierzu knapp am Beispiel der Abweichung Herders von Hallers „Reiz“-Begriff: Jürgen Brummack / Martin Bollacher: [Kommentar zu Vom Erkennen und Empfinden], in: Johann Gottfried Herder. Werke in zehn Bänden. Bd. 4. Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum. 1774–1787. Hg. von dens. Frankfurt/M. 1994, 1076–1155, hier S. 1085. 175 Vgl. für das Folgende einschlägig Adler: Ästhetische und anästhetische Wissenschaft, S. 71f. 176 Vgl. Häfner: Herders Kulturentstehungslehre, S. 70ff. Vgl. zum Terminus „ungenaue Wissenschaften“ auch Hans Dietrich Irmscher: Die geschichtsphilosophische Kontroverse zwischen Kant und Herder, in: Bernhard Gajek (Hg.): Hamann – Kant – Herder. Frankfurt a.M. / Bern / New York u.a. 1987, 111–192, hier S. 117, 159. Vgl. zu Herders und Kants Konzepten der Geschichtswissenschaft Katherine Arens: History as Knowledge: Herder, Kant, and the Human Sciences, in: Wulf Koepke (Hg.): Johann Gottfried Herder. Academic Disciplines and the Pursuit of Knowledge. Columbia 1996, 106–119. 177 Vgl. Adler: Ästhetische und anästhetische Wissenschaft, S. 74. 178 Vgl. Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 407. Proß arbeitet in seiner Analyse der KantHerder-Kontroverse den naturhistorischen Horizont philologisch ertragreich auf, wirft aber kaum einen Blick auf Herders Textrelief. Vgl. Proß: „Ein Reich unsichtbarer Kräfte“, S. 70. 179 Herder: Metakritik, S. 305.

239

hier dem Rezipienten den Schluß, daß die als Traumerzählung wiedergegebenen Positionen der auftretenden allegorischen Figuren Hugo und Hägsa dennoch gnoseologisch relevant sind. Die im poetischen Modus formulierte bissige Kritik der Kantschen Kritik führt auch auf der Erzählebene nicht zu einer eindeutigen Auflösung. Zwar sind Herders Sympathien und Abneigungen deutlich erkennbar, doch bleibt die erwartete Fortsetzung auf Erzählebene (zunächst) aus: „Was der erwachende Jüngling getan habe, wird der Vorrede vor der Metakritik zur Kritik der Urteilskraft [...] anvertrauet werden.“180 Das in der Vorrede verwendete Muster eines dialogischen Streitgesprächs zwischen mystischen oder allegorischen Figuren findet sich im Haupttext der Metakritik wieder: Herder integriert dialogische Streitgespräche zwischen der Einbildungskraft und dem Verstand, in denen die Vernunft auszugleichen bestrebt ist.181 Der neutrale Erzähler nimmt sich zurück und überläßt dem Rezipienten die eigenständige Entscheidung. Die initiierte Erkenntnispraxis in Herders Text entspricht damit seiner Analyse sensualer Wahrnehmung: „Das Bild, das meine Seele empfängt, ist ganz ihrer Art, nicht das Bild auf der Netzhaut des Auges; es ist von ihr empfangen, in ihre Natur metaschematisieret.“182 Die Rezeptionssteuerungsstrategie Herders erzeugt ein solches Metaschema der Erkenntnis.183 Herders Bedenken richten sich gegen eine transzendentale Reflexion, aber nicht gegen Selbstreflexion als Metareflexion schlechthin – sonst wäre eine Meta-Kritik kaum möglich. Erkenntnis vollzieht sich vielmehr immer in Anverwandlung und Umgestaltung. Die partielle Transformierung des Vorurteilsdiskurses beruht auf einer weitreichenden Akzentuierung anthropologiebasierter Argumentationsverfahren, wie sie auch den begriffsbasierteren Stellungnahmen Herders zum Vorurteilsproblem zugrundeliegen. Herder propagiert ein genetisches Vorgehen,184 verbindet retrospektive mit prospektiver Historisierung: „Antizipationen sind also nichts als Resultate vergangener Erfahrung“.185 Analogisch schließt er aus der Positionierung des Menschen in der Natur186 und betont die Bedeutung der dunklen Vorstellungen für Sprache und Begriffsbildung. Gaier sieht „Pluridiskursivität als bewußte Kompositionsabsicht“ Herders.187

180

Ebd., S. 309. In der Vorrede zu Kalligone, der von Herder hier gemeinten Schrift, wird die Erzählung allerdings nicht explizit wieder aufgenommen. Sie bleibt auf Erzählebene eine Leerstelle. Dennoch verbindet Herder hier noch umfassender Elemente ästhetischer Darstellung mit der Narration. 181 Vgl. ebd., S. 525ff. 182 Ebd., S. 418. 183 Gaier zeigt auf erkenntnistheoretischer Ebene, daß Herder Sensualismus, psychologischen Empirismus und Rationalismus in seinen metatheoretischen Standpunkt integriert. Vgl. Ulrich Gaier: Poesie als Metatheorie. Zeichenbegriffe des frühen Herder, in: Gerhard Sauder (Hg.): Johann Gottfried Herder 1744–1803. Hamburg 1987, 202–224, hier S. 208f. 184 Vgl. Herder: Metakritik, S. 457. 185 Ebd., S. 459f. 186 Vgl. ebd., S. 459, 472. 187 Vgl. Gaier: Poesie oder Geschichtsphilosophie, S. 16.

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Die positive Funktion der Vorurteile kann auch in einem unmittelbareren Zusammenhang zur Umwertung der Genreeinschätzungen führen. So wertet Herder Volkslieder nun positiv, weil die Poesie ihren genetischen Ursprung im Volk hat und dessen Vorurteile spiegelt.188 Die Neuformierung des Vorurteilsdiskurses hat also auch in umgekehrter Richtung eine Neubewertung literarischer Gattungen zur Folge. Herders Vorurteilsmodell ermöglicht es auch, das anthropologisch erweiterte Verfahren der Urteilsbildung auf den Prozeß der Aufklärung selbst anzuwenden. Diese Selbstaufklärung der Aufklärung integriert reflexive Prozesse, die jedoch – und hier wäre Gaier zu widersprechen – nicht den emanzipatorischen Impetus der Aufklärung konterkarieren.189 Denn sie bleiben tendenziell ergebnisoffen, weil sie anthropologiebasierte Argumentationsformen berücksichtigen. Löst man sich von der reinen Begriffsgeschichte und blickt auf die diskursiven Konnotationen von „Aufklärung“ bei Herder, so wird deutlich, daß schon die Frühschriften Herders als Versuch gewertet werden können, die Selbstreflexivität der Aufklärung wirksam zu machen.190 Auch der Blick auf die Folgen der anthropologischen Wende verdeutlicht mithin die Teilhabe des Sturm und Drang an der Aufklärung.191 Herder verbindet gesellschaftskritische Analysen mit idealisierenden, humanistischen und anthropologischen Mustern. Im Vordergrund von Herders Aufklärungsverständnis steht das wechselseitige Verhältnis von Wissen und Leben, Denken und Praxis.192 Ungeachtet Herders durchaus skeptischer Position gegenüber dem gegenwärtigen Stand der Vorurteilsbekämpfung formuliert er ein aufklärungsoptimistisches Ideal: Ueber wie viele Vorurtheile sind wir würklich hinweg, vor denen eine andre Zeit die Knie beugte! Einige milde Lichtstrahlen aus der edlern Seele göttlicher Menschen zeigten sie, zuerst mit Schimmer, in Morgendämmrung. [...] Verzage nicht, lieber Morgenstern, oder ihr schönen

188

Vgl. Johann Gottfried Herder: Volkslieder. T. 2, in: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 3. Volkslieder, Übertragungen, Dichtungen. Hg. Ulrich Gaier. Frankfurt/M. 1990, 229–428, hier S. 230. Auch hier liegt ein analogisches Prinzip zugrunde. Vgl. Irmscher: Beobachtungen, S. 82. 189 Vgl. Gaier: Gegenaufklärung. Gaier definiert Aufklärung als Streben nach Emanzipation aus den Strukturen überlieferter Autorität (S. 265). Ein Typus der Gegenaufklärung bestehe in der Ablehnung der Emanzipation von Autorität, sofern diese Emanzipation selbst autoritär werde (vgl. S. 267). Hamann und Herder wendeten aufklärerische Tendenzen „gegen sich selbst“ zurück, was ihre partielle Zurechnung zur Gegenaufklärung rechtfertige (vgl. S. 268). Doch Gegenaufklärung als kritische Befragung der autoritären Tendenzen der Aufklärung zu verstehen, widerspricht den in der Literatur der Spätaufklärung manifesten selbstreflexiven Prozessen: Jede Überprüfung der Norm des „aufklärerischen“ Fortschritts wäre in Gaiers Sinne gegenaufklärerisch. 190 Vgl. Brummack: Herders Polemik, S. 279. 191 Sauder weist dies v.a. mit epochentheoretischen und soziologischen Argumenten nach. Vgl. Sauder: Empfindsamkeit, S. XI et passim. 192 Vgl. Stuke: Aufklärung, S. 296.

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einzelnen Stralen der Morgenröthe; ihr macht noch nicht Mittag; aber hinter euch ist die Fackel der Allmacht; unwiderstehlich wird sie ihren Lauf anfangen und enden.193

Das Fortschreiten der Aufklärung wird metaphorisch mit Vorurteilsdestruktion verbunden, auch wenn das differenzierende Abwägen der Funktionen der Vorurteile notwendig bleibt. Vorurteilsfreiheit bleibt ein aufklärerisches Bildungsziel.194 Doch ist Aufklärung nie Selbstzweck, sondern an die Funktionen der Erkenntnismehrung und Humanität gebunden: „Alle Aufklärung ist nie Zweck, sondern immer Mittel; wird sie jenes so ists Zeichen daß sie aufgehört hat, dieses zu sein, [...]“.195 Weicht indes Aufklärung vom Ideal unmittelbarer Erkenntnis ab, so wird die Regulativnorm der Mäßigung verletzt: „Wie nun? wenn einst alle das Licht, das wir in die Welt säen, womit wir jetzt viel Augen blenden, viel elend machen und verfinstern, allenthalben gemäßigt Lebenslicht und Lebenswärme würde – [...]“,196 wenn die negativen Hyperbeln von Aufklärung, Freiheit, Gleichheit, Abdankung von Autoritäten ausblieben, könnte ein neues Erkenntnismodell sich am praktischen Leben, an Humanität und Mäßigung ausrichten. Verbucht die „Aufklärung“ die Anprangerung von Vorurteilen des Standes, der Erziehung und der Religion als Erfolg, so widerspricht Herder, indem er diese vermeintlichen Fortschritte ironisiert.197 Eine solche willkürliche Vorurteilsbekämpfung als aufklärerischen Progreß zu verbuchen, wäre ebenso illusorisch wie die Vorstellung einer allgemeinen Menschenverbrüderung. Denn eine nur äußerliche Aufklärung wäre ein Machtinstrument ganz anderer Diskurse: „Das allgemeine Kleid, von Philosophie und Menschenliebe kann Unterdrückungen verbergen, Eingriffe in die wahre, Persönliche Menschen- und Landes-, Bürger- und Völkerfreiheit, [...].“198 Herders Gegenwartskritik versteht sich als Kritik an Ausschweifungen und Übertreibungen der Aufklärung.199 Der Modus aufklärerischen Erkenntnisgewinns in Herders Sinne ist am Ideal des anthropozentrischen Erkenntnisprozesses orientiert. Herder beruft sich auf die Norm eines selbstbezogenen, moralisierten Vorurteilsdiskurses, um der Gefahr entgegenzutreten, daß Aufklärung autoritäre Züge annimmt. Denn die einseitige Aufwertung rationaler Verfahrens- und Erkenntnisweisen in der Aufklärung hat zu massiver Affektdepravation geführt: „Licht unendlich erhöht und ausgebreitet: wenn Neigung, Trieb zu leben ungleich geschwächet ist!“200 Herder beschneidet die Licht-Metapher der Aufklärung hier bereits, indem er auf ihren zwiespältigen Charakter verweist: Licht allein entspricht nicht Erkenntnis, 193 194 195 196 197 198 199 200

Herder: Vom Erkennen, S. 221. Vgl. Herder: Journal, S. 38, 40. Ebd., S. 77f. Herder: Auch eine Philosophie, S. 574. Vgl. ebd., S. 576f. Ebd. Vgl. ebd., S. 550f. Ebd., S. 538.

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verstandesmäßige Reflexion entspricht nicht Urteilen, Urteilen entspricht nicht Umsetzen. Als Problem der Aufklärung und des Vorurteilsdiskurses erweist sich dessen Transformierung in einem doppelten Sinne: als Umsetzung des theoretisch Erkannten in praktisches Handeln, aber auch als Transfer von Erkenntnis auf einem wirkungsvollen Weg. Ohne die begriffliche Differenzierung vorwegzunehmen, unterscheidet Herder – ähnlich wie Meiners, der Erkenntnis und Urteil ebenfalls historisiert – zwischen wahrer und falscher Aufklärung.201 Herder betrachtet den prozessualen Aspekt der erkenntnistheoretischen Überprüfung, den er anhand der Vorurteilsfrage entwickelt, als Modus der Aufklärung. Doch plädiert er auch für ein inhaltliches Gegenmodell: Der linearen Perfektibilität der Aufklärung wird ein organologisches Modell des Erkenntnisgewinns kontrastiert, das er aus der Annahme sensualisierten Urteilens ableitet. Dabei handelt es sich nicht um ein Gegenmodell zur Aufklärung schlechthin,202 sondern darum, daß ein anthropologiebasiertes Erkenntnismodell, das mit seiner eigenen Relativität rechnet, selbstreflexiv auf die Aufklärung zurückgeführt wird.203 Auf der Grundlage dieses erkenntnisbasierten anthropologischen Modells kritisiert Herder sowohl Iselins teleologische Konzeption der Menschheitsgeschichte als auch unteleologische Geschichtsmodelle.204 Dem iterativen und relativistischen Erkenntnismodell gemäß, kann Herder sein Geschichtsmodell organologischer Metaphorik analog setzen. Im Vergleich mit dem Strom, der immer Wasser bleibt, und mit dem Baum, der durch verschiedene Lebensalter hindurch wächst, figuriert die Konstanz menschlichen Strebens und dessen polymorph bestimmbare Verankerung in der Natur.205 Eine Gleichsetzung von Aufklärung und Glückseligkeit und die Annahme eines steten Fortschritts können nicht teleologisch konstruiert werden. Sie entsprechen nicht dem Erkenntnismodell, das sich vielfältigen, anthropologiebasierten Konditionierungen verdankt und das Kritik an allzu eindeutigem Aufklärungsoptimismus nahelegt. Geschichte selbst als stetiger Prozeß und nicht ihr vermeintliches Ziel ist der Zweck des Menschen.206 In Anwendung der Erkenntnisprämissen Herders gelangt man zu einer Einschätzung, die eindeutige Erkenntnis zugunsten der Ambiguität der Bilder aufgibt, die Vorurteile und Vorurteilsbildung in ein komplexes, gnoseologisches Modell integriert: „Alle das (sic) ist wahr und nicht wahr.“207

201 202 203

Vgl. Schneiders: Wahre Aufklärung, S. 171ff. So Cassirer: Philosophie der Aufklärung, S. 311f. Vgl. Herder: Vom Erkennen, S. 176. Der Mensch ist Teil dieser dynamisierten chain of being als Werkzeug des göttlichen Plans. Vgl. Herder: Auch eine Philosophie, S. 558. 204 Vgl. Herder: Auch eine Philosophie, S. 511f., 524. Vgl. schon Iselin: Schinznach, S. 86. 205 Vgl. Herder: Auch eine Philosophie, S. 512. 206 Vgl. Adler: Prägnanz, S. 171. 207 Herder: Auch eine Philosophie, S. 524.

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Exkurs: J. G. Hamanns Vorurteilstheorie in nuce Die Transformierung des Vorurteilsdiskurses in eine Form der Erkenntniskritik verbindet Herder mit Johann Georg Hamann. Noch expliziter als bei Herder verbirgt sich bei diesem die Frage der in der menschlichen Psyche verankerten vorreflexiven Anschauungen in der Form einer Vorurteilstheorie avant la lettre. Indem er die individualistische und sensualistische Perspektive betont, begrenzt auch Hamann den aufklärerischen Wahrheitsanspruch.208 Dabei differenziert er das Aufklärungsverständnis Kants, indem er dieses einer scharfen Kritik unterzieht.209 Er wendet sich gegen den vermeintlich naiven Glauben Kants an die Potenz der Ratio. Hamann betont, daß ein Ausgang aus der Unmündigkeit kaum, ein autonomes Handeln des Individuums aber wohl möglich sei: „Meine Verklärung der Kantschen Erklärung läuft also darauf hinaus, daß wahre Aufklärung in einem Ausgange des unmündigen Menschen aus einer allerhöchst selbst verschuldeten Vormundschaft bestehe.“210 Hamanns Kritik richtet sich gegen die implizite Anmaßung Kants, mittels seiner festschreibenden Definition autoritäre Vormundschaft auszuüben. Die Frage, welche Instanz denn über die vorgebliche Unmündigkeit urteile, sei offen.211 Denn eine solche Anmaßung birgt, wie Hamann zeigt, nicht nur einen dialektischen Widerspruch, sondern auch eine der Idee der Kritik widersprechende Verquickung mit dem politischen Diskurs Preußens.212 Das „Zeitalter der Aufklärung“ erscheint Hamann nicht nur als Emanzipation der Vernunft, sondern auch als Emanzipation der Sinnlichkeit, der Einbildungskraft und des Fühlens.213 Eine simple Zuordnung Hamanns zur Gegenaufklärung griffe zu kurz. Denn Hamanns Schriften weisen jenseits des oft unterstellten Irrationalismus Züge eines integrativen Aufklärungsverständnisses auf, das rationale und sensuale Faktoren zu integrieren trachtet.214 Der Abweisung Kants durch Hamann liegt ein sensualisierendes Argumentationsverfahren zugrunde, das sich mit einer imagologischen Erkenntnistheorie verbindet: „In Bildern besteht der ganze

208

Vgl. exemplarisch Johann Georg Hamann: Aesthetica in nuce. Eine Rhapsodie in Kabbalistischer Prose, in: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 2. Schriften über Philosophie, Philologie, Kritik. 1758–1763. Hg. Josef Nadler. Wuppertal 1999 (Wien 11950), 195–216. 209 Vgl. zu Hamanns Kant-Kritik umfassend Oswald Bayer: Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002. 210 Johann Georg Hamann an Christian Jacob Kraus am 18.12.1784, in: Johann Georg Hamann. Briefwechsel. Hg. Arthur Henkel. Bd. 5. Frankfurt/M. 1965, S. 291. Vgl. hierzu Bayer: Vernunft, S. 427ff., Stuke: Aufklärung, S. 294. Vgl. Johann Georg Hamann: Metakritik über den Purismum der Vernunft, in: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 3. Schriften über Sprache, Mysterien, Vernunft. 1772–1788. Hg. Josef Nadler. Wuppertal 1999 (Wien 11951), 281–289. 211 Vgl. hierzu Menges: Vorteil, S. 167f. 212 Vgl. Bayer: Vernunft, S. 438ff., 451. 213 Vgl. Gaier: Gegenaufklärung, S. 265. 214 Vgl. Oswald Bayer: Hamann als radikaler Aufklärer, in: ders. (Hg.): Johann Georg Hamann. „Der hellste Kopf seiner Zeit“. Tübingen 1998, 11–27, hier S. 16.

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Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit.“215 Die semiotische Analogisierung unterscheidet sich von der Naturalisierung Herders insofern, als der Signifkatcharakter der menschlichen Beobachtungsobjekte unmittelbar den Werken Gottes zugeordnet wird. Doch können, ähnlich wie bei Herder, analogische Schlußverfahren, die mit der menschlichen Einbildungskraft operieren, zur Wahrheit führen: „Alle endliche Geschöpfe sind nur im Stande, die Wahrheit und das Wesen der Dinge in Gleichnissen zu sehen.“216 Die hieroglyphische Chiffre entspricht – hier bezieht sich Hamann auf Francis Bacon – dem Gleichnis. Beide sind Urformen der Erkenntnis, die der Schrift und der Begründung vorangehen: „vt hieroglyphica literis: sic parabolae argumentis antiquiores“.217 Mit diesem Instrument kann auch das inhaltlich-anthropologische Problem des commercium mentis et corporis aufgelöst werden. Bildlichkeit wird für Hamann das entscheidende Mittel der Weltbewältigung: „Die verhüllte Figur des Leibes, das Antlitz des Hauptes, und das Äußerste der Arme sind das sichtbare Schema, in dem wir einher gehn; doch eigentlich nichts als ein Zeigefinger des verborgenen Menschen in uns; […]“.218 Der vernünftige Zugang zur Wahrheit erweist sich als radikal restringiert.219 Die empirische Datensammlung ist damit – stärker als bei Herder, der ein reflexives Verfahren der perspektivischen Selbstkritik vorschlägt – limitiert: „wir haben an der Natur nichts als Turbatverse und disiecti membra poetae zu unserm Gebrauch übrig.“220 Diskursbereiche der Wissensgewinnung müssen sich daher ausdifferenzieren, um spezifische Aufgaben zu übernehmen, die letztlich das fragmentarische Wissen in Lebenspraxis transferieren: „Diese (die Turbatverse der Natur, R. G.) zu sammeln ist des Gelehrten; sie auszulegen, des Philosophen; sie nachzuahmen – oder noch kühner! – – sie in Geschick zu bringen des Poeten bescheiden Theil.“221 Diese hier nur in Auszügen skizzierbare Anthropologisierung des Denkens bei Hamann bleibt nicht folgenlos für seine ‚Vorurteilstheorie in nuce‘.222 Bacons Idolenlehre wird hier für eine Vorurteilskritik angeführt, die den natürlichen Ge-

215

Hamann: Aesthetica in nuce, S. 197. Auch in der Metakritik plädiert Hamann für die Aufhebung von Kants Scheidung von Sinnlichkeit und Verstand. Vgl. Hamann: Metakritik, S. 286. 216 Johann Georg Hamann: Tagebuch eines Christen, in: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1. Hg. Josef Nadler. Wuppertal 1999 (Wien 11949), S. 112. 217 Hamann: Aesthetica in nuce, S. 197. Hamann zitiert aus Francis Bacon: De dignitate et augmentis scientiarum. Libri IX, in: The Works of Francis Bacon. Faksimile-Neudr. der Ausgabe von Spedding, Ellis und Heath. Bd. 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1989 (London 11857), S. 520. 218 Hamann: Aesthetica in nuce, S. 198. 219 Vgl. ebd., S. 202. 220 Ebd., S. 198f. Auf diese elementare Differenz zu Humes Empirismus verweist Hans Graubner: Erkenntnisbilder oder Bildersprache. Hamann und Hume, in: Oswald Bayer (Hg.): Johann Georg Hamann. „Der hellste Kopf seiner Zeit“. Tübingen 1998, 135–155, hier S. 139f. 221 Hamann: Aesthetica in nuce, S. 199. Vgl. auch ebd., S. 206. 222 Vgl. zu Hamanns anthropologischem Denken Manfred Beetz: Hamanns Interesse an Anthropologie, in: Bernhard Gajek (Hg.): Die Gegenwärtigkeit Johann Georg Hamanns. Frankfurt/M. 2005, 111–132.

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brauch der Sinne dem „unnatürlichen Gebrauch der Abstractionen“ gegenüberstellt. Hamanns Modell unterscheidet zwischen dem durch die oberen Erkenntniskräfte gesteuerten Prozeß der Abstraktion und dem Vorgang der Sinneswahrnehmung. Die „humanae mentis Idola“ (hier zitiert Hamann ausdrücklich die Baconsche Kategorie) sind falsche Auffassungen, die den Ideen des göttlichen Geistes widersprechen.223 Insoweit die Idolenlehre Bacons als Quelle, wenn auch nicht als unmittelbar konzeptioneller Bestandteil der Vorurteilstheorie der Aufklärung angesehen werden kann, gelingt Hamann hier eine knappe Skizze von Optionen der Vorurteilstheorie, wie sie ansonsten kaum erwogen wurden:224 Vorurteile entsprechen bei Hamann gerade nicht jenen ungesteuerten Affekten, die seit der Frühaufklärung als schwer beherrschbar und notwendigerweise zu kritisieren galten, sondern sie sind jene vorschnellen Abstraktionen, die einer hybriden Ratio entspringen. Als solche unterliegen sie dezidierter Kritik. Doch vollzieht sich auch diese im Modus der Bildlichkeit, der eine rezeptionssteuernde Didaxe hin zu einfachen Lösungen verbietet und vielmehr eine Rezeptionshaltung erfordert, die Verstand und Sinne integriert.225

5.2 „wie ein gefärbtes Glas“: Zur metaphorischen Konstruktion des Zusammenhangs von optischer Wahrnehmung und Vorurteil Die Anthropologisierung wandelt, wie Herder und Hamann zeigen, die Vorurteilstheorie suzessive zu einer Praxis des Urteils und der empirischen Wahrnehmung. Diese Verknüpfung von philosophischen, naturwissenschaftlichen und anthropologischen Argumenten wird zur Schaltstelle der Transformierung des Vorurteilsdiskurses. Die komplementäre Verbindung von Naturwissenschaft und anthropologiebasierten Argumentationsfiguren erweist sich für den Vorurteilsdiskurs immer dann als fruchtbar, wenn die Abweichung von der Gewißheit empirischer Wahrnehmung und damit die Fragilität des Urteils signalisiert werden soll. Ironischerweise fördert der Bezug auf naturwissenschaftliche Resultate nicht nur den Glauben an die eindeutige Erweisbarkeit von Fakten und die logische Kausalität von Schlüssen – diese Funktion fiel vermehrt der Mathematik zu –, sondern er liefert auch Metaphernbereiche, die die Komplexität der anthropologiebasierten Vorurteilstheorie ausdrücken können. Eine solche optisch-empirische Transformierung bietet Johann Martin Chladenius’ Erkenntnis- und Urteilstheorie. Chladenius überträgt den schon von Leibniz stammenden Gedanken des Sehepunktes auf den Bereich historischer und generell 223 224

Vgl. Hamann: Aesthetica in nuce, S. 207. Vgl. zu Bacon Reisinger / Scholz: Vorurteil I, Sp. 1251f., Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 56. 225 Vgl. Bayer: Hamann als radikaler Aufklärer, S. 16f.

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hermeneutischer Erkenntnis. Die optische Metapher des „Sehe-Punktes“ betrifft dabei allerdings nicht nur den Sehsinn, sondern auch andere Sinne, selbst Wahrnehmung schlechthin:226 „daher muß bey den Empfindungen überhaupt, der Zustand unserer Sinne, der Sehepunckt genennet werden.“227 Da der Zustand des Leibes und der Seele sowie externe Faktoren wie die soziale Rolle des Beobachters den Wahrnehmungsprozeß beeinflussen, kann der Sehepunkt als anthropologiebasiert-unitaristisch gegründet gelten. Perzeptionen sind für Chladenius von der Konstitution des Psychischen abhängig.228 Hermeneutisch muß zusätzlich mit der Diskrepanz von Wahrnehmen und Berichten gerechnet werden. Die rhetorische Perspektive impliziert die hermeneutische.229 Wahrnehmen meint immer auch Urteilen: „Wenn wir die Veränderungen einer Sache genau bemercken, so formiren wir lauter Urtheile; daher bestehet eine Historie aus lauter Urtheilen, oder, welches beynahe einerley ist, aus lauter Sätzen.“230 Zwar habe man von (einer) Geschichte mehr als eine richtige Vorstellung, da das Geschehen von verschiedenen Leuten auf verschiedene Art angesehen werde.231 „Die Ursach dieser Verschiedenheit ist theils in den (sic) Ort, und Stellung unsers Leibes, die bey iedem verschieden ist, theils in der verschiedenen Verbindung, die wir mit denen Sachen haben, theils in unser vorhergehenden Art zu gedencken, zu suchen, [...]“.232 Doch haben diese unterschiedlichen Sehepunkte nicht zur Folge, daß logische Wahrheit durch einen kumulativen Probabilismus abgelöst würde. Wahrscheinlichkeit läuft für Chladenius der Natur zuwider, ja sie ist ihr gar schädlich.233 Wahrscheinlichkeit und Gewißheit unterliegen keiner gemeinsamen Kategorie: Die Wahrheit mag also ein Inbegriff von allen Gründen der Wahrheit seyn: Die Wahrscheinlichkeit mag eine Menge von einigen Gründen der Wahrheit in sich fassen; dem ohngeachtet wird die Wahrscheinlichkeit nie zu einem Theile der Gewißheit gemacht werden können.234

Wahrheit bildet hier eine Metakategorie, die sich nicht der Addition empirischer Einzelbeobachtungen, sondern der logischen Schlüssigkeit des Gesamtgebäudes der Schöpfung verdankt. Diesem Primat der Wahrheit müsse – hier erweist sich

226

Vgl. Johann Martin Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft, worinnen der Grund zu einer neuen Einsicht in allen Arten der Gelahrtheit gelegt wird. Leipzig 1752, S. 94. Ebd. Vgl. ebd., S. 95, 98, 112f. Vgl. ebd., S. 116. Vgl. zu Chladenius einschlägig Szondi: Einführung, S. 27ff., 83f. Chladenius entwirft ein texthermeneutisches System – im Unterschied zu G. F. Meiers zeichenhermeneutischem. Vgl. auch Beetz: Meiers semiotische Hermeneutik, S. 21, Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst, S. 48. 230 Chladenius: Einleitung, S. 183. 231 Vgl. ebd., S. 185. 232 Ebd. 233 Vgl. Chladenius: Vernünftige Gedanken, S. 6, 18. 234 Ebd., S. 151. 227 228 229

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Chladenius als guter Wolffianer – alle Wissenschaft folgen.235 Vorurteile geraten daher als logische Irrtümer in den Blick, die insbesondere die Darstellung der individuellen Folgerungen beeinflussen: Dergleichen geschwinde und übereilte Schlüsse schleichen sich fast in alle unsere Erzehlungen mit ein, und es wird auch einem Philosophen, der sein Urtheil von der Sache selbst zu unterscheiden sich noch so wohl angewöhnt hat, schwer fallen, gar nichts von seinen Folgerungen in die Beschreibung einer Geschichte hinein zu bringen.236

Daß Chladenius die optische Metaphorik des Sehepunktes auf seine Erkenntnistheorie überträgt, ließe sich systemimmanent mit seiner Metaphorologie begründen. Denn den metaphorischen Ausdruck selbst begreift Chladenius als Erkenntnismittel.237 Durch die metaphorische Verwendung eines Wortes entsteht ein neuer Begriff, der einen Sachverhalt präziser zu bezeichnen in der Lage ist.238 Wenn Chladenius also die optische Metapher des Sehepunktes verwendet, um den Vorurteils- und Wahrnehmungsdiskurs zu beschreiben, so liegt der Verdacht nahe, daß Chladenius meinte, dieser Diskurs sei vorher, in seiner definitorisch-logischen Ausprägung, nicht in der Lage gewesen, den gemeinten Sachverhalt adäquat auszudrücken. Hier liegt die Notwendigkeit eines transformierten Diskurses, der sich literarisierter Formen bedient, in nuce begründet: Die Sprache der Logik vermag die Aporie des Vorurteilsdiskurses nicht mehr zu lösen. Die optische Anfälligkeit der Wahrnehmung ist schon in der Frühaufklärung als Hindernis gesicherter Erkenntnis benannt worden. Eines der im Vorurteilsdiskurs häufigsten Zitate geht dabei auf Albrecht von Hallers Ode Falschheit menschlicher Tugenden zurück:239 Wie ein gefärbtes Glas / wodurch die Heitre strahlt Des Auges Urtheil täuscht / und sich in allem mahlt So thut das Vorurtheil / es zeigt uns alle Sachen Nicht wie sie selber sind / nur so wie wir sie machen Legt den Begriffen selbst sein eigen Wesen bey Heist Gleißen Frömmigkeit / und Andacht Heucheley.240

Haller stellt dar, daß optische Wahrnehmung gefärbt oder gebrochen erscheint. Er vergleicht diese mit dem verfälschenden Verfahren der Vorurteile. Die optische Metaphorik gründet in der Konjunktur naturwissenschaftlicher Verfahren, insbesondere in der Aufwertung experimenteller Optik schon in der Frühaufklärung. Francis Bacon identifizierte als wichtigstes idolum tribus den Fehler des menschlichen Geistes, der die Natur der Dinge nicht als glatter Spiegel authentisch wieder235 236 237 238 239 240

Ebd., S. 141. Vgl. auch Chladenius: Einleitung, S. 383. Chladenius: Einleitung, S. 193. Vgl. ausführlicher Szondi: Einführung, S. 87ff. Vgl. ebd., S. 93. Vgl. schon Schalk: Praejudicium, S. 54. Albrecht von Haller: Falschheit menschlicher Tugenden. An Herrn Prof. Stähelin, in: ders.: Versuch schweizerischer Gedichte. Bern 31743, 53–66, hier S. 58.

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gebe, sondern die Wahrnehmung verfälsche, indem er seine eigene Natur mit ihr vermische: „Estque intellectus humanus instar speculi inæqualis ad radios rerum, qui suam naturam naturæ rerum immiscet, eamque distorquet et inficit.“241 Die Subjektivität der Sinneswahrnehmungen wurde für Locke zum Faktum empirischer Wahrnehmung: Die Ideen der sekundären Qualitäten der Dinge seien im Gegensatz zu den primären Qualitäten unabhängig von den Dingen selbst und unterlägen subjektiver Wahrnehmung.242 Berkeley erweiterte die Subjektivität auf die primären Qualitäten der Dinge. Jede Erfahrung ist subjektiv und Quelle von Vorurteilen.243 Doch auch Albrecht von Hallers Erkenntnistheorie selbst nimmt Anteil am anthropologischen Interdiskurs, ohne diesen bis zur Konsequenz des Probabilismus nachzuvollziehen. Bei Haller manifestiert sich eine für Früh- und Hochaufklärung nicht untypische Verbindung von cartesianischem Weltmodell, sensualistischer Erkenntnistheorie, Primat der empirischen Methode und theologischer Fundierung der Weltordnung.244 Natur wird nicht als Ordnung setzende, sondern als göttlich geordnete Macht verstanden: „Ein allgemeines Wohl beseelet die Natur, / Und alles trägt des höchsten Gutes Spur.“245 Im Unterschied zu Descartes entwickelt Haller die Selbstfindung des „Cogito“ aus der sensualen Bestätigung. Sinnliche Wahrnehmung wird so im Unterschied zu Locke zur einzigen Quelle der Erfahrung.246 Cogitatio, attentio und judicium haben es nur mit den Spuren empirischer Wahrnehmung, mit innerseelischen sensationes zu tun. Der Urteilskraft stellt sich – hier steht Haller französischen sensualistischen Theorien nahe – die Aufgabe, die ihr vorgestellten Bilder zu vergleichen und zu ordnen. Den Grenzen der Erfahrung entsprechen demnach Grenzen der Wahrnehmung: Reichweite und Zahl der Sinne, Fehler in diesen, in der Sinnesleitung und auch in der Interpretation der Sinneswahrnehmungen schränken die Wahrheit der Erfahrung ein.247 Was Haller in der Ode Falschheit menschlicher Tugenden als Vorurteil kennzeichnet, wäre demnach als Fehler in der Sinneswahrnehmung selbst denkbar, die sich als beeinflußt, als „gefärbtes Glas“ erweist. Doch können auch auf seiten des judiciums voreilige Urteile gefällt werden. Wird die Urteilskraft durch die Aufnahmeintensität der Empfindung und die Schnelligkeit der Vergleichung gesteigert, so spricht Haller von „ingenium“. Dieses widerspricht einer gründlichen wissenschaftlichen Aufar241

Francis Bacon: Novum Organum, in: The Works of Francis Bacon. Faksimile-Neudr. der Ausgabe von Spedding, Ellis und Heath. Bd. 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1989 (London 11857), S. 164. Vgl. hierzu und zum folgenden Beetz / Godel: Entdeckte Vorurteile. 242 Vgl. John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. Bd. I: Buch I und II. Hamburg 4 1981, zur Definition der sekundären Qualitäten S. 148, zu den Folgen S. 150f. 243 Vgl. Engfer: Empirismus versus Rationalismus?, S. 293ff. 244 Vgl. Toellner: Haller, S. 159. 245 Albrecht von Haller: Ueber den Ursprung des Übels, in: ders.: Versuch Schweizerischer Gedichte. Göttingen 81753, 136–163, hier S. 139. 246 Vgl. Toellner: Haller, S. 86, 90. 247 Vgl. ebd., S. 93f., 97f.

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beitung, denn dafür ist Langsamkeit und Vorsicht erforderlich.248 Noch auf eine weitere Vorurteilsursache wird in der Ode angespielt. Die Quelle der Irrtümer kann darin liegen, daß nicht die ganze Vorstellung realisiert wird, sondern nur jeweils Teilaspekte, die sich unterscheiden und bestenfalls zufällig und durch äußere Ursachen miteinander verbunden sein könnten.249 Diese fälschlicherweise verbundenen Begriffe können offenbar auch im Modus der Vorurteilsbildung selbst liegen; den Begriffen kann „sein eigen Wesen“ (das des Vorurteils) beigelegt werden.250 Haller verbindet mit dieser erkenntnisskeptischen Position allerdings keine grundlegende Wahrheitsskepsis. Denn Wahrheit aus Erfahrung, die den Vorzug vor der bloßen Vernunftwahrheit genießt, kann immer dann gewonnen werden, wenn ähnliche Vorstellungen von einer Sache erzeugt werden.251 Ist dies nicht der Fall, können Hypothesen legitimerweise die Lücken ausfüllen: „Niemand wird betrogen werden, wenn wir zwar mit dem Wahrscheinlichen die Lüken des Wahren ergänzen: [...]“.252 Doch müsse man den jeweiligen Status der Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit genau angeben: „Wir können annehmen was wir wollen, wenn wir den Leser nur bey dem angenommenen aufrichtig daran erinnern, unsere wahrscheinliche Meinung seye von dem Wahren noch sehr, oder noch ziemlich, oder nur wenig entfernet: [...]“.253 Vorurteilskritisch muß auch jeder Satz eines noch so berühmten Mannes durch Erfahrung überprüft werden. Hallers Vorurteilskritik gilt dem praeiudicium auctoritatis. Selbst sein Lehrer Boerhaave könne irren, selbst dessen Opponent Stahl Wahres und Nützliches sagen.254 Doch ist es weniger die nur in verstreuten Zeugnissen manifestierte Erkenntnistheorie Hallers als vielmehr die literarische Formulierung des Vorurteilsproblems in der Ode, die enorme Popularität im Vorurteilsdiskurs der deutschen Hoch- und Spätaufklärung gewinnt. Zwar scheint es mir fraglich, den literarischen Äußerungsformen Hallers paradigmatischen Charakter zuzusprechen,255 doch entfalten sie eine interdiskursive Wechselwirkung mit dem Vorurteilsdiskurs. Joseph von Sonnenfels stellt die Verse Hallers seiner Moralischen Wochenschrift Der Mann ohne

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Vgl. ebd., S. 95. Vgl. Albrecht von Haller: Primae lineae physiologiae. In usum praelectionum academicarum nunc quarto conscriptae emendatae et pluribus animadversionibus auctae ab enrico August Wrisberg. Göttingen 1780, S. 315. 250 Folgt man dem Text von Hallers Ode, schieben Vorurteile falsche Begriffe unter, ohne selbst solche zu sein. Dies würde die Annahme nahelegen, daß Haller Vorurteile nicht als Begriffe versteht, sondern als eine Art Denkmuster, das Irrtümer produziert. 251 Vgl. Toellner: Haller, S. 114. 252 Albrecht von Haller: Vorrede zum Ersten Theile der allgemeinen Historie der Natur [auch: Vom Nuzen der Hypothesen], in: ders.: Sammlung kleiner Hallerischer Schriften. 1.Th. Bern 2 1772, 47–77, hier S. 72. 253 Ebd. 254 Vgl. Albrecht von Haller: Elementa physiologiæ corporis humani. Tomus quintus. Sensus externi interni. Lausanne 1763, S. 563. Vgl. auch Toellner: Haller, S. 117. 255 So Karl S. Guthke: Haller und die Literatur. Göttingen 1962, S. 17.

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Vorurtheil als Motto voran.256 Georg Forster erachtet es als seine Pflicht, den Lesern seiner Reisebeschreibung mitzuteilen, „wie das Glas gefärbt ist, durch welches ich gesehen habe“.257 Er kritisiert den Beobachter, „den ein fehlerhaftes Princip verführt, den Gegenständen die Farbe seiner Brille zu leihen.“258 Auch die Kennzeichnung der subjektiven Wahrnehmungsprägung als „unkörperliche Brillen“ entstammt demselben Metaphernfeld.259 J. K. A. Musäus ironisiert die Möglichkeit, daß das Brillenglas die physiognomische Wahrnehmung trübt.260 Auch der Erzähler in Johann Pezzls Marokkanischen Briefen bestimmt sich selbstironisch als vorurteilsfrei: Er sei es gewohnt, „mit dem ungefärbten Auge der guten Mutter Natur ohne Brille zu beschauen [...]“.261 Christoph Martin Wieland ersetzt in einer späteren Fassung seines Lehrgedichts Die Natur der Dinge den Ausdruck „gekünstelt Glas“ durch den offenbar eingängigeren „gefärbtes Glas“.262 In der Übertragung der optisch-naturwissenschaftlichen Beobachtung auf den Prozeß der Vorurteilsbildung manifestiert sich indes nicht nur, daß die empirische Problematik mit der Vorurteilsproduktion gleichgesetzt wird. Sie zeigt vielmehr auch einen entscheidenden Impetus für die Transformierung der Vorurteilsdiskussion schlechthin: Der Vorurteilsdiskurs erweitert sich zu einem empirischen Erkenntnismodell.

5.3 Empirische Anthropologie als vorurteilskritische Transformierung Reisebeschreibungen gelten in der Spätaufklärung als prädestiniert, auf anthropologiebasierte Probleme der Erkenntnis und Wahrnehmung zu reagieren. Denn sie sehen sich nicht nur in der konkreten Beobachtungssituation mit einer Summe und Komplexität von Erscheinungen konfrontiert, wie sie am Schreibtisch des Philosophen kaum konstruiert werden konnte, sondern bemühen sich auch zunehmend, die Ergebnisse der Beobachtungen einer breiteren aufklärerischen Öffentlichkeit, nicht mehr nur dem engeren wissenschaftlichen oder politischen Adressatenkreis, zu vermitteln. Gerade jene Gattung mußte sich daher dem Problem der Umsetzung von Beobachtung in Rezeption stellen. Das Modell vorurteilsfreier Beobachtung und Beschreibung unterzog sich einem Praxistest, der die Transformierung auch der Vorurteilstheorie in Programme empirischer Anthropologie bedingte. 256 257

Vgl. Der Mann ohne Vorurtheil, in: Sonnenfels gesammelte Schriften. Bd. 1. Wien 1783, S. 98. Georg Forster: Reise um die Welt. Hg. und mit einem Nachwort von Gerhard Steiner. Frankfurt/M. 1983, S. 18. 258 Forster: Noch etwas über die Menschenraßen, S. 133. 259 Vgl. Georg Forster: O-Taheiti, in: AA 5, 35–71, hier S. 36. 260 Vgl. Johann Karl August Musäus: Physiognomische Reisen voran ein physiognomisches Tagebuch. Heftweis herausgegeben. Vier Hefte. Altenburg 1778, hier Viertes Heft, S. 41f. 261 Johann Pezzl: Marokkanische Briefe. Aus dem Arabischen. Frankfurt / Leipzig 1784, S. 5f. 262 Vgl. Wieland: Natur der Dinge (AA), S. 19, V. 159ff. und Wieland: Natur der Dinge (Göschen), S. 25, V. 155.

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Schon die Reisebeschreibung der Frühaufklärung distanziert sich programmatisch von althergebrachten Vorurteilen. Die „autoptische“ Reisebeschreibung betont die eigenständige Beobachtung im Unterschied zum Vertrauen auf tradierte Überlieferung. Authentizität wird als moralischer Auftrag verstanden.263 Die „autotelische“ Reisebeschreibung, die die Expressivität der subjektiven Empfindung und die Verselbständigung der Erzählstrategie umsetzt,264 verdankt sich jedoch m.E. nicht nur der von Stewart hierfür angeführten „Unterminierung“ der Reisebeschreibung durch die Produktionspraxis,265 also der Konzentration auf die Diskrepanz von Beobachtung und Darstellung, sondern in erster Linie der Erkenntnis, daß Beobachtung und Urteil selbst nicht den präformierten Erkenntnismodellen entsprechen.266 Die anthropologische Wende verändert in Reiseberichten praxisorientierte Erkenntnismodelle. Den Umschlagpunkt von der Hermeneutik zur reflexiven Darstellung, zur Reise- als Geschichtsschreibung, markiert Chladenius’ Hermeneutik, den Katalysator bilden anthropologiebasierte Argumentationsfiguren. Die Problematik der Wahrheit wird zum Thema der Reiseberichte selbst, das die Diskussion um Vorurteil und Vorurteilsfreiheit mit neuen Perspektiven belebt. Der anthropologische Interdiskurs bietet der Gattung die Möglichkeit, die Voraussetzungen von Wahrnehmung und Darstellung neu zu reflektieren. Bei Georg Forster, der im folgenden im Zentrum stehen wird, ist die Expression weder Selbstzweck noch eine den Wünschen des Publikums folgende Ästhetisierung, sondern Ergebnis eines Prozesses, der anthropologiebasierte Argumente aufgreift. 5.3.1 Vorurteile und Anthropologie bei Georg Forster Weltkenntnis durch Reisen gilt für Albrecht von Haller als Mittel zur Destruktion von Vorurteilen: „Nichts ist fähiger, diese Vorurtheile (des Landes und der identi263

Vgl. William E. Stewart: Die Reisebeschreibung und ihre Theorie im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Bonn 1978, S. 31, 26f. Charakteristisch für diesen Subtypus seien Ich-Erzählung, mikrologischer Realismus und schlichter Stil. 264 Vgl. ebd., S. 101, 128f., 273ff. 265 Vgl. ebd., S. 101. Forster verhalf nach Stewart dieser neuen Theorie zum Durchbruch. Die Konstruktion dieses Typus der Reiseliteratur verkürzt die erkenntnistheoretische Fundierung der methodischen Programmatik. Vgl. Harro Segeberg: Die literarisierte Reise im späten 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Gattungstypologie, in: Wolfgang Griep / Hans-Wolf Jäger (Hg.): Reise und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts. Heidelberg 1983, 14–31, hier S. 22f. 266 Vgl. zur Geschichte der Reiseliteratur u.a. Wolfgang Griep: Reiseliteratur im späten 18. Jahrhundert, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 3. Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution. 1680–1789. Hg. Rolf Grimminger. München / Wien 1980, 739–764, hier S. 748f.; ders.: Reisen und deutsche Jakobiner, in: ders. / Hans-Wolf Jäger (Hg.): Reise und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts. Heidelberg 1983, 48–78, hier S. 54; Hans Erich Bödeker: Reisen – Bedeutung und Funktion für die deutsche Aufklärungsgesellschaft, in: Wolfgang Griep / Hans-Wolf Jäger (Hg.): Reisen im 18. Jahrhundert. Neue Untersuchungen. Heidelberg 1986, 91–110, hier 109.

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schen Meinungen, R. G.) zu zerstreuen, als die Kenntniß vieler Völker, bey denen die Sitten, die Gesetze, die Meynungen verschieden sind; [...]“.267 Daß Beobachtung von Vorurteilen geleitet sein kann, ist zeitgenössischen Reiseberichten ebenfalls präsent.268 Das Ideal der Vorurteilsfreiheit wird an die wissenschaftlichen Beobachter der Reisen herangetragen. Georg Forster referiert in der Vorrede seiner Reise um die Welt die Zielvorstellung, an der sich der Reisebericht, zu dem ursprünglich sein Vater aufgefordert worden war, habe orientieren sollen:269 Mit einem Wort, man erwartete von ihm eine philosophische Geschichte der Reise, von Vorurtheil und gemeinen Trugschlüssen frey, worinn er seine Entdeckungen in der Geschichte des Menschen, und in der Naturkunde überhaupt, ohne Rücksicht auf willkührliche Systeme, blos nach allgemeinen menschenfreundlichen Grundsätzen darstellen sollte; [...].270

Daß es in Forsters Sicht für Reiseberichte noch nicht selbstverständlich war, an einem solch hohen Maßstab gemessen zu werden, verdeutlicht der ebenso selbstbewußte wie diskurskritische Nachsatz: „das heißt, eine Reisebeschreibung, dergleichen der gelehrten Welt bisher noch keine war vorgelegt worden.“271 Doch Forster stellt mit diesem Anspruch auch seinen eigenen Erkenntnisprozeß ausdrücklich in den Zusammenhang des aufklärerischen Diskurses. Denn er führt wesentliche Elemente der Aufklärung an. Vorurteilsfreiheit gilt ihm als Grundbedingung der wahren Erkenntnis. Damit macht er deutlich, daß er sich grundsätzlich am material-falschen Vorurteilsbegriff orientiert. Der vielversprechendste Modus 267

Albrecht von Haller: Vom Nutzen der Reisebeschreibungen [1750], in: ders.: Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst. Zur Karakteristik der Philosophie und Religion dieses Mannes. 2.Th. Bern 1787, 133–139, hier S. 135. Vgl. hierzu Toellner: Haller, S. 100, Hans-Wolf Jäger: Reisefacetten der Aufklärungszeit, in: Peter J. Brenner (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt/M. 1989, 261–283, hier S. 268. 268 La Rochefoucauld Liancourt führt dies auf mangelnden Kenntnisstand der Reisenden zurück. Vgl. François Alexandre Frédéric de la Rochefoucauld Liancourt: Reise in den Jahren 1795, 1796 und 1797 durch alle an der See belegenen Staaten der Nordamerikanischen Republik; imgleichen durch Ober-Canada und das Land der Irokesen. Bd. 1. Hamburg 1799, S. VI. Vgl. hierzu auch Beetz / Godel: Entdeckte Vorurteile. In heutiger Zeit ist die Unmöglichkeit vorurteilsfreier Fremdwahrnehmung mit der Vorprägung der Weltkonstruktion durch individuelle, soziale und kulturelle Wahrnehmungsmuster konstruktivistisch erklärt worden. Vgl. Clemens Murath: Intertextualität und Selbstbezug – Literarische Fremderfahrung im Lichte der konstruktivistischen Systemtheorie, in: Anne Fuchs / Theo Harden (Hg.): Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Heidelberg 1995, 3–18, hier S. 4; Peter M. Hejl: Konstruktion der sozialen Konstruktion: Grundlinien einer konstruktivistischen Sozialtheorie, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt/M. 61994, 303–339, hier S. 305, 319, 327. 269 Vgl. zur Entstehung der Voyage round the world knapp Gerhard Steiner: Georg Forsters „Reise um die Welt“, in: Georg Forster: Reise um die Welt. Hg. Gerhard Steiner. Frankfurt/M. 1983, 1015–1039, hier S. 1018ff., Ludwig Uhlig: Georg Forster. Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers (1754–1794). Göttingen 2004, zur Entstehung der Voyage vgl. S. 80ff. 270 Forster: Reise, S. 11f. 271 Ebd., S. 12.

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der Erkenntnis ist die „philosophische“, eigenständige Reflexion. So könnten „Trugschlüsse“ vermieden werden. Doch geht es Forster in erster Linie weder um eine logische oder gnoseologische noch um eine metaphysische oder inhaltlich anthropologische Erkenntnis. Er benennt zwei Themenfelder, die Natur- und Geschichtsinteresse im verschränkten Miteinander von Raum und Zeit spiegeln: Geschichte des Menschen und Naturkunde.272 Dies solle – und hier geht Forster dazu über, die Darstellungsziele der empirisch gewonnenen Erkenntnis zu skizzieren – ohne Rücksicht auf „willkührliche Systeme“, also auf nicht empirisch gegründete Systembildungen, dargestellt werden.273 Wenn Forster die „Willkür“ der externen Normierung betont, also verdeutlicht, daß Vorstellungen aller Wahrnehmung und aller vernünftigen Einsicht zum Trotz im menschlichen Bewußtsein verankert sein können, erweist sich die Nähe von Forsters Vorurteilsverständnis zu dem David Humes.274 Für beide liegen Vorurteile außer aller Erfahrung. Gewohnheit ersetzt die Empirie und legt den Grund für Urteile, die bestenfalls wahrscheinlich werden können.275 Wahrscheinlichkeit gilt demnach nicht als anthropologiebasierte Kategorie, die ein unvermeidliches Resultat des Erkenntnisprozesses wäre, sondern als unzulänglicher Grad der Gewißheit, der erlangt wird, wenn man keinen adäquaten Erkenntnisweg beschreitet. Gewohnheit ist insofern die Ursache der Vorurteile, als sie alle empirischen Erkenntnismittel, zu denen auch sinnliche Perzeptionen zählen, ausschaltet. „Doch – die leidige Gewohnheit / That monster custom, who all sense doth eat / Of habits evil Shakespeare / entkräftet nach und nach alles Gefühl und übertäubt zuletzt auch die Vorwürfe des Gewissens“, wie Forster warnend anmerkt.276 Die „Macht der Gewohnheit“ ist genuin menschlich. Ihr unterliegen zivilisierte wie auch „wilde“ Völker.277 Doch dieser prinzipiellen Befangenheit des Menschen in Vorurteilen und Gewohnheiten, welche Erkenntnis verhindern, steht als Gegenpol die natürliche menschliche Neigung zum Wunderbaren entgegen. „[U]nd eben diese Neigung ist

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Vgl. Garber: Hauptbestimmungen, S. 200f. et passim. Vgl. hierzu auch Michael Neumann: Philosophische Nachrichten aus der Südsee. Georg Forsters ‚Reise um die Welt‘, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart / Weimar 1994, 517–544, hier S. 525f. 274 „Willkür“ als Definitionsmerkmal von Vorurteilen sollte nur wenige Jahre nach Erscheinen von Forsters Reise um die Welt zu einer tiefergreifenden Kontroverse führen, in der orthodoxe Theologen vor allem den theologischen Gehalt des „willkürlichen“ Handelns Gottes als gefährdet ansahen. S.u. S. 380. 275 Vgl. zu Forsters positiver Hume-Rezeption Gawlick / Kreimendahl: Hume, S. 126. Vgl. Hume: Treatise, S. 197f. 276 Forster: Reise, S. 617f. Forster zitiert hier wörtlich aus Hamlet. Vgl. William Shakespeare: The Tragedy of Hamlet, Prince of Denmark, in: ders.: Hamlet. The Arden Edition of the Works of W. Sh. Hg. Harold Jenkins. London / New York 1981, III, 4, V. 163f. 277 Vgl. Forster: Reise, S. 902. Hierzu knapp Thomas E. Bourke: Der andere Alltag. Die Ethnographie Georg Forsters und Adelbert von Chamissos als Kontrastfolie zu europäischen Gesellschaftsverhältnissen, in: Peter Skrine (Hg.): Connections. Stuttgart 1993, 29–36, hier S. 29.

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Schuld daran, daß jene damit übereinstimmende Vorurtheile sich so fest und so tief in die Systeme menschlicher Kenntniß hineingeschlungen hatten, daß sie bis auf diesen Augenblick noch in Ehren gehalten werden, [...]“.278 Forsters Gedanke weist deutliche Parallelen zu Herders genetischer Erklärung von Vorurteilen im Journal meiner Reise auf.279 Mit der Erklärung ihrer Genese kann nicht nur die Aufdeckung von Vorurteilen erleichtert werden,280 sondern auch deren Funktion in den Blick kommen. Vorurteile sind so zwar nicht legitimiert – hier argumentiert Forster vorsichtiger als Herder –, wohl aber kann ihre Entstehung nun anthropologisch erklärt werden. Forster kennt wesentliche Argumente des aufklärerischen Vorurteilsdiskurses, zu denen er sich durch Zitation und Neuverortung positioniert.281 Auch das im Vorurteilsdiskurs virulente Problem der Normativität kennt Forster. Bei der Reise habe man sich an allgemeinen „menschenfreundlichen“ Grundsätzen orientiert. Dabei wird keine der Beobachtung vorausliegende methodische Prämisse zur Formationsregel des Diskurses, also keine Vorschrift über die Systematik der empirischen Aufnahme. Man habe sich enthalten, seinem Vater „besondere Maaßregeln vorzuschreiben“, sondern stattdessen auf dessen „Liebe zur Wissenschaft“ vertraut.282 Allerdings sieht sich das Ziel der Vorurteilsfreiheit mit erkenntnisbehindernden Problemen konfrontiert, die es notwendig machen, die modale Perspektive des Erkenntnisprozesses genauer zu bestimmen. Forster richtet sich gegen deduktive Systemtheorien, die den Diskurs von außen bedrohen: „ich mag keinen Despotismus, auch nicht den der allgemein gültigen Principien.“283 Externe Systematisierung wird von Forster als aufgezwungene Norm verstanden. Aufklärerische Aktivität verbietet die stillschweigende Akzeptanz aufgenötigter Meinungen. Nichtaufklärerisch wäre es daher, „sich in demüthiger Geistesarmuth unter das Joch der thörichtsten Vorurtheile zu schmiegen.“284 Diese antisystemische Wendung verdankt sich der Integration anthropologiebasierter Argumentationsstrategien, die den Modus des Erkennens als interne Formationsregel des Diskurses verstehen. Forsters Systemkritik ist, auch wenn er sich gegen den Aufklärer Kant wendet, keine Aufklärungskritik, sondern sie fokussiert die Modalität des Aufklärens selbst. Mit dem Reisen verbindet Forster einen anthropologisch-unitaristischen Anspruch, der Körper und Geist im ganzen Menschen aufklärt: 278 279

Forster: Reise, S. 286. Vgl. Herder: Journal, S. 25f. Da allerdings Auszüge des Journals erst 1810 gedruckt wurden, kann wohl ausgeschlossen werden, daß Forster das Journal selbst kannte. 280 So Garber: Selbstreferenz, S. 170. 281 Forster rezipierte Herder später intensiv. So bezieht Forster sich im Aufsatz Noch etwas über die Menschenraßen auf Herders den Ideen entlehnte Vorstellung der formalen Harmonie des Weltganzen. Forster sendet den Aufsatz an Herder, der positiv reagiert. Vgl. Forster an Herder am 21.1.1787, in: Forsters Werke. AA 14, Briefnr. 214, S. 620f. 282 Forster: Reise, S. 12. 283 Forster an Jacobi am 1.11.1789, in: Forsters Werke. AA 15, Briefnr. 222, S. 363. 284 Forster: Noch etwas über die Menschenraßen, S. 140.

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Reisen sind von jeher mit recht als Unternehmungen angesehn worden, welche den Verstand erleuchten, seine Kenntnisse (die des Menschen, R. G.) in allen Arten der Wissenschaften befestigen und bereichern, das Ganze seiner Erfahrungen vermehren, die Sitten verbessern, das Gefühl mit neuen Gegenständen bekannt machen, den Geschmak verfeinern, ihn zum Gesellschaftlichen Leben und allen bürgerlichen Tugenden bilden, von Vorurtheilen befreien und Ihn im ganzen betrachtet, vervollkommnen.285

Das sensualisierende Zusammenspiel kognitiver und emotional-affektiver Vermögen bedingt für Forster Vorurteilskritik und Fortschritt in der Aufklärung. Kenntnisse, ästhetische und sittliche Vollkommenheit müßten zusammenkommen, um als „idealisirtes, vom Ganzen des Menschengeschlechtes abstrahirtes Volk“ gelten zu können.286 Die Ganzheitlichkeit der Erfahrungs- und Erkenntnismodelle spiegelt sich im „Stempel der Allgemeinheit“.287 Auf diesem Weg sieht Forster Europa insbesondere deshalb am weitesten vorangekommen, weil dort die moralische Normierung die reine Sinnenorientierung im Handeln wie im Erkennen zu kontrollieren vermag.288 Auch voluntative Komponenten werden ausdrücklich für die Vorurteilskritik funktionalisiert: Wißbegierde sei ein Mittel zur Überwindung von Vorurteilen, wie Forster in der Reise bemerkt.289 Der bloße Verweis auf die menschliche Pflicht, in einer bestimmten Weise zu handeln, reiche nicht aus, sondern verwandle den Menschen in eine Maschine.290 Forster opponiert hier einer rein rationalen Selbstverpflichtung, wie sie im kategorischen Imperativ Kants vorzuliegen schien. Forster geht davon aus, daß Empfindung und Vernunft im persönlichen Bewußtsein des Menschen unzertrennlich sind.291 Körper und Geist müssen kooperieren, um vorurteilskritisch zu wirken und nicht in den „Rachen eines alles zermalmenden Dogmatismus“ zu stürzen.292 Die Organisation des Menschen bedingt auch die Zielrichtung seines Erkenntnisprozesses. Notwendig ist nach Forster ein Blick auf das „Ganze menschlichen Wissens“, der die Vermittlung von ganzheitlicher Subjektkonstitution und 285

Forster an J. K. Ph. Spener am 4.10.1776, in: Forsters Werke. AA 13, Briefnr. 19, S. 53. Vgl. zum ‚anthropologischen Unitarismus’ Moravia: Beobachtende Vernunft, S. 13 et passim. Georg Forster: Über lokale und allgemeine Bildung, in: AA 7, 45–56, hier S. 48. Ebd., S. 49. Vgl. auch Forster: Reise, S. 998. Selbstverständlich bleibt jede Kritik an der Ausbeutung (wie auch Forsters moralischer Maßstab) „eurozentristisch“, wie Said anmerkt. Vgl. Edward W. Said: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Aus dem Amerik. von Hans-Horst Henschen. Frankfurt/M. 1994, S. 21f. Forster sucht dagegen die Perspektive sichtbar zu machen. Vgl. Jörn Garber: ‚Arkadien‘ im Blickfeld der Aufklärungsethnologie. Anmerkungen zu Georg Forsters Tahiti-Schilderung, in: Günter Oesterle / Harald Tausch (Hg.): Der imaginierte Garten. Göttingen 2001, 93–114, hier S. 110. Daß dies nicht immer gelingt (oder vielleicht auch allen formulierten besten Absichten zum Trotz nicht immer gelingen kann), betrifft die Umsetzung und nicht den Anspruch. 289 Vgl. Forster: Reise, S. 983. 290 Vgl. Forster: Über lokale und allgemeine Bildung, S. 51f. 291 Vgl. ebd., S. 53. 292 Ebd., S. 51. 286 287 288

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Objektreferenz in der Interaktion ermöglicht.293 Obwohl Erkenntnis letztlich immer partiell und subjektiv bleibt, weil sie von subjektiven erkenntnishindernden Prämissen geprägt ist, kann der Erkenntnisprozeß nicht von der Komplexität der Bedingungen und der Beobachtungsobjekte absehen. Vielmehr ermöglicht gerade die komplexe Verknüpfung von Innen und Außen bei all ihren Schwierigkeiten Erkenntnisgewinn.294 Der sensualisierende Gedanke der Ganzheitlichkeit verbindet die innere Organisation des Menschen mit den Zielen seines Erkenntnisprozesses. Forster reflektiert die probabilistischen Folgen der Sensualisierung, wenn er die Frage der Wahrheit der Phantasie, eines affektiven Erkenntnisvermögens, diskutiert: Welche Phantasie kann etwas Erträgliches zum Vorschein bringen, wenn sie nicht ganz unbefangen aus sich selbst schöpft und darstellt, was in dem Augenblick in ihr entsteht, also wahr ist – obgleich nur relativ wahr, wie alles Wahre, was ein Mensch vorbringen kann; [...].295

Der unmittelbare Empfindungsausdruck bietet demnach eine vorurteilsfreie, wenn auch nur relative Wahrheit. Wahrheit ist für Forster eine zweistellige Relation: „Wahrheit, Verhältniß der Dinge unter einander und zu uns.“296 Erst eine Vielzahl von Wahrheiten bringt uns der „Wahrheit“ näher – jedoch nicht, indem die subjektiv-relationalen Wahrheiten addiert würden, sondern in der hypothetischen Konstruktion des Ganzen der Natur.297 Forsters Erkenntnismodell negiert mithin die Möglichkeit, Objektivität durch die berichtende Beschreibung von Faktizitäten herzustellen.298 Jedes Bestreben nach apriorischer Vorprägung der Wahrnehmung führt nach Forster zur Einschränkung und Lähmung der Geisteskräfte selbst, der Organe des Erkennens. „Keine Beschreibung kann den lebendigen Eindruck ersetzen, den wir durch unsere eigenen Sinne erhalten; [...]“.299 Behutsame Urteile tragen zu einer Annäherung der relativen Wahrheit an eine mathematische bei.300 Der sensualisierende Anspruch auf Ganzheitlichkeit, der auch die affektive Wirkungsdimension der Kunst einschließt, beschreibt den methodischen Weg der Erkenntnis. Die individuelle Stimme des Gefühls erhält den Charakter eines Erkenntnismediums, das Wahrheit anstrebt. Doch bleibt sie in zweierlei Hinsicht eingeschränkt: Erforder293 294

Vgl. Garber: Schere, S. 14ff., 18. Vgl. etwa Georg Forster: Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Junius 1790, in: AA 9, S. 22. 295 Forster an Ch. G. Heyne am 30.8.1790, in: Forsters Werke. AA 16, Briefnr. 60, S. 176. 296 Georg Forster: Cook, der Entdecker, in: AA 5, 191–302, hier S. 199. Vgl. hierzu auch Garber: Schere, S. 30, Fischer: Reisen als Erfahrungskunst, S. 76. 297 Vgl. Fischer: Reisen als Erfahrungskunst, S. 225. 298 Vgl. dagegen Manfred Rösner: Die Übersetzbarkeit der Reise. Eine Skizze zur provisorischen Anthropologie Georg Forsters, in: ders. / Alexander Schuh (Hg.): Augenschein – ein Manöver reiner Vernunft. Zur Reise J. G. Forsters um die Welt. Wien / Berlin 1990, 11–27, hier S. 20f. 299 Georg Forster: [Zu: Des Abbés Rochon Reise nach Madagaskar und Ostindien] Über die Insel Madagaskar, in: AA 5, 617–633, hier S. 625f. 300 Vgl. ebd., S. 626.

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lich ist das Bewußtsein, daß die Möglichkeit zur Wahrheit faktisch limitiert ist, wie auch das Wissen um die Bedingungen anthropologischer Komplexität. Die empirische Beobachtung ist für Forster zusätzlich durch die Masse der Beobachtungsgegenstände begrenzt. Auch damit aber ist der Anspruch auf Wahrheit und Vorurteilsfreiheit nicht grundsätzlich obsolet geworden. Denn: Jede Wiederlegung (sic) eines Vorurtheils ist Gewinn für die Wissenschaft; und jeder Beweis, daß eine herrschende Meynung des gemeinen Mannes irrig sey, ist ein Schritt zur Wahrheit, die allein verdient zum Besten der Menschen aufgezeichnet und aufbehalten zu werden.301

Auch die individuelle Empirisierung wird auf die aufklärerische Wahrheitssuche hin modal ausgerichtet. Die Individualität der Wahrnehmung muß in Betracht gezogen werden: „Ein jeder hat [...] seine eigne Art zu sehen. Nationalcharakter, Nationalpolitik, Erziehung, Klima, und was sonst nicht alles? sind eben so viele Häutchen im Auge, deren jedes die Strahlen anders bricht, wenn schon das anatomische Messer sie nicht finden kann.“302 Der oft überlesene letzte Nebensatz bezeichnet die Ausrichtung von Forsters Argumentation. Reicht die mechanische Analyse der Anatomie nicht aus, so müssen die Wirkungen der Erscheinungen als deren Funktionen analysiert werden. Tut man dies, so gelangt man zur Erkenntnis, daß die optische Wahrnehmung nicht nur von der individuellen physischen Beschaffenheit abhängig ist (die durch das „anatomische Messer“ eruiert werden könnte), sondern auch von einer Menge von Umweltfaktoren, von grundlegender anthropologiebasierter Komplexität. Forster erweitert damit das Sehepunkt-Konzept Chladenius’, indem er es einerseits mit seit der Frühaufklärung gängigen Beschreibungen optischer Wahrnehmungsungenauigkeit und Farbrefraktion verbindet und es andererseits auf die Erkenntnistheorie insbesondere der englisch-schottischen Empiristen zurückführt. In den Ansichten vom Niederrhein neigt Forster zu einer optimistischeren Prognose über das Ergebnis des installierten reflexiven Prozesses. Durch eine normierende Festlegung könne die Komplexität der Empirisierung reduziert werden: „allein jede Ansicht hat nur Einen, ihr eigenen Gesichtspunkt, und wer ihn verrückt, der hascht nach einem Schatten, über welchen das Wesentliche selbst ihm entgeht.“303 Das Wahrnehmungs- und Erkenntnismodell der Ansichten unterscheidet sich von dem der Reise dadurch, daß die Menge der potentiellen Wahrnehmungen in den Ansichten auf der Grundlage von Vorwissen und Interesse begrenzt wird.304 Der Übergang vom „Natur-“ zum „Kulturtableau“ ist nicht nur durch den 301 302 303 304

Forster: Reise, S. 76. Forster: O-Taheiti, S. 35. Forster: Ansichten, S. 22f. Wuthenow vertritt die These, die Differenz der beiden Reisewerke liege darin, daß in den Ansichten Subjektivität für Forster grundlegend problematisch geworden sei. Selbstinteresse werde durch Weltinteresse abgelöst. Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow: Zur Form der Reisebeschreibung. Georg Forsters „Ansichten vom Niederrhein“, in: Lessing Yearbook 1 (1969), 234–254, hier S. 237f. Dieser These steht zweierlei entgegen: Subjektivität stößt für Forster

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stärkeren Gesellschaftsbezug motiviert, wie Graczyk meint, sondern er erfordert auch eine Variation der Erkenntnisvoraussetzungen.305 Der Begriff der „Ansicht“ weist demnach darauf hin, daß sich die Wahrnehmung mit der Reflexion der Ordnung und der Beschreibung verbindet.306 Hier liegt eine andere Beobachtungssituation zugrunde, die von der Bekanntheit des Gesehenen – sowohl für die Reisenden selbst als auch für das Publikum – ausgeht. Darauf verweist Forster selbst in einem Brief an Spener und schließt hieraus: „Also kann nur mein Empfinden und mein Denken oder Raisonniren darüber das wesentliche dieser Ansichten seyn.“307 Das hier vorausgesetzte Vorwissen unterscheidet sich allerdings kategorial von Vorurteilen, da es als empirisch überprüft und beglaubigt gilt. Intendiert ist nicht eine umfassende empirische Darstellung des Beobachteten, sondern die Orientierung am Erkenntnis- und Darstellungsinteresse des Autors. Es entsteht eine ihren artifiziellen Charakter nicht verleugnende Kompilation von „Beschreibung, Schilderung, Meditation, Auseinandersetzung, Rezension und Plauderei“, wie Steiner resümiert.308 Forsters Ansichten bestätigen mithin nicht Brenners These, Reiseberichte der Spätaufklärung neigten insofern zur Entempirisierung, als sie Details in eine vorhandene kategoriale Ordnung einzufügen suchten.309 Auch Forsters späten Reisebericht zeichnet eine reflektierte Empirisierung aus. Für Forster erweist sich eher die mit der anthropologiebasierten Empirisierung einhergehende Schwierigkeit, valides Wissen über die Zuverlässigkeit erworbener Erkenntnis zu erlangen, als prekär.310

auch in der Reise an gnoseologische Grenzen; zudem bleibt in Wuthenows idealtypischer Konstruktion die Differenz des Vorwissens belanglos. Umgekehrt kann auch das Verfahren der Ansichten, das angesichts der Bekanntheit der Gegenstände eine Selektion voraussetzt, nicht verallgemeinert werden. Vgl. Rotraut Fischer: Die ‚Wahrheit‘ in den ‚Bildern des Wirklichen‘. Zur Funktion des Ästhetischen in Forsters Reisewerk, in: Claus-Volker Klenke / Jörn Garber / Dieter Heintze (Hg.): Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive. Berlin 1994, 317–323, hier S. 318. 305 Vgl. Graczyk: Das literarische Tableau, S. 264. 306 Vgl. Fischer: Reisen als Erfahrungskunst, S. 13. Alexander von Humboldt, Forsters Mitreisender auf der niederrheinischen Expedition, übernahm mit dem Begriff auch die Perspektive in seine Ansichten der Natur: Vgl. hierzu instruktiv Graczyk: Das literarische Tableau, S. 330f., auch dies.: Forschungsreise und Naturbild bei Georg Forster und Alexander von Humboldt, in: Georg-Forster-Studien 6 (2001), 89–116. 307 Georg Forster an J. K. Ph. Spener am 4.9.1790, in: Forsters Werke. AA 16, Briefnr. 61, S. 179. 308 Vgl. Gerhard Steiner: Einführung, in: Forsters Werke. AA 9, 337–373, hier S. 346. 309 Vgl. Peter J. Brenner: Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts, in: ders. (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt/M. 1989, 14–49, hier S. 29. 310 Das Problem ist auch anderen reisenden Spätaufklärern präsent, wenn es auch selten wie bei Forster Methodologien hervorbringt. Auch P. S. Pallas will Verläßlichkeit durch subjektive Anstrengung erreichen: „Mich dünkt, die Haupteigenschaft einer Reisebeschreibung ist, die Zuverläßigkeit; dieser aber habe ich mich sowohl in meinen eignen Bemerkungen als den aufgesammleten Nachrichten so viel möglich zu nähern und der Warheit getreu zu seyn gesucht.“ Peter Simon Pallas: Reise durch verschiedene Provinzen des Rußischen Reichs. 1.Th. St. Petersburg 1771, unpag. Vorrede, S. ):( ):(.

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Naturalisierung markiert ebenfalls die Komplexität der Erkenntnis. Natur, insbesondere das Meer, gilt Forster als Abbild der Mannigfaltigkeit. Hier hingegen (im Ozean, R. G.) ist nichts wesentlich getrennt; ein großes Ganze, und die Wellen nur vergängliche Phänomene. [...] nirgends fühlt man anschaulicher, daß, gegen die gesammte Gattung gehalten, das Einzelne nur die Welle ist, die aus dem Nichtseyn durch einen Punkt des abgesonderten Daseyns wieder in das Nichtseyn übergeht, indeß das Ganze in unwandelbarer Einheit sich fortwälzt.311

Daß der Mensch hier innerhalb des Ganzen der Natur gedacht wird, entspricht naturalisierenden Argumentationsstrategien. Darüber hinaus aber meint Ganzheitlichkeit bei Forster keinen statischen Zustand, sondern einen dynamischen Prozeß. Diese Prozessualität bestimmt Forsters Argumentationsformen. So umfaßt der Gedanke der Bestimmung des Menschen nicht etwa die Annahme, eine holistische Perfektion des Menschen sei in Europa schon erreicht. Bestimmung meint vielmehr die Disposition zu einer noch dynamisch zu verwirklichenden höheren Kulturstufe.312 Anlagen entfalten sich im historischen Wandel.313 In der komplementären Ergänzung von lokaler und allgemeiner Entwicklung oder „Bildung“ könnten unterschiedliche Moralbegriffe gerechtfertigt sein – je nach lokaler Gepflogenheit: „Tugend und Laster sind relative Begriffe, welche im Nationalcharakter nur verhältnißweise mit andern Völkern gebraucht werden dürfen; und auch alsdenn muß man keinem Volk, ohne Zuziehung der Sittenlehre welche ihm zur Richtschnur dient, das Urtheil sprechen.“314 Moralvorstellungen unterliegen geographischem und historischem Wandel: „Indessen sind die Begriffe von Schaam freylich in allen Ländern verschieden, und ändern sich auch von Zeit zu Zeit.“315 Um urteilen zu können, muß man den Maßstab kennen, an dem sich die Beurteilten orientieren. In Europa glaubt Forster diejenige Entwicklungsstufe vorzufinden, die Sinne, Verstand und Künste am engsten miteinander verbindet. In einzelnen Fähigkeiten allerdings – so etwa in der Schärfe der Sinne – erweisen sich die Südseebewohner als überlegen.316 Grundlegend – das bleibt Forsters erkenntnistheoretische Prämisse, die den Vorurteils- und Urteilsdiskurs bestimmt – determinieren naturalisierend die „Lokalverhältnisse“ die Möglichkeit der Entwicklung und der Erkennt311

Forster: Ansichten, S. 236. Für Kant kann der Wechsel von Sein und Nicht-Sein nur wahrgenommen werden, wenn man das Beharrliche als solches voraussetzt, indem man also davon ausgeht, daß Sein und Zeit als feste Größen existieren. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. 21787, in: Kant’s gesammelte Schriften. AA 3, S. 165f. Forster dagegen bezieht den Unterschied von Sein und Nicht-Sein prä-transzendental auf die Differenz von Gattung und Individuum. 312 Vgl. Steiner: Forsters „Reise“, S. 1032. 313 Vgl. Jörn Garber: Reise nach Arkadien. Bougainville und Georg Forster auf Tahiti, in: GeorgForster-Studien 1 (1997), 19–50, hier S. 22. 314 Forster: O-Taheiti, S. 64. Vgl. Forster: Reise, S. 307. 315 Forster: Reise, S. 827. 316 Vgl. ebd., S. 431.

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nis.317 Der Mensch ist „nirgends Alles, aber überall etwas verschiedenes geworden“.318 Naturalisierend nimmt Forster eine „Analogie im Denken“ zwischen Römern, Griechen, Indern und anderen alten Kulturvölkern an, die auf der „so bestimmten menschlichen Organisation“ beruht.319 Daß der Mensch selbst auf eine spezifische Weise ‚organisiert‘ ist und sich mittels dieser Organisation in die Komplexität der ihn umgebenden Natur einordnet, ermöglicht die Hypothese, daß sich gleiche Entwicklungs- und Denkformen als unter bestimmten Bedingungen charakteristisch erweisen. Forster entwirft hier eine (fragmentarische) Theorie der Episteme der Kulturalität. Auch auf der Ebene der Wahrnehmung selbst beschränkt sich die Form der Naturalisierung nicht auf eine Adäquation von Klimatheorien auf das Beobachtete. Zur Frage der Färbung der Südseebewohner merkt Forster an: „Indessen können auch hierinn die Umstände oft den Schein ändern, [...]“.320 Da nur der Schein das ist, was perzipiert werden kann, erweist sich die Wahrnehmung selbst als von den Umständen abhängig. Schließlich kann auch die Klimatheorie durch empirische Beobachtungen relativiert werden. Forster entwickelt unter Hinzuziehung von Buffons Variante der Klimatheorie die Hypothese, die Einwanderung auf Mallicollo könne noch nicht allzu lange zurückliegen. Auch andere empirische Beobachtungen stützen diese Annahme, doch bleibt sie für Forster im Status der Hypothese, weil die Beweiskraft der klimatheoretischen Ausgangsthese nicht ausreichend geklärt scheint: Ich meines Theils gestehe aber dem Clima bey weitem keinen so allgemeinen und allwürksamen Einfluß zu, sondern führe obigen Grund blos vermuthungsweise an, werde ich auch für irgend eine andere wahrscheinlichere Meynung gern wieder zurücknehmen.321

Das Verfahren der Erkenntnisgewinnung bleibt ein ergebnis- und methodenoffener Prozeß, der die Menge naturalisierender Umstände nicht a priori beschränkt, sondern der um deren beständige Erweiterungsmöglichkeit weiß: „Der verschiedene Charakter der Nationen muß folglich wohl von einer Menge verschiedner Ursachen abhängen, die geraume Zeit über, unabläßig auf ein Volk fortgewirkt haben.“322 Der weltumspannende Kontakt mit unterschiedlichsten Nationen, unterschiedlichsten Klimabedingungen und unterschiedlichster Fauna und Flora kann auch positiv auf die „Thätigkeit des Geistes“ und auf das „allgemeine Regen der Menschheit“

317 318 319 320 321

Vgl. Forster: Über lokale und allgemeine Bildung, S. 47. Ebd., S. 45. Vgl. Forster an Ch. G. Heyne am 30.8.1790, in: Forsters Werke. AA 16, Briefnr. 60, S. 175. Forster: Reise, S. 341. Forster: Reise, S. 699. van Hoorn zeigt, daß sich Forsters Haltung zur Klimatheorie im Verlauf der Reise um die Welt wandelt. Forster sammelt empirische Erfahrungen, die seine Vorannahme nicht mehr stützen. Er revidiert daher sein ursprüngliches Urteil über den alleinigen Einfluß des Klimas. Vgl. van Hoorn: Dem Leibe abgelesen, S. 55ff. 322 Forster: Reise, S. 861.

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wirken. Eine solche Chance zur individuellen Perfektionierung gesteht Forster liberalistisch vor allem dem global tätigen Kaufmann zu.323 Der Prozeß des Erkenntnisgewinns ist auch von sozialisierenden Faktoren mitbestimmt, die aus der kulturell differenten Realität der phylogenetischen Entwicklungen resultieren. Die Sozialisation lege uns die „sanften Fesseln der Gewohnheit“ an.324 Handeln ist für Forster von den Vorurteilen bestimmt, die uns unser jeweiliger sozialer Standort nahelegt. Das Fehlverhalten des Offiziers Rowe, der sich Rechte über die Südseebewohner anmaßt, erklärt sich aus dessen Sozialisation, oder genauer: daraus, daß er die „Vorurtheile der seemännischen Erziehung noch nicht völlig abgelegt“ habe.325 Ob Forster mit der Hoffnung, die aus dem „noch“ spricht, die grundlegende Möglichkeit suggeriert, daß die Reise selbst die Vorurteile beseitigen könnte, bleibt im Zusammenhang dieser Textstelle offen. Entscheidend ist aber, daß der Entwicklungsstand der Aufklärung offenbar nicht nur raumbezogen, sondern auch sozial differenziert werden muß. Matrosen sind noch befangener in ihren Vorurteilen.326 Doch wie die naturalisierende unterliegt auch die sozialisierende Argumentation dem dynamischen Wandel. Beide bieten keine statischen Ergebnisse, sondern fügen sich in ein Kreislaufmodell des Wissens ein. In Über lokale und allgemeine Bildung dynamisiert Forster einen Wissenszuwachs, der individuelles und gruppenspezifisches, von vielfältigen Umständen beeinflußtes und damit letztlich kontingentes Wissen durch ganzheitliche Verallgemeinerung akkumulierend überprüft, um so „dereinst ihre eigenen Ideen (hier: die der Nicht-Europäer, R. G.) mit dem Stempel der Allgemeinheit neu ausgemünzt“ zurückzuerhalten.327 Eine solche Kreislauftheorie kann auch auf politische Entwicklungen übertragen werden. Soziale Differenzen und Ausschweifungen der Oberschicht, wie er sie auf Tahiti vorfindet, sieht Forster, mit dem Gepäck historischer Analogien beladen, als Zeichen für eine bevorstehende Revolution: „Dies ist der gewöhnliche Cirkel aller Staaten.“328 Jenes Kreislaufmodell der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung führt Forster in seinem Essay Cook, der Entdecker weiter aus. Die Vorstellung vom „Kreislauf der Begebenheiten“329 widerspricht dabei nicht der Annahme der Perfektibilität, denn sie schließt eine graduelle Weiterentwicklung – gleichsam ein höheres Niveau des Scheiterns und Wiederaufbauens – nicht aus. Der eigentliche Unterschied zwischen Mensch und Tier liege darin, daß der Mensch mit einem

323 324 325 326 327 328

Vgl. Forster: Ansichten, S. 99. Hierzu Fischer: Reisen als Erfahrungskunst, S. 32f. Forster: Über lokale und allgemeine Bildung, S. 50. Forster: Reise, S. 885. Vgl. ausführlicher Beetz / Godel: Entdeckte Vorurteile, Berg: Zwischen den Welten, S. 117. Forster: Über lokale und allgemeine Bildung, S. 49. Vgl. auch Garber: Selbstreferenz, S. 174. Forster: Reise, S. 332. Vgl. ähnlich auch Forster: Ansichten, S. 103f. Hierzu Fischer: Reisen als Erfahrungskunst, S. 119. 329 Forster: Cook, S. 197.

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abstrakten Ich begabt sei. Hieraus entwickelten sich „alle Erscheinungen der sogenannten Perfectibilität, welche man die angewandte Besonnenheit nennen könnte.“330 Die menschliche (Vernunft-)Begabung ermächtigt nach Forster nicht nur zur Wissenserweiterung, sondern auch zu selbstreflexiver Mäßigung oder Urteilsenthaltung. Das dialektische Gegeneinander der rationalen Befähigung zur Wissensproduktion und zur Selbstüberprüfung treibt den Aufklärungsprozeß an. „Hier aber, wie allerwärts in der Natur, ist es Wirkung und Gegenwirkung, was die schlafenden Kräfte offenbart.“331 Doch liegt das dynamisch-produktive Gegeneinander nicht nur im Menschen selbst, sondern auch in den natürlichen Umständen: „Der Wechsel der Verhältnisse, der Zusammenstoß streitender Kräfte, der Contrast entgegengesetzter Ereignisse – diese hin und her strömende Fluth im Ocean der Menschheit läutert und bestimmt überall die Begriffe, und giebt ihnen auch Einfluß auf Handlungen.“332 Forsters Verständnis von Aufklärung integriert dialektisch-kontrastive Aspekte der den Fortschritt fördernden Auseinandersetzung: „nur im Streit entgegengesetzter Begierden und Vorstellungsarten offenbart sich die Vernunft in ihrer erhabenen Größe; [...] Wo wir aufhören zu unterscheiden, da sind die Gränzen unserer Erkenntniß; [...]“.333 Urteilendes Unterscheiden beruht darauf, daß man selbstbewußt einen Standpunkt einnimmt. Dies schließt auch solche Standpunkte ein, die nicht dem Ideal der Mäßigung oder des Mittelmaßes entsprechen: „Excentricität ist daher eine Bedingung, ohne welche sich der höchste Punkt der Ausbildung gewisser Anlagen nicht erreichen läßt; ein allgemein vertheiltes Gleichgewicht der Kräfte hingegen bleibt überall in den Schranken der Mittelmäßigkeit.“334 Ein Ende dieses Aufklärungsprozesses ist für Forster nicht absehbar: „Der Gränzpunkt der fortschreitenden Aufklärung liegt außer unserm Gesichtskreise; selbst wenn ihre Blüthe längst verwelkt, ihre Frucht abgefallen und zerstreuet seyn wird, sprossen ihre Saamen in einem andern Boden wieder hervor.“335 In der organologischen Metaphorik des Wachsens und Vergehens von Pflanzen offenbart sich, daß Forsters Blick auf die Aufklärung Naturalisierung und Historisierung verbindet. Die historische Verfaßtheit der Natur kann aus ihr selbst abgelesen werden. In ihr zeigt sich die „Spur ehemaliger Umwandlungen und großer entscheidender Naturbegebenheiten“.336 Historisch vergangene Zeiten zeigen sich in den in der Gegenwart auffindbaren Relikten.337 Darüber hinaus kann aber nach Forster die 330 331 332 333 334 335 336 337

Ebd., S. 195. Ebd. Ebd., S. 197. Forster: Ansichten, S. 128. Ebd. Forster: Cook, S. 295. Forster: Ansichten, S. 12. Garber spricht von einer „Geographisierung des Geschichtsbewußtseins“. Vgl. Garber: Reise nach Arkadien, S. 24, ders.: ‚Arkadien‘ im Blickfeld, S. 101.

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Retrospektion unmittelbar nachvollzogen werden, indem der durch die Reisen erweiterte geographische Raum Vorstufen der eigenen Entwicklung konserviert. Menschheitsgeschichtliche Entwicklungsstufen sind nicht historisch vergangen, sondern können im Erfahrungsraum in Form anderer Kulturen vorgefunden werden.338 Die Suche nach der Natur wird damit zugleich eine Suche nach dem Menschen und eine Reise durch die Zeit.339 Forster rechnet jeder einzelnen menschlichen Individualität, Gemeinschaft und Rasse die Fähigkeit zur Perfektibilität zu. In Auseinandersetzung mit Rousseau sieht Forster diese in einer „Kette von Verhältnissen“ gegründet, „welche nothwendig, wie Ursach und Wirkung in einander greifen“.340 Die scala naturae, in der die auf der Weltreise angetroffenen Völker ihren festen Platz zu haben scheinen,341 erweitert sich in prospektiv historisierender Sicht als ein dynamisches Konglomerat von veränderbaren Relationen zur scala culturae. Die lineare Rangfolge der chain of being wird so aufgehoben. In phylo- wie in ontogenetischer Hinsicht vollziehe sich keine „gleichförmige Entwicklung“, sondern ein multipolares Miteinander von „Verkettungen des Schicksals“, deren Zusammenwirken letztlich uneinsehbar ist. „Die Ursache dieser Abweichungen von einer gleichförmigen Entwicklung entzieht sich unseren Blicken.“342 In der Hypothese verbinden sich bei Forster geschichtlicher Rückblick und utopische Prognose. Trotz der Multipolarität der „Umstände“ können so Erkenntnisprozesse konturiert werden: Wir können das Menschengeschlecht nur mit sich selbst vergleichen; und obschon der Theil seiner Geschichte, den wir kennen, gleichsam nur von gestern ist, so enthält er doch schon Begebenheiten genug, die uns lehren können, unter ähnlichen Umständen einen ähnlichen Ausgang zu erwarten.343

5.3.2 Anthropologiebasierte Beobachtungsmodelle Liegen Vorurteile abseits gründlicher Erfahrung und Reflexion, muß ihnen nach Forster ein Erfahrung produzierendes Modell entgegengestellt werden. Dieses sollte in der Lage sein, die anthropologischen Konditionen der Erkenntnis zu verarbeiten. Empirische Beobachtungsmodelle werden zur Programmatik empirischer 338

Vgl. Werner Nell: Reflexionen und Konstruktionen des Fremden in der europäischen Literatur. Literarische und sozialwissenschaftliche Studien zu einer interkulturellen Hermeneutik. St. Augustin 2001, S. 151. 339 Vgl. Uwe Japp: Aufgeklärtes Europa und natürliche Südsee. Georg Forsters „Reise um die Welt“, in: Hans Joachim Piechotta (Hg.): Reise und Utopie. Zur Literatur der Spätaufklärung. Frankfurt/M. 1976, 10–56, hier S. 16f. 340 Forster: Cook, S. 194. 341 Vgl. Forster: Reise, S. 997f. Hierzu Steiner: Forsters „Reise“, S. 1029f. 342 Georg Forster: Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit, in: AA 8, 185–193, hier S. 190. Vgl. zu den Unterschieden von Forster und Rousseau Garber: Hauptbestimmungen, S. 222f. 343 Forster: Ansichten, S. 103.

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Anthropologie ausdifferenziert. Probleme naturwissenschaftlicher Systembildung werden bei Forster durch die Konzeption der Beobachtung und Darstellung programmatisch aufgehoben.344 Bei der Hypothesenbildung muß die eigene Erfahrung gegen das vorurteilige Vertrauen auf die Worte des Lehrmeisters gestärkt werden: „Diejenigen, die sich auf die Urtheile Anderer verlassen [...], sollten sich erinnern, daß das nullius in verba nirgends unentbehrlicher ist, als im hypothetischen Theile der Naturgeschichte.“345 Die Auseinandersetzung Forsters mit Kant um die Frage der Menschenrassen schließt denn auch die methodische Frage ein, wie vorurteilsfreie Urteile zustande kommen könnten.346 Kant hält es für notwendig, vor der Erfahrung eine „Bestimmung“ durchzuführen, um das Suchspektrum einzuengen. Diese vorgängige Reflexion entspricht dem „Princip“ des Kritizismus.347 Forster hingegen wertet dies als vorurteilsbelasteten Systematisierungsanspruch. Eingegrenzte Suchmöglichkeiten ließen genau das finden, was durch die Vorauswahl nahegelegt werde. Ein „unbefangener“ Beobachter liefere sicherere Erkenntnisse als ein Beobachter, „den ein fehlerhaftes Princip verführt, den Gegenständen die Farbe seiner Brille zu leihen.“348 Forster geht hier weiter als Hume, indem er schon bei der Erstbeobachtung eine die Wahrnehmung verfälschende (Farb-)Veränderung als möglich erachtet. Hume hatte das Verblassen der Farben im Vorgang sekundärer Reflexion oder Erinnerung als Erkenntnishindernis gelten lassen: „When we reflect on all our past Sentiments and Affections, our Thought is a faithful Mirror, and copies its Objects truly; but the Colours it employs are faded and dead, in comparison of those, in which our original Perceptions were cloth’d.“349 Eine von Vorwissen geleitete Beobachtung ist für Forster der nicht von Vorwissen geleiteten nicht vorzuziehen.

344

Forster versucht nicht, die empirische und individuelle Wahrnehmung gegen die wissenschaftlich-methodische auszuspielen. Der wissenschaftliche Anspruch bleibt als Teil der Programmatik präsent. Vgl. dagegen Brenner: Erfahrung der Fremde, S. 36. Daß Forster sich explizit auf den wissenschaftlichen Diskurs der Zeit bezieht, zeigt van Hoorn: Dem Leibe abgelesen. 345 Forster: Ansichten, S. 16. Im konkreten Fall geht es um die Vulkanität des Basalts. „Nullius in verba iurare magistri“ entstammt Horazens (ironischem) Bekenntnis zur Philosophie in den Episteln. Vgl. Horaz: Briefe, in: ders.: Werke in einem Band. Aus dem Lat. übs. von Manfred Simon / Wolfgang Ritschel. Berlin / Weimar 1972, I, 1, 14, S. 223. 346 Van Hoorn hat zurecht darauf hingewiesen, daß die inhaltlichen Aspekte der Debatte in der Forschung meist vernachlässigt würden. Sie arbeitet den zeithistorischen Kontext der Auseinandersetzung exzellent auf. Vgl. van Hoorn: Dem Leibe abgelesen, S. 109, 113, 116ff. Ich teile auch ihre Diagnose der Forschung: Es gehe entweder um eine philosophische Kritik an Forster oder um dessen Rehabilitierung. Vgl. exemplarisch Manfred Riedel: Historizismus und Kritizismus. Kants Streit mit G. Forster und J. G. Herder, in: Bernhard Fabian / Wilhelm SchmidtBiggemann / Rudolf Vierhaus (Hg.): Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen. München 1980, 31–48. 347 Vgl. Immanuel Kant: Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace, in: Kant’s gesammelte Schriften. AA 8, 89–106, hier S. 91. 348 Forster: Noch etwas über die Menschenraßen, S. 133. 349 David Hume: Of the Origin of Ideas, in: ders.: Philosophical Essays Concerning Human Understanding. London 1748, 21–29, hier S. 22.

