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German Pages 444 Year 2012
Band 44
Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Fritz Nies und Wilhelm Voßkamp unter Mitwirkung von Yves Chevrel
Matthias Löwe
Idealstaat und Anthropologie Problemgeschichte der literarischen Utopie im späten 18. Jahrhundert
De Gruyter
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und des Forschungszentrums »Laboratorium Aufklärung« der Friedrich Schiller Universität Jena.
ISBN 978-3-11-029216-9 e-ISBN 978-3-11-029261-9 ISSN 0941-1704 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book is available from the Library of Congress.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX ERSTES K APITEL Begriffsklärung und Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. Utopie als literarische Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Utopieforschung und ihre disziplinären Schauplätze. . . . . . . . . . 1.2 Literaturwissenschaftliche Modelle von ›Utopie‹ als Gattung . . . 2. Gattungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Kriterien von Gattungsgeschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die frühneuzeitliche Gattungsgeschichte der literarischen Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die satirische Renaissance-Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die allegorische Barock-Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Roman-Utopie der Frühaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Problemkonstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Literaturgeschichte als Problemgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Anthropologie als Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nach der Theodizee: Geschichtsphilosophie und Anthropologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Aufklärung und Nihilismusfurcht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die literarische Utopie zwischen den ›weltanschaulichen‹ Fronten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Anthropologie als Legitimationsproblem literarischer Utopien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Utopie, Anthropologie und Hypokrisie . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Methodisches Vorgehen und Analysekorpus . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1 7 14 14 22 22 25 27 34 34 39 39 45 50 54 61 67
E XKURS Merciers L’An 2440 als kopernikanische Wende der Gattungsgeschichte? . . . 73
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Inhalt
ZWEITES K APITEL Selbstreflexive Aufklärung: Die Utopie-Zitate in Wielands Romanen um 1770 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 1. Einleitung: Was heißt selbstreflexive Aufklärung? . . . . . . . . . . . . . . . 87 2. »Sprung aus dem Fenster« und »magische Ruthe«: Wielands entschleierte Utopien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 2.1 Das tarentinische Happy-End des Agathon . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 a) Die Republik von Tarent als literarische Utopie nach Wielands ›großer Wandlung‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 b) Die narrative Präsentation Tarents: Epische Normenvermittlung und Dekonstruktion . . . . . . . 106 2.2 Kynische Selbstaufklärung und poetische Zauberkraft: Wielands Diogenes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 a) Werkstattbesichtigung bei einem Utopisten: Die Republik des Diogenes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 b) Wielands Diogenes als Erbauungsbuch der selbstreflexiven Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 c) Wielands stilisierter Diogenes und der Kynismus-Begriff der Frühromantiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 3. Die Utopie als Dialogreplik: Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im Goldnen Spiegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 3.1 Die epische Struktur des Goldnen Spiegels: Fokalisierung, Fiktionsironie und narrative Ebenen . . . . . . . . . 133 3.2 Die Gattungszitate im Goldnen Spiegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3.3 Die Naturkinder-Utopie und ihre praktische Bewährung . . . . . 145 a) Geschichtsphilosophie und Individualethik bei Wieland . 145 b) Erzählte Utopiereflexion: Die Naturkinder-Episode . . . . . . 152 c) Die Utopie in praxi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 d) Die Tifan-Episode als narrative Anwendung der Naturkinder-Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 3.4 Die Korrelation von Mysterienkult, Utopiereflexion und anthropologischem Vorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 a) Der Saïs-Kult und der Aberglaubensdiskurs im Goldnen Spiegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 b) Psammis’ Kunstreligion und Tifans Mysterienkult . . . . . . 169 c) Mysterienkult und Utopie-Zitat als Chiffren selbstreflexiver Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 d) Missverständlichkeit als unvermeidbares Risiko selbstreflexiver Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 4. Ergebnisthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
Inhalt
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DRITTES K APITEL Hypokritische Utopien: Die Politisierung der Gattung bei Heinse und Stolberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 1. Einleitung: Was heißt Hypokrisie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Literarische Utopie des radikalen Sensualismus – Wilhelm Heinse: Ardinghello und die glückseeligen Inseln . . . . . . . . . 2.1 Heinses Autonomieideal als ›logische Sackgasse‹ . . . . . . . . . . . . 2.2 Stationenroman in Briefform: Die Raumsemantik des Ardinghello und ihre epische Vermittlung . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Gewaltige Leidenschaft: Ardinghellos Umgang mit Frauen . . . 2.4 Kaschieren oder Problematisieren: Heinses Haltung zu Fiktionsironie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Republik Wahlverwandter: Utopisches Ablenkungsmanöver und politische Textfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Literarische Utopie radikaler Empfindsamkeit – Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: Die Insel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Stolbergs Inspirationsästhetik und die Idee adeliger Freiheit . . . 3.2 Kollektiver Wachtraum am Wochenende: Die fiktionale Vermittlung der utopischen Insel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Gedrucktes Geheimnis: Putativer Privatismus und politische Textfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Donauinsel im Oberlauf: Raumsemantik und Perfektibilitätsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Ambivalenter Wahrheitsstatus: Die Insel-Utopie als poetische Offenbarung oder fiktiver Traum? . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnisthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIERTES K APITEL Transzendental-Utopie: Novalis’ Glauben und Liebe als Romantisierung der Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung: Was heißt Romantik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Nexus zwischen Hardenbergs frühromantischer Philosophie, Ästhetik und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Selbstbewusstsein und ›ordo inversus‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Einbildungskraft und Ichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Transzendentalpoesie und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Transzendentalpoesie und Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . 3. »Die Lehre vom Mittler leidet Anwendung auf die Politik«: Glauben und Liebe als literarische Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Zur Fiktionalität und Textkohärenz von Hardenbergs Fragmentsammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) ›Novalis‹ als fiktive Autorimago . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
187 190 190 196 204 212 214 222 222 235 237 244 250 258
261 261 278 280 284 286 291 297 299 304
VIII
Inhalt
b) Kohärenz als Überlieferungsproblem: Textgestalt und Editionsgeschichte von Glauben und Liebe . . . . . . . . . c) Hysteron proteron: Der fingierte Sprecherstandpunkt in Glauben und Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 ›Poëtischer Staat‹ vs. ›Neupreußischer Staat‹ . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 »das Ziel des Menschen ist nicht die goldne Zeit« – Der utopische Staat als Symbol unendlicher Annäherung. . . . . a) Der Sonnenkönig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Königliches Paar und ›gewöhnliches Leben‹ . . . . . . . . . . . . c) Exoterik und Esoterik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Glauben und Liebe: eine konservative Utopie? . . . . . . . . . . 4. Veröffentlichungskontext: Die Jahrbücher der preußischen Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Schwesterliche Umarmung: Schadows Prinzessinnengruppe in Novalis’ romantischem Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Wohlgeordnete Monarchie: Johann August Eberhards Theorie des aufgeklärten Absolutismus und ihre romantische Imitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ergebnisthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
308 311 318 331 332 340 350 354 366 367
376 389
SCHLUSS Die deutschsprachige Utopie um 1800: ›Sonderweg‹ oder ›toter Ast‹ der Gattungsgeschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427
Einleitung
Wenn Dichter sich fiktive Idealgesellschaften ausdenken, dann keineswegs nur, um uns vorzuschreiben, wie wir unsere Staaten einzurichten haben. Literarische Texte über utopische Welten ohne Privateigentum, Egoismus und Verbrechen wollen häufig gar kein politisches Programm in Romanform sein, sondern erfüllen je nach Epoche ganz unterschiedliche Funktionen, z. B. als intellektuelles Spiel, Allegorie, Prophezeiung oder Warnung. Fast immer aber geht es um eine ästhetische und intellektuelle Kommunikation über Normen zur Gestaltung gesellschaftlichen Zusammenlebens unter den Bedingungen der Neuzeitwerdung. In der Frühaufklärung betreiben Autoren literarischer Utopien erstmals besonders großen Aufwand mit der sinnlich-faszinierenden Darstellung ihrer Staatsentwürfe. Sie versuchen ihre Leser glauben zu machen, dass jene utopischen Gesellschaften, die sie vorerst nur zwischen zwei Buchdeckeln zum Leben erwecken, im Zuge einer Moralisierung und Aufklärung des Menschen auch in der Wirklichkeit umsetzbar seien. Das im frühen 16. Jahrhundert entstandene Textmuster der literarischen Utopie geht im frühen 18. Jahrhundert eine enge Allianz mit dem Weltbild der Leibniz-Theodizee ein. Die Gattung wird vereinnahmt, um im Medium Literatur die Ideen der besten aller möglichen Welten, der Vernunftautonomie und Aufklärbarkeit des Menschen zu popularisieren. Frühaufklärerische Utopien suggerieren daher, dass utopische Individuen sich gar nicht fundamental vom erfahrungsweltlichen Menschen unterscheiden. Schon nach 1750 gerät das Textmuster unter deutschen Intellektuellen jedoch in die schwerste Legitimationskrise seiner 250-jährigen Gattungsgeschichte. Dafür gibt es auch begriffsgeschichtliche Indizien: Im deutschen Sprachraum absolviert der Utopie-Begriff in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine rasante Bedeutungskarriere. Sein semantisches Spektrum erweitert sich vom literarischen Gattungsnamen zum polemischen Kampfbegriff. Etwa ab 1770 findet er in der Gelehrtensprache immer häufiger Verwendung, um Weltanschauungen zu diskreditieren, die auf ›nicht-natürlichen‹, d.h. außerempirischen Ideen und Erklärungen fußen und die daher allenfalls in utopischen Romanen, nicht aber in der Erfahrungswirklichkeit ausführbar seien.1 So schreibt etwa Johann Gottfried
1
Zur Begriffsgeschichte der deutschsprachigen Utopie-Semantik im späten 18. Jahrhundert vgl. Hölscher (1990), 756-759.
Einleitung
X
Herder in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774): „[W]er sich überhaupt von göttlichen Veranstaltungen in der Welt und im Menschenreich anders als durch welt- und menschliche Triebfedern Begriffe macht, ist wahrhaftig mehr zu utopischdichterischen, als zu philosophischnatürlichen Abstraktionen geschaffen.“2 Es ist also die ›Naturalisierung‹ des spätaufklärerischen Denkens, an der sich die Gattungskrise der literarischen Utopie entzündet. Gerade jene tugendhaften und vernunftautonomen Individuen, die die utopischen Entwürfe der Frühaufklärung bevölkern, widersprechen dem neuen Menschenbild, das im späten 18. Jahrhundert unter dem Label ›Anthropologie‹ die intellektuellen Diskurse dominiert und das den Einfluss diffuser Gefühle und Einbildungen auf das menschliche Denken und Handeln betont. Das anthropologische Interesse an den Phänomenen der geistig-körperlichen Einheit des Menschen nährt den Zweifel am Weltbild der Leibniz-Theodizee, an der rationalistischen Metaphysik und der Idee der Vernunftautonomie. Da sich die literarische Utopie aber in der Frühaufklärung diesem Weltbild weitestgehend angepasst hatte und eng damit verschmolzen war, droht ihr nun die generische Daseinsberechtigung entzogen zu werden, als die Leibniz-Theodizee in die Krise gerät. Literarische Utopien avancieren im späten 18. Jahrhundert zum anti-anthropologischen Textmuster schlechthin, denn die Anthropologie formiert sich ihrem Selbstverständnis nach geradezu als das Wissen vom „Menschen ›diesseits der Utopie‹“3, als „Antiutopikum“4. Charakteristisch für den deutschen Anthropologie-Diskurs der Spätaufklärung ist jedoch auch die klammheimliche Furcht vor seinen eigenen Folgen: Man macht sich anthropologische Argumente zu eigen und rehabilitiert die Sinnlichkeit, wehrt sich aber gegen die letzten Konsequenzen einer solchen Denkweise und flüchtet sich nicht selten in widersprüchliche Vermittlungspositionen. Dass anthropologische Argumente auch ein Problem heraufbeschwören, wenn sie die Ideen der Willensfreiheit und Vernunftautonomie in Frage stellen, das fällt dabei jedoch zumeist unter den Tisch. Dass hinter anthropologischen Positionen Nihilismus, Materialismus und Determinismus wie Gespenster lauern, das kaschieren Spätaufklärer nur allzu gern. Auch die Anthropologie als politisches Problem, d.h. die absolutismusstabilisierenden Implikationen anthropologischen Wissens werden von Spätaufklärern in der Regel nicht in letzter Konsequenz reflektiert. Dabei gibt die Anthropologie gerade der Theorie des Absolutismus Argumente an die Hand, durch die sich gesellschaftliche Ungleichheit und die Notwendigkeit eines starken, absolutistischen Staats begründen lassen: Wenn es dem Menschen schwer fällt, vernünftig und frei zu handeln, weil seine Leidenschaften, seine Selbstbezogenheit, Bequemlichkeit und Denkfaulheit ihm ständig einen Strich 2 3 4
Herder (1985ff.), Bd. 4, 48. Marquard (1991), 10. Ebd., 8.
