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German Pages 315 [317] Year 2015
Perspektiven der Ethik herausgegeben von Reiner Anselm, Thomas Gutmann und Corinna Mieth
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Das Band der Gesellschaft Verbindlichkeitsdiskurse im 18. Jahrhundert Herausgegeben von
Simon Bunke, Katerina Mihaylova und Daniela Ringkamp
Mohr Siebeck
Simon Bunke, geboren 1976; Studium der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, Komparatistik und Theaterwissenschaft; 2006 Promotion; derzeit Leiter der Emmy-Noether-Gruppe „Aufrichtigkeit in der Goethezeit“ an der Universität Paderborn. Katerina Mihaylova, geboren 1982; Studium der Philosophie, Psychologie und Logik und Wissenschaftstheorie; 2015 Promotion; derzeit Lehrbeauftragte an der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Daniela Ringkamp, geboren 1979; Studium der Philosophie, Neueren deutschen Literaturwissenschaft und Medienwissenschaft; 2012 Promotion; 2013 Ferdinand Schöningh-Promotionspreis; derzeit Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.
e-ISBN PDF 978-3-16-153549-9 ISBN 978-3-16-153548-2 ISSN 2198-3933 (Perspektiven der Ethik) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2015 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Nehren auf alterungbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.
Vorwort Der vorliegende Band geht auf die interdisziplinäre Tagung Modellierungen von Verbindlichkeit im 18. Jahrhundert zurück, die vom 13. bis 15. März 2013 von den Herausgeberinnen/dem Herausgeber als Kooperation zwischen der Emmy Noether-Gruppe Aufrichtigkeit in der Goethezeit und dem Fach Philosophie der Universität Paderborn veranstaltet wurde. Die Tagung und die Drucklegung des Bandes wurden durch großzügige Zuschüsse seitens der Universitätsgesellschaft Paderborn, der Forschungsreserve der Fakultät für Kulturwissenschaften sowie seitens des Lehrstuhls für Praktische Philosophie der Universität Paderborn ermöglicht. An dieser Stelle möchten wir uns hierfür ganz herzlich bedanken. Ein großer Dank geht ebenfalls an den Verlag Mohr Siebeck, insbesondere an Frau Dr. Stephanie Warnke-De Nobili für die stete Unterstützung und Betreuung während der Erstellung des Bandes, aber auch an Frau Dominika Zgolik für die technische Überprüfung und hilfreiche Hinweise. Ebenfalls möchten wir uns bei den Herausgebern der Reihe „Perspektiven der Ethik“ für die Aufnahme unseres Bandes bedanken. Letztendlich und vor allem gilt unser Dank jedoch den Autorinnen und Autoren, die mit ihren Diskussionen und Beiträgen zum Gelingen dieses Bandes wesentlich beigetragen haben. Paderborn, im März 2015
Simon Bunke Katerina Mihaylova Daniela Ringkamp
Inhaltsverzeichnis Vorwort………………………………………………………………………..V Simon Bunke, Katerina Mihaylova, Daniela Ringkamp Zwischen normativer Erneuerung und gesellschaftspolitischer Sinnstiftung: Verbindlichkeitsdiskurse im 18. Jahrhundert…………....................................1
Frühneuzeitliche Verbindlichkeitskonzepte und ihre Entwicklung im 18. Jahrhundert Oliver Bach Obligatio Instanzen und Fundamente von Verbindlichkeit: Melanchthon – Pufendorf – Hobbes – Rousseau…………………………………………………………..19 Dieter Hüning Gesetz und Verbindlichkeit Zur Begründung der praktischen Philosophie bei Samuel Pufendorf und Christian Wolff……………………………………………………………….37 Katerina Mihaylova Vernunft und Verbindlichkeit Moralische Wahrheit im Natur- und Völkerrecht der deutschen Aufklärung…................................................................... ..............................59
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Inhaltsverzeichnis
Verbindlichkeit in der praktischen Philosophie Immanuel Kants Stephan Zimmermann Praktische Kontingenz Kant über Verbindlichkeit aus reiner praktischer Vernunft…………...….....81 Günter Zöller „[O]hne Hofnung und Furcht“ Kants Naturrecht Feyerabend über den Grund der Verbindlichkeit zu einer Handlung.………………………………………………………………….....99 Bernhard Jakl Die Verbindlichkeit des Rechts Kantische Überlegungen zum Verhältnis von privater und staatlicher Normenbegründung…………………………………………….………...…113 Daniela Ringkamp Erlaubnis, Erlaubnisgesetz und Verbindlichkeit in Kants Praktischer Philosophie……………………...…………………………………………..125 Michael Städtler Warum ist „[d]er Ursprung der obersten Gewalt […] für das Volk, das unter derselben steht, in praktischer Absicht unerforschlich“? Über systematische Gründe politisch-juridischer Verbindlichkeit bei Kant…………………….145
Pluralisierung der Verbindlichkeitsdiskurse Carolin Pecho Habsburger-Portraits als Kristallisationspunkte einer verbindlichen Politik Anfang des 17. Jahrhunderts………………………………………………..163 Till Kinzel Fiktionale Diskurse der Verbindlichkeit in der britischen Literatur des 18. Jahrhunderts von Daniel Defoe bis William Godwin…………………..181 Kevin Dear Verbindlichkeit in der Aufklärungspädagogik Anmerkungen zu Pestalozzi………………………………………………...199
Inhaltsverzeichnis
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Hauke Kuhlmann Dialog, Verbindlichkeit und Handlungsbrüche in Goethes Iphigenie auf Tauris……………………………………………….………..213 Georg Eckert Beliebige Verbindlichkeiten Zur Formierung eines Konzepts an der Wende zum 19. Jahrhundert……...237 Simon Bunke Schillers Wallenstein als Drama der Verbindlichkeit…………………..…..261 Christian Sinn Vorschule der Ästhetik Zur Verbindlichkeit unverbindlicher Definitionen bei Jean Paul……….....377 Autorenverzeichnis………………………………………………………….301 Personenregister………..…………………………………………………...303 Sachregister……………………………………………………………..…..305
Zwischen normativer Erneuerung und gesellschaftspolitischer Sinnstiftung: Verbindlichkeitsdiskurse im 18. Jahrhundert Simon Bunke, Katerina Mihaylova, Daniela Ringkamp
A. Problemstellung Verbindlichkeit (lat. obligatio; engl. obligation) wird in der philosophiegeschichtlichen Tradition allgemein als eine Handlung verstanden, die von einer einzelnen Person, einer Bevölkerungsgruppe oder auch einer juridischen Instanz eingefordert wird.1 Dabei kann es sich um rechtlich-politische Forderungen handeln, etwa um die Einhaltung staatlicher Gesetze, oder um die Berücksichtigung von zwischen Privatpersonen geschlossenen Verträgen, um moralische Ansprüche, z.B. um das Einhalten eines Versprechens, die Respektierung der Menschenwürde, oder aber auch um die Beachtung gesellschaftlicher und ständischer Konventionen. Der Vielfalt solcher verbindlichkeitsfordernden Interaktionen ist jedoch eines gemeinsam: In allen Fällen ist die Artikulation verbindlicher Forderungen an staatliche, rechtliche oder kulturelle Mechanismen gebunden, die verbindliche Ansprüche nicht nur erzeugen und ihnen einen spezifischen Adressaten zuweisen, sondern die durch Sanktionierung gleichzeitig ihre Erfüllung zu garantieren vermögen. Hier zeigt sich die für den Begriff der Verbindlichkeit typische Bedeutung des Bandes (lat. vinculum; engl. bond), das bestimmte Instanzen – einzelne Individuen, gesellschaftliche Gruppen oder rechtspolitische Institutionen – als Träger oder Adressaten verbindlicher Ansprüche zusammenbringt. Über die aus dem römischen Recht stammende Bedeutung des ‚rechtlichen Bandes‘ (vinculum iuris) hinaus kann Verbindlichkeit jedoch auch als Pflicht (lat. officium; engl. duty) verstanden werden. Diese Begriffstradition verdankt sich einer bestimmten historischen Entwicklung, die zwar ihre Wurzeln in der stoischen Philosophie hat, 2 aber erst im Zuge der Säkularisierungs- und Libe-
1 Ähnlich wird Verbindlichkeit in The Oxford Dictionary of Philosophy definiert: „An action that is required of one.“ (BLACKBURN 1994, 267) 2 Vgl. dazu CICERO 2007.
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ralisierungsprozesse der Frühneuzeit durch die Grundlegung der Moralphilosophie als Fundament für Recht und Ethik3 ihre Geltung entfaltet und in der deontologischen Ethik Immanuel Kants ihren Höhepunkt erfährt. Ziel des vorliegenden Sammelbandes ist es, die Entwicklung und Erweiterung der Verbindlichkeitskonzepte in der Neuzeit – besonders im späten 17. und im 18. Jahrhundert – über die Bedeutung des bloß ‚rechtlichen Bandes‘ hinaus hin zur Entfaltung des stoisch geprägten, deontologischen Konzeptes eines ‚Bandes der Gesellschaft‘, sowie dessen zunehmende Infragestellung im späten 18. und beginnenden 19. Jahrhundert zu untersuchen. Neben der Erweiterung des rechtlichen Verbindlichkeitskonzeptes durch die Grundlegung einer deontologischen Moralphilosophie, in der Verbindlichkeit als Verpflichtung ausgedeutet wird, entsteht zugleich eine Pluralität an Diskursen, welche die gesellschaftlich-kulturelle Relevanz verbindlichkeitsstiftender Mechanismen ausloten. Entsprechend haben die einzelnen Beiträge des Bandes durchgängig eine interdisziplinäre Herangehensweise, die aus geistes- und kulturwissenschaftlicher Perspektive die Verschiebungen, Umbrüche und Verwerfungen des tradierten Begriffs von Verbindlichkeit innerhalb der europäischen Aufklärung in den Vordergrund rückt. Zwar wird in den Ausführungen des Sammelbandes der kantischen Moralphilosophie als Höhepunkt einer spezifisch neuzeitlichen Entwicklung eine tragende Rolle zukommen, die unter anderem die Verinnerlichung des Verbindlichkeitsdenkens in der Philosophie der Aufklärung skizziert. Zugleich werden aber auch die Pluralität der Verbindlichkeitsdiskurse sowie jene epochale Zäsur der Französischen Revolution vorgestellt, welche zu einer zunehmenden Infragestellung des deontologischen Verbindlichkeitskonzeptes der Aufklärung führt. Damit unterscheidet sich der Band von anderen Auseinandersetzungen in der zeitgenössischen Forschung, in der Verbindlichkeit bislang hauptsächlich als eine politisch-rechtliche Kategorie verhandelt wird.4 Die moralphilosophische Bedeutung der Verbindlichkeit als innere ratio des Subjekts und die sich daraus ergebenden Implikationen für das Selbstbild des Menschen als autonomes Individuum sowie für seine soziale Zugehörigkeit und kulturelle Identität sind dagegen weniger untersucht worden. Einige dieser Aspekte werden zwar in spezifischen Auseinandersetzungen, etwa zum diskursethischen Begriff der
3 Zu der frühneuzeitlichen Entwicklung des Verbindlichkeitsbegriffes als moralbegründet vgl. DARWALL 2006. Besonders deutlich wird die Relevanz neuzeitlicher Naturrechtslehren in Hinblick auf Kant von SCHNEEWIND 1993, 55ff. hervorgehoben. 4 Vgl. dazu SCHULZE 2008; SCHNEIDER 2005; KERSTING 2004; PRODI 1997; BEHRENDS/DIESSELHORST 1991 (Als nennenswerte Ausnahme wäre BAGNOLI 2013 zu erwähnen). Auch kulturwissenschaftliche Perspektiven der Verbindlichkeit wie das Gentleman’s Agreement werden mehr aus der Perspektive der Rechtswissenschaft thematisiert vgl. dazu SCHULZE 2008, 3.
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Verbindlichkeit, behandelt. 5 Grundlegende Analysen dessen, was den Begriff der Verbindlichkeit im Gegensatz zu für ihn relevanten moralphilosophischen Begriffen wie z.B. dem der Pflicht oder des Gewissens kennzeichnet, fehlen jedoch bisher ebenso wie Analysen zu den allgemeinen historischen und kulturellen Konsequenzen, die die skizzierte Entwicklung des Verbindlichkeitsdiskurses mit sich bringt. Zwar liegen einige Arbeiten vor, die ausgehend von Autoren wie Grotius, Hobbes oder Locke Konzeptionen von Verbindlichkeit in der Philosophie in der Neuzeit thematisieren. 6 Eine interdisziplinäre und umfassende Auseinandersetzung mit der obligatio findet in ihnen jedoch nicht statt. Mit dem vorliegenden Band sollen entsprechend Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Diskursen von Verbindlichkeit, ihrem moralphilosophischem Gehalt und der Übertragung innerer Verbindlichkeiten auf äußere Verhältnisse aufgezeigt werden. Die enge Verwobenheit zwischen Ethik, Politik, Literatur und den soziokulturellen Hintergründen des 18. Jahrhunderts erfordert eine Analyse, die diese wechselseitigen Bezüge aufdeckt: Es geht nicht ausschließlich darum zu fragen, warum alternative Konzepte von Verbindlichkeit entstehen bzw. Geltung beanspruchen, sondern auch darum zu beleuchten, wie diese unterschiedlichen Modellierungen von Verbindlichkeit aufgenommen, diskutiert, dargestellt und umgesetzt werden.
B. Historisch-systematische Hintergründe „OBLIGATIO est actus Legislatoris.“ – Mit dieser Feststellung beginnt der Artikel zur Verbindlichkeit im philosophischen Lexikon des französischen Theologen und Philosophen Étienne Chauvin von 1692, wodurch eine jahrhundertelange Tradition des Verbindlichkeitsdenkens zum Ausdruck gebracht wird.7 Denn seit der Antike wird Verbindlichkeit (lat. obligatio) in der Rechtstheorie zunächst durch den Akt eines Gesetzgebers begründet und versteht sich als eine Kategorie, die die Zulässigkeit von Handlungen an die Einhaltung einer juridischen Norm bindet. Bereits im römischen Recht gilt die Verbindlichkeit als ein
5 So untersucht Dietrich Böhler in einer zweiteiligen, umfassend angelegten Analyse den Verbindlichkeitsbegriff der Diskurstheorie und zeigt auf, inwiefern bereits antike Kommunikationsmodelle mit diskursethischen Verpflichtungsmodi operieren. Die dem Diskurs inhärente Verpflichtungskraft wird in einem zweiten Schritt dann systematisch auf spezifische Problemkontexte der Angewandten Ethik, insbesondere mit Blick auf Zukunftsverantwortung und Menschenwürde, übertragen. Siehe dazu BÖHLER 2013. 6 DARWALL 2006, KERSTING 2007, hier 354ff., FORSBERG 1990, BRANDT 1982. 7 CHAUVIN 1692.
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vinculum iuris, als rechtliches Band, das Personen auf der Grundlage von Normen zu einer bestimmten Handlung verpflichtet. 8 Die Person befindet sich dabei in einem Schuldverhältnis – entweder zu einer anderen Person oder zum Staat –, das eine bestimmte Handlung als Pflicht vorschreibt. Die Notwendigkeit des Schuldverhältnisses entsteht hier entweder auf der Grundlage eines zwischen den Personen geschlossenen Vertrages oder auf der Grundlage eines begangenen Verbrechens gegen die geltenden Gesetze des Staates. 9 Diese rein juridische Ausdeutung des Verbindlichkeitsbegriffs ist jedoch keine ausschließliche. Denn Verbindlichkeit wird oft durch das allgemeine Prinzip der Gerechtigkeit begründet, das im römischen Recht als ein beständiges Bestreben zur Pflichterfüllung verstanden wird: „Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi“. 10 Die Gerechtigkeit wird dabei als ein Prinzip vorgestellt, das die Verbindlichkeit sowohl von politischen als auch von theologischen Regularien bestimmt: „Iuris prudentia est divinarum atque humanarum rerum notitia, iusti atque iniusti scientia“.11 Als normatives Instrumentarium, das die Erfüllung der entsprechenden Gesetzesvorgaben sicherstellen soll, erstreckt sich die Verbindlichkeit dabei nicht nur auf den Bereich des Politischen oder Theologischen, sondern konstituiert allgemein jede Vergesellschaftung bzw. Herausbildung sozial-politischer Verhältnisse. Diese gesellschaftsstiftende Funktion von Verbindlichkeit wird bereits in der römischen Antike durch das menschliche Denk- und Redevermögen anthropologisch begründet. So schreibt Cicero: Aber in der Frage, was die natürlichen Anlagen für die menschliche Gemeinschaft und Gesellschaft sind, ist, wie es scheint, weiter auszuholen. Die erste ist ja die, die sichtbar ist in der Gesellschaft der gesamten Menschheit. Ihr Band aber ist das Denk- und Redevermögen, das durch Lehren und Lernen, durch das Gespräch miteinander und gegeneinander und durch Urteilen die Menschen untereinander versöhnt und verbindet durch einen ganz natürlichen
8 So wird obligatio von JUSTINIAN als „iuris vinculum, quo necessitate adstringimur alicuius solvendae rei, secundum nostrae civitatis iura“ definiert (JUSTINIAN 1877, Institutiones III 13). Diese Definition wird im 16. Jahrhundert von verschiedenen Autoren wie Thomas Murner (1475–1537), Ortolph Fuchsberger (1490–1541) oder Justinus Gobler (1504–1567) ins Deutsche übertragen. Dabei wird obligatio, das von diesen Autoren mit ‚Obligation‘, ‚Obligierung‘ oder mit ‚Verpflichtung‘ wiedergegeben wird, bereits seit dem 14. Jahrhundert auch mit Verbindlichkeit übersetzt, vgl. KÖBLER 2010, 170. 9 Vgl. JUSTINIAN 1877, Institutiones, III 13: „Omnium autem obligationum […] divisio in quattuor species deducitur: aut enim ex contractu sunt aut quasi ex contractu aut ex maleficio aut quasi ex maleficio.“ [Alle Verbindlichkeit […] wird in vier Klassen unterteilt, die sich entweder aus einem Vertrag, oder aus einem dem Vertrag ähnlichen Sachverhalt, oder aus einem Verbrechen, oder aus einem dem Verbrechen ähnlichen Sachverhalt ableiten lassen.] Übersetzung K.M. 10 Vgl. ULPIAN Reg. 1., zitiert nach JUSTINIAN 1877, Digesta 1.1.10. 11 Ebd.
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Gesellschaftsgeist, und durch keine Fähigkeit sind wir von der Natur der Tiere weiter entfernt, die, wie wir oft sagen, Tapferkeit besitzen – wie Pferde und Löwen –, nicht aber Gerechtigkeit, Edelmut und Anstand. Denn sie haben nicht teil an Denk- und Redevermögen. 12
Die Verbindlichkeit, die über die Denk- und Sprachfähigkeit des Menschen gesellschaftskonstitutiv ist, fungiert als Band der Gesellschaft, das einen natürlichen Gesellschaftsgeist ausbildet. Sie leitet rationale Kommunikation und Interaktion und kennzeichnet insbesondere tugendhaftes Verhalten, das dem Menschen als rationalem Wesen, nicht jedoch anderen Lebewesen eigentümlich ist. Kennzeichnend für die Verbindlichkeit ist daher ihre Kopplung an die Gerechtigkeit als ein dem Menschen eigenes, positives Legitimitätskriterium für Rechtsverhältnisse und somit prinzipiell sowohl für soziale Interaktionen als auch für politische Ansprüche überhaupt. Nahezu zweitausend Jahre später greift Samuel Pufendorf auf das Sinnbild des ‚Bandes‘ als anthropologisch begründetes Prinzip rationalen Handelns zurück, das die Denk- und Sprachfähigkeit des Menschen als notwendige Bedingung sozialer Verhältnisse voraussetzt.13 Auf diese Weise trägt Pufendorf zu dem Übergang vom mittelalterlichen, christlichen Naturrecht hin zur Herausbildung einer anthropologisch begründeten Naturrechtsphilosophie in der Frühaufklärung bei, die maßgebliche Veränderungen für das Selbstverständnis der Individuen als soziale wie moralische Akteure mit sich bringt. So löst nach Pufendorf die Einsicht des Handelnden in die Notwendigkeit der Befolgung einer Norm die Verbindlichkeit vom bloßen Zwang einer bloß juridisch sanktionierten Verbindlichkeitsvorstellung ab. Der Handelnde entwickelt stattdessen aufgrund seiner rationalen Einsicht ein natürliches Gefühl für die Notwendigkeit der Befolgung von Normen, das seine Handlungen begleitet:14 Üblicherweise wird die Verpflichtung als ein rechtliches Band bezeichnet, kraft dessen wir mit Zwang zur Erbringung einer bestimmten Leistung veranlasst werden können. Dadurch wird unserer Freiheit gleichsam ein Zügel angelegt. Dieser gestattet es dem Willen zwar noch, faktisch verschiedene Richtungen einzuschlagen. Doch führt diese Zügelung des Willens dazu, daß der Wille spürt, wie er von einem inneren Gefühl gleichsam durchtränkt wird, so daß er geradezu gezwungen ist einzusehen, falsch zu handeln, wenn seine Handlung der vorgeschriebenen Norm nicht entspricht. Das geht so weit, daß der Mensch auch sieht, daß üble Folgen seiner Tat ihn nicht unverdient treffen; denn es stand ihm ja frei, der Norm zu folgen und die Folgen zu vermeiden. […] Es ist sinnlos, jemandem eine Norm vorzuschreiben, der sie weder verstehen noch sich an ihr ausrichten kann. Für denjenigen, der niemanden als seinen Übergeordneten anerkennen muß, gibt es auch niemanden, der ihm zu Recht Zwang auferlegen könnte. 15
CICERO 2007, 49. Vgl. dazu den Beitrag von KATERINA MIHAYLOVA in diesem Band. 14 Vgl. PRODI 2003, 252. 15 PUFENDORF 1994, 38-39 (Hervorhebung KM). 12 13
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Entscheidendes Element ist für Pufendorf die Freiheit des menschlichen Willens. Erst die rational bedingte Einsicht in die Notwendigkeit einer Handlung kann den freien Willen zügeln und konstituiert dadurch die prinzipielle Fähigkeit eines jeden Individuums, Pflichten als solche überhaupt anzuerkennen. Ähnlich wie Cicero, der auf rationale Fähigkeiten wie das Sprach- und Denkvermögen des Menschen als natürliche Anlagen und Bedingungen für Vergesellschaftung rekurriert, betont Pufendorf die rational bedingte Einsicht der handelnden Person in die Notwendigkeit einer Handlung als entscheidend für die „Zügelung“ (nicht Zwang) des faktisch freien menschlichen Willens. Auch hier wird der Gerechtigkeit als rational begründeter Tugend, die die Zulässigkeit von Normen anzuerkennen vermag, eine für moralische Geltungsansprüche legitimitätsverbürgende Kraft zugeschrieben.16 Auch wenn sich der Grund der Verbindlichkeit auf eine übergeordnete Instanz (den Willen des Gesetzgebers) zurückführen lässt,17 die die Macht zur Sanktionierung hat, genügt dies nach Pufendorf jedoch nicht, um Verbindlichkeit als solche zu begründen. Erst durch die zusätzliche Nachweisbarkeit eines rechtlichen Grundes (causa justa), der von dem handelnden Subjekt als solcher eingesehen werden kann, wird ein Gesetz als verbindlich und seine Befolgung als notwendig empfunden. Die Bedeutung dieser im Subjekt liegenden Voraussetzung für den Begriff der Verbindlichkeit verdeutlicht Pufendorf in der zweiten Auflage seines Hauptwerks De jure naturae et gentium libri octo. Dort wird ausdrücklich betont, dass Verbindlichkeit nicht bloß als ein Akt des Gesetzgebers verstanden werden soll, sondern eine im handelnden Subjekt wirkende moralische Qualität dargestellt: „Obligationem igitur supra definivimus, per qualitatem moralem operativam, qua quis praestare aut pati quid tenetur (quando nempe obligationem consideramus, prout haeret in eo, qui obligatur […]).“18
16 Pufendorf betont ausdrücklich, dass die Auferlegung von Verbindlichkeit durch eine übergeordnete Person („à superiore“) erst dann wirksam sein kann, wenn zwei Kriterien gegeben worden sind: 1. Die Macht, Sanktionen aufzuerlegen („vires […], malum aliquod repraesentandi contra nitentibus“); und 2. Einen rechtlichen Grund, wonach andere zu etwas verbunden werden können („justae causae, quare postulare queat, ex suo arbitrio voluntatis nostrae libertatem circumscribi“). Beide erzeugen im Handelnden „eine Mischung aus Furcht und Hochachtung […]; die Furcht im Hinblick auf die Macht, die Hochachtung aber in bezug auf deren rechtfertigende Grundlage“ (PUFENDORF 1994, 39, Kapitel II, § 5). 17 Zu der Rolle dieses traditionellen voluntaristischen Aspekts von Verbindlichkeit und zu den Implikationen und Nachteilen, die er im Vergleich zu teleologischen Modellen in sich birgt, vgl. den Beitrag von DIETER HÜNING in diesem Band. 18 PUFENDORF 1684, 92 (I. 6, § 5). [Verbindlichkeit haben wir also als eine wirkende moralische Qualität definiert, von der derjenige, der etwas gewährleisten oder erleiden muss, gelenkt wird (allerdings betrachten wir die Verbindlichkeit als in demjenigen enthalten, der verbunden wird […]).] Übersetzung KM.
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Diese Zentrierung des Naturrechtsdenkens der frühen Aufklärung auf die Willensfreiheit des Vernunftsubjekts und deren rational bedingte Einschränkung verdeutlicht nicht nur eine Reduktion des übergeordneten, dogmatischmetaphysischen Gehalts des Naturrechts hin zu anthropologisch-metaphysischen, subjektkonstituierenden Bedingungen der ratio, sondern fordert, wie in den meisten kontraktualistischen Theorien der Neuzeit deutlich wird, die Berücksichtigung der Freiheit des Individuums auch in Staats- und Regierungskontexten ein. Grundlegend ist dabei der Bezug zur Verinnerlichung verbindlichkeitsverbürgender Geltungsmaßstäbe der Moral, von der aus neue gesellschaftliche und soziale Normierungen vorgenommen werden. Dort, wo rein äußerliche, zivilrechtliche Normen nicht mehr ausreichen, um Stabilität zu garantieren – in konkreten gesellschaftlichen oder zwischenstaatlichen Beziehungen, deren Grundlage zur Disposition steht –, werden durch Rekurs auf die rationale Einsicht des Vernunftsubjekts anthropologisch legitimierte, naturund völkerrechtliche Normen eingesetzt, die entweder die Gestalt einer rechtlichen, starken bzw. vollkommenen oder einer ethischen, schwächeren bzw. unvollkommenen Verbindlichkeit annehmen können. Auf die Notwendigkeit solcher internalistisch begründeten Legitimationsstrategien verbindlicher Normen reagieren etwa die natur- und völkerrechtlichen Ansätze von Autoren nicht nur des 17. Jahrhunderts wie Hugo Grotius oder Samuel von Pufendorf, sondern auch des 18. Jahrhunderts wie z.B. Johann Gottlieb Heineccius oder Jean-Jacques Rousseau. Als notwendige Verknüpfung von Bewegungsgründen mit freien Handlungen bedingt der Verbindlichkeitsbegriff, und das ist für den vorliegenden Band entscheidend, eine neue Theorie der Moral, die eine Rationalisierung der menschlichen Handlungen intendiert. Freiheit bedingt Pluralität; sie bestimmt einen Raum von Handlungsoptionen, den es zu definieren und auszugestalten, vor allem aber verbindlich zu normieren gilt: Verbindlichkeiten müssen bei einer gleichzeitigen Aufwertung ihrer Sicherungsfunktion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt neu gestiftet werden. So umfassen rationalistische Theorien der Moral nicht nur politisch-rechtliche und ethische Normen, sondern wirken auch auf allgemeine gesellschaftlich-kulturelle Konventionen und Regeln des Anstands zurück. Wie stark besonders für letztere die Verbindlichkeit als Legitimationskategorie des beginnenden 18. Jahrhunderts auch über die rationalistische Tradition hinaus an Aktualität gewinnt, wird z.B. anhand der Entstehung von Konzepten wie des gentleman’s agreement oder der semantischen Erweiterungen innerhalb verschiedener Konversations-Handlexika deutlich.19 19 Vgl. dazu SPANUTI 1720, 339; SPERANDER 1727, 408–409. Hier wie in weiteren populären Lexika aus der Zeit wird obligatio nicht bloß in der Bedeutung von Verbinden oder Verpflichten verwendet, sondern erhält auch weitere Bedeutungen wie „Dienstfertigsein“, die in dem Sprachgebrauch des späten 18. Jahrhunderts weit verbreitet sind, vgl. dazu den Beitrag von STEPHAN ZIMMERMANN in diesem Band.
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Verbindlichkeit, so zeigt sich übergreifend, wird in unterschiedlichen Bereichen – in politischen Interaktionen wie in erziehungstheoretischen Entwürfen oder ästhetisch-literarischen Figurationen – reflektiert. Diese unterschiedlichen Modellierungen von Verbindlichkeit, die die Aufwertung des Vernunftsubjekts und die Eingrenzung traditional-theologischer Begründungsmuster wiederspiegeln, werden im vorliegenden Band auf drei unterschiedlichen Ebenen diskutiert. In einem ersten Schritt werden diejenigen theoretischen Ansätze rekonstruiert, die die historischen Grundlagen für die Erweiterung des Verbindlichkeitsbegriffes im 18. Jahrhundert von einer eng juridischen zu einer umfangreicheren, auch die Moralphilosophie umfassenden Kategorie darstellen. In einem zweiten Schritt wird die Durchsetzung des moralphilosophischen Verbindlichkeitskonzepts durch die Neubegründung der praktischen Philosophie bei Immanuel Kant untersucht, um dann in einem letzten Schritt aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive die Pluralisierung der Reflexionen über Verbindlichkeit in verschiedenen Diskursen des 17. und 18. Jahrhunderts, in der bildenden Kunst, Pädagogik, Politik, Literatur und Ästhetik zu analysieren.
C. Sektionen und Beiträge Mit der Würdigung des Individuums als autonomes Subjekt ist eine für die Frühmoderne charakteristische Wendung von übergeordneten, theologischen Bewertungsmaßstäben und Erklärungsmustern hin zu säkularen und genuin philosophischen Welterschließungsmodellen verbunden: tradierte Gewissheiten werden in Frage gestellt, die Komplexität von Welterfahrung und sozialer Interaktion steigt, die feudalistische Ständeordnung beginnt, sich in eine bürgerliche Gesellschaft umzuwandeln. Auch die konfessionell bedingten Konflikte der Frühneuzeit zeugen von der Neuformierung religionspolitischer Strukturen und Machtansprüche. Derartigen Veränderungsprozessen kommen nun theoretische Ansätze entgegen, die auf die Willensfreiheit des handelnden Subjekts rekurrieren: Der Verlust absoluter, unhinterfragter Wertsetzungen kann durch neue, die individuelle Freiheit verbürgende Wert- und Handlungsmaßstäbe aufgefangen werden. I. Frühneuzeitliche Konzepte und ihre Entwicklung. Hier setzten die Beiträge der ersten Sektion an und eröffnen zwei Perspektiven in der Verhandlung von Verbindlichkeit: eine normative, sofern es um die Begründung der Verbindlichkeit überpositiver Normen geht und eine handlungstheoretische, sofern die Rationalität handelnder Personen als grundlegende Bedingung für die Befolgung verbindlicher Normen herausgestellt wird. In seinem Beitrag „Obligatio. Instanzen und Fundamente von Verbindlichkeit: Melanchthon – Pufendorf – Hobbes – Rousseau“ beschäftigt sich OLIVER BACH mit dem Grund der Ver-
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pflichtungskraft von Gesetzen in den staatsphilosophischen Theorien der genannten Autoren und bezieht sich dabei auf das „transhumane Recht“ (20), das jenseits von juridischen Geltungsmaßstäben die Legitimität des positiven Rechts durch Verweis auf dem Menschen übergeordnete transzendentale Grundlagen – z.B. naturrechtlicher oder theokratischer Art – zu verbürgen versucht. Während Bach bei Melanchthon und Pufendorf in abgestufter Form theonome Grundlagen der obligatio identifiziert, so verlagere sich bei Hobbes die Verpflichtungskraft des Rechts auf den status civilis und die im Kontrakt geschlossene Übereinkunft der Vertragspartner. Die bei Hobbes gegebene Unterwerfung der Vertragspartner unter den Willen eines Herrschers sieht Bach in dessen teleologischem Naturrechtsverständnis begründet. Erst bei Rousseau jedoch, so die These, sei der Rechtsbegriff ein formaler, also von jedweder Verknüpfung mit möglichen Zwecken befreit. Zum Verpflichtungsgrund des Rechts werde bei Rousseau die Freiheit des Menschen, die durch die Vereinigung mit der Freiheit aller anderen im volonté générale realisiert werde. Die praktische Philosophie der deutschen Aufklärung unterscheidet zwischen Verbindlichkeit als aktiver Eigenschaft rational handelnder Wesens oder aber als passiver Eigenschaft normativer Anbindungen.20 In dieser letzten Bedeutung wird Verbindlichkeit von DIETER HÜNING in seinem Beitrag „Gesetz und Verbindlichkeit. Zur Begründung der praktischen Philosophie bei Samuel Pufendorf und Christian Wolff“ untersucht. Hüning skizziert dabei eine Entwicklungslinie in der Begründung der Verbindlichkeit von Normen, die den Übergang von einer theologischen zu einer teleologischen Letztbegründung der praktischen Notwendigkeit von Normen markiert. Bei Pufendorf wird eine naturrechtliche Norm zwar rational erkannt, der Grund ihrer Geltung (und somit ihrer Verbindlichkeit) hängt jedoch von der Vorstellung des Willens Gottes als Urheber natürlicher Normen ab und impliziert somit eine moraltheologische Letztbegründung. Dagegen entstehe bei Wolff durch die Neukonzipierung des Gesetzesbegriffs und seiner Verbindlichkeit eine alternative Auffassung, die die natürliche Verbindlichkeit teleologisch fasst und im Modus einer moralischen Nötigung versteht, ohne theologische Implikationen zu enthalten. Parallel zu demjenigen Aspekt, der auf den Willen eines Gesetzgebers referiert und der als passive Verbindlichkeit bezeichnet wird, setzt sich bereits im 17. Jahrhundert in Ergänzung dazu ein anderer, grundlegender Aspekt – derjenige der aktiven Verbindlichkeit – durch, der im Anschluss an die stoische Tradition die Rationalität handelnder Subjekte in den Vordergrund rückt und als grundlegende Voraussetzung für jede Vergesellschaftung behauptet. Dies untersucht KATERINA MIHAYLOVA in ihrem Beitrag „Vernunft und Verbindlichkeit. Moralische Wahrheit im Naturrecht der deutschen Aufklärung“. Die Verbindlichkeit wird entsprechend aus einer handlungstheoretischen Perspektive untersucht. Ausgangspunkt sind dabei diejenigen theoretischen Ansätze, die 20
Vgl. dazu WOLFF 1754, 23–25 (§§ 35–37).
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dazu führen, Verbindlichkeit im Modus einer Selbstverpflichtung zu verstehen, bei der die Anbindung der Handlungen an Regeln eine rationale Funktion darstellt und keine bloße Folge juridischer Mechanismen ist. Für die Entwicklung dieses rationalistisch begründeten Verbindlichkeitskonzeptes wird das Verhältnis zwischen Denken und Sprache untersucht, woraus der spezifische Begriff eines natürlichen bzw. angeborenen Rechts der Menschen hervorgeht, welches seinerseits Implikationen für den Sprachgebrauch mit sich bringt. Mit der Modifikation des Arguments des Rechts der Menschen in der praktischen Philosophie Immanuel Kants als ein Recht der Menschheit wird die Normierung des Sprachgebrauchs zur formalen Bedingung für jede rechtliche Verbindlichkeit erhoben. Das Konzept von Verbindlichkeit als Selbstverpflichtung, wie es bei Kant seinen Höhepunkt findet, konstituiere somit wesentlich die praktische Philosophie der deutschen Aufklärung. II. Verbindlichkeit in der praktischen Philosophie Kants. In Kants Praktischer Philosophie konkretisieren sich Interaktionen zwischen passiver und aktiver obligatio. Durch Rekurs auf das Vernunftprinzip als oberste Beurteilungsinstanz für Moralität sowie auf das rein rationale Prinzip der Autonomie des Willens vermag Kant beide Bereiche auf eine neue, vernunftrechtliche Grundlage zu stellen. Insbesondere Kants Definition der Verbindlichkeit als „Notwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft“21 zeigt dabei, dass der Begriff der Verbindlichkeit kein normativer Begriff erster Ordnung ist: Die Verbindlichkeit legt im Gegensatz zum Kategorischen Imperativ bzw. der Formalität des Vernunftgesetzes als solcher nicht fest, welche Handlungen moralisch legitim bzw. illegitim sind. Er markiert vielmehr den abstrakten, subjektiven Zustand des Individuums als ein Gebunden-sein an spezifische Gesetze und Normen – in der Systematik Kants an den Kategorischen Imperativ. Pflicht hingegen ist, verglichen mit dem Terminus der Verbindlichkeit, ein konkreterer Begriff, der das Verpflichtet-Sein zu bestimmten Handlungen markiert und diese aktualisiert. Nicht von ungefähr bezeichnet Kant die Pflicht daher auch als die „Materie der Verbindlichkeit“ 22. Ausgehend von diesen systematischen Zusammenhängen werden im zweiten Teil des Bandes die Modifizierungen des frühneuzeitlichen Verbindlichkeitsbegriffs bei Kant rekonstruiert. Verbindlichkeit als aktive Eigenschaft eines handelnden Subjektes steht bei Kant wie bei anderen Autoren der deutschen Aufklärung in einem unmittelbaren Verhältnis zu der metaphysischen Voraussetzung der Freiheit des menschlichen Willens. Inwiefern nach Kant die Willensfreiheit konstitutiv für die Fähigkeit des Menschen ist, als rational handelndes Wesen zu einer Handlung verbunden zu werden, untersucht der Beitrag von STEPHAN ZIMMERMANN über „Praktische Kontingenz. Kant über Verbind-
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KANT, Rechtslehre, AA: VI 222. Ebd.
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lichkeit aus reiner praktischer Vernunft“. Anhand der Kantischen Unterscheidung zwischen der Freiheit der Willkür als negativer Freiheit (Freiheit von Determinierung durch natürliche Bestimmungsgründe bzw. Wahlfreiheit) und der Freiheit des Willens als positiver Freiheit (Freiheit zur autonomen Bestimmung durch reine praktische Vernunft) argumentiert Zimmermann für die unentbehrliche Funktion praktischer Kontingenz, die sich der Freiheit der Willkür verdanke und die sowohl den Bedarf als auch die Fähigkeit des Menschen bedinge, durch eine normative Ordnung zu bestimmten Handlungen verbunden zu werden. Der systematische Ort von Verbindlichkeit in der Praktischen Philosophie Kants werde, so Zimmermann, erst anhand des Wechselverhältnisses von der intrinsischen Kontingenz der Sitten als solche und der Notwendigkeit einer Metaphysik der Sitten zwischen menschlicher Praxis und moralischer Gesinnung deutlich. Verbindlichkeit steht in der praktischen Philosophie Immanuel Kants in einem geradezu prekären Gegensatz zum traditionellen Begriff der obligatio als einer genuin rechtlichen bzw. naturrechtlichen Kategorie. Welche Transformation der Begriff der Verbindlichkeit bei Kant erfährt, erläutert GÜNTER ZÖLLER in seinem Beitrag „‚[O]hne Hoffnung und Furcht‘ – Kants Naturrecht Feyerabend über den Grund der Verbindlichkeit zu einer Handlung“, der die Übertragung der Verbindlichkeit aus der Sphäre des Rechts und der Politik auf die der Ethik und Moral historisch und systematisch untersucht. Einen Schwerpunkt bildet die Analyse der methodischen und sachlichen Begründung von Recht und Ethik in der Nachschrift der Naturrechtsvorlesung Kants, die zeitgleich mit seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten entsteht und in vieler Hinsicht eine ergänzende Perspektive zu ihr bietet. Anhand der Rekonstruktion des Unterschiedes zwischen dem rechtlichen Begriff eines äußeren Zwangs und dem moralischen Begriff einer inneren Verbindlichkeit stellt der Beitrag eine systematische Gemeinsamkeit zwischen Recht und Ethik fest: „Ethik im Naturrecht Feyerabend [präsentiert sich] als radikal introvertierte, individualisierte und von allem (äußeren) Zwang befreite Modifikation der Rechtsrelation“.23 Das Verhältnis zwischen Kants moralphilosophischem Verständnis von Verbindlichkeit und dessen Konkretisierung in der kantischen Rechts- und Politischen Philosophie greifen die folgenden drei Analysen auf. In seinem Beitrag „Die Verbindlichkeit des Rechts. Kantische Überlegungen zum Verhältnis von privater und staatlicher Normenbegründung“ setzt sich BERNHARD JAKL mit dem Verbindlichkeitsgrund des Rechts in den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre auseinander und zeigt, dass die kollektive Gesetzgebung des öffentlich-rechtlichen Zustandes auf Grundlagen des Privatrechts aufbaut, die durch eigentumsrechtliche Regulierungen die peremptorischen Be-
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Vgl. den Beitrag von GÜNTER ZÖLLER in diesem Band.
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sitzverhältnisse des bürgerlichen Zustandes vorbereiten. Inwiefern Kants Vorstellung von Recht als regelgeleiteter Auslebung von Willkür-freiheiten auch in der gegenwärtigen philosophischen Debatte eine Rolle spielt, zeigt Jakl abschließend in einer Analyse postmoderner und diskursethischer Kritiken zu Kants verbindlicher Ausgestaltung des Rechtssystems. Ausgehend von den Vorbegriffen zur Metaphysik der Sitten thematisiert DANIELA RINGKAMP das Verhältnis von „Erlaubnis, Erlaubnisgesetz und Verbindlichkeit in Kants Praktischer Philosophie“ und nimmt dabei auch Bezug auf die Positionen von Joachim Hruschka und Reinhard Brandt, die Kants Theorie des Erlaubnisgesetzes unterschiedlich auslegen. Der Begriff der Verbindlichkeit zeige jedoch, dass das Erlaubnisgesetz nicht, wie Hruschka argumentiert, auf bloß erlaubte, moralisch neutrale Handlungen bezogen sei, sondern auf solche, die eigentlich unter ein Verbotsgesetz der reinen praktischen Vernunft fallen. Zudem sei das Erlaubnisgesetz nicht ausschließlich in der Rechtsphilosophie Kants verortet, sondern erhalte, wie in den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre verdeutlicht wird, auch allgemein in der Moralphilosophie eine spezifische Bedeutung, der zufolge es als Rechtsinstrument der Vernunft eine Vermittlungsfunktion übernimmt, die auch situative Umstände mitbedenken müsse. In seinem Beitrag „Warum ist ‚[d]er Ursprung der obersten Gewalt […] für das Volk, das unter derselben steht, in praktischer Absicht unerforschlich‘? Über systematische Gründe politisch-juridischer Verbindlichkeit bei Kant“ untersucht MICHAEL STÄDTLER Kants theoretisches Konzept von Verbindlichkeit als in der Reflexivität des Subjekts gegebenes Vermögen und trennt zwischen formalen Bedingungen und materialen Inhalten der Verbindlichkeit, die in Gestalt allgemeiner und notwendiger Urteile vermittelt werden. Kants moralphilosophische Begründung von Verbindlichkeit kontrastiere jedoch mit seiner politischen Philosophie, in der Kant auch unvernünftigen Normen Verbindlichkeit zuspreche. Diese Aufwertung eines politischen Pragmatismus sei innerhalb der Systematik von Kants praktischer Philosophie allerdings nur vermeintlich inkonsistent und erweise sich als eine vom Rechtsbegriff her gedachte Einheit des Rechts, mit der Kant u.a. das Widerstandsverbot gegen illegitime Herrschaftsverhältnisse rechtfertigt. Weil in Kants Rechtstheorie jedoch vernunftrechtliche Normierungen in empirischen Bedingungen des Rechts – etwa dem gewaltförmigen Ursprung von Staatlichkeit – kulminieren, bleibe das Verhältnis von systematischen und historischen Bestimmungen im Begriff der Verbindlichkeit letztendlich ungeklärt und könne auf geschichtsphilosophischer Ebene nur durch einen teleologisch gedachten Naturbegriff aufgelöst werden. III. Pluralisierung der Verbindlichkeitsdiskurse. Bereits im 17. Jahrhundert führen konfessionelle Konflikte sowie andere politisch destabilisierende Prozesse zum Bedarf und entsprechend zur Herausbildung von kreativen und differenzierten Verfahren zur Generierung und Sicherung von Verbindlichkeit in
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den unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft. Mit der dritten Sektion des Sammelbandes wird diese Pluralisierung der Verbindlichkeitsdiskurse anhand der bildenden Kunst, der Pädagogik, der Literatur und der Ästhetik exemplarisch in den Blick genommen. Dabei werden aber auch die mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert beginnende Infragestellung deontologischer Verbindlichkeitskonzepte sowie deren historische Bedingungen und literarisch-ästhetische Ausformulierungen diskutiert. Die Suche nach alternativen Mechanismen zur Generierung von Verbindlichkeit führt bereits in der Frühneuzeit, wie CAROLIN PECHO in ihrem Beitrag über „Habsburger-Portraits als Kristallisationspunkte einer verbindlichen Politik Anfang des 17. Jahrhunderts“ zeigt, zur Herausbildung neuer Begründungsformen von Verbindlichkeit, die über bloß juridisch-politische Modelle hinausreichen. Dabei rückt die bildende Kunst als Medium in den Blick: Deren verbindlichkeitsstiftende Funktion zeigt sich in den visuellen Strategien, die in den Habsburger-Portraits zur Stabilisierung von Herrschaftsansprüchen im privaten und öffentlichen Raum eingesetzt werden. Daneben tritt im 18. Jahrhundert wesentlich die Literatur als Reflexionsmedium von Verbindlichkeit, wobei nicht zuletzt deren Problematisierung zunehmend in den Blick kommt. In seinem Beitrag „Fiktionale Diskurse der Verbindlichkeit in der britischen Literatur des 18. Jahrhunderts von Daniel Defoe bis William Godwin“ skizziert TILL KINZEL die Verbindlichkeitsdiskurse der englischsprachigen Literatur; anhand ausgewählter Werke von Daniel Defoe, Samuel Richardson, Laurence Sterne und William Godwin werden wesentliche Etappen der Auseinandersetzung mit zwischenmenschlichen Verbindlichkeitsforderungen in der englischsprachigen Literatur des 18. Jahrhunderts darstellt. Zwar wird einerseits eine durchgängige Bezugnahme auf moralphilosophische Diskurse (etwa auf die moral-sense-Debatte oder die Theorien der Cambridge Platonists) dargestellt; aber zugleich wird das Konzept der Verbindlichkeit problematisiert, da die Verstrickungen, in die die Handlungszusammenhänge der literarischen Figuren gestellt werden, die Grenzen rationalistischer Verbindlichkeitsbegründungen und -auslegungen in Frage stellen. Die Pluralisierung des Verbindlichkeitsdiskurses und seine Ausdehnung über den Bereich juridisch-politischer Handlungen hinaus auf verschiedene Bereiche der Gesellschaft werden auch am Beispiel der Pädagogik deutlich. Pestalozzis Pädagogik partizipiert dabei wesentlich an aufklärerischen Modellen, indem sie Verbindlichkeit als dialogisches Verhältnis zwischen Subjekten begreift, wie KEVIN DEAR in seinem Beitrag „Verbindlichkeit in der Aufklärungspädagogik. Pestalozzi über Pflicht und Sittlichkeit“ argumentiert. Bezugspunkt ist dabei die Erziehungstheorie Johann Heinrich Pestalozzis in Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts. Pestalozzi verortet das Subjekt in einem dreistufigen Modell – dem Naturstand, dem gesellschaftlichen Zustand und dem sittlichen
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Zustand –, wobei er die Individualität des Subjekts als verbindlichen Beweggrund der sittlichen Pflicht versteht. Inwiefern die Pädagogik von den moralphilosophischen Umbrüchen des 18. Jahrhunderts geprägt ist, zeigt Dear abschließend exemplarisch anhand einer Analyse der Einflüsse Kants und Rousseaus auf das Werk Pestalozzis. Diese dialogische Begründung der Verbindlichkeit in aufklärerischer Tradition wird auch in Goethes Iphigenie greifbar, mit der sich HAUKE KUHLMANN in seinem Beitrag „Dialog, Verbindlichkeit und Handlungsbrüche in Goethes Iphigenie auf Tauris“ auseinandersetzt. Ausgehend von der Funktion des Dialogs im Drama der Aufklärung für die Autonomisierungs-, Emanzipierungsund Humanisierungsvorgänge kann man an Goethes Text sehen, wie innerhalb der Handlung alternative verbindlichkeitsstiftenden Mechanismen generiert werden. Durch die Abkopplung der Handlung von tradierten archaisch-mythologischen Maßstäben sowie die teilweise aufgehobenen poetologischen Kriterien von Kausalität und Wahrscheinlichkeit erscheint diese Verbindlichkeit jedoch als brüchig und abhängig von situativer Gültigkeit. Solche Problematisierungen der Verbindlichkeit, die gerade mit einer Aufmerksamkeit auf deren Widersprüche und inhärenten Brüche einhergehen, verschärfen sich wesentlich im späten 18. Jahrhundert. Im Zuge der epochalen Erfahrungen der Französischen Revolution verlieren, wie GEORG ECKERT („Beliebige Verbindlichkeiten. Zur Formierung eines Konzepts an der Wende zum 19. Jahrhundert“) argumentiert, deontologische Modelle von Verbindlichkeit rasch an Bedeutung: Nach 1789 werde, so Eckert, innere Verbindlichkeit zum „Phantom“: „Bereits ihr Lob bei Immanuel Kant war gleichsam ein philosophischer Versuch, zu retten, was in der politisch-sozialen Wirklichkeit längst kaum mehr zu retten war“ (242). Diese Entwicklung skizziert Eckert in einer vergleichenden Analyse der politischen und rechtstheoretischen Ansätze von Friedrich von Gentz, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Carl Friedrich von Savigny und Ludwig August von Rochau. Die Zäsur der Französischen Revolution hinterlässt sichtbare Spuren besonders in der Literatur, die als ein gesellschaftliches Reflexionsmedium auf solche Infragestellungen von Verbindlichkeit seismographisch reagiert. So etwa artikuliert Schillers Wallenstein angesichts einer Aufkündigung des optimistischen Geschichtsverständnisses der Aufklärung auch eine tiefe Skepsis gegenüber dem tradierten Konzept von Verbindlichkeit. Wie SIMON BUNKE in seinem Beitrag „Schillers Wallenstein als Drama der Verbindlichkeit“ zeigt, erproben die Figuren des Textes angesichts eines undurchschaubar gewordenen historischen Prozesses immer neue Möglichkeiten der Generierung von Verbindlichkeit, die jedoch allesamt scheitern: Weder politische Macht noch charismatische Eigenschaften, weder vertragliche Beziehungen noch transzendente oder quasi-religiöse Instanzen vermögen Verbindlichkeit zu stiften. Kann die Genese verbindlicher Aktionen, wie Schiller z.B. mit dem Schluss
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von Wallensteins Tod vorführt, rational nicht mehr eingeholt werden, so scheitern hier die Versuche einer Verbindlichkeitsstiftung letztendlich an einer radikalen Kontingenz, die keine eindeutigen Stabilisierungsfunktion mehr besitzt. In seinem Beitrag „Vorschule der Ästhetik. Zur Verbindlichkeit unverbindlicher Definitionen bei Jean Paul“ analysiert CHRISTIAN SINN abschließend Jean Pauls alterierende, durch intermediale Verweise gekennzeichnete Auseinandersetzung mit einem Verständnis von Verbindlichkeit, das auf das Besondere und Spezifische, jedoch nicht auf allgemeine Abstrakta ausgerichtet ist. Sinn stützt sich dabei unter anderem auf Jean Pauls Intermedialitätstheorie in der Vorschule der Ästhetik, die durch Verknüpfung und Trennung von Begriff und Bildvorstellung eine dynamische Auseinandersetzung mit dem Topos der Verbindlichkeit entwickelt. Zwar rekurriert Jean Paul auf traditionelle Regeln methodisch-literarischen Schaffens, doch kontrastiert er diese mit einem intermedialen Code, der Begrifflichkeiten in einem Vexiermuster unterschiedlicher medialer Darstellungsformen aufgehen lässt. So kommt es, auch durch Verweis auf die Einbildungskraft, die durch die Ausbildung einer eigenen Traumästhetik einen graduellen Übergang zwischen Traum und Wachen, Anschauung und Begriff ermöglicht, zu einer Fragmentierung unterschiedlicher Verbindlichkeitstopoi, die sich einseitigen Auslegungen entzieht. Der vorliegende Band endet also gerade in seinen letzten Beiträgen mit einem Ausblick auf jene Theorieumbrüche, die die Kulturtheorie des 20., aber auch noch des 21. Jahrhunderts prägen werden. Durch den Einbruch der Kontingenz in das Verbindlichkeitsdenken erübrigt sich die Frage nach der Begründung und der Reichweite verbindlicher Normierungen jedoch gerade nicht, sondern muss unter Berücksichtigung unterschiedlichster Faktoren immer wieder neu, wenngleich kontrovers verhandelt werden.
Literatur BAGNOLI, CARLA: „Respect and Obligation. The Scope of Kant’s Constructivism“, in: Stefano Bacin/Alfredo Ferrarin /Claudio La Rocca/Margit Ruffing (Hrsg.): Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht. Akten des XI. Internationalen Kant-Kongress, Bd. 3, Berlin: 2013, 29–40. BEHRENDS, OKKO/DIESSELHORST, MALTE: Libertas. Grundrechte und rechtsstaatliche Gewährungen in Antike und Gegenwart. Ebelsbach/Main 1991. BLACKBURN, SIMON: The Oxford Dictionary of Philosophy. New York 1994. BÖHLER, DIETRICH: Verbindlichkeit aus dem Diskurs. Denken und Handeln nach der sprachpragmatischen Wende. Freiburg 2013. BRANDT, REINHARD: Rechtsphilosophie der Aufklärung. Berlin 1982. CHAUVIN, STEPHANUS: Lexicon rationale sive thesaurus philosophicus Ordine Alphabetico digestus. Rotterdam 1692.
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CICERO, MARCUS TULLIUS: De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln. Lateinisch und deutsch, übers., komm. und hrsg. von Heinz Gunermann, Stuttgart 2007. DARWALL, STEPHEN: „The foundations of morality: virtue, law, and obligation“, in: Donald Rutherford: The Cambridge Companion to Early Modern Philosophy, Cambridge 2006. FORSBERG, RALPH P.: Thomas Hobbes’ Theory of Obligation: A Modern Interpretation. Toronto 1990. JUSTINIAN: Codex Iustinianus [Corpus Iuris Civilis]. Hrsg. von Paulus Krueger, Berlin 1877. KANT, IMMANUEL: Kants Schriften, Hrsg. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902ff. KAUFMANN, MATTHIAS: Rechtsphilosophie. Freiburg 1996. KERSTING, WOLFGANG: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie. Paderborn 2007. –: Kant über Recht. Paderborn 2004. KÉRY, LOTTE: Gottesfurcht und irdische Strafe: Der Beitrag des mittelalterlichen Kirchenrechts zur Entstehung des öffentlichen Strafrechts. Köln 2006. KÖBLER, ULRIKE: Werden, Wandel und Wesen des deutschen Privatrechtswortschatzes. Frankfurt/Main 2010. KOBUSCH, THEO: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild. Darmstadt 1997. KÜHNEWEG, UWE: Das neue Gesetz: Christus als Gesetzgeber und Gesetz: Studien zu den Anfängen christlicher Naturrechtslehre im 2. Jahrhundert. Marburg 1993. LOCKE, JOHN: Second Treatise of Government, Raleigh N.C. 2001. LUTZ-BACHMANN, MATTHIAS: „Der Mensch als Person. Überlegungen zur Geschichte des Begriffs der „moralischen Person“ und der Rechtsperson“, in: Eckart Klein/Christoph Menke (Hrsg.): Der Mensch als Person und Rechtsperson. Grundlage der Freiheit. Berlin 2011, 109–120. PRODI, PAOLO: Eine Geschichte der Gerechtigkeit: Vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat. Aus dem Italienischen von Annette Seemann. München 2003. –: Das Sakrament der Herrschaft. Der politische Eid in der Verfassungsgeschichte des Okzidents. Berlin 1997. PUFENDORF, SAMUEL: Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Hrsg. u. übers. von Klaus Luig. Frankfurt/Main 1994. –: De jure naturae et gentium libri octo. Lund 1684. SCHNEEWIND, JEROME B.: „Kant and Natural Law Ethics“, in: Ethics 104 (1993), 53–74. SCHNEIDER, MANFRED: Die Ordnung des Versprechens. Naturrecht – Institution – Sprechakt. München 2005. SCHULZE, GÖTZ: Die Naturalobligation. Rechtsfigur und Instrument des Rechtsverkehrs einst und heute – zugleich Grundlegung einer zivilrechtlichen Forderungslehre. Tübingen 2008. SPANUTI, HERMANN J.: Teutsch-Orthographisches Schreib-, Conversation-, Zeitungs- und Sprüchwörter-Lexicon. Leipzig 1720. SPERANDER: A la Mode – Sprach der Teutschen, oder compendieuses Hand-Lexicon, in welchem die meisten aus fremden Sprachen entlehnte Wörter und gewöhnliche RedensArten, so in denen Zeitungen, Briefen und täglichen Conversationen vorkommen, klar und deutlich erkläret werden. Nürnberg 1727. WOLFF, CHRISTIAN: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, worinn alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigen Zusammenhange hergeleitet werden. Halle 1754.
Frühneuzeitliche Verbindlichkeitskonzepte und ihre Entwicklung im 18. Jahrhundert
Obligatio Instanzen und Fundamente von Verbindlichkeit: Melanchthon – Pufendorf – Hobbes – Rousseau Oliver Bach Als Thomas Morus in seiner Utopia auf die Motivation der Inselbewohner wie jedes Menschen zu sprechen kommt, Gesetze einzuhalten, heißt es: [D]eshalb glauben die Utopier, daß nach diesem Leben Strafen für unsere Verfehlungen festgesetzt, Belohnungen für unsere Tugenden uns bestimmt sind. Wer das Gegenteil glaubt, den zählen sie nicht einmal unter die Menschen […]; noch viel weniger denken sie also daran, ihn unter die Bürger zu rechnen: würden ihm doch alle bürgerlichen Einrichtungen und moralischen Grundsätze keinen Pfifferling gelten, wenn ihn nicht die bloße Furcht in Schranken hielte.1
Über die Willentlichkeit und Wissentlichkeit des Gesetzesinhalts hinaus wird die im starken Sinne zusätzliche Instanz einer äußeren Verpflichtungsgewalt als unabdingbar begriffen. Es ist dabei historisch-systematisch keineswegs paradox, dass diese, dem Gesetzesinhalt gegenüber externe Gewalt oder Kraft (vis) als dem Gesetzesbegriff wesentlich erachtet wird. 2 Es ist besonders das 16. Jahrhundert, das die Frage nach einer solchen Instanz – die bislang offenbar vermehrt für unproblematisch empfunden wurde – nunmehr nachdrücklich stellt. Die Herausforderung, auf die das 16. Jahrhundert mit dieser Ausbuchstabierung von gleichzeitig gehaltsexterner und begriffsimmanenter vis obligativa reagiert, hat im Blick der zeitgenössischen Polemik einen klaren Namen: Machiavellismus. Die Rechtsphilosophie sah sich seit Machiavellis apriorischem Pragmatismus einem enormen Säkularisierungsdruck ausgesetzt, der sich im Hinblick gerade auf ein überpositives Recht in einer Frage zuspitzte: Warum überhaupt soll ein überpositives, universales Recht gelten? Neben den materialen Entwürfen, wie ein natürliches Recht bestimmt werden könne, bildete vor allem diese begründungstheoretische Problematik einen Angelpunkt des postthomistischen Rechtsdenkens, auch der Rechtstheologie. Daher strebt der Beitrag eine Skizze 1 2
MORUS 2009, 130f. Vgl. HARTUNG 1998.
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derjenigen prominenten Ideen des 16.–18. Jahrhunderts an, denen es besonders um die Verpflichtungskraft als solcher zu tun ist. Die vier ‚Titelhelden‘, deren Ansätze im Vordergrund stehen sollen, sind natürlich sehr unterschiedlich in ihren Methoden, Fundamentlegungen und Perspektivierungen. Dennoch bzw. gerade deshalb legt eben dieses Setting offen, was diese Lehren ihrer systematischen Differenz zum Trotz allemal gemein haben: die Suche nämlich nach dem Grund oder der Ursache der Verpflichtungskraft von Gesetzen, genauer gesagt derjenigen Gesetze, die nicht selbst schon einen irdischen Souverän als Stifter und eine irdische Vollzugsinstanz kennen wie das positive Recht – die natürlichen und/oder göttlichen Gesetze. Ich nenne sie hier der größeren Allgemeinheit halber auch transhumane Gesetze. Gerade bei dieser Gesetzesgattung ist die Geltungsfrage besonders triftig, und das in gleich doppelter Hinsicht: Denn was garantiert ihre objektive Zutreffendheit, was ihre subjektive Verbindlichkeit? Positives Recht vermag zumeist eines dieser Kriterien zumindest so stark zu erfüllen, dass es überzeugend ‚wirkt‘: Seine Sätze sind die, welche in entsprechenden Korpora dezidiert niedergelegt sind, und wer sich davon noch nicht hinreichend überzeugen lässt, den lässt doch zumindest die augenscheinliche Strafandrohung Skrupel gegen einen Rechtsverstoß entwickeln. Dieser empirischen Augenscheinlichkeit von Text einerseits und Gefängnis, Ketten, Richtplatz usw. andererseits entbehrt das transhumane Recht nun gerade. Natürlich gab es Vorstellungen von transhumanen Strafen in Form von Naturkatastrophen und Plagen. Jenseits der Theorie erschienen diese Phänomene allerdings dergestalt ohne Regel, dass sie die Theodizee-Frage eher provozierten als beantworteten. Das transhumane Recht muss seine Evidenz anders gewinnen als das positive Recht, und nicht nur das: Es muss eben auch seine systematische Prävalenz gegenüber dem positiven Recht beweisen. Um nicht als zwar allgemeinere, aber doch nur hehre Ethik zu gelten, hat dieses transhumane Recht seine Universalität ebenso argumentativ einzuholen wie seine Verpflichtungskraft als Recht. Damit schicke ich ein entscheidendes Bestimmungselement des Gesetzesbegriffs voraus: Das Gesetz besticht eben durch seine Verpflichtungskraft, es ist nicht bloßer Ratschlag (consilium), den zu befolgen dem freien Belieben des Beratschlagten anheimgestellt wäre, sondern es ist vordringlich Vorschrift (praeceptum) und Befehl (iussus), bei dessen Nichterfüllung Sanktionen drohen.3 3 z.B. MELANCHTHON 1558, Sp. 284: „Gebot nennet man die von nötigem gehorsam reden/ also/ das alles so wider die gebot Gottes ist/ ist sünde/ vnd bringet ewige straffe […] Radt nennet man diese lere/ die nicht Gebot ist/ vnd macht das werck nicht nötig/ aber sie lobet das werck/ als vnstrefflich/ vnd etwa zu nützlich.“; ders. 1559, Sp. 126, wo Melanchthon ausgerechnet den Scholastikern zum Vorwurf macht, im Hinblick auf das Zölibat zwischen consilium und praeceptum nicht unterscheiden zu können: „Non est autem quod hic disputes, utrum consilia sint superiora praeceptis, Scholasticorum sunt istae ineptiae, qui neque quid praeceptum, neque quid consilium esset, intelligebant.“; PUFENDORF 1997, I. II.
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A. Philipp Melanchthon Philipp Melanchthons Naturrechtslehre versucht bereits, diese Herausforderungen mit einer systematischen Volte aufzufangen und zu erfüllen: Die practicae notiones beziehen ihre Universalität unter den Menschen daraus, dass sie ideae innatae, angeborene Ideen sind, die jedem Menschen gemein sind. Entscheidend ist nicht nur die Angeborenheit dieser praktischen Kenntnisse. Setzte man den Innatismus Melanchthons nur als propositionalen vom dispositionalen Innatismus Descartesʼ ab – also das Angeborensein gehaltlich bestimmter Ideen vom Angeborensein der Fähigkeit ihrer Herausbildung – so entginge einem ein signifikantes Charakteristikum: Denn diese practicae notiones sind gerade darum certae notiones, können gerade deshalb Gewissheitsanspruch erheben, weil sie nicht nur von Gott gestiftet sind, sondern weil sie zudem nicht korrumpierbar sind. Der Mensch kann zwar wider sie handeln, er kann aber nicht ihre Kenntnis verdrängen oder verfälschen. Das Erkenntnis-‚Organ‘ der juridischen Vernunft ist dem menschlichen Eingriff also entzogen und damit ist unrechtes Handeln immer wissentlich unrechtes Handeln. Im forum conscientiae haben die angeborenen Rechtskenntnisse allerdings nicht nur ihren ‚Promulgationsraum‘, sondern auch schon ihren ersten Richtplatz: Die Gewissensqual ist ebenso garantiert wie die Richtigkeit der Fundamentalnormen, denn insofern das forum conscientiae nichts anderes als das forum Dei selbst ist, ist schon das Rechtsempfinden des Menschen nicht etwa autonom, sondern theonom. Hier ist allerdings auf einen Zwiespalt aufmerksam zu machen, der sich bei Melanchthon auftut: Auf der einen Seite, so hält schon Clemens Bauer 1951 fest, erlaubt der Innatismus Melanchthon eine Abstraktion vom aristotelischen Iusnaturalismus, wie sie eigentlich umwälzender nicht hat sein können: Denn für den Innatismus war die Unterscheidung von Naturzustand und status civilis eigentlich schlicht unerheblich, weil der Mensch so und so die zutreffenden Fundamentalnormen von Geburt an kennt. Bauer schränkt daher den Terminus ‚Naturrecht‘ im Hinblick auf Melanchthon zurecht ein, spielt die Natur doch als Beweismittel kaum mehr eine Rolle. Triftiger wäre wohl in der Tat die Rede von einem theonomen Vernunftrecht oder einem intrarationalen göttlichen Recht4 beim Wittenberger, aber auch dies nur unter erheblichen Abstrichen. Denn in der Tat lässt sich auch für Melanchthon das Wissen davon, dass Gott diese Fundamentalnormen als räumlich wie zeitlich konstante Gesetze erlassen hat, nicht aus dem Innatismus selbst erbringen. An der Stelle der Heubtartikel christlicher Lehre nämlich, an der es um die Invarianz von Gottes § 1–7, besonders § 7: „Cujuslibet legis perfectæ duæ partes sunt: una, per quam definitur quid sit faciendum, quidvè omittendum: altera, per quam indicator, quondam malum sit propositum ei, qui præceptum intermittit, & interdictum facit.“ Hervorhebung im Text. 4 BAUER 1951, 87.
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Ratschluss bezüglich seiner Gesetze geht, argumentiert Melanchthon gerade nicht mehr vernunftrechtlich oder auch nur innatistisch, sondern offenbarungstheologisch: Und ist erstlich diese Tugent in Gott volkomen vnd fürnemlich/ denn er verstehet alles gründlich wie es ist/ vnd redet also da von/ vnd ist nicht vnbestendig/ Darumb spricht Gott […] Ich bin der HERR vnd ich verendere mich nicht/ Darumb sollen wir von seinen reden nicht zweifeln.5
Als Beweis dafür, dass Gott seinen Willen respektive seine Gebote nicht verändert und sie damit einhaltbar bleiben, fungiert Mal 3,6: „[I]ch bin der HERR / der nicht aleuget [aMarg.: „Ders nicht endert. Ders da bey bleiben lesst]“. 6 Hatte Melanchthon also versucht, mit Hilfe seines Innatismus die kognitive Segmentalität eines geoffenbarten Rechts gerade zu beseitigen, so fängt er sich dieselbe obligationstheoretisch wieder ein: Notwendige adäquate Kenntnis davon, dass Gottes Gesetze konstant sind, kann nur derjenige haben, der das nicht angeborene Offenbarungszeugnis Mal 3,6 kennt. Melanchthon hat durchaus Gründe, dies zu tun. Damit wehrt Melanchthon nämlich einer dergestalt antivoluntaristischen Polemik, mit der Annahme eines absolut freien Willens Gottes wären dessen Beschlüsse faktisch unbefolgbar. 7 Gleichzeitig weiß Melanchthon die in der Tat problematische prinzipielle Zügellosigkeit eines antiintellektualistischen göttlichen Willens, der nicht einmal (wie bei Luther) an das Widerspruchsverbot gebunden ist, zu entschärfen, indem er den absoluten göttlichen Willen auf sich selbst anwenden lässt: Gott unterwirft sich dem Widerspruchsverbot nicht aus Zwängen seitens der ratio, sondern aus seinem eigenen Willensentschluss. Dank dieser geschickten Volte Melanchthons, mit der ein hinsichtlich der Omnipotenz allgemeiner Voluntarismus gerade gegen einen hinsichtlich des von Gott Gesagten nur speziellen Voluntarismus verteidigt wird, kann der Mensch auf die Beständigkeit des von Gott geoffenbarten Wortes zählen. Dennoch: Seine obligationstheoretische Ubiquität büßt das transhumane Recht bei Melanchthon dadurch wieder ein.
MELANCHTHON 1558, Sp. 244. LUTHER 1972, 1671. 7 Im Rahmen des von Duns Scotus angestoßenen Voluntarismus-Streits wurde vor allem davon ausgegangen, dass die lex naturalis nicht aus der göttlichen Ordnung ableitbar sei, da es sich nicht wesentlich aus dieser, sondern aus Gottes Wille ergibt. Merio Scattola weist allerdings genauso wie Ernst-Wolfgang Böckenförde zurecht daraufhin, dass dieser gründungstheologische Voluntarismus nicht geltungstheoretisch dahingehend überschätzt werden sollte, dass von namhaften Voluntaristen tatsächlich die Konstanz und Geltung des göttlichen und natürlichen Recht bestritten worden wäre: SCATTOLA 1999, 32: „Auch Willhelm von Ockham, der radikalste unter den Voluntaristen und Nominalisten, ging davon aus, daß einige göttliche Gebote jedem Menschen angeboren und ›der natürlichen Vernunft angemessen‹ sind.“; BÖCKENFÖRDE 2006, 306. 5 6
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B. Samuel Pufendorf Samuel Pufendorfs Naturrechtslehre versucht einen anderen Weg zu gehen: Die Fundamentalnormen des transhumanen Rechts sind bei Pufendorf weniger angeboren als aus dem fingierten, abstrakt gebildeten Naturzustand zu erschließen. Damit will Pufendorf wieder vermehrt Naturrecht betreiben. Es ist entscheidend zu untersuchen, wie diese als fictio Pufendorffiana berühmt gewordene Abstraktion genau verfährt. Man kann wohl sagen, dass es sich mit ihr komplexer verhält, als mit dem Etikett mos geometricus bzw. der resolutivkompositiven Methode erledigt werden könnte. Explizit, de dicto, möchte sich Pufendorf dieser Herangehensweise bedienen. In langen wissenschafstheoretischen bzw. methodologischen Briefen an Johan Christian von Boineburg legt Pufendorf diese Absicht offen, um sich sowohl gegen den Innatismus als auch gegen das aristotelische Naturstandsdenken abzusetzen. Jenes ist ihm zu wohlfeil, weil die Universalität des Naturrechts durch die kognitionstheoretische These ihrer Angeborenheit letztlich wieder nur behauptet wird (also keinen Beweis erbringt, sondern nur eine Behauptungsverschiebung); dieses macht es sich seiner Ansicht nach gleichfalls zu einfach, weil auch die Behauptung, dass der Mensch ein animal sociale sei, selbst eines Beweises bedarf: Mea sententia duae heic dantur viae [...] Unam secuti sunt potissimum Mathematici, qui ex paucis principiis immensam vim conclusionum elicere amant. Alteram ingressi sunt, quibus res naturales investigare cordi fuit. Scilicet ut ex observatione et collatione plurium singularium tandem aliquod generale concluderent decretum. Posteriorem hanc viam in hac quoque materia insistendam esse nonnulli me admonuerunt. [...] Ab orbe condito plurimi populi floruerunt, moribus atque institutis longe diversissimis [...] Denique si hanc viam insistimus, non jus aliquod universale extruemus, sed illud penitus eversum ibimus. Vix enim credo dari ullum praeceptum juris naturae, in quod non impingant publice adprobati et recepti gentis alicuius mores […] Rejecta itaque hac methodo, ego Mathematicos potissimum heic sequendos censuerim. 8
Pufendorf möchte aus der Beobachtung der menschlichen Natur(en) Einzelsätze gewinnen (resolutio), die sich zu einer umfassenden Charakterisierung der allgemeinen menschlichen Natur wieder zusammenführen bzw. zusammensetzen lassen (compositio). Wenn es nun um diese Beobachtung geht, spricht Pufendorf in seinen methodologischen Selbstverortungsversuchen von observatio, colligere/collectio und collatio. Diese Signalwörter stellen natürlich einen Empirismus in den Raum, und ein solcher ist für Pufendorfs Fall auch behauptet worden. 9 Pufendorf sucht bewusst den vordergründig induktiven Weg, weil ihm im Rahmen eines reinen Deduktionismus die Fundamentalsätze seiner Wissenschaft (die ἀρχαι) selbst nicht bewiesen, sondern nur behauptet werden 8 Pufendorf an Johan Christian Boineburg, Heidelberg, 13.1.1663: PUFENDORF 1996, 24– 29, hier 26. 9 BEHME 1995, 34.
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konnten. Ein solches Setzen dieser Fundamentalnormen sucht er genauso zu vermeiden wie einen infiniten Regress. De dicto erklärt Pufendorf diese Absicht; wie verhält es jedoch de re? Wie weit trägt dieser Empirismus Pufendorfs? Wie weit gelangt er aus Pufendorfs Methodologie tatsächlich in Pufendorfs Methodik im Vollzug seiner Naturrechtslehre? Pufendorf vollzieht diese observationes in seinem Hauptwerk De Jure Naturae et Gentium (1672) weniger ausführlich als schon 1660 in den Elementorum Jurisprudentiae Universalis libri duo. „Die Gewissheit der Beobachtungssätze“, so Pufendorf wörtlich, „wird aus der Sammlung (collatio) und dem Erfassen (perceptio) dieser einzelnen, sich entsprechenden Beobachtungen entnommen.“ 10 Die erste Observatio lautet, dass der Mensch auf Grund seiner Vernunftbegabung über ihm verständliche Dinge angemessen urteilen kann. 11 Die zweite Observatio zielt auf den menschlichen Willen, der dem Menschen erlaubt, Handlungen durchzuführen oder zu unterlassen, unabhängig vom Vernunfturteil über diese Handlung. 12 Man könnte meinen, hieraus ließe sich nun darauf schließen, der Mensch bedürfe eines Gesetzes, das ihn als zusätzliche äußere Instanz zu einer Handlung an- oder von ihr abhält. Tatsächlich verfährt Pufendorf genau umgekehrt: Er folgert die Möglichkeit von Durchführung respektive Unterlassung einer Handlung aus der bereits vorangenommenen Existenz von Gesetzen: „Weil der Mensch vom Schöpfer als Tier geformt wurde, das durch Gesetze zu regieren ist, musste er einen Willen haben, als inneren Lenker seiner Handlungen.“ 13 Die zweite Observatio besitzt also kaum wirkliche Beweiskraft, ist sie doch erstens keine Beobachtung, sondern eine Folgerung, und zweitens ist sie dies innerhalb eines Zirkelschlusses. Hier soll die Notwendigkeit von Gesetzen, natürlichen wie bürgerlichen, durch einen ihr vorangehenden angeblichen Beobachtungssatz bewiesen werden, dem die Wirklichkeit von Gesetzen wiederum schon vorausgeht. Die dritte Observatio führt durch, wovon sich die Observationes eigentlich als selbstständig unterscheiden wollten: Sie bringt das theologische Argument von der hervorragenden Stellung des Menschen in der Schöpfung an. Im Rahmen eines Gedankenexperiments zeigt Pufendorf den Zustand des Menschen auf, wäre der wie jedes andere Tier nicht durch Obligationen gebunden: […] sic si nulla mihi adversus ullum hominem esset obligatio, posita naturali facultate alterum laedendi vel etiam occidendi, liceret mihi utique vitam ac membra mea quantum
10 PUFENDORF 1999 (im Folgenden abgekürzt als EJU), II. A I. § 1: „Horum vero certitudo ex singulorum constanter sibi respondentium collatione ac perceptione intelligitur. Quae Observationes nobis dicentur, uti illa Axiomata.“ 11 EJU II. O I. § 1. 12 Siehe hierzu in der ersten Observatio: EJU II. O I. § 5. 13 EJU II. O II. § 1: „Homo cum à Creatore formandus esset animal per leges gubernandum, voluntatem habere debeat, actionum suarum internam moderatricem, […]“.
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possem tueri, omniaque media eo inservientia adhibere, quorum ad finem aptitudinem penes me solum esset judicare; adeoque possem non tantum mihi vindicare ea omnia, quae conducere mihi judicassem, sed etiam quemcunque hominem occidere, debilitare aut alio modo constringere, siquidem id securitati meae expedire videretur; cui utique in tali statu, nulla obligatione mutua existente, nisi per vim, prospicere non possem. Atque idem cum cuilibet in quemlibet licuisset, quid aliud, quam rapaces in proprium genus belluae fuissent homines? Enimvero cum in tali statu homines nunquam extiterint, nec ex intentione Creatoris unquam existere debuerint.14
Das Gedankenexperiment abstrahiert also vom appetitus societatis, womit Pufendorf doch den hobbesianischen Naturzustand in seine Argumentation einführt, von dem sich der seine durch die socialitas unterscheidet. Er führt Hobbes’ Idee vom status naturalis als gottlos vor, um die Bedeutung der Gottesinstanz für die naturrechtliche Geltungstheorie aufzuzeigen. 15 Pufendorf stellt das Ergebnis dieser Abstraktion jedoch nicht als widersinnig oder auch nur fatal dar, um sein Naturzustandstheorem von der socialitas zu beweisen, sondern er erklärt seines schlicht als göttlich geboten: Unde quoque incommoda ex tali statu resultantia directe non debent substerni pro fundamentis legis naturae, […] sed illud potius, quod Deus directe destinaverit hominem ad colendam vitam socialem. 16
Der Beweis der socialitas in der Natur des Menschen wird von der Ebene angeblich empirischer Argumentation auf die Ebene eines theologischen Dogmas verschoben.17 Bei Samuel Pufendorf ist also nur genauso ein theonomes Moment an entscheidender obligationstheoretischer Stelle zu vermerken: nicht nur hinsichtlich der Verpflichtungskraft der Naturrechtsnormen, die nicht aus der Natur selbst kommen kann (als einer quasi strafenden Natur) und auch nicht aus einer tatsächlichen Denknotwendigkeit dieser Normen (also der schlichten Widersprüchlichkeit und Selbstverleugnung, auf die ein Verstoß in seiner Verallgemeinerung hinausliefe). Gott diktiert schon den Gehalt der Fundamentalnorm der socialitas im starken propositionalen und materialen Sinne und fernab eines echten Beobachtungssatzes. Man kommt nicht umhin: Pufendorfs Empirismus ist ebenso wie sein mos geometricus letzthin, d.h. ausgerechnet respektive der Fundamentalnorm, die es zu beweisen galt, ein Etikettenschwindel und deren Geltung wie das Wissen um ihren Verpflichtungscharakter schlicht angeboren: Die Fundamentalnorm gilt, weil Gott sie strafbewehrt gewollt hat – dass am Geltungshorizont dieses angeblich schon profanen, ja rationalistischen Naturrechts nicht nur Gott, sondern darüber hinaus noch ein EJU II. O III. § 6. LUTTERBECK 2005, 364. 16 EJU II. O III. § 6. 17 Klaus-Gert Lutterbeck stuft im Fokus der Geschichte der praktischen Philosophie Pufendorfs Naturrechtskonzeption als entsprechend reaktionär ein (LUTTERBECK 2005, 364). 14 15
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grundlegend voluntaristisches Moment steht, führt Pufendorfs Scheitern noch radikaler vor Augen. Genauso aber führt es die Erkenntnis vor Augen, dass es in der Tat noch mehr bedurfte: Es mussten noch Rousseau und Kant folgen, um diesem Ungenügen beizukommen.
C. Thomas Hobbes Es ist entscheidend, kurz festzuhalten, worin sowohl Melanchthon als auch Pufendorf nach wie vor der Tradition folgen; nämlich in der Annahme einer teleologisch veranlagten Natur: Der Zustand der Menschheit, gedacht als natürliche Rechtsgemeinschaft, ist letztlich ein Zustand prästabilierter Harmonie. Natürlich gibt es Kriege und Verbrechen, diese jedoch sind schon Ausnahmen von diesem Zustand, Verstöße gegen seine rechtsförmige Gesetzmäßigkeit. Die Natur ist zweckmäßig eingerichtet, entsprechend hat der Mensch sowohl das Recht als auch die Pflicht, diese ihm nur natürlichen Zwecke zu verfolgen.18 Georg Geismann hat schon mehrfach herausgestellt, was die rechtsphilosophischen – nicht ethischen! – Mängel dieses Naturstands- und Naturrechtskonzeptes sind und warum Thomas Hobbes zurecht als Revolutionär gelten darf. 19 Dasjenige Naturrecht, welches bei Hobbes einzig Bestand hat, ist das auf Selbsterhaltung: Es wird ein jeder zur Verfolgung dessen getrieben, was ihm gut, und zur Flucht davor gedrängt, was ihm schlecht bekommt, besonders aber vor dem größten aller Übel, dem Tod; […] Es ist also nicht widersinnig oder zurückzuweisen oder gegen die rechte Vernunft, wenn einer bemüht ist, dass er seinen eigenen Körper und Glieder vor Tod und Schmerzen beschützt und bewahrt. Dass dies vielmehr nicht gegen die rechte Vernunft ist, sondern es vielmehr gerecht und rechtmäßig geschieht, sagen alle. […] Daher ist es die vornehmliche Grundlage des natürlichen Rechts, das ein jeder sein Leben und seine Glieder nach seinen Möglichkeiten beschützt.20
Dieses Recht läuft auf seine rechtslogische Widersprüchlichkeit hinaus: 21 Der Rechtsanspruch eines jeden auf alles konfligiert mit dem Rechtsanspruch eines
Vgl. EBBINGHAUS 1990, 396f; ders. 1988, 162. GEISMANN 1982, 161–189; ders.1992, 319–336; ders.1995, 141–177. 20 HOBBES 1647, 11f.: „Fertur enim unusquisque ad appetitionem eius quod sibi bonum, & ad Fugam ejus quod sibi malum est, maxime autem maximi malorum naturalium, quae est mors; […] Non igitur absurdum neque reprehendendum neque contra rectam rationem est, si quis omnem operam det, ut à morte & doloribus proprium corpus & membra defendat conservetque. Quod autem contra rectam rationem non est, id juste & Iure factum omnes dicunt. […] Itaque Iuris naturalis fundamentum primum est, ut quisque vitam & membra sua quantum potest tueatur“.Hervorhebung im Text. Übersetzung nach: HOBBES 1994, 81. 21 Jedoch per exercitium – nicht per definitionem: HÜNING 1998, 69–75. 18 19
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jeden anderen auf ebenso alles. Damit führt das Selbsterhaltungsrecht im Naturzustand nur auf die Erkenntnis seiner Nichtigkeit hinaus: Das ius omnium in omnia ist ein Recht auf nichts, weil mein Recht auf etwas nur genauso gut und damit genauso schlecht ist wie das des anderen. Das natürliche Recht der Selbsterhaltung ist also als Naturrecht nicht widerspruchsfrei denkbar. Einzulösen ist es notwendiger Weise nur durch den Eintritt in den status civilis und die Schaffung eines positiven Rechts. Daher besteht Souveränitätsrecht nicht in einem natürlichen Rechtsüberschuss des Herrschers, sondern in einem Rechtsverzicht seitens der Untertanen: Denn wie soll derjenige, der nun Herrscher ist, im Naturzustand mehr Recht auf die Macht gehabt haben, wenn alle das Recht auf alles hatten? Mehr als alles ist nicht denkbar, daher also die Denknotwendigkeit des Rechtsverzichts seitens der Untertanen. Die Verpflichtungskraft gewinnt dieses nun vom Herrscher autoritativ geschaffene positive Recht nur zum einen aus dessen Strafandrohungen im Rahmen konkreter Rechtswirklichkeit und Strafvollzugs. Es zieht seine vis obligativa zum anderen vor allem aus der denknotwendigen Vorzüglichkeit jedweden positiven, auch des tyrannischen Rechts gegenüber dem nichtigen Naturrecht: Im status civilis ist allemal irgendeine Ordnung rechtsförmig gewährleistet, auch wenn sie den einen Herrscher einseitig bevorteilt, im Naturzustand droht hingegen allemal der Konflikt mit allen Menschen. Die vis obligativa resultiert aus dem Selbsterhaltungstrieb, der darum weiß, dass er sich selbst nicht gerecht zu werden vermag, mithin resultiert sie aus der schlichten Angst, im Naturzustand den Tod zu erleiden, den dort kein Recht verhindert, sondern höchstens sogar legitimiert. Mit Thomas Hobbes wird mit einer Theonomie sowohl in der gehaltlichen als auch in der verpflichtungstheoretischen Grundlegung von Recht überhaupt gebrochen. Gewiss: Hobbes anerkennt die göttlichen Gebote, allen voran die des Dekalogs. Mehr noch: Hobbes teilt den Naturrechtsbegriff der Tradition und seine theologische Basis sogar – und seine scharfe Kritik am Papsttum und dem Katholizismus übt er zu keinem geringeren Zweck, um den wahren Glauben von menschlicher Bevormundung, d.h. dem irreführenden Vertrauen an falsche Propheten zu befreien. Schon im De Cive aber stellt Hobbes fest, dass die Sozialtafel des Dekalogs inhaltlich zwar zustimmungsfähig ist, aber selbst unmöglich auf den Naturzustand Anwendung finden kann, weil ihre Gebote den „Unterschied von Mein und Dein“ schon voraussetzen, der im Naturzustand nicht besteht. 22 Ferner ist ebenso gewiss, dass Hobbes mit der Theonomie mit
22 HOBBES 1647, 68: „Et legem de distinctione Nostri & Alieni, confirmant omnia illa Scripturæ sacræ loca, quibus invasio in alienum prohibetur, ut non occides, non furaberis, non mœchaberis. Supponunt enim Ius omnium in omnia sublatum esse“. Hervorhebungen im Text. Übersetzung: HOBBES 1994, 116: „[A]lle die Stellen der Heiligen Schrift, welche den Eingriff in fremde Bereiche verbieten, wie Du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen,
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Blick auf das soteriologische Interesse des Einzelnen nicht bricht; so heißt es im 43. Kapitel des Leviathan: Aber diese Schwierigkeit, Gott und dem bürgerlichen Souverän auf Erden gleichermaßen zu gehorchen, ist für jene nicht von Gewicht, die zwischen dem, was für ihre Aufnahme ins Gottesreich notwendig ist und dem, was hierfür nicht notwendig ist, unterscheiden können. Denn ist der Befehl des bürgerlichen Souveräns so beschaffen, daß ihm gehorcht werden kann, ohne das ewige Leben zu verwirken, so ist es ungerecht, ihm nicht zu gehorchen, […] Aber ist der Befehl so beschaffen, daß er nicht befolgt werden kann, ohne dadurch zum ewigen Tod verdammt zu werden, dann wäre es Wahnsinn, ihm zu gehorchen, und es gilt der Rat unseres Heilands: ‚Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und die Seele nicht können töten‘ (Matth. 10, 28). 23
Damit findet das Zutun des Einzelnen an Befehlen des Souveräns eine mächtige Grenze an Gott. Dennoch betrifft diese Theonomie eben nur die individuelle Heilsökonomie, nie aber die Auflösung interpersonaler Konflikte; und die Schuld, die sich ein Tyrann ebenso wie ein ihm gehorsamer Untertan auflädt, bleibt – so normativ aufgeladen sie freilich ist – vollkommen unpolitisch: Denn gestraft und belohnt wird gemäß den göttlichen und natürlichen Gesetzen erst im Jenseits. Nun mag man diesen Gesetzen durchaus ihren hohen Rang in der leges-Hierarchie zubilligen, wie es die Spätscholastiker ebenso taten wie Hobbes selbst: Zweifelsohne ist das Heilsinteresse wichtiger als das irdische Überleben; andernfalls ergäbe Hobbes’ Bevorzugung der Gottesfürchtigkeit zum Preis des irdischen Todes gegenüber einem irdischen Gehorsam zum Preis der ewigen Höllenpein durchaus keinen Sinn. Das weltliche politische Gemeinwesen, seine Funktionstüchtigkeit sowie die Gestalt und Verbindlichkeit seiner Gesetze bleiben davon nichtsdestoweniger unberührt. Die Tatsache, dass Gott über natürliche Rechtsfragen nicht schon im Diesseits urteilt und dass dem Menschen selbst dieses Urteil schon deshalb verwehrt bleibt, weil es im Naturzustand keine natürliche menschliche Instanz gibt, der dieses Urteil zusteht, annulliert nicht die Gebote Gottes, sondern verweist lediglich auf den Umstand, dass eine politische Begründungstheorie unmöglich auf einer Theonomie aufruhen kann, wenn der Mensch sich diese gegenüber Gott nur in lästerlicher Hybris anmaßen könnte. Die Verpflichtungskraft menschlicher politischer Gesetze kommt durch die Übereinkunft zustande, die im Hinblick auf die
du sollst nicht ehebrechen, bestätigen das Gesetz über den Unterschied von Mein und Dein, denn sie setzen voraus, daß das Recht aller auf alles aufgehoben sei.“ 23 HOBBES 1651, 321: „But this difficulty of obeying both God, and the Civil Soveraign on earth, to those that can distinguish between what is Necessary, and what is not Necessary for their Reception into the Kingdom of God, is of no moment. For if the Command of the Civil Soveraign be such, as that it may be obeyed, without the forfeiture of life Eternal; not to obey it is unjust […] But if the command be such, as cannot be obeyed, without b eing damned to Eternal Death; then it were madness to obey it, and the Councel of our Saviour takes place, (Mat. 10, 28)“. Hervorhebungen im Text, Übersetzung nach: HOBBES 1984, 446.
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Nichtigkeit eines Rechts aller auf alles rechtslogisch – und nicht mehr theologisch oder anthropologisch – notwendig wird.24 Diese in der rechtslogischen Denknotwendigkeit so massive vis obligativa, die im Hinblick auf den eigenen Rechtsanspruch der Untertanen gleichzeitig so radikal reduziert ist, ist allerdings nicht bloß im zu befürchtenden empirischen Effekt unbefriedigend (hinsichtlich des Eintretens einer Tyrannei also). Vielmehr wird Jean-Jacques Rousseau als erster wirkmächtig zur Geltung bringen, dass Hobbes’ Staatsvertrag selbst schlechterdings rechtslogisch widersprüchlich ist, Hobbes seine eigentlich so fundamentale Rechtslogik nicht durchhält: Die Unterwerfung der Vertragspartner unter den Willen des einen Herrschers ist in der Tat so bedingungslos, so vollständig, dass nicht nur auf das Widerstandsrecht, sondern auf jeglichen autonomen Rechtsanspruch fortan verzichtet wird. „Der einzige Wille, der mit diesem Vertrag erklärt wird, ist der Wille, sich der (angeblich dadurch legitimierten) Herrschaft des Staates und der durch sie als Recht deklarierten Freiheitseinschränkung bedingungslos, also welche es auch sei, zu unterwerfen“, so Georg Geismanns treffende Formulierung. 25 Es wird dieser Wille schon deshalb nicht dem Selbsterhaltungstrieb gerecht, weil das Selbsterhaltungsrecht gegen irgendwelche empirischen Willküren dadurch gesichert werden soll, dass man auf all sein Recht gegenüber einem bestimmten empirischen Willen verzichtet. Der hobbessche Staatsvertrag ist besonders deshalb nichtig, weil er erstens durch die vollständige Unterwerfung gerade das ausschließen will, was er seiner Form als Vertrag voraussetzen muss, dass nämlich die ‚Unterzeichner‘ sämtlich Rechtspersonen sind. Damit verliert der Vertrag zweitens automatisch deshalb seine Gültigkeit, weil die Unterzeichnenden qua Unterzeichnung gar keine Rechtssubjekte mehr sind, womit der Vertrag seinen Gegenstand verliert und damit seinen Sinn und seine Wirkung. Die entscheidende Widersprüchlichkeit von Hobbesʼ kontraktualistischer Idee einer Selbstunterwerfung liegt in dem Verzicht des Einzelnen auf seine Rechtssubjektivität, der dennoch rechtsbegründend wirken soll.
D. Jean-Jacques Rousseau Rousseau erkennt vor allem, dass im Hinblick auf den empirischen Willen des absoluten Herrschers bei Hobbes die Willkürproblematik des Naturzustands bestehen bleibt. Und sie musste deshalb bestehen bleiben, weil Hobbes den entscheidenden Fehler der Tradition, gegen die er sich eigentlich abheben wollte, weiter mitmacht, nämlich den Fehler, den Naturrechtsbegriff als material bestimmt anzusehen und insofern ist Hobbesʼ Analyse nicht durchweg
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Vgl. SCHOTTE 2009, 709–724. GEISMANN 1982, 169.
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rechtslogisch angelegt. 26 Die Natur war bei Hobbes entteleologisiert, nicht jedoch der Rechtsbegriff und derjenige der Selbsterhaltung. Daher ist es eine radikale Revision des Begriffs vom natürlichen Recht und des Begriffs von Recht überhaupt, die auch nach Hobbes noch ausstand und in Rousseau ihren ersten Pionier hatte. Er knüpfte zwar an Hobbesʼ rechtslogischer Analyse des Naturzustandes an, die jedoch erst ihn zu der umfassenden Erkenntnis führte, dass eine Gesetzgebung im Hinblick auf menschliche Zwecksetzung schlicht unbrauchbar ist für die Lösung des Problems möglicher Rechtskonflikte, mehr noch: Ethische genauso wie unethische Zwecksetzung vermeidet Rechtskonflikte nicht nur nicht, sie kann sie sogar selbst verursachen, und dies sogar dann, wenn beide Konfliktparteien denselben moralisch guten Zweck verfolgen: Es „wäre nicht einmal dann etwas gewonnen, wenn alle Menschen in ihrem Handeln den gleichen Endzweck verfolgten, weil die mögliche Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Handlungen mehrerer Personen völlig unabhängig davon ist, ob diese Personen dabei den gleichen Endzweck verfolgen oder nicht“. 27 Erst Rousseau befreit den Rechtsbegriff von jeder Verknüpfung mit möglichen Zwecken: Der menschliche Wille ist gegenüber dem des Tieres gänzlich undeterminiert, insofern eben er „genau die Stelle der tätigkeitsdeterminierenden Instanz einnimmt, die bei den Tieren der Instinkt besetzt“.28 Schon damit zeichnet sich eine gänzlich unempirische Erschließung des allererst noch zu behandelnden allgemeinen Willens (volonté générale) ab: Denn besteht diese Eigenschaft des Menschen gerade „in ihrer Unabhängigkeit von Bewußtseinszuständen“,29 so ist ein wahrhaft allgemeines Recht, das auf die Vorzüglichkeit dieser menschlichen Eigenschaft abstellt, ebenso unabhängig von den empirischen (Bewusstseins)Zuständen des Menschen und ihrer Folgen, d.h.: unabhängig von den positiven Willen(sbekundungen) zu erschließen. In diesem Sinne ist es die Freiheit des menschlichen Handlungsvermögens selbst, die Rousseau betont, und nicht noch wie bei Hobbes eine aus der Selbsterhaltung notwendig zu bezweckende Staatsgründung. Rousseau kommt durch diese von Teleologien vollkommen entkleidete Betrachtungsweise zum rein rationalen Begriff der Freiheit: Sie besteht allein hinsichtlich des Vermögens, das eigene Handeln nach eigenen Vorstellungen zu bestimmen, also von der nötigenden Willkür anderer frei zu sein. 30 Dadurch ist auch der Begriff der Gleichheit – ebenso rational und ohne teleologische Bestimmung – schon mitbestimmt: Die Gleichheit besteht nicht in irgendwelchen gemeinsamen, material bestimmten
Vgl. ebd., 171. GEISMANN 1982, 171. 28 AICHELE 2012, 9. 29 Ebd. Hervorhebung von mir. 30 GEISMANN 1982, 172. 26 27
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empirischen Eigenschaften des Menschen, sondern nur hinsichtlich des Vermögens zu beliebigem Handeln: „Die Gleichheit der Menschen ist (zunächst) die Gleichheit ihrer Freiheit“. 31 Diese Freiheit und diese Gleichheit stehen der Vergemeinschaftung nun gerade nicht wie ein widerspruchsvolles ius omnium in omnia entgegen: Aus der Undeterminiertheit des menschlichen Willens folgt gerade nicht indifferentes Wollen bzw. nicht dessen Legitimation (und damit nur ein Recht auf Rechtlosigkeit): „Die Freiheit des Willens besteht zwar in seiner Indifferenz, aber seine Aktualisierung im Wollen beendet ebendiese Indifferenz in Bezug auf einen Gegenstand“. 32 Macht sich der vernünftige Wille diese seine Freiheit ebenso wie diese Gleichheit selbst zum Gegenstand, ergibt sich ihm eben kein Recht aller auf alles, mithin kein Krieg jeder gegen jeden, sondern Freiheit und Gleichheit sind ihm die notwendigen Voraussetzungen des contrat social: Ohne Freiheit, ohne das Vermögen vernünftiger Handlungsbestimmung kann niemand irgendwelchen Regeln der Freiheitsbestimmung unterworfen sein. Wie also sollte er gegenüber diesen Regeln in der Verantwortung stehen? Rousseau polemisiert dabei vor allem gegen die Vorstellung eines Rechts des Stärkeren: Stärke ist ein natürliches Vermögen; ich sehe überhaupt nicht, welche sittliche Verpflichtung sich aus ihren Wirkungen ergeben kann. Der Stärke weichen ist ein Akt der Notwendigkeit, nicht des freien Willens; es ist allenfalls ein Akt der Klugheit. In welcher Hinsicht könnte es eine Pflicht sein? […] sobald Stärke Recht schafft, ändert sich mit der Ursache auch die Wirkung; jede Stärke, die die erste übersteigt, folgt ihr im Rechte nach. Sobald man ungestraft ungehorsam sein kann, kann man es auch rechtmäßigerweise sein. […] Was ist das aber für ein Recht, das untergeht, wenn die Stärke endet? 33
Rousseau macht deutlich, dass ein allein auf Stärke fußendes Recht nur genauso instabil sein muss, wie diese Stärke eine empirische Variable ist. Die Zwangsbewehrtheit eines Rechts ist nicht zu verwechseln mit der Stärke empirischer Einzelpersonen: Als solche verstanden, wird mit einem Recht des Stärkeren nur wieder in den Naturzustand zurückgefallen, den man zu meiden suchte:
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Ebd., 173. AICHELE 2012, 21. 33 ROUSSEAU 2010, 17 (I,3): „Céder à la force est un acte de nécessité, non de volonté; c’est tout au plus un acte de prudence. En quel sens pourra-ce être un devoir? […] sitôt que c’est la force qui fait le droit, l’effet change avec la cause; toute force qui surmonte la premiere, succéde à son droit. Sitôt qu’on peut désobéir impunément on le peut légitimement, […] Or qu’est-ce qu’un droit qui périt quand la force cesse?“ 32
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Wenn man gezwungen wird zu gehorchen, ist es nicht mehr nötig, es aus Pflicht zu tun, und wenn man nicht mehr gezwungen ist zu gehorchen, ist man dazu auch nicht mehr verpflichtet. Man sieht also, dass dieses Wort „Recht“ der Stärke nichts hinzufügt; es besagt hier überhaupt nichts.34
Man sieht: Pflicht resultiert nicht mehr hinreichend aus Zwang, ebenso wenig wie Recht nur Erlaubnis, d.h. das Ausbleiben von Zwang ist. In der Frage, wie dieser Naturzustand durch den Gesellschaftsvertrag zu überwinden ist, folgt Rousseau wiederum der von Hobbes richtig erkannten Tatsache, dass die Menschen im Akt der Vergemeinschaftung keine zusätzlichen Kräfte und auch keine zusätzlichen Rechte hervorbringen können, sondern nur diejenigen ihnen von Natur zu Gebote stehenden vereinen können, anstatt sie – das ist wiederum der Unterschied zu Hobbes – an einen der ihren abzutreten: Da die Menschen nun keine neuen Kräfte hervorbringen, sondern nur die vorhandenen vereinen und lenken können, haben sie kein anderes Mittel, sich zu erhalten, als durch Zusammenschluss eine Summe von Kräften zu bilden, stärker als jener Widerstand [sc. des Naturzustands des Einzelnen; O.B.], und diese aus einem einzigen Antrieb einzusetzen und gemeinsam wirken zu lassen. Diese Summe von Kräften kann nur durch das Zusammenwirken mehrerer entstehen: da aber Kraft und Freiheit jedes Menschen die ersten Werkzeuge für seine Erhaltung sind – wie kann er sie verpfänden, ohne sich zu schaden und ohne die Pflichten gegen sich selbst zu vernachlässigen? 35
Die empirische Tatsache, dass der Mensch im Gebrauch seiner Freiheit äußerliche Einschränkungen erfährt, führt Rousseau also zu der Frage nach der Möglichkeit, die politische Freiheitseinschränkung als mit der ursprünglichen Freiheit des Menschen vereinbar zu denken, ob Herrschaft also rechtlich überhaupt möglich ist und woher eine obligatio noch zu gewinnen ist, wenn sie nicht mehr in Zwang besteht. Rousseau formuliert diese Herausforderung selbst: Diese Schwierigkeit lässt sich […] so ausdrücken: „Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor“. 36
Ebd., 17 (I,3): „S’ il faut obéir par force on n’a pas besoin d’obéir par devoir, et si l’on n’est plus force d’obéir on n’y est plus obligé. On voit donc que ce mot de droit n’ajoûte rien à la force; il ne signifie ici rien du tout.“ 35 Ebd., 33 (I,6): „Or comme les hommes ne peuvent engendrer de nouvelles forces, mais seulement unir et diriger celles qui existent, ils n’ont plus d’autre moyen pour se conserver, que de former par aggrégation une somme de forces qui puisse l’emporter sur la résistance, de les mettre en jeu par un seul mobile et de les faire agir de concert. Cette somme de forces ne peut naitre que du concours de plusieurs: mais la force et la liberté de chaque homme étant les premiers instruments de sa conservation, comment les engagera-t-il sans se nuire, et sans négliger les soins qu’il se doit?“ Hervorhebungen von mir. 36 Ebd., „Cette difficulté […] peut s’énoncer en ces termes. ›Trouver une forme d’association qui défende et protege de toute la force commune la personne et les biens de chaque 34
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Die Formulierung der Schwierigkeit birgt schon ihre Lösung: Die Freiheit, nur sich selbst zu gehorchen, soll nicht trotz, sondern gerade durch die Vereinigung mit allen realisiert werden. Gerade deshalb unterscheidet Rousseau den Gemeinwillen (volonté générale) vom Mehrheits- und auch Gesamtwillen (volonté des tous), insofern dieser nämlich quantitativ und empirisch veranschlagt wird, jener hingegen qualitativ und entlang des Begriffs des Vermögens gebildet ist: [D]er Gemeinwille, um wahrhaft ein solcher zu sein, muss in seiner Auswirkung nicht weniger als in seinem Wesen allgemein sein; er muss von allen ausgehen, um sich auf alle zu beziehen; und er verliert seine natürliche Richtigkeit, sobald er auf einen einzelnen und festumrissenen Gegenstand gerichtet ist, weil wir, wenn wir über etwas uns Fremdes urteilen, keinen wahren Grundsatz der Billigkeit mehr haben, der uns leitet. 37
Der Gemeinwille bezieht sich daher auf alle, weil er wesentlich allgemein ist und der quantitativen empirischen Zustimmung aller gar nicht bedarf, insofern er vernünftiger Weise zu Wollende anzielt – Immanuel Kant wird diese Einsicht in seiner Friedensschrift zu der berühmten Formulierung zuspitzen: „Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar“. 38 Die Frage, ob sich eine historische volonté des tous findet oder herausbilden lässt, die der volonté générale kongruent ist, ist eine gänzlich andere Frage und berührt nicht die rein vernünftige Qualität des Gemeinwillens. 39 Diese meint nichts anderes, als dass die Vereinigung mit allen keine Willensbeschlüsse beinhalten kann und darf, die schon der Möglichkeit nach dem privaten Sonderwillen zuwiderlaufen müssen. Der Gemeinwille darf und kann keine Willensbeschlüsse beinhalten, die ein Sonderwille schon von vornherein, und das meint: unabhängig von seiner empirischen Befürwortung, unmöglich wollen kann. Das meint umgekehrt: Die volonté des tous kann keine Entschlüsse allgemein-staatsvertraglicher Art fassen, die der volonté générale widersprechen. So setzt die volonté générale ihrem Begriffe nach immer voraus, dass die unter ihr Vereinigten Rechtssubjekte sind, und nicht anders könnte man vernünftiger Weise von Rechten sprechen – diese begriffslogische Bedingungen hatte Hobbes schließlich übersehen. Die volonté des tous kann nun nicht über die Rechtssubjektivität einzelner Vertragsmitglieder bescheiden und associé, et par laquelle chacun s’unissant à tous n’obeisse pourtant qu’à lui-même et reste aussi libre qu’auparavant?‹“. Hervorhebung von mir. 37 Ebd., 69 (II,4), „[L]a volonté générale pour être vraîment telle doit l’être dans sons objet ainsi que dans son essence, qu’elle doit partir de tous pour s’appliquer à tous, et qu’elle perd sa rectitude naturelle lorsqu’elle tend à quelque objet individuel et déterminé; parce qu’alors jugeant de ce qui nous est étranger nous n’avons aucun vrai principe d’équité qui nous guide.“ Hervorhebung von mir. 38 KANT, AA VIII 366. 39 Vgl. ZIMMERMANN 2012, 227 und 236.