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Beide Wissensformen müßten sich ergänzen.350 Forsters Argumentation macht deutlich, daß es ihm nicht um eine binnenphilosophische Auseinandersetzung um die Reichweite der kantschen Transzendentalphilosophie zu tun ist. Er skizziert dagegen einen idealen empirischen Beobachter. Um zuverlässige Beobachtungen anstellen zu können, „braucht er nichts von philosophischen Streitigkeiten zu wissen [...]“.351 Forster grenzt sein Programm empirischer Anthropologie vom philosophischen Kritizismus ab. Ein empirisch-anthropologischer Beitrag zum Vorurteilsdiskurs bedarf für Forster keiner philosophischen Systembildung. Die wesentlichen Bedingungen einer gewinnbringenden, sich der Wahrheit tangential annähernden Beobachtung liegen in „Aufmerksamkeit, Beurtheilungskraft und Unpartheylichkeit“.352 Vorurteilsfreie Empirie stellt für Forster ein höheres Gut dar als die reflexive Geschlossenheit eines theoretischen Modells.353 Vorurteilskritik wird für Forster zu Systemkritik. Denn „die Ordnung der Natur folgt unseren Eintheilungen nicht“.354 Kant hingegen plädiert nicht für eine apriorische Systematisierung des Wissens selbst, sondern für eine vorgängige Transzendentalität, die klärt, welche Erkenntnisvoraussetzungen vorliegen. So kontert er, seinem eigenen Systementwurf folgend, mit dem Vorwurf, bei Forsters Modell handele es sich um Metaphysik, also um einen Bereich, in dem theoretische Erkenntnisquellen nicht ausreichen. Für Metaphysik sei nur der teleologische Erkenntnisweg möglich. Die theoretisch-spekulative Forschung behalte allerdings das „Recht des Vortritts“.355 Diese normative Fassung wissenschaftlicher Methodik stimmt transformierte Diskurse grundlegend gegenüber akademischen herab: „Al-

350 351 352

Vgl. Forster: Noch etwas über die Menschenraßen, S. 134. Ebd., S. 133. Ebd. Man könnte versucht sein, am Beispiel der Rezeption des Forster-Kant-Disputs die normativen Prämissen philosophischer Forschung herauszuarbeiten. Vgl. hierzu einige Hinweise bei van Hoorn: Dem Leibe abgelesen, S. 109f. Für eine analytische Arbeit stellt sich die Frage nicht, ob Forster vielleicht besser daran getan hätte, Kants systemische Erkenntnistheorie zu übernehmen. Diese Frage verstellt gar den Blick darauf, daß im Zusammenhang des Vorurteilsdiskurses erkenntnistheoretische Reflexionen außerhalb philosophischer Systeme generiert werden, die die aufklärerische Episteme signifikant bestimmen. 353 Forsters späteres Plädoyer für die Bedeutung der „Vorkenntnisse“ für die Wahrnehmung von Tatsachen scheint dem hier Gesagten zu widersprechen. Vgl. Fischer: Reisen als Erfahrungskunst, S. 72, vgl. Georg Forster: [Zu: Geschichte der Reisen, die seit Cook […] unternommen worden sind] Die Nordwestküste von Amerika, und der dortige Pelzhandel, in: AA 5, 390–496, hier S. 393. Forster bezieht sich hier allerdings nicht auf den Prozeß individueller empirischer Aufnahme, sondern auf die Gesamtheit des Wissenszuwachses. Vgl. auch Michael Weingarten: Menschenarten oder Menschenrassen. Die Kontroverse zwischen Georg Forster und Immanuel Kant, in: Gerhart Pickerodt (Hg.): Georg Forster in seiner Epoche. Berlin 1982, 117–148, hier S. 130ff. Weingarten liest die Forster-Kant-Kontroverse als Fortsetzung der Herder-Kant-Debatte über das Verhältnis von Natur- und Geschichtsphilosophie. 354 Forster: Noch etwas über die Menschenraßen, S. 146. Vgl. Fischer: Reisen als Erfahrungskunst, S. 75. 355 Vgl. Immanuel Kant: Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie, in: Kant’s gesammelte Schriften. AA 8, 157–184, hier S. 159.

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lein eine Geschichte ganz und gar aus Muthmaßungen entstehen zu lassen, scheint nicht viel besser als den Entwurf zu einem Roman zu machen.“356 Für Forsters empirische Anthropologie aber greift Kants Alternative von Kritizismus und Metaphysik zu kurz. Denn letztere erzeugt Vorurteile: „Die Geschichte zeigt aber, daß alle Nationen, wenn sie die Eigenschaften dieses allgemeinen und unbegreiflichen Geistes (eines höheren Wesens, R. G.) näher untersuchen wollten, […] gemeiniglich zu den thörigsten Meynungen verleitet wurden.“357 Forsters Ausweg besteht in der Modalisierung des Verfahrens, der Kants in der Bestimmung der Grenzen der Erkenntnis. Forster nähert sich Hegels Aufweis des erkenntnistheoretischen Zirkels: „Man soll das Erkenntnißvermögen erkennen, ehe man erkennt; [...]“, faßt Hegel seine Kant-Kritik zusammen.358 Auch für Forster kann das Erkenntnisvermögen vor dem Erkennen nicht kritisch untersucht werden, weil doch auch diese Kritik Erkenntnis zu sein beansprucht. Forster entwickelt in der Transformierung des Vorurteilsdiskurses keine Erkenntnistheorie im Sinne eines philosophischen Wissenszweiges, sondern eine modale Stufung, die nicht a priori Erkenntnis voraussetzt, sondern ein Verfahren des Erkenntnisgewinns entwickelt und praktiziert. Innerhalb dieses verfahrensbezogenen Modells erweist sich die anthropologiebasierte Perspektivenvielfalt nicht nur als Problem, sondern zugleich als dessen Lösung. Auch wenn keine endgültigen Resultate erreicht werden, ist der Wechsel des argumentativen Standorts gewinnbringend für die Verbreiterung des öffentlichen Diskurses. „Ich denke nur, die Sache hat gewonnen, daß man sie einmal von einer andern Seite ansieht, [...]“, bemerkt Forster in einem Brief an Herder über die Auseinandersetzung mit Kant.359 Die Beförderung aufklärerischer Auseinandersetzung, die Schaffung möglichst vielfältiger Perspektiven wiegt schwerer als eine inhaltliche Lösung.360 Das diskursive wie auch das rein räumliche Bemühen um die Einnahme möglichst vieler Standpunkte zeichnet Forsters Darstellung auch in der Reise um die Welt aus. Die Flotte der Eingeborenen auf Tahiti wird nicht bloß aus einer Perspektive beschrieben. Der Verlauf der Darstellung vollzieht vielmehr die 356

Immanuel Kant: Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, in: Kant’s gesammelte Schriften. AA 8, 107–123, hier S. 109. 357 Forster: Reise, S. 632. 358 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Bd. 3. Mit einem Vorwort von Karl Ludwig Michelet, in: ders.: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden. Hg. Hermann Glockner. Bd. 19. Stuttgart 1928, S. 555. Vgl. auch Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt/M. 111994, S. 15. 359 Vgl. Forster an Herder am 21.1.1787, in: Forsters Werke. AA 14, Briefnr. 214, S. 621. 360 Ein vergleichbares Verfahren zeichnet im übrigen auch Samuel Johnsons Gesprächsführung aus. Johnson nimmt gar nach Boswells Zeugnis gelegentlich Positionen ein, die den von ihm vertretenen eigentlich widersprechen, um den aufklärerischen Disput zu befördern. „Fehlurteile, sagte er, beruhen meist darauf, daß wir eine Sache nur teilweise oder nur von der einen Seite sehen; [...].“ (James Boswell: Dr. Samuel Johnson. Leben und Meinungen. Mit einem Tagebuch einer Reise nach den Hebriden. Hg. und aus dem Engl. von Fritz Güttinger. Zürich 1981, S. 246.)

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lokale Veränderung des Beobachterstandpunktes in der Erzählzeit nach. Der Positionswechsel wird dabei ausdrücklich markiert: „Bishero hatten wir die Flotte nur vom Lande aus betrachtet, um sie aber auch von der See-Seite in Augenschein zu nehmen, setzten wir uns in unser Boot und ruderten, unter den Hintertheilen der Canots, längs der ganzen Linie hin.“361 Die Beobachtung addiert durch die fortlaufende Bewegung nicht nur einen zweiten Standpunkt, sondern eine fast unendliche Menge sich ergänzender Perspektiven. Dieser Modus der Perspektivenübernahme schließt auch die Möglichkeit ein, daß Forster die Wahrnehmung der Europäer durch die Fremden antizipiert. So kann er, da er weiß, daß die Neu-Kaledonier keine großen Tiere kennen, erklären, daß sie, als sie die Europäer beim Essen großer Knochen sehen, ihnen Kannibalismus unterstellten.362 Erst wenn das Wissen um die Wahrnehmungsperspektive der Fremden sich mit der Bereitschaft verbindet, diese zu übernehmen, können selbstreflexiv auch eigene Voreinstellungen und Vorurteile in den Blick kommen. Eine Hermeneutik der Fremderfahrung verbindet Eigen- und Fremdperspektive, wie es auch in Diderots Supplément au voyage de Bougainville als Erfahrungsideal formuliert wird: „Prendre le froc du pays où l’on va et garder celui du pays où l’on est.“363 Forsters organologisches Erkenntnismodell, das die ganzheitliche Organisation der Natur nachzuvollziehen sucht, verbindet nicht nur die lokale und temporale Varianz zur Addition unterschiedlichster Perspektiven, sondern auch subjektivierende und objektivierende Schritte.364 Ausgangspunkt ist zunächst die subjektive Beobachtung und deren möglichst adäquate Darstellung: „der unbefangene Zuschauer“ solle „nur getreu und zuverläßig“ berichten, „was er wahrgenommen“.365 Doch wird der Schritt der Beobachtung von dem des weiterführenden Schlusses getrennt. Voreilige Schlüsse führen zu falschen Verallgemeinerungen.366 Darüber hinaus tragen auch verläßliche Berichte anderer Beobachter zur Vergrößerung der Perspektivenvielfalt bei. „Zwar verschaffte uns der kurze Aufenthalt nicht Gelegenheit, diese Beobachtung oft genug zu wiederholen, um sie für allgemein auszugeben; doch haben die Erfahrungen anderer Naturforscher ihnen bereits die erforderliche Zuverlässigkeit ertheilt.“367 Hier wird deutlich, daß die einmalige Beobachtung eines Reisenden wiederholt und zudem ergänzt werden muß, um an Sicherheit zu gewinnen. Nicht die Thesen von „Philosophen, die den Menschen nur aus ihrer Studierstube kennen“,368 erweitern die individuelle Empi361 362 363

Forster: Reise, S. 560. Vgl. ebd., S. 855. Vgl. hierzu Beetz / Godel: Entdeckte Vorurteile. Denis Diderot: Supplément au voyage de Bougainville, in: ders.: Œuvres. Tome II. Contes. Hg. Laurent Versini. Paris 1994, S. 577. Vgl. hierzu auch Berg: Zwischen den Welten, S. 37. 364 Vgl. Garber: Schere, S. 14f. 365 Forster: Noch etwas über Menschenraßen, S. 133. 366 Vgl. Forster: Reise, S. 447. 367 Ebd., S. 805. 368 Ebd., S. 445.

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rie, sondern die Verlängerung der Zeitachse der Beobachtung und die Addition anderer, ebenso subjektiver Beobachtungen. Forsters Programm empirischer Anthropologie, das sich der vorurteilsfreien Urteilsbildung verschreibt, bleibt nicht auf der Ebene der Beobachtung (und deren Darstellung) stehen. Forster fügt vielmehr einen weiteren Schritt hinzu, um zu einem Stufenmodell empirischer Wissensgewinnung zu gelangen. Das an Lockes Dualismus von sensation und reflexion orientierte zweistufige Modell Forsters sucht den synthetischen Schritt der Systematisierung der gewonnenen Erfahrungen mit dem „Blick in das Ganze der Natur“ nach Art Buffons zu verbinden.369 Auf der Grundlage empirischer Erkenntnis sind Vergleich und Hypothesenbildung für Forster nicht nur zulässig, sondern ausdrücklich für den Fortschritt der Aufklärung erforderlich. Bleibe man zu nahe an der Anschauung, so könne man „dem Abstraktionsvermögen Abbruch thun“.370 Der ganzheitlichen Aktivierung aller menschlicher Vermögen widerspräche es, vertraute man ausschließlich auf die sinnliche Wahrnehmung. Abstrahierende Hypothesenbildung muß indes als solche markiert werden. Forster versucht in der Reise genau zu kennzeichnen, inwieweit seine Schlüsse evidenzbasiert sind und inwieweit sie analogischer Abstraktion entstammen.371 Eine solche Hypothesenbildung darf nicht für Wahrheit ausgegeben, mit ihr nicht verwechselt werden: „Am Menschengeschlechte kann man sich aber wohl nicht tiefer versündigen, als wenn man ihm Wahrheit verspricht, und ihm statt deßen nur Hypothese giebt; [...]“.372 Im Aufklärungsprogreß hebt sich Wahrscheinlichkeit für Forster zusehends zur Gewißheit. Diese Annahme ermöglicht es ihm, der Aufklärung eine optimistische Zukunftsprognose zu stellen. „Doch, Nutzen und Mißbrauch haben ihre Gränzen: die Aufklärung aber schreitet von Erfahrung zu Erfahrung ins Unbegränzte fort.“373 Forsters Aufklärungsideal umfaßt nicht nur wissenschaftlichen Fortschritt, sondern auch individuelle Persönlichkeitsbildung. Der ideale Aufklärer zeichnet sich auch durch Moralität und Empfindsamkeit aus. In dieser Hinsicht kann die „Empfind-

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Anders als Japp nehme ich nicht an, daß die Problematik für Forster in der Diskrepanz von Beobachtung und Darstellung liegt. Der von Japp durchaus zutreffend skizzierte synthetischklassifizierende Schritt entspringt einer methodischen Notwendigkeit, nicht einem Defizit der Darstellungsmöglichkeiten. Vgl. Japp: Aufgeklärtes Europa, S. 26ff. West hingegen vermag keine methodische Lösung des „clash of image and attitude“ bei Forster zu erkennen. Vgl. Hugh West: The Limits of Enlightenment Anthropology: Georg Forster and the Tahitians, in: History of European Ideas 10,2 (1989), 147–160, hier S. 148. Vgl. zum an Buffon orientierten wissenschaftstheoretischen Anspruch Forsters Garber: Hauptbestimmungen, S. 205f. und Graczyk: Das literarische Tableau, S. 275. 370 Forster: Noch etwas über die Menschenraßen, S. 131. 371 Vgl. etwa Forster: Reise, S. 475. Über die Statuen auf der Osterinsel vermutet Forster auf der Grundlage seiner Erfahrung von anderen Inseln, es handele sich um Denkmäler für Tote. Er gibt dies allerdings deutlich als Vermutung zu erkennen. 372 Georg Forster: Menschen-Racen, in: AA 8, S. 157. 373 Forster: Cook, S. 199. In der Reise um die Welt beurteilt Forster die Aussichten der Aufklärung teilweise noch etwas negativer. Vgl. Forster: Reise, S. 520.

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lichkeit“ des Südseebewohners Maheine als aufgeklärte Verhaltensweise gelten, die die Europäer in den Schatten stellt.374 Der Kampf gegen Vorurteile trägt zur Aufklärung bei – und zwar zu einer Aufklärung, die Ratio und Emotion verbindet: „denn die Wissenschaften und das menschliche Gefühl überhaupt gewinnen unendlich viel, wenn alte eingewurzelte Vorurtheile und Irrthümer ausgerottet werden.“375 Für die verschiedenen Erkenntnisschritte sind unterschiedliche Fertigkeiten auf seiten des Beobachters vonnöten. Ein Reisender, der nach meinem Begriff alle Erwartungen erfüllen wollte, müßte Rechtschaffenheit genug haben, einzelne Gegenstände richtig und in ihrem wahren Lichte zu beobachten, aber auch Scharfsinn genug, dieselben zu verbinden, allgemeine Folgerungen daraus zu ziehen, um dadurch sich und seinen Lesern den Weg zu neuen Entdeckungen und künftigen Untersuchungen zu bahnen.376

Um „richtig“, „im wahren Licht“ beobachten zu können, ist die moralische Qualität der „Rechtschaffenheit“ notwendig. Um synthetische und verallgemeinernde Folgerungen ziehen zu können, ist „Scharfsinn“, mithin eine rationale Qualität erforderlich. So kann Erkenntnis prospektiv gewonnen und können Vorurteile kritisiert werden. Forsters empirisch-transformierendes Modell der Vorurteilskritik kann sich allerdings dem Problem der normativen Regulierung des Vorurteilsdiskurses nicht völlig entziehen. Forster selbst benennt drei normative Formationsregeln des Diskurses. Erstens: Dem Urteilsprozeß liegt die apriorische Norm der Menschenfreundlichkeit zugrunde.377 Im Kompendium der Ziele eines idealen Reiseberichts steht die Beförderung moralischer Maßstäbe im Zentrum.378 Dieses Ziel bietet die normative Regel, die der modalen Deregulation der Empirie entgegengesetzt wird. Der grundsätzliche Wert moralischen Verhaltens wird als normative Prämisse von der Selbstreflexion ausgenommen. Dabei variiert die konkrete Ausprägung jener Moralität lokal und temporal. Wenn Forster das Wohlwollen gegenüber anderen Menschen zur Prämisse seiner Urteile macht, so bedeutet dies nicht, daß er damit eine prähumanistische Haltung verträte. Denn als interne Regel für den Vorurteils- und Erkenntnisdiskurs setzt schon Georg Friedrich Meier ‚liebreiches‘ Urteilen ein.379 Forsters „Humanismus“ weist mindestens ebensosehr auf die Früh- und Hochauf374

Vgl. Forster: Reise, S. 520. Vgl. auch Michael Harbsmeier: Kadu und Maheine. Entdeckerfreundschaften in deutschen Weltreisen um die Wende zum 19. Jahrhundert, in: Wolfgang Griep (Hg.): Sehen und Beschreiben. Europäische Reisen im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Heide 1991, 150–178. 375 Forster. Reise, S. 910. 376 Ebd., S. 17. 377 Vgl. hierzu Nell: Reflexionen und Konstruktionen, S. 146f., 150f. 378 Vgl. Forster an Spener am 4.10.1776, in: Forsters Werke. AA 13, S. 53. Es handelt sich hier um eine von Johann Reinhold Forster konzipierte, schließlich aber doch nicht publizierte Annonce der deutschen Ausgabe der Reise. 379 Vgl. Berg: Schwierigkeiten, S. 20f.

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klärung zurück wie auf die Klassik voraus. Moral schlechthin gilt für Forster als unhintergehbares anthropologisches Faktum. Sie ist nicht nur christlich-theologisch, durch einen harmonisch-göttlichen Plan der Welt motiviert.380 Begriffe für moralisch Gutes und ästhetisch Schönes liegen für Forster jedem menschlichen Urteilsprozeß normativ zugrunde: Kein Mensch verstände den anderen, wenn nicht in der Natur aller Menschen etwas Gemeinschaftliches zum Grunde läge, [...] wenn nicht wenigstens unabhängig von allem objektivem Daseyn, die Bezeichnung der Eindrücke, nach welcher wir gut und böse, recht und unrecht, widrig und angenehm, schön und häßlich unterscheiden, in uns selbst als Form aller Veränderungen, die in uns vorgehen können, schon bereit läge.381

Zweitens kann die Ästhetisierung des Gegenstands, die Forsters Beobachtung in der Reise oftmals prägt, aus anthropologischen Prämissen heraus als Norm des Urteilsprozesses gerechtfertigt sein.382 Die „schöne Erscheinung des Mannichfaltigen“ zu suchen ist eine anthropologisch gemeinsame Konstante, die der lokalen Varianz von Schönheitsbegriffen nicht widerspricht. „Hier zu Lande mag es freylich wohl für etwas schönes gehalten werden, denn der Geschmack der Menschen ist unendlich verschieden.“383 Gemeinsam ist ihnen allen aber das Streben nach dem Schönen, das auch Wahrnehmungs- und Urteilsprozesse dirigiert. Ohne vorstrukturierende Planung bildet sich in chaotischer Mannigfaltigkeit für Forster eine Ordnung – auch eine Ordnung modaler Erkenntnisgewinnung.384 Forsters empiriebasierte Urteilsprozesse unterliegen drittens der Norm seines wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses. Dies offenbart sich insbesondere dann, wenn Forster die Wißbegierde der Eingeborenen zum Maßstab macht, sie zu beurteilen.385 Erweisen sich die Fremden als neugierig, als an allem interessiert, was die Europäer ihnen vorführen und anbieten, so hält Forster sie für weiter entwickelt als diejenigen, die durch Desinteresse an den Darbietungen und zweifelhaften Angeboten der Reisenden glänzen. Die wissenschaftliche Qualität der Expeditionser-

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In der Reise finden sich einige Belege für die deistische theologische Perspektive: „daß man sich nicht enthalten konnte, mit ehrfurchtvoller Verwunderung an den Schöpfer zu denken“ (Forster: Reise, S. 83), „die alles lenkende Vorsehung“ (ebd., S. 117), „von der allwaltenden Vorsehung für besonderen Unglücksfällen bewahrt“ (ebd., S. 134), „ein deutliches Merkmahl der göttlichen Obhut“ (ebd., S. 135). Vgl. Oliver Hochadel: Natur – Vorsehung – Schicksal. Zur Geschichtsteleologie Georg Forsters, in: Jörn Garber (Hg.): Bilder des Wirklichen im Werk Georg Forsters. Tübingen 2000, 77–104. Hochadel bezieht Forsters Geschichtsteleologie nur auf einen metaphysischen „Überbau“ (sic), statt sie zur Frage in Beziehung zu setzen, wie Erkenntnis normiert wird. 381 Forster: Ansichten, S. 126. 382 Wirft man Forster vor, daß er Schönheit und intellektuelle Fähigkeiten in der Reisebeschreibung gleichsetze, so verkennt man die zeitgenössische Prämisse Forsters. Vgl. Forster: Reise, S. 919ff. Hierzu Berg: Zwischen den Welten, S. 110. 383 Forster: Reise, S. 692. Forster meint hier die Sitte der Frauen auf Mallicolo, sich Haare und Körper gelb einzufärben. 384 Vgl. Garber: Reise nach Arkadien, S. 21. 385 Vgl. Forster: Reise, S. 562, 752, 920ff.

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gebnisse stellt ein übergeordnetes Beobachtungsziel dar, dem sich auch das Design der Urteilsprozesse anpaßt. Wissenschaftliche Ausbildung gehört für Forster „nebst allen ihren Folgen, ohne Widerrede zu den bestimmten Einrichtungen der Natur“.386 Wissenschaftlichkeit erhält als Bestreben aufzuklären den Status einer Formationsregel des Vorurteils- und Urteilsdiskurses. Das komplexe Programm empirischer Anthropologie, das Forster entwirft, dient dazu, „die glänzendsten Progresse[n], ja förmliche Revolutionen, in den Wissenschaften [zu] bewerkstelligen“.387 5.3.3 „Nur der Geist, welcher selbst denkt, […] erreicht seine Bestimmung.“ Forsters Transformierung des Vorurteilsdiskurses als Selbstaufklärung Forsters transformierte Vorurteilskritik schließt eine Lösung der anthropologiebasierten Erkenntnisschwierigkeiten ein, die nicht bei der Beobachtung stehenbleibt. Wahrnehmung, die Reflexion über deren Möglichkeiten und Ordnung und die beschreibende und erneute Reflexion anregende Darstellung verbinden sich in Forsters Reiseberichten. Sein öffentlichkeitsorientiertes Verständnis von Aufklärung macht die Notwendigkeit plausibel, einen Erkenntnisakt beim Rezipienten hervorzurufen. Diese Anregung zum Denken muß sich indes denselben anthropologiebasierten Problemen stellen, die Forster auch im Beobachtungsmodell selbst zu lösen sucht. Es ist nach Forster nicht möglich, „die Dinge selbst“ darzustellen. Der Beobachter könne die Eindrücke, die ein Gegenstand „im Gemüthe des Beobachters“ erzeugt, also die Verarbeitung der Perzeptionen schildern oder aber nur die Wirkung der Gegenstände auf die Sinne, also die Perzeptionen selbst.388 Eine reflektierte Rezeptionssteuerung muß das Verfahren für den Leser transparent machen. Dem Rezipienten solle deutlich werden, „wie das Glas gefärbt ist, durch welches ich gesehen habe.“389 Forster thematisiert daher oft seine individuelle Erfahrungs- und Schreibperspektive. Er sucht die Subjektivität der Wahrnehmung offenzulegen und kenntlich zu machen.390 Die eigene, subjektive Position wird in der Darstellung 386 387

Forster: Cook, S. 194. Forster: Reise, S. 821. Nell führt eine weitere Begrenzung der Normenfreiheit an: Forster nähere sich, wohl auf Anregung Soemmerings, einem „Feld von Überlegungen [...], die auch einen rassistischen Diskurs stützen könnten.“ Nell: Reflexionen und Konstruktionen, S. 153. Wenn Forster allerdings die feuerländischen „Pesserähs“ negativ beurteilt, so liegt diesem Urteil nicht eine pauschale Vorannahme über diese ‚Rasse’ zugrunde, sondern die Beobachtung, daß das Verhalten dieser Menschen nicht mit dem hochgeschätzten Verhalten wissenschaftlicher Neugier übereinstimmt. Der Akt der Normierung ist wissenschaftlich – nach Forsters Prämissen – motiviert, nicht rassistisch. 388 Vgl. Georg Forster: [Rezension von:] […] Lettres sur l’Italie en 1785 […], in: AA 11, 160– 162, hier S. 161. 389 Forster: Reise, S. 18. Vgl. hierzu auch Nell: Reflexionen und Konstruktionen, S. 151. 390 Vgl. auch Christoph Bode: Beyond / around / into one’s own: Reiseliteratur als Paradigma von Welt-Erfahrung, in: Poetica 26 (1994), 70–87, hier S. 79f.

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relativiert, indem Forster die normative Basis der eigenen Urteile wann immer möglich anzugeben sucht. Formeln wie „nach unsern Maßstäben“, „mit unsern Begriffen“ legen die individuelle wie die kulturelle Herkunft der Urteile offen und geben damit die Relativität der Erkenntnis für den Rezipienten zu erkennen. Die so markierte Abbildung ermächtigt den Rezipienten, den Erkenntnisweg des Beobachters gesteuert nachzuvollziehen. Als Ziel der Darstellung formuliert Forster, er wolle „den Geist auf den Standpunkt [...] erheben, aus welchem er einer ausgebreitetern Aussicht genießt“.391 Gerade jener intendierte Blick des Rezipienten von „oben“ ist es, der zwischen den Objekten der Beobachtung und dem Beobachter vermittelt und der jene „Ansicht“ gewährt, die seinem Interesse an den Dingen entspricht.392 Dieser Standort resultiert aus einer Konstruktion des Darstellenden im Verein mit dem Rezipienten, die eine metareflexive Revision von Beobachtungs- und Urteilsprozessen ermöglicht: Der Rezipient möge sich metaphorisch auf eine höhere Ebene stellen und das entworfene und dargestellte Gesamtbild überschauen. Bedingung einer solchen, höheren Rezeptionsperspektive ist die multipolare Darstellung des Beobachteten. Multiperspektivismus wird durch die Variation subjektiv jeweils anderer Wahrnehmungen erzeugt. Perspektiven durch die Beschränkung der Sehepunkte zu verengen wäre kontraproduktiv, da dies zu falschen Urteilen führte. Forster propagiert mithin einen dynamischen Standortwechsel, der die reflexive Tätigkeit des Lesers einbezieht, der es ihm ermöglicht, „mit ihnen (den Reisenachrichten, R. G.) gleichsam in Gedanken zu reisen“.393 In der Darstellung selbst wird diese Gedankenreise, die Konstruktion des Ganzen, vorgezeichnet. Als prototypisch für einen dynamischen Perspektivenwechsel hat Jörn Garber Forsters Beschreibung des Hafens von Amsterdam in den Ansichten analysiert.394 Sukzessiv reiht Forster die Perzeptionsschilderung des Augenscheins im Hafen selbst und die Darstellung der Operationen seines Verstandes aneinander. Die sensualistisch orientierte Beschreibung des subjektiven Eindrucks ist in sich selbst schon dynamisch. Denn der Erzähler bezieht nicht nur insgesamt drei verschiedene physische Standorte im Hafen („auf dem Werft der Admiralität“, „bestiegen wir den Moritz“, „Man stellt uns vorn an den Kiel“),395 sondern er wendet seinen Blick auch noch jeweils in unterschiedliche Richtungen, um dasjenige darzustellen, was er unmittelbar wahrnimmt. Auf die Darstellung der optischen Wahrnehmung folgt eine reflexive Konstruktion, eine geistige Bewegung:396 „Ich stelle mich in Gedan-

391 392

Forster: Reise, S. 17. Vgl. zum Blick von „oben“ in Forsters Ansichten Fischer: Reisen als Erfahrungskunst, S. 38. Ihre sozialhistorische Interpretation scheint mir allerdings zu weit zu führen; vgl. ebd., S. 96f. 393 Forster: [Zu: Des Abbé Rochon Reise], S. 625. 394 Vgl. Garber: Schere, S. 24ff. 395 Forster: Ansichten, S. 297f. 396 Vgl. Garber: Schere, S. 25.

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ken in die Mitte des Hafens, [...]“.397 Hypothetisch nimmt Forster eine Perspektive ein, die im Zentrum des Beobachteten liegt. Sie erlaubt es, das unbegrenzt Wahrgenommene zu organisieren und durch reflexive Hypothesenbildung zu ergänzen.398 Der Autor protokolliert auch diesen Perspektivwechsel, der die Gegenstandswahrnehmung erneut verändert und bereits gefällte Urteile ergänzt.399 Erst das Zusammenwirken der historisierten Beschreibungs- und Darstellungsmedien erzeugt das Gesamtbild, den „Totaleindruck“.400 „Das Ganze ist nur da für die Phantasie, die es aus einer gewissen Entfernung unbefangen beobachtet und die größeren Resultate mit künstlerischer Einheit begabt [...]“.401 Die künstlerische Überformung in der Darstellung wird so zum unverzichtbaren Teil des Urteilsprozesses.402 Multipolarität in der Darstellung schöpft jedoch nicht nur aus den Perspektiven, die in der Subjektivität des Beobachters liegen oder aus ihr gewonnen werden. Forster verwendet in vielfacher Weise intertextuelle Verweise, um Multiperspektivität auch zeitübergreifend zu erzeugen. Damit erfüllen Intertexte eine ähnliche Funktion wie der Wechsel von subjektiv-empfindsamer zu objektiv-beschreibender Sprache und wie der Wechsel von Perzeption zu Apperzeption.403 Zur perspektivischen Wahrnehmung zählt auch die durch kulturelle Erfahrungen geprägte Erwartung des Beobachters wie des Rezipienten.404 Chronologisch folgt in der Darstellung Forsters der eigenen Wahrnehmung die Reaktion der Umgebung.405

397 398

Forster: Ansichten, S. 299. Das hier skizzierte Verfahren ist grundlegend für die Erkenntnisbewegung in den Ansichten. Forster begründet es explizit am Beispiel der These, die Gebirge am Rhein seien vulkanischen Ursprungs: „Wenn die Erscheinungen, die das hiesige Gebirge uns zeigt, Vergleichungen dieser Art begünstigen, wer dürfte uns verbieten, unserer Einbildungskraft die Ergänzung einer Lücke in den Annalen der Erdumwandlung aufzutragen?“ (Forster: Ansichten, S. 13) 399 Vgl. Garber: Schere, S. 26. Die Verbindung von Natur und Kultur, die Garber in der Metapher des Amsterdamer Hafens prototypisch abgebildet sieht, weist über Forsters Erkenntnismodell hinaus. Sie bildet einen unverzichtbaren Teil von Forsters Anthropologieverständnis. Vgl. ebd., S. 24. 400 Forster: Ansichten, S. 300. Nicht die Perspektive selbst ermöglicht Abstraktion, sondern deren Protokollierung. Vgl. dagegen Fischer: Reisen als Erfahrungskunst, S. 44. 401 Forster: Ansichten, S. 300. 402 Im Erkenntnisakt verbinden sich also sensualistische Impressionen mit der rationalen Konstruktion des Ganzen. Vgl. auch Garber: Selbstreferenz, S. 169. 403 Vgl. zum essayistischen Stil bei Forster Michael Ewert: „Vernunft, Gefühl und Phantasie, im schönsten Tanze vereint.“ Zur Essayistik Georg Forsters. Würzburg 1993. Vgl. dagegen Uwe Hentschel: Von der ‚ästhetischen Vollkommenheit wissenschaftlicher Werke’. Theorie und Praxis der Reisebeschreibung bei Georg Forster, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 2 (1992), 569–585, hier S. 572. 404 In Forsters Parisischen Umrissen löst sich diese Verknüpfung von Erfahrung und Erwartung angesichts der radikalen Kontingenz der Ereignisse. Erfahrung spielt nun für die Konstruktion eines Erwartungshorizonts kaum mehr eine Rolle. Vgl. Helmut Peitsch: Jakobinische Metaphorik? Deutsche Reisende als ‚Zuschauer‘ der Französischen Revolution, in: Literatur für Leser 1990. H. 4, 185–201, hier S. 198. 405 Vgl. Garber: Schere, S. 14f.

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Techniken literarisierter Darstellung transformieren den Prozeß der Urteilsbildung und -revision, von dem der Beobachter berichtet, zu einem Prozeß auf Rezipientenseite. Vergleicht man Georg Forsters Reise um die Welt mit dem Reisebericht seines Vaters Johann Reinhold, wird im Vergleich gerade der Anteil der Transformierung des Vorurteils- und Urteilsdiskurses an Georgs Darstellung deutlich. Georg Forsters Erzählrelief unterscheidet sich elementar von der Systematik der Darstellung bei seinem Vater, obwohl beide in bezug auf die Notwendigkeit der Vorurteilskritik übereinstimmen: Vorurteile müßten bekämpft werden, weil sie verjährt seien. Doch müsse man auch etwas „befriedigenderes“ an ihre Stelle setzen, mahnt Johann Reinhold an.406 Die Ordnung der Darstellung indes unterscheidet sich grundsätzlich von der der Reisebeschreibung seines Sohnes. Johann Reinhold erhebt den Anspruch, sich auf das „blosse Verzeichnis von Thatsachen“ zu beschränken, „ohne den Meynungen und Systemen irgend eines Gelehrten angepaßt zu seyn.“407 Im Unterschied zu Georg erklärt er nur Folgerungen aus Erfahrungssätzen für zulässig, nicht den synthetischen Schritt, der bei seinem Sohn die Transformierung des Diskurses ermöglicht. Johann Reinhold strukturiert seine Darstellung anhand der Ordnung der Wissensgebiete. Dabei folgt er dem Modell von Torbern Bergmann. Eine klassifikatorische Dynamik gewinnt die statische Ordnung durch die Absicht, auch Buffon, Iselin, Blumenbach und Hunter in methodischer Hinsicht zu berücksichtigen.408 Dem im Gefolge Linnés entstandenen Versuch, Klassifizierung als Zweck statt als Mittel zu benutzen,409 sucht Johann Reinhold Forster eine vermittelnde Position entgegenzustellen. Dennoch aber glaubt er nicht, auf Klassifizierung in der Ergebniswiedergabe verzichten zu können. Die chronologisch abgefederte Statik der Darstellung Johann Reinhold Forsters weist voraus auf Friedrich Nicolais Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781. Die Sammlung von Fakten, Daten und Nachweisen durch Nicolai enthält sich weitgehend der Fiktionalisierung,410 doch nimmt diese Radikalisierung des empiristischen Prinzips auch die Chance zu autoreflexiver Selbstaufklärung, da die Vorurteilsfreiheit des Beobachters a priori behauptet wird.411 Daß Reisen Vorurteile abbauen könnte, gilt für Nicolai als ausgemacht. Menschen könnten, „anstatt 406

Vgl. Johann Reinhold Forster: Beobachtungen während der Cookschen Weltumsegelung. 1772–1775. Gedanken eines deutschen Teilnehmers. Unveränderter Neudr. der 1783 erschienenen „Bemerkungen über Gegenstände der physischen Erdbeschreibung, Naturgeschichte und sittlichen Philosophie auf seiner Reise um die Welt gesammlet“. Stuttgart 1981, S. IV. 407 Ebd., S. III. 408 Vgl. ebd., S. V. 409 Vgl. Urs Bitterli: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. München 21991, S. 213f. 410 Vgl. Wolfgang Martens: Ein Bürger auf Reisen. Bürgerliche Gesichtspunkte in Nicolais ‚Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781’, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 97 (1978), 561–585, hier S. 562f. 411 Vgl. Peter J. Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsbericht als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen 1990, S. 179f.

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bloß zu Hause, und bey den angebohrnen Vorurtheilen zu bleiben“, durch Reisen Vorurteile gegenüber ihren Nachbarn überwinden.412 Erfahrung wird für den Rezipienten normiert. Er lernt nur empirisch systematisierte Resultate und zugrundliegende Erfahrungsmuster kennen.413 Zweifel ist der Empirie bei Nicolai nicht mehr inhärent – im Unterschied zur Verbindung individualisiert-empirischer Beobachtungs- und Beschreibungstechnik bei Georg Forster.414 Forsters Reise um die Welt dagegen bildet die Chronologie des Erkenntnisprozesses ab. Er lehnt einen olympischen Erzählerstandort weitgehend ab, der ihm als unmittelbar-„realer“ Beobachter und Darsteller des Geschehens nicht nur möglich gewesen wäre, sondern der auch als Authentizitätsbeglaubigung hätte erwartet werden können. Obwohl Forster alle Figuren, alle Schauplätze, die gesamte Vorgeschichte und die gesamte weitere Entwicklung im Moment der Niederschrift zu überblicken vermag, beschränkt er sich auf die Darstellung des sukzessiven Erkenntnisfortschritts, der die Urteils- und Erkenntnisprozesse im Moment des Entstehens spiegelt. Auf Tanna berichtet der Erzähler davon, er habe die Schönheit und Friedlichkeit der Insel genossen. In empfindsam-subjektiver Stillage erzeugt er den Eindruck einer ungetrübten Harmonie von Natur und Mensch.415 Das friedliche Verhalten der Ureinwohner, das sich harmonisch in das Naturbild einpaßt, wird vom Erzähler als Erfolg bewertet: Sie hätten sich kulturell an europäische, friedfertige Moral- und Verhaltensstandards angepaßt: „Diesen Argwohn, dieses eingewurzelte Mißtrauen, hatten wir durch kühles, überlegtes Verhalten, durch Mäßigung, und durch das Gleichförmige aller unserer Handlungen, zu besiegen, zu vertreiben gewußt.“416 Daß der Erzähler eigentlich schon mehr weiß, erfährt der Leser erst im Verlauf der Lektüre. Denn er weiß nichts von der Gefährdung, der Forster und sein Begleiter Sparrmann in dem Moment ausgesetzt waren, als der Erzähler von der Friedfertigkeit von Natur und Menschen berichtet. Der dramaturgische Effekt beinhaltet eine Transformierung des Vorurteilsdiskurses: Denn das optimistische Erzählerurteil, man habe durch eigenes Wohlverhalten ein ebensolches bei den Ureinwohnern bewirkt, wird konterkariert, als der Leser erfährt, daß die Gefährdung von anmaßendem und gewalttätigem Verhalten der europäischen Soldaten ausging.417 Das Urteil, das friedfertige Mäßigung ursprünglich dem Verhaltensvorbild der Europäer zuschrieb, wird im Erzählprozeß revidiert. Denn es sind die „Wilden“, die sich als moralisch hochstehend erweisen, da sie trotz der 412

Vgl. Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten. Bd. 1. Berlin / Stettin 1783, in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 15. Hg. Bernhard Fabian / Marie-Luise Spieckermann. Hildesheim / Zürich / New York 1994, S. VIIf. 413 Vgl. Segeberg: Die literarisierte Reise, S. 15. 414 Vgl. Fischer: ‚Wahrheit‘, S. 320. 415 Vgl. Forster: Reise, S. 799. Vgl. hierzu auch Beetz / Godel: Entdeckte Vorurteile. 416 Forster: Reise, S. 799. 417 Vgl. ebd., S. 801. Uhlig rekonstruiert das Geschehen auf Tanna anhand der Quellenlage. Vgl. Uhlig: Forster, S. 70f.

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Möglichkeit hierzu keine Rache ausüben: „Wahrlich, ein rührender Beweis, von der angebohrnen Güte des menschlichen Herzens!“418 Urteilsbildung und Urteilsrevision werden exemplarisch vorgeführt und als zusammengehörig markiert. Das erste Urteil erscheint dabei nicht als defizitär, sondern als Hypothese, die im Verlauf der Handlung falsifiziert wird. Es ist ein notwendiger Bestandteil des Erkenntnisprozesses. Die Rollendiskrepanz zwischen berichtendem und teilnehmend-erlebendem Erzähler ermöglicht es dem Rezipienten auch, den Prozeß des Erzählens selbst in den Blick zu nehmen. Forster gelingt es, ein Fiktionsbewußtsein zu erzeugen, indem er eine Differenzwahrnehmung zwischen Beobachtung und Darstellung aufzeigt, die den Beobachtungs- und nicht den Reflexionsstatus eines vollständig aufbereiteten inhaltlichen Wissens fingiert. Indem Forster zusätzlich eine emotionale Diskrepanz zwischen der friedlichen Natur und dem Erschrecken über die Gefährdung aufbaut, wird es für den Rezipienten möglich, das Geschehen nicht nur logisch-rational, sondern auch ästhetisch-sensual nachzuvollziehen. Das „offene Zeitprotokoll“ des Erkenntnisaktes419 resultiert demnach nicht nur aus den anthropologiebasierten Einschränkungen der Erkenntnismöglichkeiten des Beobachters selbst, sondern es reagiert auch auf die identische Problemkonstellation auf der Ebene des Rezipienten. Dieser kann einen eigenständigen Prozeß der Urteilsrevision vollziehen und sich der Notwendigkeit dieser Revision versichern. Der Erkenntnisprozeß wird zum Prozeß der Revision von Vorurteilen. Erkenntnisgewinn wird von Forster nur als zeitlich gebundener Prozeß mit jeweils nur relativen, zeitlich befristet gültigen Erkenntnissen dargestellt. Bereits gewonnene Urteile können immer wieder neu in Frage gestellt werden. Die gewählte Erzählstrategie steht im Dienst der Vermittlung dieses Erkenntnismodells. Als Forster die erste Annäherung der Reisenden an Tahiti schildert, ruft er zunächst das verbreitete Vorurteil auf, Tahiti sei ein bewahrtes Paradies.420 Den kulturellen Erwartungshorizont markiert Forster hier aber nicht mit einem Zitat zeitgenössischer Erfahrung, sondern mit einem Vergil-Zitat aus der Aeneis.421 Die literarische Beschreibung fungiert hier als erste Näherung, die den Arkadien-Topos als kulturelle Erfahrung bereits in der Antike verankert. Damit kennzeichnet Forster zugleich die Grundbedingungen empirischer Wahrnehmung, die in retrospektiver Historisierung von kulturellen Erfahrungen Europas geprägt ist. Doch müssen, um zu einem 418 419 420

Forster: Reise, S. 801. Vgl. Garber: Schere, S. 15. Der Arkadienmythos war im 18. Jahrhundert nicht nur aufgrund von Rousseaus Discours sur l’inégalité präsent. Mit Bougainvilles Reisebericht wurde es populär, ihn mit Tahiti zu verbinden. Vgl. Garber: Reise nach Arkadien, S. 37f. 421 Vgl. Forster: Reise, S. 241. Vgl. Vergil: Aeneis. Lat.-dt. In Zusammenarbeit mit Maria Götte Hg. und übs. von Johannes Götte. München / Zürich 81994, 6. Buch, V. 638–641, S. 256. In deutscher Übersetzung (ebd., S. 257): „kamen zum Orte der Freude, zu lieblich-leuchtender Grünung / glückgesegneter Haine sie hin, zu der Seligen Wohnsitz. / Fülle des Äthers umwebt das Gefild mit purpurnem Lichte, [...]“.

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adäquateren Tahiti-Bild zu gelangen, weitere Beobachtungen, ergänzende Intertexte und vor allem die Erfahrung der sich dynamisierenden Interaktion mit den Eingeborenen dazukommen. Die antike Überlieferung bildet nur eine von mehreren Rezeptionsebenen, deren ideologischer Gehalt zugunsten der eigenen empirischen Erfahrung aufgehellt, deren Vorurteilshaltigkeit kenntlich gemacht wird.422 Das antike Vorurteil trifft keine Aussage über absolute Wahrheiten. Es kennzeichnet nur den Erwartungshorizont, der Forsters empirische Wahrnehmung und die Urteilsprozesse der Rezipienten steuert.423 Die Korrespondenz von Erwartung und Erfahrung beschränkt Forster auf dasjenige, was unmittelbar vergleichbar ist. Wenn er also die tahitische Flotte mit der griechischen aus der Ilias parallelisiert, so macht er deutlich, daß er hier nur unmittelbar vergleichbare Strukturen darstellt, nicht aber eine Verwandtschaft der Völker suggerieren möchte.424 Literarische Einschübe dienen in Forsters Reisebeschreibung sowohl dazu, Erwartungs- und Erfahrungshorizont zu vergleichen, als auch dazu, mit der Durchbrechung des Erzählfortgangs eine Emotionalisierung des Lesers zu erreichen. In der Rezeption wird die Idealvorstellung der ganzheitlichen Wahrnehmung, die auch die Erstbeobachtung prägt, wiederholt. Forsters Rezeptionssteuerungsmodell integriert die Fähigkeiten zur empirischen Differenzierung und zur selbstreflexiven Verarbeitung kulturellen Wissens. Prototypisch zeigt sein Umgang mit dem Topos des „edlen Wilden“, daß Forster vom zeitgenössischen Muster aufgrund eigener Erfahrung begründet abweicht, diese Abweichung aber auch dem Rezipienten im Nachvollzug als Ziel eigener Reflexion nahezulegen sucht. Die Vorstellung vom „edlen Wilden“ stützt sich zeitgenössisch zwar vermeintlich auf empirische Beobachtung. Doch wird diese fast vollständig einem Wunschdenken subsumiert, das Unabhängigkeit von institutionellen Bindungen, Gleichheitsideal, liberale Sitten

422

Vgl. einschlägig Garber: ‚Arkadien‘ im Blickfeld, S. 107, 110. Garber weist auch darauf hin, daß das entworfene Bild Tahitis mit dem Griechenlands im Klassizismus übereinstimmt: Beide verkörpern einen vorangeschrittenen Zustand der Kultur, der dennoch vom Primat des sinnlichen Menschen bestimmt werde. Vgl. ebd., S. 98. 423 Goldmann und Wuthenow sehen das Muster der Antike als Möglichkeit, das Fremde in tradierte Formen zu bannen. M.E. geht es im Gegensatz dazu darum, sich des eigenen Erfahrungshorizonts zu versichern, eine selbstreflexive Ebene kenntlich zu machen. Vgl. Stefan Goldmann: Die Südsee als Spiegel Europas. Reisen in die versunkene Kindheit, in: Thomas Theye (Hg.): Wir und die Wilden. Einblicke in eine kannibalische Beziehung. Reinbek 1985, 208–242, hier S. 213f., Ralph-Rainer Wuthenow: Reiseliteratur in der Zeit der Aufklärung, in: Hans-Friedrich Wessels (Hg.): Aufklärung. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch. Königstein/Ts. 1984, 161–182, hier S. 164. 424 Vgl. Forster: Reise, S. 595. An anderer Stelle kritisiert Forster daher Hodges, der ein Bild „im Geschmack der Antike“ gezeichnet hat. Vgl. ebd., S. 376. Es handele sich hier nur um eine „bloß idealisch[e]“ Konstruktion (ebd., S. 377), die vortäuscht, die Südseebewohner trügen antike Gewänder. Die eigene kulturelle Prägung überlagert die empirische Wahrnehmung. Vgl. auch Rüdiger Joppien: Georg Forster und William Hodges – Zeugnisse einer gemeinsamen Reise um die Welt, in: Claus-Volker Klenke / Jörn Garber / Dieter Heintze (Hg.): Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive. Berlin 1994, 77–102, hier S. 78ff.

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und sexuelle Freizügigkeit verbindet.425 Bei aller Kritik Forsters an Rousseau weist der Topos bei beiden eine ähnliche, zum Idealbild Distanz schaffende Funktion auf. Rousseau bezieht den „edlen Wilden“ in einen geschichtlichen Entwicklungsprozeß ein und individualisiert ihn.426 Doch ist der Naturzustand, der einen solchen Menschen aufböte, nur als hypothetische Konstruktion der Reflexion zu erreichen.427 Er entspricht nicht einer als historisch angenommenen Stufe der Menschheitsentwicklung. Rousseaus Discours sur l’inégalité steht nicht zufällig unter dem anthropologischen Vorzeichen der Selbsterkenntnis: „Car comment connoître la source de l’inégalité parmi les hommes, si l’on ne commence pas les connoître eux mêmes?“428 Auch Forsters empfindsamer Südseebewohner Maheine wird nicht generalisierend als „guter“ oder „edler“ Wilder vorgeführt, sondern als menschliches Wesen mit individuellen und kulturell geprägten Verhaltensmustern. Stellt Forster „edles“ Verhalten Maheines dar, dient dies nicht dazu, einen bestimmten Menschheitstypus zu skizzieren, sondern es schafft die Möglichkeit, im reflektierten Vergleich die eigenen, europäischen Normansprüche zu überprüfen. Die Transparenz der Polyperspektivität, die zur Urteilsrevision anhält, wird bei Forster nicht nur zur Grundlage von Beobachtung und Darstellung, sondern auch selbst expliziert. Der Rezipient wird zur Urteilsrevision im Zeitverlauf der Darstellung nicht nur angehalten, sondern auch ausdrücklich daran erinnert, „die Sache könne mehr als Eine Seite haben.“429 Forsters Programm empirischer Anthropologie transformiert den Vorurteilsdiskurs zu einem rezeptionsorientierten System. Die Perspektivität der Texte soll nicht nur unterhalten, sondern auch zur Methodenreflexion anregen, „zu neuen und wichtigen Betrachtungen Gelegenheit geben“.430 Das erzählende Ich schafft Möglichkeiten für den Leser, gewonnene Thesen zu überprüfen. Es gilt dabei als Teil der Bestimmung des Menschen, einen selbsttätigen und selbstreflexiven Prozeß zu initiieren: „Nur der Geist, welcher selbst denkt, und sein Verhältniß zu dem Mannichfaltigen um sich her erforscht, nur der erreicht seine Bestimmung.“431 Diese wird als Entwicklungsfähigkeit gedacht. Im Unterschied zu Mendelssohn bindet Forster Perfektibilität auf individueller wie auf aufklärerisch-menschheitlicher Ebene an die Überwindung von Vorurteilen. Hierzu ist empirisch bekräftigtes 425

Vgl. Urs Bitterli: Der „Edle Wilde“, in: Thomas Theye (Hg.): Wir und die Wilden. Einblicke in eine kannibalische Beziehung. Reinbek 1985, 270–287, hier S. 276, Karl-Heinz Kohl: Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation. Berlin 1981. 426 Vgl. Bitterli: Der „Edle Wilde“, S. 283f. Vgl. zu Forsters Rousseau-Kritik Ulrich Kronauer: Rousseaus Kulturkritik aus der Sicht Georg Forsters, in: Claus-Volker Klenke / Jörn Garber / Dieter Heintze (Hg.): Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive. Berlin 1994, 147–156. Neumann weist zusätzlich auf Forsters Kenntnis von Isaak Iselin hin. Vgl. Neumann: Philosophische Nachrichten, S. 539. 427 Vgl. Japp: Aufgeklärtes Europa, S. 19. 428 Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit, S. 42. 429 Forster: Cook, S. 187. Vgl. auch Forster: [Zu: Des Abbé Rochon Reise], S. 635. 430 Forster: Reise, S. 329. 431 Forster: Ansichten, S. 22.

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Wissen, nicht Spekulation erforderlich.432 Bedingung für Freiheit und eigene Willenskraft ist für Forster, daß der Mensch die eigenen Fertigkeiten ausbildet, Wissen dynamisch gewinnt und sich nicht statisch auf vorhandenes Genie verläßt. „Ein jeder soll nur Kräfte zur Vollkommenheit ausbilden; darum wird er mit bloßen Anlagen, ohne alle Entwicklung geboren.“433 Diese Ausbildung zielt nicht darauf, ein Ideal menschlicher Entwicklung zu erreichen. Multidimensionalität und Multipolarität machen das Menschheitliche aus. Die Prozessualität findet ihren Ausdruck im jeweils individuellen Urteil des Rezipienten, zu dem auch dann ermuntert wird, wenn Forster Forschungsmeinungen kontrastiert. Nachdem unterschiedliche Ansichten über die Existenz eines um den Südpol gelagerten Landes wiedergegeben wurden, kann Forster sich des Urteils enthalten: „Ich lasse den Leser für sich urtheilen.“434 Der Akt des Lesens wiederholt auf Rezeptionsseite analog den Prozeß des Erkenntnisgewinns durch Beobachtung. Dabei erweitert die Neusituierung im individuellen Rezeptionsakt die Komplexität der Erstbeobachtung. An Sparrmanns Reisebericht lobt Forster, daß er „jeden Leser durch die ungeschminkte Aufstellung der Begebenheiten an den Platz des Beobachters treten läßt, wo er sich alles genau so, als sähe er es selbst, nach seinem eignen Empfindungsvermögen vormahlen und entwickeln kann.“435 Sparrmanns Werk trage auf diesem Weg zur Vorurteilsbekämpfung bei.436 Für Forster steht die Selbstaktivität des Lesers im Zentrum. Sie genießt Präferenz vor der didaktischen Vermittlung erreichten Wissens. Die dem Beobachtungsmodell entsprechende Multipolarität erhält die Dignität eines Darstellungsziels. Denn durch sie wird der Rezipient zum aufklärerischen Selberdenken animiert. Er wolle „den Leser [...] zum Selbstdenken [...] erwecken“.437 Ein solches

432

Vgl. ebd., S. 316: „Der Kampf des unvernünftigen Vorurtheils mit aufgeblasenem Halbwissen bringt überall der wahren Bildung der Nationen mehr Schaden als Gewinn, und hält die Menschheit vom Ziele ihrer Vervollkommnung entfernt.“ Vgl. zu Mendelssohn Godel: „Eine unendliche Menge dunkeler Vorstellungen“, S. 565ff. 433 Forster: Ansichten, S. 116. 434 Forster: Reise, S. 951. 435 Georg Forster: [Zu: Andreas Sparrmanns Reise nach dem Vorgebirge der guten Hoffnung] Vorrede des Herausgebers, in: AA 5, 129–139, hier S. 137. 436 Forster spielt hier in erster Linie auf den Vorurteilstypus der praeiudicia auctoritatis an. Vgl. ebd., S. 137f. Beim Blick auf Sparrmanns Text bestätigt sich der Enthusiasmus von Forsters Vorrede kaum. Methodisch kapituliert Sparrmann vor der Darstellung seiner empirischen Wahrnehmung: „Die Abwechslung und Mannichfaltigkeit merkwürdiger Gegenstände, Länder, Naturgüter, Völker und sonderbaren Sitten ist zu groß, als daß ich sie hier in wenig Worte einschließen könnte.“ (Andreas Sparrmann: Reise nach dem Vorgebirge der guten Hoffnung, den südlichen Polarländern und um die Welt, hauptsächlich aber in den Ländern der Hottentotten und Kaffern in den Jahren 1772 bis 1776. Aus dem Schwed. frey übs. von Christian Heinrich Groskund. Berlin 1784, S. 87.) Auch die für Forster entscheidende kritische Reflexion der eigenen Urteile fehlt bei Sparrmann weitgehend. Vgl. ebd., S. 91ff. 437 Forster: Cook, S. 187.

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Selbstdenken muß auch historisch veränderliche Bedeutungen erst hervorbringen.438 Diese Selbstaktivität des Rezipienten sieht sich denselben anthropologiebasierten Prämissen konfrontiert wie die Primärbeobachtung und Darstellung. Auch die Rezeption zielt auf eine ganzheitliche Aktivierung vielfältiger Wahrnehmungs- und Urteilsprozesse, die mit der Vermischung von Rationalem und Emotionalem ein Gleichgewicht zwischen der menschlichen Sinnes- und Reflexionsstruktur erzeugen und einseitige Urteile vermeiden helfen. Wird die Subjektivität des jeweiligen Gesichtspunkts in der Darstellung offengelegt, so kann der Rezipient „sich alles wahrer [...] versinnlichen“.439 Doch führt auch eine solche Selbstaktivität nicht zu sicherer Wahrheit im Erkennen und Urteilen, sondern sie befördert lediglich die Möglichkeit zur Hypothesenbildung. Es ist dem Rezipienten nun möglich, „mit ihnen gleichsam in Gedanken zu reisen und durch die Farbe des Glases hindurch, welche jedem Verfasser seine eigenthümliche Ansicht verlieh, den wahren Charakter der Einwohner und die wirkliche Beschaffenheit des Landes zu errathen.“440 Für Forster beinhaltet Selbstaufklärung die Einleitung eines rekursiven, selbstbezogenen Prozesses, durch den eigene Vorurteile und die anderer einer skeptischen Prüfung unterzogen werden. Forster stellt die eigene Erkenntnis über den Umweg der methodisch reflektierten Fremdwahrnehmung in Frage. Doch bedeutet diese Selbstaufklärung keine individualistische Selbstfindung. Sie bietet vielmehr eine Möglichkeit, durch einen reflektiert-programmatischen Prozeß Aufschluß über die Reichweite der Erkenntnis und damit letztlich Wissen zu erhalten.441 Die individuelle Selbstaufklärung kommt so der Gesamtheit zugute. Aufklärung ist kein instrumentalisierbar-technizistischer Prozeß, sondern ein integrativ-reflexives Modell von Individualität und Allgemeinheit.442 Forster transformiert den Vorurteilsdiskurs zu einem Programm empirischer Anthropologie, das diesem eine normative Regulation beigibt und so nicht in den Verdacht gerät, liberalistische Entnormierung zu betreiben. Diese Form des Vorurteilsdiskurses reagiert auf die anthropologiebasierte Verunsicherung und sucht dennoch, das Bedürfnis nach normativer Eindeutigkeit zu befriedigen. Das Modell 438 439

Vgl. Fischer: Reisen als Erfahrungskunst, S. 77, 239. Georg Forster: [Rezension von:] […] Sammlung merkwürdiger Reisen in das Innere von Afrika. Gesammlet und hg. Ernst Wilhelm Cuhn […], in: AA 11, 278–280, hier S. 279. 440 Forster: [Zu: Des Abbé Rochon Reise], S. 625. (Hervorh. R. G.) 441 Ewert kritisiert an Fischer zurecht, Forsters Bewußtsein subjektiver Brechung und perspektivischer Gebundenheit von Realitätserfahrung gehe nicht in einer „Selbstfindung“ auf. Vgl. Michael Ewert: Rezension von: Fischer, Rotraut: Reisen als Erfahrungskunst. Georg Forsters ‚Ansichten vom Niederrhein‘: die ‚Wahrheit‘ in den ‚Bildern des Wirklichen‘. Frankfurt/M. 1990 […], in: Das Argument 33,1 (1991), 118–119, hier S. 119. Vgl. zur „Selbstfindung“ Fischer: Reisen als Erfahrungskunst, S. 267, vgl. auch Thomas Strack: Zur kulturellen Dimension individueller Fremderfahrung. Georg Forsters ‚Reise um die Welt‘ als Kommentar zum kognitivkommunikativen Potential des Reiseberichts, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 114,2 (1995), 161–181, hier S. 166, S. 180f. 442 Vgl. Garber: Hauptbestimmungen, S. 213.

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allerdings wird wenig rezipiert, wohl nicht zuletzt deswegen, weil die zeitgenössische (und auch die spätere) Rezeption Forsters unter der Zuspitzung auf den politischen Revolutionär litt. Schon Christoph Martin Wieland kritisiert in seiner Rezension von Forsters Reise um die Welt die Verallgemeinerung europäischer Sollgeltungen. Damit legt er den Finger in die normative Wunde von Forsters Modell der Vorurteilskritik. Das prekäre Gleichgewicht zwischen Normierung und normenfreier Beobachtung wird zum Gegenstand der kritischen Metareflexion. Wieland referiert Forsters Anspruch, eine „Philosophische Geschichte der Reise, frey von Vorurtheil und gemeinen Trugschlüßen“ zu schreiben.443 Doch wendet er ein: „Es scheint nicht, daß dieser Plan und diese Absicht [...] in ihrem ganzen Umfang und in der Vollkommenheit, die man sich gedacht, ausgeführt worden sey.“444 Wieland bezieht damit das von Forster entworfene Modell selbst in sein eigenes dialektisches Verständnis des aufklärerischen Progresses ein. Indem Wieland eine kritische Gegenposition bezieht, mahnt er an, auch das Modell selbst einer öffentlichen Überprüfung zu unterziehen. Daß Wieland europäisches Fehlverhalten auf der Reise anprangert, steht als pars pro toto für die selbstreflexive Überprüfung des Programms insgesamt, als Hinweis auf die modale Perspektive des Aufklärungsprozesses bei Wieland wie bei Forster.445 Daß die Prozessualität der Selbstaufklärung zum Thema wurde, mußte in Forsters Interesse liegen. Wenn die Selbstreflexivität auf das Verfahren ausgeweitet würde, bestand aber auch die Gefahr, das sorgfältig austarierte Gleichgewicht von Norm und Selbstreflexion aus der Balance zu werfen. Forster muß daher auf Wieland kritisch antworten – und zwar, indem er ihm vorwirft, die bewahrende Regulationsnorm des Vorurteilsdiskurses anzugreifen: Wieland wolle „die Moralität der Entdeckungsreisen überhaupt verdächtig machen.“446 Die Ebene der Norm bleibt bei Forster der Selbstreflexion des Vorurteilsdiskurses noch entzogen.

5.4 Individuell-relativierte Empirisierung. Ein methodisches Plädoyer für vorsichtige Urteile Der anthropologische Interdiskurs wird für den Vorurteilsdiskurs zusehends zum Fundus für Formationsregeln, die die Ebene der Normativität in den Diskurs inte443

Christoph Martin Wieland: Auszüge aus Hrn. D. Johann Reinhold Forsters [...] Reise um die Welt, während den Jahren 1772–1775. beschrieben, und ins Teutsche übersezt von dessen Sohn, Hrn. Georg Forster, [...], in: Der Teutsche Merkur. 1778. 3.Vierteljahr, 59–75, hier S. 60. 444 Ebd. 445 Vgl. Christoph Martin Wieland: Auszüge aus Forsters Reise um die Welt, in: Der Teutsche Merkur. 1778. 4.Vierteljahr, 137–155. In Hinblick auf die Wahrnehmung europäischen Fehlverhaltens zeichnet sich Forsters Vorgehen zeitgenössisch eher positiv aus. 446 Forster: Cook, S. 265.

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grieren. Wie bei Forster Beobachtungsmodelle die Frage der Darstellbarkeit des Beobachteten und der getroffenen Urteile mit der anthropologiebasierten Unabschließbarkeit des Urteilsprozesses verbinden, so basieren auch Georg Christoph Lichtenbergs Beiträge zum Vorurteilsdiskurs auf der Anthropologisierung. Deren Akzent liegt allerdings stärker auf der individuellen Empirisierung. Sie verbindet die Transformierung des Vorurteilsdiskurses mit subjektiven Entscheidungen für ein aufklärerisches Vorgehen. Lichtenberg modalisiert, wenn er das Vorurteilsproblem thematisiert, den Diskurs, indem er ein Erkenntnismodell konstruiert, das den methodischen Prozeß der Erkenntnisgewinnung vorzeichnet.447 Das Problem der Normativität des Vorurteilsdiskurses sucht Lichtenberg zu lösen, indem er Normen einführt, mithilfe derer man das Verfahren, nicht das Ergebnis beurteilen kann. Dies gelingt nur auf der Grundlage einer umfassenden Anthropologisierung, die sich von der Begriffsdiskussion fast vollständig ablöst. Lichtenberg kennt zwar offenbar verschiedene Vorurteilsbegriffe (und neigt auch zur Anlehnung an die Federsche Bestimmung), doch bleibt deren Relevanz marginal. Das Erkenntnismodell Lichtenbergs wendet sich von philosophisch-logischen Systematisierungen ab, soweit sie doktrinären Charakter (im Sinne Foucaults) tragen, soweit sie also zur unreflektierten Ausbreitung tendieren. Doch damit negiert er nicht grundsätzlich die Möglichkeit von Ordnung und Systembildung.448 Diese systematische (und zugleich unsystematisierte) Vorurteilstheorie verbleibt bei Lichtenberg nicht auf der Ebene theoretischer Proklamation. Urteilsprozesse werden dem Rezipienten überantwortet. Individuell unterschiedliche Empirisierung verbindet sich mit einem Modell aufklärerischen Fortschritts, das diesen an die Aktivierung selbstreflexiver Prozesse bindet: Aufklärung durch Behutsamkeit. Oberflächlich betrachtet könnte man zwischen Lichtenbergs Position in den Sudelbüchern, in denen er sich anschickt, Vorurteile aus grundlegenden Erwägungen heraus zu rehabilitieren,449 und der Verteidigung der Vorurteilsdestruktion im 447

Neumann unterscheidet in Lichtenbergs immanenter Gnoseologie zwischen Erkenntnislage, Erkenntnisverfahren und Erkenntnismodell. Der Begriff Erkenntnismodell beschreibt dabei Lichtenbergs Versuch, aus dem Gegeneinander verschiedener Ordnungssysteme ein System höherer Ordnung zu entwickeln. Vgl. Gerhard Neumann: Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe. München 1976, S. 164. Inhaltlich stimme ich Neumann zu, zeige aber, daß die von Neumann charakterisierte Trias auf ein anthropologiebasiertes Urteils- und Erkenntnismodell zuläuft, das integrativen, nicht separativen Charakter hat. 448 Zimmermanns These, Lichtenberg weise die Frage nach einem intersubjektiv gültigen Standort zugunsten der Anerkennung einer irreduziblen Vielfalt individueller Standorte zurück, schätzt m.E. den Naturwissenschaftler Lichtenberg gegenüber dem Aphoristiker zu gering. Vgl. Jörg Zimmermann: Georg Christoph Lichtenberg – Psychologiekritik und Existenzreflexion, in: ders. (Hg.): Lichtenberg. Streifzüge der Phantasie. Hamburg 1988, 233–249, hier S. 241. Dagegen auch John McCarthy: Lichtenberg as Poststructuralist, in: Charlotte M. Craig (Hg.): Lichtenberg. Essays Commemorating the 250th Anniversary of his Birth. New York / San Francisco / Bern u.a. 1992, 1–10, hier S. 7. 449 Vgl. Lichtenberg: Sudelbücher. I, F 871, S. 584 und F 259, S. 498.

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praktischen Anwendungsfall, etwa in der Auseinandersetzung um Lavaters Physiognomische Fragmente,450 einen kaum erklärbaren Widerspruch ausmachen. Doch würde eine solche kontrastive Sicht die de facto komplexeren Regulationsformen des Vorurteilsdiskurses auf die Ebene der Begriffsbestimmung reduzieren: Für Lichtenberg gilt einerseits empirische Prüfung ohne bewußtes Vorurteil als Teil seines Vorgehens.451 Andererseits aber müßten in manchen Fällen gar aus anthropologischen Gründen falsche Hypothesen vorgezogen werden.452 5.4.1 Individuelle Erkenntnis im dynamischen Prozeß der Aufklärung: Das Modell G. Ch. Lichtenbergs Lichtenberg entwickelt eine Vorurteilstheorie, die in ein individuell-empirisierendes Erkenntnismodell überführt wird. Sie zeigt sich der Problematik bewußt, die die Vorurteilsdiskussion seit der Jahrhundertmitte bestimmte: die Diskrepanz zwischen der anthropologiebasierten Entnormierung des Vorurteilsdiskurses und der Notwendigkeit, diesen durch normative Regeln konsistent zu halten. Neumann identifiziert die Komplexität der Anthropologie zutreffend in Lichtenbergs Sicht als Grundbedingung jeder Entscheidungssituation.453 Anthropologiebasiert vermittelt konstituiert sich bei Lichtenberg ein Zusammenhang von Erkenntnisform, Erfahrungskomponenten und Stilform.454 Lichtenbergs Vorurteilstheorie ist eine Beobachtungs- und Urteilstheorie. Sie schließt eine metareflexive Ebene der Selbstaufklärung ein, die auf modalen Voraussetzungen beruht.455 Lichtenberg nennt zwei Kriterien, die an Erkenntnis- und Urteilsprozesse angelegt werden sollten. Urteile sollten behutsam getroffen werden, und sie sollten skeptisch überprüft werden. Damit konstruiert er eine normative Metaebene seiner Erkenntnistheorie, die Differenzierungsfähigkeit an modale Prämissen bindet. Ausdrücklich fordert er dazu auf, Langsamkeit und das Bemühen um Unterscheidung zu Charakteristika des Urteilens (etwa über gelesene Bücher) zu machen: Man lese nicht viel und nur das Beste, langsam, und befrage sich alle Schritte, warum glaube ich dieses? folgt es aus meinem übrigen Gedanken-System, oder ist es nur aus Trägheit zur

450

Vgl. Georg Christoph Lichtenberg: Über Physiognomik; wider die Physiognomen. Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis, in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 256–295, hier S. 286, 272, 274, 276 et passim. 451 Vgl. Franz H. Mautner: Lichtenberg. Bildnis seines Geistes, in: Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher. Hg. F. H. M. Frankfurt/M. 1984, 539–601, hier S. 544. 452 Vgl. Lichtenberg: Sudelbücher. I, J 278, S. 694. Hinweis bei Gert Sautermeister: Georg Christoph Lichtenberg. München 1993, S. 139f. 453 Vgl. Neumann: Ideenparadiese, S. 106f. 454 Vgl. Sautermeister: Lichtenberg, S. 58. 455 Neumann bemerkt einen Zwiespalt zwischen der Situierung einer Reflexion in der jeweiligen Erkenntnissituation und dem Reflektieren der Situation. Vgl. Neumann: Ideenparadiese, S. 91.

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Untersuchung durch Vorurteil, fides implicita und dergleichen daran angeplackt worden, [...].456

Lichtenberg empfiehlt hier, den Urteilsprozeß zu verzögern, indem die Verarbeitungsgeschwindigkeit durch einen selbstbestimmten Akt reduziert wird. Die Komplexität der Urteilssituation wird entzerrt, wenn sich die zeitliche Beobachtungsachse in die analytische Summierung einzelner, jeweils immer wieder überprüfter Beobachtungspunkte auflöst. Dieses Verfahren wendet er auch auf seinen eigenen Produktionsprozeß an: „Aber ehe ich weiter schreibe, so muß ich eine Frage an mich selbst tun. Wo habe ich diese Gedanken her, die ich hier schreibe?“457 Der Fortgang der Reflexion wird unterbrochen, um der Metareflexion Raum zu bieten. Dieser Vorgang, der den Stillstand des primären Reflexionsprozesses zugunsten der Dynamik des metareflexiven beinhaltet, geht davon aus, daß das Individuum frei entscheiden kann, ob es den Urteilsprozeß unterbricht. Vorurteile tragen dazu bei, daß sich ungeprüfte mit wahren Meinungen so verknüpfen, daß deren Zerstörung erschwert wird: „hat sich einmal ein solcher Klumpe angehängt und man fängt an darauf zu bauen, so reißt öfters alles ab und dann wird eine Menge guter Sachen zuweilen unbrauchbar [...]“.458 Lichtenberg proklamiert keinen material-wahren Vorurteilsbegriff, der Vorurteile an Wahrheit bindet. „Klumpe“ meint hier Urteile, die aufgrund von Vorurteilen zum ‚Gedankensystem‘ gerechnet werden. Vorurteile führen zu ungeprüften Annahmen; sie bieten Regeln für heuristische Hypothesen.459 Ähnlich wirkt auch blinder Glaube, also das ungeprüfte Übernehmen von Ansichten anderer. Ohne den Vorurteilsbegriff explizit zu bestimmen, werden dessen Wirkungen mit ungeprüften Annahmen analog gesetzt: Beide tragen zu den Erwartungen bei, die das Nachdenken und Urteilen bestimmen.460 Gegen solche Vorurteile hilft bewußte Urteilsenthaltung, wie Lichtenberg am Beispiel der ‚Geschichte der menschlichen Irrtümer‘ demonstriert. Wer diese studiert habe, „der weiß, wie oft der Weiseste bei Erklärung der Erscheinungen in der Natur die Hand auf den Mund legen muß.“461 Diese methodische „Behutsamkeit“,462 die als Unterbrechung des kausalen Weiterschließens und 456

Lichtenberg: Sudelbücher. I, B 285, S. 120. Vgl. auch Mendelssohn: „Der Beobachtungsgeist erfordert kaltblütige Bedachtsamkeit, allenfalls mäßige Wärme, wenn er verfeinert werden soll.“ (Moses Mendelssohn: Zufällige Gedanken über die Harmonie der inneren und äußeren Schönheit, in: Mendelssohn. JubA 3,1, 321–328, hier S. 328), ders.: Ueber einige Einwürfe gegen die Physiognomik, und vorzüglich gegen die von Herrn Lavater behauptete Harmonie zwischen Schönheit und Tugend, in: Mendelssohn. JubA 3,1, 329–332. 457 Lichtenberg: Sudelbücher. I, B 321, S. 130. 458 Ebd., B 285, S. 120. 459 Vgl. auch ebd., F 871, S. 584. 460 Vgl. auch Günther Patzig: Über den Philosophen Lichtenberg [1974], in: Text und Kritik. H. 114: Georg Christoph Lichtenberg. April 1992, 23–26, hier S. 24. 461 Lichtenberg: Sudelbücher. I, C 178, S. 190. 462 Lichtenberg: Über Physiognomik, S. 257. Vgl. auch ders.: [Dritte Epistel an Tobias Göbhard] Conrad Photorin an Tobias Göbhard; des letztern Einleitung zu einer mendelssohnischen und Noten zu einer lavaterischen Abhandlung in den stürmischen Monaten des Deutschen Muse-

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Überprüfung des Bisherigen konkretisiert wird, erfordert einen ständigen Wechsel von Reflexions- und Metareflexionsebene. Auf diesen Voraussetzungen aufbauend, kann die Metareflexion als skeptische Reflexion ihrer Modalität selbst charakterisiert werden. Den skeptischen Zweifel versteht Lichtenberg als Kontrollinstrument der Bewertung von Urteilsprozessen. Programmatisch formuliert er eine Absage an die methodischen Kurzschlüsse der Physiognomisten: Nimm dich in acht, Voreiliger, der Beifall unserer Zeit ist verdächtig; [...] wäge einmal die Stimmen für und wider dich, die du bisher bloß gezählt hast, und bei jedem Schluß, den du ziehst, frage dich wenigstens einmal ehe du ihn niederschreibst: Ist dieses nicht vielleicht ein Gaßner der mich betrügt?463

Lichtenberg plädiert für eine Temporalisierung des Urteils, dafür, Urteile aus qualitativen, nicht aus quantitativen empirischen Größen zu fällen. Das Zustandekommen der Urteile solle vor ihrer Veröffentlichung skeptisch geprüft werden. Der ständige skeptische Zweifel ist für Lichtenberg konstitutiv für die Metaebene der Reflexion. Er verbietet jeglichen Reduktionismus im Urteilen: „Alles beim Menschen auf einfache Prinzipien zurückbringen wollen, heißt doch am Ende, dünkt mich, voraussetzen, daß es ein solches Principium geben müsse und wie beweist man dies?“464 Der methodische Zweifel gilt für Lichtenberg als Bestandteil der modalen Ebene des Erkenntnisprozesses. Ein solcher Zweifel auf der Metaebene hat zur Folge, daß Gewißheit auf Wahrscheinlichkeit reduziert wird. Dies eröffnet den Raum für neue Entdeckungen: „Wer die Geschichte der Philosophie und Naturlehre betrachten will, wird finden, daß die größten Entdeckungen von Leuten sind gemacht worden, die das für bloß wahrscheinlich hielten, was andere für gewiß ausgegeben haben; [...]“.465 Eine Vorstellung kann nie als unumstößlich wahr gelten, weil die anthropologiebasierte und naturwissenschaftlichempirisierende Komplexität einen metareflexiven Zweifel erfordert, der den Erkenntnisprozeß immer wieder überprüft und ihn gerade dadurch vorantreibt. Lichtenberg rezipiert den anthropologiebasierten Diskurs. Skepsis wird gleichsam sensualistisch angewöhnt: „Selbst unsere häufigen Irrtümer haben den Nutzen, daß sie uns am Ende gewöhnen glauben, alles könne anders sein, als wir es uns ums betreffend, in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 539–550, hier S. 548 und ders.: Wider Physiognostik. Eine Apologie von G. C. L., in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 553–562, hier S. 548. Diese Stelle ging mit leichten Varianten immer wieder in die vielfältigen Fassungen von Lichtenbergs Essays zum Physiognomik-Streit ein. 463 Lichtenberg: Über Physiognomik, S. 263. Lichtenberg spielt auf den Exorzisten und Wunderheiler Johann Joseph Gaßner an, der im übrigen zu Lavaters Bekannten zählte. Über den konkreten Fall hinaus bezeichnet Lichtenberg hier die Möglichkeit eines Betrugs durch einen nicht-vernünftigen Aberglauben. 464 Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher. II, in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 2. Sudelbücher II. Hg. Wolfgang Promies. München / Wien 1971, L 981, S. 538. 465 Lichtenberg: Sudelbücher. II, H 15, S. 179.

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vorstellen.“466 Das skeptische Gedankenexperiment, das alles in Frage stellt, wird durch die Erkenntnis häufigen Irrtums erlernt. Auch formal beinhaltet der skeptische Zweifel keineswegs nur eine Aktivität der oberen Erkenntnisvermögen: Denn Vernunftschlüsse sind nicht der Königsweg zur Wahrheit, sie können „leicht betrüglich sein“.467 Überzeugungen entstehen aus vernünftigen wie aus unvernünftigen Schlüssen. Auch auf der Ebene des primären Erkenntnisprozesses (also der Erkenntnisproduktion, nicht der der Reflexion der Erkenntnisprodukte) greift diese sensualisierende Anthropologisierung.468 Das Verständnis des ‚ganzen‘ Menschen bildet auch bei Lichtenberg den Fundus anthropologiebasierter Argumente. Lichtenberg zitiert den Spectator zustimmend: „The whole man must move together“. Im Unterschied zur moral weekly individualisiert und dynamisiert er den Gedanken: „alles muß einen einzigen Endzweck im Menschen haben.“469 Die Ganzheit des Menschen ist für Lichtenberg keine statische anthropologische Einsicht, sondern sie bedeutet, daß alles Handeln und Erkennen dynamisch auf den ganzen Menschen zielen solle. Zur grundlegenden anthropologiebasierten Argumentationsfigur wird bei Lichtenberg die individuelle Empirisierung. Individualität sei eine naturgemäße Gegebenheit: „Die Natur schafft keine genera und species, sie schafft individua [...]“.470 Dieser natürlichen Voraussetzung korrespondiert die Fähigkeit des Menschen zu individueller empirischer Beobachtung, die sich nicht an generalisierenden Vorschriften orientiert: „Die meisten Menschen sind bessere Beobachter, als sie glauben und kennen den Menschen besser, als sie wissen, es sind nur die falsch

466 467 468

Lichtenberg: Sudelbücher. I, J 942, S. 785. Ebd., C 332, S. 219. Von der Forschung ist verschiedentlich bereits auf erkenntnisrelativierende Argumente bei Lichtenberg hingewiesen worden. Gray arbeitet Kontext-Gebundenheit, Flüchtigkeit, Veränderbarkeit und Historizität aller referentiellen Bedeutung bei Lichtenberg heraus. Vgl. Richard Gray: Sign and Sein. The Physiognomikstreit and the Dispute over the Semiotic Constitution of Bourgeois Individuality, in: DVjs 66 (1992), 300–332, hier S. 322. Ammermann benennt Empirisierung, Perfektibilität als Entwicklung eines bestimmten kulturellen Niveaus, Historisierung und Variabilität, Natur und Eigenverantwortung des Menschen als zentrale Elemente von Lichtenbergs Anthropologie, ohne hieraus erkenntnistheoretische Konsequenzen abzuleiten. Vgl. Ammermann: Gemeines Leben, S. 64ff. Gockel benennt Kames, Reimarus, Kant und Hartley als Quellen der Lichtenbergschen Einsicht in die Relativität der Erkenntnis. Vgl. Heinz Gockel: Individualisiertes Sprechen. Lichtenbergs Bemerkungen im Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Sprachkritik. Berlin / New York 1973, S. 36f., 39, 47, 50f., 53f. Niekerk erhebt den Anspruch, Lichtenbergs Erkenntnistheorie aus seiner Anthropologie heraus zu erklären, geht dabei aber, da er die einschlägige Forschung vernachlässigt, von einem historisch unvollständigen Anthropologieverständnis aus. Vgl. Carl Niekerk: Zwischen Naturgeschichte und Anthropologie. Lichtenberg im Kontext der Spätaufklärung. Tübingen 2005. 469 Lichtenberg: Sudelbücher. I, B 31, S. 56. Im Spectator steht wörtlich: „I lay it down therefore for a rule, that the whole man is to move together; that every action of any importance, is to have a prospect of public good; [...]“. (The Spectator 1 (1710). Carefully corrected. Edinburgh 1760, No. 6, S. 32.) In der Gottschedschen Übersetzung fehlt die Stelle; vgl. Der Zuschauer. Aus dem Engländischen übs. 1.Th. Leipzig 21750, S. 29. 470 Lichtenberg: Sudelbücher. I, A 17, S. 13. Vgl. Gockel: Individualisiertes Sprechen, S. 19ff.

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verstandenen Vorschriften anderer, die sie irre führen.“471 Lichtenberg erwartet vom Rezipienten individuelle Beobachtung und Selbstreflexion.472 Empirische Beobachtung ist indes kein geradliniger Prozeß, sondern sie interpoliert zwischen verschiedenen Perspektiven und Beobachtungsverfahren.473 Vergrößerung und Verkleinerung, Scharfsinn und Witz ergänzen sich. Damit erhält die empirische Beobachtung eine dynamische Komponente, die zur Multipolarität der Empirisierung (als Argumentationsstrategie) hinführt. Empirie bezieht sich allerdings nicht auf den Gegenstand an sich, sondern nur auf den Eindruck, den dieser macht. „Wohin wir sehen, so sehen wir bloß uns.“474 Hier konstatiert Lichtenberg selbst seine Übereinstimmung mit Kants Prämissen der Kritik der reinen Vernunft, doch erweitert er dessen Erkenntnis um eine psychologische Relationierung: „Die Dinge außer uns sind nichts anderes als wir sie sehen, für uns wenigstens nicht, denn wir können bloß Relationen bemerken, weil die beobachtende Substanz ja beständig in das Mittel tritt.“475 Im Alltag wird angenommen, daß die Dinge unserer Wahrnehmung entsprechen, obwohl wir wissen (könnten), daß sie durch die Wahrnehmung vermittelt sind und anders sein könnten, als wir sie wahrnehmen. Lichtenberg verbindet nicht nur die empirische Wahrnehmung mit einer sensualisierenden Relativierung der Wahrnehmungsresultate, sondern er stellt auch auf der selbstreflexiven Ebene die skeptische Frage, welche pragmatische Relevanz dieser Unterschied von Wissen und Wahrnehmung habe: „Wie gelangen wir zum dem Begriff des: außer uns? Warum glauben wir nicht, alles sei in uns, und gehe in uns vor?“476 Der Grund hierfür liegt für Lichtenberg in

471

Georg Christoph Lichtenberg: Vorschlag zu einem Orbis pictus für deutsche dramatische Schriftsteller, Romanen-Dichter und Schauspieler. Nebst einigen Beiträgen dazu, von G. C. L., in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 377–394, hier S. 382. Für den Schauspieler ist daher auch die Individualisierung von Charakteren die höchste Kunst, die durch empirische Beobachtung erlernt werden kann. Vgl. auch Georg Christoph Lichtenberg: Orbis pictus. Erste Fortsetzung, in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 395–405, hier S. 395. Den Gedanken einer auf empirischer Beobachtung basierenden Anleitung für Schauspieler greift Engel auf. Vgl. Johann Jakob Engel: Ideen zu einer Mimik, in: J. J. Engels Schriften. Bd. 7. Mimik. 1.Th. Berlin 1804. 472 Vgl. Gockel: Individualisiertes Sprechen, S. 10. Gockel nennt die Konsequenzen dieser Haltung allerdings in philosophischer Hinsicht „idealistische Denkauffassung“ (ebd.). 473 Neumann bezieht diese Prämisse auf Lichtenbergs „Denken auf der Grenze“ und subsumiert sie unter dem Prinzip der Umkehrung. Vgl. Neumann: Ideenparadiese, S. 102, 119f. 474 Lichtenberg: Sudelbücher. I, J 569, S. 737. Wahrnehmung produziert Vorstellungen: „Wir nehmen Dinge wahr vermöge unsrer Sinnlichkeit. Aber was wir wahrnehmen sind nicht die Dinge selbst, das Auge schafft das Licht und das Ohr die Töne. Sie sind außer uns nichts.“ (Ebd., J 1168, S. 818) Vgl. auch Lichtenberg: Sudelbücher. II, H 151, S. 200. 475 Lichtenberg: Sudelbücher. I, J 681, S. 751. Lichtenberg ist sich der Traditionalität dieses Subjektivismus durchaus bewußt; vgl. ebd., F 639, S. 548. Obwohl Kant und Lichtenberg die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens stellen, kann Lichtenberg kaum zum Kantianer gemacht werden. Vgl. dagegen Armin Hermann: Das wissenschaftliche Weltbild Lichtenbergs, in: Aufklärung über Lichtenberg. Mit Beiträgen von Helmut Heißenbüttel, Armin Hermann, Wolfgang Promies u.a. Göttingen 1974, 44–59, hier S. 49. 476 Lichtenberg: Sudelbücher. II, J 1532, S. 283.

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einer psychischen Konditionierung: „Wir sind unsrer Natur nach genötigt von gewissen Gegenständen unsrer Empfindung zu sagen, sie befänden sich außer uns, wir können nicht anders.“477 Lichtenberg stellt nicht nur fest, daß Subjektivität in der Perzeption unvermeidbar sei, sondern auch, daß die Verdrängung dieser Subjektivität eine psychische Reaktion sei, die Weltbewältigung erlaubt. Folgerichtig zielt die Beobachtung jedes einzelnen für Lichtenberg nicht auf eine systematische Erkenntnis der Wahrheit, sondern in erster Linie auf eine handlungsanleitende Praxis. Diese soll „Ähnlichkeiten“ aussuchen und „als individua“ ansehen,478 mithin die anthropologiebasierte Relativierung von Erkenntnisgewißheit ernst nehmen und umsetzen. Die pragmatische Umsetzung, die aktive Teilnahme am öffentlichen Diskurs über Wahrheit und Irrtum, macht den mündigen Menschen aus: Ich heiße eine Seele majorenn, nicht wenn der ihr zugegebene Leib sich dreimal die Woche rasieren läßt, sondern die mit einer bescheidenen Überzeugung, daß sie nun die Welt auch aus ihrem Standpunkt mit ihren Augen sehen und mit ihren Händen greifen könne, im Rat der Menschen über Wahrheit und Irrtum Sitz und Stimme nehmen kann.479

In dieser Sentenz verbinden sich die Aspekte der Behutsamkeit, der psychischen Konditionierung und die aktive, praktische Teilnahme an der Diskussion. Im Zentrum steht das pragmatische Wirken und das Wissen um die eigenen Fähigkeiten. Da das „System von Triebfedern unsrer Handlungen“ indes unergründlich ist,480 kann der Rat, den Lichtenberg allzu eifrigen Anhängern der Naturhistorie gibt, verallgemeinert und zu einem Hinweis auf die Selbsterkenntnis eigener Fähigkeiten und Möglichkeiten umgedeutet werden: „bleibe hier und baue deinen Acker, er erfordert deinen ganzen Fleiß, [...]“.481 Lichtenberg zitiert hier nur leicht variierend die Schlußwendung aus Voltaires Candide – „mais il faut cultiver notre jardin“ –, die die Notwendigkeit und das Sinnstiftungsvermögen produktiver Arbeit betont.482

477

Lichtenberg: Sudelbücher. I, L 277, S. 892f. Im selben Aphorismus notiert sich Lichtenberg sowohl die Nähe zu Kant als auch seine Absicht, hierüber den „Theätet“ zu lesen. Promies löst im Kommentar auf, gemeint sei Dietrich Tiedemann: Theätet oder über das menschliche Wissen, ein Beitrag zur Vernunft-Kritik, Frankfurt/M. 1794. Vgl. Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Kommentar zu Bd. I und Bd. II von Wolfgang Promies. München / Wien 1992, S. 800. Da aber auch schon Platons Theätet die Problematik von Wahrnehmen und Erkennen thematisiert und Lichtenberg einige Dialoge Platons kannte, wie die Sudelbücher und die publizierten Schriften ausweisen, kann m.E. nicht ausgeschlossen werden, daß Lichtenberg hier eine Platon-Lektüre intendiert. 478 Vgl. ebd., A 17, S. 13 und B 22, S. 53. 479 Georg Christoph Lichtenberg: Dienbare Betrachtungen für junge Gelehrte in Deutschland, hauptsächlich auf Universitäten, in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 508–514, hier S. 512. 480 Lichtenberg: Sudelbücher. I, F 348, S. 509. 481 Ebd., F 262, S. 498. 482 Vgl. Voltaire: Candide ou l’optimisme. Édition critique par René Pomeau, in: ders.: Les Œuvres completes de Voltaire. The complete works of Voltaire. Bd. 48. Oxford 1980, S. 260. Vgl. hierzu Thoma: Philosophie – Anthropologie – Erzählen, S. 58ff.

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Praktisches Wirken ersetzt nicht den Prozeß der Erkenntnis im Sinne individueller Empirisierung. Lichtenberg entwirft ein integratives Modell von naturwissenschaftlichem und natürlichem Wissen, das auf eigene Erfahrungen vertraut: „Aus jeder Wissenschaft, die man studiert, sollte man vorher schon etwas auf die Art gelernt haben, die man dem eigentlichen Studieren immer entgegen setzt, durch eigene Erfahrung.“483 Lichtenberg führt hier ein empirisches Äquivalent zu Reimarus’ vernunftorientierter „natürlicher Weltweisheit“ ein, um, ähnlich wie dieser, verschiedene Stufen der Erkenntnis zu unterscheiden.484 Komplementär zur individuellen Empirisierung nutzt Lichtenberg auch, allerdings seltener, die Argumentationsfigur der kulturellen Empirisierung. Die Position der Beobachtungsgegenstände im Raum der Kultur kann, so Lichtenberg, „auf allerlei Stufen der Vollkommenheit“ der temporalen Position analog gesetzt werden.485 Die empirisierende Relativierung der Erkenntnisgewißheit – die allerdings, daran sei noch einmal erinnert, den metareflexiven Prozessen der skeptischen Überprüfung und des behutsamen Urteilens unterliegt – verbindet sich bei Lichtenberg mit sensualisierenden Strategien, die die innerpsychischen Konsequenzen für den Vorurteilsdiskurs beschreiben. Denn die Begehrungsvermögen bestimmen menschliches Handeln und Denken: „Der Mensch denkt aus Trieb, und wer weiß nicht wie schwer es ist einen Trieb zu unterdrücken.“486 Krüger hatte schon um die Jahrhundertmitte Gewohnheit, mithin ein weniger spezifisches nicht-rationales Handlungsmuster, als Ursache auch des Denkens eingeführt.487 Lichtenberg kannte nachweislich wenigstens Krügers Naturlehre und dessen Träume.488 Der Gedanke könnte auch der Rezeption des englisch-schottischen Empirismus zu verdanken sein (auch Hume bestimmt „customs“ als Ursache einer Aufmerksamkeitslenkung, die der Reflexion vorangeht)489 oder dessen Vermittlung und Variation durch seinen Göttinger Kollegen Johann Georg Heinrich Feder.490 Gewöhnung an das Denken kann indes nicht nur positive Folgen zeitigen. Denn Trieb und Gewohnheit könnten auch dazu führen, daß der Wissensdurstige den leichteren Weg wählt, statt eigenständig zu suchen.491 Da die Zeit stetig voranschreitet, ist das praeiudicium antiquitatis kein beständiges Argument. Denn die Qualität von Gründen kann sich im Zeitverlauf ändern: „Dieses haben unsere Vorfahren aus gutem Grunde so geordnet, und wir stellen es aus gutem Grunde nun wieder ab.“492 Auch althergebrachte Regelungen unterliegen dem modalen Verfah483 484 485 486 487 488 489 490 491 492

Lichtenberg: Dienbare Betrachtungen, S. 512. Vgl. Reimarus: Vernunftlehre. 1. Aufl., S. 4f. Vgl. Lichtenberg: Sudelbücher. I, D 280, S. 276. Ebd., B 308, S. 126. S.o. S. 110. Vgl. Lichtenberg: Sudelbücher. II, KA 79, S. 52, KA 81, S. 53, KA 192, S. 70. Vgl. Hume: Treatise, S. 197. Vgl. u.a. Feder: Grundriß, S. 237f. Vgl. Lichtenberg: Vorschlag zu einem Orbis pictus, S. 378. Lichtenberg: Sudelbücher. I, C 234, S. 203.