Einleitung
XI
durch die Rechnung machen, dann bedarf es eben eines machtvollen Staats, der ihn vor sich selbst und anderen beschützt. Das Problem oder die Frage, die in der Spätaufklärung nur selten offen gestellt wird, lautet also: Wie kann man die Anthropologie – das Wissen um die Abhängigkeit der Vernunft vom Körper und um den Konstruktcharakter der Vernunftautonomie – ernst nehmen, ohne davon auf den bloßen Illusionscharakter einer an moralischen Vernunftnormen orientierten Handlungspraxis rückzuschließen, aber auch ohne die Gefahr einer solchen nihilistischen Konsequenz anthropologischen Wissens zu kaschieren oder zu verschweigen? Ich möchte hier die These aufstellen, dass dieses Problem in seiner Schärfe tatsächlich von einer intellektuellen Minderheit reflektiert wird, die sich gerade dadurch vom ›normalen‹ Hauptstrom der Spätaufklärung unterscheidet und die man ›selbstreflexive Aufklärung‹ nennen kann. Die Auseinandersetzung mit diesem Problem erfolgt im Medium Literatur und gewinnt dabei eine Komplexität, die in den außerliterarischen Beiträgen der Anthropologie-Debatte in der Regel nicht erreicht wird. Solche gewagten ästhetischen Lösungen, die im Werk Wielands formuliert werden, lassen sich zudem in eine auf den ersten Blick überraschende Nähe zur ästhetischen Problemreflexion der Frühromantiker rücken. Dem Problem säkularer Moralbegründung unter den Bedingungen einer Anthropologisierung der intellektuellen Diskurse begegnen die Romantiker mit neuen Formen ästhetischer und intellektueller Kommunikation: Sie halten zwar an moralischen Normen fest, die sie das Absolute nennen, formulieren diese jedoch nicht als verbindliches Kollektivwissen, sondern als etwas, dessen Wahrheit sich nur in der individuellen Handlungspraxis erweist. Bei der Romantik handelt es sich mithin um eine ästhetische Kommunikation über Normen, die den Bedingungen einer nicht-ständischen Gesellschaft, also dem Fehlen von Sinnmonopolen und der Subjektgebundenheit aller Wahrheit zu entsprechen versucht und die daher bereit ist, auch die eigene Position aufs Spiel zu setzen. Romantische Texte ästhetisieren keine verbindliche Wahrheit, sondern beziehen sich auf absolute Normen nur im Modus der Sehnsucht, indem sie ihren Mangel artikulieren. Romantiker, so kann man pointiert sagen, streben nach einer Wahrheit, die eigentlich nur durch ihr Streben entsteht. Hier kommt auch die literarische Utopie wieder ins Spiel: Es ist Wieland, der die Gattung neu funktionalisiert, um über Utopie-Zitate die Krise der Leibniz-Theodizee, den Aufstieg der Anthropologie und die Schwierigkeiten säkularer Normenbegründung in ihrem Für und Wider offen zu problematisieren. In dieser Funktion werden die utopischen Gattungsstrukturen auch noch bei Novalis zitiert. Wegen seines zweifelhaften Rufs bietet offenbar gerade dieses Textmuster Autoren der selbstreflexiven Aufklärung und der Frühromantik Gelegenheit, anthropologisches Wissen als problematisches und politisch brisantes Wissen zu reflektieren. Über die Einbettung von Utopie-Zitaten in fiktionsironische und selbstreflexive Textstrukturen oder über die romantisch verfremdete Darstellung eines utopischen Entwurfs exponieren Autoren wie Wieland und Novalis den
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Einleitung
Konflikt zwischen Vernunftautonomie und Sinnlichkeit und die säkulare Normenbegründung als drängendste und ungelöste Epochenprobleme des späten 18. Jahrhunderts. Solchen gewagten Formen der Problemreflexion in Gestalt literarischer Utopien widmet sich dieses Buch. Die vorliegende Arbeit wurde im Dezember 2010 von der Philologischen Fakultät der Universität Leipzig als Dissertation angenommen. Ich danke Prof. Dr. Ludwig Stockinger, ohne dessen Grundlagenforschung zur Gattungsgeschichte literarischer Utopien, zur Aufklärung und Romantik sie nicht hätte geschrieben werden können. Auch ihn hat diese Arbeit einige Lebenszeit gekostet. Er hat ihre Entstehung mit kritischem Blick und geduldigen Gesprächen begleitet. Zu danken ist Ludwig Stockinger schließlich für seine engagierte und inspirierende Hochschullehre, durch die ich erst verstanden habe, was es heißt, literaturwissenschaftlich zu argumentieren. Allen Teilnehmern seines Doktorandenkolloquiums danke ich für die vielen Diskussionen. Ich danke Prof. Dr. Dirk von Petersdorff für sein Gutachten, für sein Interesse an meiner Arbeit, für seine wertvollen Hinweise und Ermutigungen. Für sein instruktives Gutachten danke ich ebenfalls Prof. Dr. Wilhelm Voßkamp. Ihm und Prof. Dr. Fritz Nies danke ich zudem für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe Communicatio. Ich danke dem Evangelischen Studienwerk Villigst für die Gewährung eines Promotionsstipendiums. Prof. Dr. Hermann Kurzke danke ich dafür, dass er mir ein ungedrucktes Kapitel seiner Habilitationsschrift zur Verfügung gestellt hat. Für die Mühen des Korrekturlesens danke ich Thomas Krutak und Conrad Mädler. Meinen Eltern und Geschwistern danke ich für ihren Rückhalt. Vor allem aber danke ich Cornelia Fülling. Leipzig, im Frühjahr 2012.
ERSTES K APITEL Begriffsklärung und Problemaufriss
1.
Utopie als literarische Gattung
1.1
Utopieforschung und ihre disziplinären Schauplätze
Das Kunstwort ›Utopie‹ blickt auf eine fast 500-jährige, verschlungene Begriffsgeschichte zurück, im Laufe derer diverse semantische Verwendungsweisen entstanden sind, die außer dem Wortkörper kaum mehr etwas miteinander gemeinsam haben.1 Das definitorische Bemühen um den Utopie-Begriff wird zusätzlich durch seine ideologische Kontamination, seine Funktion als Instrument polemischer Wertung und seine Rolle als schillerndes sozial- und geisteswissenschaftliches ›Zauberwort‹ vor allem der 1970er Jahre erschwert. Um vor diesem Hintergrund terminologische Anarchie zu vermeiden, wird der Utopie-Begriff hier in der Regel nur dann gebraucht, wenn von einem literarischen Textmuster mit stabilen und historisch wandelbaren Textmusterelementen sowie einem abgrenzbaren Textkorpus, also von ›Utopie‹ als literarischer Gattung die Rede ist. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Utopie als literarischer Gattung beginnt Mitte des 19. Jahrhunderts und wird nicht von philologischer Seite aus angestoßen, sondern durch den deutschen Staatsrechtslehrer Robert von Mohl, der Utopien der staatswissenschaftlichen Literatur zuordnet.2 Gattungskonstitutiv für jenes Textmuster, das Mohl ›Staatsroman‹ nennt, sind für ihn vornehmlich inhaltliche Kriterien wie die Gütergemeinschaft oder die Aufhebung des Privateigentums in den utopischen Entwürfen sowie die ihnen unterstellte Funktion als Direktive zum politischen Handeln, d. h. als politisches Programm, das Vorschläge zur Gestaltung sozialen Zusammenlebens unterbreiten will. Nach Mohl delegitimiert ihre literarische Vermittlungsform die Staatsromane jedoch als ernstzunehmende staatswissenschaftliche Texte, denn »Poesie und Verordnungsblatt sind unvereinbare Dinge«3.
1
2 3
Zur Begriffsgeschichte vgl. Hölscher (1990). – Das 1516 von Thomas Morus gebildete Kunstwort ›Utopia‹ setzt sich bekanntermaßen aus der griechischen Verneinungspartikel oὐ, dem Lexem τόπος (Ort) und dem Ortsnamensuffi x -ία zusammen und bedeutet wörtlich übersetzt ›Nicht-Ort-Land‹ oder ›Nirgendland‹. Mohl (1845). Mohl (1855), 213.
2
Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
Mohls Ungenügen an der Zwitterexistenz zwischen einem scheinbar vorrangig die Sozial- und Politikwissenschaften angehenden Inhalt und dessen Vermittlung im Medium Literatur prägt den wissenschaftlichen Umgang mit literarischen Utopien bis heute. Dies zeigt sich vor allem an der mäandrierenden Verlagerung des disziplinären Schwerpunkts von Utopieforschung parallel zu bestimmten mentalitätsgeschichtlichen Entwicklungen: In den späten 1960er und 1970er Jahren übernehmen die Sozial- und Politikwissenschaften die Führungsrolle bei der Beschäftigung mit literarischen Utopien und schon 1968 erscheint ein erster resümierender Sammelband zum Begriff und Phänomen des Utopischen, den der Soziologe und Politologe Arnhelm Neusüss herausgibt.4 In dem mehrfach neuaufgelegten Band wird die Semantik des Utopie-Begriffs fast ausschließlich von der disziplinären Perspektive der Sozialwissenschaften dominiert. Wichtigster terminologischer Bezugspunkt ist dabei die Neufassung des Utopie-Begriffs im frühen 20. Jahrhundert, die von den Soziologen und Sozialphilosophen Gustav Landauer, Karl Mannheim und Ernst Bloch angestoßen wurde. Deren Utopie-Begriffe haben sich von der Textmustertradition literarischer Utopien weitestgehend abgelöst und bezeichnen den Typus einer Bewusstseinshaltung bzw. eine Einstellung zur sozialpolitischen Wirklichkeit, die sich mit dem Schlagwort ›utopische Intention‹ rubrizieren lässt. Gemeint ist damit »nicht bloß der unzufriedene Vergleich der Wirklichkeit mit einem Ideal, sondern der Wille, Staat und Gesellschaft nach diesem umfassenden Ideal sofort zu verändern.«5 Vor dem Hintergrund der Protestbewegungen in den 1970er Jahren entwickelt sich vor allem der intentionale Utopie-Begriff Ernst Blochs zum sozial- und geisteswissenschaftlichen Modewort und rasch wird dabei auch die Literaturwissenschaft zum ›fashion-victim‹: Ihren Höhepunkt erlebt die literaturwissenschaftliche Karriere des aus den Sozialwissenschaften importierten Utopie-Begriffs mit einem Sammelband des Bloch-Schülers Gert Ueding, der den programmatischen Titel Literatur ist Utopie 6 trägt. Uedings Versuch, mit dem intentionalen Utopie-Begriff eine grundsätzlich wirklichkeits- oder modernekritische Funktion literarischer Texte zu behaupten, kann sich durchaus auf einige prominente Autorenpoetiken des 20. Jahrhunderts berufen, vor allem auf Robert Musils Konzept des ›Wirklichkeits- und Möglichkeitssinns‹ im Mann ohne Eigenschaften. In der Nachkriegsliteratur bezieht sich wiederum Ingeborg Bachmann auf Musils poetologische Instrumentalisierung des intentionalen Utopie-Begriffs, etwa in ihrem Essay über den Mann ohne Eigenschaften und in ihrer bekannten Frankfurter Poetik-Vorlesung Literatur als Utopie, in der sie die »utopische Existenz«7 des Schriftstellers proklamiert. Während Musil und Bachmann den intentionalen 4 5 6 7
Neusüss (³1986). Stockinger (1981), 29. Für eine kritische Auswertung der verschiedenen intentionalen Utopie-Begriffe und ihrer Beziehung zur Gattungstradition vgl. ebd., 28–48. Ueding (1978). Bachmann (³1984), Bd. 4, 271. – Zu Bachmanns Utopie-Begriff und seinem Bezug zu Musil vgl. Schmaus (2002).
1. Utopie als literarische Gattung
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Utopie-Begriff jedoch lediglich für ihre subjektive poetologische Selbstbeschreibung heranziehen, stilisiert Ueding ihn zum objektiven wissenschaftlichen Kriterium von Literarizität. Die Entwicklung eines analysetauglichen Utopie-Begriffs, der die unvoreingenommene Beschreibung der Gattungstradition ermöglicht, wurde durch diese Stilisierung von Utopie zum zeitgemäßen Label für Literatur stark erschwert. Ein auf Literatur insgesamt ausgedehnter, globaler Utopie-Begriff erlaubt es nicht mehr, überhaupt noch von Utopie als literarischer Gattung zu reden.8 Aufgrund seiner Prominenz wird der intentionale Utopie-Begriff in den 1960er und 1970er Jahren häufig auch auf die frühneuzeitliche Gattungstradition rückübertragen und damit behauptet, dass Autoren literarischer Utopien ihre zeitgenössische Wirklichkeit tatsächlich im Sinne des dargestellten utopischen Entwurfs verändern wollten. Dabei wird Blochs Begriff von Utopie als ›Antizipation‹9 zukünftiger Realität auf frühneuzeitliche Texte appliziert, obwohl deren Autoren die moderne Vorstellung vom Menschen als Macher von Geschichte überhaupt noch nicht geläufig war.10 Mit dem Abflauen der Protestbewegung verschwindet in den 1980er Jahren auch der Utopie-Begriff allmählich aus dem sozialwissenschaftlichen Fachjargon und die mit reichlich Zeitkolorit durchsetzte Frage nach so etwas nebulösem wie einem utopischen Bewusstsein verliert rasch ihren Reiz. Den Wendepunkt markiert die internationale und disziplinenübergreifende Forschungsgruppe zur Funktionsgeschichte literarischer Utopien in der frühen Neuzeit, die Wilhelm Voßkamp 1980/81 für ein Jahr am Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) versammelt hat und deren Ergebnisse Voßkamp (1985a) dokumentiert. Diese dreibändige Aufsatzsammlung zur Utopieforschung bietet vergleichsweise heterogenen Utopie-Begriffen aus den unterschiedlichsten Fächern Raum und lässt sich als Bestandsaufnahme verstehen, in der jene disziplinären Forschungsunternehmen gebündelt sind, die sich in den vorangehenden Jahrzehnten des Utopie-Begriffs bedient haben. Die Bielefelder Forschergruppe und ihr Dokumentationsband sind aber vor allem Indiz für die Übergabe des ›Staffelstabs‹ an die Literaturwissenschaft, die nun für etwas mehr als ein Jahrzehnt die disziplinäre Führungsrolle bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit literarischen Utopien übernimmt: Firmierte 1968 in dem Sammelband von Arnhelm Neusüss noch ein Politologe und Sozialwissenschaftler als Herausgeber, ist nun mit Wilhelm Voßkamp ein Literaturwissenschaftler federführend. Zudem gehört Voßkamp neben Peter Uwe Hohendahl zu den philologischen Pionieren, die sich dem Textmuster Utopie und seiner Gattungsgeschichte bereits seit Ende der 1960er
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Dass dies eine der zentralen Behauptungen des Bandes von Gert Ueding ist, zeigt schon dessen erster Beitrag, der aus der Feder des Bloch-Schülers Burghart Schmidt stammt und den Leser mit dem programmatisch-polemischen Titel Utopie ist keine Literaturgattung empfängt. Vgl. Bloch (1980). Vgl. Stockinger (1981), 26f.
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
Jahre mit einer genuin literaturwissenschaftlichen Analyseoptik nähern.11 Angestoßen von Voßkamps Bielefelder Forschungsgruppe werden die 1980er und die frühen 1990er Jahre bis heute zur ertragreichsten Dekade literaturwissenschaftlicher Utopie-Forschung. Neben einem regen literaturwissenschaftlichen Bemühen um die Konturierung von ›Utopie‹ als Gattungsbegriff, entsteht eine Reihe grundlegender, überblicksartiger und aspektorientierter Beiträge zur Geschichte dieses Textmusters.12 Zu Beginn der 1990er Jahre droht dem bisher erreichten literaturwissenschaftlichen Reflexionsstand jedoch der Bedeutungsverlust oder zumindest die disziplinäre Marginalisierung. Infolge der politischen Ereignisse in den Jahren 1989ff. beherrscht die Wahrnehmung der Gegenwart als Ende eines Zeitalters den öffentlichen und intellektuellen Diskurs. Besonders drastisch manifestiert sich dies bei dem amerikanischen Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, der in seinem umstrittenen Buch Das Ende der Geschichte (1992) das Verschwinden des Marxismus von der politischen Bühne als Sieg des politischen und ökonomischen Liberalismus deutet und darin das Ende der Geschichte erblickt. Im Rahmen dieses durchaus verbreiteten Bedürfnisses, die politischen Ereignisse quasi-geschichtsphilosophisch zu deuten, erlebt auch der abstrakt-allgemeine Utopie-Begriff einen begriffsgeschichtlichen Wiederaufstieg.13 Vor allem eignet er sich nun als griffige Sammelbezeichnung für jene sozialpolitischen Ideen, auf die sich die politisch implodierten Gesellschaftsordnungen des sowjetischen Typs berufen. In Deutschland dokumentieren dies einige öffentlichkeitswirksame zeitgenössische Essays aus unterschiedlichen politischen Lagern, die schon im Titel von Utopie als ›zerstörtem Traum‹ (Joachim Fest)14, von einem ›Leben ohne Utopie‹ (Johano Strasser)15 und dem ›Ende der politischen Utopie‹ (Richard Saage)16 sprechen, nach der ›Zukunft der politischen Utopie‹ (ebenfalls Saage)17 fragen oder auf das ›utopische Zeitalter Europas‹ (Michael Winter)18 zurückblicken. Noch 2004 profitieren die Publizisten Rudolf Maresch und Florian Rötzer vom begriffsgeschichtlichen Vormarsch der ideologisierten Utopie-Semantik, wenn sie in einem zeitgeistphilosophischen Sammelband eine ›Renaissance der Utopie‹ proklamieren.19
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Vgl. Voßkamp (1968), Hohendahl (1969). Vgl. u.a. Bersier (1981), Stockinger (1981), Pfister (1982), Gnüg (1982), Gnüg (1983), Berghahn/Seeber (²1986), Hinrichs (1986), Kuon (1986), Hudde/Kuon (1988), Braungart (1989), G. Müller (1989), Berghahn/Grimm (1990), Affeldt-Schmidt (1991), Baudach (1993), Dethloff (1993), Fohrmann (1993). Vgl. Schölderle (2011), 421–428. Fest (1991). Strasser (1990). Saage (1990). Saage (1992). Winter (1993). Maresch/Rötzer (2004).