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sie ihnen absprechen – schon aus dem rechtslogischen Grund, dass diese Rechtssubjektivität dann ebenso jedem anderen abgesprochen werden könnte, auch denen, die dies augenblicklich tun: Dieser Versuch einer Rückkopplung des Gemeinwillens an die volonté des tous führte nur wieder in den Naturzustand. Die Verpflichtungskraft des staatstragenden Gemeinwillens bei Rousseau entspringt weniger mehr der Strafandrohung einer Obrigkeit gegenüber bloßen Untertanen, sondern aus der Einsicht in die schlechte Alternative eines Naturzustandes, in den jedes Mitglied einer Gemeinschaft eintreten muss, sobald das schlichthin Vernünftige, der Gemeinwille, negiert wird. Das auch für pragmatischere Geister entscheidende Argument ist dabei, dass diese Alternative auch für denjenigen schlecht ist und zu seinem Schaden gereicht, der den Gemeinwillen negiert, ihn durch die volonté des tous meint beugen zu können oder gar glaubt, den folgenden Naturzustand bewältigen zu können. Aus dem Freiheitsbegriff resultiert der Verpflichtungsgedanke bei Rousseau als rein reziprok freiheitlicher: Die Freiheit des einen findet ihre Grenzen an der Freiheit des anderen. Ein Problem verbleibt jedoch auch bei Rousseau: Er hatte es gegen Hobbes geschafft zu zeigen, dass die natürliche Freiheit mit staatlicher Herrschaft vermittelbar ist durch die mögliche Bereitschaft aller, ihre Freiheit nur bis zu den Grenzen der Freiheit des je anderen zu genießen. Er erbringt jedoch nicht wie Hobbes den Nachweis, dass diese Bereitschaft notwendig ist, das mithin die Staatsgründung notwendig ist, es eine Verpflichtung zu ihr selbst gibt. Diese zwei Stränge einmal von Hobbes, ein andermal von Rousseau führt erst Immanuel Kant zusammen.
Literatur AICHELE, ALEXANDER: „Reflexive Dispositionen: Jean-Jacques Rousseaus indeterministischer Begriff der Willensfreiheit“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik (2012), 3–24. BAUER, CLEMENS: „Melanchthons Naturrechtslehre“, in: Archiv für Reformationsgeschichte (1951), 64–100. BEHME, THOMAS: Samuel von Pufendorf: Naturrecht und Staat. Göttingen 1995. BÖCKENFÖRDE, ERNST-WOLFGANG: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter. 2. Aufl. Tübingen 2006. EBBINGHAUS, JULIUS: „Die Idee des Rechts“, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 2: Praktische Philosophie 1955–1972. Hrsg. v. Hariolf Oberer u. Georg Geismann, Bonn 1988, 141–198. –: „Mensch und Ratio im Europa der Neuzeit (1957)“, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 3: Schriften zur Theoretischen Philosophie und zur Philosophiegeschichte (1924–1972), hrsg. v. Hariolf Oberer u. Georg Geismann. Bonn 1990, 395–416. GEISMANN, GEORG: „Naturrecht nach Kant. Zweite und letzte Replik zu einem untauglichen Versuch, die ›klassische‹ Naturrechtslehre – besonders in ihrer christlich-mittelalterlichen Version – wiederzubeleben“, in: Jahrbuch für Politik (1995), 141–177. –: „Politische Philosophie – hinter Kant zurück? Zur Kritik der ›klassischen‹ Politischen Philosophie“, in: Jahrbuch für Politik (1992), 319–336.
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Gesetz und Verbindlichkeit Zur Begründung der praktischen Philosophie bei Samuel Pufendorf und Christian Wolff1 Dieter Hüning
A. Einleitende Bemerkungen „Verbindlichkeit ist die Nothwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft“ 2 – so heißt es in definitorischer Kürze in Kants Einleitung in die Metaphysik der Sitten. Bezeichnenderweise findet sich diese Definition im vierten Abschnitt der Einleitung, der „Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten“ betitelt ist. Der Untertitel dieses Abschnitts in der Metaphysik der Sitten lautet „Philosophia practica universalis“ und macht die Herkunft dieses Begriffs aus der Wolff’schen Schulphilosophie deutlich. Der Begriff der Verbindlichkeit bzw. der obligatio, der bekanntlich schon im römischen Schuldrecht zu finden war, gehörte zu den zentralen Kategorien der rechts- bzw. moralphilosophischen Debatten des 17. und 18. Jahrhunderts.3 Kants Metaphysik der Sitten und die dort entwickelte Theorie der Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes stellt in der Geschichte des Obligationsbegriffs gewissermaßen den Höhe- und Endpunkt einer Entwicklung dar, die Samuel Pufendorfs Naturrechtslehre begonnen hatte. Nach Kant verlieren 1 Dieser Beitrag erschien zuerst in: GRAUL, EVA; WOLFF, GERHARD (Hrsg.): Gedächtnisschrift für Dieter Meurer, Berlin: Walter de Gruyter Verlag 2002, 525 –544. Dem De Gruyter Verlag danke ich für die freundliche Genehmigung des Wiederabdrucks. Der Text des Beitrags wurde an einigen Stellen überarbeitet. Frau Katerina Mihaylova danke ich für Anregung und Kritik. Frau Sabrina Schneider (Trier) danke ich für Durchsicht und Korrektur des Textes. 2 KANT 1914, 222; vgl. auch ders. 1908, 32: die Verbindlichkeit bedeutet eine „Nöthigung, obzwar durch bloße Vernunft und deren objectives Gesetz, zu einer Handlung [...], die darum Pflicht heißt“; ders. 1975, 508: „Die Verbindlichkeit ist eine moralische, mithin nach Gesetzen der Freiheit erfolgte Nöthigung, gleich einer Nöthigung unser Willkür als freie Willkür.“ Zu Kants Verbindlichkeitsbegriffs vgl. BAUM 2007, 213–226. 3 Zur Geschichte des Verbindlichkeitsbegriffs vgl. SCHREIBER 1966, sowie die richtungsweisende Studie von HARTUNG 1999.
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die Philosophen wie die Juristen offenbar das Interesse an den verbindlichkeitstheoretischen Debatten: Hegels Rechtsphilosophie, in welcher die Begriffe der „Verpflichtung“ bzw. der „Pflicht“ im Moralitätskapitel behandelt werden4, ist für diese Tendenz das beste Beispiel. Ich möchte im Folgenden einen kleinen Beitrag zum Verständnis des naturrechtlichen Begriffs der Verbindlichkeit in der Neuzeit liefern, indem ich eine Auseinandersetzung näher untersuche, die in gewisser Weise für die Frage nach der philosophischen Begründung der obligatio als klassisch bezeichnet werden kann. Ich werde zunächst die verbindlichkeitstheoretische Position Pufendorfs (B.) skizzieren und zeigen, dass dieser an einer theologischen Letztbegründung der Verbindlichkeit festhält. In einem zweiten Schritt (C.) werde ich auf die Begründung der Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes bei Christian Wolff zu sprechen kommen, der beansprucht, eine alternative Konzeption der natürlichen Verbindlichkeit vorzulegen.
B. Der Begriff der Verbindlichkeit bei Samuel Pufendorf Im Vorwort zu seinem naturrechtlichen Kompendium De officio hominis atque civis versucht Pufendorf zunächst die Grenzlinie zwischen der Naturrechtslehre einerseits und der Moralphilosophie sowie der positiven Rechtswissenschaft andererseits zu ziehen: Ausschlaggebend für die Unterscheidung dieser drei Disziplinen ist zunächst ihre jeweilige ratio cognoscendi: der Erkenntnisgrund des Naturrechts ist die Vernunft, wohingegen die Prinzipien der positiven Rechtswissenschaften aus den staatlichen Gesetzen und diejenigen der Moraltheologie aus der besonderen Offenbarung Gottes erkannt werden. Fragt man nun nach dem spezifischen Aufgabenbereich, durch den sich Naturrechtslehre und Moraltheologie unterscheiden, so erklärt Pufendorf, dass jenes die Regeln des Gemeinschaftslebens der Menschen auf Erden zum Gegenstand hat, während die Moraltheologie den Menschen nicht als Erdenbürger, sondern als gläubigen Christen anspricht. 5 Der Unterscheidung zwischen Naturrechtslehre und Moraltheologie entspricht die Verschiedenheit der weltlichen und göttlichen Gerichtsbarkeit: Jene beschäftigt sich allein mit den äußeren Handlungen der Menschen; der Gegenstand der moraltheologischen Betrachtung erstreckt sich auch auf die Gesinnung des Menschen. Obwohl Pufendorf den für die weitere Entwicklung der Naturrechtslehre richtungsweisenden Versuch unternommen hat, den unterschiedlichen Gegenstand der Moraltheologie und der Naturrechtslehre präzise zu bestimmen,6 HEGEL 1970, §§ 133ff. Vgl. PUFENDORF 1997, 6 [im Folgenden abgekürzt als ‚OHC‘]. 6 Diese systematische Unterscheidung von Naturrechtslehre und Moraltheologie hat Pufendorf von Seiten der protestantischen Orthodoxie sogleich den Vorwurf des Atheis4 5
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entwickelt er in seiner Rechtslehre eine Konzeption moralischer Verbindlichkeit, deren Letztbegründung transzendent ist, weil die Fundierung des Naturrechts in der menschlichen Natur ihrerseits von der ontologischen Voraussetzung der Existenz Gottes abhängt. 7 Es ist hier nicht der Ort, um Pufendorfs Ableitung des natürlichen Rechts aus der menschlichen Natur im Einzelnen darzustellen.8 Für den gegenwärtigen Zweck mag es hinreichen darauf hinzuweisen, dass in Pufendorfs naturrechtlichem Hauptwerk De jure naturae et gentium9 am Ende seiner Ableitung erstens eine Grundregel des natürlichen Rechts steht, die besagt, dass jeder Mensch sich gegenüber seinen Mitmenschen um ein friedfertiges Zusammenleben bemühen solle. 10 Was zweitens die Frage der Verbindlichkeit betrifft, so unterscheidet Pufendorf zwischen dem Erkenntnisgrund und dem Geltungsgrund der naturrechtlichen Grundnorm. Die ratio cognoscendi des natürlichen Gesetzes ist die Vernunft, weshalb die natürlichen Gesetze – wie schon bei Grotius und Hobbes – auch als dictamina rationis bezeichnet werden können. Aber die Frage der rationalen Erkennbarkeit der naturrechtlichen Normen entscheidet noch nicht über die Frage ihrer Geltung: Dadurch, dass eine Regel von der Vernunft als Grundnorm des natürlichen Rechts erkannt wird, ist noch nicht über die Frage, woher diese Norm ihren Geltungs- und Verbindlichkeitsanspruch bezieht, entschieden.11 Deshalb wird auch die Hobbes’sche These, dass die natürlichen Gesetze bloß aufgrund ihres rationalen Status als dictamina rectae rationis Verbindlichkeit beanspruchen können, von Pufendorf abgelehnt. Eine derartige – in Pufendorfs Augen bloß – zweckrationale Betrachtung der natürli-
mus eingebracht. Die Unterschiede zwischen der theologia moralis einerseits und der disciplina juris naturalis andererseits entspringen erstens der Verschiedenheit der Quellen, aus denen beide Wissenschaften ihre jeweiligen Lehrsätze ableiten, zweitens aus dem Umstand, dass die Naturrechtslehre ausschließlich mit dem diesseitigen Leben der Menschen unter Bedingungen einer möglichen Rechtsgemeinschaft befasst ist. – Zu Pufendorfs Bestimmung des Verhältnisses von Naturrecht und Moraltheologie vgl. SCHNEIDERS 1971, 90f.; DENZER 1972, bes. 266–271, ZURBUCHEN 1991, 6–62, sowie den – aus historischer Sicht – richtungsweisenden Aufsatz von DÖRING 1993, 156–174; GRUNERT 2000, 154, der betont, dass „Pufendorfs Versuch, das Naturrecht im Rückgriff auf die Natur des Menschen theoretisch zu begründen, immer schon darauf gemünzt (war), alle offenbarungstheologischen Elemente aus der – dem Anspruch nach – rein wissenschaftlichen Naturrechtsbegründung herauszuhalten.“ 7 Vgl. ZURBUCHEN 1991, 24. 8 Vgl. hierzu GOYARD-FABRE 1994, 83–89; BEHME 1995, 74ff.; SASTAMOINEN 1995, 95–110; GRUNERT 1999, 159ff. 9 PUFENDORF 1998 [im Folgenden abgekürzt als ‚JNG‘]. 10 Vgl. JNG II, 3, § 15 (Bd. I, 148); vgl. Hierzu SASTAMOINEN 1995, 62–72. 11 Vgl. JNG II, 3, § 19.
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chen Gesetze kann wohl die Einsicht in ihre allgemeine Nützlichkeit bewirken,12 nicht aber ihre strikte Verbindlichkeit garantieren. 13 Wo liegt also für Pufendorf der Grund der naturrechtlichen Verbindlichkeit? Dasjenige Element, das über die normative Rationalität des natürlichen Gesetzes hinaus diesem die Verbindlichkeit verleiht, ist der Wille Gottes: „Ut ista rationis dictamina obtineant vim legum, necessum sit praesupponere, DEUM esse, & per ipsius providentiam tum omnia, tum inprimis genus humanum gubernari“. 14 Alle Verbindlichkeit hat folglich ihren Grund in dem Willen Gottes als Schöpfer der Welt bzw. in der Kreatürlichkeit der Menschen. 15 Der Schlüssel zum Verständnis von Pufendorfs verbindlichkeitstheoretischer Position liegt somit in seiner Definition des Gesetzes: „In genere autem lex commodissime videtur definiri per decretum, quo superior sibi subjectum obligat, ut ad istius praescriptum actiones suas componat“. 16 Gemäß dieser Definition gründet jede Verbindlichkeit also auf einem vorhergehenden Herrschafts- bzw. Unterwerfungsverhältnis, weil dieses überhaupt die Voraussetzung dafür bildet, dass gesetzmäßige Verpflichtungen auferlegt werden können. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass Pufendorf in diesem Zusammenhang zwischen dem bloßen Zwangscharakter der Unterwerfung und der moralischen Nötigung durch die Verbindlichkeit, die er deshalb auch als „qualitas moralis operativa“ 17 bezeichnet, unterscheidet. Pufendorf lehnt bekanntlich die bloße machttheoretische Begründung der Verbindlichkeit ab.18 Die bloße Zwangsandrohung vermag zwar im Gemüt des Betroffenen Furcht zu bewirken, aber erst durch eine auf justae causae beruhenden Verbindlichkeit wird der Wille des Normadressaten moralisch affiziert. Hierdurch wird das normunterworfene Individuum innerlich verpflichtet, und zwar durch sein Gewissen bzw. „ex intrinseco animi motu“ 19. Nur aufgrund seiner freien Entscheidung zur Unterwerfung unter den göttlichen Gesetzgebungswillen kommt der Einzelne als ein der Verpflichtung fähiges Wesen in 12 Durch ihre Verbindlichkeit unterscheiden sich die natürlichen Gesetze auch von den Vorschriften des Arztes zur Wiederherstellung der Gesundheit, die bloß wegen ihrer Nützlichkeit befolgt werden, vgl. hierzu OHC I, 3, § 10. 13 JNG II, 3, § 20: „Quanquam enim eorum [der natürlichen Gesetze, D.H.] utilitas sit longe manifestissima; illa tamen sola tam firmum animis hominum inducere vinculum non valebat, quin ab istis discedi posset, si cui utilitatem eam negligere allubesceret, aut alia se via utiltate suae magis consulere posse arbitraretur.“ 14 JNG II, 3, § 19; vgl. auch OHC I, 3, § 10. 15 Vgl. JNG II, 3, § 20: „Igitur omnino statuendum est, obligationem legis naturalis esse ab ipso DEO Creatore, ac summo generis humani moderatore, qui homines creaturas suas ad istam observandam pro imperio adstrinxit.“ 16 JNG I, 6, § 4. 17 JNG I, 6, § 5; Vgl. hierzu DENZER 1972, 83ff.; BEHME 1999, 78f. 18 Vgl. OHC II, § 4. 19 JNG III, 4, § 6.
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Betracht. Auf dieser willentlichen Selbstbestimmung beruht die Fähigkeit des Menschen, „überhaupt als Willenssubjekt Bindungen einzugehen.“ 20 Obwohl die Unterwerfung unter die gesetzgebende Autorität eines übergeordneten Willens eine notwendige Bedingung für das Vorliegen einer Verbindlichkeit darstellt, ist das bloße Faktum der Unterwerfung als solches nicht hinreichend, um Pflichten zu begründen. Vielmehr sind die vis cogendi und die vis obligandi zu unterscheiden: Qui enim nullam rationem allegare novit, quare mihi invito obligationem velit impingere, præter solas vires, is terrere quidem me potest, ut effugiendo majori malo ipsi tantisper parere satius ducam: sed eo metu remoto nihil amplius obstat, quo minus meo potius, quam illius arbitrio agam.21
Die durch das Gesetz auferlegte Verbindlichkeit ihrerseits bestimmt Pufendorf als „moralische Qualität, durch die jemand zum Handeln oder Erleiden verpflichtet wird. 22 Pufendorf verweist in diesem Zusammenhang auf die Herkunft dieser Vorstellung aus dem römischen Recht, in welchem die Verbindlichkeit als ein vinculum juris definiert wurde, d. h. als eine rechtliche Fessel, durch welche die Freiheit unseres Willens eingeschränkt wird. 23 Was das Verhältnis von Macht und Verbindlichkeit angeht, so erklärt Pufendorf geradezu, dass das Vorliegen eines Herrschaftsverhältnisses die Bedingung für die Verbindlichkeit einer Norm darstellt: Nur derjenige kann einer Verbindlichkeit unterworfen sein, der selbst einem Oberen untergeordnet ist. 24 Die systematische Bedeutung dieses Rückgriffs auf den göttlichen Willen bzw. auf die Religion im Rahmen der Naturrechtslehre hat die Aufgabe, die Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes gegen die mögliche Willkür des Normadressaten abzusichern. Es ist somit nicht der Gott der christlichen Religion, von dem hier die Rede ist, sondern der ‚Gott der Philosophen und der Gelehrten‘ (Pascal), d. h. ein philosophisches Konstrukt, das im Rahmen der Naturrechtslehre eine bestimmte begründungstheoretische Funktion übernimmt. Sofern Pufendorf auf den göttlichen Willen als formalen Grund der Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes rekurriert, geht es ihm nicht um die Diskussion irgendwelcher dogmatischer Lehren. Vielmehr könnte man von einer obligationstheoretischen ‚Instrumentalisierung‘ des Gottesbegriffs sprechen, die Gott zu einer „geradezu technischen Vorkehrung gegen Normverletzungen“ degradiert.25 Sehr deutlich kommt diese Auffassung in einer PasHARTUNG 1999, 37. OHC I, 2, § 5 in Verb. mit § 7. 22 JNG I, 6, § 5: „Obligationem igitur [...] definivimus, per qualitatem moralem operativam, qua quis praestare aut pati quid tenetur“. 23 Vgl. JNG I, 6, § 5, OHC I, 2, §§ 2f. 24 Vgl. OHC I, 2, § 4. 25 So eine Formulierung, die GRUNERT 2000, 104 mit Blick auf Grotius geprägt hat. Eine von der hier vorgeschlagenen Skizze von Pufendorfs Obligationstheorie abweichende 20 21
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sage aus Pufendorfs Schrift De officio hominis et civis zum Ausdruck. Die Leugnung göttlicher Strafen, so erklärt Pufendorf dort, würde bedeuten, dass niemand auf die Glaubwürdigkeit eines anderen vertrauen könnte. 26 Aus der vorausgesetzten Unverzichtbarkeit göttlicher Sanktionen schließt Pufendorf dann auf die Notwendigkeit, dem Atheismus alle Wege der Ausbreitung zu verschließen und ihn mit „gravissimis poenis“ zu ahnden. 27 Es ist deshalb auch kein Zufall, dass Pufendorf auch die Grotianische Hypothese des ‚etiamsi daremus‘, d. h. der Unabhängigkeit der Geltung des natürlichen Rechts vom Willen Gottes, zurückweist, weil im Rahmen des Grotianischen Naturrechts die Frage nach dem Urheber der natürlichen Gesetze nicht beantwortet werden könne. 28
Interpretation findet sich bei Ian Hunter. Er kommt zu dem Ergebnis, dass „for Pufendorf […] the normativity of political obligation […] comes from the relation of dependency and protection that human beings have established on the basis of empirical knowledge of their passionate and destructive nature in pursuit of the end of security“, vgl. HUNTER 2001, 159. Einmal davon abgesehen, dass die Redeweise von der „normativity of political obligation“ irreführend ist, wenn es um die Klärung der Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes geht, läuft Hunters Interpretation einerseits darauf hinaus, die Rolle der Fundierung der lex naturalis im Willen Gottes zu marginalisieren und andererseits an ihre Stelle eine metaphysikfreie, empirische Anthropologie zu setzen: „Pufendorf thus derives the natural law norms of sociability solely from the need to achieve civil peace, exclusive of the requirements to perfect man’s moral nature or respect the enactments of his ‚higher‘ rational being“, HUNTER 2001, 157. Auf diese Weise wird aber schließlich auch die systematisch relevante Frage, wie aus empirischen Prämissen Normen abgeleitet werden können, beiseite geschoben. 26 OHC I, 4, § 9: „Ut dum nemo in alterius fide [...] solidam fiduciam collocare posset, singuli perpetuo metu & suspicionibus anxii viverent, ne ab aliis deciperentur, aut læderentur. Sed & tam imperantes quam subjecti parum proclives futuri essent ad præclara & gloriosa opera patranda. [...] Cum enim sine religione nulla quoque futura foret conscientia, non facile esset occulta ejusmodi scelera deprehendere; quippe quæ plerumque per inquietudinem conscientiæ, & terrores, in exteriora indicia erumpentes, prodantur. Unde adparet, quantopere intersit generis humani, atheismo omnes vias, ne invalescat, præcludere)“. 27 OHC I, 4, § 2. – Zur Auffassung Pufendorfs, dass nur der göttliche Gesetzgeber als Autor des moralischen Gesetzes in Frage komme, siehe HARTUNG 1999, 35f. sowie SCHNEEWIND 1998, 134–140. 28 JNG II, 3, § 19: „Neque enim adstipulari possumus Grotio, qui in prolegomenis autumat, jura naturalia ‚locum aliquem habitura, etiamsi daremus, quod sine summo sceleri dari nequit, non esse Deum, aut non curari ab eo negotia humana‘.“ Zu Pufendorfs Kritik an Grotius siehe HARTUNG, 1999, 36f. – Zu Pufendorfs Absicht, sein naturrechtliches Werk durch eine Theologia moralis zu ergänzen vgl. den schon erwähnten Aufsatz von DÖRING 1993, bes. 169.
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C. Wolffs Begründung der obligatio naturalis Wirft man einen Blick auf Wolffs Grundlegung der praktischen Philosophie, so fällt auf, dass diese in vielen Punkten mit der Naturrechtslehre Pufendorfs im Widerspruch steht. 29 Dieser Widerspruch manifestiert sich vor allem in Wolffs Revision zweier Grundbegriffe der praktischen Philosophie bzw. der Naturrechtslehre – d. h. in der Revision des Begriffs des Gesetzes und desjenigen der Verbindlichkeit. Was die Definition des Gesetzes betrifft, so kritisiert Wolff die Pufendorf’sche Definition, nach welcher das Gesetz als der verbindliche Befehl eines übergeordneten Befehlshabers zu betrachten sei, weil hierdurch sowohl der Begriff der natürlichen Verbindlichkeit als auch derjenige der inneren moralischen Qualität der guten bzw. bösen Handlungen aufgehoben würde. 30 Mit seiner eigenen Definition des Gesetzes – „Lex dicitur regula, juxta quam actiones nostras determinare obligamur“ 31 – eliminiert die Wolff’sche Definition in charakteristischer Weise den Bezug auf das Moment des fremden, befehlsgebenden Willens und verknüpft mit dem Begriff des Gesetzes ausschließlich denjenigen der moralischen Nötigung. 32 Auch im Hinblick auf den Begriff der Verbindlichkeit versteht Wolff seine Lehre als eigentlichen Gegenentwurf zu Pufendorf, auf den die irreführenden und deshalb abzulehnenden Annahmen, dass das natürliche Gesetz nur auf Grund des göttlichen Willensentschlusses verbindlich ist, dass der moralische Wert einer Handlung davon abhängt, dass Gott sie befohlen bzw. verboten hat, und schließlich die These, dass jede Verbindlichkeit nur als eine äußere, von einem anderen auferlegte Nötigung, gedacht werden kann, zurückgingen.33 Eine besondere Pointe gewinnt Wolffs Polemik durch den Vorwurf, dass Pufendorfs moralpositivistische Position selber dem Atheismus Vorschub leiste.34 Gerade weil Pufendorf zum einen die notwendige Verknüpfung 29 Diese Frontstellung gegen die voluntaristische Konzeption der Verbindlichkeit betont auch HESPE 2007, 273–291. 30 WOLFF 1971, I, § 131 nota: „Vulgo definiunt legem per jussum superioris promulgatum ipsumque obligantem; sed hæc non est definitio legis in genere. Hæc definitio illorum est, qui obligationem naturalem tollunt, bonitatem ac malitiam intrinsecam actionum negantes & antecedenter ad voluntatem Dei tanquam superioris actiones in universum omnes pro indifferentibus habentes. Cum igitur intrinsecam actionum malitiam atque bonitatem in anterioribus stabiliverismus, probatam & philosophis antiquis, & Theologis; legem quoque in genere definimus, quemadmodum fert diversa obligatio ad actiones quasdam committendas, quasdam vero omittendas.“ 31 Ebd., § 131. 32 Vgl. HARTUNG 1999, 133, der hierin zu Recht die Besonderheit des Wolff´schen Obligationsbegriffs sieht. 33 Vgl. WOLFF 1971, I, §§ 63 nota, 245; ders. 1970, § 91; ders. 1978, I 5, §§ 974f.; ders. 1985, Anm. 190 (250); ders. 1973 (Ausführliche Nachricht), § 137. 34 Diesen Punkt hebt auch HARTUNG 1999, 131, mit Recht hervor.
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zwischen der ‚Natur und dem Wesen des Menschen und der Dinge‘ einerseits und der natürlichen Verbindlichkeit andererseits leugnet und statt dessen den Begriff der Verbindlichkeit mit dem Willen Gottes verknüpft, macht er es nach Wolffs Auffassung den Atheisten leicht, mit dem Glauben an Gott auch alle natürliche Verbindlichkeit aufzuheben. 35 Für die weitere Entwicklung der moralphilosophischen Debatten im 18. Jahrhundert richtungsweisend war der Umstand, dass Wolff die Abhandlung dieses Begriffs in die Philosophia practica universalis zieht, also in diejenige Wissenschaft, welche das normative Fundament sowohl für die Naturrechtslehre als auch für die Ethik im engeren Sinne liefert. Aber noch in einer anderen Hinsicht stellt Wolffs praktische Philosophie gegenüber den bisher vorgestellten Konzeptionen der Verbindlichkeit einen systematischen Fortschritt dar, insofern in ihr der Schwachpunkt von Pufendorfs voluntaristischer Begründung der Verbindlichkeit problematisiert wird: Dieser Schwachpunkt liegt darin, dass – ich zitiere hier eine Formulierung von Julius Ebbinghaus – „das Prinzip des göttlichen Willens selber schlechthin jenseits alles dessen liegt, was den Charakter einer für den Menschen denkbaren Gesetzlichkeit haben könnte.“36 Für den einer solchen willkürlichen Gesetzgebung unterworfenen Menschen bedeutet diese voluntaristische Begründung der Verbindlichkeit nicht nur, dass er sich von der göttlichen Gesetzgebung und damit von den Gründen, warum Gott dieses oder jenes geboten bzw. verboten hat, überhaupt keinen Begriff machen kann, sondern auch, dass der Gedanke der Unterwerfung unter eine solche willkürliche Gesetzgebung unmittelbar die Möglichkeit der Moralität des Willens aufhebt. Denn wenn behauptet wird, dass die Pflicht zur Befolgung der natürlichen Gesetze nur darauf beruhe, dass Gott dies befohlen habe, so folgt daraus, dass diese Befolgung so gut wie die Unterwerfung unter den Willen Gottes eigentlich jedes möglichen moralischen Grundes entbehrt, weil es keinen immanenten, im natürlichen Gesetz oder in den von ihm auferlegten Pflichten selbst liegenden Grund der Befolgung gibt. Der Grund, warum die Menschen die natürlichen Gesetze als Got35 WOLFF 1971 I, 2, § 245: „Lex naturæ subsistit etiam in hypothesi impossibili athei; hoc est, ex eo, quod atheus ponit non dari Deum, minime sequitur, non dari legem naturæ. Etenim lex naturae ponitur posita hominis rerumque natura atque essentia ( § 136) & ejus obligatio rationem sufficientem in ipsa hominis rerumque essentia atque natura habet (§ 143). Quamobrem etsi atheus neget dari Deum (§ 411. part II, Theol. nat.); non tamen ideo negare potest, hanc esse hominis rerumque essentiam, quam independenter a cogitatione Dei cognoscimus. Admittere igitur tenetur legem naturae, stante hypothesi impia, consequenter Lex naturae subsistit etiam in hypothesi impossibili athei. Nimirum non valet consequentia, si atheus ita argumentetur: Non datur Deus. Ergo non datur lex naturae, seu nulla datur obligatio ad actiones alias committendas, alios vero omittendas, nisi quae a lege humana venit. [...] Non nego, dari atheos, qui negant legis naturalis existentiam; sed ratio, cur negant, non desumitur ab impia eorum hypothesi, si rem curatius spectes [...].“ 36 EBBINGHAUS 1986, 311.
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tes Gebote befolgen, kann dann nur in derjenigen Eigenschaft liegen, „die ich auch unabhängig von den Bestimmungen seines Willens denken kann, nämlich in seiner Allmacht“ 37, so dass sich trotz aller gegenteiligen Beteuerungen Pufendorfs Verbindlichkeitsbegriff als maskiertes Gewaltverhältnis erweist. Angesichts dieser Problematik hat Wolff einen neuartigen Begriff der obligatio naturalis entwickelt, dessen Einführung er selbst als seine eigentliche Leistung auf dem Gebiet der praktischen Philosophie betrachtet hat: Ich habe einen allgemeinen Begriff von der Verbindlichkeit gegeben, dergleichen man bisher nicht gehabt, und, da er wie alle wahre und deutliche Begriffe fruchtbar ist, daß sich daraus alles herleiten lässet, was von der Verbindlichkeit erkandt werden mag, daraus erwiesen, daß in der Natur des Menschen und der Beschaffenheit der freyen Handlungen eine Verbindlichkeit gegründet sey, welche ich die natürliche nenne, und die auch derjenige erkennen muß, welcher entweder GOtt nicht erkennet, was er für ein Wesen ist, oder wohl gar leugnet, daß ein GOtt sey. Ob ich nun aber gleich mit Grotio und unsern Theologis behauptet, daß auch in hypothesi impossibili athei, oder, bey der unmöglichen Bedingung, daß kein GOtt seyn solle, ein Gesetze der Natur eingeräumet werden müsse, um diejenigen ihrer Thorheit zu überzeugen, welchen die Atheisterey deswegen anstehet, weil sie alsdenn ihrer Meynung nach leben möchten, wie sie wolten; so bin ich doch weiter hinauf gestiegen und habe gezeiget, daß der Urheber dieser natürlichen Verbindlichkeit GOtt sey und daß er über dieses den Menschen noch auf andere Weise verbindet seine Handlungen dergestalt zu dirigiren, damit sie zu seiner, ja des gantzen menschlichen Geschlechtes und der gantzen Welt Vollkommenheit gereichen. In soweit uns nun GOtt verbindet, haben wir ihn als den Gesetzgeber des natürlichen Rechts anzusehen. Weil ich aber gefunden, daß die Menschen das Gesetze als eine Last ansehen und ihnen einbilden, als wenn GOtt aus einer blossen Herrschsucht ihre Freyheit eingeschräncket hätte; so habe ich gewiesen, wie sich GOtt als einen Vater bey dem Gesetze der Natur aufführet, indem er uns ein Gesetze vorgeschrieben, welche das Mittel ist, wodurch wir unsere Glückseligkeit auf Erden erreichen können. 38
Durch diesen Begriff habe er – so erklärt Wolff an anderer Stelle – „erwiesen, daß die Handlungen der Menschen an sich nothwendig gut oder böse sind, keines Weges aber erst durch den Befehl oder das Verboth eines Oberen gut oder böse werden.“ 39 Die moralische Qualität des Handelns wird mit Bezug auf den Vollkommenheitsbegriff bestimmt: „Was unsern so wohl innerlichen, als äusserlichen Zustand vollkommen machet, das ist gut (§ 422 Met.); hingegen was beyden unvollkommener machet, ist böse (§ 426 Met.).“ 40 Diese Ders. 1990, 398f. WOLFF 1973 (Ausführliche Nachricht), § 137; vgl. auch ders. 1998 [im Folgenden abgekürzt als ‚Dt. Ethik‘], Vorrede zur zweiten Auflage. 39 Dt. Ethik, Vorrede zur zweiten Auflage. – Dass diese Konzeption der ‚moralitas objectiva‘ bzw. der ‚bonitas ac malitia intrinseca actionum‘ (WOLFF 1971, I, §§ 55ff.) auf die Scholastik zurückgeht, hat Wolff selbst betont, vgl. ders. 1971 (Ausführliche Nachricht) § 137. 40 Dt. Ethik § 3; WOLFF 1971, I, § 55; ders. 1980, §§ 13–15. – Wolff hat den Begriff der Vollkommenheit deshalb in seiner Philosophia moralis sive ethica, methodo scientificaper37 38
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ontologische Verankerung der Konzeption der natürlichen Verbindlichkeit dient dazu, den Unterschied von guten und bösen Handlungen „als unabhängig von der menschlichen Konvention und unabhängig von einer besonderen göttlichen Autorität aufzuzeigen“ 41, letztlich also dazu, die Autonomie der praktischen Philosophie zu gewährleisten. Die moralische Notwendigkeit, welche die Verbindlichkeit des Gesetzes darstellt, beruht nicht auf der Beziehung dieses Gesetzes auf den göttlichen Willen, sondern hängt von den jeweils vorliegenden psychologischen Bedingungen des Willensentschlusses, d. h. von dem Vorliegen der entsprechenden Motive ab.42 In diesem Zusammenhang unterscheidet Wolff zwischen der obligatio activa und der obligatio passiva. Während jene aus dem Willen des Verpflichtenden durch die Verknüpfung zwischen einem Motiv und einer Handlung hervorgeht 43, bezeichnet die obligatio passiva die Notwendigkeit der durch den Akt des Verpflichtens (actus obligatorius)44 zur Pflicht gemachten Handlung. Die aktive Verbindlichkeit ‚verbindet‘ zu einer Handlung dadurch, dass sie diese mit einem bestimmten Motiv verknüpft. 45 Demgegenüber drückt die obligatio passiva die – durch die obligatio activa entstandene – moralische Notwendigkeit aus, eine Handlung so und nicht anders zu bestimmen. 46 Was nun den Ursprung der obligatio naturalis angeht, so liegt er nicht in der impositio, d. h. in der Auferlegung durch einen übergeordneten Befehlshaber, sondern in der teleologisch gedachten, auf Verwirklichung der Vollkommenheit abzielenden, Natur als solcher. Wolff bestimmt deshalb die obligatio naturalis auch als diejenige Verbindlichkeit, „die im Wesen des Menschen und der Dinge ihren hinreichenden Grund hat“, so dass mit der Natur des Menschen und der Dinge auch die natürliche Verbindlichkeit gegeben ist.47 Weil folglich alle Moralität unmittelbar in der Natur des Menschen verankert ist, tut ein vernünftiger Mensch Gutes und unterlässt das Böse nicht „in Ansehung der Belohnung und aus Furcht der Straffe“, sondern weil er tracta (1753) auch als „fons philosophiæ meæ practicæ“ (WOLFF 1973, Præfatio) bezeichnet; vgl. hierzu LUTTERBECK 2002, 17. 41 SCHRÖER 1988, 144. 42 Vgl. HARTUNG 1999, 129. 43 WOLFF 1971, I, § 118: „Connexio autem motivi cum actione, sive positiva, sive privativa obligatio activa appelatur.“ 44 Ebd., § 121: „Actus obligatorius dicitur, quo obligatio inducitur passiva“. 45 Ders. 1980, § 35: „Die Verbindlichkeit [...] ist die Verbindung eines Bewegungsgrundes mit einer Handlung [...].“ Dt. Ethik § 8: „Einen verbinden etwas zu thun, oder zu lassen, ist nichts anderes als einen Bewegungs-Grund des Wollens oder nicht Wollens damit verknüpfen.“ 46 Ders. 1971, I, § 118: „Necessitas moralis agendi vel non agendi dicitur obligatio passiva“; ders. 1972, I, § 57 nota: „Obligatio autem necessitas moralis actionem sic & non aliter determinandi“. 47 Vgl. Ders. 1971, I, 2, § 129.
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sich selbst das Gesetz des Handelns gibt, ohne außer der Erkenntnis in die moralische Qualität einer Handlung eines weiteren Motivs zu bedürfen. 48 Moralität ist also für Wolff die Ausrichtung des eigenen Willens in Übereinstimmung mit dem natürlichen Gesetz: „Weil wir durch die Vernunfft erkennen, was das Gesetze der Natur haben will; so braucht ein vernünftiger Mensch kein weiteres Gesetz [als das natürliche], sondern vermittels seiner Vernunft ist er ihm selbst ein Gesetz“.49 Man versteht deshalb auch, warum Wolff so vehement auf die voluntaristische Begründung der Verbindlichkeit durch Pufendorf u. a. reagierte: Die Hypostasierung des göttlichen Willens bzw. die Ablösung des Begriffs der Verbindlichkeit von der rationalen Natur des Menschen beraubt diesem Begriff das sichere, weil ontologische Fundament. Dagegen beruhen die willentlichen Entscheidungen der Menschen nach Wolffs intellektualistischer Auffassung nicht auf Furcht vor Strafe, sondern darauf, dass der Wille selbst durch die Erkenntnis des Guten und Bösen, das mit bestimmten Handlungen der Menschen notwendig verknüpft ist, bestimmt wird. Der Wille der Menschen ist so beschaffen, dass die Erkenntnis des Guten, das mit einer Handlung verknüpft ist, einen „Bewegungs-Grund des Willens [...], dass wir sie wollen“, darstellt, so wie umgekehrt die Erkenntnis des Bösen „ein Bewegungs-Grund des nicht Wollens, oder des Abscheues für einem Dinge“ 50 ist. In dieser Hinsicht ist die Verbindlichkeit mit der Motivierung des Willens durch die Vorstellung des Guten bzw. Bösen, das mit einer Handlung verknüpft ist, identisch. Diese Psychologisierung des Obligationsbegriffs, die das Ziel verfolgt, „die rein positivistische Auffassung der Verbindlichkeit“, wie sie Wolff bei Pufendorf vorfand, zu bekämpfen“, stellt in der Tat – wie Clemens Schwaiger hervorgehoben hat – eine ‚tiefgreifende Neuerung‘ in der neuzeitlichen Obligationstheorie dar. 51 Manche Interpreten sind in Bezug auf Wolffs ethische Gesetzgebung der Auffassung, dass es sich hierbei schon um ein Konzept der Autonomie, d. h. der Selbstgesetzgebung dergestalt handelt, dass der moralische Mensch keine Vgl. Dt. Ethik § 38. Dt. Ethik § 24. WOLFF 1971, I, § 268: „Homo ratione valens & utens sibimetipsi lex est“. – SCHRÖER 1988, 213: „Der Schlüssel zum Kern der Wolffischen Moralbegründung liegt somit in der These, der vernünftige Mensch sei kraft seiner Vernunft sich selbst das Gesetz und brauche darüber hinaus keine weiteren Gesetze“, vgl. auch JOESTEN 1931, 27ff. 50 Dt. Ethik, §§ 6f. In seinen Anmerkungen zur Dt. Metaphysik (Der Vernünfftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, anderer Theil, bestehend in ausführlichen Anmerckungen, Frankfurt/M. 41740), § 155 (ad § 492 der Dt. Metaphysik), verweist Wolff darauf, dass er unter dem Willen „im engeren Verstande“ wie die Scholastiker die „vernünfftige Begierde“ (appetitus rationalis) versteht. – Zu den systematischen Problemen, die mit dieser intellektualistischen Sicht der Willensfreiheit verbunden sind, vgl. WOLFF 1949, 109ff. 51 Vgl. SCHWAIGER 2001, 251f. 48 49
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anderen Gesetze anerkennt, als diejenigen, die er sich selber gibt. 52 In der Tat sind die Fortschritte des Wolff’schen Moralitätsbegriffs nicht zu übersehen: Zum einen beruht dieser Begriff auf dem Prinzip der Autonomie der Moralphilosophie, d. h. ihrer Unabhängigkeit von theologischen Voraussetzungen, 53 zum anderen aber eliminiert der Wolff’sche Begriff der Sittlichkeit jeglichen Bezug auf einen fremden gesetzgebenden Willen unübersehbar. Aber weder die Autonomie der Moralphilosophie noch Wolffs Konzept der Moralität als innere Willensbestimmung des Menschen reichen hin, um aus seiner Moralphilosophie eine Ethik der Autonomie – jedenfalls im kantischen Sinne – zu machen. Das Prinzip der Wolff’schen Ethik ist das Prinzip der Selbstbindung, durch die sich der Mensch kraft eigener Vernunft unter das natürliche Gesetz stellt. Zwar ist es auch bei Wolff die Willensbestimmung durch eigene Vernunft, die das Wesen der Moralität ausmacht. Aber wozu diese Vernunft den Willen bestimmt, ist keineswegs die Übereinstimmung der Handlungsmaximen mit der „eigenen allgemeinen Gesetzgebung des Willens“ 54, sondern nur zur Übereinstimmung der Maximen mit einem Gesetz, das dem Willen selbst als universale Norm vorausliegt. 55 Wolffs Moralphilosophie beruht also nicht auf dem Prinzip der Selbstgesetzgebung, durch die der Mensch qua praktischer Vernunft sein Wollen und Handeln auf die Bedingungen der möglichen Übereinstimmung mit einem allgemeinen Gesetz einschränkt, sondern auf dem von dem Prinzip der Autonomie zu unterscheidenden Prinzip der Selbstbindung an ein dem Willen systematisch vorhergehendes Gesetz, dessen Geltungsgrund nicht die praktische Vernunft, sondern die teleologische Verfasstheit von Welt und Natur ist.56 Allerdings ist Wolffs Versuch, den Gedanken der Selbstbindung bzw. der Selbstverpflichtung des Individuums durch sich selbst in der praktischen Philosophie zu etablieren, mit einer Reihe von Problemen behaftet. Ich nenne hier nur Wolffs letztlich unbefriedigende Verhältnisbestimmung von praktischer Philosophie und Moraltheologie. Während die rein rationale Begründung der Normen im Rahmen der Philosophia practica universalis die Verpflichtungskraft des Naturrechts allein aus dem ‚Wesen des Menschen und Vgl. SCHMUCKER 1961, 40. In diesem Sinne spricht JOESTEN 1931, 26ff. von der „Autonomie der Moral“ bei Wolff. Dass die Aufstellung einer autonomen Moral (im Sinne der Bekämpfung anderer, z.B. theonomer Moralprinzipien) von Kants Setzung des Prinzips der Autonomie des Willens als alleinigem Prinzip der Sittlichkeit zu unterscheiden ist, hat mit Nachdruck Klaus Reich betont, vgl. REICH 2001, 154f. 54 KANT 1903, 431. 55 Zu dieser für das Verständnis des Unterschieds zwischen Wolffs und Kants praktischer Philosophie entscheidenden Differenz zwischen Selbstbindung und Autonomie vgl. GEISMANN 2001, 441f. Zum Verhältnis von Wolffs Vollkommenheitsprinzip und Kants Begriff der Autonomie vgl. auch SCHRÖER 1988, 196–206. 56 Vgl. RÖD 1984, 252. 52 53
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der Dinge‘ ableitet, betrachtet die Theologia naturalis die natürlichen Gesetze als Ausfluss des göttlichen Willens. Obwohl Wolff behauptet, dass der Grund der Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes nicht im Willen Gottes liegt, sondern „ihren hinreichenden Grund in dem Wesen und der Natur des Menschen und der Dinge“ 57 habe, hat er zugleich daran festgehalten, dass man die Normen des natürlichen Rechts auch als Gebote Gottes und somit Gott als den Autor und den Gesetzgeber des natürlichen Gesetzes betrachten könne. 58 Der Grund für den Rückgang auf Gott als Urheber und Gesetzgeber des natürlichen Gesetzes liegt in Wolffs Überzeugung, dass die Menschen und die Welt im Ganzen sich nicht selbst begründen, sondern als kontingente Erscheinungen auf Gott als ihre notwendige Ursache verweisen. 59 Dementsprechend erklärt er in der Deutschen Metaphysik: „Wenn Gott nicht wäre, so wären keine Menschen und auch kein Recht der Natur“. 60 Beide Weisen der Begründung der Verbindlichkeit – die philosophische und die moraltheologische – stehen nach Wolffs Verständnis nicht in einer begründungstheoretischen Konkurrenz, sondern sie unterscheiden sich nur durch ihren jeweiligen Gesichtspunkt. Klammert man die ontologische Problematik der Kontingenz der Welt allerdings aus, dann behält die praktische Philosophie den Charakter einer autonomen Wissenschaft. Dies wiederum bedeutet, dass der Rückgriff auf Gott als Urheber der Welt im Hinblick auf die Frage nach der Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes systematisch überflüssig ist. 61 Darüber hinaus bricht sich der verbindlichkeitstheoretische Intellektualismus Wolffs an seiner pessimistischen Einschätzung der moralischen Möglichkeiten der menschlichen Natur in den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Weil der vergesellschaftete Durchschnittsmensch sich im Zustand der Sklaverei der Sinne befindet 62 und deshalb den Forderungen der
WOLFF 1980, § 38; vgl. hierzu WINIGER 1992, 179. Vgl. WOLFF 1971 I, §§ 273ff.; ders. 1980 § 41. 59 Vgl. BISSINGER 1983, 153. 60 WOLFF 1983, [im Folgenden abgekürzt als ‚Dt. Metaphysik‘], § 364 Anm. Vgl. BISSINGER 1983, 154. 61 WOLFF 1978, pars I, 5, § 975 Anm.: „Obligationem hic deducimus ex voluntate Numinis tanquam Domini nostri, cum hic tantummodo agatur de obligatione divina, non autem de naturali, quam illi contradistinctam explicabimus in Philosophia practica universali. Absit itaque ut quis sibi persuadet, nos in eorum abiisse sententiam, qui negata actionum intrinseca honestate ac turpitudine nullam in homine obligationem quoad directionem actionum liberarum agnoscunt, quam quæ est a superiore.“ 62 Vgl. Dt. Metaphysik, § 491, Dt. Ethik §§ 180ff. SCHMUCKER 1961, 41, spricht in diesem Zusammenhang davon, dass bei Wolff „die Erfahrung der tatsächlichen sittlichen Beschaffenheit des Menschen den Sieg über die Konsequenzen der metaphysischen Theorie davongetragen“ hat. Ähnlich BRÜCKNER 1977, 219: „Wolff, der in seiner Metaphysik von dem Bemühen ausgegangen war, die Idee des intellektuellen und sittlichen Unvermögens der Menschen zu widerlegen, gerät in der Politik unter dem Druck der praktischen 57 58
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Vernunft nicht zugänglich ist, wird de facto in Wolffs Politik und Staatsrechtslehre die autonome Geltung der Verbindlichkeit, nach welcher der Weise die moralische Güte bzw. Schlechtigkeit der Handlungen durch seine eigene Vernunft erkennt und diese Einsicht zum Bestimmungsgrund seines Willens, d. h. zum Gesetz seines Freiheitsgebrauchs macht, ohne durch die Furcht vor Strafe dazu motiviert zu werden, zum bloß idealen, faktisch aber illusionären Fluchtpunkt der praktischen Philosophie. Theorie und Praxis der Moralphilosophie fallen bei Wolff als ideale Selbstgesetzgebung des Weisen auf der einen und als faktische Zwangsgesetzgebung für die Toren auf der anderen Seite auseinander. 63 Denn obwohl die Rechtspflichten der Menschen insgesamt auf einer natürlichen Verbindlichkeit beruhen, ist die natürliche Verbindlichkeit als solche in praxi „nicht hinlänglich“, um die Menschen zur Erfüllung ihrer Pflichten anzuhalten: So muß noch eine neue Verbindlichkeit im gemeinen Wesen dazu kommen, die da durchdringet, wo die natürliche unkräfftig erfunden wird. Es kan aber diese Verbindlichkeit auf zweyerley Weise bewerckstelliget werden, theils wenn man auf die Ubertretung dessen, was man geordnet, Straffen setztet, oder auch mit desselben Erfüllung Belohnungen verknüpffet, theils wenn man sie mit äusserlichem Zwange (welcher die Hülffe genennet wird) bedrohet, woferne sie sich nicht gutwillig beqvemen wollen. Nehmlich sowohl die Furcht für der Straffe und Hoffnung der Belohnung, als auch die Furcht vor der Hülffe ist ein Bewegungs=Grund zu thun, was befohlen wird (§ 496 Met.) und solchergestalt werden wir dadurch solches zu thun verbunden (§ 8 Mor.). 64 Verhältnisse zur Leugnung der Erkenntnisfähigkeit der Vernunft, die die Leugnung der spontanen menschlichen Fähigkeit zur Vollkommenheit einschließt.“ 63 Zu diesem Unterschied zwischen Selbst- und Zwangsgesetzgebung, mit der Wolff auf ein altes, schon im Schlusskapitel der Nikomachischen Ethik zu findendes Motiv zurückgreift, vgl. WOLFF 1985, 37: „Wer sich mit einer verworrenen Erkenntnis der Dinge zufriedengibt und durch kein anderes Streben als durch jenes, das die Philosophen das sinnliche nennen, und durch die daraus entstandene Gemütsbewegungen zu Handlungen angetrieben wird, der eignet sich eine bloße Gewohnheit an, richtig zu handeln, die hauptsächlich durch die Furcht vor einem Herren aufrecht erhalten werden muß, damit sie nicht dann, wenn sich die Gelegenheit bietet, durch das Gegenteil aufgehoben wird. Und in diesem Zustand unterscheidet sich der Mensch nicht von den Tieren, denen die Natur zwar den Gebrauch der Vernunft nicht gewährt hat, die Empfindung aber und das Streben, das daraus entsteht, nicht verweigert hat. Wie man unvernünftige Tiere an bestimmte Handlungen zu gewöhnen pflegt, so gewöhnen sich die Menschen in diesem Zustand an Handlungen, die nach unserer Willkür zu vollbringen sind. [...] Wer aber seinen Geist zur deutlichen Erkenntnis der Dinge erhebt und durch dasjenige Streben, das die Philosophen das vernünftige nennen, zum Guten angetrieben wird, der wird durch den freien Willen zu guten Handlungen bestimmt und braucht, um beim Guten zu bleiben, keinen Herren, da er ja den inneren Unterschied zwischen Gut und Böse erkennt und ihn, wenn es nötig ist, anderen zureichend erklären kann.“ 64 Ders. 1985, § 341. – Zum Problem der Unzulänglichkeit der bloß natürlichen Verbindlichkeit und zur Notwendigkeit positiver Gesetze vgl. auch ebd. § 401: „Von den bürgerlichen Gesetzen: Nothwendigkeit der bürgerlichen Gesetze. Es sind zwar alle Hand-
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Diese Zwangsgesetzgebung nimmt die Menschen nicht, wie sie sein sollen, sondern so, wie sie sind, 65 nämlich in der Regel unvernünftig und deshalb nur durch die Zwangsandrohung des positiven Rechts bestimmbar. Während die natürliche Verbindlichkeit für den vernünftigen Menschen ein zureichendes Motiv des gerechten Handelns bildet,66 bedarf der Unvernünftige, wenn er in lungen der Menschen durch das natürliche Gesetze determiniret, ob sie gut oder böse sind und ist eben dieses Gesetze das allervollständigste, so daß es nichts übrig lässet, welches erst durch andere Gesetze dörffte determiniret werden, ob es gut oder böse sey (Moral § 27). Und dennoch sollte man meinen, man könne mit dem natürlichen Gesetz allein auskommen und habe kein anderes weiter von nöthen. Allein es finden sich doch allerhand Ursachen, warumb man im gemeinen Wesen auch noch andere Gesetze gebrauchen muß, welche man die bürgerlichen zu nennen pfleget, weil sie im bürgerlichen Leben nöthig sind. Nemlich anfangs ist schon oben (§ 341) angemercket worden, daß die natürliche Verbindlichkeit nicht hinlänglich ist die Menschen zur Erfüllung des Gesetzes der Natur zu bringen und man dannenhero im gemeinen Wesen noch eine neue Verbindlichkeit einführen müßte, die da durchdringet, wo die natürliche unkräfftig gefunden wird. Die Natur verbindet uns durch dasjenige, was aus unseren Handlungen veränderliches für uns und unseren Zustand erfolget (Moral § 9). Da nun dieses durch die Vernunft beurtheilet werden muß (Moral § 23), nicht aber jedermann den Grad der Vernunft besitzet, welcher zu dieser Beurtheilung erfordert wird, absonderlich wo es sich nicht deutlich zeiget, daß etwas aus diesen, oder jenen Handlungen entsprungen, absonderlich da die Natur öffters nach langen Zeiten sich erst zeiget, was durch eine Handlung angestifftet worden; so kan auch nicht jedermann durch die natürliche Verbindlichkeit zu Beobachtung seiner Pflichten gebracht werden. Wenn man nun im gemeinen Wesen durch eine besondere Art die Unterthanen zu dem verbindet, was das Gesetze der Natur erfordert; so wird das natürliche Gesetze zu einem bürgerlichen Gesetze (Moral §§ 17 f.). Unterweilen geschiehet es, daß das Gesetze der Natur sich nicht genau beobachten lässet, weil es dadurch zu vielem Streite und Uneinigkeit würde Anlaß geben, nachdem man im gemeinen Wesen verbunden ist einem jeden, dem Unrecht geschiehet, Recht zu verschaffen (Politik, §§ 330, 400). Derowegen ist nöthig an stat des natürlichen Gesetzes ein anderes zu geben, dabey zwar unterweilen einiges Unrecht erduldet, jedoch aber dadurch zugleich mehrerem Unheile vorgebeuget wird. [...] Und also haben wir bürgerliche Gesetze nöthig, die in einigen Fällen von den natürlichen abweichen. Man findet ferner, daß unterweilen die natürlichen Gesetze einerley Handlung nach den gar verschiedenen Fällen, die sich dabey ereignen können, auf gantz verschiedene Weise determiniren. Wenn nun wiederumb im gemeinen Wesen daher viele unvermeidliche Weitläuffigkeiten aus vorhin angegebenen Ursachen entstehen: so muß man sie entweder überhaupt auf einerley Art determiniren, oder doch auf wenigere Fälle bringen. Und solchergestalt bekommen wir abermahl bürgerliche Gesetze, die von dem natürlichen unterweilen abweichen. [...].“ 65 Ders. 1972, VIII, § 1 nota: „Enimvero non supponendi sunt homines, quales esse debent, sed quales sunt.“ 66 Dt. Ethik § 38: „Da ein vernünftiger Mensch ihm selbst ein Gesetz ist und ausser der natürlichen Verbindlichkeit keine andere brauchet (§ 24); so sind auch weder Belohnungen, noch Straffen bey ihm Bewegungs-Gründe zu guten Handlungen, und zu Vermeidung der bösen (§ 36). Und vollbringet dannenhero ein Vernünftiger das Gute, weil es gut ist, und unterlässet das Böse, weil es böse ist: in welchem Falle er GOtt ähnlich wird, als der keinen Oberen hat, der ihn verbinden kan das Gute zu thun, und das Böse zu lassen (Met.
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Übereinstimmung mit dem natürlichen Gesetz leben soll, einer anderen Handlungsmotivation: Bei dem unvernünftigen Menschen sind die Belohnungen und Straffen Bewegungs-Gründe die guten Handlungen zu vollbringen, und die bösen zu unterlassen (§ 36). Und dannenhero vollbringet ein Unvernünftiger das Gute, und unterlässet das Böse aus Furcht für der Straffe, und in Ansehung der Belohnung: worinnen sie den Kindern gleich sind, die durch Straffen und Belohnungen zum guten angetrieben und von dem Bösen abgehalten werden, weil sie aus Mangel der Vernunfft der natürlichen Verbindlichkeit keinen Platz einräumen. Ja Kinder und sie sind mit einander dem unvernünfftigen Viehe gleich, welche bloß durch Schläge dazu gebracht werden, wozu sie sonst nicht zu bringen sind. 67
Weil die Mehrheit der Menschen zu einer rationalen moralischen Selbstbestimmung nicht fähig ist, bildet die Religion, genauer die Vorstellung des Jüngsten Gerichts bzw. der göttlichen Strafe, in Wolffs Augen ein geeignetes politisches Mittel zur Durchsetzung normkonformen Verhaltens. Wolffs Skepsis gegenüber der Rationalität des Durchschnittsbürgers treibt ihn dazu, die Durchsetzung religiöser Überzeugungen für eine Aufgabe zu halten, derer sich der Staat zur Sicherung der öffentlichen Ordnung in verstärktem Maße widmen muss. Aus der staatlichen Aufgabe, die Wohlfahrt der Gesellschaft 68 zu befördern, leitet Wolff dementsprechend auch die aus der Sorge um Frömmigkeit und Religiosität 69 erwachsenden religionspolitischen und kirchenrechtlichen Maßnahmen der Staatsgewalt ab. Z. B. folgt aus der sittlichkeitsstiftenden Wirkung des Gottesdienstes die Pflicht der einzelnen Bürger zur Teilnahme am Gottesdienst, 70 während andererseits der Herrscher verpflichtet ist, dafür zu sorgen, dass Gott verehrt wird, dass die kirchlichen Feiertage eingehalten werden und alle Untertanen an diesen Tagen am Gottesdienst teilnehmen 71 sowie die Verbreitung aller religionsfeindlichen Auffassungen zu unterdrücken, weil sowohl diejenigen, die Gottes Existenz leugnen als auch diejenigen, die leugnen, dass er sich um die menschlichen Dinge kümmert, die obligatio divina und insoweit auch das natürliche Gesetz aufheben.72 Der Grund für die Unterdrückung der Ausbreitung religionsfeindlicher § 947); sondern bloß jenes thut, dieses unterlässet durch die Vollkommenheit seiner Natur (Met. § 981).“ – Zu den mit der Einführung der Zwangsgesetzgebung in Wolffs natürlichen Moral entstehenden systematischen Problemen vgl. die bereits zitierte Studie von BRÜCKNER 1977, 214ff. 67 Dt. Ethik § 39. 68 Vgl. WOLFF 1980, § 837. 69 Vgl. ders. 1972, § 457f.; ders. 1975, II, 3, § 366; ders. 1980, § 1024. 70 Dem Einwand, der Zwang zur Teilnahme am Gottesdienst produziere nur Heuchelei, begegnet Wolff folgendermaßen: „So weiß doch ein jeder, daß im bürgerlichen Leben die Heucheley besser ist, als öffentlich gottlose seyn, weil dadurch das Aergernis gehoben und der Werth der Religion erhalten wird“ (Ders. 1975, § 421). 71 Vgl. ders. 1972, § 471. 72 Vgl. ebd., § 472; Grundsätze § 1024.
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Ansichten liegt also darin, dass diese geeignet sind, die übrigen Bürger im Glauben und in der Erfüllung des natürlichen Gesetzes zu beeinträchtigen. Die Frage, wieweit das staatliche Ermessen in Rücksicht auf den Moralzwang und die Unterdrückung abweichender Ansichten geht, hält Wolff nicht für ein Problem der Bestimmung der rechtlichen Grenzen der Staatsgewalt, sondern für ein Problem der prudentia civilis.73 Wie im Strafrecht im Allgemeinen,74 zeigt sich auch hier, dass Wolff über keinerlei Kriterium verfügt, die Grenzen des legitimen Rechtszwangs zu bestimmen. Noch verschärft wird dieses Problem durch Wolffs Auffassung, dass die Sorge um die Tugendhaftigkeit der Bürger eine der zentralen Wohlfahrtsaufgaben des Herrschers darstellt. Auf der Grundlage der naturrechtlichen Forderung der Verwirklichung des bonum commune bzw. allgemeiner Glückseligkeit durch allseitige Vervollkommnung der Individuen gelangt Wolff zu einer moralteleologischen Staatszweckbestimmung, in welcher der Staat als oberster Tugendwächter bzw. als „Agent der Vervollkommnung“ 75 erscheint und die Realisierung des status civilis und der Rechte der Bürger zugleich der Förderung der Moral dient: Das bonum commune auf der einen und die Beförderung der individuellen Moral durch die Rechtsordnung auf der Seite sind die korrespondierenden Prinzipien der Wolff’schen Staatszwecklehre: Da die Beförderung der gemeinen Wohlfahrt auf der Beobachtung des Gesetzes der Natur beruhet (§. 224.), so muß derjenige, der den Willen haben soll sie zu befördern, eine Fertigkeit haben, seinen Handlungen dem Gesetze der Natur gemäß einzurichten und also tugendhaft seyn (§. 64. Mor.). 76
Die bei Hobbes, Pufendorf und Thomasius sich abzeichnende Differenzierung von Recht und Moral, von legitimem Zwang und individueller Vervollkommnung wird bei Wolff wieder rückgängig gemacht zugunsten einer „durchgehenden Moralisierung der Rechtsverhältnisse.“77 Für Wolff gilt, was Diethelm Klippel für die Staatszwecklehre des älteren Naturrechts insgesamt festgestellt hat, dass nämlich „der unbegrenzte und schwankende Wohlfahrtsbegriff als Staatszweck [...] zu einer Ausdehnung der Eingriffsmöglichkeit des absolutistischen Staates“ führt. 78 Zwar ist auch Wolff der Auffassung, dass die Staatsgewalt nicht unmittelbar auf die moralische Innerlichkeit der Bürger einwirken kann, aber sie kann durch ihre Politik „günstige Vorausset-
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Ebd., § 471 Anm. Vgl. zum Problem der Unbegrenztheit der staatlichen Strafgewalt bei Wolff vgl. HÜNING 2009, 183–221. 75 Vgl. hierzu LUTTERBECK 2002, 192ff. 76 Wolff 1975, § 242. 77 HARTUNG 1999, 146; vgl. hierzu auch LINK 1979, 141. 78 KLIPPEL 1976, 51. 74
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zungen und Bedingungen für ein moralisches Verhalten“79 der Staatsbürger schaffen und erhalten.80 Welches sind die Ergebnisse unserer Analyse des Streites um den Begriff der Verbindlichkeit in den Naturrechtslehren Pufendorfs und Wolffs? Zunächst einmal konnten wir feststellen, dass im Hinblick auf die Frage nach dem Geltungsgrund der Verbindlichkeit zwischen beiden Autoren grundsätzliche Differenzen bestehen: Während bei Pufendorf der Gesichtspunkt dominiert, dass „Gott als Geltungsvoraussetzung des Gesetzes“ 81 und der aus ihm hervorgehenden Verbindlichkeit betrachtet werden muss, löst Wolff die Geltung der naturrechtlichen Verbindlichkeit im Prinzip von der Existenz eines göttlichen gesetzgebenden Willens ab. Bei Wolff fanden wir demgemäß einen veränderten Begriff der Verbindlichkeit, für den der Bezug auf den göttlichen Willen und religiöse Überzeugungen nicht konstitutiv ist. Wolff leistet somit einen wichtigen Beitrag für das Verständnis der praktischen Philosophie als einer von moraltheologischen Voraussetzungen geltungslogisch unabhängigen Lehre. Die eigentümliche und problematische Psychologisierung der verbindlichkeitstheoretischen Elemente der Moralphilosophie bestimmt den weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts der verbindlichkeitstheoretischen Debatten über Crusius, Baumgarten u. a. bis hin zu Kants Metaphysik der Sitten. Diesen Verlauf nachzuzeichnen, wäre eine lohnende Aufgabe, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. 82
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Vernunft und Verbindlichkeit Moralische Wahrheit im Natur- und Völkerrecht der deutschen Aufklärung Katerina Mihaylova Eius autem vinculum est ratio et oratio, quae docendo, discendo, communicando, disceptando, iudicando conciliat inter se homines coniungitque naturali quadam societate 1
A. Einleitung Mit Verbindlichkeit wird nicht nur die bindende Kraft einer Norm (vinculum juris)2 bezeichnet, sondern sie kann auch allgemeiner als eine handlungstheoretische Kategorie aufgefasst werden, die auf die Rationalität handelnder Personen referiert. Praktische Rationalität wird allgemein durch die Verknüpfung zwischen Handlungsgründen und Handlungen definiert,3 welche Verknüpfung in systematischen Analysen als ein zentrales Merkmal von Verbindlichkeit identifiziert wird.4 Es gibt zwei Möglichkeiten, Handlungen verbindlich zu machen: 1. durch äußern Zwang auf den Handelnden; 2. durch innere Zustimmung durch den Handelnden. Im ersten Fall geht es zwar um heteronome Bestimmung des Handelns, aber es kann trotzdem von Verknüpfung zwischen Handlungsgründen und Handlungen und damit von rationalem Handeln die Rede sein, sofern das Vermeiden von Gewalt oder anderen Sanktionen durch Befolgung einer Forderung als Grund für die Ausführung einer Handlung angenommen wird. In diesem Fall geht es um eine passive Verbindlichkeit, denn der Handlungsgrund wird aufgezwungen und lässt sich weder auf den emotionalen, 1 CICERO 2007, 48 (De Officiis, I 50) [Ihr Band ist aber das Denk- und Redevermögen, das durch Lehren und Lernen, durch das Gespräch miteinander und gegeneinander und durch Urteilen die Menschen untereinander versöhnt und verbindet durch einen ganz natürlichen Gesellschaftsgeist], Ebd., 49. 2 Diese Definition lässt sich auf JUSTINIAN 1877, Institutiones III 13 zurückführen. 3 Vgl. dazu DAVIDSON 2010, 46. 4 Vgl. dazu HIMMA 2013, 23-26.
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noch auf den intellektuellen Zustand einer Person notwendig zurückführen. Dagegen handelt es sich bei der Zustimmung des Handelnden um eine aktive Verbindlichkeit, bei der die Verknüpfung zwischen Grund und Handlung nicht nur eine Leistung des Handelnden darstellt, sondern auch als autonom bezeichnet werden kann. Man könnte zwischen zwei Formen solcher Verbindlichkeit unterscheiden: externalistisch, sofern die Verknüpfung zwischen Grund und Handlung von psychologischen Zuständen abhängt, die durch externe Einwirkung auf den emotionalen Zustand einer Person zustande kommen, wie z.B. durch rhetorische Überredung; oder internalistisch, sofern die Verknüpfung zwischen Handlungsgründen und Handlungen unmittelbar durch Einsicht in die Richtigkeit eines Grundes erfolgt, wie etwa durch argumentative Auseinandersetzung mit verschiedenen Handlungsmöglichkeiten und Abwegen von verschiedenen Argumenten, wodurch eine eigene Überzeugung von der Richtigkeit oder Falschheit einer Handlung entsteht. Im ersten Fall würde es einer externen Instanz oder bestimmten Umständen und Gegebenheiten bedürfen, die Einfluss auf den emotionalen Zustand der handelnden Person ausüben,5 im zweiten Fall wären dagegen die eigenen Urteile und die Einsicht, die sich durch sie angesichts der Richtigkeit oder Falschheit einer Handlung einstellt, ausreichend, um eine Handlung zu veranlassen. 6 Historisch betrachtet wird Verbindlichkeit in dieser letzten Bedeutung bereits seit Ciceros Werk De officiis konzipiert, die über die Bedeutung eines rechtlichen Bandes hinaus die Bedingungen markiert, unter welchen Intersubjektivität prinzipiell ermöglich wird. Cicero identifiziert zwei Bedingungen,
Eine besondere Variante des externalistischen Modells stellt das deterministische Naturrecht der Leibniz-Wolff’schen Schulphilosophie dar, das die Wirksamkeit eines Handlungsgrundes von psychologischen Zuständen wie dem Empfinden von Lust oder Unlust abhängig macht. Die Erkenntnis dessen, was gut oder böse ist, hängt hier von einem empirisch-psychologischen Faktor ab, – der Empfindung der Lust (voluptas) –, die dazu noch auch irren kann. Soweit sie jedoch wahr ist, wird sie als in einer konstanten Relation zum höchsten Gut angesehen: „Summunm hominis bonum cum vera voluptate constanter conjungitur.“ (WOLFF 1738, 305) [Das höchste Gut des Menschen wurde mit der wahren Lust konstant verbunden] Das Empfinden von (wahrer) Lust, als letzte Begründung für die Richtigkeit einer Handlung, liefert dabei eine klare aber nicht deutliche (d.h. bloß intuitive, keine diskursive) Vorstellung des Guten. 6 Als internalistisches Modell könnte das rationalistische Naturrecht von Hugo Grotius bezeichnet werden, welches als „ein Gebot der Vernunft“ vorgestellt wird und „anzeigt, daß einer Handlung wegen ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit der vernünftigen Natur (im Unterschied zu der physischen Natur des Menschen) selbst eine moralische Hässlichkeit oder eine moralische Notwendigkeit innewohnt“ (GROTIUS 1950, 50) und daher verbindlich ist. Nach Grotius impliziert das Naturrecht als Gebot der Vernunft Verbindlichkeit nicht nur für den Menschen, danach zu handeln, sondern auch für Gott es zu gebieten, daher würde das Naturrecht auch dann Verbindlichkeit implizieren, wenn es keinen Gott gäbe, es zu befehlen. 5
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von welchen das Funktionieren gesellschaftlicher Interaktion abhängig wäre, nämlich das menschliche Denk- und Redevermögen (ratio et oratio): Aber in der Frage, was die natürlichen Anlagen für die menschliche Gemeinschaft und Gesellschaft sind, ist, wie es scheint, weiter auszuholen. Die erste ist ja die, die sichtbar ist in der Gesellschaft der gesamten Menschheit. Ihr Band aber ist das Denk- und Redevermögen, das durch Lehren und Lernen, durch das Gespräch miteinander und gegeneinander und durch Urteilen die Menschen untereinander versöhnt und verbindet durch einen ganz natürlichen Gesellschaftsgeist, und durch keine Fähigkeit sind wir von der Natur der Tiere weiter entfernt, die, wie wir oft sagen, Tapferkeit besitzen – wie Pferde und Löwen –, nicht aber Gerechtigkeit, Edelmut und Anstand. Denn sie haben nicht teil an Denk- und Redevermögen. 7
Ciceros Auffassung, dass Denken und Sprache zusammen das Handeln nach Prinzipien der Gerechtigkeit und damit zugleich auch die Fähigkeit zur Vergesellschaftung konstituieren, wird mit den rationalistischen Naturrechtslehren der Frühneuzeit wieder aufgegriffen und in Richtung der Herausbildung der Idee von universalen Rechten der Menschen weiterentwickelt.8 In den frühneuzeitlichen Naturrechtslehren von Grotius und Pufendorf werden beide Momente – Rationalität und Sprache – ähnlich wie bei Cicero als konstitutiv für den Begriff der Verbindlichkeit allgemein als grundlegende Bedingung jeder Vergesellschaftung betrachtet. Eine erste gesellschaftliche Bindung erfolgt durch die Sprache, indem der bloße Gebrauch derselben bereits einem Vertrag gleicht. Den Ausgangspunkt stellt die Auffassung dar, dass verbale Kommunikation vor allem das Urteilsvermögen der Menschen befördern oder behindern kann, welche Auffassung eine natürliche Verpflichtung zum korrekten Sprachgebrauch für jeden bedingt, der sich der Sprache bedient. Daraus ergibt sich das kontraktualistische Sprachkonzept, das eine stillschweigende Übereinkunft behauptet, Sprache wenn nicht zur Beförderung des Urteilsvermögens, so doch wenigstens nicht zu ihrer Behinderung zu gebrauchen. Nach Grotius hat demnach jeder Mensch als rationales Wesen das natürliche Recht, von jedem anderen zu fordern, durch dessen Sprachgebrauch nicht getäuscht zu werden. Denn um rational handeln zu können, muss er davon ausgehen können, dass die Prämissen seiner Urteile, welche zum Teil durch verbalen Austausch gebildet werden und wodurch das Handeln bestimmt wird,
7 CICERO 2007, 49. Ähnliche Vorstellung findet sich in Pufendorfs Theorie moralischer Personen wieder: „personae morales, quae sunt honines singuli, aut per vinculum morale in unum systema connexi“ PUFENDORF 1672, 9-10. [„moralische Personen (…) sind einzelne Menschen bzw. solche, die aufgrund eines moralischen Bandes zu einer Gemeinschaft verknüpft sind“; hier wie im Folgenden eigene Übersetzung dieses Werkes] 8 In der Forschung wird der historische Ursprung der Idee universaler Menschenrechte auf das aufklärerische Programm der frühneuzeitlichen Naturrechtslehren von Grotius und Pufendorf zurückgeführt (vgl. dazu HUNT 2008, 117), auch wenn ihre Diskussion und konkrete Wirkung erst mit der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten (1776) und der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789) an Aktualität gewinnt.
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nicht falsch sind. Die Erhaltung des natürlichen Rechts auf Freiheit der Urteilskraft vor Täuschung (Denkfreiheit) liegt somit für Grotius jedem Sprachgebrauch zugrunde: [U]nd dieses Recht ist die Freiheit des Urteils, welches jeder dem, welchen er anredet, gleichsam durch einen stillschweigenden Vertrag schuldet. Dies ist die gegenseitige Verbindlichkeit, welche die Menschen haben einführen wollen, als sie den Gebrauch der Rede und ähnlicher Zeichen einführten; denn ohne solche Verbindlichkeit wäre die ganze Einrichtung nutzlos gewesen.9
Auch bei Pufendorf finden sich sowohl die kontraktualistische Auffassung von Sprache, als auch die darin zugrundeliegende Voraussetzung rationaler Selbstbestimmung des Handelnden wieder, auch hier werden Rationalität und Sprache als natürliche Quellen von Pflichten aufgefasst, von welchen die Erhaltung einer jeden Gesellschaft abhängig ist. Im Folgenden soll die Entwicklung dieses Aspekts von Verbindlichkeit, der später auch als aktive Verbindlichkeit bezeichnet wird, innerhalb der deutschen Aufklärung untersucht werden und die Implikationen, die er in Bezug auf die Bedingungen rationalen Handelns, die mit dem Sprachgebrauch zusammenhängen. Zu diesem Zweck wird in einem ersten Schritt eine spezifisch handlungstheoretische Perspektive anhand derjenigen Aspekte von Verbindlichkeit eröffnet, die zu einer Aufwertung des handelnden Subjektes als eines selbstbestimmten Akteurs führen und einen rationalistischen Begriff von Pflicht ermöglichen. In einem zweiten Schritt sollen die Implikationen erörtert werden, die das moralphilosophische Konzept aktiver Verbindlichkeit im Vergleich zu dem bloß juridischen Konzept passiver Verbindlichkeit mit sich bringt, sofern ersteres die Bedeutung der Sprache für die Begründung von natur- und vernunftrechtliche Pflichten berücksichtigt und daraus ein universales Recht der Menschen ableitet.
B. Verbindlichkeit durch rationale Selbstbestimmung Mit der Frühaufklärung findet eine Neugewichtung in der Auseinandersetzung mit Fragen nach der Verbindlichkeit von Normen statt. Während seit der Antike hauptsächlich der Bezug zum Gesetz betont wird, werden in den rationalistischen Naturrechtslehren der Frühneuzeit genauso stark diejenige Aspekte von Verbindlichkeit im Mittelpunkt gestellt, die die Rolle des handelnden Subjektes und seiner Fähigkeit, Pflichten anzuerkennen, hervorheben.10 Die Eröffnung einer solchen handlungstheoretischen Perspektive und die Verschiebung GROTIUS 1950, 428. Im 18. Jahrhundert setzt sich in dieser Hinsicht die terminologische Unterscheidung zwischen passiver und aktiver Verbindlichkeit durch, vgl. dazu WOLFF 1754, 23-25 (§§ 3537). 9
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des Interesses von der Rolle des Verpflichtenden auf die Rolle des Verpflichteten lassen sich besonders auf die Moralphilosophie von Samuel von Pufendorf und seiner Theorie moralischer Personen zurückführen. 11 In dem ersten seiner acht Bücher über Natur- und Völkerrecht De Jure Naturae et Gentium Libri Octo von 1672, in dem Pufendorf die allgemeinen Grundlagen der Moralphilosophie entwickelt, betont er im Kapitel VI, § 5 ganz ausdrücklich, dass Verbindlichkeit keine Qualität ist, die sich ausschließlich aus dem Gebot eines Gesetzgebers ableiten lässt, sondern zuerst und vor allem demjenigen, der nach dem Gesetz handelt, inhärent ist: Obligationem igitur supra definivimus, per qualitatem moralem operativa[m], qua quis praestare aut pati quid tenetur (quando nempe obligationem consideramus, prout haeret in eo, qui obligatur. Secus atque Rich. Cumberland de leg. nat. c.5. §.27. qui obligationem definit, prout est actus legislatoris, quo actiones legis suae conformes eis, quibus lex fertur, necessarias esse indicat). [Verbindlichkeit haben wir also als eine wirkende moralische Qualität definiert, von der derjenige, der etwas gewährleisten oder erleiden muss, gelenkt wird (allerdings betrachten wir die Verbindlichkeit als in demjenigen enthalten, der verbunden wird. Anders als bei Richard Cumberland De legibus natuae, Kap. 5. § 27, der Verbindlichkeit als ein Akt des Gesetzgebers definiert, wodurch dieser zu erkennen gibt, dass die Ausrichtung der Handlungen nach seinem Gesetz für diejenigen, denen das Gesetz gegeben wird, notwendig ist).] 12
Mit der expliziten Abgrenzung von Cumberland, der die Verbindlichkeit als den Akt eines Gesetzgebers definiert und damit an eine seit dem Römischen Recht gängige Auffassung anknüpft, 13 stellt Pufendorf die Leistung des Verpflichteten 14, Pflichten anzuerkennen, als zentrale Voraussetzung seiner Verbindlichkeitstheorie. Die Bedeutung dieser Abgrenzung steht im Kontext von Pufendorfs Bemühen um eine Verbesserung der menschlichen Vermögen Verstand und Willen und deren Ausübung: Auch wenn bei Pufendorf der Verpflichtende mit seinem Willen genauso wichtige Funktion für die Begründung von Verbindlichkeit spielt, ist die Verpflichtungsfähigkeit des zu Verbindenden jedoch Voraussetzung dafür, dass es überhaupt von Verbindlichkeit und nicht von Zwang die Rede ist. Damit wird an die metaphysische Tradition des auf Willensfreiheit basierenden Personenbegriffes angeknüpft, vgl. zu dieser Tradition KOBUSCH 1997. 12 PUFENDORF 1684, 92 (I. 6, § 5). Der von Pufendorf in Klammern gesetzte Zusatz wurde in der ersten Ausgabe des Werks von 1672 nicht enthalten, da Pufendorf Cumberlands De legibus naturae, das ebenfalls 1672 erscheint, zu dieser Zeit noch nicht kennt. Durch die explizite Abgrenzung zu Positionen wie die von Cubmerland betont Pufendorf in der zweiten Auflage von 1684 den innovativen Charakter seiner eigenen Position. 13 Vgl. dazu CHAUVIN 1692, darin den Artikel ‚Obligatio‘, der an die für die Zeit am meisten vertretenen naturrechtlichen Theorien der spanischen Spätscholastik orientiert ist. 14 Obwohl Pufendorf die Verbindlichkeit als Eigenschaft im Verpflichteten dargestellt, ist sie als aktive Eigenschaft aufgefasst: „Operativae qvalitates morales sunt vel activae, vel paßivae. Illarum nobilissimae species sunt potestas, jus, & obligatio.“ [Die wirkenden moralischen Qualitäten sind entweder aktiv oder passiv.Von den aktiven sind die vornehmsten die Gewalt, das Recht und die Verbindlichkeit.] PUFENDORF 1672, 16. 11
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Ast homini uti praeter insignem corporis habilitatem datum est singulare mentis lumen, cujus ope res posset accuratius comprehendere, eas inter se conferre, ex notioribus ignotiora colligere, deq[ue] rerum convenientia inter se judicare; nec non ut motus suos non ad eundem semper modum cogeretur exserere, sed eosdem expromere, suspendere, ac moderari valeret, prout videretur: ita eidem homini indultum adminicula quaedam invenire aut adhibere, quibus utraq[ue] facultas insigniter adjuvaretur ac dirigeretur. [Dem Menschen wurde aber neben seinem außerordentlichen Körper auch das einzigartige Vermögen des Verstandes gegeben, wodurch er befähigt wird, Sachen genau zu begreifen, sie untereinander zu vergleichen, aus Bekanntem Unbekanntem zu erschließen, Übereinstimmungen zu beurteilen. Auch ist er nicht gezwungen, seine Bewegungen immer nach derselben Art und Weise auszurichten, sondern kann sie nach Belieben lenken. So ist für den Menschen möglich, Hilfsmittel zu erfinden und anzuwenden, wodurch er seine beiden Vermögen (Verstand und Wille) besser kontrollieren kann.] 15
Offensichtlich geht es Pufendorf bei dieser Überlegung nicht um die Verbesserung (emendare) eines defekten Gebrauchs der Vermögen, sondern um die Optimierung (adjuvare ac dirigere) ihres regulären Gebrauchs anhand begrifflicher Instrumenten. Damit nähert sich Pufendorf dem Begriff der Vollkommenheit bei Leibniz an. 16 Pufendorf konzentriert sich jedoch ausschließlich auf die Verbesserung des Willens und überlässt die des Verstandes den Logikern seiner Zeit: Quid notionum inventum fuerit sublevando intellectui, ne per infinitam rerum varietatem confunderetur, aliorum est curatius tradere. Nobis illud jam est dispiciendum, quomodo ad dirigendos voluntatis potissimum actus certum attributi genus rebus & motibus naturalibus sit superimpositum, ex quo peculiaris quaedam convenientia in actionibus humanis resultaret, & insignis quidam decor atq[ue] ordo vitam hominum exornaret. Et ista attributa vocantur entia moralia, quod ad ista exiguntur, & ijsdem temperantur mores actionesq[ue] hominum, quo diversum ab horrida brutorum simplicitate habitum faciemq[ue] induant. [Welche Begriffe sollten erfunden werden, um die Funktion des Verstandes zu optimieren, könnten wir der Beschäftigung anderer überlassen. Wir wollen nun untersuchen, wie für die Verbesserung der Willensbestimmung den natürlichen Sachen und ihren Bewegungen bestimmte Attribute übergeordnet werden, wodurch ein gewisser Zusammenhang in den
15 PUFENDORF 1672, 3 (I. 1, §2). Die Idee über den Bedarf einer Verbesserung der Vermögen ist für das 16. Jahrhundert ganz verbreitet und geht vermutlich auf Seneca zurück, der in seinem Werk De ira [Über den Zorn] schreibt: "Sanabilibus aegrotamus malis; ipsaque nos in rectum genitos natura, si emendari velimus, iuvat." Im 16. Jahrhundert lassen sich eine Reihe Schriften mit der Absicht, die Leistung des Verstandes oder den des Willens zu verbessern (emendare), nachweisen, vgl. dazu SPINOZA 2003. 16 Leibniz gibt folgende Definition der Vollkommenheit: „Vollkommenheit nenne ich alle erhöhung des wesens, denn gleich wie die kranckheit gleichsam eine erniedrigung ist, und ein abfall von der gesundheit, also die Vollkommenheit etwas so über die gesundheit steiget; […] Gleichwie nun die Kranckheit herkomt von verlezter würckung, wie solches die Arzneyverständige wohl bemercket, also erzeiget sich hingegen die Vollkommenheit in einer großen freyheit und krafft zu würcken. Wie dann alles wesen in einer gewißen krafft bestehet, und ie größer die krafft, ie höher und freyr ist das wesen.“ (LEIBNIZ 1961, 87).
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menschlichen Handlungen entsteht, der Wohlstand mit sich bringt und das menschliche Leben durch Ordnung auszeichnet. Wir nennen diese Attribute Moralische Dinge, weil durch ihre Befolgung die Sittlichkeit der menschlichen Handlungen bestimmt wird und weil, indem der Mensch seine Gewohnheiten und Handlungen danach richtet, er sich von der Rauheit und Einfalt unvernünftiger Wesen unterscheidet.]17
Mit den konzeptionellen Instrumenten, wodurch nach Pufendorf die Verbindlichkeit einer rationalen Ordnung für die menschlichen Handlungen ermöglicht werden soll, wird der allgemeine Begriff der sogenannten moralischen Dinge (entia moralia) bezeichnet, die hauptsächlich rational bestimmte Handlungsgründe darstellen und als methodologische Grundlage des Naturrechts dienen sollen. Man darf den innovativen Charakter dieser Neukonzipierung nicht unterschätzen.18 Pufendorf selbst betont mehrfach, dass es sich bei den von ihm verhandelten Begriffen um einen ganz neuen Ansatz handelt.19 Mit der Verlagerung der Verbindlichkeit in dem handelnden Subjekt als dessen moralische Eigenschaft und durch die Modifizierung der Tradition der Emendatio-Traktate durch die Perspektivierung auf Optimierung, anstatt auf Behebung eines Defizites ist nämlich eine entscheidende Bestimmung des naturrechtlich begründeten Pflichtbegriffes verbunden. Die Erkenntnis und Befolgung naturrechtlicher Prinzipien ist für jedes handelnde Subjekt, auf der Grundlage seiner rationalen Verfassung und der Fähigkeit deren Verbesserung, verbindlich. Denn sie stellt eine Art Pflicht erster Ordnung dar, wodurch Verbindlichkeit bzw. Pflichten erst ermöglicht werden können. Die breite Rezeption von Pufendorfs rationalen Pflichtbegriff führt dazu, dass zu Beginn des 18. Jahrhunderts zwischen zwei Verbindlichkeitsbegriffen unterschieden wird: zwischen 1. einer Eigenschaft des zu befolgenden Gesetzes und 2.einer im handelnden Subjekt wirkenden Eigenschaft, die als moralische Notwendigkeit einer Handlung vorgestellt wird. Sie ist formale Bedingung dafür, dass die handelnde Person überhaupt zu einer bestimmten Handlung verpflichtet werden kann. Der Begriff moralischer Notwendigkeit setzt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert zwei Aspekte voraus: 1. Freiheit zu beliebigen Handlungen und 2. ein Gesetz. Erst durch das Zusammentreffen von 1. und 2. entsteht moralische Notwendigkeit, welche als die Aufhebung der Freiheit zu beliebigen Handlungen20 aufgrund der Einsicht in die Rechtmäßigkeit einer normativen Forderung entsteht und die von ihr geforderte Handlung für den Handelnden zur Pflicht werden lässt:
PUFENDORF 1672, 3 (I. 1, §2). Pufendorf knüpft an den von Erhard Weigel entwickelten Begriff moralischer Dingen an, entwickelt diesen aber selbständig weiter. Zu Weigels Konzept vgl. RÖD 1969. 19 PUFENDORF 1672, 2 (I. 1, §1). 20 Freie Willkür wird zugleich vorausgesetzt, um überhaupt den Pflichtbegriff zu ermöglichen. Zu der systematischen Bedeutung dieses Sachverhalts speziell innerhalb der praktischen Philosophie Kants siehe den Beitrag von STEPHAN ZIMMERMANN in diesem Band. 17 18
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[…] durch die Pflicht [verstehen wir] eine solche Handlung, dazu man durch das Gesetz verbunden ist. Diese Beschreibung fasset drey Stücke in sich, die zu einer Pflicht nöthig sind. Denn einmal muß es eine solche Handlung seyn, die an sich in des Menschen Freyheit stehet [1]; worauf das Gesetz hinzu kommt [2], darunter ich stehe, und weil selbiges eine Verbindlichkeit zuwege bringt, so wird dadurch die Freyheit, die ich vorher hatte, aufgehoben, daß eine moralische Nothwendigkeit entstehet, welche Nothwendigkeit eben das Formale, oder das wesentliche Stück einer Pflicht ist.21
Die Pflicht wird zwar als Handlung nach dem Gesetz durch das Gesetz veranlasst, wird aber nicht als eine Eigenschaft des Gesetzes verstanden, die den Willen einschränkt, sondern die Befolgung des Gesetzes wird erst durch den Zustand aufgehobener Freiheit in dem handelnden Subjekt ermöglicht, weil erst durch die Aufhebung der Freiheit die moralische Notwendigkeit entsteht, nach dem Gesetz zu handeln. Wie im Folgenden erörtert wird betrifft die entscheidende Frage in Bezug auf die Aufhebung der Freiheit, wodurch die Handlung moralische Notwendigkeit erhält und zur Pflicht wird, die Zurechnungsfähigkeit des Handelnden und lässt die Verbindlichkeit der Normen von der rationalen Verfassung des handelnden Subjektes abhängig werden. Denn nach den rationalistischen Verbindlichkeitsmodellen kann es dort, wo der Mensch nicht rational handelt, keine Verbindlichkeit geben, sondern lediglich Zwang. Der Mensch, sofern er als rational handelndes Subjekt aufgefasst wird, unterliegt nach Pufendorf nicht allein dem Zwang, sondern bedarf noch Einsicht in die Rechtmäßigkeit des Geforderten, d.h. Einsicht darin, dass es sich nicht um die bloße Willkür des Übergeordneten handelt, sondern um ein Gesetz, das allgemeine Gültigkeit beansprucht. Denn als rationales Wesen empfindet der Mensch von Natur aus eine Hochachtung für die Ausrichtung der menschlichen Handlungen an Regeln.22 Die konzeptionelle Unterscheidung zwischen Verbindlichkeit und Zwang wird auch von Christian Thomasius ausführlich reflektiert. In seinem Spätwerk Grundlehren des Natur- und Völkerrechts von 1709 stellt Thomasius die Lehre von der Zurechnungsfähigkeit des Handelnden in ihrem Verhältnis zur inneren Freiheit als eine der entscheidenden Fragen für die Möglichkeit von Moralität überhaupt vor.23 Er unterscheidet zwischen der bloß äußerlichen Freiheit, die auch unvernünftigen Wesen wie den Tieren zukommt und der innerlichen Freiheit, die ausschließlich vernünftigen Wesen wie dem Menschen zukommt.24 Sowohl Tieren als auch Menschen können nach Thomasius bestimmte Hand-
Vgl. dazu WALCH 1726, 1969 [Hervorhebung von mir]. Diese doppelte Voraussetzung – ein Übergeordneter, der etwas fordert und die Einsicht in die Rechtmäßigkeit der Forderung – bedingt auch eine Art moralisches Gefühl im Handelnden, das nach Pufendorf diese beide Aspekte in der Form von „Furcht und Hochachtung“ wiederspiegelt (PUFENDORF 1994, 39, Kap. 2, § 4-5). 23 THOMASIUS 1709, 134 (§ 50f.). 24 Ebd., 135f. (§§ 55-58). 21 22
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lungen zugeschrieben werden, wenn sie die äußere Freiheit (Freiheit als Willkür) haben, diese auszuführen. Wenn ein Tier dagegen in einem Raum eingesperrt wird, verliert es die äußere Freiheit, aus dem Raum herauszugehen, was ein Zwang bedeuten würde. Jedoch können die freien Handlungen der Tiere nach Thomasius nicht als deren eigenes Verdienst betrachtet werden, weil „sie aus Nothwendigkeit und Antrieb der Natur gehandelt haben“ und entsprechend könnten Strafen und Belohnungen nur vergeltend eingesetzt werden („daß die Straffen und Belohnungen/ welche ohnstreitig wegen der vergangenene Thaten/ als die Ursach sich begeben).25 Davon werden die Handlungen aus innerer Freiheit (Willensfreiheit) unterschieden. Denn diese können nicht nur zugeschrieben, sondern auch zugerechnet werden und erlauben nach Thomasius eine andere Verwendung von Strafe und Belohnung, nämlich nicht vergeltende, sondern präventive: […] daß der Endzweck der Belohnungen und menschlichen Straffe vornehmlich zukünfftig/ nicht vergangen sey. Und zwar der Belohnungen/ daß die Faulheit der Menschen inskünfftige zum guten erwecket werde/ der Straffen/ daß inskünfftige die zum bösen geneigte Begierde unterdrücket werde. Dannenhero ist die Straffe eigentlich eine Artzeney. Aber bey der Artzeney wird die Freyheit des kranken Menschen nicht zu voraus gesetzet. 26
Die innerliche Freiheit, die die Zurechnung einer Handlung erst ermöglicht und von der Rationalität der Handlung eines Menschen bedingt wird, ist also nach Thomasius eine Eigenschaft, die zwar in dem Vermögen eines Menschen liegt, von der aber der Mensch nicht immer Gebrauch macht. Deswegen werden Belohnungen und Strafen präventiv eingesetzt, um sein Vermögen zur inneren Freiheit zu animieren (daß die Faulheit der Menschen inskünfftige zum guten [zur Befolgung einer moralischen Norm] erwecket werde). Die präventive Verwendung von Strafen und Belohnungen setzt nach Thomasius innere Freiheit (Willensfreiheit) und damit Zurechnungsfähigkeit voraus, d.h. die prinzipielle Fähigkeit, den Gebrauch von der äußeren Freiheit (Freiheit als Willkür) bei Bedarf einzuschränken. Nur weil der Mensch zurechnungsfähig ist, kann der präventive Einsatz von Strafen und Belohnungen Erfolg haben und den Handelnden dazu bewegen, Gebrauch von seiner inneren Freiheit zu machen und Pflichten als solche anzuerkennen bzw. durch Einschränkung der äußeren Freiheit die moralische Notwendigkeit einer Handlung in sich zu erzeugen. Der präventive Einsatz von Strafen und Belohnungen ist dabei von dem bloßen Zwang als nicht willentliche Einschränkung der äußeren Freiheit zu unterscheiden. Für Thomasius setzt Verbindlichkeit von Normen grundlegend die innere Freiheit des Willens voraus und macht dadurch die moralische Gültigkeit der Normen, von dem handelnden Subjekt abhängig. An diesem rationalistischen Pflichtbegriff knüpft dann Heineccius – ein Schüler von Thomasius – an, wenn Ebd., 135 (§§ 55f.). Ebd., 135f. (§ 57). Die These, dass Strafen in Analogie zu medizinischen Mitteln gedacht werden können, vertritt THOMAS VON AQUIN 1886-1892, IIª-IIae q. 108 a. 3 ad 2. 25 26
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er in seinen Grundlagen des Natur- und Völkerrechts von 1738 die stoische Tradition kritisiert, die Gültigkeit des Pflichtbegriffes über vernünftige Wesen hinaus auch auf Tiere und Pflanzen erweitern zu wollen.27 Die Verbindlichkeit, die eine Handlung moralisch notwendig macht, setzt daher seit Pufendorf das Vermögen voraus, Pflichten als solche anzuerkennen, und die Ausbildung dieses Vermögens wird als eine Selbstverpflichtung 28 aufgefasst, die sich aus der Natur des Menschen als frei handelnden Wesens ableitet. Mit dem Programm einer Rationalisierung der Willensbestimmung im Modus einer Verpflichtung soll zugleich eine verlässliche Alternative zu Konzepten der Willensbestimmung durch natürliche Instinkte gesichert werden.29 Das Konzept von Verbindlichkeit als Verpflichtung enthält somit eine wichtige Implikation: den Unterschied des Menschen als rational handelnden Wesens von den instinktgesteuerten Tieren. Diese rationalistische Auffassung von Verbindlichkeit als Verpflichtung wird in der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie durch ein teleologisches Modell der Willensbestimmung naturalisiert 30 und erst durch Kants kritische Untersuchung der Moral 31 rein rational begründet.
HEINECCIUS 1994, 97f.. In den Pflichtenlehren der deutschen Frühaufklärung wird die Pflicht zur Ausbildung einer rationalen Willensbestimmung unter dem Begriff der Vervollkommnung des Willens aufgefasst, der neben den Pflichten gegen den eigenen Körper und denjenigen gegen den eigenen Verstand zu den Pflichten gegen sich selbst gehört, vgl. dazu ebd., 115. 29 Vgl. WALCH 1726, Artikel „Pflicht gegen sich“, 1973-1975, hier: 1974. Walch weist allerdings auch darauf hin, dass die Idee einer Selbstverpflichtung wegen der Widersprüchlichkeit des Zusammenfalls von Verpflichtendem und Verpflichtetem kritisiert wird. 30 Nach Wolffs teleologisch bedingtem Modell der Willensbestimmung ist jede Vorstellung des Guten bzw. einer Vollkommenheit ausreichend als Bewegungsgrund für die Bestimmung des Willens. Die Verbindlichkeit als die Verknüpfung zwischen einem rational bestimmten Handlungsgrund und einer Handlung ist eine von der Natur bedingte, was zu implizieren scheint, dass das Naturgesetz nicht bloß das Richtige vorschreibt, sondern den Menschen determiniert. Somit scheint Wolff die entscheidende methodologische Unterscheidung zwischen entia physica und entia moralia, die Pufendorf für seinen Moralbegriff fordert, wieder zu verwischen, indem er die Rationalität von der Willensfreiheit abkoppelt und den Handelnden als von der Natur determiniert vorstellt: „[…] wir nichts anders wollen, als was wir uns als gut vorstellen, und nichts anders nicht wollen, als was wir uns als böse oder schlimm vorstellen […]“, WOLFF 1754, 23f. (§ 35). An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass in Bezug auf das Konzept aktiver Verbindlichkeit Wolffs Modell im Vergleich zu seinen Vorgängern einen Rückschritt bedeutet, auch wenn Wolff in Bezug auf das Konzept passiver Verbindlichkeit eine innovative Position anzubieten scheint, welches Letztere der Beitrag von DIETER HÜNING in diesem Band aufzeigt. 31 Kants Ausführungen zu Anfang des Kapitels zu den Pflichten gegen sich selbst aus den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre, worin der Widerspruch im Begriff einer Pflicht gegen sich selbst als Scheinwiderspruch erwiesen wird, zeugen dafür, dass seine Me27 28
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C. Verbindlichkeit durch moralische Wahrheit Das rationalistische Konzept von Verbindlichkeit, das auf die Fähigkeit vernünftiger Wesen, Pflichten anzuerkennen, gründet, setzt die besondere Funktion des Verstandes voraus, zwischen ‚gut‘ und ‚böse‘, ‚richtig‘ und ‚falsch‘ zu unterscheiden und somit den Willen (und die von ihm veranlassten Handlungen) an moralische Normen zu orientieren. Diese Funktion des Verstandes fasst Grotius als einen entscheidenden Ausgangspunkt für sein Vorhaben auf, nämlich dafür, das Primat des Nützlichen (und das dadurch bedingte Recht des Stärkeren) zu revidieren und ihm das Primat des Gerechten (und damit ein rationales Naturrecht) entgegenzusetzen. Entgegen der Vorstellung, dass jedes Recht von den Menschen nur „des Nutzens wegen aufgerichtet“ worden ist, argumentiert Grotius mit einem anthropologischen Naturrechtskonzept, das zwei Prämissen impliziert. Die erste Prämisse bildet ein im Menschen von Natur aus gegebenen Trieb zur Vergesellschaftung: [D]er Mensch ist nicht bloß ein Lebewesen, sondern das höchste Lebewesen, und der Unterschied von allen anderen Lebewesen ist weit größer als die Unterschiede zwischen den übrigen Gattungen. Dies beweisen viele dem menschlichen Geschlecht eigentümliche Tätigkeiten. Zu diesen gehört der gesellige Trieb zu einer ruhigen und nach dem Maß seiner Einsicht geordneten Gemeinschaft mit seinesgleichen, wie die Stoiker sagten. Der Satz, daß jedes lebende Wesen nur den Trieb auf seinen eigenen Nutzen habe, kann in dieser Allgemeinheit nicht zugegeben werden. 32
Die zweite Prämisse betrifft die praktische Rationalität des Menschen, zu der der Mensch von Natur aus befähigt worden ist. Diese natürliche Anlage des Menschen gründet auf die stoische Oikeiosislehre33 und stellt ein natürliches Mittel zur Vergesellschaftung dar. Dass nicht das Nützliche als natürliches Prinzip menschlicher Interaktionen angenommen werden soll, sondern vielmehr das Gerechte, als Inbegriff rationalen Handelns, begründet Grotius anhand eines anthropologischen Rechtsbegriffs und dessen zwei Prämissen der praktischen Rationalität des Menschen, nach Regeln zu handeln und des geselligen Triebes, das sich durch die Sprache äußert: taphysik der Sitten als eine methodologische Fortsetzung der rationalistischen Tradition verstanden werden kann, bei der die Theorie der Selbstverpflichtung wieder entnaturalisiert und methodisch neubegründet wird. 32 GROTIUS 1950, 32. Grotius hält das Nützliche nicht nur in Bezug auf rationale Wesen, sondern ebenfalls in Bezug auf Tiere für ungeeignet, als natürliches Prinzip der Handlungen zu gelten: „Selbst manche Tiere mäßigen die Sorge für ihren Nutzen durch die Rücksicht teils auf ihre Jungen, teils auf ihresgleichen.“ Die bei Tieren auf Instinkt basierende Einschränkung des Triebs zum Nutzen korrespondiert dabei mit der bei Kindern beobachtbaren Neigung zu Wohltaten und Mitleid, die hervortreten „noch bevor die Erziehung eingesetzt hat“ (Ebd.). 33 Zur Rezeption der stoischen Oikeiosislehre in der Frühneuzeit siehe LONG 2003, 385387; allgemein zur Bedeutung des Stoizismus für die Formierung der praktischen Philosophie der Frühneuzeit siehe ABEL 1978.