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ren der Aufklärung. Unüberlegte Hochachtung ist nicht angebracht.493 Lichtenberg intendiert eine prozessuale, eigenständige und selbstreflexive Aufklärung, die anthropologiebasierte Argumente nicht theoretisch beiseite schiebt, sondern sie pragmatisch nutzt. Eine rationale Kontrolle auch des Denkens selbst (auf Metaebene) erscheint nicht möglich: „Wir denken früh genug aber wir wissen nicht daß wir denken, so wenig als wir wissen daß wir wachsen oder verdauen, [...]“.494 Denken ist ein natürlicher Vorgang, der selbst nicht immer bewußt gemacht wird. Das Steuerungsinstrument der Ratio erweist sich als überfordert. Als nicht-bewußter Prozeß kann sie demnach nicht isoliert werden: Eine reine Vernunft existiert nicht, denn dann würden die Gedanken einen „anderen Gang“ gehen als sie es tatsächlich tun.495 Sensualistisch kann die denkende Vernunft vollständig entpersonalisiert werden, da sie sich rationaler Steuerung versagt: „Es denkt [...]“.496 Angesichts dieser Herabstufung der Vernunft erscheint es plausibel, sensualistisch fundierten Vorurteilen eine positive Funktion im Erkenntnisprozeß zuzuschreiben. Lichtenberg zitiert Feder: „Es können die Vorurteile, sagt Feder, zuweilen vernünftige Vermutungs-Regeln sein.“497 Vorurteile werden zu Anleitungen für eine Erkenntnis, die auf anderem Weg nicht oder nur schwer erlangt werden könnte.498 Innerhalb einer pragmatischen Gnoseologie erhalten Gewohnheit und (frühkindliche) Vorurteile einen positiven innerpsychischen und einen erkenntnispraktischen Wert. Die Skizzierung als „vernünftige Vermutungs-Regeln“ meint hier eine praktische Vernunft, die zum (erkennenden) Handeln ermächtigt. Denn es ist nicht ausgemacht, daß die Ratio zu wahreren Resultaten gelangt, wenn sie nicht von Innerpsychischem bestimmt ist: „Sollte wohl die Vernunft, oder vielleicht besser der Verstand, wenn er auf Endursachen gerät, besser daran sein als wenn er auf ein Diktat des Herzens gerät.“499 Die Angleichung rationaler und vorurteiliger Erkenntnis verbleibt innerhalb des prozessualen und individualisierten Erkenntnisprozesses und unterliegt dessen Prämissen: „ich sehe [...] die Unerlaubtheit des Verfahrens nicht ein einen Teil des Publici, das keiner deutlichen Begriffe fähig ist, wo man ohne dieselben irren kann wenigstens in der Anwendung seiner dunkeln behutsam zu machen.“500 Der Vorbe493 494 495

Vgl. ebd., D 369, S. 287. Lichtenberg: Sudelbücher. I, A 130, S. 38. Vgl. ebd., F 727, S. 560. Noch vor Kants Kritik der reinen Vernunft – der Eintrag kann auf November / Dezember 1777 datiert werden – mißt Lichtenberg die Idee einer reinen Vernunft an deren empirischer Möglichkeit. Vgl. zur Datierung: Lichtenberg: Schriften und Briefe. Kommentar zu Bd. I/II, S. 391. 496 Lichtenberg: Sudelbücher. II, K 76, S. 412. Weiter: „Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis.“ 497 Lichtenberg: Sudelbücher. I, F 871, S. 584. Vgl. Feder: Logik und Metaphysik (5.Aufl.), S. 185. 498 Vgl. auch Lichtenberg: Sudelbücher. I, F 259, S. 498. 499 Lichtenberg: Sudelbücher. II, L 878, S. 516. 500 Lichtenberg: Sudelbücher. I, F 941, S. 594.

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halt, „behutsam“ zu urteilen, dominiert hier den Vorzug klarer (und wahrer) Erkenntnis vor der dunklen. Lichtenberg akzentuiert den modalen Zugang, die Dynamisierung des Erkenntnisprozesses und die normative Steuerung durch eine verfahrensbezogene Verlangsamung auch für den Bereich irrationaler Prozesse. Während sozialpragmatische Formen der Rehabilitierung des Vorurteils (wie etwa bei Georg Friedrich Meier) die unzureichende, dunkle Erkenntnis der Mehrzahl der Bevölkerung in den Blick nahmen und daraus den Schluß zogen, daß die öffentliche Ruhe und Ordnung normativ einem unsicheren Erkenntnisfortschritt vorzuziehen sei, fordert Lichtenberg unabhängig von der sozialen Struktur für jedes Individuum die Möglichkeit, die Methode des Erkennens zu erlernen. In Lichtenbergs Transformierung des Vorurteilsdiskurses zu einem modal-diskursiven, der die metareflexive Ebene des Erkenntnisprozesses zum entscheidenden Kriterium macht, zeigt sich aufklärerischer Sprengstoff. Denn die Aktualisierung der Norm obliegt nun, wenn die Methode entscheidend ist, dem Individuum: „Wenn man die Menschen lehrt wie sie denken sollen und nicht ewig hin, was sie denken sollen: so wird auch dem Mißverständnis vorgebeugt.“501 Auf dieser Ebene erleichtern Vorurteile Erkenntnisprozesse. „Die Vorurteile sind so zu reden die Kunsttriebe der Menschen, sie tun dadurch vieles, das ihnen zu schwer werden würde bis zum Entschluß durchzudenken, ohne alle Mühe.“502 Mit dem Begriff der „Kunsttriebe“ spielt Lichtenberg auf Reimarus’ Vermögenskonzept an. „Kunsttriebe“ ermöglichen es nach Reimarus Tieren (wie in gewissem Maß auch Menschen), „die besondern Mittel zu ihrer und ihres Geschlechtes Erhaltung und Wohlfahrt, mit einer regelmäßigen Fertigkeit anzuwenden.“503 Die Befähigung zu willkürlichen Handlungen, die der Orientierung in der Lebenswelt dienen, werde durch eine Art tierischer „Rationalität“ gesteuert.504 Pragmatischer Erkenntnisgewinn kann für Lichtenberg auf solche Vermögen zurückgreifen. Isoliert bringen sie allerdings stärkere Überzeugungen hervor als dann, wenn sie von der Vernunft gedeutet werden.505 Sensual verstärktes Erkennen ist vielfältig, darum aber oft wertvoller als einseitig-rationales: „Unser Geist übersieht die Sache dunkel von allen Seiten, welches oft mehr wert ist, als eine deutliche Vorstellung von einer einzigen.“506 Dabei hat die pragmatisch-sensuale Erkenntnis, der Lichtenberg den Primat vor der theoretisch-rationalen zuerkennt, nicht vollkommene Wahrheit zur Folge, wohl aber „eine immer wachsam anschauende Erkenntnis von der Wahrheit

501 502 503

Ebd., F 441, S. 520. Ebd., A 58, S. 23. Hermann Samuel Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe. Zum Erkenntniß des Zusammenhanges der Welt, des Schöpfers und unser selbst. Hamburg 31773, S. 95. 504 Vgl. zur Unterscheidung von „Affectentrieben“ ebd., S. 71. 505 Vgl. auch Lichtenberg: Sudelbücher. I, F 684, S. 554. 506 Ebd., D 273, S. 275. Vgl. Neumann: Ideenparadiese, S. 222, 226.

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nützlicher allgemeiner Sätze.“507 Für Lichtenbergs pragmatische Erkenntnis- und Urteilstheorie ist das sinnliche Urteil entscheidend, das vom vorurteiligen Urteil und dem Urteil aus Gefälligkeit unterschieden werden muß.508 Lichtenbergs Vorrang der Modalität bezieht sich auch auf diese Form des Urteilens. Denn Vorurteile, Gewohnheiten und Traditionen bewertet er nicht a priori. Auch hier gilt im jeweiligen Fall und im jeweiligen Gebiet die modale Funktion als entscheidend. So ist in der Menschenkenntnis Halbwissen schädlich, da es ungerechte Urteile über andere Menschen verfestigt;509 Gewohnheit schadet, wenn sie falsche Urteile präjudiziert, indem sie nicht den modalen Prämissen der Urteilsbildung unterworfen wird. Sinnlich-empirische Wahrnehmung ist nicht grundsätzlich fehlerhaft, sondern nur dann, wenn Behutsamkeit und Skepsis zugunsten von Voreiligkeit und unkritischer Akklamation vernachlässigt werden.510 Problematisch ist es immer, wenn eine metareflexive Ebene fehlt, durch die man erst zu validen Urteilen gelangen kann. Mit empirisierenden und sensualisierenden Argumenten verbindet Lichtenberg auch naturalisierende Argumentationsfiguren. Die empirische Beobachtung, vom Naturwissenschaftler Lichtenberg zum Ausgangspunkt der Erkenntnisprozesse erhoben, wird durch die Komplexität der Umstände der dynamischen Natur erschwert. „Die Welt ist ein allen Menschen gemeiner Körper, Veränderungen in ihr bringen Veränderung in der Seele aller Menschen vor die just diesem Teil zugekehrt sind.“511 Die inhaltlich anthropologische These des influxus corporis wird hier auf den Zusammenhang des Menschen mit der Natur ausgedehnt. Eine solche Analogisierung erweist sich indes selbst als Erkenntnisprinzip: „Ohne Witz wäre eigentlich der Mensch gar nichts, denn Ähnlichkeit in den Umständen ist ja alles was uns zur wissenschaftlichen Erkenntnis bringt, wir können ja bloß nach Ähnlichkeiten ordnen und behalten.“512 Die natürliche Umwelt, deren Wirkung auf den jeweils einzelnen Menschen Lichtenberg zu zeichnen sucht, erweist sich in ihrer komplexen Kausalität wie in ihrer nicht aufzuhaltenden Dynamik als Erkenntnisobjekt, das die individuelle Erkenntnis tendenziell überschreitet.513 Die Dynamik des Natur-Systems selbst wird in der Beobachtungssituation zusätzlich durch den sozialen Wandel überla507

Lichtenberg: Sudelbücher. I, F 56, S. 469. Lichtenberg setzt den „common sense“, „bon sens“ oder „Menschen-Verstand“ empirischer Provenienz mit dem sensualistisch konzipierten Mittel menschlicher Erkenntnisprozesse gleich. 508 Vgl. ebd., F 584, S. 540. 509 Vgl. Lichtenberg: Sudelbücher. I, J 1160, S. 816. 510 Vgl. ebd., L 572, S. 929, F 321, S. 505, F 1127, S. 621. 511 Ebd., A 124, S. 36. 512 Ebd., J 959, S. 788. Scharfsinn und Einfallsreichtum paaren sich im Witz. Vgl. Sautermeister: Lichtenberg, S. 39. 513 Kausale Zusammenhänge sind aufgrund ihrer weiten Verzweigung nicht überschaubar: „Hätte ich zu Vardöhus einen Kirschkern in die See geworfen, so hätte der Tropfen Seewasser den Myn Heer am Kap von der Nase wischt nicht gnau an dem Ort gesessen.“ (Lichtenberg: Sudelbücher. I, D 55, S. 239.)

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gert: „Ich habe mir so oft gewünscht, daß ich ein Fleckgen finden könnte, wo ich sicher vor dem Schwanken der Mode, der Gewohnheit und aller Vorurteile einmal die eigene Bewegung dieses verwickelten Systems beobachten könnte.“514 Der komplexen Dynamik der den Menschen bestimmenden und in seiner Erkenntnis behindernden Umstände können allerdings intrapsychische und darum anthropologisch grundlegende Optionen entgegengestellt werden: „Habe Mut zu denken, nehme Besitz von deiner Stelle!“515 1768 bereits konkretisiert Lichtenberg das „sapere aude“, indem er es verräumlicht und der dynamischen Komplexität kontrastiert. Der Akt der Inbesitznahme der eigenen, individuellen Stelle spielt indes nicht nur auf die Stillstellung der Beobachterposition an, sondern auch auf die Diskussion um das Haben oder Besitzen von Wissen, die auf Platons Theätet zurückgeführt werden kann.516 Wissen ist noch nicht Wahrheit. Es gehört zu deren erkenntnistheoretischen Voraussetzungen. Trotz der Komplexität der Natur und der modalen Maßnahmen, die zu ihrer Bewältigung notwendig sind, bildet ihre Erforschung einen elementaren Bestandteil anthropologischer Kenntnis. Kenntnis der Natur ist, da der Mensch deren Teil ist, Bedingung für die Kenntnis der menschlichen Psyche.517 Die Psychologie bedarf eines empirischen Fundus. Ohne daß Lichtenberg dies hier ausführt, ist de facto die Umkehrung der von Wolff stammenden Hierarchie psychologischer Disziplinen vollzogen. Zur „Naturgeschichte vom menschlichen Herzen“ zählen für Lichtenberg auch historische Schilderungen der Taten großer Männer.518 Dies zielt auf anthropologische Kernerkenntnis, auf die „gnaue Verbindung unserer Gesinnungen mit unsern Handlungen, und dieser letzteren mit unsern Begebenheiten“.519 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der (Natur-) Geschichte wirkt vorteilhaft auf die innerpsychische Konstitution: „Die Besserung des Herzens, die Erweiterung der Menschen-Kenntnis, die Aufklärung der Aussichten in das Künftige, die Zuversicht bei guten Handlungen, alles dieses können wir hier lernen, kurz, die einzige wahre Theorie des menschlichen Lebens.“520 Argumentiert Lichtenberg naturalisierend, so schließt dies in einer zirkulären Bewegung sowohl Aspekte anthropologiebasierter Komplexität ein, die auf die Unerreichbarkeit der Wahrheit

514 515

Lichtenberg: Sudelbücher. I, B 321, S. 129. Ebd., S. 130. Obwohl diese Sentenz den literarischen Charakter einer Figurenrede trägt (sie ist vermutlich Teil eines Publikationsplanes Lichtenbergs), kann sie m.E. in die Analyse des Erkenntnismodells Lichtenbergs integriert werden. 516 Vgl. Platon: Theätet. Griech. / dt. Übs. und hg. Ekkehard Martens. Stuttgart 2003, 197b ff., S. 181ff. 517 Vgl. Lichtenberg: Sudelbücher. I, F 34, S. 464. 518 Vgl. Lichtenberg: Von den Charakteren in der Geschichte, S. 497. 519 Ebd. 520 Ebd., S. 498.

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abheben, als auch Aspekte inhaltlich-anthropologischer Nutzanwendung des gewonnenen Wissens. Natur ist Problem und Verheißung in einem.521 Der systemische Ort der (eher seltenen) sozialisierenden Argumente korrespondiert mit dem der naturalisierenden. „Den jetzigen Menschen kann man sich als aus zween zusammengesetzt vorstellen, dem natürlichen Menschen und dem künstlichen, wovon der eine nach den ewigen Gesetzen der Natur und der andere nach den veränderlichen des Costume sich ändert.“522 Dieses bipolare Modell erweitert sich in prospektiver Historisierung zu einem dreistufigen: „Der Mensch als NaturProdukt; als Produkt seines Geschlechtes (der Gesellschaft); das Produkt seiner selbst, der gebildete, gesittete, wissende Mensch.“523 Naturalisierung und Sozialisierung wirken bei der Prägung des Menschen zusammen. Sie bilden die Vorstufen zur selbstbewußten Aufklärung. Lichtenbergs Beitrag zum Vorurteilsdiskurs beschränkt sich also nicht auf die Alternative Rehabilitierung oder Kritik. Er überschreitet die begriffsbasierten Varianten, indem er den Vorurteilsdiskurs in einen modalen Erkenntnis- und Urteilsprozeß transformiert. Auf Begriffsebene kann „Vorurteil“ negativ wie positiv konnotiert sein, doch unterliegt der pragmatische Umgang mit Vorurteilen den Auspizien eines methodischen Zugriffs, der sich im Element der Behutsamkeit herkömmlicher Elemente des Vorurteilsdiskurses bedient, aber auch die Dynamik der Metareflexion einführt. Das Problem, daß Vorurteils- und Urteilsdiskurs einer Norm zu bedürfen scheinen, löst Lichtenberg, indem er ein diskursives Differenzmerkmal benennt, das die regulative Entnormierung mit den Möglichkeiten der Anthropologisierung verbindet. Lichtenberg pragmatisiert nicht den Wahrheitsbegriff (eine solche These verkürzte seinen Ansatz auf einen lebenspraktisch-popularphilosophischen), sondern er ermöglicht es, eine bewußte Abweichung von Wahrheit für Wahrheit zu halten: Der große Kunstgriff kleine Abweichungen von der Wahrheit für die Wahrheit selbst zu halten, [...] ist auch zugleich der Grund unsrer witzigen Gedanken, wo oft das Ganze hinfallen würde, wenn wir die Abweichungen in einer philosophischen Strenge nehmen würden.524

Wäre es nicht ein Anachronismus, man könnte fast versucht sein, diesen ersten Sudelbuch-Eintrag als programmatische Zuspitzung des Lichtenbergschen Vertrauens auf ein methodisches Vorgehen anzunehmen. Lichtenbergs Theorie des Vorurteils zeichnet sich dadurch aus, daß sie Urteilsenthaltung und eine verstetigte Skepsis zu modalen Regeln des diskursiven, abwägenden, empirischen, individua521

Vgl. zur Gleichzeitigkeit scheinbar konträrer, aber systemisch verschmolzener Elemente in Lichtenbergs Natur- und Menschenverständnis Ammermann: Gemeines Leben, S. 69. 522 Lichtenberg: Sudelbücher. I, B 138, S. 83. Vgl. auch Ammermann: Gemeines Leben, S. 80. 523 Lichtenberg: Sudelbücher. I, L 296, S. 896. Der von Zimmermann in diesem Zusammenhang bei Lichtenberg beobachtete Vorbehalt gegenüber jeder Fixierung läßt sich nicht auf die Freiheit des Menschen alleine zurückführen, sondern auf die Kombination verschiedener Faktoren. Vgl. Zimmermann: Lichtenberg – Psychologiekritik, S. 236. 524 Ebd., A 1, S. 9.

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lisierten, methodisch reflektierten Urteilsprozesses macht.525 Lichtenberg plädiert für eine Aufklärung durch Differenzierung. Lichtenbergs Vorurteilstheorie integriert eine Systematisierung, die die Komplexität des Erkennens aus anthropologiebasierten Gründen heraus ernst nimmt, die aber daraus nicht eine (poststrukturalistische) Unmöglichkeit von sicherer Erkenntnis schlechthin schließt, sondern eine methodische Notwendigkeit: daß der Prozeß der Erkenntnisgewinnung nach methodischen Prinzipien Regelhaftigkeit gewinnen sollte.526 Lichtenbergs System anthropologiebasierten Erkennens schließt synthetische Schritte prospektiv mit ein.527 Die Synthese entspricht einer hypothetischen, zukunftsungewissen Vorausdeutung. Lichtenbergs Bereitschaft zu Hypothesen speist sich aus der Notwendigkeit, vorgegebene Ansichten in Frage zu stellen und unbekannten Ursachen oder Möglichkeiten auf die Spur zu kommen. Doch werden Hypothesen methodisch kontrolliert: Sie sind auf Prüfungsinstanzen angewiesen.528 Lichtenberg verschiebt die im Vorurteilsdiskurs gesuchte regulative Norm auf die Ebene des methodologischen Vorgehens. Systematisierung erscheint als anthropologische Notwendigkeit, doch bleibt sie insofern selbst hypothetisch, als sie nicht notwendig mit der Außenwelt übereinstimmt: Wir können nicht anders, wir müssen Ordnung und weise Regierung in der Welt erkennen, dieses folgt aber aus der Einrichtung unsrer Denkkraft. Es ist aber noch keine Folge, daß etwas,

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Der Kurzschluß Rapic‘ besteht darin, anzunehmen, der Aphorismus sei der folgerichtige Ausdruck eines naturwissenschaftlichen Systems, das Fragmentarizität der Erkenntnis proklamieren muß. Mit Lichtenberg wäre zu fragen: Könnte es nicht auch anders sein? Könnten nicht auch andere als systeminterne Faktoren die Verschriftlichung der Methode in Form eines geschlossenen Textes verhindert haben? Vgl. Smail Rapic: „Man muß mit Ideen experimentieren“. Naturwissenschaft und aphoristisches Denken bei Lichtenberg, in: Text und Kritik. H. 114: Georg Christoph Lichtenberg. April 1992, 14–22, hier S. 14. 526 Lichtenbergs differenzierende Aufklärung kann bestenfalls hermeneutisch mit Derridas Aufschieben des Urteils im Spiel der „différance“ verglichen werden, doch erschöpft sich Lichtenbergs dynamisierte Skepsis gegenüber dem Wahrheitswert von Wissenschaft, Philosophie und Technologie nicht in einer Darstellung des Unmöglichen. Vgl. Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt/M. 1976, S. 430, 441 et passim. McCarthy führt Parallelen auf, die Lichtenberg als Poststrukturalisten avant la lettre kennzeichnen könnten. Doch daß Lichtenberg kein strenger Rationalist war, beweist noch nicht, daß er kein Aufklärer war. Vgl. McCarthy: Lichtenberg as Poststructuralist, S. 2f., 7. Topitsch sucht am konstruktivistischen und systemtheoretischen Maßstab die „Modernität der Hermeneutik Lichtenbergs“ nachzuweisen. Vgl. Rainer Topitsch: Die Hermeneutik der Hypochondrie. Lichtenbergs Theorie und Praxis der Beobachtung, in: IASL. 9.Sonderheft: Oliver Jahraus / Bernd Scheffer / Nina Ort (Hg.): Interpretation, Beobachtung, Kommunikation. Avancierte Literatur und Kunst im Rahmen von Konstruktivismus, Dekonstruktivismus und Systemtheorie. Tübingen 1999, 171–198, hier S. 172. 527 Vgl. etwa Lichtenberg: Sudelbücher. I, D 479, S. 303. 528 Vgl. Schöne: Aufklärung aus dem Geist der Experimentalphysik, S. 66f., 70. Schöne nennt nur das Experiment. M.E. kann das methodische Vorgehen insgesamt als Prüfung gelten.

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was wir notwendig denken müssen, auch würklich so ist, denn wir haben ja von der wahren Beschaffenheit der Außenwelt gar keinen Begriff, [...].529

Die Suche nach empirischer Bestätigung und deren Systematisierung verbindet sich bei Lichtenberg mit dem methodisch unterfütterten Bewußtsein, daß empirische Gegenbeweise der so angenommenen Meinungen möglich sind: „Wir sollten uns bemühen Facta kennen zu lernen und keine Meinungen, hingegen diesen Factis eine Stelle in unserm Meinungen-System anweisen.“530 Lichtenbergs Erkenntnis- und Urteilsmodell spiegelt den Prozeß der Aufklärung wider. Die Widerständigkeit von Vorurteilen behindert die Erkenntnis, entschuldigt aber nicht, daß man sich dem Erkennen verweigert. Lichtenberg proklamiert einen dynamischen Prozeß der Aufklärung, der mit unterschiedlichen Wertigkeiten der Erkenntnisvermögen rechnet: „Die Vernunft sieht jetzt über das Reich der dunkeln aber warmen Gefühle so hervor wie die Alpen-Spitzen über die Wolken. Sie sehen die Sonne reiner und deutlicher, aber sie sind kalt und unfruchtbar.“531 Lichtenbergs Aufklärungsmodell erfordert, den Erkenntnis- wie den Darstellungsprozeß zu individualisieren.532 Der einzelne ist dafür verantwortlich, anhand der methodischen Leitlinien Aufklärung als Selbstaufklärung zu betreiben. Eine solche Aufklärung muß demnach individuell unterschiedliche Ergebnisse zeitigen, doch bleibt sie an das Ideal einer pragmatischen Lebensbewältigung gebunden: „Aufklärung in allen Ständen besteht eigentlich in richtigen Begriffen von unsern wesentlichen Bedürfnissen.“533 Hier ist keine soziale Restriktion, sondern eine soziale Erweiterung der Aufklärung intendiert. Aufklärung bezieht sich ohne Unterschied auf alle Stände. Sie bietet Individuen aller Stände die Möglichkeit, zu richtigen Begriffen von dem zu gelangen, was anthropologisch zu den Bedürfnissen gerechnet wird. Daß Lichtenberg diese Bedürfnisse nicht weiter spezifiziert, spricht dafür, daß er auch hier das abstrakte Ziel des Erkenntnisprozesses umreißt, seine inhaltliche Füllung aber der temporal, individuell, kulturell und sozial variierten Aufklärung überläßt. Aufklärung bleibt an das Bewußtsein ihrer methodischen Grenzen gebunden. Dies verdeutlicht auch die von Lichtenberg vorgeschlagene Metaphorik. Aufklärung könne mit dem Zeichen des Feuers markiert werden: „Es gibt Licht und Wärme, es [ist] zum Wachstum und Fortschreiten alles dessen was lebt unentbehrlich, allein – unvorsichtig behandelt brennt es auch und zerstört auch.“534 Die Gefahr ist hier dem Vorgehen inhärent, sie ist sein wesentlicher Bestandteil. 529 530 531 532

Lichtenberg: Sudelbücher. I, J 1021, S. 797. Ebd., D 19, S. 231. Ebd., L 406, S. 911. Vgl. Lichtenberg: Vorschlag zu einem Orbis pictus, S. 381f. Hier spricht Lichtenberg ausdrücklich davon, „alles mehr zu individualisieren“. 533 Lichtenberg: Sudelbücher. I, J 246, S. 688. Lichtenbergs Eintrag stammt vom Januar 1790. Er zitiert hier Fischer: Was ist Aufklärung?, S. 34. 534 Ebd., J 971, S. 790. Vgl. hierzu auch Neumann: Ideenparadiese, S. 134ff.

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Eine so verstandene Aufklärung mit all ihren Gefährdungen ist kein Programm vermittelnder Unparteilichkeit.535 „Alle Unparteilichkeit ist artifiziell. Der Mensch ist immer parteiisch und tut sehr recht daran.“536 Lichtenberg kritisiert einen undifferenzierten Neutralitätswillen. Aufklärung ist ein diskursiver, konfrontativer, angreifbarer und angreifender Prozeß, der auf die Verantwortung des einzelnen auch beim Umgang mit Vorurteilen vertraut. 5.4.2 Lichtenbergs rezeptionsästhetische Transformierung des Vorurteilsdiskurses. Möglichkeiten literarischen Schreibens Der Zusammenhang der Aufklärungsdebatte mit dem Vorurteilsdiskurs konstituiert sich abseits der idealtypischen empirisch-individuellen Transformierung auf der Ebene semantischer Zuweisung. Wer zur „wahren“ Aufklärung gehören will, ist zusehends, schon Mitte der 1770er Jahre, darauf angewiesen, sich zu einer als legitim angesehenen Position auch zur Vorurteilsdebatte zu bekennen.537 Doch gerade dieses „Bekennen“ ist durchaus ambig: Aussageform und deren Inhalt können konfligieren. Bekennt sich ein Autor zu aufklärerischer Vorurteilskritik, so ist damit nicht zwingend verbunden, daß er auch die modalen Strukturen des Vorurteils- und Aufklärungsdiskurses übernimmt, die sich entwickelt hatten. In solchen Fällen sieht sich Lichtenberg gelegentlich zu einer Gegenreaktion herausgefordert, die nicht nur auf die unvollständige Reflexion des Erkenntnisverfahrens abhebt, sondern die auch die semantische Verknüpfung von Aufklärung und eigenem Tun befragt. Lichtenberg erweitert in der Auseinandersetzung um Johann Caspar Lavaters Physiognomische Fragmente sein empirisches Transformationsmodell um einen deutlicheren Bezug auf die aufklärerische Öffentlichkeit. Weil Anspruch und Form bei Lavater divergieren, ist für Lichtenberg eine Transformierung notwendig, die das Rezipientenverhalten zur modalen Reflexion hin steuert.538 535

Hinske zeigt für die Spätaufklärung in Berlin, daß Unparteilichkeit zur Klammeridee der gemeinsamen Aufklärungspraxis wird. Vgl. Norbert Hinske: Öffentlichkeit und Geheimhaltung. Zum Wahrheitsverständnis der deutschen Spätaufklärung, in: Reinhard Bach / Roland Desné / Gerda Haßler (Hg.): Formen der Aufklärung und ihrer Rezeption. Expressions des Lumières et de leur réception. Tübingen 1999, 59–83, hier S. 73ff. Von einer solchen, vermittelnden Position ist Lichtenbergs diskursives Aufklärungsverständnis weit entfernt. 536 Lichtenberg: Sudelbücher. I, F 578, S. 539. 537 Die Debatte um die „wahre Aufklärung“ sieht Schneiders im letzten Viertel des Jahrhunderts beginnen. Vgl. Schneiders: Wahre Aufklärung, S. 20f. 538 Die Physiognomik-Debatte soll hier nur als Zentrum der rezeptionsästhetischen Transformierung von Lichtenbergs Erkenntnismodells analysiert werden. Ihre sozialen, semiotischen, moralischen, theologischen, ökonomischen, öffentlichkeitskonstitutiven Dimensionen werden nicht betrachtet. Zum Zusammenhang der Physiognomik-Debatte mit der verhaltenspraktischen Frage, wie der andere zu erkennen sei, vgl. Berg: Erzählte Menschenkenntnis, S. 90f. Ohage weist darauf hin, daß das Interesse an Physiognomik nicht auf Lavater zurückgehe, sondern vielfältig sei und bereits vor Lavater bestanden habe. Vgl. August Ohage: Von Lessings ‚Wust‘ zu einer Wissenschaftsgeschichte der Physiognomik im 18. Jahrhundert, in: Lessing Yearbook 21 (1989), 55–87, hier S. 55. Vgl. auch Georg Gustav Fuelleborn: Abriss einer Geschichte und

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Lichtenberg reagiert auf Lavaters Versuch, zwei Basiselemente seines eigenen Verständnisses des Vorurteilsdiskurses zu entgrenzen: Lavater wird einerseits kritisiert, weil er die von Lichtenberg behutsam auf die Ebene des metareflexiven methodischen Vorgehens verschobene Normierung auf eine theologisch-moralische Regel verengt, die den Urteilsprozeß wieder inhaltlich limitiert, und andererseits, weil Lavater im individualistischen Geniewesen die methodische Selbstnormierung zur Beliebigkeit entgrenzt. Lichtenberg reagiert nicht aus persönlicher Betroffenheit auf Lavaters Modell,539 das tendenziell Schönheit und Moral parallelisiert, sondern aus grundlegenden gnoseologischen Motiven. Lavaters Abweichung vom individualistisch-empirisierenden, zugleich aber behutsam-skeptischen Erkenntnismodell gefährdete auch das Projekt der Aufklärung. Den Wunsch nach Zugehörigkeit zum Vorurteilsdiskurs signalisieren Lavaters Physiognomische Fragmente schon in den Eingangspassagen, die einschlägige Symbolbegriffe aufrufen.540 Lavater erklärt die Beseitigung der Vorurteile zur Bedingung für eine positive Rezeption seines Werks, behauptet aber gleichzeitig, der Aufwand für ein solches Tun sei zu groß:

Litteratur der Physiognomik, in: ders. (Hg.): Beyträge zur Geschichte der Philosophie. Bd. 3. 8.St. Züllichau / Freystadt 1797, 1–190, zu Lavater S. 172ff., zu Lichtenbergs Kritik S. 181ff. Den Zusammenhang zur Signaturenlehre und Semiotik thematisiert Ursula Geitner: Klartext. Zur Physiognomik Johann Caspar Lavaters, in: Rüdiger Campe / Manfred Schneider (Hg.): Geschichten der Physiognomik: Text, Bild, Wissen. Freiburg 1996, 357–385. Eine Geschichte der Physiognomik unter den Auspizien anthropologiebasierter Argumentationsformen ist noch zu schreiben. Käuser moniert zurecht, man müsse sich auf die historische Theoriesituation einlassen, betont in seiner Untersuchung aber die schulphilosophisch-epistemologische Seite der Anthropologie. Vgl. Andreas Käuser: Physiognomik und Roman im 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M. / Bern / New York u.a. 1989, S. 1f., 5. Bei Kant bildet eine eigentümlich simplifizierte Physiognomik einen Teil seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Vgl. Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 295ff. Vgl. zur vor allem in methodischer Hinsicht expliziter durchgearbeiteten Vorgängerschrift Lavaters, Von der Physiognomik Karl Pestalozzi: Physiognomische Methodik, in: Adrien Finck / Gertrud Gréciano (Hg.): Germanistik aus interkultureller Perspektive. Strasbourg 1988, 137–153; Karl Riha / Carsten Zelle: Nachwort, in: Johann Caspar Lavater: Von der Physiognomik und Hundert Physiognomische Regeln. Mit zahlreichen Abbildungen. Hg. K. R. / C. Z. Frankfurt/M. 1991, 109–145. Zur Rezeption der Lavaterschen Hermeneutik vgl. neuerdings Richard T. Gray: About Face. German Physiognomic Thought From Lavater to Auschwitz. Detroit 2004. 539 Dies wird oft suggeriert, wenn im Zusammenhang mit Lichtenbergs Lavater-Kritik von der körperlichen Behinderung Lichtenbergs berichtet wird. So leider auch die ansonsten vorzügliche Monographie von Promies: „Lichtenbergs Verwahrung gegen Lavaters Physiognomik war im Grunde ein verzweifeltes Plädoyer für sich selbst, den Mißwüchsigen, [...]“. Immerhin setzt Promies den Satz aber fort: „[...] zugleich aber Ausdruck einer wahrhaft aufgeklärten Gesinnung.“ (Promies: Lichtenberg, S. 76.) Vgl. auch Schöne: Aufklärung aus dem Geist der Experimentalphysik, S. 7f. Der Rekurs auf persönliche Betroffenheiten Lichtenbergs als Motivation für seine Lavater-Kritik hilft hier wie in so vielen Fällen kaum, verkürzte er doch die Analyse auf ein apriorisch bekanntes Interpretament, dessen Verbindung zu einer reflektierten Modellbildung nur vermutet werden könnte. Lichtenbergs Erkenntnismodell reicht hin, um seinen Einspruch gegen Lavater zu erklären, seine Behinderung nicht. 540 Vgl. hierzu auch Eva J. Engel: Lavater, Mendelssohn, Lichtenberg, in: dies.: „Gedanck und Empfindung.“ Ausgewählte Schriften. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, 125–140, hier S. 127.

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Vorrede, Oder Fragment einer Vorrede; – denn ein Buch würde die Vorrede werden, wenn ich alles sagen wollte, was sich zur Wegräumung aller Vorurtheile, und zur Warnung vor allen schiefen Gesichtspunkten, aus welchen dieß Werk beurtheilt werden wird, sagen ließe, und was, wenn’s meine Muße erlaubte, um so vieler Schwacher willen gesagt werden sollte.541

Damit stellt Lavater das Buch in den Zusammenhang von Vorurteil und Urteilsbildung, indem er gleichzeitig sein Ideal der Vorurteilsbekämpfung erkennen läßt. Nur „Schwache“ hätten hierzu eine Anleitung notwendig. In nuce ist so bereits in den ersten Sätzen das Genie-Programm des Physiognomisten angelegt. Der Wunsch Lavaters, sich der Aufklärung zuzuordnen, ist erkennbar, nicht aber, daß Lavater aufklärerische Argumentation und Vorgehensweisen faktisch nachvollzieht.542 Bei Lavater offenbart sich die Differenz zwischen einer begriffsbasierten Anthropologie, die das Reservoir der Empfindsamkeit zur Leerformel steigert, und einer verfahrensbezogenen Anthropologisierung, die die Barrieren wahrer Erkenntnis ernst nimmt. Lavater kombiniert das anthropologische Argument der Wendung gegen den Systemgeist mit dem Bekenntnis zu vorurteilskritischer Behutsamkeit, um die Anschlußfähigkeit des eigenen Systems zu sichern: Ich gestehe aufrichtig, daß ich, aus innigster Ueberzeugung und Wahrheitsliebe, es nicht leicht, sondern schwer machen möchte, recht schwer, itzt schon eine Physiognomik zu schreiben; zu schnelle Produkte von Systemen sind von den schädlichsten Folgen.543

Lavaters Versuch, seine Physiognomischen Fragmente dem Aufklärungsdiskurs zuzuordnen, bedient sich rhetorisch nicht zufällig anthropologischer Strategien. Die Proklamierung anthropologiebasierter Methodik signalisiert hier die eigene Zuordnung zur Aufklärung. Explizit sucht Lavater insbesondere in Von der Physiognomik in der anthropologischen Kernfrage des commercium mentis et corporis eine eigenständige, auf Leibniz basierende Position zu entwickeln, die den ganzen Menschen in den Blick nimmt.544 Aufklärerische Urteilsprozesse werden bei Lavater allerdings theologisch, nicht anthropologisch limitiert: „Wer Augen hat zu sehen, der sehe, wen aber das Licht, nahe vors Gesicht gehalten, toll macht, der mag mit der Faust drein schlagen, und sich die Finger daran verbrennen.“545 Hier verbindet sich syntaktisch der biblische Topos der beschränkten Wahrnehmung mit der aufklärerischen Licht-Metapho541

Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Vier Versuche. Leipzig / Winterthur 1775–1778, hier Erster Versuch (1775), unpag. Vorrede. 542 Daß Lavater im Bereich der Signaturenlehre „auf dem Stand der Zeit“ ist, belegt meines Erachtens nicht seine Übereinstimmung mit Zielen und Vorgehen der Aufklärung. Vgl. dagegen Richard T. Gray: Aufklärung und Anti-Aufklärung: Wissenschaftlichkeit und Zeichenbegriff in Lavaters ‚Physiognomik‘, in: Karl Pestalozzi / Horst Weigelt (Hg.): Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar Lavater. Göttingen 1994, 166–178, hier S. 166ff., 176. 543 Lavater: Physiognomische Fragmente. Dritter Versuch (1777), S. 5. 544 Vgl. Pestalozzi: Physiognomische Methodik, S. 138f. 545 Lavater: Physiognomische Fragmente. Erster Versuch, S. 50.

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rik.546 Das Signum der Individualität, die in der ständig bemühten Genie-Metaphorik Lavaters mitschwingt, unterliegt einer statischen Natur, die als gottgegebene, aber unveränderliche erfaß- und begreifbar ist.547 Wahrheit kann demnach für Lavater – abweichend vom anthropologischen Interdiskurs seiner Zeit, aber in Übereinstimmung mit dem theologischen – auf rationalem oder affektivem Weg erreicht werden: „Einer der vornehmsten Zwecke meines Werkes ist, zu beweisen, darzuthun, fühlbar zu machen, daß es eine Physiognomie giebt; daß die Physiognomie Wahrheit, das ist, daß sie wahrer sichtbarer Ausdruck innerer an sich selbst unsichtbarer Eigenschaften ist.“548 Wenn Lavater die grundlegende Wissenschaftlichkeit der Semiotik zu legitimieren versucht, bezieht er sich sowohl auf von Baumgarten ausgehende Argumente als auch (verstärkt in der Vorgängerschrift) auf die zugrundeliegende traditionelle Vorstellung einer medizinischen Semiotik.549 Die semiotische Perspektive impliziert eine grundsätzliche Lesbarkeit der Welt, also die Sicherheit, in der Erkenntnis der (theologisch fundierten) „unmittelbaren Sprache“ zu wahrer Erkenntnis gelangen zu können.550 Lavaters Ausweichen in mathematische oder naturwissenschaftliche Fundierung551 entlarvt sich als Versuch, auch den Physiker Lichtenberg, der sich zwischenzeitlich kritisch zu Wort gemeldet hatte, in den vermeintlich gemeinsamen Diskurs zu integrieren. Doch verkürzt er das naturwissenschaftliche Verfahren Lichtenbergs um die entscheidende Komponente: die der Relativität der Wahrnehmung und des Urteils. Lavater versteht nicht, daß Lichtenberg Kausalität prinzipiell für möglich hält, monokausale Erklärungen aber und daher auch allzu eindeutige Urteile ablehnt.552 Für Lavater wird der Erfahrungsbegriff nicht problematisch: „Laßt uns Erfahrungen den Deklamationen und Thatsachen den Witzeleyen entgegensetzen.“553 Er beruft sich

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„Wer Augen hat zu sehen“ variiert Mt 13,13. Vgl. John P. Heins: „Es ist ja kein Geschriebnes“: The Parody of Lavater’s Physiognomics in Musäus’s „Physiognomische Reisen“, in: Lessing Yearbook 29 (1997), 107–129, hier S. 112. 548 Lavater: Physiognomische Fragmente. Erster Versuch, S. 44. 549 Vgl. ebd., S. 52ff. Vgl. Pestalozzi: Physiognomische Methodik, S. 140. 550 Vgl. Carsten Zelle: Soul Semiology: On Lavater’s Physiognomic Principles, in: Ellis Shookman (Hg.): The faces of physiognomy. Interdisciplinary approaches to Johann Caspar Lavater. Columbia / SC 1993, 40–63, hier S. 51f. Schon in der älteren Physiognomik ist das Problem bekannt, daß die Züge eines Menschen sowohl durch Verstellung als auch durch äußere Einflüsse verändert werden können. Vgl. etwa Johann Jacob Bräuner: Physicalisch- und Historisch-Erörterte Curiositaeten; Oder: Entlarvter Teufflischer Aberglaube von Wechselbälgen, Wehr-Wölffen, Fliegenden Drachen, Galgen-Männlein, [...]. Frankfurt/M. 1737, S. 467f. Dies sucht Lavater zu umgehen, indem er sich auf die unveränderlichen Kennzeichen bezieht. 551 Vgl. Lavater: Physiognomische Fragmente. Vierter Versuch (1778), S. 23, 26. 552 Vgl. Franz H. Mautner: Lichtenberg. Geschichte seines Geistes. Berlin 1968, S. 193f., Smail Rapic: „Die Philosophie, deren Professor zu seyn ich die Ehre habe.“ Zwischen Leibniz, Kant und Popper: Lichtenbergs philosophiegeschichtlicher Ort, in: Georg Christoph Lichtenberg. 1742–1799. Wagnis der Aufklärung. Ausstellungskatalog. Konzipiert von Ulrich Joost. München / Wien 1992, 148–154, hier S. 150. 553 Lavater: Physiognomische Fragmente. Vierter Versuch, S. 9.

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auf die Ernsthaftigkeit seines Vorgehens und auf die Untrüglichkeit empirischer Fakten, um seine Erkenntnispraxis diskursiv zu regeln. Lichtenbergs Essay Über die Physiognomik; wider die Physiognomen trägt zur Transformierung des Vorurteilsdiskurses bei, indem er die Widerlegung Lavaters mit der öffentlichen Darstellung und Vermittlung seines Modells verbindet, das Vorurteilstheorie als anthropologisierte Erkenntnistheorie versteht.554 Lichtenberg formt seine Theorie in eine didaktische Widerlegung um. Im Unterschied zu Vorurteilstheorien akademisch-philosophischer Provenienz steht die Lenkung des Rezipienten hin zu einer affektiv-rational gemischten Akzeptanz des Modells und die Anleitung zu dessen Nachvollzug im Mittelpunkt. Die zentralen Elemente von Lichtenbergs Vorurteilstheorie kehren auch im Essay wieder. Vorurteile erscheinen als voreilige, gewagte Analogien. Als deren Gegenmittel werden „ruhiges Durchschauen“, scharfsichtige Skepsis, das Vermeiden vorzeitiger Systematisierungen, Neugierde auf die Wahrheit, Menschenliebe und Unparteilichkeit angeführt.555 Vorschnelle Schlüsse, die auf einem Erklärungsnotstand beruhen, verstärken das Chaos der Vorurteile: „So wird nichtverstandene Ordnung endlich Unordnung, Wirkung nicht zu erkennender Ursachen Zufall, und wo viel zu sehen ist, sehen wir nichts.“556 Lichtenbergs empirisches Interesse am Menschen bezieht sich auf den je gegenwärtigen Zeitpunkt der Beobachtung.557 Er betont die Standortgebundenheit des Urteils, naturalisierende, sozialisierende und sensualisierende Einflüsse auf den Erkenntnisprozeß und nicht zuletzt auch die unüberschaubare Kausalität von Umweltzusammenhängen.558 Daß Lichtenberg sich öffentlich zu Wort meldet, begründet er nicht mit den inhaltlichen Fehlern von Lavaters Physiognomischen Fragmenten – seine Absicht sei nicht, „ein bekanntes weitläuftiges Werk zu widerlegen“559 –, sondern mit dessen Folgen für den aufklärerischen Diskurs. Er wolle nur „einigen gefährlichen Folgerungen begegnen“:560 „Ich wollte hindern, daß man nicht zu Beförderung von Menschenliebe physiognomisierte, so wie man ehmals zu Beförderung der Liebe Gottes sengte und brennte; [...]“.561 Lichtenberg delegitimiert hier die für Lavater grundlegende theologische Norm, indem er deren Mißbrauch im historischen Rückblick aufzeigt. Er entlarvt den ‚guten Willen‘ Lavaters als ideologisch leere Doktrin. Für Lichtenberg bestehen also die Gefahr der Physiognomik und der Anlaß seiner öffentlichen Stellungnahme darin, daß aufklärerische Methoden an 554 555

Vgl. hierzu auch Berg: Erzählte Menschenkenntnis, S. 140ff. Vgl. Lichtenberg: Über Physiognomik, S. 268, 272, 274, 276, 283. Unparteilichkeit darf jedoch nicht zum fortdauernden Entscheidungshemmnis werden. S.o. S. 298. 556 Ebd., S. 265. 557 Vgl. ebd., S. 271: „Was der Mensch könnte geworden sein, will ich nicht wissen. [...] Sondern ich will wissen was er ist.“ 558 Vgl. ebd., S. 264. 559 Ebd., S. 257. 560 Ebd. 561 Ebd.

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eine nicht befragbare Normativität gebunden werden und sie daher ihren genuinen Charakter verlieren. Er kritisiert mit Lamberts Nomenklatur den Schein-Charakter des Beobachtungsverfahrens.562 Lavaters Verfahren rückt ins Zentrum der Kritik, weil er bloß vorgibt, sich naturwissenschaftlicher Beweisführung zu bedienen, diese aber zu Eindeutigkeit hinführen möchte, indem er sie mit der Wahrheit göttlicher Inspiration verbindet. Lichtenberg wendet sich gegen die Scheinheiligkeit von Lavaters guten Absichten und gegen die Mängel von dessen Erkenntnisverfahren, indem er den Willen und die Fähigkeit Lavaters hierzu in Frage stellt. Im Fokus von Lichtenbergs Kritik steht die öffentliche Verbreitung falscher Beobachtungs- und Schlußverfahren. Zwar sei physiognomisches Interesse schon althergebracht, doch sei es bisher als „Witz“ (also als geistreiche Verknüpfung) und nicht als „bare Philosophie“ beurteilt worden.563 Lichtenberg moniert vor allem die falsche Selbstwahrnehmung der Physiognomen. Ihr flüchtiges Verfahren kann nicht als vollgültiges empirisches gelten, da die von Lichtenberg als unerläßlich betrachtete Metaebene der Selbstreflexion fehlt. Problematisch sind für Lichtenberg demnach drei Aspekte: die unzureichende, vorurteilige Beobachtung selbst, die fehlende Überprüfung der Beobachtung und die fehlende Fähigkeit oder Bereitschaft, sich selbst und das Design der eigenen Urteilsprozesse zu reflektieren. Die Ursache der Konjunktur der Physiognomik in Deutschland liege darin, daß „die Selbstbeobachtung und Kenntnis des Menschen in einem fast schimpflichen Verfall liegt“.564 Dem übersteigerten Sensualismus der „falschen Empfindsamkeit“565 kann nicht einfach eine licht-bringende Aufklärung entgegengestellt werden. Erforderlich ist vielmehr genau jene Fähigkeit zur Differenzierung, die auch das Licht der Aufklärung an dessen Wirkungen mißt.566 Lichtenbergs Essay zielt auf die metareflexive Struktur seiner Theorie der Vorurteils- und Urteilsbildung ab. „Ich wollte Behutsamkeit bei Untersuchung eines Gegenstands lehren, bei welchem Irrtum leichter ist und gefährlicher werden kann, als bei irgend einem andern, Religion ausgenommen; [...].“567 Hier benennt Lichtenberg ausdrücklich die erste Komponente seines Erkenntnismodells: Behutsamkeit, die Verzögerung des Urteils, ist notwendig. Doch demonstriert Lichtenberg Lavater und seinen Adepten nicht, daß sie in ihren Urteilen nicht behutsam gewesen seien und daher falsch lägen. Er fördert vielmehr das methodische Verständnis eines vorsichtigen Vorgehens, das seine Vorurteilstheorie dem Leser sichtbar macht. Dasselbe rezeptionssteuernde Ziel verbindet Lichtenberg mit der 562

Vgl. ebd., S. 259. Lichtenberg stand mit Lambert im Briefkontakt. Anhand von SudelbuchEinträgen ist nachweisbar, daß er Lamberts Neues Organon, in dem dieser Schein und Vorurteil diskutiert, kannte. 563 Vgl. ebd., S. 289. 564 Ebd., S. 269. 565 Vgl. ebd., S. 264. 566 Vgl. ebd., S. 257: Nicht jede Schrift und nicht jedes Gesicht gewinne durch das Licht, wie Lichtenberg hier ironisch, aber durchaus differenzierend anmerkt. 567 Ebd. Vgl. auch Lichtenberg: Wider Physiognostik, S. 564.

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zweiten Komponente seines Modells: „Ich wollte Mißtrauen erwecken gegen jene transzendente Ventriloquenz, wodurch mancher glauben gemacht wird, etwas das auf Erden gesprochen ist, käme vom Himmel; [...]“.568 Die transformierten Rezeptionsziele richten sich auf Mißtrauen und Behutsamkeit als Denkmodi. Bei beiden Zielen geht es Lichtenberg um die Vermittlung der methodologischen Prämissen, nicht um einen „Unterricht“ in einer verbesserten Physiognomik, der nur inhaltliche Fehlschlüsse verbesserte. Statt Lavaters Fehleinschätzungen zu korrigieren, versucht Lichtenberg, fundierte Methoden der Erkenntnis zu vermitteln.569 Er wolle „Beobachtungsgeist aufwecken, zu Selbsterkenntnis führen und den Künsten vorarbeiten.“570 Die hier nun ergänzte ästhetische Zielsetzung verbindet die Physiognomik-Debatte mit Lichtenbergs Anleitungen für Kulturschaffende im Orbis pictus. Aus der Beobachtung der Menschen abstrahiert Lichtenberg hier typische Verhaltensweisen und Gesten.571 Lichtenberg tritt der Verbreitung falscher Schlußverfahren entgegen: „Ich wollte hindern, daß, da grober Aberglaube aus der feineren Welt verbannt ist, sich nicht ein klügelnder an dessen Statt einschliche, der eben durch die Maske der Vernunft, die er trägt, gefährlicher wird, als der grobe.“572 Lichtenberg zielt auf eine rezeptionsbezogene Transformierung der Verfahren des Vorurteilsdiskurses, die den Leser zu eigenen Urteilen ermächtigt. „Ich [...] überlasse dem Leser sich selbst den Faden aufzusuchen, [...]“.573 Aufklärerisch wird der Rezipient, nachdem er über die modalen Erfordernisse an Urteils- und Erkenntnisprozesse belehrt wurde, zur grundsätzlich ergebnisoffenen Selbstaktivität verpflichtet. Lichtenberg wolle es „dem Leser überlassen, sich nach seiner Lage in der Welt, entweder den bequemsten Beweis oder die bequemste Widerlegung dazu selbst aufzusuchen.“574 568 569

Lichtenberg: Über Physiognomik, S. 257. Lavaters Replik auf Lichtenbergs kritische Einwände im vierten Versuch seiner Fragmente argumentiert nicht auf der von Lichtenberg angemahnten Metaebene der Selbstaufklärung. Er führt an, sein empirisches Verfahren sei durch Versuche bestätigt worden und daher nur durch Versuche widerlegbar. Vgl. Lavater: Physiognomische Fragmente. Vierter Versuch, S. 25. Mit eigenen Fehlurteilen geht Lavater, wie der Kasus des mehrfachen Mörders Rüttgerodt zeigt, recht nonchalant um. Vgl. Lavater: Physiognomische Fragmente. 2. Versuch (1776), S. 194. 570 Lichtenberg: Über Physiognomik, S. 264. 571 Ueding betont den Zusammenhang von Lichtenbergs unvollendetem Orbis pictus-Plan mit der Tradition des Comenius. Vgl. Gert Ueding: Lichtenbergs Beredsamkeit aus der Erfahrung, in: ders.: Aufklärung über Rhetorik. Versuche über Beredsamkeit, ihre Theorie und praktische Bewährung. Tübingen 1992, 185–202, hier S. 189f. 572 Lichtenberg: Über Physiognomik, S. 257. Vgl. zur „Maske der Vernunft“ Sautermeister: Lichtenberg, S. 83. 573 Lichtenberg: Über Physiognomik, S. 260. Lichtenberg formuliert dieses Anliegen auch in dem nicht zu Lebzeiten des Autors veröffentlichten Bericht von den über die Abhandlung wider die Physiognomen entstandenen Streitigkeiten, in: Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 563–568, hier S. 566: „Ich will die Leser in den Stand setzen, selbst zu richten.“ Vgl. zur Anregung des Lesers zum selbständigen Urteil auch Sautermeister: Lichtenberg, S. 82. 574 Lichtenberg: Über Physiognomik, S. 289.

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Die textgestaltenden Mittel, die Lichtenberg zur Transformierung des Vorurteilsdiskurses einsetzt, greifen hier auf ein Spektrum eher traditioneller literarischer Verfahren zurück. Lichtenbergs Essay weicht von der aphoristisch-ironischen Stilistik, auf die man den Autor gelegentlich zu reduzieren neigt, ab.575 Angesichts der Relevanz der Modalität des Verfahrens spielen auch didaktischinhaltliche oder kausale Widerlegungen von Lavaters Schlüssen keine große Rolle. Mehrermals betont Lichtenberg die anthropologischen Prämissen seines Verfahrens, ohne die Konsequenzen für physiognomische Schlüsse bis zur Beweisführung zu diskutieren. Lichtenberg akzentuiert insbesondere die naturalisierend begründbaren Grenzen der Erkenntnis: So steht unser Körper zwischen Seele und der übrigen Welt in der Mitte, Spiegel der Wirkungen von beiden; erzählt nicht allein unsere Neigungen und Fähigkeiten, sondern auch die Peitschenschläge des Schicksals, Klima, Krankheit, Nahrung und tausend Ungemach, [...].576

Zusätzlich zu diesen theoretischen Hinweisen auf die Grenzen menschlichen Erkennens bedient sich Lichtenberg des Mittels der ironischen Spiegelung. Schon der Untertitel des Essays, Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis, zitiert in Inversion den Untertitel von Lavaters Physiognomischen Fragmenten. Doch stellt der Skeptiker Lichtenberg, der theologische Glaubenssätze als Normen für Erkenntnisprozesse ablehnt,577 die christlich motivierbare Menschenliebe in den Vordergrund – ein implizierter Vorwurf an Lavater, mit seinem physiognomisch detektivischen Programm nicht zur Menschenliebe beizutragen. Dieser Vorwurf wird im Text des Essays (allerdings in der für die Offenheit des Erkenntnisprozesses charakteristischen Frageform) expliziert: „Denn ob Physiognomik überhaupt, auch in ihrer größten Vollkommenheit, je Menschenliebe befördern werde, ist wenigstens ungewiß: [...]“.578 Auch die Wirkung, die die Aktivitäten von Lavaters Schülern haben könnten, werden ironisch übersteigert. Aufgrund von „Emsigkeit“, „Menge“ und „Mut“ der „Helden und Heldinnen“ sei, wie viele vermuteten, ein Angriff auf die „Zollfreiheit unsrer Gedanken“ und auf die „geheimsten Regungen unsers Herzens“ zu befürchten.579 Indem Lichtenberg ironisch die Zukunft der Physiognomik dem Bau des Turms zu Babel vergleicht,580 spielt er auf das zugrundeliegende semiotische Problem an, das inhaltlich sein Hauptkritikpunkt an 575

Vgl. prototypisch Paul Requadt: Lichtenberg. Zum Problem der deutschen Aphoristik. Hameln [1948]. 576 Lichtenberg: Über Physiognomik, S. 266. 577 Kleisners Behauptung, Lichtenbergs Selbst-Erkenntnis schließe die Transzendenz des Anthropologischen mit ein, konstruiert einen Bezugspunkt im Göttlichen, der für Lichtenbergs Erkenntnismodell widersprüchlich wäre. Vgl. Friederike Kleisner: Körper und Seele bei Georg Christoph Lichtenberg. Würzburg 1998, S. 141, 145. Kleisners (leider auch oberflächlich lektorierte) Dissertation führt eine Reihe von Rezeptionslinien des anthropologischen Diskurses an, ohne deren zeitgenössische Relevanz einzuordnen. 578 Lichtenberg: Über Physiognomik, S. 264. 579 Vgl. ebd., S. 263. 580 Vgl. ebd.

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Lavater ist. Doch artikuliert er auch seine eigene Grundüberzeugung, daß Sprache grundlegend defizitär sei, da sie das Denken stets irreführe: „Die Erfindung der Sprache ist vor der Philosophie hergegangen, und das ist es, was die Philosophie erschwert, zumal wenn man sie andern verständlich machen will, die nicht viel selbst denken.“581 Auch dies liest sich als ironischer Kommentar zu Lavaters übersteigertem Gefühlspathos, das dennoch Erkennbarkeit behauptet. Neben der Ironisierung von Lavaters Verfahren nutzt Lichtenberg vor allem die Demonstration des eigenen Beispiels, um den Rezipienten dazu anzuleiten, methodische Prämissen zu überdenken. Er berichtet, er selbst habe früher „nach einem dunkeln Gefühl“ Gesichter gedeutet und gar in England umfangreiche physiognomische Studien betrieben, doch sei das Resultat all dieser Systematisierungsversuche nur „Mißtrauen gegen alle Physiognomik“.582 Lichtenberg führt einen Urteilsprozeß vor, der seinem eigenen Idealtypus des Erkennens entspricht, der nicht nur empirische Fakten akkumuliert (und nicht, wie Lavater, widersprüchliche Fakten ignoriert), sondern der diesen Prozeß des Sammelns auch über einen langen Beobachtungszeitraum hinweg immer wieder reflektiert. Lichtenberg demonstriert mithin nicht nur pragmatisch andere Erkenntniswege – pathognomische Beobachtung, die Beachtung der „Spuren ehemaliger Handlungen“ –,583 sondern er führt auch das alternative Erkenntnisverfahren vor, das seinem Verständnis des Vorurteilsdiskurses entstammt. Dessen wesentliche Bedingung ist die der skeptischen Metareflexion zu verdankende Fähigkeit zur Differenzierung. Man könnte diese im Titel des Essays programmatisch angedeutet sehen, der die Zuwendung zu einem Thema mit der Ablehnung von deren Vertretern unmittelbar verbindet: Ü b e r Physiognomik; w i d e r die Physiognomen.584 Die differenziertes Denken erfordernde Konfrontation, nicht die harmonisierende Vereinnahmung ist für Lichtenberg der Modus aufklärerischen Progresses: „Sie (die Wahrheit, R. G.) steht nie aufrechter, als wenn sie, dem kräftigen pro gegenüber, von einem kräftigen contra gestützt wird.“585 Lichtenbergs ironisches Sprechen entspricht dem für die Wahrheitsgewinnung elementaren Konfrontationsgestus. Denn der Unterschied zwischen dem wahren Urteil und dem ausgesprochenen, der in Form der „Verteidigung eines an sich schlechten Dinges“ oder der „Lobrede auf einen an sich schlechten Mann“ daherkommt,586 wird zur Aufgabe für den Rezipienten, dem eine Umkehrung der Urteile im selbstaktiven Akt der Metareflexion obliegt. Eine unmittelbare Inversion muß

581

Lichtenberg: Sudelbücher. II, H 151, S. 200. Vgl. hierzu Patzig: Über den Philosophen Lichtenberg, S. 25f. 582 Vgl. Lichtenberg: Über Physiognomik, S. 260ff. Zitat S. 262. 583 Vgl. zur Pathognomik als „Semiotik der Affekten oder [...] Kenntnis der natürlichen Zeichen der Gemütsbewegungen“ ebd., S. 264, 293, zu Wirkungen des Handelns ebd., S. 289. 584 (Hervorh. R. G.) Die Wendung „wider die Physiognomen“ ist ein Zusatz der zweiten Auflage. 585 Lichtenberg: Über Physiognomik. S. 259. 586 Lichtenberg: Sudelbücher. I, B 311, S. 127.

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bei Komödien und Satiren nicht immer das Ergebnis der Rezeption sein, wie Lichtenberg konstatiert. Komödien und Satiren „vergrößern unsern Gesichtskreis, vermehren die Anzahl der festen Punkte aus denen wir uns in allen Vorfällen des Lebens geschwinder orientieren können.“587 Sie bieten also eine verbreiterte empirische Basis für Urteile im praktischen Leben. Ironie und Satire übernehmen Funktionen, die der Transformierung des Vorurteilsdiskurses zugute kommen. Die Vorurteilstheorie kann auf dieser Grundlage in einen eigenständigen Reflexionsvorgang beim Rezipienten übergehen. In Lichtenbergs parodistischem Fragment von Schwänzen lassen sich solche Distanzierungsmerkmale in der Sprachgestalt nachweisen. Formal gleicht Lichtenbergs Sprachstil bis ins Detail hinein Lavaters empfindsamem Gestus. Doch erzeugt Lichtenberg sowohl durch die verdichtende Konzentration als auch durch die inhaltliche Ebenenverschiebung vom „hohen“ Objekt Mensch hin zum „niederen“ der Schweine- und Hundeschwänze Distanz. So wird das Urteil des Lesers zur eigenen Urteilsbildung gelenkt, wobei erneut weniger die Fehlurteile Lavaters im Zentrum stehen (den evidenten Kasus Rüttgerodt ausgenommen)588 als vielmehr die parodistische Übersteigerung des Sprachgestus, mit der Lichtenberg einen unmittelbaren Beitrag zu den Lavaterschen Fragmenten fingiert.589 Der parodistischen Übersteigerung liegt das satirisch-ironische (und zugleich vorurteilstheoretische) Prinzip der Distanzierung zugrunde – sei es, daß dem Träger eines dargestellten Hundeschwanzes ein hymnisches Lob dargebracht wird,590 sei es, daß antikisierende Adjektivbildungen und empfindsam-übersteigernde Adverbialen die Qualität des Gemeinten karikieren,591 sei es, daß „erschlossene“ Eigenschaften eines Hundes unumwunden menschlichen gleichgestellt werden.592 Die Parodie richtet sich darauf, daß der Rezipient Distanzmerkmale zum Anlaß der Selbstaufklärung nimmt. Auch in anderen Beiträgen Lichtenbergs zur Physiognomik-Debatte steht Distanz als Aktivierungspotential für den Rezipienten im Mittelpunkt. Johann Georg Zimmermann hatte Anmerkungen zu Mendelssohns Essay zur Harmonie zwischen Schönheit und Tugend verfaßt, die sowohl Mendelssohns Anliegen vollkommen

587 588

Ebd., D 81, S. 243. Vgl. Georg Christoph Lichtenberg: Fragment von Schwänzen. Ein Beitrag zu den Physiognomischen Fragmenten, in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 533–538, hier S. 537. 589 Dies wird schon im Untertitel Ein Beitrag zu den Physiognomischen Fragmenten deutlich. Lavaters vierbändiges Werk fußt zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auf Beiträgen fremder Autoren. Lichtenberg selbst hatte aus London Zeichnungen eingesendet, wohl ohne die Grundtendenz des Werks vollständig zu überschauen. Vgl. August Ohage: Lichtenberg als Beiträger zu Lavaters „Physiognomischen Fragmenten“, in: Lichtenberg-Jahrbuch 1990, 28– 51, ders: Von Lessings ‚Wust‘, S. 73. 590 Vgl. Lichtenberg: Fragment, S. 537. 591 Vgl. ebd., S. 535: „bitte-wimmernd“, „mutterschweinische Weichmut“. 592 Vgl. ebd., S. 534.

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verkannten als auch Lichtenberg direkt angriffen.593 Lichtenberg sah sich zur Entgegnung veranlaßt. Im Essay Wider Physiognostik behauptet er ironisch, Zimmermanns Text habe eine Reihe negativer stilistischer Eigenschaften nicht: Er besitze nichts von dem, „was man hohle Festlichkeit in der Sprache, KonventionsRhythmus [...] oder heroische expressiones nennen könnte.“594 Er zeichne sich vielmehr durch eine „Gabe von gefälliger, Bostonischer Urbanität“595 aus – ein Lob, das angesichts der nur wenige Jahre zurückliegenden Boston Tea Party leicht zwiespältig klingt. Diese Distanzierung erweitert er in der daran anknüpfenden Dritten Epistel an Tobias Göbhard zur Fiktion, Göbhard, der weithin geringgeschätzte Nachdrucker, sei ganz offenbar der Autor der Vorrede zu Mendelssohns Schrift.596 Zimmermann komme als Autor nicht in Frage. Auch auf gattungsreflexiver Ebene wird die Option, es könne sich bei der Vorrede um eine Satire handeln, anhand einer fingierten Erläuterung der Kennzeichen der Satire ausgeschlossen. Denn in einer Satire müsse der Kritisierte direkt angesprochen werden – und dies sei ja hier nicht der Fall.597 Der Rezipient sieht sich mit einem doppelten Ebenenwechsel konfrontiert: Kann er ernst nehmen, daß der Erzähler (oder Lichtenberg?) Göbhard für den Verfasser der Vorrede hält? Kann er ernst nehmen, was als Satirekennzeichen genannt wird? Wenn er das nicht kann, hat sich dann auch die Satirethese erledigt? Und was bedeutet das für die Autorschaft und die Intention der Vorrede? Das Erzählrelief verursacht eine Verunsicherung des Rezipienten. Die Lesererwartung wird, wenn er den satirischen Modus des Textes selbst erkannt hat, durch die theoretische Erläuterung eines kontrastierenden Prinzips enttäuscht. Der Reflexionsprozeß des Rezipienten befähigt zu eigener Urteilsbildung. Den Hintergrund der Lichtenbergschen Textstrategien bildet hier durchgängig die modale Perspektive des Urteilsprozesses beim Rezipienten. In Johann Karl August Musäus’ Roman Physiognomische Reisen stehen hingegen mehr die Irrigkeit physiognomischer Einschätzungen und die Förderung von Menschenliebe und Menschenkenntnis durch die Physiognomie im Zentrum der ironischen Kritik.598 Musäus kritisiert inhaltliche Aspekte deutlicher als deren methodische Voraussetzungen. Ironisch wird Lavaters Forderung nach physiognomischen Reisen zur

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[Johann Georg Zimmermann:] Ueber einige Einwürfe gegen die Physiognomik, und vorzüglich gegen die von Herrn Lavater behauptete Harmonie zwischen Schönheit und Tugend, in: Deutsches Museum 1 (1778). 3.St., 193–198. 594 Lichtenberg: Wider Physiognostik, S. 553. 595 Ebd. 596 Vgl. Lichtenberg: Dritte Epistel, S. 540. 597 Vgl. ebd., S. 542. 598 Vgl. hierzu Heins: Geschriebnes, S. 109, Geitner: Sprache der Verstellung, S. 268. Wie Carvill zeigt, bildet die Auseinandersetzung mit Lavaters Fragmenten nicht das einzige Ziel von Musäus‘ Kritik. Vgl. Barbara Maria Carvill: Der verführte Leser. Johann Karl Musäus‘ Romane und Romankritiken. New York / Bern / Frankfurt a.M. 1985, S. 152.

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Widerlegung von Lavaters Physiognomik genutzt.599 Physiognomische Urteile laufen im Erzählfortgang auf die dichotomische, doch immer wieder falsche Zuordnung zu moralischen Qualitäten hinaus.600 Im Unterschied zu Lichtenberg aber bleibt das von Musäus vertretene Modell der Charaktererkenntnis insofern statisch, als es nur die Falschheit der Urteile betont, aber keine modale Alternative bietet. Das Subjekt ist nur Objekt des physiognomischen Blicks.601 Der Ich-Erzähler wird im Romanverlauf schrittweise desillusioniert. Die Desillusionierung verwirft dabei auf Erzählebene nicht die Physiognomik insgesamt, sondern sie verändert nur das Urteil des Erzählers über deren Möglichkeiten und Reichweite. Betreibt er sie zu Beginn noch als wissenschaftliche Methode, die eine wahre und sichere Erkenntnis bringen könne, nimmt der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit schließlich ab zugunsten des Vergnügungs am physiognomischen Spiel.602 Die ständige Urteilsrevision auf Erzählerebene, etwa im Urteil über den Bedienten Markus, erschüttert die subjektive Selbstüberzeugung des Erzählers von der Wahrheit des jeweiligen Urteils kaum.603 Es stellt sich heraus, daß Lavaters Physiognomik funktional einem emotionalen Vorurteil entspricht, indem sie dem Subjekt die Fähigkeit zu eigenständigem Urteilen abspricht.604 Den physiognomischen Urteilen Lavaters wie des Protagonisten liegen Vorurteile zugrunde.605 Doch wird durch die ironische Widerlegung Lavaters nicht dessen Charakterkonzept in Frage gestellt. Denn das statische Charaktermodell Lavaters bildet bei Musäus einen wesentlichen Teil des ex negativo erschließbaren Idealverfahrens, das durch Aspekte subjektautonomer Urteilsbildung ergänzt wird.606 Bezieht sich Musäus zustimmend auf Lichtenberg,607 so vollzieht er die modalen Folgen von dessen Transformationsmodell nicht in letzter Konsequenz nach. Auf Erzählebene wird der Leser zur Distanzierung zwar sowohl von Lavater als auch vom Protagonisten angeleitet, aber nicht zum Erlernen modaler Selbstreflexion befähigt.608 Der Roman bleibt letztlich beim Widerspruch zwischen skeptischer Kritik und Geltungsan-

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Vgl. Lavater: Physiognomische Fragmente. Vierter Versuch, S. 134ff. Hierzu Christoph Siegrist: Satirische Physiognomiekritik bei Musäus, Pezzl und Klinger, in: Wolfram Groddeck / Ulrich Stadler (Hg.): Physiognomie und Pathognomie: zur literarischen Darstellung von Individualität. Berlin / New York 1994, 95–112, hier S. 98. 600 Vgl. Musäus: Physiognomische Reisen. Erstes Heft, S. 34f., 36. Der unschuldige Erzähler selbst wird oft aufgrund seiner Physiognomie für einen Verbrecher gehalten. Vgl. ebd., S. 135. 601 Vgl. Heins: Geschriebnes, S. 113. 602 Vgl. Musäus: Physiognomische Reisen. Viertes Heft, S. 298f. 603 Vgl. Musäus: Physiognomische Reisen. Erstes Heft, S. 170ff., 182f. 604 Vgl. Heins: Geschriebnes, S. 115f. 605 Vgl. Musäus: Physiognomische Reisen. Drittes Heft, S. 58. Vgl. Siegrist: Satirische Physiognomiekritik, S. 101f. 606 Vgl. Heins: Geschriebnes, S. 125. 607 Vgl. Musäus: Physiognomische Reisen. Erstes Heft, S. 132, Drittes Heft, S. 120. 608 Heins‘ Hinweis, man könne nicht alle Gegnerpositionen zu Lavater pauschal als „aufklärerisch“ charakterisieren, ist ernst zu nehmen. Vgl. Heins: Geschriebnes, S. 107.

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spruch der Vernunft stehen.609 Musäus’ ironische Kritik an Lavater zielt demnach – um Lichtenbergs Differenzierung aufzugreifen – didaktisch darauf, die Menschen zu lehren, „was sie denken sollen“, nicht „wie sie denken sollen“.610 5.4.3 „Gedankenexperimente“ Die Funktion satirischen Schreibens für den Vorurteilsdiskurs beschränkt sich bei Lichtenberg nicht auf den vorurteilskritischen Impetus, der für Sulzers Definition der Satire zentral ist: Man kann also überhaupt sagen, die Satire [...] sey ein Werk, darin Thorheiten, Laster, Vorurtheile, Mißbräuche und andre der Gesellschaft [...] nachtheilige, in einer verkehrten Art zu denken oder zu empfinden gegründete Dinge, auf eine ernsthafte, oder spöttische Weise, aber mit belustigendem Witz und Laune gerüget, und den Menschen zu ihrer Beschämung, und in der Absicht sie zu bessern, vorgehalten werden.611

Lichtenbergs Streitschrift Timorus befragt kritisch die Motive zweier auf Lavaters Anregung hin getaufter Juden. Hier erklärt der (fingierte) Herausgeber die Befreiung von Vorurteilen zur Grundbedingung unbefangener Rezeption.612 Doch zwingt die satirische Konstruktion des Textes mit ihrer vielfach verbundenen Kombination von Ironiesignalen den Leser ständig zur Überprüfung und Modifizierung seiner Urteile. Denn die Aufforderung, Vorurteile abzulegen, wird in den Eingangspassagen der Satire zwar mit deren Nutzlosigkeit begründet, doch bleibt offen, wie der Rezipient dies bewerkstelligen könnte. Der normative Rahmen moralischer Urteile geht hier nicht verloren, wie es Riedel als charakteristisch für die Gattungsentwicklung der psychologisierten Satire gegen Ende des 18. Jahrhunderts ansieht.613 Die Norm liegt in der dem Leser überantworteten Modalität. Wenn der fiktive Herausgeber in seiner Vorrede dem Erzähler614 beste Absichten unterstellt, so 609

Vgl. Jörg Paulus: Der Enthusiast und sein Schatten. Literarische Schwärmer- und Philisterkritik um 1800. Berlin / New York 1998, S. 83. Der Aufweis der Grenzen individuell-vernünftiger Erkenntnis führt nicht zum Entwurf eines alternativen Erkenntnismodells. Osinski zeigt, daß auch in Musäus‘ Fünfter Legende von Rübezahl die Grenzen rationaler Aufklärung kritisch befragt werden. Vgl. Osinski: Über Vernunft und Wahnsinn, S. 131ff. 610 Vgl. Lichtenberg: Sudelbücher. I, F 441, S. 520. Die bei Musäus intendierte Selbstaktivität des Rezipienten überschätzt Carvill ein wenig. Vgl. Carvill: Der verführte Leser, S. 164f. 611 Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. 4.Th. Leipzig 21794, Art. Satire, S. 130. Vgl. Schalk: Praejudicium, S. 59. 612 Vgl. Georg Christoph Lichtenberg: Timorus, das ist, Verteidigung zweier Israeliten, die durch die Kräftigkeit der Lavaterischen Beweisgründe und der Göttingischen Mettwürste bewogen den wahren Glauben angenommen haben, von Conrad Photorin der Theologie und Belles Lettres Kandidaten, in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 205–236, hier S. 208. Vgl. zum Hintergrund der anmaßenden Aufforderung Lavaters an Mendelssohn, sich taufen zu lassen, auch Promies: Lichtenberg, S. 72f. 613 Vgl. Riedel: Anthropologie und Literatur, S. 140. 614 Hier ist von einem Erzähler zu sprechen und nicht vom Autor, obwohl hinter dem halbgriechischen Pseudonym „Conrad Photorin“ schon Zeitgenossen Lichtenberg erkannten. Zwar be-

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unterliegt schließlich auch dies dem initiierten skeptischen Urteil der Rezipienten. Denn wenn der Herausgeber sich selbst als „Türhüter“ geriert, der den Leser „von der Wahrheit des Gesagten, bei der Ehrlichkeit eines Türhüters versichern“ könne,615 so verwendet er einen Bildbereich, den Lichtenberg auch zur negativen Beschreibung Zimmermanns nutzt, um dessen verfälschende Vorrede zu Mendelssohns Aufsatz zu Schönheit und Tugend zu karikieren.616 Ein „Türhüter“ mag so nicht notwendig eine positive Figur sein. Sein Urteil könnte hier, blickt man auch auf sein Bemühen, den Binnenerzähler zu rechtfertigen, parteiisch erscheinen. Die dezidierten Urteile des Erzählers in Timorus lassen in der ironischen Sprachverwendung eine Distanz zwischen Gesagtem und Gemeintem sichtbar werden, die zur rezeptionsseitigen Korrektur der Urteile im Verlauf des Erzählprozesses ermuntert. Der Erzähler gibt vor, die beiden getauften Juden nicht für Schelme zu halten, er setzt an, Vorwürfe gegen sie zu widerlegen (ohne letztlich überzeugen zu können),617 und das Lob der beiden muß für zeitgenössische Ohren die Umkehrung der Urteile verdeutlichen: England schicke solche Männer wie diese Konvertiten nach den Kolonien, um diese in Flor zu bringen, behauptet der Erzähler.618 Daß England Straftäter in die Kolonien verschickte, war zeitgenössisch bekannt. Moralische Prämissen selbst werden schließlich durch den Erzähler aufzuheben gesucht, um seine Position zu begründen: „Hätte der Jude gefehlt, das ich aber nicht zugebe, so hat er weiter nichts als eine Pflicht gegen seinen Nächsten verabsäumt, das ist alles, aber der andere, der nicht beständig auf seiner Hut ist, verabsäumt eine weit heiligere Pflicht, die Pflicht gegen sich selbst, [...]“.619 Die Textstrategie richtet sich darauf aus, daß sich im Urteil des Rezipienten die Einsicht manifestiert, daß das Erzählerurteil konträr zum Gemeinten steht. Wenn der Erzähler schließlich gar zugesteht, daß der getaufte Jude nach seiner Taufe bei einem anderen, ungetauften Juden etwas „mitgenommen“ habe, dies aber als Ausweis seiner guten Gesinnung ansieht, der die edelmütige Verachtung seiner ehemaligen Glaubensgenossen anzeige, so ist spätestens hier die satirische Konversion erreicht.620 Umständlich sucht Photorin die lauteren moralischen Motive der kannte sich Lichtenberg selbst gegenüber seinem Bruder nicht zur Autorschaft, die methodische Unterscheidung zwischen Erzähler und Autor beruht aber hier darauf, daß in Lichtenbergs Spiel mit Pseudonymen Aspekte der selektiven Rollenzuschreibung durch den Autor (hier: die Rolle eines orthodoxen Theologiestudenten) aktualisiert werden. Vgl. Georg Christoph an Friedrich Christian Lichtenberg am 13.8.1773, in: Georg Christoph Lichtenberg. Briefwechsel. Hg. Ulrich Joost / Albrecht Schöne. Bd. I. 1765–1779. München 1983, Briefnr. 189, S. 346f. 615 Lichtenberg: Timorus, S. 208. 616 Vgl. Lichtenberg: Wider Physiognostik, S. 558: „ohne mich um die polternde aber längst unschädliche Hellebarte des Trabanten zu bekümmern, der sich so ungeschickt als ungebeten vor die Tür gepflanzt hat.“ 617 Vgl. Lichtenberg: Timorus, S. 210f. 618 Vgl. ebd., S. 214. 619 Ebd., S. 215. 620 Vgl. ebd., S. 220. Zu Lichtenbergs Antisemitismus: Daß Lichtenberg in einigen Fällen antisemitische Einstellungen und Vorurteile vorgeworfen werden können, soll nicht bestritten wer-

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‚Bekehrten‘ zu belegen, um dem Verdacht, sie hätten sich aus nicht-theologischen Motiven taufen lassen, entgegenzutreten. Doch nimmt die Argumentation eine erneute Kehrtwendung. Der Erzähler kommt nun doch auf den zunächst für völlig unberechtigt erklärten Vorwurf niedriger Beweggründe zurück: Gesetzt aber auch, das wäre alles nicht gewesen, die Würste sollen ihnen einmal weder die Augen zum Beweis geöffnet, noch auch zum Anlaß gedient haben, ihr Licht leuchten zu lassen, sondern sie sollen schlechtweg dadurch bewogen worden sein, Christen zu werden, ist denn das so etwas gar Entsetzliches?621

Der Rezipient sieht sich aufgefordert, normative Wertungen umzukehren, zumal Photorin noch mit einer ebenso absurden wie weitschweifigen anthropologischen Beweisführung die Notwendigkeit körperlicher Argumente zur Behebung psychischer Beschwerden (als solches gilt die „falsche“ Religion) zu beweisen sucht.622 Schließlich verfällt gar die religiöse Aufklärung schlechthin dem Verdikt des konservativen Theologiekandidaten Photorin. Toleranz, Denkfreiheit und Gleichberechtigung der Juden seien keine alterhergebrachten Traditionen. Zeigt mir, wo haben unsere Vorfahren solche Reden geführt, sie haben sich um ihrer Hände Arbeit bekümmert, aber wenn sie an uns und an die Religion gedachten, da war ihr Wahlspruch: zittere und bete an, und nicht wie jetzt: denke und untersuche, und ich möchte fast hinzusetzen: und fahre zum Teufel.623

Aufklärung erscheint auf der Erzählebene als Destruktion der positiven praeiudicia antiquitatis. Auf Rezeptionsebene kann aus der durch Ironiesignale erzeugten Distanzwahrnehmung die positive Funktion skeptisch-aufklärerischen Denkens erschlossen werden. Bei Lichtenberg schafft nicht nur der Modus des ironischen Sprechens Distanzmerkmale, die die Modalität von Urteilsbildungsprozessen im Rezeptionsvorgang sichtbar machen. Die tentative Umkehrung von Denkrichtungen und Ordnungs-

den. In Timorus stellt sich angesichts der komplexen Ironiesignale indes die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit der Vorurteile. Im hier angeführten Beispiel wird ja das Bestehlen eines Juden keineswegs gerechtfertigt, sondern es wird im ironischen Modus erkennbar, daß es sich um moralisches Fehlverhalten handelt. Daß es ein (getaufter) Jude ist, der diesen Diebstahl begeht, kann als Argument also nicht isoliert werden. Wenn Schäfer anführt, daß die Tatsache, daß Lichtenberg zwei kriminelle Juden zu Protagonisten seiner Satire auf Proselytenmacherei mache, nur seine Affinität zu diesem Stereotyp belege, so übersieht er die kontrastierende Wirkung des ironischen Sprechens. Vgl. Frank Schäfer: Lichtenberg und das Judentum. Göttingen 1998, S. 78. Ohage erkennt hier keinen Antisemitismus; vgl., auch zum Hintergrund der Debatte August Ohage: „Wir sind doch am Ende nichts weiter als eine Secte von Juden.“ Die Kontroverse Lavater, Mendelssohn und Lichtenberg, in: Georg Christoph Lichtenberg. 1742– 1799. Wagnis der Aufklärung. Ausstellungskatalog. Konzipiert von Ulrich Joost. München / Wien 1992, 167–174. 621 Lichtenberg: Timorus, S. 231. 622 Vgl. ebd., S. 224ff. 623 Ebd., S. 233.

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formen verbirgt sich auch in der Form des Aphorismus, die allerdings weniger einen mehrfach sich wandelnden Urteilsprozeß spiegelt als den Versuch der Interessenlenkung auf ein Problem hin. In diesem Sinne hat Neumann Lichtenbergs Aphorismen als „Bemerkungen“ charakterisiert – eine Form, die vom klassischen belehrenden Aphorismus abweicht. Solche Bemerkungen verbinden in ihrer strukturellen Dialektik objektive und subjektive Ordnung, die auf Rezeptionsseite ein metareflexives Einpendeln erforderlich macht.624 Einer der bekanntesten Aphorismen Lichtenbergs mag hier exemplarisch als Beispiel stehen: „Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung.“625 Erst in der Metareflexion sieht sich der Rezipient in die Lage versetzt, seine eigenen Vorurteile kritisch zu überprüfen, die kulturelle Relativität von so normfrei scheinenden Kennzeichnungen wie „Entdeckung“ zu erkennen und die Verantwortung europäischer Eroberer und Entdecker für die Vereinseitigung der Wahrnehmungsperspektive zu bedenken. Die dialektischen Formen des Aphorismus erzeugen bei Lichtenberg keine harmonische Lösung,626 sie sind Anlässe zu selbstaktiver Urteilsbildung. Aphorismen sind in ihrer oft zeugmatischen Verkürzung Versuchsanordnungen, die instinktive und rationale Verfahren, Kunsttriebe und Vernunft, Vorurteile und Ratio integrieren.627 Autor und Leser werden zu Polen eines Rezeptionsprozesses, der den Vorurteilsdiskurs zu einem Diskurs der Selbstaufklärung transformiert. Der initiierte Urteilsprozeß des Rezipienten zielt nicht auf endgültige Urteile, sondern lediglich auf Hypothesenbildung. Lichtenberg intendiert „Gedankenexperimente“, die die Versuchsbedingungen eines zu lösenden Problems systematisch ändern und deren Wirkung reflexiv-hypothetisch durchspielen: „Was leidet es für Abweichungen, wenn man gewisse Umstände ändert?“628 Diese Gedankenexperimente finden ihre Form bei Lichtenberg oft im Konjunktiv. Wie Schöne gezeigt hat, dient der Konjunktiv bei Lichtenberg als Merkmal der Differenzierung. Er markiert eine Diskrepanz, die ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.629 Der skeptische Vorbehalt, der für Lichtenberg ein zentrales Merkmal der Metastruktur der Erkenntnisprozesse darstellt, manifestiert sich nicht im indikativischen Widerspruch oder in imperativischer Aufforderung, sich seines Verstandes zu bedienen, 624 625 626 627 628

Vgl. Neumann: Ideenparadiese, S. 219f., 117, 121. Lichtenberg: Sudelbücher. II, G 183, S. 166. Vgl. Neumann: Ideenparadiese, S. 161. Vgl. ebd., S. 190f. Lichtenberg: Sudelbücher. II, KA 329, S. 86. Vgl. hierzu: Schöne: Aufklärung aus dem Geist der Experimentalphysik, S. 93, 133ff. „Experimentalphysik des Geistes“ erscheint als Begriff auch bei Novalis, der beim Lichtenberg-Schüler Lampadius studierte. Vgl. Novalis: Das Allgemeine Brouillon. Materialien zur Enzyklopädistik 1798/99. Einl. von Hans-Joachim Mähl. Hamburg 1993, S. 147, Nr. 648. 629 Vgl. Schöne: Aufklärung aus dem Geist der Experimentalphysik, S. 34ff. Uedings Kritik an Schöne, Lichtenbergs Konjunktive verdankten sich nicht der naturwissenschaftlichen Innovationssuche, sondern der rhetorischen Tradition der ars inveniendi, überzeugt nicht. Ueding bleibt Belege weitgehend schuldig. Vgl. Ueding: Lichtenbergs Beredsamkeit, S. 201.

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sondern im fast zögerlich scheinenden, aber doch grundsätzlichen Konjunktiv des „Könnte sich das nicht auch anders verhalten?“.630 Die hypothetische Frageform kann über diese reflexive Funktion hinaus zu produktiven Innovationen anregen: „[Wie] würde unser Gehirn aussehen, wenn wir die Veränderungen bemerken könnten, die die Gedanken in dessen Textur hervorbringen.“631 Die anthropologische Introspektion, die an den Grenzen des empirisch Meßbaren haltmachen muß, wird durch die systemische Spekulation Lichtenbergs angeregt. Doch bleibt diese Hypothese innerhalb des Erkenntnissystems. Auch sie unterliegt dem vorurteilskritischen Verfahren. Selbstaufklärung ist als Selbstreflexion unverzichtbar. Wie ein solches komplexes Beobachtungs- und Urteilsverfahren darstellbar sein könnte, demonstriert Lichtenberg selbst in seinen Berichten aus England. Im Brief an seinen Göttinger Kollegen Ernst Gottlieb Baldinger schildert Lichtenberg seine Eindrücke aus London. Dabei spiegeln sich in der Textstruktur anthropologiebasierte Prinzipien von Lichtenbergs Vorurteils- und Urteilstheorie. Der Weg von Lichtenbergs Erkenntniserweiterung erweist sich als kongruent zu deren Darstellung. Die Urteilsbildung vollzieht sich im Prozeß einer ständigen, gelegentlich kreisenden Bewegung. Lichtenberg akkumuliert Erfahrungen, die ohne systematische Ordnung auf ihn eindringen und die er auch nicht voreilig zu ordnen willens ist: „Sie werden mich also entschuldigen, wenn es sich zu weilen hart und schwer ließt, es ist die Ordnung von Cheapside.“632 Lichtenberg stellt sich dar als Zuschauer im Theater, nicht als aktiv Beteiligter, sondern als jemand, der bestenfalls reagiert, der die Geschehnisse um ihn her ‚erleidet‘, aber registriert. Prototypisch für diese Haltung ist die Vermittlung des empirischen Eindrucks durch dessen Darstellung: „Ich habe von einigen, die wie Fräuleins aus sahen, Fragen an mich thun hören, [...]“.633 Lichtenberg berichtet nicht vom Anwerbeversuch der Prostituierten selbst, sondern nur von der ‚Vermittlung‘ des Geschehens durch seine Sinneswahrnehmung. Er fällt kein Urteil über die Damen, die ihn so angehen, indem er ihre Profession benennen würde, sondern er stellt nur seine optische Wahrnehmung und deren Diskrepanz zur akustischen dar. Lichtenbergs Prinzip der Behutsamkeit erweist sich als Erkenntnismittel, das voreilige Urteile verhindern hilft: 630

Vgl. Schöne: Aufklärung aus dem Geist der Experimentalphysik, S. 122. So umschreibt Schöne die Sigle „?L.“, die Lichtenberg in seinen Anmerkungen zu J. Ch. P. Erxlebens Anfangsgründe der Naturlehre häufig verwendet. Erxleben betont auch den Wert, den Hypothesen für die Physik haben können. Vgl. Andreas Kleinert: Physik zwischen Aufklärung und Romantik: Die ‚Anfangsgründe der Naturlehre‘ von Erxleben und Lichtenberg, in: Bernhard Fabian / Wilhelm Schmidt-Biggemann / Rudolf Vierhaus (Hg.): Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen. München 1980, 99–113, hier S. 102. 631 Lichtenberg: Sudelbücher. II, J 1854, S. 334. 632 Lichtenberg an Baldinger am 10.1.1775, in: Lichtenberg: Briefwechsel. Bd. I, Briefnr. 269, S. 489f. Vgl. zur London-Beschreibung Wolfgang Promies: Lichtenbergs London, in: Conrad Wiedemann (Hg.): Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen. Stuttgart 1988, 560–570, hier S. 564ff. 633 Lichtenberg an Baldinger am 10.1.1775, in: Lichtenberg: Briefwechsel. Bd. I, Briefnr. 269, S. 490. (Hervorhebg. R. G.)

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„Dem ungewöhnten Auge scheint dieses alles ein Zauber; desto mehr Vorsicht ist nöthig, Alles gehörig zu betrachten; [...]“.634 Die sensuale Wahrnehmung erhält insofern einen Primat vor der vernünftigen Reflexion, als zunächst die Akkumulation von Erfahrungen im Zentrum des Erkenntnisprozesses steht. Daß auch die Werbestrategie der Anbieter in der belebten Handelsstraße auf die Affekte des potentiellen Kunden abzielt und verschiedene Affektreize miteinander verbindet, registriert Lichtenberg ebenfalls: „nicht bewachte weißarmigte Nymphen mit seidenen Hütchen und seidenen Schlenderchen [...] werden von ihren Herrn den Pasteten und Torten weißlich zugesellt, um auch den gesättigten Magen lüstern zu machen [...]“.635 So ergänzen sich in Lichtenbergs Wahrnehmung seine akkumulierten Sinneserfahrungen zu einer parataktischen Reihung von Einzeleindrücken, die sich zu einem nicht-strukturierbaren Gesamteindruck verdichten. Am eigenen Leib erfährt Lichtenberg die Naturalisierung.636 Doch bleibt das Modell nicht statisch. Schon der Beginn der Darstellung geht von einer Bewegung aus: Lichtenberg bricht von Kew nach London auf, um seiner wegen des schlechten Wetters schlechten Laune zu entfliehen.637 Auf eine psychologische Selbstdiagnose folgt die Kur als Ortswechsel. Die Dynamik der sich ständig ändernden Situation bestimmt Lichtenbergs Eindrücke in London. Ein eigenes Stillstehen, um Muße und Ruhe zur Betrachtung zu haben – wie es das Ideal des selbstreflexiven und behutsamen Urteilsprozesses erforderte – erscheint kaum möglich: „denn kaum stehen Sie still, Bums! läuft ein Packträger wider Sie an und rufft by Your leave wenn Sie schon auf der Erde liegen.“638 Lichtenbergs Urteilsenthaltung in dieser textlich verdichteten Großstadtbeschreibung verdankt sich nicht nur der Menge empirisch drängender Fakten, sondern vor allem der Tatsache, daß ein Urteilsprozeß, wie er dem Modell aufklärerischen Erkennens entspräche, nicht möglich ist. Lichtenberg demonstriert in der London-Beschreibung die praxisfähige Basis aller Erkenntnisprozesse: Erfahrungen zu sammeln, ohne sich auf ein Urteil festzulegen, ein „flüchtiges Gemählde“ zu geben, das an die Spezifik von Situation, Zeit und Ort gebunden ist.639 In Lichtenbergs Erkenntnis- und Urteilsmodell werden empirische Faktensammlung, deren Akkumulation zu einem Ganzen und deren nachträgliche analytische

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Ebd., S. 489. Ebd., S. 488. Sautermeisters Beobachtung, Lichtenberg nehme hier die Reiseperspektiven der klassischromantischen und biedermeierlichen Epoche vorweg, läßt deren Basis in der Anthropologisierung der Erkenntnistheorie der Aufklärung unerwähnt. Vgl. Sautermeister: Lichtenberg, S. 64f. 637 Vgl. Lichtenberg an Baldinger am 10.1.1775, in: Lichtenberg: Briefwechsel. Bd. I, Briefnr. 269, S. 488. 638 Ebd., S. 489. 639 Vgl. ebd., S. 488. Am statischen Objekt erprobt Lichtenberg sein Darstellungsverfahren in ders.: Ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche, in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 657–1060.

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Differenzierung als Stufen des Erkenntnisprozesses markiert, doch bleibt dieser auf die jeweils individuelle Erfahrung beschränkt. Es ist zwar ein Vergnügen, den Totaleindruck, den der Anblick eines solchen Wundergeschöpfes (gemeint ist der Schauspieler Thomas Weston, R. G.) auf einen macht, in seine Bestandteile zu zerlegen, und Empfindungen zu Buch zu bringen; [...] aber die Absicht einem andern ein ähnliches Vergnügen zu verschaffen, wird meist verfehlt, weil die unvermeidliche Unvollständigkeit der Zahl dieser entwickelten Gefühle, dem Leser bei ihrer Herabstimmung zur Klarheit Raum genug übrig läßt, neben dem Endzweck des Verfassers vorbei zu schleichen, oder noch schlimmer ihm den Vorwurf zu machen, er habe zu viel gesehn.640

Der Urteilsprozeß muß sich bei jedem, der sich aufzuklären beginnt, mit einer individuell-empirischen Schätzung und mit einer individuell konstituierten Metareflexion der Ergebnisse verbinden. Aufklärung führt nicht zu Beliebigkeit. Sie ermächtigt jeden zu eigenen, behutsam-skeptischen Urteilen.