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Die erneute Konjunktur von ›Utopie‹ als politisch-weltanschaulichem Kampfbegriff im zeitgeschichtlichen Essay der frühen 1990er Jahre bleibt nicht ohne Folgen für die Erforschung von Utopie als literarischer Gattung. Der literaturwissenschaftliche Forschungsaufwand, der in dieses Textmuster investiert wird, reduziert sich im Vergleich zu den 1980er Jahren merklich. Stattdessen werden die 1990er Jahre zur Durchsetzungsphase eines neuen literaturwissenschaftlichen Forschungsinteresses, nämlich der ›Anthropologie‹, dem Wissen vom »Menschen ›diesseits der Utopie‹«20, wie Odo Marquard das 1991 auf den Begriff bringt. 1992 veranstaltet Hans-Jürgen Schings das viel beachtete DFG-Symposion Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert und 1994 zieht Wolfgang Riedels Forschungsbericht zu Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung bereits eine erste Bilanz.21 Wie am Beginn der gattungsgeschichtlich orientierten Utopieforschung bei Robert von Mohl und wie in den 1970er Jahren werden nun stattdessen die Sozial- und Politikwissenschaften zur Leitdisziplin bei der Beschäftigung mit der Utopie als Gattung. Quantitativ dominierend sind vor allem die Arbeiten, die der Politikwissenschaftler Richard Saage vorgelegt hat. Saages wichtigste These, die er schon in seiner ersten Aufsatzsammlung zu diesem Thema exponiert, erklärt die frühneuzeitliche Utopia-Tradition zum ideengeschichtlichen Kontrahenten des frühneuzeitlichen Kontraktualismus. Unter den titelgebenden Schlagwörtern Vertragsdenken und Utopie behauptet Saage die Einheit der Utopia-Tradition anhand ihrer Opposition zu frühneuzeitlichen Staatsvertragskonzepten. Den zahlreich vorliegenden literaturwissenschaftlichen Einwänden zum Trotz, retuschiert Saage damit das Adjektiv im Gattungsbegriff ›literarische Utopie‹ und unterstellt dem frühneuzeitlichen Textmuster pauschal, dass es mit dem utopischen Entwurf einen Beitrag zur politischen Ideengeschichte leiste, den man aus seinem schmückenden literarischen Dekor herauslösen könne.22 Der erhöhte Bedarf nach einer griffigen Kommentierung der rasanten zeitgeschichtlichen Entwicklung in den frühen 1990er Jahren hat Saages wissenschaftlicher Wiederbelebung des allgemeinen Utopie-Begriffs erheblichen Auftrieb beschert. In zahlreichen Publikationen behandelt er die frühneuzeitliche
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Marquard (1991), 10. Vgl. Schings (1994) u. W. Riedel (1994). »Die Formel »Vertragsdenken und Utopie« bezeichnet die schulemachenden Positionen, zwischen denen das Denken der frühneuzeitlichen Freiheitsbewegung angesiedelt ist. Die Vertragstheoretiker von Parker und Rutherford über Locke, Rousseau und Schlözer bis hin zu Kant bezogen die normative Kraft ihrer Argumentation bei der Umwälzung der feudalen und absolutistischen Strukturen aus den natürlichen Rechten des Individuums […]. Demgegenüber hielten die Utopisten von Campanella und Andreae bis zu de Foigny, Vairasse, Morelly, Mercier an der auf Platon und Morus zurückgehenden Prämisse fest, daß die Alternative der kritikwürdigen Verhältnisse der zeitgenössischen Gesellschaften und ihrer Staaten nur ein ideales Gemeinwesen sein könne, dessen Vernünftigkeit der des Individuums a priori übergeordnet ist« (Saage [1989], 7).
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
Utopia-Tradition bis heute als Gegenstand politischer Ideengeschichte, wobei sich in seine Arbeiten zur literarischen Gattungstradition durchweg Rudimente des abstrakt-allgemeinen Utopie-Begriffs mischen, ohne dass dies methodisch hinreichend reflektiert würde. Markantes Signum des erneuten Wechsels in der disziplinären Führungsrolle bei der Erforschung literarischer Utopien ist zudem die dritte Bilanzierung in knapp 30 Jahren, nämlich Saages Band Utopieforschung: Eine Bilanz. Nach dem Sozial- und Politikwissenschaftler Arnhelm Neusüss und dem Literaturwissenschaftler Wilhelm Voßkamp leitet 1997 wiederum ein Politikwissenschaftler die Selbstreflexion und Selbstvergewisserung von Utopieforschung. Saage sucht zwar explizit Anschluss an Voßkamps drei Utopieforschungs-Bände, sein ausschließlich »sozialwissenschaftliches Erkenntnisinteresse«23 an literarischen Utopien und am Utopie-Begriff ist aber deutliches Indiz für die Marginalisierung des in den 1980er Jahren erreichten literaturwissenschaftlichen Reflexionsstandes.24 Inzwischen liegt bereits die vierte Bestandsaufnahme seit 1968 vor. Mit ihr scheint die mäandrierende Schwerpunktverlagerung vorerst an ihr Ende zu kommen und Utopieforschung sich dauerhaft als Teildisziplin einer politikwissenschaftlichen Ideengeschichtsschreibung zu etablieren: Der Saage-Schüler Andreas Heyer hat sich mit zahlreichen politikwissenschaftlichen Beiträgen zur Utopieforschung verdient gemacht und aus seiner Feder stammt auch eine dreibändige Monographie zum Stand der aktuellen deutschen Utopieforschung.25 Wie seine zuvor erschienenen Studien zur politischen Utopie 26 zeigen, folgt aber auch Heyer der in den Politikwissenschaften verbreiteten Tendenz, jene Unterscheidung zwischen literarischen und nicht-literarischen Utopien aufzuweichen, die von Literaturwissenschaftlern immer wieder angemahnt wird. Heyers dreibändige Bestandsaufnahme der deutschsprachigen Utopieforschung kann dennoch als Signum einer allmählichen Befruchtung zwischen den Disziplinen gewertet werden. Während noch Saage die Ergebnisse literaturwissenschaftlicher Utopieforschung eher stiefmütterlich behandelt, würdigt Heyer ausdrücklich den Beitrag der Literaturwissenschaften und ihrer spezifischen Analyseoptik: Immerhin widmet sich bei seiner Wissenschaftsgeschichte der Utopieforschung gleich das erste Kapitel dem literaturwissenschaftlichen Forschungsstand.27
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Saage (1997), 2. Ein besonders skandalöses Indiz dafür ist die Tatsache, dass Saage in seinen vier Bänden Utopische Profile – einer monumentalen, teilweise DFG-finanzierten Geschichte literarischer und nicht-literarischer Utopien – die drei zentralen Dissertationen zum Utopie-Begriff von Ludwig Stockinger (1981), Peter Kuon (1986) und Frank Baudach (1993) an keiner Stelle erwähnt, nicht einmal im Literaturverzeichnis und auch nicht in dem 2006 nachgeschobenen Materialband: vgl. Saage (2001–2003) und Saage (2006): hier wird Stockinger (1981) nur im Nachwort von Andreas Heyer einmal beiläufig erwähnt (S. 251). Vgl. Heyer (2008a), Heyer (2008b) u. Heyer (2010). Heyer (2005). Noch deutlicher zeigt sich die Befruchtung zwischen den Disziplinen in der historisch-systematischen Studie zum Utopie-Konzept von dem Politikwissenschaftler
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1.2 Literaturwissenschaftliche Modelle von ›Utopie‹ als Gattung Vor dem Hintergrund des wiederholten Wechsels in der disziplinären Führungsebene von Utopieforschung während der letzten 40 Jahre muss einer Beschäftigung mit literarischen Utopien ein Bekenntnis vorausgehen, innerhalb welcher Forschungstradition die getroffenen Aussagen verstanden sein wollen: Disziplinärer Anschlusspunkt dieser Arbeit ist die Literaturwissenschaft und mithin die ertragreiche Dekade literaturwissenschaftlicher Utopieforschung in den 1980er und frühen 1990er Jahren, deren Ergebnisse hier zugrunde gelegt und weitergedacht werden. Auch bei der literaturwissenschaftlichen und gattungsgeschichtlich orientierten, d. h. an Texten und nicht an psychischen Zuständen interessierten Utopieforschung handelt es sich jedoch keineswegs um ein homogenes Forschungsfeld, denn die methodisch reflektierte Unterscheidung zwischen dem Textmuster ›literarische Utopie‹ und dem konstruierten psychischen Zustand eines utopischen Bewusstseins unterbleibt häufig. Das kleine Ensemble von Forschungsbeiträgen, die sich für diese methodische Unterscheidung stark machen, hat allerdings bereits wesentliche definitorische Arbeit am Gattungsbegriff geleistet, so dass deren Ergebnisse hier nur mehr zusammengetragen werden brauchen. Angeknüpft wird an die Beiträge von Wilhelm Voßkamp28, an die Ergebnisse des von Hans-Joachim Mähl begründeten Kieler Forschungsschwerpunkts zur literarischen Utopie, vor allem an die Dissertationen von Ludwig Stockinger29 und Frank Baudach30, sowie an die romanistischen Arbeiten von Peter Kuon31: Eine erste brauchbare Auflistung von gattungskonstitutiven Merkmalen literarischer Utopien erstellt Stockinger. Er konzentriert sich dabei jedoch vornehmlich auf die frühneuzeitliche Kerntradition literarischer Utopien, also auf Texte von Morus bis zum frühen 18. Jahrhundert.32 Stockingers Gattungsbegriff konstituiert sich aus sechs Merkmalen: 1. Gattungskonstitutiv ist die wirklichkeitskritische Textintention. Im Namen einer Norm sollen literarische Utopien »den Leser von der Negativität seiner Wirklichkeit und von der mangelnden Legitimation der geltenden Verhaltensnormen und Institutionen überzeugen«33. 2. Mit dieser Textintention steht die frühneuzeitliche Utopia-Tradition in einem spezifischen historischen Problemkontext, nämlich der Entstehung des mo-
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Thomas Schölderle (2011). Schölderle eröffnet seine Überlegungen mit einer gründlichen Deutung der Utopia, wobei er sich auch detailliert mit Fragen der Form und der fi ktionalen Vermittlung auseinandersetzt (ebd., 33–163). Voßkamp (1968), Voßkamp (1977), Voßkamp (1983), Voßkamp (1984), Voßkamp (1985b), Voßkamp (1990), Voßkamp (1995), Voßkamp (2000), Voßkamp (2006), Voßkamp (2009), Voßkamp (2010). Stockinger (1981). Baudach (1993). Vor allem Kuon (1986). Stockinger (1981), 95–99. Ebd., 95.
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dernen absolutistischen Staats, der den Orientierungsanspruch allgemeiner moralischer Normen für das politische Handeln zu bestreiten und stattdessen die öffentliche Ordnung in eigenständige Teilsysteme mit unabhängigen Normensystemen aufzuspalten versucht: »Die Intention der utopischen Erzählung ist der Widerspruch gegen diese grundlegenden Legitimationsmuster des frühneuzeitlichen modernen Staates«34. Die literarische Auseinandersetzung mit dieser sozialgeschichtlichen Entwicklung geschieht über ein gattungskonstitutives Thema, nämlich die normsetzende Darstellung einer öffentlichen Ordnung, die sich grundlegend von dem unterscheidet, was den zeitgenössischen Lesern einer literarischen Utopie als Erfahrungswirklichkeit gilt. Dem korrespondiert eine bestimmte Strukturierung der dargestellten Textwelt, die »aus zwei kontrastierenden fiktiven Räumen [besteht], von denen einer die Darstellung der Norm, der andere die Darstellung der negativ bewerteten Wirklichkeit enthält«35. Diese Textstruktur erfordert einen Darstellungsmodus, der beim Leser Akzeptanz für die dargestellte utopische Norm erzeugt, indem ihr die »Illusion authentisch erlebter Wirklichkeit«36 verliehen, d. h. die außerempirische Norm im Rahmen einer literarischen Fiktion anschaulich erfahrbar gemacht wird. Mit dieser illusionierenden Darstellung verfolgen literarische Utopien schließlich eine bestimmte Leserlenkungsstrategie: »Der Leser muß für den normativen Raum Wohlgefallen empfinden und ihn positiv bewerten, und er muß die kritisch-manipulierte Darstellung der Erfahrungswirklichkeit im negativen Raum als ihr reales Abbild akzeptieren und die negative Bewertung des Autors über sie nachvollziehen.«37
Stockingers Zusammenstellung von Textmerkmalen ist ein wichtiger Meilenstein bei dem literaturwissenschaftlichen Bemühen um die Konturierung von Utopie als Gattungsbegriff. Auf die Schwäche seines Merkmalskatalogs hat er jedoch selbst hingewiesen, nämlich seine Einschränkung auf die frühneuzeitliche, besonders die frühaufklärerische Utopia-Tradition. Die Frage nach Textfunktionen und ihrem Wandel motiviert auch die zahlreichen Arbeiten, die Wilhelm Voßkamp zum Gattungsbegriff vorgelegt hat (vgl. Anm. 28). Entscheidend für die Herausbildung literarischer Gattungen ist nach Voßkamp der kommunikative Erfolg, den sie erzielen, indem sie auf historische Bedürfniskonstellationen reagieren. Voßkamp entwickelt dies an Morus’ Utopia als ›gattungsgeschichtlichem Prototyp‹. Er stützt sich dabei auf den Beitrag Gu-
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Ebd., 96 – Stockinger (1985) baut diese These aus. Stockinger (1981), 96. Ebd., 97. Ebd.