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Wenn aber der Mensch in das reifere Alter getreten ist und gelernt hat, in gleichen Fällen, sich gleich zu benehmen, so verbindet er, wie man leicht bemerkt, mit einem starken geselligen Trieb, für den er allein vor allen anderen Geschöpfen das besondere Mittel der Sprache besitzt, auch die Fähigkeit, allgemeine Regeln zu fassen und danach zu handeln. Alles, was hiermit zusammenhängt, hat der Mensch nicht mehr mit allen anderen Geschöpfen gemeinsam, sondern ist eine Eigenart der menschlichen Natur. 34
Die Verknüpfung beider Prämissen legt die Grundlagen jeder Vergesellschaftung. Ihre weitere Entwicklung und Förderung stellen nach Grotius den Ursprung des Rechtsbegriffes dar: „Diese […] der menschlichen Vernunft entsprechende Sorge für die Gemeinschaft ist die Quelle dessen, was man […] mit dem Namen Recht bezeichnet.“35 Der Mensch ist von Natur aus also nicht nur ein soziales, sondern vor allem auch ein denkendes bzw. urteilendes Wesen. Aus dem besonderen Verhältnis zwischen der geselligen und der vernünftigen Natur des Menschen leitet sich nach Grotius ein erweiterter Rechtsbegriff ab, der über die bloße Regelung des Handelns hinausgeht und die Herausbildung von Normen anhand von Wertsetzung bestimmt: Aus diesem Begriff des Rechts hat sich ein anderer gebildet. Der Mensch hat vor den übrigen Geschöpfen nicht bloß jenen erwähnten geselligen Trieb empfangen, sondern auch die Urteilskraft, um das Angenehme und das Schädliche zu bemessen, und zwar nicht bloß das Gegenwärtige, sondern auch das Zukünftige, und die Mittel dazu.36
Den erweiterten Begriff von Recht identifiziert Grotius mit dem Naturrecht. Es scheint so, dass nach Grotius durch das Vermögen der Urteilskraft das Recht, das sonst bloß als äußere Norm zur Regulierung des geselligen Triebes betrachtet werden kann, den Charakter eines Vernunftschlusses erhält, welcher über den Wert einer Handlung normative Kraft beanspruchen kann, da er z.B. Kohärenz zwischen bereits gemachten Willensentscheidungen und bevorstehenden Handlungen stiftet und dadurch Regeln postulieren kann, die als Gebote der Vernunft vorgestellt werden. Entsprechend schreibt Grotius: Das natürliche Recht ist ein Gebot der Vernunft, welches anzeigt, daß einer Handlung wegen ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit der vernünftigen Natur selbst eine moralische Häßlichkeit oder eine moralische Notwendigkeit innewohnt […]. Übrigens handelt das Naturrecht nicht bloß von dem, was innerhalb des Willens des Menschen steht, sondern auch von vielem, was die Folge des menschlichen Wollens und Handelns ist. So hat der Wille des Menschen das Eigentum, wie es jetzt steht, eingeführt. Aber nachdem dies geschehen ist, sagt mir schon das Naturrecht, daß es ungerecht ist, sich etwas wider den Willen des Eigentümers anzueignen.37
GROTIUS 1950, 32. Ebd., 33. 36 Ebd. 37 Ebd., 50f. 34 35
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Das Naturrecht stellt damit die notwendigen Bedingungen für das Funktionieren einer Gesellschaft dar, indem es rationale Maßstäbe für das Handeln angesichts von ursprünglich gegebenen wie nachträglich sprachlich gesetzten (etwa durch Verträgen oder Versprechungen) Bedingungen angibt. Die anthropologisch begründete Auffassung von Naturrecht wird von Samuel Pufendorf über das Naturrecht hinaus erweitert und allgemein auf den Moralbegriff übertragen. Pufendorfs Moralbegriff, den er in seinem Hauptwerk De Jure naturae et gentium libri octo (1672) anhand seiner Lehre der moralischen Dinge (entia moralia) entwickelt und nicht nur naturrechtliche, sondern jede Art von Normen in sich fasst, 38 impliziert prinzipiell eine vernunftgeleitete Bestimmung des Vermögens des Willens, Handlungen zu veranlassen: „Denn was mit einem Verstand begabt ist, vermag aus der Reflexion der Sachen Erkenntnisse und aus ihrem Vergleich untereinander solche Begriffe zu bilden, die tauglich sind, ein einheitliches Vermögen zu leiten. Die moralischen Dinge39 sind genau so beschaffen.“ 40 Die moralischen Dinge sind also ein Produkt rationaler Überlegung, dessen Wirkung darin besteht, „dass sie den Menschen eröffnen, durch welchen Grund die Freiheit ihrer Handlungen geleitet werden soll“41, damit „ein gewisser Zusammenhang in den menschlichen Handlungen entsteht, der Wohlstand mit sich bringt und das menschliche Leben durch Ordnung auszeichnet.“42 Nach diesem Zweck werden alle rational bestimmten
Die Lehre der moralischen Dinge (entia moralia) wird in dem ersten Buch des Werkes vorgestellt, welches allgemein die Vorbegriffe der Moral erläutert, bevor er im zweiten Buch mit den spezifischen Bestimmungen des Naturrechts fortführt. 39 Mit dem Begriff des Dings (ens) wird aber keine ontologische Kategorie eingeführt, die durch Erschaffung (creatio) entsteht – solche stellt bei Pufendorf der Begriff der Sache (res) dar –, sondern ein Attribut kennzeichnet, der durch Beilegung (impositio) einer physischen Substanz oder Akzidenz zugeschrieben wird. Damit wird die Moral als Disziplin und ihrer Gegenstände von dem Bereich der Ontologie abgesondert und nur in Analogie zu dieser gedacht, vgl. dazu ebd., 5. Mit seinen Überlegungen, dass den moralischen Dingen kein ontologischer Status zukommt, sondern sie nur in Analogie zu ontologischen Kategorien gedacht werden können, nimmt Pufendorf Kants Theorie symbolischer Darstellung praktischer Ideen vorweg, vgl. dazu KANT 1902ff, V 351-354. 40 „Quod enim intellectu praeditum est, id ex reflexa rerum” cognitione earundemq[ue] inter se collatione tales potest notiones formare, quae ad dirigendam facultatem homogeneam sunt idoneae. Et ex hoc genere quoq[ue] sunt entia moralia.“ PUFENDORF 1672, 3f. 41 „ut pateat hominibus, qua ratione libertas actionum ipsis sit moderanda“ Ebd., 4. Dadurch wird verdeutlicht, dass Moralität nach Pufendorf hauptsächlich mit Rationalität verlinkt wird. 42 „ex quo peculiaris quaedam convenientia in actionibus humanis resultaret, & insignis quidam decor atq[ue] ordo vitam hominum exornaret“ Ebd., 3. Der Zusammenhang in den menschlichen Handlungen (convenientia in actionibus hominis), der durch die moralischen Dinge erzielt werden soll, könnte als Entsprechung zu der anthropologischen Anlage des Menschen, nach Regeln zu handeln, die Grotius seinem Naturrecht zugrunde legt. 38
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Maßstäbe43 jeder moralischen Bewertung von Personen, Handlungen oder Sachen durch die moralische Urteilskraft vorgenommen. Letztere fasst Pufendorf als eine Funktion des Verstandes auf, die aber im Unterschied zu Grotius, der ihre Funktion in der Ableitung der Normen des Naturrechts dient, als Quelle für die Entstehung moralischer Werte betrachtet, da sie die moralische Qualität als Inbegriff rationaler Selbstbestimmung quantitativ erfasst bzw. bewertet.44 Die zentrale Funktion, die der Urteilskraft zukommt, sofern sie eine natürliche Anlage des Menschen als rationales Wesen darstellt, bedingt bereits bei Grotius ein kontraktualistisches Sprachkonzept, das ein prinzipielles Verbot bewusster Täuschung aus einem natürlichen Recht zur freien Ausübung der Urteilskraft begründet.45 Während bei Grotius der Sprache in dieser ihrer Funktion nur präventive Bedeutung zukommt und sie ausschließlich auf der Ebene intersubjektiver Aktionen ihre Wirkung hat, scheint Pufendorfs Sprachtheorie auch Aspekte nachzuweisen, die über diese bloß kontraktualistische Auffassung hinausgehen und die Sprache in ein viel fundamentaleres Begründungsverhältnis zur Urteilskraft und zum Naturrecht stellen. Denn die Forderung nach einer Übereinstimmung zwischen einzelnen Urteilen und ihrem sprachlichen Ausdruck, welche Übereinstimmung im 17. Jahrhundert allgemein als moralische Wahrheit oder Wahrhaftigkeit bezeichnet wird,46 wird nicht nur innerhalb des kontraktualistischen Sprachkonzepts, welches Sprache als Mittel
43 Die moralischen Dinge als moralische Maßstäbe fasst Pufendorf nicht unbedingt als angeboren oder ursprünglich gegeben auf, sondern räumt die Möglichkeit der Entwicklung der menschlichen Einsicht ein: „Pleraq[ue] tamen arbitrio ipsorum hominum post superaddita, prout vitae humanae excolendae, & velut in ordinem digerendae, talia introduci proficuum videbatur.” [Die meisten davon wurden jedoch erst im Nachhinein von den Menschen willkürlich hinzugefügt, nachdem sie es als Fortschritt erachtet haben, das menschliche Leben zu kultivieren und zu regulieren.] Ebd., 4. 44 Zu dieser Funktion der moralischen Urteilskraft bei Pufendorf vgl. MIHAYLOVA 2015. 45 Alle Ausnahmen, die Grotius angesichts der Notwendigkeit, Täuschung zu vermeiden, einräumt, betreffen Fälle, bei denen die Funktion der Urteilskraft, die Handlungen rational zu bestimmen, nicht gefährdet ist und damit der kontraktualistischen Auffassung von Sprache keinen Abbruch tun: Ein Umstand, der später von der Leibniz-Wolff’schen Schulphilosophie grundsätzlich missverstanden wird. Vgl. zu der Wolff’schen Kritik an Grotius in dieser Hinsicht ANNEN 2005. 46 Der Begriff moralischer Wahrheit wird in dem 17. Jahrhundert ausdrücklich als eine Übereinstimmung zwischen inneren psychologischen Zuständen und Sprechakten, vgl. dazu MICRAELIUS 1653, 1092f.: „Veritas (1.) Ethicis sumitur pro veracitate, qua lingua cordi consonat […] (2.) Logicis veritas dicitur Conformitas orationis cum Re de qua dicitur. […] Veritati Ethica & Logica opponitur Falsifitas; sed Veritati Meatphysica opponitur ignorantia“ [„(1.) Moralische Wahrheit steht insgesamt für die Wahrhaftigkeit, die die Sprache der Seele (die Einsichten) zum Ausdruck bringt (…) (2.) Logische Wahrheit wird die Übereinstimmung der Sprache mit den Dingen, über die gesprochen wird, genannt. (…) Der Moralischen und der Logischen Wahrheit ist die Falschheit entgegengesetzt, der Metaphysischen Wahrheit aber das Unwissen“; eigene Übersetzung]; vgl. dazu auch die damit übereinstimmenden
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zur Intersubjektivität voraussetzt, sondern auch aus einer intrasubjektiven Perspektive relevant, sofern Sprache allein durch die Beschaffenheit des Naturrechts, Produkt rationaler Überlegung zu sein, vorausgesetzt wird: Quanquam & hoc reponi possit, leges naturales, etiam ut sunt dictamina rationis, non posse aliter quam per modum orationis concipi. Circa Grotianam definitionem l.I.c.I.§.9 dum legem dicit obligare ad id, quod rectum est, notandum; ipsum supponere, dari aliquod justum & rectum ante legem & normam; adeoq[ue] legem naturae rectum non facere, sed jam antea existens duntaxat significare. [Freilich kann man auch dies zugeben, dass die natürlichen Gesetze, sofern sie auch Vorschriften der Vernunft sind, nicht anders als in dem Modus der Sprache aufgefasst werden können. In Anbetracht von Grotius Definition (Buch I, Kap.1, § 9), nur dasjenige Gesetz zu nennen, was zu demjenigen verbindet, was richtig ist, sollte bemerkt werden, dass damit vorausgesetzt wird, dass einiges gerecht und richtig wäre, noch bevor es Gesetze und Normen gibt, sodass das Naturgesetz nicht bestimmt, was richtig ist, sondern nur dieses als etwas bezeichnet, was bereits existiert.] 47
Mit diesem Konzept von Naturrecht wird deutlich, dass das Naturgesetz bei Pufendorf den Sprachgebrauch auch außerhalb von Intersubjektivität als möglich setzt: Sofern nämlich die Urteile des Verstandes den Erkenntnisgrund von einer besonderen Art normativer Sachverhalte darstellen, deren Existenz unabhängig davon besteht. Nur dasjenige, was von der Vernunft als richtig beurteilt und sprachlich korrekt formuliert wird, kann demnach den Anspruch einer verbindlichen Norm erfüllen. Sofern Verbindlichkeit also als eine aktive Eigenschaft im handelnden Subjekt betrachtet wird, hängt sie von dem menschlichen Urteils- und Sprachvermögen ab. Denn beide Vermögen stellen die Bedingungen aktiver Verbindlichkeit dar, noch bevor passive und damit auch rechtliche Verbindlichkeit entstehen kann. Das Naturrecht unterscheidet sich angesichts der Funktion der Sprache, bereits bestehende normative Sachverhalte zu verbalisieren und dadurch zu erkennen, von der bloß rechtlichen dadurch, dass es ursprünglicher ist, weil es nicht von dem Willen des Urteilenden abhängt, sondern ausschließlich von seiner rationalen Verfassung. Diese Auffassung vom Naturrecht scheint auch Thomasius zu teilen, der das Naturrecht ebenfalls als unabhängig von dem Willen des Menschen definiert und es in Abgrenzung zum bloßen Recht, das von dem Willen des Menschen abhängt und dadurch erworben wird, als angeboren bezeichnet: Daher ist das Recht zweyerley/ welches ich entweder/ so ferne ich von allen menschlichen Willen abstrahiere, habe/ oder welches aus einem menschlichen Gesetze oder Vertrage entstehet. Von dem ersten Rechte wird gesaget/ daß wir solches von der dem menschlichen Willen vorhergehenden Natur/ oder von der Norm des natürlichen Rechts haben. Das andere
Ausführungen bei GOCLENIUS 1613, 312 (Artikel zu Veritas) sowie bei CHAUVIN 1692 (Artikel zu Veracitas und zu Veritas). 47 PUFENDORF 1672, 81.
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rühret von der Norm des menschlichen Willens/ oder auch aus dem menschlichen Rechte her. Das erste heisset das angebohrne/ das andere das angenommene Recht. 48
Auch der Schüler von Thomasius – Johann Gottlieb Heineccius – knüpft an dieser Unterscheidung an, wenn er die unbedingten Pflichten gegen andere Menschen in angeborenen und in erworbenen einteilt: Da also, was die die unbedingten Pflichten angeht, diese darin bestehen, daß wir niemanden schädigen und jedem das Seine zuteilen (§ 174), schädigen aber soviel bedeutet, wie den anderen unglücklicher machen, als er von Natur aus ist (§ 82), das Seine schließlich jemand dasjenige nennen kann, was er ehrlich erworben hat: so folgt hieraus allerdings (2), daß die Verpflichtung, niemanden zu schädigen, eine angeborene ist, die, jedem das seine zuzuteilen, eine erworbene. Daher nennen wir erstere Pflicht eine absolute, letztere eine hypothetische.49
Der Gebrauch der Sprache scheint dabei in ihrer intrasubjektiven Funktion der Konstituierung des Naturrechts als unabhängig von dem menschlichen Willen nicht problematisch zu sein und wird entsprechend außer von Pufendorf nicht weiter thematisiert. Dagegen wird der Sprachgebrauch als Mittel intersubjektiver Verhältnisse von den nachfolgenden Autoren immer stärker als problematisch wahrgenommen. Das angeborene Recht, von anderen Menschen moralische Wahrheit zu fordern, welches Recht Grotius auf die kontraktualistische Auffassung von Sprache zurückführte, erhält bei Heineccius zum Teil einen absoluten Charakter und zum Teil einen hypothetischen Charakter. Denn einerseits ist nach Heineccius niemanden zu schädigen eine unbedingte und absolute Pflicht (also keine hypothetische, durch Vertrag erworbene) und „die bei weitem schwerwiegendste Schädigung eines andern, soweit es um die menschlichen Rechtsverhältnisse geht, ist die, welche in Worten und Taten besteht.“50 Andererseits ist jedem das Seine zuteilen eine unbedingte und hypothetische Pflicht, welche ebenfalls vermittels der Sprache verletzt werden kann: Unmittelbar bringt jemand einen andern um seinen Besitz entweder durch offene Gewalt oder durch heimliche Entfernung. […] Aber mittelbar […], wenn nämlich jemand mit betrügerischen Worten oder Taten […], so ergibt sich […], daß sich nicht weniger schuldig macht als ein Dieb oder Räuber, wer mit betrügerischen Worten einen anderen um seinen Besitz bringt […].51
Beides – keinem durch Sprache zu schaden und keinem durch Sprache das Eigentum zu entwenden – betreffen nach Heineccius die Sprache als Mittel intersubjektiver Verhältnisse und stellen eine unbedingte Pflicht zur moralischen Wahrheit auf: eine absolute in Bezug auf die Möglichkeit einer Beeinträchti-
THOMASIUS 1709, 96 (§ 11). HEINECCIUS 1994, 134. 50 Ebd., 146. 51 Ebd., 238f. 48 49
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gung der natürlichen Verfassung des Menschen und eine hypothetische in Bezug auf die Möglichkeit einer Beeinträchtigung des rechtlich erworbenen Eigentums. Während Heineccius diese Pflichten aus dem an Thomasius angelehnten Prinzip vollkommener Verpflichtung, nämlich aus dem Prinzip der Gerechtigkeit ableitet, wird die Pflicht zur moralischen Wahrheit innerhalb des Naturrechts der deutschen Schulphilosophie aus dem Prinzip der Vollkommenheit nicht als Pflicht gegen andere, sondern als ein angeborenes Recht der Menschen abgeleitet: Die gütige Mutter Natur hat den Menschen mit Leben, Körper, Seele versehen. Den Körper hat sie mit verschiedenen Gliedern ausgestattet, die Seele mit verschiedenen Fähigkeiten. Dies alles begründet die Vollkommenheit des Menschen, die zu erhalten sein Recht ist, so daß dies alles zu dem angeborenen Seinen gehört. Der Mensch ist außerdem von der Natur in den Stand gesetzt, unendlich viele Handlungen auszuführen, die er durch den Gebrauch der Glieder und Ausübung der Fähigkeiten der Seele tatsächlich ausführt, und durch die er sich auf vielfältige Weise fortwährend vervollkommnen kann. […] Aus diesem Recht des Menschen auf sein Leben, seinen Körper, seiner Seele und seine Handlungen folgt die vollkommene Verbindlichkeit jedes Menschen, nicht eines anderen Leben, Körper, Seele zu verletzen […]. Deshalb 1. töte niemanden, 2. verstümmele oder verletze nicht die Glieder eines anderen, 3. verleite niemandem zu einem Irrtum, durch den einem anderen ein Übel erwächst, 4. störe einen anderen nicht in Handlungen, durch die du nicht verletzt wirst. Diese Rechte, diese vollkommene Verbindlichkeiten des Menschen, und was außerdem im reinen absoluten Naturzustand dem Menschen an Rechten und Verbindlichkeiten zukommt, dies kommt ihm als solchem zu, folgerichtig allen und jedem einzelnen Menschen. 52
Die natürliche Pflicht zur moralischen Wahrheit, die den Sprachgebrauch im Naturzustand vollkommen verbindet, wird hier als absolute Pflicht aufgefasst, sofern sie das angeborene Recht jedes Menschen auf die Erhaltung und Ausbildung der Fähigkeiten seiner Seele schützt. Alles, was über den Schutz des angeborenen Rechts hinausgeht, erlaubt Ausnahmen von dieser Pflicht, weshalb sie innerhalb der Wolff-Schule als eine bedingte Pflicht betrachtet wird.53 Die Idee eines ursprünglichen oder angeborenen Rechts der Menschen, durch Sprache nicht getäuscht zu werden, wie es bei Grotius anhand einer kontraktualistischen Auffassung von Sprache, oder wie es in der Schulphilosophie aus dem Vollkommenheitsprinzip begründet wird, impliziert ein individualistisches Konzept vom Recht der Menschen. Die naturrechtliche Normierung der Sprache schützt also ein bestimmtes Recht der Menschen als Individuen. Dagegen universalisiert Kant das Recht auf moralische Wahrheit als Recht der Menschheit in der eigenen Person 54, indem er es rein rechtlich nicht mehr aus
ACHENWALL 1995, 83ff. Zu der Begründung dieser Pflicht in der deutschen Aufklärung vgl. ANNEN 1997; speziell zum Begriff moralischer Wahrheit bei Wolff vgl. WINIGER 1992. 54 Zum Begriff des Rechts der Menschheit bei Kant vgl. MOHR 2011. 52 53
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den individuellen Rechten eines jeden Menschen ableitet, sondern es als Bedingung der Möglichkeit von rechtlicher Ordnung überhaupt betrachtet, ohne die es überhaupt keine Rechte – auch keine individuelle – geben kann: Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen gegen Jeden, es mag ihm oder einem Andern daraus auch noch so großer Nachtheil erwachsen; und ob ich zwar dem, welcher mich ungerechterweise zur Aussage nöthigt, nicht Unrecht thue, wenn ich sie verfälsche, so thue ich doch durch eine solche Verfälschung, die darum auch (obzwar nicht im Sinn des Juristen) Lüge genannt werden kann, im wesentlichsten Stücke der Pflicht überhaupt Unrecht: d.i. ich mache, so viel an mir ist, daß Aussa gen (Declarationen) überhaupt keinen Glauben finden, mithin auch alle Rechte, die auf Verträgen gegründet werden, wegfallen und ihre Kraft einbüßen; welches ein Unrecht ist, das der Menschheit überhaupt zugefügt wird. Die Lüge […] schadet jederzeit einem Anderen, wenn gleich nicht einem andern Menschen, doch der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht.55
Die Normierung des Sprachgebrauchs dient nicht primär dem Schutz individueller Rechte, sondern durch sie wird erst die Existenz rechtlichen Ordnung überhaupt gesichert. Die Auffassung von moralischer Wahrheit als formale Pflicht des Menschen, wie sie Kant als Rechtsquelle und damit als Quelle aller rechtlichen Verbindlichkeit begründet und daher später auch als „oberste rechtliche Bedingung“56 bezeichnet, stellt den Höhepunkt eines neuzeitlichen Konzepts aktiver Verbindlichkeit dar, das den ersten Grund aller Verbindlichkeit in Anlehnung an Ciceros Konzept eines natürlichen Band der Gesellschaft im menschlichen Urteils- und Sprachvermögen (ratio et oratio) sucht.
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Verbindlichkeit in der praktischen Philosophie Immanuel Kants
Praktische Kontingenz Kant über Verbindlichkeit aus reiner praktischer Vernunft * Stephan Zimmermann Im Wortschatz der deutschen Sprache hat sich bis heute eine Bedeutung der Ausdrücke ‚Verbindlichkeit‘ und ‚verbindlich‘ erhalten, die im lebendigen Sprachgebrauch der Gegenwart allerdings zunehmend verblasst. In seinem Stück Der Misogyn aus dem Jahre 1748 bietet Lessing dafür ein schönes Beispiel. Gegen Ende des ersten Akts findet sich dort der folgende Dialog. Es sind beteiligt der Protagonist Wumshäter, der seine Abneigung gegen das andere Geschlecht leidenschaftlich zur Schau trägt (eben ein ‚Wamshüter‘), seine Tochter Laura, sein Sohn Valer sowie dessen Geliebte Hilaria, des Vaters wegen als Mann verkleidet, wodurch die Irrungen und Wirrungen des Lustspiels in Gang kommen. Laura nun, die Tochter, wendet sich an die in Männerkleidung auftretende Hilaria, alias Lelio, mit einer Versicherung ihrer Wertschätzung: „Erlauben Sie mir, sag ich, Ihre Schwester immer im voraus, als meine Freundin zu betrachten. Sie darf nur die Hälfte von den Vollkommenheiten ihres Bruders besitzen, wenn ich sie ebenso sehr lieben soll, als ich diesen hochschätze.“ Diese Eröffnung mutet den Vater jedoch allzu offenherzig an. „Nu? ich glaube gar, du unterstehst dich, ehrlichen Leuten Schmeicheleien zu sagen? – Es tut mir leid, Herr Lelio, daß Sie das unbesonnene Ding schamrot machen soll.“ Valer springt daraufhin Hilaria bei und flüstert ihr, für die anderen unvernehmlich, zu, wie Lauras herzliches Bekenntnis angemessen zu erwidern sei: „Antworten Sie ihr ja nicht zu verbindlich – –“. Darauf Lelio zu Laura: „Liebenswürdige Laura, –“. Valer erneut: „Nicht zu verbindlich, sage ich.“ Lelio: „Schönste Laura, –“. Valer abermals: „Nehmen Sie sich in Acht! –“. Und so findet Lelio schließlich die passende Ansprache, ein schlichtes: „Madmoisell, –“1. Valers wohlwollender Ratschlag, nicht allzu verbindlich zu sein, mahnt Lelio zur Zurückhaltung. Denn ‚verbindlich‘ heißt in einem Zusammenhang wie diesem, dass etwas in einer Art getan oder gesagt wird, die im Gegenüber das * 1
Für hilfreiche Anregungen und Hinweise danke ich Jens Rometsch. LESSING 1886, 18.
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Gefühl persönlichen Entgegenkommens hervorruft, die freundlich, liebenswürdig, charmant ist. In diesem Sinne können wir etwa von verbindlichen Worten sprechen, einer verbindlichen Geste, oder man mag einem anderen verbindlich zulächeln. Das einschlägige Substantiv ‚Verbindlichkeit‘ drückt dementsprechend entweder den verbindlichen Charakter, das freundlich-liebenswürdige Wesen von etwas aus, sei es eines Verhaltens oder einer Person, oder es meint eine verbindliche Äußerung. Im letztgenannten Fall kann man einem anderen beispielsweise Verbindlichkeiten sagen, schmeichelhafte Dinge, Komplimente. Diese mehr und mehr sich verlierende Bedeutungsdimension von ‚Verbindlichkeit‘ und ‚verbindlich‘ ist allerdings schwächer als das, was damit gemeinhin und heutzutage fast ausschließlich zum Ausdruck gebracht wird. Diesem anderen, uns geläufigeren Wortsinne gegenüber hat die Lessing’sche Verwendungsweise eine weniger strenge Bedeutung. Der semantische Kern der beiden Ausdrücke besteht zwar allemal im Binden. ‚Verbindlichkeit‘ und ‚verbindlich‘ zeigen an, dass etwas gebunden ist oder gebunden wird, festgemacht, festgelegt. So kann man jemanden auf gewisse Weise eben auch dadurch binden, dass man sich freundlich und liebenswürdig gibt, dass man charmant ist und Artigkeiten sagt; man nimmt den anderen so für sich ein, stimmt ihn gewogen und bindet ihn in seinem weiteren Verhalten an sich. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine Bindung im strikten Sinne, um eine moralische Festlegung des Wollens und Handelns, wie Kant sie versteht. ‚Verbindlich‘ als deutsche Übersetzung des lateinischen obligatorius heißt im Aktiv verpflichtend, im Passiv verpflichtet und ist mit dieser Bedeutung seit dem Ende des 16. Jahrhunderts nachweisbar. ‚Verbindlichkeit‘, lateinisch obligatio, ist entsprechend, belegt bereits seit dem Ende des 14. Jahrhunderts, wahlweise das Verpflichtendsein oder der Zustand des Verpflichtetseins. 2 Beide Ausdrücke erlauben also neben einer aktivischen ebenso eine passivische Verwendung. Das geht dem Ohr der Gegenwart gewiss nicht ohne Zögern ein, für Kant allerdings war diese Ausdrucksweise durchaus noch selbstverständlich und lässt sich vielfach in seinen Schriften dokumentieren. Er drückt sich nicht nur dahingehend aus, dass ein abgeschlossener Vertrag oder ein Versprechen für jemanden verbindlich, also verpflichtend, ist 3 oder dass ein praktisches Gesetz Verbindlichkeit, will sagen verpflichtende Kraft, bei sich führt.4 Kant spricht gleichfalls davon, dass einerseits eine Handlung verbindlich ist, das heißt, dass man zu der betreffenden Handlung verpflichtet ist, 5 dass gar eine Person verbindlich ist, sei es jemandem gegenüber oder zu etwas, 6 GRIMM/GRIMM 1956, Sp. 122f. Vgl. RGV A 148/B 156, A 265/B 281 und passim. 4 Vgl. GMS A/B 57; RGV A 28/B 31f., A 264/B 280 und passim. 5 Vgl. KrV A 819/B 847; KU A 418f./B 423; MSR A/B 19 und passim. 6 Vgl. KrV A 819/B 847; KpV A 64; RGV A 26/B 29; MSR A/B 72, A 173/B 203, A 190/B 220; MST A 55, 155 und passim. 2 3
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beziehungsweise sich verbindlich macht, sprich sich eine Verpflichtung auferlegt,7 und dass andererseits der menschliche Wille eine Verbindlichkeit hat, eben im Zustand des Verpflichtetseins ist, 8 oder dass ein vernünftiges Subjekt eine Verbindlichkeit zu etwas oder gegen jemanden besitzt und damit zu etwas oder gegen jemanden verpflichtet ist.9 Verbindlichkeit im starken moralischen Sinne, und nur so gebrauche ich mit Kant dieses Wort nunmehr, gibt es allerdings nicht ohne Weiteres. Der Mathematiker pflegt zwar von einer ungebundenen Variable zu sprechen, und der Physiker mag so reden, dass die physikalische Welt durch Naturgesetze gebunden ist. Doch Verbindlichkeit, die diesen Namen verdient, hat ihren Ort woanders. Verbindlichkeit kann es nämlich ganz grundsätzlich allein so geben, dass diese in Bezug auf etwas Geltung beansprucht. Dafür aber muss das, worauf der Geltungsanspruch abzielt, von bestimmter Art sein: Es muss so geartet sein, dass es überhaupt zu etwas verbunden werden kann. Und mehr noch: dass es zu etwas verbunden werden muss. Das aber ist nichts anderes als die menschliche Praxis im weitesten Sinne. Verbindlichkeiten kommt ihre Geltung nur im Blick auf den normierungsfähigen und normierungsbedürftigen Charakter menschlichen Wollens und Handelns zu. 10 Das eine existiert nicht ohne das andere, es besteht ein interner Nexus zwischen geltungsbeanspruchenden Verbindlichkeiten auf der einen Seite und dem Normierung sowohl zugänglichen als auch verlangenden Bereich dessen, worauf die Geltungsansprüche gehen, andererseits. Fänden Verbindlichkeiten keinen Punkt, wo sie ansetzen und greifen können, schwebten und verschwebten sie; verliefe das menschliche Leben und Zusammenleben hingegen von selber anstandslos, bräuchte es keine Verbindlichkeiten. Im einen Fall wären Verbindlichkeiten gegenstandslos, im anderen überflüssig. Beide Extreme sind in der Geschichte der Philosophie auf unterschiedliche Weise in die Konzeptualisierung menschlicher Praxis eingeflossen. Die politisierenden Linkshegelianer zum Beispiel und Parteigänger eines historischen Materialismus à la Marx, die neben der Bewegung des Historismus die idealistische Geschichtsphilosophie beerbt haben, rechneten mit einem einträchtigen Ende der Geschichte, einem Ende allerdings, das es noch gezielt herbeizuführen gilt. Sie haben den Blick immer auch nach vorn gerichtet und Ansprüche auf eine vernünftige Umgestaltung gesellschaftlicher Wirklichkeiten angemeldet – angeleitet durch die hoffnungsfrohe Projektion eines geschichtlichen Letztzustandes endgültig gelungener Versöhnung, in welchem die Menschen Vgl. GMS A 100 Anm.; ZeF A 98/B 105; MSR A 187/B 217 und passim. Vgl. KrV A 67/B 92, A 476/B 504; KpV A 57, 69, 284; KU A 422/B 427; MSR A/B 20, A 34/B 35 und passim. 9 Vgl. KU A/B 13 Anm., A 456f./B 462, A 471/B 477; RGV A 292/B 310; ZeF A/B 21f., A 87/B 92f.; MSR A/B 35 und passim. 10 So auch BUBNER 1984, 174f. 7 8
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in spielerischem Einklang miteinander verkehren. Eine derartige Harmonie freier Assoziation jedoch lässt den regelnden Ausgriff von Normen an der längst ins Werk gesetzten vollkommenen Vernünftigkeit zurückprallen. Angesichts einer von sich aus reibungslos ablaufenden Praxis erübrigt sich jede normierende Festlegung. Anders liegen die Dinge in einem Reich ungetrübter Vernunftherrschaft. Die Eingangsbedingungen sagen es schon, dass hier eine ideale und als solche unproblematische Koexistenz rein intelligibler Wesen vorliegt. Normen, die vorschreiben, was man vernünftigerweise tun und lassen soll, obgleich es nicht immer schon ohnehin geschieht, finden hier keinen Halt, da das ungeschmälerte Regiment der Rationalität nichts aus sich ausschließt, sondern alles mit einbezieht und so weder Widerstand noch Abweichung kennt. Es ist kein anderer als Kant, der seiner anspruchsvollen Konzeption einer Verbindlichkeit aus reiner praktischer Vernunft die Idee einer derartigen „Verstandeswelt“ unterlegt, in welcher, wie es etwa in der Kritik der praktischen Vernunft heißt, „Gesetze, die von aller empirischen Bedingung unabhängig sind“ (KpV A 74), obwalten. 11 Um diese Kant’sche Konzeption von Verbindlichkeit soll es mir hier zu tun sein. Ausgehend von der Normierungsfähigkeit und Normierungsbedürftigkeit unseres Wollens und Tuns als endlicher Vernunftwesen will ich fragen, wie Kants Begriff einer Verbindlichkeit aus reiner praktischer Vernunft dazu steht, und ich will diesen von daher nach einigen ausgewählten Seiten erläutern. Wie sich zeigen wird, ist dieses Verhältnis allerdings ein durchaus facettenreiches. Ich werde dartun, dass und inwiefern eine solche starke metaphysische Verbindlichkeit, wie sie die Moralphilosophie Kants lehrt, einerseits ihrem Geltungsgrund und ihrem Inhalt nach die menschliche Praxis übersteigt, diese jedoch andererseits als ihren Bezugspol begrifflich mit einschließt. Die Fähigkeit menschlicher Praxis zu normativer Regelung und ihre Bedürftigkeit danach ranken sich beide um den speziellen Kontingenzcharakter dieser Praxis. Das Wollen und Handeln endlicher Vernunftwesen vermag sich seiner Natur nach einer normierenden Festlegung zu fügen, und es weckt für gewöhnlich auch das Verlangen danach. Nach der klassischen Definition des Aristoteles ist Kontingenz eine modale Bestimmung, die zwischen Notwendigkeit und Unmöglichkeit angesiedelt ist. Kontingent ist, „was anders sein könnte (ὃ ἐνδέχεται ἄλλως ἔχειν)“12. Das trifft auf die Pläne, die wir uns machen, und unser Verhalten, das sich daran orientiert, in besonderem Maße zu. Denn jeder Siehe ebenso KpV A 124. – Den Fall rein sinnlicher Wesen, die jeder Vernunftanlage entbehren, lasse ich hier außen vor. Denn es ist dies der Fall nichtmenschlicher Wesen, deren Tun und Lassen infolge ihrer Unvernünftigkeit weder der Normierung fähig noch deren bedürftig ist. Zu diesem Zusammenhang von Vernunft und Verbindlichkeit siehe den Beitrag von KATERINA MIHAYLOVA in diesem Band. 12 Eth. Nic. 1139a8ff. 11
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praktische Akt setzt immer wieder Bestimmtheit im Horizont beständigen Andersseinkönnens. Von dieser Unbestimmtheit wird unser Wollen und Tun ermöglicht, aber auch immerzu begleitet, indem sein Vollzug die Unbestimmtheit dessen wiederherstellt, was im Weiteren geschehen mag. Als handelndes Wesen ein Ziel verfolgen heißt auf die Realisierung von etwas aus sein, das zwar noch nicht ist, aber ebenso wenig geschehen muss wie es nicht geschehen kann, sondern das die modale Bestimmtheit des Wirklichen lediglich zu erreichen vermag. Die menschliche Praxis steckt mithin einen Bereich ab, in dem die Dinge immer so liegen können, wie sie liegen, aber prinzipiell auch anders sich zutragen können. Dafür ist Kant ein scharfsinniger Zeuge. 13 Unter gegebenen Bedingungen auch anders können ist fester Bestandteil des Kant’schen Willensbegriffs. Wie man beispielsweise in der Religions-Schrift liest, muss „die Handlung sowohl als ihr Gegenteil in dem Augenblicke des Geschehens in der Gewalt des Subjekts sein“ (RGV B 59 Anm.). Wer nicht so oder anders kann, der kann überhaupt nicht handeln. Handeln impliziert ein gewisses Mindestmaß an Unfestgelegtheit, die der späte Kant terminologisch unter der Bezeichnung der Willkürfreiheit fasst. Die Willkür mitsamt der ihr zugehörigen Freiheit ist ein integrales Moment unseres praktischen Vermögens. Und zwar ist die Willkür (arbitrium) die exekutive Dimension dieses Vermögens, da es in Beziehung auf die Wirkungen betrachtet wird, die es in der äußeren Welt hervorzubringen vermag: unsere Handlungen und deren absehbare Folgen. 14 Mit der Freiheit, die diese Dimension unseres praktischen Vermögens auszeichnet, setzt sich Kant prominent bereits im Kanon der Kritik der reinen Vernunft auseinander, wo er erklärt, sie könne „durch Erfahrung bewiesen werden“ (KrV A 802/B 830). Besonders deutlich aber tritt sie erst in der Metaphysik der Sitten ans Licht. Dort beschreibt Kant die Willkür als das „Vermögen, nach Belieben zu tun oder zu lassen“ (MSR A/B 5). 15 Und in den von Kant selber unveröffentlichten Vorarbeiten zur Kritik der praktischen Vernunft charakterisiert er sie als „das Vermögen unter gegebenen Gegenständen zu wählen“ 16. Bei der libertas arbitrii geht es sonach nicht um die ersten Impulse der Willensbildung. Sie manifestiert sich vielmehr in dem, was mit jenen Regungen weiterhin geschieht. Entscheidungen stehen nicht am Anfang, sondern am Ende der Handlungsvorbereitung. 17 Die Willkür ist weder durch individuelle Interessen noch durch moralische Pflichten zur Handlung genötigt. Das entspricht einer Erfahrung, die wir tagtäglich machen, dass die Bestimmung und Für das Folgende siehe ausführlich ZIMMERMANN 2011, 139ff. Vgl. STEKELER-WEITHOFER 1990, 307f. Eine Übersicht über den zu Kants Zeiten gängigen Wortgebrauch von ‚Wille‘ und ‚Willkür‘ findet sich bei MEERBOTE 1982, 78ff. 15 Vgl. MSR A/B 26f. 16 VAKpV, Ak. 23: 248. Siehe ebenso 249. 17 Vgl. KEIL 2007, 3. 13 14
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die Ausführung unseres Wollens nicht in eins fallen; die erstere ist nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für die letztere. Weder können unsere Neigungen üblicherweise so von uns Besitz ergreifen, dass sie unausbleiblich zu einem entsprechenden Verhalten führen, noch lösen die Gebote, welche die Pflicht ans uns richtet, unweigerlich entsprechende Handlungen aus; immerhin tun wir nicht immer, was wir sollen. 18 Dass wir uns für dieses und gegen jenes entschließen können, ist also ein Phänomen, das für Kant die Vernunft in der ganzen Weite ihres praktischen Gebrauchs kennzeichnet. Das setzt einen gewissen Abstand zu dem voraus, was uns augenblicklich einnimmt; das je Nächste bestimmt uns nicht völlig. Selbst wenn alle inneren Faktoren der Handlungsvorbereitung gegeben sind, kann sich der menschliche Intellekt unter gewöhnlichen Umständen (erneut) einschalten und Einfluss auf die anstehende Tat nehmen. Im Hin und Her des Geschehens vermögen wir einzuhalten, uns zu bedenken und unsere bisherigen Absichten gegebenenfalls zu suspendieren. Dabei ist es eine empirische Frage, wie weit diese Freiheit im Einzelfall reicht. Ein vernunftbegabtes Wesen wie der Mensch ist in dieser Hinsicht nur mehr oder weniger frei, je nachdem, wie viel Druck von den inneren Handlungsfaktoren ausgeht. Die Freiheit der Willkür ist die jederzeit bedingte und gradmäßig unterschiedlich ausgeprägte Spontaneität in der Wahl zwischen Alternativen.19 Diese für die menschliche Praxis charakteristische Kontingenz, die Kant im Phänomen des Wählenkönnens (und damit Wählenmüssens) ausmacht, ist es, die dafür verantwortlich zeichnet, dass Verbindlichkeit für uns Menschen weder gegenstandslos noch überflüssig ist. Praktische Kontingenz bedeutet einerseits Normierungsfähigkeit. Verbindlichkeit im eigentlichen Sinne des Wortes hat ihren Ort weder im Reich abstrakter mathematischer Quantitäten noch in der Natur, wie sie die moderne methodengeführte Naturwissenschaft entwirft und erforscht. Sie greift ausschließlich dort, wo Freiheit am Werk ist. Denn Geltung beanspruchen kann eine Norm der Sache nach überhaupt nur in Bezug auf eines, das damit nicht schon von sich aus übereinstimmt, das nicht aus sich selbst heraus bereits dem genügt, was die Norm da fordert. Deren Geltungsanspruch muss auch enttäuscht werden können. Ohne einen solchen kontingenten Zielpunkt, ohne dass Menschen im Wollen und Handeln grundsätzlich anders können, als sie sollen, bliebe die Rede von einem verbindlichen Sollen inkon-
Searle beschreibt diese Erfahrung als eine ganze Serie von Lücken. Eine solche Lücke finde sich einmal „zwischen den Gründen für die Entscheidung und dem Fällen der Entscheidung“, eine weitere „zwischen der Entscheidung und dem Beginn der Handlung“ und zuletzt gebe es „für jede ausgedehnte Handlung […] eine Lücke zwischen dem Beginn der Handlung und ihrer Fortsetzung oder Vollendung“. SEARLE 2004, 17. 19 Siehe dazu ALLISON 1996, 129–142; BECK 1987, 35ff.; WILLASCHEK 1992, 48ff. 18
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sistent. Verbindlichkeit kann es nur geben, sofern die Adressaten der Verbindlichkeit immer auch anders, das heißt gegen sie verstoßen, können. Normative Bindung setzt praktische Kontingenz voraus. Diese Überlegung macht einsichtig, dass imgleichen für Kants Begriff einer Verbindlichkeit aus reiner praktischer Vernunft der Begriff der Willkürfreiheit konstitutiv sein muss. Zwar trifft es ohne jeden Zweifel zu, dass Kants moralphilosophisches Augenmerk derjenigen Freiheit gilt, über die sich das Konzept der Autonomie definiert. Demgegenüber besitzt seine Beschäftigung mit allen anderen Formen von Freiheit einen zurückhaltenden bis abfälligen Ton. Man denke nur an den Bescheid, welchen die zweite Kritik erteilt, wonach die Freiheit unseres praktischen Vermögens, wenn anders sie nicht in der Autonomie ihre Krönung fände, der „Freiheit eines Bratenwenders“ (KpV A 174) vergleichbar wäre. Allein, Kant leugnet mit keinem einzigen Wort, weder hier noch anderswo, dass dem menschlichen Willen wesenhaft Wahlfreiheit zukommt. Was Kant leugnet, ist, dass diese Freiheit als tragfähiges Fundament der Sittenlehre taugt, wie er selbst noch gut drei Jahrzehnte zuvor in seiner Habilitation Nova dilucidatio angenommen hat. 20 Das heißt, Kant verwirft jene Freiheit nicht, aber er scheint sie durch die Idee der Freiheit als Autonomie in den Hintergrund zu spielen. Schaut man jedoch näher zu, entpuppt sich das als profunder Irrtum. Denn die Verbindlichkeit, die aus der letzteren entspringt, ist ohne die erstere gar nicht denkbar: Als Verbindlichkeit impliziert sie das potenzielle Anderskönnen der Betroffenen. Das kontingente Wollen und Handeln der Menschen, mithin jene empirische Freiheit, welche Kant unter dem Namen der Willkürfreiheit erörtert und innerhalb des Bereichs lückenlos bestimmter Naturkausalität verortet, ist der unverzichtbare Bezugspol jeder Verbindlichkeit aus reiner praktischer Vernunft und damit ein integraler Bestandteil ihres Begriffs.21 Auf der anderen Seite besagt praktische Kontingenz Normierungsbedürftigkeit. Verbindlichkeit erscheint nötig in Anbetracht der Struktur aller menschlichen Betätigung, sich in wechselnden Lagen und Umständen zu bewegen. Denn normierende Festlegungen stellen den Versuch dar, in diese Sphäre des niemals Gleichen und stets Anderen verlässliche Ordnung zu bringen. Kein Handeln geht im einzelnen Akt auf; es ist in einen unablässigen Handlungsfluss eingelassen, wo mehrere Aktivitäten einander ablösen, sich in ihrer Sinnbedeutung partiell überlagern oder miteinander konkurrieren. Und kein Akteur ist in
Vgl. MILZ 2005, 137ff. Schon in seinen Vorlesungsnachschriften aus den 1770er Jahren erkennt Kant diese Art Freiheit ausdrücklich an und beschäftigt sich mit ihr, etwa in der Metaphysik L1 nach Pölitz (vgl. V-Met-L1/Pölitz, Ak. 28: 255f.). Eine weitere Vorlesungsmitschrift ist die von Paul Menzer herausgegebene Vorlesung Kants über Ethik, die auf die Zeit kurz vor 1781 datiert. Vgl. KANT 1924, 34ff. 20 21
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seinem Tun vollends vereinzelt; er befindet sich in einer Verwicklung mit anderen, die ihre Aktivitäten mit-, für- oder gegeneinander anlegen und vollziehen. In dieser Sphäre praktischer Vielfalt entsteht ganz von selbst die Forderung nach kontinuitätsstiftender Identität. Und die gesellschaftliche Institution der Verbindlichkeit, welcher Art und Geltungsweite sie auch sein mag, mindert die Freiheit des Entscheidens auf ein verträgliches Maß herab, ohne sie restlos zu tilgen: Sie sorgt dafür, dass Einzelhandlungen der Beliebigkeit zu trotzen vermögen, indem sie die dauernd anstehende Realisierung gleicher Akte, den reibungslosen Fortgang verschiedener Akte sowie die mannigfache Abstimmung zwischen den Akteuren erwartbar macht. Verbindlichkeit muss es geben, weil die von ihr Betroffenen prinzipiell immer auch anders können. Praktische Kontingenz hat insofern umgekehrt normative Bindung zur Bedingung. Diese Argumentation findet nun aber bei Kant gerade kein Pendant. Gewiss, Kant ist zweifelsohne der Überzeugung, dass Verbindlichkeiten in die Fülle des Strebens und Begehrens eine gewisse Einheitlichkeit bringen. Das ist besonders augenfällig in der Kritik der praktischen Vernunft, wo Kant im Anschluss an das berühmte Depositum-Beispiel, also in der „Anmerkung“ zu §4, ausführt, dass ein praktisches Gesetz für allseitige „Einstimmung“ sorgt, indem es jedem Willen „ein und dasselbe Objekt“ bestimmt und so in eine allgemeine „Harmonie“ (KpV A 50) mit dem Wollen aller anderen Subjekte bringt. Jedoch denkt Kant Verbindlichkeit aus reiner praktischer Vernunft nicht von dem Normierungserfordernis menschlicher Praxis her. Das genaue Gegenteil ist richtig. Wie Kant wiederholt versichert, gäbe es diese Praxis genau so, wie sie ist, auch dann, wenn noch niemals irgendjemand irgendwann und irgendwo irgendeinem gegenüber irgendeiner derartigen Verbindlichkeit Folge geleistet hätte. Das ist der wahre Sinn der Behauptung, dass es keine Situationen eindeutig identifizierbarer Pflichterfüllung gibt, dass einem die eigene und die Moralität anderer verborgen bleibt und man nie sicher auszuloten vermag, ob eine Handlung aus subjektiven Neigungen herrührt und nur ganz zufällig der Pflicht gemäß ist oder ob sie tatsächlich aus objektivem Pflichtgebot entsprungen ist. 22 Kants Verständnis von Verbindlichkeit erwächst nicht aus einer Besinnung auf die menschliche Praxis als solche und deren eigentümliche Kontingenznatur. Normativität impliziert für ihn zwar die Fähigkeit menschlichen Wollens und Tuns zur verbindlichen Regelung, aber ihr Begriff wird von Kant gänzlich unabhängig von dessen grundlegender Bedürftigkeit danach motiviert. Das spiegelt sich in der Gesamtstellung der Kant’schen Ethik zur geschichtlichen Verfasstheit menschlicher Existenz. Zwar trägt erst die späte Schrift aus dem Jahr 1797, welche das System aller Pflichten in seinem Grundriss entfaltet, den ausdrücklichen Titel Metaphysik der Sitten. Die beiden Grundlegungsschriften, die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 und die Kritik der praktischen Vernunft von 1788, haben demgegenüber die Obliegenheit, das 22
Vgl. KpV A 81, 84, 187f.; V-Met/Mron, Ak. 29: 896f.
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Fundament zu legen, auf dem das Gebäude der doktrinal ausgeführte Sittenlehre dereinst errichtet werden kann. Im Zuge dessen muss zuvörderst und für alles Weitere maßgeblich der höchste Grundsatz der Moral, das sogenannte Sittengesetz, aufgesucht und festgesetzt werden, wie Kant sich in der Grundlegungs-Schrift ausdrückt. 23 Das heißt, das oberste Moralprinzip muss zunächst begrifflich entwickelt und explizit formuliert werden, und es muss sodann dargetan werden, dass jedermann unter seinem Herrschaftsanspruch steht. Allein, schon dieser Gründungsakt der Moralphilosophie will seinem Selbstverständnis zufolge von vornherein keine Leistung einer wahrnehmungsgestützten Reflexion sein. Es ist stattdessen die reine im Sinne von erfahrungsfreie Vernunft, die sich hier anschickt, sich über sich selbst aufzuklären, die Quellen, Umfang und Grenzen ihres praktischen Gebrauchs zu kritisieren.24 Die Bindungen, in denen sich jede geschichtlich auftretende Gesellschaft jeweils einrichtet und die der basalen Normierungsbedürftigkeit unseres Wollens und Tuns Genüge tun, sind selber, soweit wir das im Rückblick zu überschauen vermögen, wandelbar. Das Zusammensein von Menschen bildet normalerweise, besonders wenn es auf Dauer gestellt ist, normative Festlegungen aus, die das Leben aller oder zum Mindesten einer überwiegenden Zahl der Beteiligten vereinheitlichen und folgerechte Handlungsvollzüge ein übers andere Mal gewährleisten. Doch sofern diese Bindungen aus dem hervorgehen, wofür sie dann Geltung beanspruchen, sind sie durch dieselbe Bewegtheit gekennzeichnet. Menschliche Praxis, insofern in ihr nicht alles längst und endgültig festliegt, ist von sich her dem geschichtlichen Wandel ausgesetzt, und die Festlegungen, zu denen sie sich organisiert, sind geradeso geschichtlich: Auch darin beweist sich noch praktische Kontingenz am Werk, dass sich diese Festlegungen zusammen mit dem fortlaufenden Wechsel der Lebensbedingungen selbst um- und fortbilden. Die eingelebten und im konkreten Tun und Lassen sich bestätigenden Regeln sozialen Lebens, die wir durch das ältere Wort ‚Sitte‘ bezeichnet finden, sind unserer mehr oder weniger freien Verfügung keineswegs ganz und gar entzogen. 25 Sitten sind intrinsisch kontingent und bewähren sich doch wieder und wieder in der Ermöglichung eines gesellschaftlichen Mit-, Für- und Gegeneinanders. Die Chronik vergangener Kulturen ebenso wie die Gegenwart bestehender Zivilisationen zeichnet davon ein vielfarbiges Bild.26
Vgl. GMS A/B XV. Vgl. KpV A 11f., 32, 96, 159; GMS A/B XIV. 25 Siehe dazu die klassische Abhandlung von TÖNNIES 1909. 26 Der Duden vermutet eine unmittelbare etymologische Verwandtschaft des Wortes ‚Sitte‘ über das mittelhochdeutsche ‚site‘ und das althochdeutsche ‚situ‘ mit Seil: Sitten binden, ähnlich wie ein Seil etwas bindet. Vgl. Duden 2007, 771. Das Grimm’sche Wörterbuch hält die mittelbare etymologische Verwandtschaft mit dem griechischen ἔθος für wahrscheinlich. Vgl. GRIMM/GRIMM 1905, Sp. 1238. 23 24
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Auf Verbindlichkeiten aus reiner praktischer Vernunft trifft das indessen nicht zu. So wenig sie sich vom Verlangen der menschlichen Praxis nach Regelung ableiten, so wenig sind sie deren historischer Veränderlichkeit unterworfen. Kant lässt auch noch diejenige Bedeutungsdimension der Ausdrücke ‚Verbindlichkeit‘ und ‚verbindlich‘ hinter sich, da diese auf die Bindungen faktisch gelebter Sittlichkeit in historischen Gemeinschaften gemünzt sind. Die Kant’sche Sittenlehre verrichtet ihre Aufgabe gerade unter völliger Absehung von Geschichte: Das Herzstück einer Metaphysik der Sitten bildet qua Metaphysik ein ahistorischer Vernunftbegriff. Die Ursache für diese Anlage mag man von der Sache her in einer Abwehr der Bedrohung erblicken, die der geschichtliche Wandel für die orientierende Kraft von Normierungen bedeutet. Das Reich der Geschichte bringt ja die Unsicherheit unablässiger Wechselhaftigkeit mit sich. Eine Ethik, die sich dagegen nicht wappnet, scheint dem Relativismus preisgegeben. Bindungen, an die man sich mit andauernder Gewissheit halten können soll, müssen daher dem Griff derartiger Limitierungen ihres Geltungsanspruchs entwunden werden. Normierende Festlegungen aber gegen ihre etwaige historische Relativität zu feien, heißt sie dem Einfluss der Geschichte entziehen. Und je mehr dies gelingt, desto umfassender und stabiler scheint ihre Gültigkeit. Diejenigen Normen, die eine unverrückbare Rationalität uns aufgibt, nehmen keinerlei Rücksicht auf die wechselnden historischen Verhältnisse der Akteure. Was Verbindlichkeiten aus reiner praktischer Vernunft verstatten und verlangen, das gilt Kant zufolge von Epoche zu Epoche und von Gesellschaft zu Gesellschaft. 27 Damit ist freilich nicht gesagt, dass der Begriff einer Verbindlichkeit aus reiner praktischer Vernunft keinen Platz für Empirisches lässt. Das ist durchaus der Fall, und zwar erstens immer da, wo es an die Ausführung dessen geht, wozu wir verbunden sind. Es mag nur auf den ersten Blick so wirken, als verfügte Kants Sittenlehre über keinen Begriff einer praktischen Leistung der Urteilskraft. So erwähnt Kant in der Vorrede der Grundlegungs-Schrift eine „durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft“; diese habe vor allem die Aufgabe, die allgemeinen praktischen Gesetze mit der Besonderheit der jeweiligen Handlungssituation zu vermitteln – „zu unterscheiden, in welchen Fällen sie ihre Anwendung haben“ (GMS A/B IX) –, was an die aristotelische φρόνησις erinnert. Doch Kant erwähnt die Urteilskraft lediglich, um sie sogleich wieder zur Seite zu schieben. Denn für das Vorhaben, in dessen Dienst die Grundlegung steht, spielt sie keine Rolle, ebenso wenig wie später für die zweite Kritik und die Metaphysik der Sitten. Kants Projekt ist es doch hier wie dort, „eine 27 Geschichte ist für Kant, anders als nach ihm für Fichte, Hegel und Schelling, noch kein Bestandstück der Metaphysik. Auf dem Fortgang der Geschichte ruht lediglich die vertrauensvolle Hoffnung, so Kant in seiner populärphilosophischen Abhandlung über die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, der schrittweisen Verwirklichung dessen, was Vernunft immer schon fordert. Vgl. BUBNER 1995, 86ff.
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reine Moralphilosophie zu bearbeiten, die von allem, was nur empirisch sein mag und zur Anthropologie gehört, völlig gesäubert“ (GMS A/B VIII) bleibt. Eine empirisch geübte Urteilskraft, so selbstverständlich sie Kant auch sonst für die fallweise Umsetzung des Pflichtgebotenen ist, darf man in einer Sittenlehre aus reiner praktischer Vernunft nicht erwarten. 28 Und noch ein zweiter Punkt gehört hier her. Kant übernimmt das Gros seiner pflichtentheoretischen Klassifikationen aus der Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts. Dazu zählt auch die Unterscheidung von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten. Damit ist aber keine Differenz in der „Art der Verbindlichkeit“ gemeint; es gibt für Kant keine Verbindlichkeit, die weniger streng gilt als eine andere, indem sie etwa eine „Ausnahme zum Vorteil der Neigung“ genehmigt. 29 Kants Pflichtendifferenzierung hebt vielmehr auf den Inhalt der Verpflichtung ab. Was er als officium perfectum und imperfectum unterschiedet, ist nicht das Wie, sondern das Wozu des Verpflichtetseins. Pflichten können einen unterschiedlichen Informationsgehalt aufweisen: Das Objekt der Pflicht ist entweder vollkommen oder unvollkommen durch reine praktische Vernunft festgelegt. 30 Juridische Pflichten sind über die Vollbestimmtheit ihres Gehalts definiert; was zu tun und was zu lassen ist, ist durch Rechtspflichten „mit mathematischer Genauigkeit […] bestimmt“ (MSR A 37 f./B 37). 31 Ethische Pflichten hingegen legen dies nicht erschöpfend fest, sie lassen „der Befolgung (Observanz) einen Spielraum (latitudo) für die freie Willkür“ (MST A 20). Unterbestimmtheit ist das pflichtentheoretische Unvollkommenheitskriterium, weswegen man einer solchen Pflicht auf unterschiedliche Weise nachkommen kann. Wie die eigenen Anlagen am besten zu kultivieren sind und wodurch die Glückseligkeit anderer erfolgreich zu befördern ist –in diese beiden Klassen fallen ja laut Kant alle Tugendpflichten –, variiert nach Person und Situation. Hier bedarf es bereits zur Konkretisierung dessen, wozu wir jeweils verbunden sind, der weltgewandten und sachkundigen Urteilskraft. 32 Indem Kant als Quelle aller wahren Normativität die reine Vernunft inthronisiert, ist jede Betätigung des menschlichen Intellekts in ihre Schranken gewiesen, die direkt oder indirekt durch subjektive Neigungen bedingt ist. Gemeint ist ein Denken, das seine Domäne ausschließlich in der klugen Wahl von Vgl. ZIMMERMANN 2015. So noch eine Fußnote in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (vgl. GMS A/B 53 Anm.). Davon ist Kant später abgekommen, dass unvollkommene Pflichten solche sind, die derartige Ausnahmen zulassen. Denn das hinter dem Kant’schen Pflichtbegriff stehende transzendentale Freiheitsverständnis lässt nur ein ausnahmenloses Entweder-Oder der Verbindlichkeit zu. Vgl. ROSS 1954, 45. 30 Vgl. KERSTING 1982, 203ff. 31 Vgl. MSR A/B 49; MST A 21, 55f.; VAMS, Ak. 23: 382, V-MS/Vigil, Ak. 27: 578, 581, 585. 32 Vgl. MSR A/B 49; MST A 20, 21, 24, 27, 113; Refl, Ak. 19: 157, 232; VAMS, Ak. 23: 380, 391ff.; V-MS/Vigil, Ak. 27: 578, 581, 585. 28 29
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Mitteln findet. Ein entsprechendes Räsonieren kann zu Handlungszielen, welche ihm von anderswoher gesteckt sind, durch vorausschauende Abwägung denjenigen Weg ermitteln, auf dem diese Ziele wohl am besten erreicht werden können. Im äußersten Fall entwirft die Vernunft ausgefeilte Pläne, die über mehrere Handlungsetappen gehen und dabei auch noch das etwaige Verhalten anderer mit einschließt. Aktuellen und künftigen Interessen kann auf diese Weise nach Maßgabe bisheriger Erfahrungen so wirkungsvoll wie möglich nachgegangen werden. Die Regeln des Klugheitsdenkens nehmen dabei gegebenenfalls imperativen Charakter an. Kant spricht von hypothetischen Imperativen, bisweilen auch gleichbedeutend von Vorschriften. 33 Diese kommen mit der Form des Sollens daher, weil die Vernunft sich gegen den Widerstand anderweitiger Absichten geltend machen muss, welche die erforderliche Weitsicht vermissen lassen. Ein altgedientes Beispiel dafür ist, dass jemand eine bittere Medizin einzunehmen vorziehen soll, die ihm aufgrund ihres bitteren Geschmacks wohl zuwider, aber im Hinblick auf ihre erhoffte Heilwirkung eben doch unentbehrlich ist.34 Die Kant’sche Ethik ordnet sämtliche Neigungen, die der Sinnlichkeit des Menschen geschuldet sind, und damit dessen unvermeidliches Interesse an „Glückseligkeit“ (KpV A 40), welches ein instrumentelles Überlegen für seine Zwecke einspannt, den Verbindlichkeiten aus reiner praktischer Vernunft konsequent unter. In Kants Aufnahme und Umdeutung des klassischen Begriffs der εὐδαιμονία steht dieser für eine bestimmte Zufriedenheit mit der Lebensführung im Ganzen: Glückseligkeit ist der Name für die möglichst vielfältige, intensive und andauernde Befriedigung der jeweiligen individuellen Bedürfnisse eines Menschen. 35 Verbindlichkeiten fallen aus diesem Kreis heraus. Sie stehen in scharfem Gegensatz zu allen Handlungsabsichten, die in der Sinnlichkeit ihren Ursprung haben – was nicht bedeutet, dass sie diese Seite unseres Menschseins ignorieren oder gar niederhalten. Normative Bindungen dienen aber nicht der Erhaltung, Erlangung oder Steigerung von Glückseligkeit. Die Quelle ihrer Gültigkeit liegt in etwas anderem, etwas, das macht, dass ihnen im Falle eines Konflikts der Vorrang gebührt. Sie schränken das Verlangen nach Glückseligkeit dann ein, jedenfalls insoweit, dass dieses nicht mehr im Widerstreit zu dem steht, wozu die betreffende Person moralisch verpflichtet ist. Und zwar begreift Kant solche Verbindlichkeit vom Unendlichen her, das Menschliche vom Nichtmenschlichen, genauer von dem her, was am Menschen diesem gerade nicht allein eigentümlich, aber doch bei jedem Menschen ein Für letzteres siehe etwa KpV A 37, 47, 59f., 110, 117, 118; MS A/B 19. „Die Vorstellung eines objektiven Prinzips, sofern es für einen Willen nötigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft) und die Formel des Gebots heißt Imperativ.“ (GMS A/B 37) Siehe ebenso GMS A/B 39; KpV A 36. 35 Vgl. GMS A/B 12, 23, 46; KpV A 45f., 107; KrV A 806/B 834; MST A 16. Siehe dazu WEIDEMANN 2001, 19–37; HIMMELMANN 2003, 171ff. 33 34
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und dasselbe ist. Worauf das Konzept der Verbindlichkeit aus reiner praktischer Vernunft aufruht, sind nichts weniger als biologische, anthropologische, individual- oder sozialpsychologische Einsichten. Was hier begegnet, ist stattdessen die Vorstellung einer kosmischen Vernunftordnung. Kant denkt die normativen Vorgaben, denen die menschliche Praxis untersteht, nicht aus der Mitte der lebensweltlich-institutionellen Dynamik dieser Praxis heraus, sondern transfaktisch: im Über- und Rückstieg zu den Sitten, die das Dasein rein geistiger Wesen auszeichnet. Derartige Wesen verfügen anders als der Mensch über keine sinnliche Seite und damit über keinerlei widerständige Handlungsmotive. Ihr Tun und Lassen ist ein gesetzmäßiges. Die Gesetze, die diese Sitten regeln und die Kant eben deswegen ‚praktische‘ Gesetze nennt, sind, wie es etwa in der Kritik der praktischen Vernunft heißt, die Gesetze einer Verstandeswelt, einer „intelligibelen Ordnung der Dinge“ (KpV A 72) oder einer „übersinnlichen Natur“ (KpV A 74). 36 An diesem Vernunftreich ungehinderter praktischer Gesetzmäßigkeit und darum konfliktfreier Harmonie hat der Mensch dennoch insofern teil, als er imgleichen ein rationales, obzwar endliches Wesen ist. Die Gesetze, die dort gelten, sagen, wie auch die Menschen immer schon und ausnahmslos sich verhielten, wenn denn Vernunft volle Herrschaft über ihr Wollen und Handeln besäße. Die Vormacht der Verbindlichkeit aus reiner praktischer Vernunft gegenüber allen Klugheitsimperativen, die im Dienste unserer Sinnlichkeit stehen, liegt für Kant in der ‚ontologischen‘ Überlegenheit jener kosmischen Vernunftordnung beschlossen. 37 Gesetze zeichnen sich nach Kants generellem Verständnis durch strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit aus. Praktische Gesetze betreffen das Wollen und Tun, und zwar dementsprechend einerseits aller vernünftigen Subjekte, wozu für Kant desgleichen Engel und natürlich Gott selbst zählen.38 Sie sind von allpraktischer Reichweite, während sinnliche Vorlieben und Abneigungen in der Regel schon von Mensch zu Mensch differieren. Andererseits sind die besagten Gesetze jedes historischen Wandels überhoben. Sie bleiben, was sie sind und immer waren, wohingegen sinnliche Empfänglichkeiten bereits im Laufe des Lebens einer einzelnen Person wechseln mögen. Diese Dignität des Allgemeinen und Notwendigen ist es, die für Kant den Primat des Verbindlichen vor den Vorschriften der empirischen praktischen Vernunft begründet. Das Gesetzmäßige gilt ihm als höherwertiger denn alles Wandelbare, da seine Ordnungsmacht allumspannend und dauerhaft ist 36 In der Grundlegung ist im dritten Abschnitt von „Verstandeswelt“ (GMS A/B 108) und „intelligibele[r] Welt“ (GMS A/B 111) die Rede. Und bereits in der Kritik der reinen Vernunft spricht Kant im Kanon-Kapitel von „einer intelligibelen, d.i. der moralischen Welt, in deren Begriff wir von allen Hindernissen der Sittlichkeit (der Neigungen) abstrahieren“ (KrV A 809/B 837). 37 So im Hinblick auf Kants Argumentation im dritten Abschnitt der Grundlegung SCHÖNECKER 1999, 379. 38 Vgl. KpV A 57; GMS A/B VIII.
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anstatt partikular und alterierend. Allgemeine und notwendige Gesetze aber gibt es ihrerseits nur für etwas, dem jegliche praktische Kontingenz und damit die Freiheit des Wählens abgeht. Die Verstandeswelt, wie Kant sie sich vorstellt, ist keine Welt, in der man Zufälle bestehen muss, der Veränderung und Widersetzlichkeit; Neuerungen, Reformen, Revolutionen gar haben in ihr keinen Platz. Sie ist eine „bleibende Naturordnung“ (KpV A 76). 39 Ihre Superiorität liegt darin, dass das Trachten und Treiben reiner Intelligenzen ein gesetzmäßiges und kraft seiner Gesetzmäßigkeit ganz im Gegensatz zur menschlichen Praxis von Grund aus nicht der Normierung fähig, geschweige denn ihrer bedürftig ist. Dieser apriorische Ursprung von Verbindlichkeit bildet das Fundament einer Moralphilosophie, die jede Form von Bindung noch überbietet, welche sich lediglich auf eingewöhnte, durch Erziehung und Tradition weitergereichte Sitten beruft. Die Gesetze jener idealen Welt finden sich nicht irgendwo und müssen durch die menschliche Vernunft nicht erst gesucht und aufgegriffen werden; sie sind nichts anderes als die Gesetze der Vernunft selbst und als solcher. Fest und unabänderlich in die Struktur der reinen praktischen Vernunftsubjektivität des Menschen ebenso wie jedes anderen endlichen oder unendlichen Vernunftwesens eingeschrieben, stellen sie diejenigen Gesetze dar, nach denen der Intellekt allein aus sich den Willen zu einem Objekt bestimmt. Diese weder vom Menschen gemachten noch durch den Menschen modifizierbaren Gesetze sind die nie versiegende Wurzel genuiner Verbindlichkeit: Praktische Gesetzmäßigkeit ist der Geltungsgrund aller Verbindlichkeit aus reiner praktischer Vernunft. Die unvermeidlich anfallende sittliche Organisiertheit der partikularen Praxis bestimmter Gegenden und Zeiten steht auf diese Weise unter einer Auflage, die sie durch nichts abzustreifen vermag; in einem höheren Sinne als berechtigt kann sie je nur durch ihre Abschätzung an gleichermaßen robusten wie universalen praktischen Gesetzen gelten. Diese Gesetze und die Verbindlichkeiten, welche sie stiften, bergen gegenüber den vorfindlichen Traditionen einer geschichtlichen Gemeinschaft mitunter ein gewaltiges Kritik- und Reformpotenzial. Wahre Bindung besteht hiernach für den Menschen nicht oder nicht unmittelbar etwa als religio, als Rückgebundenheit an Gott.40 Zwar könnte man wohl mit gutem Sinn sagen, dass auch der im Dienste unserer Sinnlichkeit nut zenkalkulatorisch wägende Intellekt bindet, dass er die Willkür auf etwas festlegt, was darum nicht schon bereitwillig getan wird. Doch Kant gebraucht ‚Verbindlichkeit‘ strikt terminologisch, nämlich ausschließlich, um die sinnlich vollauf unbedingte Festlegung unserer Willkür durch die reine Vernunft zu bezeichnen. 39 Eine „höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge“ (KpV A 194), wie es später einmal heißt. 40 Vgl. KU A 436/B 441; RGV A 215/B 229.
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Indem Kants vernunfttheoretische Verbindlichkeitskonzeption Bindung nur im Ausgang von der Autonomie, Selbstgesetzgebung, reiner praktischer Vernunft gelten lässt, kommt ein anderer, ein metaphysischer Freiheitsbegriff zum Tragen. Dieser geht der Willkürfreiheit dahingehend vorauf, als er bereits an der determinativen Dimension des menschlichen Willens ansetzt. Das ist diejenige Dimension, die in den Blick gerät, sobald wir unser praktisches Vermögen auf die Gründe seiner Bestimmung hin betrachten. 41 Der Intellekt vermag den Willen eben auch unabhängig von allen sinnlichen Voraussetzungen, das heißt für Kant letztlich ohne ein empirisches Gefühl der Lust oder Unlust, festzulegen. Er bestimmt den Willen alsdann nach Maßgabe eines Gesetzes, welches ihm selber immanent und das Gesetz des Vollzugs dieses seines praktischen, willensbestimmenden Gebrauchs ist. Anders als die empirisch-praktische Vernunft, der das Ziel vorgegeben werden muss und für das sie hernach lediglich günstige Realisierungsstrategien ausloten kann, ist die rein-praktische Vernunft unmittelbar zwecksetzend. Die Handlung, auf die sie den Willen festlegt, schöpft sie aus sich heraus. Freiheit als Autonomie bedeutet folglich im Gegensatz zum raumzeitlich bedingten Anfangen der Naturkausalität den schlechthinnigen Neubeginn einer Kausalreihe, die Spontaneität einer ersten Ursache der Willensbildung. Diese Freiheit, die uns über alle Verstrickung in das Geschehen der sinnlichen Welt erhebt, bildet seit der ersten Kritik den Grundstock der gesamten Kant’schen Moralphilosophie.42 Kants Überlegungen nehmen dabei jedoch nicht den Weg von der Einsicht in die Gesetze der Sitten reiner Geistwesen hin zur Anwendung dieser Gesetze auf die endliche Situation des immer auch sinnlich affizierten Menschen. Genau das Gegenteil ist der Fall. Wie Kant in einer berühmten und viel zitierten Fußnote in der „Vorrede“ zur Kritik der praktischen Vernunft notiert, ist „die Freiheit allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit“ (KpV A 5 Anm.). Während Kant in der Grundlegungs-Schrift noch eine argumentative Fundierung der Moral mittels einer sogenannten Deduktion ihres höchsten Grundsatzes aus der Idee der Freiheit versucht, findet sich in der Kritik und den späteren Texten seine revidierte und abschließende Haltung zur Frage nach der Erweisbarkeit des obersten Sittengesetzes. Danach muss jede philosophische Verständigung über Moral von der Faktizität der Verbindlichkeit im menschlichen Bewusstsein ausgehen. Während uns, was wir sollen, durchaus klärungsbedürftig sein kann, haben wir nichtsdestotrotz ein unabweisbares Bewusstsein von dem an uns gerichteten ‚Du sollst‘, das unsere sinnlichen Interessen und unsere demgemäße Vorteilssuche bisweilen begrenzt oder vollends niederdrückt und sich daher aus gänzlich anderer Quelle zu speisen scheint. Das bedeutet, dass das Vgl. MSR A/B 4f., 26f. Zum Herkommen dieses Freiheitsbegriffs aus der Auflösung der dritten Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft siehe RÖTTGES 1974, 33–49. 41 42
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Verbundensein des menschlichen Willens zwar den Grund seiner Gültigkeit in der Freiheit unseres Willens hat, dass es aber erst das Bewusstsein des Verbundenseins ist, das uns auf diese Voraussetzungsstruktur und damit unsere Freiheit leitet. Das ist der Kerngedanke der Kant’schen Rede vom Faktum der reinen praktischen Vernunft. 43 Verbindlichkeit gibt es genau genommen lediglich in der Einzahl, Pflichten dagegen im Plural. Wo Kant doch von Verbindlichkeiten spricht, was durchaus nicht häufig der Fall ist, geschieht das in vollkommener Sinngleichheit mit dem Terminus ‚Pflichten‘ – wie umgekehrt ‚Verpflichtung‘ in Kants Schriften des Öfteren für Verbindlichkeit steht. 44 Der eine Ausdruck ist dann durch den anderen ersetzbar. Diese Doppeldeutigkeit im Wortgebrauch ist ohne Probleme oder gar handfeste Widersprüche möglich, da Verbindlichkeit und Pflicht für Kant zwar begrifflich zu unterscheiden sind, dabei aber so nahe beieinander liegen, dass sie niemals ohneeinander vorkommen. Es gibt das eine nicht ohne das andere, was eine gewisse Austauschbarkeit ihrer Bezeichnungen erlaubt. Während Verbindlichkeit die Form moralischen Sollens darstellt, ist „Pflicht“, so Kant, „diejenige Handlung, zu welcher jemand verbunden ist. Sie ist also die Materie der Verbindlichkeit“ (MSR A/B 21). 45 Pflicht ist der Inhalt einer Verbindlichkeit aus reiner praktischer Vernunft. Und während es eben durchaus unterschiedliche Arten von Pflicht gibt, juridische und ethische beispielsweise, sperrt sich der Kant’sche Verbindlichkeitsbegriff gegen jede Differenzierung. Die Sollgeltung, mit der reine praktische Vernunft eine Handlung als Pflicht vorschreibt, ist in jedem Fall ein und dieselbe. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Begriff eines praktischen Gesetzes. Dieser hängt zwar eng mit den Begriffen Verbindlichkeit und Pflicht zusammen, ist sogar für deren Erklärung unabdingbar, doch hebt ihn Kant zugleich dezidiert dagegen ab. Denn Gesetze haben von sich her keine imperative Form. Sie tragen nichts auf, und sie verbieten nichts. Gott, Engel und andere Vernunftwesen unterliegen in ihrem Wollen und Tun wohl ebenfalls diesen Gesetzen, anders als der Mensch aber bewegen sie sich nicht in einer Sphäre praktischer Kontingenz und sind damit kein mögliches Bezugsobjekt von Verbindlichkeit. Ein praktisches Gesetz nimmt nur dort die Gestalt einer Verbindlichkeit an und macht eine Handlung zur Pflicht, wo ihm angesichts verschiedener Wahlmöglichkeiten nicht ohnehin Folge geleistet wird: wo das praktische Vermögen des betreffenden endlichen Wesens auf der Basis anderer Bestim-
Vgl. KpV A 4, 56, 72, 74, 81, 96, 163, 187. Siehe dazu ZIMMERMANN 2014, 105–133. Siehe etwa MSR A/B 17 und MST A 25. 45 Siehe ebenso GMS A/B 8, 20, 76, 86; KpV A 57, 143, 145; MSR A/B 17; MST A 2, 7, 43 44
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mungsgründe zu etwas bestimmbar ist, das mit dem Gesetz nicht übereinstimmt. Derartige Imperative, die eine Verbindlichkeit artikulieren, nennt Kant bekanntlich kategorisch. 46 Im Bewusstsein einer jeden Pflicht findet sich nun recht besehen eine Spur, die hinter die betreffende Pflicht zurückführt. Die Anerkennung einer Handlung als Pflicht birgt einen gewissen, darüber hinausreichenden Erkenntniswert: So wie Verbindlichkeit qua talis auf praktische Gesetzmäßigkeit verweist, ist eine Pflicht, als Inhalt der Verbindlichkeit, der Erkenntnisgrund für das korrespondierende, ihr jeweils voraus- und zugrunde liegende konkrete praktische Gesetz. Echte Normativität schneidet zwar jede tiefer dringende Frage nach ihrem Warum ab, jedenfalls kann man ihr nicht durch ein im Voraus bewusstes und gewusstes praktisches Gesetz begegnen. Aber andersherum gibt das, was je Pflicht ist, die spezifischen Gesetze zu erkennen, wie sie in jener reinen Verstandeswelt herrschen, der auch der Mensch als „Wesen an sich selbst“ (KpV A 72) angehört. Nicht nur also gibt die Form moralischen Sollens, die der reinen praktischen Vernunft entspringt, Anzeige auf eine intelligible, dem sinnenfälligen Naturmechanismus entrückte und insofern freie, gesetzmäßige und moralische Ordnung, deren Glieder wir als vernünftige Subjekte sind und die in der phänomenalen Welt zu verwirklichen uns als Aufgabe gestellt ist. Sondern in eins damit wird die Idee der Freiheit, die für die theoretische Vernunft leer bleiben muss, Schritt um Schritt inhaltlich angefüllt. Der Gedanke von einem Reich der Freiheit impliziert immer schon, was sich uns lediglich nachträglich, im Umweg über unsere moralischen Pflichten erschließt: An dem erst, was Pflicht ist, lassen sich die praktischen Gesetze des Wollens und Handelns rein rationaler Wesen ablesen.47
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„[O]hne Hofnung und Furcht“1 Kants Naturrecht Feyerabend über den Grund der Verbindlichkeit zu einer Handlung Günter Zöller „Nulla enim vitae pars neque publicis neque privatis ... vacare officio potest ...“ 2
A. Recht und Moral, Ethik und Politik Wie andere Grundkonzepte der modernen Moralphilosophie entstammt auch der Begriff der Verbindlichkeit, zusammen mit seinem semantischen Äquivalent „Verpflichtung“, der Sphäre des Rechts, ursprünglich dem Römischen Recht, in dem er als obligatio auftritt, und direkt dem Naturrecht (ius naturale, ius naturae) der frühen Neuzeit. Die Transportabilität des Konzepts der Verbindlichkeit aus dem Rechts- und Politikbereich in den Bereich von Ethik und Moral hat historische wie systematische Gründe. Am Anfang steht Platons Annäherung der beiden Bereiche in der Politeia, die in der gelehrten Tradition den beschreibenden Titel „Von der Gerechtigkeit“ (de iustitia) trägt. Die moderne deutsche Übersetzung mit „Staat“ verfehlt den Fokus von Platons philosophisch-politischem Hauptwerk auf der gesetzlichen Einrichtung des Gemeinwesens. Andere europäische Kultursprachen, wie auch die ältere deutsche Übersetzungstradition, die noch bei Kant und Hegel nachwirkt, werden dem besser gerecht durch den sprachlichen Rückgriff auf die römische Konzeption des Gemeinwesens (res publica).3 In der inszenierten Dramatik der Politeia wird es als ein geschickter Kunstgriff ausgegeben, das schwer fassliche Wesen der Gerechtigkeit im individuell-ethischen Handeln vom strukturell analogen, faktisch aber leichter erforschbaren Parallelfall des KANT 1900, 27, 2/2:1331 („Naturrecht Feyerabend“) CICERO 1999, 6f. (I, 2; „Kein Teil des Leben nämlich, weder im Öffentlichen noch im Privaten ... kann der Obliegenheit entbehren.“ Übersetzung G.Z.) 3 Für eine republikanische Lektüre von Platons Politeia im Kontext der klassischen deutschen politischen Philosophie siehe ZÖLLER 2015. 1 2
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sozial-politischen Handelns her aufzuklären. 4 In der Sache gründet der politisch-psychische Transfer in der ursprünglichen Identität der beiden Anwendungsbereiche der Gerechtigkeit, denen bei Platon ein identischer normativer Prinzipienbegriff (eidos, idea; „Idee“) zu Grunde liegt. Aristoteles führt bei aller Kritik an Platons Ideenlehre die Doppelcharakteristik von Ethik und Politik als verschieden wie verwandt fort. Zum einen behandelt er Ethik und Politik in unterschiedlichen Werkkomplexen – der Eudemischen Ethik, der Großen Ethik und der Nikomachischen Ethik einerseits und der Politik andererseits. Zum anderen lässt er die Ethik in die Politik münden und gibt die Ethik als integralen Bestandteil einer umfassend konzipierten, psycho-sozial komplexen Wissenschaft von den „politischen Dingen“ (ta politika) aus. Ihre verwandelte Fortsetzung findet die frühe Engführung von Ethik und Politik in der theologisch-philosophischen Tradition des Naturrechts, das den positiven Rechtsgesetzen einen konstanten Kern von Recht vorordnet, der theologisch auf Gott und philosophisch auf Natur oder Vernunft gründen soll. Die präterpositive Prägung des Rechts trägt dabei einen juridisch-ethischen Doppelcharakter: sie beinhaltet eine gottgewollte und natur- oder vernunftgestützte rechtliche Ordnung und ist zugleich eine ethisch verbindliche Handlungsvorgabe für Fürst wie Volk. Erst der strukturelle ethisch-religiöse Relativismus, der mit der westeuropäischen Glaubensspaltung zu Beginn der Moderne einhergeht, führt zur zunehmenden Dissoziation von Recht und Moral und damit auch von Ethik und Politik. Doch bleibt das Recht auf dem europäischen Kontinent in der frühen Neuzeit weiterhin naturrechtlich begründet und insofern ethisch geprägt, und dies auch dort, wo – wie bei Grotius – das Naturrecht systematisch unabhängig von der Theologie und unter der kontrafaktischen Bedingung von Gottes Nichtexistenz (etsi Deus non daretur) gelten soll. Die radikale Dissoziation von Recht und Moral sowie von Politik und Ethik bleibt auf Ausnahmen beschränkt, darunter Machiavellis Dispension des Fürsten vom gemeinen Sittengesetz und Hobbes’s Separation des absoluten Monarchen von aller Untertänigkeit. Erst mit der expliziten Detheologisierung des philosophischen Denkens über Recht und Politik wie über Ethik und Moral im achtzehnten Jahrhundert kommt es zur prinzipiellen Trennung der zuvor bei aller Unterscheidung doch noch verbundenen Bereiche. Montesquieu ersetzt die singuläre Quelle sozialer Normen durch die Vorstellung eines je spezifischen Charakters („Geist“; esprit) der Gesetze, abhängig von kulturell-religiös bestimmten politischen Umständen, die ihrerseits geschichtlichem Wandel unterliegen. Rousseau reduziert daraufhin die Natur des Menschen auf den minimalen Bestand von Willentlichkeit und Freiheitlichkeit, dem das Recht und die Politik Rechnung zu tragen 4 Zur psycho-politischen Analogie in Platons Politeia und ihrem Pendant bei Kant siehe ZÖLLER 2010, 351–377.
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haben nach Maßgabe des idealen Gesellschaftsvertrags zwischen gleich-freien Willenswesen. Aus der vormals präliminaren Moral wird dabei das Gesellschaftsprodukt der Institution von politischem Recht (droit politique) einerseits und das Kulturprodukt der politisch geschützten und gestützten Selbstmoralisierung der freien Bürger andererseits. Mit Kant erreicht die Verselbständigung des Rechts von der Ethik ihre volle systematische Artikulation. Der reife Kant unterscheidet die immer nur äußere, zwangsgestützte Gesetzgebung des Rechts von der ursprünglich inneren, gewissensgestützten Gesetzgebung der Ethik. Doch auch noch Kant hält bei aller Trennung der juridischen und ethischen Geltungsmodi („Legalität“, „Moralität“) an der ursprünglichen Zusammengehörigkeit von Recht und Moral fest. So überträgt er in der Metaphysik der Sitten (1797) den unbedingt-gebietenden Charakter des Moralprinzips auf den Grundsatz der reinen Rechtslehre und nimmt die Befolgung juridischer Gesetze unter die ethischen Pflichten auf. 5 Während die modernen Kritiker und Reformatoren von Natur- und Vernunftrecht auf die ehemalige Ethisierung des Rechts zunehmend verzichten, vollzieht insbesondere Kant eine geradezu gegenläufige Bewegung der Juridisierung der Ethik, durch die eigentlich und erst im Recht verortete Konzepte und Kategorien in die Ethik und speziell in deren Grundlegung übertragen werden. Dabei geht es allerdings nicht um die Verwandlung von Ethik in Recht, so als werde nun der äußerlich-zwangsbesetzte Charakter des Rechts auch für ethische Belange geltend gemacht. Vielmehr sind es statt doktrinaler Inhalte methodische Grundbegriffe, die mutatis mutandis aus dem Jus in die Ethik übernommen werden. Am Anfang dieser hoch-modernen Entwicklung, die den alten naturrechtlichen Geltungstransfer vom Ethisch-Moralischen ins Rechtlich-Politische umkehrt zur rechtlichen, oder besser: quasi-rechtlichen Formatierung des Ethischen, steht Rousseaus Lehre vom rechtlich-politischen Wesen des Willens. Mit dem politischen Konzept des Willen – eines Wollens, das nicht natural vorliegt, sondern sich der Reflexion auf, sei es partikulare, sei es allgemeine Interessen verdankt – kommt ein Willensbegriff zur Ausbildung, der sich zur Übertragung auf das ethische Wollen samt dessen Differenzierung in die eigennützig und die gemeinnützig bestimmte Willensbildung eignet und anbietet. Die normative Anbindung juridisch-politischer Gesetze an eine dazu qualifizierte Gesetzgebung (législation) führt auf die Auslegung ethisch-moralischer Normen als Produkte einer analog qualifizierten Genese und Geltung von ethischen Grundregeln. Vor allem aber drängt die essentiell politische Vorstellung – genauer hin: die republikanische Konzeption –, derzufolge die Bürger eines Staates nur solchen Gesetzen unterliegen sollen, die sie selbst sich und
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Siehe KANT 1900, 6:218–221.
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den anderen und damit einander gegeben haben, auf eine analoge Konzeption von Autonomie qua ethischer Selbstgesetzgebung. Es ist Kant, der die ethisch-moralphilosophischen Konsequenzen aus Rousseaus politischer Philosophie frei-gleicher Willentlichkeit und vernünftig-interessierter Selbstgesetzlichkeit zieht, zuerst in der prinzipiellen Anbahnung einer künftigen „Metaphysik der Sitten“ (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785), später dann in der parallel geführten Ausführung des nicht-empirischen Prinzipieninbegriffs („metaphysische Anfangsgründe“) von Rechts- und Tugendlehre in der Metaphysik der Sitten. In der Sache führt Kants von Rousseau inspirierter Import rechtlicher Grundkonzeptionen in die Ethik das Platonische Programm der psycho-politischen Analogie fort, bei dem politisches normatives Denken die ethischen Normen informiert und strukturiert. Werden bei Platon die schwer auszumachenden intrasubjektiven Verhältnisse im Ethisch-Moralischen erhellt durch ihre Transposition in die Intersubjektivität von Recht und Politik, so überträgt Kant ursprünglich rechtlich-politische Konzepte – vor allem die der Willensbildung („Willensbestimmung“), der Gesetzesbildung („Gesetzgebung“) und der Selbstgesetzgebung („Autonomie“) – aus dem Bereich von Recht und Politik in den Bereich von Ethik und Moral. Auch im Fall des für Kants praktische Philosophie insgesamt grundlegenden Begriffs der Freiheit kommt neben der generellen Analogie von Recht und Ethik die spezielle juridische Grundprägung der ethischen Grundbegrifflichkeit zum Tragen. Die vom reifen Kant vorgenommene Anbindung der radikal, als praktische Spontaneität verstandenen Freiheit an die (moralische) Autonomie nimmt die republikanisch-politische Zusammenführung von (bürgerlicher) Freiheit und Selbstgesetzgebung auf, derzufolge Freiheit nicht in Willkürfreiheit besteht, sondern im Leben unter selbstgegebenen Gesetzen (Machiavellis vivere libero). Zwar verändert Kant bei der moralisch-ethischen Transposition des ursprünglich politisch-rechtlichen Freiheitsbegriffs von Selbstgesetzgebung den Charakter der Gesetzgebung. Aus äußerlich einander vorgeschriebenen Gesetzen werden innerlich sich selbst vorgeschriebene Gesetze; aus der Inklusion aller Mitglieder einer gegebenen politisch-bürgerlichen Gemeinschaft wird die kontrafaktische Extension des je subjektiven Handlungsprinzips („Maxime“) auf alle anderen endlichen Vernunftwesen. Doch es erhält sich in Kants ausgereifter praktischer Philosophie die dem Juridisch-Politischen entlehnte Vorstellung des Ursprungs von Gesetz in Setzung und damit der Gegensatz zwischen der praktischen Gesetzgebung durch Menschenvernunft und einer natürlichübernatürlich gegebenen Gesetzesordnung göttlichen Ursprungs. Wie rechtliche Autonomie als politisches Programm bürgerlicher Selbstregierung ist auch moralische, genauer: ethische Autonomie bei Kant eine normative Konzeption, deren theoretisch mögliche und praktisch geforderte Ver-
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wirklichung den vernünftig bestimmten Gebrauch von Freiheit zur Voraussetzung hat und diesen deshalb systematisch einfordert. Der zu erlangenden bürgerlichen Mündigkeit entspricht im Ethischen die freie Selbstbeherrschung („Autokratie“) 6 des Bürgers eines ethischen Gemeinwesens. Auch hier steht Kants Denken in der politisch-ethischen Tradition von Selbstherrschaft durch Selbstbeherrschung.
B. Fessel oder Band Zu den ursprünglich juridischen Grundbegriffen mit Auswirkung im Ethischen gehört auch der Begriff der Verbindlichkeit, der dem lateinischen obligatio entspricht. Im heutigen Deutsch nimmt sich der Ausdruck etwas altertümlich aus – besonders dann, wenn er zur generellen Kennzeichnung eines Sozialverhaltens dient, das damit als entgegenkommend und zuverlässig ausgewiesen wird. Durchaus gebräuchlich ist der Ausdruck aber noch im Finanzwesen, wo er eine monetäre Schuld bezeichnet. Im engeren ethischen Bereich ist der Terminus inzwischen so gut wie ersetzt durch den Ausdruck „Verpflichtung“. Schon im frühem achtzehnten Jahrhundert verweist Zedlers Universallexikon beim Lemma „Verbindlichkeit“ auf die Einträge zu „Verpflichtung“. 7 Dem Wechsel entspricht im Lateinischen, an das die beiden deutschen Wortprägungen „Verbindlichkeit“ und „Verpflichtung“ angelehnt sind, der Übergang von obligatio zu officium. Der spezifisch juridische Begriff der Verbindlichkeit, der den außerjuridisch verorteten, aber juridisch geprägten oder doch mitgeprägten weiteren Bedeutungen des Ausdrucks „Verbindlichkeit“ zu Grunde liegt, entstammt dem Römischen Recht. Wie andere Konzepte der römischen Rechtspraxis und -lehre wurde er, vermittelt durch die Kodifizierung des Rechts im spätantiken kaiserlichen Ostrom (Byzanz), wegweisend für die Ausbildung des kontinentaleuropäischen Zivilrechts (ius civile).8 Der als „Verbindlichkeit“ eingedeutsche römische Rechtsbegriff der obligatio ist aber nicht einfach ein römisch-rechtlicher Begriff unter anderen. Vielmehr darf obligatio als ein Grundbegriff der römischen Rechtslehre gelten und damit auch als ein fundamentales Konzept des nachantiken Zivilrechts. Der Begriff dient den römischen Juristen zur allgemeinen Auszeichnung der rechtlichen Kraft und Wirksamkeit eines vertraglichen Verhältnisses. Dem entspricht die zentrale Bedeutung der obligatio im Zivilrecht, speziell im Vertrags-, Delikts- und Haftpflichtrecht. Zum Terminus „Autokratie der praktischen Vernunft“ bei Kant siehe KANT 1900, 6:383. Siehe dazu auch ZÖLLER 2010. 7 ZEDLER 1732–1754, 47:167. 8 Siehe dazu SCHIAVONE 2005 und ders. 2012. 6
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Der locus classicus für die formale Festlegung und fundamentale Funktion des Begriffs der obligatio ist, wie für die meisten Begriffe des Römischen Rechts, die Kompilation römischer Rechtsauffassung, -praxis und -theorie (das später sogenannte Corpus Iuris Civilis), die auf Anweisung des oströmischen Kaisers Justinian im 6. Jahrhundert entstand und die seit ihrer Wiederentdeckung im 11. Jahrhundert, von der Rechtsschule Bolognas ausgehend, die Entwicklung des Rechts im kontinentalen Westeuropa, später auch in Südamerika und in anderen Rechtskulturen weltweit geprägt hat. Die einschlägige Stelle lautet im lateinischen Original: „Obligatio est iuris vinculum, quo necessitate adstringimur alicuius rei solvendae secundum iura nostrae civitatis.“ 9 Gegenstand der Justinianischen Definition der Verbindlichkeit ist deren bindende Kraft, mittels derer gesetzlich geregelte Vertragsverhältnisse mit Zwangsmitteln eingelöst werden können. Die Auszeichnung der Verbindlichkeit als iuris vinculum ist dabei nicht nur metaphorische Rede, sondern bringt den bindenden und verbindenden Charakter der Verbindlichkeit zum Ausdruck. Die gelegentlich vorfindliche deutsche Übersetzung der Formel vom iuris vinculum als „Fessel des Rechts“ wird mit ihrer Konnotation von Servilität und Submission der metaphorisch artikulierten Bindefunktion der obligatio nicht gerecht. In der römischen Rechtsvorstellung benennt die Verbindlichkeit nicht nur die zu erbringende und gegebenenfalls zu erzwingende Leistung des Schuldners (debitor) gegenüber dem Gläubiger (creditor). Vielmehr umfasst obligatio ebenfalls die juristische Einbindung des Gläubigers, dem die Leistung zu erbringen ist oder der sie staatlich-rechtlich erzwingen lassen darf. Modern formuliert umgreift die obligatio gleichermäßen Schuldnerpflichten und Gläubigerrechte, kurz: Pflichten und Rechte. Die juristische Pointe der obligatio, ihre Grundleistung als „rechtliches Band“, liegt geradezu in der Verbindung von Rechten und Pflichten sowie in der Anbindung von Pflichten an Rechte und damit recht eigentlich in der Bindung oder vielmehr Verbindung der Mitglieder einer rechtlich verfassten Gesellschaft (civitas) untereinander und zueinander. Statt in der obligatio eine einschränkende, quasi verknechtende und sozusagen versklavende Zwangsgestalt zu sehen, ist es deshalb eher angebracht, die Verbindlichkeit als den rechtlichen Zement der Bürgergesellschaft zu betrachten. Wie das Recht ist übrigens auch der Zement eine römische Erfindung. Beide sind geeignet oder vielmehr dafür gedacht und erfunden, voneinander Getrenntes fest und dauerhaft zu verbinden. So ist die obligatio in der rechtlich verfassten Gesellschaft ebenso sehr Einschränkung wie Ermöglichung – als Ermöglichung ist sie auch Einschränkung, als Einschränkung in eins Ermöglichung. Die obligatio bildet damit eine Grundbedingung des zivilrechtlichen Verhältnisses als solchem. 9 „Die Verbindlichkeit ist das rechtliche Band, aufgrund dessen wir zu einer Sachleistung gemäß den Gesetzen unserer bürgerlichen Gesellschaft gezwungen werden.“ (Übers. G.Z.)
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Im Übrigen steht das als Band statt als Fessel zu verstehende iuris vinculum in einer Tradition philosophischer Mereologie, die das Viele nicht äußerlichadditiv zusammenführt zu einem nachträglich Vereinigten, sondern die innige Einheit des Vielen und überdies die Einheit von Einem und Vielem vertritt. Am Anfang dieser Bemühungen um das Viel-Eine und Ein-Viele steht Platons ideentheoretischer Begriff des „Bandes“ (desmon) zunächst im Theaitetos, dann im Timaios.10 Bei Leibniz kehrt der Begriff wieder als vinculum substantiale, das multiple Phänomene zur substantiellen Einheit zusammenfasst. 11 Schließlich rekurriert noch Kant auf die alte Bänderlehre, wenn er mit einem in dieser Bedeutung heute veralteten Ausdruck, „Verband“, die systematische Einheit der je eigengesetzlich geregelten Vernunftvermögen (Verstand, Urteilskraft, Vernunft im engeren Sinn) herausstellt, die damit ebenso unterschieden wie vereinigt sind – eben verbunden. 12 Doch nicht nur die Justinianische Formel des iuris vinculum ist in ihrer Metaphorik ernst zu nehmen. Auch der Ausdruck obligatio verweist mit seinem Verbalbestandteil ligere auf ein signifikantes semantisches Feld des Lateinischen, dem an erster Stelle der Ausdruck religio zugehört. Im Fall der religio betrifft der Bindecharakter des darin ausgedrückten römischen Verständnisses von Religiosität die Bindung der Menschen an die Götter oder die göttlichen Dinge, wie sie sich in Kultus und Riten manifestiert. Der zwischenmenschlichen Verbundenheit durch die obligatio korrespondiert so eine menschliche Verbundenheit mit den göttlichen Dingen und speziell eine Rückgebundenheit (dies dann der ursprüngliche Wortsinn von religio) an die Götter. Die Übernahme des römischen Rechtsbegriffs der obligatio in das kontinentale Zivilrecht bringt vielfältige Differenzierungen der Verbindlichkeit mit sich. So wird im frühneuzeitlichen ius civile zwischen expliziter und impliziter, zwischen reiner und bedingter, zwischen primärer und sekundärer, zwischen absoluter und alternativer, zwischen bestimmter und unbestimmter, zwischen teilbarer und unteilbarer, zwischen einfacher und strafbarer sowie zwischen gemeinschaftlicher und vielfacher Verbindlichkeit unterschieden. In das moderne Zivilrecht ist der Begriff über seine rational-vereinfachte Behandlung im Code Napoléon gelangt (1804). Doch zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Begriff der Verbindlichkeit schon auf das vertragsrechtliche Gebiet verengt und eine Entwicklung genommen, die schließlich zur rezenten Beschränkung auf den vertraglichen Transfer von Eigentum und auf dessen monetäres Äquivalent geführt hat. Die umfassendere Bedeutung der Verbindlichkeit als zivilgesellschaftlichem Zement war im späteren achtzehnten Jahrhundert bereits an einen anderen, eigentlich engeren
Siehe PLATON 1972, 7:40/41 (Tim. 31c2–32a7). Siehe LEIBNIZ 1875–90, 2:435 (Leibniz an Des Bosses, 5. Februar 1722). 12 Siehe KANT 1900, 20:242 („Verband ... des Verstandes und der Vernunft“). 10 11
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Ausdruck übergegangen, den der Verpflichtung. Anders als der primär rechtlich verwendete Begriff der Verbindlichkeit erwies sich der Begriff der Verpflichtung als geeignet, die juridische mit der ethischen Bedeutungsperspektive zu verbinden und einen das Recht wie die Ethik umfassenden Grundbegriff von vertraglicher Verbundenheit auszudrücken. Ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg vom rein zivilrechtlichen Grundbegriff der Verbindlichkeit zur Verpflichtung als Grundbegriff der praktischen Philosophie insgesamt, unter Einschluss von Recht wie Ethik, ist die Übertragung der Konzeption des Vertrags aus dem römisch geprägten Zivilrecht in das spezifisch moderne öffentliche Recht (ius publicum), insbesondere das Staats- und Verfassungsrecht. 13 Aus dem Vertrag als rechtlich gestalteter Vereinbarung zwischen Privatpersonen wird dabei der Sozialpakt, mittels dessen sich eine Gemeinschaft als politische Gesellschaft konstituiert – oder sich als so konstituiert betrachtet. Zu den vertraglich festgelegten privat-bürgerlichen Rechten und Pflichten treten auf diese Weise öffentliche Berechtigungen und Verpflichtungen, die das zivilgesellschaftliche Verhältnis der Bürger untereinander und zum Staat regeln. Im Mittelpunkt des ius publicum steht nicht der Bürger als partikular interessierte Privatperson, sondern der Staatsbürger mit seinem supponierten generellen Interesse an dem allen Bürgern Gemeinsamen, dem Gemeinwohl (bonum publicum). Die damit einhergehende konzeptuelle Einteilung des Bürgerlichen in das Private und das Publike stellt mit ihrer Differenzierung zwischen dem Persönlich-Partikularen und dem Öffentlich-Allgemeinen ein rechtlichpolitisches Modell bereit für die analoge Differenzierung in der ethischen Sphäre zwischen dem Verfolg bloß persönlicher Präferenzen und der gezielten Berücksichtigung aller anderen, die sich in ethischer Gemeinschaft miteinander befinden. Den doppelten konzeptuellen Übergang von der Verbindlichkeit zur Verpflichtung und von der Öffentlichkeit des Rechts zur Universalität der Moral vollzieht Immanuel Kant.
13
2003.
Zu Entstehung und Entwicklung des ius publicum siehe LOUGHLIN 2010 sowie ders.
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C. Nec spe nec metu14 Kant hat die systematische Parallelität zwischen Recht und Ethik und die strukturelle Angleichung der Ethik an das Recht unter dem den beiden Bereichen gemeinsamen Begriff der Verpflichtung bzw. Verbindlichkeit im Verlauf der langwierigen Aus- und Umbildung seiner praktischen Philosophie sukzessive herausgearbeitet. Erst in den späten 1790er Jahren legt er mit der Metaphysik der Sitten eine in den Grundzügen ausgeführte Rechtslehre und Ethik („Tugendlehre“) vor, die er als die beiden Teile der nun mit der „Moralphilosophie“ identifizierten praktischen Philosophie in einer umfassenden Konzeption vernünftig-freier Willensbestimmung zusammenfasst. 15 Der vollständige Originaltitel des gesamten Werkes lautet denn auch „Die Metaphysik der Sitten in zwei Teilen“.16 Doch schon in den frühen 1780er Jahren hat Kant im Umkreis seiner emergierenden kritischen Moralphilosophie die Ethik in enge methodische und systematische Beziehung zum Recht gesetzt und dabei ethische Grundbegriffe und Grundsätze im Ausgang vom Jus entwickelt. Ein besonders instruktives Zeugnis für die Parallelführung der Grundlegung des Rechts und der Ethik bietet die erhaltene Nachschrift zu Kants Vorlesung über das Naturrecht aus dem Wintersemester 1784/85, das nach dem Verfertiger der Nachschrift sogenannte Naturrecht Feyerabend. Der Text liegt, wenn auch nicht eben zuverlässig ediert, seit 1979 als Anhang zum Band IV in der Reihe der Vorlesungen Kants, der die Vorlesungen zur Moralphilosophie enthält, in der Akademie-Ausgabe von Kants gesammelten Schriften vor.17 Seit kurzem ist der philosophisch besonders gewichtige Einleitungsteil der Vorlesung in einer sorgfältig erstellten Neutranskription im Rahmen des editorischen Großprojekts zur Indexikalisierung von Kants Vorlesungsnachschriften verfügbar. 18 Besonderes Interesse verdient das Naturrecht Feyerabend nicht nur aufgrund des Umstandes, dass es sich um die einzige erhaltene Nachschrift der Naturrechtsvorlesung handelt, die Kant immerhin zwölfmal im Zeitraum von 1767 bis 1788 gehalten hat. Brisant ist der Text auch durch seine weitgehende
14 „Weder mit Hoffnung noch mit Furcht“. Wahlspruch der Isabella d’Este, Herzogin von Mantua, für den ein neuplatonischer Hintergrund anzunehmen ist, der den Weisen unabhängig von Furcht und Hoffnung denken und handeln lässt. 15 Siehe KANT 1900, 6:216–218. 16 Ebd., 6:518. 17 Ebd., 27, 2/2:1317–1394. 18 Siehe DELFOSSE/HINSKE,/SADUN/BORDONI 2010, 1–15 (Text) und 23–29 (Erläuterungen und Parallelen).