5.5 Aufklärung und Vorurteil. Zur reflexiven Struktur des Vorurteilsdiskurses Eine spezifische Form des Vorurteilsdiskurses, die sich durch die Integration gnoseologischen Wissens und gnoseologischer Handlungsanregung im rezeptionsästhetischen Modell auszeichnet, entwickelt Christoph Martin Wieland. Indem das Erkenntnisinteresse des Rezipienten durch Diskrepanzwahrnehmung auf selbstreflexive Prozesse gelenkt wird, erhält der mediale Wechsel des Vorurteilsdiskurses, der diesen von der (philosophischen) Abhandlung zur (literarischen) Erzählung führt, den Charakter einer Transformierung:641 Ein Modell des Umgangs mit Vorurteilen wird nicht bloß entworfen und vorgestellt, sondern in gnoseologische Praxis überführt. Damit erhält der Vorurteilsdiskurs eine Formationsregel, die individuelle Teilhabe fordert und den passiven Besitzer von Vorurteilen, der auf die Befreiung durch andere wartet, zu einem aktiven, kritischen, selbstreflexiven Teilnehmer am Diskurs macht. Durch die modale Transferierung zum Rezipienten wird Selbstaufklärung als kritischer Prozeß praxisfähig. Dies schließt die Übertragung kritischer Funktionen vom philosophischen auf den literarischen Diskurs ein, die Öffnung der Kunst für Probleme wissenschaftlichen Denkens. Die damit einhergehende artistische Emanzipation rekurriert auf die

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Georg Christoph Lichtenberg: Briefe aus England. An Heinrich Christian Boie. [Dritter Brief], in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 347–367, hier S. 353f. Auch mit dieser Relativierung des „Totaleindrucks“ hebt sich Lichtenberg von Lavaters Erkenntnismodell ab. Vgl. Pestalozzi: Physiognomische Methodik, S. 144. 641 Koschorke zeigt, daß Medienwechsel nie bloß Substitution, sondern immer auch Transformation bedeutet. Vgl. Koschorke: Körperströme, S. 191.

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probabilistische Ebene anthropologiebasierter Argumentationsverfahren.642 Der wissenschaftlich-akademische, literarisch-essayistische, der öffentliche und individualisierte Vorurteilsdiskurs verbindet sich über die methodische Valenz anthropologiebasierter Argumente und Erkenntnisverfahren mit dem der Aufklärung. Kennzeichnend für diese Änderung diskursiver Relevanzen ist auch bei Wieland eine Aufwertung der „Natur“ gegenüber der (systemischen) Philosophie. Kunst entspringt und entspricht der Natur.643 5.5.1 Der aufgeklärte Vorurteilsdiskurs als Modell der Rezeptionssteuerung bei Ch. M. Wieland und J. K. Wezel Der „anthropologic turn“ Wielands644 wandelt seine Haltung zum Vorurteilsdiskurs grundlegend. Ihm gelingt es – wohl am umfassendsten in der deutschen Spätaufklärung –, Vorurteils- und Aufklärungsdiskurs aus den philosophischen Aporien zu lösen und zu einem Modell der Selbstaufklärung zu entwickeln. Die wesentlichen Argumente des Vorurteilsdiskurses verbindet Wieland auch theoretisch – darauf soll ein erster Blick fallen – zu einer aufklärungsorientierten Variante desselben. Wenn er die Entstehung von Aberglauben und unhinterfragten Meinungen historisch erklärt, nähert er sich Herders funktionaler Sicht aus dem Journal meiner Reise: Da die Ursachen der wahrgenommenen Wirkungen in historischer Frühzeit nicht bekannt gewesen seien, seien unsichtbare Ursachen konstruiert worden. So sei die Annahme entstanden, das große Buch der Natur weise einen tiefen und rätselhaften Sinn auf: „Alle Dinge dieser sichtbaren Welt wurden als Hieroglyfen dieses geheimnisvollen Buches betrachtet: aber die grosse Kunst war, sie lesen zu können.“645 In retrospektiv historisierender Perspektive kann daher die Entstehung von Aberglauben, Magie und ungegründeten Meinungen schlechthin anthropologisch aus ihrer Funktion erklärt werden: „Die Neigung zum Wunderbaren und die Begierde das Künftige zu wissen sind die schwächste Seite der menschlichen Natur.“646 Auch Johann Karl Wezel bestimmt Volkssysteme als 642

Thomé berücksichtigt die Bedeutung naturwissenschaftlichen Denkens für die Emanzipation der Literatur. Über den naturwissenschaftlichen Bereich hinaus ist aber auch die extraszientifische Anthropologie entscheidend. Vgl. Thomé: Roman und Naturwissenschaft, S. 44. 643 Vgl. Christoph Martin Wieland: Filosofie als Kunst zu leben und Heilkunst der Seele betrachtet, in: AA 14, 192–198, hier S. 193ff., 196. Der Philosophie wird ironisch eine Rolle als (für Gesunde nicht notwendige) „Arzneykunst für die Seele“ zugewiesen; vgl. ebd., S. 197. 644 Vgl. Thomé: Roman und Naturwissenschaft, S. 118ff. zur Begründung der empiristischen Wendung mit der Aufwertung der Wissenschaften. Wielands Wandel, insbesondere seine Umkehrung der platonischen Hierarchie von Leib und Seele, sind als „anthropologische Wende“ bezeichnet worden. Vgl. Hacker: Ordnungsutopien, S. IIIf., Mark-Georg Dehrmann: Produktive Einsamkeit. Hannover 2002, S. 115. 645 Christoph Martin Wieland: Über den freyen Gebrauch der Vernunft in Glaubenssachen sammt einer Beylage, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Bd. 29. Vermischte Aufsätze. Leipzig 1797, 3–144, hier S. 31. S.o. S. 236f. 646 Ebd., S. 36.

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ursprünglich thematisch eingeschränkte, kulturanthropologisch originäre Systeme von Meinungen und Urteilen, deren Fortbestehen aus der defizitären Vernunft erklärbar ist.647 Bei Wezel ist die Wahrnehmung der Welt und deren Verständnis genuin anthropologisch durch die eigene Einbildungskraft geprägt: „Da ich aber von allen Dingen außer meiner Vorstellung nichts weis, als was mich mein Bewußtsein lehrt, so macht die Summe meiner Vorstellungen meine Welt aus; [...]“.648 Vorurteile entstehen unabhängig von der externen Wahrnehmung, sie sind affektiv, nicht sensual verankert, und sie wirken aufgrund der Präpotenz der Affekte stärker als die rationale Gegenkontrolle. Selbst den eigenen Sinneswahrnehmungen können sie widersprechen, sie machen uns fähig, so Wieland, „gegen das Zeugniss unsrer eigenen Sinne zu glauben“.649 Aufgrund dieses affektiven Wirkmechanismus liegt ein Gegenmittel gegen Vorurteile nur im Zusammenwirken des eigenen, intakten Selbstgefühls und des allgemeinen Menschensinns, individueller, sozial konsensfähiger, nicht-rationaler Überzeugungen.650 In dieser Überzeugung von der gegenüber der Ratio größeren Wirksamkeit des common sense im Vorurteilsdiskurs erweist sich Wielands Nähe zur englischen und schottischen Aufklärung. Dieses Problem, welche Mittel die Vorurteilskritik erfolgversprechend anwenden könne, hat schon seit der Jahrhundertmitte zu unterschiedlichen Antwortversuchen geführt. Wird Vernunft theoretisch delegitimiert, werden wie bei Sulzer affektive Verfahren der Kritik entwickelt, so deutet sich doch erst mit dem Transfer dieser Beobachtung in literarische Textformen ein Ausweg aus der Aporie an: „Wenn überwindet man jemals die menschlichen Vorurtheile durch Gründe!“, deklamiert noch Johann Gottlob Benjamin Pfeil in der Vorrede zu seinen Moralischen Erzählungen.651 Doch mit solchen extradisziplinären Thematisierungen erschließt sich bereits der diskursive Raum der Transformierung. Wieland kennt noch eine weitere Verwendungsvariante des Vorurteils. Ausdrücklich warnt er vor der Instrumentalisierung von Begriffen, etwa vor der pejorativen Verwendung des Wortes „dulden“.652 Analytisch weist er darauf hin, daß sich diskursexterne Interessen (wie etwa ökonomische Ansprüche) mit dem Plädoyer für die Beibehaltung des Aberglaubens verbinden können.653 Dies gilt auch für religiöse Formationsregeln, die gelegentlich zur Grundlage vorurteilsrehabilitierender Positionen geworden waren. Wielands Selbstverständnis als unpar647

Vgl. Wezel: Versuch, S. 22ff., 25f. Das Wunderbare der Religionen gehört nach Wezel allerdings nicht zu diesem Volksglauben; vgl. ebd., S. 25. 648 Ebd., S. 29. 649 Wieland: Über den freyen Gebrauch, S. 95. 650 Vgl. Christoph Martin Wieland: Was ist Wahrheit?, in: AA 14, 186–192, hier S. 189. Erstmals unter dem Sammeltitel: Fragmente von Beyträgen zum Gebrauch derer, die sie brauchen können oder wollen in: Der Teutsche Merkur 1778. T. 2, 9–30. 651 Johann Gottlob Benjamin Pfeil: Versuch in moralischen Erzählungen. Leipzig 21760, S. *2v. 652 Wieland: Über den freyen Gebrauch, S. 60. 653 Vgl. ebd., S. 73ff.

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teiischer Gutachter verbindet sich mit dem Anspruch auf Vorurteilsfreiheit und Freiheit von persönlichen Interessen, aber auch mit dem Bewußtsein, daß die Idee vorurteilsfreien Strebens nach Wahrheit einen Idealtypus des öffentlichen Diskurses darstellt.654 So sei die erste und wesentliche Eigenschaft eines Schriftstellers, der einen Beitrag zur Menschen- und Völkerkunde liefert, „daß er den aufrichtigen Willen habe die Wahrheit zu sagen“.655 Auf dem Hintergrund der affektiven Anfälligkeit auch des menschlichen Willens wird nicht die Wahrheit selbst zum Kriterium, sondern lediglich die prozessuale, gleichwohl einigen Unwägbarkeiten unterliegende voluntative Annäherung an diese. Wahrheit wird nicht als unstreitig behauptet. Diese Prozessualisierung der Wahrheit findet sich auch in Wielands positiver Charakteristik der Mitglieder des „Kosmopoliten-Ordens“: Denn sie zeichneten sich dadurch aus, daß „sie im Urtheilen von keinen Vorurtheilen und Wahnbegriffen, im Handeln weder von Nebenabsichten noch Leidenschaften getäuscht und irre geführt werden.“656 Nicht das Ergebnis des Urteilens erhebt den Anspruch auf Wahrheit, sondern dieser bedingt die Art der Urteilsbildung und des aufklärerischen Handelns.657 Der inhärente Disput über die Wahrheit wird bei Wieland zum Modus des Vorurteilsdiskurses. Das Streben nach Wahrheit und Vorurteilsfreiheit wird durch anthropologiebasierte Effekte begrenzt und modalisiert. Vorurteile unterliegen den Bedingungen menschlicher Soziabilität: Vorurtheile, ausschliessende Neigungen, gewinnsüchtige Absichten, alle in ihren eigenen Wirbeln hineinziehende Leidenschaften sind die gewöhnlichsten Triebwerke unserer Handlungen, solange wir uns bloss als Glieder irgend einer besondern Gesellschaft ansehen, und unsre Glückseligkeit von der Meinung, welche sie von uns hat, abhängig machen.658

Auf die subjektive und soziale Prägung von Vorurteilen weist auch Friedrich Just Riedel 1768 in seinem öffentlichen Brief an Wieland hin. Er nimmt anthropolo654 655

Vgl. ebd., S. 65f. Christoph Martin Wieland: Ueber die Rechte und Pflichten der Schriftsteller, in Absicht ihrer Nachrichten und Urtheile über Nazionen, Regierungen, und andere öffentliche Gegenstände, in: AA 15, 65–73, hier S. 68. 656 Christoph Martin Wieland: Das Geheimniß des Kosmopoliten-Ordens, in: AA 15, 207–229, hier S. 217. Vgl. Martin Disselkamp: Ohnmacht und Selbstbehauptung der Vernunft. Zu Christoph Martin Wielands Goldnem Spiegel, in: Jörn Garber / Heinz Thoma (Hg.): Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert. Tübingen 2004, 287–305, hier S. 293. 657 Vgl. zu diesem Essay als „aufklärerisches Programm“ Wolfgang Albrecht: Wielands Vorstellungen von Aufklärung und seine Beiträge zur Aufklärungsdebatte am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Impulse. Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik. 11.Folge (1988), 25–60, hier S. 41f. 658 Christoph Martin Wieland: Nachlass des Diogenes von Sinope. Aus einer alten Handschrift, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Bd. 13. Nachlass des Diogenes von Sinope. Gedanken über eine alte Aufschrift. Leipzig 1795, 31–201, hier S. 112. Vgl. zu dieser Stelle Peter Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman des achtzehnten Jahrhunderts. Göttingen 1962, S. 217. Wezel akzentuiert den gegenläufigen Prozeß: Die Lebensart eines Menschen fließt auch aus seinen Vorurteilen. Vgl. Wezel: Versuch, S. 109f.

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giebasierte Argumentationsverfahren auf, die Wieland selbst in seine eigenen Beiträge zum Vorurteilsdiskurs erst in den darauffolgenden Jahren integrierte: Alle Urtheile der Menschen über solche Punkte (sittliches Ideal und moralische Gesinnungen, R. G.) fließen aus ihrem nationalen Charakter und ihrer besondern Denkart; sie entfernen sich also so weit von einander, als verschieden die Mischung der einzelnen Züge zur Bildung des ganzen Charakters ist.659

Charakterologische, sozialisierende und kulturalisierende Argumente verbinden sich. Urteile haben immer einen Selbstbezug, der sie genuin unsicher macht: Ueberdies sind wir gewohnt, immer die Dinge nach einer gewißen Gleichförmigkeit mit demjenigen zu messen, was wir an uns selbst wahrnehmen; [...] Wenn wir noch tiefer in unsere Natur schauen, so finden wir dieses Vorurtheil selbst in unsern Ideen von der Gewißheit, von der Wahrscheinlichkeit, von der Sittlichkeit und am meisten von der Schönheit.660

Die grundlegende Neubewertung anthropologiebasierter Argumentationsstrategien führt dazu, daß Wieland den gnoseologischen Zentralbegriff der „Wahrheit“ neu bewertet. Basishypothese ist dabei die Relationalität der Wahrheit: „Die Wahrheit, ist, wie alles Gute, etwas verhältnißmäßiges.“661 Das Maß der erreichbaren Wahrheit richtet sich nach den subjektiven Bedürfnissen. Sie ist nicht objektiv bestimmbar, sondern unterliegt sensualer Erkenntnis. Zu einer objektiven Wahrheit führt weder die Übereinstimmung eines Gefühls oder einer Vorstellung mit allgemein anerkannten, vermeintlich rationalen Überzeugungen noch die Übereinstimmung mit allen subjektiven Empfindungen des Urteilenden selbst.662 Die Relationalität der Wahrheit betrifft die Reichweite der Vernunft und der Empirie. Von einer grundsätzlichen Delegitimierung der Vernunft kann bei Wieland allerdings nicht die Rede sein. Denn gerade der freie Gebrauch der Vernunft gilt ihm als anthropologisch distinktives Merkmal, das den Status eines „unverlierbarste[n] Recht[s] der Menschheit“, eines unveräußerlichen Menschenrechtes, behält.663 Da Wieland den prozeduralen „Gebrauch“ der Vernunft akzentuiert, wird diese nicht als statischer Maßstab, sondern als Bestandteil eines Verfahrens kritischer Prüfung analysiert, dem zur Erlangung der Wahrheit alles unterworfen werden muß. Ein solches analytisches Verfahren, das in der Verantwortung jedes einzelnen liegt und nicht anderen überantwortet werden darf, dient dazu, Wahrheit 659

Friedrich Just Riedel: Ueber das Publicum. Briefe an einige Glieder desselben. Jena 1768, S. 72. Das Zitat entstammt dem 4. Brief (an Wieland). Vgl. auch den 2. Brief an Flögel: „Religion, Gewohnheiten, Traditionen, Vorurtheile der Nationen, ihr Stolz, ihr Charakter, ihre Sprache, ihre Regierungsform, ihre Känntniße und hundert andere Punkte zusammengenommen müssen nothwendig, sobald sie in der Mischung erscheinen, ihre Urtheile auf eine ganz verschiedene und abstechende Art färben; [...].“ (Ebd., S. 25.) Schon 1769 sollten Riedel und Wieland Kollegen an der Universität Erfurt werden. 660 Ebd., S. 78f. 661 Wieland: Was ist Wahrheit, S. 186. 662 Vgl. ebd., S. 187. 663 Wieland: Über den freyen Gebrauch, S. 19.

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von Spekulation und Gutes von Bösem zu separieren.664 Gegenstände dieses Verfahrens sind Begriffe, Meinungen, vor allem aber auch Vorurteile, die schon seit der Reformation „vor den Richterstuhl der Vernunft gezogen, in Untersuchung genommen, und so, wie sie für das was sie waren, für Vorurtheile und Wahnbegriffe erkannt wurden, verworfen“ worden seien.665 Da dieses kritische Verfahren nicht ausschließlich auf Vernunft beruht, kann Wieland auch zentrale Glaubenswahrheiten als gnoseologische Mischformen vom kritischen Prozeß ausschließen, die Gegenstände der spekulativen Vernunft und des vernünftigen Glaubens seien.666 Denn allein auf die Vernunft zu vertrauen ist unzuverlässig667 und führt nicht dazu, daß individuelles Glück als menschliche Bestimmung erreicht werden kann. In Wielands Unitarismus ist die anthropologische Ganzheit, wie sie zum Beispiel bei Südseebewohnern zu finden sei, eine Glücksgarantie, die von der philosophisch-vernünftigen Einsicht in diese unabhängig bleibt.668 Lebendige und anschauende Erkenntnis erfordert, auf historische oder historiographische Quellen zurückzugreifen. Bei der Frage der Entstehung von Aberglauben und Wunderglauben tut Wieland genau dies.669 Innerhalb der „Menschenkenntniß“ ist als Teil des kritischen Verfahrens über die Vernunft hinaus ein „Geist der Beobachtung“ erforderlich, der unabhängig von gelehrt-akademischer Reflexion eigenen Erkenntniswert besitzt.670 Doch bietet auch die Empirie keine hinreichende Bedingung dafür, gesicherte Wahrheit zu erreichen. Denn Gründe für unrichtiges Sehen und für das daraus folgende Urteilen sind neben multiplen Erfahrungswelten auch Unerfahrenheit, Beschränktheit der Einsichten, dunkle Vorstellungen und Neigungen, „die ohne sein Wissen auf seinen Willen (den des Urteilenden, R. G.) wirken.“671 Aufgrund dieser externen und internen Ursachen kann Wahrnehmung schlechthin als relativ oder zumindest als anfällig für subjektive Prägungen und Standpunkte betrachtet werden – eine These, die Wieland in den Göttergesprächen Jupiter in den Mund legt.672 Doch bedeutet diese Möglichkeit des subjektiven Irrtums nicht, daß schlechthin keine Wahrheit empirisch möglich wäre. Sie zu finden ist abhängig vom Finden des richtigen „Gesichtspunkt[s]“, den der Unbekannte im selben Gespräch als „Mittelpunkt des Ganzen“ bestimmt, als „Vollkommenheit, von welcher alles gleich weit entfernt ist,

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Vgl. ebd., S. 24, 85f. Ebd., S. 107f. Vgl. auch ebd., S. 130. Vgl. ebd., S. 25. Gemeint sind der Glaube an die Existenz Gottes und an ein besseres Leben nach dem Tod. 667 Vgl. Wieland: Was ist Wahrheit, S. 187. 668 Vgl. Wieland: Filosofie, S. 196f. 669 Vgl. Wieland: Über den freyen Gebrauch, S. 48. 670 Vgl. Wieland: Ueber die Rechte und Pflichten, S. 67. 671 Ebd., S. 73. 672 Vgl. Christoph Martin Wieland: Göttergespräche, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Bd. 25. Göttergespräche. Gespräche im Elysium. Leipzig 1796, 3–276, hier das 8.Gespräch: Jupiter, Numa, hernach ein Unbekannter, S. 122.

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und der sich alles nähert.“673 Entkleidet man diese These ihres theologischen Rahmens, der Vollkommenheit als göttliche Eigenschaft zur im Grunde Menschen unmöglichen Kondition der Erkenntnis macht, so wiederholt sie die durch Chladenius in der Aufklärung popularisierte Idee des Sehepunktes – einschließlich Chladenius’ These, es gebe durchaus einen „wahren“ Gesichtspunkt.674 Aus diesem wahren Gesichtspunkt erscheine jede Sache, so Wieland, „wie sie sich in ihrem Anfang, Fortgang und Ausgang, in ihrem eigenen innerlichen Streben, in allen ihren Gestalten, Bewegungen, Wirkungen und Folgen, zum Ganzen verhält; das ist, wie viel sie zum Wachsthum seiner Vollkommenheit beyträgt.“675 Der wahre Gesichtspunkt ist einer prozessualen Perfektibilität verpflichtet, die zum anthropologischen Unitarismus hinführt. Es muß nicht ausdrücklich von Aufklärung die Rede sein, und doch ist der Bezugspunkt der Wahrheit hier der aufklärerische Prozeß. Diese prospektive Historisierung hat indes auch eine sie ergänzende Gegenseite: Denn zur gnoseologischen Methode der Wahrheitssuche trägt auch die retrospektive Historisierung bei: „Im Grunde ist also alle ächte Menschenkenntniß historisch.“676 Die historische Kenntnis der früheren Stadien der Entwicklung der Menschheit liefert sowohl abstraktionsfähige Daten als auch die Einsicht in spezifische Methoden der Erkenntnis.677 So wird die Historizität der Erkenntnis zum Argument für einen empiriebasierten Eklektizismus.678 Grundsätzlich aber erschwert die affektive Anfälligkeit des Menschen Erkenntnis- und Urteilsprozesse: „Man weiss, [...] wie mächtig Gewohnheit und Vorurtheile, in denen wir aufgewachsen sind, über den gemeinen Menschenverstand tyrannisieren (sic); [...]“.679 Ungeachtet dieser Problematik wird der Prozeß der Wahrheitsfindung individuell zu objektivieren gesucht. Wahrheit muß durch den einzelnen auf das Bewußtsein der Empfindungen zurückgeführt werden.680 Damit begründet Wieland Wahrheit explizit anthropologisch. Der sensualistisch-anthropologische Wahrheitsbegriff entspricht der Konstitution autonomer Individualität. Dies hat zur Folge, daß in Diskursbereichen, in denen die öffentliche Diskussion individuelle Meinungen summiert, Wahrheit einen besonderen Charakter erhält: „In metafysischen und ästhetischen Dingen, das ist, in Sachen wo das meiste auf Einbildung und Sinnesart ankommt, wäre das billigste, einen jeden im Besitz und Genuß dessen, was er für Wahrheit hält, ruhig und ungekränkt zu lassen, so lange er andre in Ruhe läßt.“681 Das Argument der individuell-anthropologischen An673 674 675 676 677 678 679 680

Vgl. ebd., S. 123. Vgl. ähnlich Wieland: Ueber die Rechte und Pflichten, S. 72. Zu Chladenius s.o. S. 246ff. Wieland: Göttergespräche, S. 123. Wieland: Ueber die Rechte und Pflichten, S. 67. Vgl. ebd., S. 66f. Vgl. Wieland: Über den freyen Gebrauch, S. 116. Ebd., S. 95. Vgl. Wieland: Was ist Wahrheit, S. 188. Berthold spricht von „individualisierte[r] Perspektivierung“. Vgl. Berthold: Fiktion, S. 116. 681 Wieland: Was ist Wahrheit, S. 189.

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fälligkeit des einzelnen für die Überzeugungskraft seiner eigenen Phantasie macht Urteilsbildung und -publikation nicht zu Teilen eines logischen Diskurses, sondern nähert sie an die Prozessualität zentraler aufklärerischer Diskursbereiche an. Solange nicht öffentlich Unwahrheit verbreitet wird (deren Identifizierung durch die gemeinsame Überzeugung wird stillschweigend vorausgesetzt), gilt für Religion und Kunst eine uneingeschränkte Toleranz auch abweichender Meinungen. Auch Wezel verlagert die Diskussion um die Wahrheit auf den gnoseologischen und diskursiv-aufklärerischen Komplex, der sich mit der Frage nach der geeigneten Methode des Aufklärens beschäftigt.682 Er propagiert die Notwendigkeit eines empirischen Vorgehens noch ausdrücklicher für die Anthropologie selbst. Dieses Vorgehen entspringt dabei der anthropologischen Konditioniertheit des Menschen. Der Trieb des Menschen zum Nachdenken über sich selbst führe zur Vereinigung von empirischer Datenakkumulation, analogischem Vergleich und synthetischer Auswertung.683 Über die Relevanz der Anthropologie (die allerdings bei Wieland eher als historisch-kulturelle Wissenschaft bestimmt wird) sind sich Wezel und Wieland ebenso einig wie über den Primat der empirischen Methode.684 Der richtige Weg zur Wahrheit sei, so Wezel, erst „in unserm Zeitalter“ gefunden worden: der „Weg der Beobachtung und Erfahrung.“685 Wezel präferiert im Unterschied zum eher assoziativ-empirischen Verfahren Wielands eine strukturierbare Abfolge von methodischen Schritten, deren Grundlage die individuelle, empirische Erkenntnis ist. Demgemäß macht Wezel Empirie zur Basis seines Versuch über die Kenntniß des Menschen, indem er empirische Formen der Selbsterfahrung und des Experiments integriert: „Erfahrung, sie gründe sich auf Beobachtung oder Versuche, sie sey von mir oder Andern, soll die Grundlage dieser Untersuchungen seyn, so weit sie reicht.“686 Doch bleibt Wezel sich der „Gränzen der Wahrscheinlichkeit“ bewußt und markiert ausdrücklich jene Bereiche, die er trotz des empirischen Verfahrens noch nicht für befriedigend gelöst hält.687 Die Strukturierung der multilateralen Relationen bietet einen ersten, empiriebasierten Erkenntnisschritt. Der Erkenntnisprozeß erfordert die Konstruktion eines objektiven Beobachters, der einen Standpunkt außerhalb der menschlichen Maschine einnimmt und die unmittelbaren, veranlassenden Ursachen für wahrgenommene Wirkungen registriert, sofern sie ersichtlich sind.688 Damit wird die aristotelische Typologie von Ursachen 682

Futterknecht betont den individuellen Ausgangspunkt der Wahrheit bei Wezel. Vgl. Futterknecht: Physiologie und Anthropologie, S. 176. 683 Vgl. Wezel: Versuch, S. 9, 12f. 684 Vgl. zu Wielands Einschätzung der Bedeutung der Menschenkenntnis Wieland: Ueber die Rechte, S. 66f. 685 Wezel: Versuch, S. 27. 686 Ebd., S. 30. 687 Vgl. ebd., S. 33. 688 Vgl. ebd., S. 36f. Vgl. zur nicht-materialistischen Verwendung der „Maschinen“-Metapher Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch, S. 255, Catherine J. Minter: Vitalism and Holism:

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zugunsten eines empirischen Beobachtungsmodells reduziert, das Erscheinungen registriert, aber selbst über den physischen Grund der Verknüpfung von Erscheinungen nicht zu spekulieren bereit ist, da nur die Bedingungen der Relationen verläßlich bestimmbar seien.689 Da logisch-objektive Wahrheit weder in allen Fällen erreichbar ist noch erreichbar sein muß, gewinnt die Kategorie der Wahrscheinlichkeit eine über den poetologischen Diskurs hinausreichende relativistische Qualität, die von eminenter Bedeutung für die Neukonzeption von Erkenntnis- und Urteilsprozessen im Vorurteilsdiskurs ist. Während die Bereiche der mathematischen Wahrscheinlichkeit und Stochastik sich von der rhetorischen Wahrscheinlichkeit zunehmend ablösen, gewinnen die poetologische und die anthropologische Wahrscheinlichkeit einen Eigenwert.690 Doch wird „Wahrscheinlichkeit“ für Wezel auch zum Schlüsselbegriff in gnoseologischer Praxis. Wezel unterscheidet die Bereiche der poetologischen und der extra-poetischen Wahrscheinlichkeit, um an die erstere höhere Anforderungen an innere Kohärenz zu stellen.691 Die Dualität von (historischer) Wahrheit und Fiktion bleibt bei Wieland nicht ohne Folgen für die individuelle Charakterentwicklung wie für deren Präsentation im fiktionalen Rahmen. Bekennt Wieland, im Agathon Erdichtetes in ‚historische‘ Wahrheit eingewebt zu haben, so bleibt er doch dem Ziel treu, „so wohl in seinem Helden ein Bild sittlicher Vollkommenheit zu entwerfen“ – das Ideal moralischen Verhaltens als Fiktion – „als ihn so zu schildern, wie vermöge der Gesetze der menschlichen Natur, ein Mann von seiner Sinnesart gewesen wäre, wenn er unter den vorausgesetzten Umständen wirklich gelebt hätte.“692 Angedeutet ist hier sowohl die rezeptionsbezogene Wahrscheinlichkeit, die Glaubhaftigkeit nahelegt, als auch die individuell-gnoseologische Wahrscheinlichkeit, die zum fiktionalen Beweisziel erklärt wird. Ziel sei es gewesen zu zeigen, wie viel die äußerlichen Umstände an unsrer Art zu denken, an unsren guten Handlungen oder Vergehungen, an unsrer Weisheit oder Thorheit Antheil haben, und wie es, natürlicher Weise, nicht wohl möglich sey, anders als durch Erfahrung, Fehltritte, unermüdete Bearbeitung unsrer selbst, öftere Veränderungen in unsrer Art zu denken, hauptsächlich aber durch gute Beyspiele

Wezel’s Versuch über die Kenntnis des Menschen, in: Wezel-Jahrbuch 2 (2000), 77–95, zur Forschungslage S. 77f. 689 Vgl. zur Abweichung Wezels von der aristotelischen Differenzierung von causa finalis, efficiens, formalis und materialis: Jutta Heinz: Kommentar, in: Johann Karl Wezel. Gesamtausgabe in acht Bänden. Jenaer Ausgabe. Bd. 7. Versuch über die Kenntniß des Menschen. Rezensionen. Hg. Jutta Heinz. Schriften zur Pädagogik. Hg. Cathrin Blöss. Heidelberg 2001, hier S. 660. 690 Vgl. Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 7ff., ders.: „Improbable Probability“. 691 Vgl. Wezel: [Rezension von:] Sophiens Reise, S. 293. 692 Christoph Martin Wieland: Ueber das Historische im Agathon, in: ders.: Agathon. 1.Th. [2. Fassung]. Leipzig 1773, 1–34, hier S. 3.

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und Verbindung mit weisen und guten Menschen, selbst ein weiser und guter Mann zu werden.693

Empirisierende und naturalisierende Argumentationsverfahren begründen hier den konjekturalen Weg individueller Erkenntnis. Wahrheit ist an die Natur gebunden, doch bleibt sie immer fraglich. „Keinem offenbart sie (die Wahrheit, R. G.) sich ganz; [...]“.694 Wieland stellt einen unmittelbaren Bezug zum Vorurteilsdiskurs her, wenn er es als „Thorheit“ bezeichnet, „unsre Meinungen für Axiome und unumstößliche Wahrheiten anzusehen“.695 Wahrheit und Wahrscheinlichkeit sind bei Wieland als historische, als intrapoetische und als gnoseologische diskutabel.696 Die Reflexionen zum Historischen im Agathon unterliegen selbst wieder der Prämisse fiktionaler Wahrscheinlichkeit, da sie als Bestandteil eines fiktionalen Zusammenhangs gekennzeichnet sind. Auch formal-textuell spricht die Kennzeichnung der Erzählerrolle für Fiktionalität, wenn Wieland im Konjunktiv davon spricht, daß der historische Agathon einige Züge zum Agathon des Romans „hergegeben haben könnte“.697 An der für die Zeitgenossen moralisch prekären Figur des Hippias wird Wielands Spiel mit der fiktionalen Rezeptionssteuerung in besonderem Maße deutlich: Der Herausgeber warnt zunächst ausdrücklich vor der Identifizierung von Autorposition und Haltung des Hippias, indem er die historisch tradierten negativen Verhaltensweisen der Sophisten betont,698 äußert dann aber Zweifel an der Unparteilichkeit Platons, den er als diejenige historische Quelle benennt, aus der er die kritischen Gegenargumente bezogen habe.699 Aus Gründen der historischen Wahrheit habe er Hippias als gelehrten, geschmackvollen Philosophen voller Lebensart darstellen müssen. Denn – hier schließt sich der Kreis – Plato biete vermutlich keine historische Wahrheit, sondern eine bloß wahrscheinliche Quelle.700 Die erzählerische Sympa693

Ebd., S. 3f. Campe bezieht sich, wenn er die Figur der „improbable probability“ verfolgt, nicht auf Wielands essayistische Stellungnahmen, sondern hält nur Figurenreden gegeneinander. Vgl. Campe: „Improbable Probability“, S. 155. 694 Wieland: Was ist Wahrheit, S. 190. 695 Ebd., S. 191. 696 Vgl. Wieland: Ueber das Historische, S. 7f. Hier demonstriert Wieland, daß auch vermeintlich durch langandauernde Überlieferung gesicherte historische Bezüge bloß wahrscheinlich sind. Auch das positiv verstandene praeiudicium antiquitatis verliert an Eindeutigkeit. 697 Ebd., S. 13. (Hervorh. R. G.) 698 So auch in der 1. Fassung der Geschichte des Agathon. Vgl. Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Erste Fassung. Hg. Fritz Martini / Reinhard Döhl (Mitw.). Stuttgart 1996, S. 8f. Vgl. Bernhard Budde: Aufklärung als Dialog. Wielands antithetische Prosa. Tübingen 2000, S. 7f.; Kimmich: Wielands Epikureismus, S. 53, Thomé: Roman und Naturwissenschaft, S. 235, Erhart: Entzweiung, S. 109f. 699 Vgl. Wieland: Ueber das Historische, S. 21ff., 26. 700 Vgl. ebd., S. 26f. Verfolgt man Wielands eigene Quellenangaben, setzt sich das Spiel mit fragmentarisierter und offener Rezeptionssteuerung fort: Wieland weist auf Bayle hin und behauptet, das Urbild der Danae sei weniger Leontium als Glycera. Vgl. ebd., S. 18f. In Gottscheds Ausgabe von Bayles Dictionnaire findet sich der Hinweis, Leontium habe eine Tochter namens Danae gehabt, die im „Buhlerwerke“ den Fußstapfen ihrer Mutter gefolgt sei. Vgl.

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thielenkung auf die Figur des Agathon schließt nicht aus, daß auch Hippias’ Argumente ernsthaft in Erwägung gezogen werden müssen.701 Erzählen und das Erzählen von Geschichte(n) wird dem philosophischen Systematisieren als Diskursform auch bei Wezel kontrastiert.702 Die Menschheitsgeschichte wird zum Erklärungsmuster, das anthropologische und historische Konditionen gnoseologischer Systeme verbindet. Doch bedeutet dies nicht, daß eine andere Wahrheit an die Stelle der philosophischen tritt. Die Fähigkeit, zwischen „erdichteten“ und glaubwürdigeren Geschichten zu unterscheiden, liegt ausschließlich beim Rezipienten.703 Der graduelle Maßstab der Wahrscheinlichkeit leidet keine apriorische Festlegung, sondern muß prozessual im Erkenntnisakt des Lesers immer wieder neu justiert werden. Dieser selbständige Erkenntnisakt kann durch den Autor nur begrenzt gesteuert werden: „wie soll ich also mit dem Leser sprechen, da ich keine Zeichen habe, ihm meine Gedanken mitzutheilen?“704 Doch nicht nur die Darstellung der Welt außer uns liefert keine sichere Wahrheit, auch die Instanz des Autors ist in deren Vermittlung beschränkt. Die Darstellung genügt schon strukturell nicht einem absoluten Wahrheitsanspruch.705 Wieland begründet Rezeptionsoffenheit für den Teutschen Merkur, indem er auf die subjektive Prägung, auf die naturalisierend-sozialisierende Perspektive jedes Urteilenden und auf die historische Wandelbarkeit von Urteilen hinweist.706 Das Publikum werde „in den Stand gesetzt, ein erleuchtetes Urtheil zu fällen“,707 unter methodischer Anleitung (eines Literaturkritikers im Falle literarischer Werke) selbst am öffentlichen aufklärerischen Diskurs urteilend und Vorurteile korrigierend teilzunehmen. Doch bedeutet dies nicht, daß normative Faktoren der subjektiven Wahrnehmung zum Maßstab werden. Im Urteil über Literatur etwa (dies gilt hier als Pars pro toto gnoseologischer Prozesse) werde die zeitliche Progression dazu führen, daß sich die Werkbetrachtung von der subjektiven Bindung an den Charakter des Autors löst: Bayle: Historisches und kritisches Wörterbuch, 3.Th., S. 92. Diese Danae könnte also durchaus, Wielands gegenteiligen Bekundungen zum Trotz, das Vorbild der Romanfigur sein. 701 Vgl. Kimmich: Epikureische Aufklärungen, S. 188, Fritz Martini / Reinhard Döhl: Nachwort, in: Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Erste Fassung. Hg. von dens. Stuttgart 1996, 643–679, hier S. 653. 702 Ein solches antisystemisches Spiel ähnelt der Unterrichtsgestaltung am Dessauer Philanthropin. Vgl. Phillip S. McKnight: Einführung, in: Johann Karl Wezel: Pädagogische Schriften. Hg. von dems. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern u.a. 1996, 5–86, hier S. 22f. 703 Wezel: Versuch, S. 132. Wezel weist darauf hin, daß er Beispiele aus Tissot und Zimmermann verwendet habe, die er selbst nicht für wahr halte. Doch erwägt Wezel auch bei beiden Autoren eine möglicherweise fiktionale Rezeptionsabsicht: Sie könnten diese unwahren Beispiele angeführt haben, „um uns mit schönen Erzählungen in Erstaunen zu setzen“. (Ebd.) 704 Ebd., S. 144. 705 Vgl. ebd. 706 Vgl. Christoph Martin Wieland: Der Herausgeber an das Teutsche Publicum, in: Der Teutsche Merkur 2 (1773). 1.St., III–XVI, hier S. IVff. 707 Christoph Martin Wieland: Vorrede des Herausgebers zu: Der deutsche Merkur [Vorrede zum 1. Jahrgang], in: AA 21, 4–11, hier S. 10. Vgl. auch ebd., S. 8ff.

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die Nachwelt sieht nicht mehr den Mann, sondern was er gethan hat, oder (richtiger zu sprechen) sie urtheilt nicht mehr von den Werken nach ihren Vorurtheilen für oder wider den Mann, sondern von dem Manne, nach dem herrschenden Eindruck, den seine Werke machen.708

Die differenzierende Verschränkung von Fiktion und Wahrheit, die auch in der Vorrede zur zweiten Fassung des Agathon konstitutiv ist, öffnet sich dem Urteilsprozeß des Rezipienten, der nicht mehr auf Vorurteilsdetektion und -kritik abzielt, sondern darauf, eigenverantwortlich an der Transformierung des Vorurteilsdiskurses teilzunehmen.709 Dieses Modell der Rezeptionssteuerung wird in essayistischen Texten ausdrücklich thematisiert, wenn Wieland den Leser auffordert, die Reflexion selbst fortzusetzen: „Jeder die Wahrheit aufrichtig liebende Leser möge hier einen Augenblick still stehen, und dann die Betrachtungen selbst fortsetzen, auf die ihn das Gesagte natürlicher Weise führen muss!“710 Die Überprüfung bisher getroffener Urteile und Vorurteile und die Möglichkeit, neue Urteile zu fällen, beruht auf vorhandenen Hypothesen. Sie setzt, wie Wieland meint, ein Innehalten voraus, das es ermöglicht, vom passiven Nachvollziehen abzuweichen.711 Wielands Erkenntnismodell kann mithin nicht auf einen vermeintlich geradezu zügellosen Polyperspektivismus (sowohl auf Seiten des Autors als auch auf der der Rezipienten) eingeschränkt werden. Zurecht bettet Beetz Wielands Techniken des Polyperspektivismus in ein Ensemble erzähltechnischer Optionen ein, die den Vorurteilsdiskurs erzählerisch transformieren.712 McCarthy arbeitet heraus, daß für Wieland jede Perspektive relativ und begrenzt ist und daß dieses Perspektivenbewußtsein auch die Erzählstruktur bestimmt.713 Innerhalb des erkenntnispraktisch justierten Vorurteilsdiskurses wird eine nicht-transzendente, experimentelle Lösung des Erkenntnisproblems favorisiert. Methodologisch wird Selbstaufklärung thematisiert und vermittelt. Doch bleibt sie in diesen essayistischen Formen noch insofern defizitär, als sie den Normverlust des Vorurteilsdiskurses noch nicht ausgleichen konnte, der durch dessen Entlogisierung verursacht worden war. Letztlich kann die Lösung für die philosophische Aporie nicht innerhalb der Philosophie gelingen. Denn in systemisch-philosophischen Formen kann zum Handeln des Lesers nur aufgefordert oder übergeleitet werden. Aufforderungen an den Rezi708 709 710 711 712

Ebd., S. 9. Vgl. Erhart: Entzweiung, S. 145. Wieland: Über den freyen Gebrauch, S. 53f. Vgl. ebd., S. 124f. Vgl. Manfred Beetz: Wunschdenken und Realitätsprinzip. Zur Vorurteilsanalyse in Wielands Agathon, in: Jörn Garber / Heinz Thoma (Hg.): Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert. Tübingen 2004, 263–286, hier S. 264, 277. 713 Ob das über den Perspektivismus hinausführende Kriterium für Wielands Erkenntnistheorie durchgängig die „höhere Bestimmung des Menschen“ ist, scheint mir fraglich. Vgl. McCarthy: Wielands Metamorphose, S. 151*ff. McCarthy weist darauf hin, daß Wieland zur Kennzeichnung seines Selbstverständnisses die Metapher des „Chamäleons“ verwendet. Vgl. ebd., S. 151*, Wieland an Zimmermann am 27.3.1759, in: Wieland: Briefwechsel. Bd. 1, Briefnr. 361, S. 415.

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pienten, ein bestimmtes, rationales Verhalten anzunehmen, setzten eine nur-rationale Steuerung dieses Vorganges voraus. Die anthropologischen Bedingungen jedes Urteilsprozesses, die Wieland ausdrücklich anführt, verdeutlichen selbst zur Genüge, daß eine rationale Steuerung hin zu einem rationalen Vorgang kaum Erfolgschancen hat. In literarischen Formen erst kann die Transformierung des Vorurteilsdiskurses affektiv zu einem reflexiven Vorgang hinsteuern. Auf der Textebene wird ein Interaktionsangebot formuliert, das auf die Episteme des Vorurteilsdiskurses abhebt, indem es den Regulationsmechanismus der Eigenaktivität des Rezipienten als einen auf sich selbst bezogenen Prozeß des Umgangs mit Vorurteilen konstituiert. 5.5.2 Erzählte Transformierung: Ein paar Goldkörner aus Maculatur Bereits in Wielands Essays aber können erzählstrukturelle Rezeptionsstrategien den Vorurteilsdiskurs zum eigenverantwortlichen Handeln des Rezipienten hin erweitern und damit den gnoseologischen Diskurs über das Vorurteil spezifizieren. Mit Blick auf die erkenntnistheoretischen Prämissen Wielands wie auf die anthropologiebasierten Argumentationsstrategien, die dieser verwendet, können selbst vermeintlich eindeutige essayistische Stellungnahmen Wielands neu gelesen werden.714 Exemplarisch hierfür steht Wielands knapper Essay Ein paar Goldkörner aus – Maculatur oder Sechs Antworten auf sechs Fragen.715 Die Erzählstruktur dieses Essays ist bisher in der Forschung nur selten wahrgenommen worden. Schneiders meint gar, Tautologien in Wielands Argumentationsführung zu erkennen. Er zieht den narrativen Charakter nicht in Betracht, wenn er den Essay als unmittelbare Stellungnahme Wielands zum Problem der wahren Aufklärung liest.716 Albrecht hat, einem Hinweis Hinskes folgend, darauf hingewiesen, daß

714

Hofmanns These vom ‚Niveauunterschied’ der theoretischen Reflexion Wielands gegenüber den anspruchsvolleren poetischen Texten vermag ich nicht zuzustimmen. Beide Textsorten erweisen sich erzählstrategisch als vielfach verschränkt, und die Kategorie des Niveaus sollte nicht vom Publikationszusammenhang und der Publikationsstrategie des beurteilten Textes gelöst werden. Vgl. Michael Hofmann: Reine Seelen und komische Ritter. Aspekte literarischer Aufklärung in Christoph Martin Wielands Versepik. Stuttgart / Weimar 1998, S. 11f. 715 Vgl. Christoph Martin Wieland: Ein paar Goldkörner aus – Maculatur oder Sechs Antworten auf sechs Fragen, in: AA 23, 270–275. In die Ausgabe letzter Hand wurde der knappe Essay nicht aufgenommen. Erstmals publiziert wurde er im Teutschen Merkur im April 1789. Vgl. Thomas C. Starnes: Der Teutsche Merkur. Ein Repertorium. Sigmaringen 1994, S. 165. 716 Vgl. Schneiders: Wahre Aufklärung, S. 122ff. Auch Schaefer nimmt, von inhaltlichen Fehlern abgesehen, Wielands Zitat für bare Münze, daß es in der Aufklärung um die simple Erkenntnis des Wahren und Falschen gehe. Vgl. Klaus Schaefer: „[...] nur dem einzelnen Menschen, nicht der Menschheit sind Grenzen gesetzt.“ Zu einigen Aspekten von Christoph Martin Wielands Gesellschafts- und Geschichtsbild zwischen 1789 und 1800, in: Impulse. Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik. 8. Folge (1985), 190–202, hier S. 191f.

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Ironie und Persiflage den Text entscheidend prägten und Wielands eigene Positionen nur ironisch verkürzt zur Darstellung kämen.717 Ich plädiere dafür, Wielands Ein paar Goldkörner nicht-pragmatisch zu lesen und dem Text insofern funktional-historisch Fiktionalitätsstatus zuzuweisen, als er eine eingeschränkte Proposition und eine uneindeutige Illokution aufweist. Hierfür sprechen formal-textuelle Merkmale der Sprachverwendung wie auch die SelbstReferentialität des Textes. Schon in dessen Eingang stellt sich die Frage nach dem Fiktionalitätsstatus: Wieland, der anonym bleibende Autor, beginnt mit der Darlegung der Umstände, die zur Entstehung des Textes geführt hätten. In der rhetorischen Tradition wie in der Poetik der Aufklärung wäre es nur dann notwendig, mit der Darlegung der Entstehungsgeschichte die faktische Wahrheit des Berichteten ausdrücklich zu behaupten, wenn man dem Gesagten eine außerordentliche Bedeutung zuspräche.718 Unerhebliche Sachverhalte bedürften keiner Beglaubigungstopoi. Dies indes wird in Wielands Essay mehrfach konterkariert. Die berichtete Entstehung zeugt von einer kontingenten Situation: „Nichts kann zufälliger sein als die Entstehung dieses kleinen Aufsatzes.“719 Ein Makulaturbogen aus einem unbekannten Buch sei ihm als Verpackung einer wichtigeren Broschüre aus Leipzig zugesandt worden.720 Damit wird der Anlaß, der zum Text geführt hat, herabgesetzt. Handelte es sich um Fragen von höchster zeitgenössischer Relevanz, wäre kaum glaubhaft, daß diese dem Verfasser auf solch zufälligem Wege vor Augen geführt würden. Für eine solche Herabstufung spricht auch der Hinweis Wielands auf die zeitgenössisch übliche Art der Wiederverwertung von Makulaturbögen – insbesondere wenn es sich um weiches Papier handele.721 Auch der textliche Anspruch auf Wahrheit wird metaphorisch abgeschwächt. Wieland spielt auf das Geheimbundwesen der Zeit an, indem er an die im Umkreis der geheimen Gesellschaften verortete Suche nach dem Stein der Weisen erinnert. Ein Adept habe, wie sich die Leser erinnerten, „aus einer gewissen unnennbaren Materie den Stein der Weisen zu ziehen“ gesucht.722 Die Anspielung mystifiziert einerseits den Geheimnischarakter alchimistischer Versuche, setzt aber andererseits auch die Relevanz des Analogons herab: Denn als „unnennbar“ galten im Gefolge des Bedürfnisses nach sozialer Distinktion die in der Zone subjektiver Immunität angesiedelten Körperausscheidungen.723 Die deutliche Anspielung auf das Geheimbundwesen der Zeit deutet darauf hin, daß Wieland seine Quelle, anders als er angibt, doch bekannt gewesen sein dürfte. Ernst Anton August von Göchhausens Aufschluß und Vertheidigung der Enthüllung des Systems der Weltbürger-Republik 717 718 719 720 721 722 723

Vgl. Albrecht: Wielands Vorstellungen, S. 43ff., Hinske: Einleitung, S. XLII. Vgl. Clemens Ottmers: Rhetorik. Stuttgart / Weimar 1996, S. 55. Wieland: Ein paar Goldkörner, S. 270. Vgl. ebd. Die Ortsangabe weist auf den Leipziger Verleger Göschen hin. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Koschorke: Körperströme, S. 43ff. Wieland bleibt dabei im einmal aufgerufenen Bild.

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ist als Quelle der für Wielands Essay titelgebenden Fragen leicht erschließbar. Göchhausen entwickelt hier eine konservative Verschwörungstheorie, die den vermeintlich von Jesuiten unterwanderten Illuminaten staatsfeindliche Umtriebe und Umsturzpläne unterstellt.724 Doch ist dieser Zusammenhang zur Geheimbundproblematik auf Seite 214, die Wieland ausschließlich zu kennen vorgibt, nicht erkennbar. Daß Wieland also gerade den Bildbereich des Geheimgesellschaften zur Illustration verwendet, mag ein weiterer „Zufall“ sein, wahrscheinlicher scheint, daß Wieland von Göchhausens Schrift mehr kannte als nur eine einzige Seite.725 Wieland reagiert, so meine These, auf die anti-aufklärerischen und reaktionärkonservativen Züge von Göchhausens Buch.726 Dieser distanziert sich bereits mit dem kursorisch formulierten Ziel, die Fragen sollten „einstimmig berichtigt“ werden, vom selbstaufklärerischen Diskurs.727 Das von Göchhausen registrierte Defizit formuliert ex negativo ein Ideal, das das Geschäft der Aufklärung nur einem ausgewählten Kreis von Aufklärern zumutet und es zudem thematisch einschränkt, indem er dasjenige, „was jenseits dem Forschungsvermögen der Menschheit liegt“,728 von jeglicher Reflexion ausschließt. Göchhausen setzt sich mit Bodes entlarvender Rezension seines anti-illuminatischen Buches auseinander. Er verteidigt sich mit einem material-falschen Vorurteilsbegriff, der Vorurteilskritik und damit die Entscheidungskompetenz über Wahrheit oder Falschheit einer Meinung in die Verantwortung des Staates legt. Denn die „gesunde Vernunft“ habe hinlänglich bewiesen, daß sie nicht in der Lage 724

Vgl. [Ernst Anton August von Göchhausen:] Aufschluß und Vertheidigung der Enthüllung des Systems der Weltbürger-Republik. Nebst einer Bitte an die Leser. Rom [i.e. Leipzig] 1787, S. 214. Göchhausen entwarf seine Verschwörungstheorie in einer Reihe in kurzer Zeit aufeinanderfolgender Publikationen, beginnend mit: [Ernst Anton August von Göchhausen:] Enthüllung des Systems der Weltbürger-Republik. In Briefen aus der Verlassenschaft eines Freymaurers; Wahrscheinlich manchem Leser um zwanzig Jahr zu spät publicirt. Rom [Leipzig] 1786. 725 Wieland hatte Göchhausens Enthüllung Reinhold zur Rezension vorgeschlagen. Ob er eine positive Rezension erwartete, wie Wilson vermutet und woraus dieser Wielands Zustimmung zur Verschwörungstheorie ableitet, scheint mir unsicher. Vgl. W. Daniel Wilson: Geheimräte gegen Geheimbünde. Ein unbekanntes Kapitel der klassisch-romantischen Geschichte Weimars. Stuttgart 1991, S. 169. Wieland bezeichnet später seine und Göchhausens Überzeugungen als „antipodisch“. Vgl. Christoph Martin Wieland: Anmerkungen zu: v. G[oechhausen], Bestimmtere Antwort auf das Sendschreiben im 7ten Stück des Neuen Teutschen Merkurs 1791 über das Buch Meines Vaters Haus-Chronika betitelt, von dem Verfasser dieser Schrift, in: AA 23, 382–384, hier S. 382. [Erstmals im Anschluß an Göchhausens Artikel in: Neuer Teutscher Merkur 1792. Bd. 3, 41–125] 726 Vgl. Wolfgang Albrecht: In Biedermannsposen polemisch eifernd wider die „Epidemie der Aufklärungswuth“. Ernst August Anton von Göchhausens Beiträge zur norddeutsch-protestantischen Gegenaufklärung, in: Christoph Weiß / ders. (Hg.): Von ‚Obscuranten’ und ‚Eudämonisten’. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert. St. Ingbert 1997, 155–192, hier zur Verschwörungstheorie S. 158f., zu anti-aufklärerischen Strategien Göchhausens S. 160ff.; Christoph Weiß: Ernst August Anton von Göchhausen, in: Walther Killy (Hg.): Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 4. Gütersloh / München 1989, 182–183, hier S. 182. 727 Göchhausen: Aufschluß und Vertheidigung, S. 214. 728 Ebd., S. 215.

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sei, Vorurteile auszurotten.729 Göchhausen bezieht sich ausdrücklich auf Mosers kritische Einwände gegen eine allgemeine Aufklärung, weitet diese jedoch aus zu einem politisch konservativen, jeglicher individueller Aufklärung skeptisch gegenüberstehenden Plädoyer für eine rigide Begrenzung von Aufklärung.730 Grundlage einer solchen Argumentation, die dennoch am Zentralbegriff „Aufklärung“ instrumentalisierend festhält, ist der Versuch, den Aufklärungs- wie den Vorurteilsdiskurs theologischen Regeln zu unterwerfen. Denn „der menschliche Wille muß eingeschränkt werden, weil er verdorben ist.“731 Da jeder Einzelmensch jedoch voluntativ und affektiv anfällig sei, obliege es nicht den Individuen, sondern dem Staat, den Willen zur Vorurteilskritik zu steuern.732 Göchhausen entwickelt seine Argumente in Aufschluß und Vertheidigung wenig systematisch, sondern wiederholt sie mehrfach in Auseinandersetzung mit verschiedenen Kritikern (darunter in erster Linie Carl Friedrich Bahrdt und Adolph von Knigge). Auch auf diese sprunghaft-fragmentarische Textstruktur könnte Wielands Bild des „Makulaturbogens“ anspielen: Es handelt sich um aus dem Zusammenhang gerissene Textfragmente. Wieland wiederholt und ironisiert in Ein paar Goldkörner, indem er Göchhausen nur selektiv und ohne Zusammenhang anführt, dessen eigenes Verfahren der Fragmentierung. Das intertextuell verweisende Verfahren selbst, das die Textstruktur aus Göchhausens Buch imitiert und dadurch Verfahren und Duktus der Eindeutigkeit in den Antworten ironisiert, läßt zweifeln, ob Wielands Selbstauskunft de facto zutrifft, in der er sich zur Verfasserschaft bekennt und betont: „alles was besagter Timalethes von der Entstehung seiner im T. M. April 1789. befindlichen sechs Antworten auf sechs Fragen seinen Lesern gebeichtet hat, [sei] bis auf den geringsten Umstand in facto die lautere Wahrheit“.733 Dies wäre als Teil von Wielands Spiel mit dem Publikum verstehbar, 729

Vgl. ebd., S. 189ff. Göchhausen bezieht sich hier auf: [Johann Joachim Christoph Bode:] Unter dem angeblichen Druckorte Rom: Enthüllung des Systems der Weltbürger-Republik. – In Briefen aus der Verlassenschaft eines Freymaurers, – Wahrscheinlich manchem Leser um zwanzig Jahr zu spät publicirt. […], in: Allgemeine Literatur-Zeitung 4 (1786), Nr. 282, Sp. 385–392, und ders.: Unter dem angeblichen Druckorte Rom: Enthüllung des Systems der WeltbürgerRepublik. etc, (Beschluss des Nr. 282 abgebrochenen Artikels), in: Allgemeine Literatur-Zeitung 4 (1786), Nr. 284, Sp. 401–403. Vgl. v.a. zur Vorurteilsfrage Sp. 386. Vgl. auch: Gottfried Höfer: Ernst August Anton von Göchhausen, in: Jahrbuch der Sammlung Kippenberg. N.F. 2 (1970), 110–150, hier S. 121. 730 Vgl. Göchhausen: Aufschluß und Vertheidigung, S. 90ff. 731 Ebd., S. 40. 732 Vgl. zu Göchhausens legalistischem Konservativismus nach der Revolution Hans-Wolf Jäger: Kritik und Kontrafaktur. Die Gegner der Aufklärungs- und Revolutionsreise, in: Wolfgang Griep / ders. (Hg.): Reise und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts. Heidelberg 1983, 79–93, hier S. 85, 89f. 733 Wieland: Anmerkungen zu Göchhausen, S. 123. Mit „Timalethes“ sind die Goldkörner unterzeichnet. Nebenbei: Die Seitenzählung überspringt in Göchhausens Bestimmterer Antwort 30 Seiten, die zwischen S. 67 und S. 98 fehlen. Die Zählung stimmt erst wieder mit dem OktoberStück des Merkur, das mit der zweiten, nun richtig gezählten S. 113 beginnt. Diese Seitenpaginierung als gewollte Anspielung auf einen fehlenden Bogen zu interpretieren, tendierte sicher zur Überinterpretation.

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als Teil der strategischen Rezeptionssteuerung, die, wie in den Herausgeber-Vorreden zum Teutschen Merkur angekündigt, die spätere Rezeption potentiell offenhalten.734 Wieland unterwirft den Wahrheitsanspruch seiner Replik auf Göchhausen dem diskursiven Prozeß der aufklärerischen Kritik: „Ob übrigens das, was ich aus diesen Blättern destilliret habe, ächtes Gold sey, wird sich zeigen, [...]“.735 Mit diesem Kontrast von Wahrheitsanspruch und kritischer Überprüfung ruft Wieland zentrale Argumente des Vorurteilsdiskurses auf. Wieland formuliert zunächst nicht seine adversativen Antworten auf die sechs Fragen, die er gefunden habe, sondern bekundet, die Fragen seien „schon seit einigen tausend Jahren für alle verständige Menschen keine Fragen mehr“.736 Diese hyperbolische Abgrenzung des Zeitraums der Aufklärung – denn darum wird es, wie zu sehen sein wird, gehen – suggeriert, daß eindeutige, wahre Antworten verfügbar wären, und widerspricht damit der wenige Zeilen weiter oben proklamierten Offenheit des Urteilsprozesses. Die erzählerische Hypothese eindeutiger Antworten entgrenzt den Zeitraum der Aufklärung (tendenziell ins Unendliche) und führt damit in einen ironischen Modus, der rezeptive Verunsicherung erzeugt: „wenn wir, dachte ich, uns dem ungeachtet in einem ewigen Chaos von Anmaßungen, Irrthümern und Dunkelheiten herumtreiben, so muß das wohl eine andere Ursache haben; [...]“.737 Der seit einigen tausend Jahren verfügbaren vermeintlichen Klarheit über Aufklärung widerspricht die auch typographisch markierte These des „ewigen Chaos“, das allerdings nicht auf den Mangel an Ratio zurückgeführt wird, sondern auf ungenannte andere Ursachen. Diese argumentative Doppelstrategie stellt die Fragen ironisch als längst beantwortet (und damit einer neuerlichen Antwort kaum bedürftig) dar und verweist doch gleichzeitig auf die Offenheit des aufklärerischen Prozesses, der komplexen externen Faktoren unterliegt und gerade deshalb unabgeschlossen bleibt. Nur um den Preis, diese argumentative Struktur der Einleitung zu Wielands Essay zu vernachlässigen, kann dieser als „Radikalismus der Aufklärung“ charakterisiert werden.738 Nachdem die Eingangspassagen in differenzierter Weise polyvalente Rezeptionsangebote formuliert haben, beginnt Wieland nun mit der lakonischen Beant734 735 736 737 738

Vgl. Wieland: Der Herausgeber an das Teutsche Publicum, S. IVff. Wieland: Ein paar Goldkörner, S. 270. Ebd., S. 271. Ebd. So Schneiders: Wahre Aufklärung, S. 122. Gruber wertet Wielands Essay verkürzend als Beispiel für Wielands Opposition gegen den „Zeitgeist“ (inwieweit die konservative Kritik der Aufklärung als „Zeitgeist“ markiert werden kann, sei dahingestellt). Vgl. Johann Gottfried Gruber: C. M. Wielands Leben. [...] Mit Einschluß vieler noch ungedruckter Briefe Wielands. 3.Th. V. und VI. Buch, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Bd. 52. Neu bearb. von J. G. G. Leipzig 1828, S. 446. Der Text des Essays ist in Bd. 40 der von Gruber besorgten Ausgabe ohne den Eingang, mit inkomplettem Titel (Sechs Antworten auf sechs Fragen) und ohne Unterschrift wiedergegeben: Vgl. C. M. Wielands sämmtliche Werke. Hg. J. G. Gruber. Bd. 40. Leipzig 1822, 413–424.

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wortung der von Göchhausen gestellten Fragen. Was Aufklärung sei, wisse jeder, so setzt Wieland ein, der mittels eines „Paars sehender Augen erkennen gelernt hat, worin der Unterschied zwischen hell und dunkel, Licht und Finsterniß besteht.“739 Hierzu seien allgemeine und persönliche Voraussetzungen erforderlich (ausreichendes Licht sowie Fähigkeit und Wille zu sehen).740 Das hier bekundete, zugleich aber auch anthropologisch-voluntativ limitierte Vertrauen auf die Erkenntniskraft der Empirie impliziert nicht nur eine textinterne Diskrepanz zur oben formulierten vermeintlichen Gewißheit „verständiger“, rationaler Kenntnis von Aufklärung, sondern stellt auch einen konkreten intertextuellen Verweiszusammenhang her. Göchhausen selbst zieht als sinnvolles Erkenntnisverfahren in Auseinandersetzung mit seinen Kritikern das „Hinsehen“ dem „Hinhören“ vor.741 Obwohl Wieland mithin das gleiche Urteilsverfahren anzuwenden angibt, weicht sein Ergebnis von dem Göchhausens ab: ein deutlicher Hinweis auf den dem Vorurteilsdiskurs unterliegenden multipolaren Wahrheitsbegriff. Doch zeugen auch die Antworten Wielands selbst kaum von einem Versuch, Aufklärung, deren Gegenstände und Grenzen letztgültig zu definieren. Die für die Aufklärung gängige Lichtmetaphorik, die gleichzeitig auch auf Göchhausens Desavouierungsversuch der Illuminaten anspielt, wird bis zur ironischen Tautologie wiederholt: „Das Licht des Geistes, wovon hier die Rede ist, ist die Erkenntniß des Wahren und Falschen, des Guten und Bösen.“742 Aufklärung scheide Wahres und Gutes vom Falschen und Bösen, und sie beziehe sich dabei auf all jene Gegenstände, die sie zu erkennen in der Lage ist: Die Aufklärung, d. i. so viel Erkennntniß als nöthig ist, um das Wahre und Falsche immer und überall unterscheiden zu können, muß sich also über alle Gegenstände ohne Ausnahme ausbreiten, worüber sie sich ausbreiten kann, d. i. über alles dem äussern und innern Auge sichtbare.743

Umgekehrt wird auf die dritte Frage nach den Grenzen der Aufklärung lakonisch geantwortet, die Grenzen lägen dort, wo bei allem Licht nichts mehr zu sehen ist – und dies sei noch eine zu ernsthafte Antwort.744 Es bleibt offen, ob die Aufklärung dort nicht mehr möglich ist, weil Licht als Erkenntnismittel nicht weiterhilft, oder ob Aufklärung nicht mehr notwendig ist, weil mehr Licht nicht mehr Erkenntnis bringt.

739 740 741

Wieland: Ein paar Goldkörner, S. 271. Vgl. ebd. Vgl. Göchhausen: Aufschluß und Vertheidigung, S. 21f. Göchhausen bezieht sich vermutlich auf Reinholds Rezension seiner Enthüllung. Vgl. Carl Leonhard Reinhold: Revision des Buches: Enthüllung des Systemes der Weltbürger-Republik, in: Der Teutsche Merkur 1786. Bd. 2, 176–190. 742 Wieland: Ein paar Goldkörner, S. 272. 743 Ebd. 744 Vgl. ebd., S. 272.

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Genau dies wird im folgenden selbstironisch umspielt, wenn Wieland all jene Tätigkeiten angreift, die besser im Dunkeln vor sich gehen: „wer gerne Grillen fängt, Luftschlösser baut, und Reisen ins Schlaraffenland oder in die glücklichen Inseln macht“ sei ein „natürliche[r] Gegner der Aufklärung“.745 Die hier angeführten Topoi literarisch-produktiver Einbildungskraft verdeutlichen den ironischen Sprechmodus Wielands. Wird das eigene Tun Wielands, die Entfaltung poetischer Phantasie im Modus von Märchen und Utopie, als vermeintlich sinnfreie Beschäftigung in Kontrast zur erhellenden Aufklärung gestellt, so erzeugt die Distanz eine gelingende Selbstironie. Die Bilder, die als Metapher für märchenhafte, allegorische oder auch schwärmerische Dichtungstypen verstanden werden können,746 rekurrieren auf eine ambivalente Problemlage, die mit dem Vorurteilsdiskurs eng verknüpft ist. Denn auch Wielands eigene Beiträge zum Genre verstehen die Exaltation der poetischen Phantasie (etwa im tendenziell, aber nicht grundlegend negativ konnotierten „Schwärmertum“) als graduelles Problem, das mit Hilfe rationaler Desillusionierungsverfahren nicht lösbar ist, sondern das vielmehr durch affektive Verfahren wie Shaftesburys test of ridicule begrenzt werden kann.747 Diese Aufwertung sensualistischer Erkenntnis entspricht den Vorbehalten gegenüber der rationalen Vorurteilskritik und verbindet diese mit der Bestimmung der Aufklärung: Wäre der Sachverhalt so simpel, wie es die durchgängig dichotomische Metaphorik von Wielands Goldkörner-Essay nahelegt, widerspräche die poetische Einbildungskraft jeglicher Aufklärung, ja, sie machte alle „Gegner der Aufklärung“ ihr gegenüber resistent: „nimmermehr werden sie (die Grillen fan-

745 746

Ebd. Wieland bedient sich hier eines Repertoires zeitgenössischer Attribute der Einbildungskraft. Konkrete Bezüge zu bestimmten Texten wären zwar möglich, doch geht es m.E. hier eher um eine generelle Kennzeichnung. Der Topos der „glücklichen Inseln“ wurde im Zuge der Rezeption der Südseereisen auch literarisch belebt. Vgl. zeitnah zu Wielands Goldkörner-Essay: [Johann Gottlob Benjamin Pfeil:] Die glückliche Insel oder Beytrag zu des Capitain Cooks neuesten Entdeckungen in der Südsee aus dem verlohrnen Tagebuch eines Reisenden. Leipzig 1781 – eine Utopie, die an Schnabels Insel Felsenburg anknüpft; Friedrich Wilhelm Zachariä: Tayti, oder die glückliche Insel. Braunschweig 1777; Wilhelm Heinse: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Eine Italiänische Geschichte aus dem sechszehnten Jahrhundert. Lemgo 1787, der im Künstlerroman die ästhetische Weltkonstruktion mit der raum-zeitlichen Distanzierung verbindet. „Grillenfangen“ beschreibt eine nicht immer negativ konnotierte spielerische Beschäftigung der Einbildungskraft. Vgl. Der Glückselige. 2.Th. (1763), 51.St., S. 200. 747 Vgl. zu Wielands Don Sylvio von Rosalva Schings: Melancholie, S. 197ff., ders.: Der anthropologische Roman, S. 253f., Jutta Heinz: Von der Schwärmerkur zur Gesprächstherapie – Symptomatik und Darstellung des Schwärmers in Wielands ‚Don Sylvio‘ und ‚Peregrinus Proteus‘, in: Wieland-Studien 2 (1994), 33–53, hier S. 39. Berthold weist auf den poetologischen Zusammenhang hin, daß die Binnen-Feengeschichten in Don Sylvio nicht einer lückenlosen kausalen Motivierung bedürfen, sondern innerer Wahrscheinlichkeit genügen. Vgl. Berthold: Fiktion, S. 116ff. Vgl. zu Wielands Shaftesbury-Rezeption Stefan Jordan: Shaftesbury und die deutsche Literatur und Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Ein Prolegomenon zur Linie GottschedWieland, in: GRM 44,4 (1994), 410–424; Jan Engbers: Der „Moral-Sense“ bei Gellert, Lessing und Wieland. Zur Rezeption von Shaftesbury und Hutcheson in Deutschland. Heidelberg 2001, S. 53ff., 63ff., 103ff.; Dehrmann: Produktive Einsamkeit.

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genden und Luftschlösser bauenden Gegner der Aufklärung, R. G.) sich überzeugen lassen, daß das Licht über alle Gegenstände verbreitet werden müsse, die dadurch sichtbar werden können; [...]“.748 Jene Selbstironisierung der poetischen Phantasten spricht mithin dafür, daß Wielands Essay allzu platte, dichotomische, logisch-definitorische Aufklärungspropaganda ebenso entlarvt wie er vor der politischen Instrumentalisierung solcher Simplifizierungen warnt. Innerhalb der Licht-Metaphorik antwortet Wieland schließlich auf die Frage, durch welche „sichere Mittel“ Aufklärung befördert werde, das sicherste Mittel sei die Vermehrung des Lichts.749 Die Vorstellungen, Begriffe, Urtheile und Meynungen der Menschen werden aufgeklärt, wenn das Wahre vom Falschen daran abgesondert, das Verwickelte entwickelt, das Zusammengesetzte in seine einfachern Bestandtheile aufgelößt, das Einfache bis zu seinem Ursprung verfolgt, und überhaupt, keiner Vorstellung oder Behauptung, die jemals von Menschen für Wahrheit ausgegeben worden ist, ein Freybrief gegen die uneingeschränkteste Untersuchung gestattet wird.750

Um „Sicherheit“ im Fortschreiten der Aufklärung zu erhalten, reichten isolierte Erkenntnisprozesse nicht aus – seien sie logischer Art, dienten sie der Dekomplexion, der Analyse, der kausalen Ursachenforschung. Als methodische Grundregel gilt vielmehr das skeptische Verfahren der Vorurteilskritik, das keinen Gegenstand ausschließen darf. Der Duktus von Wielands Text wird nun ernsthaft, wenn er Zweifel an diesem Mittel und an dessen fortgesetzter, uneingeschränkter Anwendung dem Verdacht der Unlauterkeit aussetzt: „Es wäre Spott und Schande, wenn wir nachdem wir schon dreyhundert Jahre lang nach und nach einen gewissen Grad von Licht gewohnt sind, nicht endlich einmal im Stande seyn sollten, hellen Sonnenschein ertragen zu können.“751 Schon die zeitliche Präzisierung des Beginns der Aufklärung gegenüber den „einigen tausend Jahren“ des ironischen Eingangs markiert, daß Wieland hier nun an ein Verständnis von Aufklärung anknüpft, das diese als historischen Prozeß situiert, der in der Reformation (cum grano salis) seinen Anfang nahm. Auch die sich im weiteren Verlauf des Essays anschließenden Forderungen nach einer Aufklärung, zu der alle berechtigt sind, nach Rede- und Pressefreiheit und damit auch danach, Öffentlichkeit als Medium der aufklärerischen Auseinandersetzung nicht einzuschränken, sprechen in Duktus und Stilart dafür, daß Wieland nun aufklärerische Grundlagen didaktisch präsentiert.752 Die These 748 749 750 751 752

Wieland: Ein paar Goldkörner, S. 272. Ebd., S. 273. Ebd. Ebd., S. 274. Vgl. Wieland: Ein paar Goldkörner, S. 274f. Eine einzige Ausnahme von der Redefreiheit formuliert Wieland. Er fordert die Erneuerung des Strafgesetzes gegen Geheimgesellschaften. Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, daß Wieland Geheimgesellschaften in den 1780er Jahren noch skeptisch gegenüberstand. Vgl. Wilson: Geheimräte, S. 170. Daß Wieland grundsätzlich Göchhausens Anliegen und Verschwörungstheorie zustimmt, läßt sich so nicht erweisen. Deutlich ironische Stilzüge weist Wielands Beylage zum Essay Über den freyen Gebrauch der

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korrespondiert dem von Wieland im Essay Ueber die Rechte und Pflichten der Schriftsteller entwickelten Zusammenhang von Pressefreiheit und Aufklärung: Pressefreiheit, die als natürliches Recht der Menschheit legitimiert ist, gilt für Wieland als Bedingung aufklärerischen Fortschritts.753 Man erkenne die Wahrheit der Aufklärung, so schließt Wieland seinen Essay Ein paar Goldkörner, „wenn es im Ganzen heller wird“, wenn „die Masse der Vorurtheile und Wahnbegriffe zusehends immer kleiner wird“, wenn der Respekt vor der menschlichen Natur und ihren Rechten und Ständen zunehme und „wenn alle Messen einige Frachtwagen voll Broschüren gegen die Aufklärung in Leipzig ein und ausgeführt werden.“754 Auch dieses vermeintlich eindeutige Resümee zeugt im Detail von erzählstrategischer Rezeptionssteuerung: Denn „Aufklärung“ bedeutet – in dieser Hinsicht Kants Differenzierung von „Zeitalter der Aufklärung“ und „aufgeklärtem Zeitalter“ ähnlich755 – einen prozessualen Erkenntnisfortschritt, der entsprechenden Mitteln und Zielen verpflichtet ist. Ziel dieses Prozesses ist keineswegs völlige Freiheit von Vorurteilen, sondern nur deren sukzessive Eindämmung. Am Maßstab des wachsenden Widerstands der Gegner, der zunehmenden antiaufklärerischen Publikationen, ist der Erfolg jener Aufklärung zu messen.756 In Ein paar Goldkörner entwickelt Wieland ein immanentes, erzählstrategisch innovatives Konzept, das die prozessualen Aspekte der Aufklärung mit dem Vorurteilsdiskurs elementar verbindet. Damit überschreitet Wieland im Genre des Essays dessen Grenzen und vitalisiert die Textsorte zur Ermächtigung des Lesers.

Vernunft auf, in der er vermeintlich beschwichtigend anmerkt, der Urheber der Unterscheidung von „Pressfreyheit“ und „Pressfrechheit“ habe nicht beabsichtigt, gegen die Pressefreiheit vorzugehen: vgl. Wieland: Über den freyen Gebrauch, S. 133f. Diese polemische Unterscheidung geht nicht direkt auf das Wöllnersche Religions-Edikt zurück, gewinnt aber im Umkreis darauf folgender Kabinettsordern und der öffentlichen Diskussion schnell an Wirkung: vgl. Christina Stange-Fayos: Lumières et Obscurantisme en Prusse. Bern 2003, S. 179ff. 753 Vgl. Wieland: Ueber die Rechte und Pflichten, S. 65f. 754 Wieland: Ein paar Goldkörner, S. 275. 755 Vgl. Kant: Beantwortung der Frage, S. 40. 756 Der Essay schließt mit einem kurzen Spottvers: „Sagt, hab ich recht? Was dünkt euch von der Sache / Herr Nachbar mit dem langen Ohr?“ und dem Pseudonym Timalethes (= Wahrheitsehrer) (vgl. Wieland: Ein paar Goldkörner, S. 275). Der Adressat dieses Verses konnte nicht ermittelt werden. Es könnte spekuliert werden, daß Wieland seinen Schwiegersohn Karl Leonhard Reinhold ansprach. Zeitnah berichtet Schiller, Wieland habe Reinhold einen Esel geschimpft: vgl. Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner am 29.8.1787, in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 24. Briefwechsel. Hg. Karl Jürgen Skrodski / Walter Müller-Seidel. Weimar 1989, Briefnr. 97, S. 145.

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5.5.3 Narrative Möglichkeiten der Transformierung des Vorurteilsdiskurses in literarischen Texten; oder: „der Leser denkt, was er kann, und niemals, was er soll.“ Markiert ein Autor seine eigenen Texte als fiktionale, wird die Gefahr geringer, daß inhaltliche Positionen dem Verfasser selbst zugeschrieben werden. Neben der semantisch-inhaltlichen Dimension der Handlung, zu deren Analyse und Interpretation hermeneutische Anstrengungen unternommen werden, eröffnet sich der Horizont der Text- und Rezeptionsstrategie. Beide Aspekte verbinden sich im literarisierten Vorurteilsdiskurs. Wieland lenkt mit Hilfe der Steuerung rezeptionsästhetischer Prozesse die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf Diskrepanzen, hält ihn zum Überdenken inhaltlicher Wahrheit an und initiiert den Prozeß seiner (Vor-)Urteilskritik. Dieses Verfahren ermöglicht einen neuen Umgang mit den Aporien des Vorurteilsdiskurses.757 In der Wieland-Forschung hat die Geschichte des Agathon nicht erst in jüngster Zeit wohl die größte Beachtung gefunden.758 Über den philosophischen Systemvergleich hinaus sind Wielands erzählerische Strategien, die Diskursivität der Form, das Verhältnis von Moral und Verhalten, von Entwicklung und Beharren vielfach herausgearbeitet worden. Thomé bestimmt als zentrales Thema des Agathon das Problem, wie eine adäquate Methode zur Erkenntnis des Realen und von dessen Inhalt und Struktur zu finden sei. Martini und Döhl zeigen, daß Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit der psychologischen Beschaffenheit des Menschen und seiner Lebenswelt im Fokus stehen.759 Schings arbeitet die Konsequenzen der anthropologischen Methode für die Erzähltechnik heraus760 und weist an anderer Stelle

757

Vgl. zur Rezeptionssteuerung Erhart: Entzweiung, S. 145, zur methodischen Differenzierung ebd., S. 16. Würzner greift zu kurz, wenn er Agathon als Konkretisierung einer Leseerwartung interpretiert, die von der Verbindlichkeit subjektiver Perspektiven zu überzeugen suche. Vgl. M. H. Würzner: Die Figur des Lesers in Wielands „Geschichte des Agathon“, in: Hansjörg Schelle (Hg.): Christoph Martin Wieland. Darmstadt 1981, 399–406, hier S. 400, 404f. – Die Aporien aufklärerischen Denkens werden nicht nur „thematisiert“, wie Hofmann behauptet. Vgl. Hofmann: Reine Seelen, S. 13. 758 Hier soll nur eine Auswahl einschlägiger neuerer Monographien genannt werden: Claire Baldwin: The Emergence of the Modern German Novel. Christoph Martin Wieland, Sophie von La Roche, and Maria Anna Sagar. Rochester / NY 2002, Budde: Aufklärung als Dialog, Alan Corkhill: Glückkonzeptionen im deutschen Roman von Wielands „Agathon“ bis Goethes „Wahlverwandtschaften“. St. Ingbert 2003, Erhart: Entzweiung, hierzu kritisch: Jürgen Jacobs: Fehlrezeption und Neuinterpretation von Wielands ‚Agathon‘. Anmerkungen zu einem neuen Deutungsvorschlag, in: Wieland-Studien 3 (1996), 273–281, Christiane Herde: Jenseits der Moralsysteme: philosophische Gespräche in Wielands „Geschichte des Agathon“. Darmstadt 2000, Andrejs Petrowski: Weltverschlinger, Manipulatoren und Schwärmer. Problematische Individualität in der Literatur des späten 18. Jahrhunderts. Heidelberg 2002. 759 Vgl. Martini / Döhl: Nachwort, S. 644f. 760 Vgl. Schings: Der anthropologische Roman, S. 254ff. Schings weist auch darauf hin, daß Wielands anthropologische Kategorientafel der aus Flögels Geschichte des menschlichen Verstandes ähnelt: Vgl. Wieland: Agathon. Erste Fassung, S. 556.

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nach, daß der Roman als Antwort auf die (vom neu justierten anthropologischen Diskurs verursachte) Pathogenese der Welterfahrung gelesen werden kann.761 Erkenntnis ist im Roman Gegenstand der multilateralen Diskussion auf Figurenebene:762 Die Figurenreflexion ist episch integriert durch den Zusammenstoß der Figurenrede mit dem Aufbau des fiktiven Geschehens (die Handlung relativiert die Rede) und mit dem kommentierenden und mit (ironischer) Distanz und (empfindsamer) Nähe spielenden Erzähler. Doch wird das zentrale Thema der Erkenntnis auch auf die Rezeptionsebene übertragen.763 Der Leser gewinnt einen Standpunkt, der es ihm ermöglicht, seine Welt- und Menschenwahrnehmung kritisch zu überprüfen.764 Dieser Befund entspricht insofern den Charakteristika des transformierten Vorurteilsdiskurses, als die Normativität der systemischen philosophischen Wahrheit zugunsten der individuellen empirischen Erfahrung mit Vorurteilen abgewertet wird: Individuell gefundene Wahrheit – selbst die des Erzählers – bleibt nichts als eine perspektivische Hypothese.765 Der Erzähler begibt sich seines olympischen Anspruchs und wird zu einer Figur unter anderen Figuren, von denen er berichtet. Auch die handelnden Figuren selbst können kaum eindeutig dichotomisch der Aufklärung oder der Gegenaufklärung zugeschrieben werden.766 Dennoch bleibt die Erzählform normativ nicht völlig ungebunden. Die poetische Einbildungskraft ist nicht nur durch die textimmanente psychologische Gesetzlichkeit beschränkt,767 sondern die verschiedenen Fassungen des Romans erweisen sich auch als unterschiedliche literarische Antworten auf die moralphilosophischen Fragen, die aus der Erfahrung der „Entzweiung“ resultieren.768 Das empirische Verfahren des Romans beinhaltet keine Beliebigkeit im Sinne einer unendlichen empirischen Faktenfülle, sondern spiegelt textintern die Konfrontation mit ver761

Vgl. Hans-Jürgen Schings: Agathon – Anton Reiser – Wilhelm Meister. Zur Pathogenese des modernen Subjekts im Bildungsroman, in: Wolfgang Wittkowski (Hg.): Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Tübingen 1984, 42–68, hier S. 45f. 762 Vgl. Thomé: Roman und Naturwissenschaft, S. 128f. 763 Vgl. ebd., Beetz: Wunschdenken, S. 275ff., Wieland: Agathon. Erste Fassung, S. 5ff., 166ff., 329f., 352ff., 467ff. 764 Vgl. Wolfram Buddecke: C. M. Wielands Entwicklungsbegriff und die Geschichte des Agathon. Göttingen 1966, S. 221. 765 Vgl. Thomé: Roman und Naturwissenschaft, S. 185. Buddecke analysiert überzeugend die Erzählstrategie, beharrt aber darauf, daß Wahrheit möglich werde. Vgl. Buddecke: Wielands Entwicklungsbegriff, S. 10f. 766 Vgl. Kimmich: Epikureische Aufklärungen, S. 188. 767 So tendenziell bereits Wolfgang Preisendanz: Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland und die besondere Rolle der Romane Wielands (Don Sylvio, Agathon), in: Hans Robert Jauß (Hg.): Nachahmung und Illusion. München 21969, 72–95, hier S. 91f. Vgl. Thomé: Roman und Naturwissenschaft, S. 92. 768 Vgl. Erhart: Entzweiung, S. 19ff., 109f., Beetz: Wunschdenken, S. 275, Horst Thomé: Menschliche Natur und Allegorie sozialer Verhältnisse. Zur politischen Funktion philosophischer Konzeptionen in Wielands „Geschichte des Agathon“ (1766/67), in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 22 (1978), 205–234, hier S. 214.

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schiedenen Lebensentwürfen, aus der Erzählerposition heraus aber auch die Metareflexion des empirischen Verfahrens und dessen Verunsicherung. Anthropologische Topoi und Argumentationsverfahren werden hier gerade nicht für eine Entscheidung der philosophischen Auseinandersetzung zwischen Materialismus und Idealismus funktionalisiert.769 Psychologisch-anthropologische Erkenntnisse werden in Wielands Roman in der Motivierung des Handlungsverlaufs und der psychischen Dispositionen ernst genommen, wenn auch der Narrator von seiner gestalterischen Freiheit regen Gebrauch macht. Doch allen Erzählstrategien gemeinsam ist, daß sie nicht mehr auf eine metaphysische Lösung des Bedürfnisses nach Welterklärung vertrauen, sondern darauf abzielen, Erkenntnisprozesse tendenziell unabschließbar zu halten.770 Da transzendente Welterklärungsmodelle nicht mehr in Frage kommen, entsteht ein neuer Orientierungsbedarf des einzelnen.771 Dies korrespondiert der Relativierung der Wahrheit und der Zunahme probabilistischer und konjekturaler Erkenntnislegitimierungen: Wahrscheinlichkeit und Relativität der Beobachtung bestimmen den Prozeß der Urteilsbildung und Vorurteilskritik, ohne allerdings das Urteil einer völligen Beliebigkeit anheimfallen zu lassen: Der weise Archytas billigte den bescheidnen Scepticismus seines Freundes; aber indem er ihn von allzukühnen Reisen im Lande der Ideen zu den wenigen einfältigen, aber desto schätzbarern Wahrheiten zurückführte, welche der Leitfaden zu sein scheinen, an welchem uns der allgemeine Vater der Wesen durch diesen Labyrinth des Lebens (sic) sicher hindurchführen will – – verwahrte er ihn vor dieser gänzlichen Ungewißheit des Geistes, [...].772

Doch fokussiert der Roman nicht jene Wahrheiten selbst, die auch aus der antikisierenden Handlung nicht extrahiert werden können. Auch die Antike ist – dies entspricht ihrer Neubewertung in der deutschen Spätaufklärung – nur mehr ein historisch-empirischer Beitrag.773 Im Roman werden durch ein Kompendium erzählerischer Strategien Lesererwartungen ständig geweckt und wieder enttäuscht, Urteile gefällt und wieder verworfen, Vorurteile bekämpft und wieder restituiert. Diese Strategien basieren auf einer rezeptionsästhetischen Transformierung des Vorurteilsdiskurses. Im Simulationsmodell des Romans wird der Rezipient eingeübt in einen Modus der Vorurteilsreflexion, der den Lektüreprozeß wachsam begleitet und sich auch in diesem vollzieht. Indem sie erzählt werden, regen Hypothesen den Rezipienten dazu an, sie zu überprüfen. Innerhalb philosophischer Systemkonstruktionen blieben sie an die „axiomatische Beliebigkeit konkurrierender Systeme“ gebunden.774 769

Heinz kennzeichnet die Erzählweise des Agathon als pragmatisch: vgl. Heinz: Wissen vom Menschen, S. 337. Vgl. zum Begriff Riedel: Influxus physicus, S. 33. 770 Vgl. Budde: Aufklärung als Dialog, S. 34. 771 Vgl. Erhart: Entzweiung, S. 11f. 772 Wieland: Agathon. Erste Fassung, S. 582. 773 Vgl. Thomé: Roman und Naturwissenschaft, S. 83. 774 Vgl. Beetz: Wunschdenken, S. 265f.

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Wieland überträgt in Agathon die Vorurteilsanalyse in den literarischen Diskurs durch verschiedene erzählerische Mittel:775 Kenntlichmachen der Vorurteile von Figuren, illusionsstörende Erzähltechniken und ironische Erzählhaltung, Erklärung der Vorurteilsgenese auf anthropologischer Basis, psychologische Erklärungshypothesen für die Wirkung von Vorurteilen, vorurteilstherapeutische Ansätze und schließlich Einübung in die Revision von Vorurteilen. Rezeptionsoffenheit, die den Erzähler vom Standpunkt der Allwissenheit abrücken läßt und einen eigenständigen Urteilsprozeß der Leser einfordert, wird ausdrücklich thematisiert: „Und woher wissen wir auch, [...]“ und „Wer ist uns Bürge dafür, [...]“ leitet Wieland die Hypothesenbildung der Rezipienten über eine erzählerisch ausgesparte mögliche Verführung ein.776 Zwar könne dem „großen Haufen der Moralisten“ nicht zugemutet werden, „gewisse Vorurteile fahren zu lassen“, doch sei es sehr erfreulich, wenn die Geschichte einen echten Weisen veranlassen würde, „mit der Fackel des Genie in gewisse dunkle Gegenden der Moral-Philosophie einzudringen, [...]“.777 Selbst der Erzählfluß wird spielerisch unterbrochen, um dem eingeforderten Reflexionsvorgang des Rezipienten Zeit zu lassen.778 Mit diesen knappen Beispielen sei auf die diskursiven Strategien des Agathon nur hingewiesen. Denn über die Großform des Romans hinaus bilden gerade die vermeintlich minoren Formen der Literatur die Basis der erkenntnispraktischen Debatte der deutschen Spätaufklärung, indem sie den Vorurteilsdiskurs nicht nur transformieren, sondern mittels dieser Transformierung einen Prozeß der Selbstaufklärung initiieren. Die Frage der Vorurteile wird zunehmend mit der Frage der Aufklärung verbunden – ein Problem, das in Agathon nur am Rande wichtig wird. Dadurch kann der Vorurteilsdiskurs seine rezeptionsästhetischen Strategien im Zwischenbereich von literarischem Höhenkamm und essayistischer Abhandlung gezielter auf den Prozeß der Selbstaufklärung ausrichten. Bleibt Wieland auch skeptisch gegenüber einem endgültigen Erfolg der Aufklärung, so erklärt er dennoch das Bemühen der Menschen um Besserung zu einem Teil von deren Natur. Zusehends fokussiert er den Prozeß des Aufklärens.779 Der Menschheit und jedem Individuum eignet ein Anspruch auf allgemeine, uneingeschränkte Aufklärung. Der notwendige Fortschritt der Aufklärung ist nicht von einer einzelnen, möglicherweise falschen Beobachtung abhängig. Die gnoseologische Komplexität anthropologiebasierter Konditionen bildet keine unüberwindbare Hürde für die Aufklärung. Diese wird möglich durch die prozessuale Wiederholung der Beobachtung und des darauf beruhenden Urteils sowie durch dessen öffentlich-interaktive Überprüfung und Korrektur.780 Selbstaufklärung beinhaltet 775 776 777 778 779 780

Vgl. zu dieser Reihung ebd., S. 276. Wieland: Agathon. Erste Fassung, S. 329. Ebd., S. 353. Vgl. ebd., S. 467. Vgl. Wieland: Über den freyen Gebrauch, S. 12f., 63. Vgl. Wieland: Ueber die Rechte und Pflichten, S. 72f.

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mithin nicht nur die isolierte Kritik der eigenen Vorurteile, sondern auch die kritische Revision des Erkenntnisprozesses durch die Öffentlichkeit. Diese rezeptionsstrategische Abkehr vom Prinzip der Identifikation des Lesers mit den handelnden Figuren (oder aber mit dem Handlungsverlauf als solchem) beschränkt sich nicht auf eine Frage der literarischen Hermeneutik oder Poetologie, sondern verbindet den Diskurs über Vorurteil und Urteilsbildung mit der Prozessualität der Aufklärung.781 Wielands erzählstrategische Transformierung des Vorurteilsdiskurses wendet sich nicht nur an einen einzelnen, isolierten Leser, sondern an ein (implizites) erweitertes Publikum. Diese Strategie soll Aufklärung all denen ermöglichen, die an ihr teilzuhaben bereit sind. Wieland verwendet vielfältige, progredierende Mittel auf Erzähl-, Stil- und Rezeptionsebene, um mittels dieser Reliefbildung in der Prosa den Vorurteilsdiskurs rezeptionsseitig zu transformieren.782 Polyperspektivisches Erzählen nimmt im Vorurteilsdiskurs vielfältige Formen an. Auf der Figurenebene können verschiedene Meinungen unkommentiert wiedergegeben werden. Ein solches neutrales Erzählverhalten ohne auktorialen Erzählereingriff, etwa im dialogischen Verfahren der Rede und Gegenrede, führt auf Rezeptionsseite dazu, daß ein Prozeß der Urteilsbildung initiiert wird, der die endgültige Entscheidung zwischen den von den Figuren eingenommenen Positionen dem Rezipienten überläßt. Doch dieses Dialogprinzip wird auch gelegentlich intern relativiert: Obwohl zu großen Teilen dialogisch im beschriebenen Sinne angelegt, weist Wielands Goldner Spiegel eine argumentative Besonderheit auf: Die Äußerungen des Sultans bleiben oft – nicht zuletzt aufgrund des sozialhierarchischen Arrangements – ohne direkten Widerspruch. Die Figuren treten nicht in eine direkte Auseinandersetzung ein, sondern in einen indirekten thematischen Dialog, der durch exempla, Metaphern und Bilder auch dem Urteilsprozeß des Rezipienten zumutet, den Zusammenhang und die Meinungen (insbesondere die Danischmends) selbständig zu konstruieren.783 Umgekehrt sucht der Sultan selbst – mit unter781

Vgl. dagegen Kleinschmidt: Fiktion. Kleinschmidt zeigt, daß die Leserrolle sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts wandelt. Bei Wielands Agathon stellt er aber, Blanckenburg folgend, nur fest, der Modus der Identifikation verschiebe sich vom Affektiven auf das Kognitive (vgl. ebd., S. 59). 782 Am Beispiel Diderot demonstriert Thoma überzeugend, mit welchen erzählerischen Mitteln die Literatur in der Selbstaufklärung philosophische Aporien auflöst. Der Leser wird der permanenten Revozierung oder zeitweiligen Trübung erreichter Deutungsfixierungen unterworfen. So kann er den Prozeß der eigenen Urteilsbildung selbständig kritisch überprüfen. Vgl. Heinz Thoma: Denis Diderot, Jacques le Fataliste et son maître (1778–1796), in: Henning Krauß / Dietmar Rieger (Hg.): Französische Literatur. 18. Jahrhundert: Roman. Tübingen 2000, 205– 251, hier S. 238, ders.: Anthropologische Konstruktion, Wissenschaft, Ethik und Fiktion bei Diderot, in: Jörn Garber / ders. (Hg.): Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert. Tübingen 2004, 145–176, ders.: Vorurteil und Urteilsbildung; ders.: Philosophie – Anthropologie – Erzählen. 783 Vgl. Christoph Martin Wieland: Der goldne Spiegel oder die Könige von Scheschian. Eine wahre Geschichte aus dem Scheschianischen übersetzt, in: AA 9, 1–323, hier S. 173, 180f., 204f., 218f., 297f.