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drun Honkes38 zur Frührezeption der Utopia und auf Stockingers Thesen zur Textintention der frühneuzeitlichen Utopia-Tradition. Morus’ utopischer Entwurf gilt Voßkamp als Darstellung einer »säkularen, funktional organisierten, politischen, ökonomischen und sozialen Ordnung, die der theologischen Absicherung nicht mehr bedarf«39. Morus reflektiert damit »den beginnenden historischen Ausdifferenzierungsprozeß in der Moderne (Entstehung von gesellschaftlichen Teilsystemen wie Politik, Ökonomie und Recht) und gibt zugleich eine Antwort auf die mit solchen zunehmenden Entflechtungsvorgängen verbundenen Probleme.«40 Die Utopia fungiert mithin als ein literarisches »Medium der Selbstverständigung und Selbstvergewisserung selbstbewußter Gruppen des gelehrten und gebildeten Verwaltungsbürgertums im 16. Jahrhundert.«41 Auch die Transformation der Utopia-Tradition im 17. und 18. Jahrhundert erklärt Voßkamp funktionsgeschichtlich, d. h. als literarische »Antwort auf Geschichte«42. Diese hänge mit dem »Wandel des Subjektkonzepts«43 beim Übergang von der ständischen zur funktionsorientierten Gesellschaft zusammen, infolge dessen die »kritisch-konstruktive Negation und Ordnungsstiftung als Möglichkeit von Kontingenzbewältigung«44 durch ›Antizipation‹ als dominantes Funktionsprinzip literarischer Utopien ersetzt werde (vgl. Exkurs). Einige Aspekte von Voßkamps konkreter Anwendung des funktionsgeschichtlichen Modells auf die Gattungsgeschichte literarischer Utopien offenbaren aber auch seine methodische Schwäche, nämlich die Gefahr schwer kontrollierbarer Erweiterungen des Gattungsbegriffs. Problematisch ist vor allem Voßkamps Rede vom »Bildungsroman als spezifische[r] Form der Zeitutopie«45 bzw. als »individualpsychologisch fundierte[r] Zeitutopie des vervollkommnungsfähigen und sich permanent vervollkommnenden Individuums«46. Zu einer vergleichbaren Erweiterung des Gattungsbegriffs kommt es auch, wenn Hans-Joachim Mähl die frühromantischen Begriffe ›Ideal‹ und ›absolutes Postulat‹ zu Utopien erklärt, weil sie unter problemgeschichtlicher Perspektive dieselbe Funktion wie utopische Entwürfe in literarischen Utopien erfüllen.47 Peter Kuon hat mit gutem Grund methodisches Ungenügen an dieser Vorgehensweise bekundet:
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Honke (1985). Voßkamp (1985b), 189. Voßkamp (1990), 188f. Voßkamp (1985b), 190f. Voßkamp (1990). Ebd., 190. Ebd. Voßkamp (1985c), 227. Voßkamp (1989), 339. – Ähnlich argumentiert Swales (1985). Vgl. Mähl (1985b). – Für eine kritische Auseinandersetzung mit Mähls Thesen vgl. Kap. IV.3.2.
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss Die funktionsgeschichtliche Utopieforschung wird dann problematisch, […] wenn sie […] von einer wie auch immer definierten Funktion der ›Utopie‹ ausgeht, die unter veränderten historischen Bedingungen auch von Texten übernommen werden kann, die außerhalb der eigentlichen Gattungstradition stehen, aber aufgrund ›funktioneller‹ Entsprechungen nun ebenfalls Utopien genannt werden, – so z. B. der Schäferroman, der Bildungsroman, der ›poëtische Staat‹ der Frühromantiker usw.48
Peter Kuons Dissertation stellt Stockingers und Voßkamps definitorisches Bemühen um Utopie als literarischen Gattungsbegriff auf ein präzisiertes erzähltextanalytisches Fundament. Seine Arbeit zeigt, welchen spezifischen Beitrag Literaturwissenschaft zur Utopieforschung leisten kann, da es nur unter ihrer disziplinären Perspektive gelingt, den seit Robert von Mohl schwelenden Konflikt zu neutralisieren, der zwischen dem einseitigen Interesse für utopische Entwürfe als Elemente einer politischen Ideengeschichte und dem naserümpfenden Blick auf ihre Vermittlung im Medium Literatur besteht, durch die sie sich als ernstzunehmender staatswissenschaftlicher Beitrag delegitimiere. Kuon räumt damit endgültig auf und betont, dass die scheinbare Zwitterexistenz zwischen utopischem Entwurf und fiktionaler Vermittlung das eigentliche Definiens dieser Texttradition ist: Einer Welt ohne Macht, ohne Geld, ohne Verbote, ohne Krankheit, ohne Tod kann man ja in der Tat nicht ansehen, ob sie als Erinnerung, Traum, Vision, Prophezeiung, Hypothese oder Prognose aufgefaßt werden soll, ob als intellektuelles Spiel, legitime Norm der Wirklichkeitskritik oder als Leitbild des Handelns, ob als Wunsch oder als Warnung. Es genügt somit nicht, das Ideal einfach darzustellen, vielmehr wird jeder Autor bemüht sein, mit der erzählerischen Gestaltung der anderen Welt (›mundus alter‹) ihre Beziehung zur bekannten Welt (›mundus idem‹), der Welt des angesprochenen Lesers, in den Text selbst einzuschreiben. Ohne diese Vermittlung, die sich natürlich der verschiedensten fi ktionalen Strategien bedienen kann, wäre jeder utopische Entwurf beliebig interpretierbar, d. h. er bliebe unverstanden.49
»Grundstruktur utopischen Erzählens« ist nach Kuon daher »die konstitutive Einheit von Entwurf und Vermittlung, Erzählung und Bedenken des Erzählten, Utopie und Utopiereflexion.«50 Kuon erklärt diese Einheit – und hierin liegt der wesentliche Erkenntnisgewinn seiner Arbeit – über die Differenzierung verschiedener Kommunikationsniveaus literarischer Utopien und zeigt, dass man Funktion und Intention der Textgattung nicht einseitig an utopischen Entwurf (Inhalt) oder fiktionale Vermittlung (Form) binden kann, sondern diese erst auf der Ebene des Inhalt und Form umschließenden ›Textganzen‹ zu identifizieren ist, auf der »Ebene des Erzählkonzepts«51, wie Kuon das nennt. Er erinnert damit an die unverzichtbare Setzung eines hypothetischen Textsubjekts bzw. eines ›im-
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Kuon (1986), 424, hier Anm. 71. – Vgl. dazu die kritische Entgegnung von Stockinger (1989), 312, hier Anm. 2. Kuon (1986), 3. Ebd. Ebd., 48.
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plied author‹ bei der Deutung literarischer Utopien und der hypothetischen Konstruktion ihrer Intention. Sein erzähltextanalytisches Modell muss freilich auf der Grundlage neuerer literaturtheoretischer Bemühungen um den umstrittenen ›implied author‹ korrigiert und präzisiert werden. Tom Kindt und Hans-Harald Müller plädieren überzeugend dafür, im Rahmen eines ›hypothetischen Intentionalismus‹52 ausschließlich metaphorisch vom Textsubjekt zu sprechen. Diese Instanz ist nicht wörtlich als Teilnehmer am Kommunikationsprozess literarischer Texte oder als Quelle einer literarischen Äußerung zu verstehen – wie noch Kuons Ebenenmodell suggeriert –, sondern als Platzhalter für deren Bedeutung, als Instanz des Sinnganzen, die der Rezipient hypothetisch bei der Interpretation konstruiert.53 Der ›implied author‹ ist also keine pragmatische Rolle, der sich eine lokalisierbare Position in einem Sender-Empfänger-Modell zuweisen ließe, sondern die semantische Kategorie des Sinnganzen, das man aus rhetorischen Gründen mit dem metaphorischen Bild eines aussagenden Subjekts besetzt. Neben Stockingers Dissertation hat Mähls Kieler Forschungsschwerpunkt eine weitere Monographie hervorgebracht, die Wesentliches zur Konturierung von Utopie als Gattungsbegriff beiträgt, nämlich die monumentale Dissertation von Frank Baudach. Baudach zieht die Summe aus den Arbeiten von Mähl, Stockinger, Voßkamp und Kuon und hat die bislang differenzierteste und analytisch brauchbarste Zusammenstellung von Textmustermerkmalen literarischer Utopien vorgelegt.54 Baudach macht das von Raymond Ruyer entwickelte Modell einer abstrakten, d. h. textunabhängigen ›utopischen Methode‹ für die Bestimmung von Utopie als literarischem Gattungsbegriff fruchtbar.55 Ruyers Modell fußt auf der metaphorischen Verwendung des mathematischen Axiomenbegriffs (Axiom, d.i. der unbeweisbare Grundsatz einer Theorie56) und auf dem Terminus des ›changement de l’axiomatique‹, d. h. auf der Veränderung grundsätzlicher Axiome: Nach dem Modell des Axiomenwechsels basiert ein utopischer Entwurf demnach auf Normen, die sich von der historisch jeweils dominierenden Wirklichkeitskonzeption fundamental unterscheiden, d. h. auf einer ›utopischen Axiomatik‹57. Auf diesem abstrakten Modell aufbauend, entwickelt Baudach eine übersichtliche Anzahl von Parametern, die zusammenkommen müssen, damit man von einer literarischen Utopie sprechen kann: 1. Bei literarischen Utopien handelt es sich um die Darstellung einer utopischen Textwelt, die sich einem Gedankenexperiment verdankt, »in dem die für die Deutung der Erfahrungswirklichkeit vorausgesetzten Axiome teilweise
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Vgl. Spoerhase (2007). Kindt/Müller (2006), 151–181, insbesondere 157. Baudach (1993), 30–45. Vgl. Ruyer (1950), 9–26. Vgl. Baudach (1993), 32. Ebd., 34.
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suspendiert, durch andere ersetzt und die konkreten Folgen dieses Axiomenwechsels durchgespielt werden.«58 2. Auf Grundlage der gedanklichen Operation des Axiomenwechsels stellt der Autor literarischer Utopien eine konsistente, in sich abgeschlossene öffentliche Ordnung dar, d. h. eine »Totalität von Lebenszusammenhängen«59, die über die Beschreibung privaten Lebens deutlich hinausgeht.60 3. Der Textintention nach handelt es sich bei einer solchen Darstellung von öffentlicher Ordnung um ein »positives Gegenbild zur kritisierten Erfahrungswirklichkeit«61. Dabei unterscheiden sich literarische Utopien von literarischen Satiren dadurch, dass die ›strukturprägende Dominante‹ 62 von satirischen Texten »stets die direkte, abbildende, die der Utopie die indirekte, gegenbildliche Wirklichkeitskritik«63 ist. 4. Im Anschluss an Stockinger und Kuon betont Baudach die Fiktionalität literarischer Utopien. Er schließt dabei eng an die Modellierung verschiedener Kommunikationsniveaus an, zwischen denen Kuon bei seiner erzähltextanalytischen Beschreibung literarischer Utopien unterscheidet. Demzufolge kann der utopische Entwurf einer öffentlichen Ordnung erst dann literarische Utopie genannt werden, wenn eine vom Autor unterscheidbare fiktive Vermittlungsinstanz existiert, der utopische Entwurf also Teil einer literarischen Fiktion ist.64 Nachdrücklich weist Baudach daher auf den fundamentalen Unterschied hin, der etwa zwischen der Utopia-Tradition und dem vierten Teil von Étienne-Gabriel Morellys Code de la nature (1755) besteht, in dem der Aufklärungsphilosoph eine fiktive, d. h. nicht-wirkliche, in keinem realen Staat tatsächlich angewandte ideale Gesetzgebung entwirft. Es handelt sich hierbei nicht um eine literarische Utopie, weil die fiktive Gesetzgebung nicht
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Ebd., 31. Ebd. Baudach macht mit diesem ›sozialen Totalitätskriterium‹ (Ebd., 145) auf einen markanten Unterschied zwischen literarischen Utopien und Idyllen aufmerksam: Literarische Utopien sind »auch dort, wo sie relativ kleine, überschaubare Gesellschaften schilder[n], stets Darstellung einer gesellschaftlichen Gesamtheit, d. h. einer vollständigen respublica oder societas civilis, während die Überschaubarkeit des idyllischen Lebens allein durch das völlige Fehlen bzw. Ausblenden übergeordneter gesellschaftlicher Organisationsstrukturen, d. h. die bewußte Beschränkung der Darstellung auf die societas primae (Pufendorf) der Familie, des Freundeskreises und der Nachbarschaft entsteht« (Ebd.). Ebd., 31. Vgl. Hempfer (1973), 137ff. u. 142. Baudach (1993), 36. Virulent wird das Fiktionalitätskriterium in dieser Arbeit vor allem im IV. Kapitel zu Friedrich von Hardenbergs Fragmentsammlung Glauben und Liebe, deren Fiktionalität sich keineswegs von selbst versteht, wie bei den übrigen Analysetexten, und daher hier erst nachgewiesen werden muss. Im Rahmen dessen gehe ich gesondert auf Merkmale fi ktionaler Rede ein und verweise daher für eine vertiefende Behandlung von Fiktionalität als Gattungsmerkmal auf Kap. IV.3.1.
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in Form einer erfundenen utopischen Textwelt dargestellt wird und keine vom Autor Morelly unterschiedene fiktive Vermittlungsinstanz vorliegt.65 5. Schließlich kann man einen Text nur dann literarische Utopie nennen, wenn der »utopischen Weltdarstellung im Hinblick auf seine Gesamtstruktur und seinen Gesamtsinn zentrale Bedeutung zukommt.« 66 – Für den Fall, dass die utopische Weltdarstellung nur als kurze Episode innerhalb größerer Romanzusammenhänge firmiert, lässt sich hier noch der Begriff des ›Gattungszitats‹ ergänzen, den Peter Kuon theoretisch fundiert und anhand der Geschichte der literarischen Utopie expliziert hat: 67 Von einem Gattungszitat kann man dann sprechen, wenn charakteristische Gattungskonventionen als abgeschlossener Textteil in fremde Gattungszusammenhänge eingehen. Mit einem solchen Transfer verbindet sich nach Kuon zumeist eine nicht unbeträchtliche funktionale Modifikation der zitierten Gattungsstrukturen.68 Zudem vermutet Kuon, dass die Häufung solcher Gattungszitate als Indiz einer Gattungskrise aufgefasst werden kann,69 was sich gerade an der Häufung episodischer Utopie-Zitate in der Spätaufklärung unter Beweis zu stellen scheint.70 Das terminologische Reflexionsniveau von Stockinger, Voßkamp, Kuon und vor allem von Baudach wird in den spärlich gesäten Arbeiten, die seit Mitte der 1990er Jahre zur Gattungsgeschichte literarischer Utopien erscheinen, nicht mehr erreicht. Mehr noch, gerade die terminologisch instruktive Arbeit von Baudach stößt bislang kaum auf Resonanz.71 Erwähnenswert ist einzig der Versuch von Andreas Dittrich, der die bisherigen Bemühungen um Utopie als Gattungsbegriff sichtet und eine modallogische und literatursemiotische Reformulierung der Gattungsmerkmale unternimmt. Gemessen am terminologiegesättigten Formalisierungsaufwand, den Dittrich betreibt, fällt das Ergebnis jedoch vergleichsweise dürftig aus: Nach Dittrich handelt es sich bei der literarischen Utopie um ein »semiotisches Textschema«, das »nicht primär im Rahmen der textexternen Kom-
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Vgl. Baudach (1993), 41. Ebd., 32. Vgl. Kuon (1989a). »Wo nämlich Gattungen zitiert werden, geht es im allgemeinen nicht um ihren bloßen mimetischen Nachvollzug in verkürzter Form, sondern um ihre kritisch-distanzierte Thematisierung. Im Zitat werden die gedanklichen Voraussetzungen einer Gattung aufgedeckt, die Schwachstellen des Gattungssystems bloßgelegt, strukturelle und funktionale Veränderungen benannt und mögliche Problemlösungen und Entwicklungstendenzen vorweg genommen« (Ebd., 321f.). Ebd., 313. Vgl. auch den Begriff der ›Gattungsverhandlung‹, den Helge Jordheim in ähnlichem Zusammenhang geprägt hat und mit dem er das Phänomen bezeichnet, dass Gattungsmuster als Material in fremde Gattungszusammenhänge eingehen und dort reflektiert, problematisiert, neu funktionalisiert bzw. ›verhandelt‹ werden können: Jordheim (2007), 37–43. Selbst einige ansonsten sehr informierte, gattungsgeschichtlich orientierte Beiträge zur literarischen Utopie, die erst während der letzten Jahre erschienen sind, haben Baudachs Arbeit noch nicht zur Kenntnis genommen: vgl. Kap. II, hier Anm. 139.
Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
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munikationssituation oder im Strukturvergleich mit kultureller ›Realität‹ analysierbar [ist], sondern als textinternes semantisch zweigeteiltes Strukturschema«72. Die verschiedenen literaturwissenschaftlichen Modelle zur ›Utopie‹ als Gattung lassen sich in folgender Explikation des Gattungsbegriffs bündeln: Bei literarischen Utopien handelt es sich um die Beschreibung oder narrative Darstellung einer gesellschaftlichen Gesamtheit bzw. einer öffentlichen Ordnung im Rahmen einer literarischen Fiktion unter folgenden Bedingungen: a) Die Darstellung konzentriert sich nicht auf private Lebenszusammenhänge wie Familie, Freundeskreis oder Nachbarschaft (im Gegensatz zur Idylle) und nicht ausschließlich auf ein Individuum (im Gegensatz zu Fürstenspiegel und Robinsonade). b) Die Gesellschaft basiert auf hypothetischen Voraussetzungen, die von den (anthropologischen) Grundannahmen der historisch jeweils dominierenden Realitätskonzeption gezielt abweichen. c) Diese experimentelle Veränderung erfahrungsweltlicher Axiome wird durch eine Realitätsfiktion glaubhaft, d. h. möglichst ohne anti-empirische Elemente darzustellen versucht (im Gegensatz zur Phantastik oder Science Fiction). Zur literarischen Umsetzung dessen dient nicht selten die Erzeugung narrativer Wahrscheinlichkeit. Charakteristisch sind zudem Techniken der Vermittlung zwischen der semantisch zweigeteilten Textwelt, wie Seereise oder Traum. Allerdings werden die wahrscheinliche Erzählweise und die erzählerischen Wahrheitsbeteuerungen in etlichen Fällen wiederum fiktionsironisch gebrochen. d) Literarische Utopien versuchen den Leser häufig zu einer wirklichkeitskritischen Haltung zu überreden. Die sich daran unmittelbar anschließende strittige Frage, ob man Gattungen überhaupt anhand historisch invarianter Merkmalskataloge auf den Begriff bringen kann, wird im folgenden Kapitel diskutiert.
2.
Gattungsgeschichte
2.1 Kriterien von Gattungsgeschichtsschreibung Die voranstehende Gattungsdefinition vermittelt den Eindruck, trotz aller oberflächlich-historischen Transformationen sei dieses Set von Merkmalen die generische Invariante oder die überhistorisch-konstante ›Tiefenstruktur‹ der Gattung. Ich will diesen Eindruck vorab weder falsifizieren noch verifizieren, sondern stattdessen eine undogmatischere und differenziertere Redeweise zur Beschreibung dieses Sachverhalts vorschlagen.
72
Dittrich (2004), 33.
2. Gattungsgeschichte
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Die Vermittlung der Dichotomie zwischen inhaltlich, formal und funktional variierenden Einzeltexten und der überhistorischen Konstante eines Gattungsbegriffs gehört zu den Kernproblemen allen Bemühens um eine generische Gliederung literarischer Artefakte. Ein solches Bemühen gerät zwangsläufig auf den Kampfplatz des Universalienstreits zwischen Realismus und Nominalismus. Will man von Gattungen sprechen, so muss es Merkmalskriterien geben, die variierende Einzeltexte zu einem Gattungsbegriff zusammenfassen, mit dem sich bestimmte Mustererwartungen verbinden. Für den Umgang mit solchen Gattungsbegriffen, d. h. für die Benennung von generischen Invarianten, stehen vereinfachend gesagt drei Redeweisen zur Auswahl: Man kann der Ansicht sein, dass Gattungen neben konkreten Einzeltexten tatsächlich existieren (Realismus), oder man versteht sie als Produkt menschlichen Nachdenkens über Texte. Stellt man sich auf letzteren Standpunkt, dann kann man entweder der Meinung sein, dass auch generische Konstrukte etwas über Einzeltexte aussagen (Konstruktivismus), oder man geht davon aus, dass es sich um bloße Benennungsfiktionen handelt, die in keinem Verhältnis zu konkreten Textdaten stehen und deren wissenschaftliche Aneignung eher verstellen als erhellen (Nominalismus). Bei der realistischen Position handelt es sich vornehmlich um ein wissenschaftsgeschichtliches Phänomen. In der gegenwärtigen Gattungstheorie findet sie kaum noch Befürworter, da mit ihr eine ›Ontologisierung‹ von Gattungsbegriffen einhergeht. Normativ-realistische Gattungsbegriffe finden sich bei Martin Opitz, Gottsched, in Goethes ›Naturformen‹-Lehre, im deutschen Idealismus bei Hegel und Friedrich Theodor Vischer, im ontologischen Strukturalismus und in der Nachkriegsgermanistik, etwa bei Emil Staiger.73 Nominalistische Kritik an der Theorie literarischer Gattungen ist hingegen entschieden jüngeren Datums und wird mit »Benedetto Croces Angriff auf den Gattungsrealismus«74 eingeleitet. Dem italienischen Philosophen und Ästhetiker Croce gelten literaturwissenschaftliche Gattungsbegriffe als aporetische Begriffsfiktionen. Bei seiner Kritik macht er jedoch zwischen einer deskriptiven Gattungstheorie und normativen Anweisungspoetiken keinerlei Unterschied.75 Ähnlich wie Croce, jedoch
73 74 75
Zum normativen Gattungsverständnis vgl. Hempfer (1973), 56–122 und Zymner (2003), 48–53. Klausnitzer/Naschert (2007), 373. Vgl. Zymner (2003), 41. – Zur Kontroverse um Croces gattungstheoretische Position vgl. Klausnitzer/Naschert (2007), 373–379. Croces ästhetische Positionen besitzen bis heute in der italienischen Literaturwissenschaft großen Einfluss (vgl. Zymner [2003], 43, hier Anm. 17). Dies mag erklären, weshalb Peter Kuon, Romanist mit italianistischem Schwerpunkt, bei seinen hervorragenden Arbeiten zur Gattungsgeschichte der literarischen Utopie die Historizität der Gattung sehr stark betont und davon ausgeht, »daß der Sinn der Utopien nicht mehr ein für allemal in einem überzeitlich gültigen Gattungsmodell festgehalten werden kann, sondern für jede Konkretisation gesondert bestimmt werden muß« (Kuon [1986], 46). Kuon hat selbst zu Croces Ästhetik gearbeitet, sich in dieser Tradition verortet (vgl. Kuon [1989b]) und daher auch bei seinen gattungstheoretischen Beiträgen die Rede von überhistorischen Konstanten und generischen Invarianten strikt zurückgewiesen (vgl. Kuon [1988], 238). Kritik an Kuons
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
vor anderem theoretischen Hintergrund, lehnt auch die poststrukturalistische Literaturtheorie jene Verallgemeinerungsoperation ab, die Literaturwissenschaftler mit der Bildung und dem Gebrauch von Gattungsbegriffen vollziehen.76 Die im deutschsprachigen Raum bekannteste und zwischen den 1970er und 1990er Jahren einflussreichste gattungstheoretische Monographie stammt von dem Romanisten Klaus W. Hempfer. Hempfer beschreibt seine eigene Position als »konstruktivistische Synthese«77 von Realismus und Nominalismus. Rüdiger Zymner hat sie etwas treffender als ›dialektischen Konstruktivismus‹78 bzw. ›abgeschwächten Nominalismus‹79 charakterisiert. Im Rahmen eines kommunikativ-semiotischen Gattungsverständnisses deklariert Hempfer Gattungen weder zu Naturformen, noch zu bloßen nominalistischen Benennungsfiktionen, sondern versteht sie als Normen der Kommunikation, die mehr oder weniger interiorisiert sein können. Da diese Normen aber an konkreten Texten ablesbar sind, werden sie für den Analysator zu ›Fakten‹ und lassen sich demzufolge allgemein als faits normatifs verstehen […]. Diesen faits normatifs wird dann in der wissenschaftlichen Analyse eine bestimmte Beschreibung zugeordnet, die als solche immer ein aus der Interaktion von Erkenntnissubjekt und zu erkennendem Objekt erwachsenes Konstrukt darstellt.80
Heftige Kritik hat Hempfer vor allem deshalb geerntet, weil er versucht, Gattungstheorie in terminologischer Anlehnung an die generative Grammatik zu betreiben, und zwischen historischen Oberflächenstrukturen und einer transhistorischen Tiefenstruktur unterscheidet,81 wobei letztere als »rudimentäre generische Struktur […] interiorisiert« sein bzw. eine »psychogenetische Konstante« darstellen soll.82 Nach Gottfried Willems, Hempfers schärfstem Kritiker, handelt es sich bei dem Begriff ›Tiefenstruktur‹ um eine versteckte »Neuformulierung des [gattungsrealistischen] Gedankens von der ›inneren Gesetzlichkeit‹«.83 Willems hat damit auf eine Grundschwierigkeit von Hempfers Terminologie aufmerksam gemacht, in der noch die aktuelle Gattungstheorie ihm beipflichtet.84
76 77 78 79 80 81 82 83
84
radikal-nominalistischer Position übt Stockinger: »[D]er Begriff einer literarischen Reihe oder einer Gattungstradition impliziert die Annahme von Texterzeugungsregeln […] mit einer gewissen Konstanz auch über mehrere Epochen hinweg, deren Rekonstruktion eine Forschungsaufgabe bleiben muß« (Stockinger [1989], 313). Vgl. Zymner (2003), 43–47. Hempfer (1973), 122. Zymner (2003), 58. Ebd., 59. Hempfer (1973), 125. Ebd., 139–150 u. 225. Ebd., 127. Willems (1981), 93, vgl. hier auch Anm. 86. – Eine wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktion der Kontroverse um Hempfers Gattungstheorie unternehmen Klausnitzer/Naschert (2007), 387–404 (speziell zur Kritik von Willems vgl. ebd., 394–400). Vgl. die kritische Auseinandersetzung mit Hempfers Begriff der ›Tiefenstruktur‹ bei Zymner (2003), 141–144: Zymner zeigt vor allem, dass Hempfer sich mit seiner Terminologie auf das Glatteis eines ›ontologischen Strukturalismus‹ manövriert.
2. Gattungsgeschichte
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Im Grundsätzlichen soll in dieser Arbeit dennoch der von Hempfer eingeschlagene Weg weitergegangen werden. Deshalb wird von literarischen Gattungen ausschließlich im Rahmen eines ›dialektischen Konstruktivismus‹ gesprochen. An Hempfers problematischer Unterscheidung zwischen der historischen Oberfläche konkreter Texte und der transhistorischen Tiefenstruktur generischer Invarianten halte ich jedoch nicht fest. Um der Gefahr zu entgehen, mit Gattungsbegriffen lediglich transhistorische Idealtypen zu konstruieren, die an der historischen ›Textwirklichkeit‹ vorbeigehen, ist die Zusammenstellung von klassifizierenden Gattungsmerkmalen am Schluss des voranstehenden Kapitels im Sinne eines ›porösen Begriffs‹85 zu verstehen, d. h. in diesem Fall als »Verschränkung von Konjunktion und Alternation, von notwendigen und alternativen Merkmalen«86. Diese Art der Konstruktion von klassifizierenden Gattungsmerkmalen, die Harald Fricke und Werner Strube87 empfehlen, zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht der analytischen Trennung von historischer Oberfläche und transhistorischer Tiefenstruktur bedarf, sondern die Bildung von ›geschichtsförmigen‹ oder ›geschichtsadäquaten‹88 Gattungsbegriffen erlaubt. Solche geschichtsförmigen Gattungsbegriffe enthalten auch, aber eben nicht nur variierende Merkmalsalternativen und sind deshalb »geschmeidig genug«89, um gattungsgeschichtliche Brüche zu erfassen, dennoch aber gegen Beliebigkeit beim Reden über Gattungsbegriffe gefeit. Übertragen auf den Fall der Gattungsexplikation im voranstehenden Kapitel bedeutet dies, dass die Bedingungen a) und b) notwendig erfüllt sein müssen, um einen Text als literarische Utopie klassifizieren zu können, die Bedingungen c) und d) hingegen als fakultative oder alternative Bedingungen aufzufassen sind, was mit Formulierungen wie ›möglichst‹, ›nicht selten‹, ›charakteristisch‹, ›in etlichen Fällen‹ und ›häufig‹ unterstrichen wurde. Zur Bildung solcher geschichtsförmigen Gattungsbegriffe empfiehlt Rüdiger Zymner eine ›gemischt induktiv-deduktive‹90 Vorgehensweise. Hier lässt sich Hempfers Gattungstheorie wieder ins Boot holen. Eine der größten Stärken seiner Monographie besteht nämlich darin, dass sie für eine gemischt induktiv-deduktive Bildung von Gattungsbegriffen bereits ein praktikables Handwerkszeug erarbeitet hat: Das schwierige »Problem des Anfangs«91, das jeder generischen Strukturierung einer Textbasis innewohnt, löst Hempfer rezeptionsästhetisch, indem er empfiehlt, als Ausgangspunkt ein historisch abgrenzbares Textkorpus zu wählen, das von den zeitgenössischen Rezipienten eben durch die Verwendung bestimmter Normen/Konventionen als zusammengehörig empfunden wurde. Dabei kann z. B. auf die Bünde-
85 86 87 88 89 90 91
Strube (1993), 20. Fricke (1981), 146. Vgl. auch Strube (1990). Zymner (2003), 192. Ebd. Ebd., 194. Hempfer (1973), 128.