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zeitliche und sachliche Koinzidenz mit Kants erster kritischer Grundlegungsschrift zur Moralphilosophie, der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten aus dem Jahr 1785.19 Anders als die Druckschrift aus dem Folgejahr, die bei aller im Titel angekündigten generellen Orientierung auf eine umfassende „Metaphysik der Sitten“ hin doch durchweg von Moralität (statt von Legalität), vom Sittengesetz (statt vom Rechtsgesetz) und von Maximen (statt von Handlungen) handelt, berücksichtigt das praktisch zeitgleich nachgeschriebene Naturrecht Feyerabend bei der methodischen und sachlichen Begründung des Jus auch die Ethik. Der äußere Anlass für die Aufnahme ethischer Konzepte und Doktrinen in die Philosophie des Rechts ist der moralphilosophische Grundcharakter des modernen Naturrechts und die extensive Ethisierung rechtlicher Grundbegriffe und -lehren in dessen präterpositiver Begründung von Recht. Doch kritisiert Kant gerade die naturrechtliche Angleichung des Rechts an die Moral, zumal in deren theologischer Ausgestaltung als gottgewollter Gesetzlichkeit menschlichen Handelns. Statt das Naturrecht von der Ethik her und als Moral zu begründen, unternimmt es das Naturrecht Feyerabend vielmehr, die Ethik vom Recht streng und grundsätzlich zu trennen.20 Das Kriterium der methodischen und systematischen Differenzierung ist die Präsenz oder die Absenz von „Zwang“, speziell von dem äußerlich ausgeübten begründeten und berechtigen Zwang, dem das Rechtliche unterliegt, während sich ihm das Ethische entzieht.21 Den Zwang begründet Kant dabei rechtlich als Verhinderung von Freiheitsbehinderung. 22 Die verbleibende Gemeinsamkeit zwischen Recht und Ethik wird im Naturrecht Feyerabend nicht mehr ausgemacht durch den moralisch-theologischen Ursprung des Rechts. Vielmehr gründet sie im generischen Freiheitswesen des Menschen, dessen Wille grundsätzlich nicht von den Gesetzen der Natur – nicht einmal denen der eigenen, inneren Natur des Menschen – bestimmt wird.23 Wie in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten macht Kant im Naturrecht Feyerabend den Ursprung und die Geltung der Gesetze an der radikalen willentlichen Freiheit des Menschen und dessen Endzweckhaftigkeit („innerer Wert“, „Würde“) fest.24 Wiederum in Übereinstimmung mit der Grund-
Für einen alternativ orientierten Vergleich des Naturrechts Feyerabend mit der Rechtslehre der späten Metaphysik der Sitten siehe HIRSCH 2012. 20 Siehe KANT 1900, 27, 2/2:1327 21 Zu einer spezifisch ethischen Form des Zwangs in Kants später Ethik („wechselseitig entgegengesetzte[r] Selbstzwang“) siehe KANT 1900, 6:279 Anm. Siehe dazu auch ZÖLLER 2010. 22 Siehe KANT 1900, 27, 2/2:1328. 23 Siehe KANT 1900, 27, 2/2:1322. 24 Ebd., 1319, 1321. 19
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legung fungiert dabei der Selbstzweckcharakter des Menschen als einschränkende Bedingung für den Freiheitsgebrauch selbst auf Bedingungen von „allgemeiner Freiheit“. 25 Doch während die Grundlegung den Freiheitsgebrauch dem Sittengesetz unterstellt in dessen Gestalt des kategorischen Imperativs, der die moralische Qualifikation von subjektivem Handlungsprinzipien („Maximen“) regelt und vorschreibt, bestimmt das Naturrecht Feyerabend den Gesetzescharakter für menschliche Handlungen generisch und rein formell. Die Freiheit des menschlichen Handelns unterliegt der Form der universellen Gesetzlichkeit („allgemeine Gesetzmäßigkeit“) als solcher. 26 Die für das freie Handeln des Menschen spezifische gesetzliche Handlungsanweisung („Imperativ“) bezeichnet Kant im Naturrecht Feyerabend ganz generell als „Imperativ der Weisheit“, im Unterschied zu den nur bedingt gültigen, an Geschicklichkeit und Klugheit orientierten und von dorther motivierten Imperativen. 27 Vor dem Hintergrund der generischen unbedingten Normativität freien Handelns unter der gesetzlichen Form von Allgemeinheit differenziert Kant im Naturrecht Feyerabend sodann zwischen Ethik und Recht nach dem jeweiligen Mechanismus, der die Gesetzlichkeit des Freiheitsgebrauchs durch Vorschrift regelt. Im Fall des Rechts ist dies der „Zwang“, im Fall der Ethik die „Verbindlichkeit“. „Verbindlicheit“ definiert Kant dabei wie folgt: Verbindlichkeit ist moralische Neceßitation der Handlung, d: i: die Abhängigkeit eines [nicht] an sich guten Willens vom Princip der Autonomie, oder objectiv nothwendigen praktischen Gesetzen.28
Hier wird die Verbindlichkeit vom rechtlichen und jedem anderen Zwang abgekoppelt und mit der rein moralischen Nötigung („praktische Neceßitation“),29 die durch die bloße Vorstellung der Gesetzlichkeit erfolgt, gleichgesetzt. Die Verbindlichkeit als rein formale spezifisch ethische Nezessitierung identifiziert Kant im Naturrecht Feyerabend gelegentlich mit „Achtung“. 30 Dagegen verwendet er im Naturrecht Feyerabend den Ausdruck „Pflicht“ vorwiegend für die verbindliche Handlung selbst. „Pflicht“ unterliegt so der Pluralbildung, während „Verpflichtung“ bis auf eine Ausnahme nur im Singular vorkommt. 31
Ebd., 1334 (Hervorhebung im Original). Siehe dazu auch Zöller 2015a. Ebd., 1326. 27 Ebd., 1323f. 28 Ebd., 1326; zur Konjektur, dem eingefügten „nicht“, siehe DEFOSSE/HINSKE/ SADUN/BORDONI 2010, XII. 29 Zum Unterschied von (objektiver) praktischer Notwendigkeit („Neceßitaet“) und (subjektiver) praktischer Nötigung („Neceßitatio“) siehe KANT 1900, 27, 2/2:1323. 30 Siehe KANT 1900, 27, 2/2:1326 und 1330. 31 Siehe KANT 1900, 27, 2/2:1326. 25 26
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Nach Kants Verständnis ist die Verbindlichkeit als spezifisch ethische Grundmodalität dem Zwang jeder Form, einschließlich des rechtlich legitimen, ja erforderlichen Zwangs („Zwangsrecht“) entgegengesetzt. Auch die im traditionellen Naturrecht – und speziell in dessen Fassung durch Achenwall, 32 auf die sich Kants Vorlesung referierend und kritisch kommentierend bezieht – vorfindliche Konditionierung der obligatio durch das (göttliche oder menschliche) Versprechen von Belohnung und die (göttliche oder menschliche) Androhung von Strafe wird von Kant getadelt als mit dem Begriff ethischer Obligation inkompatibel: Aber durch Poenas und Praemia einen verbinden ist contradictio in adjecto; denn da bewege ich ihn zu Handlungen, die er nicht aus Verbindlichkeit sondern aus Furcht und Neigung thut.33
Wenn das ethische Handelns aus keinem anderen Grund als dem der Verbindlichkeit selbst und als solcher zu erfolgen hat, scheiden außer dem rechtlichen (äußeren) Zwang auch innerlich motivierende Anreize zum ethischen Verhalten aus. Insbesondere schließt Kant mit einem kritischen Blick auf das eudämonologische Räsonnement im zeitgenössischen Naturrecht die psychischen Faktoren von Hoffnung (auf Belohnung) und Furcht (vor Bestrafung) aus dem Ambitus der Ethik aus. 34 Zwang wie Verbindlichkeit sind, so Kant im Naturrecht Feyerabend, in ihrer Wirkungssphäre jeweils sowohl notwendige als auch hinreichende Bedingungen für gesetzliches Handeln unter Voraussetzung der Freiheit. Recht funktioniert nicht ohne Zwang, braucht aber auch nicht mehr als den (rechtlich angedrohten) Zwang. Ethisches Handeln beruht ganz und gar auf Handeln aus Verbindlichkeit.35 Zwar besteht der Sache nach auch zum rechtlich Gebotenen bzw. Verbotenen eine Verbindlichkeit („Obligation“, obligatio). Doch fällt das Handeln nach Rechtsgesetzen, insofern es subjektiv aufgrund von Verbindlichkeit („aus Verbindlichkeit“) erfolgt, in die Ethik. Das Jus als solches geht es nichts an, aus welchem Grund und mit welcher Absicht die Handlung erfolgt. Das Recht kümmert einzig die grundsätzliche Verträglichkeit der jeweiligen Handlung mit der Freiheit aller anderen des freien Handelns Fähigen.36 Mit der exklusiven Zuweisung der Verbindlichkeit als Handlungsmotivation an die Ethik hat Kant im Naturrecht Feyerabend die ursprüngliche, römischrechtliche Zugehörigkeit der obligatio zum Jus in ihr Gegenteil verkehrt. Doch lassen sich gerade im Naturrecht Feyerabend auch Formen der formalen Jurifizierung des nunmehr ganz verselbständigten ethischen Eigenbereichs feststellen – und dies in auffälliger Abweichung von der Begründung der Moral in ACHENWALL/PÜTTER 1750, 5. erw. Auflage 1763. Siehe KANT 1900, 27, 2/2:1326. 34 Ebd., 1329. 35 Ebd., 1327. 36 Ebd., 1329. 32 33
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der kurz zuvor publizierten Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. So wird die Ethik im Naturrecht Feyerabend mit dem ursprünglich juridischen Begriff der „Billigkeit“ (aequitas) assoziiert und auf Handlungen bezogen die „innerlich recht“ sind, die aber dem juridischen Zwang entzogen sind, der nämlich nur das, was äußerlich recht ist, betrifft.37 Vor allem aber subordiniert das Naturrecht Feyerabend das Recht wie die Ethik einem generischen Begriff von „recht“ (Adjektiv, lateinisch rectus), der all das umfasst, was mit einer Regel oder einem Gesetz übereinstimmt. Recht und Ethik bilden so die alternativen Ausprägungen der Gesetzlichkeit freien Handelns. 38 Nach der Darstellung im Naturrecht Feyerabend enthalten Recht wie Ethik praktische Prinzipien für den freiem Willen, die dessen gesetzliche Allgemeinheit sicherstellen sollen. Im Fall des Rechts betrifft die gesetzlich geregelte Übereinstimmung das intersubjektive Verhältnis eines frei-wollenden Wesens zu seinesgleichen. Im Fall der Ethik regeln die praktischen Gesetze das intrasubjektive Verhältnis der durchgängigen Übereinstimmung des frei-wollenden Wesens mit sich selbst: Die Grundsätze des freyen Willens, durch durchgängige Einstimmung nach Gesetzen, sind entweder mit uns selbst oder andern. Grundsätze des äußeren Gebrauchs und inren Gebrauchs der Freiheit. Zu den erstern können wir [nicht] gezwungen werden, denn sie widerstehen nicht der Freiheit anderer. 39
Anders als in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, die den kategorischen Imperativ der Moralität mit der Formel vom „Reich der Zwecke“ auf die kontrafaktische Intersubjektivität ethischen Handelns bezieht, 40 bindet das Naturrecht Feyerabend die Ethik an die allgemein-gesetzliche Form rein-individuellen ethischen Wollens. Der Pluralität der frei-wollenden Wesen in der Sphäre des Rechts entspricht so in der Ethik, dem Naturrecht Feyerabend zufolge, nicht etwa die mögliche Sozialität der subjektiven Willensbildung, sondern die Verträglichkeit der pluralen Willensbildungen innerhalb eines und desselben Subjekts. Im Rahmen der generischen Handlungsnormierung durch die Form allgemeiner Gesetzlichkeit („allgemeine Gesetzmäßigkeit“) 41 hat die unbedingt geforderte externe Sozialverträglichkeit des äußeren Handelns auf Seiten des Rechts, dem Naturrecht Feyerabend zufolge, ihr strukturell analoges Pendant in der unbedingt geforderten psychischen Konsistenz des inneren Handelns auf Seiten der Ethik. Hier wie dort ist die mögliche Allgemeingesetzlichkeit der
Siehe KANT 1900, 27, 2/2:1328f. Ebd., 1328. 39 Ebd., 1336. Zur Konjektur, dem eingefügten „nicht“, siehe DELFOSSE/HINSKE/ SADUN/BORDONI 2010, XII. 40 Siehe KANT 1900, 4:433. 41 Siehe KANT 1900, 27, 2/2:1326. 37 38
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(äußeren bzw. inneren) Handlung ausschlaggebend für deren normative Qualität. Sieht man die präsumptive Allgemeinheit praktischer Gesetze als das proprium des Rechts an, dann präsentiert sich die Ethik im Naturrecht Feyerabend als radikal introvertierte, individualisierte und von allem (äußeren) Zwang befreite Modifikation der Rechtsrelation. Man darf darin wohl eine späte, moderne Reminiszenz der Platonischen Analogie von Seele und Staat sehen, die das Ethisch-Moralische als anders dimensionierten Parallelfall des Rechtlich-Politischen konfiguriert hatte.
Literatur ACHENWALL, GOTTFRIED: Ius naturae in usum auditorum. Göttingen 1755. –/ PÜTTER, JOHANN STEPHAN: Elementa juris naturae in usum auditorium adornata. Göttingen 51763 [1. Aufl. 1750]. CICERO, MARCUS TULLIUS: De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln. Lateinisch und deutsch. Übers., komm. und hrsg. von Heinz Gunermann, Stuttgart 1999. DELFOSSE, HEINRICH/HINSKE, NORBERT/SADUN BORDONI, GIANLUCA (Hrsg.): Kant-Index, Section II, Band 30.1. Stuttgart-Bad Cannstatt 2010. HIRSCH, PHILIPP-ALEXANDER: Kants Einleitung in die Rechtslehre von 1784. Immanuel Kants Rechtsbegriff in der Moralvorlesung „Mrongovius II“ und der Naturrechtsvorlesung „Feyerabend“ von 1784 sowie in der „Metaphysik der Sitten“ von 1797. Göttingen 2012. KANT, IMMANUEL: Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften und Nachfolgern, Berlin, später Berlin/New York 1900ff. LEIBNIZ, GEORG WILHELM FRIEDRICH: Philosophische Schriften. Hrsg. v. Gerhardt, Berlin 1875–90. LOUGHLIN, MARTIN: The Idea of Public Law. Oxford 2003. –: Foundations of Public Law. Oxford 2010. PLATON: Werke in acht Bänden. Hrsg. von Günther Engler. Darmstadt 1972. SCHIAVONE, ALDO: L’invenzione del diritto in Occidente. Turin 2005. –: The Invention of Law in the West. Übers. von Jeremy Carden und Antony Shugar, Cambridge, Mass. 2012. ZEDLER, JOHANN HEINRICH: Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste. 64 Bände plus 4 Supplementbände. Halle und Leipzig 1732–1754. ZÖLLER, GÜNTER: Autokratie. „Die Psycho-Politik der Selbstherrschaft bei Platon und Kant“, in: Hubertus Busche/Anton Schmitt (Hrsg.): Kant als Bezugspunkt philosophischen Denkens. Würzburg 2010, 351–377. –: Res publica. Plato’s „Republic“, in: Classical German Philosophy. Hong Kong 2015. –: „‚Allgemeine Freiheit‘. Kants ‚Naturrecht Feyerabend‘ über Wille, Recht und Gesetz“, in: Bernd Dörflinger/Dieter Hüning/Günter Kruck (Hrsg.): Zum Verhältnis von Recht und Ethik in Kants praktischer Philosophie. Hildesheim 2015a.
Die Verbindlichkeit des Rechts Kantische Überlegungen zum Verhältnis von privater und staatlicher Normenbegründung Bernhard Jakl Die Verbindlichkeit rechtlicher Normen wird im Übergang von der frühen Neuzeit zur Moderne zunehmend nicht mehr auf traditionale oder autoritative, sondern auf vernünftige und auch zukunftsgerichtete Begründungsgänge zurückgeführt. Im philosophischen Zentrum dieser Umstellung während der „Sattelzeit“1 der späten europäischen Aufklärung steht der kantische Entwurf einer praktischen Vernunft. Die praktische Vernunft fokussiert unterschiedliche Formierungen individueller und kollektiver Freiheit. Sie stellt damit das Verhältnis von privater und staatlicher Normenbegründung in den Mittelpunkt. Den kantischen Verbindlichkeitsgrund des Rechts bildet die Erlangung oder Erhaltung der wechselseitigen Freiheiten der Beteiligten. 2 Er soll sicherstellen, dass die rechtlichen Normen nicht nur, aber auch, als Element individueller Selbstbestimmung verstanden werden können (A). Über die Identifikation eines vernünftigen Verbindlichkeitsgrundes hinaus stellt sich aber die Frage, wie die Idee einer Freiheitsordnung realisiert werden kann. Es ist auch bei Kant das Problem zu beobachten, ob bei der Ausgestaltung der Freiheitsordnung die private oder die staatliche Normenbegründung leitend sein soll (B). Da sich zeigen wird, dass Kant entgegen zeitgenössischen diskurstheoretischen Diagnosen gerade dem Privatrecht die zentrale Rolle bei der Realisierung einer Freiheitsordnung zuschreibt, stellt sich abschließend die Frage nach dem Verhältnis der kantischen Freiheitsordnung zu den postmodernen und diskurstheoretischen Modellierungen von Normenbegründung in der Gegenwart (C).
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A. Recht und Selbstbestimmung Die aufklärerische Kritik, etwa von Hobbes oder Rousseau, an bloßen ontologischen Seinsbehauptungen und davon abgeleiteten politischen Ordnungsvorstellungen wird in der späten Phase der philosophischen Aufklärung durch eine Reflexion auf die eigenen Voraussetzungen aufgeklärten Denkens überstiegen.3 Autonomie, Selbstbestimmung, wird mit Kant zu dem zentralen Leitbegriff eines eigenen Feldes, der praktischen Philosophie. Selbstbestimmung bedeutet seit Kant weder einfach empirischen Neigungen zu folgen noch sich idealistischen Träumereien hinzugeben. Die Möglichkeit, Vorstellungen zu realisieren, führt mit Kant zu der Aufgabe, eine praktische Realität zu entwerfen. Die Frage, welche Vorstellungen entwickelt und realisiert werden sollen, weist wiederum auf das Problem der Verhältnisbildung zwischen der individuellen und der kollektiven Selbstbestimmung. 4 I. Für Kants Konzeption von individueller Selbstbestimmung steht der kategorische Imperativ im Mittelpunkt, der den Einzelnen zunächst auffordert, über die Zusammenhänge seiner einzelnen Handlungen Maximen zu bilden.5 Diese Maximen sollen dann auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit hin geprüft werden. Die Maximen, die ihren eigenen Voraussetzungen widersprechen, d.h. die nicht als konsistent und kohärent rekonstruiert werden können, sollen verworfen werden.6 Die Maximenbildung selbst wiederum soll über die Aufnahme der sinnlichen, inhaltlichen Bedingungen der einzelnen Handlungen hinaus durch die objektiven Zwecke der eigenen Vollkommenheit und fremden Glückseligkeit angeleitet werden. 7 Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass stets neue Vorstellungen und Handlungspläne entwickelt, realisiert und korrigiert werden können. Denn nur durch eine Konzeption von Selbstbestimmung, die grundsätzlich geeignet ist, die Handlungsfähigkeit aufrecht zu erhalten und Inhalte zu erzeugen, die diese befördert, kann aus kantischer Perspektive sichergestellt werden, dass der freie Wille bei der Gestaltung einer individuellen Biographie wirksam werden kann. 8 II. Der individuellen Selbstbestimmung durch Selbstgesetzgebung stellt Kant das Recht zur Seite. Bei Kant ist „[…] Recht […] der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen […] Dazu ZÖLLER 2009, 82–99. Zum Verhältnis von absoluten und relativen Verständnis von Grund- und Menschenrechten auch JAKL 2012, 239–268. 5 Dazu VOSSENKUHL 1996, 263–287. 6 KANT 1903, AA IV, 421. Für ein solch pragmatisches Verständnis des Verallgemeinerungstest vgl. ESSER 2004, 281–292. 7 KANT 1903, 391, 393. 8 Vgl. ESSER 2004, 248–254, die durch eine Kombination der Maximenbildung des kategorischen Imperativs mit den objektiven Zwecken der Tugendlehre die gegen die kantische Ethik vorgebrachten Einwendungen des Formalismus und des Rigorismus überwindet. 3 4
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vereinigt werden kann.“ 9 Dem Recht kommt damit die Aufgabe der kollektiven Selbstbestimmung zu. Das allgemeine Prinzip des Rechts überträgt die Idee der Gesetzesorientierung des kategorischen Imperativs auf das Verhältnis mehrerer Willkürstellen zueinander: „Eine jede Handlung ist recht, die oder durch deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammenbestehen kann“ 10. Das Problem der individuellen Willensbestimmung kann an dieser Stelle ausgeblendet werden. 11 Ebenso wie der kategorische Imperativ nach Kants Überzeugung neben den objektiven Zwecken die Voraussetzungen einer individuellen Selbstbestimmung bildet, bildet das allgemeine Prinzip des Rechts eine Voraussetzung der kollektiven Selbstbestimmung. Die Betonung der Gesetzmäßigkeit als Strukturmoment von Handlungen hat für die weiteren Überlegungen einer kritischen Rechtsphilosophie im Sinne Kants die weitreichende Konsequenz, dass rechtliche Normen weder auf Vorstellungen vom Guten noch auf die Ziele einer Gemeinschaft oder Gesellschaft zurückgeführt werden können. Innerhalb des rechtlichen Rahmens, den die Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre ziehen, identifiziert Kant allein ein einziges angeborenes Recht, das bei der Ausbildung einer Rechtsordnung zu respektieren ist: Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit zustehende Recht. 12
Das angeborene Freiheitsrecht verlangt, jedem Wesen menschlicher Form die Fähigkeit des Handelns zuzuschreiben und gibt damit jedem einzelnen Akteur das Recht, seine Vorstellungen und seine Ideen der Lebensgestaltung zu verwirklichen, solange sie mit den Handlungen anderer koordiniert werden können. Das Freiheitsrecht ist dabei zugleich der Ankerpunkt für weitere, konkrete subjektive Rechte. 13 III. Den Ausgangs- und Zielpunkt rechtlicher Normbegründung bildet für Kant die Handlungs- und Selbstbestimmungsfähigkeit des Einzelnen im Verhältnis zu Handlungs- und Selbstbestimmungsfähigkeit anderer Einzelner. Im normativen Kern der über ihre eigenen Voraussetzungen aufgeklärten Rechts philosophie treten damit zwei Elemente zu Tage:
KANT 1907, 230. Kant 1903, 231. 11 Vgl. KERSTING 2007, 112–132, zur Diskussion um das Verhältnis von Recht und Sittengesetz sowie zur eigenständigen Bedeutung des Rechts vgl JAKL 2009, 113. 12 KANT 1907, 237. 13 So auch KERSTING 2007, 211f. und Jürgen Habermas, siehe dazu HABERMAS 1996, 225. Für die zentrale Rolle des kantischen Autonomiebegriffs im globalen Menschenrechtsdiskurs siehe etwa MCCRUDDEN 2008, 655–724, hier 656. 9
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Einerseits wird das Element der kollektiven Selbstbestimmung durch die normativ wirkende Koordination der äußeren Freiheit des einen mit der äußeren Freiheit des anderen hervorgehoben. Der Verweis auf das Freiheitsrecht als angeborenes Recht des Menschen beleuchtet andererseits das Element der privaten Autonomie und betont das fundamentale Recht eines jeden Einzelnen, als handlungsfähig angesehen und in seinen Handlungen respektiert zu werden. Die Unterscheidung beider Elemente führt dazu, dass einerseits die dem kategorischen Imperativ entsprechende subjektive Willensäußerung der Ordnung der öffentlichen Gesetze entgegenstehen kann oder aber andererseits die öffentliche, staatliche Ordnung einer individuell-autonomen Willensbestimmung entgegenstehen kann. Eine Kombination von individueller und kollektiver Selbstbestimmung, von privater und staatlicher Normenbegründung in einem Zustand, in dem allgemeine und individuelle Gesetzgebung in funktional ergänzender Weise ineinandergreifen, ist für Kant eine Aufgabe, die die Realisierung einer jeden Rechtsordnung bewältigen muss.
B. Private und staatliche Normenbegründung bei der Rechtsrealisierung Die Realisierung des Rechts konzipiert Kant in der Gestalt von Grundlegungsund Anwendungsverhältnissen. 14 Die Rechtsidee und das angeborene Freiheitsrecht aus der Einleitung in die Rechtslehre sind die normativen Grundlagen der weiteren Entwicklung der kantischen Rechtslehre in den beiden Teilen, dem Privatrecht und Öffentlichen Recht. I. Die Anwendung setzt mit dem Privatrecht und den dort als zentral identifizierten Rechten des Sacheigentums und des Persönlichkeitsrechts ein. Der rechtliche Zustand hebt damit mit der „prima occupatio“, der ersten Erwerbung von Dingen, Grund und Boden an. Wer sich zeitlich vor anderen und einseitig eines Gegenstandes bemächtigt, dem wird dieser Gegenstand auch rechtlich als sein Besitz und Eigentum zugeordnet. 15 Die „äußere Erwerbung“ ist exemplarisch für die Ausübung des angeborenen Freiheitsrechts. Der einzelne Handelnde hat eine Vorstellung, die er außerhalb, in der Sinnenwelt gegenständlich umsetzen kann. Durch die Zuordnung des Handlungserfolgs kann er seine Handlungsfähigkeit erkennen. 16 Die gleiche Funktion kommt dem persönli-
14 Zum Verhältnis der Grundlegungs- und Anwendungsverhältnisse siehe JAKL 2009, 128–131. 15 KANT 1907, 259, 263. 16 Ebenso für die Verankerung des Eigentumsrechts im angeborenen Freiheitsrecht KERSTING 2004, 65. Anders dagegen RÜHL 2010, 68 der im intelligiblen Besitz und damit
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chen Recht zu, das einem Handelnden die „Causalität (die Willkür) zu wirken“17 zuordnet. Auch geistige Produkte, die zwar in Büchern verkörpert werden, aber sich ihrem Gehalt nach nicht in den Buchstaben erschöpfen, sollen, so Kant, ihrem Autor zugeordnet werden. 18 Kant gilt deswegen als einer der Väter des Urheberpersönlichkeitsrechts. 19 Über die mittels Sacheigentum und Persönlichkeitsrecht einem Handelnden zugeordneten Produkte, d.h. seinen verwirklichten Vorstellungen, kann der Einzelne im Rahmen von Vertragsverhältnissen verfügen. Der Vertrag ist „Der Act der vereinigten Willkür zweier Personen“ 20. Er dient dem Austausch von den jeweils einzelnen Personen zugeordneten Rechtspositionen. Der privatrechtliche Vertrag wird damit zum zentralen Schritt der weiteren Ausgestaltung der Rechtsordnung, da zwei Handelnde sich einen Austausch gemeinsam zum Ziel setzen. Damit schaffen sie ein von ihrem subjektiven Willen unabhängiges Handlungsprogramm, an das sie dennoch gebunden sind und in dessen Rahmen, anders als bei dem einseitigen Versprechen, jeweils der eine die Willkür des anderen „besitzt“. 21 II. Das wesentlich mit besitz- und eigentumsrechtlichen Analogien argumentierende Privatrecht geht dem Staatsrecht voraus und wirkt begrenzend auf dieses. Der Staat hat die Aufgabe, die jeweiligen privatrechtlich durch die einzelnen Handelnden besetzten Bereiche ihrer Freiheit abzusichern. Diese Aufgabe des Staates rechtfertigt den Staat als Übermacht gegenüber dem Einzelnen. Die kantische Variante des Gesellschaftsvertrages, die dem Einzelnen ein Recht auf Zustimmung der anderen zum Eintritt in einen staatlichen Zustand gibt, steht über den Gedanken des „transzendentalen Tauschs“ 22 hinaus unter dem Vorbehalt, dass der Staat die privatrechtlichen Rechtsverhältnisse schützt. Der privatrechtliche Vertrag dient als Muster für die gesellschaftsvertragstheoretische Rekonstruktion einer Legitimation der mit dem Gewaltmonopol ausgestatteten Zentralmacht durch die auch ideal mögliche Zustimmung aller. 23 Die privatrechtliche Referenz des Öffentlichen Rechts geht bei Kant soweit, dass aus der „Natur des bürgerlichen Vereins“ Rückschlüsse auf die Begründung und Verfassung von Staat und öffentlichem Recht gezogen werden. 24
auch im Eigentumsrecht nicht eine erste Anwendung der normativen Grundlagen der Einleitung, sondern die normative Grundwertung der kantischen Rechtslehre selbst sieht. 17 KANT 1907, 274ff. 18 Ebd., 289–291. 19 Etwa REHBINDER 2010, Rn 29. 20 Ebd., 271. Kant entwirft in der Folge eine Vertragstypologie, ebd. 285. 21 KANT 1907, 271, 273. 22 So HÖFFE 1998, 29–47, hier 34f. 23 Etwa KANT 1907, 318. So auch KERSTING 2004, 80. 24 KANT 1907, 318ff.
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III. Allerdings bleibt die privatrechtliche „prima occupatio“ für Kant als provisorische Zuordnung von Sachen an Personen unter dem Vorbehalt der nachträglichen Rechtfertigung in einem öffentlich-rechtlichen Rechtszustand stehen, die sie erst zu einer „peremtorische[n]“ Zuordnung werden lässt. 25 Damit soll der Widerspruch zwischen dem beliebigen, zufälligen Beginn des Rechtszustandes durch eine „prima occupatio“ und dem späteren Anspruch auf gleiche Freiheitsrechte, wie er sich im öffentlich-rechtlichen Gesellschaftsvertragsgedanken 26 niederschlägt, vermittelt werden. Die nähere Ausgestaltung dieser Vermittlungsprobleme wird allerdings erst bei Hegel und Fichte durch die Verknüpfung von Vernunft und Geschichte zu einem zentralen Thema rechtsphilosophischer Reflexion. IV. Die Ergänzung des privatrechtlichen Zustandes durch einen staatsrechtlichen bringt die kantische Forderung nach einem umfassenden Rechtspositivismus mit sich. 27 Während das Projekt der Rechtslehre zunächst als eine Bedeutungsreflexion von Recht beschrieben wird, die unabhängig vom positiven Recht erfolgen muss, 28 kulminiert der positivistische Zug der weiteren Entwicklung der Rechtslehre in der Ablehnung eines jeden Widerstandsrechts gegenüber einer historisch gewachsenen positiven Rechtsordnung. 29 Statt eines revolutionären Umschwungs zielt die kantische Rechtsphilosophie auf eine Reform und Weiterentwicklung bestehender Rechtsordnungen. Eine Veränderung der „(fehlerhaften) Staatsverfassung, die wohl bisweilen nöthig sein mag – kann also nur vom Souverän selbst durch Reform, aber nicht vom Volk, mithin durch Revolution verrichtet werden.“ 30 Den normativen Maßstab dieser Entwicklung von Recht bilden dabei die Rechtsidee und das angeborene Freiheitsrecht. Dem Gedanken einer Weiterentwicklung einer bestehenden Rechtsordnung in Orientierung auf diese normativen Maßstäbe zu folgen, würde durch ein allgemeines Widerstandsrecht unmöglich werden, da die ganze Rechtsordnung unter den Vorbehalt eines individuellen, beliebigen Eindrucks gestellt werden würde, ob eine solche den Widerstand rechtfertigende „Notstandssituation“ vorläge. 31
Ebd., 259, 313. Hier unterscheidet Kant zwischen der ersten, einseitigen Erwerbung und der ursprünglichen Erwerbung unter dem Regime eines öffentlich-rechtlichen Zustandes. 26 Dazu KERSTING 2004, 110ff. 27 In KANT 1907 318, wird die nachträgliche Validierung eines bereits eingetretenen öffentlich-rechtlichen Zustandes einem wirklichen, vor der Staatsgründung vorausgehenden Gesellschaftsvertrag gleichstellt. 28 KANT 1907, Einleitung, § A. 29 So legt sich KANT 1907, 320 darauf fest: „Wider das gesetzgebende Oberhaupt des Staats giebt es also keinen rechtmäßigen Widerstand des Volks“. 30 Ebd., 321 f. 31 Näheres dazu siehe den Beitrag von MICHAEL STÄDTLER in diesem Band. 25
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Die Ablehnung eines allgemeinen Widerstandsrechts erscheint insoweit als Bekenntnis zum positiven Recht und seiner Geltung, verknüpft mit der Aufgabe, dieses unter der Perspektive der Rechtsidee und des angeborenen Freiheitsrechts weiterzuentwickeln.
C. Zur Gegenwart der kantischen Rechtsphilosophie Gegenwärtige Überlegungen zum Verbindlichkeitsgrund des Rechts sehen bereits die Fragestellung nach einem solchen Verbindlichkeitsgrund skeptisch. Dabei lassen sich zwei skeptische Argumentationslinien unterscheiden. Eine postmoderne Linie kritisiert bereits den Anspruch der Regelgeleitetheit allgemein-verbindlicher Normen. Die diskurstheoretische Linie möchte dagegen den Anspruch der allgemeinen Verbindlichkeit aufrechterhalten, jedoch die aus ihrer Sicht kaum haltbaren metaphysischen Voraussetzungen Kants durch einen Bezug auf die gesellschaftlichen Umstände normativer Ordnungen ersetzen. I. Während die kantische Ablehnung des Widerstandsrechts die Abkehr von einem Denken in „Ausnahmezuständen“ verdeutlicht, das einer regelgeleiteten Rechtsentwicklung entgegensteht, gehen demgegenüber postmoderne Theorieentwürfe von der „Leere des praktischen Gesetzes der kantischen Philosophie“32 aus. In der Folge plädieren sie dafür, die kantische Konzeption einer regelgeleiteten praktischen Realität auf Grund der Adaption von Carl Schmitts Dictum „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ 33 abzulehnen. Praktische Realität erscheint in dieser Konzeption nurmehr als ein verhängnisvoller Zusammenhang, indem der Ausnahmezustand zur Regel geworden ist.34 Diese These wird innerhalb postmoderner Diskussionen wiederum wegen ihrer Undifferenziertheit kritisiert, da die existentielle Dimension des politischen Feldes nicht ausreichend gewürdigt werde. 35 So betont etwa schon Schmitt, dass politische Handlungen und Motive sich auf eine spezifische Unterscheidung, die „Unterscheidung von Freund und Feind“, zurückführen lassen.36 Der Politik wird mit Schmitt dadurch jenseits von ökonomischer Konkurrenz und liberalen Diskursmodellen eine existenzielle Dimension zugeschrieben, in der es um den Kampf gehe. 37
Vgl. AGAMBEN 1998, 62. SCHMITT 1993. 34 Ebd. 19 und AGAMBEN 2004, 33, 102. 35 vgl. MARCHART 2010, 226. 36 SCHMITT 2002, 14. 37 Ebd., 16. 32 33
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Gerade die Entwicklung existierender Rechtsordnungen macht aber entgegen postmodernen Überzeugungen deutlich, dass die Herausbildung und Beachtung rechtspositivistischer Systematisierungen und Grundsätze, wie schon von H.L.A. Hart und H. Kelsen gefordert, unverzichtbare Bestandteile gegenwärtigen Rechtsdenkens bilden. 38 Insbesondere der Grundsatz, dass Systematisierungen für die Ausgestaltung einer Rechtsordnung unverzichtbar sind, 39 führt dazu, dass den postmodernen Überlegungen zum Recht anders als der kantischen Konzeption jedenfalls rechtlich und rechtsphilosophisch die Anschlussfähigkeit an private und staatliche Normbegründungsdiskussionen fehlt. 40 Eine wie bei Kant intendierte Diskussion der Wertungen und Inhalte einer Rechtsordnung wird so mit postmodernen Theorieentwürfen unmöglich. Dagegen erscheinen die kantischen Überlegungen insbesondere deswegen aktuell, weil sie die rechtspositivistische Grundannahme der Beachtung existierender Rechtsnormen verlangen, aber zugleich mit der Freiheitsorientierung eine minimale inhaltliche Ausgestaltung rechtlicher Regeln einfordern. II. Die diskurstheoretischen Überlegungen gehen davon aus, dass die „metaphysischen“ Voraussetzungen Kants beiseitegelassen werden müssten, da sich die Suche nach einem vernünftigen Verbindlichkeitsgrund des Rechts als historisch erfolglos erwiesen habe. Schon die Frage nach einem vernünftigen Verbindlichkeitsgrund gilt es gerade aus diskurstheoretischer Perspektive postmetaphysisch zu übersetzen. Die vernunftrechtliche Denkfigur der Selbstgesetzgebung, wonach die Adressaten zugleich die Urheber ihrer Rechte sein sollten, wird diskurstheoretisch als die Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie entschlüsselt. 41 Damit löst aber auch die Gleichheit als zentraler Motor moderner Normenbegründung die kantische Freiheit als zentralen Rechtswert ab.42 Die gegenwärtige Entwicklung der Normenbegründung muss in der Folge vor allem als Entfaltung der egalitären Logik der Nichtdiskriminierung begriffen werden. 43
38 Stellvertretend für viele und die europäische und angel-sächsische Rechtspositivismustradition rekapitulierend VON DER PFORDTEN 2011, 26. 39 Zu rechtsdogmatische Paradigmen der Systematisierung etwa PETERSEN 2001. 40 Die herausgehobene Wichtigkeit der Beachtung geltender Rechtsnormen belegt eindrucksvoll RÜTHERS 2005. Rüthers führt aus, dass vor allem die Fixierung auf einen Ausnahmezustand in Verbindung mit fehlendem Rechtspositivismus die Umstellung des deutschen Rechts auf die rassistische und rechtsfeindliche Ideologie des Nationalsozialismus ermöglichte und beförderte. 41 So HABERMAS 1994, 135. 42 So geht Thomas Gutmann davon aus, dass die zentralen Gerechtigkeitsgehalte des Vernunftrechtsdenkens durch das GG als leitende Normen des positiven Rechts inkorporiert worden sind. Siehe dazu GUTMANN 2012, 295–313, 295. 43 Ebd., 307.
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Bereits die allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die amerikanische Verfassung werden wegen ihres kollektiven Bezugs als ein entscheidender „normativer Schub“ interpretiert, der bis heute anhält. Aus Sicht der Diskurstheorie wird mit den Menschenrechten ein System der Rechte begründet, in dem subjektive Rechte keine Trümpfe mehr gegenüber kollektiven Entscheidungen sind, sondern das im Gegenteil die private und öffentliche Autonomie der Bürger gleichursprünglich zur Geltung bringe. 44 Die diskurstheoretischen Überlegungen setzen damit voraus, was innerhalb der Rechtsphilosophie Kants letztlich nur als empirisch zufälliger Zustand bei einigen Rechtsinstituten, wie etwa Eigentum, Vertrag und Grundrechten, konzipiert wird: die auf Dauer umgestellte Übereinstimmung von privater und öffentlicher Autonomie. Da die Gleichursprünglichkeit mit der Argumentationsfigur eines intersubjektiven Charakters von Rechten gerechtfertigt wird, nehmen diskurstheoretische Überlegungen letztendlich einen Vorrang der öffentlichen vor der privaten Autonomie an. Staatliche Normenbegründung sticht private Normenbegründung aus. 45 Dem Rechtsstaat kommt aus diskurstheoretischer Perspektive deswegen vor allem die Funktion zu, dem Einzelnen einen „Ausstieg“ aus dem kommunikativen Handeln und zur Verweigerung illokutionärer Verpflichtungen zu ermöglichen.46 Recht würde eine Privatheit ermöglichen, die von der Bürde der gegenseitigen zugestandenen und zugemuteten kommunikativen Freiheit befreie. Die Idee der Selbstgesetzgebung erfordere aber, dass diejenigen, die als Adressaten dem Recht unterworfen sind, sich zugleich als Autoren dieses Rechts verstehen können. 47 Daher könne die Legitimation von Regeln mit ihrer diskursiven, intersubjektiven Begründung gleichgesetzt werden. 48 Da Recht aber ein Raum sei, der aus diskurstheoretischer Sicht dem Einzelnen geradezu als Mittel des Diskursabbruches diene, wird rechtlichen Regeln ihr normativer Eigensinn jenseits von politischen Vorentscheidungen abgesprochen. Individuelle Rechte können keine Trümpfe im Sinne Ronald Dworkins gegenüber politischen Entscheidungen mehr sein, sondern werden auf die Möglichkeit zur Diskursteilnahme, des tatsächlichen oder fiktiven Gehörs der Beteiligten, reduziert.49 Die Gleichursprünglichkeit auf den intersubjektiven Charakter von Rechten zurückzuführen hat für das Rechtsverständnis eine extreme Konsequenz: 44
So HABERMAS 1994, 135. So rückt Honneth die Vertragsfreiheit in die Nähe einer „pathologischen“ Form des Freiheitsgebrauchs. Siehe dazu HONNETH 2011, 151, 157–159. 46 Vgl. HABERMAS 1994, 153. 47 Vgl. HABERMAS 1994, 135, 155. 48 Vgl. Ebd. 49 Etwa LARMORE 1996. 45
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Rechtliche Normen, seien es Grundrechte oder Privatrechtsinstitute, stehen in einem solchermaßen kollektiv, staatlich orientierten Autonomieverständnis unter dem Generalverdacht, von einer intersubjektiven, kommunikativ verfassten Grundordnung abzuweichen. Ein großes Problem, das hier nur skizziert werden kann, stellt dabei die Eingemeindung des Privatrechts in den intersubjektiven Begründungsgang dar. Diskurstheoretisch erscheint Privatrecht, insbesondere die Vertragsfreiheit, immer schon als zweifelhafter Ausstieg aus intersubjektiven Zusammenhängen und insofern als kaum mehr legitim. Für Jürgen Habermas ist schließlich jedes staatliche Handeln, das als Einschränkung der Privatautonomie erscheint, nur als eine Kehrseite der Durchsetzung gleicher subjektiver Handlungsfreiheiten für alle und einer Abschaffung von Privilegien anzusehen. 50 Und für Axel Honneth ist das Privatrecht immer Ausdruck eines subjektzentrierten Denkens, das es zu überwinden gelte. 51 Juristisch ist dagegen der „Erkenntnisvorrang des Privatrechts“ 52 gerade im öffentlichen Recht bei der Auslegung von Grundrechten anerkannt. Die Vertragsfreiheit selbst wird auf das individuelle allgemeine Persönlichkeitsrecht (in Deutschland etwa Art. 2 I, 1 I GG) zurückgeführt. Jeder Bürger soll – im Rahmen gewisser Einschränkungen, etwa der Beachtung gesetzlicher Verbote und vor allem den Regeln der jeweiligen Privatrechts-Kodifikationen (in Deutschland etwa das BGB) – grundsätzlich selbst über die Verpflichtungen entscheiden können, die er mit anderen Bürgern eingehen möchte. Der Einzelne hat auf diesem Feld gegenüber dem Staat das Recht auf Respekt vor seiner individuellen Willensentscheidung. Mit der diskurstheoretischen Entschlüsselung des Rechts verliert die private Ordnung jedoch ihren zentralen Stellenwert bei der rechtlichen Normenbegründung, den die kantischen Überlegungen noch stark betont haben. Ob damit angesichts der zentralen Bedeutung des Privatrechts für die rechtliche Normenbegründung die Berücksichtigung gesellschaftlicher Kontexte gelingt, muss allerdings bezweifelt werden, solange im geltenden Recht aus der Perspektive der Grundrechte der „Erkenntnisvorrang des Privatrechts“ anerkannt wird. 53 Die kantischen Überlegungen zum Verbindlichkeitsgrund des Rechts bleiben gerade im Vergleich mit postmodernen und diskurstheoretischen Argumentationslinien gegenwartsbezogen, weil sie sowohl die rechtspositivistische Basisannahme der Beachtung und Systematisierung einer geltenden Rechtsordnung aufnehmen wie auch die privatrechtliche Ordnung als notwendig eigenständigen Bereich des Rechts berücksichtigen. In diesem Sinn zeigen die kan-
Vgl. HABERMAS 1994, 483f. So HONNETH 2011, 132, 169, 613. 52 So RUFFERT 2001, 52. 53 Ebd. 52. 50 51
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tischen Überlegungen zum Verbindlichkeitsgrund des Rechts, dass die Entwicklung einer modernen Normenbegründung ihrer zentralen Quelle, der Aufklärungsphilosophie, verbunden bleibt.
Literatur AGAMBEN, GIORGIO: Ausnahmezustand. Frankfurt am Main 2004. –: Homo Sacer. Sovereign Power and Bare Life. Stanford 1998. ESSER, ANDREA: Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart. StuttgartBad Canstatt 2004. GUTMANN, THOMAS: „Normenbegründung als Lernprozess? Zur Tradition der Grund- und Menschenrechte“, in: Ludwig Siep, Thomas Gutmann, Bernhard Jakl, Michael Städtler (Hrsg.): Von der religiösen zur säkularen Begründung staatlicher Normen. Zum Verhältnis von Religion und Politik in der Philosophie der Neuzeit und rechtssystematischen Fragen der Gegenwart. Tübingen 2012, 295–313. HABERMAS, JÜRGEN: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie. Frankfurt 1996. –: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates. Frankfurt am Main 1994. HÖFFE, OTFRIED: „Ein transzendentaler Tausch“, in: Stefan Gosepath, Georg Lohmann (Hrsg.): Philosophie der Menschenrechte. Frankfurt am Main 1998, 29–47. HONNETH, AXEL: Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit. Frankfurt am Main 2011. JAKL, BERNHARD: „Absoluter Grundrechtsschutz oder interaktive Grundrechte?“, in: Ludwig Siep, Thomas Gutmann, Bernhard Jakl, Michael Städtler (Hrsg.): Von der religiösen zur säkularen Begründung staatlicher Normen. Zum Verhältnis von Religion und Politik in der Philosophie der Neuzeit und rechtssystematischen Fragen der Gegenwart. Tübingen 2012, 239–268. –: Recht aus Freiheit. Die Gegenüberstellung der rechtstheoretischen Ansätze der Wertungsjurisprudenz und des Liberalismus mit der kritischen Rechtsphilosophie Kants. Berlin 2009. KANT, IMMANUEL: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, in: Kants gesammelte Schriften, hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band VI. Berlin 1907. –: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kants gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band IV, Berlin 1903. KERSTING, WOLFGANG: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie. Paderborn 2007. –: Kant über Recht. Paderborn 2004. KOSELLECK, REINHART: „Einleitung“, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, 4. Aufl. Stuttgart 1994. LARMORE, CHARLES: The Morals of Modernity. Cambridge 1996. MARCHART, OLIVER: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Berlin 2010. MCCRUDDEN, CHRISTOPHER: „Human Dignity and Judicial Interpretation of Human Rights“, in: European Journal of International Law 19/4 (2008), 655–724.
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PETERSEN, JENS: Von der Interessen- zur Wertungsjurisprudenz. Dargestellt an Beispielen aus dem deutschen Privatrecht. Tübingen 2001. REHBINDER, MANFRED: Urheberrecht. Ein Studienbuch. München 2010. RÜHL, ULLI F.: Kants Deduktion des Rechts als intelligibler Besitz. Kants „Privatrecht“ zwischen vernunftrechtlicher Notwendigkeit und juristischer Kontingenz. Paderborn 2010. RÜTHERS, BERND: Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus. Tübingen 2005. RUFFERT, MATTHIAS: Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts. Eine verfassungsrechtliche Untersuchung zur Privatrechtsentwicklung des Grundgesetzes. Tübingen 2001. SCHMITT, CARL: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. Berlin 2002. –: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin 1993. VON DER PFORDTEN, DIETMAR: Rechtsethik. 2. Aufl. München 2011. VOSSENKUHL, WILHELM: „Wen orientiert der kategorische Imperativ?“, in: Anke Thyen, Simone Dietz, Heiner Hastedt, Geert Keil (Hrsg.): Sich im Denken orientieren. Frankfurt am Main1996, 263–287. ZÖLLER, GÜNTER: „Aufklärung über Aufklärung. Kants Konzeption des selbstständigen, öffentlichen und gemeinschaftlichen Gebrauchs der Vernunft“, in: Heiner Klemme (Hrsg.): Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung. Berlin 2009, 82–99.
Erlaubnis, Erlaubnisgesetz und Verbindlichkeit in Kants Praktischer Philosophie Daniela Ringkamp
A. Das Erlaubnisgesetz bei Kant: unterschiedliche Verwendungsweisen und Auslegungen Verglichen mit anderen Themen seiner Rechtsphilosophie ist Kants Theorie des Erlaubnisgesetzes (lex permissiva) von wenigen Ausnahmen 1 abgesehen nur rudimentär zum Gegenstand einer ausführlichen Auseinandersetzung innerhalb der Kant-Forschung geworden. Angesichts der unterschiedlichen und werkübergreifenden Bedeutung, die Kant selbst dem Erlaubnisgesetz zuspricht, überrascht dies, mag allerdings unter anderem auch dadurch erklärt werden, dass Kant die Frage nach der Möglichkeit des Erlaubnisgesetzes insgesamt nicht immer eindeutig beantwortet. 2 Über Mehrdeutigkeiten hinaus muss bei einer Analyse von Kants Theorie des Erlaubnisgesetzes auch berücksichtigt werden, worauf sich dieses bezieht – nämlich auf Erlaubnisse bzw. erlaubte Handlungen –, welche Funktion Erlaubnissen im Gegensatz zu Geboten und Verboten zugesprochen wird und in welchem Maße Erlaubnisse überhaupt denkbar sind. Eine Auseinandersetzung mit dem Erlaubnisgesetz sieht sich damit vor die zweifache Aufgabe gestellt, einerseits zu verdeutlichen, welche Erlaubnis-Theorie Kant vertritt und davon ausgehend andererseits zu fragen, ob die Idee eines ErlaubnisgeEinen detaillierten Überblick gibt Reinhardt Brandt, der unterschiedliche Gründe dafür aufführt, warum Kants Theorie des Erlaubnisgesetzes in der deutschsprachigen Philosophie bisher wenig beachtet wird. So berücksichtige die Forschung oft nicht die Eigenständigkeit der kantischen Rechtsphilosophie, sondern versuche, das Erlaubnisgesetz ausgehend von den moralphilosophischen Schriften zu deuten. Ein weiterer Grund besteht laut Brandt darin, dass in einigen Arbeiten – Brandt verweist hier auf Ritter, Busch und Ebbinghaus – Kants Rechtsphilosophie aus der Transzendentalphilosophie ausgeklammert werde. Siehe dazu BRANDT 1982, 233-285, hier 235ff. Als gelungene Auseinandersetzung hebt Brandt jedoch die Arbeiten von Mary Gregor hervor. Siehe dazu GREGOR 1963, 58, 104ff. 2 Dass Kant keine Theorie des Erlaubnisgesetzes entwickelt führt z.B. Hariolf Oberer an, siehe dazu OBERER 1997, 197ff. 1
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setzes als „Nötigung zu einer Handlung zu dem, wozu jemand nicht genötigt werden kann“3 überhaupt möglich ist. Beide Aspekte werden von Kant zum Teil gemeinsam angesprochen. So sieht Kant in der Friedensschrift durchaus das Problem, das mit einer imperativischen Regelung von Erlaubnissen, die er an dieser Stelle durch praktische Zufälligkeit kennzeichnet, 4 verbunden ist. Dennoch spielen Erlaubnisse in den Präliminarartikeln eine zentrale Rolle. So versteht Kant unter einer Erlaubnis die Aussetzung bzw. die Befreiung von einem Verbot5 und bezeichnet die Präliminarartikel 2 -4 als sogenannte leges latae, die „Erlaubnisse enthalten, die Vollführung aufzuschieben, ohne doch den Zweck aus den Augen zu verlieren.“ 6 Unter anderem erlaubt Kant hier das vorläufige Fortbestehen von stehenden Heeren, die Staaten nicht sofort abschaffen müssen; vielmehr verbleibt ihnen bei der Abschaffung ein nicht näher spezifizierter zeitlicher Spielraum. Gleichermaßen erlaubt sind die überkommene Erwerbungsart eines Staates durch Tausch, Kauf oder Schenkung sowie das Aufnehmen von Staatsschulden auf zwischenstaatliche Staatsgeschäfte. 7 In der Rechtslehre dagegen reguliert die lex permissiva die Aneignung provisorischen Besitzes im Naturzustand, die für die Stiftung peremptorischer Besitzverhältnisse im darauffolgenden bürgerlichen Zustand essentiell ist: Man kann dieses Postulat ein Erlaubnisgesetz (lex permissiva) der praktischen Vernunft nennen, was uns die Befugnis gibt, die wir aus bloßen Begriffen vom Rechte überhaupt nicht herausbringen könnten; nämlich allen anderen eine Verbindlichkeit aufzulegen, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände unserer Willkür zu enthalten, weil wir zuerst sie in unseren Besitz genommen haben. Die Vernunft will, daß dieses als Grundsatz gelte, und das zwar als praktische Vernunft, die sich durch dieses ihr Postulat a priori erweitert.8
KANT 1992, AA 348. Ebd. 5 Ebd. 6 Ebd., AA 347. Ein ähnlicher Gedanke liegt auch Kants Zurückweisung eines Widerstandsrechtes im Falle ungerechter politischer Verhältnisse zugrunde, die ebenfalls in der Friedensschrift thematisiert wird: „Dies sind Erlaubnisgesetze der Vernunft, den Stand eines mit Ungerechtigkeit behafteten öffentlichen Rechts noch so lange beharren zu lassen, bis zur völligen Umwälzung alles entweder von selbst gereift oder durch friedliche Mittel der Reife nahe gebracht worden, weil doch irgendeine rechtliche, obzwar nur in geringem Grade rechtmäßige Verfassung besser ist als gar keine, welches letztere Schicksal (der Anarchie) eine übereilte Reform treffen würde.“ (KANT 1992, AA373 Anm.). 7 „Dies sind Erlaubnisgesetze der Vernunft, den Stand eines mit Ungerechtigkeit behafteten öffentlichen Rechts noch so lange beharren zu lassen, bis zur völligen Umwälzung alles entweder von selbst gereift oder durch friedliche Mittel der Reife nahe gebracht worden, weil doch irgendeine rechtliche, obzwar nur in geringem Grade rechtmäßige Verfassung besser ist als gar keine, welches letztere Schicksal (der Anarchie) eine übereilte Reform treffen würde.“ (KANT 1992, AA 373, Anm.) 8 KANT 2009, AA 247. 3 4
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In einem an sich ungerechten Zustand erlaubt das Erlaubnisgesetz die Bemächtigung und Besitznahme von Gegenständen, indem es als „Gunst des Gesetzes“9, das auf einem gemeinsamen Willen a priori beruht, bereits den Naturzustand durch Grundlagen der Vernunft normiert und provisorischen Besitz legitimiert. In dieser Funktion wird die Möglichkeit des Erlaubnisgesetzes als Prinzip der Vernunft nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr zugestanden. Beide Lesarten stehen in einem gewissen Gegensatz zueinander, der offensichtlich wird, wenn man Vorarbeiten zur Friedensschrift berücksichtigt, in denen Kant das Erlaubnisgesetz, wie Klemme anbringt, als „Gesetz einer unberechtigten Besitz[nahme] dessen was einer Erwerbung fähig ist“ 10 begreift: Während dieser Auffassung zufolge Erlaubnisgesetze „Standortverwalter für Rechte“ 11 sind und Besitzrecht im Naturzustand so regulieren, dass zunächst unrechtmäßige Aneignungen rechtmäßig werden und den bürgerlichen Rechtszustand vorbereiten, so bezieht sich die erste Position dezidiert auf Unrechtszustände, die zwar nicht Völkermord oder andere „an-sich verwerfliche Handlungen“ 12 markieren, aber dennoch temporär an ungerechten Verhältnissen festhalten. Zwar ist auch hier das Erreichen eines bürgerlichen Rechtszustands zentral, dennoch werden per se ungerechte Handlungen wie der Erwerb von Staaten durch Schenkungen nicht zu rechtlich legitimen transformiert, sondern lediglich bedingt geduldet. Das Erlaubnisgesetz der Friedensschrift bezieht sich damit auf eine geduldete Staatspraxis, während in der Rechtslehre der durch das Erlaubnisgesetz legitimierte Gebrauch der subjektiven Freiheit eines Individuums im Vordergrund steht. Diese beiden Verwendungsweisen der Begriffe ‚Erlaubnis‘ und ‚Erlaubnisgesetz‘ werden auch in der vorliegenden Untersuchung thematisiert. Inhaltlicher Ausgangspunkt sind dabei jedoch primär die Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten, in denen Kant das Verhältnis von Erlaubnissen und dem bereits im obigen Zitat genannten Terminus der Verbindlichkeit ausführlich darlegt. Der Begriff der Verbindlichkeit, so die hier vertretene These, ermöglicht eine Analyse der Funktion von Erlaubnissen in Kants Spätphilosophie, die über das Recht hinaus bis in den Bereich der Individualmoral einen spezifischen Umgang mit den Prinzipien der reinen praktischen Vernunft markiert, der nicht nur die Situativität von Staaten unter geschichtlichen Bedingungen, sondern auch die empirische Konsistenz des Individuums berücksichtigt und es letztendlich zwischen der Freiheit der Moral und der Willkürfreiheit positioniert. Ebd., AA 270. Siehe dazu KLEMME 1992, XXVIII. 11 Ebd. Diesen Bezug des Erlaubnisgesetzes zur Artikulation rechtmäßiger Eigentumsansprüche im Naturzustand stellt auch Christoph Horn heraus. Vgl. dazu HORN 2014, 211. 12 KLEMME 1992, XXVIII. 9
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Die Funktion des Verbindlichkeitsbegriffes wird auch in der Auseinandersetzung mit zwei Auslegungen aus der Sekundärliteratur deutlich, die den Inhalt und die Bedeutung des Erlaubnisgesetzes in der kantischen Rechtsphilosophie unterschiedlich definieren. Reinhard Brandts Ansatz zufolge besteht das spezifische Bestimmungsmerkmal von Erlaubnisgesetzen in der Vermittlung von Gebot und Verbot: „Es wird etwas ‚an sich‘ Verbotenes provisorisch erlaubt und damit geboten, den Rechtsanspruch der Verhinderung nicht wirksam werden zu lassen.“ 13 Joachim Hruschka dagegen weist die Bezugnahme des Erlaubnisgesetzes auf Verbote zurück und versucht zu zeigen, dass das Erlaubnisgesetz auf moralisch neutrale Handlungen (adiaphora) bezogen ist. Beide Positionen sollen im vorliegenden Beitrag aufgegriffen werden. Dabei wird sich zeigen, dass der Begriff der Verbindlichkeit hier eine Klärung ermöglicht und die Theorie Brandts insgesamt als plausibler anzusehen ist. Zugleich erbringt der Terminus der Verbindlichkeit die Voraussetzung für eine Auslegung des Erlaubnisgesetzes, die sogar über die brandt’sche Interpretation hinausgeht: Denn auch wenn er in den Vorbegriffen zur Metaphysik der Sitten den Begriff der Erlaubnis durch den der Verbindlichkeit definiert, so weist Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre gleichwohl auf ein Verständnis des Erlaubnis-Begriffes hin, das gerade durch eine Einschränkung des Begriffes der Verbindlichkeit gegeben ist, wodurch wiederum Möglichkeiten einer stärkeren Integration von Aspekten der Neigung und des empirischen Kalküls, vor allem aber der Berücksichtigung historisch-situativer Bedingungen 14 in das kantische Denken entstehen: Über eine Analyse des Verbindlichkeitsbegriffes kommt es hier zu einer Freisetzung von Handlungen, die das Individuum von der Einhaltung von Vernunftstandards entlasten. Auch in der Auseinandersetzung mit dem Erlaubnisgesetz wird so ein Umgang mit den Prinzipien der praktischen Vernunft unter nichtidealen Bedingungen deutlich, wie sie, so die Bezeichnung Horns, kennzeichnend ist für Kants politische Philosophie als solche: Das Recht reguliert das Miteinander der Menschen als empirische Lebewesen, ist als Vernunftprinzip an den homo phaenomenon, nicht den homo noumenon, adressiert.15 Ich werde in einem ersten Teil zunächst die entsprechende Textgrundlage aus den Vorbegriffen zur Metaphysik der Sitten erläutern. In einem zweiten Schritt werde ich kurz auf die Positionen Hruschkas und Brandts eingehen, bevor ich abschließend zugunsten einer Auffassung argumentieren werde, die das Erlaubnisgesetz als vermittelndes Prinzip zwischen der Rechtsnorm der BRANDT 1995, 74. Siehe zum Bezug des Erlaubnisgesetzes auf Konflikt- und Ausnahmesituationen im Fall der Staatsgründung HORN 2014, 177f. 15 Siehe dazu HORN 2014, 40ff sowie zur Bedeutung des Erlaubnisgesetzes 177ff., 215ff. 13 14
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Vernunft und einem pragmatischeren Rechtsverständnis begreift. Die Diskussion des Erlaubnisgesetzes in der Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts wird dabei ebensowenig eine Rolle spielen wie eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur zu Kants Erlaubnisgesetz im Ganzen. Vielmehr wird der Ausgangspunkt ausschließlich in Kants eigener Systematik und später dezidiert in den Theorien Hruschkas und Brandts gesucht.
B. Das Erlaubnisgesetz in der Rechtslehre In den Vorbegriffen zur Metaphysik der Sitten hält Kant fest, dass die Begriffe der Verbindlichkeit, der Erlaubnis und der Pflicht „der Metaphysik der Sitten in ihren beiden Teilen“ 16 gemein seien. Hier wird deutlich, dass die Frage nach dem Verständnis von Erlaubnissen und letztendlich auch der Legitimität des Erlaubnisgesetzes nicht nur die Rechtsphilosophie betrifft, obwohl, worauf Brandt hinweist, Inhalt und Systematik des Erlaubnisgesetzes überwiegend in der Rechtsphilosophie, insbesondere im Naturrecht, abgehandelt werden.17 Die Vorbegriffe jedoch sind der Metaphysik der Sitten insgesamt – und damit auch der Tugendlehre – vorangestellt, jegliche Klärung von Begriffsgrundlagen bezieht sich auch auf diese. In den Vorbegriffen nun definiert Kant Verbindlichkeit analog zum Begriff der Pflicht als „Notwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft.“ 18 Dieser Zusammenhang von Verbindlichkeit und Kategorischem Imperativ wird in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten durch die Begriffe der Autonomie und der Nötigung durch das Vernunftgesetz erklärt. Verbindlichkeit, so Kant im zweiten Abschnitt der Grundlegung, bestehe in der „Abhängigkeit eines nicht schlechterdings guten Willens vom Prinzip der Autonomie (die moralische Nötigung).“19 Auch in der Kritik der praktischen Vernunft hält Kant fest: Für Menschen und alle erschaffenen vernünftigen Wesen ist die moralische Notwendigkeit Nötigung, d.i. Verbindlichkeit, und jede darauf gegründete Handlung als Pflicht, nicht aber als eine von uns selbst schon beliebte oder beliebt werden könnende Verfahrungsart vorzustellen.20
Autonomie, verstanden als die freiheitsgarantierende Nötigung des menschlichen Willens durch den Kategorischen Imperativ, wird damit zum zentralen Definitionsmerkmal von Verbindlichkeit, das, wie später gezeigt wird, auch die Funktionszusammenhänge verbindlichen Handelns bestimmt. KANT 2009, AA 222. BRANDT 1982, 246. 18 Ebd. 19 KANT 1999, AA 439. 20 KANT 2003, AA 145. 16 17
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Auch der Begriff der Erlaubnis ist an diese Definition von Verbindlichkeit und damit an das entsprechende Begriffsvokabular der Autonomie und der Willensnötigung gebunden. Das zeigt eine Passage aus den Vorbegriffen, die, da sie im weiteren Verlauf mehrfach thematisiert wird, gesondert hervorgehoben werden soll. (T1) Erlaubt (licitum) ist eine Handlung, die der Verbindlichkeit nicht entgegen ist; und diese Freiheit, die durch keinen entgegengesetzten Imperativ eingeschränkt wird, heißt die Befugnis (facultas moralis). Hieraus versteht sich von selbst, was unerlaubt (illicitum) sei.21
Weil sie der Verbindlichkeit nicht entgegengesetzt sind, erfüllen erlaubte Handlungen die Legitimitätsbedingungen des Vernunftgesetzes, sie stimmen mit dem kategorischen Imperativ überein bzw. dürfen ihm zumindest nicht widersprechen. Erlaubte Handlungen, so hält Kant auch in der Grundlegung fest, sind solche, die „mit der Autonomie des Willens zusammen bestehen können.“22 Zugleich wird über den Begriff der Befugnis ein Aktionsraum für die Handlungsfreiheit eröffnet, der nicht durch ein Verbotsgesetz der Vernunft reguliert wird und der die Reichweite autonomen Handelns markiert.23 Pflicht wiederum begreift Kant in den Vorbegriffen als „Materie der Verbindlichkeit“ und definiert sie weiter als diejenige Handlung, „zu der jemand KANT 2009, AA 222. KANT 1999, AA 439. 23 Auch in weiteren Passagen der Rechtslehre wird deutlich, dass für Kant die Begriffe der Freiheit, des Rechts und der Befugnis eng aneinander gebunden sind. Bereits in der Einleitung in die Rechtslehre heißt es an zentraler Stelle, dass das Recht mit der Befugnis zu zwingen verbunden sei (KANT 2009, AA 231); in einer Anmerkung der Friedensschrift hält Kant fest, dass die rechtliche Freiheit in der Befugnis bestehe, „keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können.“ (KANT 1992, AA 350 Anm.) Die Befugnis betrachtet damit nur solche Gesetze als legitim, die die rechtliche Freiheit des Individuums nicht einschränken und von dieser anerkannt wurden. Gleichzeitig ist mit der Zwangsfunktion des Rechts als Instrumentarium, das zum Zweck seiner Einhaltung mit der Androhung und Durchführung äußeren Sanktionen und Strafen operieren darf, die Befugnis verbunden, dies auch zu tun, ohne dass Strafe und Sanktion von einem Verbotsgesetz untersagt werden. Wie sehr die Begriffe der Befugnis und der Verbindlichkeit zusammenhängen, wird in einer Passage der Tugendlehre deutlich, in der Kant den Selbstmord untersagt. Dort heißt es: „Der Persönlichkeit kann der Mensch sich nicht entäußern, solange von Pflichten die Rede ist, folglich solange er lebt; und es ist ein Widerspruch, die Befugnis zu haben, sich aller Verbindlichkeit zu entziehen, d.i. frei so zu handeln, als ob es zu dieser Handlung gar keiner Befugnis bedürfte.“ (KANT 2008, AA 422) Eine Befugnis, so wird hier zunächst deutlich, ist nicht nur auf äußere Handlungen als rechtliche Befugnis denkbar; vielmehr gibt es auch eine moralische Befugnis, die das Verhältnis des Menschen zu sich selbst betrifft, so dass z.B. der Selbstentleibung keine Befugnis erteilt wird. Zudem kann die Befugnis zu einer Handlung nicht gegeben werden, wenn die entsprechende Handlung nicht verbindlich ist, also dem Vernunftgesetz widerspricht. 21 22
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verbunden ist.“ 24 Damit konkretisiert sich in der Pflicht der subjektive Zustand der Verbundenheit mit dem Kategorischen Imperativ: Während Verbindlichkeit eine Zustandsbeschreibung des notwendigen Gebundenseins an Vernunftgrundlagen und die entsprechende Nötigung durch das Vernunftgesetz markiert, so erklärt der Begriff der Pflicht, wozu eine Person verbunden ist, welche Handlungen konkret geboten oder verboten sind. Pflicht gründet damit, wie bereits in der oben genannten Stelle der Kritik der praktischen Vernunft deutlich wurde, in der Verbindlichkeit; und auch diese Verbindung von Verbindlichkeit, Nötigung und dem Ge- bzw. Verbot bestimmter Handlungen wird in den Vorbegriffen wieder thematisiert: Der kategorische Imperativ, indem er eine Verbindlichkeit in Ansehung gewisser Handlungen aussagt, ist ein moralisch-praktisches Gesetz. Weil aber Verbindlichkeit nicht bloß praktische Notwendigkeit (dergleichen ein Gesetz überhaupt aussagt), sondern auch Nötigung enthält, so ist der gedachte Imperativ entweder ein Gebot- oder Verbotgesetz […].25
Diese von T1 ausgehenden Textstellen bergen jedoch Schwierigkeiten bei einer genauen Definition des Erlaubnis-Begriffes: So ist z.B. nicht deutlich, ob eine erlaubte Handlung auch eine gebotene Handlung sein muss oder zumindest geboten werden kann – die gerade zitierte Textstelle legt dies nahe 26 – oder ob es möglich ist, eine erlaubte Handlung als analog zu einer gebotenen Handlung zu verstehen, ohne dass für sie ein eigenes Gebotsgesetz gilt; diese Möglichkeit aber müsste eingeräumt werden, falls Erlaubnisse als eigenständige Normierungsklasse neben Ge- und Verboten Bestand haben sollen. Jedoch würde auch in einem solchen Fall die erlaubte Handlung der Verbindlichkeit nicht widersprechen, denn sie ist ja nicht verboten; und Kants Verweis auf das Ausbleiben eines entgegengesetzten, die Handlung einschränkenden Imperativs in T1 legt eine solche Interpretation nahe. In einer Spezifizierung von T1, hier T2 genannt, gilt für Kant nun diesbezüglich, dass erlaubte Handlungen weder ge- noch verboten sind: (T2) Eine Handlung, die weder geboten noch verboten ist, ist bloß erlaubt, weil es in Ansehung ihrer gar kein die Freiheit (Befugnis) einschränkendes Gesetz und also auch keine Pflicht gibt. Eine solche Handlung heißt sittlich-gleichgültig (indifferens, adiaphoron, res merae facultatis).27
KANT 2009, AA 223. Ebd. 26 Wenn der der Verbindlichkeit entsprechende Imperativ ein Ge- oder Verbotsgesetz ist, mit T1 gleichzeitig gilt, dass erlaubt ist, was der Verbindlichkeit nicht entgegen ist, dann kann nur das verbindlich sein, was auch unter ein Gebotsgesetz der Vernunft fällt bzw. fallen kann. 27 Kant 2009, AA 223. Während oben eine erlaubte Handlung dadurch definiert wurde, dass sie der Verbindlichkeit nicht entgegen ist, so wird sie hier als eine moralisch neutrale Handlung bestimmt, die weder geboten noch verboten ist: Gerade dieser Aspekt bleibt in der erstgenannten Textstelle offen: Eine erlaubte Handlung kann hier zunächst auch eine 24 25
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Auch in Vorarbeiten zur Rechtslehre sowie in der Vorlesung Vigilantius zur Metaphysik der Sitten wird die Bezugnahme des Erlaubnisgesetzes auf adiaphora herausgestellt.28 Wie später bei Hruschka gezeigt werden wird, gibt dieses Verständnis von Erlaubnissen als sittlich gleichgültige Handlungen Anlass zu unterschiedlichen Interpretationen und ist auch textintern nicht einfach zu verorten. Denn während T1 lediglich festhält, dass erlaubte Handlungen der Verbindlichkeit nicht entgegengesetzt sind und die ausführende Freiheit des Akteurs nicht imperativisch eingeschränkt wird, er also befugt ist, Handlungen auszuführen, die dem Kategorischen Imperativ nicht widersprechen, so wird die erlaubte Handlung in T2 zusätzlich als bloß erlaubte, sittlich-neutrale Handlung bezeichnet, bei der nicht nur der Pflichtbegriff nicht angewendet werden kann, sondern die auch keinen moralischen Wert oder Unwert hat. Weil sie nicht durch eine Nötigung des Willens und den entsprechenden Einfluss des Kategorischen Imperativs bestimmt sind, haben erlaubte Handlungen keinen moralischen Wert und können nicht als moralisch ‚gute‘ Handlungen bezeichnet werden. Letztendlich verdeutlicht T2 auch, warum es problematisch ist, die Existenz eines Erlaubnisgesetzes überhaupt aufzuzeigen: Ist eine Handlung, wie es hier für Erlaubnisse ausgewiesen wird, weder geboten noch verboten, so kann der Begriff des Gesetzes an sich als objektiver praktischer Grundsatz, der eine allgemeine Bestimmung des Willens enthält, nicht ohne weiteres auf sie angewendet werden.29 Auch die situative Aussetzung eines Verbotes, wie sie in der Friedensschrift erlaubt ist, könnte nicht im Sinne eines Erlaubnisgesetzes eingefordert werden, denn durch die Aussetzung eines Verbotes wird das Verbot an sich nicht außer Kraft gesetzt und die erlaubte Handlung nicht zu einer indifferenten Handlung. Es ist und bleibt verboten, Staaten durch Kauf oder Schenkung zu erwerben, ebenso ist und bleibt es verboten, wenn ein Staat über ein stehendes Heer mit entsprechendem Bedrohungspotenzial verfügt. Die temporäre Erlaubnis ändert daran nichts. Welcher Status dem Erlaubnisgesetz als eigenständige Gesetzesklasse dann jedoch noch zugesprochen wird, ist zunächst unklar.
solche sein, die der Verbindlichkeit entspricht; in der unteren Textstelle wird dieser Aspekt ausgeschlossen. 28 Vgl. dazu BRANDT 2005, 71. 29 Siehe zu dieser Bestimmung des Gesetzesbegriffs KANT 2003, AA 35.
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C. Gebote, Verbote und bloß erlaubte Handlungen: Die Ansätze von Hruschka und Brandt Wie sind diese unterschiedlichen Ausführungen über erlaubte und bloß erlaubte Handlungen sowie über das Erlaubnisgesetz generell zu bewerten? Diese Frage wird auch in den Analysen Brandts und Hruschkas aufgegriffen, die im Folgenden in aller Kürze dargestellt werden sollen. Dabei soll herausgestellt werden, dass – obwohl er im Gegensatz zu Brandt die Ausgangslage in den Vorbegriffen ausführlicher berücksichtigt – Hruschkas Lesart des Erlaubnisgesetzes Probleme birgt, während sich Brandts Analysen insgesamt als anschlussfähiger erweisen. Warum Brandts Ansatz textintern plausibler ist, wird in einem letzten Schritt auch durch Verweis auf den Begriff der Verbindlichkeit verdeutlicht. I. Erlaubnisse als merely allowed actions Hruschkas komplexe Interpretation des Erlaubnisgesetzes setzt bei der Beobachtung an, dass Kant in der Rechtslehre ein Verständnis des Erlaubnisgesetzes entwickele, das den Erlaubnis-Begriff der Friedensschrift ablöse und den systematischen Eigenwert des Erlaubnisgesetzes überhaupt herausstelle. 30 Aus diesem Grund grenzt sich Hruschka dezidiert von solchen Positionen ab, die Kants Erlaubnisgesetz ausschließlich aus dem Kontext von Zum ewigen Frieden analysieren und die vom Gesetz erteilte Erlaubnis als bedingte Aussetzung von Verboten begreifen. Seine alterierende Interpretation beginnt bei T2 und basiert auf der Unterscheidung von erlaubten (allowed) und bloß erlaubten (merely allowed), moralisch neutralen, Handlungen. 31 Hruschka betont, dass die erlaubten Handlungen zumindest der Möglichkeit nach auch gebotene Handlungen sein können, so dass sie in einem solchen Fall in die Kategorie der Gebots- und Verbotsgesetze fallen würden: HRUSCHKA 2004, 45-72, hier 47f. Einen ersten Verweis auf diesen Unterschied sieht Hruschka bei Theodor Ebert gegeben, der die bloß erlaubten Handlungen (merely allowed actions) als freigestellt im Sinne von weder geboten noch verboten bezeichnet. Siehe dazu EBERT 1976, 570-583, hier 572. Als Kriterium für erlaubte Handlungen gilt Ebert die Verallgemeinerungsfähigkeit ihrer Maxime; entsprechend ist eine unerlaubte Handlung diejenige, deren Maxime nicht verallgemeinerungsfähig ist. Für freigestellte, sittlich-gleichgültige Handlungen gilt wie bei Hruschka, dass weder die Handlung selbst noch ihr Gegenteil verboten ist; ein Gebotsoder Verbotsgesetz findet also keine Anwendung (ebd., 578). Dass Kant die Möglichkeit adiaphorer Handlungen eingesteht, sieht Ebert in der Einleitung zur Tugendlehre belegt, in der Kant die Auffassung, es gäbe keine sittlich-gleichgültigen Dinge, als phantastischtugendhaft bezeichnet (vgl. KANT 2008, AA 409). Dennoch ist die Frage der Möglichkeit der adiaphora, wie im weiteren Verlauf des vorliegenden Textes durch Verweis auf die Rechtslehre gezeigt wird, keinesfalls so eindeutig zu beantworten. 30 31
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[I]t could be that an allowed action fulfills the requirements of an applicable law, that is that the action is ‚required‘, or, in Kant’s terminology, is a ‚duty‘. The concept of the ‚allowed action‘ therefore leaves open whether the act – in addition to being not prohibited – is required or not.32
Zwar bleibe offen, ob eine erlaubte Handlung geboten sei oder nicht, jedoch sei es nicht unmöglich, dass sie geboten sein kann. Genau das, so Hruschka, sei bei bloß erlaubten Handlungen nicht der Fall: Sie sind per definitionem weder geboten noch verboten, sondern fallen unter die Kategorie der adiaphora. Aus diesem Grund kann für Hruschka das Erlaubnisgesetz nur auf die bloß erlaubten Handlungen bezogen sein: Weil sie weder durch ein Ge- oder Verbotsgesetz reguliert werden, stellt sich die Frage, ob für bloß erlaubte Handlungen ein eigener Gesetzesbegriff – der des Erlaubnisgesetzes – denkbar ist. Kant selbst spricht diesen Punkt an und greift die Frage nach der Möglichkeit eines Erlaubnisgesetzes unmittelbar nach der Definition bloß erlaubter Handlungen auf: Man kann fragen: Ob es dergleichen [sittlich-gleichgültige Handlungen, D.R.] gebe, und, wenn es solche gibt, ob dazu, daß es jemandem freistehe, etwas nach seinem Belieben zu tun, oder zu lassen, außer dem Gebotsgesetze (lex praeceptiva, lex mandati) und dem Verbotsgesetze (lex prohibitiva, lex vetiti) noch ein Erlaubnisgesetz (lex permissiva) erforderlich sei.33
Während das Erlaubnisgesetz in Zum ewigen Frieden den Verbotsgesetzen quasi zugeordnet ist und Erlaubnisse als eine bedingte Befreiung von einem Verbot zugestehen kann, ohne das Verbot außer Kraft zu setzen, so wird es hier als Gesetzesklasse mit einem eigenständigen Regulierungsbereich – den adiaphora, die nicht unter ein Gebot oder Verbot fallen – ins Spiel gebracht. Exemplarisch nennt Hruschka das Trinken von Milch als eine Handlung, die weder unter ein Gebots- noch unter ein Verbotsgesetz subsumiert werde, sondern in den Gegenstandsbereich des Erlaubnisgesetzes gehöre. Gehe es darum, das Leben einer ertrinkenden Person zu retten, indem die Retterin ein Boot aus einem Bootshaus entwende, so sei das nicht nur eine erlaubte, sondern möglicherweise sogar eine gebotene Handlung. Wenn eine Person jedoch beabsichtige, ein Glas Milch zu trinken, so gelte, dass „the actor needs no justification for drinking the milk and, assuming that drinking a glass of milk cannot save someone’s life or fulfill any other legal requirement, the actor also needs no justification for not drinking it.” 34 In Hruschkas Interpretation nun erhalten die bloß erlaubten Handlungen eine ganz spezifische Funktion, die ebenfalls über die Begriffe der Verbindlichkeit und des Erlaubnisgesetzes vermittelt wird. Diese Funktion zeige sich HRUSCHKA 2004, 49. KANT 2009, AA 223 34 HRUSCHKA 2004, 52. 32 33
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im Privatrecht, in der Deduktion des Begriffs des bloß-rechtlichen Besitzes eines äußeren Gegenstandes, sowie in zahlreichen anderen Auseinandersetzungen mit der Möglichkeit von Besitzerwerb im Naturzustand. So heißt es in der Deduktion: Also ist es eine Voraussetzung a priori der praktischen Vernunft, einen jeden Gegenstand meiner Willkür als objektiv-mögliches Mein oder Dein anzusehen und zu behandeln. Man kann dieses Postulat ein Erlaubnisgesetz (lex permissiva) der praktischen Vernunft nennen, was uns die Befugnis gibt, die wir aus bloßen Begriffen vom Rechte überhaupt nicht herausbringen könnten; nämlich allen anderen eine Verbindlichkeit aufzulegen, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände unserer Willkür zu enthalten, weil wir zuerst sie in unseren Besitz genommen haben. Die Vernunft will, daß dieses als Grundsatz gelte, und das zwar als praktische Vernunft, die sich durch dieses ihr Postulat a priori erweitert.35
Bei der provisorischen, durch das Erlaubnisgesetz legitimierten Aneignung von Gegenständen ist hier nun der Begriff der Befugnis als der Verbindlichkeit nicht widersprechender Freiheitsgebrauch zentral. Bereits vor der Existenz bindender Gesetze ermöglicht es die Befugnis, Andere dazu zu bringen – sie zu verbinden – die eigenen Besitztümer, die sich eine Person als Gegenstände ihrer Willkür angeeignet hat, unangetastet zu lassen. Hruschka weist hier (wie auch Kant in T1) auf das Verständnis der Befugnis als facultas moralis, als moralisches Vermögen 36 hin, dem Kant in seinem Rechtsverständnis einen zentralen Stellenwert zuspricht. So nimmt Kant in der Einleitung in die Rechtslehre die Unterteilung der Rechte in das Naturrecht und das positive Recht einerseits und in das Vermögen, Andere zu verpflichten andererseits vor.37 Über den Begriff der Befugnis als Aktionsraum menschlicher Freiheit wird auch hier deutlich, wie das Erlaubnisgesetz als Instrumentarium der Verbindlichkeit fungiert. Es sind nicht nur solche Handlungen erlaubt, die der Verbindlichkeit nicht widersprechen, sondern das Erlaubnisgesetz legitimiert den Gebrauch der freien Willkür als Möglichkeit der provisorischen Aneignung von Gegenständen, indem es Personen das Recht bzw. das Vermögen erteilt, andere zu verpflichten, ihnen eine Verbindlichkeit aufzuerlegen, damit sie sich des Gebrauchs bestimmter, bereits angeeigneter Gegenstände entsagen. Aufgrund dieses Vermögens, anderen Personen eine Verbindlichkeit aufzuerlegen, bezeichnet Hruschka das Erlaubnisgesetz auch als ein Rechtsinstrument mit einer „power conferring norm“, das es dem Rechteinhaber möglich mache, in Vorbereitung auf den bürgerlichen Zustand ein äußeres Mein und Dein zu stiften: „The law, we might say today, confers a legal power on ist beneficiary. We therefore can call the permissive law a ‚power conferring KANT 2009, AA 247 HRUSCHKA 2004, 57. 37 KANT 2009, AA 237. 35 36
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norm‘“38 Diese Funktion des Erlaubnisgesetzes greife nicht nur bei Besitzverhältnissen, sondern auch bei anderen Rechtsinstitutionen – Hruschka nennt „contractual claims, marriage, and parental power“,39 in denen das Erlaubnisgesetz ebenfalls dazu genutzt werde, Anderen (z.B. Kindern oder Ehepartnern) eine Verbindlichkeit aufzuerlegen. Dabei gilt für Hruschka jedoch nach wie vor, dass diese Handlungen als moralisch neutrale Handlungen zu verstehen sind. Zwar könne sich das moralische Vermögen auch auf gebotene, notwendige Handlungen beziehen; genau das sei im Fall des Erlaubnisgesetzes jedoch nicht gegeben: In the case of a requirement, the moral faculty is an implication of moral necessity which the law has imposed on me. I can (morally) commit the required act because it is morally necessary under the law. In contrast, in the case of a permissive law, the law creates a moral faculty that is not a consequence of moral necessity. 40
Weil sie nicht auf moralische Notwendigkeit zurückgehe, gelte, so Hruschka, für die aus bloß erlaubten Handlungen deduzierte Befugnis auch nicht die Kategorien des Geboten- oder Verbotenseins. Eine Person kann sich bestimmte Gegenstände aneignen, sie kann eine Ehe eingehen, Kinder bekommen, ein Elternteil werden usw. Niemand kann dazu genötigt werden, notwendigerweise diese Dinge zu tun (etwa in den Stand der Ehe einzutreten), deshalb ist ein Gebotsgesetz an dieser Stelle nicht möglich. Doch sobald eine Person derartige Handlungen vollzieht, gilt es, diese Verbindungen durch ein „natürliches Erlaubnisgesetz“ 41 zu regulieren. Damit verfüge, so Hruschka, die praktische Vernunft mit dem Erlaubnisgesetz über ein Prinzip, nicht notwendig gebotene Handlungen zu normieren: „Practical reason introduces […] legal institutions such as parental power and property ownership through ist laws of reason. And that is precisely what the ‚permissive law (lex permissiva) of practical reason‘ does for Kant.”42 II.2. Das Erlaubnisgesetz als Regulierungsinstrument von Geboten und Verboten Auch Brandts Überlegungen zur Systematik des Erlaubnisgesetzes beruhen auf den unterschiedlichen Ausgangspunkten der Friedensschrift und der Rechtslehre. Im Gegensatz zu Hruschka sieht Brandt jedoch einen gemeinsaHRUSCHKA 2004, 59. Erinnert sei hier auch an Kants Definition des Rechts als moralisches Vermögen, andere zu verpflichten, das dann wiederum in angeborene und erworbene Rechte unterteilt wird. Das einzige, angeborene Recht ist für Kant das Freiheitsrecht, das Individuen zu einem bestimmten Gebrauch ihrer Willkürfreiheit autorisiert, vgl. dazu KANT 1998, AA 237. 39 HRUSCHKA 2004, 64. 40 Ebd., 58. 41 KANT 2009, AA 276. 42 HRUSCHKA 2004, 56. Kursiv im Original. 38
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men Kern beider Konzepte und wendet sich gegen die Auslegung des Erlaubnisgesetzes als auf adiaphora bezogenes Prinzip. Das spezifische Bestimmungsmerkmal von Erlaubnisgesetzen bestehe vielmehr in der Vermittlung von Gebot und Verbot: Mit dem Erlaubnisgesetz „wird etwas ‚an sich‘ Verbotenes provisorisch erlaubt und damit geboten, den Rechtsanspruch der Verhinderung nicht wirksam werden zu lassen.“ 43 Diese Bezugnahme auf verbotene Handlungen sieht Brandt nicht nur in der Friedensschrift, sondern auch in der Rechtslehre gegeben, so dass die zwei hier durchgängig unterschiedenen Lesarten des Erlaubnisgesetzes letztendlich doch einen gemeinsamen Kern haben. Bereits in Zum ewigen Frieden verstehe Kant die Erlaubnis nicht nur dezidiert als temporäre Aussetzung eines Verbotes, sondern erlaube auch die „provisorische Weiterführung unrechtmäßig erworbenen Besitzes“ sowie die „Weiterführung historisch überkommener Institutionen, bis sich die Möglichkeit einer Änderung ergibt.“ 44 Im Fall der leges latae werden damit an sich verbotene Transaktionen – etwa der Erwerb eines Staates durch Kauf oder Tausch – bedingt erlaubt; und bereits hier zeigt sich eine Verbindung zwischen dem Erlaubnisgesetz und der Regelung von Aneignungs- und Besitzverhältnissen, die in der Rechtslehre stärker in den Vordergrund tritt. Zugleich kann auch die Erlaubnis des provisorischen Erwerbs von Besitz in der Rechtslehre in die Kategorie der Vermittlung von Ge- und Verboten bzw. in die Außerkraftsetzung eines Verbotes übersetzt werden. Denn die durch das Erlaubnisgesetz legitimierte Nötigung Anderer, sich des eigenen Besitzes zu enthalten, ist unter anderen Bedingungen im bürgerlichen Zustand untersagt; was hier verboten ist, ist jedoch im Naturzustand erlaubt. Im Naturzustand wird die Institution des Eigentums durch individuelle Handlungen der Nötigung Anderer geschützt, die, so Kaufmann, durchaus rechtliche Asymmetrien zur Folge haben.45 Gleichzeitig verweist Brandt darauf, dass das Erlaubnisgesetz als solches auf unvermeidliche, geschehene und bereits institutionalisierte Gewaltformen bezogen sei. Das sei auch der Grund, warum Kant in der Rechtslehre im Gegensatz zur Vorlesung Vigilantius das Notrecht nicht durch ein Erlaubnisgesetz reguliere. 46 Während Kant in der Vorlesung zwei mögliche Notrechtssituationen mit dem Erlaubnisgesetz in Verbindung bringt – zwei Schiffbrüchige, die um eine Planke kämpfen bzw. die unberechtigte und gewaltförmige Staatsgründung durch einen Heroen 47 – so werden diese Fälle in der Rechtslehre nicht im Zusammenhang des Erlaubnisgesetzes genannt. Sie sind im
BRANDT 2005, 74. BRANDT 1982, 246. 45 Vgl. dazu KAUFMANN 1996, 98. 46 Ebd., 244. 47 Ebd. 43 44
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Gegensatz etwa zur Institution des Eigentums oder der überkommenen Entstehung von Staaten nicht auf tradierte Gewaltförmigkeit zurückführbar: Das Erlaubnisgesetz stiftet einen Rechtsmodus der Duldung von unvermeidlichen, schon geschehenen, institutionell verfestigten Gewaltformen. Diese Dimension fehlt im Fall des Schiffbruchs, und hierin liegt der Grund der Ausklammerung des Notrechts aus dem Komplex des Erlaubnisgesetzes. 48
In der Rechtslehre wird auch deutlich, warum Brandt es über das Erlaubnisgesetz als geboten ansieht, den Rechtsanspruch einer Person zur Verhinderung eines gegen ihn ausgeübten Eingriffes nicht wirksam werden zu lassen. In bürgerlich-gesicherten peremptorischen Verhältnissen ist es einer Person untersagt, sich Gegenstände der Willkür ohne Rücksicht auf andere anzueignen; überhaupt stellen sich die mit einer ersten Inbesitznahme verbundenen Fragen und Probleme hier nicht, da sie bereits im Naturzustand provisorisch geklärt wurden. Was jedoch im bürgerlich-zivilen Zustand verboten ist – die unmittelbare Nötigung Anderer zum Schutz des eigenen Hab und Gut und sogar des eigenen Selbst – ist, wie gerade aufgezeigt, im Naturzustand bzw. im Naturrecht erlaubt. Mit dieser Erlaubnis wiederum ist die Untersagung solcher Rechtsansprüche verbunden, die eine Person gegen die ihr gegenüber verübte Nötigung einbringen mag. Ein Einspruch gegen die ursprüngliche Aneignung und Verteidigung von Besitzständen ist nicht möglich, weil die ursprüngliche Aneignung den Übergang in den bürgerlichen Rechtszustand vorbereitet und der Realisierung eines Vernunftziels dient, in dem Recht allererst gesichert werden kann. Weil nun das Erlaubnisgesetz diese bedingte Außerkraftsetzung von Verboten reguliert, kann es nicht auf adiaphora ausgerichtet sein: Auch wenn toleriert wird, dass eine Staatsgründung auf Kauf oder Tausch zurückgeht, so macht die Außerkraftsetzung des Verbots, Staaten durch Tauschaktionen zu erwerben, diesen Erwerb nicht zu einer sittlich neutralen oder gar gebotenen Handlung, die die Legitimitätsbedingungen der Vernunft erfüllt. Gleiches gilt für den weiteren Gegenstandsbereich der leges latae und für die ursprüngliche individuelle Aneignung von Besitz in der Rechtslehre. Das Erlaubnisgesetz reguliert Verbote bzw. dient der Vermittlung der Kategorien von Ge- und Verboten.
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D. Erlaubnisgesetz, Verbindlichkeit und die „Gefahr der Verlassung des Vernunftgesetzes“ Bei einem nochmaligen Blick auf die Textlage in den Vorbegriffen zur Metaphysik der Sitten zeigt sich, dass diese Interpretation Brandts insgesamt schlüssiger ist als diejenige Hruschkas. Denn im Anschluss an T2 hält Kant in einer bereits erwähnten Passage selbst fest, dass die Befugnis, die vom Erlaubnisgesetz erteilt wird, sich nicht auf sittlich gleichgültige Handlungen beziehen kann: Man kann fragen: Ob es dergleichen [sittlich-gleichgültige Handlungen, D.R.] gebe, und, wenn es solche gibt, ob dazu, daß es jemandem freistehe, etwas nach seinem Belieben zu tun, oder zu lassen, außer dem Gebotsgesetze (lex praeceptiva, lex mandati) und dem Verbotsgesetze (lex prohibitiva, lex vetiti) noch ein Erlaubnisgesetz (lex permissiva) erforderlich sei. Wenn dieses ist, so würde die Befugnis nicht allemal eine gleichgültige Handlung (adiaphoron) betreffen; denn zu einer solchen, wenn man sie nach sittlichen Gesetzen betrachtet, würde kein besonderes Gesetz erfordert werden. 49
Falls es neben Ge- und Verbotsgesetze eine eigene Klasse der Erlaubnisgesetze gäbe – die Frage der Existenz des Erlaubnisgesetzes wird auch hier umgangen – dann, so die Schlussfolgerung Kants, könne sich das Erlaubnisgesetz nicht auf adiaphora beziehen, die als solche keiner Gesetzesregulierung unterstünden. Weil sie auf einen Grundsatz der Vernunft zurückgeht, ist auch die Befugnis keinesfalls moralisch neutral – die lateinische Bezeichnung facultats moralis deutet dies bereits an. Um den Übergang vom Naturzustand in den bürgerlichen Zustand zu regulieren, gebietet die Vernunft die Aneignung von Gegenständen im Naturzustand und verfügt mit dieser Aneignung auch die mit dem Begriff der Verbindlichkeit gegebene Nötigung anderer Personen, sich dieses Gegenstandes zu enthalten. Ebenso legitimiert das Erlaubnisgesetz das bedingte Festhalten an eigentlich verbotenen Rechtsinstitutionen im Naturrecht. Brandt erkennt nicht nur diesen Bezug des Erlaubnisgesetzes auf eigentlich verbotene Handlungen, sondern sieht in den Vorbegriffen auch zwei unterschiedliche Konzeptionen von Befugnissen angelegt. In einer Analyse der Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten hält er fest: Die Befugnis kann sich also einmal auf sittlich gleichgültige Handlungen beziehen, zum anderen jedoch auf Handlungen, die nicht im adiaphoron-Bereich liegen. Zur Ermöglichung dieser letzteren bedarf es eines besonderen Gesetzes, des Erlaubnisgesetzes. Dies kann nur deswegen der Fall sein, weil sie in bestimmter Hinsicht verboten sind, denn als nicht sittlich-gleichgültig müssen sie geboten oder verboten sein; sind sie geboten, bedarf es keiner Erlaubnis, also können sie nur in bestimmter Hinsicht verboten sein.50
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Dementsprechend wäre das Trinken von Milch eine auf sittlich gleichgültige Handlungen bezogene Befugnis (wobei sich allerdings die Frage stellt, warum man dazu überhaupt befugt werden muss bzw. befugt werden kann), während alle anderen von Hruschka aufgezeigten Funktionen, insbesondere die des Erlaubnisgesetzes als ‚power conferring norm‘ es dezidiert nicht sind, Hruschkas Auslegung der Befugnis also nicht zutrifft: Der Begriff der Erlaubnis als auch der des Erlaubnisgesetzes können nicht – und das zeigt Kant darüber hinaus in einer Anmerkung in der Religionsschrift – auf die ‚merely allowed actions‘, auf adiaphora, angewendet werden. 51 Dieser Bezug des Erlaubnisgesetzes auf sittlich nicht neutrale Handlungen wird auch durch den Begriff der Verbindlichkeit gestützt. Denn wenn Kant festhält, dass das Erlaubnisgesetz eine Person dazu ermächtigt, anderen eine Verbindlichkeit aufzulegen und sie zu bestimmten Handlungen und Unterlassungen zu nötigen, so kann der Ausgangspunkt für diese Befugnis nicht moralisch neutral sein, da sich ansonsten die dezidiert nicht neutrale Handlung der Nötigung bzw. des Auflegens einer Verbindlichkeit nicht legitimieren ließe. Wenn aber Kant selbst unmittelbar im Anschluss an T2 darauf hinweist, dass die Befugnis sich nicht auf adiaphora bezieht, dann ist letztendlich auch Hruschkas Unterscheidung zwischen erlaubten, gebotenen und bloß erlaubten, neutralen Handlungen hinfällig. 52 In den Vordergrund tritt damit wieder die brandt’sche Auslegung des Erlaubnisgesetzes als Vermittlungsinstrument zwischen Ge- und Verboten, die auch die beiden unterschiedlichen Lesarten des Erlaubnisgesetzes verbindet. Wie auch der Begriff der Verbindlichkeit erweist sich hier der Begriff des Erlaubnisgesetzes als „normlogisch sekundär“:53 Soll das Verhältnis von Gebots- und Verbotsgesetzen durch das Erlaubnisgesetz reguliert werden, so ist, wie Kersting anführt, die Gültigkeit eines entsprechenden Verbotsgesetzes vorausgesetzt; 54 und es ist dieser Status des Erlaubnisgesetzes als einschränkende Bedingung eines Verbotes, die dessen Möglichkeit als eigenständige Gesetzesklasse problematisch macht. „Eine moralisch-gleichgültige Handlung (adiaphoron morale) würde eine bloß aus Naturgesetzen erfolgende Handlung sein, die also aufs sittliche Gesetz, als Gesetz der Freiheit, in gar keiner Beziehung steht; indem sie kein Faktum ist und in Ansehung ihrer weder Gebot, noch Verbot, noch auch Erlaubnis (gesetzliche Befugnis) statt findet, oder nötig ist.“ Vgl. KANT 2003a, B10 Anm. Auch hier wird deutlich, dass die von der Erlaubnis bzw. dem Erlaubnisgesetz erteilte Befugnis nicht moralisch neutral ist. 52 In eine ähnliche Richtung geht auch Kaufmann, wenn er in seiner treffenden Würdigung des Ansatzes von Hruschka anzweifelt, ob die Unterscheidung zwischen erlaubten und bloß erlaubten Handlungen systematisch von Relevanz ist: „Nicht sicher scheint mir auch, dass die in diesem Kontext relevante Version des Erlaubten notwendigerweise das bloß Erlaubte ist. Zudem bleibt die Frage, warum Kant, wohl kaum unüberlegt, für beide Zusammenhänge das selbe Wort verwendet.“ KAUFMANN 2005, 195-219, hier 198. 53 KERSTING 2007, 195. 54 Ebd. 51
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Weil es, wie Kant in der Friedensschrift selbst sagt,55 in dieser Weise fungiert, kann das Erlaubnisgesetz nicht als eigenständiges Gesetz neben Geboten und Verboten bestehen. Als untergeordnetes Reglement jedoch wird seine Möglichkeit von Kant dezidiert zugestanden und sogar, wie im Fall der Aneignung von Besitz im Naturrecht zur Vorbereitung des bürgerlichen Zustandes, eingefordert. Dass Kants Theorie letztendlich jedoch auch Brandts Analyse der Bedeutung des Erlaubnisgesetzes in der Rechtsphilosophie übersteigt, zeigt sich in einem Verweis in den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre. Nachdem in der Einleitung der Tugendlehre analog zum Pflichtbegriff die Unterscheidung in enge und weite Verbindlichkeiten getroffen wurde, 56 findet sich in den kasuistischen Fragen zu §7 eine der wenigen Textstellen, in denen Kant den Begriff des Erlaubnisgesetzes außerhalb der Rechtsphilosophie aufgreift. Ausgangspunkt dieser durchaus problematischen 57 Passage ist die Frage, ob ‚die Beiwohnung der Geschlechter‘ auch dann erlaubt sei, wenn sie nicht im Sinne der Fortpflanzung geschieht, etwa im Fall von Schwangerschaft oder Sterilität. Dazu hält Kant fest: [G]ibt es hier ein Erlaubnisgesetz der moralisch-praktischen Vernunft, welches in der Kollision ihrer Bestimmungsgründe etwas, an sich zwar Unerlaubtes, doch zur Verhütung 55 So hält Kant fest, dass das „Verbotsgesetz für sich allein dasteht“ und die Erlaubnis „als einschränkende Bedingung […] in jenes Gesetz mit hineingebracht […] wird.“ Vgl. KANT 1992, AA 348 Anm. 56 KANT 2008, AA 390. Weite Pflichten (Tugendpflichten) versteht Kant hier im Gegensatz zu den engen Rechtspflichten als Pflichten, bei denen eine „Einschränkung einer Pflichtmaxime durch eine andere (z.B. die allgemeine Nächstenliebe durch die Elternliebe“ gegeben ist (ebd.). Weite Verbindlichkeiten sind solche, die bei der Befolgung bzw. der Erfüllung einer Pflicht einen Spielraum der freien Willkür überlassen, so dass nicht bestimmt angegeben werden könne, „wie und wieviel durch die Handlung […] gewirkt werden solle“ (ebd.), ob es also gilt, gemäß der Eltern- oder gemäß der Nächstenliebe zu handeln. Je weiter eine Pflicht, desto unvollkommener sei die Verbindlichkeit des Menschen zur Handlung; im Umkehrschluss bedeutet das, dass bei den engen Rechtspflichten mit starker Verbindlichkeit eine klare Handlungsoption gegeben ist. Je näher sich eine Person in der Befolgung weiter Pflichten an die Erfüllung einer engen Rechtspflicht bringe, desto vollkommener, so Kant, sei seine Tugendhaltung. 57 Diese Stelle ist problematisch, weil konsequentialistische Elemente in die Argumentation einfließen. Das Erlaubnisgesetz reagiert hier auf eine Kollision der Bestimmungsgründe – ein bestimmter Gebrauch der Geschlechtseigenschaften (Beiwohnung der Geschlechter unabhängig von Fortpflanzungszwecken) ist verboten, genauso oder noch stärker verboten sind aber noch größere Übertretungen, z.B. die Beiwohnung der Geschlechter außerhalb der Ehe; und die Gefahr dieser noch größeren Übertretungen lassen die Frage nach der Möglichkeit des Erlaubnisgesetzes aufkommen. Auch bei den leges latae in der Friedensschrift wird die Erlaubnis des Aufschubs ihrer Erfüllung durch die Umstände gerechtfertigt, siehe KANT 1992, AA 347 Anm. Diese Berücksichtigung empirischer Zustände mag dazu beitragen, dass Kant die Frage der Möglichkeit von Erlaubnisgesetzen zum Teil offenhält.
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einer noch größeren Übertretung (gleichsam nachsichtlich) erlaubt macht? – Von wo an kann man die Einschränkung einer weiten Verbindlichkeit zum Purismus (einer Pedanterei in Ansehung der Pflichtbeobachtung, was die Weite derselben betrifft) zählen und den tierischen Neigungen, mit Gefahr der Verlassung des Vernunftgesetzes, einen Spielraum verstatten? 58
Auch wenn es hier dezidiert um Tugendpflichten geht, so lassen sich strukturelle Ähnlichkeiten zur Rechtsphilosophie erkennen, die jedoch radikaler ausfallen als in der Friedensschrift oder der Rechtslehre. Im Vordergrund steht hier ebenfalls die Beziehung des Erlaubnisgesetzes auf ein Verbot. Während in der Rechtsphilosophie jedoch mit dem Erlaubnisgesetz Verbote ausgesetzt werden, um das positive Ziel der Etablierung eines Vernunftzustandes zu erreichen, so geht es Kant hier um das negative Ziel der Vermeidung einer noch größeren Verletzung der Vernunftnorm, als sie durch das Aussetzen des Verbotes droht. Die mit dem Erlaubnisgesetz erteilte Einschränkung einer weiten Verbindlichkeit wird in einem Möglichkeitsbereich verortet, der sogar mit der „Gefahr der Verlassung des Vernunftgesetzes“ selbst kalkulieren muss. Zwar ist die Textlage hier anders als noch in der Einleitung zur Tugendlehre, in der Kant betont, dass eine weite Pflicht „nicht eine Erlaubnis zu Ausnahmen von der Maxime der Handlungen“ 59 beinhalte. Weil Kant in den kasuistischen Fragen aber das Problem aufwirft, ob das Erlaubnisgesetz unerlaubte, den tierischen Neigungen des Menschen ein Spielraum verschafft werden kann und dies zumindest nicht dezidiert ausschließt, wird der von Horn hervorgehobene Bezug des Erlaubnisgesetzes auf den homo phaenomenon besonders deutlich. Systematische Parallelen zu dieser Stelle finden sich auch in der Rechtsphilosophie. So versteht Kant in der Friedensschrift den zwischenstaatlichen Friedensbund als negatives Surrogat des bürgerlichen Gesellschaftsbundes durchaus als Einrichtung, die Feindseligkeiten aufhalten soll, die jedoch auch an der Souveränität der Staaten festhält und mit der beständigen Gefahr eines Kriegsausbruchs rechnen muss. 60 Diese Berücksichtigung politischer Situationsbedingungen,61 wie sie in der Hervorhebung staatlicher Souveränität deutlich wird,62 finden sich nun auch in der Auseinandersetzung mit dem Erlaubnisgesetz. Vor allem im Recht, aber auch über das Recht hinaus kalkuliert das KANT 2008, AA 426. Ebd., AA 390. 60 KANT 1992, AA 357. 61 Dass Kant die politischen Umstände seiner Zeit mit bedenkt, wird nicht nur in den Verweisen auf das Revolutionsgeschehen in Frankreich deutlich, sondern auch in dem konkreten Verweis auf die Versammlung der Generalstaaten in Den Haag, mit der der Friedensbund als negatives Surrogat des bürgerlichen Gesellschaftsbundes verglichen wird. Vgl. KANT 1998, AA 350. 62 Siehe zu Kants Festhalten an traditionellen Souveränitätsvorstellungen HÖFFE 1995, 112 sowie CAVALLAR 1992, 212ff. 58 59
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Erlaubnisgesetz konkrete Handlungsumstände und versucht sie, wie in den leges latae deutlich wird, im Hinblick auf Vernunftprinzipien zu regulieren. Allerdings wird diese Kollision phaenomenaler und noumenaler Bedingungen nicht immer zugunsten letzterer aufgelöst. Weil die Souveränität der Einzelstaaten mitbedacht werden muss (die ihrerseits sowohl mit dem Freiheitsgesetz als auch durch politisch-pragmatische Umstände gerechtfertigt wird)63, kann der Friedensbund nur eine negative Entsprechung des bürgerlichen Gesellschaftsbundes sein. Weil ein Übergehen der animalischen Natur des Menschen größere Vernunftverstöße nach sich ziehen kann als der Versuch ihrer Berücksichtigung, der gleichwohl nach Zugeständnissen seitens der Vernunftnorm verlangt, fordert das Erlaubnisgesetz diese Zugeständnisse ein. Innerhalb der Systematik von Kants Praktischer Philosophie mögen diese Kalkulationen aufgrund ihrer konsequentialistischen Anleihen bedenklich sein und ggf. auch den Status des Erlaubnisgesetzes an sich schwächen. 64 Doch auch wenn die ontologische Frage der Möglichkeit des Erlaubnisgesetzes letztendlich nicht ganz geklärt wird, so erhält das Erlaubnisgesetz als Rechtsinstrument eine Vermittlungsfunktion zugewiesen, die auch situative Umstände mitbedenken muss.65 Dass dabei nicht nur auf konkrete politische Verhältnisse Rücksicht genommen wird, sondern auch ein Spielraum für die Auslebung individueller Neigungen bleibt, mit dem ein zu starres Beharren an Vernunftnormen gar als Pedanterei bezeichnet wird, wird in der Tugendlehre gezeigt.
63 Dabei gibt es sowohl vernunftrechtliche als auch pragmatische Rechtfertigungen für die staatliche Souveränität. Ausgehend von der Analogie zwischen Staaten und Individuen als moralischen Akteuren, wie sie zu Beginn des 2. Definitivartikels aufgestellt wird, ist beides möglich: Wenn Staaten als Einzelpersonen betrachtet werden sollen, muss auch für sie gelten, aus dem Naturzustand durch die Gründung eines bürgerlichen Gemeinwesens – dem Weltstaat – auszutreten. Dagegen jedoch steht die Freiheit des einzelnen Staates, die diesen bereits als moralische Entität kennzeichnen und die die Berücksichtigung seiner internen rechtlichen Regulation einfordern. Ein Universalstaat steht zudem unter Despotismusverdacht (vgl. Kant 1992, AA 367), so dass Kant unterschiedliche Gründe dafür nennt, warum das Völkerrecht an der Existenz souveräner Nationalstaaten festhält. 64 Siehe dazu oben Anm. 57. 65 In seinem Beitrag erwähnt Michael Städtler, dass auch das Verhältnis zwischen systematischen und historischen Bestimmungen des Verbindlichkeitsbegriffs bei Kant ungeklärt ist und hält fest: „Zwar werden systematische Bedingungen der vernünftigen Einheit mit historischen Bedingungen politischer Macht konfrontiert, aber ihr Zusammenhang wird nicht aufgeklärt. Das führt zu dem teleologisch abgestützten Versuch, irrationale historische Bedingungen durch Rationalisierung mit der Vernunft zu versöhnen.“ (159, im Beitrag von STÄDTLER in diesem Band). Entsprechendes lässt sich auch für das Erlaubnisgesetz festhalten. Auch hier versucht Kant durch das Erlaubnisgesetz eine Rationalisierung dessen, was nicht rational fassbar ist, z.B. einen unvernünftigen Gebrauch der Geschlechtseigenschaften.