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schiedlichem Erfolg – den Dialog in seinem Sinne zu steuern.784 Doch Monoperspektivismus kommt für Wieland nicht in Frage: Er wird als abderitisches Kennzeichen lächerlich gemacht,785 während Polyperspektivismus auch auf Figurenebene positiv konnotiert erscheint: „Ein jedes Ding kann von sehr vielerley Seiten und in mancherley Lichte betrachtet werden, [...] und dieß zu thun, ist (däucht mir) gerade was dem Filosofen zukommt, und was ihn von dem dummen undenkenden Haufen unterscheidet.“786 Die bei Wieland häufige Dialogform suggeriert a priori neutrales Erzählverhalten.787 Das 13. Göttergespräch Wielands thematisiert in Rede und Gegenrede von fünf historischen oder mythischen Frauen das zur Zeit der Französischen Revolution aktuelle Problem, wie der Gefährdung der Monarchien abgeholfen werden könne. Ein steuernder Erzähler greift nicht ein. Juno übernimmt lediglich partiell Erzählerfunktionen, indem sie das Gespräch moderiert. Umfeldinformationen außerhalb des reinen Dialogs gibt sie aber nicht wieder. Die Reichweite der vertretenen Meinungen reicht dabei von unverhohlenen Plädoyers für Volksbetrug und für die rigorose Einschränkung der Pressefreiheit bis zum Modell rechtsstaatlicher Sicherheit und einer konstitutionellen Monarchie.788 Das letztere erweist sich schließlich als favorisiert, auch wenn seine Durchsetzungschancen noch vage bleiben. Durch die dialogische Form entsteht eine Leerstelle, deren Füllung dem Leser überlassen bleibt, die gar im Dialog dem rationalen Diskurs entzogen wird. Denn Juno beschließt, den favorisierten Vorschlag allen Königen im Traum zu vermitteln und dessen Wirkung abzuwarten.789 Die Rationalität des neutral abwägenden Dialogs kann über diesen hinaus nicht wirksam werden. Bevorzugt werden die affektiven Rezeptionssteuerungsmechanismen des Traumes, die auf die Wirkung subjektiver Überzeugung, nicht rationaler Erkenntnis vertrauen. 784 785 786

Vgl. Disselkamp: Ohnmacht, S. 288. Vgl. Christoph Martin Wieland: Geschichte der Abderiten, in: AA 10, 1–299, hier S. 187. Ebd., S. 250. Im erzählerischen Perspektivismus weist auch Wezels Belphegor, aller Kritik Wielands an Wezel ungeachtet, deutliche Parallelen zu Wielands Verfahren auf. Vgl. Michael Hofmann: Agathons unglücklicher Bruder, Wielands konsequenter Nachfolger. Radikalisierende Zuspitzung aufklärerischer Literaturkonzepte in Wezels Roman „Belphegor“, in: Alexander Košenina / Christoph Weiß (Hg.): Johann Karl Wezel (1747–1819). St. Ingbert 1997, 69–92, hier S. 71. Schönert weist nach, daß das dialogische Prinzip in Belphegor keine Antwort bietet, sondern diese dem Leser überläßt: vgl. Jörg Schönert: Fragen ohne Antwort. Zur Krise der literarischen Aufklärung im Roman des späten 18. Jahrhunderts: Wezels „Belphegor“, Klingers „Faust“ und die „Nachtwachen von Bonaventura“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 14 (1970), 183–229. 787 Wenn auch keine neutrale Erzählhaltung. Diese kann gesondert betont werden: vgl. etwa Christoph Martin Wieland: Koxkox und Kikequetzel. Eine mexikanische Geschichte. Ein Beytrag zur Naturgeschichte des sittlichen Menschen, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Bd. 14. Beyträge zur Geheimen Geschichte der Menschheit. Leipzig 1795, 3–118, hier S. 43. In der Nomenklatur der erzähltechnischen Begriffe folge ich Jürgen H. Petersen: Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte. Stuttgart / Weimar 1993, S. 53ff. 788 Vgl. Wieland: Göttergespräche, 13. Gespräch: Juno, Semiramis, Apasia, Livia, und Elisabeth, Königin von England, S. 239f., 259, S. 272f. 789 Vgl. ebd., S. 275f.

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Eine andere Form dialogischen Perspektivismus bei Wieland liegt vor, wenn der Rezipient einen Wissensvorsprung gegenüber dem Dialogpartner aufweist. So wird in Wielands Der goldne Spiegel im Gespräch zwischen Dschengis und Tifan die Aufmerksamkeit des Rezipienten vom Handlungsaspekt weggeleitet. Der Rezipient weiß bereits um den Inhalt der Nachricht, die Tifan übermittelt wird, so daß seine Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird, wie Tifan erfährt, daß er der rechtmäßige Erbe ist.790 Auch hier werden durch diese Form dramatischer Ironie nicht Erkenntnis und Plot zum Thema, sondern der Modus des Erkennens und der Urteilsbildung. Auch die lokale und temporale Variation der Erzählerstandorte durch Einführung und Kenntlichmachung verschiedener Erzählebenen und -perspektiven dient der rezeptionsästhetischen Transformierung des Vorurteils- in einen Urteilsdiskurs. Wielands Erzählung Koxkox und Kikequetzel aus den Beyträgen zur Geheimen Geschichte der Menschheit, die oft nur als inhaltliche Auseinandersetzung mit Rousseaus Naturstandshypothese gelesen wurde, weist drei Erzählebenen auf. Diese kommentieren und korrigieren sich gegenseitig, sie sprechen den Leser unterschiedlich an, beziehen ihn unterschiedlich ein, und schließlich werden sie auch durch offene oder verdeckte intertextuelle Bezüge ergänzt. Der zeitgenössische Herausgeber, der mit Wieland (in seiner Rolle als Erzähler) identifiziert werden kann, gibt an, die Erzählung beruhe auf einer alten mexikanischen Sage. Diese sei durch den philosophisch gebildeten und empfindsamen mexikanischen Berichterstatter Tlantlaquakapatli herausgegeben und kommentiert worden. Diese Erzählebene wiederum wird durch den deutschen Herausgeber-Erzähler erweitert, verkürzt und kommentiert.791 Daneben wird intertextuell auf Huét und Rousseau, aber auch auf die physiologische Anthropologie der Zeit verwiesen.792 Doch wird die rezeptionsästhetische Relevanz dieser lokal-temporalen Varianz noch verstärkt, indem dem Erzähler zweiter Ebene, dem mexikanischen Berichterstatter, vom Herausgeber unterstellt wird, er habe (in manchem) eine nicht eindeutige Meinung.793 Der Leser gewinnt Distanz zur Erzählperspektive und sieht sich zu eigenem Urteil aufgerufen. Die Verbindung zum Vorurteilsdiskurs wird evident, wenn die Relativität von Standpunkten und Urteilen schlechthin thematisiert wird. Der Erzähler reflektiert, welche Empfindung wohl Koxkox beim überraschenden Anblick der schönen Kikequetzel zeigte. Anhand von Beispielen wird aufgewiesen, daß auch die im Vorurteilsdiskurs vielfach empfohlene Empathie und Perspektivenübernahme nur relative Ergebnisse hervorbringen: Denn ein Maler, ein Reisender, ein Altertumsforscher und noch viele andere hätten, wie der Erzähler berichtet, in solchem Fall

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Vgl. Wieland: Der goldne Spiegel, S. 226ff. Vgl. Wieland: Koxkox, S. 5, 28f. Vgl. ebd., S. 7, 13 et passim. Vgl. ebd., S. 71.

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völlig unterschiedlich empfunden, geurteilt und gehandelt.794 Allerdings – und dies führt den Rezipienten zurück auf seinen eigenen Urteilsprozeß – entsprechen alle supponierten Reaktionsmöglichkeiten schließlich nicht der überlieferten, die den Plot weiterführt. Voreilige Hypothesenbildung widerspricht dem empirischen Befund, der für den Rezipienten als alleiniger Urteilsgrund sichtbar wird. Wieland weist brieflich selbst darauf hin, daß der Goldne Spiegel als Fortsetzung der Beyträge zur Geheimen Geschichte der Menschheit verstanden werden könne.795 Denn im gleichsam hybriden, verschiedene konkurrierende Erzählebenen vermischenden Verfahren dieses Romans potenziert Wieland jenes Modell der Relativierung von Urteilen.796 Der Roman ist eine „Etüde in selbstreferentieller Systembildung“.797 Skepsis gegenüber der Praxisfähigkeit der utopischen Modelle wird narrativ dargelegt, ohne daß sie ausdrücklich akzentuiert werden müßte.798 Kommentare, Anmerkungen und die Wiedergabe von Teilen der Erzählung selbst stammen aus im wesentlichen fünf fiktiven Quellen: Der scheschianische Urtext unterlag laut Erzählerfiktion einer indischen, einer chinesischen, einer lateinischen und schließlich einer deutschen (der vorliegenden) Bearbeitung und Kommentierung, deren jeweils unterschiedliche Erkenntnisinteressen durchaus deutlich werden.799 Hinzu kommen „Anmerkungen eines Ungenannten“, entweder des fiktiven deutschen Herausgebers oder eines fiktiven Lesers. Dieser „Ungenannte“ spricht sich gegen die traditionelle Hochschätzung alter Gewohnheiten aus, die historisch retrospektiv gerechtfertigt sein konnten, es nun aber nicht mehr seien.800 Doch bleibt auch diese Stellungnahme gegen das praeiudicium antiquitatis lediglich eine unter mehreren, potentiell konkurrierenden Meinungen. Denn die Auseinandersetzung und die gegenseitige Korrektur aller Erzählerebenen wird zum konstitutiven Stilprinzip des Spiegel, das eine im Rahmen der Utopie erwartbare lineare Teleologie hintergeht.801 Die Herausgeber schrecken selbst vor Eingriffen und Auslas794

Vgl. ebd., S. 23f. Eine ähnliche Situation führt auch Wezel an: vgl. Johann Karl Wezel: Lebensgeschichte Tobias Knauts, des Weisen, sonst der Stammler genannt. Aus Familiennachrichten gesammlet. [Hg. Anneliese Klingenberg]. Berlin 1990, S. 138ff. 795 Vgl. Wieland an Ph. E. Reich am 9.3.1771, in: Wieland: Briefwechsel. Bd. 4. Briefe der Erfurter Dozentenjahre (25.5.1769–17.9.1772). Bearb. Annerose Schneider / Peter-Volker Springborn. Berlin 1979, Briefnr. 260, S. 270f. 796 Vgl. zum Begriff der Hybridisierung: Michail M. Bachtin: Das Wort im Roman, in: ders.: Die Ästhetik des Wortes. Hg. Rainer Grübel. Frankfurt/M. 1979, 154–300, hier S. 244. Hier soll aber nicht das Erzählen der Aufklärung moderner oder postmoderner Hybridität gleichgesetzt werden. 797 Vgl. Sven-Aage Jørgensen: Wieland in Erfurt, in: ders. u.a.: Christoph Martin Wieland. Epoche – Werk – Wirkung. München 1994, 68–92, hier S. 89. 798 Vgl. Bernhard Spies: Politische Kritik, psychologische Hermeneutik, ästhetischer Blick. Die Entwicklung bürgerlicher Subjektivität im Roman des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1992, S. 102ff. 799 Vgl. Wieland: Der goldne Spiegel, S. 23f., 25, 28, 32, 36f. et passim. 800 Vgl. ebd., S. 102. 801 Vgl. ebd., S. 114ff. et passim. Vgl. Jürgen Fohrmann: Utopie, Reflexion, Erzählung: Wielands Goldner Spiegel, in: Wilhelm Voßkamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur

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sungen nicht zurück: „Die Handschrift, aus welcher wir die Geschichte von Scheschian gezogen haben, liegt vollständig vor uns, und es kam bloß auf uns an, ob wir sie so vollständig, als der Lateinische Uebersetzer sie geliefert, mittheilen wollten oder nicht.“802 Zur Bestätigung des jeweils subjektiven Urteils des gerade zu Wort kommenden Herausgebers oder Bearbeiters verweist dieser gelegentlich noch auf weitere Quellenformen.803 Es entsteht ein vielschichtiges intertextuelles Gewebe, das die Urteils- und Meinungsbildung dem Rezipienten überantwortet und diesen letztlich auf einen selbstaktiven Prozeß des Aufklärens verweist.804 Jener Wechsel der Erzählerebenen kann – über inhaltlich widersprechende Kommentare und Eingriffe hinaus – mit Erzählabbrüchen einhergehen. So greift in Koxkox der deutsche Herausgeber ein, als der mexikanische Berichterstatter vom Sexualverkehr der Protagonisten zu erzählen anhebt, und bricht die Erzählung ab.805 Das Spiel der fingierten Erzählebenen dient hier oberflächlich dazu, moralisch anrüchige Passagen zu vermeiden, die doch in der Einbildungskraft des Lesers vorgestellt werden – ungeachtet der Erläuterung, das „Unvermögen, die Zartheit der Sprache des Mexikanischen Filosofen in die unsrige übertragen zu können“, verbiete den Fortgang der Erzählung.806 Über die inhaltliche Komponente hinaus dient das Verfahren erzähltechnisch dem ironischen Hinweis auf das Verfahren selbst, auf das Leerstellen erzeugende Spiel mit Erzählerebenen. Ähnlich funktional wird das Gähnen und Einschlafen des Herrschers im Goldnen Spiegel, das mehrfach zu Erzählabbrüchen führt.807 Auch hier wird die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf das Erzählen selbst gelenkt – weg vom rein inhaltlichen Nachvollziehen der Handlung, hin zu einer aktiven, prozessualen Teilnahme am Sinngebungsprozeß. Lücken im ursprünglichen Manuskript können fingiert werden, die auf der Erzählebene durch die Figuren selbst oder durch einen Narrator kommentiert, konjektural gefüllt oder ersetzt werden können.808 All diese Mittel des Erzählabbruchs weisen rezeptionsstrategisch immer wieder auf den Urteilsprozeß des Rezipienten hin, indem sie ihm die Fiktionalität des Berichteten verdeutlichen und ihn mit dem modalen Erkenntnisprozeß konfrontieren, der begründete Urteile über den Inhalt des Dargestellten angesichts der erkennbaren Fiktionalität einschränkt. Denn ist die Erzählstruktur als relativ, vielleicht gar als beliebig erkennbar, kann auch eine (von Rezipienten wie von Interpreten gerne gesuchte) „Bedeutung“ nicht über die Abbildung von Figurenreden gewonnen werden, sondern neuzeitlichen Utopie. Bd. 3. Frankfurt/M. 1985, 24–49, hier S. 25, vgl. auch Disselkamp: Ohnmacht, S. 288. 802 Wieland: Der goldne Spiegel, S. 117. Vgl. Disselkamp: Ohnmacht, S. 299. 803 Vgl. Wieland: Der goldne Spiegel, S. 14, 115f., 123, 131 et passim. 804 Budde greift daher zu kurz, wenn er aufzuweisen sucht, daß Wielands Goldner Spiegel auf einer inhaltlich-negativen Anthropologie beruhe: vgl. Budde: Aufklärung als Dialog, S. 238. 805 Vgl. Wieland: Koxkox, S. 52f. 806 Ebd. 807 Vgl. Wieland: Der goldne Spiegel, S. 31, 33, 62 u.a. Vgl. Disselkamp: Ohnmacht, S. 292. 808 Vgl. Wieland: Der goldne Spiegel, S. 285, 12, 116ff., 318ff.

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über ein gnoseologisches Verfahren, das mit der Relativität von Urteilen und Vorurteilen rechnet. Doch auch innerhalb einer Erzählebene kann der Urteilsprozeß des Rezipienten initiiert werden. Nachdem der Erzähler in Koxkox und Kikequetzel die kulturanthropologische Diversität von ästhetischen Urteilen betont hat, unterliegt er vermeintlich eben diesem Vorurteil, das er doch als solches kennzeichnet. „Es ist ein blosses Vorurtheil. [...] Koxkox und Kikequetzel! – Wehe dem Dichter, der den Einfall hätte, diesen Nahmen über das mühvolle Werk seiner Nachtwachen zu setzen!“809 Das im Vorurteilsdiskurs vielfach aufgenommene Argument, daß gerade ästhetische Urteile von der kulturellen Prägung des jeweils Urteilenden abhängig sind, wird als moralische Verpflichtung eingeführt. Dem Erzähler ist klar, daß sein ästhetisches Urteil über die Namen ein bloßes Vorurteil ist. Doch gibt er selbst dem affektiv-subjektiven Vorurteil den Vorzug: Selbstironisch fragt der Erzähler, welche Wirkung es wohl hätte, würden jene Namen als Titel einer Erzählung herangezogen. Er widerspricht sich mithin selbst. Da die vorherige Annahme, Schönheitsideale seien relativ, überzeugen konnte,810 sieht sich der Leser irritiert. Hierdurch gewinnt er eine reflexive Distanz zum Text. Innerhalb der Erzählung wird – hier wird das Verwirrspiel weitergeführt – der Prozeß der Namensgebung als Willkürakt dargestellt, der Besitzrechte des Stärkeren suggeriert. Und zudem: Der Name muß innerhalb der Fiktion – für die Figur – ästhetisches Gefallen gefunden haben.811 Vorannahmen und Vorurteile der Rezipienten können auch revidiert werden, indem ein Erzähler auf einer anderen Erzählebene korrigiert wird. Auch ein solches Verfahren findet sich in Koxkox und Kikequetzel: Zunächst wird eine Naturstandsutopie als Kleinidylle im Familienkreis als einzige Möglichkeit einer sozialen Organisation dargestellt, die zum Glück führe. Der Leser durfte annehmen, dies sei auch ein inhaltlich präferiertes Ideal. Doch wird dieses im Nachhinein als Konstruktion des mexikanischen Erzählers kenntlich gemacht, die der deutsche Herausgeber kritisiert. Denn dieser führt an, es gebe ein empirisches Beispiel für ein ganzes Volk, das idyllenhaft glücklich sei. Doch der Narrator relativiert seinen Einwand gleich zweifach: Einerseits verzichtet er darauf, das Beispiel zu nennen. Andererseits ironisiert er generell die Bedeutung eines einzelnen empirischen Beispiels, indem er der physiologischen Anthropologie unhintergehbare Diskursrelevanz unterstellt: „Aber, ein einzelnes Beyspiel vermag nichts über unsern Filo-

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Wieland: Koxkox, S. 21. Zur Relativität ästhetischer Urteile vgl. ebd., S. 20, 30f. Die Relativität von Schönheitsurteilen betont schon um die Jahrhundertmitte die populäre Fabel Der Mohr und der Weiße: vgl. [Magnus Gottfried Lichtwer:] Vier Bücher Aesopischer Fabeln in gebundener Schreib-Art. Leipzig 1748, S. 31f. 811 Vgl. Wieland: Koxkox, S. 22. In der Geschichte der Abderiten verfährt Wieland anders: Hier wird im Anschluß an den Disput über ästhetische Urteile die Relativität von Wahrheit in didaktischer Weise erneut vermittelt. Vgl. Wieland: Geschichte der Abderiten, S. 44.

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sofen, – zumahl wenn er einen Anstoss von Milzbeschwerden hat.“812 Der Rezipient wird so während des Leseprozesses mehrfach dazu genötigt, sein gefälltes Urteil zugunsten neuer Vorannahmen aufzugeben, die sich selbst wieder als Vorurteile von zeitlich befristeter Geltung erweisen. Diese erzähltechnische Struktur weist darauf hin, daß eine rein inhaltliche Zuordnung der Erzählung zur Naturutopiekritik der formalen Struktur des Textes nicht entspricht.813 Was angesichts der erzählerischen Multipolarität tatsächlich gemeint sein könnte, muß vom Leser erst konstruiert werden. Der Erzähler kann durch die direkte Ansprache des Lesers einen impliziten Leser konstruieren. Der reale Leser könnte dessen fingierte Reaktionen mit den eigenen abgleichen. In der Herausgeber-Vorrede zum zweiten Band des Teutschen Merkur rechtfertigt Wieland theoretisch die Relativität divergierender Rezipientenurteile: „Nicht alle ungünstigen Urtheile sind schief, nicht alle günstigen richtig; und zuweilen kann sogar ein Schuster einem Apelles einen Fehler zeigen. [...] Es ist unmöglich, daß jedes Stück seiner Sammlung allen gefalle, für alle unterhaltend sey; [...]“.814 Auch in Koxkox und Kikequetzel räumt Wieland dem Rezipienten die Möglichkeit zu abweichenden Urteilen ein. Er beharrt lediglich darauf, die Figur des Koxkox sei eben „da“, sie existiere.815 Einige Passagen später antizipiert er mögliche Reaktionen und fordert die Damen auf, das folgende Kapitel zu überschlagen. Damit weist er ironisch die Verantwortung für den Fall, daß seiner Aufforderung zuwidergehandelt würde, von sich.816 Doch auch diese Digression dient weniger der Entschuldung des Verfassers (als die sie daherkommt) als vielmehr dazu, den Fokus des Leserinteresses auf den Prozeß der selbstverantwortlichen Rezeption zu lenken. So kann auch eine Theorie der Rezeptionssteuerung, wenn sie im Gewand der Fiktion erscheint, zunächst nicht ohne weiteres als Realitätssignal angesehen werden. Daß man Wahrheiten immer wiederholen müsse, damit sie angenommen würden, und daß man sie auch mit verschiedensten „Vehikeln“ verbinden müsse, damit man sie mit „Vergnügen“ zu sich nehme, wird im Goldnen Spiegel als These dem chinesischen Übersetzer (einer der ältesten, im weiteren Verlauf vielfach in Kommentaren korrigierten Erzählebene) zugeschrieben.817 Wezels immanente Poetologie in der Lebensgeschichte Tobias Knauts bietet eine ähnliche Theorie der Rezeptionssteuerung als Erzählerkommentar. Zunächst wird eine „offene“ Rezeptionserwartung formuliert, die von einer Steuerung zum selbstaufklärerischen, eigenständigen Rezeptionsprozeß abweicht und die mit Ho-

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Wieland: Koxkox, S. 88. Vgl. zum Vorherigen ebd., S. 86ff. In seiner detaillierten Studie zu Naturstandsutopien weist Baudach auf die desillusionierende Wirkung der Kommentare in den Beyträgen hin, doch schreibt er ihnen nur das Ziel zu, die Faszinationskraft der Idylle zu konterkarieren. Vgl. Baudach: Planeten der Unschuld, S. 536. 814 Wieland: Der Herausgeber an das Teutsche Publicum, S. IV. 815 Vgl. Wieland: Koxkox, S. 10. 816 Vgl. ebd., S. 95f. 817 Vgl. Wieland: Der goldne Spiegel, S. 24.

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raz die Möglichkeit betont, prodesse und delectare miteinander zu verbinden. „Alles, was ein Mann tun kann, den das Verhängnis unter der Konstellation eines Schriftstellers nun einmal hat geboren werden lassen, ist, daß er mit den Lesern zu spielen scheint, und, wie ein weiser Pädagoge, unvermerkt Unterricht in das Spiel mischt.“818 Die fiktionale Ironie hebt vorrangig auf den „Schein“ des Spiels, auf die Diskrepanz zwischen Rezeptionssteuerung und faktischer Rezeption ab, indem sie gerade jene Differenz thematisiert. Er schreibe für „prädestinierte[n] Toren“, er „spiele lächelnd mit ihnen und stoße heimtückisch ihnen den Pfeil in die Seite, und wenn sie es fühlen, dann hole er gleich den Spiegel her, um sie die Grimassen, die sie dabei machen, sehen zu lassen.“819 Wezel legitimiert hier eine bewußte Abweichung von Lesererwartungen, die allerdings die Steigerung der Komplexität als Annäherung an die Realität und an ein pragmatisches Verfahren der Urteilsbildung versteht: „Mein Plan sollte dem Plan der wirklichen Begebenheiten ähnlich sein: alles ohne Ordnung scheinen und nichts ohne Endzweck sein.“820 Doch daß eine solche Leserlenkung gelingt, wird im Roman selbst eher angezweifelt.821 Die Widersprüche von theoretischer Proklamation und literarpraktischer Skepsis weisen den Rezipienten auf den Prozeß der eigenen Urteilsbildung zurück. Die für Wieland charakteristische ironische Erzählhaltung dient als weiteres Mittel zur Aktivierung eines modalen Reflexionsprozesses. Diskutiert wird in Koxkox und Kikequetzel, ob der als Quelle angegebenen alten mexikanischen Sage eine Sintflut oder nur eine partikulare Überschwemmung historisch zugrunde liege. Wenn Wieland die Entscheidung dieser Frage jedem überläßt, der sich ihrer annehmen wolle,822 so kann dies kaum als ernsthafte Ermächtigung des Rezipienten verstanden werden. Denn dieser kann als Entscheidungsgrundlage nur auf diejenigen Informationen und Quellenhinweise zurückgreifen, die Wieland ihm soeben geliefert hatte. Die Ironie weist hier auf die modale Perspektive hin: Eine Entscheidung ist nicht möglich, weil eine breitere empirische Basis fehlt. Umgekehrt kann auch ironische Resignation die dargelegte Rezeptionserwartung bestimmen, wie etwa in Wielands Keine Vorrede übertiteltem Vorbericht zur Geschichte des Weisen Danischmend: „Für den verständigen Leser würde die kürzeste (Vorrede, R. G.) zu lang seyn, und dem unverständigen hilft keine Vorrede, und wenn sie dreymahl länger wäre als das Werk selbst.“823 Offenbar kann der Erzähler nicht anders als auch die Hoffnung auf Aufklärung radikal zu begrenzen: „Licht ist nur

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Wezel: Tobias Knaut, S. 7. Ebd., S. 8. Ebd., S. 11. Vgl. ebd., S. 55. Knautz berücksichtigt die Funktion jener Erzählstrategien nicht: vgl. Isabel Knautz: Epische Schwärmerkuren. Johann Karl Wezels Romane gegen die Melancholie. Würzburg 1990, S. 137ff. 822 Vgl. Wieland: Koxkox, S. 7. 823 Christoph Martin Wieland: Geschichte des Weisen Danischmend und der drey Kalender. Ein Anhang zur Geschichte von Scheschian, in: AA 10, 325–511, hier S. 326.

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Licht für die Sehenden: der Blinde wandelt im Sonnenschein, und dünkt sich im Finstern.“824 Ironie erfordert vom Rezipienten, Selbstverständlichkeiten und althergebrachte Vorurteile zu überprüfen. Doch dieser Reflexionsprozeß wird modal transformiert, wenn auf den Wirkmechanismus der Ironie ausdrücklich verwiesen wird, wenn Demokrits Scheitern bei den Abderiten darauf zurückgeführt wird, daß sie „alles, was er ihnen ironischer Weise sagte, im buchstäblichen Sinne“ nahmen, „daß die Abderiten dumm genug waren, alles, was er im Ernste sagte, für Ironie, und alles, was er scherzweise sagte, für Ernst zu nehmen“.825 Über diese modale Funktion hinaus kann ironisches Sprechen auch inhaltlich wirken: So wird in Koxkox und Kikequetzel Rousseaus Naturzustand und die im Gefolge Condillacs und Rousseaus intensiv diskutierte Annahme ironisiert, Sprache sei zwar nicht das Unterscheidungsmerkmal des Menschen, wohl aber das zentrale Sozialisationsinstrument.826 Auch hier wird der Rezipient dazu angehalten, eigene Vorurteile und Vorannahmen kritisch zu prüfen, da Wieland gängige Thesen nicht argumentativ widerlegt, sondern sie nur innerhalb des Erzählrahmens in Frage stellt. Ähnlich werden in Wezels Knaut materialistische Thesen zum influxus physicus ironisch ad absurdum geführt. Der Erzähler leitet ausführlich her, daß Tobias gemäß anthropologischen Erkenntnissen seiner Zeit aufgrund seiner Sinneswahrnehmungen auch körperliche Veränderungen erleiden müsse. Doch dann berichtet er, daß Tobias ohne sichtbare Zeichen von Veränderungen weiterhin nur das tat, was er immer schon getan habe.827 Als rhetorisches Mittel lenkt die ironische Widerlegung die Aufmerksamkeit des Lesers auch hier auf die Diskrepanz zwischen scheinbarer und wahrer (zumindest vom Erzähler zeitweise als „wahr“ proklamierter) Kausalität. Die Aufmerksamkeit kann damit von der Semantik selbst weggerichtet und zu deren hermeneutischer Konstitution hingeleitet werden. Der Vorurteilsdiskurs transformiert sich zu einer rezeptionsästhetischen Überprüfung bisheriger Urteile.828 Auch auktoriale Erzählerkommentare oder vermeintlich eindeutige Kommentare der handelnden Figuren können das Maß an Ambiguität erzeugen, das notwendig ist, um den Prozeß der Selbstreflexion in Gang zu setzen. Erzählerisch wird eine

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Ebd. Berthold erkennt bereits resignierte Züge in der Ironie. Vgl. Berthold: Fiktion, S. 292. Das Sehen-Können wird auch in den Abderiten als Bedingung für Aufklärung benannt: vgl. Wieland: Geschichte der Abderiten, S. 67. 825 Wieland: Geschichte der Abderiten, S. 77. 86. 826 Vgl. Wieland: Koxkox, S. 13, 16, 71, 76ff. Vgl. Ulrich Ricken u.a.: Sprachtheorie und Weltanschauung in der europäischen Aufklärung. Berlin 1990, zu Condillac S. 70ff., zu Rousseau S. 85ff. 827 Vgl. Wezel: Tobias Knaut, S. 53f. 828 Obwohl sie Tobias Knaut zurecht der Gattung der Satire zuordnet, erkennt Seibert nicht die Funktion der Anthropologie innerhalb des satirischen Rahmens. Vgl. Regine Seibert: Satirische Empirie. Literarische Struktur und geschichtlicher Wandel der Satire in der Spätaufklärung. Würzburg 1981, S. 52.

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Diskrepanz zu den Lesererwartungen erzeugt. In Wielands Geschichte der Abderiten wird diese ausdrücklich thematisiert und vom auktorialen Erzähler gerechtfertigt, indem er den Einwänden der impliziten Leser einen idealen Leser vorhält.829 Auch Wezels Erzähler in Tobias Knaut erstellt eine Typologie von Lesern, die den realen Lesern, so sie sich mit diesen identifizierten, kaum zur Ehre gereichte.830 Die Lenkung der Leser wird vom auktorial kommentierenden Narrator schlichtweg für unmöglich erklärt: „der Leser denkt, was er kann, und niemals, was er soll.“831 Ideen kämen beim Leser nie in der intendierten Form und nie in Begleitung der beabsichtigten Nebenideen an.832 Diese ironisch verbrämte Skepsis gegenüber dem literarischen Produktionsziel, Eindeutigkeit in der Rezeption zu erreichen, begründet die Abkehr von der literarischen Didaxe gleichsam mit deren Unmöglichkeit. Doch wird die Alternative nicht expliziert. Der Leser muß sie im Reflexionsprozeß aufklärerisch eigenständig entwickeln.833 Der auktoriale Erzähler kann auch davon absehen, Verständnis und Sympathie des Lesers zu gewinnen und durch Provokation selbstaufklärerische Antworten des Rezipienten auf das im Text ungelöste Problem anregen.834 Die Diskrepanz zwischen dem Leserinteresse am Handlungsverlauf und der Relevanz selbständiger Reflexion thematisiert der auktoriale Erzähler in Wezels Lebensgeschichte Tobias Knauts ironisch: Wundern muß ich mich aber doch, daß die Leser, denen wir Schriftsteller eigentlich bloß deswegen etwas erzählen, um in ihnen nützliche Betrachtungen zu veranlassen, mit so vieler Begierde nach der Erzählung greifen und die Betrachtungen als ein zu sättigendes Gericht stehenlassen.835

Als paradigmatisches Kennzeichen des anthropologischen Erzählens der Spätaufklärung gilt meist die Einführung der erzählerischen Introspektion, die es dem Erzähler ermöglicht, die Disposition der handelnden Figuren auf psychische Vorgänge zurückzuführen.836 Diese erzählerische Sichtweise ist eines der zentralen Charakteristika von Wielands Texten.837 Sie kann die Entscheidungs- und Urteilskompetenz auf den Leser verlagern, wenn sie als polyvalent und kaum zuverlässig enttarnt wird. In Koxkox und Kikequetzel zollt der deutsche Narrator dem mexika829 830 831 832 833

Vgl. Wieland: Geschichte der Abderiten, S. 22. Vgl. Wezel: Tobias Knaut, S. 7f. Ebd., S. 54f. Vgl. ebd., S. 55. Obwohl im Text die Erzählerreflexion ein starkes Gewicht besitzt (wie Ammermann betont), zeigen sich doch auch in rezeptionsästhetischer Perspektive deren Grenzen. Vgl. Ammermann: Gemeines Leben, S. 72. 834 Vgl. Schönert: Fragen ohne Antwort, S. 195. 835 Wezel: Tobias Knaut, S. 70. 836 Vgl. einschlägig: Riedel: Anthropologie und Literatur, S. 133ff. 837 Vgl. Wieland: Koxkox, S. 49: Der Erzähler weiß hier um die Unsicherheiten des Mädchens. Vgl. auch Wieland: Der goldne Spiegel, S. 82: „Es schwebte dem naseweisen Danischmend auf der Zunge, [...]“.

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nischen Berichterstatter Lob, weil dieser „sich sogar getraut, die eigensten Empfindungen von Augenblick zu Augenblick zu bestimmen, welche Koxkox [...] habe erfahren müssen.“838 Doch wird dieses Lob psychologischer Introspektion sofort durch Übersteigerung aufgehoben, wenn Koxkox’ emotionale Reaktion beim Anblick der Schönen thematisiert wird. Seine körperlichen Reaktionen im Sinne einer physiologischen Anthropologie werden, nachdem die physischen und natürlichen Umstände geklärt wurden, nun in zehn analytisch getrennten Momenten detailliert dargestellt: „Der Durchmesser seines Augapfels wurde um eine halbe Linie grösser; er hielt die linke Hand etwas eingebogen vor seine Stirne, so dass der Daumen an den linken Schlaf zu liegen kam, [...]“839 usw. Die unmittelbare Wirkung der Affekte psychologischer Introspektion wird durch die analytische Physiologie konterkariert: Nicht mehr die Emotion, sondern die physische Reaktion steht im Mittelpunkt des Erzählvorgangs. Auf Rezeptionsebene bewirkt jene Katachrese die Revision des affektiv-mitfühlenden Urteils: Die Aufmerksamkeit gilt nun dem erzählerischen Prozeß und der ironischen Erzählhaltung. Neben den unmittelbar erzähltechnischen Mitteln kann im spätaufklärerischen Vorurteilsdiskurs auch ein Spiel mit dem Fiktionalitätsstatus der Erzählung inszeniert werden, das ebenfalls geeignet ist, den Modus dieses Diskurses auf das aufklärerische Handeln des Rezipienten zu verlagern. Dem Goldnen Spiegel liegt die Realitätsfiktion eines historischen Berichts zugrunde, der in der Binnenerzählung von Nurmahal zur Unterhaltung und Einschläferung des Sultans wiedergegeben wird. Doch bleibt es nicht bei dieser dichotomischen Trennung zweier Ebenen. Denn der Narrator übergeordneter Ebene (um welchen der zahlreichen Bearbeiter und Herausgeber es sich handelt, ist unklar) merkt an, daß diese Dame, welche vermuthlich die Geschichte von Scheschian schon in ihrem eigenen Kabinette gelesen hatte, und, wie man uns versichert, eine Frau von Geist, Belesenheit und Einsicht war, sich im Lesen nicht so genau an den Text gebunden hielt, um nicht zuweilen die Erzählung abzukürzen, [...].840

Durch den Erzähler wird im Modus der Konjektur, durch ungenannte Zeugen bestätigt, die Ebene des subjektiven Kommentars eingefügt, ohne daß dieser im Fortgang der Erzählung kenntlich gemacht wird. Auf diese Weise erhält die Realitätsfiktion den Charakter der Ambiguität, der es dem Rezipienten überläßt, im Fortgang der Erzählung die Vorannahmen über den „historischen“ Bestand und über die subjektiven Kommentare der Binnenerzählerin immer wieder zu überprüfen, sich immer wieder die letztlich nicht beantwortbare Frage zu stellen, wie verläßlich das Berichtete nun sein mag. In dieser iterativen Reflexion, die Polyvalenz erzeugt, wird ein Prozeß der Vorurteilskritik in der Rezeptionspraxis immer wieder erprobt. 838 839 840

Wieland: Koxkox, S. 32. Ebd. Wieland: Der goldne Spiegel, S. 33. Hervorh. R. G.

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Der Unterschied von Realitätsfiktion und Fiktionsfiktion wird auch in der Figurenrede der Erzählung selbst thematisch. Schach-Gebal wendet an anderer Stelle ein, er merke der Erzählung Danischmends an, daß sie ein „Roman“ sei. „Bisher klang der größte Theil deiner Erzählung so ziemlich wie eine Geschichte aus dieser Welt. Aber dieser Dschengis, dieser Tifan! Man erinnert sich nicht, solche Leute gekannt zu haben!“841 Die bis hierher geschilderte Fiktion eines idealen Verständnisses von Herrschaft ähnele zu sehr einem „Mährchen“. Danischmend hebt in der Gegenrede implizit auf den Gegensatz von poetischer Wahrheit und Realität ab, wenn er betont, daß es (wie die anderen von ihm erzählten) eine „wahre Geschichte“ sei und Tifan „kein Geschöpf der Fantasie“.842 Der Sultan gesteht schließlich die Möglichkeit zu, einen Traum – so es denn ein Traum sei – wahr zu machen.843 Dies mag inhaltlich als Option gelesen werden, die der dargestellten Utopie Verwirklichungschancen in der politischen Realität (von Wielands Gegenwart) einräumte. Doch mit der Markierung der Differenz und der inhärenten, aber offenbleibenden Möglichkeit, diese zu überwinden, wird der Leser auch dazu angehalten, eigenständig die Ebenen von Fiktion und Realität zu scheiden, eine unmittelbar faktische Referenz gerade nicht zu konstruieren und stattdessen eigenständig Urteilsprozesse zu inszenieren und zu revidieren.844 Das Fiktivitätsbewußtsein der Rezipienten besteht nicht nur im Wissen um die Differenz, sondern vor allem in deren produktiver Aneignung.845 Sultan Schach-Gebal kann auch umgekehrt die gestalterischen Mittel poetischer Fiktion einfordern, obwohl ihm vermeintlich historische Fakten dargestellt werden. So fordert er vom Binnenerzähler Danischmend, Isfandiar und sein Gefolge, von denen dieser als historische Wahrheit berichtet hatte, durch eine „Sündflut“ oder wahlweise eine andere Naturkatastrophe ums Leben kommen zu lassen.846 Diese Anweisung, eine als historisch eingeführte Erzählung innerhalb der Gesamtfiktion fiktional umzugestalten, setzte einen Autor voraus, der seinen Plot über die Grenzen poetischer Wahrscheinlichkeit hinaus beliebig zu gestalten willens wäre. Dies entspricht allerdings nicht dem Verfahren des Binnenerzählers, und auch das Erzählrelief des gesamten Romans weist eher Züge der Beglaubigung auf. So bildet die textinterne Option in der Rezeptionsperspektive einen distanzschaffenden Kontrapunkt zum bestimmenden Erzählrelief des Romans.847

841 842 843 844

Ebd., S. 229. Ebd. Vgl. ebd., S. 230. Vgl. zu Möglichkeiten fiktionaler Lektüre: Berthold: Fiktion, S. 179, Kleinschmidt: Fiktion, S. 64f. 845 Dies ergänzend zu Berthold: Fiktion, S. 3, 75. 846 Vgl. Wieland: Der goldne Spiegel, S. 189f. Ähnlich auch ebd., S. 216. 847 In ähnlicher Weise thematisiert auch Wezel in Tobias Knaut das Gegeneinander verschiedener narrativer Legitimierungen, um letztlich der subjektiven Empfindung des Narrators den Vorzug vor der Begründung aus historischen Fakten zu geben. Vgl. Wezel: Tobias Knaut, S. 20.

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Diskrepanzen in der Rezeptionswahrnehmung, die einen eigenständigen Urteilsprozeß des Rezipienten erfordern, können nicht nur durch im engeren Sinne erzähltechnische Mittel generiert werden, sondern auch durch inhaltlich widersprüchliche Darstellungen. Die Lehren, die Belphegor in Wezels gleichnamigem Roman und mit ihm auch der Leser erhalten, sind, wie sich schon im Erzählverlauf zeigt, nicht zu gebrauchen. Die radikale Verunsicherung erfaßt in Belphegor auch die literarischen Mitteilungsformen. Die inhaltlich für die Aufklärung zentralen Fragen, die von den Figuren, insbesondere vom Protagonisten gestellt werden, bleiben letztlich ohne Antwort.848 Trotz aller Aufklärung über das Wesen des Menschen bleiben die Figuren ihren Vorurteilen und Illusionen treu. In Tobias Knaut thematisiert Wezel die Ursache für ein solches Beharren auf Vorurteilen. Das auf der Beobachtung und positiven Wertung des Beobachteten gründende Urteil von Tobias’ Mutter, er sei zum Theologen geneigt, erweist sich als falsch: Tobias’ Emsigkeit und Beharrlichkeit (im Zerstören von Dingen) zeugt wohl eher von einer psychischen Anomalie. Doch kann das Urteil der Mutter auf die grundlegende Wirkung von Vorurteilen zurückgeführt werden: „Wenn sich meine Leser oder Leserinnen [...] die Mühe geben wollten, unter ihren Urteilen [...] eine kleine Musterung anzustellen, so würden sie alle finden – […], daß sie samt und sonders nach dem Muster der Frau Knaut [...] zugeschnitten sind [...].“849 In diesem Roman Wezels werden selbst die Erklärungen des Erzählers immer wieder explizit oder implizit aufgehoben oder relativiert.850 Der Verunsicherung des Rezipienten und der Aufmerksamkeitslenkung dient auch die verschränkende Relativierung von Erzählzeit und erzählter Zeit, die digressiv die fiktive Lesererwartung thematisiert und eine Beschleunigung der erzählten Zeit (und Auslassung der ausführlicheren Darstellung eines Gewitters) ankündigt, schließlich aber doch im Erzählgang im Grunde unverändert fortfährt: „Aber vorher werden sie mir erlauben, daß ich meinen Held rette, [...]“.851 Der Rezipient, dem zunächst als implizitem Leser angekündigt wurde, seine fiktiven Interessen würden berücksichtigt, sieht sich genötigt, sein Vorurteil über das Entgegenkommen des Autors zu korrigieren. Die Erzählstrategien, die dem Rezipienten die prozessual verstetigte Überprüfung und Revision seiner getroffenen Urteile überantworten, belegen indes keineswegs eine fiktionale Beliebigkeit. Sie erhalten vielmehr eine textinterne Motivation, indem anthropologiebasierte Argumentationsverfahren auf den Diskurs der wissenschaftlichen Anthropologie zurückgeführt werden. So kann Wielands Koxkox und Kikequetzel nicht nur als kritische Thematisierung von Wielands Rousseau-Rezeption gelesen werden, sondern auch als Erzählung, die die Konsequenzen

848 849 850 851

Vgl. Schönert: Fragen ohne Antwort, S. 187, 189. Wezel: Tobias Knaut, S. 36. Vgl. ebd., S. 44. Ebd., S. 63.

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aus dem anthropologischen Diskurs zieht. Wielands Rousseau- und AnthropologieKritik konzentriert sich hier nicht auf die inhaltliche Gegenüberstellung von Natur und Zivilisation, sondern auf die methodische Ebene.852 Ironisch werden innere wie äußere Informationen über den Protagonisten und dessen Umfeld aufgeführt, die vermeintlich eine vollständige physiologisch-anthropologische Erfassung des Menschen ermöglichen: Die Kanäle seiner Lebensgeister waren nirgends verstopft, und die Fortpflanzung der äussern Eindrücke in den Sitz der Seele, (welcher, im Vorbeygehen zu sagen, ihm so bekannt war als irgend einem Psychologen unserer Zeit) nebst der Absendung der Volizionen und Nolizionen aus dem Kabinett der Seele in die äussersten Fäserchen derjenigen Werkzeuge, welche bey Ausführung derselben unmittelbar interessiert waren, ging mit der grössten Leichtigkeit und Behendigkeit von Statten.853

Diese umständliche Vorbereitung bereitet die erste Begegnung von Koxkox mit Kikequetzel vor. Die Sammelwut von Fakten und Bedingungen kontrastiert hier ironisch der empfindsamen Liebesbegegnung. Dieser Gegensatz verweist darauf, daß menschliches Handeln zwar kaum vollständig erfaßbaren Faktoren unterliegt, dennoch aber von unmittelbaren Empfindungen (und Vorurteilen) als Handlungsgründen ausgeht.854 Die Frage nach den Charakteristika des Menschen und seiner Entwicklung zu einem sozialen Wesen wird im Verlauf von Wielands Erzählung skeptisch beantwortet. Der Mensch wird zunächst als anthropologisches Defizitwesen eingeführt, dem die Natur wenige äußere Mittel zu seiner Erhaltung zur Verfügung gestellt hat. Dieses Defizit kann er aber durch seine Vernunft ausgleichen.855 Doch wird dieser aufklärerische Vernunftoptimismus erzählerisch auf Handlungsebene doppelt funktional konterkariert. Zum einen wird für den Rezipienten deutlich, daß die Diskussion um die Bestimmung des Menschen im Erzählfortgang lediglich ein Ablenkungsmanöver darstellt, um den Geschlechtsverkehr der Protagonisten nicht darzustellen.856 Zum anderen degeneriert die entstandene kleine soziale Gemeinschaft schließlich aufgrund ihres ungehemmten Sexualtriebs, dem das Vernunftwesen Mensch nichts entgegenzusetzen hat.857 Dennoch schließt die Erzählung mit 852

Vgl. Walter Erhart: „Was nützen schielende Wahrheiten?“ Rousseau, Wieland und die Hermeneutik des Fremden, in: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Berlin / New York 1995, 47–78, hier S. 71. 853 Wieland: Koxkox, S. 27. 854 Vgl. auch die Darstellung von Koxkox‘ Empfindungen ebd., S. 37. Vgl. Schings: Melancholie, S. 35. Die Komplexität der anthropologischen Bestimmungsfaktoren thematisiert auch Wezel, wobei er die konstante Wirksamkeit vor allem der ersten Eindrücke stärker akzentuiert: vgl. Wezel: Tobias Knaut, S. 33. 855 Dieses Modell des Instinkt- und Ausstattungsdefizits des Menschen gegenüber dem Tier vertritt in der Anthropologie des 20. Jahrhunderts Gehlen: Der Mensch, S. 20 et passim. 856 Vgl. Wieland: Koxkox, S. 65. Die Wiederaufnahme der Erzählhandlung setzt mit dem anthropologischen Topos aus Platons Symposion ein, der Mensch bestehe aus einer weiblichen und einer männlichen Hälfte. 857 Vgl. ebd., S. 111ff.

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aufklärerischem Optimismus, der darauf vertraut, daß ein Fortschritt der Aufklärung gerade aufgrund der Widerstände des Prozesses möglich ist: Die Menschen sind nicht dazu gemacht Kinder zu bleiben; und wenn es nun einmahl in ihrer Natur ist, dass sie nicht anders als durch einen langen Mittelstand von Irrthum, Selbsttäuschung, Leidenschaften und daher entspringendem Elend zur Entwicklung und Anwendung ihrer höhern Fähigkeiten gelangen können, – wer will mit der Natur darüber hadern?858

Die hier formulierte These zur Funktion von Widerständen im aufklärerischen Progreß wird in die Erzählstruktur transformiert, indem ständig Vorurteils- und Urteilsbildung des Rezipienten angeregt und durch Desillusionierung, Kommentierung und Relativierung wieder aufgehoben werden. Der Narrator in Wielands Geschichte der Abderiten führt Wahrheit auf Natur zurück, deren Aufgabe es ist, die „Ausfüllung der Lücken, Aufklärung der dunkeln Stellen, Hebung der würklichen und Vereinigung der scheinbaren Widersprüche“ zu befördern.859 Die Wahrheit, auf die sich der Narrator beruft und die er gar zum Ende des Romans als verläßlich kennzeichnet,860 ist indes eine anthropologisierte, die der eingeschränkten Urteilsbildung des Rezipienten unterliegt. Es ist eine Wahrheit, die, wie Wezel formuliert, den Urteilsprozeß vorsichtiger und abwägender machen muß. Es sei nichts übrig, „als daß jeder, wie bey Beurtheilung der Wahrheit, den Ausspruch seines Gefühls und seine Gründe sagt, ohne entscheiden zu wollen: [...]“.861 Behutsamkeit und Vorsicht scheinen allerdings kaum je vollständig erreichbar: „Wodurch will man verhindern, daß der Richter nicht seine eigene Denkungsart, seine Vorurtheile, seinen persönlichen Geschmack, vielleicht auch seine Leidenschaften und besondern Absichten, zur Richtschnur oder zum Beweggrunde seiner Urtheile mache?“,862 fragt Danischmend im Goldnen Spiegel. Selbst wenn Wahrheit erreichbar wäre, bliebe deren Vermittlung bedenklich. Denn diese muß mit denselben anthropologischen Konditionen rechnen, mit denen auch die Wahrheitsgewinnung sich auseinandersetzen muß.863 Doch resultiert hieraus kein materialistisch-subjektivistisches Wahrheitsmodell, das eine verbindliche Moral ausschlösse.864 Vielmehr wird der Prozeß der Wahrheitsfindung fokussiert, für den Verantwortung zu übernehmen den Rezipienten obliegt. In diesem Prozeß gewinnt eine kritische Selbstbefragung Dignität, die sich immer wieder des richtigen Maßes versichern muß, um weder in den Ruch einer „tyrannischen Filosofie“865 zu geraten noch allzu großem Subjektivismus das Wort zu reden. Initiiert 858 859 860 861 862 863 864

Ebd., S. 117f. Wieland: Geschichte der Abderiten, S. 1. Vgl. ebd., S. 298f. Wezel: Rezension von Sophiens Reise, S. 293. Wieland: Der goldne Spiegel, S. 129. Dies wird textintern thematisiert ebd., S. 106. Ein solches vertreten Hippias und Eblis. Vgl. Wieland: Agathon. Erste Fassung, S. 106, Wieland: Der goldne Spiegel, S. 165. 865 Vgl. Wieland: Der goldne Spiegel, S. 127.

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wird ein Prozeß, in dem der Leser angehalten ist, dogmatische Fixiertheiten zu relativieren, die Komplexität anthropologischer Konditionen zu erkennen und zu berücksichtigen, das richtige Maß von Vorurteilskritik und -rehabilitierung selbständig zu finden und die eigenen Urteile permanent revisionsfähig zu halten. Die hier von Wieland und Wezel exemplarisch herangezogenen Texte ordnen sich qua modaler Perspektive dem Vorurteilsdiskurs zu. Hier vollzieht sich in Texten, die auf den ersten Blick und inhaltlich nicht zum Vorurteilsdiskurs zu gehören scheinen, und in der Rezeptionssituation, die diese strategisch anzusteuern suchen, die formale Transformierung des Diskurses. Die virulente Problematik des individuellen wie sozialen Umgangs mit dem „Vorurteil“ wird der Selbstverantwortung der Rezipienten übertragen. Selbstaufklärung wird so im Rezeptionsprozeß eingeübt. Über diesen hinaus wird eine Möglichkeit erprobt, die Aporien philosophischer Gnoseologie zu umgehen oder gar zu lösen. Die literarische Form des Vorurteilsdiskurses bedingt dabei, daß die „Lösung“ nicht clare et distincte formulierbar ist: Wäre sie dies, verlöre sie ihren sie auszeichnenden Charakter der erprobenden Anleitung zur Selbstaufklärung.

5.6 Transformierung – ein Zwischenresümee Transformierungsformen der Vorurteilsdiskussion gelingt es mit Hilfe spezifischer Ausdrucks- und Stilformen, den Vorurteilsdiskurs im Hinblick auf seine Anwendbarkeit, Vermittlungsfähigkeit und vor allem auf seinen Zusammenhang mit der Aufklärung zu befragen. Damit gehen sie sowohl im Blick auf die verwendeten Gattungen als auch mit Blick auf die inhärente Mischung verschiedener Genres über die Formen der Rehabilitierung des Vorurteils hinaus. So ermöglichen Transformierungsformen der Vorurteilsdiskussion einerseits eine mehrdimensionale Rezeption und Verarbeitung der Argumentationsfiguren der anthropologischen Wende, andererseits aber initiieren sie auch einen produktiven Umgang mit der Vorurteilsdiskussion (nicht nur mit einzelnen Vorurteilen) beim Leser, indem sie Rezeption auf neue Weise zu steuern beginnen.866 Die Aufklärung löst sich erst in der Literatur aus der Dialektik von Kritik und Selbstkritik, Universalismus und Relativismus. Spezifisch literarische Verfahrensweisen ermöglichen die Relativierung der Vorurteilsdiskussion in ihrer schulphilosophischen Form, die polyperspektivische Formulierung und Vermittlung von neuen, vor allem modalen Er866

Es soll nicht suggeriert werden, der Vorurteilsdiskurs sei der einzige Anlaß der Entwicklung der spätaufklärerischen Erzählformen. Hierfür sind auch andere externe, insbesondere soziale Bedingungen anzuführen. Vgl. exemplarisch Rolf Grimminger: Aufklärung, Absolutismus und bürgerliche Individuen. Über den notwendigen Zusammenhang von Literatur, Gesellschaft und Staat in der Geschichte des 18. Jahrhunderts, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 3. Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution. 1680–1789. Hg. von dems. München / Wien 1980, 15–99.

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kenntnissen, die selbstreflexive Erweiterung aufklärerischer Möglichkeiten, indem sie ein komplexes Modells der Kritik und Selbstkritik integrieren. Dabei sollte das kritische Verfahren der Vorurteilsanalyse und der Selbstreflexion nicht mit einem grundlegenden Anspruch auf Destruktion der Vorurteile verwechselt werden. Die grundlegende Leistungsfähigkeit des literarischen Diskurses nähert sich auch in der deutschen Spätaufklärung den avancierten französischen Mustern, denen es gelingt, philosophische Begründungsparadoxien aufzulösen.867 Während der Vorurteilsdiskurs in der deutschen Frühaufklärung durchaus als Fortschreibung der theoretischen Diskussion angesehen werden kann, gewinnt er ab der Jahrhundertmitte, zunehmend aber im letzten Drittel des Jahrhunderts eigene generative und damit diskursintern progredierende Möglichkeiten. Die Diskussion um das Vorurteil wird in literarischen und paraliterarischen Strategien als Bestandteil der Metareflexion und damit als Teil des Vorurteilsdiskurses eingesetzt, der die Diskussion um Vorurteilskritik transgrediert. Der Leser wird ermächtigt, in seiner literarischen Rezeption seinen Prozeß der Urteilsbildung auf Text- wie auf Rezeptionsebene zu überprüfen. Literarische Beglaubigungstechniken fungieren demnach als Aspekte dieses rezeptionsästhetischen Spiels, nicht als Wahrheitsbehauptung. Die interdiskursive Ent-Normierung wirkt auf die Formationsregeln von Vorurteils- wie von literarischem Diskurs. Eine so verstandene Transformierung des Vorurteilsdiskurses eröffnet neue Möglichkeiten der Selbstreflexion. Das „Vorurteil“ emanzipiert sich vom bloßen Objekt der Aufklärung zum Grund eines Handlungsmusters. Dieses Reflexionsschema ermöglicht die Selbstaufklärung der Aufklärung außerhalb des philosophischen Diskursbereichs. Da anthropologisches Wissen zur bisher der Philosophie vorbehaltenen Erkenntnisproblematik beiträgt, bildet sich ein Funktionswandel literarischen Sprechens heraus. Die Literatur kann nun komplexere Strategien zur Problemlösung reflektieren, erproben und nutzen, die der anthropologiebasierten Relativität der Erkenntnis gerecht werden.

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Vgl. Thoma: Vorurteil und Urteilsbildung. Thoma fokussiert hier die Prosa Diderots, Voltaires und Rousseaus. Die Frage, ob der literarische Diskurs einen problem-lösenden Eigenwert gegenüber dem philosophischen hat, der sich in einer spezifischen Formgebung ausdrückt, klären Gabriel und Fricke nicht. Vgl. Gottfried Gabriel: Literarische Form und nicht-propositionale Erkenntnis in der Philosophie, in: ders. / Christiane Schildknecht (Hg.): Literarische Formen der Philosophie. Stuttgart 1990, 1–25; Harald Fricke: Kann man poetisch philosophieren? Literarturtheoretische Thesen zum Verhältnis von Dichtung und Reflexion am Beispiel philosophischer Aphoristiker, ebd., 26–39.

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Instrumentalisierung des Vorurteils. Zur selektiven Einhegung anthropologischer Prämissen

Im späten 18. Jahrhundert gewinnt die Diskussion um das Vorurteil eine neue diskursive Breite, die ihre Verbindung zum Aufklärungskonzept intensiviert. Der pragmatische Aspekt der Debatte, der kritischen wie rehabilitierenden Positionen innelag und der die simplifizierende Analogie von Vorurteilskritik und Erfolg der Aufklärung nahelegte, verlor seine Regelhaftigkeit, sobald die Frage der Erkennund der Zerstörbarkeit des Vorurteils negativ beantwortet werden mußte. Die Diskussion fokussierte, war die anthropologiebasierte Komplexität gnoseologischer Prozesse einmal anerkannt, nun in ihren transformierenden Varianten die Idee aufklärerischer Selbstreflexion. Die Transformierung des Vorurteilsdiskurses löste sich von binnenakademischen, schulphilosophischen Kontroversen. Sie schuf eine außerakademische Erkenntnispraxis, die vielleicht philosophisch nicht stichhaltig sein mag, die aber die interdiskursiven Transgressionen der deutschen Spätaufklärung signifikant bestimmte. Im Vorurteilsdiskurs stellten sich neue Fragen, die nicht mehr die logischmateriale Konzeption des Vorurteils betrafen, sondern erkenntnispraktische Konsequenzen aus der anthropologiebasierten Argumentation zogen: Welche Folgen konnte – so wurde gefragt – diese neue Konzeption des Vorurteils für Erkenntnis und Wahrnehmung haben? Wie können die neuen Erkenntnisse einer Öffentlichkeit vermittelt werden, die nicht mehr (nur) die Öffentlichkeit des akademischen Diskurses war? Gegen Ende des Jahrhunderts, aber bereits vor der Französischen Revolution, politisiert sich die öffentliche Debatte.1 Diese Politisierung hat intra- wie extraaufklärerische Konsequenzen. Binnenaufklärerisch verschärfen sich Auseinandersetzungen zwischen Teilnehmern des öffentlichen Diskurses, die sich als Vertreter der Aufklärung verstehen, dennoch aber unterschiedlicher Meinung über deren politische Reichweite sind. Im Zuge der seit den 1780er Jahren einsetzenden Diskussion um die „wahre“ Aufklärung entsteht aber auch ein polemischer Gegensatz zwischen Aufklärern und verstärkt öffentlich auftretenden Aufklärungsgegnern. Nach dem Tod Friedrichs II. und der Französischen Revolution wird der

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Begriffsgeschichtlich betont dies Koselleck: Einleitung, S. XVIII, vgl. auch ders.: Kritik und Krise, S. 128, Falko Schneider: Aufklärung und Politik. Studien zur Politisierung der deutschen Spätaufklärung am Beispiel A. G. F. Rebmanns. Wiesbaden 1978, S. 15ff. Die Auswirkungen der Politisierung der deutschen Spätaufklärung kamen erst in der Jakobinerforschung der 1970er Jahre in den Blick: vgl. Segeberg: Literarischer Jakobinismus.

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politische Streit um die Aufklärung zusehends schärfer,2 doch geht jene Politisierung vorher schon mit der subversiven Kontrolle der politischen Macht durch bürgerliche Öffentlichkeiten einher.3 „Wahrheit“ war als Formationsregel des Vorurteilsdiskurses von probabilistischen, selbstreflexiven Modalisierungen abgelöst worden. „Vorurteil“ kann nun aber auch als bloßes Schlagwort genutzt und damit instrumentalisiert werden. Denn Aufklärung eignet sich ebenso als instrumentalisierter Begriff, die Verbindung beider Begriffe jedoch hatte sich in den Transformierungsformen des Vorurteilsdiskurses als konstitutiv für aufklärerischen Fortschritt erwiesen.4 Die Transformierungsformen des Vorurteilsdiskurses stärkten so paradoxerweise die disziplinierende Macht des aufklärerischen Diskurses, die nun auch als Ausschließungsprozedur wirkte. Da Aufklärung prekär wird, beschränkt sich auch der Argumentationsspielraum des Vorurteilsdiskurses. Die „wahre“ Aufklärung wird nun zur Doktrin, der sich alle aufklärerischen Diskurse anschließen müssen, um nicht in den Verdacht des Gegenaufklärertums zu geraten. Die Geschichte der Aufklärung, die auf der Ebene der inhaltlichen Formierung als Geschichte einer freiheitlichen Entdoktrinierung lesbar ist, wird zu einer Geschichte der Doktrinierung. Auf der Ebene der Diskursformen vollzieht sich der von Koselleck auf der Ebene der Begriffe beobachtete Wandel von Erfahrung zu Erwartung, von normenfreier Empirie zu normativer Zukunftsprojektion: Vorurteilsdestruktion wird zur ideologisierten, inhaltlich entleerten Erwartung an alle, die von sich behaupten, Aufklärer zu sein.5 Hinske hat den Vorurteilsbegriff als „Kampfbegriff“ der Aufklärung identifiziert, der auch der polemischen Auseinandersetzung dient. Zu den Argumentationsstrategien des Vorurteilsdiskurses gehört schon früh die Gegenüberstellung von diametral entgegengesetzten Vorurteilen in Gegensatzpaaren, welche die vermeintliche Eindeutigkeit der Vorurteilskritik aufhebt.6 Die Instrumentalisierung des Vorurteils birgt die Gefahr, auch den inhaltlichen Anspruch auf ein eigenständiges

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Vgl. Schneiders: Wahre Aufklärung, S. 21f. Vgl. zur Beschleunigung der politischen Bewußtseinsbildung durch die Revolution: Helmut Berding: Die Ausstrahlung der Französischen Revolution auf Deutschland, in: Holger Böning (Hg.): Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit. Wandlungen in Presse und Alltagskultur am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. München u.a. 1992, 3–16, hier S. 9. Vgl. Habermas: Strukturwandel, S. 87. Es ist im Plural von „Öffentlichkeiten“ die Rede ist, da die soziologische Forschung nach Habermas zurecht zwischen verschiedenen Teilöffentlichkeiten mit je unterschiedlichen Zielen und Politisierungsgraden unterscheidet. Link hat für die Auseinandersetzung zwischen Proletariat und Aristokratie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert einen ähnlichen Prozeß beschrieben: Beide Klassen verwenden die Symbolserien der Industrialisierung positiv (ähnlich wie im 18. Jahrhundert meist „Aufklärung“ und „Vorurteilskritik“). So bleibt ihnen nur, jeweils der anderen das Abweichen vom Konsens vorzuwerfen. Vgl. Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 295. Vgl. zur Verzeitlichung und Ideologisierung Koselleck: Einleitung, S. XVIf., zum Erwartungshorizont der Spätaufklärung: Batscha: Einleitung, S. 8. Vgl. Hinske: Grundideen, S. 430.

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konzeptionelles Umgehen mit dem Vorurteilsproblem und damit tendenziell Vorurteilslosigkeit (und Selbstaufklärung) zu verlieren. Den diskurssprengenden Mechanismus der Zurechnung zu einer positiv konnotierten Eigengruppe beschreibt Feder in seinen Untersuchungen über den menschlichen Willen. Personen, die auf feindliche Gemüter wirken wollten, strebten an, unter diesem Begriff (einer positiv konnotierten Kategorie, R. G.) in einer Classe mit uns [zu] stehen [...]. Sie wollen doch wenigstens Menschenfreunde, Patrioten, Freunde der Wahrheit, Selbstdenker, keine Sklaven des Vorurtheils, oder wollen für Gegner dieser oder jener andern Parthey gehalten seyn.7

Das hier legitimierte Vorgehen deutet bereits an, daß der Konsens der Vorurteilskritik sich von inhaltlichen Komponenten entfernt und nur vorgeblich auf Vorurteilsfreiheit beruhen kann. Hier ist daher die theoretisch schon in den Formen der Rehabilitierung des Vorurteils befragte, allzu eindeutige Analogie von Aufklärung und Vorurteilskritik als Mechanismus des Wohlverhaltens enttarnt. Diese habituelle Instrumentalisierung und Berufung auf einen nicht mehr problematisierten kritischen Vorurteilsbegriff gründet, wie im folgenden gezeigt wird, auf einer sich seit den späten 1770er Jahren vollziehenden Entautonomisierung des Vorurteilsdiskurses, die dessen brüchig gewordene Formationsregel angreift. Eine polemische Radikalisierung der Debatten erschwert eine reflexiv-vorsichtige Selbstaufklärung.8

6.1 Pragmatisch instrumentalisierte Vorurteilskritik als Reduktion anthropologisierter Komplexität Als Katalysator der Chancen wie der Risiken der Instrumentalisierung der Aufklärung wirkt die 1780er Preisfrage der Preußischen Akademie nach dem Volksbetrug: „Est-il utile au Peuple d’être trompé, soit qu’on l’induise dans des nouvelles erreurs, ou qu’on l’entretienne dans celles où il est?“9 Im Hintergrund steht die Möglichkeit, daß die aufklärerischen Inhalte und Methoden nicht an den Fortschritt des Individuums, sondern an das Staatswohl gebunden sein könnten. Mendelssohn 7 8

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Feder: Untersuchungen. 4.Th., § 27, S. 130. Radikalisierung soll dabei hier als Zunahme an separierender Dezidiertheit verstanden werden. Das Konzept der „wahren Aufklärung“, das von Popularphilosophen gegen die politische Radikalisierung der französischen Aufklärung ins Feld geführt wird, radikalisiert selbst die Aufklärung, da es den Besitz der Wahrheit zu monopolisieren trachtet. Die Radikalisierung der Aufklärung ist mit der Politisierung eng verzahnt, Radikalisierung und Politisierung sind aber nicht identisch. Vgl. dagegen Schneider: Aufklärung und Politik, S. 9. Nouvelles Mémoires de l’académie royale des sciences et belles-lettres. Année 1778. Avec l’histoire pour la même année. Berlin 1780, S. 30. Im darauffolgenden Jahr wird die Ausschreibung wiederholt: vgl. Nouvelles Mémoires de l’académie royale des sciences et belleslettres. Année 1779. Avec l’histoire pour la même année. Berlin 1781, S. 14. Es handelt sich, wie ausdrücklich ausgewiesen, um eine zusätzliche Ausschreibung.

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kritisiert an der Fragestellung ein Paradoxon: Wer öffentlich behauptet, das Volk zu hintergehen, konterkariert seine eigenen Ziele. Die Frage nach der Meinungsfreiheit sei keine Frage der Vernunft, sondern der Macht.10 Die Vorgeschichte der Preisfrage, die zu heftigen Debatten in der Akademie geführt hatte, und schließlich die den Konflikt verschiebende Entscheidung, eine positive und eine negative Antwort auszuzeichnen, deuten darauf hin, daß die Preisfrage als politisch höchst prekär angesehen wurde.11 Prozessualität und Selbstreflexivität wurden letztlich durch die Institutionalisierung einer solchen Frage selbst – das erste und einzige Eingreifen Friedrichs II. in die Wettbewerbe der Akademie – zugunsten eines staatlichen Pragmatismus reduziert.12 Die Preisfrage bezieht sich auf die antike Tradition der Frage nach der Legitimität des Volksbetrugs, nicht aber explizit auf den aufklärerischen Vorurteilsdiskurs.13 Die Antworten warnen teils ausdrücklich vor einer politischen Instrumentalisierung der Aufklärung, obwohl die Teilnahme an der Debatte schon Aspekte der Subordination in sich trägt. Die anthropologiebasierte Komplexität, die die Transformierungsformen des Vorurteilsdiskurses aufgewiesen hatten, wird indes oft zugunsten einer Fortschreibung der Aporien verkürzt, elementare Strategien des Vorurteilsdiskurses bleiben ausgeblendet. Die in der Institutionalisierung der Frage angelegte Politisierung der Aufklärung wird etwa für Johann Leberecht Münnich nicht zum Hauptargument. Er bezieht sich vielmehr – und hier schneidet er die potentiellen Übereinstimmungen mit Formen der Rehabilitierung des Vorurteils ab – auf den logischen Irrtum. Um diesen als Mittel, nicht als „Endzweck“ zu legitimieren,14 greift Münnich dieselben anthropologiebasierten Argumentationsstrategien auf, die im Vorurteilsdiskurs zur Formalisierung des Vorurteilsbegriffs und zur Transformierung des Diskurses geführt hatten: „der Mensch wird nur das, was die Situationen aus ihm machen“, behauptet Münnich unter ausdrücklichem Bezug auf Sulzers naturalisierende Argumentation.15 Die Reihe der Ein10 11

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Vgl. Moses Mendelssohn: Ueber die Freiheit, seine Meinung zu sagen, in: JubA 6,1, 121–124, hier S. 123. Weber stellt die Vorgeschichte und wesentliche Antworten der Preisfrage dar, vertritt aber auch die nicht überzeugend belegte These, die bisherige Forschung habe die politische Bedeutung der Preisfrage überhöht. Vgl. Peter Weber: „Ist der Volksbetrug von Nutzen?“ Zur politischen Konstellation deutscher Spätaufklärung, in: Richard Fisher (Hg.): Ethik und Ästhetik: Werke und Werte in der Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern u.a. 1995, 135–146, hier S. 138. Vgl. zur Vorgeschichte: Adler: Aufklärung und Vorurteil, S. 667f. Die philosophieinterne Vorgeschichte, vor allem Friedrichs eigene Überlegungen, stellt dar: Werner Krauss: Eine politische Preisfrage im Jahre 1780, in: ders.: Studien zur deutschen und französischen Aufklärung. Berlin 1963, 63–71. Zeichen staatlicher Restriktion ist auch, daß regierungskritische Antworten a priori ausgeschlossen wurden: vgl. ebd., S. 69f. Vgl. Adler: Aufklärung und Vorurteil, S. 669. Vgl. zur Volksbetrugsfrage: Hans Adler (Hg.): „Nützt es dem Volk, betrogen zu werden?“ Die Preisfrage der Preußischen Akademie für 1780. Stuttgart-Bad Cannstatt 2007. Vgl. Münnich: Versuch, S. 48f. Ebd., S. 10.

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flußfaktoren wird dabei nicht nur naturalisierend als Menge externer Einflüsse verstanden, sondern auch historisiert, indem der Wandel der Zeiten Berücksichtigung findet. Auch Münnichs ebenfalls auf Sulzer zurückgehende Differenzierung von sinnlichen und vernünftigen Irrtümern greift Strategien der Sensualisierung wieder auf. Schließlich bezieht Münnich auch den Gedanken, daß die individuelle Bestimmung des Menschen in seine soziale integriert werden müsse, aus dem anthropologischen Interdiskurs.16 Doch führen diese anthropologiebasierten Argumente bei Münnich nicht zu einem formalen Vorurteilsbegriff, sondern bleiben an den traditionellen Begriff des Irrtums gebunden: Im Lernprozeß der Kinder seien inhaltlich falsche Schlüsse unvermeidbar – nicht nur formal falsche.17 Die Frage der Vermeidbarkeit von Irrtümern kann letztlich, wie schon bei Sulzer, durch die Ratio gelöst werden. Indem Münnich Kritik und partielle Legitimierung von Irrtümern vom theoretischen Vorurteilsdiskurs abgrenzt, rezipiert er Aspekte der frühaufklärerischen, gnoseologischen Vorurteilskritik, nicht aber die neueren Argumente seiner Zeit.18 Es deutet sich an, daß die Debatte um Toleranz und Aufklärung die komplexen Lösungsvorschläge des theoretischen Vorurteilsdiskurses nur noch selektiv wahrnimmt.19 Die meisten Antwortschriften auf die Preisfrage nach dem Volksbetrug präferieren Antworten, die die Vorurteilsbegriffe konzeptionell an logische Kriterien binden.20 So perspektiviert etwa Johann Georg Gebhard die Preisfrage ausdrücklich unter dem Signum der Differenz von Wahrheit und Irrtum.21 Fehlerhafte Vernunft wird zu einem potentiellen Kennzeichen der Vorurteile des Volkes.22 Gebhard bezieht sich nur selektiv auf den anthropologischen Diskurs (er nennt mehrmals etwa Karl Franz von Irwing),23 konstruiert allerdings einen tendenziell inhaltlichfalschen Vorurteilsbegriff, der politisch in Anspruch genommen werden kann. Wird der Vorurteilsbegriff rehabilitierend unter politischer Ägide eingeführt, so stößt dies auf binnenaufklärerischen Widerstand. Mit der Preisfrage wurde die Auseinandersetzung um Aufklärung zur entschieden politischen Kontroverse.24 Denn daß Politik über den Maßstab des aufklärerischen Umgangs mit den Vorur16 17 18 19

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Vgl. ebd., S. 10f., 19ff., 60, 65. Vgl. ebd., S. 7. Vgl. Weber: Volksbetrug, S. 141. Zur gnoseologischen Vorurteilskritik: vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 155ff. Charakteristisch ist, daß die inhaltlich mit der Volksbetrugspreisfrage fast identische Frage der Berner Patriotischen Gesellschaft Anfang der 1760er Jahre explizit nach dem Nutzen der „Vorurteile“ gefragt hatte, während die Berliner Akademie „Täuschung“ fokussierte und damit der logischen Eindeutigkeit institutionellen Status verlieh. Vgl. Adler: Aufklärung und Vorurteil, S. 671. Vgl. Johann George Gebhard: Die Frage: Ob, und in wie fern, irgend eine Art von Täuschung, dem großen Haufen der Menschen zuträglich seyn könne? untersucht und beantwortet, in einer Abhandlung [...]. Berlin / Stralsund 1780, S. 20. Vgl. ebd., S. 41. Vgl. Irwing: Erfahrungen. 3 Bde. Ein 4.Band erschien erst einige Jahre nach der Preisfrage. Vgl. Schneiders: Wahre Aufklärung, S. 22.

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teilen entscheiden sollte, war für Teile der deutschen Aufklärung prekär. Die neuen Formen des Vorurteilsdiskurses sahen sich allerdings gezwungen, sich wieder auf einen eindeutig kritischen Vorurteilsbegriff zu beziehen, um die Deutungshoheit nicht an politische Willkür zu verlieren. 6.1.1 Instrumentalisierung gegen Instrumentalisierung: A. Hennings’ Philosophische Versuche Im zweiten Teil seiner Philosophische[n] Versuche behandelt August Hennings25 ausführlich die Frage, ob Vorurteile nützlich oder gar notwendig seien, um die Menschen zur Tugend zu führen: Kann man den gemeinen Haufen, der in unaufgeklärten aber richtigen Ideen lebt, durch falsche Begriffe, die man den dunkeln Ideen beylegt, oder durch Vorurtheile zum Guten lenken? Kann man den großen Haufen dunkle und aufgeklärte Ideen, sie mögen falsch oder richtig seyn, einflößen, und ihn dadurch zum Guten leiten?26

Die Frage weist nicht nur auf die Berliner Preisfrage zum Volksbetrug hin,27 sondern rezipiert auch die anthropologiebasierten Argumente, die positive Grundlage für einen bewahrenden Umgang mit Vorurteilen geworden waren. Dunkle Ideen können eine positive Funktion erhalten, da sie zum Guten hinführen können. Sie (und damit auch die Vorurteile selbst) können grundlegend falsch oder richtig sein, doch ist dies nicht entscheidend für ihre diskursive Reichweite. Die Frage ist mithin nicht neu. Doch die Antwort, die Hennings gibt, rekurriert auf die aktuellen 25

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Am aufklärerischen Diskurs der Zeit nahm Hennings genreübergreifend teil, insbesondere auch mit der Edition mehrerer Zeitschriften: Schleswigsches Journal (1792/93), Der Genius der Zeit (1794–1800), Der Musaget. Ein Begleiter des Genius der Zeit (1798/99), Annalen der Leidenden Menschheit (1795–1801), Der Genius des neunzehnten Jahrhunderts (1801/02). Insbesondere Der Genius der Zeit hat in der Forschung einige Beachtung gefunden, wohl auch aufgrund seines illustren Mitarbeiterkreises, zu dem u.a. Knigge, Voß, Klopstock, Herder und Rebmann zählten: vgl. Rolf Schempershofe: August Hennings und sein Journal „Genius der Zeit“. Frühliberale Publizistik zur Zeit der Französischen Revolution, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte 10 (1981), 137–167, hier S. 137; Erika Süllwold: „Der Genius der Zeit“. Konstitution und Scheitern eines Modells von Aufklärungsöffentlichkeit. Köln 1985. Vgl. zum Schleswigschen Journal die profunde Arbeit von Losfeld, der die politische Diskussion (nach) der Französischen Revolution umfassend und kenntnisreich nachzeichnet: Christophe Losfeld: Philanthropisme, Libéralisme et Révolution. Le „Braunschweigisches Journal“ et le „Schleswigsches Journal“ (1788–1793). Tübingen 2002. Vgl. zum liberalen Programm Hennings’ Garber: Von der nützlichen zur harmonischen Gesellschaft, S. 260f., 264ff. August Hennings: Philosophische Versuche. 2 Theile. Copenhagen 1779, hier 2.Th., S. 93. Das auf dem Titel angegebene Publikationsdatum von Hennings’ Philosophischen Versuchen dürfte nicht zutreffen: Am 24.3.1780 berichtet Hennings an Mendelssohn, die Versuche befänden sich nun im Druck und er wolle ihm demnächst ein Exemplar zusenden. Vgl. Hennings an Moses Mendelssohn am 24.3.1780, in: Mendelssohn JubA 12,2, Briefnr. 515, S. 182. Die Versuche geraten durch diese Datierung in engen Zusammenhang mit der Publikation der Volksbetrugspreisfrage. Hennings kündigt die Versuche allerdings bereits im Juli 1779 mit dem Ziel an, „die Lehre über die Vorurtheile systematisch abzuhandeln“: vgl. Hennings an Mendelssohn am 22(?).7.1779, in: Mendelssohn JubA 12,2, Briefnr. 493, S. 154.

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politischen Diskussionsbeiträge. Hennings greift auf einen eindeutigeren, materialfalschen Vorurteilsbegriff zurück, den er als Hilfsmittel der Aufklärung instrumentalisiert, um der politischen Instrumentalisierung entgegenzuarbeiten. Gegen die Politisierung der Diskursbereiche stellt Hennings im Unterschied zu Mendelssohn den Wahrheitsanspruch der Aufklärung, die gegen die falschen Vorurteile vorgehen solle. Damit reduziert er die Vorurteilsdebatte wieder auf die Frage nach Wahrheit oder Falschheit, die auf der Grundlage anthropologischer Prämissen schon seit Meier überwunden schien. Der Aufweis der Gefahren politischer Instrumentalisierung zentraler Diskurse kann auch als Versuch verstanden werden, der Aufklärung einen eigenständigen Einflußbereich zu bewahren. Dabei muß Hennings allerdings auch die Ursachen der Transformierung der Diskussion mit angreifen, die anthropologische Komplexität letztlich reduzieren. Hennings’ Beitrag zur Vorurteilstheorie unterscheidet sich vom Stand des zeitgenössischen Diskurses, obwohl er in engem Kontakt mit Moses Mendelssohn steht, mit dem er auch über die Vorurteilsthematik diskutiert. Doch in der Frage der Relationalität der Wahrheit, die für die Transformierungsformen des Vorurteilsdiskurses entscheidend wurde, schlägt Hennings eine Lösungsstrategie vor, die um die Grenzen der Empirie weiß, diese aber methodisch bewußt zu machen und damit zu umgehen sucht: Wahrheitsliebe müsse aufs Ganze zielen, schreibt Hennings in der Moses Mendelssohn gewidmeten Vorrede zum zweiten Teil seiner Philosophische[n] Versuche.28 Sie müsse aus dem Zusammenhang des Ganzen „auf den Punkt zurückschließen, in dem wir uns befinden. Verfahren wir anders, so urtheilen wir nicht nach dem was ist, sondern nach dem, was wir sehen, und so reicht unser Gesichtskreis nicht weiter als der eingeschränkte Cirkel unserer Sinne.“29 Ein solches Vorgehen kehrt empirisierende Argumentationsstrategien insofern um, als ein Ausgang aus der Komplexität und Relativität individueller empirischer Erkenntnis darin gesucht wird, einem vorgängigen Erfassen des Ganzen methodischen Vorrang einzuräumen.30 Dadurch kann „Wahrheit“ wieder zum erreichbaren Kriterium werden, das im „Ganzen“ sichtbar wird. Relationalität des Erkennens ist damit nicht grundsätzlich obsolet, doch bietet Hennings eine Lösung, mit der allgemeine Wahrheit erreichbar werden soll, die wiederum das sicherste Mittel sei, um dem Eigensinn oder der Verblendung einzelner Meinungen auszuweichen.31 28 29

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Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 10f. Ebd. Das Erkenntnisvermögen selbst ist, wie im ersten Teil der Versuche detaillierter ausgeführt wird, begrenzt durch das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können. Dies reicht für fundierte Urteile nicht aus. Vgl. Hans Wilhelm Ritschl: August Adolph Friedrich von Hennings. 1746–1826. Ein Lebensbild aus Holstein, Kopenhagen und Hamburg in bewegten Zeiten. Hamburg 1978, S. 46. Hennings verkürzt Kants transzendentalphilosophischen Ansatz insofern, als er von einer vor der Erfahrung liegenden Möglichkeit ausgeht, das Ganze zu erfassen, ohne die notwendigen Verstandes- und Bewußtseinsbedingungen und deren Reichweite in den Blick zu nehmen. Vgl. Hennings: Philosophische Versuche. [1.Th.], S. 5f. Daß es solche allgemeinen Wahrheiten gebe, sucht Hennings im ersten Teil der Philosophischen Versuche nachzuweisen. Dabei kon-

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Wahrheit bildet einen Oppositionsbegriff zu Vorurteilen: „Sie (die Vorurteile, R. G.) sind ihren Eigenschaften nach dem Guten und Wahren entgegen, [...]“.32 Vorurteile sind für Hennings willkürlich angenommene falsche Meinungen oder Prinzipien. Wahrheit oder Falschheit ist auch das Scheidemerkmal für die Qualität philosophischer Doktrinen: „Sind sie richtig, so sind die Lehrsätze Wahrheiten. Sind sie falsch, so sind sie Vorurtheile.“33 Damit wird der Vorurteilsbegriff wieder auf die logische Dichotomie wahr-falsch reduziert. Auf der Basis eines solchen materialen Vorurteilsbegriffs ist grundsätzlich auch Vorurteilsfreiheit als rationale Errungenschaft möglich, wenn die ‚Wahrheit‘ erkannt wurde. Die „vorurtheilsfreie[n] Stille reifender Ueberlegung“ bildet den Gegenpol zu den Defiziten zeitgenössischer Wahrheits- und Gerechtigkeitssuche.34 Auch für die Frage nach der Ursache der Vorurteile bietet das Wahrheitskritierium den entscheidenden Anhaltspunkt. Die Entscheidung, ob es sich um ein Vorurteil handelt, ist nicht davon abhängig, ob es aus den unteren oder oberen Erkenntnisvermögen entsteht, ob es sich also um dunkle Begriffe handelt oder um klare. Denn: „Alle dunkle Begriffe sind also nicht Vorurtheile, sondern nur dieienigen, die falsch sind, und Wahrheiten können blindlings angenommen werden, ohne Vorurtheile zu seyn.“35 Das im rehabilitierenden Vorurteilsdiskurs diskutierte und noch im transformierenden inhärente Problem, daß gelegentlich auch Wahrheiten nicht auf einem rationalen Erkenntnisweg übernommen werden, also nicht immer skeptisch befragt oder logisch überprüft werden, klärt Hennings durch eine simple definitorische Abgrenzung, die die modale Perspektive des Vorurteilsdiskurses zugunsten der definitorischen ignoriert. Da vorausgesetzt wird, daß Wahrheit und deren Gegenteil eindeutig unterschieden werden können, ist entscheidend, ob praktisches Handeln „wahr“ oder „falsch“ sei. Logik impliziert dabei Moral: Leidenschaften sind „an und für sich“ keine Vorurteile, sie können aber Vorurteile werden, wenn sie angewendet werden und wirksamer Tugend widersprechen.36 Aus dem, was ich gesagt habe, können wir den richtigen Schluß ziehen, daß wir in den Leidenschaften vermeiden müßen uns durch Vorurtheile und Illusion hinreißen zu laßen, und daß wir keine sichere Leiterin, außer der Wahrheit oder der mit ihr gleichlautenden Tugend, haben.37

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zediert er zwar, daß alle Darstellungen philosophischer Natur unter begrenzten Erkenntnis- und Anschauungsmitteln leiden, doch belege das nicht die Unmöglichkeit der Wahrheit. Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 25. Vgl. Joachim Hild: August Hennings. Ein schleswig-holsteinischer Publizist um die Wende des 18. Jahrhunderts. Erlangen 1932, S. 43. Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 28. August Hennings: Vorurtheilsfreie Gedanken über Adelsgeist und Aristokratism. Kronberg/Ts. 1977 (11792) (Kleine ökonomische und cameralistische Schriften. Dritte Sammlung), S. 1. Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 90. Vgl. ebd., S. 180ff. Ebd., S. 190. Vgl. auch ebd., S. 42f. Diese doppelte Gleichsetzung von Vorurteil und Irrtum sowie von Tugend und Wahrheit führt dazu, daß Lockes These der praktischen Irrelevanz von „errors and opinions“ von Hennings zur praktischen Irrelevanz von Vorurteilen umgedeutet wird. Vgl. ebd., S. 211.

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Wahrheit leitet zum praktischen Handeln an.38 Werden Logik und Moral als Formationsregel des Vorurteilsdiskurses wieder in Geltung gebracht, so blenden sie anthropologiebasierte Argumentationsstrategien zusehends aus. Ein Vorurteil ist ein „Satz, den wir willkührlich annehmen, ohne ihn uns selbst erweisen zu können.“39 Ein individuell unzureichendes oberes Erkenntnisvermögen ist das Kriterium, das die innere, psychische Konstituierung von Vorurteilen ignoriert. Hennings inszeniert die De-Anthropologisierung des Diskurses.40 Doch bedeutet dies nicht, daß der anthropologische Diskurs grundsätzlich ausgeschlossen würde. Daß Vorurteile als Leidenschaften fungieren und die Urteilsfähigkeit des Menschen einschränken, war inhaltlich kaum zu leugnen.41 Allerdings kann Hennings anders als etwa Herder keine positive psychische Funktion von Vorurteilen erkennen. Im Gegenteil: Vorurteile haben destabilisierende und anthropologisch negative Folgen. Sie zerstören die Ganzheit und widersprechen, weil sie dem Wahren widersprechen, auch Hennings’ harmonistischem Naturverständnis: „Sie (die Vorurteile, R. G.) sind ihren Eigenschaften nach dem Guten und dem Wahren entgegen, und können nie mit dem harmonischen Fortwürken der Ordnung, die in der ganzen Natur liegt, übereinstimmen.“42 Natur ist für Hennings die elementare Legitimation seiner Argumentationsführung. Doch weicht er insofern vom anthropologischen Naturverständnis ab, als Natur mit dem Irrtum kontrastiert, da sie selbst als von Gott harmonisch und zum Guten geordnete verstanden wird. Eine solche Natur bewirkt Gutes, da sie Wahrheit impliziert, so daß im Umkehrschluß das Gegenteil der Natur keine positive Funktion haben kann.43 Das einzige Naturgesetz besteht darin, Schaden für andere zu vermeiden. Durch diese reduktive Form sozialer Wohlverhaltenskonzepte wird die harmonische Naturordnung aufrechterhalten.44 Im Gegensatz zum Naturkonzept Rousseaus versteht Hennings Natur nicht als einen temporalen Zustand der Menschheitsgeschichte. Vielmehr ist der Mensch dauerhaft, wie von Gott angelegt, in die Natur integriert. Wahrheit und Natur beweisen, wie Hennings angibt, Gottes Weisheit: „Menschen, ihr gehört der Natur!

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Vgl. ebd., S. 102f. August Hennings: Olavides. Hg. und mit einigen Anmerkungen über Duldung und Vorurteile begleitet von A. H. Kopenhagen 1779, S. 150. Vgl. Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 24: „Die Vorurtheile sind so vielfach geworden, als Menschen. Jeder hat die Seinigen, ieder der ihnen Daseyn giebt, giebt ihnen eine Form.“ Vgl. ebd., S. 72f. Ebd., S. 25, vgl. auch S. 68f. Vgl. Hennings: Olavides, S. 66. Vgl. Hennings: Vorurtheilsfreie Gedanken, S. 167f. Vom kategorischen Imperativ Kants bleibt diese Zuweisung entfernt. Denn Allgemeingültigkeit ist hier nicht Bestandteil der Verhaltenspräskription. Rousseaus Contrat social weiche vom theoretischen Prinzip im Verlauf der Argumentation ab. Vgl. ebd., S. 93ff.

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Der natürliche Mensch ist der einzige wahre Mensch Gottes.“45 Der Einzelmensch kann nicht nur seine Bestimmung nur innerhalb der Natur erreichen, sondern Natur bietet auch das soziale Schranken übergreifende Band, das die Gattung der Menschen verbindet.46 Hennings evoziert die vor- und frühaufklärerisch dominante normative Funktion des Naturbegriffs, die an theologisch-ethische Vorstellungen gebunden war, während er auf der anderen Seite auch jene Aspekte des Naturbildes stärkt, die emanzipatorisch auf die Dichotomie von Natur und Geschichte abzielen und einen gesellschaftlichen Bezugspunkt zu integrieren suchen.47 Doch bleibt der Schritt zum anthropologischen Naturverständnis, das beide Aspekte integrieren könnte, aus. Die traditionellen, nun zunehmend ambivalenten Naturbilder bleiben erhalten, doch thematisiert Hennings nicht die innere, psychische Natur des Menschen48 und ihre Undurchsichtigkeit und Widerständigkeit, die sich mit der Umkehrung der Sinneshierarchie zur Neuzentrierung des Menschen verbindet. Der Mensch kann als System externer Bindungen gesehen werden, indem Leidenschaften, die in der inneren Natur des Menschen verortet werden könnten, relational vom Naturbegriff gelöst werden. Durch diesen Ausschluß der inneren Natur des Menschen verkürzt Hennings den Vorurteilsdiskurs um seine inhaltlich anthropologische Basis: die Annahme, daß es sich bei Vorurteilen um innerpsychische, natürliche Prozesse handelt, für die Umgangsstrategien entwickelt werden müssen. Die normativ-theologischen Aspekte dieses Naturverständnisses, die an Leibniz’ Theorem der vollkommenen Natur anklingen, bedingen, daß Irrtümer (und mit ihnen auch Vorurteile) für die Wahrheit der Natur nicht funktional werden können: 45

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Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 19. Tardiff glaubt, in Hobbes die Quelle für Hennings’ Naturvorstellung zu finden. Vgl. Maria Tardiff: Conservatisme et libéralisme dans la revue Der Genius der Zeit d’August Hennings, in: Pierre-André Bois / Raymond Heintz / Roland Krebs (Hg.): Voix conservatrices et réactionnaires dans les périodiques allemands de la Révolution française à la Restauration. Bern / Berlin / Bruxelles 1990, 173–203, hier S. 174f. Dies scheint mir die Bedeutung der Natur bei Hennings zu verkürzen. Natur ist weder eine Ermöglichungsbedingung für einen „bon sauvage“ noch ein Hobbesscher Kriegszustand. Vgl. Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 80, 15. Vgl. zur folgenden Typologie: Ammermann: Gemeines Leben, S. 14ff. Natürliches Verhalten wird bis zur galanten Epoche als höfisches Verhalten angesehen: vgl. Manfred Beetz: Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum. Stuttgart 1990, S. 305ff. Im Unterschied zu Mendelssohns semiotischem Modell, das die Natur als Zeichen göttlichen Wirkens bestimmt, tendiert Hennings zu einem unmittelbareren Transfer. Vgl. Mendelssohn: Orakel, S. 19. Hennings’ Dichotomie von Natur und Geschichte ähnelt der Abbts. Abbt sah Natur als physikotheologischen Ausweis göttlichen Waltens an, während historische Ereignisse dem göttlichen Zweck der Natur widersprächen. Vgl. Lorenz: Skeptizismus, S. 120f. Vgl. Ammermann: Gemeines Leben, S. 29. Daß Hennings sich auf Pope beruft, bedeutet nicht, daß er dessen Integration innerpsychischer Prozesse (Ammermann nennt dies etwas ungenau „Anthropologie“, S. 30) nachvollzieht. Anthropologisch bezieht auch Mendelssohn die innere Natur des Menschen auf die externe. Vgl. zum Verhältnis von gesunder Vernunft und Gesetz der Natur bei Mendelssohn Wolfram Mauser: Prussorum Socrates. Mendelssohns „Phädon“, oder: die Kraft der gesunden Vernunft, in: ders.: Konzepte aufgeklärter Lebensführung. Literarische Kultur im frühmodernen Deutschland. Würzburg 2000, 419–433, hier S. 427, 429.