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss lung von Texten in Handschriften, auf die Gattungsgruppierungen in den zeitgenössischen Ausgaben, auf die Festlegung der Gattung durch den Autor, auf textimmanente Traditionsbezüge und natürlich auf die poetologische Reflexion der Zeit rekurriert werden.92
Diese rezeptionsästhetische Korpuskonstitution ist bei Hempfer freilich nur als Einstiegshilfe gedacht. In einem zweiten Schritt muss über die Objektadäquatheit und die Geschichtsförmigkeit jener Gattungsbegriffe reflektiert werden, die man aus historischen Kommunikationsbedingungen ableitet. Hempfers rezeptionsästhetisches Verfahren bietet aber »sowohl gegenüber der beliebigen Korpusbildung wie gegenüber normativen Setzungen und gegenüber einer rein induktiven, auf dem identischen Gattungsnamen beruhenden transepochalen Gruppenbildung den Vorteil, von konkreten Kommunikationsbedingungen auszugehen, d. h. mit dem semiotischen Gattungsverständnis wirklich ernst zu machen.«93 Für eine Gattungsgeschichte der literarischen Utopie besitzt ein solcher rezeptionsästhetischer Einstieg besonderen Erklärungswert, da es sich bei der literarischen Utopie keineswegs um einen etablierten Gattungsbegriff mit einem historisch stabilen Begriffsnamen handelt. Die historische Kommunikation über dieses Muster zeigt jedoch, dass vereinzelt bereits im 16. Jahrhundert und vermehrt im 17. und 18. Jahrhundert bei den Zeitgenossen ein ›Gattungsbewusstsein‹ entstand und Autoren literarischer Utopien sich innerhalb einer bestimmten Texttradition positioniert haben: Schon Kaspar Stiblins Commentariolus de Eudaemonensium Republica (1555) 94 stellt sich durch seine Raumsemantik in eine Traditionslinie mit Morus’ Utopia. Stiblin lokalisiert seine utopische Stadt Eudaimon auf der Insel Makaria, deren Name auf die Makarenser anspielt, also auf das Nachbarvolk der Utopier bei Morus.95 Auch in der Vorrede von Johann Valentin Andreaes Christianopolis wird Gattungsbewusstsein erkennbar: Der Vorredner entschuldigt das Folgende hier vor dem Leser als intellektuelles Spiel unter Freunden und vergleicht dieses Verfahren mit Morus’ Utopia: Endlich ist es [die Christianopolis] ein Lustspiel, dergleichen man an dem Thomas Morus nicht getadelt hat. Was das meinige betrifft, weil es weniger ernsthaft und sinnreich ist, mag man es meinetwegen gar auf die Seite legen. Ich hab es meinen Freunden geschrieben, mit welchen ja zu spielen erlaubt ist.96
Ein besonders signifikantes Indiz für ein allmählich entstehendes Musterwissen ist die Utrechter Neuausgabe von Joseph Halls Mundus alter et idem (zuerst 1605), die 1643 erscheint und Halls Text mit Tommaso Campanellas Civitas 92 93 94 95 96
Ebd., 135f. Ebd., 136. Stiblin (1994). Vgl. Morus (³2001), 48f. Andreae (1972), 35. – Zu Andreaes Spiel-Poetik vgl. Kuon (1986), 252ff.
2. Gattungsgeschichte
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Solis und Francis Bacons Nova Atlantis in einem Band zusammenbindet. Eine solche verlegerische Konstruktion von Gattungstradition durch die Bündelung von Texten nimmt auch Gregor Wintermonat bei seiner deutschen Übersetzung von Halls Mundus alter et idem vor. Wintermonats Übersetzung erscheint 1613 in Leipzig und hängt Halls Text unter dem Titel Utopiae Pars II. an Morus’ Utopia an.97 Wintermonat veröffentlicht seine Übersetzung zudem unter dem Pseudonym ›Gregorivm hvemvmervium‹ und lässt diesen Namen auf dem Titelblatt der Ausgabe in den Buchstaben jenes utopischen Alphabets setzen, das Peter Ägidius der Utopia von Morus beigegeben hatte.98 Auch die erste frühaufklärerische Roman-Utopie reflektiert schon im Incipit ihre Stellung innerhalb der Utopia-Tradition. Die Vorrede von Denis Veiras’ Histoire des Sévarambes beginnt nämlich mit dem Versuch, vorhandene Lesererwartungen zu enttäuschen: Wenn Ihr die Staats=Beschreibung des Platonis / das Utopien des Ritters Mori / oder neue Atlantis des Cantzlers Backonis, so nur Wercke vernünfftiger Ersinnung / gelesen; Dörffet ihr etwan leichtlich glauben / daß die Erzehlungen von neulich entdeckten Landen / wann ihr darinnen etwas wunderliches findet / eben von dieser Art seye.99
Dem schließt sich eine längere Argumentation des Vorredners an, mit der er den Leser glauben machen will, dass die Histoire des Sévarambes gerade keine literarische Utopie sei, sondern eine ›warhafftige Historie‹100. Trotz der forcierten Abgrenzung von der Utopia-Tradition beweist dieser Romananfang, dass Veiras bereits eine eingespielte Gattungserwartung beim Leser voraussetzt, auf die er Bezug nehmen konnte. In den gelehrten Kompendien der Polyhistoren des späten 17. Jahrhunderts und in den Frühaufklärungspoetiken werden die Gattungsstrukturen der literarischen Utopie schließlich zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion. Spätestens um 1700 beginnt sich demnach das Gattungsbewusstsein unter den Zeitgenossen immer stärker zu schärfen und zu etablieren.101 Der kurze Exkurs zu den historischen Kommunikationsbedingungen über die Utopia-Tradition zeigt, dass Morus’ Utopia schon in der Frühen Neuzeit einen zentralen Bezugspunkt darstellt, weil sie antike und mittelalterliche Traditionen von Idealstaatsentwürfen nicht einfach fortsetzt, sondern ein innovatives Muster geprägt hat, das den Darstellungsbedürfnissen vieler frühneuzeitlicher und neuzeitlicher Autoren entgegenkam.102 Veiras’ Versuch, seine Histoire des Sévarambes
97 98 99 100 101 102
Vgl. Hall (1981). Vgl. Höfener (1981), V. Veiras (1990), 1. Ebd., 4. Vgl. dazu ausführlich Stockinger (1981), 112–184. Dagegen betont Herzog (1985) den Gattungszusammenhang zwischen den antiken Idealstaatsentwürfen und der frühneuzeitlichen Utopia-Tradition. Herzog kann einen
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
von der Morus-Tradition und den mit ihr verbundenen Lesererwartungen abzugrenzen, führt aber auch vor Augen, dass sich bei verschiedenen Autoren mit den Gattungsstrukturen der literarischen Utopie jeweils verschiedene Funktionen verknüpfen. Eine ›poröse‹ Begriffsbildung, die optionale, fakultative und alternative Strukturmerkmale vereint, ermöglicht zwar geschichtsförmige Gattungsbeschreibungen, die auf die Variationsdynamik der historischen Textwirklichkeit reagieren können. Beim Schreiben einer konkreten Gattungsgeschichte darf es aber nicht nur um die Vermittlung von »starren Gattungsbegriffen« mit dem »›dynamischen‹ Fluß der Geschichte«103 gehen, sondern auch um die Erstellung eines ›Flusslängsprofils‹, d. h. um die Frage, anhand welcher Kriterien man den ›Fluss der Gattungsgeschichte‹ in verschiedene Abschnitte unterteilt. Das FlussBild ist dabei freilich nicht teleologisch oder geschichtsphilosophisch gemeint, sondern prozessmetaphorisch. Auch für die Klärung dieser Fragestellung existieren in der Literaturwissenschaft bereits brauchbare Vorschläge, vor allem Wilhelm Voßkamps Modell einer funktionshistorisch orientierten Gattungsgeschichtsschreibung.104 Voßkamp entdeckt eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen sozialen Institutionen und literarischen Gattungen, die sich vor allem dahingehend zeigt, dass auch »die Geschichte literarischer Gattungen als Folge eines Auskristallisierens, Stabilisierens und institutionellen Festwerdens von dominanten Strukturen«105 beschrieben werden kann, was sich leserseitig in der Entstehung von »Kontinuitätserwartungen«106 und autorseitig in »Erwartungserwartungen«107 äußert. Die erfolgreiche Institutionalisierung einer Gattung erklärt Voßkamp funktionsgeschichtlich: Gattungstraditionen setzen sich durch, wenn sie »Möglichkeiten (zeit lich begrenzter) Bedürfnisbefriedigung für bestimmte Leser (Schichten, Gruppen)«108 eröffnen. Insofern sind Gattungen ›Bedürfnissynthesen‹, »in denen nicht nur bestimmte Problemlagen artikuliert, sondern auch Lösungsstrategien diskutiert und angeboten werden«109. Ein wichtiger Katalysator beim ›institutionellen Festwerden‹ von Gattungen sind normbildende Prototypen, die erstmals ein innovatives Muster kreieren, z. B. indem sie Elemente vorhandener Mustertraditionen auswählen und neu kombinieren. Dass für den gattungskonstitutiven Stellenwert normbildender Prototypen die frühneuzeitliche UtopiaTradition ein denkbar anschauliches Beispiel ist, zeigt der oben unternommene Überblick zum frühneuzeitlichen Gattungsbewusstsein, denn schon im 16. und
103 104 105 106 107 108 109
durchgängigen Traditionszusammenhang jedoch nicht schlüssig nachweisen: vgl. dazu Kuon (1986), 418, hier Anm. 2. Zymner (2003), 191. Vgl. Voßkamp (1977), Voßkamp (1985b) u. Voßkamp (1997). Voßkamp (1977), 30. Luhmann (1970), 31. Ebd., 30. Voßkamp (1983), 40. Ebd.
2. Gattungsgeschichte
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17. Jahrhundert nehmen etliche Zeitgenossen die Utopia als prototypischen Text einer Mustertradition wahr. Voßkamp hat sein Konzept funktionshistorischer Gattungsgeschichtsschreibung denn auch hauptsächlich am Fall der literarischen Utopie entwickelt. Anhand seines Modells soll im Folgenden die kurze Skizze einer gattungsgeschichtlichen Periodisierung literarischer Utopien von der Renaissance bis zur Frühaufklärung entworfen werden, um daran anschließend den eigentlichen Bearbeitungszeitraum zwischen Spätaufklärung und Frühromantik schärfer konturieren zu können. Ich gehe zwar von Voßkamps funktionsgeschichtlichem Konzept aus, gebrauche aber einen anderen Begriff, nämlich den der ›Problemgeschichte‹. Die Gründe für diese terminologische Vorentscheidung, mit der sich auch einige konzeptionelle Differenzen verbinden, werden in Kapitel I.3.1 erläutert, wo ich den Problemhorizont für den Bearbeitungszeitraum dieser Arbeit rekonstruiere. Ganz allgemein bietet eine funktions- oder problemhistoriographische Periodisierung von Gattungsgeschichte den unschätzbaren Vorteil, dass sie sich bei der Wahl des zentralen Periodisierungskriteriums nicht einem einseitigen Inhaltismus oder Formalismus verschreibt. Stattdessen berücksichtigt sie auch Problembewältigungsstrategien eines literarischen Texts, die sich erst aus der Relation oder Spannung von Inhalt, Form und Kontext ergeben. Dagegen betreiben politikwissenschaftliche Arbeiten zur literarischen Utopie zumeist reinen Inhaltismus, wenn sie die Geschichte literarischer Utopien anhand des variierenden sozialpolitischen Aufbaus von utopischen Entwürfen rekonstruieren. Die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit literarischen Utopien verfährt freilich nicht selten genauso einseitig, wenn sie sich vornehmlich auf die wechselnden Vermittlungsformen konzentriert und die Gattungsgeschichte etwa danach periodisiert, ob utopische Entwürfe über das Muster der Seereise oder das des Traumes mit der Erfahrungswirklichkeit vermittelt werden bzw. ob es sich um eine ›Raumutopie‹ oder eine ›Zeitutopie‹ handelt. Zumeist bietet aber erst eine Beantwortung der Frage, welche Funktion neue literarische Formen im Umgang mit den konkreten Problemen historischer Akteure besitzen, eine hinreichende Begründungsbasis für die historiographische Periodisierung von vorhandenem Gattungsmaterial. Zwar geht mit literarischem Formenwandel nicht selten auch ein funktionsgeschichtlicher Paradigmenwechsel einher, einen Automatismus im Sinne ›neue Form = neue Funktion‹ kennt die Kulturgeschichte jedoch nicht. Die folgende gattungsgeschichtliche Skizze wird daher primär von der Frage geleitet, ob eine inhaltliche oder formale Innovation auch eine funktionsgeschichtliche Innovation bzw. einen problemgeschichtlichen Paradigmenwechsel darstellt.
Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
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2.2 Die frühneuzeitliche Gattungsgeschichte der literarischen Utopie a)
Die satirische Renaissance-Utopie
Der formal-innovative Charakter von Thomas Morus’ Utopia lässt sich auf die Selektion und Neukombination dreier schon vorhandener Gattungstraditionen zurückführen, nämlich der antiken Satire, des platonischen Dialogs und des Reiseberichts. Der Bericht von der Insel Utopia dient als Argument in einem rahmenden Streitdialog, der sich um die Rolle des humanistischen Intellektuellen im absolutistischen Staat dreht und der in einer Patt-Situation endet. Während der fiktive Morus in dem Streitgespräch für die Kompromissbereitschaft des Philosophen und für dessen partielle Beteiligung an der Politik plädiert, versteht sein Diskussionskontrahent Hythlodaeus einen solchen Kompromiss als die Preisgabe der Identität von humanistischer Philosophie. Durch seine politische Beteiligung liefere der Humanist dem Fürsten eine philosophische Legitimation für dessen falsches Handeln. Eine echte Verbesserung der Verhältnisse sei hingegen nur von der Abschaffung des Privateigentums zu erwarten, was Hythlodaeus mit seinem Reisebericht von der Insel Utopia demonstriert. Satirisch relativiert wird die Gültigkeit und Überzeugungskraft dieses Berichtes indes durch die Semantik der Eigennamen, denn bei Hythlodaeus, dem Berichterstatter von Utopia, handelt es sich ja dem Namen nach um jemanden, der Unsinn erzählt.110 Der naheliegenden Vermutung, die Utopia sei daher nur das moralfreie ironische Spiel eines humanistischen Gelehrten, widersprechen aber wiederum andere Textsignale: In den fünf lateinischen Ausgaben, die zu Morus’ Lebzeiten erscheinen und an deren Gestaltung der Autor mitgewirkt hat (Löwen 1516, Paris 1517, Basel März und November 1518 und Florenz 1519), enthält die Utopia nämlich deutende Begleitschreiben, Gedichte und über 200 Randglossen von Morus’ Humanisten-Freunden, die den eigentlichen Text als Dokumente einer exemplarischen Erstrezeption ornamentieren.111 Da berichtet etwa der französische Humanist Guillaume Budé, dass ihm durch die Lektüre von Hythlodaeus’ Bericht über die Insel Utopia schlagartig die Inanität seines Strebens nach ökonomischem Erfolg zu Bewusstsein gekommen sei. Trotz des engmaschigen Netzes von Ironiesignalen, das Morus mit den vielen sprechenden Eigennamen geknüpft hat, stecken also die dem Text beigegebenen Parerga einen exemplarischen Rezeptions- und Interpretationsspielraum ab, demzufolge man sich von dem utopischen Entwurf durchaus zu einem wirklichkeitskritischen Blick auf die eigene Lebenspraxis stimulieren lassen kann. In Gestalt dieser spannungsreichen Korrelation zwischen dem utopischen Entwurf und seiner widersprüchlichen fiktionalen Vermittlung antwortet die Utopia auf ein Problem. Vor allem die Einbettung des utopischen Entwurfs als
110 111
Vgl. Kuon (1986), 122. Vgl. ebd., 109–116.