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Warum ist „der Ursprung der obersten Gewalt […] für das Volk, das unter derselben steht, in praktischer Absicht unerforschlich“?1 Über systematische Gründe politisch-juridischer Verbindlichkeit bei Kant Michael Städtler
Prolegomena Das philosophische Selbstbewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft gründet in der selbstbestimmten Subjektivität. Es äußerst sich praktisch in der Forderung nach Autonomie des individuellen Subjekts, deren Verbindlichkeit in dessen formaler Selbstbestimmung gründet, in der formalen Reflexivität der theoretischen Vernunft, die darin sich als mit sich identische erweist und reklamiert, außerhalb ihrer keiner Geltungsgründe mehr zu bedürfen. Diese Reflexivität aber ist leer, gegenstandslos, wenn sie nicht durch etwas vermittelt wird, das sie nicht selbst ist und das sie, weil es zu ihr allo genos sein muss, auch nicht aus sich selbst hervorbringen kann. Es muss äußerlich gegeben sein, und es muss auch eine äußerliche Bestimmtheit gegenüber der Bestimmung durch die reflektierende Vernunft bewahren, wenn deren Reflexion nicht kollabieren soll. – Ist aber die Reflexivität der Vernunft essentiell bestimmt durch etwas, das ihr äußerlich ist und bleibt, so ist ihre Identität, deren Form die Reflexion sein sollte, durch eine prinzipiell nicht aufzuhebende Differenz bedingt; eine solche Identität ist keine. Die Vermittlung dieser Differenz soll über die Vorstellung einer fortschreitenden Annäherung von Subjekt und Objekt geleistet werden. Diese Annäherung wird gedacht als kontinuierlicher Fortschritt in der rationalen Erfassung und Gestaltung der gegenständlichen Bedingungen subjektiver Identität. Für vernunftbegabte Sinnenwesen stellt sich dies dar als Fortschritt in der Naturerkenntnis und Naturbeherrschung. Ihm korrespondiert im bürgerlichen Selbstverständnis ein sittlicher Fortschritt, denn Naturbeherrschung ist nur kooperativ zu organisieren und Kooperation setzt eine sittliche 1
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Organisation voraus; umgekehrt setzt Sittlichkeit ein Mindestmaß an Naturbeherrschung voraus. Fortschritte in Kultur, Zivilisation, Recht und Moral bestimmen daher gemeinsam und in Wechselwirkung das Programm der geschichtlichen Realisierung des Selbstbewusstseins der bürgerlichen Gesellschaft. – Die Erfahrung von Rückschlägen gegenüber diesen Fortschritten zerstört das Fortschrittsprogramm als solches nur dann nicht, wenn die Rückschläge sich in Termini des Fortschritts formulieren lassen, als bloß retardierende Akzidenzien einer sie tragenden substantiellen Kontinuität geschichtlicher Entwicklung. Daher ist das philosophische Selbstbewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft um ihres autonomen Verbindlichkeitsgrundes willen auf ein teleologisches Geschichtsverständnis verpflichtet. – Diese These soll im Folgenden am Beispiel Kants näher erläutert werden.
A. Verbindlichkeit und System I. Das neuzeitliche Problem der Verbindlichkeit Der Einsicht neuzeitlicher Erkenntnistheorie zufolge lässt Verbindliches sich nur dann als verbindlich denken, wenn dem Denken auch selbst Verbindlichkeit zukommt. Die Verbindlichkeit des Denkens wäre dann der Grund der Verbindlichkeit des als verbindlich Gedachten. Dass das Denken auf diese Weise sich selbst – und nicht etwa Gott – als Grund von Verbindlichkeit einsetzt, ist eine Konsequenz neuzeitlichen Denkens aus dem Zusammenbruch mittelalterlicher Ordnungsvorstellungen. 2 Die theoretische Einheit der Welt kann erst, nachdem sie nicht mehr selbstverständlich mit dem göttlichen ordo mundi gegeben ist, aus dem intellektuellen Vermögen des denkenden Subjekts selbst rekonstruiert werden. 3 Das gilt analog für die Verbindlichkeit praktischer Gesetze, die problematisch wird, sobald die Einheit von göttlichem Intellekt und göttlichem Willen aufgelöst wird. Der absolute Wille, der nicht mehr rational bedingt ist, wird zur absoluten Willkür, und die Verbindlichkeit seiner Anordnungen gründet nur mehr in seiner Macht. Wenn praktische Gesetze nicht mehr eindeutig in Gott legitimiert sind, aber auch nicht Resultate bloßer Machtkämpfe ohne dauerhafte Verbindlichkeit sein sollen, ist auch ihre Legitimation prinzipiell auf die formale Begründungsfähigkeit menschlichen Denkens verwiesen. Damit wird 2 Der Zusammenbruch mittelalterlicher Ordnungsvorstellungen geht seinerseits daraus hervor, dass die konsequente philosophische Durchführung dieser Vorstellungen in der Scholastik auf Probleme führt, die im Rahmen scholastischen Denkens nicht mehr durchführbar sind. Dieser umfassende Prozess, der außerdem in Wechselwirkung mit geschichtlichen Entwicklungen steht, kann hier nur erwähnt, aber nicht erörtert werden. Vgl. aber z.B. MENSCHING 1992. 3 Vgl. BULTHAUP 1996, 77–103.
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die Rekonstruktion theoretischer Verbindlichkeit in der Reflexivität des Subjekts zur vordringlichen Aufgabe, auch in praktischer Absicht. Für die Rekonstruktion eines Grundes von Verbindlichkeit in der Form der menschlichen Vernunft wird nun das Verhältnis dieser Form zu ihren Inhalten zum Problem: Zwar kann das Subjekt die formalen Bedingungen von Verbindlichkeit in der eigenen Reflexivität rekonstruieren, nicht aber kann es die Inhalte, um deren Verbindlichkeit es geht, aus diesen Formen selbst herleiten. Die Inhalte bleiben an die Erfahrung gebunden. Damit steht das Denken, das Verbindlichkeit neu begründen will, vor der Aufgabe, die Vereinbarkeit der formalen Bedingungen des Denkens mit seinen materiellen Inhalten so zu begründen, dass ihre Vermittlung in der Form verbindlicher, allgemeiner und notwendiger Urteile möglich ist. Die Probleme der dafür herangezogenen metaphysischen Hilfskonstruktionen von Gottesbeweisen oder prästabilierter Harmonie einerseits und empiristischer Begriffsbildungen andererseits werden systematisch erst mit Kants Vernunftkritik überwunden: Die Vernunft reflektiert aus der Erfahrung ihrer Leistungen, aus der gegebenen Wirklichkeit systematischer Naturerkenntnis heraus auf die formalen Bedingungen der Möglichkeit solcher Leistungen und bestimmt diese als den transzendentalen, nicht mehr transzendenten, Grund theoretischer Verbindlichkeit.4 Dieser theoretischen Begründung von Verbindlichkeit aus reiner Vernunft steht nun der eigentümliche Befund entgegen, dass Kant in der politischen Philosophie ausdrücklich auch unvernünftigen Normen Verbindlichkeit zuweisen möchte. Gesetze sollen unter Umständen auch dann zu befolgen sein, wenn sie von den Adressaten als unvernünftige, willkürliche Anordnungen zu durchschauen sind. 5 Im Gegensatz dazu hatten die Materialisten in der französischen Aufklärung aus der Kritik an theologischen Ordnungsvorstellungen eine Kritik an theologischen Herrschaftsbegründungen und an absoluter Herrschaft überhaupt abgeleitet und daraus eine revolutionäre Geschichtstheorie begründet, in der die menschliche Ordnung, in bewusster Abgrenzung gegen den sie zunächst bewegenden Egoismus, auf der Basis vernünftiger Erkenntnisse einzurichten sein sollte.6 Nun hält Kant durchaus an der aufklärerischen These von der Vernunft als Grundlage theoretischer wie praktischer Erkenntnisse fest, anscheinend jedoch ohne die revolutionäre Konsequenz der freien rationalen Gestaltbarkeit der Welt zu teilen. Im Gegenteil hat diese Gestaltbarkeit Grenzen an der Staatsgewalt wie am teleologischen Zug der Geschichte: Da der Übergang vom Egoismus zur vernünftigen Einigung nicht begründbar ist, wird der Egoismus als ungesellige Geselligkeit zum sich selbst letztlich überlistenden Ordnungsprinzip der gesamten Geschichte. Es ist zu zeigen, dass dies weder Vgl. BULTHAUP 1998, 147–166. Es gilt beispielsweise, „selbst den für unerträglich ausgegebenen Mißbrauch der obersten Gewalt dennoch zu ertragen“ (KANT 1907, 320). 6 So vor allem bei CONDORCET 1976. Vgl. MENSCHING 1971, bes. Kap. IV und VI. 4 5
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zufällige Abweichungen vom Vernunftprimat, noch populäre oder pragmatische Zugeständnisse sind, sondern dass es sich um eine Konsequenz aufklärerischen Denkens handelt, die sich aus einer Konsequenz innerhalb des Kantischen Denkens selbst ergibt: Das in der Aufklärung primäre Interesse an der Geschichte wird bei Kant bereits wieder erkenntnistheoretisch überformt; das praktische Interesse soll im Bewusstsein der systematischen Einheit aller menschlichen Vernunfterkenntnisse erst begründet werden. Diese theoretische Konsequenz gegenüber der Aufklärung stellt die Aufklärung jedoch praktisch still. Erkenntnistheoretisch ergibt sich diese Konsequenz im Anschluss an die Verbindlichkeitsbegründung der materialistischen Aufklärung im reinen Denken: Die praktische Philosophie ist im Zusammenhang mit ihren erkenntnistheoretischen Grundlagen zu sehen: Insofern die praktische Vernunft nur eine besondere Betätigungsweise der reinen Vernunft ist, gelten für sie auch deren formale Bedingungen: Kant fordert zur Kritik einer reinen praktischen Vernunft, daß, wenn sie vollendet sein soll, ihre Einheit mit der speculativen in einem gemeinschaftlichen Princip zugleich müsse dargestellt werden können, weil es doch am Ende nur eine und dieselbe Vernunft sein kann, die bloß in der Anwendung unterschieden sein muß. 7
Es ist die formale Einheit der Vernunft mit sich selbst, die unter der transzendentalen Einheit der Apperzeption stehende Einheit des Selbstbewusstseins, die ebenso wie für die Verbindlichkeit, d.h. die allgemeine und notwendige Gültigkeit theoretischer Erkenntnisse, auch für die Verbindlichkeit praktischer Gesetze unter dem kategorischen Imperativ garantiert. Dieser fordert ja nichts Anderes als die Form der Gesetzmäßigkeit von Maximen.8 Der logische Ort von Gesetzmäßigkeit, also allgemeiner und notwendiger Geltung, ist aber die reine Vernunft, und entsprechend resultiert der kategorische Imperativ aus der Zurückführung von Praxis auf reine Vernunft. Die Forderung der Gesetzmäßigkeit geht letztlich darauf, dass die Maxime des Handelns vom Handelnden gedacht werden kann, ohne dass dieser die vernünftige Einheit seines Selbstbewusstseins zerstört.9 KANT 1903, 391. Vgl. KANT 1908, § 6. Diese Gesetzmäßigkeit ist keineswegs die auf empirischem Wege vorzustellende komparative Verallgemeinerung von Maximen, sondern deren systematisch allgemeine Gesetzförmigkeit. Vgl. BRANDT 2010, 93ff. 9 Bei Fichte wird der Rechtszustand geradezu als transzendentale Bedingung von Selbstbewusstsein bestimmt. Vgl. FICHTE 1971, §§ 1–4, insbes. § 4. Fichte nimmt dabei ein kollektives oder interpersonales Moment von Selbstbewusstsein und Vernunft wieder auf, das Kant aufgegeben hatte: die Begründung von Verbindlichkeit aus der sprachlich vermittelten Öffentlichkeit vernünftigen Denkens, die letztlich auf dem moralischen Interesse der Denkenden beruht: „Erkenntnistheorie ist daher in der radikalen Aufklärung verknüpft mit einer Moralphilosophie in politischer Absicht […]. Nur wenn die Individuen sich gesellschaftlich über ihren Willen verständigen können, ihren ursprünglichen, naturwüchsigen Egoismus zu 7 8
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Problematisch bleibt indes die Möglichkeit objektiver Realität dessen, was von der Vernunft als verbindlich ausgewiesen wird. Dieser Frage gelten schon in der Kritik der reinen Vernunft der zweite Abschnitt der Deduktion B sowie der Schematismus und die Grundsätze. Hier verweist Kant bezeichnender Weise bereits auf die Funktion der Urteilskraft, 10 der er später eine eigene Kritik widmet. Auch das Transzendentale Ideal und in der Kritik der praktischen Vernunft die Postulate gelten der Frage nach der objektiven Realität der Vernunft, nach ihren Gegenständen. Immer in der Form des ‚Als ob‘ wird die Vorstellung einer vorgängigen teleologischen Ordnung der Natur als Bedingung der Möglichkeit objektiver Realität verbindlicher Urteile konstruiert, und die Geschichtsteleologie der politischen und geschichtsphilosophischen Aufsätze schließt sich hier an. Die in ihnen vertretenen Elemente eines politischen Pragmatismus11 sind, das zeigt auch Kants gleichzeitiges Beharren auf der strikt moralischen Position, 12 nicht Ausdruck eines populären Charakters dieser Schriften, sondern sie sind konsequenter Ausdruck des erkenntnistheoretischen Problems der objektiven Realität von Vernunft. II. Die Einheit des Rechts in der Einheit des Systems Wenn Kant ausdrücklich auch „im Fall der Übertretung der Konstitutionalgesetze“13 durch die Regierung oder gegenüber dem „für unerträglich ausgegebenen Mißbrauch der obersten Gewalt“ 14 durch den Gesetzgeber die Möglichkeit eines förmlichen Widerstandsrechts ausschließt, so geht es ihm keineswegs um die Unantastbarkeit einer rechtsbrüchigen Staatsgewalt, sondern im Gegenteil um die vom Rechtsbegriff her gedachte Einheit des Rechts. Von dieser her ergibt sich, nur scheinbar paradox, das Widerstandsverbot, weil Widerstand, erst recht, wenn er konstitutionell garantiert ist, nicht bloß gegen das Recht verstößt wie die inkompetent handelnde Staatsgewalt, sondern die Einheit des Rechts grundsätzlich zerstört. Damit steht Kant in einer staatsrechtlichen Tradition, die spätestens seit Bodin versucht, den staatsrechtlichen Dualismus ständerechtlicher Widerstandsbefugnisse um der Einheit des Rechts
reflektieren vermögen, sind intersubjektiv verbindliche Interessen möglich, die als bewußte Motive Erkenntnis leiten.“ MENSCHING 1971, 164f. 10 Die gesamte Erörterung von Schematismus und Grundsätzen steht unter dem Titel einer „transzendentalen Doktrin der Urteilskraft“. KANT 1990, B 176. 11 So z.B. in den pragmatischen Rechtfertigungen des Krieges. Vgl. KANT 1912a, 24. 12 Vgl. Kants Erörterungen zum politischen Moralisten und zum moralischen Politiker: KANT 1912b, 372. 13 KANT 1907, 319. 14 Ebd., 320.
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willen zu überwinden. 15 Der Grund dieser Einheit liegt für Kant in der Übereinstimmung der praktischen Vernunft mit sich selbst: Das Recht garantiert die Bedingungen, unter denen ein wenigstens äußerliches Reich der Zwecke, die allgemeine kollisionsfreie Koordination partikularer Zwecke, möglich wird. Insofern die Vernunft zwar Quelle des Rechts, aber nicht Grund seiner Geltung sein kann, bedarf das Recht der Positivität. Wird die Positivität des Rechts dualistisch gedacht, so ist die Einheit des Rechts und damit die Garantie der Vereinbarkeit der Partikularwillen im Prinzip in Frage gestellt. Paradoxerweise ist es gerade die Begründung des Rechts in der praktischen Vernunft, die eine subjektive moralische Instanz gegen das objektive staatlich geltende Recht ausschließt. Dieser Paradoxie liegen geschichtliche und erkenntnistheoretische Probleme zugrunde. Die Einheit des Rechts ist als Idee der Vernunft mit den nicht schon per se vernünftigen oder auch nur vernunftgemäßen empirischen Bedingungen von Recht konfrontiert. Die Realisierung des Rechts unter empirischen Bedingungen wird dann praktisch als Entwicklungsprozess in der Geschichte vorgestellt. Diese praktische Vorstellung ist erkenntnistheoretisch nur unter den beiden Bedingungen denkbar, dass erstens unter Naturbedingungen grundsätzlich menschliche Zwecke realisierbar sind, dass also Natur als zweckmäßig vorgestellt werden kann, und dass zweitens menschliche Geschichte in Übereinstimmung mit der anzunehmenden Zweckmäßigkeit der Naturbedingungen gedacht werden kann, dass also Geschichte als stetiger Fortschrittsprozess in der Rationalisierung der menschlichen Natur und der externen Naturbedingungen konstruierbar ist. Allein durch die Reflexion auf die Vernunft als Grund der Verbindlichkeit wird die Gegenständlichkeit der Inhalte des Denkens nämlich nicht aufgehoben, das Problem, dass die Vernunft die Inhalte nicht selbst setzt, nicht beseitigt. Der erste Satz der Einleitung in die Metaphysik der Sitten drückt dies aus: „Begehrungsvermögen ist das Vermögen, durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein.“ 16 Wenn das Begehrungsvermögen Ursache seiner Gegenstände wäre, gäbe es kein unerfülltes Begehren. Die prinzipielle Erfüllbarkeit muss Kant voraussetzen, wenn eine systematische Ordnung denkbar sein soll. Nur auf der Grundlage prinzipieller Erfüllbarkeit lässt sich eine systematische Rechtslehre aufbauen, deren terminus ad quem die vollständige Rechtsförmigkeit menschlicher Praxis ist. Die Voraussetzung prinzipieller Erfüllbarkeit wird mit der Erfahrung gegenwärtiger Unerfülltheit vermittelt durch die Vorstellung eines historischen Fortschrittsprozesses. Wenn dieser nicht wenigstens auf lange Sicht garantiert wäre, würde die Voraussetzung prinzipieller Erfüllbarkeit des Begehrungsvermögens auf-
15 Vgl. zur staatsrechtlichen Entwicklung insgesamt WOLZENDORFF 1916 und zu Bodin im Besonderen STÄDTLER 2011a, 374–389. 16 KANT 1907, 211.
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gehoben und mit ihr das System des Rechts. Die Verlässlichkeit von Geschichte wird deshalb bei Kant zu einer zentralen Bedingung der Verbindlichkeit von Recht, und umgekehrt bezieht der geltende Rechtszustand seine Verbindlichkeit aus seiner Position im geschichtlichen Fortschrittsprozess. Geordnete Rechtsverhältnisse müssen deshalb als Bedingung weiteren Fortschritts unbedingt bewahrt werden. Die Verbindlichkeit des Rechts bei Kant, und damit auch der Ausschluss des förmlichen Widerstandsrechts, gründen daher in einer allgemeinen Teleologie, die ihrerseits aus erkenntnistheoretischen Forderungen der reinen Vernunft an die Geschichte entspringt. Das ist im Folgenden zu zeigen.
B. Kants Begriff der Rechtsgeschichte I. Geschichte als Brechung des natürlichen Widerstands der Menschen Prima vista besteht die menschliche Geschichte aus einer Menge von Daten über menschliche Handlungen, die durch ihre Akteure selbst in keinen vernünftigen Zusammenhang gebracht werden. Die Verhältnisse der Menschen sind unvernünftig, sowohl synchron als diachron betrachtet. Die diachrone Reihe menschlicher Handlungen ist unvernünftig, insofern Geschichte von Rückschlägen und Unregelmäßigkeiten durchsetzt ist. Synchron sind die Verhältnisse der Menschen unvernünftig, insofern sie durch Gewalt und Streit bestimmt sind und so keine vernünftige Allgemeinheit oder Einheit aufweisen.17 Nun kann die Geschichte der Menschen einerseits keine bloße Naturgeschichte sein; da sie aber andererseits ihre Geschichte „nicht wie vernünftige Weltbürger nach einem verabredeten Plane“ 18 gestalten, lässt sich ihr Handeln ebensowenig nach vernünftigen Begriffen rekonstruieren. Daraus folgen begriffliche Schwierigkeiten, die sich über den geschichtlichen Zusammenhang hinaus geltend machen, denn „was hilfts, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im vernunftlosen Naturreiche zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen, wenn der Theil des großen Schauplatzes der obersten Weisheit, der von allem diesem den Zweck enthält, – die Geschichte des menschlichen Geschlechts – ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll“19. Die Irrationalität von Geschichte führt damit auf ein erkenntnistheoretisches Problem, denn die Menschen sind mit ihren Handlungen, sofern diese
Vgl. KANT 1912a, 17f. Ebd., 17. 19 Ebd., 30. Kant gibt für den moralischen Skandal in der Geschichte ein Modell mit der Anekdote über den Abgeordneten Robert Walpole, der die Käuflichkeit jedes Menschen für ein Faktum hält. Vgl. KANT 2003, B 38f. 17 18
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unter empirischen Bedingungen erfolgen, immer auch unter natürlichen Bedingungen handelnde Naturwesen.20 Stünden ihre Handlungen in gar keinem gesetzmäßigen Zusammenhang miteinander, so wäre die erkenntnistheoretische Vorstellung des kontinuierlichen Zusammenhangs der Erscheinungen in einem Naturganzen gestört: Alle Wahrnehmungen müssen unter der Regel „in mundo non datur hiatus, non datur saltus, non datur casus, non datur fatum“21 stehen. Die Erscheinungen des geschichtlichen Handelns scheinen nun wegen ihrer Widersprüchlichkeit und wegen ihrer Spontaneität dieser Forderung nach systematischer Ordnung aller Erscheinungen zu widerstehen. Erkenntnistheoretisch ergibt sich daraus ein Problem, das in positiver Absicht nur teleologisch zu lösen ist, weil der für verbindliche Erkenntnis vorauszusetzende Begriff der durchgängig kategorial bestimmten Totalität durch die Widersprüchlichkeit des Handelns zerstört würde: „[W]enn wir von jenem Grundsatze [der Teleologie] abgehen, so haben wir nicht mehr eine gesetzmäßige, sondern eine zwecklos spielende Natur“ 22 . Die erkenntnistheoretische Verlegenheit des Philosophen, der „bei Menschen und ihrem Spiele im großen gar keine vernünftige eigene Absicht voraussetzen kann“, führt deshalb zu der Überlegung, „ob er nicht eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken könne“ 23. Ließe sich nämlich annehmen, „daß die Natur selbst im Spiele der menschlichen Freiheit nicht ohne Plan und Endabsicht verfahre, […] so dürfte diese Idee uns doch zum Leitfaden dienen, ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen als ein System darzustellen“ 24, selbst wenn der Plan als solcher den Menschen verborgen bliebe. Die menschlichen Handlungen geraten somit nicht aus moralischer, sondern aus erkenntnistheoretischer Absicht unter den Systematisierungszwang: Gelänge es nicht, die menschlichen Handlungen sinnvoll als eine Zweckordnung zu identifizieren, so wäre auch die Naturteleologie nicht zu halten. Dies ist problematisch, weil die Handlungen das eine Mal als Naturbestandteile angesehen werden und das andere Mal als diffuse Zweckgebilde, also spezifisch menschliche Handlungen, Willensprodukte. Darin spiegelt sich die Problematik der Teleologie, die um eines begrifflichen Zusammenhangs der Natur willen ihr Zwecke imputiert, sie anthropomorphisiert. Dieser Anthropomorphismus ist, wie Kant selbst bemerkt, 25 so misslich wie notwendig für die Möglich-
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Vgl. KANT 1912a, 17. Vgl. KLEINGELD 1995, 16ff. KANT 1990, B 282. Die zentrale Bedeutung dieser Stelle für Kants Philosophie hebt auch Karl Heinz Haag hervor. Siehe dazu HAAG 1985, 80. 22 KANT 1912a, 18. 23 Ebd., 18. 24 Ebd., 29. 25 Vgl. KANT 1908, §61. 21
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keit verbindlicher Naturerkenntnis. Der philosophische Systemgedanke erzwingt nicht allein die Annahme eines Anthropomorphismus der Natur, sondern, mit diesem rückwirkend, auch einen Naturalismus des menschlichen Handelns.26 Ein System, das nicht auch Freiheit systematisch integriert, ist erkenntnistheoretisch als System nicht zu haben. Die Aufgabe der Geschichtsphilosophie findet einen Ansatzpunkt in dem Zusammenhang von individuellen Handlungen mit politischen Entwicklungen, die alle Menschen betreffen, so dass dasjenige, „was an einzelnen Subjekten verwickelt und regellos in die Augen fällt, an der ganzen Gattung doch als eine stetig fortgehende, obgleich langsame Entwickelung der ursprünglichen Anlagen derselben werde erkannt werden können“ 27. Die Handlungen, die im Einzelnen gegen die Natur der Handelnden – die Vernunft – gerichtet zu sein scheinen, könnten als naturkonform vorgestellt werden, wenn aus ihrem Zusammenhang ein zum teleologischen Naturzusammenhang passendes Resultat hervorginge; widersprechen die einzelnen Handlungen auch mittelbar der praktischen Vernunft, so wären sie doch vernunftkompatibel, wenn sie auf lange Sicht die Entfaltung praktischer Vernunft beförderten. 28 Wer ist aber das Subjekt dieses Prozesses? Ein transzendentes Gattungssubjekt nimmt Kant ebensowenig an wie eine unmittelbare Determination durch Gott. Es bleibt nur der rationale teleologische Zusammenhang selbst, der sich, weil er notwendig ist, als über das Arbiträre oder Chaotische mächtig erweisen muss. Dieser Zusammenhang erscheine als Plan der Natur. Dieser bleibe den Menschen unbekannt. Dennoch folgten sie ihm, ohne es zu merken, weil er in ihnen als ihre menschliche Natur verankert sei. Die Entfaltung des Plans der Natur durch die Entfaltung der menschlichen Natur stößt bei den Individuen an die Grenze der Sterblichkeit. Die geschichtliche Form des Naturplans ist deshalb die menschliche Gattungsgeschichte. Die Widersprüchlichkeit menschlicher Handlungen, die das erkenntnistheoretische Ausgangsproblem der Geschichtsphilosophie darstellte, wird nun in Gestalt des ‚Antagonismus‘ als Einheitsprinzip der Gattungsgeschichte erschlossen, „dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande
26 CAVALLAR 1992, 377ff., versucht, den Gegensatz von Natur und Freiheit in der Kantischen Geschichtsphilosophie mit Hilfe der Auflösung der Dritten Antinomie der reinen Vernunft zu vermitteln. Das kann nicht gelingen, weil die ‚Naturabsicht‘ nicht Natur als kausalen Zusammenhang der Erscheinungen bezeichnet, den Kant in der Dritten Antinomie behandelt, sondern Natur als teleologischen Zusammenhang. Menschliche Willensfreiheit kann mit natürlicher Kausalität zusammen bestehen, aber nicht mit einer übergeordneten Absichtsinstanz, gegen deren Anordnung die Willensakte bloß scheinbar solche sind. 27 KANT 1912a, 17. 28 Vgl. SCHNÄDELBACH 2007, 125f.: Kant denke „die Geschichte der Vernunft ebenso wie die allgemeine Geschichte teleologisch […], das heißt als Prozess der Entwicklung ursprünglicher Anlagen, mit dessen endgültigem Abschluss man rechnen kann“.
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zu bringen“29. Der Antagonismus eines Vergesellschaftungstriebes und eines Gesellschaftszerstörungstriebes in den einzelnen Menschen bewirke nämlich auf lange Sicht die gesetzmäßige Ordnung der Gesellschaft. So wird die Unordnung, Zerstörung von Ordnung, die den Skandal der Geschichte ausmachte, selbst zum Ordnungsprinzip erhoben. In diesem Zusammenhang ist Kants Formulierung zu sehen, derzufolge der Mensch „in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbst weiß, daß er seinerseits zum Widerstande gegen andere geneigt ist“30. Die Erwartung von allseitigem Widerstand und die eigene Neigung zu solchem sind Kennzeichen wilder Tiere, deren Verhältnis als bellum omnes contra omnium zu bezeichnen bereits eine anthropomorphistische Verharmlosung wäre. Die Widerstandsgelüste nun seien es, durch die der Mensch die Faulheit überwinde. Die Leidenschaften Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht trieben die Konkurrenz an, die zunächst zum gesellschaftlichen Grund des Wohlergehens der Einzelnen werde, die einander nicht leiden, aber voneinander auch nicht lassen könnten, weil sie sich im Beisammensein mit ihren unleidlichen Widersachern doch „mehr als Mensch“ 31 fühlten. Aus der erkenntnistheoretischen Notwendigkeit des teleologischen Naturganzen wurde auf den Sinn der menschlichen Unvernunft aus der Sicht einer höheren Vorsehung geschlossen. Die so begründete Unvernunft wird nun ihrerseits als Grund der Vernunftentwicklung selbst aufgefasst. In dieser Vernunft beweise sich das Ordnungspotential der antagonistischen Natur vom Resultat her. Der Begründungsgang dreht sich um den Begriff der intelligiblen Naturordnung. Die Ordnung des Handelns, die an sich in der teleologischen Natur der Menschen lag, soll für sich menschliche Ordnung werden und so die Lücke der Naturordnung zuverlässig schließen. Die Begründung der menschlichen Ordnung für sich, die erst mit der Moralisierung abgeschlossen wäre, beginne mit der „Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft“32. Nur in dieser sei die vollständige Entwicklung der menschlichen Anlagen gewährleistet, weil das bürgerliche Recht das Zerstörungspotential der antagonistischen Natur kanalisiere, indem es „die größte Freiheit, mithin einen durchgängigen Antagonismus ihrer Glieder und doch die genauste Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit hat“ 33. Der Begriff der Freiheit hat hier vor allem das Merkmal, den Antagonismus, das Widerstandsstre-
KANT 1912a, 20. Ebd., 21. 31 Ebd., 20. 32 Ebd., 22. 33 Ebd., 22. 29 30
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ben der Einzelnen, gewähren zu lassen; keineswegs ist diese Freiheit vernünftige Allgemeinheit, rationale Kooperation der Subjekte, denn Kooperation wird hier ausdrücklich erst durch den Zwang des Rechts zuverlässig bewirkt. Insofern das Widerstandsstreben ein Naturbedürfnis darstelle, ist dieser Freiheitsbegriff ganz pathologisch bestimmt. Die Brechung dieses Widerstands, der Naturgewalt, seine Ermäßigung auf ein sozialverträgliches Maß durch selbst „unwiderstehliche[] Gewalt“ 34, ein Verhältnis von explizit pathogenen Gewalten mithin, 35 soll, als triftige Konsequenz einer naturgeschichtlich angelegten Rechts- und Moralgeschichte, die „vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung, die höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung“ 36 darstellen. Insofern diese Ordnung eine Gewaltordnung ist, ist sie Herrschaft. Insofern die Menschen Natur sind, deren Gewalt gebrochen werden müsse, sei Herrschaft notwendig, denn „der Mensch ist ein Thier [und] […] mißbraucht gewiß seine Freiheit in Ansehung anderer Seinesgleichen“ 37. Das bleibt auch unter zivilisierten Bedingungen so: Selbst derjenige, der die Notwendigkeit rechtlicher Ordnung von Freiheit einsehe, wolle ebenso notwendig, und zwar „immer“38, sich selbst davon ausnehmen. Er wäre einzig dadurch dem Allgemeinen unterworfen, dass ein Herr seinen Willen bräche.39 II. Recht als Ordnung gebrochenen Widerstands Das höchste politische Gut40 ist Kant zufolge ein Friede, der nicht mehr in einen Kriegszustand zurückfallen kann, der ewige Friede. Denkbar sei er als internationaler Rechtszustand, in dem partikulare Privilegien und Willkürmaßnahmen durch allgemein erklärten Verzicht ausgeschlossen würden. Diesem Ziel seien souveräne Staaten vorausgesetzt, deren Vertreter eine solche Einigung verabreden könnten. Diese Staaten bedürften ihrerseits einer inneren Rechtsverfassung, die ebenso Privilegien und einseitige Privatwillkür verbindlich ausschließen müsse; nur Staaten, in denen das Mein und Dein der Bürger rechtlich garantiert sei, könnten als hinreichend stabil gelten. Damit ist dem Frieden eine rechtsgeschichtliche Entwicklung vorausgesetzt, deren terminus ad quem das internationale Öffentliche Recht ist; dessen terminus ab quo aber ist das Zivilrecht, insofern es grundsätzlich bürgerliche Staaten sind, deren Ebd. Kant verweist explizit auf Not, Bedürfnis und Neigung. 36 KANT 1912a, 22. 37 Ebd., 23. 38 Ebda. 39 Adorno hat diese Verbindung von Verteidigung der Freiheit als Bedingung gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit einerseits und Beschränkung der Freiheit als Quelle von Chaos als charakteristisch für das bürgerliche Denken bezeichnet. Vgl. ADORNO 2001, 269ff. 40 Vgl. KANT 1907, 355. 34 35
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Verhältnis als internationales Rechtsverhältnis zu denken sei. 41 Die angenommene innere Verbindlichkeit der bürgerlichen Verfassung, die in der Verbindlichkeit des Privatrechtsverkehrs gründet, ist es auch, die eine internationale Verbindlichkeit erzwingt, damit Rückfälle in vorbürgerliche Verhältnisse vermieden werden. Der Begriff des Rechtszustands als einer Ordnung, die die natürliche Unordnung widerständischer Wesen überwindet, begründet praktisch ein Recht, andere zu nötigen, in rechtliche Verhältnisse einzutreten. 42 Dem korrespondiert auf völkerrechtlicher Ebene zwar kein vergleichbares Recht, zum Beitritt in eine suprastaatliche Einheit zu zwingen, denn jeder Staat genügt als Rechtsordnung schon der Forderung des Rechts, aber dass Staaten ihre Nachbarn zu einer bürgerliche Rechtsordnung nötigen, muss als Recht um des systematischen Zusammenhangs von Staats-, Völker- und Weltbürgerrecht willen postuliert werden. 43 Soll nämlich aus dem Begriff des Staatsrechts der des Völkerrechts folgen und aus diesen beiden der des Weltbürgerrechts, so wird die bürgerliche Staatsverfassung zum Prinzip des Öffentlichen Rechts überhaupt. Ließe dieses Prinzip sich im internationalen Öffentlichen Recht nicht realisieren, dann bliebe dieses ein ens rationis. Damit bliebe aber auch das nationale Recht prekär.44 Kants staatsrechtlicher Position liegt durchaus die Forderung nach subjektiver Freiheit, Autonomie, zugrunde, die ihren staatsrechtlichen Ausdruck in der Volkssouveränität 45 finde, verbunden mit der pragmatischen Vorstellung, dass die rechtliche Koordination von Privatinteressen durch deren wechselseitige Beschränkung sinnvoll von allen für alle zu verantworten sei, weil sonst autokratische Privatinteressen überwiegen und als Privilegien manifestiert werden könnten. Unterstellt ist überhaupt die Existenz von Interessenkonflikten, die allein durch wechselseitige Beschränkung der Freiheit der Willkür koordiniert, aber keinesfalls durch vernünftige Gestaltung der Bedingungen der Freiheitsentfaltung aufgehoben werden könnten. Weil die Menschen der allgemeinen Gesetze, die sie als Vernunftwesen verlangen müssen, als Sinnenwesen 41 Daraus ergibt sich der provisorische Charakter des gegenwärtig geltenden Rechts: Erst wenn alle Ebenen des Rechts, privat, öffentlich und völkerrechtlich, nach dem Rechtsprinzip geordnet sind, herrscht peremtorisches Recht: „Bis dahin, so das ernüchternde – um nicht zu sagen: deprimierende – Ergebnis aller Deduktionen des Rechts aus dem Begriff, ist nicht allein alles äußere internationale oder Völkerrecht, sondern alles innere Recht, sei es Privatrecht, sei es öffentliches Recht bloß provisorisch“ (TUSCHLING 2012, 137–175, hier 163). Würde schließlich das Völkerrecht der Rechtsidee unterworfen, so würde seine vertragsrechtliche Gestalt durch die Form einer globalen Verfassung ersetzt: Weltbürgerrecht. Vgl. KANT 1912b, 349 und ders. 1912a, 17f. 42 Vgl. KANT 1907, § 15. 43 Vgl. ebd, § 60. 44 Vgl. ebd., § 43. 45 Vgl. ebd., § 46.
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nicht fähig sind, begründet der Verstand ein negatives Surrogat, das die Sinnenwesen verhindert, sich – wie es ihrer Natur entspräche – gegenseitig zugrunde zu richten. Indem Kant den Trieb, gegeneinander zu arbeiten, in Analogie zu einem Volk von Teufeln der menschlichen Natur unterstellt, fasst er die menschlichen Beziehungen zugleich in Analogie zur Ordnung der mechanischen Natur nach der Kategorie Kausalität; nicht Zwecke werden realisiert, sondern ein Naturtrieb ist die Ursache des Handelns. Diese Kausalität sei nicht aufzuheben, weil natürlich, aber durch ihre konsequente Berücksichtigung gewissermaßen zu überlisten: So ist es „nicht die moralische Besserung der Menschen, sondern nur der Mechanism der Natur, von dem die Aufgabe zu wissen verlangt, wie man ihn an Menschen benutzen könne, um den Widerstreit ihrer unfriedlichen Gesinnungen in einem Volk so zu richten, daß sie sich unter Zwangsgesetze zu begeben einander selbst nöthigen und so den Friedenszustand, in welchem Gesetze Kraft haben, herbeiführen müssen“[!]46 Innerhalb dieser nicht moralischen, sondern mechanischen Ordnung der Verbindlichkeit können nun Verfassung und Regierungsart differieren.47 Zwar sei die Republik die beste Verfassung, aber dies berührt nicht die Verbindlichkeit anderer bestehender Verfassungen. Um einen Übergang der vorrepublikanischen Verfassung zur republikanischen ohne Aufhebung des Rechtszustandes zu gewährleisten, sei er als Reform zu gestalten, indem innerhalb der vorrepublikanischen Verfassung deren Herrscher bereits republikanisch regierten. Weil nun in allen Übergangsformen der Verfassung das Recht bloß provisorisch ist, könne es nur durch die unwiderstehliche Macht des Staatsoberhauptes gesichert werden. Die Entwicklung des Rechtszustandes setzt demnach einen Übergangszustand voraus. Die Aufgabe von dessen Herrscher ist es, durch Privileg sein Privileg abzuschaffen.48 Dann aber wäre der Fortschritt in der Verfassung – als in herrscherlicher Willkür begründeter – nicht allein bloß zufällig, sondern sogar unwahrscheinlich, da er dem unmittelbaren Interesse der Herrschaft zuwiderliefe. III. Widerstand als Bedrohung rechtlicher Ordnung Nach Kant unterläge der Fortschritt im Recht hingegen gerade dann dem „blinden Zufall“ und würde unverbindlich, wenn er durch eine sich aufschwingende „subalterne Gewalt“ 49 im Volk bewirkt werden sollte. Deshalb stehe Beherrschten niemals ein Recht gegenüber der Herrschaft zu:
Vgl. KANT 1912b, 366. Vgl. zu dieser Unterscheidung auch BÖCKENFÖRDE 1991, 148. Historisch geht sie auf Bodin zurück, der sie sich jedenfalls selbst zuschreibt: „Hierauf ist noch keiner gekommen.“ (BODIN 1981, 337). 48 Vgl. KANT 1907, § 52. 49 Ebd., 372. 46 47
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Unbedingte Unterwerfung des Volkswillens (der an sich unvereinigt, mithin gesetzlos ist), unter einem souveränen (alle durch Ein Gesetz vereinigenden) Willen, ist That, die nur durch Bemächtigung der obersten Gewalt anheben kann, und so zuerst ein öffentliches Recht begründet.50
Kant formuliert dies nicht mit dem Anspruch einer historischen Beobachtung, sondern mit theoretischem Anspruch. Recht kann in der Wirklichkeit überhaupt nur durch einseitige Willkür, durch Bemächtigung – d.h. hier Unterwerfung des kollektiven Subjekts des Volkswillens – gesetzt werden. Demzufolge sei die „Idee einer Staatsverfassung überhaupt […] heilig“; empirisch sei „eine rechtliche Verfassung, im allgemeinen Sinn des Worts“ da, sobald ein Volk durch einen Herrscher unter Gesetze gebracht werde, und sie sei unwiderstehlich, „obgleich sie mit großen Mängeln und groben Fehlern behaftet sein […] mag“ 51. Offensichtlich umfasst diese Fehlertoleranz auch Bestimmungen der Verfassung, die gegen das Rechtsprinzip selbst verstoßen, wie die Bemächtigung der Freiheit der Willkür der Bevölkerung durch einseitigen Willkürakt. 52 Damit ist eine grundsätzliche Aporie bürgerlicher Rechtslehre benannt: Geschichtliche Gewalt muss, nach Lage der Dinge, als Bedingung von Recht gefasst werden, sie kann aber nicht als dessen Bestandteil gefasst werden, ohne den Rechtsbegriff selbst zu sprengen. Daher ist die bürgerliche Rechtsphilosophie seit ihren Anfängen mit der Rationalisierung des Übergangs vorbürgerlicher in bürgerliche Verhältnisse durch Naturzustandslehren und Gründungsmythen befasst. Spätestens nach der französischen Revolution ist die Rechtsphilosophie jedoch zusätzlich mit der Frage der Entwicklung innerhalb des schon rechtlichen Zustands konfrontiert. Kant nimmt hier die Möglichkeit an, aus den empirischen Verfassungen durch Reformen die vernunftgemäße Verfassung herausevolvieren zu können;53 dies wäre unmöglich, wenn bestehende Verfassungen, die den Begriff nicht erfüllen, auch schlicht falsch sein könnten. Dann nämlich wären sie nicht zu reformieren, sondern zu ersetzen.
Ebd. Auch hier steht Kant in der Tradition Bodins. Ebd. Robert Alexy erwägt, daß Kant mit diesem Gedanken des Schutzes ‚gesetzlichen Unrechts‘ durch das Recht womöglich „zeitbedingten obrigkeitsstaatlichen Vorstellungen unterlegen ist“. Vgl. ALEXY o.J., 194. Es ist aber zu zeigen, daß sich dies aus der antagonistischen Rechtskonstruktion Kants selbst ergibt. 52 Der Umstand, dass Kant auch ungesetzliche Akte der Staatsgewalt für unwiderstehlich erklärt, genügt zur Konstatierung des hier verhandelten Problems. Es muss nicht geklärt werden, ob Kant unter genau zu umgrenzenden Umständen ein Widerstandsrecht für möglich hält. Für Nachweise hierzu vgl. VON DER PFORDTEN 2009, 81, Fn. 1 und SCHMIDT 2011, 48, Fn. 79. Neuerlich auch KRÄFT 2011, vor allem 59–84 sowie STÄDTLER 2011b, bes. 130ff. 53 Vgl. SIEP 2010, 115–144. 50 51
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Schluss Rechtliche Verbindlichkeit entsteht bei Kant aus der Einheit der Vernunft, die sich in der Einheit des Rechts darstellt. Gleichwohl nötigt die Einheit des Rechts dazu, auch unvernünftig zu handeln. Der Grund dafür dürfte das bei Kant ungeklärte Verhältnis systematischer und historischer Bestimmungen im Begriff der Verbindlichkeit sein. Zwar werden systematische Bedingungen der vernünftigen Einheit mit historischen Bedingungen politischer Macht konfrontiert, aber ihr Zusammenhang wird nicht aufgeklärt. Das führt zu dem teleologisch abgestützten Versuch, irrationale historische Bedingungen durch Rationalisierung mit der Vernunft zu versöhnen. Es bedarf der Entdeckung der systematischen Funktion des Historischen in der wechselseitigen Bestimmung der Entwicklung von Vernunft und politischer Geschichte, um Kontingenz und Willkür in der Geschichte denken zu können, ohne die Möglichkeit eines historischen Fortschritts aufgeben zu müssen: Der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit kann kritisch gegen den Mangel an realer Freiheit gewendet werden.
Literatur ADORNO, THEODOR W.: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit. Frankfurt am Main 2001. ALEXY, ROBERT: Begriff und Geltung des Rechts. München o.J. BÖCKENFÖRDE, ERNST-WOLFGANG: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Frankfurt am Main 1991. BODIN, JEAN: Sechs Bücher über den Staat. München 1981. BRANDT, REINHARD: Immanuel Kant – Was bleibt? Hamburg 2010. BULTHAUP, PETER: „Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Naturerkenntnis“, in: Ders.: Das Gesetz der Befreiung. Lüneburg 1998, 147–166. –: „Die transzendentale Einheit der Apperzeption, das System des Wissens und der Begriff gesellschaftlicher Arbeit“, in: Ders.: Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften. Lüneburg 1996, 77–103. CAVALLAR, GEORG: Pax Kantiana. Wien 1992. CONDORCET: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes. Frankfurt am Main 1976. FICHTE, JOHANN GOTTLIEB: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werke, Band III, Berlin 1971. KANT, IMMANUEL: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Hrsg. v. Bettina Stangneth, Hamburg 2003. –: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. R. Schmidt, Hamburg 1990. –: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Kants gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band VIII, Berlin 1912a. –: Zum ewigen Frieden, in: Kants gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band VIII, Berlin 1912b.
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–: Kritik der praktischen Vernunft, in: Kants gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band V, Berlin 1908. –: Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, in: Kants gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band VI, Berlin 1907. –: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kants gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band IV, Berlin 1903. –: Kritik der Urteilskraft, in: Kants gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band V, Berlin 1908. HAAG, KARL HEINZ: Der Fortschritt in der Philosophie. Frankfurt am Main 1985 KLEINGELD, PAULINE: Fortschritt und Vernunft. Zur Geschichtsphilosophie Kants. Würzburg 1995. KRÄFT, DAVID: Apriorität und Positivität des Rechts nach Kant. Baden-Baden 2011. MENSCHING, GÜNTHER: Das Allgemeine und das Besondere. Der Ursprung des modernen Denkens im Mittelalter. Stuttgart 1992. –: Totalität und Autonomie. Untersuchungen zur philosophischen Gesellschaftstheorie des französischen Materialismus. Frankfurt am Main 1971. SCHMIDT, MANUEL: Legitime Gewalt in den Naturzuständen bei Kant. Göttingen 2011. SCHNÄDELBACH, HERBERT: Vernunft. Stuttgart 2007. SIEP, LUDWIG: „Das Recht der Revolution – Kant, Fichte und Hegel über 1789 und die Folgen“, in: Reinhard Gröschner (Hrsg.): Tage der Revolution – Feste der Nation. Tübingen 2010, 115–144. STÄDTLER, MICHAEL: „Widerstand, Souveränität und Säkularisierung bei Bodin – Brüche und Kontinuität des Herrschaftsdenkens im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit“, in: Gerhard Krieger (Hrsg.): Herausforderung durch Religion. Begegnungen der Philosophie mit Religionen in Mittelalter und Renaissance. Würzburg 2011a, 374–389. –: Kant und die Aporetik moderner Subjektivität. Zur Verschränkung historischer und systematischer Momente im Begriff der Selbstbestimmung. Berlin 2011b. TUSCHLING, BURKHARD: „‚Bloße‘ Idee und ‚unbezweifelte praktische Realität‘: Recht, Staat, Gerechtigkeit, Ewiger Friede bei Kant“, in: Dörflinger/ Kruck (Hrsg.): Worauf Vernunft hinaussieht. Kants regulative Ideen im Kontext von Teleologie und praktischer Philosophie. Hildesheim 2012, 137–175. VON DER PFORDTEN, DIETMAR: „Zum Recht auf Widerstand bei Kant“, in: Ders. (Hrsg.): Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant. Fünf Untersuchungen. Paderborn 2009, 81– 102. WOLZENDORFF, KURT: Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt. Zugleich ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des modernen Staatsgedankens. Breslau 1916.
Pluralisierung der Verbindlichkeitsdiskurse
Habsburger-Portraits als Kristallisationspunkte einer verbindlichen Politik Anfang des 17. Jahrhunderts Carolin Pecho Die Bilder der Macht des 16. und 17. Jahrhunderts sind mittlerweile musealisiert worden. Sie finden sich in Kunstmuseen oder als Inventar von Schlössern, zu denen sie vielleicht einmal gehörten. Als Reproduktionen zirkulieren sie in der digitalen Welt und verknüpfen sich visuell einprägsam mit der historischen Person.1 So wirken die inszenierten Darstellungen der höfischen Portraits in die heutige Vorstellung von Geschichte hinein und fungieren als scheinbar verbindliche Stützpunkte der Erinnerung. Im Depot des Kunsthistorischen Museums in Wien findet sich eine Serie von Bildern, die nur digital eingesehen werden können. Die Bilder sind zu Überresten der Zeugenschaft einer spezifischen Herrschaftssituation geworden. Denkt man diese Bilder in ihrem Entstehungszusammenhang, so verdeutlicht sich ihre Funktion als Versuch, eine verbindliche politische Strategie zu stiften; sie werden somit zu Quellen dieses Versuches. Wie funktionierte das vorherrschende politische Konzept und welche Strategien gab es, die geplante Politik verbindlich zu machen? Für diese Fragestellung werden sechs Ganzkörpereinzelportraits von Mitgliedern der Innerösterreichischen Habsburgerlinie herangezogen, die 1604 von Joseph Heintz d. Ä. gemalt wurden. 2 Dargestellt sind Erzherzog Ferdinand3 (der spätere Kaiser Ferdinand II.), seine Ehefrau Maria Anna 4, seine Brüder Maximilian Ernst 5, Leopold6 und Karl7 sowie eine Schwester, die als Erz-
1 Die hier besprochenen Bilder sind nach wie vor die meist gewählten, wenn es in wissenschaftlichen und populären Beiträgen um die genannten Personen geht. Wie wirksam diese Portraits auch im „nationalen“ Gedächtnis sind, hat Wohlfeil für Münzprägungen des 20. Jahrhunderts untersucht. WOHLFEIL 1998, 164–165. 2 ZIMMER 1971, S. VI, Nr. 80–85 und A35–40, sowie 24–25. 3 HEINTZ 1604a. 4 Ders. 1604b. 5 Ders. 1604c. 6 Ders. 1604d. 7 Ders. 1604e.
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herzogin Konstanze identifiziert wurde. 8 Das war keine Ahnengalerie, sondern eine Bestandsaufnahme der Verhältnisse.9 Es wurde daher eine horizontale Perspektive gewählt. 10 Dynastische Spannungen durch das Auftreten dieser neuen Generation von Funktionsträgern und unterschiedliche Positionen in konfessionellen Fragen prägten die Situation des Hauses Habsburg Anfang des 17. Jahrhunderts. Die ältere Generation versuchte die Weichen für die Zukunft zu stellen. Das waren in erster Linie die beiden möglichen Auftraggeber für diese Portraits: Ehz. Maria, die Mutter der Dargestellten in Graz, oder Kaiser Rudolf II., der sich zunehmend Angriffen seiner Brüder um die Führung des Hauses ausgesetzt sah und nach Partnern suchte. Die politischen Akteure waren familiär verbunden, und diese Verbindung sollte in ein politisch verlässliches Netzwerk transferiert werden. 11 In einer Konfliktsituation konnte es aber zu unterschiedlichen Koalitionen kommen. Eine Option betraf die steiermärkische Linie, die davon profitierte, dass sie kinderreich war. Diese jungen Erwachsenen übernahmen um 1604 sukzessive Verantwortung und bildeten damit ein Netzwerk, das ihren ältesten Bruder Ferdinand an die Spitze des Reiches befördern sollte. 12 Zuvor wurden sie am Grazer Hof in ihrer jeweiligen Funktion gemalt. Das Netzwerk, das diese Geschwister verband, wurde ihnen damit visuell vor Augen gestellt. Dieser Aufsatz wird in einer Bildanalyse diese Dimension der innerfamiliären Kommunikation freilegen. Durch diese Perspektive werden die Bilder nicht nur zu Instrumenten der Machtinszenierung, sondern zu Kristallisationen des Familienauftrags. Die Bilder sollten disziplinierend auf die Personen wirken.
A. Bilder der Macht Diese Art der Darstellung ist typisch für Herrscherportraits der Frühen Neuzeit. Es ist ein Typus, der sich im 16. Jahrhundert, auch in Anlehnung an antike Traditionen, wieder herausbildete und vor allem für den spanischen Hof um Ders. 1604f. und ders. 1604g. Auffällig ist das Fehlen der übrigen drei Schwestern und der Mutter, die ebenfalls am Hof lebten, evtl. haben sich aber auch die Bilder nicht erhalten: Es handelt sich dabei um Maria Christierna, Maria Magdalena und Eleonore. Die Mutter war Ehz. Maria, Herzogin in Bayern. Dieses Portrait wird im Text nicht näher analysiert, weil es hierfür weiterführender Beschäftigung mit der Distributionsgeschichte bedurft hätte. 9 HECK 2005, 271–273. 10 Meinen Dank möchte ich den Diskutanten und Teilnehmern der Tagung „Modellierung von Verbindlichkeit im 18. Jahrhundert“ (Universität Paderborn, 13.-15.3.2013) aussprechen, die durch ihre genauen Beobachtungen und weiterführenden Hinweise diesem Artikel neue Wendungen gaben. 11 SCHÖNPFLUG 2010. BÖGENHOLD 2013. Siehe auch: UZZI 1996. 12 STROHMEYER 2010. HEIMANN 2009. 8
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Philipp II. untersucht wurde. 13 Man hat darauf hingewiesen, dass sich in den Portraits verschiedene politische Ideen treffen, die sich um den physischen und den monarchischen Körper des Gemalten spinnen. Der greifbare Körper wird auf derartigen Portraits dargestellt, um den repräsentativen, machtbesitzenden und ausübenden Körper zu zeigen. Der Mensch tritt hinter die funktionale Amtsperson zurück. 14 Ähnlichkeit ist jedoch Pflicht. Diese Bilder sind hineingemalt in eine Zeit der Medienexplosion. Sie sind Vorlagen, nach denen Bilder der Herrschenden gedruckt und gemalt wurden. Louis Martin hat das in seiner Studie zu den Staatsportraits Ludwig XIV. gezeigt. Durch das Kristallisieren der Herrschaft im Portrait wird dieses zur regierenden Instanz selbst, von der die königliche Macht ausgeht. 15 Diese Konstruktion der Bilder der Macht wirkt nach, dies zeigt Eva Horn in einem Aufsatz, der die Perspektive bis zu den Bildern des Dritten Reichs aufspannt. 16 In dieser Tradition sind auch die Bilder der steiermärkischen Habsburger zu sehen. Nicht jedes wurde aber für den Druckmarkt geschaffen. Von den hier betrachteten Bildern sind keine Kopien bekannt; erst die moderne Digitalisierung machte sie prägend für die heutige Wahrnehmung der Dargestellten. 1602–1604 kann für diese Dynastie eine Portraitlust festgestellt werden. Rubens erschuf ausgehend von den zeitgenössischen Tizian-Portraits von Karl V. diesen Kaiser neu und zeitgemäß für die Medienpolitik der spanischen Habsburger. Er stilisierte ihn zum europäischen Ahnherrn, der den Anspruch auf universelle Macht ausstrahlte. 17 Parallel dazu schulten die Hofkünstler in Prag ihr Auge für die Emblematik und kreierten assoziative Adaptionen von antiken Symbolen in Bezug auf die aktuelle Situation. 18 Während sich also eine höfische Emblem- und Porträtmalerei entwickelte, die – von der realen Präsenz abstrahierend – dem Bild narrative Elemente hinzufügte, entstanden großformatige Hofportraits. Daneben wurden ganz andere, intimere Bilder gemalt, fokussiert auf die Brust und den Oberkörper; Prager Künstler experimentierten mit Licht und Schatten und versuchten, charakterliche Eigenschaften der Personen auf die Leinwand zu übertragen. 19 Die Brustbilder waren gefragt, aber durch die angestrebte Intimität nicht für ein breites Publikum geeignet. Diese Aufsplittung macht umso klarer, dass es sich bei den höfischen Portraits um dezidierte Kommunikationsinstrumente handelte. JORZICK 1998, 191–194. Ebd., 195. 15 MARTIN 2005, 15. Vgl. auch für die Portraits Hans von Aachen: SCHÜTZ 2010, 188. 16 HORN 2010. 17 WOHLFEIL 1998, 163–178. 18 MÜLLER 2010, 17: „Die analysierten Beispiele von Heintz und Saenredam zeigen, dass sich die manieristische Kunst der Imitatio keineswegs in formalistischen Kapriolen erschöpft und dass die Zurschaustellung der Bildgelehrsamkeit nicht als Selbstzweck zu werten ist, sondern die Darstellung um eine erzählerische Dimension bereichert wird.“ 19 SCHÜTZ 2010. 13 14
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B. Die Bilderserie Der Maler wird durch die Signatur der Bilder eindeutig als Joseph Heintz ausgewiesen20, ein Hofmaler Kaiser Rudolf II., der neben diesen Portraits in seiner Stellung einige andere anfertigte, in erster Linie aber über seine religiösen und allegorischen Sujets bekannt wurde. Seine Malreise nach Graz im Winter 1603 kann durch eine Hofzahlamtsrechnung belegt werden. Er bekam dafür einen Vorschuss von 130 Gulden und blieb ein halbes Jahr in der Residenzstadt. 21 Heintz war zu diesem Zeitpunkt vielbeschäftigt und für seinen Dienstherrn häufig unterwegs, als Kunstagent, für befreundete Höfe und als Portraitmaler. Zusammen mit Hans von Aachen entwickelte er die erwähnten Sujets weiter. Die Portraits, die Heintz in Graz anfertigte, wirken vertraut, es sind typische Herrschaftsbilder der Zeit. 22 Den Bildern ist mittlerweile auch ihre eigene Geschichte anzusehen. Sie wurden beschnitten und wieder ergänzt; es sind Schädigungen an der Leinwand zu sehen. 23 Im Katalogregest des KHM wird angenommen, dass die Bilder für die Grazer Burg angefertigt wurden, aber vielleicht schon mit dem Umzug von Erzherzog Ferdinand nach seiner Wahl zum Römischen Kaiser oder bei der Neusortierung der Sammlungen unter Maria Theresia nach Wien kamen. 24 I. Bildanalyse – Changieren zwischen individueller Funktion und Positionierung im dynastischen Kontext Nur Ehz. Ferdinand und Ehz. Maria Anna trugen als Regentenpaar die Habsburgische Dynastie weiter. Die Geistlichen hatten keine Perspektive auf Nachkommenschaft. Die Schwestern standen vor der Hochzeit oder dem Rückzug in ein Damenstift. 25 Keiner von ihnen ist auf den Bildern mit den Herrschaftszeichen der künftigen Position ausgestattet, sondern mit den allgemeinen Symbolen für geistliche und weltliche Macht. Trotz dieses Verzichts auf individu -
20
den.
ZIMMER 1971, 24. Drei Bilder sind signiert, eines mit dem Zusatz „1604“ versehen wor-
21 Ebd., A 70. Dort zitiert nach: Wien, ehm. Hofbibliothek, Hofzahlamtsrechnung 1603 Bl. 318; siehe auch ebd., 25f. 22 Vgl. FUSENIG 2010. REYNOLDS 2013. Dort auch ein Portrait von Margarethe von Austria, einer weiteren Schwester der Dargestellten, die 1598 mit dem spanischen Thronfolger vermählt wurde. Vgl. DE FELIP-JAUD 1997. 23 Siehe ZIMMER 1971, A 7. 24 BARTHA-FLIEDL 2001. 25 HOPPE 2004; zur missglückten Ehe von Maria Christierna, die später geschieden wurde: VOCELKA 1976; eher kursorisch, aber mit qualitativ hochwertigen Bildreproduktionen: WEISS 2008.
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elle Merkmale und der Nähe der Anfertigungszeit werden die Personen einzeln und nicht als Gruppe gemalt.26 Gleiches gilt für den dargestellten Raum. Die Figuren befinden sich nicht im selben Raum, er ist jedoch jeweils ähnlich würdevoll gestaltet. Kein Fenster ermöglicht den Blick nach draußen. Außer der Figur, auf die das Bild zentriert ist, gibt es je einige Attribute, die sich den Dargestellten zuordnen lassen und durch tatsächliche oder perspektivische Berührung mit ihnen verbunden sind. Säulen, Vorhänge und kunstvolle Möbel sind plakative Signale einer Hof-Situation. Damit werden verschiedene Zeichen gesetzt: Die Bildgestaltung ist würdevoll, die Figuren sind individuell erkennbar und durch Attribute oder Kleidung auf eine spezifische Funktion festgelegt – diese wird jedoch nicht konkret benannt. Damit verlieren diese Portraits nicht ihre Gültigkeit, sollten sich die politischen Projekte ändern. Dargestellt wird der Kern: In den Bildern verschmilzt die individuelle Person mit der Funktion. Steht der/die Gemalte vor dem Bild, dann sieht er darin sein funktionales, innerhalb der Familienpolitik für ihn/sie vorgesehenes Spiegelbild. II. Das Herrscherpaar Bisherige Auseinandersetzungen mit Herrschaftsportraits beziehen sich oft auf Regenten. Das sind in dieser Serie Ehz. Ferdinand und seine Ehefrau Ehz. Maria Anna. Sie blicken sich nicht an, drehen den Körper aber einander zu, der Blick beider geht aus dem Bild heraus auf den Betrachter. 27 Die schwarzen, golddurchwirkten Stoffe, in denen sie gezeigt werden, korrespondieren. Ihre Hand stützt sich bestimmend auf einen samtenen roten Sessel mit Armlehnen. 28 Ein kleiner Hund springt an ihr hoch. Das ist eine typische Darstellung für eine Ehefrau, die ihrem Mann treu zur Seite steht und die Macht, also den Thron unterstützt. Als Regent weisen Ferdinand der hohe schwarze Hut, der zur Tracht einer vornehmen Adelsschicht gehörte,29 und die Ordenskette vom Gol-
DE MONTA 2012. Ähnlich: ANONYM 1963. Auf beiden Darstellungen wird auf eine sehr ähnliche Darstellung der Kinder geachtet, die sich nur in männlich, weiblich und lebend oder verstorben unterscheiden. Ansonsten sind sie nebeneinander der Größe nach angeordnet. Der Fokus liegt also auf der Gemeinsamkeit als Familie, nicht auf der Funktion und Individualität der einzelnen Mitglieder. 27 Das ist eine andere Darstellung, als sie etwa der Großvater Ferdinands für ein Familienportrait wählte, auf dem er den Blick in die Weite sucht und seine Ehefrau Maria de Austria den Blickkontakt mit dem Betrachter eingeht. Familienportrait Maximilian II: WEISS 2008. 28 Eine Geste, die für angetraute Regentinnen typisch ist. Wir sehen sie etwa auch bei einem undatierten Portrait der Mutter der hier Dargestellten, das heute im Grazer Universalmuseum Joanneum im Palais zu besichtigen ist. Auch dort legt die Frau ihre Hand auf eine Stuhllehne. 29 ZIMMER 1971, 117. Hierfür kann eine Reihe von Portraits von Heinz und anderen Künstler herangezogen werden. Auch der Vater Ferdinands ließ sich mit einem derartigen Hut darstellen. Siehe A28. 26
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1. Erzherzog Ferdinand, der spätere Kaiser Ferdinand II. Der etwa 26jährige wird als Herrscher portraitiert und trägt den Orden vom Goldenen Vlies. Der Hofzwerg scheint seine Haltung zu imitieren. Auf dem mit rotem Samt gedeckten Tisch liegen weitere Herrschaftsutensilien.
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2. Erzherzogin Maria Anna hatte am 23. April 1600 Erzherzog Ferdinand geheiratet und wird hier in ihrer Funktion als Landesfürstin dargestellt. Der Vorhang, der links eingezeichnet ist, findet sich im komplementären Portrait ihres Ehemannes rechts. Sie stützt sich auf einen Stuhl, der zu dem Tisch, der im anderen Portrait gezeigt wird, zu passen scheint. So wird die Zusammengehörigkeit dieser beiden Portraits und damit des Herrscherpaars verdeutlicht.
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denen Vlies aus. Diese Attribute haben in gleicher Ausführung auch der Vater Ferdinands und Kaiser Rudolf genutzt, um sich als Regenten darzustellen. 30 So wird der Grazer in den Kontext einer Habsburgischen Darstellungspraxis gerückt. Mit der rechten Hand stützt sich Ferdinand auf einen Hofzwerg, der gerade einen Knicks macht. In der anderen Hand hält er einen kleinen, wohl noch jungen Hund an der kurzen, gespannten Leine, der sich aus dem Vordergrund des Bildes heraus bewegen möchte. Ferdinands andere Hand ruht auf dem Knauf seines Säbels. Unter der ruhigen Pose ist eine bewegte Situation zu sehen, die der Regent mit sanftem Druck seiner Hand und dem angezeigten Säbel unter Kontrolle hält. Eine Szenerie also, die auf die Situation in seinen Herrschaftsgebieten hindeutet, die intern von massiven konfessionellen Auseinandersetzungen, extern von einer stetigen Bedrohungslage durch Ungarn und Türken geprägt war. 31 Die beiden Kinder, die bereits im Kindbett verstarben, sind nicht angedeutet. So gesehen, korrespondiert dieses Bild weniger mit der Habsburgischen Tradition der Darstellung als mit Bildern, die in den 1590er Jahren am Münchner Hof entstanden, dem Maria Anna entstammte. 32 Parallel wurden auch in Spanien derartige Bilder angefertigt. Erscheint diese Art der Darstellung aus heutiger Perspektive altbekannt, so sind es zeitgenössisch moderne Statements höfischer Repräsentation, die mit Attributen arbeiteten, die europaweit verstanden werden konnten. Das drückte zum einen die Kenntnis der europäischen Konventionen aus, zum anderen ein Selbstbewusstsein, sich als Angehöriger des Grazer Hofes in der europäischen Liga zu positionieren. III. Die Brüder – nachgeordnete Positionen im Netzwerk? Maximilian Ernst, der zweitgeborene Sohn der Linie, wird in ganz ähnlicher Pose, jedoch reicheren Gewändern dargestellt. Er lebte am Hof des Bruders und wurde als Herrscher in Reserve gemalt. Sein Bild ist eines der am reichsten ornamental ausgestalteten. Die Stofflichkeit des blumengeschmückten Brokats und der filigranen Spitzen ist fast greifbar. Ein großer sitzender Jagdhund blickt ruhig aus der Szenerie heraus. Maximilian steht dem Bruder zur Seite, hat aber das Zeug zur selbstständigen Herrschaft, sollte seinem Bruder etwas zustoßen oder er erbenlos sterben. Die beiden anderen Brüder sind deutlich als Geistliche gekennzeichnet. Interessant sind hier die Details. Während Karl ganz den priesterlichen Pflichten hingegeben erscheint, ist das Bild bei Leopold diffiziler. Leopold stützt sich auf ein Kreuz, bei Karl liegt das Barett des Priesters auf dem Tisch. Karls Hand liegt in einem aufgeschlagenen liturgischen Text, die andere Hand hängt leer HEINTZ [um 1592]; ZIMMER 1971, Nr. 76, A 33. FUČÍKOVÁ 2010, 186. LUTTENBERGER 1994. 32 Vgl. etwa die beiden Portraits von Hans von Aachen für Wilhelm V. von Bayern und seine Ehefrau Renata: SCHÜTZ 2010, hier: Abbildungen Nr. 57-58. Die beiden sind in einem sehr ähnlichen Setting dargestellt. 30 31
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herunter. Bei Leopold wurden weitere Attribute eingetragen: Er hält Reithandschuhe fest umklammert, sein Gewand ist mit Spitzen besetzt. Darüber hinaus trägt er keinen Schmuck, es steht jedoch eine kostbar wirkende Uhr auf dem Tisch hinter dem Kreuz. Ehz. Leopold war in diesen Monaten auf dem Weg, Bischof in Passau zu werden und bereits für das Bistum Straßburg vorgeschlagen.33 Die unterschiedliche Darstellung der beiden Kleriker ist auffallend. Ehz. Leopold sind mehr Aufgaben zugeordnet. Seine Funktion als Kleriker steht im Vordergrund. In der Nebenhand und im Hintergrund gibt es jedoch andere Hinweise. Eine kostbare Uhr und Handschuhe, adelige Spielereien. Jagd und Technik. Zwei Leidenschaften, denen Kaiser Rudolf II. der Cousin der Dargestellten, mit Leidenschaft frönte. Wird Ferdinand also über die Zeichen der Regentschaft in die größere Habsburgerfamilie eingebunden, so erscheinen bei Leopold persönlichere Attribute, die ihn mit dem Prager Cousin in Verbindung bringen. 34 Gleichzeitig wird hier ein Bild aufgenommen, das sein Vater prägte. Dieser ließ sich in einem Doppelportrait mit seiner Ehefrau ebenfalls mit einer goldenen Uhr im Hintergrund malen. Für Leopold wird also verwiesen auf eine eigene Tradition der Habsburger Herrscher, die sich auf die Macht als weltlicher Regent, weniger als Kirchenfürst bezieht.
Das Hochstift Passau fungierte als Brücke zwischen dem Reich und den „Erblanden“ der Habsburger. Da auch die Wittelsbacher großes Interesse daran hatten, kam es in den 1590er Jahren zu einigen Auseinandersetzungen um die Nachfolge, die schließlich vom Papst zugunsten Ehz. Leopolds entschieden wurden. Siehe hierfür: ALBRECHT 1981, 136–137. 34 In einem Doppelportrait von Erzherzog Karl II. von Innerösterreich und seiner Ehefrau Maria ist neben ihm ebenfalls eine kleine Uhr dargestellt. Für den Hinweis, dass diese den Produkten ähnelt, die um 1550 in Nürnberg für den Export hergestellt wurden, danke ich Dr. Ulrich Becker, dem Sammlungskurator des Grazer „Museums im Palais“. Er war so freundlich mir die Provenienz der Bilder mitzuteilen: Alte Galerie, Inv.-Nr. 1235, Öl/ Lw. 208 x 112 cm (EH Karl II.); Alte Galerie, Inv.-Nr. 1236, Öl/ Lw., 209 x 117 cm (Maria von Bayern). Diese beiden Bilder wurden 1908 für das Joanneum angekauft, vor einigen Jahren wurden sie in den Bestand der „Alten Galerie“ (gezeigt auf Schloss Eggenberg/Graz) eingegliedert worden. Als besondere Schaustücke werden sie seit 2011 in den Schauräumen der Kulturhistorischen Sammlung im „Museum im Palais“ im Grazer Palais Herberstein gezeigt. 33
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3. Erzherzog Leopold wird im geistlichen Ornat gezeigt. Ein Jahr später reiste der 18-jährige nach Passau um die Position des Fürstbischofs dort einzunehmen.
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C. Politische Situation Diese Bilder als Kristallisationen einer politischen Funktion zu betrachten und in einem spezifischen politischen Kontext zu verorten, erfordert nun im nächsten Schritt, diese Situation näher zu bestimmen. Zwei Personen, die die Politik und die Richtung des Hauses lenkten, sind in den Portraits nicht direkt sichtbar, nämlich Kaiser Rudolf II. und die Mutter der Dargestellten Ehz. Maria, Herzogin in Bayern, die seit dem Tod ihres Ehemanns 1590 die Regentschaft zusammen mit Ferdinand ausübte. 35 Über ein breites europäisches Kommunikationsnetzwerk erhielt sie Informationen und war diplomatisch auch mit den Ehemännern ihrer Töchter im Gespräch. Die Habsburgische Herrschaft war zu dieser Zeit unter verschiedenen Mitglieder aufgeteilt, da Kaiser Ferdinand I. seine Söhne mit Teilherrschaften bedacht hatte, darunter auch Karl II. von Innerösterreich, den Vater des hier dargestellten Ehemann Marias. Dies führte dazu, dass sich Residenzen in Prag, Wien, Graz und Innsbruck, Brüssel und Madrid ausbildeten, die alle von Habsburgern regiert wurden. Der Kaiserthron war dabei dem Familienoberhaupt vorbehalten. Da jedoch die folgende Generation, die Söhne Maximilian II., um 1600 noch keine Kinder hatten, spitzte sich die politische Auseinandersetzung zu. 36 Wer würde den Kurs des Hauses in den folgenden Jahren bestimmen? Gab es noch keinen Erben in der nächsten Generation, so war zumindest numerisch die innerösterreichische Linie mit neun erwachsenen Kinder gut aufgestellt. 37 Da die Aufsplitterung eher zu einer Schwächung geführt hatte, konzentrierte sich das Interesse dieses Teils auf eine hierarchische Zuspitzung zugunsten Ferdinands, der von einem Unterstützernetzwerk seiner Geschwister gehalten werden sollte. So würden die Interessen der Cousins ausgeschaltet und Ferdinands Linie die Zukunft des Hauses Habsburg bestimmen. Das bedeutete auch, dass sich das Haus Habsburg eng mit den bayerischen Wittelsbachern verband und ihre Politik auf einen rigorosen Katholizismus im Einvernehmen mit Spanien hin ausrichtete. Eine Position, die Sprengkraft für das Reich besaß und diametral dem tolerierenden Abwarten Rudolfs gegenüberstand. Rudolfs Austarieren führte schließlich im Konflikt mit seinem Bruder Matthias zum Majestätsbrief von 1609. 38 Beide setzten so für ihren Machterhalt auf die protestantischen Eliten in ihren Ländern und damit auf einen politischen Realkurs, der durch konfessionellen Ausgleich gestützt wurde. Das Programm, für das Ferdinand stand, war dem Kaiser entgegengesetzt. Familie als Netzwerk der Unterstützung funktionierte also nicht aus KELLER 2012. LANZINNER 1993. 37 Kaiser Rudolf II. und seine Brüder Matthias und Maximilian waren weder verheiratet noch hatten sie legitime Kinder. Ihr Bruder Albrecht war kinderlos mit seiner Cousine Isabella von Spanien verheiratet. 38 JIŘÍ 2009. 35 36
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sich heraus, sondern nur als Konstrukt von Loyalitäten, auf das die einzelnen Personen eingeschworen werden mussten. Das verlässliche Netzwerk Familie stand also im Licht des gegenseitigen Misstrauens und Belauerns. Auch die nachgeordneten Akteure konnten nicht aus purem Ehrgeiz agieren, bezogen sie doch ihre Macht aus der Dynastie und der Position, in die sie der familiäre Zusammenhang gebracht hat. Von Egoismen zu sprechen, greift zu kurz. Wollten einzelne Akteure ihre Position im Netzwerk selbst verändern, so mussten sie auf verschiedene Stränge zielen, die im Netzwerk angelegt waren, aber vielleicht bisher keine größere Bedeutung hatten. Aus dieser Überlegung heraus wird deutlich, wie wichtig das Verlässlichmachen von familiären Strukturen den Akteuren in dieser Phase erschienen sein muss. Die Situation war offen, es gab noch keine Erben in der nächsten Generation, der Kaiser war zwar isoliert, aber an der Macht und in der Lage, die religiösen Spannungen auszutarieren. Anfang des 17. Jahrhunderts wurden die Weichen im Haus Habsburg gestellt. Wer sollte die Macht übernehmen? Und mit dieser Frage nach den Akteuren stellte sich sofort die Frage nach der politischen Ausrichtung. Die Bilderserie von Heintz ist ein Überrest dieser Positionierungsbemühungen im Haus Habsburg. Aus dem Kontext der Bilder können zwei mögliche Entstehungssituationen rekonstruiert werden, die sich wohl überlappten und deren Konflikt gerade im Portrait Ehz. Leopolds durch den Vergleich mit den anderen Bildern augenscheinlich wird. Die beiden nicht geistlich konnotierten Gegenstände, die Reiterhandschuhe und die goldene Tischuhr, weisen in Richtung des Kaisers. Tischuhren gehörten zu dessen bevorzugten Sam-melobjekten, für die er Uhrmacher und Goldschmiede zusammenarbeiten ließ. Die Faszination der Genauigkeit, der Funktionsweise des Apparats und der Möglichkeit, Zeit zu messen, verbanden sich in diesen Geräten. Die Tischuhr, die bei Leopold platziert wird, ist also ein wertvolles Stück.39 Die Spitzen von Leopolds Kleidung korrespondieren mit dem filigran durchbrochenen Uhrkasten. Das Portrait changiert zwischen der Schlichtheit des geistlichen Habits, der Frisur und Bartlosigkeit und der verspielten und wertvollen Eleganz der Uhr, der Spitzen und der Qualität des schwarzen Stoffes, der durch das malerische Können des Künstlers schimmernd und schwer erscheint. Diese Auffälligkeiten stechen vor allem deshalb hervor, weil den anderen Bildern sehr eindeutige Funktionen zuwiesen wurden: die des Regenten, der Ehefrau, des Platzhalters, des Geistlichen und der versprochenen Ehefrau. 40 Wie kann dieser Befund im Zusammenhang der beschriebenen Großwetterlage auf den spezifischen Kontext und die Fragestellung dieses Textes bezogen werden? Auffällig ist, wie bereits eingeführt, die Portraitlust dieser Jahre, die auch etwas damit zu tun hat, Aussagen darüber zu machen, wer man war, wer zu einem gehörte und welche Seite man einnahm. Auch der Kaiser hatte sein 39 40
KORSCH 2005. ZIMMER 1971, 119f.
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Hochzeitsprojekt (zumindest kommunikativ) noch nicht aufgegeben. Nach der gescheiterten Vermählung mit Isabella von Spanien, die nach vielen Jahren des Wartens schließlich seinen Bruder Albert geheiratet hatte, nutzte der Kaiser weiter seine Position als Ehemann in spe, zu dem kaum ein Hof hätte Nein sagen können. 41 In diesen Kontext ist eine Reise von Hans von Aachen gedeutet worden, der 1603 in der zweiten Jahreshälfte nach Innsbruck, Mantua und Mailand aufbrach, um dortige Heiratskandidatinnen für den Kaiser zu porträtieren. Erhalten hat sich nur ein Brustbild von Erzherzogin Anna aus Innsbruck.42 Durch einen erhaltenen Brief, den der Kammerdiener des Kaisers, Philipp Lang an den Onkel der Dargestellten, Vincenzo I. Gonzaga richtete, wird dieser Reisezweck bekannt. Er schrieb, der Kaiser würde Hans von Aachen aussenden, um potentielle Kaiserinnen zu malen. 43 Der Herzog von Mantua sollte aber dem lieber zuvorkommen und einen gewogenen Maler Anna porträtieren lassen, da Hans von Aachen sie in ein ungünstiges Licht rücken könnte, um die Ehe zu verhindern. Verknüpft man diese belegte Reise Hans von Aachens mit dem Auftrag, den Joseph Heintz zum gleichen Zeitpunkt erhielt, so stellt dies die Reisen in ein verändertes Licht. Die Suche nach Heiratskandidatinnen war die eine Seite, verwunderlich ist jedoch, dass so wenige Bilder erhalten blieben und dass zumindest die Serie, die Heintz vorlegte, nicht nur Damen, sondern die gesamte Familie zeigte. Heintz’ Bilder verblieben wohl in Graz; eine zweite Serie ist nur über das zweite Bild von Konstanze belegbar, nicht jedoch für diese Zeit in Prag nachweisbar. Hans von Aachen und Joseph Heintz waren beide Hofmaler des Kaisers, die sich schon früher begegnet waren. Sie hatten beide Wurzeln im süddeutschschweizerischen Raum und ihre Ausbildung in Italien erhalten. 44 Bereits 1586 hatten sie in Florenz zusammengearbeitet und kamen dann in den 1590er Jahren an den Hof Rudolfs. In Prag waren sie in den inneren Kreis Rudolfs aufgestiegen, der sich oft von ihnen malen ließ und sie mit offiziellen wie privaten Aufträgen bedachte. Daneben nutzen sie ihre europaweiten Verbindungen als Kunstagenten zur Vermehrung seiner Sammlung und unter dem Deckmantel der Maler, so scheint es, auch als Informanten an den Höfen der Familie Habsburg. Die Situation war um 1600 angespannt, die Positionierung der verschiedenen Akteure stand an. In diese Situation hinein ließ Rudolf die nächste Generation seinen Hofmalern Portrait sitzen. Eine spezifische Gelegenheit, bei
41 DUERLOO 2012, v.a. 36–40. Die Haltung des Kaisers ähnelt damit dem Umgang der englischen Königin Elisabeth, die ihre Macht zu stabilisieren versuchte, indem sie die Heiratsfrage in der Schwebe hielt. Einer ihrer Heiratskandidaten war im Übrigen Erzherzog Karl II., der Vater der hier portraitierten Steiermärkischen Linie gewesen. 42 SCHÜTZ 2010, 188. 43 Ebd. 44 ZIMMER 1971, 8-30; FUČÍKOVÁ 2010, 3–11.
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der diese Maler Gelegenheit hatten sich zu unterhalten. Wurden zwar die Gemälde selbst ohne Anwesenheit der Dargestellten fertiggestellt, so ist dennoch anzunehmen, dass es den persönlichen Kontakt gab, dass sich die Hofmaler über das gemalte Bild hinaus ein ebensolches von den Porträtierten machen konnten. Heintz blieb ein gutes halbes Jahr am Grazer Hof, genügend Zeit also, um die einzelnen Personen kurz vor ihrer Abreise in ihre Funktionsstätten kennenzulernen. Seine Einschätzungen konnte er dann an Kaiser Rudolf II. weitergeben. Die Intention der steiermärkischen Linie war der Zusammenhalt und die Ausrichtung auf Ferdinand als Regent. Diese Ausrichtung, die in Briefen der Mutter propagiert wurde, die ihre Bemühungen ganz auf den ältesten Sohn konzentrierte, hat die reale Positionierung dieser Akteure mitbestimmt. In den von ihr in Abstimmung mit dem Kaiser gestellten Funktionen sind sie hier dargestellt. Obwohl sich Maria letztlich meistens durchsetzte, waren sie und der Kaiser längst nicht immer auf einer Wellenlänge, was die Zukunft ihrer Kinder betraf. Einige Projekte, wie die Hochzeit Konstanzes oder später Maria Magdalenas, schien der Kaiser regelrecht zu torpedieren. 45 Das hierarchische, verbindlich geltende Narrativ bricht sich aber bereits an der Darstellung Leopolds, der über die eigentliche Funktion hinaus weitere Gegenstände auf seinem Portrait eintragen lässt. Von wem die Initiative dafür ausging ist dabei unklar. Festgehalten werden kann, dass der Charakter dieser Portraits im höfischen Kontext gegen eine zufällige Platzierung spricht, dass sie im Kontext der Serie außergewöhnlich wirken, sich im Hintergrund halten und dennoch ein eigenes Narrativ begründen. Diese Bilder wirken als Serie auf den Betrachter, als feste Phalanx, in der jeder seine Position einnimmt und verlässlich hält, wenn die Vorannahme akzeptiert wird, dass Ferdinands militanter katholischer und rigide angezeigter Kurs unterstützt wird. Die Alternative ist das Herrschaftskonzept Rudolfs, der sich zunehmend aus aktiven Handlungen zurückzog und konfessionsübergreifend mit Künstlern und Wissenschaftlern am Prager Hof eine utopische Situation erschuf, mit der er versuchte, einen Mittelweg auszubalancieren. Für diese Position brauchte auch er Mitstreiter in der jungen Generation. Einen solchen hatte er, so könnte man die Attribute ausdeuten, in Leopold gefunden, einen Adressaten innerhalb der innerösterreichischen Familie, auf den er für die Zukunft bauen konnte. In den Bildern wurde also ein Status quo festgehalten, der den Keim des Widerspruchs bereits in sich trug. Eine Serie also, die ganz der aktuellen Situation innerhalb der Familie gewidmet war. Ehz. Leopold sollte Mitte 1604 sein Amt in Passau übernehmen und von dort aus in engem Kontakt zum Prager Hof wie auch zu seinen Geschwistern bleiben. Seine erste politische Aktion bestätigte die Richtung in die diese Bilder bereits deuten. Als sich die Erzherzöge 1606 trafen, um Pläne für eine Zeit nach Kaiser Rudolf zu beschließen und die Führung des Hauses an dessen Bruder Matthias 45
KELLER 2012.
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zu übergeben, blieb Leopold als einziger männlicher Prätendent diesem Treffen fern und positionierte sich somit auf der Seite des Kaisers und gegen die Hausmacht um Matthias und Ferdinand. 46 In einem putschähnlichen Vorstoß sollte er 1611 versuchen, die Karten neu zu mischen und sich mit Hilfe Rudolfs und der geistlichen Kurfürsten die Kaiserkrone zu sichern.47 Für den jungen Erzherzog war Macht ein personalisiertes Konzept, politische Ämter sollten nur mit ihm loyalen Personal besetzt werden. Er wirkte überkonfessionell und blieb mit den Sachsen ebenso im Gespräch wie mit den süddeutschen Adelsgeschlechtern. Doch die Position verfing nicht und ging in einem fast anarchischen Militärputsch im Frühjahr 1611 unter, im Widerstreit zwischen seinen Truppen, den böhmischen Landständen, die ihren Majestätbrief bedroht sahen, und den Truppen von Ehz. Matthias. Leopold scheiterte, Rudolf dankte ab und Matthias wurde Kaiser.48 Ihn sollte 1619 Ehz. Ferdinand beerben, der dann versuchte, die Teilung der Herrschaft weiter zu verhindern. 49 Ein Anliegen, das Leopold auch dann nicht unwidersprochen ließ, der in finanziellen Verhandlungen Anfang des Dreißigjährigen Krieges durchsetzte, dass er als Landesherr Tirol übernehmen konnte, den geistlichen Stand verließ und eine Familie mit Claudia de Medici gründete. Diese Seitenlinie überlebte nur eine Generation, auch deshalb ist die Erinnerung daran in der Repetition der Habsburger kaum präsent. Heintz’ Bild Ehz. Leopolds ist dennoch bis heute so etwas wie ein Signaturportrait für diese Person. Es wirkt nach, ohne dass die Widersprüchlichkeit wahrgenommen würde, und prägt Ehz. Leopolds Bild als Geistlicher. Übersehen wird dabei die politische Situation, der es entstammte, nämlich dem Ringen um eine verbindliche Ordnung. So gesehen hat es seinen Auftrag, nämlich diese funktionale Teilung festzuschreiben, retrospektiv erfüllt: Bis heute ermöglicht es ein Narrativ, das ganz auf die strenge Katholizität der „Pietas Austriae“ abzielte und die existierenden Alternativen einebnete. Fragen wir also nach der Semantik von Herrschaft, nach Funktionsweisen und der Suche nach verbindlichen Strukturen, so können wir bei den dynastischen Überlegungen des frühen 17. Jahrhunderts ansetzen und die Diversität der politischen Ansätze beleuchten, die sich gegenseitig in Frage stellten. Diese narrative Ebene, die den Bildern innewohnt, ist umso aussagekräftiger, als sie nicht als pure Imagepolitik gelesen werden sollte, sondern als Überrest einer situationsgebundenen Problemlage. Auf der Suche nach Möglichkeiten, politische Netzwerke festzuschreiben, waren die Bilder ein Kristallisationsort, an dem die Vorstellungen bildlich fixiert wurden. Da sie aber dem Kontext nicht Kurz: STROHMEYER 2010, 28–29. Eine umfassende Darstellung fehlt bisher, zur konfessionellen Auseinandersetzung siehe: PALMITESSA 1998. 48 Ebd. 49 HEINIG 2003, 85–96. 46 47
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entfliehen können, transportieren sie die Zweifel und Probleme bis heute mit und werden so zu aussagekräftigen Quellen, die den nach außen gewandten, repräsentativen Aspekt mitprägen.
Quellen ANONYM: Familienbild Kaiser Ferdinands I., um 1555/60, Schloß Ambras. Reproduktion Grstf: WEINGARTNER, MAGDALENA (Hrsg.): Österreich Tirol 1363 1963. Ausstellung Hofburg Innsbruck, Mai bis Oktober 1963. Innsbruck 1963, Bild Nr. 19. DE MONTA, JACOPO: Farbiges Epitaphbild Erzherzog Karls II. von Innerösterreich, der mit der gesamten Familie und Schutzheiligen dargestellt wird. Heute Dom St. Ägidius Graz. Gute Reproduktion: KELLER, KATRIN: Erzherzogin Maria von Innerösterreich (15511608). Zwischen Habsburg und Wittelsbach. Wien, Köln, Weimar 2012, Bild Nr. 8. HEINTZ, JOSEPH D.Ä.: Erzherzog Ferdinand von Österreich, Graz 1604a, Öl a. Lw., 1973, 200 x 116 cm. Späterer Schriftzug unten FERDINAND:VS ER: HER: zu ÖSTEREICH. Standort: Kunsthistorisches Museum Wien (KHM), Gemäldegalerie. Ursprünglich Grazer Schloss. http://bilddatenbank.khm.at/viewArtefact?id=2365 Letzter Zugriff für alle Bilder: 20.08.2013. Abdruck Graustufen: ZIMMER 1971, Nr. 84. –: Erzherzogin Maria Anna, Herzogin in Bayern mit einem Hund, Graz 1604b, Öl auf Leinwand, 1962, 26 cm breiter unterer Rand wieder ausgeschlagen, 202 x 136 cm., KHM Inv. Nr. GG_3133 Provenienz vgl. A3. http://bilddatenbank.khm.at/ viewArtefact?id=2478. Ab. Grstf. Zimmer, Joseph Heintz Nr. 81. Replik Nr. 83. –: Erzherzog Maximilian Ernst mit Hund, Graz 1604c, Öl auf Leinwand, 191,5 x 105cm, Signatur: Sig.: Heintz f. Inschrift wohl nachträglich: MAXIMI:ERNEST:ER:HER:ZU OSTEREI., KHM Inv.-Nr. GG_9495, vgl. A3. http:// bilddatenbank.khm.at/viewArtefact?id=2198. Abdruck Farbe: Zimmer: Joseph Heintz, Bild VI, Detailauschnitt auf dem Schmuckumschlag der Monographie. –: Erzherzog Leopold im geistlichen Gewand, Graz 1604d, Öl auf Leinwand, 193,5 x 123,5cm, KHM Inv. Nr. GG_3128, Provenienz vgl. A3. http://bilddatenbank.khm. at/viewArtefact?id=2374 Ab. Grstf: Zimmer, Joseph Heintz Nr. 82. –: Erzherzog Karl, Graz 1604e, Öl auf Leinwand, 173x126cm, links 7 cm angestückelt, oben und unten beschnitten, Signatur und Datierung rechts unten, KHM Inv.-Nr. alt 3086. Wies laut Zimmer 1967 große Beschädigungen auf. Ab. Grstf: Zimmer, Joseph Heintz, Nr. 85. –: Erzherzogin Konstanze mit Meerkatze, schwarzes Gewand mit goldenen Stickereien, Graz 1604f, Öl auf Leinwand, 1970 im Originalformat wiederhergestellt: 191,5 x 110 cm. KHM Inv.-Nr. GG_9452, Provenienz s.A3. http://bilddatenbank.khm.at/viewArte fact?id=2377 Ab. Grstf: Zimmer, Joseph Heintz, Nr. 80. –: Erzherzogin Konstanze mit Meerkatze, grünes Gewand mit goldenen Stickereien, Graz 1604, Öl auf Leinwand, 183.6 × 105.2 cm, wohl schon 1605 nach Polen transferiert, später in Paris nachweisbar, seit 1982 im The Clark Museum. –: Bildnis Kaiser Rudolfs II., Prag um 1592, 16,2 x 12,7 cm. KHM Inv.-Nr. GG_1124. http://bilddatenbank.khm.at/viewArtefact?id=907.
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Fiktionale Diskurse der Verbindlichkeit in der britischen Literatur des 18. Jahrhunderts von Daniel Defoe bis William Godwin Till Kinzel Das Problem der Verbindlichkeit soll im Folgenden anhand zentraler Texte der literarischen Kultur Großbritanniens exemplarisch vorgeführt werden, in deren fiktionalen Modellierungen sich der philosophische und theologische Diskurs um Pflichten höchst wirkungsvoll entfaltet. Dies geschieht vor dem Hintergrund der Beobachtung Vittorio Hösles, dass der britische Utilitarismus als ethische Theorie nicht nur material von Kants Ethik abweiche, sondern „gar nicht das Desiderat einer Metaphysik der Verpflichtung“ begreife.1 Dementsprechend wird das Denken über Verbindlichkeit in der Philosophie der britischen Aufklärung auch häufig konkret auf die Lebensumstände der Menschen bezogen, wenn etwa Francis Hutcheson in seiner Short Introduction to Moral Philosophy die Pflichten einerseits in solche gegenüber Gott, der Menschheit und uns selbst gegenüber einteilt, dann aber noch ergänzend und eher unsystematisch die Pflichten von Eltern und Kindern darlegt oder, andernorts, auch Pflichten bei der Sprachverwendung in den Fokus seiner Aufmerksamkeit nimmt.2 Im Folgenden sollen auf knappem Raum einige Modellierungen von Verbindlichkeitsdiskursen bei Daniel Defoe, Samuel Richardson, Laurence Sterne sowie William Godwin in ihren Wechselbeziehungen zur Moralphilosophie der Zeit skizziert werden. Denn ein Verständnis der Aufklärung müsste einseitig bleiben, das die Ausdrucksformen von Ideen in imaginativen Texten nicht berücksichtigt. 3
HÖSLE 2013, 73. Siehe z. B. HUTCHESON [1755] 1990, 28–43, 77–86; ders. [1747] 1990, 79–99, 267–271. 3 So ROBERTSON 2013, X. 1 2
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Till Kinzel
A. Defoes fiktionale Naturrechtsdisputation und Shaftesburys Ethik des moral sense Worin ist die Verbindlichkeit naturrechtlicher Regeln begründet? Warum soll man überhaupt einem Kodex moralischer Verpflichtungen folgen, wenn und insofern das unmittelbare Eigeninteresse dem manifest entgegensteht? Daniel Defoes Piratenroman Captain Singleton, in dem die Frage nach der Verbindlichkeit der zwischenmenschlichen Moral ebenso prominent ist wie die wiederkehrenden Abenteuer zu Land und See, zeigt am Extremfall, welche Bindungskraft und damit Verbindlichkeit dem Naturrecht eignet. Defoes Ich-Erzähler Bob Singleton gewinnt im Laufe der Erzählung immer mehr Abstand von seinem verruchten Piratendasein, und zwar unter dem Einfluss eines Quäkers, der sich immer wieder als ein Exeget des Naturrechts erweist, wenn die Piraten mit dem Verhalten fremder Völker konfrontiert sind. So heißt es einmal, einige aus der Besatzung hätten sich etwas freizügig gegenüber den Frauen einer Siedlung an der afrikanischen Küste benommen, was deren Männer übel nahmen und darauf mit Gewalt reagierten. Die Piraten nun waren darüber so erzürnt, dass sie alle Einheimischen niedermachen wollten, wurden aber von William darauf hingewiesen, dass sie unter ähnlichen Umständen dem Naturrecht gemäß wohl ebenso reagiert haben würden und dass eine Rache nicht in ihrem Interesse liegen könne. 4 Die bindende Kraft des Naturrechts ist nicht allzu groß. Denn das Naturrecht wirkt nicht durch sich selbst, sondern ist selbst den außerhalb der Zivilisation bzw. an ihrem Rande lebenden Piraten nicht unmittelbar evident gegeben; es bedarf der Verbalisierung durch persuasive Rhetorik. Defoe reflektiert das nicht ausdrücklich, doch liegt es auf der Hand, dass die (unvollkommene) Einhegung der zwischenmenschlichen Gewalt nur durch das Wort, die Sprache möglich wird, dass also nur mittels des Appells an das Instrument der Vernunft bzw. der vernünftigen Moral, als das man die Sprache hier verstehen muss, überhaupt eine ethische Bindungskraft entsteht. Die Sprache vermag es, selbst den außergesetzlich lebenden Piraten vorzustellen, dass es eine gemeinsame Menschennatur gibt, gemäß der jeder unter ceteris paribus-Bedingungen in ähnlicher Weise handeln würde. Verbindlichkeit im Zwischenmenschlichen müsste demnach von der Voraussetzung ausgehen, dass ich mich selbst in die Lage des Andern versetzen kann und dessen Handlungsweise als solche begreife, die potentiell auch meine ist. Das aber bedeutet nichts anderes, als dass die Verbindlichkeit moralischer Normen davon abhängt, welchen Grad an Fähigkeit zur kognitiven und emotionalen Empathie jemand besitzt – im Falle der Piraten ist diese offenkundig eingeschränkt, aber keinesfalls inexistent.
4
DEFOE 1963, 264–266; vgl. auch 191.
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Die Piraten sind deshalb für die moralphilosophische Reflexion und die Frage nach der Reichweite des Naturrechts von Belang, weil sie den klassischen Fall eines Extrembeispiels darstellen, so dass man in Anlehnung an Leo Strauss’ Gegenüberstellung von antiker und moderner Naturrechtskonzeption bei Aristoteles und Machiavelli Defoe zu jenen rechnen kann, die vom Ausnahmezustand oder Extremfall her denken. 5 Weil der Pirat jenseits des Gesetzes steht, lässt sich an ihm in besonderer Weise die entscheidende Frage herauspräparieren – ähnlich den Naturzustandskonstruktionen, wie sie bei verschiedenen Denkern als methodisches Mittel zur Isolierung der eigentlichen Menschennatur dienten. Da der Pirat im Anschluss an ein berühmtes Wort Ciceros zur Zeit Defoes als hostis humanis generis, als Feind des Menschengeschlechts galt, 6 war das Verpflichtungsgefühl gegenüber diesen Feinden als nicht eben hoch einzuschätzen. Ebenso fühlten sich aber auch die Piraten nicht ohne Not an die Einhaltung von naturrechtlichen Regeln gebunden, wenn diese nicht in ihrem Interesse waren. Es ist nicht zu weit hergeholt, wenn man diese Konstellation mit Shaftesburys Versuch zusammendenkt, eine nicht-religiöse Moralfundierung im moral sense zu finden. Nach Shaftesbury ist jeder in der Lage, mittels des moral sense zwischen Tugend und Laster zu unterscheiden. Zwar hatte Shaftesbury bekanntlich die These vertreten, dass es einen natürlichen Sinn für richtig und falsch gibt, jedenfalls wenn man ihm die Aussage des Dialogpartners zurechnet, den er die im Folgenden zitierte Behauptung aufstellen lässt. Nach der rhetorischen Frage, ob es nicht eine natürliche Schönheit der Handlungen gebe (man beachte die für Shaftesbury charakteristische Vermischung von Ethik und Ästhetik), führt die Dialogfigur Theokles aus: No sooner the Eye opens upon Figures, the Ear to Sounds, than straight the Beautiful results, and Grace and Harmony are known and acknowledg’d. No sooner are ACTIONS view’d, no sooner the human Affections and Passions discern’d (and they are most of ‘em as soon discern'd as felt) than straight an inward EYE distinguishes, and sees the Fair and Shapely, the Amiable and Admirable, apart from the Deform’d, the Foul, the Odious, or the Despicable. How is it possible therefore not to own, ‘That as these Distinctions have their Foundation in Nature, the Discernment itself is natural, and from NATURE alone?’7
STRAUSS 1994, 161–162. Siehe DEFOE 1999, 377. Manche Forscher schreiben das Buch Defoe zu. 7 SHAFTESBURY 2001, 231. Dass es sich bei der zitierten Passage um einen Abschnitt in einem brieflich vermittelten dialogischen Text handelt, wird in der Sekundärliteratur teilweise ignoriert, so bei dem ansonsten sehr zuverlässigen COPLESTON 1994, 175; zur Dialogform bei Shaftesbury siehe KLEIHUES 2002, 49–107, hier 60. Kleihues weist auch auf folgenden beachtenswerten Umstand hin: „Nur im Gespräch kann die unhintergehbare Voraussetzung [für die Entwicklung einer vom christlich-religiösen Glauben unabhängigen Ethik], der ‚Moral Sense‘, erschlossen werden, ohne daß er definiert, festgeschrieben werden muß“ (106). 5 6
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Doch musste auch Shaftesbury zugestehen, was Defoe fiktional vorführt, dass nämlich die Verbindlichkeit der nur auf einem natürlichen moral sense gegründeten Moralität eher bescheiden ist. Shaftesbury erkannte an, dass der von ihm apostrophierte moralische Sinn nicht bei jedem gleichermaßen zum Tragen komme. 8 Die Folge davon musste die Unzuverlässigkeit eines Kriteriums der Moral sein, das sich auf ein vorvernünftiges Gefühl stützte. Denn man konnte sich nur auf den moral sense jener verlassen, die eine ordentliche Erziehung genossen hatten, in welcher dieser moral sense in angemessener Weise ausgeprägt worden war. Mit der Apostrophierung des moral sense aber war grundsätzlich eine Infragestellung dessen gegeben, was man als das „Sanktionsmodell moralischer Verbindlichkeit“ bezeichnet hat. 9
B. Absolute Tugendlehren zwischen relativistischem Zweifel und mathematischer Gewissheit Die Notwendigkeit, eine absolute Unverbrüchlichkeit moralischer Grundsätze und Prinzipien zu begründen oder zumindest zu behaupten, resultierte aus dem vielfach empfundenen Ungenügen am Einfluss Hobbes’. Denn Hobbes hatte, so ein locus classicus im 6. Kapitel des ersten Teils des Leviathan, folgende These vertreten: There being nothing simply and absolutely so; nor any common Rule of good and Evill, to be taken from the nature of the objects themselves; but from the Person of the man (where there is no Common-wealth;) or, (in a Common-wealth,) from the Person that representeth it […].10
Nach Brenda Almond waren es einige englische Philosophen vor Kant – Richard Cumberland, Ralph Cudworth, Samuel Clarke und Richard Price –, die mit Kant die These teilten, Moral sei „(a) in irgendeinem Sinn offenkundig und (b) universell anwendbar“. 11 Samuel Clarke (1675–1729) entwickelte sein Argument für eine solche pflichtorientierte Moralkonzeption in den berühmten Boyle Lectures zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts (1704 und 1705), die er mit großem öffentlichen Erfolg vortrug. Er beklagt sich lautstark darüber, dass es eigentlich überflüssig sei, to prove and establish the eternal difference of Good and Evil, had there not appeared certain Men, as Mr. Hobbes and some few others, who have presumed, contrary to the plainest and most obvious reason of Mankind, to assert, and not without some Subtilty indeavoured to
Vgl. RIEDEL 1990, 52–55. SCHEFCZYK 2011, 163–172, hier 165. 10 HOBBES 1973, 24. 11 ALMOND 2011, 464–470, hier 467. Der wichtige Unterschied, der von Almond jedoch nicht thematisiert wird, liegt im Prinzip der Autonomie bei Kant. 8 9
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prove, that there is no such real Difference originally, necessarily, and absolutely in the Nature of Things, but that all Obligation of Duty to God, arises merely from his absolute irrisistible Power, and all Duty towards Men, merely from positive Compact [...].12
Die Tugendlehre der Cambridge Platonists besagte, dass moralische Wahrheiten mit derselben Sicherheit und Genauigkeit wie mathematische Wahrheiten entdeckt werden könnten. 13 Clarke hatte wie Locke die Auffassung vertreten, dass man die mathematische Betrachtungsweise auf die Moral übertragen könne. Die Cambridge Platoniker glaubten an die „eternal and unalterable nature of right and wrong.“ Und auch Locke lehnte im Essay Concerning Human Understanding zwar die Vorstellung ab, es könne angeborene (innate) Prinzipien praktischer Art geben (I, iii, 1), doch hielt er dennoch dafür, dass „morality is capable of demonstration, as well as mathematics“, so dass es tatsächlich möglich sei, in den Besitz von „certain, real, and general truths“ zu gelangen. 14 Für Locke ist es allein eine Frage der rechten Methode, dass „a great part of morality might be made out with that clearness, that could leave, to a considering man, no more reason to doubt, than he could have doubt of the truth of propositions in mathematics, which have been demonstrated to him.“ 15 Während aber Locke die mathematische Demonstration auf die Moral beschränkte, weitete Clarke den Bereich der Verbindlichkeiten noch weiter aus, da er es auch in Bezug auf die Existenz Gottes und die Pflichten der natürlichen Religion für möglich hielt, diese mit mathematischer Präzision zu beweisen. Der Unterschied von moralisch gut und schlecht ließe sich demnach klar und eindeutig bestimmen, so wie man schwarz und weiß unterscheiden könne. Die goldene Regel zu leugnen käme Clarke zufolge der Behauptung gleich, „though two and three are equal to five, yet five is not equal to two and three“. 16 Aus der Moraltheorie von Clarke, die von einer Klarheit und Eindeutigkeit der Entscheidbarkeit ausgeht, werden Begleitumstände ausgeschlossen – die Umstände einer Handlung oder Handlungsweise kommen für ihn moralisch nicht in Betracht, da sie bloß zur Unklarheit führen würden oder könnten. Gemäß dieser Konzeption war die Normativität des Verbindlichen im Grunde gar kein Problem, weil die Pflichten des Menschen unwandelbar waren und mittels einer abstrakten Formel ein für allemal festgestellt werden konnten.