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Sonderbar genug wäre es, wenn die Natur, die ganz ein Werk der Allweisheit, die folglich ganz Ordnung und Harmonie ist, blos Menschen, blos einen Theil der Menschen, durch Abweichung von sich selbst, durch irrige Begriffe ihrer großen Wahrheit, zu ihrer Harmonie und Ordnung führen sollte.49

Vorurteile widersprechen Gottes Schöpfung. Im Unterschied zu Mendelssohns Vorstellung von der göttlich-harmonischen Natur, die die Entwicklung zur Harmonie als multiplen Prozeß versteht, der Widerstände funktional mit einschließen kann, bleibt Hennings’ Modell in den Philosophische[n] Versuche[n] in Hinsicht auf die Vorurteilstheorie statisch.50 Auch die Formationsregel der schwierigen Wahrheit der Vorurteilserkenntnis wird auf der Grundlage dieses Naturverständnisses neu justiert. Durch die Erforschung der Natur kann Wahrheit gewonnen werden, wie Hennings unter Berufung auf Pope suggeriert: „Take Nature’s path, and mad Opinion’s (sic) leave.“51 Weil sich Natur aus der unmittelbaren Anschauung erschließt, jeder Mensch also grundsätzlich die Fähigkeit hat, die Verhältnisse einzusehen, mit denen er in der Natur steht, und diese Einsicht zur Aufklärung beiträgt, „so ist das einzige Mittel, den Menschen erweiterte Begriffe beyzubringen, die Verhältniße zu vermehren, in denen sie mit der Natur stehen, [...]“.52 Das anthropologiebasierte Argument der Naturalisierung, das Erkenntnis nur auf Basis der Einsicht in Komplexität als möglich ansieht, spielt für dieses didaktische Konzept keine Rolle.53 Daher wird auch dessen Konsequenz, die ambige Konstruktion des naturalisierenden Analogieprinzips, bei Hennings nicht mehr kritisch befragt. Natur erhält den Status empirischen Materials, aus dem wahre Urteile erschlossen werden können. Auch Geschichte wird lediglich als eindeutiges Beweisfeld für die Schädlichkeit von Vorurteilen in Betracht gezogen: „verlangen wir noch auffallendere Beweise des Uebels, das aus Blindheit vorgefaßter Meinungen entstehet, so können wir nur die Geschichte aufschlagen.“54 Vorurteile können, da sie der wahren Natur widersprechen und die Geschichte dies bestätigt, keine positive Funktion für den Prozeß der Wahrnehmung und Erkenntnis übernehmen: „Die Urquelle alles Uebels in der Welt ist 49

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Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 88. Die „Wahrheit der Natur“ umfaßt auch individuell unterschiedliche Fähigkeiten zum rationalen Denken. Bedingung ist aber, daß sie immer in den Regeln der erkennbaren Natur gegründet ist. Vgl. ebd., S. 127f., 105. Vgl. Mendelssohn: Orakel, S. 19. Die Neuausgabe des kommentierten Briefwechsels zwischen Mendelssohn und Abbt erhielt Hennings von Mendelssohn jedoch vermutlich erst Ende April 1782 zugesendet. Hennings: Olavides, S. 165. Vgl. auch ebd., S. 101. Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 97. Ähnlich wie Hennings reanimiert Selle die sinnstiftende Aufgabe der Vernunft, die die göttliche, in der Natur gespiegelte Offenbarung erkennen kann. Vgl. Christian Gottlieb Selle: Ueber Natur und Offenbarung, in: Berlinische Monatsschrift 8 (1786), 121–141. Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 48. Vgl. auch ebd., S. 215: „Ich berufe mich auf die Jahrbücher der Geschichte, die Vorzeit mag aufstehen und entscheiden: Wo floß Gutes aus Vorurtheil?“ Die Antwort ist für Hennings klar – anders als für Herder, der Vorurteilen relative Qualität zuspricht.

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Vorurtheil. Wäre kein Vorurtheil, so wäre lauter Gutes, oder Gott wäre nicht Gott, und Natur nicht Natur.“55 Diese Reduktion anthropologiebasierter Prämissen dient dazu, den Vorurteilsdiskurs soweit zu remoralisieren, daß nur Wahrheit und Tugend als legitime und erfolgversprechende Gegenmittel gegen Vorurteile in den Blick kommen.56 Was Vernunft und Moral widerspricht, ist ein zerstörbares Vorurteil.57 Der Vorurteilsdiskurs nimmt durch diese Remoralisierung frühaufklärerische Traditionen wieder auf, denen die Moralisierung der Problematik als unverzichtbare Verbindung zu ihrer Verortung in der praktischen Philosophie eignete.58 Dieser moralpragmatische Zusammenhang bestimmt nun bei Hennings eine neue Form des Vorurteilsdiskurses, die dessen inhaltlich innovative Aspekte instrumentalisiert, indem sie sie politisch reduziert. Denn wenn diese Argumente die anthropologische Komplexität vereinfachen, verringern sie deren prekäre Folgen für die Aufklärung. In pragmatischen Zusammenhängen, mit denen der Vorurteilsdiskurs sich nun konfrontiert sieht, erweist sich das transformierende Konzept als angreifbar, da es als Ermunterung zur Beliebigkeit gedeutet werden konnte. Hennings versucht, den Vorurteilsdiskurs zu einem kommunikablen Instrument zu machen, um das Individuum zum Prozeß der Aufklärung zurückzuführen, ohne dabei die Ordnung von Staat und Klasse aufzugeben. Da jedes Individuum alle Fähigkeiten besitze, die notwendig seien, um seine angemessene Position in der Gesellschaft einzunehmen, fielen individuelle und kollektive Fertigkeiten zusammen.59 Diese selektive Wahrnehmung sozialer Relationen auf inhaltlich-anthropologischer Ebene sucht die Gefahr zu vermeiden, daß sich die Politik die Diskursmacht über Vorurteile anmaßt. Wenn Vorurteile a priori negativ wirken, die Denkfreiheit der Menschen einschränken und zu Unterdrückung und Irrationalismus führen, dürfen sie als „Stützen der Tirannen“60 nicht rehabilitiert werden. Denn eine Rehabilitierung der Vorurteile (die ja in der Transformierung wenigstens nicht ausgeschlossen war) führt dazu, daß die Politik Freiheitsrechte einzuschränken ermächtigt wird: „Ich verstehe dich, Menschen Verderberinn, Verheererinn der Freiheit 55 56

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Ebd., S. 62. Vgl. ebd., S. 190. Mendelssohns wendet ein, Vorurteile könnten wie Rechenfehler wirken, die sich gegenseitig aufheben und so zum korrekten Resultat führen könnten. Hennings stimmt nur hinsichtlich der theoretischen Vorurteile zu. Ihm gehe es um die konkrete moralische Wirkung der Vorurteile, bei der feststehe, daß Gegenteiliges nicht nützlich sei. Vgl. Mendelssohn an Hennings am 20.9.1779, in: JubA 12,2, Briefnr. 500, S. 164, Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 209f. Vgl. in diesem Sinne auch Hennings’ Kritik am Adel in: Hennings: Vorurtheilsfreie Gedanken, S. 47. Vgl. Schempershofe: Hennings, S. 159. Vgl. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik, S. 86. Vgl. Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 94f. Dieses Konzept unterscheidet sich deutlich von dem Mendelssohns, dessen Verständnis des aufklärerischen Progresses zwischen individueller Aufklärung und der Aufklärung des Menschengeschlechtes trennt. Vgl. Godel: „Eine unendliche Menge dunkeler Vorstellungen“, S. 574f. Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 54.

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und der natürlichen Rechte! (Gemeint ist die Politik, R. G.) Gewöhne den Menschen zur Kette, daß er küße den Strang, der ihn erdroßelt, und rufe denn aus, Vorurtheile sind mir nützlich!“61 Da wahre Weisheit und Tugend koinzidieren, wird der wahre Weise durch vernünftige, deutliche Begriffe zur Tugend geleitet, nicht aber durch Vorurteile. Deren Rehabilitierung verwehrt den Menschen die Möglichkeit, Weisheit und Tugend zu erreichen, und widerspricht daher der Harmonie der Natur.62 Ein deutlicher Kontrast zu Mendelssohns Sentenz „Lassen Sie uns wider die Vorurtheile selbst mit keinem Vorurtheile eingenommen seyn!“63 zeigt sich, wenn Hennings resümiert: Ich begnüge mich hier das Vorurtheil für Vorurtheil aus dem Wege zu räumen, und wohlthätigen, gutgesinnten, friedliebenden, aber auch irrig dem Vorurtheile das Wort redenden Männern mit der syllogistischen Kraft des Beweises zuzurufen: Vorurtheile stiften nie Gutes, fürchtet nicht Menschen aufzuklären, [...].64

Um vernünftige Vorurteilskritik zu reetablieren, führt Hennings drei zentrale Argumente an: Er warnt erstens – ein verdeckter Umkehrtopos – davor, daß der Vorurteilsbegriff fast beliebig von jeder Gruppe instrumentalisiert werde. „[J]ede Sekte eignet sich das Recht zu, die entgegengesezten Lehren, Vorurtheile zu nennen“, bemerkt auch Hennings’ ansonsten kritischer Rezensent Dieterich Tiedemann.65 Zweitens: Vorurteile anderer könnten egoistisch ausgenutzt werden. Sie seien „immer das Mittel der Gewinnbegierde gewesen, eigennützige Vortheile zu erlangen“.66 Drittens: Hennings lehnt die definitorische Basis vorurteilsrehabilitierender und -transformierender Positionen ab, indem er einen material-falschen Vorurteilsbegriff reinstalliert, der der Wahrheit entgegensteht.67 Den Hintergrund für Hennings’ wohlmeinende Instrumentalisierung bildet der Versuch, unter liberalen politischen Vorzeichen, die er als essentiell für den Fortschritt der Aufklärung betrachtet, wieder diskursive Bestimmungsmacht über Aufklärung zu gewinnen. Der relativistische Vorurteilsdiskurs schien dazu nicht mehr 61 62 63 64

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Ebd., S. 82. Vgl. ebd., S. 87f. Mendelssohn an Hennings am 20.9.1779, in: JubA 12,2, S. 164. Vgl. Godel: „Eine unendliche Menge“, S. 576. Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 206. Da Hennings erst im März 1780 berichtet, das Werk sei im Druck, kann man davon ausgehen, daß Hennings hier auf Mendelssohn reagiert (nicht umgekehrt). [Dieterich Tiedemann:] [Rezension von:] August Hennings, […] Philosophische Versuche, in zween Bänden, Koppenhagen gedruckt mit Godichischen Schriften. 1780 […] , in: Allgemeine deutsche Bibliothek 45 (1781). 2.St., 495–499, hier S. 499. Der Verfasser ist ermittelt in: Gustav Parthey: Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolai’s Allgemeiner Deutscher Bibliothek nach ihren Namen und Zeichen in zwei Registern geordnet. Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte. Berlin 1842, S. 28f., 38. Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 53f. An anderer Stelle nimmt Hennings im Vertrauen auf die göttliche Vorsehung aber an, daß auch „Unsinn“ im Prozeß der Aufklärung „zur Wahrheit führen“ könne. Vgl. August Hennings: Über die wahren Quellen des Nationalwohlstandes. Kopenhagen / Leipzig 1785, S. 44.

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geeignet, konnte er doch, die theoretische Konstruktion verkürzend, pragmatisiert werden und dabei seine Distinktionsschärfe verlieren. Hennings’ Argumentation zielt über den Vorurteilsdiskurs hinaus auf den allgemeinen Diskurs über Aufklärung, der selbst brüchig zu werden drohte. Der Fortschritt der Aufklärung führe zu einer Erweiterung unserer Gedanken. Das Gegenteil bewirkten Vorurteile: „Anstatt unsere Gedanken in beständigem Fortgange zu erweitern, bringen wir das Allgemeine auf einzelne Einschränkungen und Vorstellungen zurück.“68 Vorurteile widersprächen dem positiven Verständnis von Aufklärung insofern, als sie die aufklärerische Ganzheit, die von Gott anthropologisch fundiert wurde, unmöglich machten. Vorurteile können daher auch nicht nützlich sein.69 Auf der Grundlage dieser Prämissen (logische Falschheit und funktionale Sinnlosigkeit) empfiehlt Hennings eine entschlossene Kritik der Vorurteile. Mahnungen reichten nicht aus, vielmehr sei aktiver Widerstand gegen deren Ausbreitung erforderlich.70 Doch bliebe Hennings’ Perspektive praktischer Aufklärung unglaubwürdig, berücksichtigte er nicht, daß die Überwindung von Vorurteilen auf massive Schwierigkeiten stößt. Hier bezieht er sich auf das ansonsten konzeptionell kaum relevante Kriterium der Widerständigkeit von Vorurteilen. Da Vorurteile in die „Denkungsart“ jedes Menschen verwoben sind, könnten die eigenen Vorurteile selbst mit dem „größten Triebe zur Aufklärung und mit dem stärksten Genius zur Wahrheit“ nicht vollständig beseitigt werden. Befreiung von Vorurteilen kann nur erfolgversprechend sein, wenn sie Aufklärung als soziales und an der göttlich fundierten Natur orientiertes Modell versteht. Vorurteilskritik darf nicht einseitig sein, und sie muß sich immer auf die „Natur“ beziehen.71 Obwohl Vorurteilskritik notwendig sei, obwohl ihr eine klare Dichotomie von Wahr und Falsch unterliegt und obwohl sie nach Hennings niemals Schaden anrichten kann, seien dennoch „Behutsamkeit und Vorsicht“ bei der Destruktion von Vorurteilen erforderlich.72 Mit dieser fundamentalen Vorsichtsregel beruft sich Hennings auf einen Topos der moralisierten Vorurteilskritik, der das richtige Maß in der Vorurteilsbekämpfung zu bestimmen sucht: „Auch der schleunige Übergang vom Bösen zum Guten ist gefährlich.“73 Den Hintergrund dieser Vorsichtsmaßnahme bildet ein am harmonischen Naturganzen orientiertes Vermeiden von Widerständen. Es müsse mit Widerständen gegen Aufklärung gerechnet werden, denen mit Toleranz, nicht mit 68 69

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Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 68f. Analog in Olavides: „Ich glaube es ließe sich leicht darthun, daß Vorurteile ihrer Natur nach, nie Handlungen zum Guten würken können, daß sie ihrer Eigenschaft nach verwirren, und also nur Böses, wenn etwas, oder Dummheit, wenn nichts, hervorbringen.“ Hennings: Olavides, S. 65f. Hennings gibt sich sogar überrascht, wie man annehmen könne, daß Vorurteile nützlich seien. Vgl. Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 25. Vgl. Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 34. Vgl. ebd., S. 101f. Vgl. ebd., S. 223. Ebd.

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schneller, gewaltsamer Infiltrierung begegnet werden soll.74 Denn ein solches Verfahren würde Aufklärung instrumentalisierbar machen und zudem behindern, daß der einzelne sie in freier Vernunfttätigkeit erreiche. Ratio wird für Hennings wieder zum Mittel der Vorurteilskritik – ungeachtet der Einwände, die vor allem sensualisierende Argumente gegen die Reichweite der Vernunft vorgebracht hatten. Die wahre Philosophie beinhaltet reine Begriffe.75 Da Vorurteile den Gegensatz der Wahrheit darstellen, kann die Kritik der Vorurteile nur durch das Medium geschehen, das Wahrheit zu erkennen imstande ist. Dabei reduziert Hennings Vernunft nicht auf die oberen Erkenntniskräfte, sondern schließt ausdrücklich auch die unteren mit ein: „Wo Gefühl im Herzen, Verstand im Geiste und einerichtige (sic) Anwendung dieser beyden edelsten Seelenkräfte sind, da ist Vernunft.“76 Vernunfttätigkeit dient als spezifische Erkenntniskraft der Vermeidung unbestimmter und undeutlicher Gefühle, indem sie „Unordnung und Verwirrung“ beseitigt.77 Hennings integriert, ohne dies explizit auch in seine Vorurteilstheorie aufzunehmen, obere und untere Erkenntniskräfte. Die Ratio besitzt einen kausalen und temporalen Vorrang vor den Leidenschaften, die dennoch nicht negiert werden können. Doch könne man sich den Leidenschaften dann überlassen, nachdem die Wahrheit durch „Nachsinnen, Wählen, Durchschauen, Entscheiden, innerer Beifall der Seele“ erkannt worden ist.78 Zudem haben sie – das wird entscheidend für Hennings’ liberales Verständnis – eine Grenze in der Beeinträchtigung des anderen.79 Die Moralisierung der unteren Vermögen versucht, die Umkehrung der Sinneshierarchie aufzufangen, die den Menschen affektiv anfällig machen könnte. Tiedemanns Rezension der Philosophischen Versuche verdeutlicht Hennings’ Distanz zur anthropologiebasierten Vorurteilstheorie: Unser Beifall, unsere Zustimmung zu bestimmten Thesen, hänge „hauptsächlich von unsern Ideen, und diese von unserer Art zu empfinden vorzüglich“ ab.80 Der Rezensent wendet auch ein, bei der Vorurteilskritik sei die Empfindung durchsetzungsstärker als die Vernunft.81 Sensualisierend-rehabilitierende Positionen zur Vorurteilstheorie, die die Bestandswahrung von Vorurteilen fordern, besitzen als Formationsregeln des Dis74 75 76

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Vgl. ebd., S. 221f. Vgl. ebd., S. 45f. August Hennings: Ueber die Vernunft. Berlin 1778, up. Vorrede. Sokrates wird als praktisches Beispiel für eine am Weltwissen orientierte Weltweisheit angeführt. Vgl. ebd., S. 48ff. Das Bild Sokrates’ als lebensweltlicher Aufklärer ist in der deutschen Spätaufklärung entscheidend durch Mendelssohn geprägt: vgl. Moses Mendelssohn: Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele in drey Gesprächen, in: JubA 3,1, 5–128, hier S. 18ff. Vgl. Hennings: Ueber die Vernunft, S. 46. Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 108. Vgl. ebd., S. 109. Vgl. Tiedemann: Rezension, S. 497. Tiedemann selbst vertritt die These: „Die Sinne also sind die erste Quelle aller unserer Kenntnisse.“ (Dietrich Tiedemann: Untersuchungen über den Menschen. Anderer Theil. Leipzig 1777, S. 426.) Vgl. Tiedemann: Rezension, S. 499.

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kurses noch erhebliches Gewicht: „Vorurtheile also müssen bleiben: und sie zum allgemeinen Besten zu gebrauchen, ihnen das meiste ihres Giftes zu benehmen, ist des Weisen Pflicht“, resümiert Tiedemann.82 Indem Hennings anthropologische Einsichten reduziert, simplifiziert er das Vorurteilsproblem. Er sucht es in den aufklärerischen Diskurs zu reintegrieren. Und da uns [...] kalte und ruhige Ueberlegung allein zu Wahrheit führet, und also derienige der leidenschaftlich die Wahrheit will, sie nicht erreichen kann, wenn er nicht die Leidenschaft bey Seite setzet, und da hieraus fließet, daß der Besitz der Wahrheit gänzlich ein Werk der Ueberlegung und Vernunft ist, die Ueberlegung und Vernunft einen Menschen aber nicht ohne die größte Ungerechtigkeit und Tyrannie geraubt werden kann, so ist es deutlich und gewiß, daß wir den Besitz der Wahrheit nur für uns zu erlangen suchen können, und nie darauf denken müßen, andern die Freiheit zu rauben, [...].83

Die vernünftige, aufgeklärte Freiheit der eigenen Entscheidung unterliegt keinen Restriktionen, selbst nicht derjenigen, daß eine bessere, wahre Erkenntnis eines anderen angenommen werden sollte. Bei der Aufklärung der anderen muß daher vorsichtig vorgegangen werden, um ihnen diese Freiheit nicht zu rauben.84 Dieses Konzept, das die psychischen Grenzen der eigenen Vorurteilskritik und die moralischen der Vorurteilskritik bei anderen zu vereinen sucht, wird funktional für Hennings’ Aufklärungsverständnis. Diese wird an den Primat der rationalen Wahrheit gebunden. Aufklärung liege „nicht in der Mannigfaltigkeit, sondern in der Richtigkeit der Darstellungen.“85 Sie bedeute die richtige Darstellung der Sachen in allen ihren Verhältnissen.86 Da Aufklärung an den Fortschritt der Wahrheit gebunden ist, wäre Mißbrauch der Aufklärung ein Paradoxon.87 Hennings’ Aufklärungskonzept zieht pragmatische Folgen nach sich. Denn die Klarheit der Begriffe ist darauf angewiesen, daß sie sich im konkreten Handeln der Menschen ausdrückt.88 Eine rein theoretische Aufklärung bliebe ohne Belang. Wie in der Frage der Funktionalität von Vorurteilen widerspricht Hennings auch hier Mendelssohn: Denn während dieser Aufklärung als theoretisches Projekt einführt 82

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Ebd. Hennings bedauert im Briefwechsel mit Mendelssohn, die kritische Rezension Tiedemanns sei in Dänemark rezipiert und dort um den Vorwurf des Angriffs auf die christliche Religion erweitert worden (mit dem sich Hennings bereits in der Olavides-Debatte auseinandersetzen mußte, s.u. S. 379). Vgl. Hennings an Mendelssohn am 27.4.1782, in: Mendelssohn JubA 13, Briefnr. 560, S. 41. Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 110f. Ritschl liegt also falsch, wenn er behauptet, Hennings sei es im Grunde nur um die Herrschaft der Vernunft, der Aufklärung, der Staatsweisheit und der Tugend zu tun gewesen. Vgl. Ritschl: Hennings, S. 80. Vgl. Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 110f., 118, 120. Im Briefwechsel mit Mendelssohn scheint Hennings’ Optimismus desillusioniert: „Der wärmste Ton der Wahrheit entwafnet sie (die Vorurteile, R. G.) nicht, und die kältesten Beweise der Vernunft können sie nicht vertilgen.“ Hennings an Mendelssohn am 5.5.1780, in: Mendelssohn JubA 12,2, Briefnr. 520, S. 191. Hennings: Philosophische Versuche. 1.Th., S. 124. Vgl. Ritschl: Hennings, S. 47. Vgl. Hennings an Mendelssohn am 21.10.1784, in: Mendelssohn JubA 13, Briefnr. 660, S. 229. Vgl. Hild: Hennings, S. 59.

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und von der praktischen Kultur als Teil der Bildung unterscheidet, gewinnt Aufklärung bei jenem eine ausschließlich praktische Qualität, der die theoretische Rationalität zu dienen hat.89 Diese pragmatische Perspektive führt Hennings dazu, Mendelssohn zur Ergänzung von dessen Begriffstrias den Begriff der „Bearbeitung“ vorzuschlagen, der das funktional notwendige Glied zwischen Aufklärung und Bildung darstelle, welches dazu diene, theoretische Reflexionen im praktischen Leben zu verankern.90 Entscheidend sei der Übergang vom Theoretischen ins Praktische, eine Aufgabe, der sich auch die Philosophie stellen müsse.91 „Wir müßen folglich beides mit einander verbinden, unsern Verstand durch Erkenntniß der Sachen mit einer tiefen und aufgeklärten Einsicht bereichern, und unsern Wandel würksam und thätig machen, um zu einer vermehrten Sachenkenntniß zu gelangen.“92 So wird auch der Vorurteilsdiskurs bei Hennings zum Instrument einer pragmatisch verstandenen Aufklärung. Während Mendelssohn schon im Briefwechsel mit Hennings Vorurteilskritik als theoretisches Anliegen der Aufklärung proklamiert und damit die Rehabilitierung oder Transformierung von Vorurteilen im praktischen, kulturellen Bereich nicht nur zuläßt, sondern gar für unverzichtbar erklärt, sucht Hennings Vorurteilskritik als praktisches und unverzichtbares Anliegen einer lebensnahen Aufklärung zu verorten.93 „Vorurteil“ wird von Hennings in einem, wie Mendelssohn anmerkt, „praktischen Verstande“ genommen, „in welchem es eine weit eingeschränktere Bedeutung hat, als in der allgemeinen Theorie“,94 in einem praktischen Verstand, der Vorurteilstheorie zum Instrument der lebensweltlich-konkreten Aufklärung macht. Die gnoseologische Problematik anthropologiebasierter Vorurteilstheorie wird bei Hennings durch die instrumentelle Ratio aufgelöst. Aufgrund der konzeptionellen Öffnung des Vorurteilsdiskurses (da Vorurteil von Wahrheit entkoppelt wurde) bestand die Gefahr einer politischen Instrumentalisierung des Diskurses. Um aber eine solche Instrumentalisierung vermeiden zu können, mußte der Diskurs selbst wieder eine auf politischem Weg nicht angreifbare Norm gewinnen. Vorurteilskritik (und damit in Hennings’ Sinne die Gewinnung von Wahrheit) kann nur darauf beruhen, daß der jeweils singuläre Denkprozeß garantiert ist. Es sei ungerecht, die Anerkennung einer allgemeinen

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Vgl. Mendelssohn: Ueber die Frage: was heißt aufklären?, S. 115. Vgl. Hennings an Mendelssohn am 21.10.1784, in: Mendelssohn JubA 13, Briefnr. 660, S. 228. „Bearbeitung“ leitet sich wohl vom lat. Wortstamm von „Cultur“ ab. Vgl. Hennings an Mendelssohn am 3.12.1784; ebd., Briefnr. 665, S. 238f. Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 173. Vgl. Mendelssohn an Hennings am 27.11.1784, in: JubA 13, Briefnr. 664, S. 237: „Aufklärung geht blos auf das Theoretische, auf Erkenntniß, auf Wegschaffung der Vorurtheile; [...] Wenn ich es auch in meiner Macht hätte, so würde ich mich gleichwohl sehr hüten, alle Vorurtheile, unter welchen die Menschheit seufzet, mit einem einzigen Federstriche aufzudecken.“ Hennings betont in seiner Antwort die Identität von theoretischer Aufklärung und praktischem Wirken. Vgl. Hennings an Mendelssohn am 3.12.1784; ebd., Briefnr. 665, S. 238f., 241. Mendelssohn an Hennings am 20.9.1779, in: JubA 12,2. Briefnr. 500, S. 165.

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Wahrheit durch andere zu fordern.95 Denn dies beschränkte das formale Verfahren der Vorurteilskritik. Somit wird der Vorurteilsdiskurs zwar zum Instrument eines limitierten Verständnisses aufklärerischen Progresses, doch sucht Hennings ihn auch vor der Instrumentalisierung durch politische Machtansprüche zu bewahren. Was Aufklärung ist und wie weit Wissen reichen kann, sollte nie durch den Staat vorgeschrieben werden. Jeder einzelne muß in die Lage versetzt werden, selbständig nach Wahrheit zu suchen, indem er die vom Staat garantierte Rede- und Denkfreiheit nutzt.96 Dies umschreibt ein liberales Programm der Aufklärung, in dem der Staat nicht selbst als aufklärende Instanz auftreten darf, sondern nur die Funktion einer Rahmengesetzgebung übernimmt, deren Ziel es ist, das freie Denken der einzelnen zu gewährleisten. Denn die ungehinderte öffentliche Meinungsäußerung führe zur Beruhigung von Konflikten und diene damit der Stabilität des Staates.97 Die Gefahren der Instrumentalisierung der Aufklärung wiegen für Hennings demnach schwerer als die Instrumentalisierung der zum Mittel der Wahrheitssuche herabgestuften Vorurteilskritik. Der Aufklärung widerspräche es nicht nur, würde die freie Vernunfttätigkeit durch gesetzliche Vorgaben limitiert, sondern auch, würde der Staat selbst Wahrheit propagieren. Vernunft ist abhängig von der Vernunfttätigkeit des einzelnen, die von der Gemeinschaft nicht restringiert werden darf. Grenzen dieser Individualisierung des Vernunftdiskurses entstehen durch die Einschränkung der Vernunfttätigkeit des anderen, durch die modale Korrektur von Wahrheitshypothesen, nicht aber durch die Separierung von öffentlichem und privatem Gebrauch der Vernunft oder von Menschen- und Bürgeraufklärung.98 Hennings’ liberale Politisierung des Aufklärungsbegriffs bedingt eine anthropologisch restriktive und modal verkürzte Neuformulierung des Vorurteilsproblems. Die Notwendigkeit, selbst die Unvermeidbarkeit von Vorurteilen spielen keine wesentliche Rolle mehr. Der Endpunkt der aufklärerischen Vorurteilskritik ist nicht erkennbar. Aufgabe des Staates ist es nicht, die göttliche Weltordnung, die Ruhe und Ordnung im Staat einschließt, zu vermitteln. Stattdessen obliegt auch dies dem Zusammenspiel von moralischem Gefühl und Unterordnung unter (allerdings streng 95 96

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Vgl. Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 138. Rede- und Denkfreiheit gehen dabei Hand in Hand. Vgl. auch Bödeker: Prozesse, S. 25. Umgekehrt kann Aufklärung nicht ohne Toleranz und Freiheit nutzen. Vgl. Hennings an Mendelssohn Ende Mai / Anfang Juni 1782, in: Mendelssohn JubA 13, Briefnr. 568, S. 60. Vgl. Hennings: Vorurtheilsfreie Gedanken, S. 3f., ders.: Denk- und Schreibfreiheit als eine Einleitung zum Schleswigschen Journal, in: Schleswigsches Journal 1793. Bd. 1, 1.St., 4–19. Dieser Gedanke verdeutlicht, daß das räsonnierende Publikum zum politischen Machtfaktor aufsteigen konnte. Vgl. Bödeker: Prozesse, S. 20. Hennings plädiert für eine konsequente Aufklärung, die nicht zwischen Menschen- und Bürger-Aufklärung unterscheidet. Vgl. Hennings an Mendelssohn am 21.10.1784, in: Mendelssohn JubA 13, Briefnr. 660, S. 228f. Hierin folgt Hennings Ernst Christian Trapp. Vgl. Jörn Garber: Drei Theoriemodelle frühkonservativer Revolutionsabwehr. Altständischer Funktionalismus, spätabsolutistisches Vernunftrecht, evolutionärer „Historismus“, in: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte 8 (1979), 65–101, hier S. 95f.

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limitierte) staatliche Gesetzgebung. Die notwendige Ordnung muß vom einzelnen sinnlich und moralisch gefühlt werden:99 Gesellschaftliche Ordnung wird demnach in erster Linie vom tendenziell vorurteilsfreien Handeln des Individuums aufrechterhalten, das per Vernunftschluß weiß, was natürlich gut ist. Gesellschaftliche Ruhe ist der Garant für individuelle Freiheit.100 Aufklärung ist für Hennings gefährdet, wenn die Grundpfeiler dieses Modells, die Möglichkeit der Vernunfttätigkeit des einzelnen und die Freiheit zu denken, angegriffen werden. Allerdings erfordert das individuelle Glück nicht bei allen die praktische Ausübung der Vernunft. Um Gegnern aufklärerischer Freiheiten nicht diskursive Regulationsmacht zuzugestehen, wird eine instrumentalisierte Vorurteilskritik als Indiz der Aufklärung reinstalliert. 6.1.2 „Wahrheit entscheidet nicht durch Machtsprüche“. Der Disput um Hennings’ Olavides Diese vor der Revolution und vor den Wöllnerschen Edikten, zeitgleich mit der Preisfrage nach dem Volksbetrug formulierte Position weist aus, daß das Problem der Vorurteilskritik schon in den späten 1770er Jahren mit der Frage der Tolerierung Andersdenkender zusammengeführt werden konnte. Diese Pragmatisierung des Vorurteilsdiskurses verdankt sich bei Hennings auch eigener Erfahrung: der Diskussion um die Reichweite von Toleranz, die sein Epos Olavides hervorgerufen hatte. Vor diesem Hintergrund ist die Vorurteilstheorie der Philosophischen Versuche unvollständig. Denn Hennings versteht sie selbst lediglich als Untersuchung, ob Vorurteile nützlich oder notwendig sind, um die Menschen zur Tugend zu führen. Diese Frage hatte er schon in Olavides gestellt und damit die Vorurteilsproblematik mit dem Problem religiöser Toleranz verbunden.101 Denn Tugend und die Wege zu deren Erlangung blieben noch das Refugium von Moralphilosophie und Theologie. Schon in diesem Epos, vor allem aber in den beigefügten Anmerkungen über Duldung und Vorurteile, hatte Hennings die wesentlichen Thesen begründet, die er in den Philosophischen Versuchen entwickelte. Der anthropologische Diskurs wird auch hier auf die externen Faktoren reduziert, um den Primat der Vernunft gegenüber den Leidenschaften zu verankern.102 Diese Wirkabsicht notiert Hennings auch im unveröffentlichten Manuskript Litterarische Nachricht vom Verfaßer des Olavides: Empfindungen dienten dazu, die

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Vgl. Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 77. Vgl. Tardiff: Conservatisme, S. 201. Hennings: Olavides, S. 65: „Es ist die Frage aufgeworfen worden, ob Vorurteile zur Lenkung der Menschen nützlich sind und welchen Einfluß sie auf die Sitten haben?“ Die Philosophischen Versuche untersuchen die Frage: „Ob Vorurtheile nützlich oder wohl gar nothwendig sind, den Menschen zur Tugend zu führen?“ Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 23. 102 Vgl. Hennings: Olavides, S. 149.

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Vernunft in Geschäftigkeit zu setzen.103 Affektive Vorurteile verfälschen die wahren Begriffe. Sie müssen rational bekämpft werden, da sie im Widerspruch zur göttlich legitimierten Naturharmonie stehen.104 Vorurteilskritik wird durch Denkfreiheit garantiert und gleichzeitig durch die Toleranz anderer Meinungen begrenzt. Andere können und müssen belehrt, aber sie dürfen nicht zum Verzicht auf Vorurteile gezwungen werden.105 Denn „Wahrheit entscheidet nicht durch Machtsprüche.“106 Gleichzeitig betrifft das Problem der Vorurteilskritik praktisches Handeln, nicht theoretische Reflexion. Auch hier wird die Reichweite des Vorurteilsdiskurses beschränkt, um praktische Lösungen für die Frage der Tolerierung Andersdenkender zu ermöglichen.107 Diese Positionen entwickelt Hennings am aktuellen Beispiel des peruanischen Staatsmannes Pablo de Olavide, der in einem Inquisitionsprozeß in Spanien 1778 verurteilt worden war, nachdem er in den von ihm gegründeten Siedlungen religiöse Toleranz zum Prinzip erhoben hatte.108 Freiheit von externer Bevormundung sei die Essenz der Gedankenfreiheit, solange sie nicht zum Schaden anderer oder zur Verbreitung von Unwahrheiten eingesetzt werde.109 Toleranz ermöglicht Liberalität, ökonomisches Wohlergehen, die Anerkennung von Moral und die Erreichung der Bestimmung des Menschen: „Mit dieser Duldung verband sich Freiheit, mit Freiheit Wohlstand, mit Wohlstand reine Sitten und froher Genuß des Lebens.“110 Dabei gerinnt Hennings die positive Wirkung der Toleranz zu empfindsamen Bildern: „Die Freude (über die Toleranzpraxis, R. G.) sprach aus

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Vgl. August Hennings: Litterarische Nachricht vom Verfaßer des Olavides. Nachlaß von August Hennings in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky. Bd. 22, S. 167v. 104 Vgl. Hennings: Olavides, S. 151f. 105 Vgl. ebd., S. 162f. Im Unterschied zu den Philosophischen Versuchen erwägt Hennings hier eine individuell-positive Funktion einzelner Vorurteile. Von Hennings eine stringente Formulierung einer Theorie zu erwarten, wäre verfehlt. Die Orientierung am jeweils aktuellen praktischen Problem bedingt gelegentlich Varianzen in Hennings’ Argumentation. Der Schwerpunkt in Olavides liegt auf dem Verbot der Beeinflussung anderer, während in den Versuchen auch Schwierigkeiten der Selbstkritik akzentuiert werden. 106 Ebd., S. 101. 107 Vgl. ebd., S. 149. 108 Hennings’ Publikation beginnt mit einem knapp 600 Verse umfassenden Versepos in Hexametern, das die Lebensgeschichte Olavides darstellt. Hierauf folgen umfangreiche Erläuterungen in Prosa. Es geht um die Toleranz gegenüber der protestantischen Religion der unter Leitung Thürigels in Olavides’ Siedlung wohnenden Deutschen. Vgl. programmatisch: Hennings: Olavides, S. 66. Das Vorgehen der Inquisition gegen Olavides hat zeitgenössisch eine breite kritische Resonanz gefunden: vgl.: Christian Gottlob Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexikon. 5. Ergänzungsbd. Hildesheim / Zürich / New York 1998 (11816), Sp. 1020f. 109 Vgl. Hennings: Olavides, Vorerinnerung. Hennings zitiert Tacitus: „Rara temporum felicitas, ubi sentire quae velis, & quae sentias dicere licet!“ (unpag., 4. Seite der Vorerinnerung) Vgl. auch Hild: Hennings, S. 38. 110 Hennings: Olavides, S. 133f. Vgl. auch Hennings: Vorurtheilsfreie Gedanken, S. 140f.

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vollen Herzen, und die Sprache des vollen Herzens ist immer die Sprache der Natur und der Wahrheit.“111 Die Integration der Religionsfreiheit in den Bereich der Toleranz führt im Gefolge von Hennings’ Epos zu einer intensiven Diskussion, in der Hennings’ von seiten geistlicher Orthodoxie vorgeworfen wird, sein Verständnis der Vorurteilskritik ermögliche es, religiöse Wahrheiten ungehindert zu kritisieren; man vermisse ein eindeutiges Bekenntnis zum Christentum.112 Da dieses vermeintlich weiterhin ausbleibt, wird Hennings aufgefordert, sich seines Glaubens bewußt zu werden und nicht weiter „eine stinkende Sache vertheidigen zu wollen“.113 Die Gefahr der Instrumentalisierung des Vorurteilsdiskurses, vor der noch in einer ersten Rezension weitsichtig gewarnt wurde,114 manifestiert sich in der semantischen Anverwandlung positiv konnotierter Schlüsselbegriffe. Bisher sei es nicht notwendig gewesen, in Dänemark für Toleranz zu plädieren, „bis itzt, da Hr. Etatsrath H. (der für Toleranz streitende Hennings, R. G.) durch sein wildes und intolerantes Betragen uns Gelegenheit gegeben hat, Intoleranz kennen zu lernen und zu fürchten.“115 Die schulphilosophische Reaktion (durch Lauritz Smith) knüpft an Hennings’ Delegitimierung der theoretischen Philosophie an, wirft ihm unklare Begrifflich111 112

Hennings: Olavides, S. 89. Vgl. [Johann Christian Schönheyder:] Das meinerseits noch Vonnöthene über das Buch Olavides, in: Sammlung aller Streitschriften, so das Buch Olavides in Dännemark veranlaßt hat. Kopenhagen 1780, 121–160. Problematisch für die Kritiker scheint „die ganze Richtung“. Sie bemängeln, Hennings habe Raynal abgeschrieben, der auch das Vorbild für die Unzufriedenheit des Verfassers mit dem Christentum sei. Vgl. [Anonym:] Aus dem almindelige danske Litteratur-Journal for Aar 1779. 4tes Quartal, S. 466 , in : Sammlung aller Streitschriften, so das Buch Olavides in Dännemark veranlaßt hat. Kopenhagen 1780, 1–14, hier S. 6. Gemeint ist: Guillaume Thomas François Raynal: Histoire philosophique et politique, Des Etablissements & du Commerce des Européens dans les deux Indes. 6 Bde. Amsterdam 1772. Das meiste stamme, reklamiert eine andere Rezension, von Marmontel. Vgl. [Anonym:] Etwas über das Buch Olavides und dessen Schicksahl, in: Sammlung aller Streitschriften, so das Buch Olavides in Dännemark veranlaßt hat. Kopenhagen 1780, 109–113, hier S. 112. Gemeint ist: Jean François Marmontel: Die Incas oder die Zerstörung des Reiches von Peru. Aus dem Frz. [...] übs. 2 The. Frankfurt / Leipzig 1777 bzw. das Original: Jean François Marmontel: Les Incas, ou la Destruction de l’Empire du Pérou. 2 Bde. Paris 1777. Hennings selbst gibt an, seine Beispiele aus der südamerikanischen Geschichte stammten aus Robertson. Vgl. August Hennings: Beantwortung der im allgemeinen dänischen Litteratur-Journal vom Jahre 1776 [sic] [...] gegen ihn gerichteten Recension, in: Sammlung aller Streitschriften, so das Buch Olavides in Dännemark veranlaßt hat. Kopenhagen 1780, 15–72, hier S. 25. Vermutlich: William Robertson: Geschichte von Amerika. Übs. Johann Friedrich Schiller. 3 Bde. Leipzig 1777ff. 113 [Anonym:] Promemoria in Anleitung des Buchs Olavides. Aus dem Dän. übs., in: Sammlung aller Streitschriften, so das Buch Olavides in Dännemark veranlaßt hat. Kopenhagen 1780, S. 149. 114 Vgl. [Anonym:] Olavides, herausgegeben mit Anmerkungen über Duldung und Vorurtheile von August Hennings. S. Neues kritisches Journal. No. 30 und 31 für das Jahr 1779, in: Sammlung aller Streitschriften, so das Buch Olavides in Dännemark veranlaßt hat. Kopenhagen 1780, S. XVII. 115 [Lauritz Smith:] Erläuterung über das was in den Streitigkeiten über das Buch Olavides noch dunkel oder zweydeutig sein möchte, in: Sammlung aller Streitschriften, so das Buch Olavides in Dännemark veranlaßt hat. Kopenhagen 1780, S. 228.

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keiten vor, die zu philosophisch falschen und religiös gefährlichen Annahmen führten. Wenn Vorurteile nur fälschlicherweise willkürlich angenommene Meinungen seien, sei auch der christliche Glaube ein Vorurteil, der ebenfalls aus göttlicher Willkür stamme.116 Hennings’ ob der Unterstellung – er hatte ausdrücklich Irrlehren von Gott, der Vorsehung und vom Lohn der Tugend von beliebiger Toleranz ausgeschlossen117 – erzürnte Reaktion wird ihm dann umgekehrt als Intoleranz vorgeworfen. In dieser instrumentalisierenden Umkehrung der Präsuppositionen über das Verhältnis von Toleranz und vorurteilskritischer Aufklärung erkennt Hennings die Gefahr, daß der aufklärerische Diskurs durch die Umkehrung der Begriffe „Aufklärung“ und „Vorurteil“ destabilisiert und politisch oder religiös instrumentalisiert werden könnte.118 Die später im von Hennings edierten Schleswigschen Journal publizierte Unterscheidung von wesentlichen Wahrheiten des Christentums und der temporal und lokal relativen Wahrheit von dessen Ausübung kann den theologischen Vorwurf nicht mehr entkräften.119 Doch bleibt das Problem der entstellenden Instrumentalisierung virulent. Ironisch bemerkt Brackebusch einige Jahre später: Weil es eine Menge Menschen gibt, welche mit den Ausdrücken Freiheit, Gleichheit, Aufklärung, Menschenrecht, einen anderen Sinn verbinden, als die Weisen und Guten unter uns damit verbunden wissen wollen; weil es Schwachköpfe gibt, welche nicht im Stande sind den Sinn iener Worte zu faßen, und weil es Bösewichter gibt, welche diesen Sinn absichtlich verdrehen; so folgt natürlich, daß iene Wörter gar keinen Sinn haben und daß alle die, welche iene Wörter brauchen nothwendig Schwärmer, Dumköpfe, Betrieger und Volks Verführer seyn müßen.120

Die Rezeptionsgeschichte des umstrittenen Epos und der noch heftiger umstrittenen „Erklärung“ weist über das sozialpragmatische Problem hinaus, das die zeitgenössisch aktuelle Geschichte des peruanischen Adeligen bestimmt hatte. Für Hennings wird im Gefolge des Disputs über Olavides deutlich, daß die öffentliche Auseinandersetzung über die Reichweite von Toleranz ein kategoriales Problem aufklärerischer Diskurse selbst war. Hennings entgegnet Smith methodisch, eine 116

Vgl. [Lauritz Smith:] Aus dem almindelige danske Litteratur-Journal [...] August Hennings Beantwortung der im allgemeinen dänischen Litteratur-Journal v. Jahr 1779 gegen ihn gerichteten Recension [...], in: Sammlung aller Streitschriften, so das Buch Olavides in Dännemark veranlaßt hat. Kopenhagen 1780, 73–120, hier S. 88ff., 97. Vgl. Smith: Erläuterung, S. 190. Ähnlich ein Vorwurf im Religions-Journal: vgl. Albrecht / Weiß: Einleitende Bemerkungen, S. 17. 117 Vgl. hierzu auch Hild: Hennings, S. 41. 118 Schneiders: Wahre Aufklärung, S. 23, weist darauf hin, daß die Kritik der Aufklärung aus Überzeugung oder Taktik selbst im Namen der Aufklärung auftrat. Vgl. zu einem solchen Vorgehen der Gegenaufklärung Jäger: These, S. 51. Schmidt schließt daraus, eine systematische Unterscheidung von (hier transhistorisch verstandener) Aufklärung und Gegenaufklärung sei schwierig, da beide die gleichen Argumente und Metaphern verwendeten. Vgl. Schmidt: Einleitung, S. 10. Vgl. auch Albrecht / Weiß: Einleitende Bemerkungen, S. 14. 119 Vgl. [Anonym:] Ueber die Wahrheit einer Lehre ueberhaupt. Ein Gespräch, in: Schleswigsches ehemals Braunschweigisches Journal 1792. Bd. 2, 6.St., 231–237, hier S. 231. 120 [Johann Georg L. Brackebusch:] Recapitulation einiger Entdeckungen im Reiche der Wahrheit am Ende des 18. Jahrhunderts [...], in: Schleswigsches Journal 1793. Bd. 2, 5.St., 1–7, hier S. 1. Zuweisung der Autorschaft nach Losfeld: Philanthropisme, S. 453.

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philosophische Aussage könne durch ein religiöses Argument nicht widerlegt werden.121 Damit steht das sozialpragmatische Problem der Reichweite freier Rede unter der Prämisse, philosophische These zu sein. Und dennoch beansprucht diese These eine lebensweltliche Relevanz, indem sie den philosophischen Diskurs als aufklärerisch-pragmatisch charakterisiert. Beides wird auch theoretisch in den Philosophischen Versuchen getrennt: Wenn ich nun erwiesen habe, daß keiner zur Annehmung einer Wahrheit, so wahr sie auch ist, gezwungen werden kann, und nicht einmal zur Aufklärung einer blindlings angenommenen Wahrheit wider seinen Willen geführet werden darf, sondern daß einem ieden überlaßen ist, die Wahrheit so anzunehmen, wie er sie faßen kann, [...] so ist nur noch zu erweisen übrig, daß es Wahrheiten giebet, die nie angefochten und untergraben werden müßen.122

Doch für die Modalisierung der Aufklärung, den beschriebenen Prozeß der Wissenserweiterung, ist Freidenken notwendig.123 Intendiert ist in den Versuchen eine methodische Antwort auf die Problematik der Freiheit des Denkens, die diese zur Bedingung des Denkens macht und deshalb Toleranz gegenüber vielfältigen Erkenntniswegen fordert.124 Hennings’ Ausweg, der den Vorurteilsdiskurs durch eine Funktionalisierung vor dem Zugriff politischer und religiöser Diskurse zu retten sucht, verdeutlicht, daß der Prozeß der Selbstaufklärung die modalen Antworten transformierender Formen nicht mehr trägt. Der Diskurs der Aufklärung zieht Diskussionen nach sich, in denen auch Hennings sich gezwungen sehen wird, sein Modell der Meinungs- und

121

Vgl. August Hennings: Antwort auf das Bedenken des Herrn Profeßor der Philosophie L. Smith, in: Sammlung aller Streitschriften, so das Buch Olavides in Dännemark veranlaßt hat. Kopenhagen 1780, S. 23. Daß Smith Philosophie gebraucht habe, um die Religion zu entschuldigen, notiert Hennings auch Litterarische Nachricht, S. 169v, 170r. Hennings beklagt hier, seine Freunde hätten sich nicht zu seinen Gunsten zu Wort gemeldet. Doch genoß Hennings im Kreis der Aufklärer hohe Reputation, wie u.a. die positive anagrammatische Erwähnung bei Rebmann zeigt: vgl. Georg Friedrich Rebmann: Hans KiekindieWelts Reisen in alle vier Weltteile, in: ders.: Werke und Briefe. Bd. 1. Textred. Wolfgang Ritschel. Berlin 1990, 337–503, hier S. 454; ders.: Kosmopolitische Wanderungen durch einen Teil Deutschlands; ebd., 59– 155, hier S. 152, Friedrich Wilhelm Schütz: Apologie, Lessings dramatisches Gedicht: Nathan den Weisen betreffend, nebst einem Anhange über einige Vorurtheile und nöthige Toleranz. Leipzig 1781, S. 79, 101ff., 104f. Weniger Zustimmung findet Hennings bei Goethe und Schiller, wie der Walpurgisnachtstraum und das Distichon Genius der Zeit ausweisen. 122 Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 166. Mendelssohn stimmt Hennings insofern zu, als auch dieser die Frage der Toleranz für Intolerante für prekär hält. Vgl. Mendelssohn an Hennings am 13.7.1779, in: JubA 12,2. Briefnr. 492, S. 152, am 20.9.1779, ebd., Briefnr. 500, S. 165f. Altmann führt an, die Auseinandersetzung mit orthodoxen Rabbinern über seine Pentateuch-Übersetzung habe Mendelssohn mit dem Problem der Vorurteile vertraut gemacht. Das scheint mir angesichts der expliziten theoretischen Positionen Mendelssohns zu kurz gegriffen. Vgl. Alexander Altmann: Moses Mendelssohn. A biographical study. London 1973, S. 392. 123 Vgl. Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 159. 124 Vgl. Hennings: Philosophische Versuche. 1.Th., S. 188f. Hier reklamiert er, wohl seiner eigenen Erfahrungen mit Olavides eingedenk, Theologen seien noch immer zu verketzern geneigt, dazu, „ihre Gegner gehäßig zu machen, und Erbitterung gegen sie zu erregen, [...]“.

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Pressefreiheit gegen die Zumutung zu verteidigen, wahre Aufklärung müsse sich an der nicht kritisch befragbaren Offenbarung orientieren.125 Selbstaufklärung reduziert sich auf eine Summe von Definitions- und Abgrenzungsversuchen, die die modale Selbstreflexivität essayistischer und literarischer Formen nur noch annähernd, wenn überhaupt, nachvollziehen.126 Die Frage nach dem Modus der Aufklärung, nach dem Wie des Umgangs mit den Vorurteilen, unterliegt schon in den späten 1770er Jahren Versuchen, die Regulierungsmacht des Diskurses extern zu bestimmen: Der transformierte Vorurteilsdiskurs verliert seine dominierende Position. Wird der Vorurteilsdiskurs mit sozialpragmatischen Fragen verbunden, so werden seine komplexen Modelle von Erkenntnis und Wissen auf logisch oder theologisch fundierte Argumentationen zurückgeführt. Anthropologiebasierte Argumentationsstrategien gelten nicht mehr als Formationsregeln des Diskurses, sondern bestenfalls als Hindernisse, die im Sinne einer nun ebenfalls neu justierten Aufklärung überwunden werden müssen. Diese Variante des Vorurteilsdiskurses reagiert schon in den späten 1770er und frühen 80er Jahren darauf, daß diejenigen, die gegenüber dem offenen, polyvalenten Aufklärungsmodell skeptisch sind, Zentralbegriffe zum Angriff auf die dominierende Position nutzen.127 Vor der Instrumentalisierung des Begriffs der Aufklärung durch deren Gegner warnt Hennings eindringlich.128 Nun scheint eine einfache Antwort notwendig, die die anthropologische und literarische Diversität auf eine sozialpragmatische reduziert. Hennings faßt in dieser Hinsicht optimistisch zusammen: Ich glaube die Schädlichkeit und Unzuläßigkeit der Vorurtheile sattsam erwiesen zu haben. Ich habe dies theils aus ihrer Natur, und aus ihrer Würkung auf die Menschheit, theils aus dem Nutzen ihres Gegensatzes, der Freiheit im Denken und in der Aufklärung, zu thun gesuchet.129

125

Vgl. v.a. die Auseinandersetzung Hennings’ mit Matthias Claudius und Johann Leonhard Callisen Mitte der 1790er Jahre: vgl. Schneiders: Wahre Aufklärung, S. 161ff., Hild: Hennings, S. 133ff., Schempershofe: Hennings, S. 148f. (zu Claudius’ Kritik an der Ankündigung des Genius der Zeit). Hennings insistiert auf dem Unterschied zwischen Meinungsfreiheit und der Meinung selbst: vgl. [August Hennings:] Ein Wort Ueber und Wider Herrn Matthias Claudius, von dem Verfasser der „Bemerkungen“. Altona 1796, S. 10. 126 Auf der Grundlage dieses Befundes muß auch Kempers Periodisierung des spätaufklärerischen Selbstreflexionsprozesses um die politisierte Instrumentalisierung der späten 1770er Jahre ergänzt werden. Vgl. Kemper: Der historische Kontext, S. 56ff. 127 Albrecht / Weiß sprechen von einer systematischen Verzerrung von Religions- und Vorurteilskritik der Aufklärer durch deren Gegner. Vgl. Albrecht / Weiß: Einleitende Bemerkungen, S. 20. 128 Vgl. August Hennings: Bewürkt Aufklärung Revolutionen?, in: Der Genius der Zeit 1 (1794). Jan.-April 1794, 343–350, hier S. 343f.: „Zur Schande der Menschheit [...] ist diese Frage aufgeworfen worden, und Aufklärung hat fast eines angeschuldigten Criminis laesae maiestatis halben gerechtfertiget werden müßen, wenn es gleich fast ein crimen laesae majestatis divinae ist, Aufklärung verdächtig zu machen oder mit gehäßigen Namen zu bezeichnen.“ Vgl. Schneiders: Wahre Aufklärung, S. 150f. Zur Interpretation der Revolutionsursachen im Schleswigschen und Braunschweigischen Journal vgl. Losfeld: Philanthropisme, S. 115ff. 129 Hennings: Philosophische Versuche. 2.Th., S. 208.

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Blickt man auf die diskursive Relevanz dieses Vorgehens, muß Hennings’ Resümee indes erweitert werden. Sozialpragmatik instrumentalisiert den Vorurteilsdiskurs, um politischen und theologischen Diskursen die Instrumentalisierung zu erschweren. Damit verbindet sich allerdings ein liberales Sozial- und Aufklärungsmodell. Um den Liberalismus des freien Denkens zu schützen, scheint es notwendig, anthropologische Widerständigkeiten zu ignorieren und auf Vernunft zu vertrauen, die in der Lage sei, Menschen zu Tugend und zu Aufklärung zu führen.130 Aufgabe der Politik ist es bei Hennings, Gedankenfreiheit und Volkssouveränität sicherzustellen. Hierzu dient im Idealfall eine Monarchie „sans phrases“, eine auf die Garantie der Gedankenfreiheit verpflichtete Regierungsform, die weder Adel noch Stände benötigt.131 Eine Pragmatisierung der Vorurteilstheorie scheint sich als Ausweg anzubieten. Die Trennung von praktischer Vorurteilskritik und (erkenntnis)theoretischer Rehabilitierung und Transformierung wird nun wieder aufgehoben. Angesichts der pragmatischen Verlangsamung, der diskursiven Einhegung der Aufklärung und der zunehmenden Widerstände gegen sie scheint zu viel Uneindeutigkeit gefährlich für das gesetzte Ziel. Als Ausweg wird erwogen, die probabilistischen Formationsregeln aufzuheben, die Rehabilitierung und Transformierung des Diskurses ermöglicht hatten. Das Projekt Aufklärung ist noch nicht beendet, aber es wird im Moment der Gefährdung auf normative Sicherheit beschränkt. Der Vorurteilsdiskurs verliert dadurch seine Funktion für den methodischen Prozeß der Selbstaufklärung der Aufklärung: Denn durch die Wiederaufnahme materialer Positionen und, daraus resultierend, der Möglichkeit einer rationalen Vorurteilskritik, werden die alten philosophischen Aporien des Diskurses, die nun wieder virulent werden müssen, nicht in neuer Weise gelöst. Hennings widersetzt sich einer einseitigen Harmonisierung des Widerspruchs von Autorität und Vernunft, um eine verhältnismäßige Aufklärung aufzuhalten, die sozial und ideologisch restriktive Folgen hätte. Doch eröffnet die Rückkehr zum materialen Vorurteilsbegriff, sobald sie mit der pragmatischen Frage der Detektion und Destruktion konkreter Vorurteile verbunden wird und sich der anthropologischen Argumentationsstrategien entledigt hat, auch die Möglichkeit, über die Grenzen des Erlaubten nicht mehr nachzudenken: Ein Jahrzehnt später kann Christian Ludwig Stubenrauch auf der Basis eines material-falschen Vorurteilsbegriffs, den er vom Begriff der „Meinung“ her bestimmt, behaupten, Vorurteilskritik sei bei den unteren Schichten nicht möglich, indem man diese zur Vernunfttätigkeit ermuntere. Wahrheit müsse vielmehr „auf Autori-

130 131

Vgl. Tardiff: Conservatisme, S. 178. August Hennings: Napoleon, in: Der Genius des neunzehnten Jahrhunderts. Fortsetzung des Genius der Zeit. 6 (1802). Sep.-Dez. 1802, 231–248, hier S. 234; vgl. auch Hennings: Vorurtheilsfreie Gedanken, S. 94f. et passim, Tardiff: Conservatisme, S. 182. Damit verbunden ist auch eine Skepsis gegenüber demokratischen Formen: vgl. ebd., S. 180f. und Garber: Von der nützlichen zur harmonischen Gesellschaft, S. 271f.

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tät“ angenommen werden.132 Da Vorurteile nurmehr logisch falsche Schlüsse sind, kommt der Gedanke der Paradoxie dieser Empfehlung gar nicht erst in den Sinn. Dies zeigt die Konsequenzen der Entanthropologisierung und Pragmatisierung des Vorurteilsdiskurses, die in den 80er Jahren zu scharfen Kontroversen führen sollte.

6.2 Radikale Vorurteilskritik: Die Debatte um die „wahre Aufklärung“ 6.2.1 Rationalisierung als Antwort auf das Normbedürfnis von Vorurteils- und Aufklärungsdiskurs Der zunächst „philosophisch“ anmutende Disput um die wahre Aufklärung verbindet sich mit den Fragen nach der sozialen Pragmatik (wer kann oder soll wie aufgeklärt werden?), nach der diskursregulierenden Norm (wer oder was reguliert legitimerweise Aufklärung?) und nach der thematischen Reichweite (gibt es Bereiche, die von Aufklärung ausgeschlossen bleiben sollten?). Diese Fragen können als Suche nach normativer Gewißheit verstanden werden. Mit ihnen verbindet sich eine Neupositionierung des Vorurteilsdiskurses im aufklärerischen Interdiskurs. Den Transformierungsformen des Vorurteilsdiskurses fehlte das normative Potential, um diese Fragen befriedigend zu beantworten.133 Es scheint zweckdienlich, die Vorurteilsdebatte zu einem konsensfähigen Merkmal der als „aufklärerisch“ bestimmten Eigengruppe zu instrumentalisieren. Eine neue radikale Vorurteilskritik etabliert sich. Johann Friedrich Zöllner macht auf die Gefahr aufmerksam, daß der Begriff des „Vorurteils“ als Akt der Bedeutungszuweisung im negativen Sinne instrumentalisiert werde: Setzten sich falsche Urteile in der öffentlichen Debatte durch, werde oft argumentiert, man habe dieses Faktum fälschlicherweise, nämlich „ohne gehörige Prüfung, für Vorurtheil erklärt!“134 Diejenigen, die die Wahrheit einer bestimmten Ansicht behaupten, berufen sich also nach Zöllner darauf, man habe vorurteilig deren Falschheit angenommen, also die Methode der Vorurteilsvermeidung nicht ausreichend angewandt. Doch ist diese Behauptung nicht daran gebunden, daß die in Frage stehende Ansicht tatsächlich wahr ist. Zöllner kennzeichnet den Akt der Bedeutungszuweisung durch die rhetorische Kennzeichnung der Gegenmeinung als verfehlt oder vorurteilig. 132

Vgl. Christian Ludwig Stubenrauch: Ueber die Meinungen, in: Deutsche Monatsschrift 1791. T. 2, 36–44, hier S. 42. Stubenrauchs Begriff von Vorurteil als Meinung greift die rhetorische Tradition auf. 133 Die Verbreiterung der öffentlichen Debatte geht mit dem Bedürfnis nach Eindeutigkeit einher. Vielleicht war das aufklärerische Vertrauen auf die kritische Selbstaktivität jedes Individuums ein wenig zu optimistisch. 134 Johann Friedrich Zöllner: Ueber gelehrte Lügen und Irrthümer, nebst Vorschlägen, die Schädlichkeit derselben zu vermeiden, in: Berlinische Monatsschrift 5 (1785), 248–276, hier S. 254.

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Ähnlich wie Herder erklärt Zöllner Vorurteile mit dem ausschweifenden Hang der Menschen zum Wunderbaren. Sie stehen damit auf einer Ebene mit Märchen und abergläubischen Begriffen.135 Obwohl aber Zöllner mit der Wahr-falschDichotomie argumentiert, die er mittelbar seiner Unterscheidung des Wunderbaren und des Realen zugrundelegt, stellt der Irrtum eine „notwendige Stufe auf dem Weg zur Gewißheit“ innerhalb der Wissenschaften dar.136 Die Sphäre öffentlicher Debatten hingegen sei möglichst von Irrtümern frei zu halten.137 Zöllner fundiert mithin den Irrtum (hier liegt ein material-falscher Vorurteilsbegriff zugrunde) als anthropologische Grundkonstante der Erkenntnis. Er beantwortet auch die Frage, ob Irrtum und Wahrheit zu trennen möglich seien, vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Vorurteilsdiskurses. Wie Mendelssohn und Lessing weist auch Zöllner darauf hin, daß der Irrtum Wahres enthalte könne.138 Er schließt damit einen material-wahren Vorurteilsbegriff nicht vollständig aus. Abergläubische Regeln seien nicht pauschal zu verwerfen, sie könnten durchaus sinnvolle Verhaltensnormen vorschreiben. Erst durch die explizite Normierung des „es ist nicht gut“ würden die abergläubischen Regeln zum zu bekämpfenden Aberglauben.139 Die psychisch stabilisierende Funktion von Vorurteilen wird hier nicht ausdrücklich angeführt, aber ihre Annahme liegt nahe. Trotz dieser Annäherung an anthropologiebasierte Argumente der Vorurteilsdiskussion vertritt Zöllner den rationalistischen Gedanken der „unleugbaren Beweise“ für Wahrheit, der ihn auf die wissenschaftliche Möglichkeit, Wahrheit zu erkennen und Vorurteile zu zerstören, vertrauen läßt.140 Vorurteilsdestruktion wird als Ziel der Aufklärung erreichbar: „Die Ausrottung des Aberglaubens und der Vorurtheile ist unstreitig ein Geschäft, zu dem sich jeder Menschenfreund berufen fühlt [...]“.141 Auch Zöllner sieht sich veranlaßt, normativ-eindeutige Ziele zu formulieren, um die eigene Zugehörigkeit zur Aufklärung zu demonstrieren und nicht in Verdacht zu geraten, den Konsens der aufgeklärten Menschenfreunde zu verlassen.142 Vorurteilskritik wird aller anthropologischen Argumentation zum Trotz re-rationalisiert; anthropologiebasierte Argumente bleiben ohne Konsequenzen für die Frage des Umgangs mit den Vorurteilen. 135 136 137 138

Vgl. ebd., S. 257. Ebd., S. 249. Vgl. ebd., S. 271. Vgl. Johann Friedrich Zöllner: Etwas von Vorurtheilen und Aberglauben, in: Berlinische Monatsschrift 1 (1783), 468–475, hier S. 472. Zöllner bezieht sich auf Beispiele aus [Anonym:] Was nicht gut ist und was besser wäre, in: Berlinische Monatsschrift 1 (1783), 348–352. 139 Vgl. Zöllner: Etwas von Vorurtheilen, S. 472. 140 Vgl. Zöllner: Ueber gelehrte Lügen, S. 275. 141 Zöllner: Etwas von Vorurtheilen, S. 468. Im praktischen Vollzug dieser Vorurteilsdestruktion räumt Zöllner die Möglichkeit ein, daß insbesondere für die sozial niederen und weniger einsichtigen Schichten Scheinbegründungen instrumentalisiert werden, um die Wahrheit durchzusetzen. Vgl. ebd., S. 475. 142 Schmidt macht innerhalb der Mittwochsgesellschaft eine aufklärerisch-progressivere MöhsenFraktion und eine konservativere Zöllner-Fraktion aus. Vgl. Schmidt: The Question of Enlightenment, S. 282.

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Vor diesem Hintergrund verkörpert Zöllners öffentliche Frage nach der Bestimmung von Aufklärung ein Verlangen nach normativer Eindeutigkeit, das den disputativen Charakter der in der Mittwochsgesellschaft aufgeworfenen Frage vermeidet.143 Schon vor der Französischen Revolution kann sich die Debatte um Aufklärung der Politisierung der (preußischen) Spätaufklärung kaum mehr entziehen. Die virulenten Fragen führen in den späten 1780er Jahren zu einer intensiven Debatte, in der Aspekte rationaler Vorurteilskritik argumentative Dignität erhalten. Denn die Normerwartung des politisierten Diskurses gibt sich nicht mit der anthropologiebasierten Relativität zufrieden, sondern sie erfordert eine eindeutigere Lösung. Kritische Verfahren des Vorurteilsdiskurses werden nicht nur wieder aufgerufen, weil sie diese Sicherheit zu versprechen scheinen, sondern auch, um sie gegen den Gegner zu wenden. Exemplarisch sollen die Folgen dieser Diskussion um die Aufklärung am Beispiel Andreas Riems gezeigt werden. Mit zwei Streitschriften, die ihrerseits eine Reihe von (meist ablehnenden) Antworten nach sich ziehen, wendet sich Riem gegen die Wöllner-Dekrete.144 Die beiden Schriften spiegeln die Inanspruchnahme des Vorurteilsthemas für die Zwecke einer radikalen Aufklärung, die sich insbesondere der in Preußen vermeintlich drohenden gegenaufklärerischen oder die Aufklärung zumindest limitierenden Entwicklung entgegenstellt. Riem plädiert unmißverständlich für eine ungehinderte Aufklärung nach rationalen Prinzipien: „Besteht die Aufklärung in Berichtigung der Begriffe, nach Prinzipien reiner Wahrheit; so begeht der, welcher ihr Grenzen setzt, ein Verbrechen.“145 Die Frage nach der Aufklärung steht für Riem in unmittelbarem Zusammenhang mit sozialisierenden Argumenten, mit der Kontrastierung von Eigennutz und Nutzen der Gemeinschaft. Der erstere widerspricht dabei den Erfordernissen der Aufklärung: Viele verbinden der Wahrheit die Augen, damit sie ihre Thorheiten nicht sehe. [...] Die meisten finden ein wirkliches Interesse daran, Vorurtheile zu hegen, weil kein Feld der Speculation zu

143

Vgl. Johann Friedrich Zöllner: Ist es rathsam, das Ehebündniß nicht ferner durch die Religion zu sanciren?, in: Berlinische Monatsschrift 2 (1783), 508–517, hier S. 516. Vgl. zur Vorgeschichte die Dokumentation bei Ludwig Keller: Die Berliner-Mittwochs-Gesellschaft. Ein Beitrag zur Geschichte der Geistesentwicklung Preussens am Ausgange des 18. Jahrhunderts, in: Monatshefte der Comenius-Gesellschaft 5, 3/4 (1896), 67–94. Die restriktiven Aspekte des Aufklärungsverständnisses der Mittwochsgesellschaft betont Eckhart Hellmuth: Aufklärung und Pressefreiheit. Zur Debatte der Berliner Mittwochsgesellschaft während der Jahre 1783 und 1784, in: Zeitschrift für historische Forschung 9 (1982), 315–345, hier S. 324f. 144 Kemper hat die Schriften zum Preußischen Religionsedikt ediert und kommentiert. Vgl. Dirk Kemper (Hg.): Mißbrauchte Aufklärung? Schriften zum preußischen Religionsedikt vom 9. Juli 1788. Mit Begleitbd. Hildesheim / Zürich / New York 1996. 145 Riem: Ueber Aufklärung. Erstes Fragment, S. 28.

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wichtigern Finanzoperationen ergiebiger ist, als jenes der Dummheit einer Menschenrasse, die Lust und Betrug auszusaugen willens ist.146

In der bürgerlichen Aufklärung fördere, wie Riem (in anderer Wortwahl) diagnostiziert, der spekulative Kapitalismus die Erhaltung von Vorurteilen, um die menschliche Verblendung zu eigennützigen Zwecken auszunutzen. Die Ökonomie instrumentalisiere das Vorurteil. Der einzelne ist nach Riem zur Vorurteilskritik ermächtigt. Der Leser bleibt aufgefordert, Riems Thesen zu überprüfen: „Ob ich Recht habe, entscheide der Leser, der über das, was ich darüber sagen werde, nachdenken kann.“147 Dieses pauschale Bekenntnis zur Offenheit des Reflexionsprozesses wird indes konterkariert durch Riems dezidiert logikorientiertes Aufklärungsverständnis, das auf Wahrheit abzielt und das sich hierzu der „Prinzipien einer reinen Vernunft-Lehre“ bedient, ohne deren Reichweite in Frage zu stellen.148 Die diskursive Transformierung des Vorurteilsdiskurses verliert ihre anthropologiebasierten Folgen. Denn Wahrheit kommt nicht mehr als relative, probabilistische in den Blick. Selbstaufklärung verliert nicht nur ihre Legitimation, sondern auch ihre Methode. Vorurteile sind nicht nur grundlegend falsch, sondern ihre Falschheit ist bei entsprechender Anstrengung auch erkennbar. Auch eine Rehabilitierung des Vorurteils kommt für Riem nicht in Frage – noch nicht einmal im Erziehungsprozeß: „Wer aber hat von euch je bewiesen, daß Vorurtheil, dies schändliche Synonym der Lüge, nützlicher sey, denn Aufklärung, das Resultat der Wahrheit?“149 Halte man am Althergebrachten, dem praeiudicium antiquitatis, fest und bleibe man „an der Grenzlinie des Usuellen“ stehen, so werde man im aufklärerischen Progreß lächerlich.150 Da Wahrheit eindeutig erkennbar ist, kann man nach Riem die wahre von der falschen Aufklärung scheiden: „Es giebt falsche Aufklärer, aufbrausende Köpfe, die ihre Einfälle für Philosophie, und ihre Irrthümer für Wahrheit ausgeben; [...] leuchtende Meteore, die einen Augenblick glänzen, um auf ewig in Dunkelheit zu verlöschen.“151 Wahrheit und Dauerhaftigkeit sind Kennzeichen der Aufklärung, vor deren Instrumentalisierung Riem warnt.152 Der skeptische, immer wiederholte Zweifel etwa eines Lichtenberg führte für Riem nicht zu Aufklärung, weil die dadurch gewonnenen Erkenntnisse nur ein begrenztes Haltbarkeitsdatum aufweisen. Doch mit der definitorischen Bestimmung des Aufklärungsbegriffs droht der über undeutliche Erkenntnis vermittelte Glaube zum gegenaufklärerischen Faktum herabzusinken. Solchen Vorwürfen sucht Riem (erfolglos) entgegenzutreten: „Ihr 146 147 148 149 150 151 152

Ebd., S. 5. Ebd., S. 6f. Vgl. ebd., S. 4. Ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 10f. Ebd., S. 17f. Vgl. zu Riems Aufklärungskonzept auch Stuke: Aufklärung, S. 274f. Vgl. Schneiders: Wahre Aufklärung, S. 96f.

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werdet Vorurtheile verliehren, und die Religion behalten. Sie wird, je mehr ihr sie dem Lichte der Vernunft nähert, so viel dauerhafter und fester für die Zukunft gegründet.“153 Die neologische Position eines vernünftigen Glaubens steht für Riem nicht in Widerspruch zur vernünftigen Aufklärung, sondern die mit jenem verbundene Moral fördert diese.154 Aus der Verbindung von Aufklärung und Glaube nimmt Riem indes Staat und Kirche als regulative Instanzen aus. Aufklärung habe zur Befestigung der Herrschaft der Herrscher beigetragen, indem sie diese aus ihrer untergeordneten Position gegenüber Rom gelöst habe.155 Riem präzisiert sein transhistorisches Aufklärungsverständnis. Gelten im ersten der beiden Fragmente Riems Luther und v.a. Zwingli als Begründer der Aufklärung in Deutschland,156 so figuriert im zweiten gar Jesus als erster Aufklärer, der die „Vorurtheile“ der jüdischen Religion bekämpft habe.157 Eine historische Perspektive, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht, entwickelt auch die vermutlich von Daniel Jenisch stammende Skizze einer Geschichte der Aufklärung in Teutschland, von der Reformation an bis auf Kant, die im von Riem und Gottlieb Nathanael Fischer edierten Berlinischen Journal für Aufklärung ebenfalls im Jahr 1788 gedruckt wurde. Die Aufklärung setze mit der Reformation ein, Bayle gebe ihr neue Akzente.158 Leibniz versöhne die Theologie wieder mit den Vernunftwahrheiten – das positive Ideal des hier zugrundeliegenden Aufklärungsverständnisses.159 Die atheistischen Varianten Voltaires und La Mettries lehnt der Autor ab, während er an Kant vor allem lobt, dieser habe die Aufklärung „gegen jede Angriffe der Schwärmerey, des Dogmatismus und des Scepticismus“ gesichert.160 Das eigene Verständnis von Aufklärung gründen Riem wie das von ihm mitherausgegebene Journal historisch in der Verbindung mit dem theologischen Diskurs. Glaube und Vernunft widersprechen sich nicht. Es ist gar die Neuausrichtung des Glaubens in der Reformation, die die aufklärerische Vernunfttätigkeit initiierte.161 153

Riem: Ueber Aufklärung. Erstes Fragment, S. 19. Vgl. auch ebd., S. 70: Die Wahrheiten des Himmels entsprächen denen der Vernunft. 154 Dennoch bleibt Riems Position nicht nur auf Moralisierung beschränkt: vgl. Schneiders: Wahre Aufklärung, S. 97. 155 Vgl. Riem: Ueber Aufklärung. Erstes Fragment, S. 21. 156 Vgl. ebd., S. 54, 56. 157 Vgl. [Andreas Riem]: Ueber Aufklärung. Was hat der Staat zu erwarten – was die Wissenschaften, wo man sie unterdrückt? – Wie formt sich der Volkscharakter? – und was für Einflüsse hat die Religion, wenn man sie um Jahrhunderte zurückrückt, und an die symbolischen Bücher schmiedet? Ein Wort zur Beherzigung für Regenten, Staatsmänner und Priester. Zweytes Fragment, ein Commentar des Ersten. Berlin 21788, S. 12. 158 Vgl. [Daniel Jenisch:] Skizze einer Geschichte der Aufklärung in Teutschland, von der Reformation an bis auf Kant; und wie weit wir in der Aufklärung kommen können, wenn wir diesen Philosophen folgen?, in: Berlinisches Journal für Aufklärung 1 (1788), 71–95 und 160–183, hier S. 84f. 159 Vgl. ebd., S. 88f. 160 Vgl. ebd., S. 162f., 181f. 161 Im Schleswigschen Journal parallelisiert A. Hennings nicht Reformation und Aufklärung, sondern Reformation und Revolution. Beide „benahmen zu gleicher Zeit alle Hofnung zur

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Riems Idealvorstellung aufgeklärter Herrschaft personifiziert Joseph II. – auch dies dürfte in Preußen durchaus als Affront verstanden worden sein. Der positive Nutzen der Aufklärung für den Staat sei unstrittig: „Die Aufklärung zieht gegen Täuschung und Vorurtheil zu Felde. Was verliehrt also der Staat, wo sie siegt? Täuschung und Vorurtheile.“162 Riem spielt, indem er Täuschung als aufzuklärendes Objekt angibt, auf die preußische Preisfrage nach dem Volksbetrug an und setzt sich von der politisch präferierten These, das Volk müsse (gelegentlich) betrogen werden, ab. Doch birgt die Eindeutigkeit der Riemschen Argumentation auch die Instrumentalisierung des Vorurteilsdiskurses selbst, der zum Mittel der Abgrenzung des Aufklärungsverständnisses wird. Regenten, die mit Vorurteilen und Täuschungen regierten, hätten, wie Riem nahelegt, mit Angriffen auf ihre körperliche Unversehrtheit zu rechnen.163 Diese – vor der Französischen Revolution formulierte – düstere Prophezeiung beruht auf dem politischen Geschehen im Preußen der späten 80er Jahre. Jede Einschränkung der Freiheit schlage auf den zurück, der sie einschränke.164 Da seine Argumentation nun aber den Verdacht nahelegen könnte, Riem befürworte einen Umsturz, hebt er die rationale Normierung des Vorurteilsdiskurses wieder zugunsten einer stärker staatserhaltenden auf.165 Riems mehrstufige Argumentation versucht, die Schädlichkeit der Vorurteile darzulegen, um dadurch die Nützlichkeit von Aufklärung als Vorurteilskritik zu verdeutlichen. Daher muß er Vorurteile als Irrtümer definieren und die aufklärerische Wahrheitssuche in Gegensatz zu ihnen stellen. Dabei korrespondieren wahre Religion und Vernunft. Wenn Aufklärung also gut und wahr ist und sich zusätzlich mit dem wahren Glauben verbindet,166 dann ist es auch nicht nur nicht sinnvoll, die Aufklärung von außen zu begrenzen, sondern dies widerspräche auch dem Glauben selbst. Riems Fragmente haben wohl auch deshalb einen solch erbitterten Widerstand hervorgerufen, weil sie polemisch argumentieren und durch die stilistischen Auffälligkeiten den Boden der behaupteten Rationalität selbst verlassen.167 Der Wiederherstellung der Hierarchie und des Despotismus, indem sie beide in ihrem Innersten angriffen, [...].“ (Hennings: Einige Aehnlichkeit, S. 192.) Vgl. auch Garber: Von der nützlichen zur harmonischen Gesellschaft, S. 276. 162 Riem: Ueber Aufklärung. Erstes Fragment, S. 29. Vgl. Schneiders: Wahre Aufklärung, S. 98f. 163 Vgl. Riem: Ueber Aufklärung. Erstes Fragment, S. 30ff. 164 Vgl. Riem: Ueber Aufklärung. Zweytes Fragment, S. 75. Riem erklärt auch in der Auseinandersetzung mit Eckartshausen Gedanken- und Pressefreiheit zu wesentlichen Bedingungen der Aufklärung: vgl. Batscha: Einleitung, S. 25. 165 Vgl. Riem: Ueber Aufklärung. Erstes Fragment, S. 39f. 166 Riem spricht sich für eine rationale Reinigung der Religion aus. Er normiert den Vorurteilsdiskurs theologisch-rational und kontrastiert ihn irrationalem Geheimbundwesen. Damit wendet er sich gegen Friedrich Wilhelms II. rosenkreuzerische Aktivititäten. Vgl. Riem: Ueber Aufklärung. Zweytes Fragment, S. 37f. 167 Riems stilistisches Reservoir umfaßt eine Reihe affektansprechender Stilmittel wie etwa parataktische Satzreihungen, direkte Leseransprachen in Frage- und Aussageform, Epanalepsen, parallele Satzkonstruktionen, Steigerungen der Emotionalität durch Metaphernhäufung, Personifizierung der Aufklärung usw. Die „Stafettenstruktur“ gerade von Riems Fragmenten

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Vorurteilsdiskurs wird vom Modus zum Instrument der Selbstpositionierung innerhalb der Aufklärung. Johann August Eberhard argumentiert in vielem ähnlich wie Riem, läßt man die polemische Dimension von Riems Essay außer acht. Mit Blick auf Eberhard wird deutlich, daß die inhaltliche Identifizierung von Aufklärung und Vorurteilskritik in der deutschen Spätaufklärung allen politischen und religiösen Differenzen zum Trotz zu einer gemeinsamen Basis des öffentlichen Disputes werden konnte. Auch für Eberhard bilden Vernunftlehre und Naturrecht Grundlage aufklärungsbestimmender Unterscheidungen.168 Die Wirkung falscher oder überzogener Aufklärung mache den Wert der Aufklärung überhaupt verdächtig.169 Dabei geht Eberhard noch einen Schritt weiter als Riem. Er versucht, den Aufklärungs- und Vorurteilsdiskurs zu renormieren, indem er sie in den Diskurs der (philosophischen) Wissenschaften reintegriert. Damit weist er ihnen einen für die öffentliche, politische Diskussion ungefährlichen Raum zu – man könnte sich an ‚Elfenbeintürme‘ erinnert fühlen, deren Wiederaufbau ja zu allen Zeiten auf ihre Zerstörung folgte. Für Eberhard handelt es sich um eine binnenwissenschaftliche Frage, die innerhalb des akademischen Bereichs noch einmal differenziert werden kann. Denn eine Wissenschaft wie die Mathematik bedürfe keiner Aufklärung, da sie eine rationale Wissenschaft sei.170 Anthropologiebasierte Bedenken gegen die Eindeutigkeit rationaler Sinnkonstruktionen bleiben aus. Die Vervollkommnung der nicht-rationalen Wissenschaften erfordere auch die „Verminderung der Scheinwissenschaft, d.i. der Irrthümer und Vorurtheile.“171 Doch ist sich Eberhard auf der anderen Seite auch der Gefahr bewußt, daß Vorurteilskritik mit psychischen Widerständen rechnen muß: „Es gehört Anfangs Muth dazu, gewisse Vorurtheile zu verwerfen: Muth gegen die Macht, der die Vorurtheile nützen, Muth gegen die innere Verehrung derselben, mit der wir aufgewachsen sind und gegen die wir uns nicht ohne einen geheimen Schauder auflehnen.“172 Öffentliche Vorurteilskritik berge die Gefahr, daß „alle Meynungen, die dem Frieden und der Ruhe der Menschen heilig sind, ohne Unterschied und Prüfung“ mit fortgerissen würden,173 daß Vorurteilskritik von Unberufenen instrumentalisiert werden könne. zeichnet sich durch die redundante Wiederholung und Variation ein und desselben Arguments aus. Vgl. Kemper: Der historische Kontext, S. 73. Vgl. Johann August Eberhard: Ueber die wahre und falsche Aufklärung, wie auch über die Rechte der Kirche und des Staats in Ansehnung derselben, in: Philosophisches Magazin 1 (1788). 1.St., 3.Abschnitt, 30–77, hier S. 30. 169 Vgl. ebd., S. 31. 170 Vgl. Eberhard: Ueber die wahre und falsche Aufklärung, S. 34. 171 Ebd. 172 Johann August Eberhard: Ueber Staatsverfassungen und ihre Verbesserung. Ein Handbuch für Deutsche Bürger und Bürgerinnen aus den gebildeten Ständen. In kurzen und faßlichen Vorlesungen über bürgerliche Gesellschaft, Staat, Monarchie, Freyheit, Gleichheit, Adel und Geistlichkeit. Berlin 1793, S. 10f. 173 Vgl. ebd., S. 11. 168

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Eberhards Aufklärungsbegriff verbindet prozedurale und inhaltliche Aspekte. Denn mit Aufklärung ist nicht nur die positive, inhaltliche Vermehrung des Wissens und Verminderung des Unwissens gemeint, sondern auch die interne Klassifikation des Wissenswerten.174 Aufklärung scheint vorrangig „Verminderung der Irrthümer und Vorurtheile zu erfordern“.175 Sie wird damit in erster Linie zum Kampf gegen Vorurteile. Skrupulöse Bedenken anthropologiebasierter Vorurteilstheoretiker werden ignoriert. Mathematische Gewißheit gilt als entscheidendes Kriterium auch für die Vorurteilsbekämpfung: „Authorität des Lehrers, überredende Gründe, die die Einbildungskraft, die Neigungen und die Leidenschaften für eine Lehre gewinnen, können hier nicht angebracht werden.“176 Die üblichen Ursachen der Vorurteile werden nichtig, wenn die mathematisch-rationale Gewißheit in ihr Recht tritt. Vorurteils- und Urteilsdiskurs können dadurch normativer Sicherheit wieder zugeführt werden. Eberhard wendet sich daher auch entschieden gegen den Subjektivismus der Wahrheit, gegen die „relativ“ wahre Erkenntnis.177 Die Vermittlung von Wahrheit im Sinne der Aufklärung ist für Eberhard nur didaktisch, nicht inhaltlich begrenzt. Selbstreflexive Akte, die die eigene Fehlbarkeit mit bedenken, seien notwendig. Ziel müsse aber immer eine sichere Wahrheit sein. Der anthropologische Interdiskurs ist für Eberhards Beweisführung unrelevant.178 Zur Aufklärung gehört nach Eberhard wesentlich, daß sie den Einfluß des Ansehens auf die Ueberzeugung vermindert, und den Gebrauch des eigenen Urtheils an die Stelle der Unterwerfung unter ein fremdes noch so ehrwürdiges, so wie die Ueberzeugung aus innern Gründen der Wahrheit an die Stelle des blinden Glaubens setzt.179

All dieser rationalistischen Gewißheit hätte Lichtenberg ein „Könnte es nicht auch anders sein?“, Herder die Komplexität naturalisierender Einflüsse, Forster eine Aufforderung zur Explizierung der Prämissen, Wieland vielleicht eine Erzählung entgegengesetzt. Eine solche Aufklärungsrhetorik, wie sie Eberhard hier bietet, konnte später – ironischerweise über eine einsträngige Rezeption des EberhardOpponenten Kant vermittelt – mit der Aufklärung insgesamt gleichgesetzt werden. Für Eberhard ist es unstrittig (und hier offenbar auch völlig unproblematisch), daß sich Vernunft, Erfahrung und wahrer Glaube zum eigentlichen Wesen der wahren 174

Eberhards „Aufklärung“ ist also eine „Disziplin“ im Sinne Foucaults. Vgl. Foucault: Ordnung des Diskurses, S. 22ff., 25. 175 Vgl. Eberhard: Ueber die wahre und falsche Aufklärung, S. 34f. 176 Ebd., S. 37. 177 Vgl. Johann August Eberhard: Ueber Wahrheit und Irrthum, in: Berlinische Monatsschrift 2 (1783), 321–326, hier S. 322. 178 Dies wird auch deutlich in [Johann August Eberhard]: Ueber die Schrancken der menschlichen Erkenntniß, in: Philosophisches Magazin 1 (1789), 9–29. Kants Abgrenzung werde durch Leibniz erweitert, nicht aber durch die grundlegende Verfaßtheit menschlichen Seins in der Komplexität der Natur. 179 Eberhard: Ueber die wahre und falsche Aufklärung, S. 38.

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Aufklärung verbinden.180 Die soziale Restriktion der Aufklärung ist für Eberhard unproblematisch, läßt sie sich doch aus der unterschiedlichen natürlichen Vernunftfähigkeit der Menschen erklären. Aufklärung der Gesellschaft und Aufklärung jedes einzelnen ihrer Mitglieder verhalten sich nicht notwendig kongruent zueinander, wenn sie sich auch partiell ergänzen.181 Im Bereich der Religion kann daher auch guten Gewissens vom Ziel aufklärerischer Vorurteilskritik abgewichen werden. Bei denjenigen, die nicht vernunftgemäß überzeugt werden könnten, solle die religiöse Überzeugung erhalten bleiben – ein Argument, das sich in ähnlicher Form schon bei Meier fand, das bei Eberhard aber innerhalb einer rationalistischdistinktiven Reetablierung der Vorurteilskritik instrumentalisiert wird.182 Die Renormierung des Vorurteilsdiskurses, die auf die Sicherheit philosophischer Wahrheitsgewinnung vertraut, drängt Ansprüche des Staates und der Kirche zurück, Aufklärung zu beschränken. Da die Kirche kein Recht habe, die Aufklärung zu begrenzen, könne der Staat dies auch nicht im Namen der Kirche tun. Wohl aber habe der Staat die Aufgabe, die Kirche zu kontrollieren. Hierzu ermächtigte ihn die Erfahrung der kirchlichen Entgleisungen.183 Der Staat bleibt aber an seine eigene Norm gebunden, die idealtypisch zwar dem Primat der Ratio unterliegt, die der Staat aber auch unabhängig von der Wissenschaft treffen kann. Der Staat solle bürgerliche Freiheit nicht mehr einschränken, als es der Zweck der Gesellschaft nötig mache.184 Doch wird die Entscheidung über diese Notwendigkeit dem Staat überantwortet. In diesem Zwiespalt von selbständiger Aufklärung des Bürgers und Normenkontrolle durch den Staat bewegt sich Eberhards Aufklärungsverständnis. Die Grenzen menschlicher Vernunft behindern die Aufklärung selbst, doch ist die staatliche Freiheitsgarantie wiederum Grundbedingung dafür, daß die individuelle Aufklärung wenigstens bis zu diesen Grenzen erprobt werden kann. „Die Aufklärung muß die Freiheit schützen“, resümiert Eberhard.185 „Ich sehe also nicht, was eine weise und gerechte Regierung zur Rechtfertigung ihrer Maaßregeln, die Aufklärung zu beschränken, anführen könne, es sey von Seiten des Rechts oder der Staatsklugheit.“186 Eberhard lehnt hier zwar eindeutig staatlich-zensierende Eingriffe in den Prozeß der Aufklärung ab, doch hat er diesen durch die Normenverantwortung des Staates und durch die rational-naturrechtliche

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Vgl. ebd., S. 41. Vgl. ebd., S. 47, 45. Schneiders betont m.E. zu sehr die popularphilosophischen Aspekte von Eberhards Aufklärungsverständnis (Schneiders: Wahre Aufklärung, S. 31), relativiert dies aber in bezug auf den hier in Frage stehenden Essay (ebd., S. 109). 182 Vgl. Eberhard: Ueber die wahre und falsche Aufklärung, S. 48, 52. 183 Vgl. ebd., S. 66ff. 184 Vgl. ebd., S. 73f. Vgl. zum Verhältnis von kirchlicher und staatlicher Aufklärung auch Schneiders: Wahre Aufklärung, S. 107, 112. 185 Eberhard: Ueber die wahre und falsche Aufklärung, S. 77. 186 Ebd.

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Renormierung des Prozesses selbst so konturiert, daß sich die skrupulösen Fragen der Transformierungsformen des Vorurteilsdiskurses nicht mehr stellen.187 In einem in vielem ähnlichen instrumentalisierenden Argumentationsfeld bewegt sich die Radikalisierung der Vorurteilskritik im Berlinischen Journal für Aufklärung. Dieses kennzeichnet eine noch stärker pragmatische Begrenzung, die auch die Frage der Reichweite der Aufklärung einer internen Norm überantwortet.188 „Erstlich bedarf es wohl keines weitläufigen Beweises, daß die Aufklärung eine Sache des Verstandes ist, und daher in unsrer Erkenntniß liegen muß. Sie bezieht sich aber nicht sowohl auf die Form, als auf die Materie unseres Denkens, d.h. auf unsre Begriffe.“189 Gegen die anthropologiebasierte Akzentuierung der Prozessualität des Vorurteils- und Aufklärungsdiskurses stärkt G. N. Fischer die inhaltliche Dimension. Da hiermit allerdings schlechthin alles zum Gegenstand der Aufklärung werden könnte, muß diese pragmatisch begrenzt werden: „Alles verglichen, wird man am Ende finden, daß Aufklärung nur solche Gegenstände betrift, die sich auf unsre Bedürfnisse oder auf unsre Glückseligkeit beziehen.“190 Dabei sind nur die wesentlichen Bedürfnisse letztlich relevant.191 Diejenigen, die sich wie Fischer als Aufklärer verstehen, sehen sich offenbar in die Defensive gedrängt. Fischer sucht die Aufklärung gegen die Beschränkung auf den religiösen Bereich und gegen gegenaufklärerische Tendenzen zu verteidigen. Fischer weiß Mendelssohn und Riem explizit als Aufklärer zu benennen, aber auch den österreichischen Autor Johann Pezzl, der in den Marokkanischen Briefen das Definitionsdefizit von Aufklärung und die falsche Einschränkung auf Religionsangelegenheiten moniert hatte.192 Um Aufklärung polarisierend abzugrenzen, wird das anthropologiebasierte, nicht-normative Interdiskursreservoir auf den Status einer Zielvorstellung aufklärerischer Entwicklung zurückgestuft: „Das Studium endlich, auf das ihr alles zurückführt, sey das Studium des Menschen. Denn menschliche Vollkommenheit ist das Ziel, wornach Menschen streben können und müssen.“193 Rationalistisch gilt Wahr-

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Garber fundiert die konservative Position Eberhards im spätabsolutistischen Vernunftrecht: vgl. Garber: Theoriemodelle, S. 81ff. 188 Die stärker lebenspraktische Komponente Fischers verdeutlicht der unterschiedliche Umgang mit dem auch hier zentralen Beispiel des Mathematikers. Während Eberhard der Mathematik reine Rationalität und damit den einfachsten Weg zur Wahrheit zuschreibt, betont Fischer, auch ein Mathematiker könne ungenau vermessen: vgl. Fischer: Was ist Aufklärung, S. 19. 189 Fischer: Was ist Aufklärung, S. 30f. 190 Ebd., S. 32f. 191 Vgl. ebd., S. 34: „Aus diesen Gründen allen ist nun Aufklärung nichts anders, als: Richtige Begriffe von unsern wesentlichen Bedürfnissen.“ 192 Vgl. ebd., S. 24, 27, 34f., 41. Vgl. Pezzl: Marokkanische Briefe. Im 16. Brief wird kritisiert, noch immer habe sich „kein Gelehrter eigenthümlich damit abgegeben, den vielsagenden Begriff von Aufklärung nach seinem ganzen Umfang darzustellen, [...]“. (Ebd., S. 174f.) Die Mehrzahl glaube noch immer, „die Aufklärung habe beinahe nichts anders als die Religion zum Gegenstand.“ (Ebd., S. 175.) 193 Fischer: Was ist Aufklärung?, S. 46.

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heit der Natur als erreichbar: „Opinionum commenta pereunt: naturae veritas manet.“194 Das Problem, wie diese Wahrheit der Natur erkennbar sein könne und ob man sich ihrer versichern könne, stellt sich in dieser Idealisierung des Aufklärungsprozesses nicht.195 Auch Kants Philosophie kann die normative Basis für eine Relogisierung des Vorurteilsdiskurses bieten, die diesen, auf Vorurteilskritik beschränkt, zum inhaltlichen Bestandteil der Aufklärung reduziert. Fragen der Vermittelbarkeit und Transformierung des Vorurteilsdiskurses stellen sich seltener. Johann Gottfried Carl Kiesewetter, der maßgeblichste Vertreter von Kants Lehre in Berlin, bindet 1790 Aufklärung in einem Essay für die Deutsche Monatsschrift an die Kritik von Vorurteilen, die auf Kants Differenzierung von praeiudicia und iudicia praevia basiert. Viele identifizierten und bekämpften Vorurteile, so daß der bisherige Erfolg schon sichtbar sei, bekundet Kiesewetter.196 Daher stelle sich nun wieder die (im transformierten Vorurteilsdiskurs fast völlig verschwundene) definitorische Frage: „Was ist Vorurtheil?“197 Die Relogisierung des Vorurteilsdiskurses zeigt sich, wenn Kiesewetter undiskutiert voraussetzt, daß jedes Vorurteil falsch sei. Ein material-falscher Vorurteilsbegriff liegt zugrunde, wenn differenziert wird, daß nicht jedes falsche Vorurteil ein Vorurteil sei, sondern nur dann, „wenn es als Grund zu andern Urtheilen gebraucht wird.“198 Der Begriff des Vorurteils wird so aus zwei Aspekten bestimmt: Einerseits ist er an die funktionale Verwendung und die Handlungsfolgen gebunden, andererseits ist von Beginn an klar, daß es sich um logisch falsche Urteile handelt. Ein Vorurteil „ist ein falsches Urtheil, das als Princip zu mehrern Urtheilen gebraucht wird.“199 Dies ergänzt die Bestimmung Kants ausdrücklich um den Aspekt der Wahr-falsch-Dichotomie. Karl Heinrich Ludwig Pölitz schreibt in seiner Mitschrift von Kants Logik-Vorlesung: „Vorurtheile sind vorläufige Urtheile, so fern sie als Grundsäze angenommen werden.“200 In Rezeption von Lambert und Reimarus präzisiert Kiesewetter den Begriff. Ein Vorurteil sei ein „Schein, der als Princip gebraucht wird.“201 Analog zu Kant gilt ein Prinzip als handlungsbestimmender Grundsatz. Für Kiesewetter sind Vorurteile primär eine Sache der Logik. 194 195

Ebd. Schneiders erkennt bei Fischer, der die Berichtigung der Begriffe fordert, ein prozessuales Interesse. An die Stelle der Wahrheit trete das Streben nach Wahrheit. Vgl. Schneiders: Wahre Aufklärung, S. 104f. Die weiterreichenden Konsequenzen einer anthropologiebasierten Vorurteilstheorie, die Modalität als selbstaufklärerischen Prozeß fokussiert, vollzieht Fischer aber nicht nach. De facto steht mehr die Abgrenzung gegenüber den Rationalisten als die Entwicklung einer eigenen inhaltlichen Position im Fokus. 196 Vgl. Johann Gottfried Carl Kiesewetter: Ueber Vorurtheil, in: Deutsche Monatsschrift 3 (1790), 349–356, hier S. 349. 197 Ebd. 198 Ebd., S. 350. 199 Ebd. 200 Kant: Logik Pölitz, S. 548. 201 Kiesewetter: Ueber Vorurtheil, S. 349.