2. Gattungsgeschichte
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Argument in einen rahmenden Streitdialog mit multiplen Positionen kann erklären, vor dem Hintergrund welches Problemhorizonts man diesen Text lesen soll.112 Die Gesprächsteilnehmer diskutieren kurz gesagt darüber, ob sich innerhalb der politischen Praxis des entstehenden frühneuzeitlichen Staates verbindliche Vernunftnormen säkular begründen und öffentlich zur Geltung bringen lassen. Ausgehend davon kann man die Utopia dem ethischen Problemszenario des Humanismus in der konkreten historischen Situation am Beginn der Neuzeitwerdung zuordnen, als sich für eine kleine humanistische Elite ein vernünftiger Normenkonsens nicht mehr einfach dogmatisch, unter Rekurs auf unbezweifelbare Glaubensbestände begründen lässt.113 Bei den multiplen Wertungsperspektiven, die der Text offeriert, handelt es sich um eine implizite Antwort auf dieses Problem, die sich folgendermaßen reformulieren lässt: Unter den Bedingungen der Neuzeitwerdung kann man die Idee eines vernünftigen Normenkonsenses nicht dogmatisch setzen, sondern sie allenfalls permanent in ihrem Für und Wider diskutieren, in der Hoffnung sich dieser Idee dadurch anzunähern. Mit Peter Kuon lässt sich die Utopia daher als »typisches Produkt des christlichen Humanismus erasmischer Prägung«114 verstehen, der leserseitig immer ein gerüttelt Maß an eigenständiger Reflexionsbereitschaft voraussetzt. In den folgenden 250 Jahren realisiert keine literarische Utopie mehr eine Textstruktur, die ihrer Komplexität nach mit der Utopia vergleichbar wäre, dies gelingt näherungsweise erst wieder bei Wieland (vgl. Kap. II). Wie Peter Kuon überzeugend gezeigt hat, lässt sich dennoch von einer gattungsgeschichtlichen Periode satirischer Renaissance-Utopien sprechen, die sich nicht nur auf die Utopia beschränkt und die sich dadurch auszeichnet, dass der Fiktionsironie in diesen Texten ein hoher Stellenwert zukommt. Entsprechende Textsignale weist Kuon im utopischen Entwurf der Abtei Thélème im Gargantua (1534) von François Rabelais nach und in der Dialog-Utopie I Mondi (1552) von Francesco Doni.115 Wie wir gesehen haben, verortet selbst noch Andreae seine Christianopolis in der satirischen Morus-Tradition, indem er sie in der Vorrede als ›ludicrum‹ unter Freunden auszeichnet, das im spielerischen Aufdecken der eigenen Fiktionalität der Utopia vergleichbar ist. Bei Andreae verbindet sich mit diesen fiktionsironischen Rudimenten indes bereits ein neuer Modus literarischer Problembewältigung. Ein Text des Übergangs und damit Indiz für das Entstehen eines neuen Problemhorizonts, der mit literarischen Utopien zu bewältigen versucht wird, ist Kaspar Stiblins Commentariolus de Eudaemonensium Republica (1555). Stiblin stammt aus dem Allgäu, hat in Freiburg studiert und als lateinischer Schulmeister
112 113 114 115
Zum Rahmendialog der Utopia vgl. W. Müller (2002). Vgl. Stockinger (1985), 238–241. Kuon (1986), 134. Kuon (1987), 3f.
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
an der Humanistenschule im elsässischen Schlettstadt gelehrt.116 Der Commentariolus, der hier entsteht, darf beanspruchen, die erste literarische Utopie eines deutschen Verfassers zu sein,117 ein Prädikat, das man lange Zeit fälschlicherweise Andreaes Christianopolis zugesprochen hatte. Trotz Stiblins humanistischem Hintergrund kündigt der Commentariolus die Allianz zwischen Satire und Utopie auf. Aus der knappen Rahmenhandlung geht hervor, dass der Bericht von der Insel Makaria und den Eudaimonensern sich der Einbildungskraft eines Schulmeisters verdankt, der sich in den Sommerferien in seine humanistische Bibliothek zurückgezogen hat, die Idealstaatsentwürfe des Aristoteles, Platon und Xenophon liest und angeregt von dieser Lektüre eine Phantasiereise zu diesen antiken Idealstaaten unternimmt. Er wird ihrer aber schließlich überdrüssig und schifft sich nach Eudaimon ein, der Hauptstadt der aus Morus’ Utopia bekannten Insel Makaria. Stiblin kombiniert diese spielerische Fiktionsironie – die Phantasiereise eines Humanisten in seiner Bibliothek – jedoch nicht wie Morus mit ironischer Distanz zu seinem utopischen Entwurf, sondern schreibt dessen Idealität im Gegenteil ohne jede Brechung fest. Dieser Rückgang ironischer Selbstreflexivität und der distanzlose »Anspruch auf Exemplarität«118 geht mit einer Zunahme allegorischer und emblematischer Elemente einher, was sich vor allem am Stadtbild und den öffentlichen Gebäuden Eudaimons zeigt, die mit moralischen Sentenzen und allegorischen Bildern bemalt sind. Stiblins Commentariolus vollzieht damit den Übergang zum »neuen Typus der allegorischen Utopie der Gegenreformation«119 und dies keineswegs nur auf formaler Ebene: Der Commentariolus ist die Utopie eines gegenreformatorischen Reformkatholizismus,120 denn die Bemerkungen zur Religion der Eudaimonenser richten sich offenkundig gegen konfessionelle Zersplitterung, gegen den lutherischen Grundsatz vom Priestertum aller Gläubigen und gegen die Priesterehe.121
116 117 118 119 120 121
Vgl. Jahn (1994), XI–XXVI. Vgl. Winter (1978), 39. Kuon (1987), 4. Ebd. Vgl. Seibt (1972) 104–119. Für die Deutung der Evangelien verwenden die Eudaimonenser »nicht beliebige Interpreten, sondern nur solche, die ihr ehrwürdiges Alter, ihre Bildung und ihr unbescholtener Lebenswandel der Nachwelt empfiehlt […]; es gibt keine Heuchelei, keine Abweichung vom katholischen Glauben« (Stiblin [1994], 71). »Die Diener der Kirche, die sie wie wir Priester nennen, ahmen in ihrer Lebensführung und in ihren Sitten Christus selber nach, als dessen Nachfolger in derselben Aufgabe sie sich verstehen; […] Über Religionsfragen zu urteilen, ist nicht jedem beliebigen Mann auf der Straße erlaubt, sondern nur denen, die sich beruflich damit befassen. […] Die Eudaimonenser wunderten sich, daß es bei uns so verschiedene religiöse Richtungen gibt, so viele Sekten, Verwirrungen, Ansichten« (Ebd., 73): Zur eudaimonensischen Religion vgl. Jahn (1994), XLVI.
2. Gattungsgeschichte
b)
25
Die allegorische Barock-Utopie
Der nachreformatorische Prozess der Konfessionalisierung lässt einen neuen Problemkontext entstehen, den Autoren literarischer Utopien nicht mehr mit satirischer Fiktionsironie, sondern mit einer »Tendenz zur allegorischen Überhöhung der fiktiven ›Wirklichkeit‹«122 zu bewältigen versuchen. An der Gattungsgeschichte zwischen Renaissance und Barock kann man ablesen, dass das Klima der katholischen Gegenreformation und die »Frömmigkeitskrise«123 des nachreformatorischen Protestantismus um 1600 auch eine »Krise der Fiktion«124 implizieren: Um Dichtung gegen den Lügenvorwurf zu immunisieren, wird ihre Zulässigkeit auf die Funktion als allegorische Verbildlichung spekulativer Wahrheitsaussagen gegründet. Die erste ›post-tridentinische Utopie‹125, mit der dieser Funktionswandel deutliche Gestalt gewinnt, ist Ludovico Agostinis Repubblica immaginaria (1583–1590).126 Ihm folgen die weitaus bekannteren literarischen Utopien des Barock: Tommaso Campanellas Città del Sole (1602), Andreaes Christianopolis (1619) und schließlich Gabriel de Foignys Terre Australe Connue (1676). Campanellas Sonnenstadt enthält eine Reihe von Signalen (Zahlensymbolik; allegorische Personen an der Regierungsspitze127; räumliche und soziale Strukturierung der Sonnenstadt nach den geometrischen Formen Kreis, Kreuz und Pyramide128), die zu verstehen geben, dass hier nicht das ›realistisch‹ gemeinte Abbild einer idealen Gesellschaft dargestellt wird, sondern ein allegorisches Gleichnis. Anhand der beiden Poetiken Campanellas konnte Peter Kuon nachweisen, dass der italienische Dominikanermönch Campanella die poetologischen Positionen der Spätrenaissance zugunsten einer deutlichen »Barockisierung«129 hinter sich lässt. Wie Platon in der Politeia hegt auch er eine tiefe Fiktionsskepsis und ausgeprägte Vorbehalte gegen die ›Lügen‹ der Dichter. Er verpflichtet Dichtung auf die Vermittlung der Wahrheit von christlicher Heilsgeschichte, zu deren Verbreitung sich gerade die Indirektheit und Uneigentlichkeit dichterischer Kommunikation besonders eigne, weil sie – etwa in allegorischer Umschreibung – eine heilsgeschichtliche Ordnung zum Ausdruck bringen kann, deren Erfüllung in der erfahrungsweltlichen ›Realgeschichte‹ nicht unmittelbar zu erkennen ist.130 Bei Campanellas Sonnenstadt handelt es sich um eine ›Staatsallegorie‹, die die Prinzipien
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128 129 130
Kuon (1987), 5. Zeller (1962), XVIIff. und Zeller (1978). Kuon (1987), 5. Ebd. Vgl. ebd., 5. An der Spitze der Sonnenstadt steht der Priesterfürst Sole (= Metafisico/der Metaphysiker). Ihm stehen drei Fürsten zur Seite: Pon (= Potestà/die Macht), Sin (= Sapienza/ die Weisheit) und Mor (= Amore/die Liebe): vgl. Campanella (2008), 8. Vgl. Kuon (1986), 166–178. Ebd., 190. Ebd., 186–191. – Zu Campanellas Poetik vgl. auch Wels (2005).
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
der vernünftigen Naturordnung, also den »vom Sündenfall unberührten Teil[…] der göttlichen Schöpfungsordnung«131, per Analogieschluss auf den Staat überträgt. In der Erfahrungswirklichkeit lässt sich diese staatsallegorische Umschreibung heilsgeschichtlicher Ordnung jedoch nicht verwirklichen, indem man sie äußerlich auf die menschliche Gesellschaft und ihre Staaten appliziert, denn das hieße, den uneigentlichen Darstellungsmodus allegorischen Sprechens zu ignorieren. Eine Verwirklichung der Utopie könnte dagegen nur gelingen, wenn das innere Prinzip des Staatsentwurfs, seine utopische Axiomatik, nämlich das harmonische Gleichgewicht von Macht, Weisheit und Liebe unter der Souveränität der Vernunft in jedem einzelnen Menschen Platz greifen würde.132 Auch im entgegengesetzten konfessionellen Lager entsteht eine literarische Utopie, bei der allegorisches Sprechen der umschreibenden Vermittlung christlicher Inhalte dient. Mehr noch als Campanella, verleiht Andreae in seiner Christianopolis der allegorischen Bedeutung des Schifffahrts-Topos besonderes Gewicht. Auf die Rudimente renaissancehumanistischer Fiktionsironie in der Christianopolis-Vorrede wurde oben bereits hingewiesen. Auch die Rahmenhandlung selbst versucht keineswegs das Dargestellte als ›realistischen‹ Tatsachenbericht zu beglaubigen. Stattdessen gibt der Ich-Erzähler vor, das »Schiff der Phantasie« zu besteigen und damit über das »Mare Academicum« zu segeln, auf dem er Schiffbruch erleidet, diesen als einziger der gesamten Besatzung überlebt und dank göttlicher Gnade an den Strand der utopischen Insel Caphar Salama gespült wird.133 Diese Metaphern verweisen den Leser auf die allegorische Bedeutungsebene des Textes: Wenn die spekulative Phantasie sich nur auf dem Meer gelehrten akademischen Wissens bewegt, erleidet sie Schiffbruch, d. h. sie erliegt ihrem Hochmut. Nur göttliche Gnade allein kann den Menschen vor dem Schiffbruch erretten.134 Schon die Vorrede bereitet den Leser auf diese allegorische Bedeutung vor, denn hier wird der Zustand der reformierten Kirche, die nur noch in Form eines Staats- und Hofkirchentums bestehe, als Verrat an Luthers Reformation beschrieben. Die Vorrede verweist dabei auf Kirchenkritiker des ausgehenden 16. Jahrhunderts wie Johannes Gerhard, Martin Moller und besonders auf Johannes Arndt, den Verfasser des Wahren Christentums (1605/10) und Wegbereiter des Pietismus. Die Stimme dieser Kritiker habe man gering geachtet und damit die Verweltlichung der Kirche, die Sittenlosigkeit des öffentlichen Lebens, den überheblichen, aber fundamentlosen Wissensdurst und die selbstgefälligen Dispute an den Universitäten vertuscht und weiter befördert.135 Die Christenstadt, mit
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Kuon (1987), 5. Vgl. Kuon (1986), 196ff. Andreae (1972), 37. Kuon (1986), 231–236. »Wenn wir deren Gegeneinwürfen glauben dürfen, so ist die ganze Kirche voller Fenster, wohinein einem jeden zu fliegen und sein Gesums nach Belieben darin zu treiben gestattet ist, das Gemeinwesen ein offener Markt, wo man Laster kaufen und verkaufen darf, die Akademien ein Labyrinth, wo das Umherirren beides, eine Lust
2. Gattungsgeschichte
27
der Andreae auf diese Zeitdiagnose reagiert, ist aber nicht ein Idealstaatsentwurf, der all dies beseitigen könnte, sondern ein »gleichnishaftes Bild für die Gemeinschaft der ›wahren Kirche‹«136 und für das »zu konkreter Christlichkeit reformierte Individuum«137, das mit weltlicher Sinnsuche Schiffbruch erleidet und am Strand des ›wahren‹ christlichen Glaubens wiedergeboren wird. Andreaes Christianopolis macht besonders luzide, dass die barocke Allegorie-Utopie in einem konkreten problemgeschichtlichen Kontext steht, nämlich dem Prozess der Konfessionalisierung und der ›Frömmigkeitskrise‹ des nachreformatorischen Protestantismus um 1600, die beide mit der überhöhenden Darstellung der christlichen Heilsgeschichte und des christlichen Bekehrungsgedankens in Gestalt utopischer Staatsallegorien zu bewältigen versucht werden.138
c)
Die Roman-Utopie der Frühaufklärung
In den humanistischen Utopien wird die theologische Idee der menschlichen ›natura corrupta‹ mit der Norm eines erbsündelosen Gemeinwesens konfrontiert. Die theologische Vorstellung der Erbsünde verliert jedoch in der Frühaufklärung zugunsten einer rationalen Begründung menschlicher Unvollkommenheit an Einfluss. Leibniz’ Theodizee-Lehre entzieht dem lutherischen Erbsünde-Dogma und seinen anthropologischen Grundannahmen die argumentative Basis, da sich für Leibniz die Unvollkommenheit des Menschen logisch-rational aus seiner notwendig begrenzten Kreatürlichkeit ableiten lässt.139 Dabei verbürgt die Güte Gottes, dass die wirkliche auch die beste aller möglichen Welten ist.140 Im Zusammenhang mit seinem Versuch, menschliche Unvollkommenheit rational zu begründen und die gesamten irdischen Verhältnisse des Menschen als gut zu erweisen, positioniert sich Leibniz auch kritisch gegen die frühneuzeitliche Gattungstradition der literarischen Utopie: Da er die unvollkommene als die wahre und unaufhebbare Menschennatur versteht, lehnt er Fiktionen jedweder Zustände ab, die diese Grundannahme mit Vollkommenheitsbildern negieren.141 Die neue, frühaufklärerische Realitätskonzeption zeichnet sich zudem dadurch aus,