CLARKE 1897, vol. II, 4–7. ROBIN LETWIN 1998, 22. 14 Vgl. auch JODL o. J., 252. 15 LOCKE 2004, 568. Locke war allerdings auch der Auffassung, Ethik als beweisbare Wissenschaft sei nichts für die Menge. Siehe RIVERS 2000, 68. 16 LETWIN 1998, 23. 12 13
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C. Verhandlungen über Pflichten in der Familie: Bilder und Szenen der Verbindlichkeit in Samuel Richardsons Briefroman Clarissa Worin gründet das Gefühl der Verbindlichkeit? Wie können Prinzipien der Gerechtigkeit Geltungskraft erlangen? Wie sind Tugend (virtue) und Pflicht (obligation, duty) verknüpft? Welche Formen von reziproker Gerechtigkeit sind für innerfamiliäre Verbindlichkeiten maßgebend? Und wie sind Pflichten und zugehörige moralische Diskurse mit der – grob gesagt – Machtfrage verbunden? Schließlich ist auch zu fragen, welche Geschlechterdimensionen mit dem Verbindlichkeitsdiskurs verbunden sind. Diese Fragen stellen sich trotz der glatten Lösungen von Philosophen wie Clarke und Cudworth, sobald die Eindeutigkeit der Theorie zugunsten der Vieldeutigkeit der Lebenswelt verlassen wird. Dann werden auch die oft recht komplexen Begleitumstände bedeutsam, die in den Theorien unwandelbarer Wahrheiten der Moral an den Rand gedrängt wurden. Für das Thema der Verbindlichkeit sei hier der gewaltige, 1500seitige Briefroman Clarissa (1747/48) – er enthält 537 Briefe in der Erstausgabe; dazu kommen noch etliche eingelegte Briefe – von Samuel Richardson herangezogen. Die dort narrativ entfalteten Auseinandersetzungen um die Pflichten und Rechte von Eltern und Kindern zeigen den Widerstreit und die inneren Widersprüche innerhalb der zeitgenössischen Verbindlichkeitsvorstellungen. Für eine genauere Kartierung des Feldes müsste auch der meist als Gegenpol begriffenen Romancier Henry Fielding einbezogen werde, der sich in seinem Werk mehrfach kritisch auf Richardson bezieht und dessen Tom Jones etwa gleichzeitig mit Clarissa erschien. Hier sei nur an die ironisch gebrochene Philosophenkritik dieses Romans erinnert, derzufolge zumindest die Theorien der Philosophen keinen nachhaltigen Einfluss auf das Verhalten der Philosophen selbst besitzen, also auch keine lebenspraktische Verbindlichkeit zu entfalten vermögen. 17 Der Roman Richardsons gehörte zu den populärsten Texten seiner Zeit; seine Konstruktion besteht darin, dass er eine so gut wie vollständig über fiktionale Briefe vermittelte Geschichte bietet. Rousseau, der den Text allerdings nur in französischer Übersetzung lesen konnte, hielt den Roman für unvergleichlich 18, Diderot verfasste eine hymnische Éloge auf Richardson 19 und der englische Literaturkritiker Samuel Johnson hielt Clarissa für „the first book in the world for the knowledge it displays of the human heart.“ Es handelt sich mithin um einen Text, der von anthropologisch wie psychologisch interessierten Lesern der Zeit nicht ignoriert werden 17 Siehe FIELDING 1991, 173–177 (Buch V, Kapitel 5). Zur literaturgeschichtlichen Konstellation Richardson-Fielding siehe den Klassiker von WATT 1983, 152–329. 18 ROUSSEAU 1987, 242. 19 Diese findet sich in der deutschen Übersetzung Johann Joachim Eschenburgs in: DIDEROT 1766, 118–140. Ein Neuabdruck wird erscheinen in: ESCHENBACH 2014.
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konnte. Clarissa verhandelt ausgesprochen ausdauernd und intensiv das Thema der Pflicht und der Verbindlichkeiten und rückt zweitens den in der Moralphilosophie eher vernachlässigten Aspekt der Geschlechterdimension von Verbindlichkeit in den Vordergrund.20 Es ist im Folgenden zwar eine nachrangige Erwägung, wie sich das im Ro man entfaltete Geschehen zu der moralphilosophischen Intention Richardsons selbst verhält. Denn es mag ja sein, das der Roman in seiner Komplexität die einsinnige Lesart des Autors selbst unterläuft. Dennoch hilft es, um eben diese Komplexität herauszustellen, sich kurz der moralischen Grundkonzeption zu versichern, die Richardson selbst mit seinem Briefroman verband. Diese war nämlich recht einseitig auf eine Affirmation der Pflichten der Kinder gegenüber ihren Eltern gerichtet, wie einerseits aus dem Briefwechsel hervorgeht, andererseits aus einer späteren, von Richardson selbst veranstalteten Ausgabe von Sentiments, Maximen, Warnungen und Reflexionen aus den Romanen Pamela, Clarissa und Charles Grandison.21 In einem Brief an Frances Grainger vom 22. Januar 1749/50 führt Richardson aus, wie er sich das Verpflichtungsverhältnis von Eltern und Kindern dachte. Danach hatte die Erfüllung der Kinderpflichten gegenüber den Eltern absoluten Charakter, weil im Falle der Nichterfüllung dieser Pflichten gleichsam die Axt an die Gesellschaftsordnung insgesamt gelegt würde, da Disziplin und Hierarchie schwinden würden. Zwar sah Richardson das Verhältnis von Eltern und Kindern als eines der Gegenseitigkeit an, doch hielt er auch die Nichterfüllung der Pflichten einer der beiden Seiten nicht für einen hinreichenden Grund, die Pflichten der anderen Seiten aufzuheben. Richardson vertrat demnach eine klassisch konservative Position: Be pleased, Madam, always to remember this Great Rule, inculcated thro’out the History of Clarissa, That in all reciprocal Duties the Non-Performance of the Duty on one Part is not an excuse for the Failure of the other. Why, think you, are future Rewards promised and future Punishments threatened? 22
Clarissa zeigt im Medium gleichsam mikroskopisch genau beobachteter und referierter Auseinandersetzungen um den Sinn und die Reich- wie Tragweite der Pflichten in der Familie, dass Verbindlichkeiten sich nicht in einem gewaltund zwangsfreien Raum entfalten, sondern stets verflochten sind mit verschiedenen Formen von Machtspielen. Pflichten und überhaupt moralische Diskurse haben damit immer per se eine politische Dimension; und dies nicht nur insofern, als die Erfüllung der Pflicht bzw. die Erwartung der Erfüllung der Pflicht das Kriterium für den innerfamiliären Begriff des Politischen darstellt. Denn Wichtige Aspekte des hier interessierenden Themas in Bezug auf Fragen der Reziprozität werden in dem folgenden instruktiven Aufsatz verhandelt; siehe ZIONKOWSKI 2011, 471–494. Für die Konfliktstruktur des Romans sei auch verwiesen auf M. CARDWELL 2006, 153–180. 21 RICHARDSON 1755. 22 Siehe den Brief von Samuel Richardson an Frances Grainger, in: RICHARDSON 1964, 141–150, hier 144. Dazu ZIONKOWSKI 2011, 474. 20
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die Erfüllung oder Nichterfüllung der Pflicht, definiert von den jeweiligen „Machthabern“ (die im Roman z. B. als Tyrann bezeichnet werden, wie Clarissas Vater etc.) ist geradezu der Punkt, an dem sich entscheidet, ob Clarissa im Letzten ein Freund oder ein Feind der Familie ist. Clarissas Freundin Miss Howe stellt so mehrfach explizit fest, dass die Mitglieder von Clarissas Familie nicht mehr gut als ihre Freunde bezeichnet werden könnten: „It is a sad thing to have to say, without being conscious of ever having given you cause of offence, that I have in you a brother, but not a friend.“23 Clarissa verknüpft diese Bestimmung der Beziehung – die natürliche Beziehung als Geschwister gegen die konventionelle als Freundschaft – explizit mit dem Diskurs der Verbindlichkeit, in dem es auch um die Geschlechterdimension der Moral geht: „Perhaps you will not condescend to enter into the reasons of your late conduct with a foolish sister: but, if politeness, if civility, be not due to that character, and to my sex, justice is.“24 Hier werden also die unterschiedlichen Grade der Verbindlichkeit angesprochen, wobei es klar ist, dass der Anspruch der Gerechtigkeit auf Verbindlichkeit größer ist als der auf niedere Stufen verbindlichen Verhaltens, die eher von rules of conduct regiert werden als von unabänderlichen Prinzipien – aber eben dies ist, so impliziert Clarissas Argumentation gegen ihren Bruder, das Wesen einer Gerechtigkeit, die Anspruch auf Allgemeingültigkeit haben kann. Zwang ist das moralphilosophische Korrelat der Unzuverlässigkeit und das heißt der Unverbindlichkeit – immer ein Zeichen dafür, dass der Appell an die Pflicht allein als angebliche absolute und d.h. kontextlos unbedingte Forderung nicht ausreicht, um ein gewünschtes Verhalten bei anderen hervorzubringen.
D. Richardson und Mandeville Aus dem ausgesprochen umfangreichen Werk Richardsons soll hier nur noch eine weitere Stelle mit philosophischem Bezug diskutiert werden. Sie ist deshalb von Interesse, weil hier der Erzschurke des Romans, der Libertin Robert Lovelace, dem man eine solide Universitätsbildung nicht absprechen kann, ein – aus der Sicht der traditionellen Moral freilich: zynisches, machiavellistisches, pro domo ausgerichtetes – Argument vorträgt, das seine Verführung Clarissas legitimieren soll. Diese Begründung leistet er unter Berufung auf Bernard Mandeville, den Autor der Fable of the Bees (zuerst 1714; erweitert 1723).25 Mandeville hatte bekanntlich die auch ökonomisch durchaus fundierte These vertreten, dass von der traditionellen Moral als „Laster“ (vice) bezeichnete Handlungen gesamtgesellschaftlich nützlich, weil wohlstandsfördernd, RICHARDSON 1985, 137 (Letter 29.1). Ebd., 137. 25 Zu Mandeville siehe LINARES 1998; sowie TOLONEN 2013. 23 24
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seien.26 Mandevilles Theorie wurde stark kritisiert und galt als Ausdruck machiavellistischer bzw. zynischer Menschenbilder. Mandeville, so Jonathan Israel, was one of the most widely denounced of early eighteenth-century radical writers. What especially appalled contemporaries was his eliminiation of all Bible-based and religionbased morality and his redefinition of man not just ‘as an animal having like other animals nothing to do but to follow his appetites’, but as an entirely determined being lacking free will […].27
Im Rahmen einer solchen Anthropologie hatte der Gedanke einer moralischen Verbindlichkeit keinen Raum. Es kann auch nicht verwundern, wenn Mandeville aus seiner interessenbezogenen Position etwa Shaftesbury gerade dafür angriff, „a new absolute criterion for moral qualities and judgements“ zu entwickeln, wie Jonathan Israel dies formuliert. 28 Von der daraus resultierenden zweifelhaften Reputation Mandevilles in moralphilosophischer Hinsicht legt auch die folgende Textstelle in Clarissa Zeugnis ab, in der Lovelace gleichsam ein „arguing from rake to rake“ praktiziert, also ein Argument entwickelt, das nur als esoterisches verstanden werden kann und damit gleichsam in der Tradition einer höfischen Moral der Verstellung steht. 29 Es handelt sich also um ein Argument, dem es an Aufrichtigkeit fehlt und das deshalb auch das Kriterium der Publizität verfehlen muss. Nachdem Lovelace sich geschickt auf die lange Tradition falscher Schwüre in der Dichtkunst berufen hat, geht er dazu über, in sophistischer Weise den sozialen Nutzen seiner Verführung Clarissas darzustellen: Do not the mothers, the aunts, the grandmothers, the governesses of the pretty innocents, always, from their very cradles to riper years, preach to them the deceitfulness of men? – That they are not to regard their oaths, vows, promises? – What a parcel of fibbers would all these reverend matrons be, if there were not now and then a pretty credulous rogue taken in for a justification of their preachments, and to serve as a beacon lighted up for the benefit of the rest? Do we not then see that an honest prowling fellow is a necessary evil on many accounts? Do we not see that it is highly requisite that a sweet girl should be now and then draw aside by him? – And the more eminent the lady, in the graces of person, mind, and fortunes, is not the example likely to be the more efficacious? If these postulata be granted me, who I pray, can equal my charmer in all these? Who therefore so fuit for an example to the rest of the sex? – At worst, I am entirely within my worthy friend Mandeville’s rule, That private vices are public benefits. Well then, if this sweet creature must fall, as it is called, for the benefit of all the pretty fools of the sex, she must; and there’s an end of the matter. And what should there have been in it of uncommon or rare, had I not been so long about it? – And so I dismiss all further
Siehe jetzt auch: MÜLLENBROCK 2012, 81–87. ISRAEL 2001, 625. 28 Ebd.. 29 Siehe MEBOLD 1991, 250. 26 27
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argumentation and debate upon the question: and I impose upon thee, when thou writest to me, an eternal silence on this head. 30
Die zynische Argumentation Lovelaces, wonach sein lasterhaftes Verhalten tatsächlich für den moralischen Gesamthaushalt der Gesellschaft von Vorteil ist, steht in einem aufschlussreichen Spannungsverhältnis zu anderen Passagen, in denen er sich explizit, aber eben rein instrumentell, 31 auf Verbindlichkeitskonzeptionen beruft, die auf Reziprozität beruhen. Auf Clarissas Klage hin, sie sei von einem „state of independency“ in einen Zustand der „obligation“ geworfen worden, argumentiert Lovelace mit einer Affirmation des Prinzips der Gegenseitigkeit, das die Grundlage des gesellschaftlichen und ökonomischen Lebens sei: She never was in a state of independency; nor is it fit a woman should, of any age, or in any state of life. And as to the state of obligation, there is no such thing as living without being beholden to somebody. Mutual obligation is the very essence and soul of the social and commercial life — Why should she be exempt from it — I am sure the person she raves at, desires not such an exemption — has long been dependent upon her, and would rejoice to owe further obligations to her than he can boast of hitherto. 32
Lovelace sucht hier sein Verhalten unter Berufung auf Bernard Mandevilles Moralphilosophie zu rechtfertigen, um seinen privaten Lastern eine Nützlichkeitsfunktion in der säkularen Heilsökonomie zuzuschreiben. Auch dahinter steht eine direkt bei Mandeville selbst nachweisbare Haltung, die sich auf die Legitimität der Leidenschaften sowie auf ihre Maskierung bezieht. Mandevilles Denken wurde bekanntlich von den Zeitgenossen fast durchgängig als AntiMoralphilosophie rezipiert. Dies erscheint nachvollziehbar, wenn man etwa an Mandevilles Satz in der Fable of the Bees denkt: „But a Man need not conquer his Passions, it is sufficient that he conceals them.“ 33 Lovelace beruft sich an anderer Stelle gegenüber seinem Vertrauten Belford, also wiederum esoterisch, auf die Hiob-Geschichte, die im 18. Jahrhundert ein zentraler Referenzpunkt für die Frage nach dem Grund der Verbindlichkeit war. Denn wie stark, so musste man im Hinblick auf Hiob fragen, kann die Verbindlichkeit tugendhaften und aufrechten Verhalten sein, wenn sich in handfester Weise das Problem der göttlichen Gerechtigkeit stellt und vor allem, wenn die Frage aufgeworfen wird, ob und inwiefern Aufruhr (Rebellion) gegen eine Autorität legitim sein kann. Lovelace identifiziert sich selbst mit Satan, um Clarissa auf die Probe zu stellen – so zumindest sein trickreiches Argument. Clarissa wird also von Lovelace recht deutlich mit Hiob verglichen, der gezielt
RICHARDSON 1985, 847 (Letter 246). Siehe auch Selected Letters of Samuel Johnson, 113. Johnson nennt hier „political“ als Gegensatz zu „Principle“. 32 RICHARDSON 1985, 760 (Letter 231). 33 MANDEVILLE 1988, 72. 30 31
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Anfechtungen ausgesetzt wird, die seinen Zweifel an der moralischen Weltordnung und einer höheren Gerechtigkeit schüren sollen. 34 Die Ambivalenz, die viele Leser des Romans gegenüber dem satanischen Schurken Lovelace empfanden, dass sie sogar wünschten, Clarissa hätte ihn heiraten sollen, beunruhigte Richardson, weil sich seine Fiktion nicht einfach seiner Version einer eindeutigen Moralkonzeption fügen wollte. 35 Richardsons Vorstellungen einer verbindlichen Moral lassen sich fiktional nicht endgültig autorisieren.
E. Sentimentale Reisen im Reich der Tugend: Verbindlichkeit und Empfindsamkeit Mit dem Aufkommen der Empfindsamkeit stellt sich die Frage nach der Verbindlichkeit moralischer Normen in gewisser Weise in verschärfter Form. Denn wie verbindlich kann die Norm der Tugend als einer Sache der Vernunft sein, wenn die gefühlsmäßige Reaktion auf die Wirklichkeit in den Vordergrund rückt? Wie verhält sich Verbindlichkeit zur Empfindsamkeit? 36 Laurence Sterne, der berühmte Verfasser des Tristram Shandy und der freieste Schriftsteller aller Zeiten (Nietzsche), verhandelt in seiner Sentimental Journey (1768) den Widerstreit von Gefühl, erotischer Versuchung und Tugend bzw. Pflicht nicht im Rahmen einer philosophischen Abhandlung mit Objektivitätsanspruch, sondern eben spielerisch im Medium der literarischen Imagination. Dadurch bekommt das Schwanken der Moralbegriffe einen eigentümlichen Charakter, da schon die Darstellungsart keine allgemeine Verbindlichkeit mehr zulässt, sondern die unaufhebbare Individualität der moralisch relevanten Gefühlsstimmung in den Vordergrund rückt. So beginnt der diegetische (Ich-)Erzähler Yorick das dritte Kapitel mit einer Reflexion auf die Frage nach der Ursache moralisch relevanter Gemütsschwankungen, wenn er räsoniert: No man cares to have his virtues the sport of contingencies – or one man may be generous, as another man is puissant […] for there is no regular reasoning upon the ebbs and flows of our humours; they may depend upon the same causes, for aught I knbow, which influence the tides themselves – ‘twould oft be no discredit to us to suppose it was so: I’m sure at least for myself, that in many a case I should be more highly satisfied, to have it said by the world, ‘I had an affair with the moon, in which there was neither sin nor shame,’ than have it pass altogether as my own act and deed, wherein there was so much of both. 37
Siehe etwa PARRINDER 2006, 113–116; BUELER 1995, 55. Siehe z. B. RICHARDSON 1964, 92, 102–103, 113, 141. 36 BODE [1776] 1986, 6f. Zur Empfindsamkeit als Überblick siehe SAUDER 2000, 202–206. Eine ältere Darstellung aus viktorianischer Zeit, die den literarischen Sentimentalismus im Kontext des englischen Denkens behandelt, bietet STEPHEN 1881, Vol. II, 436–443. 37 STERNE 1967, 29. 34 35
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Es hat so zunächst den Anschein, als würden Vorstellungen von Pflicht und Tugend durch die Betonung der Empfindsamkeit (sensibility) mehr oder weniger abgeschwächt oder gar zersetzt, so dass die empfindsamen Gefühle das Primäre sind, die Pflicht aber etwas Abgeleitetes. Entscheidend aber für das normative Gesamtgefüge ist, dass der objektive Vorrang der Pflicht dadurch nicht in Frage gestellt wird, sondern als etwas erscheint, das seine Verbindlichkeit nicht automatisch, ohne Ansehung der Begleitumstände, erhält. Sterne führt den Kampf um die Verbindlichkeit der tugendhaften Moral auf humorvolle Weise in einer Szene aus der Sentimental Journey vor, in der Yorick, die Hauptperson des merkwürdigen Romans, ein mit erotischen Untertönen verbundenes Erlebnis mit einem Zimmermädchen schildert. Das Kapitel trägt den Titel „Temptation“ und präsentiert, zusammen mit dem nachfolgenden Kapitel „The Conquest“, ein fiktionales Spiel mit den Kategorien der Versuchung und der Eroberung (im erotischen Sinne ebenso wie als Selbstüberwindung), das Vorstellungen moralischer Verbindlichkeit nicht bejaht, ohne sie zuvor dem imaginativen Überschreiten seitens des Leser ausgesetzt zu haben. 38
F. Die reductio ad absurdum einer verbindlichen Moral durch hypothetische Konsequenzenberechnung: William Godwin und seine Kritiker Dieser kursorische Überblick zu Formen philosophischer und literarischer Reflexion von Verbindlichkeit in Großbritannien findet seinen Schlusspunkt in der berühmt-berüchtigten Falldarstellung einer Moral der Gerechtigkeit bei William Godwin. Im Wechselspiel von Philosophie und Literatur zeigt sich hier, wie sich der philosophische Diskurs bei Godwin durch den Einsatz von moralphilosophischen Mini-Erzählungen für narrative Umschreibungen in parodistischer Form öffnet, die aber für die weitere Rezeption der Godwinschen Moraltheorie im Grunde vernichtend waren. Godwin führt auch in den einschlägigen Philosophiegeschichten oft ein Schattendasein, 39 ist aber in der Literaturgeschichtsschreibung nicht nur als Partner der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft und als Vater der gemeinsamen Tochter Mary Shelley ein Begriff. Sein monumentales Hauptwerk Enquiry Concerning Political Justice erschien erstmals 1793. Im zweiten Kapitel des zweiten Buches „Of Justice“ entwickelt Godwin sein Konzept verbindlicher Moral am Beispiel eines weiteren Extremfalles, nachdem wir bereits Clarissa als Darstellung einer moralischen Extremsituation kennengelernt haben.
38 39
Ebd. 115–118. Siehe aber PORTER 2001, 455–459.
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Godwins Beispiel besteht darin, dass er annimmt, das Haus des Bischofs Fénelon, des späteren Verfassers der Abenteuer des Telemach, stehe in Flammen und es sei nur Zeit, entweder Fénelon oder sein Zimmermädchen aus dem Feuer zu retten. Für Godwin steht es außer Frage, dass Fénelon gerettet werden müsste, was er folgendermaßen begründet: Supposing the chambermaid had been my wife, my mother or my benefactor. This would not alter the truth of the propositions. The life of Fénelon would still be more valuable than that of the chambermaid; and justice, pure, unadulterated justice, would still have preferred that which was most valuable. Justice would have taught me to save the life of Fénelon at the expence of the other. What magic is there in the pronoun ‘my,’ to overturn the decisions of everlasting truth? My wife or my mother may be a fool or a prostitute, amlicious, lying or dishonest. If they be, of what consequence is it that they are mine? 40
Godwins Beispielerzählung bezieht sich unmittelbar auf das Problem der Verbindlichkeit abstrakter oder allgemeiner Prinzipien der Gerechtigkeit. Denn es geht ihm darum, ein Prinzip der Gerechtigkeit zu etablieren, das so absolut gilt wie die unveränderlichen moralischen Normen der traditionellen Moral. Dabei muss aber von auf das Eigene bezogenen Gefühlen abgesehen werden, die gegenüber dem rationalistisch-utilitaristischen Kalkül entmündigt werden. Da nur die Vernunft selbst ein Kriterium für moralische Verbindlichkeit bieten kann, wählt Godwin bewusst ein Fallbeispiel, in dem die putative kontraintuitive Gefühlsreaktion seiner Leser besonders hervorsticht. Die Unparteilichkeit (impartiality) kann nach Godwin als eine Pflicht im Interesse des Allgemeinwohls verstanden werden, die unabhängig von ihrer gegenintuitiven Anmutung erfüllt werden muss. 41 Für Godwin ist Gerechtigkeit identisch mit „that impartial treatment of every man in matters that relate to his happiness, which is measured solely by consideration of the properties of the receiver, and the capacity of him that bestows“. Das verbindliche Prinzip der Gerechtigkeit bestehe daher darin, „no respecter of persons“ zu sein. Moralisches Verdienst wird hier als Wert gedeutet, der eine objektive Pflicht nach sich zieht, diesen Wert auch in seinen Handlungen zugrunde zu legen. Godwins Prinzip hat jedoch ausweislich seines eigenen Beispiels nicht nur mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass seine Konklusionen gegenintuitiv sind, sondern auch damit, dass die Fallkonstruktion auf dem beruht, was ich ein ‚unmögliches bzw. hypothetisches Wissen‘ nennen möchte. Godwin begründet den angeblich höheren Wert Fénelons so: In saving the life of Fénelon, suppose at the moment he conceived the project of his immortal Telemachus, I should have been promoting the benefit of thousands who have been cured by the perusal of that work of some error, vice and consequent unhappiness. Nay, my benefit would extend further than this; for every individual, thus cured, has become a better member 40 So die Erstausgabe der Enquiry Concerning Political Justice, 83, hier zitiert nach CLAIR 1990, 75. 41 Vgl. Ebd., 197.
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of society, and has contributed in his turn to the happiness, information and improvement of others.42
Gegen eine solche Moralkonzeption der strikten Verbindlichkeit eines gesamtmenschheitlichen Nutzenkalküls kann philosophische Argumentation vielleicht weniger nachhaltig etwas ausrichten als das literarische Mittel der Parodie.43 George Walker lässt in seinem satirischen anti-jakobinischen Roman The Vagabond von 1799 die Romanfigur Frederick genau über einen solchen Fall berichten, wie ihn sich Godwin ausgedacht hatte. Er kann sich nicht entscheiden, wen er retten soll – hier Amelia oder ihren Vater:44 In this dilemma, it was impossible to save both: – “Were Stupeo [d.i. Godwin, TK] here,“ cried I, „he would tell which is the most deserving of life; but I shall commit some injustice, if I save the life of the one with the lesser merit.“ („Let go the ladder,“ cried several; „why do you keep it useless?“) I, at that moment, remembered a parallel case, quoted by the excellent philosopher, Stupeo, in support of the new political justice. – „Suppose,“ said he, „the Archbishop of cambray and his maid are both in danger of perishing in flames, which ought I to save? The maid, a stupid creature, little better than a brute; – the Archbishop, a man of eminent virtue and learning, and the author of Telemachus. To save the one, at the hazard of my own life, is scarce more virtue than to save a dog; but to save the Archbishop, is an act of the highest virtue; because all actions are to be esteemed in exact proportion to the merit of the person receiving benefit. Now the difficulty is, in the present case, to know whether the farmer or his daughter is of most value to mankind. The farmer cultivates the earth, and provides for his family in a gross kind of way: the daughter is young, and may add many to the human species: but then – –“ I was calmly proceeding, in spite of the struggles of the men to wrest the ladder from me, when a tremendous crash and a large column of flame ended my discussion, and I had the horror to see the farmer and his daughter both overwhelmed in the burning ruins. I was shocked at so dreadful an accident, which would not have happened had Stupeo been there: but in this present rascally system of government and society, virtue will not always succeed; and no man can be condemned, if evil should result from a good intention.
Mit Godwins heftig debattiertem Versuch, eine streng rationalistisch-utilitaristische Ethik zu begründen, kommt der britische Verbindlichkeitsdiskurs an einen Punkt, wo sich moralisches Empfinden und Denken nicht mehr in Einklang bringen lassen, auch wenn dem Utilitarismus nicht zuletzt in der Version John Stuart Mills noch eine nachhaltige Wirkung beschieden sein sollte. Godwins unbeabsichtigte reductio ad absurdum einer aufklärerisch-utilitaristischen Moral zeigt eine Sackgasse an, welche die Frage aufwirft, ob sich Verbindlichkeiten überhaupt in rein rationaler Weise begründen lassen. Für Godwin selbst 42 GODWIN 1985, 169–170. Zu Godwins politischer Philosophie allgemein siehe PHILP 1986. Seine Gerechtigkeitstheorie wird im Kontext seines Menschenbildes dargestellt von AMMITZBØLL 1991, 63–92. 43 Zur zeitgenössischen Kritik an Godwin siehe SPRAGUE 1918, 225–243. 44 WALKER 2004, 84–85. Siehe dazu im Kontext von Godwins Theorie der impartiality sowie der Themen Ehe, Familie und Geschlechterrollen in anti-jakobinischen Romanen der 1790er Jahre die materialreiche Studie von FISCHER 2010, 211–214.
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jedenfalls führt erst die lebensweltliche Auseinandersetzung mit dem Schicksal seiner Frau Mary Wollstonecraft zu einer stärkeren Revision seiner Anthropologie, die auch den Gefühlen, den „domestic and private affections“, wieder einen Ort zuweist, so dass er schließlich im Vorwort zu seinem Roman St. Leon einen immanenten Widerspruch zwischen seinem Prinzip der Gerechtigkeit und diesen persönlichen Beziehungen zu bestreiten suchte. 45
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45
GODWIN 1831, IX–X.
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Verbindlichkeit in der Aufklärungspädagogik Pestalozzi über Pflicht und Sittlichkeit Kevin M. Dear
A. Motive der Aufklärungspädagogik Der Begriff der Verbindlichkeit, verstanden als handlungsnormierende Kategorie der moralphilosophischen und naturrechtlichen Diskurse des 18. Jahrhunderts, verweist in einen Bereich, in dem sich die Praktische Vernunft in einem dialogischen Verhältnis der Subjekte zeigt. Es geht um den Bereich der paideia, den Bereich von Erziehung und Bildung des Menschen. Von besonderem Interesse ist die Epoche der Aufklärung und speziell das 18. Jahrhundert, da dieses immer wieder und mit nicht nachlassender Wirkung als „das pädagogische Jahrhundert“ bezeichnet wird. 1 Das ist in gewisser Weise auch das Selbstverständnis der Epoche. Das 18. Jahrhundert ist durch die gesellschaftspolitischen Umbrüche in positiver Hinsicht geprägt von einer regelrechten Aufbruchstimmung in Bezug auf die Rolle der Erziehung. Es herrscht eine außerordentliche Hoffnung vor, die die Einflussmöglichkeit erzieherischer Praxis auf die Entwicklung des sittlich-moralischen Zustands der Gesellschaft in den Blick nimmt. Dafür bedurfte es einer Neugestaltung vor allem der öffentlichen Erziehung. Anton Hügli merkt dazu in seiner Studie zu Philosophie und Pädagogik an: Grundprämisse für diese Ausdifferenzierung des Erziehungssystems ist die heute kaum mehr nachvollziehbare, radikale These, dass der Mensch alles, was er sei, der Erziehung verdanke […], und die auf diese These gestützte Überzeugung, dass es dem Menschen als Individuum und der Menschheit als ganzer bestimmt sei, zu immer größerer Vollkommenheit voranzuschreiten.2
Ob diese Kennzeichnung berechtigt ist, ist gewiss eine Frage der historisch orientierten Erziehungswissenschaft und kann hier nicht im Einzelnen beleuch-
Vgl. etwa TENORTH 2010, 78ff. HÜGLI 1999, 7. Dieser von Hügli pointiert formulierte Gedanke lässt sich bei so unterschiedlichen Denkern wie d’Holbach, Locke, Herder und nicht zuletzt Kant finden, vgl. ebd. 1 2
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tet werden. Dennoch soll zumindest darauf hingewiesen werden, dass eine kritische Beurteilung der These – und damit der Begrifflichkeiten und Umstände – mindestens auf zwei Dinge fokussiert. Zum einen auf die Tatsache, dass der Anstieg pädagogischer Literatur und pädagogischer Ideen in Europa bereits weitaus früher zu verzeichnen ist, und hierfür sind etwa John Lockes Some Thoughts concerning Education, die 1693 erschienen, nur ein zentrales Beispiel. Zum anderen geht es um die problematische Kennzeichnung dessen, was als ,pädagogisch‘ galt bzw. gelten sollte. Das, was im Nachhinein als ,pädagogisch‘ deklariert wurde, erscheint bei näherer Betrachtung vielmehr als pädagogische Komponente eines anders gelagerten Diskurses, nämlich des Tugenddiskurses des 18. Jahrhunderts. Jürgen Oelkers etwa hat gezeigt, wie die aus diesem Diskurs erwachsenen moralischen Forderungen einer Gleichsetzung im Nachhinein von Pädagogik und Versittlichung (dem eigentlichen Ziel des Diskurses) gleichkommt. So schreibt er über die pädagogischen Bemühungen der europäischen Aufklärung: Die programmatisch erfolgreichen Erziehungskonzepte gehen alle von der unbedingten Präferenz sittlicher Beeinflussung aus. Sie sind Teil des Tugenddiskurses, der bis weit ins 20. Jahrhundert hinein christlich gestimmt ist. Was für gewöhnlich die Pädagogik der Aufklärung genannt wird, ist wesentlich dies, der Versuch, die Welt sittlich zu machen, und zwar über die Tugend von Personen. 3
Im deutschsprachigen Raum schlägt sich dieser Erziehungsoptimismus beispielhaft in den Bemühungen der „Gesellschaft praktischer Erzieher“ um Joachim Heinrich Campe (1746–1818) nieder. Campe gibt zwischen 1785 und 1792 die 16-bändige Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens heraus, an der bekanntermaßen namhafte Vertreter der deutschen Aufklärungspädagogik mitarbeiten und in der Übersetzungen von Roussea us Emile abgedruckt werden. In der Schweiz versucht sich unterdessen eine weitere – heute zum Klassiker der Pädagogik avancierte – Erziehergestalt an theoretischer und praktischer Auseinandersetzung mit pädagogischen Fragen: Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827). Auch er fällt in die Zeit einer aufstrebenden Wissenschaft namens Pädagogik, die er nachhaltig beeinflussen wird. Auf der anderen Seite sollte Folgendes beachtet werden: Im 18. Jahrhundert nun löst sich die Pädagogik ab von der Philosophie und wird zur eigenständigen Disziplin. Sie wird dabei verstanden als wissenschaftliche Reflexion über die Erziehung des Menschen. 4 Am Beginn also einer Pädagogik, die – kantisch
Die konzise Darstellung findet sich in: OELKERS 1995, insb. 25–35 (hier 26). Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist beispielsweise die Errichtung eines ersten Lehrstuhls für Pädagogik 1779 in Halle, dessen erster Inhaber Ernst Christian Trapp (1745– 1818) ist. Trapp ist ebenfalls Mitglied des Kreises um Campe und Mitarbeiter am Revisionswerk. Vgl. hierzu SCHMID 2006, 15–36 sowie zur Entwicklung des Revisionswerkes: AUSTERMANN 2010. 3 4
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gesprochen – als Wissenschaft wird auftreten können, vereinen sich erkenntnistheoretische, politisch-soziale und ethische Fragen. 5 So gibt es wohl auf einer allgemeineren Ebene gewisse Grundhaltungen und Annahmen, die einen anderen, gleichsam innovativen Blick auf die Rolle von Erziehung und Bildung im 18. Jahrhundert exponieren. Herwig Blankertz hat die grundlegenden Überzeugungen, die das pädagogische Denken der Aufklärung kennzeichnen, herausgearbeitet. 6 Folgt man Blankertz, können folgende, allgemeine Gesichtspunkte herausgegriffen werden: (1) „Erziehung liegt in der Hand des Menschen und kann zum Gegenstand der eigenen Reflexion gemacht werden.“7 Bereits im 17. Jahrhundert war ein rasanter Anstieg pädagogischer Literatur zu verzeichnen. Konsequenterweise war dies der Beginn einer Forderung nach einer Wissenschaft von der Erziehung. (2) „Erziehung führt in das wirkliche Leben, und das wirkliche Leben erfordert ausdrücklich Erziehung.“8 Hiermit ist die bereits von Locke (in seiner Erziehungsschrift von 1693) angesprochene Zurückweisung der Buchschulen als bloße Wissensvermittlung gemeint. Das neue didaktische Programm heißt – verkürzt und zugespitzt: res, non verba. Erziehung, so das erklärte Ziel, diene der Bewährung im gesellschaftlichen Leben. Erziehung und Bildung sollten fortan der Vorbereitung auf das „wirkliche Leben“ dienen. An dieser Stelle ist noch nichts darüber ausgesagt, was das „wirkliche Leben“ sei, dennoch erkannten die Pädagogen des 18. Jahrhunderts, „daß nicht nur intellektuell-kognitive Schulung, sondern auch Leibes- und Handfertigkeitsübungen, moralische, emotionale und ästhetische Verhaltensorientierungen notwendig und möglich waren.“9 (3) „Es gibt die Methode der richtigen Erziehung.“10 Hierzu ist zu sagen, dass die Anfänge einer Wissenschaft von der Erziehung gleichbedeutend waren „mit dem Glauben an die Kraft der Vernunft, die Eigenstruktur der Erziehung […] freilegen zu können.“ 11 Daraus ergibt sich die Überzeugung, eine lehr- und
Vgl. ROESSLER 1961, 257ff. BLANKERTZ 1982. Es sollen vier der insgesamt sechs Thesen, die Blankertz nennt, aufgegriffen werden. Die anderen beiden Punkte beziehen sich auf die Auswirkungen der Grundthesen auf die Institution Schule und die daraus resultierende Reform ebendieser. Darin werden sowohl der Ruf nach einer allgemeinen Schulpflicht sowie nach Emanzipation der Schule aus der Bevormundung der Kirche deutlich (vgl. ebd., 30). Dagegen präferierte Locke etwa den Hausunterricht, d.h. die Privaterziehung durch einen tutor, sodass hier der Begriff des Öffentlichen noch kennzeichnend hinzutritt. 7 Ebd., 28. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd., 29. 11 Ebd. 5 6
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lernbare Methode entwickeln zu können, die exakt beschrieben und dargestellt werden kann. Die ‚Stunde der Didaktik‘ (Blankertz) hatte geschlagen. 12 (4) „Erziehung kann das Kind als Kind (nicht nur als kleinen Erwachsenen) sehen.“ Rousseau gilt als „Entdecker des Eigenrechts des Kindes“. Rousseaus Begründung dieses Eigenrechtes im Emile mag als herausragend bezeichnet werden, die Idee dahinter ist freilich älter und bei vielen Pädagogen der Aufklärung verbreitet. Die hier zum Ausdruck kommende Sichtweise hängt offenbar zusammen mit der aufkommenden Anthropologie: „Von der Einsicht in den Menschen aber war es nur ein kleiner Schritt, mit dem der erwachsene Erzieher das Kind als Kind verstehen und behandeln zu können glaubte“, so Blankertz.13 Ergänzt wird dies durch die Auswirkungen der Grundthesen auf die Institution Schule und die daraus resultierende Reform ebendieser. Darin werden sowohl der Ruf nach einer allgemeinen Schulpflicht sowie nach Emanzipation der Schule aus der Bevormundung der Kirche deutlich. Damit einhergehend ergeben sich Hoffnungen, Ansprüche und eine immense „Erwartungshaltung“ an eine methodische Beeinflussung der heranwachsenden Generation, die bis hin zu regelrechten „Allmachtsansprüchen der ,richtigen Erziehung‘“ 14 führte. Die Ambivalenzen der Aufklärung spiegeln sich in einer bemerkenswerten Weise im inner-pädagogischen Diskurs dieser Zeit, d.h. in der Ausformung erzieherischer Ideale, Ziele und vor allem Mittel und Wege, wieder. Insgesamt sollte also dem Menschen zu seiner wahren Natur verholfen werden. Pädagogik dient dann der ,Menschwerdung des Menschen‘. Kant formuliert das exemplarisch in seiner Vorlesung über Pädagogik (1803 veröffentlicht): „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss. […] Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht“. 15 Die Pädagogik war bereits in ihren Anfängen mit dem Problem konfrontiert, diese Hoffnungen und Erwartungen mit der widersprüchlichen Natur des Menschen zu versöhnen, das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft zu klären, ohne dabei in ,Sozialdisziplinierung‘ zu verfallen, und Freiheit (Autonomie) und Zwang (erzieherisches Einwirken) zusammendenken zu müssen. Die Problematik der Anfänge besteht bis weit in das 19. Jahrhundert hinein und zwar in der Frage, ob es verbindliche Normen und Ziele in der Erziehung gibt. Ob alle die von Blankertz angesprochenen Sachverhalte, Ansichten und Thesen auch auf Pestalozzi – der hier näher thematisiert werden soll –, genauer gesagt auf seine Sichtweise menschlicher Entwicklung und Vervollkommnung 12 Die Didactica Magna des Jan Amos Comenius, die in den Jahren um 1638 entstanden war, erschien 1657. Vgl. BLANKERTZ 1982, 33–36. 13 BLANKERTZ 1982, 29. 14 OELKERS 1995, 33/34. 15 KANT 1923, AA IX, 441, 443.
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zutreffen, ist eine durchaus spannende, wenngleich nicht leicht zu klärende Frage, die sich wohl nur in einer umfassenden Analyse seines anthropologischen Denkens und in einer Gesamtschau seiner intellektuellen und publizistischen Entwicklung beantworten lässt. 16 Im Folgenden soll nun die These vertreten werden, dass Pestalozzi, als prominenter Vertreter der Aufklärungspädagogik, der Frage nach verbindlichen Anforderungen und verbindlichen Normen in der Erziehung des Menschen mit Hoffnung und Skepsis zugleich begegnet. Dazu soll seine Schrift Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts näher untersucht werden. Insbesondere soll es um die Verortung der Begriffe der Pflicht und der Sittlichkeit innerhalb der Nachforschungen gehen, um sich dieser Frage anzunähern.
B. Über Pestalozzis Nachforschungen Die innige Verwobenheit von Philosophie und Pädagogik merkt man auch den Nachforschungen an, die 1797 erschienen sind. 17 Hier entwickelt Pestalozzi eine pädagogische Anthropologie, die sich von der Grundfrage „Was ist der Mensch?“ leiten lässt und die eine Reflexion der individuellen Entwicklung des Menschen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Kategorien – welche das sind, darauf komme ich gleich zu sprechen – darstellt. Der Pestalozzi-Forscher Arthur Brühlmeier konstatiert zum Menschenbild Pestalozzis, dass sein gesamtes anthropologisches Philosophieren geprägt [ist] durch einige wenige fundamentale Annahmen, aus denen sich seine gesellschaftstheoretischen, politischen, pädagogischen, theologischen und psychologischen Positionen ableiten lassen. 18
In Analogie zur Natur des Einzelnen geht es ihm um die Entwicklung der Menschheit als Ganzer. Es lässt sich also behaupten, dass Pestalozzi Ontogenese und Phylogenese analog betrachtet. 19 Oelkers konstatiert im Anschluss an Spranger, dass der Text insgesamt in der pädagogischen Forschung als „schwierig“ und „vertrackt“ gilt, wohl aufgrund seines Aufbaus, seiner inneren Struktur sowie aufgrund der Eigenlogik, die Pestalozzi hier entwickelt. 20 Die Nachforschungen sind indessen bewusst recht persönlich gehalten, nicht ohne Grund steht im Titel „Meine Nachforschungen“. Zu Beginn des Textes erläutert Pestalozzi die Ausgangsfragen seiner Untersuchung:
Vgl. hierzu FUCHS 1995, 95–122. PESTALOZZI 1938. Im Folgenden zitiert als PSW XII. 18 BRÜHLMEIER 2014. Vgl. auch ders. 1976, 21f. 19 Vgl. auch TSCHÖPE-SCHEFFLER 1996, 64. 20 Vgl. OELKERS 1987, hier 28. 16 17
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Was bin ich, und was ist das Menschengeschlecht? Was hab ich getan, und was tut das Menschengeschlecht? Ich will wissen, was der Gang meines Lebens, wie es war, aus mir gemacht hat; ich will wissen was der Gang des Lebens, wie er ist, aus dem Menschengeschlecht macht. Ich will wissen, von was für Fundamenten mein Tun und Lassen […] eigentlich ausgehen […].21
Dazu muss Pestalozzi, wie er selbst sagt, den „Faden“ finden, entlang welchem er dieser Entwicklung nachgehen kann. Dem Leser vermittelt sich der Eindruck, als würde Pestalozzi hier eine Art Introspektion betreiben, ein in sich hineinhorchen. Es ist keine cartesische Methode, sondern vielmehr das Explizit-Machen von Erfahrungstatsachen. Schließlich stößt Pestalozzi auf zunächst zwei Wahrheiten. Erstens stehe der Mensch grundsätzlich in bestimmten Verhältnissen, a) zu den Dingen in seiner Umgebung, zu anderen Menschen etc. und b) zu sich selbst. Zweitens findet der Mensch beim „Hineinhorchen“ in sich etwas, dass ihn darüber hinaus auszeichnet: „Ich finde in mir selbst ein Wohlwollen“, schreibt er.22 Gleichzeitig ist die Natur des Menschen geprägt von Spannungen und Widersprüchen. Der Begriff des Widersprüchlichen ist hier von besonderer Bedeutung. Pestalozzi legt ein dualistisches Konzept zugrunde, indem er zwischen der „sinnlichen“, triebhaften Natur und der „höheren“ Natur unterscheidet. Da der Mensch erstere mit den Tieren teilt, spricht Pestalozzi auch oftmals von der „tierischen Natur“ des Menschen. Die höhere Natur indes, und damit die Fähigkeit, das Gute und Wahre zu erkennen, den eigenen Egoismus zu überwinden und verantwortlich handeln zu können, wird als „göttlicher Funke“ bezeichnet. Pestalozzi denkt beide Naturen in einem dynamischen Konzept. Dieses innerliche Spannungsverhältnis, diese innere Dynamik zeichnet nun die Entwicklung des Individuums aus und ebenso die Entwicklung des Menschengeschlechts. An dieser Stelle, so scheint es, vollzieht sich ein gedanklicher Sprung in Pestalozzis Konzeption: Um diese Dynamik zu beschreiben, bedient sich Pestalozzi eines dreistufigen Modells. Pestalozzi beschreibt eine Entwicklung vom Naturstand, zum gesellschaftlichen Zustand, hin zum sittlichen Zustand. Mit „Naturstand“ verwendet Pestalozzi eine Begrifflichkeit, die innerhalb der Tradition der Politischen Philosophie „Naturzustand“ heißt und die bekanntermaßen einen vorgesellschaftlichen sowie vorpolitischen Zustand beschreiben soll. Gewiss dient der Begriff in der neuzeitlichen Politischen Philosophie dazu, um von den faktischen Gegebenheiten zu abstrahieren, er ist folglich ein hypothetisches Konstrukt. 23 Bevor diese drei Zustände im Folgenden charakterisiert werden, soll noch auf ein Beispiel eingegangen werden, das Pestalozzi die „Erste Darlegung meines wesentlichsten Gesichtspunkts“ nennt. Am Beispiel der Begriffe von Recht PSW XII, 6. Ebd., 8. 23 Vgl. u.a. LOCKE 1967, insb. die II. Abhandlung, Kap. 2, 201ff. 21 22
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und Wahrheit verdeutlicht Pestalozzi die unterschiedlichen Zustände in der Entwicklung des Menschen: [I]ch selbst stelle mir Wahrheit und Recht wesentlich ungleich vor, wenn ich empfinde, denke und handle, wie der Mensch ohne Zwang und Gewalt immer empfindet, denkt und handelt – oder wenn ich empfinde, denke und handle, wie der Mensch durch die Kunst und den Zwang des bürgerlichen Lebens zu empfinden, zu denken und zu handeln lernt. Oder endlich, wenn ich empfinde, denke und handle, wie ich soll, wenn ich meine innere Unabhängigkeit von meiner tierischen Begierlichkeit und von meinen gesellschaftlichen Ansprüchen als Fundament meines Urteils über Wahrheit und Recht anerkenne. 24
Im angeführten Zitat stehen unterschiedliche Begrifflichkeiten für die jeweiligen Stadien. So verhält es sich mit der Wendung „ohne Zwang und Gewalt“, die den Naturstand charakterisieren soll. Die Formulierung „Zwang des bürgerlichen Lebens“ deutet auf den zweiten Zustand an, den der Vergesellschaftung. Die kulturkritische Haltung Pestalozzis scheint hier augenscheinlich durch. An anderer Stelle spricht er gar von der „allgemeinen Schiefheit der Menschen in allen bürgerlichen Verhältnissen“. 25 Im zweiten Satz des Zitats steht nun der Begriff des Sollens für die Versittlichung des Individuums und folglich für das Handeln aus verbindlichen moralischen Normen. Es gibt also nicht genau eine letztgültige Definition von Wahrheit bzw. Recht, es kommt vielmehr auf die, wie er sagt, „Vorstellungsart“ an: „ich selbst stelle mir die Welt auf drei verschiedene Arten vor.“ Das bedeutet aber auch gleichzeitig, dass es eine „tierische Wahrheit“ gibt und eine sittliche Wahrheit, ein „tierisches“, ein „gesellschaftliches, d.h. positives Recht“ und ein „sittliches Recht“. Um hier weiter zu differenzieren, ist ein Blick auf die unterschiedlichen Entwicklungsstadien notwendig. Die Frage ist also: was bin ich im Naturstand? Was bin ich im gesellschaftlichen Zustand? Und was bin ich im sittlichen Zustand? I. Im Naturstand Pestalozzi definiert den Naturstand wie folgt: Naturstand im wahren Sinne des Worts, ist der höchste Grad tierischer Unverdorbenheit. Der Mensch in diesem Zustand ist ein reines Kind seines Instinkts, der ihn einfach und harmlos zu jedem Sinnengenuß hinführt.26
„Harmlos“ ist diese Instinktgeleitetheit aber nicht immer, deshalb nimmt Pestalozzi hier die nächste Unterscheidung vor, und zwar in einerseits einen
PSW XII, 66 (Hervorh. K.D.). PSW XII, 78. 26 PSW XII, 68. 24 25
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unverdorbenen (reinen) Naturstand und andererseits den verdorbenen Naturstand.27 Real vorzufinden ist sowieso nur der verdorbene Naturzustand: in ihm ist die Selbstsucht dem Wohlwollen des Menschen überlegen. Das ist gleichzeitig der Grund für den Übergang in den gesellschaftlichen Zustand. Der Grund der Vergesellschaftung ist also ein pragmatischer: es geht um Bedürfnisbefriedigung und den Genuss von Rechten. II. Im gesellschaftlichen Zustand In den gesellschaftlichen Zustand ist der Mensch bereits mit seiner verdorbenen Natur eingetreten. Pestalozzi konstatiert kulturkritisch: „Jetzt nennen wir ihn nicht mehr Naturmensch; wenn der Ochs am Pflug geht und der Mensch um des Zinses willen vor der Sonne aufsteht, so sagen wir: er ist in den gesellschaftlichen Zustand hinübergegangen.“ 28 Die gesellschaftlichen Institutionen und die gesellschaftlichen Rollen, die das Individuum einnimmt, ändern aber nichts an der Grundsituation, dass die Naturkräfte im Innern des Menschen walten, die Freiheit eingeschränkt wird und sogar – durch das Eigentum – neue Bedürfnisse geweckt werden. Der rousseausche Gedanke der negativ konnotierten Eigentumsverhältnisse hat hier sicherlich Pate gestanden. Deshalb wird das gesellschaftliche Leben von Pestalozzi immer wieder als „Joch“ bezeichnet. Um an ein oben bereits angeführtes Zitat anzuknüpfen: Die allgemeine Schiefheit des Menschen in allen bürgerlichen Verhältnissen und ihre allgemeine Verhärtung im gesellschaftlichen Zustand ist eine Folge der innern Verstümmelung der Naturkräfte unsers Geschlechts in diesem Stand. 29
Und weiter heißt es: „Der gesellschaftliche Mensch als solcher sitzt auf dem Blut seines Instinkts und auf dem Grabe seines Wohlwollens“ und zwar „wie ein Mörder auf dem Blut seines Erschlagenen“30. Die massive Gesellschaftsund Kulturkritik, die Pestalozzi hier übt, führt ihn zu der Annahme, dass der Mensch die bürgerlichen Machtverhältnisse selbst als eine Verstümmelung seiner Naturkräfte erkennt. Nun folgt der qualitative Sprung zum sittlichen Zustand. Pestalozzi muss die Frage beantworten, wie diese „Lücke“, wie er es selbst nennt, zu schließen sei. Er sagt:
An diesen beiden Ausformungen kann, wenn man der These von LÖWISCH 2002 folgt, auch das Verhältnis der Begriffe des Naturstandes und Naturzustandes erläutert werden. Der eigentliche Naturstand tritt sozusagen in Erscheinung, und dies auf zweierlei Weisen. M.a.W.: der Naturzustand „wurzelt“ im Naturstand. Löwisch merkt zudem an, dass die Pestalozzi-Rezeption auf diese Differenz bisher nicht eingegangen ist. Vgl. LÖWISCH 2002, 134f. 28 PSW XII, 70. 29 PSW XII, 78. 30 PSW XII, 80. 27
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In diesem Zustand (– wenn ich ein Opfer meiner Selbstsucht geworden bin –) […] entspringt in meinem Innersten ein neues Bedürfnis, dessen Befriedigung mich zur Anerkennung der Pflicht hinführt, alles Verderben meiner tierischen Natur und meiner gesellschaftlichen Verhärtung in mir selbst auszulöschen und zu vertilgen.31
Die innere Veredelung muss also einsetzen, um zur Sittlichkeit zu werden. Wie beschreibt Pestalozzi diesen dritten Zustand? III. Im sittlichen Zustand Er fragt auch hier: Was bin ich im sittlichen Zustand? Er beginnt mit folgender Beschreibung: Ich besitze eine Kraft in mir selbst, alle Dinge dieser Welt mir selbst, unabhängig von meiner tierischen Begierlichkeit und von meinen gesellschaftlichen Verhältnissen, gänzlich nur im Gesichtspunkt, was sie zu meiner inneren Veredelung beitragen, vorzustellen […]. Diese Kraft ist im Innersten meiner Natur selbstständig […]. Sie ist, weil ich bin, und ich bin, weil sie ist. Sie entspringt aus dem mir wesentlich einwohnenden Gefühl: ich vervollkommne mich selbst, wenn ich mir das, was ich soll, zum Gesetze dessen mache, was ich will.32
Selbständig ist diese Natur ihrem Wesen nach, dennoch ist sie mit der tierischen Natur verbunden. Die Fragen, die sich daran anschließen, sind die nach den Beweggründen und Mitteln zur Sittlichkeit. Pestalozzi vertritt die Ansicht, dass ein verbindlicher Beweggrund erstens mit dem Begriff der Pflicht einhergeht und, zweitens, ein individueller ist. Rein sittlich sind für mich nur diejenigen Beweggründe zur Pflicht, die meiner Individualität ganz eigen sind. Jeder Beweggrund zur Pflicht, den ich mit andern theile, ist es nicht, er hat im Gegentheil in so weit für mich immer Reize zur Unsittlichkeit […]. Je größer die Zahl derer ist, mit denen ich meine Pflicht theile, je stärker und vielfältiger sind die Reize zur Unsittlichkeit, die mit dieser Pflicht verbunden sind.33
Die Sittlichkeit ist nach dieser Argumentation ganz individuell, sie ist keine gesellschaftliche Tugend, „sie besteht nicht unter zweien“, wie Pestalozzi im Anschluss hieran sagt. 34 Die sittliche Pflicht ist also eine autonome Pflicht. Demgegenüber stehen gesellschaftliche Pflichten, somit trennt auch Pestalozzi zwischen Autonomie und Heteronomie. Zu fragen bleibt, welchen Begriff von Individualität Pestalozzi hier verwendet. 35 Dennoch erfolgt keine weitere Begründung der Sittlichkeit, denn Pestalozzi verfolgt ein pragmatisches Interesse.
PSW XII, 98. PSW XII, 105. 33 PSW XII, 113. 34 PSW XII, 106. 35 Kant weist darauf hin, dass der Beweggrund zur Pflicht, nämlich die Fähigkeit des Willens, sich durch das Vernunftgesetz verpflichten zu lassen (der Bestimmungsgrund des 31 32
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Es geht ihm darum zu zeigen, wie der Mensch zu einer inneren Veredelung kommen, und damit handlungsfähig werden kann. Der sittliche Mensch handelt – entgegen seiner Selbstsucht – gemeinwohlorientiert. Löwisch konstatiert in seiner Analyse der Nachforschungen dazu, dass es Pestalozzi also, wie Kant, um die „Möglichkeitsbedingungen von Moralität“ geht. 36 Und damit komme ich zu jenem Punkt, der eine spezifische Entwicklungslinie im Denken von Pestalozzi betrifft.
C. Einflüsse: Rousseau und Kant Den Einfluss Rousseaus auf die deutsche und deutschsprachige Aufklärungspädagogik kann man gar nicht hoch genug ansetzen. So werden auch in der Schweiz, in intellektuellen und politisch motivierten Zirkeln, wie der sog. Helvetischen Gesellschaft, Rousseaus Schriften gelesen und diskutiert. Pestalozzi tritt im Mai 1764 in diese patriotische Gesellschaft ein und wird von der Lektüre des Emile und des II. Discours beeinflusst.37 So sollte aus den bisherigen Anführungen aus den Nachforschungen deutlich werden, wie sehr Pestalozzi viele Überlegungen von Rousseau übernimmt, an ihn anknüpft, aber auch einiges weiterführt. Ein biographischer Hinweis für die Verehrung Rousseaus ist übrigens die Tatsache, dass Pestalozzi seinen 1770 geborenen Sohn Johann (oder Hans) Jakob nennt (also Jean-Jacques). Ebenso ist er in der Mitte der 1770er Jahre, also vor seiner Zeit als Schriftsteller, als praktischer Erzieher tätig und übernimmt bei seinem „Neuhof-Experiment“38 Rousseaus Ideen: Erziehung in der Natur nach dem Vorbild des Emile. Gerade die Begriffe des Naturzustands und des vergesellschafteten – und damit um seiner Unschuld betrogenen Menschen – sind für Pestalozzi einleuchtend. Weniger klar scheint ihm der begriffliche Gegensatz von Naturzustand und gesellschaftlichem Zustand zu sein. Hier distanziert sich Pestalozzi in seinen Gedanken von Rousseau. Der Naturzustand ist einerseits vielmehr verwoben mit dem gesellschaftlichen Zustand und andererseits gibt es einen Ausweg, einen dritten Zustand. In folgendem Gedanken aus den Nachforschungen soll diese gedankliche Entwicklung zum Ausdruck kommen: „So viel sahe ich bald, die Umstände machen den Menschen, aber ich sahe eben sobald,
Willens), durchaus ‚mit andern‘ geteilt wird, und zwar insofern diese Fähigkeit allen Menschen als vernunftbegabten Wesen zukommt. Vgl. KANT 1913, AA V, insb. Drittes Hauptstück. Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft, 71ff. 36 LÖWISCH 2002, 148. 37 Vgl. LIEDTKE 2002, 21. 38 So der Name des Landwirtschaftsgutes in der Gemeinde Birr, im Kanton Aargau (im Norden der Schweiz).
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der Mensch macht die Umstände, er hat eine Kraft in sich selbst, selbige vielfältig nach seinem Willen zu lenken.“ 39 Dies sei, so Löwisch, eine Umorientierung „weg von Rousseaus Anregungen und hin zu Kants praktischer Philosophie“.40 Zur Erläuterung hilft auch hier ein biographischer Hinweis weiter. Pestalozzi hatte bereits vor 1790 Kontakt zu Fichte. Im Sommer 1793 reiste Fichte erneut nach Zürich und besuchte Pestalozzi nun zum wiederholten Male. Pestalozzi hat Kant selbst nicht gelesen, kennt ihn aber über Fichte und erkennt in der Kantischen Moralphilosophie eine Lösungsmöglichkeit für seine Frage, wie der Mensch die negativen Auswüchse des gesellschaftlichen Zustandes überwinden kann. Im eben genannten Zitat „ich vervollkommne mich selbst, wenn ich mir das, was ich soll, zum Gesetze dessen mache, was ich will“ kommt dieser Einfluss – so denke ich – am deutlichsten hervor. Dennoch bleibt kritisch anzumerken, ob Pestalozzi nicht hinter Kant zurück bleibt, wenn es um die Frage geht, woher denn dieses innere Gefühl des Wohlwollens herrührt. 41 Hier verweist Pestalozzi auf die Liebe und diese wiederum ist auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen zurückzuführen. Pestalozzi fundiert seine sittliche Pflicht also nicht durch ein „Faktum der Vernunft“, sondern – so könnte man sagen – durch ein Faktum der göttlichen Natur des Menschen. Innerhalb der Pestalozzi-Forschung existieren hierzu denn auch deutliche Verortungen seines Moralitäts-Konzeptes. So merkt Osterwalder an, Pestalozzi greife hier auf eine „sehr traditionelle, radikal christliche Innerlichkeit“ zurück, die dem 17. Jahrhundert entstamme. 42 Dagegen spricht Ballauff davon, dass es zunächst einmal fraglich sei, ob der allgemeine Anspruch, den Pestalozzi formuliert, „an den christlichen Interpretationshorizont gebunden“ sei. 43 Für ihn besteht die Möglichkeit, das von Pestalozzi „Eingesehene“ herauszulösen „aus seiner religiösen Konzeption“, um es pädagogisch und „detheologisiert“ zu übersetzen. 44 Für die erste, von Osterwalder formulierte Sichtweise scheint hingegen eher zu sprechen, was Pestalozzi auch an anderer Stelle formuliert. In Wie Gertrud ihre Kinder lehrt (1801) formuliert der Schweizer erneut die „Grundsätze der sittlichen Erziehung“. 45 Auch in dieser weitaus bekannteren Schrift von Pestalozzi spricht jener von der „Verehrung des sittlichen Gesetzes“, die aber einer Unterordnung gleichkomme. Es geht ihm darum, sich „Grundsätzen zu unterwerfen, die das Werk Gottes sind“. 46 Selbst wenn man differenziert zwischen dem Grund des Gesetzes und dem Grund der Einsicht PSW XII, 57. LÖWISCH 2002, 143. 41 Zur Explikation des Wohlwollens vgl. PSW XII, 34–36, 150. 42 OSTERWALDER 2003, 111. 43 BALLAUFF 1987, 102. 44 Ebd. 45 PESTALOZZI 1961, insb. der 13. Brief, 187–195. 46 Ebd., 193. 39 40
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in dieses Gesetz, bleibt zu fragen, warum die Einsichtsfähigkeit stärker sein sollte, wenn es sich um „göttliche“ Grundsätze – und nicht etwa um selbst gesetzte moralische Prinzipien – handelt. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Kantischen Philosophie lassen sich nicht nur auf der Ebene der Moralphilosophie ansiedeln. Hierzu gibt es diverse Untersuchungen, die die moralische Erziehung des Kindes betreffen. 47 Eine weitere Parallele zeigt sich aber auch darin, dass in Kants Anthropologie48 ebenfalls ein Dreischritt bzw. eine Entwicklungsannahme, die sich in drei Stufen vollzieht, vorliegt. 49 Kant spricht von der Kultivierung, der Zivilisierung (i.S. von Vergesellschaftung) und schließlich der Moralisierung des Individuums, allerdings innerhalb der Gesellschaft, und zwar einer republikanischen Gesellschaft, deren Freiheitsrecht auf dem Moralprinzip des Kategorischen Imperativs beruht. 50 Damit unterscheidet sich diese Konzeption auch von der einseitig kulturkritischen Sichtweise Pestalozzis auf den – angeblich – verderblichen Charakter gesellschaftlichen Zusammenlebens.
D. Fazit Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die anschließenden Fragen und kritischen Punkte den Antworten, zu denen Pestalozzi selbst kommt, zur Seite gestellt werden können. Diese wären vorläufig vier an der Zahl: (1) Die Rolle der Erziehung: Die Erziehung führt nicht automatisch zum sittlichen Zustand, genauer: Erziehung führt diesen Zustand nicht herbei, das tut nur der Einzelne. Sie ist vielmehr „Entstehungs-, Belebungs- und Verstärkungsmittel des freien Willens“. 51 Das bedeutet aber auch: Erziehung hat erst einmal funktionalen Wert. Wenn, dann ist es der Wille, von dem aus eine verbindliche Kraft bzw. Wirkung ausgeht, sittlich zu sein. In keinem Fall ist es die gesellschaftliche Ordnung. Kritisch zu sehen ist der mangelnde emanzipatorische Charakter der Erziehung bei Pestalozzi. 47 Vgl. etwa BINNEBERG 1999, 553–561. Binnebergs Analyse bleibt aber letztlich oberflächlich, zumal die Sittlichkeits-Auffassung Pestalozzis nur anhand seines „Stanser Briefes“ (1799) festgemacht wird und die Kantische Universalisierungskonzeption moralischer Grundsätze (Maximen) nicht hinreichend differenziert wird. Binneberg spricht denn auch wiederholt vom Kantischen „Rigorismus“ (vgl. ebd., 557, 558), der gegen die „gemeine Menschenvernunft“ verstoße, ohne aber die Begriffe des Nicht-Denken-Könnens bzw. des Nicht-Wollen-Könnens aufzugreifen, um den logischen Charakter der Kategorizität und Universalität in Kants Ethik zu erläutern. 48 KANT 1917, AA VII, 117–333. 49 Diesen Hinweis verdanke ich Prof. Günter Zöller. 50 Vgl. BRANDT 1999, 321. Vgl. ebenso zur unterschiedlichen Ausgestaltung der Annahmen einer dreistufigen Entwicklung bei Kant und Pestalozzi: WITTIG 1985, 103–152. 51 SOËTARD 2009, 336.
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(2) Zur anfangs erwähnten Analogie: Der Naturstand aller ist also das Kindesalter der Menschheit, die bürgerliche Gesellschaft die Adoleszenz und der sittliche Zustand schließlich das Erwachsenenalter des Menschengeschlechts. Das, was im Titel „Gang der Natur“ heißt, ist ein Kontinuitätsprinzip, d.h. das Höhere baut auf dem Niederen auf. 52 (3) Zu welchen Antworten gelangt Pestalozzi auf die Fragen, was ich im jeweiligen Zustand bin? Im Naturstand bin ich „Werk der Natur“, im gesellschaftlichen Zustand bin ich „Werk meiner Gesellschaft und meines Geschlechts“, und was bin ich sittlichen Zustand? Im sittlichen Zustand bin ich „Werk meiner selbst“. Werk seiner selbst zu sein, und damit das Sich-zu-sichselbst-verhalten-Können ist übrigens das, was wir mit dem Begriff der Person bezeichnen, insofern wäre noch zu fragen, wie sich dieser Ansatz in die Begriffsgeschichte zum Begriff der Person – historisch im Anschluss an Kants Zweck-an-sich-Formel – einfügt. (4) Wie verhält es sich mit dem Begriff der Verbindlichkeit? Lässt man sich auf die Argumentation Pestalozzis ein, kann man die innere Veredelung als verbindliche Lebensaufgabe des Einzelnen interpretieren. Der darin enthaltene Pflichtbegriff ist kantisch, aber Sittlichkeit wird letztlich religiös gegründet.
Literatur AUSTERMANN, SABINE: Die „Allgemeine Revision“. Pädagogische Theorieentwicklung im 18. Jahrhundert. Bad Heilbrunn 2010. BALLAUFF, THEODOR: Auseinandersetzung mit Pestalozzis Erbe, in: Gruntz-Stoll (Hrsg.): Pestalozzis Erbe – Verteidigung gegen seine Verehrer. Bad Heilbrunn 1987, 93–103. BINNEBERG, KARL: „Kant und Pestalozzi über das Problem der moralischen Erziehung und Bildung“, in: Pädagogische Rundschau 53 (1999), 553–561. BLANKERTZ, HERWIG: Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar 1982. BRANDT, REINHARD: Kommentar zu Kants Anthropologie. Hamburg 1999. BRÜHLMEIER, ARTHUR: Pestalozzis Lehre vom Menschen. Online: http://www.heinrichpestalozzi.de/de/dokumentation/grundgedanken/anthropologie/index.htm [01.03.2014]. –: Wandlungen im Denken Pestalozzis. Von der ‚Abendstunde‘ bis zu den ‚Nachforschungen‘. Zürich 1976. FUCHS, MICHAEL: „Pestalozzis ambivalentes Bild vom Kinde“, in: Oelkers/Osterwalder (Hrsg.): Pestalozzi – Umfeld und Rezeption, Weinheim/Basel 1995, 95–122. HÜGLI, ANTON: Philosophie und Pädagogik. Darmstadt 1999. KANT, IMMANUEL: Über Pädagogik (1803), in: Kants gesammelte Schriften. AkademieAusgabe, Bd. IX, Berlin 1923. –: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), in: Kants gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe, Bd. VII, Berlin 1917.
52
Vgl. BRÜHLMEIER 1976, 99.
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–: Kritik der Praktischen Vernunft (1788), in: Kants gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe, Bd. V, Berlin 1913. LIEDTKE, MAX: Johann Heinrich Pestalozzi. 16. Aufl., Reinbek 2002. LOCKE, JOHN: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Hrsg. v. W. Euchner, Frankfurt/Wien 1967. LÖWISCH, DIETER-JÜRGEN: „Pestalozzis ‚Nachforschungen‘: Ein Nachdenken über die Strukturen menschlichen Seins in pragmatischer Absicht“, in: J. H. Pestalozzi, Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts. Hrsg. v. D.-J. Löwisch, Darmstadt 2002. OELKERS, JÜRGEN: „Das Jahrhundert Pestalozzis? Zum Verhältnis von Erziehung und Bildung in der europäischen Aufklärung“, in: Ders./Osterwalder (Hrsg.): Pestalozzi – Umfeld und Rezeption. Weinheim/Basel 1995, 25–51. –: „Wie kann der Mensch erzogen werden? Pestalozzis ,Nachforschungen‘ als ein Hauptstück der modernen Pädagogik“, in: Gruntz-Stoll (Hrsg.): Pestalozzis Erbe – Verteidigung gegen seine Verehrer, Bad Heilbrunn 1987, 27–40. OSTERWALDER, FRITZ: „Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827)“, in: Tenorth (Hrsg.): Klassiker der Pädagogik, Bd. 1, München 2003, 101–118. PESTALOZZI, JOHANN HEINRICH: Wie Gertrud ihre Kinder lehrt und andere ausgewählte Schriften zur Methode. Paderborn 1961. –: Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts, in: Sämtliche Werke, hrsg. v. A. Buchenau/E. Spranger/H. Stettbacher, Bd. XII, Berlin 1938. ROESSLER, WILHELM: Die Entstehung des modernen Erziehungswesens in Deutschland. Stuttgart 1961. SCHMID, PIA: Pädagogik im Zeitalter der Aufklärung, in: Harney (Hrsg.): Einführung in die Geschichte der Erziehungswissenschaft. 3. Aufl., Opladen 2006, 15–36. SOËTARD, MICHEL: „Johann Heinrich Pestalozzi: Meine Nachforschungen“, in: Böhm/ Fuchs/Seichter (Hrsg.): Hauptwerke der Pädagogik, Paderborn 2009, 335–337. TENORTH, HEINZ-ELMAR: Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung. 5. Aufl., Weinheim/München 2010. TSCHÖPE-SCHEFFLER, SIGRID: Pestalozzi – Leben und Werk im Zeichen der Liebe. Neuwied 1996. WITTIG, HANS-GEORG: „Rousseau, Kant und Pestalozzi als aktuelle Klassiker Pädagogischer Anthropologie“, in: Kern (Hrsg.): Notwendige Bildung. Studien zur Pädagogischen Anthropologie, Frankfurt/M. 1985, 103–152.
Dialog, Verbindlichkeit und Handlungsbrüche in Goethes Iphigenie auf Tauris Hauke Kuhlmann Goethes Iphigenie auf Tauris von 1787 ist ein Drama über die Aushandlung von Verbindlichkeiten. Ist das „zentrale Thema […] die Durchsetzung aufgeklärter Humanität gegen archaisch-mythische Befangenheit“, 1 dann wird die alte mythische Verbindlichkeit durch eine neue ersetzt: die des aufgeklärt humanen Handelns. Dieser Substitutionsvorgang macht sichtbar, dass die Autonomiebestrebungen 2 der Figuren eben nicht bedeuten, sich vollständig von verbindlichen Orientierungen zu lösen. Vielmehr stellen sich im Stück dann, wenn der mythische Gewalt- und Zwangszusammenhang verhindert wird, andere Verbindlichkeiten und Ordnungssysteme ein. 3 Das reicht bis zu der familiärgeschwisterlichen Verbindung, die Iphigenie und Orest eingehen und in der Iphigenie ohnehin eine genealogiespezifische Funktion einnimmt.4 Auch soll sich am Ende des Dramas zwischen den Griechen und den Skythen ein vertraglich verpflichtendes, „menschenrechtliches Fremdenrecht“ etablieren. 5 Generelle Zweifel an einer vollständigen Lösung vom Mythos zugunsten Aufklärung und Autonomie schärfen dann den Blick auf letztlich doch weiterhin bestehende Verbindlichkeiten. 6 Das komplizierte und spannungsreiche Problem der Verbindlichkeit in Goethes Iphigenie ist noch zu verkomplizieren, indem der Dialog, der Ort und Medium dieser mehrdeutigen Aushandlung von Verbindlichkeit ist, selbst zum Gegenstand der Analyse wird. So wird die (Un-)Verbindlichkeit von Positionen und Handlungen von den Figuren im Dialog diskutiert, zugleich entbinden 1 JEßING 1995, 71. Rezeptions- und Forschungsüberblicke bieten ebd., 63–71 und 184– 186, REED 205–209 und ERHART 2007, 140–145. Zur Entstehungsgeschichte der Iphigenie vgl. REED 1996, 197–199. 2 Forschungsgeschichtlich grundlegend: RASCH 1979. 3 Vgl. zu dieser Dialektik (anerkennungstheoretisch untersucht) ERHART 2007. 4 Zur Iphigenies genealogischer Einbindung und Funktionalisierung vgl. KERSHNER 1994, 23–34. 5 WIERLACHER 1983, 177. 6 Zur These, dass „die Figuren […] den mythischen Handlungsmustern fast durchgängig verpflichtet“ bleiben, vgl. die bei ERHART 2007, 143f. genannten Positionen.
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sich aus ihm aber auch formstrukturelle Probleme: Die Handlungsverknüpfung selbst wird destabilisiert. Der Text wird sich selbst gegenüber ‚unverbindlich‘.
A. Ethos des Dialogs Die Frage nach Verbindlichkeit betrifft den Dialog in Goethes Iphigenie integral, da er selbst verbindlich zu werden scheint. Das sich fortsetzende Gespräch, überhaupt das Miteinander-Reden dürfte gerade ein weitreichend tragfähiges Element der im Drama dargestellten Humanisierungs- und Emanzipationsbemühungen ausmachen. Das ist auf grundlegend struktureller Ebene bereits darin angelegt, dass dieser Vorgang ja im Modus des dramatischen Dialogs gestaltet ist: Er wird der „Alleinherrschaft“ 7 des Dialogs anvertraut und dem Gespräch der Figuren überantwortet. Sich vom mythischen Zwangszusammenhang zu lösen, bedeutet dann, dies sprechend und miteinander sprechend zu tun. Daher wird an entscheidenden Stellen das Gespräch gesucht, um diesen Prozess voranzutreiben. Mit „sanfter Überredung“, also im Dialog mit dem Machthaber Thoas, hat Iphigenie seit ihrer Ankunft auf Tauris die rituelle Opferung von Fremden an die Göttin Diana „von Jahr zu Jahr / […] aufgehalten“.8 Früh spricht Arkas von einem „gute[n] Wort / Der Frauen“, durch das ein „edler Mann“ „weit geführt“ (V. 213f.) wird und das auch Iphigenies einziges Mittel zur Durchsetzung der „Rechte“ ihres „Busens“ ist: „Ich habe nichts als Worte, und es ziemt / Dem edlen Mann, der Frauen Wort zu achten.“ (V. 1862–1864) Das von Arkas erhoffte „vertraulich Wort“ (V. 69) und das von Thoas erwartete „Vertrauen“ (V. 263) ihm gegenüber, löst Iphigenie durch die Erzählung ihrer Herkunft ein, also auch erzählender- und gesprächsweise. Als es dann aufs Ende zugeht, wird der Kampf zwischen den Griechen und den Skythen durch die Verpflichtung, miteinander zu reden, ausgesetzt: „Gebiete Stillstand meinem Volke! Keiner / Beschädige den Feind, so lang’ wir reden.“ (V. 2022f.) Thoas verrät sie dann die gegen ihn gerichtete Intrige und ersetzt sie so durch ein offenes Gespräch, in dem die Gesprächsteilnehmer (Thoas, Orest und sie) über den gleichen Informationsstand verfügen. Hierdurch kann sich eine „Kommunikationsgemeinschaft“ 9 bilden, die im Dialog ihre Konflikte zumindest zu befrieden weiß und die Heimkehr der Griechen ermöglicht. Die Kommunikation soll dann nicht nur während des Abschieds („Leb wohl! 7 In seiner Theorie des modernen Dramas geht Peter Szondi von der (auf das „klassische Drama“ bezogenen) „Alleinherrschaft des Dialogs, das heißt der zwischenmenschlichen Aussprache im Drama“ aus (SZONDI 2011, 17). 8 Texte von Goethe werden nach der Frankfurter Ausgabe (FA) unter Nennung der Bandnummer und der Vers- bzw. Seitenzahl zitiert (hier: FA 5, V. 125f.). Im Weiteren werden Textstellen aus der Iphigenie unter Angabe der Verszahl im Fließtext nachgewiesen. 9 Der Begriff ist entnommen FISCHER-LICHTE 1975, 13.
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O wende dich zu uns und gib / Ein holdes Wort des Abschieds mir zurück!“ [V. 2168f.]), sondern auch in der Zukunft aufrecht erhalten bleiben: Iphigenies Vorstellung eines „freundlich Gastrecht[s]“ (V. 2153) extrapoliert das Miteinander-Reden in die Zukunft, indem sie skythische Besucher auf „einen Stuhl […] an das Feuer laden, / Und nur nach dir und deinem Schicksal fragen“ will (V. 2164f.). Freilich ist damit keine plane, eindeutig harmonische Versöhnung zwischen den Griechen und den Skythen unterstellt: Die Mehrdeutigkeit und Undeutlichkeit des Endes bleiben bestehen, 10 sie widersprechen aber nicht der beruhigenden, ein blutiges und tragödienhaftes Finale gerade verhindernden Wirkung des Dialogs. 11 Die Beobachtung, dass der Dialog ursächlich mit dem friedlichen Ende zu tun hat, ist durchaus trivial zu nennen. In diesem Fall weist die Trivialität dieser Beobachtung aber auf die fundamental dialogische Grundierung des gesamten Stücks hin und ist Zeichen für die offensichtliche Virulenz des Dialogs am Ende. Die Figuren versuchen, ihre Probleme eben nicht mit Waffengewalt, sondern im Gespräch zu lösen. Iphigenie bemüht sich darüber hinaus, ein möglichst versöhnliches Verhältnis mit Thoas im Gespräch zu schaffen. Hierin artikuliert sich ein Ethos des Dialogs, dem sich die Figuren zu verpflichten scheinen – zumindest tritt der gegenteilige Fall, dass man die Kampfhandlungen wieder aufnähme, nicht ein. Neben der Aushandlung von Autonomisierungs-, Emanzipierungs- und Humanisierungsvorgängen bezeugt sich Goethes Drama über dieses Ethos als Drama der Aufklärung, indem es den Dialogcharakter aufgeklärten und aufklärenden Denkens, der diesem Denken auch zukommt, in sich aufnimmt. Dialog, Dialogisieren und dialogische Verständigung werden zur Zeit der Aufklärung wohl auch gerade deshalb wichtig, weil sie deren kritischen Impuls voranzutreiben vermögen: Der kritische Dialog hinterfragt, korrigiert oder validiert. Das geschieht potentiell im Rahmen einer Multiperspektivität, indem die Dialogteilnehmer verschiedene Sichtweisen anbringen können, die sich wiederum bestätigen, korrigieren oder relativieren lassen. Erkenntnis ist in diesem Sinne
Auf grundlegende Unsicherheiten in der Beurteilung des Endes weist Werner Frick hin: Thoas „mußte sich […] der iphigenischen Überzeugungs- oder auch nur Überredungsgabe geschlagen geben und die Griechen ziehen lassen; er blieb, in einem ebenso zukunftsoffenen wie unterschwellig melancholischen Schluß, allein mit seinen (nunmehr zivilisierten?) Taurern auf Tauris zurück: ein Überlebender zwar, aber auch ein einsamer alter Mann und ein Herrscher mit ungewisser dynastischer und politischer Zukunft.“ (FRICK 2001, 138) Vgl. zu dieser Frage auch LIEWERSCHEIDT 1997, 222, ERHART 2007, 163f. und insbesondere WINKLER 2009, 164–166 und 248f. Zu einer in Goethes Iphigenie erkennbaren „Doppelbödigkeit aufklärerischer Bemühung“ vgl. JEßING 1995, 71–73, hier 71. 11 Hierzu vgl. auch LARKIN 1990, 92–103, WITTE 1990, 125, JEßING 1995, 70 und 72 und WINKLER, 164. Vgl. des Weiteren FISCHER-LICHTE 1975. Zur Funktion der Sprache vgl. auch KERSHNER 1994, 26. 10
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ein Prozess, der sich zwischen dialogisch aufeinander bezogenen, polemisch aufeinander ausgerichteten Positionen vollzieht. 12
B. Kontroversen Die synergetische Wirkung des Dialogs kann aber nicht über seine zugleich unruhige, Divergenzen schaffende Kraft hinweg täuschen. Denn der Dialog in Goethes Drama ist ein eminenter Konfliktdialog, in dem sich die Figuren unentwegt streiten. Dass sie sich dabei einmal einigen, geschieht, auch mit Hinblick auf das Dramenende, selten. In den Konfliktgesprächen kann potentiell alles verhandelt werden, jede Äußerung kann gewendet, umgedeutet oder relativiert werden. So muss Iphigenie ihre problembelastete Selbstwahrnehmung („Selbst gerettet, war / Ich nur ein Schatten mir, und frische Lust / Des Lebens blüht in mir nicht wieder auf.“ [V. 88–90]) Arkas gegenüber verteidigen, der diese Wahrnehmung als Undankbarkeit auslegt: „Wenn du dich so unglücklich nennen willst; / So darf ich dich auch wohl undankbar nennen.“ (V. 91f.) Iphigenies Gegenbehauptung: „Dank habt ihr stets.“ (V. 93) wird dann wieder von Arkas durch einen emphatischen Begriff vom „reinen Dank, / Um dessentwilllen man die Wohltat tut“ (V. 93f.) entkräftet. Als er dann aber, um den Vorwurf der Undankbarkeit zu begründen, in Erinnerung bringt, dass sie nicht, wie viele andere Fremde vor ihr, Diana geopfert wurde, muss er sich von ihr sagen lassen, dass hieraus kein für sie glückliches Leben folgt: „Frei atmen macht das Leben nicht allein.“ (V. 106) Diese argumentativen Umschlagsbewegungen setzen sich fort, bis Arkas, ohne dass er und Iphigenie sich geeinigt hätten, das Gespräch auf Thoas’ Werben um Iphigenie konzentriert. Auch dieser thematische Wechsel ist repräsentativ: Streitfälle werden immer wieder still gestellt. Dem dienen Szenenwechsel, durch die die Konfliktdialoge nicht behoben, sondern nur abgebrochen werden.13 Die Stichomythie drückt formgenau dieses Prinzip des Widerstreits aus, indem es die argumentativen Drehungen schlagartig erfolgen lässt. In dieser gedanklichen Dynamik kontrastiert sie mit Monologen und weiträumigeren Redepartien einzelner Figuren, in denen (in sich noch so spannungsvolle) Haltungen und Einstellungen alleine dadurch stabilisiert werden, dass sie keiner Gegenrede ausgesetzt sind. Tritt eine solche hinzu, sind diese Haltungen und Einstellungen Relativierungen und Umdeutungen freigegeben. So spricht sich Orest zu Beginn des zweiten Aktes in eine Todeserfülltheit hinein und breitet In Anlehnung an KONDYLIS 2002 [zuerst 1981], 24. Zum „polemischen Wesen des Denkens“ vgl. ebd., 20. 13 Das betrifft insbesondere die Szenenwechsel von I/2 zu I/3, I/3 zu I/4, II/1 zu II/2, IV/2 zu IV/3 und von IV/4 zu IV/5. 12
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diese aus: „Es ist der Weg des Todes, den wir treten: / Mit jedem Schritt wird meine Seele stiller.“ (V. 561f.) 33 Verse später bricht Pylades diese fixierte Aussicht auf: „Ich bin noch nicht, Orest, wie du bereit, / In jenes Schattenreich hinabzugehn.“ (V. 596f.) Von hier an reduzieren sich die Redepartien der beiden Figuren, die jetzt in ein dialogisches Verhältnis zueinander treten.
C. Relativierte Verbindlichkeit und situative Evidenz Fordert in der Iphigenie jedes Wort ein Gegenwort heraus, dann sind die Verbindlichkeit und Überzeugungskraft einzelner Positionen und Handlungsempfehlungen erst einmal auszuhandeln. Iphigenies Selbsteinschätzung kann nicht uneingeschränkt gelten, sie muss sich Arkas Gegenargumenten stellen, letztere sind aber ebenso zu relativieren. Thoas’ Wunsch, Iphigenie zu ehelichen, ist für sie weder aufgrund ihrer Dankbarkeit ihm gegenüber noch aus politischer Klugheit, die einen solchen Schritt vielleicht anraten würde, handlungsverbindlich, sondern wird von ihr im ersten und vierten Akt aus unterschiedlichen Gründen abgewehrt. Pylades’ handlungsleitende Orientierung am listigen Odysseus (vgl. V. 762) und seine mit „List und Klugheit“ (V. 766) verfahrende Denkweise werden relativiert von Orests Gegenentwurf: „Ich schätze den, der tapfer ist und g’rad.“ (V. 768) Dieser Gegenentwurf wird aber wieder dadurch relativiert, dass es im zweiten Akt Pylades ist, der mithilfe seiner Orakeldeutung, in der er „der Götter Rat“ und seine „Wünsche klug in eins zusammen“ (V. 740f.) bringt, Orests resignativer Todesverfallenheit sein aktiv planerisches, lebensbejahendes, aber eben listiges Verhalten entgegenstellt (s. u.). Dabei wird stellenweise eine absolute Verbindlichkeit mithilfe eines autoritären und aufzwingenden Sprechens zu erzeugen versucht. Thoas reagiert auf Iphigenies Versuch, aufgeklärt mythenkritisch das Opferritual bzw. die ‚Blutgier’ der „Himmlischen“ (V. 523) auf die „grausamen Begierden“ (V. 525) der Menschen zurückzuführen, mit dem dogmatischen Verdikt: Es ziemt sich nicht für uns, den heiligen Gebrauch mit leicht beweglicher Vernunft Nach unserm Sinn zu deuten und zu lenken. Tu deine Pflicht, ich werde meine tun. (V. 528–531)
Nicht das eindeutige und vor hermeneutischer Entstellung geschützte Heilige, dafür aber die ebenso geschützte und eindeutige „Not“ als Begründung führend, fordert Pylades von Iphigenie sprachlich gewaltvoll, sie solle Thoas belügen: Du weigerst dich umsonst; die ehrne Hand Der Not gebietet, und ihr ernster Wink Ist oberstes Gesetz, dem Götter selbst Sich unterwerfen müssen. Schweigend herrscht
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Des ew’gen Schicksals unberatne Schwester. Was sie dir auferlegt, das trage; tu’ Was sie gebeut. Das andre weißt du. (V. 1680–1686)
Die erzwungene Verbindlichkeit dieser zentralen Mächte des Dramas (des Mythos und der äußeren Notwendigkeit, d. h. hier: der des bloßen Überlebens) erscheint im Text als brüchig. So konterkariert das dialogische Sprechen Pylades’ Pochen auf die Verbindlichkeit äußerer Notwendigkeit gerade darin, dass es sich an die Stelle dieser Notwendigkeit setzt: Iphigenie berichtet Thoas von der Intrige und ermöglicht dort ein Gespräch, wo eigentlich von der „Not“ diktierte Täuschung herrschen sollte. Die Intrige ist damit gerade nicht notwendig oder auch nur alternativlos, wie Pylades das zuvor wollte: Iphigenie Pylades
Fast überred’st du mich zu deiner Meinung. Braucht’s Überredung wo die Wahl versagt ist? Den Bruder, dich, und einen Freund zu retten Ist nur Ein Weg; fragt sich’s ob wir ihn gehen? (V. 1665–1668)
Von den Göttern wiederum sind keine sicheren Handlungsorientierungen zu erwarten, 14 schon alleine deshalb nicht, weil im Stück kein durchgehend tragfähiges oder letztlich verbindliches Konzept von ihnen gebildet wird. 15 Dort, wo sich ihr Wille dann als Orakel verbalisiert, werden ihre Worte aber mehrdeutig. Apolls Spruch lässt sich von den Figuren unterschiedlich deuten, die Deutungen selbst gehorchen dabei mitunter konkreten Gesprächsinteressen ihrer Urheber. So auch Orests finale Interpretation, die im finalen Gespräch mit Thoas die heimzuholende „Schwester“ auf Iphigenie bezieht und den Griechen hierdurch das gute Ende zu verschaffen erlaubt: Um Rat und um Befreiung bat ich ihn Von dem Geleit der Furien; er sprach: „Bringst du die Schwester, die an Tauris Ufer Im Heiligtume wider Willen bleibt, Nach Griechenland; so löset sich der Fluch.“ Wir legten’s von Apollens Schwester aus, Und er gedachte dich! (V. 2111–2117)
Gleichwohl kann Orests Deutung den Anspruch auf Letztgültigkeit nur vordergründig einlösen. Denn die von ihm abgelehnte Lesart, dass das Kultbild Dianas gemeint sei, lässt sich vor allem deshalb nicht ausschließen, weil sich Orests Heilung bereits vollzieht, bevor er „die Schwester“ nach „Griechenland“ bringt: Apoll, „eh wir die Bedingung fromm erfüllen, / Erfüllt […] göttlich sein Versprechen schon. / Orest ist frei, geheilt!“ (V. 1605–1607). Mit der erfolgten Heilung und Rettung ist aber nicht mehr zu klären, welche „Bedin-
14 15
Vgl. NEUBAUER 1986, 31: „Die Götter geben keine Anweisung zum rechten Leben.“ Vgl. BROWN/STEPHENS 1988, 95 und KAUTE 2010, 125–130.
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gung“ Apoll tatsächlich gemeint hat, da sie ja nun offenbar überflüssig geworden ist. Das gilt auch, wenn man annehmen würde, die Heilung sei nur vorläufig und würde bestätigt werden, wenn die „Schwester“ tatsächlich heimgeholt wäre. Da das Drama jedoch mit der Verabschiedung von Thoas und nicht mit der Ankunft der Griechen in ihrer Heimat endet, ist über eine eventuell später stattfindende Einlösung des Orakels und über die tatsächliche Bedingung nichts zu sagen. So oder so: Apolls Wille und der eigentliche Sinn des Orakelspruchs bleiben letztlich unbekannt, ungelöst und mehrdeutig. 16 Die von Orest eigens reflektierte Mehrdeutigkeit des Orakels erlaubt gerade, dass er es in seinem Sinne verstehen kann und in der Auseinandersetzung mit Thoas zu seinen Gunsten einzusetzen vermag. Der Götterspruch gibt so noch den Handlungsrahmen der Figuren vor, die eigentliche Lösung des Geschehens obliegt aber ihnen bzw. Orest. Seine hermeneutische Leistung macht daher ein direkt göttliches Eingreifen, wie es in der euripideischen Vorlage Athene zukam, offenbar überflüssig. 17 Auch hierdurch wird die handlungsorientierende Verbindlichkeit der göttlichen Sphäre entschieden relativiert: Das gute Ende wird von den Figuren herbeigeführt, nicht von den Göttern. 18 Artikuliert sich in Goethes Iphigenie eine (wie auch immer erfolgreiche) Beschwichtigung des und Emanzipierung vom Mythos (von den Göttern und vom diktierten Opferritual), dann vollzieht sich der Verbindlichkeiten aushandelnde Dialog gerade innerhalb dieses Vorganges, was diesem wiederum einen Komplexionsschub verleiht. Er selbst wird in die dialogische Reflexions- und Relativierungsarbeit mit hineingezogen, wodurch das, was von ihm eigentlich beruhigt und behoben werden soll, doch auch wieder bedingt plausibel erscheinen kann. So lässt sich aus Thoas’ Äußerungen vermuten, dass die Opferungen nicht nur Zeugnis mythischer Befangenheit, sondern auch politischer Überlegungen sind: „Dies Ufer schreckt die Fremden: das Gesetz / Gebietet’s und die Not.“ (V. 258f.) Die „Not“, obgleich sie im Text nicht genau expliziert wird, kann wohl verstanden werden als Gefahr, die von feindlich gesinnten Fremden ausgeht. So sind auch Pylades und Orest zwei „Fremde“, die „meinem Lande / Nichts gutes bringen“ (V. 532–354). Dass sich Thoas’ Verdacht durchaus auf vergangenen Erfahrungen stützen kann, wird kurz vor dem glücklichen Ende deutlich. An Iphigenie gerichtet erklärt er über die Griechen: Sie sind gekommen, du bekennest selbst, Das heil’ge Bild der Göttin mir zu rauben. Glaubt ihr, ich sehe dies gelassen an? Der Grieche wendet oft sein lüstern Auge
16 Vgl. die prägnanten Überlegungen in NEUBAUER 1986, 30f. und 36f., MEUTHEN 1996, 426f. und KAUTE 2010, v. a. 130f. 17 Vgl. EURIPIDES 2011, 87ff., V. 1435ff. 18 Vgl. auch WITTKOWSKI 1984, 260: „So viel wir sehen, führen einzig und allein die Menschen den guten Schluß herbei.“
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Den fernen Schätzen der Barbaren zu, Dem goldnen Felle, Pferden, schönen Töchtern; Doch führte sie Gewalt und List nicht immer Mit den erlangten Gütern glücklich heim. (V. 2099–2106)
Das Opferritual wäre aus dieser Sicht eine politische Schutzmaßnahme gegen räuberische Übergriffe. Als im System des Textes ernst zu nehmende Alternative zu dem von Iphigenie eingeführten Gastrecht wird es damit aber nicht gelten. Dennoch wird ihm (und hierüber den Skythen) bedingte Plausibilität dadurch eingeräumt, dass die Ursachen angedeutet werden, die seine Entstehung motiviert haben dürften. Seine rationale Rückführung auf staatspolitische Erwägungen lassen ja gerade die Bedingungen hervortreten, unter denen die Opferhandlungen tendenziell Evidenz für sich beanspruchen können. Dass versucht wird, selbst untragbare Taten und Normsysteme aus ihren Entstehungskontexten heraus zu verstehen und zu begründen, weist auf die allgemeine Tendenz des Textes hin, Haltungen, Meinungen und Handlungen möglichst irgendwie doch Evidenz zu verschaffen. 19 Das Opferritual bildet hier sicherlich einen Grenzfall. Dennoch wird in Goethes Drama immer wieder erkennbar, dass eine dialogisch kritische Reflexion nicht notwendigerweise zur Verwerfung des Reflektierten führen muss. So haben Orest und Pylades beide recht, wenn sie sagen: Pylades Orest
Da fing mein Leben an, als ich dich liebte. Sag: meine Not begann, und du sprichst wahr. (V. 654f.)
Mag Pylades auch mit der Folgerung, die er aus seiner Freundschaft zu Orest zieht („Da fing mein Leben an“), interessengeleitet agieren, weil er Orests „Unmut“ (V. 609) zu lindern versucht, so dürfte er dennoch sein Verhältnis zu Orest adäquat schildern. Zumindest scheint der Text keine gegenteilige Lesart nahezulegen. Genauso wenig wie Pylades eine grobe Lüge zu unterstellen ist, ist Orests Umdeutung, nicht Pylades’ „Leben“ sondern dessen „Not“ habe mit der Nähe zu ihm begonnen, als falsch zu verstehen: Vielleicht ist hier auf Goethes Bemerkung zu Sophokles – „dem großen Meister meiner früheren Jahren“ (Brief vom 20.04.1822 an E. Chr. A. von Gersdorff [FA 36, 249]) – hinzuweisen, bei dem sich eine ähnliche Strategie finden soll: „Das ist’s eben, erwiderte Goethe, worin Sophokles ein Meister ist und worin überhaupt das Leben des Dramatischen besteht. Seine Charaktere besitzen alle eine solche Redegabe und wissen die Motive ihrer Handlungsweise so überzeugend darzulegen, daß der Zuhörer fast immer auf der Seite dessen ist, der zuletzt gesprochen hat.“ „Man sieht, er hat in seiner Jugend eine sehr tüchtige rhetorische Bildung genossen, wodurch er denn geübt worden, alle in einer Sache liegenden Gründe und Scheingründe aufzusuchen.“ (Gespräch mit Eckermann am 28. März 1827 [FA 39, 586]) Zu Goethes Sophokles-Rezeption (mit Blick auf die für die Iphigenie relevante Beschäftigung mit dem Philoktet) vgl. MAURER 2002, 213–217. 19
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Das ist das Ängstliche von meinem Schicksal, Daß ich, wie ein verpesteter Vertriebner, Geheimen Schmerz und Tod im Busen trage; Daß, wo ich den gesund’sten Ort betrete, Gar bald um mich die blühenden Gesichter Den Schmerzenszug langsamen Tod’s verraten. (V. 656–661)
Diese Einschätzung referiert auf Momente der belasteten Familiensituation vor dem Mord an Agamemnon (vgl. V. 615–619.), die Verfolgung durch die Furien, wie sie auch Orests Mord an seiner Mutter und die jetzt ihm und Pylades drohende Gefahr, auf Tauris geopfert zu werden, zusammen denkt. Gleichwohl fixiert Orest in dieser Einschätzung einzelne, freilich prägende und verstörende Momente seines Lebens und blendet hierdurch andere aus. In dieser Komprimierung ist sein Urteil weder vollständig wahr noch vollständig falsch, sondern eher seiner schwermütigen Situation entsprechend. Seine Einschätzung ist als eine Deutung der eigenen Lage zu verstehen, die den situativ geltenden Bedingungen unterworfen ist, die innerhalb dieser Bedingungen aber an Evidenz gewinnt. In der Iphigenie sind Positionen und Handlungen in ihrer Tragfähigkeit und Verbindlichkeit vorrangig auf spezifische Bedingungen eingegrenzt. Unter diesen Bedingungen können sie dann aber durchaus Orientierung und Wirksamkeit für sich beanspruchen. Anders gewendet, ermöglicht gerade deren Anpassung an die geltenden Umstände unter Berücksichtigung des eigenen Interesses ein gutes Vorankommen für die Figuren. Die produktive Kraft solcher Perspektivierungen wird insbesondere an Pylades’ Orakeldeutung deutlich, die er Orests Todesverfallenheit entgegenstellt: Orest Pylades
Orest
So hab’ ich wenigstens geruh’gen Tod. Ganz anders denk’ ich, und nicht ungeschickt Hab’ ich das schon Gescheh’ne mit dem Künft’gen Verbunden und im stillen ausgelegt. Vielleicht reift in der Götter Rat schon lange Das große Werk. Diane sehnet sich Von diesem rauen Ufer der Barbaren Und ihren blut’gen Menschenopfern weg. Wir waren zu der schönen Tat bestimmt, Uns wird sie auferlegt, und seltsam sind Wir an der Pforte schon gezwungen hier. Mit seltner Kunst flichst du der Götter Rat Und deine Wünsche klug in eins zusammen. (V. 729–741)
Auch wenn Pylades’ Deutung weder bestätigt noch widerlegt wird, auch wenn sie im Kontext der anderen Orakeldeutungen zu sehen und zu relativieren ist, wirkt sie doch handlungsorientierend: Im Vergleich zu Orests Resignation, in der er sich den Zwangszusammenhängen hingibt, verlegt sich Pylades energisch auf gemeinsame Rettung. In seiner Orakeldeutung kommt so eine prag-
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matische Denkhaltung zum Ausdruck, die in einer noch so bedrohlichen Situation Erfahrungen produktiv zu perspektivieren fähig ist. Da scheint es dann, gemessen an der prekären Lage der Figuren und gemessen am Erfolg, im Text auch nicht weiter zu diskutieren zu sein, ob Pylades’ hermeneutische Leistung tatsächlich Apolls Worte korrekt aufschlüsselt oder ob er sie nur, mit „seltner Kunst“ und „klug“, eigennützig instrumentalisiert. 20 Perspektivierungsarbeit, die hilft, Einzelnes in der konkreten Situation evident erscheinen zu lassen, das Deuten und Wenden des behandelten Gegenstandes, das Reflektieren und Gegenwenden machen Grundelemente des Dialogs insgesamt aus. Iphigenies argumentierendes Lavieren und ‚Ausweichen‘, 21 das Changieren ihrer Redebeiträge zwischen Wahrheit und Verdrehung, vorgeschobener Ausrede und begründeter Abwehr, Offenherzigkeit und Verstellung dürften gerade in dieser Perspektivierung der eigenen Erfahrungen je nach Erfordernis gründen. Punktuelle Überzeugung kommt dann auch diesen Äußerungen zu. Beobachten lässt sich das im fünften Akt, wenn Iphigenie Thoas vom Opferritual abzubringen sucht, ohne die Identität von Orest und Pylades aufzudecken oder die Intrige zu verraten. So wirft sie ihm beispielsweise vor, er bürde „Unmenschliches“ (V. 1812) anderen zu, während „seine Gegenwart […] unbefleckt“ (V. 1815) bleibe, sie verweigert sich, mit Hinweis auf ihren gesellschaftlichen Rang als „Fürstin“ (V. 1824), „dem harten Worte, / Dem rauen Ausspruch eines Mannes“ (V. 1828f.), unterstellt Thoas, das mythische Gesetz als Vehikel seiner „Leidenschaft“ (V. 1833) zu nutzen, beruft sich auf „das Gebot, / Dem jeder Fremde heilig ist“ (V. 1835f.) und führt ihr „Mitleid“ (V. 1844) mit den Opfern an. Die Verschiedenheit der angebrachten Gründe signalisiert Iphigenies Flexibilität in Begründungsangelegenheiten. Auch wenn Thoas stets einen Einwand findet, so findet sie doch eine neue Replik. Jede neue Replik akzentuiert dann aber wieder einen neuen Aspekt, den es gegen Thoas einzuführen gilt und der für sich wieder stichhaltig zu sein scheint. Zugleich bedeutet jeder neue Aspekt eine neue Verschleierung des eigentlichen Problems (die Identität von Orest und Pylades und die geplante Intrige). Hierdurch werden Iphigenies Antworten mehrdeutig, sie liegen zwischen dem direkten und ungeschönten Wahrreden und einer dezidierten Lüge. Von Lüge ließe sich aber eigentlich nur dann sprechen, wenn das, was eigentlich wahr ist, noch erkennbar wäre und sich von dem unterschieden ließe, was falsch ist. In dieser Passage ist aber offenbar nicht nur die Gefahr wahr, die die Griechen umgibt; auch Iphigenies Einwände können darauf Anspruch erheben,
Zu einem wohl eher kritischen Verständnis von Pylades als der „Apologet der dissimulatio, der Verstellung in Goethes Iphigenie“ vgl. FA 5, 1317. 21 Vgl. V. 154f.: „Du ängstest mich mit jedem guten Worte; / Oft wich ich seinem Antrag mühsam aus.“ Gemeint ist hier Thoas Brautwerbung. 20
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tatsächliche Fragwürdiges, Falsches und Inakzeptables anzugreifen, wie sie selbst darauf Anspruch erheben darf, Mitleid mit den Griechen zu empfinden. 22 Freilich sind Iphigenies lavierende Ausführungen aus Sicht des emphatischen Wahrheitsethos Orests und Iphigenies durchaus diskutabel. Auch sind sie nur bedingt erfolgreich, denn Iphigenie kann Thoas durchaus nicht überzeugen. Das widerlegt aber nicht die zumindest situationsabhängige Plausibilität von Iphigenies umkreisendem Sprechen. Widerlegt wird auch nicht dessen situationsgebundene Wirksamkeit. Denn dieses Sprechen dürfte zusammenhängen mit der „sanfte[n] Überredung“ (V. 125), mit der Iphigenie das Opferritual aussetzen ließ. Beides hat an all dem Teil, was dem bereits erwähnten „harten Worte“ (V. 1828), aber ebenso der direkten und ungeschönten Wahrheitsrede entgegengesetzt wird, zu dem sich Orest („zwischen uns / Sei Wahrheit!“ [V. 1080f.]) und auch Iphigenie bekennen. Dagegen dürfte hier „die Kunst“ gelten, „von weitem ein Gespräch / Nach seiner Absicht langsam fein zu lenken“ (V. 167f.), „rückhaltend Weigern“, „ein vorsetzlich Mißverstehen“ dürften Techniken sein und man wird wohl „Gefällig […] den halben Weg entgegen[gehen]“ (V. 169–171). Schließlich dürfte die „Hülfe gegen Trutz und Härte“, die „die Natur den Schwachen […] gelassen“ (V. 1868f.) hat, durchaus auch Iphigenies Sprechen eignen: „Sie gab zur List ihm Freude, lehrt’ ihn Künste; / Bald weicht er aus, verspätet und umgeht.“ (V. 1870f.) 23
Freilich lässt sich Iphigenies Sprechen im fünften Akt auch anders, nämlich weitaus kritischer lesen (vgl. hierzu LIEWERSCHEIDT 1997, 227f.). Auch soll aus meinen Überlegungen nicht folgen, dass Iphigenie nie lügen oder betrügen würde oder könnte. Tatsächlich täuscht sie ja Arkas über die Verzögerung des Rituals (vgl. V. 1423–1440) und entgegnet dem sie hierüber befragenden Thoas: „Ich hab’ an Arkas alles klar erzählt.“ (V. 1806). Sie „bekräftigt damit ihre Lüge auch gegenüber Thoas“ (RASCH 1979, 149). Direkte Lüge ist aber eben nur eine ihrer Gesprächsstrategien. 23 Zwar weist Iphigenie indirekt die „List“ von sich („Und eine reine Seele braucht sie nicht. [V. 1874]), gleichwohl wird eine umgehende und vermeidende Tendenz in ihren Gesprächen mit Thoas deutlich. So ist sie im ersten Akt offensichtlich darum bemüht, Thoas’ Heiratsbitte diplomatisch und schonend abzulehnen. Arkas’ entlarvende Bemerkung, dass „Wer keine Neigung fühlt, dem mangelt es / An einem Worte der Entschuld’gung nie“ (V. 1497f.) muss so nicht explizit formulierter Gesprächsinhalt werden, wodurch Thoas, von Iphigenies abschlägigen Antworten eh bereits aufgebracht, wenigstens nicht auch noch auf diese Weise brüskiert wird. Das ist auch nur zweckmäßig gehandelt, wenn man bedenkt, dass nach Thoas „der Klugheit erstes Wort“ sei, dass „man den Mächtigen nicht reizen soll.“ (V. 1839f.) Vgl. hierzu auch Reed 1996 der auf eine von Iphigenie durchgeführte „Rhetorik“ hinweist, die „im Umgang mit der ‚Übermacht‘“ – bezogen auf Thoas und das Gedicht Uebermacht, ihr könnt es spüren aus Goethes West-Östlichem Divan zitierend – „unentbehrlich ist, falls man Gewünschtes herbeiführen oder Gefürchtetes abwehren, kurz, Aufklärung praktisch greifen lassen will. […] Räsonnement also mit Schmeichelei gemischt: eine taktische Sprache“ (216). 22
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Iphigenie praktiziert dieses Modell einer gesprächsweisen, dabei ausweichenden und umkreisenden Einflussnahme Thoas gegenüber. Dass sie im entscheidenden Gespräch dann aber doch wahrredet, liegt auch daran, dass sie von Thoas an die Grenzen ihrer ausweichenden Gesprächsstrategie getrieben wird:24 Thoas Iphigenie Thoas
Es scheint, der beiden Fremden Schicksal macht Unmäßig dich besorgt. Wer sind sie? Sprich! Für die dein Geist gewaltig sich erhebt. Sie sind – sie scheinen – für Griechen halt’ ich sie. Landsleute sind es? und sie haben wohl Der Rückkehr schönes Bild in dir erneut? (V. 1886–1891)
Ausweichen kann Iphigenie hier nun nicht mehr. Um ihre moralische Integrität zu wahren, wird die Wahrheit selbst zur Pflicht. Ihre Replik stellt dar, wie Iphigenies Dialogverhalten unter den nun geltenden Dialogbedingungen kollabiert: Der indikativisch prädikative Beginn „Sie sind“ wird fallengelassen, weil er entweder die gefährliche Wahrheit oder die prekäre Lüge nach sich ziehen würde. Der vermeintlich ungefährlichere Satzbeginn „sie scheinen“ nähert sich offenbar ebenfalls der Lüge an. Es bleibt der Rückzug auf die eigene Wahrnehmung, die zumindest nicht gelogen ist. Dieses Schwanken und der Verlust ihrer sonst zu beobachtenden Sicherheit im Reden korrespondiert mit der Störung des Versmaßes: Ihre zögerliche Antwort weist nach der zweiten Hebung eine Silbe zu viel auf. So dargestellt erscheint Iphigenies Entschluss eigentümlich situationsgebunden zu erfolgen. Er resultiert aus Zwängen, die sich im Dialog konstituieren und gerade mit Blick auf diese Zwänge scheint dieser Entschluss am erfolgversprechendsten zu sein. Hierdurch wird die etwaige Verbindlichkeit ihres „kühne[n] Unternehmen[s]“ (V. 1913) in gleichem Maße relativiert und auf Kontexte bezogen, wie das Modell ihres umkreisenden, mehrfach neue Ansätze einbringenden Sprechens eingegrenzt wird auf den Dialog, bevor sie sich zur Wahrheit genötigt sieht. 25 Erfolg ist beiden beschieden, ersterem in der (zu vermutenden) Mit-Herbeiführung des guten Endes, letzterem in der Aufhaltung des Opferrituals. Der Humanisierungs- und Emanzipationsprozess des Dramas bedarf anscheinend beider Arten, Gespräche zu führen.