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Ein besonders typischer Fall seien vorschnelle Verallgemeinerungen.202 So sei es unzulässig und logisch falsch, von einem aus Armut betrügerisch gewordenen Juden auf die Juden generell zu schließen, oder aber wegen eines Aufgeklärten, der sich gegen Aberglauben und schlechte Regierung auflehne, anzunehmen, die Aufklärung generell zerstöre Religion und Staatsverfassung.203 In dieser Beispielreihe offenbart sich nicht nur das gesunkene Sozialprestige der Aufklärer, denen wie den Juden gegen auf sie bezogene Vorurteile beigestanden werden muß, sondern auch die Begrenzung aufklärerischen Bemühens in der Spätaufklärung. Religion und die Verfaßtheit des Staates sind keine legitimen Objekte der Aufklärung mehr. „Vorurteil“ kann nun genauer bestimmt werden: „Ein Vorurtheil ist die Maxime (der Grundsatz) einer passiven Vernunft.“204 Wieder mit Kant unterscheidet Kiesewetter nun zwischen Vorurteilen, vorläufigen und voreiligen Urteilen. Er entwickelt eine grob gerasterte Typologie der Vorurteile, die zwischen Vorurteilen der Zeit, des Orts und der Personen unterscheidet,205 und resümiert schließlich den in seiner Sicht eindeutig bestimmten Zusammenhang von Vorurteilskritik und wahrer Aufklärung: „Aufklärung kann man nun durch Befreyung von Vorurtheilen erklären. Ein Mensch wird aufgeklärt, wenn seine Vernunft aufhört passiv zu seyn, wenn er anfängt, selbst zu denken.“206 Selbstdenken als Kantsche Kategorie vermeidet Vorurteile. Damit ist der methodische Zweifel des hoch- und spätaufklärerischen Vorurteilsdiskurses zu einer eindeutigen Lösung durch den Verstand normiert. Bei Kant liegt die Vergewisserung der Grenzen des Verstandes zugrunde, doch nicht mehr bei seinem Berliner Schüler. Antropologiebasierte Modalisierungen treten argumentativ zurück hinter die Norm einer machbaren Aufklärung, die um ihre extern limitierte Reichweite weiß. Funktional sind Kant und die preußische Zensur für den Vorurteils- und Aufklärungsdiskurs identisch. 6.2.2 Politisierung als Renormierung Aus der umfangreichen kritischen Debatte um Riems Fragmente sei exemplarisch die Entgegnung Friedrich Wilhelm von Schütz’ herausgehoben. Schützens Hauptargument ist die Befürchtung, die Aufklärung parzelliere sich zusehends. Der öffentliche Disput, in der Hochaufklärung eines der signifikanten Merkmale des 202

Dorschel verkürzt Kiesewetters Ansatz, wenn er nahelegt, dieser behaupte generell, Vorurteile seien vorschnelle Verallgemeinerungen. Dies setzt Dorschel analog zu der Erklärung der Funktionsweise vorschneller Schlüsse, die Platons Phaidon bietet: vgl. Andreas Dorschel: Nachdenken über Vorurteile. Hamburg 2001, S. 38. Diese Analogie von Vorurteilen und vorschnellen oder vorurteiligen Schlüssen beruht allerdings nicht nur auf der Hume-Rezeption, die Dorschel in einer Fußnote anführt (vgl. ebd., S. 39), sondern auf einem breiten Spektrum sensualisierender Argumente, die von Locke und Thomasius über Condillac bis zu Kant reichen. 203 Vgl. Kiesewetter: Ueber Vorurtheil, S. 351f. 204 Ebd., S. 352. 205 Vgl. ebd., S. 352f. 206 Ebd., S. 356.

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gemeinsamen Aufklärungsverständnisses, wird nun negativ bewertet. Schütz verlangt nach normativer Eindeutigkeit, nach der Entscheidung der Frage nach der wahren und der irrigen Aufklärung. „Aufklärung muß also ihre Grenzen haben, [...]“207 damit sie, statt von einzelnen Interessengruppen vereinnahmt zu werden, eindeutige Ergebnisse erzielt. Wer diese Grenzen bestimmt, steht für Schütz außer Frage: „die richtige[n] Politik des Monarchen“.208 Der gute Monarch ist nach Schütz in der Lage, die Aufklärung sinnvoll zu steuern, weil er, wenn er die Natur der menschlichen Gesellschaft untersucht, notwendig vorurteilsfrei werden und eine adäquate Moral gewinnen müsse.209 Ein solches Vorgehen ist aber offenbar nur dem König selbst, nicht dem einfachen Volk möglich. Denn dort, wo ein „bildervolles Gefühl ist [...]“, herrscht „eine Menge dunkler Ideen [...], die dem Geist ein unabsehbares Feld von Abwegen darbieten.“210 Vorurteilsfreiheit ist mithin nur denjenigen möglich, die vernunft- und statusgemäß über dem einfachen Volk stehen. Die anthropologische Unterscheidung der oberen und der unteren Erkenntnisvermögen erhält hier eine sozial klassifizierende Funktion. Die „Täuschung eines Volks“ ist demnach nicht nur nicht schädlich für den Staat, sondern sogar unvermeidbar.211 Schütz knüpft hier dezidiert an die Preisfrage nach dem Volksbetrug an und nutzt seine positive Antwort zu einem Plädoyer für die Notwendigkeit von Geheimhaltung und Zensur.212 Friedrich II., der als weises Verhaltensvorbild gelobt wird, habe es wohlweislich vermieden, „verjährte[n] Vorurtheile und Meinungen“ öffentlich anzusprechen, da er wußte, daß Täuschung nicht schädlich sei.213 Was im Gewand der Meinungsfreiheit daherkommt, birgt die Begrenzung des öffentlichen Disputs. Es sei eine Tatsache, daß die Aufklärer die Pressefreiheit mißbraucht hätten. Die Wöllnerschen Edikte sollten demnach nur die Auswüchse der Aufklärung beschneiden.214 Sie sollten, wie Schütz meint, nur sicherstellen, daß nicht zu viel von der dem Staat nützlichen Täuschung aufgehoben werde. Schützens Argumentation zeugt von tiefem Mißtrauen gegen die selbstregulative Kraft der öffentlich geäußerten Vernunft. Publizisten seien nur „Werkzeuge [...], herrschende Vorurteile zu bestreiten [...]“.215 Damit stellt sich Schütz ausdrücklich in Widerspruch zur Episteme der Aufklärung. Denn das Vertrauen auf 207

Friedrich Wilhelm von Schütz: Ueber Wahrheit und Irthum [sic]. Ein notwendiger Nachtrag zu der Schrift: Ueber Aufklärung. Hamburg / Leipzig 1788, S. 16. 208 Ebd., S. 16f. 209 Vgl. ebd., S. 17. 210 Ebd., S. 34. 211 Vgl. ebd., S. 38. 212 Vgl. zur Zensur: York-Gothart Mix / Wilhelm Haefs (Hg.): Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte – Theorie – Praxis. Göttingen 2006. 213 Vgl. Schütz: Ueber Wahrheit und Irthum, S. 38. Schütz schätzt damit Friedrichs präferierte Antwort auf die von ihm initiierte Preisfrage nach dem Volksbetrug richtig ein. 214 Vgl. ebd., S. 38, 80, 40. 215 [Friedrich Wilhelm von Schütz:] Ein Schreiben aus Hamburg, an die Herausgeber, nebst deren Antwort, in: Niedersächsischer Merkur, sehr vermischten Inhaltes 2 (1792), 182–185, hier S. 183f. Vgl. Segeberg: Literarischer Jakobinismus, S. 527.

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die Autoregulation des Aufklärungsdiskurses wird durch die Norm der Staatserhaltung konterkariert. Der Vorurteilsdiskurs kommt nicht mehr als modale Form des Aufklärungsdiskurses in den Blick. Vorurteile sind lediglich noch Irrtümer der Gegner: „Vorurtheile nenne ich das, was sich nicht auf das Ansehen der heiligen Bücher, sondern lediglich auf das Ansehn der Clerisey gründet.“216 Wird Aufklärung pragmatisch auf Rationalität eingeschränkt, ist Selbstaufklärung als iterativer, ungewisser Prozeß ausgeschlossen. Aufklärung ist nurmehr die Aufklärung der anderen. Johann Stuve rechnet eine solche Aufklärung zu den obrigkeitlichen Pflichten. „Ein aufgeklärter Mensch ist derjenige, der eine vernünftige und lebendige Erkenntniß hat, von dem, was man wissen muß, um glüklich und nützlich zu sein.“217 Stuve setzt didaktische Vermittlung, schöne Künste, das eigene Beispiel sowie Belohnung und Aufmunterung zur Vorurteilskritik ein. „Daß aber Unwissenheit und Vorurtheile die Hauptquellen alles menschlichen Elendes sind, kann niemand bestreiten, der einige Erfahrung und Menschenkenntniß hat.“218 Die pädagogische Aufklärung vermittelt praktische Wahrheiten.219 Wie weit die Überzeugung, Aufklärung obrigkeitlich steuern zu können, gehen kann, sei am Beispiel Christoph Gottfried Bardilis illustriert. Ebenso davon überzeugt, daß Umwelteinflüsse den Menschen bestimmen, wie auch davon, daß Aufklärung nur durch hoheitliche Normierung befördert werden kann, schlägt Bardili vor, den Eltern schon beim Zeugungsakt ihr Verhalten vorzuschreiben.220 Der Philosoph regt ein aufklärerisches Menschenzuchtprogramm an, das zwar keinen Rassendünkel aufweist (der in der Spätaufklärung ja erst pseudowissenschaftlich zu werden beginnt), wohl aber einen expliziten Standesdünkel, der auf die technokratische Verengung der Aufklärung „zum Zwecke des Besseren“ vorausweist. Man könne, so Bardili, unter dem niedern Stande [...] die wohl gebildeten Menschen beiderlei Geschlechts auswählen, [...] um sie herrlich zu verbinden und durch die himmlische Verschwisterung der Sittenreinig-

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Schütz: Ueber Wahrheit und Irthum, S. 52. Johann Stuve: Ein Vorschlag zur Verbreitung wahrer Aufklärung unter allen Ständen, in: Berlinische Monatsschrift 6 (1785), 472–477, hier S. 473. 218 Ebd., S. 476. 219 Vgl. Schneiders: Wahre Aufklärung, S. 71. Zum Unterschied zur Volksaufklärung vgl. ebd., S. 73. Wenn Stuve für Anthropologie als Unterrichtsfach votiert, ist wohl pragmatische Menschenkunde gemeint, die er in einem eigenen Lehrbuch vermittelt. Vgl. Johann Stuve: Lehrbuch der Kenntniß des menschlichen Körpers und der Gesundheitslehre. Braunschweig 21805. Vgl. Linden: Untersuchungen, S. 172f. 220 Da schon Laurence Sterne in The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman Versuche ironisiert, die Umstände beim Zeugungsakt willentlich zu beachten und so einen positiven Einfluß auf das Kind auszuüben, liegt zunächst auch bei Bardili der Verdacht nahe, er könne das möglicherweise nicht ernst meinen. Doch fehlen in Bardilis Essay sämtliche Ironiesignale.

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keit mit Reizen der Natur, den großen Zweck besserer Nachkommen besser zu verfolgen, [...]“.221

Es ist die Suche nach der Norm, die solche Ideen gebiert, wenn der methodische Zweifel an der Norm, der Kern der Selbstaufklärung, verloren gegangen ist. 6.2.3 Transformierung als selbstaufklärerischer Gegenpol der instrumentalisierten Vorurteilskritik Dieses Panorama restriktiv-instrumentalisierender Verwendungsformen des Vorurteils soll keineswegs suggerieren, daß jegliches aufklärerisches Bemühen zum Jahrhundertende hin verflacht sei. Wohl aber dominiert nun ein normativ-instrumentalisierter Vorurteilsdiskurs. Auch die preußische Spätaufklärung zeichnet indes die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aus. Man denke nur an das Öffentlichkeit vermeidende und zugleich fordernde Zusammenspiel von Berliner Mittwochsgesellschaft und Berlinischer Monatsschrift, ein Zusammenspiel, das in seinem strukturellen Charakter den idealtypischen Aufklärungsprozeß (aus Sicht der Berliner) widerspiegelte.222 Umso bezeichnender vielleicht, daß viele der hier vorgestellten Beiträge in genau diesem Diskussionszusammenhang ihre Wurzel haben, aber die Modalität des Diskurses meist nicht nachvollziehen. Der Vorurteilsdiskurs verschränkt hier, im spätaufklärerischen Berlin, drei Diskursbereiche: die Frage nach Zensur, Volksbetrug und Volksaufklärung,223 die Frage nach Grenzen und Reichweite der Aufklärung224 und die Frage nach Vorurteilstheorie und -kritik. Diese verbinden sich in der Wahrnehmung der Mitglieder der Mittwochsgesellschaft zu einem zusammenhängenden Themenkomplex. Analyse und Kritik von Vorurteilen werden schon in Johann Karl Wilhelm Möhsens Vortrag, der die Diskussion der Mittwochsgesellschaft um die Aufklärung einleitet, zum wesentlichen Teil des aufklärerischen Programms. Er fordert, man solle „die Mängel und Gebrechen in der Richtung des Verstandes, in der Denkungsart, in den 221

Christoph Gottfried Bardili: Fragen über die empirische Seelenlehre; an einen Freund, in: Berlinische Monatsschrift 20 (1792), 62–79, hier S. 73. 222 Vgl. Hinske: Öffentlichkeit und Geheimhaltung. Vgl. zur Berliner Mittwochsgesellschaft einschlägig: Birgit Nehren: Selbstdenken und gesunde Vernunft. Über eine wiederaufgefundene Quelle zur Berliner Mittwochsgesellschaft, in: Norbert Hinske (Hg.): Eklektik, Selbstdenken, Mündigkeit. Hamburg 1986, 87–101, dies.: Aufklärung – Geheimhaltung – Publizität. Moses Mendelssohn und die Berliner Mittwochsgesellschaft, in: Michael Albrecht / Eva J. Engel / Norbert Hinske (Hg.), Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit. Tübingen 1994, 93–111 und Schmidt: The Question of Enlightenment. 223 Vgl. Johann Karl Wilhelm Möhsen: Was ist zu thun zur Aufklärung der Mitbürger, in: Ludwig Keller: Die Berliner-Mittwochs-Gesellschaft. Ein Beitrag zur Geschichte der Geistesentwicklung Preussens am Ausgange des 18. Jahrhunderts, in: Monatshefte der Comenius-Gesellschaft 5,3/4 (1896), 74–75, hier S. 75. 224 Zentral setzen dieses Thema hier neben dem Essay Möhsens v.a. die Voten Kleins, Svarez’, Mendelssohns und Gedikes in der Mittwochsgesellschaft. In diesem Zusammenhang steht auch der oben analysierte Aufsatz Zöllners: Etwas von Vorurtheilen.

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Vorurteilen, und in den Sitten unserer Nation, oder auch nur des hiesigen Publikums bestimmen und aufsuchen, wodurch sie bisher befördert worden.“225 Auch Mendelssohn scheidet mit der Verbindung von Aufklärung und Vorurteilsdiskurs nicht nur rhetorisch Eigen- und Fremdgruppe. Auch für ihn bildet die Vorurteilsdiskussion, nicht nur deren begriffliche Bestimmung, einen wesentlichen Aspekt des Bemühens um aufklärerische Progression.226 Man denke aber auch an andere offene aufklärerische Dispute wie etwa die Auseinandersetzung zwischen Mendelssohn und Kant um den Begriff der Aufklärung, die für die Zeitgenossen keineswegs so deutlich zugunsten des Königsbergers ausgefallen war, wie das die heutige Rezeption vermuten läßt.227 Man denke aber auch an Johann Jakob Engels Beitrag zur Debatte um die wahre Aufklärung und um die Funktion des Vorurteilsdiskurses: seinen Essay An Herrn S**. Über den Werth der Aufklärung.228 Engel transformiert die Diskussion um das Vorurteil in eine Debatte um Selbstaufklärung, die deren Mittel verdeutlicht, die aber zugleich die Optionen der Instrumentalisierung ernst nimmt. Engels dialogisches Verfahren ermöglicht die Kritik der Kritik eines möglicherweise fiktiven Ausgangstextes. Diese Strategie bedient sich, unabhängig davon, ob die Textvorlage selbst fiktiv ist,229 fiktionaler Mittel. Engel führt im Text eine Metaebene ein, die den Prozeß der Selbstreflexivität der Aufklärung abbildet. Aufklärung wird zum Objekt des Nachdenkens, indem die ihr inhärenten Verfahren auf sie selbst zurückbezogen werden. Die Richtung des empirisch strukturierten Untersuchungsverfahrens kehrt sich – im Unterschied zu instrumentalisierenden Formen gleich welcher Couleur – um. Selbstaufklärung besteht für Engel nicht nur darin, daß die Aufklärung sich selbst, ihren Wert, ihre richtige oder wahre Ausprägung selbst thematisiert, sondern vor allem darin, daß Aufklärung ihrer eigenen Methoden treu bleibt, indem sie ihre Verfahren der Vorurteilskritik auf sich selbst anwendet.230 Engel fragt, „ob es denn ein Beweis von 225

Möhsen: Was ist zu thun, S. 74. Schmidt: The Question of Enlightenment, S. 275 sieht den Zusammenhang von Vorurteilskritik und Aufklärung bei Möhsen klar. Vgl. hierzu Godel: „Eine unendliche Menge“, S. 570f. Hinske führt als Beleg für die Idee der „Unparteilichkeit“ an, selbst Kants Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, die bekanntlich in der Monatsschrift publiziert wurde, sei ein Gedicht Zöllners beigegeben worden, das übertriebene Aufklärung verspotte. Vgl. Hinske: Öffentlichkeit und Geheimhaltung, S. 76. 227 Vgl. u.a. Norbert Hinske: Mendelssohns Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? oder Über die Aktualität Mendelssohns, in: ders. (Hg.): Ich handle mit Vernunft [...]: Moses Mendelssohn und die europäische Aufklärung. Hamburg 1981, 85–117, hier S. 85. Beide Positionen wurden noch von Zeitgenossen, sofern sie sich nicht a priori einer „Schule“ zuordneten, als Teil aufklärerischer Auseinandersetzung betrachtet. 228 Vgl. zum folgenden Berg / Godel: Engels Modell. 229 Dies setzt voraus: Christoph Böhr: Johann Jakob Engel über Wert und Dialektik der Aufklärung, in: Tijdschrift voor de Studie van de Verlichting en van het Vrije Denken 12 (1984), 85– 102. 230 Schneiders faßt nur Selbstthematisierung als Selbstaufklärung: vgl. Schneiders: Wahre Aufklärung, S. 18ff. 226

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Aufklärung sei, ein allgemeines Verdammungserkenntniss gegen alle Vorurtheile ergehen zu lassen, aber ein einziges kleines Lieblingsvorurtheil, das für die Aufklärung selbst, sich vorzubehalten?“231 Mit dieser Umkehrung der Erkenntnisrichtung werden die gängigen Verfahren der Vorurteilskritik zur Kondition des Erkenntnisfortschritts der Aufklärung: Zweifeln ist die „unerlässliche Bedingung alles Weiterkommens in der Erkenntniss, aller Aufklärung.“232 Diese methodische Metaebene dokumentiert sich in der Textstruktur des Essays selbst. Ausgangspunkt der Kritik Engels ist der Stillstand der Aufklärung: S** nehme an, die Frage, ob Aufklärung heilsame oder verderbliche Folgen habe, sei längst beantwortet.233 Der aufklärerische Prozeß wäre somit abgeschlossen. Engel kritisiert, daß eine Frage nach einer einmaligen kritischen Überprüfung als geklärt gilt und nicht für weitere kritische Schritte offengehalten wird. Diese wiederholende Rückwendung des Reflexionsvorganges wird auch erzähltechnisch schon in den Anfangspassagen deutlich. Der angesprochene Kritiker S** führe „die Sache der Aufklärung“.234 Engel demonstriert hingegen, daß Anspruch und tatsächliches Vorgehen auseinanderliegen. Potentielle Gegenargumente des Kritikers gegen Engels Demonstration, wie Aufklärung vorgehen könne, werden dialogisch vorweggenommen. Engel fingiert einen Dialog mit nicht anwesenden anderen. Der Rollentausch des Erzähler-Ichs in der Übernahme potentieller Gegenargumente bietet die Möglichkeit, die anthropologiebasierte Perspektivität des eigenen Erkennens zu durchbrechen. Auch die eigenen Meinungen können zum Gegenstand der Reflexion werden. Eine solche Relativierung der Wahrheit der eigenen Meinung hat allerdings nicht zur Folge, daß Wahrheit schlechthin nicht mehr erreicht werden kann. Das Streben nach Wahrheit, das die Grundlage für die Unterscheidung von wahrer und falscher Aufklärung bietet, wird hier in der Figurenrede eingeführt. Wahrheit sei – das wird als Position des Gegenübers referiert – als Ziel des Grundtriebs der Seele „durch sich selbst“ begehrenswürdig.235 Im Streben nach Wahrheit liege der „absolute[n] Werth der Aufklärung“.236 Die nun folgende und als Resümee des Essays auch in der Forschung des öfteren kolportierte Unterscheidung zwischen absolutem und relativem Wert der Aufklärung ist mithin, analysiert man den Text genauer, eine Unterscheidung auf Figurenebene, nicht eine Unterscheidung des Erzählers und noch weniger Engels selbst. Der Erzähler, der als „arglose[r] Forscher“ erscheint, fragt nach dem relativen Wert der Aufklärung, „nach dem Verhältniss, in welchem die Aufklärung mit den gesammten Kräften und Trieben unsrer Natur, und durch diese mit unsrer Glück231 232 233 234 235 236

Engel: An Herrn S**, S. 317. Ebd., S. 322. Vgl. ebd., S. 316. Ebd., S. 317. Vgl. ebd., S. 318. Ebd., S. 319.

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seligkeit, steht.“237 Die relative Aufklärung sucht anthropologische Bedingungen und moralisch-psychologische Folgen aufklärerischen Handelns auf. Die Frage nach dem relativen Wert der Aufklärung legitimiert Engel moral-anthropologisch. Die menschliche Glückseligkeit zu erreichen ist ein Ziel aufklärerischer Lebenspraxis im popularphilosophischen Sinne.238 Bevor indes moralische Gesetze (und somit Wahrheit) für die Lebenspraxis bestimmt werden können, muß die menschliche Natur untersucht werden.239 Doch ist diese – hier argumentiert Engel anthropologiebasiert – in ihrer Komplexität niemals vollständig zu erfassen.240 Die anthropologische Verunsicherung, die aus dem ambigen Verhältnis von Körper und Seele resultiert, bestimmt Engels Hypothesen über die Sicherheit von Erkenntnisprozessen schlechthin. Engel dürfte hier Sulzer und Tetens folgen, wenn er sensualisierend bei der Bestimmung des Verhältnisses der oberen und unteren Seelenkräfte die Einsicht entwickelt, daß innere Empfindungen und Vorstellungen handlungsprägende Qualitäten gewinnen, aber keine Gewißheit der Erkenntnis ermöglichen.241 Mit dieser Relativierung der Erkenntnissicherheit verwandelt sich die Frage nach dem absoluten und dem relativen Wert der Aufklärung zu einer Frage nach den Bedingungen der Erkenntnis, nach dem „Trieb nach Wahrheit“.242 Eine vermeintlich gefundene Wahrheit dürfe nicht zum Hindernis weiterer Untersuchung werden.243 Im Fortschreiten der Aufklärung dürfe eine Wahrheit nicht vorschnell als gültig und unangreifbar deklariert werden. Endgültigen Urteilen müsse immer ein Prozeß kritischer Reflexion vorausgehen.244 Die Konsequenz dieses methodischen Probabilismus formuliert Engel als Frage: und wer sagt uns denn, dass der Trieb nach Wahrheit, der Muth gegen Vorurtheile, der Scharfsinn im Entwickeln und Prüfen, nicht auch dann noch Aufklärung, wahre echte Aufklärung gebe, wenn das Gebäude von Meinungen und Hoffnungen, worin uns bisher so wohl wahr, dadurch verzehrt wird?245

Erkenntniszuwachs wird als offener Prozeß verstanden, in dem die Mittel der Vorurteilsdebatte immer wieder kritisch angewandt werden müssen und nicht zur Befestigung einer vermeintlich notwendigen Normativität instrumentalisiert werden dürfen. Der Ich-Erzähler in Engels Essay behauptet programmatisch, die Anwen237 238 239 240 241

Ebd. Vgl. Böhr: Philosophie für die Welt, S. 121, 161ff. Vgl. zu Garve und Meiners Bachmann-Medick: Ästhetische Ordnung, S. 22ff. Vgl. Engel: An Herrn S**, S. 319. Vgl. Engel: Ideen zu einer Mimik, S. 96. Vgl. zu uneindeutigen Ergebnissen in bezug auf das Verhältnis von Körper und Seele Bachmann-Medick: Ästhetische Ordnung, S. 105, Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst, S. 113ff. 242 Engel: An Herrn S**, S. 321. 243 Vgl. ebd., S. 322. 244 Im Unterschied zur schulphilosophischen Diskussion um Reichweite und Formen des Skeptizismus betont Engel jedoch nur dessen Funktion für den Prozeß der Aufklärung. 245 Engel: An Herrn S**, S. 327.

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dung der bisher bekannten Mittel des Aufklärens führe zum Fortschritt. Engel bezieht die Historisierung konsequent auf die Aufklärungsdebatte: Da man nur vom jeweils aktuellen historischen Zustand ausgehen kann, sind alle Urteile nur perspektivische, zeitgebundene und damit letztlich relative. Man müsse, so Engel, „dem ganzen Gange dieser Aufklärung“ nachspüren.246 Selbstreflexion als ständig wiederholter Wechsel auf die Metaebene des Erkenntnisprozesses ist erforderlich – hier ähnelt Engels Modell dem transformierenden Lichtenbergs –, um Aufklärung unter dem Primat der Methode zum Fortschritt zu treiben. Man müsse bei jedem Fortschritt fragen, „was der Mensch, nicht bloss als erkennender Geist […] sondern überhaupt als Mensch, in der Gesamtheit seiner Kräfte, Neigungen, Verhältnisse, gewonnen habe?“247 Ein Urteil bleibt immer ein Urteil auf Zeit. Obwohl Engels Versuch, den Aufklärungsprozeß zu konturieren, wesentliche Merkmale der Transformierungsformen des Vorurteilsdiskurses aufweist, steht er systemisch im Diskurszusammenhang instrumentalisierender Formen. Denn ohne die Diskussion um wahre und falsche Aufklärung, ohne die Frage nach der Eindeutigkeit der Urteile der Aufklärung, ohne die Frage nach dem Nutzen und Sinn aufklärerischen Tuns wären Engels Antworten nicht denkbar. Engels Essay kann als anthropologiebasierte Reaktion auf die Renormierung und Instrumentalisierung des Vorurteils- wie des Aufklärungsdiskurses gelesen werden, als Versuch, der methodischen Reflektiertheit den Status einer eigenständigen Normativität zuzurechnen.

6.3 Normativ-kritische Instrumentalisierung des Vorurteils versus diskursive Transformierung. Wielands Gespräch über die Vorurtheile und seine Rezeption Im Zuge der Radikalisierung der öffentlichen Dispute der Aufklärung werden, wie Engels Essay zeigt, jene Formen des Vorurteilsdiskurses prekär, die die modale Perspektive von Vorurteils- und Urteilsbildung, Vorurteilsentdeckung und -behandlung akzentuiert und selbstreflexive Potentiale erst ermöglicht hatten. Die literarisierten, transformierenden Formen des Vorurteilsdiskurses werden Gegenstand einer öffentlichen Auseinandersetzung, die auch diese aufklärerisch einzuhegen sucht.248 Auf die politische Situation nach Wöllner und nach der Französischen Revolution neu zu reagieren, sahen sich auch literarische Formen genötigt. Doch 246 247

Ebd., S. 328. Ebd. Vgl. zum Begriff der „Kraft“ bei Engel auch ders.: Über den Ursprung des Begriffs der Kraft, in: J. J. Engel’s Schriften. Bd. 10. Philosophische Schriften. 2.Th. Berlin 1805, 209–257. 248 Vgl. Ursula Goldenbaum: Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1697–1796. Einleitung, in: dies. (Hg.): Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung. 1687–1796. T. 1. Berlin 2004, 1–118, zu Konsequenzen für die Wahrnehmung der Aufklärung v.a. S. 13ff.

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implizierte die Reaktion unterschiedliche Antworten, als deren prägnanteste, über aufklärerische Positionen hinausführende die Subsumption unter ästhetische und menschheitsgeschichtliche Perspektiven gelten kann, welche den „größeren Zusammenhang“ des politischen Geschehens durch Vermittlung überspielten.249 Gerade Schillers politische Ästhetik zeigt, daß die Eigengesetzlichkeit der Literatur, die infolge der spätaufklärerischen Funktion literarischer Formen erzeugt werden konnte, politisch problematisch wird. Die Konsequenzen für den Vorurteilsdiskurs sind elementar: Denn nun wird auch fraglich, ob die Transformierung des Vorurteilsdiskurses mit der Aufklärung vereinbar sei. Mit der Delegitimierung künstlerisch-vieldeutigen Sprechens muß auch das polyvalente Reflexionspotential transformierender Formen des Vorurteilsdiskurses neu legitimiert werden. Die externen Ursachen bedingen dabei auch diskursinterne Ereignisse, wie das Beispiel Christoph Martin Wieland zeigt. Die schon im Goldnen Spiegel im Herausgeberkommentar erwogene Möglichkeit, eine Flucht in „erdichtete Welten“ gegenüber der humanphilosophischen Hinwendung zur realen Geschichte abzuwerten,250 reflektiert die beiden Sphären literarischer Funktionalität und damit des literarisierten Vorurteilsdiskurses. Auf die Rolle des Autors bezogen, zeigt sie auch die Möglichkeit an, daß die Rollenmodelle des Dichters und des Aufklärers ineinsfallen.251 Daß die literarische Form bei Wieland vor philosophischen, selbst vor lebensweltlich philosophierenden Gehalten funktional privilegiert sein kann, hat schon Erhart am Beispiel krisenhaften Konstitution des Individuums in Wielands Agathon aufgewiesen.252 6.3.1 Eine „Apologie der Vorurtheile“? Die Disjunktion des literarischen und des Vorurteilsdiskurses zeigt sich in einem Text, der chronologisch, formal und inhaltlich ein Resümee der Vorurteilsdiskussion der Aufklärung sein könnte, in dem aber die erzählerische Lösung selbst nahelegt, daß er diese Funktion nicht erfüllen kann und soll. Wieland veröffentlicht 1798 im Neuen Teutschen Merkur als erstes seiner Gespräche unter vier Augen das

249

Vgl. zu Schiller: Rainer Godel: Schillers „Wallenstein“-Triologie. Eine produktionstheoretische Analyse. St. Ingbert 1999, S. 158f. Schillers Programmatik, die vermeintlich für eine Abwendung von politischer Teilnahme spricht, formuliert eine utopische Antwort auf die Zeitereignisse: vgl. Klaus L. Berghahn: Nachwort. Ästhetische Utopie und schöner Stil, in: Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Mit den Augustenburger Briefen hg. von Klaus L. Berghahn. Stuttgart 2000, S. 253–286. 250 Vgl. Wieland: Der goldne Spiegel, S. 147. Vgl. Albrecht: Wielands Vorstellungen, S. 26, pauschal ders.: Christoph Martin Wieland – Priester der Musen im Dienst milder Humanität und Aufklärung, in: ders.: Das Angenehme und das Nützliche. Fallstudien zur literarischen Spätaufklärung in Deutschland. Tübingen 1997, 29–72, hier S. 30. 251 Die Sphäre des Politischen aber unterliegt der empirischen Menschenkenntnis, die literarische Formung bedingt. Vgl. Jaumann: Politische Vernunft, S. 462. 252 Vgl. Erhart: Entzweiung, S. 13 et passim.

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Gespräch Ueber die Vorurtheile zwischen Geron und Sinibald.253 Dieses Gespräch weist signifikante Merkmale der rezeptionsästhetischen Transformierung des Vorurteilsdiskurses auf. Es wird durch die Titelgebung bereits als ein privates, vertrauliches Gespräch annonciert, das nicht für die Öffentlichkeit gedacht ist. Damit fingiert es, sich der aufklärerischen Öffentlichkeit zu entziehen, spielt aber gleichzeitig auch mit dem zeitgenössischen Interesse für das Private. Nicht zuletzt wird es durch die Publikation ausdrücklich in eine Rezeptionssituation eingesetzt, in der öffentliche Auseinandersetzungen und öffentliche Meinungsbildung stattfinden. Wieland sucht in der Publikumsstrategie des Merkur die Integrität der Adressatengruppe als autonome Subjekte dadurch zu sichern, daß er Publizität als heuristischen Weg zu gemeinsamen Zielen versteht.254 Der aufklärerische Impetus Wielands besteht mithin weniger in der unmittelbaren Vermittlung relevanten faktischen Wissens mittels eines Modells der Lesepädagogik, sondern darin, daß selbstreflexives Methodenwissen öffentlich erzeugt oder daß zu dessen Erzeugung durch die mediale Vermittlung angeregt wird.255 Auf dem Weg zur Institutionalisierung der Öffentlichkeit entsteht eine Diskrepanz zwischen der Freiheit der Auseinandersetzung und der Regulierung durch den Status der Zeitschrift selbst, die Wieland durch die formal-literarische und essayistische Gestaltung immer wieder in die Balance zu bringen sucht.256 Der öffentliche, disputative Charakter des Merkur schließt eine metakritische Ermächtigung

253

Vgl. Christoph Martin Wieland: Gespräche unter vier Augen. Erstes Gespräch zwischen Geron und Sinibald. Ueber die Vorurtheile, in: Der neue Teutsche Merkur 1798. 2.St., 105–129. Unter ergänztem Titel und um etwa ein Drittel erweitert wird das Gespräch 1799 in Wielands Werkausgabe aufgenommen: vgl. Christoph Martin Wieland: Was verlieren oder gewinnen wir dabey, wenn gewisse Vorurtheile unkräftig werden?, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Bd. 31. Gespräche unter vier Augen. Leipzig 1799, 11–55. Zur Analyse der ergänzenden Passagen s.u. S. 417ff. Vgl. zur Entstehung: Wieland: Briefwechsel. Bd. 14,2 (Juli 1797 – Juni 1799). Bearb. Angela Goldlack. Berlin 2002, S. 193f. Ich zitiere, sofern nicht anders vermerkt, aus der Werkausgabe. Die Gespräche haben bisher meist nur kursorisch Beachtung in der Vorurteilsforschung gefunden, so etwa bei: Schalk: Praejudicium, S. 56, Sauder: Aufklärung des Vorurteils, S. 264, neuerdings ausführlicher: Beetz: Wunschdenken, v. a. S. 270ff. 254 Vgl. John A. McCarthy: Wielands Teutscher Merkur und die republikanische Freiheit des Lesers. Zur Rolle des Teutschen Merkur im öffentlichen Leben des 18. Jahrhunderts, in: Andrea Heinz (Hg.): „Der Teutsche Merkur“ – die erste deutsche Kulturzeitschrift? Heidelberg 2003, 51–67, hier S. 52ff. Die Rezeptionsstrategie integriert ökonomische Reflexionen. Vgl. Wolfgang von Ungern-Sternberg: Chr. M. Wieland und das Verlagswesen seiner Zeit. Studien zur Entstehung des freien Schriftstellertums in Deutschland, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 14 (1974), Sp. 1211–1534, v.a. Sp. 1350ff. 255 Vgl. knapp Jaumann: Politische Vernunft, S. 464. 256 Im Unterschied zu Bürgers Verständnis der Funktion von Institutionalisierungen als Gegenteil von Aufklärung läßt sich gerade am Beispiel der öffentlichen Auseinandersetzungen in Zeitschriften der Spätaufklärung aufzeigen, daß Medien Öffentlichkeit stiften und so den Progreß der Aufklärung zu sichern suchen. Vgl. Bürger: Institution Literatur, S. 17f.; vgl. dagegen Ernst Fischer / Wilhelm Haefs / York-Gothart Mix: Einleitung: Aufklärung, Öffentlichkeit und Medienkultur in Deutschland im 18. Jahrhundert, in: dies. (Hg.): Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700–1800. München 1999, 9–23, hier S. 10.

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des Lesers ein, die durch die Form des Gesprächs hier noch verstärkt wird.257 Denn der Dialogcharakter verbindet sich mit dem (fast) vollständigen Verschwinden eines auktorialen Erzählers. So erfordert der Dialog, daß Urteile über das Erzählte auf einer anderen Ebene gefällt werden, da Urteile und Wertungen des Erzählers fehlen. Die verschiedenen Figurenperspektiven konvergieren nicht mehr in der eines wissenden Erzählers.258 In der Form des Dialogs wird Erkenntnis für den Rezipienten möglich, indem ein Erkenntnisweg vorgeführt wird, der zur Perspektivenübernahme anleitet. Die Wirkungsfunktion des docere, die aus rhetorischer Sicht noch in der Frühaufklärung im Gespräch mit dem delectare konfligierte und durch die „Anthropologisierung“ des Gesprächs und die mit ihr einhergehende Aufwertung des Vergnügens in Gefahr stand, zurückgedrängt zu werden, erhält bei Wieland eine neue, rezeptionsbezogene Perspektive.259 In der Vorrede fingiert der Erzähler / Herausgeber einen Lauscher hinter der Sommerlaube, in der die Gespräche stattgefunden hätten.260 Die abgeschlossene Privatheit der fiktiven Gesprächssituation öffnet sich durch einen Akt des Mithörens, das de facto moralisch verwerflich ist, durch die gute Absicht hier aber entschuldigt wird.261 Die schon hier erzähltechnisch erzeugte Dualität setzt sich in den Gesprächen selbst fort und wird durch ein Kompendium erzähltechnischer Möglichkeiten ergänzt, die dogmatische Fixiertheiten relativieren und die die Erkenntnissicherheit des Lesers in Frage stellen. Diesem Ziel dient die dialogische Struktur, die die Gegenüberstellung verschiedener widerstreitender Positionen (hier: des vorurteilskritischen Sinibald und des für eine Rehabilitierung der Vorurteile plädierenden Geron) impliziert, ohne daß a priori eine Position als vom Autor präferierte ausgemacht werden kann. Insoweit Dialogizität den offenen aufklärerischen 257

Der Leser werde ermächtigt, die eigene politische Abstinenz zu kompensieren und eine empirisch-anthropologische Metakritik politischen Handelns zu betreiben. Vgl. Jaumann: Politische Vernunft, S. 474. Diese Kompensationsthese muß man nicht teilen, um die Analyse Jaumanns nachzuvollziehen. McCarthy versteht „Metakritik“ als „Bewußtseinszustand“, der es ermögliche, die eigene interessegeleitete Position von einem Standpunkt außerhalb der erfahrungsgegründeten Meinungsverschiedenheit zu betrachten. Vgl. McCarthy: Wielands Teutscher Merkur, S. 52. Damit fokussiert er indes nicht ein Erkenntnis- und Urteilsverfahren, sondern eine anthropologische Option. Die Präsenz von Urteilsprozessen in Wielands Spätwerk selbst scheint mir für die Fokussierung des handelnden Urteilens zu sprechen. Müller: Wielands späte Romane, S. 57ff., v.a. S. 61, weist nach, daß in Wielands späten Romanen auf ein subjektives Urteil der Figur hin erzählt wird. 258 Vgl. Müller: Wielands späte Romane, S. 32f., 195 und die materialreiche, aber wenig analytische Studie: Marga Barthel: Das „Gespräch“ bei Wieland. Untersuchungen über Wesen und Form seiner Dichtung. Hildesheim 1973 (11939), S. 60. 259 Vgl. zu Funktionen des Gesprächs: Fauser: Das Gespräch im 18. Jahrhundert, S. 165ff. Auf Unabgeschlossenheit und Revisionsfähigkeit als Kennzeichen des Dialogs verweist Heinz: Wissen vom Menschen, S. 150; vgl. Barthel: „Gespräch“ bei Wieland, S. 117ff. zu den Gesprächen unter vier Augen. 260 Vgl. Wieland: Was verlieren oder gewinnen wir dabey, S. 8f. 261 Zeitgenössische Verhaltensschriften problematisieren partiell absichtsloses Mithören. Eine Veröffentlichung von zufällig Mitgehörtem (wie es der Herausgeber hier tut) gilt als bedenklich. Vgl. Berg: Erzählte Menschenkenntnis, S. 299f.

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Disput abbildet und nicht wie der sokratische Dialog den durch Fragen gesteuerten Erkenntnisprozeß vorwiegend eines Dialogpartners befördert, kann sie ästhetisch zwar ganz ähnlich wie jener zwischen Sinnlichkeit und Verstand vermitteln,262 doch befördert ein solcher Dialog nicht, daß inhaltliche Erkenntnis nachvollzogen werden kann, sondern daß die metareflexive Methode dem Rezipienten übertragen wird.263 Der Dialog wird zur kritischen Methode, die auf die Aufklärung selbst – im ersten Gespräch auf den Vorurteilsdiskurs als einen ihrer wesentlichen Denkmodi – angewendet wird. Das für Wieland charakteristische, im Goldnen Spiegel bis zur parodistischen Hyperbel gesteigerte Prinzip des (ironischen) Erzähler-, Herausgeber- oder Übersetzerkommentars wird in den Gesprächen reduziert eingesetzt, auch wenn er nicht vollständig darauf verzichtet. Die formale Fragmentarizität des ersten Gesprächs fördert auf andere Weise rezeptive Unsicherheit. Das Gespräch schließt in der im Teutschen Merkur gedruckten Fassung mit einem „Aber“ und der ausdrücklichen Aufforderung, die Gegenargumente nachzutragen: „Also – dein Aber?“264 Gerons Aufforderung an Sinibald liest sich, da das Gespräch hier abbricht, als Aufforderung an den Rezipienten, den dialogischen Prozeß der Wissensfindung fortzusetzen, eigene Argumente beizutragen, die – und das zeugt von der Offenheit des aufklärerischen Prozesses – nicht bloß affirmativen Charakter haben sollen. Eingefordert werden ausdrücklich Gegenargumente, um den Rezipienten zu einem dritten Teilnehmer der Diskussion zu machen, ihn zu eigener Urteilsbildung und zu einem selbstreflexiven Urteilsprozeß anzuregen. Der erste Teil von Wielands Gespräch über die Vorurtheile ruft schon zu Beginn anthropologiebasierte Argumentationsfiguren auf: Gerons Versunkenheit in Nachdenken wird von seinem Gesprächspartner Sinibald als Beschäftigung seines „inwendigen Menschen“ thematisiert. Geron repliziert, Sinibald werde seine geistige Beschäftigung wohl schwerlich erraten.265 Damit hebt er auf die anthropologische Erkenntnis ab, daß es schwierig sei, vom Äußeren (also der Sinneswahrnehmung) auf das Innere (das Sein des Wahrgenommenen) zu schließen. Diese Folgerung aus sensualisierenden und empirisierenden Argumentationsmustern dient hier 262

Vgl. Ernst Theodor Voss: Nachwort, in: Johann Jakob Engel: Über Handlung, Gespräch und Erzählung. Faksimiliedruck der ersten Fassung von 1774 aus der ‚Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste‘. Hg. E. Th. V. Stuttgart 1964, 1*–171*, hier S. 63*, zu Garves Rezeption von Mendelssohns dialogischem Prinzip in Phädon. 263 Diese metareflexive Ebene verändert dabei den inhaltlichen (hier: politischen) Diskurs selbst: vgl. Erhart: Entzweiung, S. 306. Jaumann zeigt, daß Wielands Ironie in ähnlicher Weise für die metakritische Ebene funktional wird: vgl. Jaumann: Politische Vernunft, S. 471. Metafiktionalität als Form moderner Medienbewußtheit sucht auch Shookman herauszuarbeiten: vgl. Ellis Shookman: Noble Lies, Slant Truths, Necessary Angels. Aspects of Fictionality in the Novels of Christoph Martin Wieland. Chapel Hill / London 1997, S. 5. Daß diese aber als Vorwegnahme romantischer Ironie zu verstehen sei, verkennt die spezifisch aufklärerischen Möglichkeiten der Narration. Vgl. ebd., S. 153, 170. 264 Wieland: Was verlieren oder gewinnen wir dabey, S. 40. 265 Vgl. ebd., S. 11.

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dazu, die grundlegende Komplexität von Erkenntnisprozessen als Voraussetzung des Dialogs einzuführen. Zusätzlich thematisiert Geron naturalisierend die Einbindung des Menschen in eine weite kosmologische Perspektive: Die Erde erscheint als „Sonnenstäubchen“, als unbedeutender kleiner Teil in einem großen, geordneten Gefüge.266 Die anthropologiebasierten gnoseologischen Bedingungen der Erkenntnis innerer wie äußerer Prozesse, die Erkenntnis- und Urteilsunsicherheit in den Vorurteilsdiskurs übertrugen, werden hiermit aufgerufen. Kennt man den Vorurteilsdiskurs der Spätaufklärung, ist nach diesem Eingang kaum mehr überraschend, daß Geron über eine „Apologie der Vorurtheile“ nachdenkt.267 Bevor dieses Problem aber ausdrücklich benannt wird, bekräftigt Geron die Formationsregeln, die noch für den transformierenden Vorurteilsdiskurs gegolten hatten. Die von Sinibald als Ziel eingeführte Herrschaft der allgemeinen Vernunft wird von Geron ebenso als zu utopisch abgelehnt wie der politische Pragmatismus der „freyeste[n], wohlgeordnetste[n] und glücklichste[n] Republik“.268 Letzteres Ideal sei, so Geron, nur in der unsichtbaren Republik erfüllt, der beide angehörten und die unabhängig von politischen Organisationsformen ihren Gang nach vorne gehe.269 Mit dieser Anspielung auf das Konzept der „Gelehrtenrepublik“ verbindet sich aber nicht die Übernahme des utopischen, regulativ-ständischen Modells Klopstocks.270 Denn Wieland fokussiert im Gespräch eine unsichtbare, diskursive Öffentlichkeit, die dem Bereich des Fiktional-Geistigen zugeordnet ist und diesen vom Bereich des Politisch-Pragmatischen scheidet. Im Zentrum steht also die diskursive Eigenständigkeit des Fiktionalen, nicht dessen regulative Funktion. Trotz dieser angedeuteten Optionen, die der Transformierung des Vorurteilsdiskurses entsprechen, sucht Geron den Vorurteilsdiskurs ausdrücklich philosophisch zu verankern. Es gehe ihm darum, „alte Wahrheiten gegen die Täuschungen des Witzes und die Sofismen einer falschen oder fälschlich angewandten Filosofie in den Schutz zu nehmen.“271 Daß Vorurteile bestehen bleiben müßten, erhält den Status einer traditionellen, aber praxisbezogenen philosophischen Wahrheit.272 Sinibald

266 267 268 269 270

Vgl. ebd., S. 12f. Ebd., S. 16. Ebd., S. 14. Vgl. ebd., S. 15. Vgl. Friedrich Gottlieb Klopstock: Die deutsche Gelehrtenrepublik. Ihre Einrichtung. Ihre Geseze. Geschichte des lezten Landtags. Auf Befehl der Aldermänner durch Salogast und Wlemar, in: Friedrich Gottlieb Klopstock. Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Werke. Bd. VII.1. Hg. Rose-Maria Hurlebusch. Berlin / New York 1975. Vgl. zum elitärhierarchischen Charakter von Klopstocks Gelehrtenrepublik knapp summierend: Sven Aage Jørgensen / Klaus Bohnen / Per Øhrgaard: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik. 1740– 1789. München 1990, S. 251ff. Die Idee der „Gelehrtenrepublik“ hat indes bereits voraufklärerisch-humanistischen Charakter. 271 Wieland: Was verlieren oder gewinnen wir dabey, S. 18. 272 Daher auch Gerons Aufforderung, „ohne Bilder“, in „schlichteste[r] Prose“ über das Thema zu reden. Vgl. ebd., S. 18, 19. Im Merkur-Abdruck steht noch: „ohne Metafern“: vgl. Wieland: Ueber die Vorurtheile, S. 111.

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hingegen insistiert darauf, das Gebiet sei schon sehr intensiv bearbeitet, Neues kaum mehr zu erwarten. Hier verabschiedet sich der theoretische Vorurteilsdiskurs aus dem positiv konnotierten Verständnis aufklärerischen Progresses. Denn Erkenntnisfortschritt scheint ausgeschlossen, bestenfalls könnten neue Einkleidungen von Wahrheiten neue Achtung bewirken.273 Geron antwortet, Wahrheiten bedürften keiner Einkleidung, problematisch sei vielmehr die zunehmende Verfälschung von Wahrheiten im Laufe der Zeit. Damit wird Wahrheit von Geron nicht grundsätzlich für unerreichbar erklärt, wie das noch der materialistische Entwurf des Hippias in Agathon nahelegte, der jegliche Wirklichkeitsdarstellung als lediglich subjektiv gefärbt ansah.274 Zur Differenzierung greift Wieland hier auf den Bildbereich des Geldes zurück, der in der Spätaufklärung zur Kennzeichnung der Wandlungsfähigkeit, aber auch des unsicheren Wahrheitsgehaltes von Vorurteilen und Meinungen präsent war.275 Da der Wert von Wahrheiten geschwächt werden kann, ist es auch schwierig, Unwahrheiten zu identifizieren und zu bekämpfen. Die reinen Goldmünzen seien, so erzählt Geron, durch ihren lang andauernden Gebrauch, durch die Veränderungen der Umstände und durch die „natürlichen Folgen der menschlichen Gebrechlichkeit“ nach und nach mit schlechtem Metall vermischt und verfälscht worden.276 In historisierender Perspektive wird Wahrheit an den jeweils aktuellen historischen Stand gebunden, der ihre Eindeutigkeit und Erkennbarkeit zusätzlich, über die grundlegende semantische Schwierigkeit der Unterscheidung von „Zeichen“ und „Sachen“ hinaus, erschwert.277 Die Funktion der Goldmünzen bleibt allerdings von der faktischen Verschlechterung unberührt. Eine unmittelbare, vollständige Ersetzung aller schlechten Münzen führte, wie Geron behauptet, zu „Stockung im Handel und Wandel“.278 Aus ähnlichen Argumenten heraus, aus der Erwägung einer positiven Funktion, hatte Mendelssohn die sofortige und vollständige Zerstörung aller Vorurteile abgelehnt; Lessing hatte aus der Annahme eines Anteils von Wahrheit in den Vorurteilen deren partielle Rückgewinnung erwogen.279 273

Vgl. Wieland: Was verlieren oder gewinnen wir dabey, S. 18f. Sinibald führt als Beispiel eine Marienverehrung an, weshalb er im Merkur-Abdruck im Kommentar des Herausgebers als Katholik geoutet wird. Vgl. Wieland: Ueber die Vorurtheile, S. 111. 274 Vgl. Müller: Wielands späte Romane, S. 35, 40. 275 Wezel verwendet in Tobias Knaut eine ähnliche Allegorie. Vgl. Wezel: Tobias Knaut, S. 33. 276 Vgl. Wieland: Was verlieren oder gewinnen wir dabey, S. 20. 277 Der große Haufen sei es gewohnt, „die Zeichen mit den Sachen zu verwechseln.“ Vgl. ebd., S. 20. Daß dieser vermeintliche semantische Kurzschluß als ökonomische Konvention Grundlage jeglicher Geldwirtschaft ist, spielt für Wielands Argumentation keine Rolle. 278 Wieland: Was verlieren oder gewinnen wir dabey, S. 21. 279 G. E. Lessing an Mendelssohn am 9.1.1771: „Doch ich besorge es nicht erst seit gestern, daß indem ich gewisse Vorurtheile weggeworfen, ich ein wenig zu viel mit weggeworfen habe, was ich werde wiederholen müssen.“, in: Mendelssohn. JubA 12,2, Briefnr. 357, S. 1f. Mendelssohn schreibt an Abbt am 16.2.65: „Und so haben die Herren Encyclopedisten so manches Vorurtheil gestärkt, indem sie die Wahrheit nicht verschont haben, die einigen derselben anhängt.“, in: JubA 12,1, Briefnr. 260, S. 75. Eine Parallele zwischen Lessing und Wieland besteht, unterschiedlichen Wahrheitsbegriffen zum Trotz, darin, daß der Prozeß der Annäherung

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Zusätzlich erweist sich das jeweils unterschiedliche Mischungsverhältnis der Goldmünzen als auf den ersten Blick schwer erkennbar. Als Gegenmittel bleibe nur, wie Geron ausführt, jede einzelne Münze zu untersuchen. Ein solches Verfahren hatte Wieland bereits in Über den freyen Gebrauch der Vernunft in Glaubenssachen unter Verwendung desselben Bildbereichs anempfohlen: Insbesondere Wahrheiten und Irrtümer, die von großer Bedeutung für das Wohlergehen der Menschen seien, müßten kritisch geprüft werden, „bis sie, von allen Schlacken des Irrthums gereinigt, als feines gediegenes Gold aus dem Tiegel kommen.“280 Sinibald schlägt radikaler vor, die volle Wahrheit für jegliche Verbindung von Wahrheit und Vorurteil einzutauschen, in welcher Mischung auch immer sie aufträten. Dies verwirft Geron. Das Beharrungsvermögen des Volkes, das dem „filosofischen Golde“, der vollständigen Wahrheit, nicht traue,281 wird zum soziopsychologischen Argument, das die Praxisrelevanz des philosophisch-logischen Diskurses delegitimiert. Die aus der Logik externalisierte Formationsregel, die Sinibald auf den Vorurteilsdiskurs zu übertragen sucht und die die Diskussion von Vorurteilen im Zusammenhang mit der Wahrheitsfrage nahelegte, kann pragmatisch nicht relevant werden, da mit konkreten psychischen Widerständen zu rechnen ist. Es sei, so resümiert Sinibald, zwischen Wahrheit, Irrtum und Vorurteil zu unterscheiden. Die rein logische Dichotomie eines material-falschen Vorurteilsbegriff reicht nicht aus: „Wahrheit ist das feine Gold, Irrthum die falsche Münze, die Vorurtheile die geringhaltigen Stücke, welche mehr oder weniger werth sind, je nachdem mehr oder weniger von diesem darunter befindlich ist.“282 Entscheidend ist also, wie auch der vorurteilskritische Sinibald zugesteht, die Funktion von Vorurteilen. Doch ist diese Toleranz gegenüber dem Funktionalen durch den aufklärerischen Differenzierungsprozeß beschränkt. An dieser Stelle greift Wieland das schon in der Debatte um die Rehabilitierung des Vorurteils aufgeworfene (und dort meist restriktiv beantwortete) Problem des Maßstabs für die Vorurteilsdestruktion auf. Behutsamkeit und Wahl des richtigen Zeitpunktes werden von Geron als Argumente angeführt. Doch wirft hier der skeptische Sinibald ein, der Schaden könne dadurch vermieden werden, daß die Obrigkeit als Entscheidungsinstanz installiert werde, eine Position, die intertextuell aus Wielands Göttergesprächen übernommen wird: Semiramis plädiert dort für eine radikale Beschränkung von Presse- und Redefreiheit und proklamiert, Wissenschaft und insbesondere Philosophie müßten wieder mit dem „Schleier des Geheimnisses“ umgeben sein und elitär betrieben

280 281 282

an Wahrheit als aufklärerischer Vorgang verstanden wird. Vgl. Albrecht: Wielands Vorstellungen, S. 33, ders: Wieland – Priester der Musen, S. 41. Wieland: Über den freyen Gebrauch, S. 24. Wieland: Was verlieren oder gewinnen wir dabey, S. 24. Ebd., S. 26.

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werden.283 Die Kompetenz, den Fortschritt der Aufklärung zu beurteilen, steht indes in Frage. Denn als Kriterium für die Aufklärung benennt Geron: „Nicht, als seine Obern gut finden, sondern als dem Volke wirklich gut und heilsam ist.“284 Doch dies löst das Problem nicht, das schon sozialisierende Argumentationsstrategien der Vorurteilsrehabilitierung erkannt hatten: „Und wer soll darüber entscheiden, wie viel Licht dem Volke gut und heilsam ist?“285 Aus Sicht der Aufklärung liefert Sinibald eine desillusionierende Zeitanalyse, die auf die Praxis hinweist, daß Aufklärung durch obrigkeitliche Vorgaben instrumentalisiert wurde. Die Aufklärer plädierten entweder für eine grenzenlose Aufklärung (was, wie Geron selbst zugegeben hatte, an den psychisch motivierten Widerständen des Volkes scheitern müsse), oder aber sie würden sich „mit den Obern einverstehen, das arme Volk in Dummheit und Unwissenheit zu erhalten“.286 Die Instrumentalisierung der Aufklärung und des Vorurteilsdiskurses wird hier von Wieland als zeitgenössisches Phänomen analysiert. Verantwortung für den aufklärerischen Fortschritt trägt die Öffentlichkeit, deren Einverständnis mit den Regierenden problematisch werden kann. Verantwortung tragen aber auch die Regenten selbst. Das positive Beispiel eines Fürsten könne, wie Geron meint, eine Besserung bewirken, indem es die Tatsache, daß der gesunde Verstand das Menschsein konstituiere, ins Recht setze.287 Das aus der common sense-Philosophie transferierte Prinzip des gesunden Menschenverstandes wird hier mit einem autoritären Machtargument verbunden, um ihm diskursive Wirksamkeit zu verleihen. Denn grundsätzlich sind für Wieland die affektiven Einflüsse von Gewohnheit und Vorurteilen eminente Hindernisse für die Durchsetzung des common sense: „Man weiss, – bringt es aber öfters bey den wichtigsten Gelegenheiten viel zu wenig in Anschlag, – wie mächtig Gewohnheit und Vorurtheile, in denen wir aufgewachsen sind, über den gemeinen Menschenverstand tyrannisieren; [...].“288 Denn sie brächten uns dazu, wider das Zeugnis unserer Sinne zu glauben. Die grundsätzliche sensitive Widerständigkeit von Vorurteilen

283

Vgl. Wieland: Göttergespräche, hier S. 239f., Zitat S. 240. Die Stelle, auf die Sinibald anspielt (vgl. Wieland: Was verlieren oder gewinnen wir dabey, S. 27f.), entstammt dem XIII. Gespräch. An anderer Stelle plädiert Wieland ausdrücklich dafür, daß Gedankenfreiheit garantiert werden muß, um Aufklärung zu ermöglichen. Vgl. Wieland: Antworten und Gegenfragen, S. 424f. Diese Verbindung von (Presse-)Freiheit und moralisch verantwortlichem Handeln der Individuen bietet ein notwendiges, aber noch kein hinreichendes Charakteristikum für Wielands Aufklärungsmodell (vgl. Albrecht: Wielands Vorstellungen, S. 41f.). 284 Vgl. Wieland: Was verlieren oder gewinnen wir dabey, S. 28. 285 Ebd. 286 Ebd. 287 Vgl. ebd., S. 29. Weyergraf greift zu kurz, wenn er als idealen Staatsmann aus Wielands Sicht einen vielseitig gebildeten Monarchen mit Überblick über Mittel und Möglichkeiten seines Landes bestimmt. Vgl. Bernd Weyergraf: Der skeptische Bürger. Wielands Schriften zur Französischen Revolution. Stuttgart 1972, S. 6. Entscheidend ist vielmehr die moralische Verantwortlichkeit. 288 Wieland: Über den freyen Gebrauch der Vernunft, S. 95.

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berührt also für Wieland auch den an das Affektkonzept angelehnten common sense, der, ähnlich wie bei Garve als „allgemeiner Menschensinn“ verstanden wird. Er ist damit keine obere Erkenntniskraft, sondern ein Erfahrungsbegriff.289 Aufklärung wird zur anthropologisch ganzheitlichen Sitten-, Verstandes- und Sinnesbildung, die nicht einseitig das Rationale oder das Emotionale favorisiert.290 Dieses Argument erhält im Gespräch über die Vorurtheile allerdings insofern einen diskursiven Charakter, als der hier vorausgesetzte naturalisierte Automatismus der Besserung in evolutionär-aufklärerischer Perspektive nicht unproblematisch erscheint. Das als Entwicklungsetappe der Menschheit verstandene Vorurteil, dessen evolutionäre, nicht revolutionäre Überwindung angemahnt wird, müsse partiell bewahrt werden. Der Fortgang des Dialogs initiiert nun allerdings einen Reflexionsprozeß, der die Entscheidung darüber, welche Vorurteile respektiert werden sollten, dem Rezipienten überantwortet.291 Die modale Perspektive des Selbstdenkens bietet idealtypisch die Basis für späteres, aufklärerisches Handeln.292 Mit der Märchenformel des „Es war einmahl“ eingeleitet, erzählt Geron eine Geschichte.293 Dabei wird Kuhschnappel, der Handlungsort von Jean Pauls Siebenkäs,294 als fiktiver Beispielort eingeführt. Die Nähe zur kleinbürgerlichen Atmosphäre in Kuhschnappel wie auch im gleichfalls erwähnten Wielandschen Abdera, die sich durch die Prävalenz von praeiudicia auctoritatis bei gleichzeitigem Bekenntnis zum bürgerlich-aufklärerischen Fortschritt auszeichnet, kennzeichnet auch Gerons Beispielgeschichte. Das Wohlwollen gegenüber einem neuen Arzt, ein positives Vorurteil also, wird in der Binnenerzählung durch unreflektierte Volksaufklärung zerstört. Ein angesehener Patrizier behauptet, Medizin schlechthin sei nutzlos. Da er aufgrund seiner familiären Herkunft hohes Ansehen genießt, erhalten die absurden Thesen des Patriziers Beifall, woraufhin sich der Gesundheitszustand der gesamten Gemeinschaft verschlechtert. Auch der Versuch, den Ruf des Arztes durch eine Verordnung wiederherzustellen, die Idee der Aufklärung von oben, scheitert, da selbst das „Nazionaltheater“ zum Kampf gegen Vorurteile instrumentalisiert wird.295 Das ursprüngliche, funktional positive Vorurteil des Volkes, vom Arzt überzeugt zu sein, wird destruiert: Die Kunst popularisiert Vorurteilsfreiheit, gegen die selbst 289

Vgl. Altmayer: Aufklärung als Popularphilosophie, S. 112f., zur Bedeutung des Konzepts bei Garve: Kurt Wölfel: Nachwort, in: Christian Garve: Popularphilosophische Schriften über literarische, ästhetische und gesellschaftliche Gegenstände. Hg. K. W. Bd. 2. Stuttgart 1974, 25– 62, hier S. 37. 290 Vgl. Albrecht: Wielands Vorstellungen, S. 30. 291 Vgl. Beetz: Wunschdenken, S. 272. 292 Vgl. zur Verbindung von Selbstdenken und -handeln Albrecht: Wielands Vorstellungen, S. 36. 293 Vgl. Wieland: Was verlieren oder gewinnen wir dabey, S. 31ff. 294 Vgl. Jean Paul: Blumen-, Frucht- und Dornenstükke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel. 3 Bde. Berlin 1796f. Oertel hatte im Neuen Teutschen Merkur eine knappe Abhandlung publiziert: vgl. Friedrich von Oertel: Über Jean Paul Richter, in: Der neue teutsche Merkur 3 (1798), 174–178. 295 Vgl. Wieland: Was verlieren oder gewinnen wir dabey, S. 35.

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das Vorurteil der Autorität nicht bestehen kann – auch wenn damit Gutes bewirkt werden könnte. Der transformierend-selbstaufklärerische Charakter dieser Beispielgeschichte wird indes dadurch aufgehoben, daß im Einverständnis beider Dialogpartner ein Resümee formuliert wird. Die Anwendung der Beispielgeschichte beruht auf einer Interpretation innerhalb des fiktionalen Rahmens des Gesprächs. Es wäre Torheit, würde von obrigkeitlicher Seite „das Fundament“ solcher Vorurteile zerstört, worauf nicht nur „der Glaube des Volks“ an das Ansehen und die Unverletzlichkeit der Regierenden beruht, sondern auch der „Glauben an die eingeführte Religion, an eine göttliche Bestätigung des Unterschieds zwischen Recht und Unrecht, und an Verantwortlichkeit in einem künftigen Leben für das Böse, das wir in diesem gethan haben“.296 Dieser Katalog von Kriterien, aus denen erhaltenswerte Vorurteile abgeleitet werden können, zielt vorrangig auf moralphilosophische Kriterien, nicht auf solche, die den politischen Status quo unter allen Umständen zu erhalten streben.297 Dies wird durch die These legitimiert, daß Macht nicht legitimerweise zum Handeln ermächtige; mit ihrem Mißbrauch müsse gerechnet werden. Der ideale gute Monarch hat mithin nicht in erster Linie die Aufgabe, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, sondern er muß lediglich nach Maximen handeln, „die auf dem ewig nothwendigen Grund alles Rechts beruhen.“298 Eine politische Instrumentalisierung des Vorurteils erscheint somit im Konsens beider Gesprächspartner als illegitim, eine moralische Rehabilitierung dagegen als geradezu notwendig: An „wahre[n], wiewohl dumpfe[n] Gefühle[n] und Vorurtheile[n]“ festzuhalten ist „dem unaufgeklärten und, vermöge der Natur der Sache, zahlreichsten Theil der Menschen nicht nur nützlich, sondern, wofern das Ganze bestehen soll, sogar nothwendig [...]“. Denn sie seien nur „subjektiv betrachtet“ Vorurteile, tatsächlich aber seien sie wahr oder beruhten wenigstens auf Wahrheit.299 Die Interpretation wird hier ausdrücklich formuliert und in Argumente für eine sozial gebundene, moralische Rehabilitierung des Vorurteils überführt. An dieser Stelle, an der ein Konsens moralisch-sozialen Umgangs mit dem Vorurteilsproblem hergestellt und die Diskussion ein in sich geschlossenes Konzept erreicht zu haben scheint, wird erzähltechnisch nun die Transformierung des Diskurses und damit die Selbstreflexion des Rezipienten wieder in ihr Recht gesetzt. Sinibald kündigt an, Gegenargumente formulieren zu wollen, doch bricht das 296

Ebd., S. 36. In der Fassung des Merkur ist statt von „göttliche[r] Bestätigung“ von „Göttliche[r] Sanktion“ die Rede. Vgl. Wieland: Ueber die Vorurtheile, S. 126. 297 Selbst „Ansehen“ der Regierenden und „Unverletzlichkeit“ der Person impliziert nicht automatisch, daß sie auch durch Vorurteile an der Macht gehalten werden sollten. 298 Wieland: Was verlieren oder gewinnen wir dabey, S. 38. In einem Kommentar des Herausgebers wird Sinibalds Annahme, die Gegenwart sei besonders vom Problem des Machtmißbrauchs betroffen, historisch relativiert. Machtmißbrauch sei zeitübergreifend. Vgl. ebd., S. 37. 299 Ebd., S. 39. Moral ist bei Wieland nicht umstandslos mit Religion gleichzusetzen. Albrecht setzt falsche Prioritäten, wenn er Religion bei Wieland als Mittel der Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung bestimmt. Vgl. Albrecht: Wielands Vorstellungen, S. 38.

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Gespräch in der Fassung des Merkur-Abdrucks an dieser Stelle ab. Der offene Schluß des „Also – dein Aber?“ unterwirft nicht nur die gefundene Lösung dem weiteren aufklärerischen Selbstreflexionsprozeß, sondern bezieht auch die Selbstaktivität des Rezipienten in diesen Urteilsprozeß mit ein.300 Zum Vorurteilsdiskurs rechnet nicht nur der dialogische Text Wielands, sondern auch dessen trialogisch angelegte Fortsetzung bei den Rezipienten.301 Diesem modal-integrativen produktionstheoretischen Ziel entspricht bereits die Tatsache, daß es kontroverse öffentliche Reaktionen auf Wielands Gespräche unter vier Augen gab. Denn durch die Installierung des öffentlichen Diskussionsraumes wird der Erkenntnisprozeß als Urteilsbildung des Publikums in der Praxis verstetigt. Formal ist die anonym erschienene, ausführliche Kritik an Wielands Gesprächen Teil von Wielands transformierender Rezeptionsstrategie, auch wenn sie inhaltlich scharf widerspricht.302 Daß Wielands Positionen inhaltlich nicht geteilt werden, beweist nicht, daß sein Konzept von öffentlicher Aufklärung unmöglich oder überholt ist. Wohl aber kann man – und diesen Kurzschluß setzt die Zuspitzung von Wielands Gesprächen auf eine politische Stellungnahme in der Forschung fort303 – für den zeitgenössischen Diskurs insgesamt konstatieren, daß das Prinzip aufklärerischer Selbstreflexion nun zusehends zugunsten der Aufrechterhaltung unhinterfragter, politischer Prämissen verabschiedet wird. Eine naive Vorurteilskritik, die die zeitgenössische Situation nicht wahrhaben will, steht einer politischen Rehabilitierung gegenüber, die beide das leere Konzept des Vorurteils zu vertreten vorgeben.

300

Vgl. Wieland: Was verlieren oder gewinnen wir dabey, S. 40. Dies korrespondiert mit Wielands Aufklärungsverständnis insoweit, als Untersuchung und Selbstdenken zentrale Aspekte darstellen. Vgl. Albrecht: Wielands Vorstellungen, S. 29f. Mit Blick auf den von Albrecht angeführten Essay Wielands kann von einer Definition der Aufklärung allerdings kaum gesprochen werden. Vgl. Christoph Martin Wieland: Freymüthige Gespräche über einige neueste Weltbegebenheiten. Gehalten im Jahre 1782. Erstes Gespräch, in: AA 14, 336–362, hier S. 349. 301 Würzner weist zurecht darauf hin, daß fiktiver und wirklicher Leser bei Wieland unterschieden werden müssen. Vgl. Würzner: Figur des Lesers, S. 405f. Daher ist hier von Rezeptionssteuerungsstrategien und nicht von realen Lesern die Rede. 302 Schaefers These, die Reaktion auf Wielands Gespräche bezeuge seine Isolierung, muß demnach in dem öffentlichen Zusammenhang, den Wieland publizistisch schafft, präzisiert werden. Vgl. Klaus Schaefer: Christoph Martin Wieland. Stuttgart / Weimar 1996, S. 144. Für die unmittelbare Rezeption in Weimar trifft dies sicher zu, wie Goethes knappes Resümee der Reaktion auf Wielands halböffentliche Lesung zeigt: vgl. Johann Wolfgang Goethe an Friedrich Schiller am 2.5.1798, in: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 8.1. Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Hg. Manfred Beetz. München 1990, Briefnr. 458, S. 565f. 303 Vgl. Schaefer: Wieland, S. 144ff. Weyergraf sieht durchaus, daß die Autonomie des Aufklärers zunehmend in die Krise gerät: vgl. Weyergraf: Der skeptische Bürger, S. 26ff.

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6.3.2 Instrumentalisierte Ratio: eine anonyme Kritik an Wielands Gespräch 1799, in etwa zeitgleich mit der Publikation der erweiterten Fassung der Gespräche unter vier Augen in der Ausgabe letzter Hand, erscheinen bei Kramer in Leipzig anonym Bemerkungen über die Wieland’schen Gespräche unter vier Augen […] in rechtlicher und politischer Hinsicht. Der Autor präferiert im Gegensatz zu dem, was er nach dem Merkur-Abdruck als Wielands Position annehmen mußte, Vorurteilsdestruktion als eindeutige Zielvorstellung. In einer Vorrede verdeutlicht er seine Grundannahmen und rechtfertigt sein Vorgehen. „Bey der Wahrheit kann es ja nicht auf die Zeugnisse Andrer ankommen, denn wir sind berühmten Männern keinen blinden Glauben, sondern nur Achtung schuldig, ihre Meynung (sic) können also der Prüfung nicht entzogen werden.“304 Ein praeiudicium auctoritatis darf sich nicht auf die Wahrheit, sondern nur auf die moralische Verhaltensvorschrift des Respektes beziehen. Vorurteilskritik kann nur dann als unbeschränkt angenommen werden, wenn sie auf einem material-logischen Vorurteilsbegriff basiert. Denn „Achtung“ für berühmte Männer zu haben gilt für den anonymen Kritiker ebensowenig als Vorurteil im negativen Sinne wie die Beachtung dessen, „was man seinem Vaterlande schuldig ist“.305 Schon in diesen einführenden Passagen der Vorrede ist Vorurteilskritik per impliziter Definition auf den Bereich der Logik beschränkt worden. Wahrheit müsse man „unter allen Umständen sagen“, behauptet der Autor.306 Auf der anderen Seite unterliegen die Bereiche des Wohlverhaltens und der Treue zum Staat diesem Verfahren nicht. Der Verfasser ruft die eindeutige Vernunft gleichsam als philosophische Legitimation mehrfach metaphorisch auf. Er betont den geraden Weg der Vernunft und deren Gleichgerichtetheit mit Recht, Gerechtigkeit und Wahrheit.307 Demgemäß kann er auch innerhalb des nun wieder mit Argumenten der Logik neu justierten Vorurteilsdiskurses die Befreiung von Vorurteilen als „Pflicht“ einführen, die insbesondere für die politischsoziale Grundordnung und für deren moralisch-individuelle Basis gelte: „Recht und Religion, sind Dinge über welche durchaus keine Vorurtheile statt finden dürfen.“308 Eine solch radikalisierte Forderung kann nur um den Preis erhoben 304

[Anonym:] Bemerkungen über die Wieland’schen Gespräche unter vier Augen im 2ten, 3ten, 4ten, 5ten und 7ten Stück des Neuen Deutschen Merkus vom Jahr 1798 in rechtlicher und politischer Hinsicht. Nebst einigen Betrachtungen, über die wichtigsten Gegenstände des Rechts und der Politik. Leipzig 1799, S. IV. Der Untertitel erweitert den Anspruch des Buchs über den bloßen Wieland-Kommentar hinaus. Damit ist der juristisch-politische Diskursbereich als relevant für die Sache der Aufklärung markiert. 305 Ebd., S. V. 306 Vgl. ebd., S. IX. Er führt fort: „selbst dann wenn man kein Ohr mehr findet: wer sie (die Wahrheit, R. G.) nur sagt, wenn solche ohne Gefahr gesagt werden kann, der liebt sie nicht, noch weniger verdient er, daß die Wahrheit von ihm gesagt werde.“ Dem könnte Wieland die individuelle und extern motivierte Relativität von Wahrheit entgegenhalten: vgl. Wieland: Was ist Wahrheit?, S. 186. 307 Vgl. [Anonym:] Bemerkungen, S. XIV et passim. 308 Ebd., S. 5.

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werden, daß auch inhaltlich der anthropologische Wissensbestand der Zeit ignoriert wird. Vorurteile in Recht und Religion ließen den Rückschritt vom Menschen zum Tier befürchten.309 Damit wird die Teleologie einer chain of being an Vorurteilsfreiheit als genuin menschliches Leistungspotential gebunden. Zudem rede derjenige, der Vorurteile nicht zu zerstören beabsichtige, nicht, was er denke.310 Die Behauptung wiederum setzt sowohl voraus, daß nichts anderes als Vorurteilskritik gedacht werden könne, als auch, daß das Aussprechen der Gedanken ein immer erstrebenswertes Ziel sei. Das Basisargument des anonymen Autors ist ein kantianisches: Fallen Tugend und Pflicht „aus Achtung fürs Moralgesetz in uns, ohne alle Rücksicht auf Vortheile“ zusammen, mache man sich also „durch Tugend der Glückseligkeit würdig“, so werde dies die Moralität des Volks bessern.311 Moralische Kriterien haben hier, anders als bei Wieland, eine radikale Vorurteilskritik zur Folge, die anthropologische Schwierigkeiten mithilfe der rationalen Tugendkonstruktion vernachlässigen zu können glaubt. Damit unterliegt der Vorurteilsdiskurs wieder moralphilosophischen Formationsregeln. Auch die hieran anschließende Differenzierung der aufklärerischen Pflichten als Mensch und als Bürger führt, ohne beide zu nennen, sowohl Kants Differenzierung von öffentlichem und privatem Vernunftgebrauch als auch die begrifflich anklingende Unterscheidung Mendelssohns zwischen Menschen- und Bürgeraufklärung weiter.312 Als Bürger bestehe die Pflicht darin, „über jede seiner Angelegenheiten nachzudenken, sich Grundsätze zu bilden, um nach denselben die öffentlichen Verhältnisse beurtheilen zu können.“313 Der Verfasser zielt also darauf ab, den im Gefolge Kants neu ausgerichteten philosophischen Diskurs, der als Neuermächtigung der Ratio mißverstanden wird, als exklusive Formationsregel des Vorurteilsdiskurses wieder einzuführen. Hierzu führt er neben Jacobi und Rousseau auch Wieland selbst als Kronzeugen an, indem er dessen Essay Über den freyen Gebrauch der Vernunft in Glaubenssachen sammt einer Beylage selektiv zitiert. Er greift Wielands Diktum vom „Richterstuhl der Vernunft“ auf, dem sich nichts in der Welt entziehen dürfe, ohne den textlichen Zusammenhang von Wielands Essay zu berücksichtigen, der Vernunft als allgemeine, auch affektiv angereicherte Menschenvernunft versteht.314 Dieser für den Vorurteilsdiskurs reklamierte Anspruch auf logische Eindeutigkeit erweist sich als unvereinbar mit den transformierenden Elementen in Wielands Essay. Es kann mithin kaum überraschen, daß in den unmittelbaren Textkommentaren des anonymen Verfassers gerade die Analogie zu Goldmünzen und die Kuhschnappel-Episode auf Kritik stoßen: „Warum sagen Sie, was sie (sic) uns zu 309 310 311 312 313 314

Vgl. ebd., S. 5f. Vgl. ebd., S. 6. Ebd., S. 7f. Vgl. Kant: Beantwortung der Frage, S. 37, Mendelssohn: Ueber die Frage, S. 117. [Anonym:] Bemerkungen, S. 9. Vgl. ebd., S. 13. Der Autor zitiert aus: Wieland: Über den freyen Gebrauch, S. 130.

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sagen für nöthig halten, nicht lieber gerade heraus und erläutern, wenn sich ja auf keine andere Art die Sache eindringlich machen ließe, dann erst ihre (sic) Sätze und Beyspiele?“315 Die Rezeptionsstrategie Wielands, die zum Selbstdenken ermächtigt, kann in der Praxis, wenn es sich um eine aus Sicht des Autors a priori per Ratio entscheidbare Frage handelt, nicht nachvollzogen werden. Theoretisch wird dennoch vom anonymen Autor proklamiert, die Rezipienten mögen selbst entscheiden und seine Argumente beurteilen.316 Die virulente Verkennung von Wielands fiktionaler Strategie erinnert fatal an eine wenige Jahre zurückliegende Debatte, die ebenfalls Wielands vermeintliche politische Parteinahme betraf. 1787 bereits hatte Wieland angesichts der damaligen heftigen Kritik resümiert: Aber vermuthlich gehörte er (Schneider, ein unbeholfener Verteidiger Wielands, R. G.) zu den weisen Männern, die keine Verse, oder doch wenigstens keine Mährchen lesen, und von deren einem ich vor einigen Jahren in einem [...] Briefe gebeten und beschworen wurde, doch endlich einmal, relictis nugis, gescheidt zu werden, und, anstatt der leidigen Mährchen, schöne dogmatische Abhandlungen [...] zu schreiben.317

Grundsätzlich vertraut der anonyme Verfasser der Bemerkungen auf die durch die Ratio mögliche Aufklärung aus sich selbst. Das Mittel zum Kampf gegen die Vorurteile sei eine intensive Selbstbefragung: „Man darf nur bey dem was man annehmen soll, sich immer selbst fragen: ob man es wohl rathsam oder aufführbar finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder verwirft, zum allgemeinen Grundsatze beym Gebrauch seiner Vernunft zu machen?“318 Auch dieses Vertrauen auf die distinktive, hier aber entscheidend restringierte Kraft von Kants kategorischem Imperativ vernachlässigt die anthropologische Komplexität des Vorurteilsdiskurses.319 Der anonyme Kritiker verbindet einen entschlossen aufklärerischen, kantianischen Standpunkt, der Vorurteilsdestruktion und rationale Selbsterkenntnis in den 315 316 317

[Anonym:] Bemerkungen, S. 67. Vgl. ebd., S. 58, 72. Christoph Martin Wieland: Zusatz des Herausgebers [zu: Ludwig Heinrich von Jakob: An Herrn Sr., Verfasser des Schreibens über das Recht des Stärkern], in: Der Teutsche Merkur 1787. T. 1, 259–262. Vgl. ausführlicher: Jaumann: Politische Vernunft, S. 470ff. 318 [Anonym:] Bemerkungen, S. 73. 319 Gegen das ideale Zusammenfallen von Willen und Pflicht im rationalen Überlegen, das bei Kant die Grundlage für den kategorischen Imperativ bildet, ist anthropologisch das faktische Bestehen von unreflektierten, affektiven Vorurteilen einzuwenden – eine Problematik, die die Vorurteilstheorie schon erkannt hatte. Dem entspricht die Verortung des Imperativs in der Metaphysik der Sitten: „Also unterscheiden sich die moralischen Gesetze, samt ihren Prinzipien, unter allem praktischen Erkenntnisse von allem übrigen, darin irgend etwas Empirisches ist, nicht allein wesentlich, sondern alle Moralphilosophie beruht gänzlich auf ihrem reinen Teil, und, auf den Menschen angewandt, entlehnt sie nicht das mindeste von der Kenntnis desselben (Anthropologie), sondern gibt ihm, als vernünftigem Wesen, Gesetze a priori, [...].“ Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Riga 1785, unpag. S. 5r. Diese für die Formulierung des kategorischen Imperativs notwendige Differenzierung (vgl. ebd., S. 17) wird hier mißachtet. Moral von der physischen wie von der psychischen Anthropologie zu separieren, ist zeitgenössisch nach Kant durchaus gängig: vgl. Bardili: Fragen, S. 68.

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Mittelpunkt stellt, mit der Vermittlung von Perfektibilität und gesellschaftlicher Verantwortung. Dabei bleibt die Verantwortung des einzelnen allerdings auch nicht – dieser Widerspruch wird nicht aufgelöst – auf den eigenen Bereich beschränkt, denn der Vernunftoptimismus der Möglichkeit zur Vorurteilskritik bezieht sich nur partiell auf die breite Masse des Volkes: Da dieses eine Art von „moralischem Kinde“ darstelle,320 müsse es geführt werden. In dieser Form der Instrumentalisierung des Vorurteilsdiskurses wird die Frage nach der Normativität des Maßstabs für den Vorurteilsdiskurs nicht mehr gestellt. Eindeutige Antworten scheinen angesichts der virulent instabilen Situation unvermeidlich. 6.3.3 Die Verbindung von Aufklärungs- und Vorurteilsdiskurs Die Fortsetzung von Wielands Gespräch über die Vorurtheile kann indes auf diese Einwände noch nicht reagieren.321 Wieland gibt schon zu dem Zeitpunkt, als die erste Fassung in seiner Zeitschrift gedruckt wird, an, er intendiere eine Fortsetzung oder „Vollendung“ dieses Gesprächs.322 Während im Merkur-Abdruck vorurteilsrehabilitierende Argumente im Vordergrund stehen, wird im zweiten Teil verstärkt eine aufklärerische Vorurteilskritik proklamiert. Dies zeigt indes nicht an, daß Wieland seine eigenen Positionen zum Problem änderte, sondern es erweitert lediglich die Basis der initiierten rezeptionsbezogenen Reflexionsprozesse. Denn Leser der Merkur-Fassung sehen ihr Urteil aufs Neue in Frage gestellt, zu dem sie doch explizit aufgefordert worden waren. Neuleser aber sehen sich mit einem größeren Reservoir erzähltechnischer Verunsicherungsstrategien konfrontiert. Das Prinzip der metakritischen Selbstaufklärung fundiert die erzähltechnisch umgesetzte modale Perspektive Wielands und führt so über motivische und handlungsbezogene Aspekte hinaus.323

320 321

Vgl. [Anonym:] Bemerkungen, S. 66. Das genaue Erscheinungsdatum der Bemerkungen konnte nicht ermittelt werden. Da Wieland aber bereits im Oktober 1798 an Göschen meldet, das Manuskript zu Bd. 31 enthalte auch die Fortsetzung des ersten Gesprächs, kann wohl ausgeschlossen werden, daß Wielands Fortsetzung und die anonyme Kritik aufeinander reagierten. Vgl. Wieland an Göschen am 21.10.98, in: Wielands Briefwechsel. Bd. 14,1. Bearb. Angela Goldlack. Berlin 2000, Briefnr. 357, S. 372. Wielands Verhältnis zu Kant-Schülern ist eher getrübt: „Wieland erklärte sich aufs neue sehr stark gegen die Epidemie der Kantischen Philosophie. Alle gute Köpfe müßten en masse gegen ein Unwesen aufstehen, das alle Humanität und Philologie umzustürzen drohe. Ein Fürst solle die Barmherzigkeit haben, für die transcendentalen Herren ein Tollhaus anzulegen. Kant’s eigene Schriften würden als Denkmäler des subtilsten menschlichen Scharfsinnes bestehen, aber seiner Jünger Schriften würden wie Spreu zerstieben.“ (C. W. Böttiger (Red.): Christoph Martin Wieland nach seiner Freunde und seinen eigenen Äußerungen, in: Historisches Taschenbuch. Hg. Friedrich Raumer. 10 (1839), 359–464, hier S. 430, vom 10.11.1794. 322 Vgl. Wieland an K. A. Böttiger am 9.2.1798, in: Wielands Briefwechsel. Bd. 14,1, Briefnr. 174, S. 181 und Wieland an G. J. Göschen am 21.10.1798, ebd., Briefnr. 357, S. 372. 323 Vgl. Erhart: Entzweiung, S. 18f., Jaumann: Politische Vernunft, S. 473f., Müller: Wielands politische Romane, S. 195f.

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Kernpunkt des zweiten Teiles ist der Disput über ein gemeinsames Verständnis von Aufklärung. Geron gesteht zwar zu, man lebe „am Ende des aufgeklärtesten Jahrhunderts, das je gewesen ist“,324 versteht aber „wahre“ Aufklärung als evolutiven, stufenweisen Fortschritt. Metaphorisch spricht er von der „Pechfackel“, bei deren ungeschickter Handhabung die Gefahr eines Hausbrandes bestehe. Geron knüpft den Fortschritt der Aufklärung, wie schon im ersten Teil ausführlicher begründet, an eine aufgeklärte Regierung.325 Sinibald hingegen hält dies für hypothetisch: „Ja freylich felix respublica, ubi philosophi imperant! Aber zeige mir dieses glückliche Gemeinwesen.“326 Implizit auf die Wahr-falsch-Dichotomie zurückgreifend, fordert er, die „reine Wahrheit“ unter allen Umständen zu sagen und die Völker selbst hierfür verantwortlich zu machen. Denn die meisten Völker in Europa seien in der „Volljährigkeit“ angekommen.327 Mit diesem Komplementärbegriff zur Kantschen Unmündigkeit verbindet sich das Vertrauen in die Gerechtigkeit der öffentlichen Meinung. Diese wiederum müsse dem Regulativ der Moral unterliegen. Unberechtigte Kraftäußerungen des Volkes müßten „moralisch unmöglich“ gemacht werden.328 Mit der Remoralisierung der Vorurteilskritik verbindet sich nun die theoretische Möglichkeit, Vorurteile zu kritisieren. Als Regulativ vertraut Sinibald auf den „gemeinen Menschenverstand“, der, wie gesehen, affektive und rationale Aspekte umfaßt. Geron jedoch bleibt skeptisch, was dessen Reichweite betrifft. Denn eine wahre politische Sinnesänderung könne durch die Verlagerung der Entscheidungskompetenz auf das aufgeklärte und aufklärende Volk nicht erreicht werden.329 In den konträren Meinungen Sinibalds und Gerons werden ambivalente Einschätzungen der (demokratischen) Regulierungspotenz manifest. Der Disput führt zu keiner eindeutigen Lösung.330 324 325

Wieland: Was verlieren oder gewinnen wir dabey, S. 42. Vgl. ebd., S. 43f. Albrecht weist darauf hin, daß Wieland den Begriff der „wahren“ Aufklärung schon vor der breiten öffentlichen Debatte prägte: vgl. Albrecht: Wielands Vorstellungen, S. 35, Albrecht: Wieland – Priester der Musen, S. 43. 326 Wieland: Was verlieren oder gewinnen wir dabey, S. 45. 327 Ebd., S. 49. 328 Ebd., S. 51. Dies setzt voraus, daß das Volk (im Gegensatz zum „Pöbel“) zu moralisch verantwortlichem Handeln erzogen werden kann. Vgl. John A. McCarthy: Publizistik, in: Sven-Aage Jørgensen u.a.: Christoph Martin Wieland. Epoche – Werk – Wirkung. München 1994, 159– 184, hier S. 179. 329 Vgl. Wieland: Was verlieren oder gewinnen wir dabey, S. 53. 330 Versuche der Forschung, aus literarischen Texten Wielands eigene Positionen zu eruieren, stehen unter dem Vorbehalt der spezifischen Funktion der jeweiligen Erzählform. Wieland könnte geradezu paradigmatisch für die methodisch notwendige Differenzierung verschiedener Autorund Erzählerrollen stehen. Werden Zitate aus fiktionalen Texten angeführt, um Wielands Positionen zu belegen, kann das methodisch fraglich sein: vgl. etwa Jacobs: Fehlrezeption, S. 276. Herde weist zu Agathon nach, daß „Wahrheit“ insofern jenseits der Überzeugungen der handelnden Figuren liegt, als alle Positionen widersprüchlich sind. Sie führt dies allerdings auf Platons dialogische Methode zurück und nicht auf Möglichkeiten der Literatur. Vgl. Herde: Jenseits der Moralsysteme, S. 10f. Albrecht weist zurecht auf eine zweite Gefahr hin: Verabsolutiert man einzelne Darlegungen, indem man Aspekte herausgreift, könnten übergreifende Zusammenhänge verlorengehen. Vgl. Albrecht: Wieland – Priester der Musen, S. 30.

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Sinibald bleibt für den Fortschritt der Aufklärung optimistisch: „Wenn wir die Zeit der Vorurtheile auch zurück wünschen wollten, – es wäre vergebens; sie wird nicht wiederkommen, sie kann nicht wiederkommen. Selbst eine allgemeine Verschwörung aller Machthaber auf Erden könnte sie nicht wiederbringen.“331 Als Ideal des Vorurteils- wie des Aufklärungsdiskurses wird der Versuch proklamiert, die politischen Aspekte des Diskurses nicht mehr auf eine obrigkeitsstaatliche Anordnung zu gründen. Da sich die Politisierung der beiden eng verknüpften Diskursbereiche als unumgänglich erwiesen hatte, müssen Versuche, diese zu entpolitisieren, scheitern. Angestrebt ist vielmehr eine Neuformulierung gerade der politischen Formationsregeln, indem sie eng mit moralischen Argumenten verknüpft und einem neuen politischen Akteur überantwortet werden. Damit allerdings wird in den Vorurteilsdiskurs wieder eine normative Regulierung eingeführt, die den individuellen Reflexionsprozeß der Selbstaufklärung im Nachdenken über die politische Organisation von Vorurteilskritik als Aufklärungsprogreß nicht nur obsolet, sondern sogar unmöglich macht. Wieland hätte, bräche das Gespräch hier ab, die literarisierte Form des Vorurteilsdiskurses, die auf individuelle Urteilsbildung vertraut, aus einem neu formierten Nachdenken über Vorurteile ausgeschlossen. Doch bleibt dies nicht die letzte Antwort. Geron fragt, anscheinend von politischen Argumenten Sinibalds überzeugt: „Meine Apologie der Vorurtheile könnte also wohl ungeschrieben bleiben, meinst du?“ Es ist der pragmatische Sinibald, der die Optionen des transformierten Vorurteilsdiskurses wieder in Erinnerung ruft: „Es wäre denn, dass du sie etwa in Mährchen einkleiden wolltest.“332 Diese Zuweisung eines literarischen Gattungsschemas für eine fortgesetzte, mit neuen Mitteln progredierende Vorurteilsdebatte bedeutet keineswegs eine im heutigen metaphorischen Gebrauch inhärente Geringschätzung. Wie Wielands eigene Märchen zeigen, verbindet die Gattung des Kunstmärchens psychologische Innensicht und Adäquation an die reale Welt mit der Orientierung an der rezeptionsästhetischen Erwartung des Spielerischen, der „Liebe zum Wunderbaren“.333 Wenn über Vorurteile nurmehr in „Mährchen“ geredet werden kann, dann behauptet dies eine diskursive Eigenmacht der Fiktion. Dabei wird der Anspruch auf eine spezifische Form der Wahrheit nicht aufgegeben: „Aber allen Mährchen, wie ungereimt sie seyn mögen, liegt immer etwas Wahres zum Grunde“, konstatiert auch Kymon im Agathodämon.334 Auch in anderen Gesprächen unter vier Augen wiederholt sich jene Textstrategie, die aus der politischen Diskussion in den Raum der Kunst verweist: Auch 331

Wieland: Was verlieren oder gewinnen wir dabey, S. 54. Ähnlich argumentiert Sinibald im 9. Gespräch: vgl. Christoph Martin Wieland: Über die öffentliche Meinung, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Bd. 31. Gespräche unter vier Augen. Leipzig 1799, 304–346, hier S. 318. 332 Wieland: Was verlieren oder gewinnen wir dabey, S. 55. 333 Vgl. zum Begriff des „Märchens“ bei Wieland einschlägig: Manfred Grätz: Das Märchen in der deutschen Aufklärung. Vom Feenmärchen zum Volksmärchen. Stuttgart 1988, S. 160ff., hier insbes. S. 169. 334 Christoph Martin Wieland: Agathodämon. In sieben Büchern, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Bd. 32. Leipzig 1799, S. 313.