In Anlehnung an Raschs These, dass „Iphigenie sich erst dann zur Wahrheit entschließt, als sie erkennt, daß Lügen keinen Zweck mehr hat.“ (RASCH 1979, 159) 25 In anderer Weise geht auch Rasch von einer Situationsabhängigkeit des Wahrsprechens aus: „Die Wahrheit hat also nicht allein den ihr in jedem Fall eigenen ethischen Wert, sondern zugleich auch einen praktischen, der für Iphigenie von Bedeutung ist. Sie gehört zur Strategie eines Rettungsversuches.“ (RASCH 1979, 160) 24
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D. Neueinsätze im Dialog und die Brüchigkeit der Handlung An Pylades’ Orakeldeutung wird erkennbar, wie die Perspektivierungsarbeit der Figuren für einen produktiven Handlungsrahmen sorgen kann. Pylades’ positive Wendung ihrer prekären Gefangenheit lässt ein weiteres Vorgehen noch sinnerfüllt erscheinen. Das gibt den Blick frei auf den eminent konstruktiven Aspekt im Dialog der Iphigenie: Die Figuren verändern und modellieren im Gespräch die Bedingungen ihres Handelns immer wieder neu. Sie deuten (wie Orest das Orakel)26 ihre Erfahrungen zweckgerichtet, formen hierüber die Umstände, in denen sie wirken und gewinnen so neue Handlungsmöglichkeiten für sich und für andere. In sehr viel grundlegender Weise entstehen neue Verhältnisse, in denen sich neu zu orientieren dann notwendig wird, bereits dadurch, dass sich die Figuren einander zu erkennen geben: „Ich bin es selbst, bin Iphigenie, / Des Atreus Enkel, Agamemnons Tochter, / Der Göttin Eigentum, die mit dir spricht.“ (V. 430–432), „Ich bin Orest!“ (V. 1082) und „Es zeigt sich dir im tiefsten Herzen an: / Orest, ich bin’s! sieh Iphigenien! / Ich lebe!“ (V. 1172–1174). Im ausdrücklichen Bezug auf sich selbst scheinen sie ihre Identität emphatisch sprachlich erst zu gründen und zu setzen. 27 Sie schaffen hierüber neue Bedingungen im Figurengefüge, unter denen sie und die beteiligten Figuren nun zu agieren haben: Iphigenie sieht die Möglichkeit, nach Griechenland heimzukehren, Orest sieht sich vorerst damit konfrontiert, von seiner Schwester ermordet zu werden, dann allerdings damit, dass sich mit ihrer Hilfe das so gedeutete Orakel erfüllt. Aus der produktiven Kraft solcher Neusortierungen, Perspektivierungs- und Deutungsleistungen entbinden sich aber formstrukturelle Irritationen. Denn das Neue oder Modifizierte, das von den Figuren herstammt, muss nicht lückenlos aus dem Vorigen folgen oder mit diesem kohärent verbunden sein. Iphigenies Entsühnungsethos deutet dieses Problem an: So hofft’ ich denn vergebens, hier verwahrt, Von meines Hauses Schicksal abgeschieden, Dereinst mit reiner Hand und reinem Herzen Die schwer befleckte Wohnung zu entsühnen. (V. 1699–1702)
Iphigenie übernimmt den Entsühnungsauftrag und die entsprechende Lexik von Pylades. Direkt vorher hatte er festgelegt:
26 Vgl. WITTE 1990, 123 zu Orests „Neuinterpretation“ des Orakels: „Sie läßt erkennen, wie Menschen ihrer Existenz Sinn verleihen: durch situationsbezogene Umdeutung, das heißt Neuschreibung, vorgegebener Texte.“ 27 Mit Bezug auf Iphigenie, die sich Thoas erklärt, spricht Sybille Kershner von einem „Akt der Konstituierung von Ich-Identität“ (KERSHNER 1994, 32). Dazu, dass Iphigenies „Geständnis […] im gleichen Atemzug ein Akt der Grenzziehung durch ein Sich-Einordnen in ein weltliches und göttliches Koordinatensystem“ ist, vgl. ebd.
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Du Bringst über jene Schwelle Heil und Leben wieder, Entsühnst den Fluch und schmückest neu die Deinen Mit frischen Lebensblüten herrlich aus. (V. 1615–1618)
Davor findet sich der Ausdruck ‚entsühnen‘ nicht, 28 wie es sich Iphigenie auch vorher nicht zur Aufgabe macht, die Familienschuld abzubüßen. Sie intendiert zu Beginn allein die Heimreise (vgl. u. a. V. 10–12). Die Begegnung mit Orest erfährt sie dann als unspezifiziertes „Glück“ (V. 1115, 1182), das sich wohl auch auf ihre nun möglich gewordene Rückkehr bezieht. Auch ihr Wunsch, Thoas möge sie zurückschicken, richtet sich wohl eher auf eine generelle Verbesserung der Lebenssituation von Iphigenie und ihrer Familie, als auf die Lösung der mythisch bedingten Schuld: „O sendetest du mich auf Schiffen hin! / Du gäbest mir und allen neues Leben.“ (V. 461f.) Das gilt umso mehr, als Iphigenie zu diesem Zeitpunkt noch davon ausgeht, dass eine Rückkehr in die intakte Familienstruktur möglich sei (vgl. hierzu V. 45–51). Erst von Orest erfährt sie ja, dass diese Struktur schon längst nicht mehr existiert. Konsequent vorbereitet wird ihr Entsühnungsauftrag innerhalb der Dramenhandlung offenkundig nicht. Vielmehr evoziert die Plötzlichkeit und Sicherheit, mit der sie sich dem Entsühnen verpflichtet, dass sie spontan Pylades’ Forderung aufnimmt, hierüber ein neues Handlungsethos ausbildet und es in die Vergangenheit hinein extrapoliert. 29 Kohärent begründet oder aus Vorigem hergeleitet wird das im Text allerdings nicht. Diese Irritation stellt sich ungleich deutlicher bei Iphigenies Versuch ein, Thoas von Orests Identität zu überzeugen. Im Gegensatz zu Euripides, wo Iphigenie von Orest „irgendein Beweisstück“ 30 für seine Herkunft von Agamemnon fordert, berichtet sie bei Goethe bloß von ihrem Misstrauen und davon, wie sie es bewältigen konnte: Mich selbst hat eine Sorge gleich gewarnt, Daß der Betrug nicht eines Räubers mich Vom sichern Schutzort reiße, mich der Knechtschaft Verrate. Fleißig hab’ ich sie befragt, Nach jedem Umstand mich erkundigt, Zeichen Gefordert, und gewiß ist nun mein Herz. (V. 2076–2081)
Vgl. die Einträge zu ‚entsühnen‘ und weiteren Wortformen in SCHMIDT 1970, [Wortindex, 22]. 29 Nach Irmgard Wagner wird Iphigenie die „Erlöserrolle“ von Pylades „untergeschoben, eingeredet.“ (WAGNER 1990, hier 128, vgl. insgesamt 126–128.) Vgl. hierzu auch LIEWERSCHEIDT 1997, 222 und 226 und insbesondere BROWN/STEPHENS 1988, 109–115, die auch den merkwürdigen Umstand behandeln, dass Orest im finalen Gespräch mit Thoas auf die Entsühnungsthematik zu sprechen kommt (vgl. V. 2136–2138), obwohl er (zumindest nach dem, was im Drama gezeigt wird) davon nicht gehört haben kann. 30 EURIPIDES 2011, 49, V. 808. 28
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Iphigenies Schilderung ihrer umsichtigen „Sorge“ und ihrer genauen Prüfung des vermeintlichen „Räubers“ ist problematisch, weil sie sich nicht mit dem deckt, was vom Stück gezeigt wird. Sie scheint Orest, nachdem er sich zu erkennen gegeben hat, vielmehr unhinterfragt zu glauben: „So steigst du denn, Erfüllung, schönste Tochter / Des größten Vaters, endlich zu mir nieder!“ (V. 1094f.) Auch als sie sich offenbart, geht sie davon aus, er sei ihr „Bruder“ (vgl. V. 1173f.). Zwar entstehen kurze Zeit später „Zweifel“ in ihr (vgl. V. 1180–1187), sie sind aber bereits mehrere Verse später überwunden: „Orest! Orest! mein Bruder!“ (V. 1201) Iphigenie schwankt daher in ihrem Urteil nur kurz; die für sich in Anspruch genommene Umsicht ist genauso wenig erkennbar, wie eine ‚Befragung‘ Orests. Die Brüchigkeit an dieser Stelle lässt sich zwar durch die Annahme beheben, Iphigenie würde Thoas anlügen, um seinen Kampf mit Orest zu verhindern („Mit nichten! Dieses blutigen Beweises / Bedarf es nicht, o König! Laßt die Hand / Vom Schwerte!“ [V. 2064–2066]). Das überträgt dann aber bloß die Spannung auf Iphigenie, die nun ihr ja zuvor erfolgreiches Bemühen, Thoas nicht erneut zu belügen, unversehens wieder verkehren würde. Wird hingegen davon ausgegangen, dass Iphigenie tatsächlich misstrauisch wurde und Orest einer genauen Prüfung unterzog, dass dies alles zwischen dem dritten und dem vierten Akt geschah, im Text aber ausgespart wird, dann folgt hieraus, dass der Text eine Lücke im dargestellten Handlungszusammenhang aufweist. Iphigenies Bericht über ihr kritisches Verhalten deutet dann auf einen leeren Punkt innerhalb der Handlung hin, der durch ihren ostentativen Gestus nur noch fühlbarer wird. Wie man auch versucht, dieses Problem zu lösen: Im Text lässt sich ein Bruch wahrnehmen, der entweder die Figur oder die Handlung betrifft. Solche Störungen im Begründungsgefüge der Iphigenie sind durchaus bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass sie der streng komponierenden und regulierenden Formstrategie des regelmäßigen Dramas französisch-klassizistischer Prägung folgt: Sie ist eine, wie Goethe 1823 notiert, „Tragedie en cinq actes, tout afait [sic!] selon les regles“ 31 schon alleine darin, dass sie die in der
FA 21, 678. Goethe notiert diese Beschreibung in einer Aufstellung seiner Werke, zu der ihn Vgl. hierzu MAURER 2002, 195: Das „durchgehende Bestreben [ist] nicht zu verkennen, hier einmal eine ‚tragédie en cinq actes […]‘, will sagen eine streng gebaute Tragödie in der Weise der durch das französische klassizistische Theater vermittelten antiken Vorbilder zu schaffen.“ Bereits anlässlich der früheren Fassungen ist bei Goethes Zeitgenossen von der Regelmäßigkeit des Werkes die Rede, so 1780 bei Friedrich Heinrich Jacobi: Knebel „hat uns Göthes letztes Werk, die Iphigenia in Tauris, vorgelesen; ein regelmäßiges Trauerspiel in 3 Aufzügen.“ (Brief von Jacobi an Wilhelm Heinse vom 20., 23. und 24.10.1780, zit. nach: JACOBI 1983, 209). Und im dritten Brief (1784) von Wielands Briefen an einen jungen Dichter liest man, dass die Iphigenie „eben so ganz im Geiste des Sophokles als sein Götz im Geiste Shakespears geschrieben, und (wenn ja in Regelmäßigkeit ein so großer Wert liegt) regelmäßiger als irgend ein französisches Trauerspiel“ sei (WIELAND 1967, 474). 31
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Rezeptionsgeschichte von Aristoteles’ Poetik formierten und kodifizierten dramenpoetologischen ‚Hauptregeln‘ der Einheit von Ort und Zeit und eingeschränkt auch die der Handlung einhält – eingeschränkt eben durch die Brüchigkeit der Handlungsverknüpfung. Sie folgt diesem Textmodell aber auch in der Verinnerlichung des Geschehens und der Dämpfung der Ereignisse, Gefühle und des sprachlichen Ausdrucks. Dem leistet die während der Italienreise abgeschlossene Versifikation der Prosafassung, d. h. die Eindämmung des sprachlichen Ausdrucks durch die ordnende Versform des Blankverses, deutlichen Vorschub. 32 Bei diesen Konzentrations-, Formungs- und Kontrollenergien dürften Handlungsbrüche in der Iphigenie erst einmal überraschen. Dabei treffen sie das zentrale Prinzip der Handlungskonstitution selbst (und damit auch die Einheit der Handlung), wie es wirkmächtig von Aristoteles formuliert wurde: Demnach muß […] auch die Fabel, da sie Nachahmung von Handlung ist, die Nachahmung einer einzigen, und zwar einer ganzen Handlung sein. Ferner müssen die Teile der Geschehnisse so zusammengefügt sein, daß sich das Ganze verändert und durcheinander gerät, wenn irgendein Teil umgestellt wird. Denn was ohne sichtbare Folgen vorhanden sein oder fehlen kann, ist gar nicht ein Teil des Ganzen.“ 33
Die „Zusammensetzung der Geschehnisse“ ist dabei wahrscheinlich oder notwendig. 34 Lessing, der in der Hamburgischen Dramaturgie von „Verknüpfung von Begebenheiten“ 35 spricht, versteht die Verknüpfung als kausal: Um der „Unwahrscheinlichkeit“ einer Begebenheit zu begegnen, die der „Poet […] in der Geschichte“ findet, wird er vor allen Dingen bedacht sein, eine Reihe von Ursachen und Wirkungen zu erfinden, nach welcher jene unwahrscheinliche Verbrechen [die Teil der Handlung sind - H.K.] nicht wohl anders, als geschehen müssen. Unzufrieden, ihre Möglichkeit bloß auf die historische Glaubwürdigkeit zu gründen, wird er suchen, die Charaktere seiner Personen so anzulegen; wird er suchen, die Vorfälle, welche diese Charaktere in Handlung setzen, so notwendig einen aus dem andern entspringen zu lassen; wird er suchen, die Leidenschaften nach eines jedem Charakter so genau abzumessen; wird er suchen, diese Leidenschaften durch so allmähliche Stufen durchzuführen: daß wir überall nichts als den natürlichsten, ordentlichsten Verlauf wahrnehmen[.] 36
Kriterien wie Kausalität und Wahrscheinlichkeit, letztere zum Leitbegriff aufgeklärter Poetologie seit Gottscheds Critischer Dichtkunst avancierend, schließen die Einzelgeschehnisse zur kohärenten Handlung zusammen, in der eins Zur Versifikation vgl. die erhellenden Überlegungen von JEßING 1995, 72f. ARISTOTELES 2005, 29. 34 Ebd., 19. Vgl. auch 29 und 35: „Peripetie und Wiedererkennung müssen sich aus der Zusammensetzung der Fabel selbst ergeben, d. h. sie müssen mit Notwendigkeit oder nach der Wahrscheinlichkeit aus den früheren Ereignissen hervorgehen.“ 35 LESSING 1985, 369. 36 Ebd., 338f. Vgl. auch 329. 32 33
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aus dem anderen ‚wahrscheinlich‘, ‚plausibel‘, ‚natürlicherweise‘, oder ‚kausal‘ folgt. Wie Iphigenies Entsühnungsethos und ihre Zweifel an Orests Identität signalisieren, ist aber gerade eine solch gefügte Verbindung von Handlungselementen in Goethes Drama nicht mehr durchgängig gegeben. Einzelne Elemente sind hier nicht mehr sicher miteinander verknüpft, vielmehr werden Begründungslücken erkennbar. Zu diesen Lücken gehört freilich auch Orests Heilung: Der Text reiht das von ihm durchlebte Wahnbild, er sei gestorben und treffe nun sein ganzes Geschlecht (vgl. V. 1258–1309), seine Begrüßung der vermeintlich ebenso in die Unterwelt gefahrenen Iphigenie und Pylades (vgl. V. 1310–1316), Iphigenies Gebet (vgl. V. 1317–1331) und Pylades’ Versuch, ihn auf ihre gegenwärtige Lage zu fokussieren (vgl. V. 1332–1340), aneinander, um dann unvermittelt Orest als gerettet darzustellen: Laß mich zum erstenmal mit freiem Herzen In deinen Armen reine Freude haben! […] Es löset sich der Fluch, mir sagt’s das Herz. (V. 1341f., 1358)
Wenn man so will, gehört seine Heilung zur Reihe der die Handlung destabilisierenden Geschehnisse, nur radikalisiert sie diese Reihe noch. Denn Orest bekundet sich im Gespräch gleichsam spontan als geheilt, bringt seine Rettung vielleicht sprachlich sogar erst hervor und stellt dadurch die Bedingungen, unter denen die Figuren wirken, neu ein. Das geschieht jetzt aber unter ostentativer Preisgabe kausaler Handlungsverknüpfung, da völlig offen bleibt, wie sich Orests Wandlung vollzogen haben soll, wie und ob überhaupt hier Späteres mit Früherem zusammenhängt. 37 Der Text bricht auf handlungsstruktureller Ebene in seiner Mitte, an der, wie es in der Italienischen Reise heißt, „Achse des Stücks“ geradezu auseinander. 38
37 Die Forschung hat hierauf mit unterschiedlichen Deutungen reagiert, vgl. dazu JEßING 1995, 67f. Vgl. auch die konzisen Überlegungen bei WINKLER 2009, 137–141. Des Weiteren vgl. (mit anderem Erkenntnisinteresse) WITTKOWSKI 1984, 261: „Zwar verführt das Zusammentreffen von Gebet und Heilung den Rezipienten, ebenso zu denken, wie es sich von selbst versteht für die Figuren dieser mythischen Welt: daß die Göttin hilft […]. Tatsächlich ergibt sich aus dem Zusammentreffen von Gebet und Heilung aber noch kein Schluß auf ein Kausalverhältnis.“ 38 FA 15/1, 221. Mit Orests Heilung im dritten Akt verbindet sich das bekannte Problem, dass der Raub des Kultbildes bzw. (nach Orests Deutung) die Heimkehr Iphigenies, die ja Bedingung dieser Heilung waren, im vierten und fünften Akt eigentlich obsolet werden (vgl. FA 5, 1318f.). Der Eindruck einer heterogenen Handlung scheint sich auch bei dem Theaterpraktiker Schiller einzustellen, wenn es darum geht, die Iphigenie für eine neue Aufführung herzurichten: „Ferner gebe ich Ihnen zu bedenken, ob es nicht rathsam seyn möchte, zur Belebung des dramatischen Interesse, sich des Thoas und seiner Taurier, die sich zwei ganze Acte durch nicht rühren, etwas früher zu erinnern und beide Actionen, davon die eine jezt zu lange ruht, in gleichem Feuer zu erhalten. Man hört zwar im 2ten und 3ten Act von
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Diese Beobachtungen lassen sich mit der These Karl Maurers zusammen denken, in Goethes Iphigenie werde der von Aristoteles und seiner Rezeptionsgeschichte her kommende Primat der Handlung durch die Figuren subvertiert. „Es scheint am Ende, als kämen alle wesentlichen Impulse aus dem Inneren der Beteiligten“. 39 Maurer sieht dabei in Sophokles’ Philoktet einen Prätext für Goethes Drama, in dem sich das Moment des Wahrsprechens bereits findet. Mit dieser „Anlehnung“ vollziehe und legitimiere Goethe „eine prinzipielle Wendung in der Formgeschichte der klassizistischen Tragödie […], die Aufhebung der Intrige durch den von innen her drängenden Impuls der handelnden Charaktere“.40 Dieser „Impuls“ schwächt aber in deutlicher Weise die Kohärenz des Textes ab. Die Figuren verändern nicht nur die eigenen Handlungsbedingungen, sondern beeinträchtigen darin auch die Handlungsverknüpfung des Textes. Damit wehren sie sich nicht allein gegen die Verbindlichkeit des Mythos: Gewissermaßen unterminieren sie auch die Verbindlichkeit des Textes sich selbst gegenüber, indem an den beschriebenen Stellen das Spätere nicht mehr in dem Sinne für das Frühere verbindlich ist, dass ersteres aus letzterem entstehen würde. Das Frühere ist nicht mehr verbindlich ausgerichtet auf das Spätere, das Spätere ‚bindet‘ das Frühere nicht mehr dadurch an sich, dass es von ihm hervorgebracht worden wäre. Iphigenies „unerhörte Tat“ (V. 1892), Thoas das gegen ihn gerichtete Komplott zu gestehen, bildet hier keine Ausnahme. An ihr lässt sich besonders deutlich beobachten, wie intersubjektive Verbindlichkeit, dialogische Neuorientierung der Situation und Brüchigkeit der Handlung miteinander verflochten werden. Iphigenie hebelt hier ihre dilemmatische Situation dadurch aus, dass sie ihr mit Orest und Pylades geschlossenes Abkommen über Lüge, Betrug und Diebstahl des Götterbildes bricht. Sie ordnet die Verbindlichkeit, die von der geplanten Intrige ausgeht, ihrer Dankbarkeit und Verpflichtung Thoas gegenüber unter und realisiert dabei zugleich ihren Selbstanspruch auf moralische Integrität. Durch ihren Entschluss, bei der Wahrheit zu bleiben, verändert sie die Bedingungen des zuvor auf Intrige und Täuschung ausgelegten Dialogs und
der Gefahr des Orest und Pylades, aber man sieht nichts davon, es ist nichts sinnliches vorhanden, wodurch die drangvolle Situation zur Erscheinung käme. Nach meinem Gefühle müßte in den 2 Acten, die sich jezt nur mit Iphigenien und dem Bruder beschäftigen, noch ein Motiv ad extra eingemischt werden, damit auch die äusere Handlung stetig bliebe und die nachherige Erscheinung des Arkas mehr vorbereitet würde. Denn so wie er jezt kommt, hat man ihn fast ganz aus den Gedanken verloren.“ (Schillers Brief an Goethe vom 22.01.1802 [zit. nach: SCHILLER 2002, 596]) Auch wenn sich diesem Problemkomplex interpretierend begegnen lässt (vgl. zu einem Lösungsvorschlag Reed 1996, 203f.), bleibt die Gefahr doch akut, dass die Handlung in zwei Teilhandlungen auseinanderfällt bzw. dass die „äusere Handlung“ eben nicht „stetig“ bleibt. 39 MAURER 2002, 204. 40 Ebd., 213.
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korrigiert sie dahingehend, dass die Gesprächsteilnehmer (Thoas, Orest und sie) jetzt über den gleichen Wissenshorizont verfügen können. Nun erlaubte die Intrige aber, die Zukunft zu planen, zu beeinflussen und kontrolliert herbeizuführen: Das Menschenopfer hätte aus triftigen Gründen verschoben werden, Arkas und Thoas hätten der Priesterautorität folgen sollen, das Göttinnenbild wäre zur rituellen Waschung aus dem heiligen Bezirk und unter die Kontrolle der Griechen gebracht worden, die sodann die vorbereitete Flucht hätten antreten können. Da Iphigenie diesen Plan jedoch verrät, fällt das intendierte Zukunftsszenario weg. An dessen Stelle tritt ein Vakuum, dessen Ausfüllung Iphigenie an Thoas delegiert. Seine Entscheidung ist allerdings unsicher, wie auch die gesamte Situation an dieser Stelle riskant und gefährlich ist. Ob die Griechen ihre Heimreise antreten dürfen oder ob sie aus sicherlich nicht unberechtigten Gründen (Konspiration und versuchter Diebstahl eines kultischen Gegenstandes) der taurischen Macht anheimfallen, bleibt erst einmal offen. Iphigenie ist sich dessen wohl bewusst: Auf und ab Steigt in der Brust ein kühnes Unternehmen: Ich werde großem Vorwurf nicht entgehn, Noch schwerem Übel wenn es mir mißlingt; […] Uns beide hab’ ich nun, die Überbliebnen Von Tantals Haus’, in deine Hand gelegt; Verdirb uns – wenn du darfst. (V. 1912–1915, 1934–1936)
Wahrnehmbar wird in diesem „Wagnis Iphigenies“ die „Unsicherheit des Ausgangs“ und ein „angelegte[s] Moment des radikal Unsicheren, gespannt Abzuwartenden“. 41 Ist derart der Ausgang ins Unsichere verlagert und wird er so nach vorne hin offen, so wird er, wenn er sich dann als tatsächlich guter Ausgang vollzieht, umgekehrt nach hinten, zu seine Ursachen hin, rätselhaft: Es ist nicht mehr klar, warum sich Thoas letztlich zugunsten der Griechen entscheidet. Hier fehlen Begründungen etwa in Form einer Selbstaussprache Thoas’, die klären würden, ob Iphigenie beispielsweise wirklich „jeden Zweifel“ in ihm aufhebt und ob er seinen „Zorn“ tatsächlich überwindet (V. 2095f.). Anstelle dessen übernehmen Orest und Iphigenie wieder das Wort und auf Thoas fallen nur noch die Abschiedsformeln „So geht!“ (V. 2151) und das berühmte, vehement vieldeutige „Lebt wohl!“ (V. 2174).42 Diese Unterbestimmtheit erzeugt eine Mehrdeutigkeit, die den gesamten Schluss umfasst. Ob Thoas „die Stimme/ Der Wahrheit und der Menschlichkeit“ (V. 1937f.) hört, ob er von den REED 1996, 204. Vgl. BORCHMEYER 2009: Borchmeyer weist darauf hin, dass Thoas’ „Lebt wohl!“ „nur den ersten Fuß eines nicht abgeschlossenen Verses [bildet], der schweigend weiterklingt. Mit welcher Empfindung Thoas diese letzten Worte des Dramas spricht, bleibt im wahrsten Sinne offen“ (50). 41 42
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Griechen einfach rhetorisch überredet wird, ob er dem moralischen Druck Iphigenies („Verdirb uns – wenn du darfst.“ [V. 1936]) nach gibt oder ob er sich von ihr auf sein Versprechen, sie „von aller Fordrung“ loszusprechen, wenn sie „nach Hause Rückkehr hoffen“ kann (V. 293f.), verpflichten lässt („Du hältst mir Wort!“ [V. 1970; vgl. 2146]), ist durchaus offen und hier auch nicht zu entscheiden. Von Interesse ist hier der Umstand, dass eine solche Mehrdeutigkeit entsteht, indem sie signalisiert, dass auch hier der Begründungs- und Motivationsstrang der Handlung geschwächt wird und an Eindeutigkeit verliert. Wie in den vorigen Beispielen ist nicht mehr sicher bestimmbar, wie das Ende mit dem zuvor Geschehen zusammenhängt, wie es sich von diesem her motivieren lässt. In gewisser Hinsicht wird damit auch Iphigenies Verrat an Orest und Pylades gespiegelt: Bricht sie ihre Verbindlichkeit den beiden gegenüber, so unterbricht ihre Entscheidung kurze Zeit später die Verknüpfung der Handlung und lässt diese sich selbst bzw. ihren Inhalten gegenüber ebenfalls ‚unverbindlich‘ werden. Pointiert formuliert vollzieht Iphigenies Korrektur und Neusetzung der dialogischen Bedingungen innerhalb des Dialogs (die Verpflichtung zur Wahrheit) zugleich die Aufsprengung der Handlungsverkettung. In Goethes Iphigenie leistet das dialogische Verhalten der Figuren die situative Gültigkeit von Positionen und Handlungsempfehlungen. Zugleich bildet sich ein Ethos zum Gespräch heraus, das Iphigenie, Thoas und Orest miteinander zu verbinden erlaubt. Gleichsam als Gegenbewegung wird aber die Handlungsverknüpfung durch die Redestrategien innerhalb dieses Dialoges wiederum destabilisiert. Die Figuren sprechen daher nicht nur gegen die Verbindlichkeit des Mythos an, ihr Sprechen führt auch zum Widerstand gegen die Verbindlichkeit der Handlungsverknüpfung selbst. Diese Dialektik mag auf das weisen, was bereits in Goethes Bezeichnung der Iphigenie als „gräzisierende[s] Schauspiel“43 anklingt: Die Iphigenie ist ‚griechisch‘, ‚antik‘ oder klassizistisch vor allem in ihrer Übernahme antiker Dialogtechnik wie der Stichomythie, in der Formstrenge und inhaltlichen Konzentration. Sie ist aber insofern ein genuin neuzeitliches Stück (und ist daher nur ‚gräzisiert‘), als die Emanzipierungsbestrebungen der Griechen jene des sich in seiner Autono mie behaupten wollenden Subjekts der Aufklärung sind. 44 Diese Bestrebungen zeigen sich vor allem in Orests Heilung von dem ihn belastenden mythischen Zwangszusammenhang und in der Freiheit und Heimkehr der Griechen. Sie werden aber auch sichtbar in Iphigenies Entsühnungsethos, das die verübte Gewalt aufheben will, und in ihrem Versuch, Orests Identität zu beweisen, Brief an Schiller vom 19.01.1802 (FA 32, 215). Über die Frage, ob die Iphigenie antik oder modern sei, fällt Schillers Urteil entschieden aus: „Sie ist aber so erstaunlich modern und ungriechisch daß man nicht begreift, wie es möglich war, sie jemals einem griechischen Stücke zu vergleichen.“ (Schiller an Christian Gottfried Körner vom 21.01.1802 [zit. nach: SCHILLER 2002, 592f.]) Zum „‚moderne[n]‘, romantische[n] oder sentimentalische[n] Grundzug des Stücks“ vgl. FA 5, 1309. 43 44
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wodurch sie sein „archaisches, dem Menschenopfer-Ritual doch ähnliches Mittel der Eindämmung von Gewalt“, nämlich „das Duell“, 45 erfolgreich abzuwenden vermag. Gerade diese Elemente scheinen dann aber die konzentrierte Handlung, die zusammengedrängte Fügung der Ereignisse und die „Harmonie“, die es dem Text auch durch die metrische Umarbeitung her zu verleihen galt,46 zu sprengen. Bildet die Iphigenie einen ersten Höhepunkt in Goethes Beschäftigung mit klassizistischer Formsprache, die sich in den 1790er Jahren zur intensiven Aneignung antiker Texttraditionen ausweitet, dann wird an ihr bereits die Schwierigkeit erkennbar, neuzeitliche Erfahrungen mit antiker oder klassizistischer Formung zu vermitteln. Der gleichmäßige Versgang und die temperierte Sprache mögen über die aufstörende Subjektermächtigung noch hinwegspielen – aufzufangen ist sie hierdurch aber nicht. Das kann auch nicht der Dialog, zu dem sich die Figuren am Dramenende hin verpflichten. Sehr wohl vermag er aber zu leisten, dass Goethes Schauspiel nicht zur blutigen Tragödie wird.
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WINKLER 2009, 157. „Ich bin fleißig, und arbeite die Iphigenie durch, sie quillt auf, das stockende Sylbenmaas wird in fortgehende Harmonie verwandelt.“ (Brief an Herzog Carl August vom 18.09.1769 [FA 30, 44]), „Hier lieber Bruder die Iphigenia. […] Möge es [das Stück] dir nun harmonischer entgegen kommen. […] Vorzüglich bitt ich dir hier und da dem Wohlklange nachzuhelfen. Auf den Blättern die mit resp. Ohren bezeichnet sind, finden sich Verse mit Bleystift angestrichen die mir nicht gefallen und die ich doch jetzt nicht ändern kann. Ich habe mich an dem Stücke so müde gearbeitet. Du verbesserst das mit einem Federzuge.“ (Brief an Herder vom 13.01.1787 [FA 30, 220]). 45 46
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Beliebige Verbindlichkeiten Zur Formalisierung eines Konzepts an der Wende zum 19. Jahrhundert Georg Eckert Die Hochkonjunktur der Verbindlichkeit im späten 18. Jahrhundert war eine recht kurze. In der weiteren Rezeptionsgeschichte verlief sie sich so sehr, dass sie selbst in jüngeren Fachlexika gar nicht mehr aufgeführt wird. Das Historische Wörterbuch der Philosophie beispielsweise kennt kein einschlägiges Lemma, ältere Referenzwerke wie etwa das rund ein Jahrhundert zuvor entstandene Wörterbuch der philosophischen Begriffe sehr wohl.1 Letzteres verzeichnete Verbindlichkeit als kantianischen Terminus; knapper, aber im gleichen Sinne wies sie auch das Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe aus.2 Zu einem Alltagsbegriff hatte Verbindlichkeit aber bereits im späten 19. Jahrhundert nicht mehr getaugt. Weder Meyers Großes Konversations-Lexikon, das Verbindlichkeit lediglich als Verweis auf „Schuldverhältnis“ rubrizierte, 3 noch Pierers Universal-Lexikon, das im wesentlichen Vertragsverhältnisse aufführte und lediglich kursorisch eine Handlung durch „moralische Nöthigung“ streifte, maßen dem Begriff besondere Bedeutung bei.4 Beides hat seine Berechtigung: die kantianische Prägung der beiden Lemmata in den Fachlexika, ebenso seine Auslassung, zumal in allgemeinbildenden Nachschlagewerken. Denn in der Tat hat wohl kein Autor die Verbindlichkeit jemals mit einem höheren systematischen Wert bedacht als Immanuel Kant, in dessen Metaphysik der Sitten die bedeutungsschwere Pflicht zur „Materie der Verbindlichkeit“ avancierte. 5 Verbindlichkeit hatte ihren Ort mitten in der Aufklärung, an deren Ende sie sich bereits wieder verflüchtigte: Unverbindlichkeit charakterisiert nicht erst die Hoch- und Postmoderne, die sich letztlich nur auf das versteht, was einst Ursprung der Verbindlichkeit EISLER 1904, 621. KIRCHNER 1907, 676. 3 MEYER 1909, 35. 4 P IERER 1864, 449. 5 KANT 1907, 222. 1 2
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gewesen war – die juristisch zu bestimmende und mit Rechtsmitteln einzuholende obligatio als Resultat beiderseitig erklärten Willens. Wie es im späten 18. Jahrhundert zu einem Aufstieg der Verbindlichkeit kam, möchte der vorliegende Essay ebenso erkunden wie ihren raschen Niedergang an der Wende zum 19. Jahrhundert. Er wirft einen Blick auf eine europäische Ideenumwälzung, die sich in der philosophischen Theoriebildung ebenso zeigt wie in der praktischen Politik; seine Sichtachse führt von Edmund Burke über Friedrich von Gentz bis zu Clemens von Metternich. Um diese Umwälzung plausibel zu machen, bedarf es eines raschen Rückblicks auf die naturrechtliche Vorgeschichte der Verbindlichkeit und eine s Ausblicks auf den Historismus des frühen 19. Jahrhunderts, in den diese Transformation hineinwirkte. Aus einer inneren Verbindlichkeit wurde eine äußere, aus einer materialen gleichsam eine formale Größe – und mithin eine beliebige, aber keine, die nach Belieben zu gestalten wäre: Verbindlichkeit geriet gleichsam unter die Weisungsbefugnis des Weltgeistes, unter die ausgerufene Notwendigkeit der historischen Entwicklung, letztlich unter die „Alternativlosigkeit“ des frühen 21. Jahrhunderts.
A. Naturrecht und Geselligkeit: Vom Aufstieg der Verbindlichkeit Als juristischer Begriff war die Verbindlichkeit in die Neuzeit gekommen. Daß „contractum autem ultro citroque obligationem“ ausmache, 6 besagte das spätantike Corpus Iuris Civilis: „Der Vertrag jedoch ist die Verbindlichkeit hinüber und herüber“. Als gegenseitiges Vertragsverhältnis also firmierte sie, beinhaltete folglich einen rechtlich einklagbaren Anspruch, dem gleichwohl kein weiterer moralischer Wert innewohnte: Ethik war eine theologische Prärogative. Daran vermochte wohl erst eine naturrechtliche Denkungsart etwas zu ändern, deren spätscholastische Wurzeln zwar offenkundig sind. Aber erst im Laufe des 17. Jahrhunderts gewann ein Naturrecht an gesellschaftlicher Geltungskraft, das sich auf eine Begründung menschlicher Gesellschaft(en) durch Vernunftübereinstimmung und ganz konkret durch Vertragsverhältnisse verstand – Gegenstände der Verbindlichkeit wurden ausgestaltbare Verhandlungssache. Vielleicht die wichtigste Innovation in diesem Kontext bestand im Übergang von einem tendentiell negativen Menschenbild, das Kooperation als bloße Überlebens- und mithin nur situativ anzuwendende Technik auffasste, zu einem tendentiell positiven Menschenbild, in dessen Mittelpunkt socialitas stand, natürliche Geselligkeit.
6
Corpus Iuris Civilis, Digesta 50.16,19; KRUEGER / MOMMSEN 1973, 909.
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Idealtypisch reduziert, lässt sich diese Entwicklung etwa beim niederländischen Naturrechtler Hugo Grotius nachvollziehen: Zur gleichen Zeit, in der Thomas Hobbes in seinem Leviathan den individuellen Überlebenstrieb als Prinzip stärkte, beanspruchte Hugo Grotius eine Pionierrolle für ein von kontingenten Machtverhältnissen unabhängiges Recht, „das vielen Völkern oder vielen Herrschern von Völkern gemein ist“. 7 Bereits das Vorwort zu seinem Opus magnum De iure belli ac pacis bezog sich auf eine gemeinmenschliche Geselligkeit und erklärte eben diese zum „Ursprung des Rechts“; 8 aus der natürlichen Geselligkeit ging bei Grotius erst der Gesellschaftsvertrag hervor, gingen letztlich alle Verpflichtungen hervor, die nicht allein bei diesem Denker in der postulierten sozialen Konstitution des Menschen ihren Anfang nahmen. Samuel Pufendorf, der in der socialitas nicht weniger als das Grundgesetz der Natur erblickte, 9 folgte diesem Wege ebenso wie zahlreiche frühaufklärerische und aufklärerische Autoren; die deutsche Philosophie des frühen 18. Jahrhunderts widmete der Verbindlichkeit nach Pufendorf freilich wenig Aufmerksamkeit, 10 andernorts war sie präsenter. Vielleicht hat kein Autor die Geselligkeit der Menschennatur zu größerer systematischer Bedeutung erhoben als der Glasgower Professor für Moralphilosophie Adam Smith, wie ohnehin gerade die britische, zumal die schottische Aufklärung viel aus der Geselligkeit schöpfte, in der Theorie wie in der sozialen Praxis: Ihr Blick auf die Sitten und ihr Versuch, gute Sitten in gemeinnützigen Clubs zu verankern, waren eng an die Annahme gekoppelt, der Mensch strebe von Natur aus nach Gesellschaft. 11 Wie Adam Smith es formulierte, der Mensch besitze ein „ursprüngliches Verlangen, zu gefallen, und eine ursprüngliche Abneigung, seine Brüder zu verletzen“. 12 Dieses Verlangen in die moralische Tat umzusetzen, geriet in den Rang der Verbindlichkeit. Auf diese Weise erhielten rechtliche Bindungen, wo sie nicht als zu erhaltende Vermächtnisse aus guter alter Zeit galten, gleichsam naturrechtliche Weihen. Aus der Anlage zur Geselligkeit erwuchs prompt die Verpflichtung, diese auch zu üben. Dieser Gedanke lässt sich auch in Johann Heinrich Zedlers opulentem „Universallexicon“ aus der Mitte des 18. Jahrhunderts finden. Das Lemma „Verpflichtung, oder Verbindung, Verbindlichkeit, Lat. Obligatio“ plazierte sich ausdrücklich in der „natürlichen Rechtsgelehrsamkeit“ und
GROTIUS 2005, 75. Ebd., 85f. 9 DUFOUR 2006, 569. 10 ILTING 1978, 297. 11 HAMPSHER -MONK 2006, 88–92. 12 RAPHAEL 1976, 116. 7 8
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fragte danach, „was die Verbindlichkeit sey, indem ein jedes Gesetze verbindet“;13 unterschieden war diese Verpflichtung oder Verbindlichkeit deutlich von der dezidiert bürgerlichen Verpflichtung als „Verbindung oder ein Band des Bürgerlichen Rechts, da jemand ohne einen besondern Grund des natürlichen Rechts, einzig und allein nach Verordnung der Bürgerlichen Gesetzte angestrenget wird, etwas zu leisten, was eben diese Gesetze von ihm fordern“. 14 Schiere Verbindlichkeit meinte bei Zedler eine von allen Klugheitserwägungen freie „moralische Notwendigkeit“, die wiederum eng mit der „Ueberzeugung solcher Dependenz“ (in der gegenseitigen Normenachtung etwa zwischen Untertan und Herr) verbunden sei. Also lud eine naturrechtliche Denkungsart die bislang wesentlich juristisch geprägte Verbindlichkeit politisch und moralisch auf; bei Immanuel Kant avancierte die Verbindlichkeit gar zur Instanz, die Pflicht auslöse. Bereits die im Jahre 1785 erstmals gedruckte Grundlegung zur Metaphysik der Sitten wies der Verbindlichkeit eine wesentliche Funktion zu. Kant definierte die „Abhängigkeit eines nicht schlechterdings guten Willens vom Prinzip der Autonomie (die moralische Nötigung)“ als „Verbindlichkeit. Diese kann also auf ein heiliges Wesen nicht gezogen werden. Die objektive Notwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit heißt Pflicht“. 15 Damit befand sich Kant in mancher Hinsicht im Einklang mit den naturrechtlichen Argumentationsmustern, die das Zedler’sche Lexikon über viele Seiten in vornehmlich Wolff’scher Manier ausgebreitet hatte, Verbindlichkeit „durch eine sittliche Nothwendigkeit etwas zu thun“ erklärend. 16 Kant jedenfalls blieb diesem Terminus treu und behielt ihn auch in der im Jahre 1797 publizierten „Metaphysik der Sitten“ bei: „Verbindlichkeit ist die Nothwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft“, lautete es dort.17 Pflicht als obligatorische Handlung galt in diesem Kontext als „die Materie der Verbindlichkeit, und es kann einerlei Pflicht (der Handlung nach) sein, ob wir zwar auf verschiedene Art dazu verbunden werden können“, durch Gebot wie durch Verbot. 18 Diesen argumentativen Spuren scheint auch Johann Christoph Adelung bei der Arbeit an seinem Wörterbuch gefolgt zu sein. Adelung erblickte in der Verbindlichkeit eine aktive Verpflichtung, sei es etwa durch ein Gesetz, sei es etwa als reziproke Handlung, oder ein passives Gebundensein.19 Auch andere griffen die Verbindlichkeit als systematischen Terminus auf; unter den 13
ZEDLER 1746, 1556. Ebd., 1571. 15 KANT 1903, 439 [Hervorhebung im Original]. 16 ZEDLER 1746, 1557. 17 KANT 1903, 222 [Hervorhebung im Original]. 18 Ebd., 222. 19 ADELUNG 1801, 997. 14
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heute noch bekannten Philosophen jener Epoche ist es neben Kant vor allem Moses Mendelssohn gewesen, der sich der Verbindlichkeit in seiner im Jahre 1786 erschienenen Abhandlung über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften zugewandt hat. Mendelssohn folgte den Spuren der Leibniz-Wolffischen Schulphilosophie und skizzierte Verbindlichkeit als „eine moralische Nothwendigkeit, zu handeln, d. i. etwas zu thun oder zu unterlassen“. Seine Begründung war folgende: „Denn da kein physischer Zwang bei einem freien Wesen stattfindet; so kann ich auf keine andere Weise verbunden werden, etwas zu wollen oder nicht zu wollen, als in so weit man mich durch Beweggründe dazu veranlasset“. 20 Nun erachtete der Berliner Philosoph möglichst viel „Vollkommenheit, Schönheit und Ordnung in der Welt“ als sittliches Gebot und kam umgehend auf eine „natürliche Verbindlichkeit“ folgenden Gehalts zu sprechen: „Mache deinen und deines Nächsten innern und äussern Zustand, in gehöriger Proportion, so vollkommen, als du kannst“. 21 Diese terminologisch spezifischen Varianten der Verbindlichkeit genossen eine Sonderstellung. Meist fand Verbindlichkeit einen eher unspezifischen Alltagsgebrauch, als Vokabel des Wohlwollens und der Dankbarkeit. Adolph Freiherr von Knigge stieß in seinen Studien Über Eigennutz und Undank, zu deren Publikation er sich im Jahre 1796 durch die günstige Rezeption seines Werkes Über den Umgang mit Menschen und die „schlechte Befolgung dieser [moralischen] Vorschriften“ veranlasst fühlte,22 en passant auf die Verbindlichkeit. Knigge klagte, es habe „leider! auch Philosophen gegeben, welche die Heiligkeit der Dankbarkeitspflicht zu leugnen gewagt haben“. Knigge verzeichnete nun in kantianischer Manier die gegnerische Position, um sie ad absurdum zu reduzieren. Nehme man an, ein verdienstvolles Surplus könne aus unvollkommenen Pflichten nicht erwachsen, erleichtere man es dem bösen Willen, sich um jene Gerechtigkeit und Redlichkeit wegzuschleichen und, ohne sie geradezu zu übertreten, einen Vorwand zu finden, um thätige Hülfe, Beystand und Dienstleistung dem zu versagen, der dessen bedarf; so muß jeder gutgeartete Mensch die Verbindlichkeit anerkennen, die er demjenigen schuldig ist, der, aus treuem guten Herzen und wahrer Theilnahme, ihm die Beschwerlichkeiten des Lebens auf irgend eine Weise tragen hilft.23
Verbindlichkeit hatte hier einen inneren Wert, appellierte an die moralische Pflicht – war geboten, aber als intrinsischer Wert unverfügbar.
MENDELSSOHN 1786, 116. Ebd., 117. 22 KNIGGE 1796, Vorrede. 23 Ebd., 228f. 20 21
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B. Unterwegs zur Indifferenz: Die Französische Revolution als Fanal der Unverbindlichkeit Verbindlichkeit war in der Aufklärung ein dauerpräsentes Phänomen. Darauf verweist schon die Zedler’sche Definition, in der Verbindlichkeit als eine Art Meta-Gesetz, als Grund des Gesetzesgehorsams auftrat. Doch sie machte sich bald rar. Innere Verbindlichkeit geriet am Ende des 18. Jahrhunderts zum Phantom. Bereits ihr Lob bei Immanuel Kant war gleichsam ein philosophischer Versuch, zu retten, was in der politisch-sozialen Wirklichkeit längst kaum mehr zu retten war. Was eine solche Verbindlichkeit eigentlich stiften könne, wurde immer unverbindlicher, in der philosophischen Theorie wie in der politischen Praxis. Idealtypisch geschieden, lässt sich um 1800 gleichsam für jedes Delegitimationsmuster, das überkommene Verbindlichkeiten intrinsischer Art aufhob, eine hinlänglich bekannte Ikone finden. Wer gegen Religion zu argumentieren trachtete, konnte – wie Voltaire im Candide – mit dem Erdbeben von Lissabon punkten, oder aber mit der Erinnerung an das vermeintlich düstere Zeitalter der Glaubenskriege. Theologische Rechtfertigungsversuche wurden in der Aufklärung keineswegs obsolet, gaben jedoch keinen verallgemeinerungsfähigen Gehorsamsgrund mehr ab; eine „radikale Aufklärung“ brach mit göttlichen Ordnungsmodellen von Staat und Gesellschaft. 24 Selbst eine „moderate Aufklärung“ verließ sich auf diese Ressource nicht allein, indem sie Vernunft und Tradition, Wissenschaft und Religion verband, scheiterte mit diesem Ansinnen aber letztlich. 25 Wer Tradition und überliefertes Recht für obsolet hielt, brauchte lediglich auf die gestürmte und demolierte Bastille zu verweisen; 26 wer hingegen die engen Grenzen der – von Francisco de Goya im Tiefschlaf abgebildeten – menschlichen Vernunft zu markieren trachtete, zeigte auf die Guillotine und die Mobs der Revolutionszeit, die es nicht allein im umstürzlerischen Frankreich zu erleben gab; demokratische Überzeugungen büßten spätestens in der Robbespierre’schen Terreur für viele Beobachter ihren ursprünglichen Reiz ein. Was genau zuguterletzt die Natur sei, aus der womöglich ein verbindliches Naturrecht abgeleitet werden könne, blieb wiederum spätestens seit Jean-Jacques Rousseaus beiden Discours derart umstritten, 27 dass kaum mehr ein legitimatorischer Konsens zu erzielen war. Zum Fanal der Unverbindlichkeit wurde die Französische Revolution, an der sich sämtliche Geister der Verbindlichkeit schieden. Die rasche Abfolge, ISRAEL 2002, 11f. Ders. 2011, 943. 26 Die Erstürmung wurde zum „Mythos des Volkes, das seine Ketten zerbricht“ – SCHULIN 2004, 73. 27 ECKERT 2012, 127. 24 25
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in der sie neue Werte aus- und abrief, vermittelte eine enorme Brucherfahrung. 28 Wie im Zeitraffer erlebten nahezu alle bekannten Argumente, wie sich moralische und politische Verbindlichkeit stiften lasse, ihren Aufstieg und Niedergang. Dieser Sinnverlust reichte bis hin zur Literatur der Goethezeit: Zahlreiche Unterhaltungsschriftsteller zeichneten „ästhetisierende Seelenbilder individuellen Herzeleids“ 29 ohne politisches Moment. Sehr suggestiv hat später der exzentrische Egon Friedell dieses zeitgenössische Delegitimations-Dilemma abgebildet: in Gestalt einer Parabel, an der die unterschiedlichen Stadien der Französischen Revolution angetragen sind, an der Basis der „Absolutismus“, der Ancien Régime und Empire verbinde, der „Sieg der Konstitution“, der den Sturm auf die Bastille mit dem Sturz des Direktoriums auf gleiche Höhe setzt, die „bürgerliche Republik“, die das Ende des Königtums mit der Aufhebung des Konvents vergleicht, die „radikale Demokratie“, zu der ebenso der Sturz der Girondisten wie der Sturz Robespierres gerechnet werden, als Scheitelpunkt die Herrschaft Robespierres selbst. 30 Friedells Darstellung weist eine zu verführerische Symmetrie auf, um gelten zu können: Natürlich waren die unterschiedlichen Stadien einander nicht gleichzusetzen, natürlich handelte es sich nicht um eine bloße Rückkehr zu einem vorigen Zustand. Freilich macht das Bild auf die enorme Geschwindigkeit aufmerksam, in der nicht allein die Franzosen selbst, und hier wiederum vor allem die Pariser, sondern alle, die auf Frankreich blicken wollten, konnten und mussten, einen Durchgang durch mehr oder minder sämtliche Staatsformen erlebten, die in der zeitgenössischen Wahrnehmung überhaupt existieren konnten, von der Despotie als Schwundform der Monarchie bis hin zur Demokratie. Allesamt hatten sie sich auf je ihre Weise delegitimiert, die praktischen Staatsformen ebenso wie diejenigen Theorien, die sie erst denkbar machten. Wie es Paul Johann Anselm von Feuerbach, ein bayerischer Spitzenbeamter, am Ende der napoleonischen Ära formulierte: „Fast alles ist bei uns erschüttert oder zerstört, was Völker stark und glücklich, mit sich und mit dem Staate, dem sie angehören, zufrieden macht“.31 Nahe lag es daher, den Glauben an irgendwelche intrinsischen, inneren Verbindlichkeiten aufzugeben; just eine solche Schlussfolgerung hatte jener Autor als Menetekel der Unverbindlichkeit an die Wand gemalt, der vielleicht als erster die radikalen Konsequenzen der Französischen Revolution erfasste, schon ehe sie eingetreten waren – der britische Parlamentsabgeordnete und Autor Edmund Burke, dessen im Jahre 1790 erschienenen Reflections on the Revolution in France zu einer Art Gründungsdokument jenes politischen Konservatismus aus dem frühen 19. Jahrhundert werden sollten, REINALTER 2006, 89. ZIMMERMANN 1999, 281. 30 FRIEDELL 2009, 589. 31 FEUERBACH 1833, 77. 28 29
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der als Konservatismus denkbar unpräzise gefasst wäre. Denn Burke trieb die entscheidende Transformation einer inneren zu einer bloß äußeren Verbindlichkeit wesentlich voran, in der vor allem die Tradition ihre argumentative Funktion entschieden wandelte: von einem intrinsischen Wert wurde sie zu einer extrinsischen Zweckmäßigkeit reduziert, gewann aber gerade dadurch an Überzeugungskraft. Burke gab sich keinerlei Illusion über die theoretischen wie praktischen Grenzen hin, an die ein bloßes Bewahren der bestehenden Umstände stoße. Doch just aus der Vorstellung, daß eben nicht alles auf ewig bestehen könne, entwickelte Burke eine epochale Diagnose und blickte zunächst einmal auf die englische statt auf die französische Geschichte – wie ohnehin seine Stellungnahme weniger Frankreich denn Großbritannien galt: Burke plädierte für eine sanfte Reform, wo seine politischen Gegner für eine heftige Revolution plädierten und zu diesem Zwecke die Französische Revolution des Jahres 1789 mit der „Glorreichen Revolution“ im England des späten 17. Jahrhunderts gleichsetzten.32 Burke erwog also die englische „Glorreiche Revolution“ der Jahre 1688/89 und zeichnete sie auf einer langen Traditionslinie ein, gezogen ab der Magna Charta aus dem Jahre 1215. Seither seien die Freiheiten der englischen Bürger durch sanfte Weiterentwicklung der politischen Institutionen gewährleistet, seither die Erblichkeit von Krone und Adel garantiert. „Diese Politik scheint mir das beste Ergebnis tiefer Überlegung zu sein; oder eher die glückliche Auswirkung, der Natur zu folgen, die da meint Weisheit ohne Überlegung“. Darauf folgte eine vehemente Kritik an plötzlichen Neuerungen: „Ein Geist der Innovation ist allgemein das Ergebnis eines selbstsüchtigen Temperaments und beschränkter Anschauung“. 33 Burke kritisierte unter diesen Prämissen jene britischen und sodann jene französischen Politiker, die in seiner eigenen Zeit für einschneidende Veränderungen plädierten – und plädierte im Zweifel stets für deren Unterlassung: „Wenn die bürgerliche Gesellschaft der Nachkomme der Konvention ist, muß eben diese Konvention deren Gesetz sein. Diese Konvention muß alle Beschreibungen der Verfassung, die unter ihr geformt werden, begrenzen und modifizieren.“ Just deshalb, so argumentierte Burke weiterhin, müsse sich der einzelne bestehenden Regeln fügen;34 überkommene Rechte besaßen mithin pragmatischen, nicht moralischen Wert, extrinsischen eher als intrinsischen. Für die Verbindlichkeit der Konvention plädierte Burke nicht etwa, weil ihm Konvention per se als hilfreiches theoretisches Konzept galt, sondern weil sie als praktische Regel die übelsten Nebenwirkungen überstürzter Veränderungen zu vermeiden versprach. Die Gesellschaft als ganze schien pragmatisch besser beraten, in verbindlichen Konventionen zu denken und diese HAMPSHER -MONK 2012, 196. CANAVAN 1999, 121. 34 HAMPSHER -MONK 2012, 151. 32 33
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zu befolgen. Denn die gegenteilige Einstellung verhieß üble Folgen, wie sie im zeitgenössischen Frankreich beobachtet werden könnten: Und zuallererst würde die Wissenschaft der Rechtsprechung nicht länger studiert, der Stolz des menschlichen Geistes, die Wissenschaft, die mit all ihren Schwächen, Überflüssigkeiten und Irrtümern die versammelte Vernunft von ganzen Zeitaltern darstellt, indem sie die Prinzipien der ursprünglichen Gerechtigkeit mit der unbegrenzten Vielfalt menschlicher Angelegenheiten verbindet, als eine Halde alter, explodierter Irrtümer.35
Burke wählte eine lange, eben eine genuin historische Perspektive, um die extrinsische statt intrinsische Gültigkeit des Bestehenden zu bekräftigen: Jeder Vertrag jedes besonderen Staates ist nur eine Klausel im großen urzeitlichen Vertrag der ewigen Gesellschaft, der die niedrigeren mit den höheren Naturen verbindet, die sichtbare und die unsichtbare Welt zusammenfügt, gemäß einem gefestigten Bund, der vom unverletzlichen Eid sanktioniert ist, der alle physischen und alle moralischen Naturen verbindet, eine jede an deren benanntem Platz.36
C. Verbindlichkeiten, doch beliebige: Utilität als neue Kategorie Tradition verlor ihren intrinsischen Wert. Mit ihrem vielmehr extrinsischen Vorzug setzte sich Burke auseinander und brachte Verbindlichkeit auf diese Weise in den Bann einer schieren Utilitätserwägung. Nutzen war im späten 18. Jahrhundert zum leitenden Prinzip der Staats- und Gesellschaftsräson aufgestiegen; 37 Burkes Argumentation nutzte dessen legitimierenden Ressourcen, statt sich davon zu distanzieren. Seine Revolutionskritik war weniger ideologisch denn pragmatisch begründet. Gesellschaften ließen sich, so sah es Burke, nun einmal nur behutsam reformieren. Daraus formte Burke ein Korollar von prinzipiellem Wert, das auf die seiner Ansicht nach notwendigerweise negativen Auswirkungen von Revolutionen abhob: Sie gefährdeten jene Gesellschaften, deren lautere Verbesserung sie womöglich anstreben mochten, in ihrer Existenz. Burkes Ideen erzeugten ein enormes, europaweites Echo. Gleichsam kongenial griff sie der preußische Beamte Friedrich von Gentz in seinen zahlreichen Mußestunden auf, der Burkes Reflections ins Deutsche übersetzte und kommentierte – freilich zunächst aus einer strikten Ablehnung der Burke’schen Gedanken heraus, 38 doch zunehmend in einem mit Burke einig: dass die vernünftigen Ziele der Revolution durchaus nicht der Revolution als Ebd., 191. Ebd., 193. 37 ECKERT/SOMMER 2011, 1157. 38 ZIMMERMANN 2012, 47. 35 36
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gewaltsamem Mittel bedurft hätten. 39 In seinem Kommentar zu Burkes Reflections entsetzte sich Gentz, mit welcher „Wuth der entzügelten Leidenschaften“ ganze Nationen sich „einem neuen entgegenstürzen“. 40 Der wortgewaltige, eifrige Publizist Gentz erwarb sich mit solchen Ideen seinerseits ein großes Publikum, sogar ein transatlantisches. Seine im Jahre 1800 erschiene Schrift Der Ursprung und die Grundsätze der Amerikanischen Revolution, verglichen mit dem Ursprung und den Grundsätzen der Französischen wurde sogar von einer prominenten Feder ins Englische übertragen, vom späteren Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, John Quincy Adams. Adams amtierte in den Jahren von 1797 bis 1801 als amerikanischer Botschafter in Preußen und hatte Muße, sich an Übersetzungen zu üben, wie Wielands Oberon,41 so lernte er auch Gentzens Schrift kennen und befand sie der philologischen Mühen offenkundig für wert. Denn sie zu übersetzen, versprach dem amerikanischen Publikum geraumen Erkenntnis- und Selbstvergewisserungswert: als Beispiel einer stabilisierenden, erfolgreichen Revolution einerseits, als Beispiel einer destabilisierenden, gescheiterten Revolution andererseits, die sich beide auf Menschenrechte beriefen. Also übersetzte Adams Gentzens Opusculum, das entscheidende Unterschiede zwischen der Französischen Revolution und der Amerikanischen erblickte: Erstens sei die Amerikanische Revolution auf bekannten Prinzipien fundiert gewesen, keine „ununterbrochene Reihe von Schritten“ falscher Art, 42 zweitens sei sie eine defensive gewesen, die Französische hingegen eine offensive, in jedem Sinne des Wortes; 43 Großbritannien erschien in dieser Darstellung als transatlantischer Revolutionstreiber, der den Umsturz in seinen Kolonien durch die Verletzung gewohnter Rechten erzwungen habe. 44 Drittens habe die Amerikanische Revolution im Gegensatz zur Französischen ein klares Ziel besessen, 45 habe eine im Kern konservative Revolution dargestellt; in Amerika sei ein bestehendes Regierungssystem stabilisiert, 46 in Frankreich hingegen destabilisiert worden. Gentzens Lektion war unmissverständlich: Wer selbst noch aus den edelsten Gründen eine Revolution beginne und alle Verbindlichkeit annulliere, löse Chaos und Desaster aus. Diese Überzeugung hegte auch der einflussreichste europäische Staatsmann in der nachnapoleonischen Ära, Clemens von Metternich, in dessen Diensten wiederum Friedrich von Gentz bis an sein Lebensende stand. In welchem Maße ganze Lebens- und Legitimationswelten MANN 2011, 56. GENTZ 1998, 15. 41 NAGEL 1999, 119. 42 Gentz 2010, 36. 43 Ebd., 53. 44 Ebd., 62. 45 Ebd., 67. 46 Ebd., 85. 39 40
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untergegangen waren, hatte vielleicht kein anderer Regierungschef der Zeit unmittelbarer erfahren als eben Metternich. Als rheinischer Ritter im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation sozialisiert, fand er sich im größten Sturm der Zeit als Haus-, Hof- und Staatskanzler des Kaiserreiches Österreich wieder, während sein Vater die Familiengüter in der französischen Expansion verlor und nach der Säkularisation und Mediatisierung des Jahres 1803 zum württembergischen Landadeligen herabgewürdigt wurde. Nach dem Sieg über Frankreich mühte sich Metternich um eine stabile, zukunftsfeste Nachkriegsordnung, nicht etwa um eine Restaurierung der Vergangenheit mit all ihren Rechten und Gerechtsamen; das galt selbst für die beiden Restaurationen von 1814 und 1815 in Frankreich selbst, die der Wiener Kongress betrieb. Dafür bemühte man weniger das angebliche göttliches Recht der Bourbonen als schiere praktische Konvenienz – ein Monarch brauche de facto eine gewisse Zustimmung des Volkes, die wiederum nur die Bourbonen besäßen;47 letztere wiederum inszenierten sich im nachnapoleonischen Zeitalter nun gemeinsam mit dem Volk, bis hin zu überaus alltagsnahem Verhalten,48 freilich weniger aus Überzeugung, sondern aus schierem Kalkül. Metternich nun war nicht Ideologe, sondern Realist, kein Konservativer aus Prinzip, sondern aus pragmatischer Abwägung. Das untergegangene Alte Reich etwa ließ er getrost und unsentimental untergegangen sein. Genau darin liegt der entscheidende Wandel, genau darin liegt eine neue Art der Verbindlichkeit aus Tradition, die eine besondere politische Karriere machte, hin zur strikten äußeren Verbindlichkeit, die aber eine letztlich kontingente war. Das gilt es nun herauszustellen. Metternichs postum publizierte Memoiren geben einen subjektiven Eindruck, wie sehr am Ende des 18. Jahrhunderts jene rheinisch-adelige Welt- und Wertordnung, aus der er stammte, brüchig geworden war. Der schon ältere Staatsmann empfand seine Zeit rückblickend als „Periode des Uebergangs“: „In solchen Perioden ist das frühere Gebäude bereits eingerissen, das neue besteht noch nicht. Es wird gebaut, und die Zeitgenossen spielen hiebei die Rolle der Werkleute. Baumeister melden sich von allen Seiten“, so spottete Metternich, der sich nicht umsonst den Wahlspruch „Die wahre Kraft liegt im Recht“ gegeben hatte.49 Im Lichte der späteren Entwicklungen deutete Metternich denn auch seinen eigenen Lebenslauf und schrieb sich eine alles andere als adelige Berufung zu, schildernd, er hätte seinerzeit am liebsten seine „Zeit der Pflege der Wissenschaften“ gewidmet, und zwar der „exakten und der Naturwissenschaften, die ganz eigentlich meinem Geschmack entsprechen“ und andauernde Erkenntnis versprächen.50
SCHROEDER 1996, 117. SCHOLZ 2006, 215f. 49 METTERNICH-WINNEBURG 1880, 3f. 50 Ebd., 24. 47 48
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Ein nüchternes, vernunftgezeichnetes Bild seiner selbst entwarf Metternich. Just dieses nüchterne, vernunftgezeichnete Bild charakterisiert auch den Kanzler, der sich um eine Stabilisierung der Deutschen Bundes und Europas mühte. Demonstrativ sine ira et studio schilderte Metternich in seinen Memoiren auch seine Versuche, die Nachkriegsordnung zu festigen, und mokierte sich in einer Art und Weise über ideologische Ordnungsversuche, an die nicht einmal deren liberale zeitgenössische Kritiker heranreichten. Als Metternich über den Zweiten Pariser Frieden verhandelte, sah er sich vom russischen Zaren mit einem Anliegen konfrontiert, das ihn bald über seinen Kaiser einholte: Alexander I. hatte Franz I. einen Aufsatz zukommen lassen, über den sich Metternich schnell eine Meinung bildete – es handelte sich, so schilderte es Metternich in seinen Erinnerungen, um einen politisch unverbindlichen Text, dem allerdings der alleinige Sinn „einer in religiöses Gewand eingekleideten philanthropischen Aspiration“ beizulegen gewesen sei. Metternich formte daraus mit einigem praktischem Geschick die „Heilige Allianz“, der er freilich kaum etwas abzugewinnen vermochte: Sie sei der „Ausfluß einer pietistischen Stimmung des Kaisers Alexander und die Anwendung der Grundlagen des Christenthums auf die Politik“ gewesen, der Metter nich indes keinen Wert beimaß. Denn er bezeichnete das von konkreten Bestimmungen freie Bündnis nachträglich als das „‚lauttönende Nichts‘“. 51 An bindende völkerrechtliche Vereinbarungen glaubte der Kanzler, nicht hingegen an verbindliche Systeme ideologischer Art: Ein „System“ besaß er gerade nicht, wohl aber übte er eine Art „Apostolat im Dienst der erhaltenden Gewalt“ 52 aus – mit einen nüchternen Blick auf die Geschehnisse und auf die Kräfte, die in ihnen wirkten. Das zeigt etwa die Genese der Karlsbader Beschlüsse, die ganz frei von jenen Ideologemen erscheint, die man Metternich seither vorwirft. Nach der Ermordung August von Kotzebues korrespondierten Friedrich von Gentz, Adlatus des Kanzlers, und der damals in Rom weilende Metternich über die zu treffenden Maßnahmen, aus denen letztlich die Karlsbader Beschlüsse entsprangen. Gentz ereiferte sich über die Ermordung und den ihm offenkundigen „Zusammenhang mit den größten Krankheiten und Gefahren der Zeit“, erblickte gar einen „Krebsschaden“, den es auszumerzen gelte.53 Die Gelegenheit sei günstig, nun im Benehmen mit anderen Herrschern radikale Maßnahmen zu ergreifen, vor allem gegen Pressefreiheit und Universitäten. Auch Metternich glaubte, den Attentäter Karl Ludwig
Ebd., 215f. SRBIK 1925 [ND 1957], 419. 53 Gentz an Metternich, Wien, 01. April 1819 (METTERNICH-WINNEBURG 1881, 220– 224, hier 221. 51 52
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Sand als Mitglied eines Geheimbundes identifizieren zu können und „der Sache die beste Folge zu geben, die möglichste Partie aus ihr zu ziehen, und in dieser Sorge werde ich nicht lau vorgehen“. 54 Metternich hielt Wort. Für die Karlsbader Konferenzen mit ihren bekannten Zensur-Folgen arbeitete er einen handfesten Vorschlag aus, der hier in einem Detail interessiert. Gegen „unruhige Bewegung und Gährung der Gemüther“, gegen politische Leidenschaften sprach sich Metternich im Namen seines Kaisers aus, 55 handelte von der „Aufrechthaltung des monarchischen Princips“, um „innerer Spaltung, gesetzloser Willkür und unheilbarer Zerrüttung seines [Deutschlands] Rechts- und Wohlstandes“ entgegenzuwirken. 56 Vor allem attackierte er die deutschen Universitäten: Dort hätten sich „Dünkel höherer Weisheit, Verachtung aller positiven Lehre und der Anspruch, die gesellschaftliche Ordnung nach eigenen, unversuchten Systemen umzuschaffen“ eingenistet. Dabei könne es doch nicht angehen, „die edelsten Kräfte und Triebe der Jugend zu Werkzeugen abenteuerlicher politischer Pläne“ missbrauchen zu lassen. 57 Nicht die einzelnen Pläne, sondern weitgespannte Pläne an sich schienen Metternich verderblich, weil sie kein Fundament in der Realität besaßen, d ie allein ihm als verbindlich galt. Das zeigt trefflich ein Schreiben, das Metternich im Mai des Jahres 1820 an den badischen Gesandten in Wien richtete, den Freiherren Wilhelm Ludwig von Berstett – unter dem Eindruck, dass die Karlsbader Regelungen dringend erforderlich gewesen seien, um einen drohenden Umsturz zu vermeiden: „Die Zeit rückt unter Stürmen vorwärts: ihren Ungestüm aufhalten zu wollen, würde vergebliches Bemühen sein. Festigkeit, Mäßigung und endlich Vereinigung in wohlberechneten Kräften, dies allein bleibt der Macht der Schützer und den Freunden der Ordnung übrig“. 58 Noch so altehrwürdige Rechte und ihre Verbindlichkeit wurden in dieser Schilderung vor der Geschichte irrelevant. Noch aufschlussreicher ist deshalb, was Metternich einige Zeilen später anschloss: „In den gegenwärtigen Zeiten ist der Uebergang vom Alten zum Neuen mit eben so viel Gefahr verbunden, als die Rückkehr vom Neuen zu dem, was nicht mehr vorhanden ist. Beides kann gleichmäßig den Ausbruch von Unruhen herbeiführen, was um jeden Preis zu vermeiden wesentlich ist“. Daraus folgte ein Plädoyer für staatsmännische Verbindlichkeit, „Veränderungen, wenn sie durchaus nöthig scheinen, nur mit völliger Freiheit und nach reiflich überlegtem Entschlusse
Metternich an Gentz, Rom, 09. April 1819, ebd., 227–230, hier 227. Präsidial-Proposition, ebd., 271–283, hier 271. 56 Ebd., 275. 57 Ebd., 278f. 58 Metternich an Berstett, Wien, 04. Mai 1820, ebd., 374. 54 55
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vorzunehmen; dies ist die erste Pflicht einer Regierung, die dem Unglücke des Jahrhunderts widerstehen will“. 59 Solcher Konservatismus fand also seine Schranken in der Realität. Nur unnötige Veränderungen ließen sich aus Metternichs Sicht vermeiden, nötige hingegen nicht: Gegen die Zeitläufte war kein Ankommen, kein Anrecht. Deshalb wäre Metternich wohl sogar noch geschmeichelt gewesen, wenn er des späteren Revolutionäres Georg Herweghs Zweizeiler aus Jahre 1843 erfahren hätte: „Weinbau und Politik sind Dir verwandte Geschäfte: / Denn Du ziehest am Stock Völker und Reben herauf“. 60 Bündig fasste hier ein politischer Gegner zusammen, worauf Metternichs politische Prinzipien basierten: auf dem Gedanken organischen Wachstums, dem mit mechanischen Mitteln nicht beizukommen sei – und organisch bedeutete letztlich historisch. Derartige Annahmen hegten beileibe nicht nur diejenigen, die Veränderungen zu verhindern trachteten, sondern auch diejenigen, die sie forcierten. Ob als Fortschritt oder als Niedergang bewertet: Geschichte wurde nun als einmalig gedeutet.61 Folglich war es nun die Entwicklung selbst, die wenigstens äußere Verbindlichkeit zu stiften vermochte – Fortuna war gleichsam berechenbar geworden, weil in die Konsequenz der Geschichte selbst integriert. Ein treffliches Beispiel dafür ist etwa Friedrich List, dessen erste politische Schriften aus der Zeit des intensiv geführten württembergischen Verfassungskampfes (1815–1819) datieren. 62 Während des Wiener Kongresses hatte der württembergische König Friedrich I. einseitig eine Verfassung verkündet, die wiederum der zu dessen Verabschiedung einberufene Landtag einhellig zurückwies; mehrere Jahre eines erbitterten Ringens um die neue Konstitution folgten. Pochten der Monarch und seine Partei auf den neuen Zeitumständen, unter denen es einer neuen Verfassung bedürfte, so beriefen sich die Ständedeputierten auf das „alte, gute Recht“ und forderten eine Wiederherstellung der einstigen württembergischen Verfassung, die im Dezember des Jahres 1805 vom Herrscher aufgehoben worden war. Eine umfangreiche Publizistik entstand, in der diese Kontroverse bald auf einem grundsätzlichen Niveau verhandelt wurde. Dazu leistete auch Friedrich List seinen Beitrag, in jenen Jahren ein aufstrebender junger, wissenschaftlich profilierter Beamter, 63 der sich zugunsten seines Monarchen verwandte. „So wenig als die Kultur stille steht, so wenig darf auch die Gesetzgebung stille stehen“, 64 argumentierte List und
Ebd. HERWEGH 2001, 108. 61 KOSELLECK 1975, 389. 62 Cf. GERNER 1989. 63 GEHRING 1964, 94–102. 64 LIST 1932, 89. 59 60
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fühlte sich sogar gleich „am Eingange einer zweiten Periode der Gesetzgebung nach Einführung des römischen Rechts“ angekommen. Denn das württembergische Volk wisse zwar um die unüberwindliche „Notwendigkeit einer zeitgemäßen selbständigen Gesetzgebung“, aber ausgerechnet Gelehrten sei „die veraltete vaterländische Gesetzgebung ein Steckenpferd geworden“. 65 Letztere wussten offenkundig nicht mit der Zeit zu gehen: Mit just jenem Argument der vermeintlich notwendigen Änderung, das auch Metternich gebrauchte, ließ sich eben auch eine obsolete, reformbedürftige Ordnung markieren, nicht nur eine, deren sichere Existenz es fortzusetzen gelte. Just in derselben Auseinandersetzung wie List engagierte sich auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel, ebenfalls auf der königlichen Seite. „Die Zeit hatte für Württemberg eine neue Aufgabe und die Forderung ihrer Lösung herbeigeführt, die Aufgabe, die württembergischen Lande zu einem Staate zu errichten“,66 argumentierte der junge Heidelberger Philosophieprofessor. Hegel lobte die besondere „Einfachheit und Offenheit“ des königlichen Verfassungsentwurfs, der noch mehr gewinne durch die Vergleichung mit der Unförmlichkeit, Engherzigkeit und Unklarheit, durch welche in in- und ausländischen Verfassungen, namentlich in der altwürttembergischen, oft Volksrechte in Privilegien und Partikularitäten verhüllt und verkümmert, beschränkt und zweideutig, ja oft ganz zum leeren Scheine gemacht sind.67
Die königliche Verfassung bedeutete für Hegel ein Gebot der Zeitläufte, weil er „ein bedeutendes Moment in dem Übergange Deutschlands von früherer Unförmlichkeit und Barbarei zum vernünftigen Zustand eines Staatslebens“ erblickte.68 Kurz und bündig lautete sein Vorwurf an die Verfassungsgegner: „Die gesamte Ständeversammlung selbst stellt sich ebenso auf einen den wirklichen Weltverhältnissen entgegengesetzten Standpunkt“, urteilte Hegel. „Das Tote kann aber nicht wieder aufleben; die Ständeversammlung bewies in ihrer Forderungen, daß sie von der Natur der Aufgabe, welche zu lösen war, nicht nur keinen Begriff, sondern auch keine Ahnung hatte“. 69 Das Anliegen, eine einst gültige Verfassung wiederherzustellen, erachtete Hegel durchaus als „etwas sehr Müßiges“. 70 Aus der unmittelbaren politischen Anwendung des Arguments erwuchs eine Verbindlichkeit, die der historischen Entwicklung selbst innewohne. Einige Jahre später legte Hegel solche Überzeugungen gar in einem geschichtsphilosophischen Bekenntnis von universalem Geltungsanspruch nieder. „Die Weltgeschichte ist der Fort-
Ebd., 90. HEGEL 2003, 464 [Hervorhebung im Original]. 67 Ebd., 471. 68 Ebd., 478 [Hervorhebung im Original]. 69 Ebd., 496f. 70 Ebd., 497f. 65 66
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schritt im Bewußtsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben“, 71 kündeten seine einschlägigen Vorlesungen. Sie statuierten, dass Individuen und Völker letztlich „Mittel und Werkzeuge eines Höheren und Weiteren sind, von dem sie nichts wissen, das sie bewußtlos vollbringen“. Hier tauchte die unwiderstehliche, weltregierende Vernunft auf, sie sei „immanent in dem geschichtlichen Dasein und vollbringt sich in demselben und durch dasselbe“. 72 Was Verbindlichkeit beanspruchen könne, bestimmte also der Weltgeist. Viel trennte Clemens von Metternich, Friedrich List und Georg Wilhelm Friedrich Hegel politisch. Eines einte sie indes, die feste Überzeugung, es sei die historische Entwicklung selbst, die allein wirkliche Verbindlichkeit erzeuge. Pointiert läßt sich diese Idee auch beim Berliner Rechtsprofessor Carl Friedrich von Savigny fassen, der sich im Jahre 1814 gegen ein neues, systematisch gearbeitetes Zivilgesetzbuch aussprach, wie es sein Heidelberger Kollege Anton Friedrich Justus Thibaut vorgeschlagen hatte. Auch Savigny fragte nach der theoretischen wie nach der praktischen Verbindlichkeit eines solchen Opus – und zwar indem er das „technische Element“ der Rechtswissenschaft vom „politischen Element“ abschied, dem „Zusammenhang des Rechts mit dem allgemeinen Volksleben“.73 Letzteres genoss den Primat, weil Recht „erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch Jurisprudenz erzeugt würde“, mithin Kodifikationen gleichsam nur Kondensat des Üblichen wären.74 Aus dieser Perspektive musste noch das technisch beste Gesetzbuch eine problematische Neuerung darstellen; Savigny glaubte nicht daran, dass eine universelle Abstraktion aller möglichen Fälle zu einem Gesetzbuch gelingen könne. „Unfehlbar durch seine Neuheit, seine Verwandtschaft mit herrschenden Begriffen der Zeit, und sein äußeres Gewicht“ werde selbst ein an sich taugliches Gesetzbuch „alle Aufmerksamkeit auch von sich und von der wahren Rechtsquelle ablenken“. 75 Stattdessen empfahl Savigny die nur sanft modifizierte Fortsetzung der römischen Rechtstradition, die eine organische Entwicklung aufweise; 76 weniger die innere Güte einer rechtlichen Ordnung als ihre Ableitung aus der Geschichte zählte hier – pointiert ausgedrückt, sie war streng genommen sogar irrelevant. Gegen die noch so inhaltlich gerechtfertigte Neukonstruktion eines Rechts sprach vor allem der historische Sinn, den Savigny dem Juristen abverlangte, „um das eigenthümliche jedes Zeitalters und jede Rechtsform
HEGEL 1986, 32. Ebd., 40. 73 SAVIGNY 2002, 67. 74 Ebd., 68. 75 Ebd., 71. 76 Ebd., 75. 71 72
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scharf aufzufassen“. 77 Das Bestehende genoss Bestandsschutz, ehe man „durch ernstliches Studium vollständigere Kenntniss erworben, vorzüglich aber unsren geschichtlichen und politischen Sinn mehr geschärft“ habe; Savigny forcierte die „strenge historische Methode der Rechtswissenschaft“, die freilich keinen unbedingten Konservatismus bedeute. Man müsse streben, „jeden gegebenen Stoff bis zu seiner Wurzeln zu verfolgen, und so sein organisches Princip zu entdecken, wodurch sich von selbst das, was noch Leben hat, von demjenigen absondern muß, was schon abgestorben ist, und nur noch der Geschichte angehört“.78 Wo kein Gesetzbuch bestehe, solle man bestehende Kontroversen durch diese Methode zugunsten eindeutiger Gesetze auflösen und als Gewohnheitsrecht verzeichnen, „was durch wirkliche Uebung entschieden ist“. 79 Wo hingegen schon ein neues Gesetzbuch bestehe, also in Preußen und Österreich, müsse dieses trotz evidenter Mängel wiederum als „eigene, neue Thatsache in der Geschichte des Rechts“ anerkannt werden.80 Verbindlichkeit verdankte sich also der äußeren Genese mehr als der inneren Geltung. Auch Savignys Konzept einer „organisch fortschreitenden Rechtswissenschaft“ 81 suchte nach Verbindlichkeit. Die Suche endete nicht im Gesetzescharakter eines Gesetzes selbst, sondern im historischen Usus, dem es entspringe. Aus einer theoretischen Anhänglichkeit an die Tradition wurde auch hier eine praktische, statt einer materialen Verbindlichkeit ergab sich eine formelle: Nicht weil das Bewährte als solches gut sei, sondern weil seine Beibehaltung geringere Friktionen versprach als seine Aufhebung, entstand daraus Verbindlichkeit – eine zwar feste, aber inhaltlich letztlich beliebige. Wie wenig diese Haltung auf ein konservatives politisches Spektrum beschränkt blieb, lässt sich an der Lebensgeschichte Ludwig August von Rochaus nachweisen. Der junge Burschenschaftler hatte sich im Jahre 1833 am Frankfurter Wachensturm beteiligt und war nach dem Scheitern dieses burschenschaftlichen Versuches, die staatliche Einheit Deutschlands zu erzwingen, nach Paris geflohen, ehe er die Revolution von 1848 zunächst als Mitglied des Vorparlaments, sodann als Journalist begleitete. 82 Vom Scheitern der Revolution frustriert, verfasste Rochau im Jahre 1853 seine „Grundsätze der Realpolitik“,83 deren zweiter Band unter dem Eindruck der Bismarck’schen Einigungspolitik im Deutschen Bund entstand. 84 Mit dem „weißen Revolutionär“ Bismarck, dessen Politik als „Kunst des Möglichen“ sich Ebd., 81. Ebd., 108f. 79 Ebd., 114f. 80 Ebd., 116. 81 Ebd., 126. 82 J ANSEN 2003, 685f. 83 KRAUSHAAR 1988, 98f. 84 Ebd., 105. 77 78
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den Zeitgeist trefflich zunutze zu machen verstand, 85 wusste sich der nun nationalliberale Rochau in einem enormen Pragmatismus, in strikter Faktenorientierung einig. 86 Dabei entwickelte Rochau ein Prinzip äußerer Verbindlichkeit systematisch weiter. Er entdeckte gar ein Naturgesetz, weil „das Gesetz der Stärke über das Staatsleben eine ähnliche Herrschaft ausübt wie das Gesetz der Schwere über die Körperwelt“. 87 Aus seinen Erfahrungen als mehrfach gescheiterter Revolutionär zog er staatsphilosophische Konsequenzen: „Herrschen heißt Macht üben, und Macht üben kann nur der, welcher Macht besitzt“. Darin erblickte Rochau die „Grundwahrheit aller Politik“ und den „Schlüssel der ganzen Geschichte“, 88 um im Gegenzug mit sämtlichen Theorien und Experimenten abzurechnen. „Die beziehungsweise gute oder die richtige Verfassung ist diejenige, welche alle gesellschaftlichen Kräfte nach ihrem vollen Werte zur staatlichen Geltung kommen läßt“. 89 Allein aus der Erkenntnis dieser Kräfte erwuchs Verbindlichkeit. Rochau verstand das nicht als machiavellistische Haltung, sondern als bloße Überzeugung, „daß es eine Grenze gibt, an welcher die tatsächliche Möglichkeit der Erfüllung dieser Pflicht aufhört“. 90 Wollte ein Staat bestehen, musste er in Rochaus Einschätzung letztlich zum Exekutor der realen Kräfteverhältnisse werden – in einer dynamischen Auffassung: Historisches Recht erschien darin nicht mehr als „eine Redensart, die den Stoff zu gelehrten Spielereien, und außerdem den Vorwand zu einer Politik hergeben mag“. 91 Realpolitik hingegen, für die Rochau plädierte, fand ihre Aufgabe keineswegs „in der Verwirklichung von Idealen, sondern in der Erreichung konkreter Zwecke“92 – freilich nur solcher Zwecke, die eben erreichbar seien. Welche genau diese Bedingung erfüllten, gab wiederum allein die historische Entwicklung selbst vor. Das war keine außergewöhnliche Einschätzung. Auch Adolf von Zerzog, in Regensburg gewähltes liberales Mitglieder der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche, zeigte sich desillusioniert vom Scheitern der Revolution des Jahres 1848 und leitete daraus ab: „Ich bin der groeßte Monarchist, weil ich die Monarchie für die einzige vernünftige Staatsform für ein zwischen andern großen Voelkern liegendes großes Volk halte – aber ich halte sie in den jetzigen Haenden für unhaltbar“. Erst müsse eine Revolution kommen, indes prognostizierte Zerzog: „So wahr als die Erde sich dreht, so
GALL 2008, 141f. KRAUSHAAR 1999, 113. 87 ROCHAU 1972, 25 [Hervorhebung im Original]. 88 Ebd., 25. 89 Ebd., 28 [Hervorhebung im Original]. 90 Ebd., 31. 91 Ebd., 55. 92 Ebd., 208 [Hervorhebung im Original]. 85 86
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wahr kommt das preuß[ische] Erbkaiserthum! Denn dieß ist eine Nothwendigkeit der deutschen Entwicklung; u. gegen die Natur kann nichts helfen!“ Nur werde jetzt eben blutig geschehen müssen, was Volk und Fürsten als „Nothwendigen Gang des deutschen Lebens rasch und ruhig zum Ziel gelenkt haetten“.93 Aus diesen vermeintlichen Notwendigkeiten allein erwuchs äußere Verbindlichkeit. Gerade die ehemalige Paulskirchenlinke blickte nun auf die vermeintlich real wirksamen Kräfte in der Geschichte und die jeweils momentanen Gegebenheiten, nicht auf die Ideen – bis hin zu einer naturwissenschaftlichen Auffassung des menschlichen Zusammenlebens. 94 Darin traf sie sich mit der Einschätzung, mit der ausgerechnet die konservative Staatswissenschaft ihre Konsequenzen aus der mit der Französischen Revolution über Europa gekommenen Unverbindlichkeit gezogen hatte: Der Stärkere habe das Sagen,95 schaffe letztlich mit historischem Recht wahre Verbindlichkeit.
D. Rückblick und Ausblick: Geschichte als Ausweg aus der Beliebigkeit Im Naturrecht seit dem 17. Jahrhundert als dasjenige gefasst, was kodifizierten oder moralischen Gesetzen erst ihre zwingende Kraft verleihe, hatte sich Verbindlichkeit im Zeitalter der Französischen Revolution geradezu im Zeitraffertempo in Unverbindlichkeit aufgelöst. Alle Legitimationsformen politisch-sozialer Ordnungen hatten sich bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts in irgendeiner Art und Weise desavouiert; intrinsische Werte schienen kaum mehr begründbar, bloße Tradition konnte fortan ebensowenig verfangen wie Gottesgnadentum, Volkssouveränität ebensowenig wie aufgeklärt-monarchische Vernunftherrschaft. Doch die Beliebigkeit, in der sich sämtliche materiale Verbindlichkeit aufgelöst hatte, wurde formell eingehegt: Eine neue, extrinsische Verbindlichkeit entstand, die ihre Geltung aus der historischen Entwicklung selbst bezog. Sie geriet zur Kontingenz, aber zu einer, der man zu folgen verbunden sei – die Geschichtlichkeit, in der das 19. Jahrhundert immer stärker dachte, war in dieser Hinsicht gerade keine gestaltungsoffene, sondern eine je schon festgelegte. „Die Umkehr zur Geschichte also ist das Losungswort des Jahrhunderts“, 96 verkündete mit Rudolph von Jhering einer der wichtigsten Professoren der historischen Rechtsschule in der Tradition Savignys bei seiner Wiener Antrittsvorlesung vom Katheder und stellte die Adolf von Zerzog an Dr. Karl Herrich, Frankfurt am Main, 04. Mai 1849 (CHRO1998, 195f [Hervorhebung im Original]). 94 J ANSEN 2000, 258f. 95 B RANDT 2002, 101. 96 J HERING 1998, 69. 93
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rhetorische Frage, „ob die erste Stufe der geschichtlichen Entwicklung minder nothwendig und minder wahr [gewesen ist], weil ihr eine zweite folgt“?97 Vielleicht zeigt keine programmatische Bekundung diese Denkungsart deutlicher auf als das Gründungsdokument der „Historischen Zeitschrift“, jenes Vorwort, mit dem ihr Herausgeber Heinrich von Sybel im Jahre 1859 die erste Ausgabe eröffnete. Es erschien ihm das Leben jedes Volkes „als natürliche und individuelle Entwicklung, welche mit innerer Nothwendigkeit die Formen des Staats und der Cultur erzeugt, welche nicht willkürlich gehemmt und beschleunigt, und nicht unter fremde Regel gezwungen werden darf“. 98 Verbindlichkeit war also säkularisiert worden, ohne darob verfügbar zu geraten, hatte sich in den Begriff historischer Entwicklung eingenistet, dem gewiss ein gerüttelt‘ Maß an Unberechenbarkeit, 99 aber auch an Unwiderlegbarkeit innewohnte. Nicht was beliebt, galt im frühen 19. Jahrhundert als erlaubt. Sondern was die historische Entwicklung erlaubte, geriet ins Belieben. Aus der Erkenntnis der Zeitumstände erwuchs eine formale Verbindlichkeit, die nicht einmal unbedingt einer Erklärung bedurfte: „Kommt Zeit, kommt Rat“, überschrieb Johann Wolfgang vom Goethe im Jahre 1815 ein sprichwörtlich gewordenes Epigramm: „Wer will denn alles gleich ergründen! / Sobald der Schnee schmilzt, wird sich‘s finden. / Hier hilft nun weiter kein Bemühn! / Sind Rosen, nun, sie werden blühn“.100
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Schillers Wallenstein als Drama der Verbindlichkeit Simon Bunke Im letzten Akt von Wallensteins Tod legt Wallenstein unmittelbar vor seiner Ermordung mit Hilfe eines Kammerdieners sein Feldherrn-Gewand ab, um sich dann zu Bett zu begeben. Dabei zerspringt Wallensteins goldene Kette: Kammerdiener hat ihm den Mantel, Ringkragen und die Feldbinde abgenommen. WALLENSTEIN […] Gib Acht! was fällt da? KAMMERDIENER Die goldne Kette ist entzwei gesprungen. WALLENSTEIN Nun, sie hat lang genug gehalten. Gib. Indem er die Kette betrachtet: Das war des Kaisers erste Gunst. Er hing sie Als Erzherzog mir um, im Krieg von Friaul, Und aus Gewohnheit trug ich sie bis heut. – Aus Aberglauben, wenn Ihr wollt. Sie sollte Ein Talisman mir sein, solang ich sie An meinem Halse glaubig würde tragen, Das flücht’ge Glück, des erste Gunst sie war, Mir auf Zeitlebens binden – Nun es sei! Mir muß fortan ein neues Glück beginnen, Denn dieses Bannes Kraft ist aus. (WT 279f.; V/4)1
Mit der zerspringenden Kette macht diese kurze, scheinbar nebensächliche Szene genau jene Thematik der Verbindlichkeit sinnfällig, die – so die leitende These des vorliegenden Aufsatzes – in Schillers Wallenstein-Trilogie durchgehend verhandelt wird. Es ist offenkundig, dass diese goldene Kette, vom Kaiser als Zeichen für seine „erste Gunst” verliehen, zugleich jene Verbindungen symbolisiert, die einst zwischen Wallenstein und dem Kaiser bestanden: Als Generalissimus ist Wallenstein dem Kaiser untergeben und diesem durch ein rechtliches Band verbunden. Nachdem diese Verbindlichkeit bereits indirekt
Schillers Wallenstein-Trilogie wird im Folgenden nach der Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags direkt im Text mit folgenden Siglen nachgewiesen: Wallensteins Lager, in: SCHILLER 2000, 13–53; Die Piccolomini, in: SCHILLER 2000, 55–150; Wallensteins Tod, in: SCHILLER 2000, 153–293. 1
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durch Wallensteins geheime Verhandlungen mit den Schweden in Frage gestellt wurde, erscheint das Band spätestens zu Beginn von Wallensteins Tod mit der Verhaftung von Sesin endgültig durchtrennt, da Wallenstein nun auch faktisch als Hochverräter erkennbar wird. Das Zerspringen der kaiserlichen Kette führt mithin vor, dass das Band zwischen Wallenstein und dem Kaiser aufgekündigt wurde. Über diese Aufkündigung hinaus wird hier aber noch ein zweiter Aspekt für die Frage nach der Verbindlichkeit wichtig: Steht die Kette symbolisch für das zerrissene Band der obligatio zwischen Kaiser und Wallenstein, so gilt dies nur aus einer externen Perspektive. Für Wallenstein selbst tritt die symbolische Verbindung zum Kaiser deutlich zurück zugunsten des Schicksals, die Kette steht für ihn in erster Linie für die Verbindlichkeit des Glücks, der Fortuna. Denn es ist auffallend, dass Wallenstein zweierlei Arten der „Gunst“ mit der Kette in Verbindung bringt: zunächst „des Kaisers erste Gunst“, die er dann aber durch die „erste Gunst“ des „flüchtgen Glücks“ ersetzt; dieser und nicht dem Kaiser verdanke er in Wirklichkeit die Kette. Dies macht sinnfällig, dass für Wallenstein schon früh die politisch-rechtliche Verbindlichkeit des Kaisers zugunsten von Versuchen zurücktrat, Verbindlichkeit aus anderen Instanzen zu gewinnen. Ausdrücklich betont er, dass er die Kette stets „aus Aberglauben“ getragen habe; sie soll ihm gerade nicht seine Verbindung zum Kaiser vor Augen stellen, sondern als „Talisman“ das flüchtige Glück dauerhaft („zeitlebens“) binden. Die Kette wird nicht nur zum Symbol von Verbindlichkeit, sondern erscheint Wallenstein sogar als deren Quelle: Indem er die Kette trägt, glaubt er die Kontingenz und Opazität des geschichtlichen Laufs aufheben und das Glück an sich binden zu können. Der „Talisman“ der Kette steht somit in einer Reihe mit anderen, ähnlichen Strategien der Ableitung von Verbindlichkeit aus dem Aberglauben, etwa der Sternendeutung oder dem prophetischen Traum. Verkennt freilich Wallenstein stets das Trügerische seines Aberglaubens, so begreift er auch hier das Zerspringen der Kette gerade nicht als Zeichen für eine Abkehr vom Aberglauben, sondern vertraut auf ein „neues Glück“. Dies bleibt jedoch aus, Wallenstein wird ermordet. Führt also diese Szene auf der einen Seite Wallensteins intermediäre Position zwischen seiner Loslösung von der kaiserlichen Verbindlichkeit und seiner Suche nach anderen Quellen von Verbindlichkeit vor, so rückt auf der anderen Seite zugleich die umgekehrte Perspektive in den Blick: Denn jene Aufkündigung rechtlich-politischer Verbindlichkeit erscheint hier nicht nur unter dem Aspekt von Wallensteins Pflichtbeziehung gegenüber dem Kaiser, sondern auch umgekehrt bezogen auf die kaiserliche „Gunst” gegenüber Wallenstein; sowohl der Verbundene – Wallenstein – als auch der Verbindende – Kaiser Ferdinand – werden hier fokussiert. Auch die kaiserliche Legitimation von Herrschaft scheint hier zu zerreißen, liest man die goldene Kette als deren Zei-
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chen: Zwar wird Wallenstein durch den kaiserlichen Brief geächtet, aber zugleich vollstreckt Buttler eigenmächtig das kaiserliche Urteil, 2 sodass kein Raum mehr für den souveränen, die kaiserliche Autorität bekräftigenden Akt der „Gnade“ (WT 291; V/12) bleibt und also die Verbindlichkeit kaiserlicher Macht in Frage gestellt wird. Man könnte auch sagen: Diese Szene macht jenen Moment sinnfällig, in dem die alte Verbindlichkeit, das alte Band der Gesellschaft reißt, sich aber noch keine neue, tragfähige Begründung von Verbindlichkeit abzeichnet.
A. Damit ist schon angedeutet, was im Folgenden genauer gezeigt werden soll: dass Schillers Wallenstein-Trilogie wesentlich auf jene Umbrüche und Infragestellungen reflektiert, die die Kategorie der Verbindlichkeit im späten 18. Jahrhundert erfährt. Verbindlichkeit wird grundsätzlich seit dem spätantiken römischen Recht unter dem Begriff der obligatio als jenes rechtliche Band (iuris vinculum) gefasst, das zwischen zwei Subjekten besteht: Sie bezeichnet „ein Schuldverhältnis, vermöge dessen ein debitor (Schuldner) gegenüber seinem creditor (Gläubiger) zu einer oder mehreren Leistungen verpflichtet ist. Dieses Schuldverhältnis kann durch Rechtsgeschäft, insbes. durch einen Vertrag (contractus), oder durch eine unerlaubte Handlung (delictum) entstehen“.3 Der locus classicus hierfür findet sich im Justinianischen Corpus iuris civilis, der die obligatio als ein „iuris vinculum, quo necessitate adstringimur alicuius solvendae rei secundum nostrae civitatis iura“, definiert, also als ein „rechtliches Band, durch das wir nach dem Recht unseres Bürgerstaates zwingend verpflichtet werden, einen Gegenstand zu leisten“. 4 Im 18. Jahrhundert bleibt das Konzept der Verbindlichkeit freilich nicht auf diese juridische Dimension beschränkt, sondern gewinnt eine deutlich größere Extension. Dies wird besonders deutlich anhand des entsprechenden Eintrags
Zwar kalkuliert Octavio durchaus damit, dass sich Buttlers „glühende Bewunderung für Wallenstein“ dann in „grenzenlosen Haß“ verwandeln wird (RIEDL 2006, 102), aber der Mord scheint nicht eingeplant gewesen zu sein, wie etwa Octavios „Entsetzen“ (WT 290; V/12) über die Nachricht von Wallensteins Tod signalisiert. Auch wenn nach der Ächtung Wallensteins („verurteilt und geächtet“, Picc. 145; V/1) letztlich jeder ihn straffrei töten darf, so wird dies im Stück durchaus kontrovers beurteilt. So erscheint der „blut’ge Spruch“ (WT 250; IV/6) nicht als Freibrief für die rasche Tötung ohne Anhörung des „Schuldigsten“, da dies „Mord und nicht Gerechtigkeit“ (ebd.) sei. Buttler habe insofern durch die rasche Tötung Wallensteins ohne vorherigen Prozess in Wien „des Herrn Befehl mißbrauch[t]“ (ebd.), da hierdurch keine Möglichkeit für diese kaiserliche „Gnade“ mehr blieb. 3 Artikel „Obligatio“, in: PAULY 2000, 1083. 4 Ebd., 1082f. 2
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in Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch:5 Adelung unterscheidet grundsätzlich zwischen einer aktiven („thätigen“) und einer passiven Bedeutung von Verbindlichkeit. Unter ersterer versteht er die „Eigenschaft eines Dinges, da uns dasselbe eine moralische Nothwendigkeit aufleget, zu gewissen Handlungen überwiegende Bewegungsgründe dazu darreicht“, 6 also die Verbindlichkeit, die dem Subjekt – so Adelungs Beispiele – durch ein Gesetz, einen Befehl, ein Geschenk, ein Kompliment oder eine Gefälligkeit auferlegt werden. Aktive Verbindlichkeit kann aber auch solche „Handlungen“ bezeichnen, „welche den andern überwiegende Bewegungsgründe zu ähnlichen Handlungen darreichen, wo es doch nur von Gefälligkeiten oder Wohlthaten gebraucht wird, so fern sie den andern zu Gegengefälligkeiten verbinden.“7 Nicht nur Dinge, sondern auch Handlungen verpflichten also das Subjekt zu Gegenhandlungen, wobei Adelung hier einschränkt, dass sich die verbindlichen Handlungen nur auf „Gefälligkeiten oder Wohlthaten“ erstrecken. In der passiven Bedeutung kehrt sich die Perspektive um; Verbindlichkeit meint nun den Zustand, da man sich in der moralischen Nothwendigkeit zu einer Handlung befindet, sie rühre nun von einem Gesetze, oder von einem freywilligen Versprechen, oder endlich auch von empfangenen Gefälligkeiten und Wohlthaten her. Jemanden eine Verbindlichkeit auflegen, durch ein Gesetz, einen Befehl. Sich eine Verbindlichkeit auflegen, durch ein Versprechen. Deine Wohlthaten setzen mich in die Verbindlichkeit, dir wieder zu dienen. Die Verbindlichkeit, sein Wort zu halten. 8
Verbindlichkeit impliziert also immer zwei Bedeutungsdimensionen: einerseits im aktiven Sinne die verbindenden Dinge oder Handlungen, andererseits im passiven Sinne der Zustand des Verbundenseins, d.h. Verbindlichkeit bezeichnet auch den Zustand des Subjekts, notwendigerweise handeln zu müssen, als Antwort auf jene aktive Verbindlichkeit von Sachen, Handlungen, Versprechen oder Gefälligkeiten. Dies bedeutet: Verbindlichkeit beschreibt im 18. Jahrhundert nicht bloß ein rechtlich-vertragliches Verhältnis, sondern umfasst allgemeiner jede Sache oder Handlung, die dem Gegenüber eine moralische Pflicht zu einem bestimmten Verhalten auferlegt. Nicht nur durch Gesetze oder Machtausübung kann das Subjekt verbunden sein, sondern auch und vor allem durch soziale Gesten wie Komplimente oder Geschenke, die ihrerseits das Subjekt zu Gegenhandlungen (wie z.B. Dank oder neuen Komplimenten) verpflichten. Daraus ergibt sich dann das passive Verbundensein des Subjekts. Gerade durch ihren grundlegenden Charakter für gelingende zwischenmenschliche Interaktion erscheint Verbindlichkeit als ein wesentliches ‚Band der Gesellschaft‘. ADELUNG 1801, 997. Ebd. 7 Ebd. 8 Ebd. 5 6
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Allerdings kommt es besonders nach der epochalen Zäsur der Französischen Revolution zu einer grundlegenden Infragestellung des Konzepts von Verbindlichkeit. Besonders die negativen Entwicklungen der Revolution führen dazu, dass der aufklärerische Geschichtsoptimismus zunehmend einem Geschichtspessimismus weicht; 9 dies wird anhand von Schiller selbst exemplarisch deutlich: Hatte dieser in seiner Jenaer Antrittsvorlesung vom 26. Mai 1789 – also unmittelbar vor dem Beginn der Französischen Revolution – noch ein positives, teleologisches Geschichtsbild vertreten, so tritt an dessen Stelle binnen weniger Jahre eine deutlich pessimistischere Einschätzung, nicht nur wegen der Erfahrungen der terreur, sondern auch und vor allem wegen der Hinrichtung Ludwigs XVI. am 21. Januar 1793. Das „pessimistische Geschichtsbild von Schillers Spätwerk [ist] durch die desillusionierenden Erfahrungen des Verlaufs der Französischen Revolution bedingt“. 10 Daher weicht die Teleologie der Antrittsvorlesung nun einem „radikalen Perspektivismus“ 11, der „anerkennt, dass die konkurrierenden historischen Parteien tendenziell gleichermaßen legitime Positionen vertreten“. 12 Wenn also nach 1789 als unveränderlich geltende Institutionen binnen kürzester Zeit kollabieren und sich zugleich die geschichtliche Entwicklung zunehmend als undurchschaubar, ja sinnlos erweist, dann wird auch tendenziell der aufklärerischen Verbindlichkeit die Grundlage entzogen. Unter den Bedingungen eines „historische[n] Prozesses“, der ein „Produkt willkürlicher Kräfte“ ist, „die der Mensch in keiner Phase dauerhaft zu kontrollieren vermag“,13 erscheint Verbindlichkeit als das Ergebnis einer radikalen Kontingenz, die nicht mehr sinnhaft eingeholt werden kann. Das Band der Gesellschaft scheint grundlegend in Frage gestellt zu werden, wenn nicht gar zu reißen.