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das dritte Gespräch unter vier Augen endet damit, daß Kunst (in diesem Fall: Mozarts Zauberflöte) den Disput affektiv befriedet.335 Daß es der vorurteilskritische Sinibald ist, der diese Transformierung des Vorurteilsdiskurses wieder ins Gespräch bringt, deutet darauf hin, daß die Perspektivenübernahme, die Wielands rezeptionsästhetischem Modell zugrundeliegt, auch im Essay nicht bloß gefordert, sondern vollzogen wird: Sinibald versetzt sich in die Perspektive Gerons und demonstriert damit ein Verfahren für den öffentlichen Erkenntnis- und Urteilsprozeß. Zeitlich fast parallel propagiert Wieland ein solches Verfahren in der Charakterisierung des Agathodämon im gleichnamigen Roman – hier allerdings nun in der deskriptiven Sprache einer neutral erzählten Charakter-Beschreibung.336 Wieland verschränkt literarische und essayistische Formen und erzeugt dadurch ein multipolares Rezeptionsangebot. Agathodämon (Apollonius) wird am Ende des dritten Buches als Weiser charakterisiert, der der Welt auf seiner Eremitage entrückt ist. Er stehe über der affektiven Anfälligkeit der Menschen.337 Zu diesem Renommee hat seine Erkenntnismethode entscheidend beigetragen. Denn seine Urteilsbildung beruht nicht auf der unmittelbaren empirischen Wahrnehmung der Relation des Urteilsgrundes zu ihm selbst. Sie geht über diese subjektive Perspektive hinaus, indem er sich „immer, wo es nöthig war, an die Stelle und gleichsam in die Seele der Anderen [denkt]“.338 [Er] sah die Idole ihrer Liebe oder ihres Hasses, ihrer Furcht oder ihrer Hoffnung mit ihren Augen an, und vermied dadurch nicht nur schiefe und unbillige Urtheile über sie, sondern ge-

335

Vgl. Christoph Martin Wieland: Nähere Beleuchtung der angeblichen Vorzüge der repräsentativen Demokratie vor der monarchischen Regierungsform, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Bd. 31. Leipzig 1799, S. 92–124, hier S. 124. Wieland betont (im Unterschied zu Schiller) „Bildung“ stärker als „Erziehung“. Er richtet sein Modell weniger am politisch-sozialen Ziel denn am methodischen Progreß aus. Dabei weicht auch Wielands Bildungskonzept selbst vom teleologischen Entwicklungsgedanken ab und fokussiert stattdessen die Genese eines moralischen Charakters im Sinne aufklärerischer Charakterpsychologie. Wielands ästhetisches metakritisches Modell bildet mithin keine Entwicklungsphase der Menschheitsgeschichte, sondern ein immer notwendiges aufklärerisches Mittel. Vgl. Erhart: Entzweiung, S. 7, Jaumann: Politische Vernunft, S. 476, Thomé: Roman und Naturwissenschaft, S. 179ff. 336 In Agathodämon fällt auf, daß kein auktorialer Erzähler auftritt. Vgl. Horst Thomé: Wielands Romane als Spiegel und Kritik der Aufklärung, in: Sven-Aage Jørgensen u.a.: Christoph Martin Wieland. Epoche – Werk – Wirkung. München 1994, 120–158, hier S. 152. Müller weist nach, daß der Autor in Wielands späten Romanen auf seine zentrale Stellung innerhalb der Romanwelt verzichtet: vgl. Müller: Wielands späte Romane, S. 32. 337 Vgl. Wieland: Agathodämon, S. 179. Erstmals publiziert wurden Teile des Agathodämon im Attischen Museum 1796/1797. Die hier zitierte Passage in: Attisches Museum 1797, H. 3, S. 40f. Wielands Haltung im Vorurteilsdiskurs klärte sich also nicht erst mit der Publikation des Gesprächs, sondern blieb in den wesentlichen Zügen konstant. Vgl. zu Folgen dieser Position des Apollonius für die Erzählhaltung: Müller: Wielands späte Romane, S. 53. 338 Wieland: Agathodämon, S. 179f.

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wann auch desto mehr Gelegenheiten, durch Herablassung zu ihrer Vorstellungsart ihnen sowohl als der guten Sache, die sein Hauptzweck war, nützlich zu werden.339

Dieser Versuch der Introspektion des anderen, der empathischen Perspektivenübernahme, sichert nicht nur ein Mittel zur Vorurteilskritik, das letztlich bei Agathodämon selbst zur Vorurteilsfreiheit führt. Darüber hinaus ist damit die Methode benannt, mit der die Reichweite der Vorurteilskritik und die Legitimität einzelner, erhaltenswerter Vorurteile bestimmt werden kann. Obwohl Agathodämon selbst von allen Vorurteilen frei gewesen sei, so erkannte er doch, – was so manche voreilige Weltverbesserer, zum grössten Schaden derer, denen sie helfen wollten, nicht gesehen haben –, dass es wohlthätige Vorurtheile und schonenswürdige Irrthümer giebt, welche eben darum, weil sie dem morschen Bau der bürgerlichen Verfassungen, und, bey den meisten Menschen, der Humanität selbst zu Stützen dienen, weder eingerissen, noch unbehutsam untergraben werden dürfen, bis das neue Gebäude auf einem festern Grund aufgeführt ist.340

Das modale Verfahren des Vorurteilsdiskurses kann zu individueller Vorurteilsfreiheit führen, es führt aber gleichzeitig auch zu der Erkenntnis, daß Vorurteile und selbst Irrtümer – hier ist ein formaler Vorurteilsbegriff vorausgesetzt, der diese von falschen Urteilen unterscheidet – funktional notwendig sein können. Diese funktionale Notwendigkeit wiederum bezieht sich nicht nur auf die Konstanz der politischen Grundordnung, sofern sie in ihrem Bestand gefährdet ist (Wieland spricht vom „morschen Bau“), sondern auch auf die moralische Kategorie der Humanität. Damit wird der externe Maßstab der politischen Rehabilitierung an eine moralische geknüpft. Aber mehr als das: Rehabilitierung von Vorurteilen kann nur auf methodisch selbstaufklärerischem Handeln des Individuums beruhen. Sie ist gebunden an die individuell bestimmbare Notwendigkeit, die mit der Aussicht auf ein neues „Gebäude auf einem festern Grund“ den Fortschritt der Aufklärung ins Auge faßt.341 Die Transformierung des Vorurteilsdiskurses, die sich in der gattungsspezifischen Ausformung sowohl in Wielands Essay als auch in seinem in etwa zeitgleichen Roman darstellt, ist in der Differenz von Individuum und Gattung verankert, benennt und demonstriert aber gleichzeitig eine Methode der Urteilsbildung, die aufklärerischen Progreß einschließt. Aufklärung und Vorurteilsdiskurs sind elementar verbunden, jedoch in einer modalen Weise, die weder Vor-

339

Ebd., S. 180. Die „Idole“ Bacons können eher als falsche Begriffe bestimmt werden. Demnach schließt die partielle Rehabilitierung von Vorurteilen auch „Täuschung“ mit ein. Vgl. Shookman: Noble Lies, S. 155, Michael Voges: Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts. Tübingen 1987, S. 452f. 340 Wieland: Agathodämon, S. 180. 341 Vgl. ebd. Albrecht sieht im didaktischen Modell eine sittlich-ästhetische Erziehung verwirklicht: vgl. Albrecht: Wielands Vorstellungen, S. 48f. Fortschritt und Humanität ließen sich jedoch nur durch einen dem Prozeß der Natur analogen, evolutionären Entwicklungsprozeß verbürgen. Vgl. ebd., S. 53f.

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urteilskritik um jeden Preis zum Kennzeichen der Aufklärung macht noch sich im Selbstzweck ironischen Spiels verliert, sondern die den individuell differenzierten Umgang mit dem Vorurteilsdiskurs selbstaufklärerisch und metareflexiv jeweils neu zu justieren sucht. Auch der Erzählfortschritt des Gesprächs läuft nicht auf eine Pointe in Form einer inhaltlichen Lösung zu, sondern erfordert die methodenbewußte Eigenaktivität des Lesers.342 Daß indes ein solches transformierendes Modell der Gefahr unterliegt, als beliebig diskreditierbar instrumentalisiert zu werden, und daß es sich mithin im Zeichen der Eindeutigkeit und (politischen) Parteinahme als zu anspruchsvoll erwies, macht gerade die Schlußpassage des Gesprächs über die Vorurtheile deutlich, in der das „Mährchen“ der Vorurteilsapologie von der politischen Realität gesondert wird.343 Damit wird eine Aufteilung des Vorurteilsdiskurses selbst supponiert, die es in der retrospektiven Analyse der Situation am Ende des 18. Jahrhunderts kaum mehr erlaubt, von einem Vorurteilsdiskurs zu reden: Denn die literarischen Formen der Anregung zur methodischen Selbstreflexion haben für die aufklärerische Praxis, die sich zusehends als politische versteht, keine unmittelbare Relevanz mehr. Literatur sieht sich (in ihrem aufklärerischen Vertrauen auf die Selbstaufklärung) ihrer unmittelbaren Wirksamkeit beraubt. Narrative Formen der Wahrheit, wie sie in der Diskussion über Vorurteile und Urteilsbildung entstanden und wie sie auch in anderen Diskursen partiell zur Anwendung kamen – erinnert sei nur an die narrative Lösung der Toleranzfrage in Lessings Nathan der Weise344 – verlieren an Legitimation mit der Überzeugung, daß die Reichweite literarisierten Nachdenkens über Erkenntnisprozesse limitiert ist. Die Reichweite von Wielands eigenem Modell der Verfahrenskritik, das sich gegen antidogmatische Wahrheitsbehauptungen wendet, wird durch die Trennung der Diskursbereiche wahren philosophischen und literarischen Sprechens in Frage gestellt.345 Wieland bietet in den literarischen Formen keineswegs „bloßes Räsonnement“, auch keineswegs bloß eine Aufforderung, sondern vielmehr eine Anleitung zur selbstreflexiven, modalen Urteilsbildung für den Rezipienten. Diese beruht auf den anthropologiebasierten Verfahren der Empirisierung und Naturalisierung, so daß sie – das wird zum Einfallstor diskursiver Regulierungsversuche – 342

Reemtsma faßt Wielands Programm als politischer Schriftsteller verkürzend in die Formel des „denken zu lehren“: vgl. Jan Philipp Reemtsma: Der politische Schriftsteller Christoph Martin Wieland, in: ders. / Hans Radspieler / Johanna Radspieler (Hg.): Christoph Martin Wieland. Politische Schriften, insbesondere zur Französischen Revolution. Bd. 1. Nördlingen 1988, XII– LXXV, hier S. XXII. 343 Daß die Offenheit des Rezeptionsprozesses zu nicht gewünschten Resultaten führen könnte (vgl. Jaumann: Politische Vernunft, S. 464, 475), ist hiervon unabhängig. 344 Vgl. im Zusammenhang mit der französischen Diskussion Schlüter: Toleranzdebatte, S. 186ff. 345 Vgl. zu Wielands Antidogmatismus Jaumann: Politische Vernunft, S. 472. Albrechts Resümee der Gespräche unter vier Augen, bloßes Räsonnement reiche für Wieland nicht mehr aus, vielmehr sei eine Veränderung der politischen Praxis notwendig, kann für das erste Gespräch kaum geltend gemacht werden, denn dies schriebe die Dysfunktionalität des aufklärerischen Vorurteilsdiskurses vorschnell fest. Vgl. Albrecht: Wielands Vorstellungen, S. 50.

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letztlich solch hochgradige Zeichen von Offenheit trägt, daß sie in vielerlei Hinsicht und aus vielen Perspektiven intrikat wird. Dennoch sucht Wieland sie zu retten: indem er dem Vorurteilsdiskurs eine eigenständige Option zuweist, die die Autonomie des Literarischen befördert und der Literatur schlechthin – selbst in der vermeintlich minoren Form des Märchens – selbstaufklärerische Funktionen zuweist, die die Philosophie, aber auch die Politik der Aufklärung nicht mehr übernehmen konnte oder wollte. Wenn nach der Jahrhundertwende die Frage der Vorurteile thematisiert wird, schreibt sich die Trennung des instrumentalisierten und des transformierten Vorurteilsdiskurses insofern weiter, als aufgrund der Wiedereinsetzung philosophischer Wahrheits- und politischer Angemessenheitspostulate „Vorurteil“ definitorisch auf den eindeutigen, material-falschen Begriff festgelegt scheint. Nähme man an, daß dieser die Position der Aufklärung schlechthin repräsentiere, daß ein Text wie der knappe Essay Vorurtheil, Irrthum, Wahn in seinem definitorischen Duktus die Vorurteilsdebatte der Aufklärung resümiere, so verstetigte man die restriktive Delegitimierung des literarischen Diskurses als komplexe Urteilsanleitung.346 Wenn im Essay Eindeutigkeit und Einheitlichkeit behauptet werden, so ist dies eine nachträgliche, simplifizierende Beschönigung eines Prozesses, der Aspekte der Modernität zugunsten akademischer und obrigkeitlicher Reglementierungen zurückdrängte: Man ist längst über die Schädlichkeit der Vorurtheile einig, sucht ihr Ansehen und ihren Einfluß auf den Menschen so viel möglich zu schmälern, und dennoch gibt es so viele, die aus einer falschen Ansicht der Sache manche Vorurtheile für unschädlich, manche sogar für heilsam erklären.347

Diese lägen, so der anonyme Autor, falsch: Denn die Aufhellung der Begriffe unter allen Umständen sei Pflicht des Menschen. Hier kehrt Sinibalds entschlossene Vorurteilskritik wieder, doch sind die als Gegenpol bei Wieland formulierte Möglichkeit der Literatur und die funktionale literarische Form selbst nun verlorengegangen: Vorurtheil bedeutet eigentlich ein Urtheil, das man gefällt hat, ehe man tief genug in den Gegenstand, über den man urtheilen will, eingedrungen ist, um aus Ueberzeugung sprechen zu können. Subjectiv genommen ist es also eigentlich kein Urtheil, und objectiv ist es ein falsches; [...].348

Vorurteilskritik erscheint hier notwendig, ungeachtet etwaiger positiver Funktionen der Vorurteile selbst und auch ungeachtet der etwaigen Schädlichkeit der Kritik. Der Vorurteilsdiskurs gilt nun als unabhängig vom erkenntnispraktischen Diskurs,

346

[Anonym:] Vorurtheil, Irrthum, Wahn, in: Aurora, eine Zeitschrift aus dem südlichen Deutschland 1805, 219–220. 347 Ebd., S. 219f. 348 Ebd., S. 220.

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indem ein eindeutiger, material-falscher Vorurteilsbegriff restituiert wird.349 Wie gnoseologischer Probabilismus wird auch die literarische Form der Selbstreflexion für den nach-aufklärerischen, vorurteilskritischen Diskurs unerheblich. Aufklärung wird, auf diese Weise verkürzt, zu einem Produkt der Philosophie.

349

In ähnlicher Weise werden Irrtümer oder Mythen als historische, physische, religiöse und Vorurteile der Sinne bestimmt: vgl. J.: Das Reich der Vorurtheile, in: Minerva 1 (1801), 544– 548.

424

7

Vorurteil, Aufklärung und Norm – ein Prospekt

Die historisch-systematische Analyse des Vorurteilsdiskurses der deutschsprachigen Hoch- und Spätaufklärung zeigt, daß es eine semantische und eine instrumentalisierende Verkürzung wäre, wenn man das „Vorurteil“ lediglich als Objekt der Aufklärung, als einen der von dieser kritisierten Angriffspunkte, identifizierte. Der Vorurteilsdiskurs wird zum entscheidenden Modus aufklärerischer Selbstbefragung. Er umfaßt nicht nur die definitorisch-klassifikatorischen Fragen, was Vorurteile seien und welche Typen von Vorurteilen es gebe, sondern auch die gnoseologischen Fragen, wie sie zu erkennen und vor allem wie mit ihnen umzugehen sei. Der Blick auf die Vielfalt von Genres und Gattungen, die im 18. Jahrhundert das Vorurteilsproblem thematisieren, erschüttert philosophiehistorische Vorurteile. Viele Texte des 18. Jahrhunderts intendieren keine Klärung des Begriffs und keine Typologie von Vorurteilen, obwohl sie sich mit ihrer Bedeutung, mit ihrer Destruktion, mit ihren Vorteilen und Funktionen sowie mit ihrer Reichweite und ihren Grenzen befassen. Zur Formationsregel des Diskurses wird so zum einen eine modale Perspektive, die die Frage der Vorurteile mit der Frage der Urteilsbildung verbindet. Zum anderen ermöglicht die Vorurteilsdebatte eine reflexive Rückwendung nicht allein auf das urteilende Subjekt und dessen Erkenntnisprämissen, sondern auf eben diesen Prozeß des Umgangs mit den Vorurteilen. Eine solche Prozessualität als Element aufklärerischer Selbstreflexion setzt voraus, daß der Vorurteilsdiskurs die Ebene philosophisch-logischer Argumente verläßt. Dies geschieht auf dreifache Weise: Auf der Ebene der Begriffsdefinition entledigt er sich logischer Formationsregeln, indem im formalen Vorurteilsbegriff die (heutigem Verständnis wieder unterliegende) Wahr-falsch-Dichotomie aufgehoben wird. Vorurteile sind nicht mehr notwendig falsche Urteile. Auf der Ebene der Diskursformen zieht diese Formalisierung des Begriffs nach sich, daß das Genre der Schulphilosophie seinen Regulationsanspruch nicht mehr länger behaupten kann, sondern durch literarische und paraliterarische Formen zunächst ergänzt, dann abgelöst wird. Auf der Ebene der Vorurteilspraxis bleibt die dichotomische Trennung von theoretischen Debatten und praktischer Umsetzung allerdings weiterhin, wenn auch in anderer Kontrastierung, wirksam: Die Volksaufklärung nimmt keinen wesentlichen Anteil an der Entwicklung neuer reflexiver Methoden. Zutreffend charakterisiert Dorschel die Begriffsgeschichte des Vorurteils seit dem späten 17. Jahrhundert als „Geschichte von Versuchen, ihm (dem Begriff des 425

Vorurteils, R. G.) eine Wertung einzuschreiben“.1 Doch auch in der Verwendungsgeschichte des Vorurteils, die vorliegende Arbeit schreibt, zeigt sich die Normativität des Diskurses als dessen prekärstes Merkmal. Im Zentrum der Analyse standen hier Verwendungsformen des „Vorurteils“, die die modale Frage nach den methodischen Möglichkeiten der Problemperzeption und (teils tentativer) -lösung betreffen. Als katalytisch für den Prozeß der Ausdifferenzierung des Vorurteilsdiskurses erweisen sich die Argumentationsfiguren der anthropologischen Wende. Diese befördern nicht nur die Einsicht in die Komplexität der Faktoren, die Urteilsbildung und Verarbeitung von Vorurteilen erschweren, sondern auch die Einsicht in einen anthropologiebasierten Probabilismus, der grundlegende gnoseologische Relevanz erhält. Damit wird die normative Sicherheit der Wahrheitsgewinnung zum Problem. In Frage steht nun nicht mehr die Wahrheit oder Falschheit der Vorurteile, sondern die Verläßlichkeit und Wahrheit von Erkenntnismodellen, die zum Umgang mit dem „Vorurteil“ entwickelt werden. Ins Zentrum rückt das Problem der normativen Befestigung des Vorurteilsdiskurses. Jenes diskursive Problem, das sich im idealtypischen Gegensatz von normativer Vorurteilskritik und normenfreierer Selbstaufklärung manifestiert, generieren und befördern die Argumentationsfiguren der anthropologischen Wende. Denn aus der in ihnen manifesten Polyvalenz von Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozessen resultiert eine normative Verunsicherung, die dem Vorurteilsdiskurs neue Möglichkeiten, aber auch neue Risiken einschreibt. Die Anthropologisierung des Vorurteilsdiskurses ist ein sukzessiver Prozeß, der in der Chronologie auch Elemente der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aufweist. Ich unterscheide vier Entwicklungstypen des deutschen literarischen und popularphilosophischen Vorurteilsdiskurses. 1. Kritische Verwendungsformen des Vorurteils nehmen die Anthropologiebasierung nur partiell als diskursive Formationsregel an. Sie fokussieren das Problem der möglichen Entnormierung des Vorurteilsdiskurses durch den Verlust logischer Definitionskriterien, suchen dies aber meist mit rationaler Präferenz zu lösen. Der anthropologische Interdiskurs trägt inhaltliche Einwände bei, die die Kritik der Vorurteile erschweren, aber er reguliert noch nicht die entwickelten Diskursverfahren. Didaktisch vorurteilskritische Literatur unterstellt, daß Vorurteilskritik durch eine perfektionierte Anleitung jedem verstandesbegabten Menschen möglich sei. 2. Rehabilitierende Verwendungsformen des Vorurteils verbinden eine verstärkte inhaltliche Präsenz des formalen Begriffs mit einer intensiven Musterung anthropologiebasierter Einschränkungen. Das Normerwartungsproblem verschärft sich. In Reaktion auf diese Konstellation suchen solche Formen, die das Vorurteil zu erhalten oder zu restituieren für notwendig erachten, normzerstörende Aspekte zu schwächen und normtragende zu stärken. Der interdiskursive Zugriff auf das 1

Vgl. Dorschel: Nachdenken über Vorurteile, S. 2.

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anthropologische Potential wird selektiv restringiert. Dem Vorurteilsdiskurs werden neue oder wiederhergestellte Normierungsregeln externer Provenienz zugesellt. Politik und Theologie erhalten im Vorurteilsdiskurs den Status von Formationsregeln (anstelle der verunsichernden Anthropologie). Offenbar stößt der Übergang vom Objektverständnis des Vorurteils zu einem Diskursverständnis des Umgangs mit ihnen an argumentative Grenzen, wenn die Gefahr des Normverlustes sichtbar wird. 3. Transformierende Verwendungsformen zeichnen sich dadurch aus, daß sie anthropologiebasierte Argumentationsfiguren umfassend berücksichtigen. Das virulente Normproblem wird gelöst, indem die erwartete Normativität auf den Methodenentwurf verlagert wird. Der methodisch reflektierte Urteilsprozeß wird selbst zur Norm des Vorurteilsdiskurses. Diese methodische Reflexion aber erfordert eine außerphilosophische Neukonzeption von Erkenntnis- und Wahrnehmungsprozessen. Transformierende Formen des Vorurteilsdiskurses entwerfen eine gnoseologische Metaebene, die den Progreß der Aufklärung methodisch sichert; sie bestimmen die Verbindung von Empirie, Darstellung und Reflexion als Trias der Wissensgewinnung; sie fördern „Gedankenexperimente“, die den Vorgang der selbstaufklärerischen Reflexion erweitern; sie stellen sich nicht zuletzt auch dem Problem des Transfers des erkenntniskritischen Prozesses auf den Rezipienten. Diese Literarisierung des Diskurses verdankt sich der Einsicht, daß die didaktische Vermittlung einer simplen Vorurteilskritik (sei es als Kritik der Objekte oder als bloße Anweisung zu selbständigem Tun) nicht gelingen kann, da die Rezeptionsprozesse der Texte genauso anthropologisch komplex sind wie die Ersterkenntnis. Aporien der begriffsbasierten Formen können im Modus der Literatur gelöst werden. Doch bieten diese Lösungen keine inhaltliche Wahrheit: Transformierungsformen des Vorurteilsdiskurses entwickeln vielfach literarische rezeptionssteuernde Strategien, die den Prozeß des Nachdenkens über Vorurteile initiieren statt ihm bloße Präskriptionen beizugeben. Die Methode wird zur Norm der Aufklärung. 4. Instrumentalisierende Verwendungsformen des Vorurteilsdiskurses reagieren darauf, daß das diskursive Umfeld neue Normerwartungen auch an die Vorurteilsdebatte heranträgt. Die Normativitätsfrage wird als Frage nach der Sicherheit der Erkenntnis, aber auch als Frage nach der Stabilität des politischen Systems virulent. Der politische wie der philosophische Argumentationsraum stellen nun neue Formationsregeln bereit. Der in der Transformierung modal normierte Prozeß des Umgangs mit den Vorurteilen wird nun inhaltlich renormiert, indem seine Objektbereiche limitiert werden und gleichzeitig seine Bindung an die „wahre“ Aufklärung in Frage gestellt wird. Es differenzieren sich analog zur Debatte um die Aufklärung selbst zwei Subdiskurse aus. Der residualisierte, literarisch-transformierte stößt selbstaufklärerische Prozesse mit ungewissem Ausgang an, beschränkt sich aber zusehends auf den literarischen Geltungsbereich. Der logisch-politische macht Vorurteile am Ende des 18. Jahrhunderts wieder zum Objekt der Aufklärung und Vorurteilskritik zu einem Verfahren, das um seine Grenzen weiß. Das Normbe427

dürfnis des Bürgertums erweist sich als Träger dieses Renormierungsprozesses. Es wird zu einem sozialen Machtinstrument, das prekäre Prozesse ausschließt. Die funktionalen Möglichkeiten, die in literarischen und essayistischen Formen entwickelt wurden, verengen sich am Ende des 18. Jahrhunderts wieder zu eindeutigen Lösungen. Das Alleinvertretungsrecht der Aufklärung beanspruchen Diskursteilnehmer, die eine logisch eindeutig erkennbare Wahrheit und eine zu ihr hinführende Kritik der Vorurteile propagieren. Der Wahrheitsanspruch der die Philosophie reinstitutionalisierenden Transzendentalphilosophie und in Verbindung mit ihr die konservativ-normierende Politisierung bewirken eine neue, dauerhafte Verengung des Vorurteilsdiskurses, die den offenen Prozeß der Aufklärung zur technizistisch anmutenden Wahr-falsch-Dichotomie zurückführt. Gegen all die anthropologischen Zumutungen, gegen die Macht der Affekte und der Umstände wird die Sicherheit der Erkenntnis wieder populär – auch gegen skeptische Einwände wie den Georg Wilhelm Friedrich Hegels: Dem Volk seine Vorurtheile nehmen, es aufklären, heißt also [...] seinen Verstand in Rücksicht auf gewisse Gegenstände so ausbilden, daß er einerseits sich von Überzeugung und der Gewalt der Irrtümer wirklich losreißt, teils von den wirklichen Wahrheiten durch Gründe überzeugt ist. Allein fürs erste, welcher Sterbliche will überhaupt entscheiden, was Wahrheit ist?2

Die Aufklärung erfährt eine tiefgreifende Desillusionierung, wenn sie sich ihrer methodischen Relevanz begibt und sich selbst zur didaktischen Wissensvermittlung, zu Aufklärung über die Dinge, zur Befestigung der Herrschaft und zur Gewißheit der Erkenntnis bekennt. Der Vorurteilsdiskurs wird in der Spätaufklärung nurmehr zu einem Instrument der Gruppenidentität auch der aufklärerischen Literatur, das seine erkenntnistheoretischen Aspekte ablegt – ablegen muß, weil Erkenntnistheorie wieder zu einem Reservat einer neu wirkmächtigen Philosophie wird. Eine solch reduzierte Aufklärung wird zum kaum noch widerständigen Opponenten klassischer und romantischer Literatur, die die Erkenntnis- und Rezeptionssteuerungsmodelle der Hoch- und Spätaufklärung ästhetisch überbietet und neu auflädt, die aber gleichzeitig auch die selbst literarische Verengung der letzten Phase der Aufklärung kritisiert. Dieses verengte und instrumentalisierte Vorurteilskonzept wurde (und wird noch) in der philosophiedominierten Rezeption als Vorurteilsbegriff der Aufklärung wahrgenommen. „Vorurteil“ wird nach der Jahrhundertwende um den Preis des Verlustes des im Diskurs generierten multipolaren Erkenntnismodells zu einem sozial distinktiven und logisch lösbaren Problem. Als lösbare Aufgabe kehrt die Vorurteilsdiskussion im 19. Jahrhundert in die philosophische Logik zurück, ohne als Modus oder als Objekt einen distinktiven

2

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Fragmente über Volksreligion und Christentum, in: ders: Werke in 20 Bänden. Hg. Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel. Bd. 1. Frühe Schriften. Frankfurt/M. 1986, S. 9–103, hier S. 22f.

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Status zu erhalten.3 Wenn Nietzsche sich gegen die Vorurteile der Philosophen wendet, so sucht er auch den Vorurteilsdiskurs durch Skeptizismus und Sprachkritik neu zu gründen. Horkheimer und Adorno erkennen die restringierenden Aspekte eines instrumentalisierten Modells der Aufklärung. Vorurteilskritik erschiene als Auflage technizistisch vereinseitigter Philosophie. Die relativistischen Aspekte der anthropologischen Wende führen indes innerhalb des Vorurteilsdiskurses nicht zu einer Subjektivierung und Instrumentalisierung der Vernunft selbst im Sinne Horkheimers, sondern im Gegenteil zu einer modalen Normierung, die – Kriterium für eine objektive Vernunft – die Zwecke des Vorurteilsdiskurses im Blick behält.4 Aufklärung war im 18. Jahrhundert, zumindest in den Transformierungsformen des Diskurses, auch ein selbstreflexiv befragtes Ziel, das sich instrumentalisierender Vereinnahmung durch seine modalen Möglichkeiten widersetzte. Sozialpsychologie und Soziologie des 20. Jahrhunderts verengen den Begriffshorizont des Vorurteils. Im Gefolge Gordon W. Allports gilt Vorurteil als sozial diskriminierender Affekt, der auf falschen Generalisierungen beruht. Soziopsychologische Forschung setzt die negative Kategorie des Vorurteils gegen die positive der Toleranz. Dabei ignoriert sie die gnoseologischen Schwierigkeiten, mit denen sich in anderer Nomenklatur bereits der Vorurteilsdiskurs des 18. Jahrhunderts intensiv auseinandersetzte. Hans-Georg Gadamer versucht mit seiner Rehabilitierung des Vorurteils, dieses in den hermeneutischen Prozeß zu reintegrieren, doch verkennt er dabei die historische Dimension. Die Breite der aufklärerischen Debatte ist dem Philosophen wenig präsent. Spricht man heute von „Vorurteil“, so scheint der Bezug auf die Vorurteilskritik der Aufklärung eindeutig. Doch wird dabei häufig lediglich die restriktive Form der normativen Instrumentalisierung des Diskurses rezipiert, die die selbstaufklärerischen Aspekte, wie sie literarische Formen ausbildeten, vernachlässigt. Die Modernität der Aufklärung könnte eher mit den differenzierten Formen der Selbstaufklärung begründet werden als mit der technizistischen Berichtigung der Begriffe. Propagiert man bloß die Beseitigung von Vorurteilen als Erfolg der Aufklärung und als deren Auftrag für die Gegenwart, so verkürzt man die Epoche gerade um jene selbstreflexive Ebene, die es methodisch auch in der Praxis ermöglicht, kritische Fragen zu stellen, Normen zu überprüfen und selbständig und selbstkritisch Position zu beziehen. Gegen die normierende Einschränkung gerade philosophischer Formationsregeln führt Wilhelm von Humboldt am Ende des 18. Jahrhunderts anthropologische Erkenntnis- und Wahrnehmungsformen an: Dagegen hat der neuer entstandene Hang zu einer philosophirenden Beurtheilung aller Dinge das Ansehn der Meynung geschmälert, häufigere Zweifel erregt, und zugleich den Abscheu vor

3 4

Vgl. Reisinger / Scholz: Vorurteil I, Sp. 1260. Vgl. Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung, Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Hg. Alfred Schmidt. Frankfurt/M. 1985, insbes. S. 18, 22, 30.

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Gegenständen der Billigung vermindert, den heftigen Hass und die leidenschaftliche Liebe seltener gemacht. Sie hat derjenigen Stimmung das Übergewicht verschaft, die alles in ein Object ihrer zergliedernden Betrachtung verwandelt, [...].5

Philosophierender Objektivitätsdrang kann als Normierung verstanden werden, die nicht nur die selbstreflexiven Möglichkeiten, sondern auch die affektiven Ausdrucksformen des ganzen Menschen beschränkt. Es ist die Literatur der Spätaufklärung, die gegen diese Beschränkung anthropologiebasierte Erkenntnismodelle entwickelt, die die Norm der Aufklärung auf deren methodische Möglichkeiten verlagert. Literatur ermöglicht eine reflektierte Selbstaufklärung der Aufklärung.

5

Humboldt: Das 18. Jahrhundert, S. 104.

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Literaturverzeichnis

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Schriften zur Völker- und Länderkunde. Bearb. Horst Fiedler / Klaus-Georg Popp / Annerose Schneider u.a. Berlin 1985, 35–71. – Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit, in: ders.: Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Hg. von der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Zentralinstitut für Literaturgeschichte. Bd. 8. Kleine Schriften zu Philosophie und Zeitgeschichte. Bearb. Siegfried Scheibe. Berlin 21991, 185–193. – Menschen-Racen, in: ders.: Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Hg. von der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Zentralinstitut für Literaturgeschichte. Bd. 8. Kleine Schriften zu Philosophie und Zeitgeschichte. Bearb. Siegfried Scheibe. Berlin 21991, 157. – Noch etwas über die Menschenraßen, in: ders.: Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Hg. von der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Zentralinstitut für Literaturgeschichte. Bd. 8. Kleine Schriften zu Philosophie und Zeitgeschichte. Bearb. Siegfried Scheibe. Berlin 21991, 130–156. – [Rezension von:] Leipzig, b. Göschen: Sammlung merkwürdiger Reisen in das Innere von Afrika. Gesammlet und herausgegeben von Ernst Wilhelm Cuhn, Landgr. Hess. Rath und Bibliothekar. I Th. 392 S. II Th. 444 S. gr. 8. 1790, in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Hg. von der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Bd. 11. Rezensionen. Hg. Horst Fiedler. Berlin 21992, 278–280. – [Rezension von:] Rom. Eigentlich zu Paris 1788: Lettres sur l’Italie en 1785. Zwey Bände gr. Octav, jeder von 320 S., in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Hg. von der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Rezensionen. Bd. 11. Hg. Horst Fiedler. Berlin 21992, 160–162. Forster, Johann Reinhold: Beobachtungen während der Cookschen Weltumsegelung. 1772–1775. Gedanken eines deutschen Teilnehmers. Unveränderter Neudr. der 1783 erschienenen „Bemerkungen über Gegenstände der physischen Erdbeschreibung, Naturgeschichte und sittlichen Philosophie auf seiner Reise um die Welt gesammlet“. Mit einer Einf. von Hanno Beck. Stuttgart 1981. Friedrich II.: Examen de l’Essai sur les préjugés. Londres [Berlin] 1770. Fuelleborn, Georg Gustav: Abriss einer Geschichte und Litteratur der Physiognomik, in: Beyträge zur Geschichte der Philosophie. Hg. von dems. 3. Bd. 8. St. Züllichau / Freystadt 1797, 1–190. G. P.: Die nationale Bedeutung Friedrichs des Großen. In. Deutsche Vierteljahrs-Schrift 4,1 (1841), 169–244. Garve, Christian: Ueber die Maxime Rochefaucaults: das bürgerliche Air verliehrt sich zuweilen bey der Armee, niemahls am Hofe, in: ders.: Popularphilosophische Schriften über literarische, ästhetische und gesellschaftliche Gegenstände. Im Faksimiledruck hg. von Kurt Wölfel. Bd. 1. Stuttgart 1974, 559–716. – Ueber die Moden, in: ders.: Popularphilosophische Schriften über literarische, ästhetische und gesellschaftliche Gegenstände. Im Faksimiledruck hg. von Kurt Wölfel. Bd. 1. Stuttgart 1974, 381–558. [Orig.: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben. 1.Th. Breslau 1792, 117–294.] – Ueber die öffentliche Meinung, in: ders.: Popularphilosophische Schriften über literarische, ästhetische und gesellschaftliche Gegenstände. Im Faksimiledruck hg. von Kurt Wölfel. Bd. 2, Stuttgart 1974, 1263–1306. – Ueber die Schwärmerey, in: ders.: Gesammelte Werke. Hg. Kurt Wölfel. Erste Abteilung. Die Aufsatzsammlungen. Bd. III: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Literatur und dem gesellschaftlichen Leben. T. 5. Hildesheim / Zürich / New York 1985, 335– 406. Gebhard, Johann George: Die Frage: Ob, und in wie fern, irgend eine Art von Täuschung, dem großen Haufen der Menschen zuträglich seyn könne? untersucht und beantwortet, in einer Abhandlung; welcher die königl. Akademie der Wissenschaft cc. zu Berlin im May 1780 das Acceßit zuerkannt hat. Berlin / Stralsund 1780. Göchhausen, Ernst Anton August von: Enthüllung des Systems der Weltbürger-Republik. In Briefen aus der Verlassenschaft eines Freymaurers; Wahrscheinlich manchem Leser um zwanzig Jahr zu spät publicirt. Rom [i.e. Leipzig] 1786. – Aufschluß und Vertheidigung der Enthüllung des Systems der Weltbürger-Republik. Nebst einer Bitte an die Leser. Rom [i.e. Leipzig] 1787.

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Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 8.1. Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Hg. Manfred Beetz. München 1990. Greiling, Johann Christoph: Ideen zu einer künftigen Theorie der allgemeinen practischen Aufklärung. Leipzig 1795. Gruber, Johann Gottfried: C. M. Wielands Leben. Neu bearb. von J. G. G. Mit Einschluß vieler noch ungedruckter Briefe Wielands. 3.Th. V./VI. Buch, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. 52. Bd. Neu bearb. von J. G. G. Leipzig 1828. Haller, Albrecht von: Falschheit menschlicher Tugenden. An Herrn Prof. Stähelin, in: ders.: Versuch schweizerischer Gedichte. Bern 31743, 53–66. – Ueber den Ursprung des Übels, in: ders.: Versuch Schweizerischer Gedichte. Göttingen 81753, 136–163. – Elementa physiologiæ corporis humani. Tomus quintus. Sensus externi interni. Lausanne 1763. – Vorrede zum Ersten Theile der allgemeinen Historie der Natur [auch: Vom Nuzen der Hypothesen], in: Albrecht von Haller: Sammlung kleiner Hallerischer Schriften. 1.Th. Bern 21772, 47–77. – Primae lineae physiologiae. In usum praelectionum academicarum nunc quarto conscriptae emendatae et pluribus animadversionibus auctae ab enrico August Wrisberg. Göttingen 1780. – Vom Nutzen der Reisebeschreibungen, in: ders.: Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst. Zur Karakteristik der Philosophie und Religion dieses Mannes. 2.Th. Bern 1787, 133–139. – Grundriß der Physiologie für Vorlesungen. Nach der 4. lateinischen mit den Verbesserungen und Zusätzen des Herrn Prof. Weisberg in Göttingen, vermehrten Ausgabe aufs neue übs., und mit Anm. versehen durch Herrn Hofrath Sömmering in Mainz, mit einigen Anm. begleitet und besorgt von P. F. Meckel. Berlin 1788. Hamann, Johann Georg: Briefwechsel. Hg. Arthur Henkel. Bd. 5. Frankfurt/M. 1965. – [Ankündigung], in: Königsbergsche Gelehrte und Politische Zeitungen. 9. St. 2. März 1764, in: Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke. Hg. Josef Nadler. Bd. 4. Kleine Schriften. 1750– 1788. Wuppertal / Tübingen 1999, 275 (Wien 11952). – Aesthetica in nuce. Eine Rhapsodie in Kabbalistischer Prose, in: ders.: Sämtliche Werke. Hg. Josef Nadler. Bd. 2. Schriften über Philosophie, Philologie, Kritik. 1758–1763. Wuppertal / Tübingen 1999, 195–216 (Wien 11952). – Metakritik über den Purismum der Vernunft, in: ders.: Sämtliche Werke. Hg. Josef Nadler. Bd. 3. Schriften über Sprache, Mysterien, Vernunft. 1772–1788. Wuppertal / Tübingen 1999, 281–289 (Wien11951). – Tagebuch eines Christen, in: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1. Hg. Josef Nadler. Wuppertal / Tübingen 1999 (Wien 11949). Hartley, David: Observations on Man, his Frame, his Duty, and his Expectations. London 1749. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Bd. 3. Mit einem Vorwort von Karl Ludwig Michelet, in: ders.: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bden. Hg. Hermann Glockner. Bd. 19. Stuttgart 1928. – Fragmente über Volksreligion und Christentum, in: ders: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe. Hg. Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel. Bd. 1. Frühe Schriften. Frankfurt/M. 1986, 9–103. Heinse, Wilhelm: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Eine Italiänische Geschichte aus dem sechszehnten Jahrhundert. Lemgo 1787. Helvétius, Claude Adrien: Discurs über den Geist des Menschen. Aus dem Frz. des Herrn Helvetius […] Mit einer Vorrede Joh. Christoph Gottscheds. Leipzig / Liegnitz 1760. Hennings, August: Ueber die Vernunft. Berlin 1778. – Olavides. Hg. und mit einigen Anmerkungen über Duldung und Vorurteile begleitet von A. H. Kopenhagen 1779. – Philosophische Versuche. 2 Theile. Copenhagen 1779. – Antwort auf das Bedenken des Herrn Profeßor der Philosophie L. Smith, in: Sammlung aller Streitschriften, so das Buch Olavides in Dännemark veranlaßt hat. Eine Beylage zum Olavides. Kopenhagen 1780.

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– Beantwortung der im allgemeinen dänischen Litteratur-Journal vom Jahre 1776 [sic]. Seite 466. gegen ihn gerichteten Recension, in: Sammlung aller Streitschriften, so das Buch Olavides in Dännemark veranlaßt hat. Eine Beylage zum Olavides. Kopenhagen 1780, 15–72. – Über die wahren Quellen des Nationalwohlstandes, Freiheit, Volksmenge, Fleiß, im Zusammenhange mit der moralischen Bestimmung der Menschen. Kopenhagen / Leipzig 1785. – Einige Aehnlichkeit der Reformation und der Revolution, in: Schleswigsches ehemals Braunschweigisches Journal. 1792. 2. Bd., 6. St., 173–198. – Denk- und Schreibfreiheit als eine Einleitung zum Schleswigschen Journal, in: Schleswigsches Journal 1793. 1. Bd., 1. St., 4–19. – Bewürkt Aufklärung Revolutionen?, in: Der Genius der Zeit. Ein Journal. Hg. August Hennings 1 (1794). Januar-April 1794, 343–350. - Ein Wort Ueber und Wider Herrn Matthias Claudius, von dem Verfasser der „Bemerkungen“. Altona 1796. – Napoleon, in: Der Genius des neunzehnten Jahrhunderts. Fortsetzung des Genius der Zeit. 6 (1802). September-Dezember 1802, 231–248. – Vorurtheilsfreie Gedanken über Adelsgeist und Aristokratism 1792, Repr. Kronberg/Ts. 1977 (Kleine ökonomische und cameralistische Schriften. 3.Sammlung). – Litterarische Nachricht vom Verfaßer des Olavides. Nachlaß von August Hennings in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky. Bd. 22. Hennings, Justus Christian: Geschichte von den Seelen der Menschen und Thiere. Pragmatisch entworfen. Halle 1774. – Verjährte Vorurtheile in verschiedenen Abhandlungen bestritten. Riga 1778. Herder, Johann Gottfried: Kritische Wälder. Oder Betrachtungen über die Wißenschaft und Kunst des Schönen. Viertes Wäldchen über Riedels Theorie der schönen Künste [1769], in: Herders sämmtliche Werke. Hg. Bernhard Suphan. Bd. 4. Berlin 1878, 1–198. – Das eigene Schicksal, in: Herders sämmtliche Werke. Hg. Bernhard Suphan. Bd. 18. Berlin 1883, 404–420. – Adrastea, in: Herders sämmtliche Werke. Hg. Bernhard Suphan. Bd. 23. Berlin 1885, 17–584. – Bayle, in: Herders sämmtliche Werke. Hg. Bernhard Suphan. Bd. 23. Berlin 1885, 86–91. – Zerstreute Blätter. Vierte Sammlung. 1792, in: Herders sämmtliche Werke. Hg. Bernhard Suphan. Bd. 16. Berlin 1887, 1–128. – Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, in: Herders sämmtliche Werke. Hg. Bernhard Suphan. Bd. 5. Berlin 1891, 475–586. – Denkmahl Johann Winkelmanns, in: Herders sämmtliche Werke. Hg. Bernhard Suphan. Bd. 8. Berlin 1892, 437–483. – Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume, Riga 1778, in: Herders sämmtliche Werke. Hg. Bernhard Suphan. Bd. 8. Berlin 1892, 1–87. – Uebers Erkennen und Empfinden der Menschlichen Seele, in: Herders sämmtliche Werke. Hg. Bernhard Suphan. Bd. 8. Berlin 1892, 236–262. – Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume, Riga (Johann Friedrich Hartknoch) 1778, in: Herders sämmtliche Werke. Hg. Bernhard Suphan. Bd. 8. Berlin 1892, 165–235. – Hume: natürliche Geschichte der Religion, in: Herders sämmtliche Werke. Hg. Bernhard Suphan. Bd. 32. Berlin 1899, 193–197. – [Wie die Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner und nützlicher werden kann], in: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 1. Frühe Schriften. 1764–1772. Hg. Ulrich Gaier. Frankfurt/M. 1985, 101–134. – Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 1. Frühe Schriften. Hg. Ulrich Gaier. Frankfurt/M. 1985, 695–810. – Über die neuere deutsche Literatur. Zwote Sammlung von Fragmenten. Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Literatur betreffend. 1767, in: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 1. Frühe Schriften. 1764–1772. Hg. Ulrich Gaier. Frankfurt/M. 1985, 261–365. – Wie die Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner und nützlicher werden kann, in: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 1. Frühe Schriften. 1764–1772. Hg. Ulrich Gaier. Frankfurt/M. 1985, 101–134.

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– Wie können die Wahrheiten der Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner und nützlicher werden?, in: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 1. Frühe Schriften. Hg. Ulrich Gaier. Frankfurt/M. 1985, 969. – Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 6. Hg. Martin Bollacher. Frankfurt/M. 1989. – Volkslieder. 2. T., in: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 3. Volkslieder, Übertragungen, Dichtungen. Hg. Ulrich Gaier. Frankfurt/M. 1990, 229–428. - Journal meiner Reise im Jahr 1769, in: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 9/2. Journal meiner Reise im Jahr 1769. Pädagogische Schriften. Hg. Rainer Wisbert / Klaus Pradel (Mitarb.). Frankfurt/M. 1997, 9–126. – Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, in: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 8. Schriften zu Literatur und Philosophie. 1792–1800. Hg. Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt/M. 1998, 303–640. – Kalligone, in: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 8. Schriften zu Literatur und Philosophie. 1792–1800. Hg. Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt/M. 1998, 641–964. Herz, Marcus: Ueber die analogische Schlußart, in: Berlinische Monatsschrift 4 (1784), 246–251, hier 250. Hissmann, Michael: Psychologische Versuche. Ein Beytrag zur esoterischen Logik. Hannover / Göttingen 21788. Hoffbauer, Johann Christoph: Art. Anthropologie, in: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge von genannten Schriftstellern bearbeitet und hg. J. S. Ersch / J. G. Gruber. 4.Th. Leipzig 1820, 281–287. Holbach, Paul Henri Thiry d’; Marsais, César Chesnau du: Essai sur les préjugés, ou, De l’influence des opinions sur les moeurs & sur le bonheur des Hommes. Ouvrage contenant l’apologie de la Philosophie. Londres 1770. Hollmann, Samuel C.: Zufällige Gedanken über verschiedene wichtige Materien. 3.Sammlung. Frankfurt / Leipzig 1772. Home, Henry, Lord Kames: Grundsätze der Critik, in drey Theilen. Aus dem Engl übs. [von Johann Nicolaus Meinhard]. 1.Th. Leipzig 1763. Horaz: Briefe, in: ders.: Werke in einem Band. Oden. Säkulargesang. Epoden. Satiren. Briefe. Buch über die Dichtkunst. Aus dem Lat. übs. von Manfred Simon / Wolfgang Ritschel. Berlin / Weimar 1972. Humboldt, Wilhelm von: Plan einer vergleichenden Anthropologie, in: Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften. Bd. I. Akademieausgabe. Berlin 1903, 377–410. – [Das 18. Jahrhundert] (1796/1797), in: Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften. Bd. II. Hg. Albert Leitzmann. Akademieausgabe. Berlin 1904, 1–112. Hume, David: Of Probability, in: ders.: Philosophical Essays concerning Human Understanding. London 1748, 93–97. – Of the Origin of Ideas, in: ders.: Philosophical Essays Concerning Human Understanding. London 1748, 21–29. – Philosophische Versuche über die menschliche Erkenntnis. Als dessen vermischter Schriften Zweyter Theil. Nach der zweyten vermehrten Ausgabe aus dem Engl. übs. und mit Anm. des Hgs. begleitet. Hamburg / Leipzig 1755. – Über die menschliche Natur. Aus dem Engl. nebst kritischen Versuchen zur Beurtheilung dieses Werks von Ludwig Heinrich Jakob. 1. Bd. Ueber den menschlichen Verstand. Halle 1790. – Of Moral Prejudices, in: ders.: Essays. Moral, political, and literary. Vol. II. Hg. T. H. Green / T. H. Grose. New York / London 1889, 371–375. – A treatise of human nature. Hg. Ernest C. Mossner. Harmondsworth 1969. Irwing, Karl Franz von: Erfahrungen und Untersuchungen über den Menschen. 3 Bde. Berlin 1772ff. Iselin, Isaak: Schinznach, dritte Unterredung. Der Mensch in seinen verschiedenen Verhältnissen betrachtet, in: Isaac Iselins vermischte Schriften. Bd. 1. Zürich 1770, 62–94. – Über die Geschichte der Menschheit. Neue mit dem Leben des Verfassers vermehrte Auflage. o. O. 1791.

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Lange, Joachim: Medicina mentis, qua, præmissa medica sapientiæ historia, ostensaque ac rejecta Philomoria, secundum veræ philosophiæ principia, ægræ mentis sanatio, ac sanatæ usus in veri rectique investigatione ac communicatione, in gratiam traditur eorum, qui per solidam eruditionem ad veram sapientiam contendunt. Berlin 1708. Lange, Samuel Gotthold: Leben Georg Friedrich Meiers. Halle 1778. Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Vier Versuche. Leipzig / Winterthur 1775–1778. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Meditationes de cognitione, veritate et ideis, in: ders.: Opuscules metaphysiques. Kleine Schriften zur Metaphysik. Hg. Hans Heinz Holz. Darmstadt 21985, 32– 47. Lequinio, J. M. [Jean-Marie]: Les préjugés détruits, par J. M. Lequinio, Membre de la convention nationale de France, et citoyen du globe. Seconde édition, revue et corrigée par l’auteur. Paris 1793. Lichtenberg, Georg Christoph: Sudelbücher. I, in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 1. Sudelbücher I. Hg. Wolfgang Promies. München 1968. – Sudelbücher. II, in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 2. Sudelbücher II. Hg. Wolfgang Promies. München / Wien 1971. – [Dritte Epistel an Tobias Göbhard] Conrad Photorin an Tobias Göbhard; des letztern Einleitung zu einer mendelssohnischen und Noten zu einer lavaterischen Abhandlung in den stürmischen Monaten des Deutschen Museums betreffend, in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 539–550. – Ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kuperstiche, in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 657–1060. – Bericht von den über die Abhandlung wider die Physiognomen entstandenen Streitigkeiten, in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 563–568. – Briefe aus England. An Heinrich Christian Boie. [3. Brief], in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 347–367. – Dienbare Betrachtungen für junge Gelehrte in Deutschland, hauptsächlich auf Universitäten, in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 508–514. – Fragment von Schwänzen. Ein Beitrag zu den Physiognomischen Fragmenten, in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 533–538. – Orbis pictus. Erste Fortsetzung, in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 395–405. – Timorus, das ist, Verteidigung zweier Israeliten, die durch die Kräftigkeit der Lavaterischen Beweisgründe und der Göttingischen Mettwürste bewogen den wahren Glauben angenommen haben, von Conrad Photorin der Theologie und Belles Lettres Kandidaten, in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 205–236. – Über Physiognomik; wider die Physiognomen. Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis, in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 256–295. – Von den Charakteren in der Geschichte, in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 497–501. – Vorschlag zu einem Orbis pictus für deutsche dramatische Schriftsteller, Romanen-Dichter und Schauspieler. Nebste einigen Beiträgen dazu, von G. C. L., in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 377–394. – Wider Physiognostik. Eine Apologie von G. C. L., in: ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hg. Wolfgang Promies. München 1972, 553–562. – Briefwechsel. Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Hg. Ulrich Joost und Albrecht Schöne. Bd. I. 1765–1779. München 1983. – Schriften und Briefe. Hg. Wolfgang Promies. Kommentar zu Bd. I und Bd. II. München 1992. Lichtwer, Magnus Gottfried: Der Mohr und der Weiße, in: ders.: Vier Bücher Aesopischer Fabeln in gebundener Schreib-Art. Leipzig 1748, 31–32. Locke, John: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Bd. I: Buch I und II. Hamburg 41981. – Über die Regierung (The Second Treatise of Government). Übs. von Dorothee Tidow. Hg. Peter Cornelius Mayer-Tasch. Stuttgart 1983.

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– Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend. Gedruckt zu Schinznach, 1763, in: ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 6,1: Kleinere Schriften. I. Bearb. Alexander Altmann. Mit einem Beitrag von Fritz Bamberger. Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, 18–25. – Psychologische Betrachtungen auf Veranlassung einer von dem Herrn Oberkonsistorialrath Spalding an sich selbst gemachten Erfahrung, in: ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 6,1. Kleinere Schriften. Bearb. Alexander Altmann. Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, 163–180. – Soll man der einreißenden Schwärmerey durch Satyre oder durch äußere Verbindung entgegenarbeiten?, in: ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 6,1. Kleinere Schriften. I. Bearb. Alexander Altmann. Mit einem Beitrag von Fritz Bamberger. Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, 137–141. – Ueber die Frage: was heißt aufklären? in: ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 6,1. Kleinere Schriften. I. Bearb. Alexander Altmann. Mit einem Beitrag von Fritz Bamberger. Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, 113–119. – Ueber die Freiheit, seine Meinung zu sagen, in: ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 6,1: Kleinere Schriften. I. Bearb. Alexander Altmann. Mit einem Beitrag von Fritz Bamberger. Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, 121–124. – Öffentlicher und Privatgebrauch der Vernunft, in: ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 8. Schriften zum Judentum. II. Bearb. von Alexander Altmann. Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, 225–229. Metzger, Johann Daniel: Medizinisch-philosophische Anthropologie für Aerzte und Nichtärzte. Zum Gebrauch akademischer Vorlesungen. Weißenfels / Leipzig 1790. Meusel, Johann Georg: Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller. Bd. XV. Hildesheim 1968 (Leipzig 11816). Möhsen, Johann Karl Wilhelm: Was ist zu thun zur Aufklärung der Mitbürger, in: Ludwig Keller: Die Berliner-Mittwochs-Gesellschaft. Ein Beitrag zur Geschichte der Geistesentwicklung Preussens am Ausgange des 18. Jahrhunderts, in: Monatshefte der Comenius-Gesellschaft 5,3/4 (1896), 74–75. Montaigne, Michel de: De la force de l’imagination, in: ders.: Essais. Donnez sur les plus anciennes & les plus correctes Editions: Augmentez de plusieurs Lettres de l’Auteur, & où les Passages Grecs, Latins & Italiens, sont traduits plus fidellement, & citez plus exactement que dans aucune des précédentes. Avec des Notes; & une Table générale des Matieres plus utile que celles qui avoient paru jusqu’ici. Hg. Pierre Coste. Bd. 1. Londres 41739, 158–183. – Von der Stärke der Einbildungskraft, in: ders.: Versuche, nebst des Verfassers Leben, nach der neuesten Ausgabe des Herrn Peter Coste ins Deutsche übersetzt. 1.Th. Leipzig 1753. – Apologie des Raimond Sebond, in: ders.: Die Essais. Ausgewählt, übertragen und eingeleitet von Arthur Franz. Stuttgart 1984, 205–233. – Über die Erfahrung, in: ders.: Die Essais. Ausgewählt, übertragen und eingeleitet von Arthur Franz. Stuttgart 1984, 359–375. Morhof, Daniel Georg: Polyhistor, in tres tomos, literarium, philosophicum et practicum [...]. Lib. II. Lubecae 1707. Moritz, Karl Philipp: Fortsetzung der Revision der drei ersten Bände dieses Magazins, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde 4 (1786), 2.St., 1–24. Moser, Friedrich Carl von: Beherzigungen. Frankfurt/M. 1761. – Der Herr und der Diener. Geschildert mit patriotischer Freyheit. T.2: Beherzigungen. Frankfurt a.M. / Leipzig 1761. – Beherzigungen. Frankfurt/M. 31762. – Wahre und falsche politische Aufklärung (geschrieben im Jan. 1792), in: Neues Patriotisches Archiv für Deutschland. Hg. Friedrich Carl von Moser. 1. Bd. Mannheim / Leipzig 1792, 527– 536. Münnich, Johann Leberecht: Versuch die aufgegebene Frage zu beantworten: Kann irgend eine Art von Täuschung dem Volke zuträglich seyn? sie bestehe nun darinn, daß man es zu neuen Irrthümern verleitet, oder die alten eingewurzelten fortdauern lässet? welcher bei der königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin das Accessit erhalten [...]. Brandenburg 1781. Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen voran ein physiognomisches Tagebuch. Heftweis herausgegeben. Vier Hefte. Altenburg 1778.

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– Ueber Aufklärung. Was hat der Staat zu erwarten – was die Wissenschaften, wo man sie unterdrückt? – Wie formt sich der Volkscharakter? – und was für Einflüsse hat die Religion, wenn man sie um Jahrhunderte zurückrückt, und an die symbolischen Bücher schmiedet? Ein Wort zur Beherzigung für Regenten, Staatsmänner und Priester. Zweytes Fragment, ein Commentar des Ersten. Berlin 21788. Robertson, William: Geschichte von Amerika. Aus dem Engl. übs. von Johann Friedrich Schiller. 3 Bde. Leipzig 1777ff. Rochefoucauld Liancourt, François Alexandre Frédéric de la: Reise in den Jahren 1795, 1796 und 1797 durch alle an der See belegenen Staaten der Nordamerikanischen Republik; imgleichen durch Ober-Canada und das Land der Irokesen. Bd. 1. Hamburg 1799. Rousseau, Jean-Jacques: Correspondance Générale de J.-J. Rousseau. Hg. Théophile Dufour. Tome Septième. Le Contrat Social et l’Émile (Décembre 1761–juin 1762.). Paris 1927. – Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inégalité. Kritische Ausgabe des integralen Textes. Hg. Heinrich Meier. Paderborn / München / Wien 31993. Schiller, Friedrich: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede, in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 17. Historische Schriften. 1.T. Hg. Karl-Heinz Hahn. Weimar 1970, 359–376. – Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 24. Briefwechsel. Schillers Briefe 17.4.1785– 31.12.1787. Hg. Karl Jürgen Skrodski / Walter Müller-Seidel. Weimar 1989. Schlözer, August Ludwig: Weltgeschichte nach ihren HauptTheilen im Auszug und Zusammenhange. 2 Theile. Göttingen 1785–1793. Schmid, Christian Heinrich: Ueber die Klassifikation und Rangordnung der Wissenschaften, in: Gothaisches Magazin der Künste und Wissenschaften 2 (1777), 231–251. Schönheyder, Johann Christian: Das meinerseits noch Vonnöthene über das Buch Olavides, in: Sammlung aller Streitschriften, so das Buch Olavides in Dännemark veranlaßt hat. Eine Beylage zum Olavides. Kopenhagen 1780, 121–160. Schütz, Friedrich Wilhelm [von]: Apologie, Lessings dramatisches Gedicht: Nathan den Weisen betreffend, nebst einem Anhange über einige Vorurtheile und nöthige Toleranz. Leipzig 1781. – Ueber Wahrheit und Irthum [sic]. Ein notwendiger Nachtrag zu der Schrift: Ueber Aufklärung. Hamburg / Leipzig 1788. – Ein Schreiben aus Hamburg, an die Herausgeber, nebst deren Antwort, in: Niedersächsischer Merkur, sehr vermischten Inhaltes 2 (1792), 182–185. Selle, Christian Gottlieb: Von der analogischen Schlußart, in: Berlinische Monatsschrift 4 (1784), 185–187. – Ueber Natur und Offenbarung, in: Berlinische Monatsschrift 8 (1786), 121–141. Semler, Johann Salomo: Pensées hazardées sur quelques prejuges a l’égard des humanitez. Dediées a sa magnificence Monsieur Baumgarten. Halle 1750. Shaftesbury, Anthony Earl of: Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times. London 1711. Shakespeare, William: The Tragedy of Hamlet, Prince of Denmark, in: ders.: Hamlet. The Arden Edition of the Works of W. Sh. Hg. Harold Jenkins. London / New York 1981. Smith, Lauritz: Aus dem almindelige danske Litteratur-Journal, erstes Quartal v. 1780. S. 113f. Aus dem Dänischen. August Hennings Beantwortung der im allgemeinen dänischen LitteraturJournal v. Jahr 1779 gegen ihn gerichteten Recension. 8. 1780, in: Sammlung aller Streitschriften, so das Buch Olavides in Dännemark veranlaßt hat. Eine Beylage zum Olavides. Kopenhagen 1780, 73–120. – Erläuterung über das was in den Streitigkeiten über das Buch Olavides noch dunkel oder zweydeutig sein möchte, in: Sammlung aller Streitschriften, so das Buch Olavides in Dännemark veranlaßt hat. Eine Beylage zum Olavides. Kopenhagen 1780. Spalding, Johann Joachim: [Betrachtung] über die Bestimmung des Menschen, erstmals o.O. 1748. Sparrmann, Andreas: Andreas Sparrmanns Reise nach dem Vorgebirge der guten Hoffnung, den südlichen Polarländern und um die Welt, hauptsächlich aber in den Ländern der Hottentotten und Kaffern in den Jahren 1772 bis 1776. Aus dem Schwed. frey übs. von Christian Heinrich Groskund. Berlin 1784. Steeb, Johann Gottlieb: Über den Menschen nach den hauptsächlichsten Anlagen in seiner Natur. 3 Bde. Tübingen 1785.

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führet / nicht über anderthalb hundert Jahr alt sey / Als eine Beylage zu dem Tractat Von der Zauberey und Hexen-Processe Denen Liebhabern mitgetheilet. Halle 1712. – Meine zu Leipzig Anno 1689. gehaltene Lectiones de praejudiciis, in: ders.: Vernünfftige und Christliche aber nicht Scheinheilige Thomasische Gedancken und Erinnerungen Uber allerhand Gemischte Philosophische und Juristische Händel. 3.Th. Halle 1725, 625–768. – Introductio ad philosophiam aulicam, seu lineae primae libri de prudentia cogitandi et ratiocinandi, ubi ostenditur media inter praejudicia Cartesianorum, & ineptias peripateticorum, veritatem inveniendi via […]. Addita est Ulrici Huberi, […] oratio de paedantismo. Leipzig 1688, in: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. Werner Schneiders. Bd. 1. Hildesheim / Zürich / New York 1993. – Einleitung zur Hoff-Philosophie, Oder / Kurzter Entwurff und die ersten Linien Von Der Klugheit zu Bedencken und vernünfftig zu schliessen / Worbey die Mittel-Strasse, wie man unter den Vorurtheilen der Cartesianer / und ungereimten Grillen der Peripatetischen Männer / die Warheit erfinden soll / gezeiget wird. Statt eines Anhangs ist noch hinzu gekommen Herrn Ulrich Hubers, Eines berühmten Niederländischen Rechtsgelehrten / gehaltene Rede Von dem Laster der Pedanterey Aus dem Lateinischen ins Teutsche übersetzt von P. D. Berlin / Leipzig 1712, in: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. Werner Schneiders. Bd. 2. Hildesheim / Zürich / New York 1994. – Ausübung der Vernunftlehre, in: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. Werner Schneiders. Bd. 9. Ausübung der Vernunftlehre. Hildesheim / Zürich / New York 1998. – Einleitung zu der Vernunfft-Lehre, in: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. Werner Schneiders. Bd. 8. Hildesheim / Zürich / New York 1998. Tiedemann, Diet[e]rich: Untersuchungen über den Menschen. Anderer Theil. Leipzig 1777. – [Rezension von:] August Hennings, […] Philosophische Versuche, in zween Bänden, Koppenhagen gedruckt mit Godichischen Schriften. 1780 […] , in: Allgemeine deutsche Bibliothek 45 (1781). 2.St., 495–499. – Theätet oder über das menschliche Wissen, ein Beitrag zur Vernunft-Kritik. Frankfurt/M. 1794. Töllner, Johann Gottlieb: Von dem Vorurteile des Altertums und der Neuigkeit einer Erkenntnis, in: ders.: Kurze vermischte Aufsätze. 1. Bd. Frankfurt/O. 1767, 1–20. Tschirnhaus, Ehrenfried Walther von: Medicina mentis sive artis invenienda praecepta generalia. Leipzig 1695. Ulrich, Johann August Heinrich: Erster Umriß einer Anleitung zu den philosophischen Wissenschaften zum Gebrauch der Vorlesungen. 1.Th. Vernunftlehre, Grundwissenschaft und natürliche Theologie. Jena 1772. Unzer, Johann August: Philosophische Betrachtung des menschlichen Körpers überhaupt. Halle 1750. – Neue Lehre von den Gemüthsbewegungen, mit einer Vorrede vom Gelde begleitet von Herrn Johann Gottlob Krügern. Hg. Carsten Zelle. Halle 1995. Urban, Christian Gotthold August: Widerlegung gewisser Vorurtheile welche noch bei Gewittern herrschen: Auch über den Nutzen der Wetterableiter. Eisenach 1791. Usteri, Paulus: Grundlage medicinisch-anthropologischer Vorlesungen für Nichtärzte. Nebst einer raisonnirenden Uebersicht der dahin einschlagenden Literatur. Zürich 1791. Uz, Johann Peter: Versuch über die Kunst stets fröhlich zu seyn. Leipzig 1760. Vergil: Aeneis. Lat.-dt. In Zusammenarbeit mit Maria Götte Hg. / Übs. Johannes Götte. Nachw. Bernhard Kytzler. München / Zürich 81994. Villaume, Peter: Geschichte des Menschen. Dessau / Leipzig 1783. Voltaire: Candide ou l’optimisme. Édition critique par René Pomeau, in: ders.: Les Œuvres completes de Voltaire. The complete works of Voltaire. Bd. 48. Oxford 1980. Wagner, Friedrich: Versuch Einer gründlichen Untersuchung, welches Der wahre Begriff Von der Freyheit des Willens sey? [...]. Berlin 1730. Walch, Johann Georg: Philosophisches Lexicon. Mit einer kurzen kritischen Geschichte der Philosophie von Justus Christian Hennings. Bd. II. Leipzig 17754. Repr. Hildesheim 1968. Wezel, Johann Karl: Lebensgeschichte Tobias Knauts, des Weisen, sonst der Stammler genannt. Aus Familiennachrichten gesammlet. [Hg. Anneliese Klingenberg]. Berlin 1990. – [Rezension von] Sophiens Reise von Memel nach Sachsen. Quisquis erit vitae scribam color. Horat. 2. stark vermehrte Auflage in 6 Theilen. Mit Kupf. Leipzig bey Junius, 1776, in: ders.:

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Gesamtausgabe in acht Bänden. Bd. 7. Versuch über die Kenntniß des Menschen. Rezensionen. Hg. Jutta Heinz. Schriften zur Pädagogik. Hg. Cathrin Blöss. Heidelberg 2001, 285–299. [Erstmals in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. 19. Bd. (1776). 2. St., 269–292.] – Versuch über die Kenntniß des Menschen. 2 Theile, Leipzig 1784, in: ders.: Gesamtausgabe in acht Bänden. Bd. 7. Versuch über die Kenntniß des Menschen. Rezensionen. Hg. Jutta Heinz. Schriften zur Pädagogik. Hg. Cathrin Blöss. Heidelberg 2001. Wieland, Christoph Martin: Erzæhlungen. Heilbronn 1752. – Der Herausgeber an das Teutsche Publicum, in: Der Teutsche Merkur 2 (1773). 1.St., III–XVI. – Ueber das Historische im Agathon, in: ders.: Agathon. 1.Th. [2. Fassung]. Leipzig 1773, 1–34. – Auszüge aus Forsters Reise um die Welt, in: Der Teutsche Merkur. 1778. 4.Vierteljahr, 137– 155. – Auszüge aus Hrn. D. Johann Reinhold Forsters [...] Reise um die Welt, während den Jahren 1772–1775. beschrieben, und ins Teutsche übersezt von dessen Sohn, Hrn. Georg Forster, [...], in: Der Teutsche Merkur. 1778. 3.Vierteljahr, 59–75. – Zusatz des Herausgebers [zu: Ludwig Heinrich von Jakob: An Herrn Sr., Verfasser des Schreibens über das Recht des Stärkern], in: Der Teutsche Merkur 1787. 1.T., 259–262. – Koxkox und Kikequetzel. Eine mexikanische Geschichte. Ein Beytrag zur Naturgeschichte des sittlichen Menschen, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Bd. 14. Beyträge zur Geheimen Geschichte der Menschheit. Leipzig 1795, 3–118. – Nachlass des Diogenes von Sinope. Aus einer alten Handschrift, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Bd. 13. Nachlass des Diogenes von Sinope. Gedanken über eine alte Aufschrift. Leipzig 1795, 31–201. – Göttergespräche, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Bd. 25. Göttergespräche. Gespräche im Elysium. Leipzig 1796, 3–276. – Über den freyen Gebrauch der Vernunft in Glaubenssachen sammt einer Beylage, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Bd. 29. Vermischte Aufsätze. Leipzig 1797, 3–144. – Briefe von Verstorbenen an hinterlassene Freunde (1753), in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Supplemente. Bd. 2. Leipzig 1798, 201–471. – Die Natur der Dinge oder die vollkommenste Welt. Ein Lehrgedicht in sechs Büchern. 1751, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Supplemente. Bd. 1. Leipzig 1798. – Erzählungen, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Supplemente. Bd. 2. Leipzig 1798, 45– 200. – Gespräche unter vier Augen. Erstes Gespräch zwischen Geron und Sinibald. Ueber die Vorurtheile, in: Der neue Teutsche Merkur 1798. 2.St., 105–129. – Moralische Briefe in Versen. 1752, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Supplemente. Bd. 1. Leipzig 1798, 275–428. – Agathodämon. In sieben Büchern, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Bd. 32. Agathodämon. Leipzig 1799. [Teils erstmals in: Attisches Museum 1796/1797.] – Nähere Beleuchtung der angeblichen Vorzüge der repräsentativen Demokratie vor der monarchischen Regierungsform, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Bd. 31. Gespräche unter vier Augen. Leipzig 1799, 92–124. – Über die öffentliche Meinung, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Bd. 31. Gespräche unter vier Augen. Leipzig 1799, 304–346. – Was verlieren oder gewinnen wir dabey, wenn gewisse Vorurtheile unkräftig werden?, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Bd. 31. Gespräche unter vier Augen. Leipzig 1799, 11–55. – Sechs Antworten auf sechs Fragen, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Hg. J. G. Gruber. Bd. 40. C. M. Wielands politische Werke. Bd. 1. Leipzig 1822, 413–424. – Die Natur der Dinge in sechs Büchern, in: Wielands Gesammelte Schriften. Hg. von der Deutschen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Erste Abteilung: Werke. Bd. 1. Poetische Jugendwerke. I. Hg. Fritz Homeyer. Berlin 1909, 5–129. – Zwölf moralische Briefe in Versen, in: Wielands Gesammelte Schriften. Hg. von der Deutschen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1.Abt. Werke. Bd. 1. Poetische Jugendwerke. I. Hg. Fritz Homeyer. Berlin 1909, 223–310. – Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts ‚Der Noah‘, in: Wielands Gesammelte Schriften. Hg. der Deutschen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaf-

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ten. Erste Abteilung: Werke. Bd. 3. Poetische Jugendwerke. III. Hg. Fritz Homeyer. Berlin 1910, 299–518. Geschichte der Abderiten, in: Wielands Gesammelte Schriften. Hg. von der Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1.Abt. Werke. Bd. 10. Abderiten, Stilpon, Danischmend. Hg. Ludwig Pfannmüller. Berlin 1913, 1–299. Geschichte des Weisen Danischmend und der drey Kalender. Ein Anhang zur Geschichte von Scheschian, in: Wielands Gesammelte Schriften. Hg. von der Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1.Abt. Werke. Bd. 10. Abderiten, Stilpon, Danischmend. Hg. Ludwig Pfannmüller. Berlin 1913, 325–511. Antworten und Gegenfragen auf die Zweifel und Anfragen eines vorgeblichen Weltbürgers, in: Wielands Gesammelte Schriften. Hg. von der Deutschen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1.Abteilung: Werke. Bd. 14. Prosaische Schriften I. 1773–1783. Hg. Wilhelm Kurrelmeyer. Berlin 1928, 422–436. Filosofie als Kunst zu leben und Heilkunst der Seele betrachtet, in: Wielands Gesammelte Schriften. Hg. von der Deutschen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1.Abt. Werke. Bd. 14. Prosaische Schriften. I. 1773–1783. Hg. Wilhelm Kurrelmeyer. Berlin 1928, 192–198. Freymüthige Gespräche über einige neueste Weltbegebenheiten. Gehalten im Jahre 1782. Erstes Gespräch, in: Wielands Gesammelte Schriften. Hg. von der Deutschen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1.Abt. Werke. Bd. 14. Prosaische Schriften I. 1773–1783. Hg. Wilhelm Kurrelmeyer. Berlin 1928, 336–362. Was ist Wahrheit?, in: Wielands Gesammelte Schriften. Hg. von der Deutschen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1.Abt. Werke. Bd. 14. Prosaische Schriften. I. 1773–1783. Hg. Wilhelm Kurrelmeyer. Berlin 1928, 186–192. [Erstmals unter dem Sammeltitel: Fragmente von Beyträgen zum Gebrauch derer, die sie brauchen können oder wollen, in: Der Teutsche Merkur 1778. 2.T., 9–30.] Das Geheimniß des Kosmopoliten-Ordens, in: Wielands Gesammelte Schriften. Hg. von der Deutschen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1.Abt. Werke. Bd. 15. Prosaische Schriften II. 1783–1794. Hg. Wilhelm Kurrelmeyer. Berlin 1930, 207–229. Ueber die Rechte und Pflichten der Schriftsteller, in Absicht ihrer Nachrichten und Urtheile über Nazionen, Regierungen, und andere öffentliche Gegenstände, in: Wielands Gesammelte Schriften. Hg. von der Deutschen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1.Abt. Werke. Bd. 15. Prosaische Schriften. II. 1783–1794. Hg. Wilhelm Kurrelmeyer. Berlin 1930, 65–73. Der goldne Spiegel oder die Könige von Scheschian. Eine wahre Geschichte aus dem Scheschianischen übersetzt, in: Wielands Gesammelte Schriften. Hg. von der Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1.Abt. Werke. Bd. 9. Der goldne Spiegel, Singspiele und kleine Dichtungen. 1772–1775. Hg. Wilhelm Kurrelmeyer. Berlin 1931, 1–323. Vorrede des Herausgebers zu: Der deutsche Merkur [Vorrede zum 1.Jahrgang], in: Wielands Gesammelte Schriften. Hg. von der Deutschen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1.Abt. Werke. Bd. 21. Kleine Schriften I. 1773–1777. Hg. Wilhelm Kurrelmeyer. Berlin 1939, 4–11. Der Sieg der Natur über die Schwämerei oder die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva. Eine Geschichte worin alles Wunderbare natürlich zugeht. 2 Teile, in: ders.: Werke. Hg. Fritz Martini / Hans Werner Seiffert. Bd. 1. München 1964. Anmerkungen zu: v. G[oechhausen], Bestimmtere Antwort auf das Sendschreiben im 7ten Stück des Neuen Teutschen Merkurs 1791 über das Buch Meines Vaters Haus-Chronika betitelt, von dem Verfasser dieser Schrift, in: Wielands Gesammelte Schriften. Hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin durch Hans Werner Seiffert. 1.Abt. Werke. Bd. 23. Kleine Schriften. III. 1783–1791. Bearb. William Clark. Berlin 1969, 382–384. [Erstmals in: Neuer Teutscher Merkur 1792. 3. Bd., 41–125] Ein paar Goldkörner aus – Maculatur oder Sechs Antworten auf sechs Fragen, in: Wielands Gesammelte Schriften. Hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin durch Hans Werner Seiffert. 1.Abt. Werke. Bd. 23. Kleine Schriften. III. 1783–1791. Bearb. William Clark. Berlin 1969, 270–275.

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– Geschichte des Agathon. Erste Fassung. Hg. Fritz Martini / Reinhard Döhl (Mitw.). Stuttgart 1996. – Briefwechsel. Hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Siegfried Scheibe. Bd. 1. Briefe der Bildungsjahre (1. Juni 1750–2. Juni 1760). Hg. Hans Werner Seiffert, Berlin 1963; Bd. 3. Briefe der Biberacher Amtsjahre (6. Juni 1760–20. Mai 1769). Bearb. Renate Petermann / Hans Werner Seiffert. Berlin 1975; Bd. 4. Briefe der Erfurter Dozentenjahre (25. Mai 1769–17. September 1772). Bearb. Annerose Schneider / Peter-Volker Springborn. Berlin 1979; Bd. 14 (Juli 1797–Juni 1799). 1.T.: Text, Bearb. Angela Goldack. Berlin 2000; 2.T.: Anmerkungen. Berlin 2002. Zachariä, Friedrich Wilhelm: Tayti, oder die glückliche Insel. Braunschweig 1777. Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste: Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden; Darinnen so wohl die Geographisch-Politische Beschreibung des Erd-Creyses, nach allen Monarchien, Käyserthuemern, [...] samt der natürlichen Abhandlung von dem Reich der Natur, [...] Als auch eine ausführliche Historisch-Genealogische Nachricht von den [...] berühmtesten Geschlechtern in der Welt, [...] Ingleichen von allen Staats- Kriegs- Rechts- Policey und Haußhaltungs-Geschäfften des Adelichen und bürgerlichen Standes, [...] Wie nicht weniger die völlige Vorstellung aller in den Kirchen-Geschichten berühmten Alt-Väter, Propheten, Apostel, Päbste, Cardinäle, [...] Endlich auch ein vollkommener Inbegriff der allergelehrtesten Männer, berühmter Universitäten [...]. Bd. 2. Halle / Leipzig 1732; Bd. 29. Halle / Leipzig 1741; Bd. 50, Halle 1748. Zimmermann, Johann Georg: Von der Erfahrung in der Arzneykunst. I. Th. Zürich 1763. – Ueber einige Einwürfe gegen die Physiognomik, und vorzüglich gegen die von Herrn Lavater behauptete Harmonie zwischen Schönheit und Tugend, in: Deutsches Museum 1 (1778). 3.St., 193–198. – Mit Skalpell und Federkiel. Hg. Andreas Langenbacher. Bern / Stuttgart / Wien 1995. Zobel, Rudolf Wilhelm: Ueber die Vorurtheile, in: ders.: Aufsätze aus der Philosophie und den schönen Wissenschaften. Greifswald 1770, 103–138. – Unser Jahrhundert, in: ders.: Aufsätze aus der Philosophie und den schönen Wissenschaften. Greifswald 1770, 251–270. – Vorrede, in: ders.: Aufsätze aus der Philosophie und den schönen Wissenschaften. Greifswald 1770. Zöllner, Johann Friedrich: Etwas von Vorurtheilen und Aberglauben, in: Berlinische Monatsschrift 1 (1783), 468–475. – Ist es rathsam, das Ehebündniß nicht ferner durch die Religion zu sanciren?, in: Berlinische Monatsschrift 2 (1783), 508–517. – Ueber gelehrte Lügen und Irrthümer, nebst Vorschlägen, die Schädlichkeit derselben zu vermeiden, in: Berlinische Monatsschrift 5 (1785), 248–276.

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Personenregister

In das Register aufgenommen wurden Quellenautoren und historische Personen, aber keine Autorinnen und Autoren von Forschungsliteratur. Abbt, Thomas 22, 58, 149f., 152–164, 183, 185, 188, 194, 368f., 408 Abel, Johann Friedrich 63, 74 Aristoteles 323f. Bacon, Francis 11f., 96, 102, 188, 245f., 248f., 421 Bahrdt, Carl Friedrich 331 Baldinger, Ernst Gottlieb 314f. Barclay, John 63 Bardili, Christoph Gottfried 397f., 416 Basedow, Johann Bernhard 43, 73, 84, 194, 199ff., 209 Batteux, Charles 99 Baumgarten, Alexander Gottlieb 71, 93, 99, 101, 129, 154, 177, 194, 201, 301 Bayle, Pierre 14, 166, 325f., 388 Beattie, James 209 Beccaria, Cesare 150 Bergmann, Torbern 275 Berkeley, George 134, 249 Bernoulli, Jakob 230 Bertuch, Friedrich Justin 37 Biester, Johann Erich 154 Blumenbach, Johann Friedrich 56f., 275 Bob, Franz Joseph 12 Bode, Johann Joachim Christoph 330f. Bodmer, Johann Jakob 61, 120, 172 Boerhaave, Herman 49, 66, 109, 250 Böttiger, Karl August 417 Boie, Christian 316 Bolten, Johann Christian 130 Bonnet, Charles 50, 56, 194, 215 Bougainville, Louis-Antoine de 277 Boureau-Deslandes, André François 61 Brackebusch, Johann Georg L. 380 Bräuner, Johann Jacob 301 Breitinger, Johann Jakob 120, 172

Brockes, Barthold Hinrich 64 Brucker, Jakob 62, 135 Budde, Johann Franz 116 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 52, 55f., 61f., 66, 73f., 78, 83, 86, 194, 261, 269, 275 Callisen, Johann Leonhard 382 Casmann, Otto 42f. Chauvin, Stephanus 12, 44 Chesterfield, Philip Dormer Stanhope Earl of 1 Chiaramonti, Scipione 63 Chladenius, Johann Martin 134, 181, 200, 205, 246ff., 252, 258, 322 Cicero, Marcus Tullius 56, 116, 155 Clauberg, Johann 20 Claudius, Matthias 146, 382 Condillac, Etienne Bonnot de 49, 52f., 55, 75, 109, 168, 204, 211, 215, 220f., 225, 236f., 349, 395 Cook, James 262 Coschwitz, Georg Daniel 206 Crusius, Christian August 84, 114f., 209 Descartes, René 3, 12, 14, 20, 42, 48, 63, 96f., 117, 180, 249 Diderot, Denis 30, 268, 341, 357 Dusch, Johann Jakob 130 Eberhard, Johann August 60, 194, 222, 390–393 Eckartshausen, Karl von 389 Engel, Johann Jakob 52f., 71, 77f., 211, 288, 399–402, 406 Ersch, Johann Samuel 38, 46 Erxleben, Johann Christian Polykarp 89, 314 Ewald, Johann Ludwig 35

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Feder, Johann Georg Heinrich 13, 57, 75, 84, 97, 191–199, 209, 283, 290f., 361 Fellenberg, Daniel von 149f., 152 Ferguson, Adam 209 Fischer, Gottlieb Nathanael 35, 93, 297, 388, 393f. Flögel, Carl Friedrich 74, 101, 320, 337 Fontenelle, Bernard de 134 Forster, Georg 6, 23, 36, 67, 79, 251–283, 391 Forster, Johann Reinhold 270, 275 Friedrich II 15, 62, 163, 359, 362, 396 Friedrich Wilhelm II 389 Fuelleborn, Georg Gustav 298 Galen 66 Garve, Christian 3, 13, 78, 130, 187, 191, 227, 232, 401, 406, 411 Gaßner, Johann Joseph 286 Gebhard, Johann Georg 363 Gedike, Friedrich 398 Göbhard, Tobias 308 Göchhausen, Ernst Anton August von 329–333, 335 Göschen, Georg Joachim 329, 417 Goethe, Johann Wolfgang von 381, 413 Gottsched, Johann Christoph 14, 61, 172, 287, 325 Greiling, Johann Christoph 37 Gruber, Johann Gottfried 38, 46, 332 Haller, Albrecht von 22, 48f., 61, 66, 74, 181, 214f., 228, 239, 248ff., 252f. Hamann, Johann Georg 22, 150, 241, 244ff. Hardenberg, Friedrich von (Novalis) 313 Hartley, David 49, 124, 287 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 3, 267, 428 Heinse, Wilhelm 334 Helvétius, Claude Adrien 61, 194, 198 Hennings, August 36, 79, 364–383, 388f. Hennings, Justus Christian 88, 139, 143, 145

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Herder, Johann Gottfried 12ff., 22f., 44, 50, 52ff., 63, 66, 72ff., 81, 85, 150, 203f., 214–246, 255, 266f., 317, 364, 367, 369, 385, 391 Herz, Marcus 83 Heyne, Christian Gottlob 257, 261 Hissmann, Michael 61, 82 Hobbes, Thomas 368 Hodges, William 278 Hoffbauer, Johann Christoph 46 Hoffmann, Friedrich 209, 228 Holbach, Paul Henri Thiry d’ 7, 15 Hollmann, Samuel C. 17, 115f. Home, Henry Lord of Kames 74, 177, 194, 209, 287 Homer 172 Horaz 265, 347 Huarte, Juan 228 Huét, Pierre Daniel 343 Humboldt, Wilhelm von 1, 55f., 429f. Hume, David 61f., 75, 84, 168, 177, 204, 211, 230, 233, 235, 245, 254, 265, 290, 395 Hunter, John 275 Irwing, Karl Franz von 57, 363 Iselin, Isaak 46, 57, 150ff., 161, 209, 217, 222, 224, 233, 243, 275, 279 Ith, Johann 57, 59 Jacobi, Friedrich Heinrich 255, 415 Jakob, Ludwig Heinrich von 416 Jean Paul (Jean Paul Friedrich Richter) 411 Jenisch, Daniel 388 Jöcher, Christian Gottlob 378 Johnson, Samuel 267 Joseph II 389 Kant, Immanuel 2f., 7, 9, 14–19, 21f., 34– 37, 41, 43f., 47, 67f., 73, 80, 82, 89, 113, 157, 164, 168, 170, 180, 191, 216, 239f., 244f., 255f., 260, 265ff., 287ff., 291, 299, 301, 336, 365, 367, 388, 391, 394f., 399, 415–418

Kiesewetter, Johann Gottfried Carl 394f. Klein, Ernst Ferdinand 398 Klinger, Friedrich Maximilian von 342 Klopstock, Friedrich Gottlieb 201, 364, 407 Knigge, Adolph Freiherr von 10f., 97, 188, 331, 364 Körner, Christian Gottfried 336 Kraus, Christian Jacob 244 Krüger, Johann Gottlob 44, 49f., 65, 101, 107–111, 129f., 193f., 206, 228, 290 Lamarck, Jean-Baptiste de 55 Lambert, Johann Heinrich 87, 164, 173, 179–183, 189, 191, 230f., 235, 303, 394 La Mettrie, Julien Offray de 48, 61, 388 Lampadius, Wilhelm August 313 Lange, Joachim 130 Lange, Samuel Gotthold 61f., 100f., 103, 105, 137, 139, 152, 166, 177 La Rochefoucauld-Liancourt, François Alexandre Frédéric de 253 Lavater, Johann Caspar 286, 298–310, 316 Leibniz, Gottfried Wilhelm 48, 52, 63, 97, 112, 117, 119, 121, 128, 169, 181, 211, 220, 231f., 246, 300, 301, 368, 388, 391 Lequinio, Jean-Marie 10 Lessing, Gotthold Ephraim 4, 13f., 22, 228f., 385, 408 Lichtenberg, Friedrich Christian 311 Lichtenberg, Georg Christoph 13, 23, 64, 77, 89, 179, 198, 285–299, 301–316, 387, 391, 402 Lichtwer, Magnus Gottfried 346 Linné, Carl von 55, 62, 73, 194, 275 Locke, John 49, 61f., 97, 123, 134, 168, 171, 194, 196, 198, 204, 209, 211, 238, 249, 269, 366, 395 Lukrez, Titus (Carus) 117 Luther, Martin 388 Mably, Gabriel Bonnot de 150 Maimon, Salomon 82 Marmontel, Jean François 379 Marsais, César Chesnau du 7, 15 Mead, Richard 66

Meier, Georg Friedrich 9, 11, 14ff., 18f., 21f., 44f., 61f., 67, 71, 74, 82–85, 93f., 99–106, 117f., 121, 127–131, 133f., 137, 139–142, 152, 154, 156, 164–180, 182–185, 188, 193, 205, 210, 238, 247, 270, 292, 365, 392 Meiners, Christoph 62, 75f., 234, 243, 401 Mendelssohn, Moses 5f., 13f., 19, 22, 35, 48, 58, 79, 150, 152, 185, 200, 207, 229f., 279f., 285, 307f., 310f., 361f., 364f., 368–371, 373–376, 381, 385, 393, 398f., 406, 408, 415 Metzger, Johann Daniel 130 Möhsen, Karl Wilhelm 385, 398f. Molyneux, William 50 Montaigne, Michel de 17, 134, 205 Montesquieu, Charles de Secondat Baron de 55, 57, 140, 144 Morhof, Daniel Georg 135 Moritz, Karl Philipp 58, 89 Moser, Friedrich Carl von 137–149, 152ff., 158f., 161, 173, 185, 187f., 194, 223, 331 Moser, Johann Jacob 148 Münnich, Johann Leberecht 203, 362f. Musäus, Johann Karl August 251, 308ff. Newton, Isaak 194 Nicolai, Ernst Anton 108 Nicolai, Friedrich 38, 275f. Nietzsche, Friedrich 18, 429 Novalis 313 Oertel, Friedrich von 411 Olavide, Pablo de 378 Ovid, Publius (Naso) 61 Pallas, Peter Simon 259 Pascal, Blaise 139, 142 Petri, G. E. 38 Pezzl, Johann 251, 393 Pfeil, Johann Gottlob Benjamin 318, 334 Platner, Ernst 10f., 41, 43f., 46, 49, 55, 61, 65f., 71, 73, 85, 111, 194 Platon 151, 170, 289, 294, 317, 325, 395, 418

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Pölitz, Karl Heinrich Ludwig 394 Pope, Alexander 64, 368f. Raynal, Guillaume Thomas François 379 Rebmann, Georg Friedrich 36, 39, 364, 381 Reich, Philipp Erasmus 344 Reid, Thomas 209 Reimarus, Hermann Samuel 111ff., 287, 290, 292, 394 Reinhold, Carl Leonhard 330, 333, 336 Richter, Jean Paul Friedrich (Jean Paul) 411 Riedel, Friedrich Just 115, 209, 224, 319f. Riem, Andreas 36, 93, 386–391, 393, 395 Robertson, William 233, 379 Robinet, Jean-Baptiste 219 Rousseau, Jean-Jacques 5, 10f., 30, 53, 62, 73, 123, 140, 151, 194, 264, 277, 279, 343, 349, 353f., 357, 367, 415 Schiller, Friedrich 22, 227, 234, 336, 381, 403, 413, 420 Schlözer, August Ludwig (von) 62, 85, 89, 147 Schmid, Christian Heinrich 66 Schnabel, Johann Gottfried 334 Schneider [Vorname unbekannt] 416 Schönheyder, Johann Christian 379 Schütz, Friedrich Wilhelm 381, 395ff. Selle, Christian Gottlieb 83, 369 Semler, Johann Salomo 172 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper Lord of 154, 229, 334 Shakespeare, William 254 Smith, Lauritz 379ff. Soemmering, Samuel Thomas 272 Sokrates 124, 155, 229, 373 Sonnenfels, Joseph von 7, 186, 250 Spalding, Johann Joachim 58, 207 Sparrmann, Andreas 276, 280 Spener, Johann Karl Philipp 256, 259, 270 Spinoza, Baruch de 49, 231 Stahl, Georg Ernst 48f., 206, 215, 228, 250 Steeb, Johann Gottlieb 57 Sterne, Laurence 397

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Stubenrauch, Christian Ludwig 383f. Stuve, Johann 397 Sucro, Christoph Joseph 134 Sucro, Johann Georg 129 Sucro, Johann Josias 7, 127–138, 142ff., 147f., 188 Sulzer, Johann Georg 66, 80, 201–208, 211, 216, 220, 222, 229, 238, 310, 318, 362f., 401 Süßmilch, Johann Peter 153 Svarez, Carl Gottlieb 398 Tacitus 378 Tetens, Johann Nicolas 78, 83, 210ff., 222, 401 Teichmeyer, Hermann Friedrich 147 Thomasius, Christian 2ff., 6, 11f., 18–22, 81f., 94–98, 103, 105, 107, 109, 114, 116, 131, 138, 166, 198, 201, 395 Thümmel, Moritz August von 130 Tiedemann, Dietrich 289, 371, 373f. Tissot, Samuel A. D. 66, 326 Töllner, Johann Gottlieb 115 Trapp, Enst Christian 376 Tscharner, Vinzenz Bernhard 150f. Ulrich, Johann August Heinrich 52, 65, 208ff. Unzer, Johann August 44, 49, 65, 101, 107, 109, 130 Urban, Christian Gotthold August 5 Usteri, Paulus 130 Uz, Johann Peter 7 Vergil 277 Vico, Giambattista 227 Villaume, Peter 59 Voltaire, François-Marie Arouet 30, 233, 289, 357, 388 Voß, Johann Heinrich 364 Wagner, Friedrich 115 Walch, Johann Georg 12f., 45f. Weikard, Melchior Adam 79 Weston, Thomas 316 Wezel, Johann Karl 52, 57, 65f., 73f., 78, 83, 86, 317ff., 323f., 326, 342, 344, 347–350, 352–356, 408

Wieland, Christoph Martin 6, 22f., 69, 82, 87, 117–125, 148, 172, 209, 251, 282, 316–356, 391, 402–423 Wilhelmi, Samuel Anton 208 Wöllner, Johann Christoph von 80, 93, 163, 336, 377, 386, 396, 402 Wolff, Christian 11ff., 18f., 41, 51f., 64, 66, 98f., 101–106, 112, 114, 121, 127f., 133, 165, 167, 169, 171, 178, 196, 204, 209, 294

Zachariä, Friedrich Wilhelm 334 Zambaldi, Paolo 209 Zedler, Johann Heinrich 12f., 45f. Zimmermann, Johann Georg 66, 76, 124f., 307f., 311, 326 Zobel, Rudolf Wilhelm 39, 183–189 Zöllner, Christian Ludwig 384ff., 398f. Zwingli, Ulrich 388

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