B. Vor diesem Hintergrund stellt nun auch Schillers Wallenstein-Trilogie die Frage nach der Verbindlichkeit, wobei nicht bloß Wallensteins Lager als „Allegorie der neuen postrevolutionären Gesellschaft“ 14 gedeutet werden kann, sondern die Trilogie insgesamt von jenem Geschichtspessimismus der nachrevolutionären Zeit geprägt ist. Daher lässt sich Wallenstein als ein Drama der Verbindlichkeit lesen: als einen Text, der durchgehend auf die Möglichkeiten und Grenzen von Verbindlichkeit reflektiert, dabei aber zu einer grundlegend Vgl. hierzu auch den Beitrag von GEORG ECKERT in diesem Band. HOFMANN 2006, 180. 11 Ebd., 181. 12 Ebd., 180. 13 ALT 2008, 167. 14 PLESCHKA 2013, 173. 9
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skeptischen Beurteilung dieser Kategorie gelangt. Vor dem Hintergrund einer Erosion politisch-rechtlicher Verbindlichkeit versuchen die Figuren (allen voran Wallenstein) immer wieder, durch verschiedene Strategien wie Freundschaft, Treueschwur, Charisma oder Astrologie bzw. Aberglaube eine tragfähige Verbindlichkeit zu etablieren, wobei dies jedoch letztlich stets scheitert. Weder die äußere Verbindlichkeit durch politische Macht oder Verträge noch die innere Verbindlichkeit durch intrinsische Bezüge (etwa durch Freundschaft) können auf Dauer gestellt werden, um so ein verlässliches Band zu stiften. Wie besonders Wallensteins Aberglaube deutlich macht, scheint diese Frage der Verbindlichkeit auch ein Grund für Schillers Rekurs auf die Frühe Neuzeit zu sein: Der Dreißigjährige Krieg als Epoche vor einer durch Vernunft begründeten Verbindlichkeit korrespondiert mit jener Epoche nach der rationalen Verbindlichkeit, als im Zuge der Französischen Revolution die aufklärerische Vernunft zu scheitern scheint und ein ‚Vakuum des Unverbindlichen‘ entsteht. Die Frage nach der Verbindlichkeit in Wallenstein muss dabei von der politisch-rechtlichen Ebene ausgehen, ist doch das zutiefst problematische rechtliche Band zwischen Kaiser Ferdinand II. und seinem Generalissimus Wallenstein nicht nur Ausgangspunkt der gesamten Dramenhandlung, sondern auch der weiteren Reflexionen anderer Formen von Verbindlichkeit im Text. Auf einer solchen politischen Ebene bedeutet Verbindlichkeit einerseits die asymmetrische Machtausübung zwischen Herrscher und Untertan, also die verbindliche Kraft der kaiserlichen Macht gegenüber Wallenstein, andererseits aber auch umgekehrt die passive Verbindlichkeit, also Wallensteins „moralische Nothwendigkeit“ (im Sinne Adelungs), als Verbundener entsprechend zu handeln. Dabei fällt auf, dass die Verbindlichkeit zwischen Wallenstein und dem Kaiser anfänglich nicht bloß rechtlich-politisch verankert war, sondern sich wesentlich aus dem Moment der Freundschaft gespeist hatte: 15 Einst war mir dieser Ferdinand so huldreich; Er liebte mich, er hielt mich wert, ich stand Der nächste seinem Herzen. Welchen Fürsten Hat er geehrt wie mich? (WT 173; I/7)
Freilich muss eine solche nicht auf rationalem Kalkül, sondern auf persönlicher Freundschaft gegründete Verbindlichkeit (wie auch entsprechend die Verbindlichkeit aus Liebe bei Max und Thekla) in dem machiavellistischen Handlungsraum des Textes dann problematisch erscheinen, wenn freundschaftliche und politische Verbindlichkeit verwechselt werden. In der Tat interpretiert Wallenstein seine Absetzung auf dem Regensburger Reichstag nicht als einen bloß
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Vgl. dazu MOUTOUX 1982.
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politischen Akt des Kaisers, sondern wesentlich als Verletzung des persönlichen, freundschaftlichen Bandes: Doch seit dem Unglückstag zu Regenspurg, Der ihn von seiner Höh herunter stürzte, Ist ein unsteter, ungesell’ger Geist Argwöhnisch, finster, über ihn gekommen. (WT 202; III/3)
Mit diesem Vertrauensbruch ist für Wallenstein die freundschaftliche Verbindlichkeit aufgehoben; folglich steht bei seiner späteren Wiedereinsetzung auch nur noch die vertragliche Verbindlichkeit gegenüber dem Kaiser im Vordergrund, eine sekundäre Bindung besteht für ihn nicht mehr: Mein Vertrag erheischt’s, Daß alle Kaiserheere mir gehorchen, So weit die deutsche Sprach’ geredet wird. Von span’schen Truppen aber und Infanten, Die durch das Reich als Gäste wandernd ziehn, Steht im Vertrage nichts […] Gerad heraus! Den Kaiser drückt das Pactum Mit mir. (Picc. 98; II/7)
Aus dieser Perspektive erscheint die durch Vertrag und Macht gestiftete Verbindlichkeit zwischen Wallenstein und dem Kaiser am Anfang der Dramenhandlung als eine bloße Schwundstufe jener anderen, freundschaftlichen Verbindlichkeit. Folglich erodiert die rechtlich-politische Verbindlichkeit weiter, als Wallenstein von den neuerlichen Absetzungsplänen des Kaisers zu Beginn der Piccolomini erfährt. Durch seinen Rücktritt versucht Wallenstein, sich von diesen vertraglichen Verbindlichkeiten insgesamt zu lösen und – folgt man Klaus Weimar – in eine Position zu gelangen, deren Verbindlichkeit nur noch völkerrechtlich zu fassen ist: Er „unterläuft die Alternative von Gehorsam und Ungehorsam grundsätzlich“, indem er den „Rückzug in den Geltungsbereichs eines Rechts [versucht], das ‚vor‘ dem Gesellschaftsvertrag liegt, also ‚vor‘ der Etablierung einer Obrigkeit, der man gehorsam oder ungehorsam sein könnte, und ‚vor‘ jedem positiven, schriftlich verfaßten Recht.“ Denn Wallenstein „tritt vom Vertrag mit dem Kaiser und vom kodifizierten Recht überhaupt zurück in eine nur völkerrechtlich zu fassende Position“, die eigentlich nur „zwischen Staatsoberhäuptern vorgesehen“ ist. 16 Da Wallenstein aus seiner charismatischen Herrschaft eine andere Form der Verbindlichkeit gegen die rechtliche Verbindlichkeit des Kaisers ableitet und zugleich fern von Wien mit seinem Heer eine große Machtfülle akkumuliert hat, wird auch bei Wallensteins Soldaten und Offizieren diese Erosion rechtlich-politischer Verbindlichkeit deutlich. Schon Wallensteins Lager führt vor, 16
WEIMAR 1990, 103.
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wie wenig die kaiserliche Autorität hier noch gilt, da „[d]rei Viertel der Armee“ Wallenstein und nicht mehr dem Kaiser verbunden sind: Und die Armee, von der wir Hülf’ erwarten, Verführt, verwildert, aller Zucht entwohnt – Vom Staat, von ihrem Kaiser losgerissen, Vom Schwindelnden die schwindelnde geführt, Ein furchtbar Werkzeug, dem verwegensten Der Menschen blind gehorchend hingegeben – (Picc. 67; I/3)
Dieser Zerfall rechtlich-politischer Verbindlichkeit manifestiert sich nicht zuletzt auch in einer entsprechenden Erosion verbindlicher Interaktionsformen, wie sie besonders in den Questenberg-Szenen sichtbar wird: Gerade weil sich die meisten Offiziere Wallensteins nicht mehr mit dem Kaiser verbunden sehen, sondern unter der charismatischen Herrschaft ihres Feldherrn stehen, lassen sie es auch gegenüber dem kaiserlichen Repräsentanten Questenberg an solchen verbindlichen Umgangsformen fehlen, die jener rechtlichen Verbindlichkeit korrespondieren würden: Was hab’ ich hören müssen, Genralleutnant! Welch zügelloser Trotz! Was für Begriffe! (Picc. 66; I/3)
Da die verbindende Kraft der absoluten kaiserlichen Herrschaft entsprechende verbindliche Gesten und Handlungen seitens der Untergebenen erfordert, bildet sich in dem ‚unverbindlichen‘ Verhalten der Offiziere auch das Schwinden jener Verbindlichkeit ab: „Hier ist kein Kaiser mehr. Der Fürst ist Kaiser!“ (Picc. 66; I/3) Denn Aufgelöst Sind alle Bande, die den Offizier An seinen Kaiser fesseln, den Soldaten Vertraulich binden an das Bürgerleben. (Picc. 140f.; V/1)
C. Diese Erosion der durch Verträge und die politische Macht des Kaisers garantierten Verbindlichkeit steht in engem Zusammenhang mit Wallensteins Gegenmodell des Charismas, aus dem sich wesentlich die Verbindlichkeit innerhalb seines Heeres gründet. Mit Max Webers bekannter Unterscheidung zwischen traditionaler und charismatischer Herrschaft lassen sich auch, hierauf hat die Forschung schon mehrfach hingewiesen, 17 die Herrschaftsmodelle in Wallenstein präzise fassen. Der Kaiser vertritt dabei jene traditionale Herrschaft, deren Legitimität sich wesentlich aus der „Heiligkeit altüberkommener (‚von jeher bestehender‘) Ordnungen und Herrengewalten“ speist: „Der Herr (oder: 17
Vgl. hierzu die Studie von Dieter Borchmeyer (BORCHMEYER 2003), ferner RIEDL 2006.
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die mehreren Herren) sind kraft traditional überkommener Regel bestimmt. Gehorcht wird ihnen kraft der durch die Tradition ihnen zugewiesenen Eigenwürde.“18 An die Stelle dieser traditionalen Herrschaft – als deren „wortmächtige[r] Apologet“19 Octavio erscheint – setzt nun Wallenstein seine charismatische Herrschaft, die ihre Verbindlichkeit gerade nicht aus Traditionsbezügen ableitet, sondern sie über eine konstitutive Außeralltäglichkeit definiert: „Charisma“ soll eine als außeralltäglich […] geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als „Führer“ gewertet wird.20
Dabei ist Charisma keine Selbstzuschreibung des Herrschers, sondern „die Summe von außergewöhnlichen, auch vermeintlich übernatürlichen Attributen, die andere einem Menschen zuschreiben“. 21 Aus diesem Charisma speist sich wesentlich die Verbundenheit der Soldaten wie der Offiziere gegenüber Wallenstein. In Wallensteins Lager wird dies vor allem aus der Perspektive von Wallensteins Soldaten gezeigt, in den Piccolomini tritt die Verbindlichkeit der Offiziere hinzu: Er hat es keinen Hehl, daß wir um seinetwillen Hieher berufen sind – gestehet ein, Er brauche unsers Arms, sich zu erhalten. Er tat so viel für uns, und so ist’s Pflicht, Daß wir jetzt auch für ihn was tun! (Picc. 142; V/1)
Wallensteins Taten für das Heer verbinden die Offiziere zu entsprechenden Handlungen, indem sie – mit Adelung gesprochen – „überwiegende Beweggründe“ darreichen und also eine „moralische Nothwendigkeit“ hierfür konstituieren.22 Eine solche charismatische Herrschaft ist nicht rational begründbar; sie manifestiert sich daher sogar noch kurz vor dem Tod des Feldherrn als jener „Schwindelgeist“, der den Großteil der Bürger von Eger ergreift: „Sie sehn im Herzog einen Friedensfürsten / Und einen Stifter neuer goldner Zeit.“ (WT 268; V/1) Besonders deutlich tritt Wallensteins charismatische Verbindlichkeit aber bei Max hervor, wie sein Vater Octavio bemerkt:
WEBER 1922, 130. BORCHMEYER 2003, 224. 20 Ebd., 140. 21 RIEDL 2006, 94. Gleichwohl kann der charismatische Herrscher durch „bestimmte Strategien der Selbstdarstellung“, durch seine „Selbstüberhöhung“ die charismatische Wirkung stützen, indem ein solcher „Selbstentwurf“ als „machtvoller Generalissimus“ den anderen Figuren als Beleg seiner Außergwöhnlichkeit dienen kann. (Ebd., 95) 22 ADELUNG 1801, 997. 18 19
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Der Wallenstein ist deinem Herzen teuer, Ein starkes Band der Liebe, der Verehrung Knüpft seit der frühen Jugend dich an ihn – (Picc. 145; V/1)
Umgekehrt erhebt auch Wallenstein umfassende Ansprüche auf Max’ Bindung an ihn: Auf mich bist du gepflanzt, ich bin dein Kaiser, Mir angehören, mir gehorchen, das Ist deine Ehre, dein Naturgesetz. (WT 231; III/18)
Hier wird deutlich, wie weitreichend Wallenstein das von ihm gestiftete Band denkt: Seine Verbindlichkeit soll einen ähnlich grundlegenden und unverbrüchlichen Charakter haben wie ein „Naturgesetz“. Darin verkennt Wallenstein freilich das Wesen der aus seinem Charisma abgeleiteten Verbindlichkeit, die insofern stets prekärer Natur sein wird, als sie sich im Gegensatz zur traditionalen Herrschaft des Kaisers nicht in festen Strukturen und Machtapparaten gründet, sondern nur so lange besteht, wie der charismatische Herrscher Erfolg hat, wie er also seinen exzeptionellen Status beglaubigen kann. Denn die charismatische Herrschaft benötigt, so Weber, ihre stete „Bewährung“: Bleibt die Bewährung dauernd aus, zeigt sich der charismatische Begnadete von seinem Gott oder seiner magischen oder Heldenkraft verlassen, bleibt ihm der Erfolg dauernd versagt, vor allem: bringt seine Führung kein Wohlergehen für die Beherrschten, so hat seine charismatische Autorität die Chance, zu schwinden. 23
Da sich die Verbindlichkeit charismatischer Herrschaft nicht in kodifizierten Gesetzen oder Verträgen, sondern allein im Erfolg, im fortwährenden Nachweis der Außergewöhnlichkeit des Herrschers gründet, 24 wird dieser beständige „Bewährungszwang“ 25 für Wallenstein zum Problem: Sein Zaudern schiebt gerade jene Taten immer weiter auf, die seine charismatische Herrschaft und damit das Band mit seinem Heer wesentlich stützen könnten. Ähnlich lässt dann die späte Einsicht von Max in den wahren Charakter Wallensteins die Verbindlichkeit zwischen beiden Figuren rasch kollabieren, da sich Max nun zwischen die freundschaftliche Verbindlichkeit gegenüber Wallenstein und seine kaiserlichen Pflichten gestellt sieht: Geh’ hin, verlaß mich, diene deinem Kaiser, Laß dich mit einem goldnen Gnadenkettlein Mit seinem Widderfell dafür belohnen, Daß dir der Freund, der Vater deiner Jugend, WEBER 1922, 140. Vgl. auch Reinhardt, der die charismatische Wirkung Wallensteins damit begründet, dass „er den Eindruck vermittelt, in Maskenspiel und Rollenrhetorik nicht aufzugehen, sondern stets noch etwas ‚dahinter‘ zu verbergen: sein ungreifbares Selbst, das sich nicht stellen läßt.“ (REINHARDT 2011, 426) 25 RIEDL 2006, 98. 23 24
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Daß dir das heiligste Gefühl nichts galt. MAX in heftigem Kampf: O Gott! Wie kann ich anders? Muß ich nicht? Mein Eid – die Pflicht – WALLENSTEIN Pflicht, gegen wen? Wer bist du? Wenn ich am Kaiser unrecht handle, ist’s Mein Unrecht, nicht das deinige. (WT 230f.; III/18)
Dieser Zwiespalt von Max zwischen zwei konkurrierenden Ansprüchen von Verbindlichkeit führt letztlich dazu, dass er sich in die „tödliche Umarmung der Legalität stürzt“ 26 und den Tod in einer Schlacht sucht, sich also dem „Streit der Pflichten“ (WT 178; II/2) durch Suizid entzieht.
D. Erscheint also die durch Wallensteins Charisma begründete Verbindlichkeit in ihrer Geltung letztlich instabil, so sollen zwei andere Formen an deren Seite treten: einerseits eine durch den schriftlichen Eid gestiftete rechtliche Verbindlichkeit, andererseits die aus der Sternendeutung und dem Aberglauben abgeleitete, (vermeintlich) transzendente Verbindlichkeit. Da sich der charismatische Herrscher Wallenstein des Bandes mit seinen Offizieren, besonders nach den Absetzungsbemühungen durch den Kaiser, nie ganz gewiss sein kann, kommt in den Piccolomini der Betrug mit dem unbedingten Treueschwur ins Spiel, um so eine verlässlichere Form der Verbindlichkeit zu generieren. Wallenstein fordert einen unbedingten Treueschwur von seinen Offizieren, ohne indes die Strategie zu dessen Erlangung vorzugeben: WALLENSTEIN Parole müssen sie mir geben, eidlich, schriftlich, Sich meinem Dienst zu weihen, unbedingt. ILLO Warum nicht? TERZKY Unbedingt? Des Kaisers Dienst, Die Pflichten gegen Östreich werden sie Sich immer vorbehalten. WALLENSTEIN den Kopf schüttelnd: Unbedingt Muß ich sie haben. Nichts von Vorbehalt! (Picc. 87; II/6) BORCHMEYER 2003, 226. Denn der „geniale Einzelgänger Wallenstein, dessen politischer Kosmos ausschließlich durch sein Machtinteresse zusammengehalten wird, kann keine legitime Alternative zur legalen Ordnung sein. Eine solche Alternative, eine neue, in freier vertraglicher Übereinkunft gründende Legalität wird Schiller erst in Wilhelm Tell an einem halb geschichtlichen, halb mythischen Paradigma demonstrieren. In der geschichtlichen Welt des Wallenstein ist dafür kein Ort.“ (Ebd.) 26
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Denn durch diesen unbedingten und zudem schriftlichen Treueschwur könnte Wallensteins Herrschaft jene solide Verbindlichkeit auf rechtlicher Grundlage gewinnen, durch die sich die traditionale Herrschaft auszeichnet. Eine solche rechtliche Verbindlichkeit scheint jedoch nur um den Preis des Betrugs möglich zu sein: Den Offizieren wird zunächst eine Version des Treueschwurs vorgelegt, in dem dieser durch die Treue zum Kaiser eingeschränkt wird; später sollen sie dann im trunkenen Zustand eine Fassung unterschreiben, in der diese Einschränkung fehlt. Aus dem äußeren Zwang durch die dokumentierte Unterschrift unter dem unbedingten Treueschwur soll sich dann die vorbehaltlose innere Verbindlichkeit der Offiziere ergeben. Allerdings wird bald offenkundig, dass durch Betrug gerade keine Verbindlichkeit auf Seiten der Offiziere entstehen kann: Es halten’s hier noch viele mit dem Hof, Und meinen, daß die Unterschrift von neulich, Die abgestohlne, sie zu nichts verbinde. (WT 187; II/5)
Aber auch im Hinblick auf den Hochverrat Wallensteins erscheint diese Strategie der Erzeugung von Verbindlichkeit prekär; denn sobald jener offenkundig wird, kann – so Isolani – erst recht keine Verbindlichkeit mehr bestehen: „Verrat trennt alle Bande.“ (WT 188; II/5) Genau diese Aushöhlung von Verbindlichkeit zeigt sich noch deutlicher bei der zweiten Quelle, aus der Wallenstein passive Verbindlichkeit schöpfen will: bei dem Aberglauben an die Sterne, an Talismane und prophetische Träume. Denn wenn Wallenstein durchweg auf die Sterne rekurriert, um den rechten Moment seines Handelns zu erkennen, oder sich auf prophetische Träume bezieht, um den wahren Charakter von Personen auszuloten, dann handelt es sich dabei nicht um Verweise auf das faktische Walten eines Schicksals oder einer Nemesis, sondern um den Versuch von deren Konstruktion durch Wallenstein. Die Astrologie-Bezüge des Textes verweisen nicht auf ein objektives Schicksal, das es zu ergründen gilt, sondern auf Wallensteins Suche nach einer solchen Objektivität.27 Wallensteins Astrologie wie sein Aberglaube generell sind die Reaktion des Helden auf eine Geschichte, die jede Teleologie verloren hat und als blindes Chaos empfunden wird. Durch den Rekurs auf das Übernatürliche beabsichtigt Wallenstein, sich der ihn beängstigenden, sinnlosen Zufälligkeit des geschichtlichen Laufs zu entziehen.28
27 Zanucchi hat darauf hingewiesen, dass Schiller jedoch bestrebt ist, dem Schicksal den Anschein faktischer Wirksamkeit zu geben, um so den tragischen Aspekt des Dramas zu erhöhen, wird doch im Trauerspiel der „tragische Fehler nicht nur dem Helden, sondern auch der Wirkung des Schicksals“ zugeschrieben (ZANUCCHI 2006, 150). Denn durch die scheinbare Aufwertung der Wirkungsmacht des Schicksals hat Schiller versucht, dem Text eine „klassizistische Form“ (ebd., 152) zu geben und eine „tragischere Wirkung“ (ebd., 154) zu erzielen. 28 Ebd., 157.
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Aus Wallensteins Versuchen, den kontingenten geschichtlichen Prozess durch solche vormoderne Wissenstechniken mit Sinn zu belehnen, soll passive Verbindlichkeit für sein eigenes Handeln erwachsen: Auch des Menschen Tun Ist eine Aussaat von Verhängnissen, Gestreuet in der Zukunft dunkles Land, Den Schicksalsmächten hoffend übergeben. Da tut es Not, die Saatzeit zu erkunden, Die rechte Sternenstunde auszulesen […]. (Picc. 90; II/6)
Durch die Instanz der Sterne will Wallenstein sein Handeln nicht als beliebig, sondern als von Notwendigkeit getragen erscheinen lassen. Die Verbindlichkeit durch die Sterne soll dabei an die Stelle der kaiserlichen Verbindlichkeit treten, sind doch die zu befragenden Planeten in Senis Astrologen-Zimmer ausdrücklich als „Könige gebildet“: In einem Halbkreis standen um mich her Sechs oder sieben große Königsbilder, Den Szepter in der Hand […]. Das wären die Planeten, sagte mir Mein Führer, sie regierten das Geschick, Drum seien sie als Könige gebildet. (Picc. 110; III/4)
Auch die Frage nach der Sicherheit freundschaftlicher Verbindlichkeit wird von Wallenstein während einer Schlacht an eine abergläubische Instanz gestellt: Den möcht’ ich wissen, der der Treuste mir Von allen ist, die dieses Lager einschließt. Gib mir ein Zeichen, Schicksal! Der soll’s sein, Der an dem nächsten Morgen mir zuerst Entgegen kommt mit einem Liebeszeichen. (WT 185; II/3)
Nicht nur begegnet Wallenstein am folgenden Morgen als erstes Octavio, sondern es kommen noch zwei Momente hinzu: Wallenstein hatte in jener Nacht zudem davon geträumt, dass ihm Octavio das Leben retten wird, während dieser ebenfalls in einem warnenden Traum gesehen hatte, dass Wallensteins Pferd in der Schlacht Unheil bringen wird, was sich tatsächlich bewahrheiten und mithin Wallenstein das Leben retten wird. Gerade das Zusammentreffen dreier Zeichen scheint dies verbindlich zu bezeugen. Freilich geht diese Strategie einer Ableitung von Verbindlichkeit aus der Transzendenz fehl. Auf der einen Seite trügen die Sterne, Octavio ist gerade das Gegenteil des treuen Freundes; selbst in dem Augenblick, als er von Octavios Verrat erfährt, vermag Wallenstein den Sternenglauben nicht als Irrtum zu erkennen:
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Die Sterne lügen nicht, das [Octavios Verrat] aber ist Geschehen wider Sternenlauf und Schicksal. Die Kunst ist redlich, doch dies falsche Herz Bringt Lug und Trug in den wahrhaft’gen Himmel […]. (WT 213; III/9)
Auf der anderen Seite missversteht Wallenstein die Zeichen der Sterne, er verkennt das eingangs zitierte Zerspringen der kaiserlichen Kette ebenso wie die Planetenkonstellation zu Beginn von Wallensteins Tod (nicht der Kriegsgott ist von jetzt an Wallenstein gewogen, sondern die Sternendeutung weist auf seinen eigenen Fall voraus).29 Wallenstein kann der „Kontingenz historisch-politischen Handelns“ 30 nicht entkommen.
E. Gehört also die Reflexion auf die Grenzen von Verbindlichkeit zu den durchgehenden Zügen der Trilogie, so wird dies am Ende nochmals pointiert verdichtet. Ein Kurier tritt mit einem kaiserlichen Brief auf, durch den Octavio in den Fürstenstand erhoben wird: Ein Kurier kommt und bringt einen Brief. GORDON tritt ihm entgegen: Was gibt’s? Das ist das kaiserliche Siegel. Er hat die Aufschrift gelesen, und übergibt den Brief dem Octavio mit einem Blick des Vorwurfs. Dem Fürsten Piccolomini. Octavio erschrickt und blickt schmerzvoll zum Himmel. Der Vorhang fällt. (WT 293; V/12)
Die Forschung hat hier zwei Aspekte hervorgehoben. Einerseits liegt es natürlich nahe, dass Octavios Erhebung in den Fürstenstand vor allem als effektvoller Kontrast zu den davorliegenden blutigen Taten erscheinen soll: Der Kaiser verleiht Octavio aus Dank für seine Hilfe bei der Entmachtung Wallensteins den Fürstentitel und stiftet so Verbindlichkeit. Dabei signalisieren freilich Gordons vorwurfsvoller Blick, Octavios Erschrecken und sein schmerzensvoller Blick zum Himmel den hohen Preis für diese Belohnung: Nicht nur hatte Octavio die Ermordung Wallensteins letztlich nicht intendiert, sondern auch und vor allem ist sein Sohn Max im Verlauf der Intrige gefallen. Der neu erworbene Fürstentitel findet mithin keine genealogische Fortsetzung mehr.
Zanucchi hat hier gegenläufige Tendenzen herausgearbeitet: Während Wallenstein zunächst trügerische Zeichen für wahrhaftig hält, verkennt er später die wahrhaften Zeichen als solche. Vgl. ZANUCCHI 2006, 166ff. 30 PLESCHKA 2013, 178. 29
Schillers Wallenstein als Drama der Verbindichkeit
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Dieser Deutung steht jedoch andererseits der berechtigte Einwand gegenüber, dass die Zeitspanne zwischen der Tötung Wallensteins und der kaiserlichen Nachricht viel zu kurz ist, als dass letztere in kausaler Verbindung mit ersterer stehen könnte. Es liegt also ein „Verstoß gegen die äußere Wahrheit“ 31 vor: Wien ist rund 450km und damit mehrere Tagesritte von Eger entfernt, weshalb der Kaiser kaum Nachricht von den letzten Ereignissen erhalten (geschweige denn darauf reagiert) haben könnte. Zugleich ist aber auch eine „Belohnung Octavios“ schon „vor dem Erfolg seiner Aktionen […] politisch und psychologisch unwahrscheinlich.“32 Mithin wird diese Szene üblicherweise dahingehend gedeutet, dass Schiller hier um des theatralen Effekts willen die kausale Stringenz geopfert habe. Rückt man jedoch diese Szene in den Kontext der hier skizzierten Überlegungen zur Problematisierung von Verbindlichkeit in der Wallenstein-Trilogie, dann läßt sich dieser Widerspruch zwischen dem theatralen Effekt und dessen logischer Begründung auflösen. Nur auf den ersten Blick erscheint der kaiserliche Lohn für Octavios Dienste als eine exemplarische Geste der Verbindlichkeit und steht für das Band zwischen Octavio und dem Kaiser. Denn nimmt man die faktische Unmöglichkeit einer Kausalbeziehung hinzu, dann entzieht diese Kombination einem starken Begriff von Verbindlichkeit die Grundlage: Die kaiserliche Erhebung in den Fürstenstand erscheint nicht mehr als Zeichen der Verbindlichkeit des Kaisers, sondern ist Ergebnis des Zufalls (oder zumindest einer opaken Kausalität, die weder die Figuren noch der Zuschauer durchschauen können).33 Gerade weil eine Kausalbeziehung unmöglich ist, tritt der kontingente Charakter der Verbindlichkeit umso deutlicher hervor. Die vermeintliche Suspendierung der textuellen Stringenz macht die Suspendierung von Verbindlichkeit insgesamt sinnfällig: In dem Maße, in dem sich Verbindlichkeit nicht mehr aus bestimmten Handlungen oder Dingen speist und somit das Sozialverhalten planbar macht, sondern kontingent auftritt, 34 wird jener Frithjof Stock, Stellenkommentar, in: SCHILLER 2000, 1237. Ebd. 33 Auch mit Octavios Blick zum Himmel kommt nur oberflächlich eine transzendente Instanz der Verbindlichkeit ins Spiel, ist dieser Blick doch – ähnlich wie Wallensteins Aberglaube – als bloß subjektiver Versuch zu lesen, Sinn aus der Transzendenz zu generieren. Dass jedoch eine solche transzendente Instanz der Verbindlichkeit nicht vorhanden ist, hatte das Drama zuvor mehr als deutlich gemacht: „Die Illusion, daß hinter der tragischen Katastrophe eine göttliche Ordnung steht, daß sich in der Geschichte das Walten eines gerechten Gottes oder einer strafenden Nemesis manifestiert, wird widerlegt. Die verzweifelten Anrufungen Gottes […] führen vor Augen, daß das Schicksal im Wallenstein kein transzendentes ist, sondern einzig und allein den Verstrickungen menschlichen Handelns entspringt.“ (BARONE 2004, 285) 34 Folgt man hingegen Ettes These, dass Schillers Wallenstein eine der „frühesten systemtheoretischen Reflexionen des Geschichtsprozesses“ (ETTE 2011, 30) darstellt, dann würde die Entstehung von Verbindlichkeit als Ergebnis autopoietischer, d.h. vom System selbst (und nicht von den Subjekten) gesteuerter Prozesse erscheinen. 31 32
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Simon Bunke
emphatische Begriff von Verbindlichkeit als einem belastbaren Band der Gesellschaft ausgehöhlt, den noch das 18. Jahrhundert weithin vertreten hatte. Auch aus dieser Perspektive kann man also mit Hegel sagen: „Wenn das Stück endigt, so ist Alles aus, das Reich des Nichts, des Todes hat den Sieg behalten“. 35
Literatur ADELUNG, JOHANN CHRISTOPH: „Die Verbindlichkeit“, in: Ders., Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Band 4. Leipzig 1801, 997. ALT, PETER-ANDRÉ: Klassische Endspiele. München 2008. BARONE, PAUL: Schiller und die Tradition des Erhabenen. Berlin 2004. BORCHMEYER, DIETE:, Macht und Melancholie. Schillers Wallenstein. Neckargmünd/Wien 2003. Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hrsg. v. Hubert Cancik und Helmuth Schneider. Bd. 8. Stuttgart/Weimar 2000. ETTE, WOLFRAM: „Wallenstein – das Drama der Geschichte“, in: DVjS 85 (2011), 30–46. HEGEL, GEORG WILHELM FRIEDRICH, Über Wallenstein (um 1800), in: Fritz Heuer, Werner Keller (hrsg.), Schillers Wallenstein, Darmstadt 1977, 15f. HOFMANN, MICHAEL: „Schillers Reaktion auf die Französische Revolution und die Geschichtsauffassung des Spätwerks“, in: Ders./Jörn Rüsen, Mirjam Springer (Hrsg.), Schiller und die Geschichte. München 2006, 180–194. MOUTOUX, EUGENE: „The Betrayal of Friendship in Schillers’s Wallenstein and in History“, in: Colloquia Germanica 15 (1982), 209–224. PLESCHKA, ALEXANDER: Theatralität und Öffentlichkeit. Schillers Spätdramatik und die Tragödie der französischen Klassik. Berlin 2013. REINHARDT, HARTMUT: „Wallenstein“, in: Schiller-Handbuch. Hrsg. v. Helmut Koopmann, 2., durchges. und aktualisierte Auflage. Stuttgart 2011, 416–437. RIEDL, PETER PHILIPP: „Legitimität und Charisma in Zeiten des Krieges. Überlegungen zu Schillers ‚Wallenstein‘-Trilogie“, in: Ders. (Hrsg.), Schiller neu denken. Beiträge zur Literatur-, Kultur- und Kunstgeschichte. Regensburg 2006, 91–109. SCHILLER, FRIEDRICH: Werke in zwölf Bänden. Bd. 4: Wallenstein. Hrsg. v. Frithjof Stock, Frankfurt/Main 2000. WEBER, MAX: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922. WEIMAR, KLAUS: „Die Begründung der Normalität. Zu Schillers Wallenstein“, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 109 (1990), Sonderheft, 99–116. ZANUCCHI, MARIO: „Die ‚Inokulation des unvermeidlichen Schicksals‘. Schicksal und Tragik in Schillers Wallenstein“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 50 (2006), 150–175.
35
HEGEL 1800, 15.
Vorschule der Ästhetik Zur Verbindlichkeit unverbindlicher Definitionen bei Jean Paul Christian Sinn
Einleitung Wie bei der Verbindlichkeit so handelt es sich auch bei Jean Paul um ein widerborstiges Phänomen, an dem sich die Wissenschaft in der Hoffnung abarbeitet, es sei nach zahlreichen, widerspruchsreichen Versuchen dennoch einmal durch wissenschaftliche Begriffe erfolgreich zu disziplinieren.1 Es wundert daher weder, dass die Wirkungsgeschichte Jean Pauls zwischen Positionen der Abwertung und Hochschätzung schwankt, noch dass die Versuche, die mehr oder weniger das bei Jean Paul voraussetzen, was sie als Resultat dann bei ihm herausholen, zur Vorsicht führen müssen, will man nicht in Resignation enden.2 Der Grund dafür ist der Sachverhalt, dass man im Zugang auf Jean Paul erst noch eine theoretische Beschreibung für etwas entwickeln muss, dem bis heute ein breiteres Verständnis in der traditionellen philosophischen und wissenschaftstheoretischen Orientierung fehlt. Die Situation der Jean-Paul-Forschung3 ist unter diesem Aspekt zwar selbst jeanpaulesk zu nennen. Denn anders als die Modellierungen von Verbindlichkeit im 18. Jahrhundert entzieht sich Jean Paul intellektueller Kontrolle und Reflexion durch die Fortführung von Lamberts Argument, dass „Worte zu abstrakt sind, um jede Individualien auszudrücken.“4 Anstelle allgemeiner Kategorien und universeller Regeln betont er also das Spezifische, Lokale, Eigentümliche, d.h. das, was dem Zugriff des Begriffs wenig entgegenkommt, um die Individualität, Zeitlichkeit und Handlungsfreiheit als Humanum zu behaupten.5 Andererseits setzt diese intellektuelle Herausforderung notwendig ein offenes Denken voraus und kann, so Um Polemik zu vermeiden und Selbstkritik zu üben: SINN 1995. Vgl. den sachlich konzisen Überblick in der zwar älteren, aber immer noch grundlegenden Arbeit von SPRENGEL 1980. 3 Vgl. http://www.jean-paul-gesellschaft.de/register1.html [10.11.2013] 4 Vgl. LAMBERT 1988, 14 [Neues Organon § 621]. 5 Vgl. KOCH 2013. 1 2
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Christian Sinn
die hier explizit vorgetragene Hoffnung, im kulturtheoretischen Rückgriff auf das 18. Jahrhundert Theorieumbrüche für das 21. Jahrhundert initiieren. Wesentlich hierfür sind etwa Albrecht von Hallers Elementa physiologiae corporis humani (1757–1766), deren physiologische Theorie endogener Bilder das Verständnis von Literatur als eines Klartraumes profilieren könnten. 6 So differenziert Jean Paul nach Über Schlaf und Traum (1781), Über die natürliche Magie der Einbildungskraft (1795), Über das Träumen (1796), Vorschule der Ästhetik (1804) und vielen Einzelaufsätzen schliesslich in Blicke in die Traumwelt (1813) die Bedeutungsvielfalt von Träumen vielfältiger als die anderen TraumDiskurse der Romantik: 7 Aber wie sollten wir tiefer in die Natur der Träume blicken, da jeder nur seine eigenen prophetischen kennt, und untersucht? Würde uns nicht ein anderes physiologisches und psychologisches Licht darüber brennen, wenn wir mehre Arten von Träumen, die der Kinder, der Jünglinge, der Greise, der Geschlechter, der Menschenarten zu vergleichen bekämen? Wahrlich, mancher Kopf würde uns mehr mit seinen Träumen als mit seinem Denken belehren, mancher Dichter mehr mit seinen wirklichen Träumen, als mit seinen gedichteten ergötzen, so wie der seichteste Kopf, sobald er in eine Irrenanstalt gebracht ist, eine Prophetenschule für den Weltweisen ist. 8
In einem Klartraum ist sich der Träumer bewusst, dass er träumt. Er kann also willentlich das steuern, was er träumt. Solche Träume belehren das Denken, wenn sie die Träume des Denkens miteinander vergleichen. In diesem Sinne eines auf die Träume des Denkens aufmerksam machenden Träumens ist der eigentümliche Vorzug der Vorschule der Ästhetik zu sehen: Was traumästhetisch in ihr gilt, das betrifft auch eine durch Denken modellierte Verbindlichkeit. Denn die in dieser Ästhetik gebundenen uralten theologischen Begriffe, Argumentationsmuster und trinitarischen Konstellationen setzen die träumerische Entwicklung von Ideen voraus, wenn sie nicht gar selbst Träume der Philosophie und Theologie sind. Es sind die schon von Leibniz9 und Baumgarten 10 reklamierten Tendenzen eines graduellen Übergangs vom Schlafen zum Wachen,11 um die es nach Jean Paul dann auch Schleiermacher verbindlichkeitstheoretisch geht. Wenn nämlich die Unterschiede zwischen Traum und Wachen, aber auch diejenigen zwischen Anschauung und Begriff graduell sind, Vgl. dazu paradigmatisch: PFOTENHAUER/SCHNEIDER 2006. Vgl. ALT/LEITERITZ 2005. 8 JEAN PAUL 1927ff. /1975ff. Im Folgenden zitiert nach Abt. [römisch]/Bd. [arabisch]/Seitenzahl [arabisch], hier: II/2, 1017. 9 Vgl. Die philosophischen Schriften von LEIBNIZ 1978(a), 607–623, bes. 609. 10 Vgl. BAUMGARTEN 1988, 4: „Ex nocte per auroram meridies.“ 11 Vgl. SCHLEIERMACHER 1983, 571: „Wenn wie Leibniz einst sagte in einer Kaffeetasse Monaden sind, welche einst als vernünftige Seelen existiren werden, so muss ihnen also das System der Vernunft schon angeboren seyn.“ [Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems (vermutlich 1793/94)]. 6 7
Vorschule der Ästhetik
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dann impliziert dies, dass Verbindlichkeit als „aggregatum substantiale“ 12 immer schon vorauszusetzen ist. Entsprechend reizt man im 18. Jahrhundert zur Wahrnehmung dieses Problembezuges qua Dichtung an. Jean Paul ist hier die historisch ausgezeichnete Transmissionsstelle bewährter Fragestellungen und Begriffsbildungen, die ihrerseits Verbindlichkeit im kulturellen Langzeitgedächtnis herstellen.13 Jean Paul reproduziert nicht lediglich Tradition, sondern klärt philosophische Systembildungen über ihre Hypothek gegenüber alten und verdrängten kulturellen Mustern auf. Die Vorschule der Ästhetik ist ein theoretisches Angebot, das sich der Erzeugung positiver Begriffsdifferenzen verweigert, weil sich Verbindlichkeit als prozessuales Phänomen14 dem philosophischen Prinzip definitorischer Ausgrenzung entzieht. Das meint auch der paradoxe Untertitel des Beitrages: Verbindlichkeit bildet offenkundig eine Herausforderung nicht nur für die philosophische Kognition,15 da sie selbst bei ihrer begrifflichen Beschreibung entweder immer schon als Terminologiekonstanz vorausgesetzt werden oder aber erst durch etwas hergestellt werden muss, was sich nur allmählich bildet. Es bietet sich darum an, Begriffsbildungen bei Jean Paul auf ihre theoretischen Voraussetzungen hin zu untersuchen und sie als Fragmentierungen philosophischer Verbindlichkeitskonzepte zu durchleuchten. Dann aber muss man allgemeinere Konzepte in zweifacher Hinsicht zu benutzen versuchen, nämlich jene, die sowohl dem allgemeinen Phänomen der Verbindlichkeit wie aber auch der historischen Spezifik der Vorschule der Ästhetik gerecht werden. Unter diesen prekären Umständen wird man gegenwärtig zunächst an Vorstellungen von Differenz und Wiederholung anschliessen können, 16 die graduell abgestufte Prozesse reflektieren, 17 sowie neuerdings ‚horizontale‘ Geschwisterdispositive beachten18 oder nach philologischen Repräsentationen der Jean Paulschen Idee einer Simultanliebe fragen, 19 um nicht zuletzt den politischen
12 Vgl. ebd., 571f.: „Von den schlafenden [Monaden] nemlich sind mehrere untereinander zu einem aggregatum substantiale vereinigt, von den wachenden ist immer eine mit dem aggregatum vereinigt. Man sieht aber leicht, 1.) dass die Vereinigung der schafenden kein absolutes individuum konstituirt (dies giebt Leibniz selbst zu) sondern nur ein scheinbares 2.) dass auch die Vereinigung der wachenden mit den schlafenden dies nicht bewirkt, denn einmal hören jene zusammen genommen durch diese Dazwischenkunft keinesweges auf ein bloss scheinbares Individuum zu seyn […].“ 13 Vgl. ASSMANN 2009. 14 Dieser Aspekt spricht freilich für das prozedurale Paradigma einer Diskursethik von HABERMAS 1994. 15 Vgl. LUHMANN 1969. 16 Vgl. dazu DELEUZE 1992. 17 Zur begriffsgeschichtlich fundierten Theorie gleitender Modellierungen vgl. KLEINSCHMIDT 2004. 18 Vgl. GERLACH 2012. 19 Vgl. PAULUS 2013.
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Impuls der französischen Revolution bei Jean Paul als gegenwärtigen Reichtum vergangener kultureller Alternativen herauszustellen. Man könnte sich ferner einer seit Luhmann bewährten Theorie der Gesellschaft bedienen, nicht nur „weil man als Soziologe alles machen kann, ohne auf einen bestimmten Themenbereich festgelegt zu sein“, 20 sondern weil diese Theorie wie Jean Paul die zentrale Prämisse der Vernunftaufklärung als Machbarkeitsgewissheit bezweifelt, ohne sich darum aber von Aufklärung als Lebensform loszusagen. Man könnte also mit der Systemtheorie und Jean Paul versuchen, mit Kant über Kant hinaus zu gelangen: was sind denn die Bedingungen der Möglichkeit philosophischer Verbindlichkeit, z.B. bei Kant selbst? Diese Frage führt nun aber nicht direkt auf die Gesellschaft zurück, sondern auf deren a-soziale Grundlagen, die der ‚späte‘ Luhmann in doppelsinniger Anwendung des Genitivs als Kunst der Gesellschaft21 mit nebenbei nicht wenigen Fussnoten zu Jean Paul auch anerkannte. Ich suche also eine gegenwärtige Theorie sozialer und philosophischer Verbindlichkeit auf dem (scheinbaren) Umweg über eine historische poetologische Theorie, die ich Jean Paul verdanke, d.h. auf Philosophie und Soziologie wird als Möglichkeiten starker Verbindlichkeitskonzepte zwar nicht verzichtet, sie werden jedoch als Erfindungen produktiver Einbildungskraft durch die Folgefrage historisiert: wie halten poetische Denkfiguren 22 auf je unterschiedliche Weise in philosophische und soziologische Texte (nicht nur über jene, die Verbindlichkeit thematisieren) Einzug?23 Mit dieser Frage möchte ich gegenüber der gegenwärtigen, gewiss nicht unberechtigten Betonung der Materialität und Medialität des Buchstabens dessen ‚Geist‘ behaupten.24 Den schwer zu operationalisierenden Begriff des Geistes fasse ich dabei als Spiel der vielfältigen Konstruktionsmöglichkeiten jener Begriffe ins Auge, die einige Philosophen für die Realität halten, doch „Begriffe beruhen nicht nur
Vgl. LUHMANN 1987, 241. Norbert Bolz hat für die Problematik des blinden Flecks solcher Unverbindlichkeit das treffende Bild von Ratten im Labyrinth gewählt: BOLZ 2012 21 LUHMANN 1995. 22 KLEINSCHMIDT 2011. Kleinschmidt konstatiert zu Recht, dass die „heutige kulturwissenschaftliche Konzeptionalisierung von Denkfiguren […] der Klärung ihrer Begrifflichkeit in systematischer wie historischer Hinsicht“ (78) bedarf. 23 Ich ziele damit weniger auf eine Metaphorologie im Sinne Blumenbergs mit ihren möglichen wissenschaftskritischen Implikationen als auf die Entdeckung des oft unfreiwillig produktiven Spiels mit Ambivalenzen in theoretischen Texten und ihrer ebenso wenig vollzogenen, wie immer jedoch möglichen Adaption als kulturelle Ambiguitätstoleranz. Vgl. zu einer positiven Würdigung von Ambivalenz in zwar anderem, jedoch ebenso weit gefassten Kontext LÜSCHER 2011, 373–393. 24 Vgl. dazu grundsätzlich und exemplarisch für eine ‚konkrete‘ Konstellation GREBER/EHRLICH/MÜLLER 2002. 20
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auf Gegenständen, sondern Begriffe konstituieren auch Gegenstände.“ 25 Solche Gegenstandskonstitution qua Begriffsgenerierung (=‚Geist‘) setzt Leistungen und Überschüsse produktiver Einbildungskraft voraus, die weder nur von der Philosophie noch auch nur von der Gesellschaft erbracht werden können – E.T.A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi leitet etwa die Rechtsbildung durch die Gesellschaft von poetologischen Grundlagen ab, deren Abwesenheit im sozialen Gefüge gerade die Bedingung der Möglichkeit von Macht ist.26 Vor allem aber macht sich diese Ausrichtung einer Analyse der poetologischen Grundlagen des Sozialen und Philosophischen zunutze, dass sie mit drei verschiedenartigen, aber integrierbaren Konzepten arbeitet, denen in diesem Beitrag je ein Teilkapitel zu dem sich selbst beschreibenden Verbindlichkeitsprozesses in der Vorschule der Ästhetik angeboten wird: (1) Intermedialitätstheorie, (2) Semiotik und (3) Systemtheorie.27 Weil es Verbindlichkeit nur als Sozio-Design und nicht als erzwungene Unmittelbarkeit geben kann, 28 ist der Diskurs über Verbindlichkeit bei einem avancierten Methodiker wie Jean Paul mit jenem philosophischen Unbehagen verbunden, das die von Hegel bestimmte Germanistik und insbesondere die ältere Jean-Paul-Forschung immer schon mit Misstrauen erfasste. Denn wollte man Jean Paul philosophiehistorisch verorten, was schwerlich gelingen kann, so wäre der Fluchtpunkt seiner Texte die radikale Absage an Hegel und die Dialektik.29 Verbindlichkeit, und darin folge ich Jean Paul, ist kein soziales oder philosophisches Phänomen, sondern eine Denkfigur, in der das Denken mit seinen Figuren an seine eigene Darstellungsgrenze geführt wird. Eben darum kann der Diskurs über Verbindlichkeit auch nicht durch nur einen Diskurs beschrieben oder gar vermittelt werden. Das Verbindliche ist definitionsgemäß eine poetische Leerstelle. Dieser Zusammenhang kann hier nicht als ganzer ausgearbeitet werden. Anhand der Vorschule der Ästhetik wird lediglich die Teilaufgabe (und auch diese nur ansatzweise) geklärt, was es besagen könnte, wenn man mit Jean Paul soziale und philosophische Verbindlichkeitskonzepte als Medien der Poetologie behandelt.
25
Vgl. BLUMENBERG 2007, 40. Vgl. BERGENGRUEN/EDER 2013, 344–348. Vgl. den in diesem sonst erleuchtenden Beitrag unerwähnten, nicht weniger erhellenden Artikel von LANDFESTER 2000. 27 Vgl. SINN 2013. 28 Vgl. BROCK/BROCK 1986. 29 Vgl. die ältere, in ihrer scharfsinnigen Analyse jedoch aktuelle Arbeit von GRAEVENITZ 1973. 26
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A. Verbindlichkeitsherstellung qua Intermedialität Die Intermedialitätstheorie 30 bietet als Grundlage einer Verbindlichkeitstheorie den Vorteil, die Möglichkeit, Verbindlichkeitskonzepte medienspezifisch zu differenzieren. Ihre Fragestellungen können nicht nur dazu dienen, einen Zugang zu Jean Paul zu eröffnen und einen Überblick über verschiedene Formen der Verbindlichkeitsherstellung zu klären, sondern allgemein besteht ihr Nutzen darin, Anregungen aus verschiedenen Theoriebereichen auszutauschen. Das ermöglicht es nicht zuletzt, eine oft zu beobachtende Überfrachtung eines sehr breiten Ästhetikbegriffes zu vermeiden, dessen Unbestimmtheit schon Jean Paul beklagte.31 Um einzuleiten, sind daher einige kursorische Bemerkungen zur Ästhetik erforderlich. In ihren aus der Mitte des 18. Jahrhunderts überlieferten Hauptbestandteilen ist die Ästhetik nach Alexander Gottlieb Baumgarten einerseits Theorie der sinnlichen Darstellung nach den Systemen der Rhetorik und andererseits Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis. 32 Während noch Mitte des 19. Jahrhunderts Ästhetik die rhetorischen Figuren als Mittel der sinnlichen Darstellung reflektiert,33 wird sie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts allerdings empirisch, d.h. experimentell begründet.34 So wichtig hier auch Gustav Fechners psychophysisches Prinzip der ästhetischen Schwelle ist, in seinem Bezugsrahmen blieb der erste Aspekt der aufklärerischen Ästhetik unterbelichtet, die Frage also, wie innere Bilder und Darstellungskonzepte durch Medien sichtbar gemacht und kommuniziert werden können, da zudem die Sprache „nur so wenig Ausdrücke für die endlose Mannichfaltigkeit unserer Seelenbewegungen hat.“35 Die bereits in Rhetorik und Ästhetik verhandelte Frage nach Medienspezifik und Intermedialität wurde als bloss psychologischer Tatbestand gesehen und Individuen, v.a. Künstlern zugerechnet, so dass man sie in einer Ästhetik als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis übergehen konnte. Diese Problembehandlung in Fechners Vorschule der Ästhetik führte nun jedoch gerade von dem weg, was Jean Paul in seiner Vorschule der Ästhetik noch
Es ist zwar schwierig, ‚die‘ Intermedialitätstheorie, nicht zuletzt im Durchgang durch die Kontingenz ihrer Darstellung im digitalen Meer in einer Definition einzufangen, aber diese Kontingenzen lassen sich nicht zuletzt historisch beschreiben. Grundlegend hierzu: SCHRÖTER 1998; PAECH/SCHRÖTER 2008. 31 I/11, 13. 32 Für Baumgarten ist der Übergang von der rhetorischen Theorie der „sinnlichen Darstellung“ zur „Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis“ noch methodisch leitend: BAUMGARTEN 1988, 2: „AESTHETICA (theoria liberalium artium, gnoseologia inferior, ars pulchre cogitandi, ars analogi rationis) est scientia cognitionis sensitivae.“ 33 Vgl. HEBENSTREIT 1843. 34 Vgl. FECHNER 1876. 35 Vgl. ENGEL 1971. 30
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als differenziertes Konzept im Sinne eines heuristischen Instrumentes zur Analyse der medienspezifischen Bedingungen von Rezeption behandelt hatte. Hierzu gehören u.a. die Verkörperung musikalischer durch optische Metaphern,36 der Rückgang auf intermediale Zitate im Text wie Johann Georg Hamanns Zitate, dessen Medienmix37 und das damit aufgerufene Denkpotential Jean Paul im positiven Sinne als unauflösbaren Nebelflecken38 auffasste. Aber auch Jean Pauls Applikation der drei genera dicendi der Rhetorik auf die Malerei, um hierdurch wiederum seine eigene Produktion zu reflektieren,39 nicht zuletzt der Zusammenhang von Phantasie und Exzerptenheften 40 weisen der Intermedialität seiner künstlerischen Begriffe eine zentrale Bedeutung zu. Das lässt sich über Jean Paul hinaus rational kommunizieren, wenn etwa gegenwärtig über den Zusammenhang von inneren Bildern und technischen Medien diskutiert wird. Freilich kommt diese Diskussion weniger der theoretischen Reflexionsleistung innerer Bilder zugute. Im Vordergrund steht derzeit vor allem die Materialität der Medien. Der Versuch, eine Theorie der poetologischen Grundlagen des Sozialen zu formulieren und sie mit Konzepten der Intermedialitätstheorie sowie mit rhetorischen und ästhetischen Aussagen über die Sichtbarmachung innerer Bilder und Darstellungskonzepte zu verknüpfen, zielt darauf ab, diesen Mangel einer einseitigen Fokussierung des Medienbegriffs in den Kulturwissenschaften zu beheben. Hier wäre vorerst zu fragen, ob Verbindlichkeit nur eine Begriffsvariante des (einseitigen) Medienbegriffs ist, oder ob sie eine begriffliche Leerstelle, vielleicht auch nur einen szientifischen Traum bezeichnet, jedoch zumindest intellektuelle Bereicherung verspricht. Solche Bereicherung kommt unter anderem zustande, wenn man fremde medienspezifische Selektionen auf das je eigene Darstellungsfeld des Wissens anwendet und damit erweitert. Dies lässt sich im Falle Jean Pauls besonders gut beobachten: Die grundlegende Aufgabe seiner Vorschule der Ästhetik ist es, die konstellative Ordnung der vielen Ästhetiken seiner Zeit nicht begrifflich, sondern durch eine konkrete intermediale Darstellungsformierung zu generieren, aber auch zu kommunizieren. Das impliziert die intertextuell komplexe Selektionsofferte der Vorschule der Ästhetik, die nach Du Fresne III. 495. und ferner nach Jos. Scal. lect. Auson. l. I. c. 15. war – wenn ich auf den Pancirollus de artib. perd. bauen darf, aus welchem ich beide Citata citiere
I/11, 179, 279 u.ö. Vgl. UTZ 1990, bes. 129–146. Vgl. zu Hamanns Zitationspraxis: BOHNENKAMP-RENKEN 1996; SINN 2004. 38 I, 11, 54. 39 I, 11, 236–240 u.ö. 40 Vgl. KLAPPERT 2009. 36 37
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(Anführungen anführe) – – […] ein Platz [war], welchen ein Vorhang von dem eigentlichen Hörsaale abschied, und wo der Vorschulmeister (Proscholus) die Zöglinge in Anstand, Anzug und Antritt für den verhangnen Lehrer zuschnitt und vorbereitete. 41
In diesem Vorhang aus korrumpierten Zitaten als Konstitutionsbedingungen auch des nachfolgenden Textes übernimmt Jean Pauls Text an dieser Stelle gleich zu Anfang die durch ihn doch selbst erst inszenierte Rolle eines Vorhanges und beschützt damit nicht nur sich selbst vor der möglichen Zurückweisung durch ein Publikum. Durch diese histrionische Darstellungsdynamik stellt der paratextuelle Kommentar zum eigenen Text Verbindlichkeit qua Intermedialität sicher. Jean Paul agiert jedoch noch auf anderen medialen Ebenen. Für seine Vorschule der Ästhetik zeichnet sich in Differenz zu Hegels Philosophie entscheidend ab, dass triclinium zunächst fachsprachlich in einen architektonischen Kontext (Tablinum, Atrium, Perystil) eingeführt wurde. Bei Jean Paul bildet das triclinium die Grundlage für die platonische 42 und neuplatonische 43 Aufladung des Begriffes. Das triclinium, – nicht nur in der wörtlichen Bedeutung von drei Ruhebetten, die um einen Tisch stehen –, diente als multivalentes Substrat für das Symposion, aber auch für hagiographische Darstellungen. Nicht zuletzt durch die Konnotation von triclinium als klösterlicher Saal zur Bewirtung von Pilgern gewinnt die Vorschule der Ästhetik theologische Spielmöglichkeiten. Anhand einer textimmanent hergestellten Intermedialität durch Bildungs- und Bilderzitate44 reflektiert sie zum einen ihre Medienspezifik, ersetzt zum anderen die Dialektiken der Zeit durch die Alternative gleichursprünglicher Operationsinstanzen des Geistes, durch einen Trialog, der im Kontext von ‚Darstellung‘ und ‚Aufmerksamkeit‘ um 1800 steht und dessen Zentralbegriff Besonnenheit 45 ist, eine auch physisch zu verstehende Selbstregulation:46 Der Mensch, in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum erstenmal frei würkend, hat Sprache erfunden. Denn was ist Reflexion? Was ist Sprache? Diese Besonnenheit ist ihm charakteristisch eigen und seiner Gattung wesentlich: so auch Sprache und eigne Erfindung der Sprache. 47
I/11, 7. PLATON 2004, 20, vgl. die christliche Adpation Lk 7,40–47; 14,1–24; Joh 13–17. 43 Vgl. JUNG 1994. 44 Zum kunsthistorischen Zugang zu den vom Text evozierten Bildvorstellungen und dem entsprechenden ‚wirklichen‘ Bild, vgl. CAST 1981. 45 I/11, 46–49. Vgl. GAIER 1988, 102: „Herder hat […] unter dem Namen ‚Besonnenheit‘ die transzendentale Synthesis der Apperzeption konstruiert, die in der Kantischen Erkenntnistheorie von 1781 die zentrale Rolle spielt, wie er mit der ‚Freiheit‘ die Idee der praktischen Vernunft konstruiert hat. […] Besonnenheit ist […] ein Begriff für die Bedingung der Möglichkeit des Erkennens.“ 46 Vgl. STEIGERWALD 2000, bes. 123. 47 HERDER 1877–1913, 34. 41 42
Vorschule der Ästhetik
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Für die theoretische Selbstregulation sind proscholium und triclinium die charakteristische Operatoren der Vorschule der Ästhetik, mit denen Jean Paul den modernen Vorschlag einer Ästhetik mit der antiken Poetik so vernetzt, dass sich den in seiner Vorschule ausgebildeten Zöglingen die vielen eigentlichen verhangnen Lehrer auf einem einzigen Lehrstuhle, nämlich dem ästhetischen, beisammen lehrend zeigten, ein Ast, ein Wagner, ein (A.) Müller, ein Krug, dazu Pölitz, Eberhard, hallische Revisoren und noch dreissig andere dazu. Denn bekanntlich ist der ästhetische Lehrstuhl ein Triklinium dreier Parteien (trium operationum mentis), nämlich der kritischen, der naturphilosophischen und der eklektischen.48
Über diese Vernetzung stellt sich eine Kopräsenz aller drei Ästhetiktheoreme des 18. Jahrhunderts (kritisch, naturphilosophisch, eklektisch) in einem historisierenden Horizont dar, in dessen Zentralperspektive die Einheit der allzu vielen Ästhetiken des 18. Jahrhunderts sichtbar wird. Die von Jean Paul wiederholte Einführung neuer Triaden (poetische Nihilisten49 (= Romantik = naturphilosophisch = Partei des Absoluten), poetische Materialisten50 (= Aufklärung = kritisch = Partei der Kritik), eklektisch) verweist auf ein Bedürfnis begrifflich veränderter Ausdifferenzierung und zielt auf einen Synkretismus, der sich nur qua intermedialer Konstitution von der dritten, eklektischen Partei unterscheidet. ‚Eklektische Partei’ ist dabei in gewisser Weise ein widersprüchlicher Ausdruck, denn Eklektiker sind einzelne Philosophen, denen im Gegensatz zur Kantischen Partei der Kritik und zur romantischen Partei des Absoluten, d.h. Fichte und Schelling, nie an Partei- und Schulenbildung gelegen war. Vielmehr besteht nach ihnen die grösste Gefahr in solcher Parteilichkeit. Auf den ersten Blick scheint dies zwar die Haltung zu sein, die Jean Paul am nächsten kommt, aber was Jean Paul betreibt ist kein Eklektizismus, der aus den unterschiedlichsten Quellen mittels des iudiciums das Richtige auswählte und zu einer vernünftigen Philosophia perennis vereinigt, sondern die Dissoziationen der Schrift zu Schrift-Stücken, die er promiscue nebeneinanderstellt.51
Die eklektische Partei bezeichnet vielmehr die Tradition empirischer Psychologie neben Romantik und Aufklärung. 52
I/11, 8. I/11, 22–25. 50 I/11, 25–31. 51 MÜLLER 1996, 78. 52 Vgl. z.B. die gleichsam diätetische Funktion eklektizistischer Lektüre bei MORITZ 1980, 20f. 48 49
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Synkretismus weckt nicht unbedingt positive Voreinstellungen. 53 Durch ihn kann aber am besten die verbindlichkeitsstiftende Funktion der Vorschule der Ästhetik bezeichnet werden: Im Unterschied zu einem Eklektizismus, der wahllos Meinungen verstreut, und einem Pyrrhonismus, der beabsichtigt ein Gleichgewicht von Meinungen zwecks Urteilsenthaltung produziert, soll unter einem synkretistischen Text ein intermedialer Code verstanden werden, der die Trennung und Verknüpfung von Begriff und Bildvorstellung steuert. Damit wird zwar die bisherige Begrifflichkeit von der Philosophie in eine mobile Relation zu artistischen Verfahren des Manierismus gebracht, 54 aber es ist eben dieser gleitende Übergang, den Jean Paul konsequent zu Ende denkt. Intermedialität übernimmt hier die Funktion einer Vermittlung und bestimmt den Zusammenhang zwischen beiden Seiten im bezeichnenden Bild vom Vexiermuster als Paradigma von Begriffsgenesen: In der Tat durfte ein Mann wie der Proscholus wohl eines bessern Empfangs (§ 7) von dem Dreifusse der ästhetischen Dreiuneinigkeit gewärtig sein, wenn er sich lebhaft dachte, mit welchem Fleisse er seine Vorschule gerade nach den verschiedenen Anleitungen, welche ihm teils die Kritischen und die Absoluten, teils die Eklektischen zureichten, auszuarbeiten und auszubauen getrachtet, insofern er nämlich anders […] seine Lehrer darin genugsam verstanden, dass er teilweise ihre Anleitungen als die bekannten Vexier-Muster benutzte und befolgte, welche schon längst gute Schulmänner ihren Schülern als absichtliche Verrenkungen zum übenden Graderichten vorlegten.“ 55
Der synkretistische Text ist also nicht beliebig und wertneutral. Ihm geht es jedoch primär um Verbindlichkeitsherstellung qua Erziehung selbsttätiger Subjekte, die nicht indoktriniert werden, gleichwohl etwas lernen sollen. Das ist ein pädagogisches Unternehmen, das wie jede Pädagogik aporetisch bleibt. Es ist daher nicht nur Ironie, sondern auch Selbstironie, wenn Jean Paul in diesem Zitat den von ihm verarbeiteten Ästhetiken unterstellt, sie hätten ebensolche pädagogischen Ambitionen gehabt wie er selbst. Verbindlichkeit heisst in diesem Kontext genau genommen: Vexieren des Denkens unter intermedialen Bedingungen, weil Verbindlichkeit eine Leistung lernender, selbsttätiger Subjekte ist und man zur Motivation dieser Lernleistung ästhetische Strategien benötigt, die jedoch ganz unterschiedlichen Philosophien dienen können. Jean Paul selbst hat dies so formuliert: „Ästhetische Eklektiker sind in dem Grade gut, in welchem philosophische schlecht sind.“56 Er wehrt sich also wie jeder strenge Philosoph gegen die Vermischung von 53 Vgl. dagegen BRAUNGART 2000, 307–322. Ich weiche von Braungart hinsichtlich der Gleichsetzung von Synkretismus und Eklektizismus ab, halte aber das von ihm zu Recht diagnostizierte Moment der Selbstbehauptung für wesentlich, wenngleich mehr unter dem Begriff ‚Manierismus‘ (vgl. u. FN 54). 54 Vgl. ZYMNER 1995. 55 I/11, 9. 56 I/11, 6.
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ästhetischen Strategien mit philosophischen Geltungsansprüchen. Jean Paul summiert deshalb auch nicht wie Montaigne Zitationen, um Verbindlichkeit zu insinuieren, er verwendet vielmehr wie Herder57 Zitate und Bilder nur als performativen Einstieg und Anreiz für die Entwicklung von Argumenten: Man kann eigentlich nichts real definieren als eine Definition selber; und eine falsche würde in diesem Falle so viel vom Gegenstande als eine wahre lehren. Das Wesen der dichterischen Darstellung ist wie alles Leben nur durch eine zweite darzustellen; mit Farben kann man nicht das Licht abmalen, das sie selber erst entstehen lässet.58
B. Semiologie der Wissenschaft Die visuelle Metaphorik von Farben und Licht unterschlägt den zeichentheoretischen Kontext, den Jean Paul in seiner Vorschule der Ästhetik herausarbeitet und der sich neben der Ästhetik Baumgartens 59 vor allem Leibniz’ Philosophie verdankt.60 Jean Paul war vollkommen klar, dass sich komplexe Erkenntnis nur symbolisch rational einlösen lässt 61 und deshalb bleibt der bildliche Vergleich der Definitionskritik ambivalent: Auch Bilder können nicht das abmalen, was sie selbst erst entstehen lässt. 62 Mit Jean Pauls Bild sind also nicht nur wissenschaftliche und methodische Probleme bezeichnet. Vielmehr handelt es sich primär um eine poetologische Frage: Die Poetologie muss, weil sie sich in ihren Supplementierungen nicht erfassen kann, bildliche Vergleiche entwickeln, die dann selbst zum poetischen Faktor werden.63 Dieser Zwang zur Supplementierung liegt aber auch den Postulaten von Philosophie und Wissenschaft zugrunde, wenn diese eine Ganzheit durch ihre Teile rekonstruieren. Denn die per Konstruktion erhaltenen Segmente dürfen nicht als reale Bestand-Teile eines Ganzen ausgegeben und Bilder und Modelle (‚Farben‘) von Wirklichkeit mit dieser (‚Licht‘) gleichsetzt werden und eben dies muss nicht zuletzt durch neue Bilder kommuniziert werden.64 Diese Möglichkeit nimmt Jean Paul in seinen satirischen, philosophi-
Vgl. dazu GAIER 1990, 155–165. I/11, 21. 59 Vgl. SIMON 2013. 60 MEIER 2013. 61 Vgl. LEIBNIZ 1978(b), 422–426, bes. 423. 62 Vgl. zu den paradoxalen Anstrengungen der Malerei, dieses Problem gleichwohl in den (Be-)Griff zu bekommen: KONERSMANN 1997. 63 Vgl. BENN 1951, 14: Artistik ist der Versuch der Kunst, innerhalb des allgemeinen Verfalls der Inhalte sich selber als Inhalt zu erleben und aus diesem Erlebnis einen neuen Stil zu bilden. 64 Vgl. BREIDBACH 2005. 57 58
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schen und theoretischen Schriften wahr. Und auch hier kommt es zu einer Umkehr: Auch Begriffe können das nicht konstituieren, was sie selbst erst entstehen lässt. Die Supplementierungen in Dichtung, Philosophie und Wissenschaften sind daher allesamt funktionale Äquivalente für die Messung der unmessbaren Qualität der Unbegrifflichkeit,65 semiotisch gesehen durch das Faktum der universalen semiosis reflektierbar: Da die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem relationslogisch notwendig dreistufig ist,66 kann jedes Bezeichnete zu einem Zeichen für ein neues Bezeichnetes werden. Während die Fortschreibung der semiosis zentrales movens der Dichtung ist, versuchen sie Philosophie und Wissenschaften im Bewusstsein eigener Begrenzung zu fixieren, während im Alltag solche Fortschreibung nicht nur unnötig, sondern jeder Ansatz dazu als problematisch gilt. Da das Soziale im Sinne der Systemtheorie nicht zur Erkenntnis seiner Möglichkeitsbedingung kommen kann, ja darf, hat dies zur Folge, dass Dichtung dort, wo es ihr als Poetologie des Sozialen gelänge, diese falsche Annahme über Zeichenbildung zu zerstören, zugleich die soziale Wirklichkeit veränderte. Dies ist jedoch wiederum systemtheoretisch gesehen eher unwahrscheinlich. Vielmehr entwickelt sich Literatur zu einem eigenen System, das von den anderen Bereichen der Gesellschaft getrennt operiert. Und dies gilt auch dort, wo Dichtung als Semiologie die Wissenschaften auf den Grund und die Grenze ihrer Begriffe verweist. Darin eben wurzeln die eingangs genannten Schwierigkeiten mit der Vorschule der Ästhetik. Der Unterschied zwischen Dichtung und Wissenschaft wird deutlich in der Differenz Jean Pauls zu Lichtenberg, den Jean Paul von der philosophischen Intention her gesehen ausgesprochen schätzt, jedoch tragen dessen vier glänzende Paradieses-Flüsse von Witz, Ironie, Laune und Scharfsinn immer ein schweres Registerschiff prosaischer Ladung, so dass seine herrlichen komischen Kräfte, welche schon allein ihn zu einem kubierten Pope verklären, (so wie seine übrigen) nur von der Wissenschaft und dem Menschen ihren Brennpunkt erhalten, nicht vom poetischen Geist.67
Während der ‚prosaische Geist’ der Wissenschaften Selektionsmöglichkeiten einschränkt und unter diesem Aspekt ‚schwer‘ wird, setzt der poetische Geist keinen konditionierten Prozess der Kommunikation voraus, sondern eröffnet neue Selektionsmöglichkeiten.
65
Vgl. TODOROW/LANDFESTER/SINN 2004. Charles S. Peirce an Lady Welby am 2.12.1904: „Es geht darum, dass Triaden offensichtlich nicht so [wie Bertrand Russell meint] reduziert werden können, da gerade die Relation eines Ganzen zu zwei Teilen eine triadische Relation ist.“ Zitiert nach: PEIRCE 2000, 35. Vgl. Bd. III, 468–473: Vorbereitende Notizen zu einer Kritik an Bertrand Russels Principles of Mathematics (1912). 67 I/11, 130–131. 66
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Auch im Falle der Verbindlichkeit im Denken, den der unscharfe Begriff des poetischen Geistes verbürgt, interessiert primär diese Eröffnung von Möglichkeiten. Der poetische Geist bezeichnet das regelerzeugende Prinzip möglicher Diskurse, das kombinatorische Organisationsprinzip der semiosis. Dieser Vorschlag rechtfertigt sich durch die Bemerkungen Jean Pauls zu Witz, Scharfsinn und Tiefsinn in Paragraph 43,68 dessen philosophische Basis durch Christian Wolff bestimmt ist.69 Diese Tradition des ‚Witzes‘ wird von Jean Paul in selbst witziger Form gedacht. Das erzeugt zwar die Gefahr, dass die definitorische Klarheit des Paragraphen zugunsten eines rhetorischen Gleitens verdunkelt wird, das in fast eristisch zu nennender Intensivierung von der inventio über die dispositio zu einer entrationalisierten elocutio übergeht, die im Lob des Tiefsinns gipfelt: „Doch ist der Tiefsinn mehr der Sinn des ganzen Menschen als einer abgeteilten Kraft.“70 Es ist jedoch das begriffliche Spiel von Distinktionen, d.h. des Scharfsinns, das hierdurch an seine eigene Grenze geführt wird. Auf der einen Seite findet so eine Desemantisierung der eigenen Begrifflichkeit statt, – „wie ins höchste Wissen der Scharfsinn“, so muss sich der Tiefsinn „ins höchste Sein verlieren“.71 Auf der anderen Seite wird die nach Wolff scheinbar gläubig zitierte Distinktion von Witz (Anschauung), Scharfsinn (Begriff) und Tiefsinn (Vernunft) als Verzerrung einer Kompetenz, des Scharfsinns, wiederum auf einer dritten logischen Stufe scharfsinnig analysiert: Der Scharfsinn als „Witz der zweiten Potenz“72 droht sich durch seine selbstgegebene Distinktionsleistung zu verabsolutieren. Unter seiner Perspektive wird der Tiefsinn nur als abgeteilte Kraft deutlich. In scharfsinniger Form führt Jean Paul so den Scharfsinn, d.h. Philosophie und Wissenschaften, an seine eigenen Grenzen. Verbindlichkeit im Denken wird bei Jean Paul im Rückgriff durch ein semiotisches Spiel begrifflicher Selbstanwendung hergestellt, das sich den Traditionen der Rhetorik und der deutschen Schulphilosophie verdankt und das ein Erkennen von begrifflichen Metamorphosen durch Vexier-Muster73 schulen soll. Und diese Selbstanwendung gründet im Wissen von der Entwicklung der Sprache, ein Wissen, das gegenüber Kant, noch mehr aber gegenüber Fichte eine Logik des Unbewussten motiviert, in der der Satz von der Widerspruchsfreiheit nicht mehr gilt, jedoch die performativen und diskursethischen Bedingungen von Argumentationen reflektiert und präsentiert werden. 74
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I/11, 157–159. Vgl. WUNDT 1945. 70 I/11, 158. 71 I/11, 159. 72 I/11, 158 73 I/11, 9, vgl. die im Titan an Albano überreichten Vexierbilder. 74 Vgl. in anderem Kontext BEGANDE 2007. 69
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Was bisher von den Begriffen gesagt wurde, gilt auch von den Bildern als Zeichen: Ihre Fülle, copia, ist grösser als die Zahl, numerus.75 Sie heben sich dort vor allem heraus, wo es jenseits formaler Herstellung von Verbindlichkeit qua rekursiver Formen um die inhaltliche Verständigung angesichts eher unwahrscheinlicher Kommunikation geht. Der soziokulturelle Reichtum an Bildern lässt sich nicht zählen, weil sich diese Bilder gegenseitig kommentieren und immer neue Bezüge stiften. In ihrer unendlichen semiosis konstituiert poetische Bildlichkeit erst jene Gegenstände, auf denen die wissenschaftlichen Begriffe beruhen. Das ist Jean Pauls der Emblematik entnommene These, die das geometrische Methodenideal des 17. Jahrhunderts wie die Systemphilosophie des 18. Jahrhunderts in ihrem zentralen Nerv trifft:76 Verbindlichkeit ist nicht durch Begriffe deduzierbar, allenfalls durch rekursive Verfahren überprüfbar, bevor nicht Prüfkriterien in Funktion treten, die aufgrund einer gemeinsam geteilten Erfahrung und Sprache reguliert werden. Der Weg zurück zur sozialen Einbildungskraft als Grundlage gemeinsamen Handelns 77 geht auch bei Jean Paul über herkömmliche Begriffe und ihre Systemdifferenzen. Das soll im letzten Teilkapitel abschliessend noch kurz skizziert werden.
C. ‚Natur‘ als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium Jean Pauls Weg zurück zur sozialen Einbildungskraft liegt die Behauptung zugrunde, dass auch ‚Natur’ als ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium unter dem Aspekt verstanden werden kann, dass erst auf ihrer Grundlage zuverlässige Erwartungen, d.h. Verbindlichkeiten institutionalisiert werden können. Je mehr die ewig Neues schaffende natura naturans bis in das begriffliche Vermögen des Menschen, aber auch seine sozialen Verhältnisse reicht, desto weniger kann ein kulturelles Interesse an Systemstabilisierung unterstellt werden. Deutlicher formuliert: die natura naturans artikuliert sich als Revolution im Sozialen und als Herstellung neuer ästhetischer Formen im Begrifflichen. So besteht die Vollkommenheit von Baumgartens oratio sensitiva perfecta78 darin, dass sie in der Anwendung aller Operationen auf sich selbst
OVID, Fasti V, Z. 213f.: „saepe ego digestos volui numerare colores, nec potui: numero copia maior erat.“ 76 Vgl. zu Hobbes’ Anstrengung, die geometrische Methode auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften fruchtbar zu machen: KERSTING 2000, Sp. 1797/8. 77 Vgl. BORNSCHEUER 1976. 78 BAUMGARTEN 1983, 10. 75
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das Prinzip der natura naturans simuliert. Winckelmann nimmt diesen Gedanken unter dem Begriff der „Regel“ und der „Hieroglyphe“ auf.79 Lessing akzentuiert demgegenüber das Einheitsprinzip der natura naturans als „innere Wahrscheinlichkeit“, die seine kontingent scheinenden Begriffe der „Wirkung“ und des „ästhetischen Mitleids“ systematisch notwendig ableiten kann. 80 Herder schließlich kehrt in seinem ersten Kritischen Wäldchen zu Baumgarten zurück, allerdings erweitert durch die von Winckelmann und Lessing geführte medientheoretische Debatte: „Energie ist das oberste Gesetz der Dichtkunst: sie malet also nie Werkmäßig.“ 81 Dieses Gesetz wird wie bei Baumgarten, Winckelmann und Lessing aus dem allgemeinen Faktum der natura naturans abgeleitet: „Das Wesen der Poesie ist Kraft, die aus dem Raum (Gegenstände, die sie sinnlich macht) [ergänze: Winckelmann, Extension] in der Zeit (durch eine Folge vieler Theile zu Einem Poetischen Ganzen) [ergänze: Lessing, Intension] wirkt: kurz also sinnlich vollkommene Rede.“ 82 Herders wirkungsmächtige Definition von Poesie als Kraft im Medium der Empfindung wird bei Jean Paul zum Medium der Erfindung. Der Zusammenhang von Natur und Verbindlichkeit wird hier nicht mehr als propositionales Argument formuliert, sondern performativ vollzogen: Wenn nämlich der Geist sich ganz frei gemacht hat […] wenn eine Gemeinschaft der Ideen herrscht wie der Weiber in Platons Republik und alle sich zeugend verbinden – wenn zwar ein Chaos da ist, aber darüber ein heiliger Geist, welcher schwebt, oder zuvor ein infusorisches, welches aber in der Nähe sehr gut gebildet ist und sich selber gut fortbildet und fortzeugt – wenn in dieser allgemeinen Auflösung […] alles sich untereinandermischt, um etwas Neues zu gestalten – wenn dieser Dithyrambus des Witzes […] den Menschen mehr mit Licht als mit Gestalten füllt: dann ist ihm durch die allgemeine Gleichheit und Freiheit der Weg zur dichterischen und zur philosophischen Freiheit und Erfindung aufgetan, und seine Findkunst (Heuristik) wird jetzo nur durch ein schöneres Ziel bestimmt. 83
Jean Paul spricht hier nicht nur über den Dithyrambus des Witzes, sondern inszeniert ihn, weil es sich um sein zentrales wie paradoxales Argument handelt, dass hohe Kontingenz, d.h. ‚Natur‘ zugelassen werden muss, wenn das erreichte kulturelle Entwicklungsniveau gehalten werden soll. Diese Vorstellung legitimiert sich einerseits durch den Vergleich der Gemeinschaft der Ideen mit der Gemeinschaft der ‚Weiber‘ in Platos Republik, andererseits durch Christian
WINCKELMANN 1995, 72, 101f. LESSING 1996, 317, vgl. auch 677. 81 HERDER 1877–1913, 3, 4. 82 Ebd. 137. 83 I/11, 187. 79 80
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Wolff und seinen Begriff eines connubiums von Sinnlichkeit und Verstand zurück, die durch die Einbildungskraft geradezu kopuliert werden.84 Ebenso findet sich bei, allerdings auch schon vor Wolff die dynamisierende Sicht von Natur als kombinatorisches Spiel, das über seine Anfangsbedingungen hinaus eine in ihr selbst angelegte Vollkommenheit erfüllt.85 Die wesentliche philosophische Funktion des Dithyrambus des Witzes dient der Herstellung von Anfangsbedingungen in einem System zur Bildung neuer Erkenntnis. Die Elemente der Natur lösen sich nicht nur auf, um etwas Neues zu gestalten, sie können auch methodisch aufgelöst werden, damit man etwas Neues herstellen oder erkennen kann wie bei einer chemischen Analyse. Hier führt der Weg wieder zu Lichtenberg zurück: Wie viel Ideen schweben nicht zerstreut in meinem Kopf, wovon manches Paar, wenn sie zusammen kämen, die grösste Entdeckung bewirken könnte. Aber sie liegen so getrennt, wie der Goslarische Schwefel vom Ostindischen Salpeter und dem Staube in den Kohlenmeilern auf dem Eichsfelde, welche zusammen Schiesspulver machen würden. Wie lange haben nicht die Ingredienzen des Schiesspulvers existiert vor dem Schiesspulver! Ein natürliches aqua regis gibt es nicht. Wenn wir beim Nachdenken uns den natürlichen Fügungen der Verstandesformen und der Vernunft überlassen, so kleben die Begriffe oft zu sehr an andern, dass sie sich nicht mit denen vereinigen können, denen sie eigentlich zugehören. Wenn es doch da etwas gäbe, wie in der Chemie Auflösung, wo die einzelnen Teile leicht suspendiert schwimmen und daher jedem Zuge folgen können. Da aber dieses nicht angeht, so muss man die Dinge vorsätzlich zusammen bringen.86
Die Verbindlichkeit der Ideen als ihre Verbindung untereinander wird auch hier erst im Paradox ihrer Auflösung möglich. Die Dichtung und mit ihr der ‚poetische Geist‘ verfährt reziprok zur chemischen Analyse Lichtenbergs. Sie führt das begrifflich Getrennte zu einer neuen Einheit zurück. Sie bewerkstelligt dies durch eine neue Sprache, die möglichst viele Sprach- und Handlungsmöglichkeiten im Text für möglichst viele Subjekte herstellt. Im Unterschied zur wissenschaftlichen Analyse muss sich die Dichtung durch die in ihrem Gegenstand selbst liegenden Regeln der Verbindung von Besonderem und Allgemeinen irritieren lassen, d.h. sie muss im Gegensatz zu den allgemeinen Begriffen der Wissenschaft mit singulären Darstellungskomplexitäten arbeiten. Sie geht also in Lichtenbergs Worten, aber in Gegensatz zu ihm von einer natürlichen, nicht etwa künstlich hergestellten aqua regis aus, und bringt die Dinge nicht vorsätzlich zusammen, sondern folgt in ihren Klarträumen natürlichen Bildern der Verbindlichkeit:
Vgl. BUCHENAU 2008. Literarisch produktiver Beleg ist die Widmungsvorrede zu Sophonisbe: LOHENSTEIN 1957, 245–248. 86 LICHTENBERG 1968, 453ff. 84 85
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Wenn der Nihilist das Besondere in das Allgemeine durchsichtig zerlässet – und der Materialist das Allgemeine in das Besondere versteinert und verknöchert –: so muss die lebendige Poesie eine solche Vereinigung beider verstehen und erreichen, dass jedes Individuum sich in ihr wiederfindet, und folglich, da Individuen sich einander ausschliessen, jedes nur sein Besonderes in einem Allgemeinen, kurz, dass sie dem Monde ähnlich wird, welcher nachts dem einen Wanderer im Walde von Gipfel zu Gipfel nach folgt, zu gleicher Zeit auch einem andern von Welle zu Welle, und so jedem, indes er bloss seinen grossen Bogen-Gang am Himmel zieht, aber doch am Ende wirklich um die Erde und um die Wanderer auch.87
Natur als symbolisch generalisierter Code dient als Grundlage der verbindlichen Bildung von Erwartungen. Sie ist die Voraussetzung für Jean Pauls Poetik als eines selbst generalisierenden Mediums, das eine allgemeine Problemkonstellation reflektiert: wie nämlich genau die Herstellung einer zweiten Welt „in der hiesigen“88 funktioniert. Im generalisierten Natur-Code liegen ferner die Ansatzpunkte für Progressionen in der kulturellen Evolution. Unter diesen Aspekten ist ‚Natur‘ von kulturtheoretischem Interesse. Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass Systemtheorien mit vereinfachten Konzepten von ‚Natur‘ im Sinne von ‚System/Umwelt‘-Differenzen arbeiten können. Im Rahmen derart verengter Prämissen wird man jedoch kein Urteil über die kulturelle Tragweite von Natur als Verbindlichkeit gewinnen können, wie sie Jean Paul in den Paragraphen 6-15 entwickelt: Die erste Stufe Einbildungskraft (Paragraph 6) bezeichnet den Beginn jeglicher Erkenntnis als Ähnlichkeitsrelation zwischen zwei Elementen. In der faktischen Wissensbildung ist diese Relation wesentlich durch die memoria als Retention vermittelt. Diese nicht auf den Menschen beschränkte Fähigkeit zur wortwörtlichen Wieder-holung der Dinge bezeichnet Jean Paul als ‚Einbildungskraft‘, als Abschattung der wesentlichen zweiten Stufe der Phantasie. Auch diese ist nach Jean Paul nicht auf den Menschen beschränkt, wenngleich sie vor allem durch ihn repräsentiert wird. Die Phantasie bezeichnet die grundlegende Operation der Totalisierung: Die Phantasie macht alle Teile zu Ganzen – statt dass die übrigen Kräfte und die Erfahrung aus dem Naturbuche nur Blätter reissen – und alle Weltteile zu Welten, sie totalisieret alles, auch das unendliche All; daher tritt in ihr Reich der poetische Optimismus, die Schönheit der Gestalten, die es bewohnen, und die Freiheit, womit in ihrem Äther die Wesen wie Sonnen gehen. 89
Der Erkenntnisprozess besteht bei der Phantasie nicht mehr in der Retention von Objektmerkmalen oder in der wiederholenden Vergegenwärtigung durch die Einbildungskraft, sondern in der selbständig konstruierten Totalisierung
I/11, 137. I/11, 22. 89 I/11, 38. 87 88
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des Vergangenen. 90 Auch wenn sich die Phantasie auf ihrer untersten Stufe das Vergangene nicht selbst gegeben hat und nur dessen Teile zu einem neuen Ganzen kombiniert, ist der Unterschied zur Einbildungskraft deutlich vermindert: Da es aber kein blosses Empfangen ohne Erzeugen oder Erschaffen gibt; da jeder die poetische Schönheit nur chemisch und in Teilen bekommt, die er organisch zu einem Ganzen bilden muss, um sie anzuschauen: so hat jeder, der einmal sagte: das ist schön, wenn er auch im Gegenstande irrte, die phantastische Bildungkraft. 91
Das aktivierende, platonische Modell in der Rezeption des Schönen scheint hier als selbständige Konstruktionsleistung auf. Entsprechend wird diese auch als Kritik abstrakter wie objektiver Textkriterien verstanden. Das Schöne muss vielmehr in jeder Rezeption neu gebildet werden, d.h. aber auch, dass es den nun nachfolgenden ‚Stufen‘ zugrunde liegt und gegenüber diesen wiederum in Erinnerung gebracht werden kann. 92 So kommt der als dritten Stufe mit ‚Talent’ bezeichneten analytischen Kompetenz einerseits mehr Freiheit und Kreativität als der rezeptiven Erkenntnis einer Ganzheit zu. Andererseits geht damit der Blick auf die Ganzheit verloren. Das aber bedeutet dann für den weiteren wissenschaftlichen Zugriff auf die Vorschule der Ästhetik, dass von ihr kein begrifflich aufgespaltener, sondern ganzheitlicher Analysezugriff erfordert wäre. Jean Pauls Ansatz regt dazu an, das analytische Vermögen anders zu denken: Es wird nicht etwa negiert, sondern erweitert. Von ihm wird verlangt, dass es nicht nur methodisch, d.h. notwendig einseitig verfährt, sondern sich in komplexen Gefügen gleichwohl bewegen kann. Die Vorschule der Ästhetik ist keine Künstlerpoetik, sondern eine Schule der Agilität des Geistes, deren Zugriffsproblem eben dann auch darin besteht, dass sie sich in einer unaufhörlichen begrifflichen Modifikation befindet. Jean Paul hat ein Gespür für die in sich gespannte Konstellation des analytischen Vermögens zwischen methodischer Konsequenz und Orientierung im Ungewissen und wendet sie wissenschaftskritisch, aber nicht etwa wissenschaftsnegierend an, wenn er die herkömmlichen Definitionen und Begriffe als „chemische Befundzettel organischer Leichen“ 93 fasst und erst dem ‚Genie‘ höhere Kraft zuspricht. Jedoch setzt das eine das andere voraus, d.h. so wie das wissenschaftliche ‚Talent‘ die Kreation des Schönen voraussetzt, so kann es kein ‚Genie‘ ohne die Voraussetzung der Wissenschaften geben. 94 Die Mobilisierung durch Einbildungskraft eröffnet den systematischen Zugriff auf alle 90 Aufgrund dieser Leistung der Phantasie können die Romantiker zu „Revolutionäre[n] des Gedächtnisses“ werden: ASSMANN 1993, 359–382. Vgl. zu diesem Aspekt: SINN 2012, 149–162. 91 I/11, 39. 92 Vgl. JAUSS 1969. 93 I/11, 42. 94 Vgl. gegenüber den unzähligen, z.T. hochproblematischen Beiträgen zur Theorie des Genies im 18. Jahrhundert Lessings Abhandlung Von einem besondern Nutzen der Fabeln
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menschlichen Kompetenzen, die unter einer agilen ‚Gymnastik‘ des Geistes stehen. Diese Mobilität gilt auch für die vorliegende Skizze zu einem Entwurf zu einer Poetologie des Sozialen, die freilich die Konstitutionsbedingungen von Jean Pauls Vorschule der Ästhetik noch nicht recht in den Begriff bekommen konnte. Denn einerseits fokussiert nicht nur in einem systematischen, sondern historisierenden Sinn Jean Pauls Text traditionelle Regeln wie den dreifachen periodus, Herders siebenstufiges Verfahren, die neuplatonische Denkform von mone, proodos epistrophe und ebenso von memoria, voluntas, intellectus, die rhetorische Systematik, das Wolffsche Prinzip der Selbstanwendung, die Figuren des logos, aber auch Anamorphosen etc. in einem geradezu technizistischen Sinn. Unter diesem Aspekt bedeutet Verbindlichkeit einen gut operationalisierbaren Algorithmus, Regelrekursion, und die Vorschule der Ästhetik deckt tatsächlich auch Aspekte einer Regelpoetik ab, die der eingangs entwickelten Traumlogik radikal widerspricht. Andererseits kann man wie schon bei der ersten deutschen Poetik bei Opitz feststellen, dass gerade der platonische und neuplatonische Diskurs auf Verbindlichkeit qua einer nur göttlich zu verstehenden und von Gott selbst geschenkten Liebe zielt, auf etwas also, was sich durch Regelrekursion nicht erzwingen, durch das sich aber das analytische Vermögen schulen lässt: weil die liebe gleichsam der wetzstein ist an dem sie [die Poeten] jhren subtilen Verstand scherffen / vnd niemals mehr sinnreiche gedancken und einfaelle haben / als wann sie von jhrer Buhlschafften Himlischen schoene / jugend / freundligkeit / haß vnd gunst reden.95
in den Schulen (Berlin 1759), in LESSING 1996, 416: „Den Nutzen, den ich itzt mehr berühren als umständlich erörtern will, würde man den heuristischen Nutzen der Fabeln nennen können. – Warum fehlt es in allen Wissenschaften und Künsten so sehr an Erfindern und selbstdenkenden Köpfen? Diese Frage wird am besten durch eine andre Frage beantwortet: Warum werden wir nicht besser erzogen? Gott gibt uns die Seele; aber das Genie müssen wir durch die Erziehung bekommen. Ein Knabe, dessen gesamte Seelenkräfte man, so viel als möglich, beständig in einerlei Verhältnissen ausbildet und erweitert; den man angewöhnet, alles, was er täglich zu seinem kleinen Wissen hinzulernt, mit dem, was er gestern bereits wußte, in der Geschwindigkeit zu vergleichen, und Acht zu haben, ob er durch diese Vergleichung nicht von selbst auf Dinge kömmt, die ihm noch nicht gesagt worden; den man beständig aus einer Scienz in die andere hinüber sehen läßt; den man lehret sich eben so leicht von dem Besondern zu dem Allgemeinen zu erheben, als von dem Allgemeinen zu dem Besondern sich wieder herab zu lassen: Der Knabe wird ein Genie werden, oder man kann nichts in der Welt werden.“ 95 OPITZ 1991, 19.
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Systemtheoretisch könnte man theologisch wie erotisch weniger belastend und belastet und doch vielleicht sogar gerade im Sinne von Glauben und Liebe sagen: Unverbindlichkeit bewahrt die Option für Verbindlichkeit und hält sie offen.
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Autorenverzeichnis Dr. Oliver Bach Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt "Natur in politischen Ordnungsentwürfen: Antike - Mittelalter - Frühe Neuzeit" an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dr. Simon Bunke Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Leiter der Emmy-Noether-Gruppe Aufrichtigkeit in der Goethezeit an der Universität Paderborn. Kevin M. Dear Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Praktische Philosophie der Universität Paderborn. PD Dr. Georg Eckert Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Geschichte der Frühen Neuzeit am Historischen Seminar der Bergischen Universität Wuppertal. PD Dr. Dieter Hüning Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Philosophie der Universität Trier und Leiter des Ebbinghaus-Archivs an der Universität Trier. Prof. Dr. Bernhard Jakl Professor am Institut für Zivil- und Wirtschaftsrecht an der Goethe Universität Frankfurt am Main. PD Dr. Till Kinzel Lehrbeauftragter im Bereich Englischer und Amerikanischer Literatur- und Kulturwissenschaft an der TU Braunschweig. Hauke Kuhlmann M.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Neuere deutsche Literatur an der Universität Bremen. Dr. des. Katerina Mihaylova Lehrbeauftragte im Bereich Geschichte der Philosophie der Neuzeit an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Carolin Pecho M.A. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Geschichte der Frühen Neuzeit der Universität Paderborn.
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Autorenverzeichnis
Dr. Daniela Ringkamp Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für praktische Philosophie der Otto-vonGuericke-Universität Magdeburg. Prof. Dr. Christian Sinn Professor und Leiter des Bereichs Sprachen und Literatur an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. Prof. Dr. Michael Städtler Vertretender Professor am Philosophischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Dr. Stephan Zimmermann Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für theoretische Philosophie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Prof. Dr. Günter Zöller Professor für Philosophie insbesondere Geschichte der Philosophie der Neuzeit an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Personenregister Achenwall, Gottfried 75, 110 Aristoteles…84, 100, 183, 228, 230 Baumgarten, Alexander Gottlieb 54, 278, 282, 287, 290, 291 Bode, Johann Joachim Christoph 191 Burke, Edmund 238, 243–246 Cicero, Marcus Tullius 1, 4, 5, 6, 59, 60, 61, 76, 99, 183 Clarke, Samuel 184–186 Defoe, Daniel 181–184 de Monta, Jacopo 167 Diderot, Denis 186 Eschenburg, Johann Joachim 186 Euripides 219, 226, Fechner, Gustav Theodor 282 Feuerbach, Anselm von 243 Fielding, Henry 186 Gentz, Friedrich 238, 245–249 Godwin, William 181–194, 195 Goethe, Johann Wolfgang von 13, 213–216, 219, 220–222, 226, 227, 229, 230, 232, 233, 243, 256 Grotius, Hugo 3, 39, 41, 42, 60–62, 69–75, 100, 239 Hebenstreit, Wilhelm 312 Heineccius, Johann Gottlieb 68, 74, 75 Heintz, Joseph 164–166, 174–177 Herder, Johann Gottfried 199, 233, 284, 287, 291, 295 Herwegh, Georg 250 Hobbes, Thomas 3, 8, 25–30, 32–34, 39, 53, 100, 114, 184, 239, 290
Hutcheson, Francis 181 Jean Paul 14, 15, 277–291, 293–295 Jhering, Rudolf von 256 Justinian 4, 60, 104, 105, 263 Kant, Immanuel 2, 8, 9, 10–14, 26, 33, 34, 37, 48, 54, 68, 71, 75, 76, 81–97, 99–103, 105–120, 122, 125–143, 147–159, 181, 184, 199, 202, 207, 208, 210, 237, 240, 242, 280, 284 Knigge, Adolph Freiherr von 241 Leibniz, Gottfried Wilhelm 60, 64, 68, 72, 105, 278, 279, 287 Lessing, Gotthold Ephraim 81, 82, 228, 291, 294 Lichtenberg, Georg Christoph 288, 292 List, Friedrich 250–254 Locke, John 3, 185, 199–201, 204 Lohenstein, Daniel Casper von 292 Luther, Martin 22 Machiavelli, Niccolò 19, 100, 102, 183, 188, 189, 254, 266 Mandeville, Bernard 188–190 Melanchthon, Philipp 8, 19–22, 26 Mendelssohn, Moses 241, Metternich, Clemens von 238, 247– 252 More, Thomas 19 Moritz, Carl Philipp 285 Opitz, Martin 252, 295 Pestalozzi, Johann Heinrich 13, 199, 200, 202–211 Plato 99, 100, 102, 105, 112, 314, 291, 294, 295
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Personenregister
Pufendorf, Samuel von 5–9, 20, 23–26, 37–45, 47, 53, 54, 61–66, 68, 71–74, 239 Richardson, Samuel 181, 187, 188, 190, 191 Rochau, Ludwig August von 253, 254 Rousseau, Jean-Jacques 9, 29–34, 100–102, 114, 186, 200, 202, 206, 208, 209, 242 Savigny, Carl Friedrich von 252, 253, 256 Schiller, Friedrich 14, 229, 230, 232, 261–263, 265–276
Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper 182–184, 189 Smith, Adam Spinoza, Baruch de 64 Sterne, Laurence 181, 191, 192 Sybel, Heinrich von 256 Thomas von Aquin 67 Thomasius, Christian 53, 66–68, 73, 74, 75 Wolff, Christian 9, 38, 43–50, 52–54, 60, 62, 68, 72, 75, 289, 291, 295
Sachregister Ästhetik 15, 183, 277, 278, 279, 281– 288, 290, 291, 293–295 Autonomie 10, 46, 47, 48, 87, 95, 102, 109, 114–116, 120, 121, 129, 130, 145, 156, 184, 202, 207, 213, 232, 240 Dialog 13, 183, 199, 213–220, 222, 224, 225–233 Diskurstheorie 3, 120 Erlaubnis 11, 12, 32, 125–143 Erlaubnisgesetz 11, 125–143 Erziehung 7, 69, 94, 184, 199–203, 208–211, 286, 295 Freiheit 5–11, 29–34, 39, 41, 47, 50, 62, 63, 65–68, 71, 85–88, 91, 94–97, 100–103, 108–111, 113, 115–118, 120–122, 127, 129–132, 135, 136, 140, 142, 143, 152–156, 158, 159, 202, 206, 210, 232, 244, 249, 252, 277, 284, 289, 291, 293, 294 Gerechtigkeit 4–6, 61, 75, 99, 100, 120, 126, 186, 188, 191–195, 241, 245, 263 Geschichte 83, 90, 118, 147, 148, 150, 151, 153–155, 159, 163, 164, 244, 250, 252–255, 272, 275 Gesellschaft 1, 2, 4–9, 12–14, 32, 49, 52, 59, 61, 62, 69, 70, 71, 76, 83, 88, 89, 90, 101, 104, 105, 106, 115, 117–119, 122, 142, 143, 145, 146, 149, 153, 154, 155, 187, 189, 190, 199–208, 210, 211, 222, 238, 239, 242, 244, 245, 249, 254, 263– 265,267, 276, 280, 281, 288
Gesetz/Gesetzgeber 1, 3, 4, 6, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 19, 20, 21, 22, 24, 26, 28, 30, 37–54, 62, 63, 65–68, 73, 82, 83, 84, 88, 89, 90, 93, 94, 95, 96, 97, 99, 102, 104, 105, 107–112, 114–116, 118–122, 125–143, 146–149, 152, 154, 155, 156, 157, 158, 182, 183, 207, 209, 210, 217, 219, 222, 239, 240, 242, 244, 249–255, 264, 270, 291 Gewalt 12, 19, 45, 52, 53, 59, 63, 74, 85, 94, 117, 137, 147, 149, 151, 155, 157, 158, 182, 186, 187, 205, 213, 215, 217, 220, 224, 232, 233, 246, 248, 269 Kontrakt/Kontraktualismus 6, 8, 29, 61, 62, 72, 74, 75 Moral sense 13, 182–184 Natur 42, 44–49, 51–53, 60, 61, 67–70, 73–75, 84, 86, 93–95, 97, 100, 108, 117, 143, 145–147, 149–155, 157, 182, 183, 184, 185, 202–204, 206– 209, 211, 223, 239, 242, 244, 245, 248, 251, 255, 270, 278, 290–293 Naturrecht 2, 5, 6, 8, 9, 11, 21, 23–27, 29, 37–44, 48, 53, 54, 60–63, 65, 69–75, 91, 99–101, 107–112, 129, 135, 138, 139, 141, 182, 183, 199, 238, 239, 240, 242, 255 Naturstand/Naturzustand 21, 25, 26, 27, 28, 29, 34, 126, 127, 135, 137– 139, 143, 158, 183, 204–206, 208, 211 Nötigung 9, 40, 43, 109, 126, 129–132, 137–140, 240
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Sachregister
Notwendigkeit 4–7, 9–11, 24, 25, 27 29, 31, 42, 46, 50, 60, 65–67, 70, 72, 84, 93, 97, 109, 129, 131, 136, 154, 155, 184, 218, 228, 238, 240, 251, 252, 255, 273
Theonomie 27, 28 Tugend/Tugendlehre 5, 6, 19, 53, 68, 91, 102, 107, 114, 128–130, 133, 141–143, 183–186, 190–192, 200, 207
Obligatio 1, 3, 4, 6–8, 10, 11, 22, 24, 25, 32, 37, 38, 40–47, 49, 52, 63, 82, 99, 103–105, 110, 185, 186, 190, 238, 240, 262, 263
Utilitarismus 189, 193–195
Pädagogik 12, 13, 199, 200, 202, 203, 208, 286 Pflicht 1, 3, 4, 6, 10, 13, 26, 31, 32, 37, 38, 41, 44, 46, 50–52, 62, 63, 65, 66–69, 74–76, 85, 86, 88, 91, 92, 96, 97, 101, 103, 104, 106, 109, 129– 132, 141, 142, 165, 170, 181, 184– 188, 191–193, 201–203, 207, 209, 211, 217, 224, 237, 240, 241, 250, 254, 262, 264, 269, 270, 271 Postmoderne 11, 113, 119, 120, 122, 237 Privatrecht 11, 113, 116–118, 121, 122, 134, 156 Rationalität/Rationalismus 5–7, 9, 10, 13, 14, 21, 25, 30, 39, 40, 42, 47, 48, 52, 59–62, 65–69, 71–73, 76, 84, 90, 93, 97, 105, 143, 145, 146, 147, 150, 151, 153, 154, 158, 159, 193–195, 220, 266, 269, 283, 287, 289, 295 Recht 1–14, 19–34, 37–45, 48–54, 60– 63, 65, 66, 68–76, 91, 99–112, 113– 122, 125–139, 141–143, 146, 148– 151, 154–159, 182, 183, 185, 186, 199, 202, 205, 206, 210, 213–215, 220, 238–240, 242, 244–256, 261– 264, 266–268, 271, 272, 281 Recht der Menschen 62, 75 Selbstgesetzgebung, s. auch Autonomie 47, 48, 50, 95, 102, 114, 120, 121 Sprache 5, 9, 61, 62, 69, 70, 72–75, 81, 182, 215, 223, 233, 282, 284, 289, 290, 292 Strafe 19, 20, 25, 42, 47, 50, 52, 67, 110. 130, 275,
Verbindlichkeit 1–15, 20, 28, 37–47, 49–54, 59–63, 65–69, 73, 75, 76, 81–84, 86–88, 90–97, 99, 103–107, 109, 113, 119, 120, 122, 126–143, 145–148, 150, 151, 156, 157, 159, 164, 181, 182, 184–195, 199, 211, 213, 214, 217–219, 221. 224, 230, 233, 237–247, 249, 250–256, 261– 276, 277–286, 288–293, 295 Verpflichtung, s. auch obligatio 2–5, 8–10, 19, 20, 25, 27, 28, 31, 34, 38, 40, 48, 61, 63, 68, 69, 74, 75, 83, 91, 96, 99, 103, 106, 107, 109, 121, 122, 181–183, 187, 214, 230, 232, 239, 240 Vertrag, s.auch Kontrakt/Kontraktualismus 1, 4, 8, 14, 29, 32, 33, 61, 62, 71, 73, 74, 76, 82, 88, 101, 103– 106, 110, 111, 117, 118, 120–122, 155, 156, 213, 237–239, 245, 263, 264, 266–268, 270, 271 Vinculum juris 1, 3 4, 40, 41, 59, 104, 105, 263 Wahrhaftigkeit 69–76 Widerstand/Widerstandsrecht 12, 29, 32, 84, 92, 93, 118, 119, 126, 149– 151, 154–158, 232 Willkür 10, 11, 29, 30, 37, 41, 44, 50, 65–67, 72, 85–87, 91, 94, 95, 102, 114, 115, 117, 126, 127, 135, 136, 138, 141, 146, 147, 155–159, 249, 256, 265 Zwang 5, 6, 11, 22, 31, 32, 40, 50, 51, 52, 53, 59, 63, 66, 67, 101, 104, 108–112, 130, 152, 155, 157, 187, 188, 202, 205, 213, 214, 221, 224, 232, 241, 270, 272, 287