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139 140 141
und eine Kunst, und alles dasjenige lauter Gewinn ist, was man hierauf verschwendet« (Andreae [1972], 27). Kuon (1986), 251. Ebd., 241. Wie Kuon dargelegt hat, lässt sich auch noch Gabriel de Foignys Terre Australe Connue (1676) als allegorische Utopie deuten: Kuon (1986), 303f. – Stockinger führt hiergegen allerdings einige kritische Einwände ins Feld: Stockinger (1989), 319f. Vgl. Schmidt-Biggemann (1980). Vgl. Leibniz (1965), Bd. 2.1, 221. »Allerdings kann man sich mögliche Welten ohne Sünde und ohne Elend vorstellen und könnte daraus etwas schaffen, was Romanen, Utopien und Sevaramben gleicht, aber diese Welten würden im übrigen der unseren bedeutend nachstehen. Ich kann das nicht im einzelnen zeigen, denn wie könnte ich Unendlichkeiten kennen, darstellen und miteinander vergleichen? Man muß es mir vielmehr ab effectu schließen, da Gott diese Welt gewählt hat, so wie sie ist. Überdies wissen wir ja, daß ein Übel
28
Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
dass sie geschichtlichen Wandel positiv, als Fortschritt und nicht als Unbeständigkeit bewertet und daher menschliche Unvollkommenheit als Perfektibilität umdeutet.142 Die tradierten Gattungsstrukturen geraten in der Frühaufklärung nicht allein in Konflikt mit dem rationalistischen Menschenbild der Theodizee-Lehre und dem Fortschrittsgedanken, sondern auch mit der neu entstandenen Wahrscheinlichkeitspoetologie. Die Poetologie der Frühaufklärung stützt sich auf zwei metaphysische Grundannahmen der Leibnizschen Philosophie: Zum einen auf die Vorstellung möglicher Welten (mondes possibles), die Gott alle durchdacht und unter ihnen schließlich die beste aller möglichen Welten als die wirkliche Welt ausgewählt hat,143 und zum anderen auf Leibniz’ Unterscheidung zwischen Tatsachenwahrheiten (vérités de fait) und Vernunftwahrheiten (vérités de raisonnement), wobei sich Tatsachenwahrheiten auf die existierende Wirklichkeit beschränken, mit Vernunftwahrheiten aber Aussagen über die Grundprinzipien gemeint sind, die in der wirklichen und in allen möglichen Welten gelten, nämlich der Satz vom Widerspruch und vom zureichenden Grund.144 Zum zentralen Charakteristikum der frühaufklärerischen Poetologie gehört es, dass man sich literarische Fiktionen mithilfe der von Leibniz geprägten Vorstellung möglicher Welten erklärt, wodurch die Poetologie sich eng an das in der Frühaufklärung dominierende philosophische System anschließt und sich von der damit verbundenen Realitätskonzeption abhängig macht. In den poetologischen Systemen der Frühaufklärung besitzen literarische Fiktionen dadurch ihre Berechtigung, dass sie im Gegensatz zur Geschichtsschreibung zwar keine Tatsachenwahrheiten, d. h. nicht die Faktizität wirklichen Geschehens darstellen, aber eine wahrscheinliche Handlung, die den Gesetzen der Vernunft entspricht, sprich: eine mögliche Welt, die dem Grundsatz der Widerspruchsfreiheit unterliegt.145 Widerspruchsfrei ist ein Geschehen, das einer vernünftigen Logik von Ursache und Wirkung folgt, bei dem eine unvernünftige bzw. unmoralische Handlung auch negative Folgen hat, vernünftiges Handeln dagegen positive. Das
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143 144 145
oft ein Gut bewirkt, das man ohne jenes Übel nicht erlangt haben würde« (Ebd., 221/223). »Wenn es nicht geschehen kann, daß eine Vollkommenheit gegeben wird, die nicht vermehrt werden könnte, so folgt daraus, daß sich die Vollkommenheit des Weltalls immer vermehrt; so ist sie nämlich vollkommener, als wenn sie sich nicht vermehren würde. Die Glückseligkeit besteht nicht in einem höchsten Grade, sondern in einem ständigen Wachstum der Freuden. Das höchste Wesen kann an Vollkommenheit nicht vermehrt werden, weil es außerhalb der Zeit und der Veränderung steht und das Gegenwärtige und Zukünftige gleicherweise in sich schließt« (Leibniz [1965], Bd. 1, 371/373). Leibniz (1965), Bd. 2.1, 217/219/221. Leibniz (2002), 125. Der Grundsatz der logischen Widerspruchsfreiheit bildet trotz aller Differenzen eine durchgängige Konstante in der Poetologie der Frühaufklärung: Vgl. Wolff (1962ff.), Bd. 1.2 (Deutsche Metaphysik), 349f.; Gottsched (1973), 204; Baumgarten (1983), 45; Breitinger (1966), Bd. 1, 52–77.
2. Gattungsgeschichte
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Konzept der möglichen Welten erfreute sich in der Poetologie der Frühaufklärung deshalb so großer Beliebtheit, weil sich damit Literatur besonders gut als ein Medium zur Popularisierung vernünftigen Denkens begründen lässt. Dadurch dass Dichtung Vernunftwahrheiten in sinnliche Narrationen ›übersetzt‹, vermittelt sie eine ›anschauende Erkenntnis‹, die vernünftige Affekte hervorruft und sich deshalb als probates Aufklärungsinstrument erweist.146 Ludwig Stockinger und Peter Kuon haben gezeigt, dass der Gattungswandel der literarischen Utopie im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert als eine Anpassung an die neue frühaufklärerische Realitätskonzeption und die damit verbundene Poetologie verstanden werden kann. Stockinger und Kuon betreiben damit, ohne das so zu nennen, problemgeschichtlich orientierte Gattungshistoriographie: Folgt man ihren Argumenten, dann stehen Autoren literarischer Utopien in der Frühaufklärung nämlich vor dem Problem, die dichterische Darstellung utopischer Staaten, in denen erbsündelose Individuen wohnen, gegenüber einer Wirklichkeitskonzeption zu rechtfertigen, die von der Theodizee-Lehre und dem Fortschrittsgedanken dominiert wird, und gegenüber einer an Wahrscheinlichkeit und Widerspruchsfreiheit orientierten Poetologie. Die Lösung dieses Problems gelingt dadurch, dass die poetischen Vermittlungsstrukturen von literarischen Utopien den neuen Bedingungen angepasst werden. Der frühaufklärerische Gattungswandel und die Entstehung der Roman-Utopie sind damit Ausdruck einer neuen Problembewältigungsstrategie. Die Darstellung idealer Gesellschaftszustände und erbsündeloser Individuen widerspricht dem rationalistischen Menschenbild und dem Fortschrittsgedanken der Frühaufklärung vehement und lässt sich vom Standpunkt der Aufklärungsphilosophie nicht wahrscheinlich, d. h. im Rahmen der Vernunftwahrheit einer möglichen Welt vermitteln. Die Kunstfertigkeit von Autoren literarischer Utopien in der Frühaufklärung besteht also darin, ein die Grenzen der Vernunftwahrheit überschreitendes Geschehen wahrscheinlich darzustellen. Dies gelingt vor allem durch die Reduktion traktatartiger und den Ausbau narrativer Strukturen, durch das Ansprechen der Leser-Phantasie und die Vermittlung ›anschauender Erkenntnisse‹, die das philosophisch unmögliche utopische Geschehen als kompatibel mit der frühaufklärerischen Realitätskonzeption erscheinen lassen.147 Als Erster passt Denis Veiras in L’Histoire des Sévarambes (1677–1679) die Gattungsstruktur durch eine weitreichende ›Episierung‹ der neuen Realitätskonzeption an.148 Zwar versuchen alle literarischen Utopien seit Morus mit Darstel-
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148
Vgl. Wolff (1962ff.), Bd. 1.4 (Deutsche Ethik), 99ff. Die detaillierteste und materialreichste Darstellung zur literarischen Utopie innerhalb der poetologischen Normen der Frühaufklärung findet sich bei Stockinger (1981), 149–184. Vgl. Kuon (1986), 307–373. – Freilich lässt sich der von Veiras eingeleitete Gattungswandel nicht ursächlich auf Leibniz zurückführen. Vielmehr verschärft die Leibniz-Theodizee zu Beginn des 18. Jahrhunderts einen Konflikt zwischen den Gattungsstrukturen der literarischen Utopie und der aufklärerischen Realitätskonzeption,
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
lungstechniken wie der Seereise eine Vermittlung zwischen Erfahrungswirklichkeit und utopischer Insel herzustellen, um nicht vorschnell das Interesse derjenigen Leser einzubüßen, die sich an der Darstellung von Unmöglichem stoßen. Durch ironische Distanzierung oder Allegoriesignale machen die Texte der frühneuzeitlichen Utopia-Tradition jedoch klar, dass mit dem utopischen Entwurf nicht eine mögliche Realität, sondern die Wahrheit einer Idee dargestellt werden soll. Veiras hingegen baut die tradierten Vermittlungstechniken erheblich aus und formuliert mit seinem utopischen Entwurf nicht nur eine ideelle Wahrheit, sondern erzeugt auch eine vielschichtige Realitätsillusion: Er schaltet seiner literarischen Utopie eine komplexe Herausgeberfiktion vor und betreibt großen Aufwand damit, die Rahmenhandlung zu narrativieren. Der Übergang in den utopischen Sevaramben-Staat wird als stufenweise geographische Annäherung erzählt.149 Zudem dynamisiert Veiras die geschichtslose Statik der humanistischen und barocken Utopie-Entwürfe, indem er die Entstehung des Sevaramben-Staats als geschichtlichen Entwicklungsprozess zeigt und so den Übergang von der Erfahrungswirklichkeit zum utopischen Staat als möglich erscheinen lässt.150 Sein utopischer Entwurf fungiert mithin weniger als Gegenbild, sondern als »idealisierende Retusche einer Momentaufnahme der europäischen Realität«151. Einzelne fortschrittliche Elemente des französischen Absolutismus, wie die monarchische Regierungsform, der merkantilistische Staatskapitalismus, die effektive Bürokratie und das Leistungsdenken, werden selektiert und als positive, weiterzuentwickelnde Aspekte der Erfahrungswirklichkeit mit dem utopischen Entwurf hervorgehoben. Veiras’ Utopie versucht also eine »in der historischen Welt angelegte mögliche alternative Zukunft«152 sichtbar zu machen. Die Histoire des Sévarambes ist damit ein charakteristisches Beispiel frühaufklärerischer Literaturpolitik, die mithilfe der Anschaulichkeit literarischer Fiktionen versucht, Politik aufzuklären und zu moralisieren. Wesentlichen Anteil an der sinnlichen Überzeugungskraft von Veiras’ utopischem Entwurf hat die ›realistische Anthropologie‹ der Sevaramben: Diese utopi-
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der seine Wurzeln im säkularen Naturrecht des 17. Jahrhunderts hat: Thomas Hobbes verzichtet auf einen Grundbestand theologischer Menschenbilder, nämlich auf die Vorstellung einer paradiesischen ›natura integra‹. Für Hobbes ist irrelevant, ob man die erfahrungsweltliche ›natura corrupta‹ auf eine Entartung von der paradiesischen ›natura integra‹ zurückführen kann oder nicht. Bei seiner staatswissenschaftlichen Analyse zählt für ihn ausschließlich die ›natura corrupta‹ als reale Natur des Menschen. Hobbes’ Realitätskonzeption und sein Menschenbild entziehen daher dem literarischen Entwurf einer außergeschichtlichen Norm die Legitimationsbasis. Trotz aller Differenzen zieht sich dieser ›anti-utopische‹ Argumentkomplex als Konstante durch die naturrechtlichen Realitätskonzeptionen des 17. Jahrhunderts, etwa bei Samuel Pufendorf oder Christian Thomasius. Vgl. Baudach (1993), 61–127, besonders 122–127. Vgl. Kuon (1986), 317–321. Vgl. ebd., 337–339. Ebd., 342. Ebd., 376.
2. Gattungsgeschichte
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schen Individuen sind keine vernunft- und willensautonomen Tugendexempel, keine »auf Rationalität reduzierte[n] Automaten, sondern Subjekte mit voll entwickelter Emotionalität«153, deren Affekte prinzipiell ihre Befähigung zu vernünftigem Handeln gefährden können. Im Sevaramben-Staat wird jedoch durch institutionelle Vorkehrungen versucht, jene irrationalen menschlichen Affekte, die den rationalen sozialen Konsens unterminieren, nicht auszuschalten oder zu unterdrücken, sondern diese so zu kanalisieren, dass sie der Gesellschaft als Ganzer nützen. Besonders deutlich wird das am Umgang mit der menschlichen Sexualität, die den Sevaramben nicht als Sünde, sondern als natürlicher Trieb gilt, dessen Befriedigung für den Erhalt der gesellschaftlichen Stabilität einen hohen Stellenwert besitzt. Die Förderung des Sexualtriebs über Maßnahmen wie die Einführung der Heiratspflicht, der Polygamie und der Prostitution von Sklavinnen steht im Dienst der Bevölkerungsvermehrung. Zudem betreiben die Sevaramben eine geradezu eugenetische Form der Geburtenkontrolle, um möglichst gesunden und starken Nachwuchs hervorzubringen.154 Trotz Veiras’ starken Bemühens um eine möglichst ›realistische‹ Darstellung seines utopischen Entwurfs, findet sich auch in der Histoire des Sévarambes jene für die frühneuzeitliche Utopia-Tradition charakteristische Kombination von utopischem Entwurf und Utopiereflexion. Eine humanistische Dialog-Utopie wie Morus’ Utopia betreibt Utopiereflexion mit den Mitteln der Satire und der Fiktionsironie und eine Barock-Utopie wie Andreaes Christianopolis fordert den Leser durch Allegoriesignale zur Utopiereflexion auf. Obwohl sich auch bei ihm marginale und versteckte fiktionsironische und allegorische Signale finden lassen, versucht Veiras dagegen die ›realistische‹ Illusion beim Leser möglichst wenig durch den offensiven Einsatz von Fiktionsironie zu stören. Stattdessen inszeniert er multiple narrative Wertungsperspektiven, die den Leser zur Reflexion über den utopischen Entwurf stimulieren und ihn darauf aufmerksam machen, dass auch mit Sevarambien noch kein vollkommener Zustand veranschaulicht wird.155 Aus problemgeschichtlicher Perspektive zeichnet sich eine frühaufklärerische Roman-Utopie wie Veiras’ Histoire des Sévarambes also dadurch aus, dass sie mit einem utopischen Entwurf versucht, Perfektibilität literarisch darzustellen, indem sie Wirklichkeitskritik und Utopiereflexion mit einer Versinnlichung der Idee moralischen Fortschritts verbindet. Dem von Veiras eingeschlagenen Weg ist vor allem Johann Gottfried Schnabel gefolgt. In dessen Insel Felsenburg (1731–43) fächert sich die Vermittlung zwischen der europäischen Erfahrungswirklichkeit und der utopischen Insel in die Erzählung einzelner Biographien auf. Indem er das utopische Gemeinwesen als Ergebnis wirklichkeitsverändernder, menschlicher Arbeit präsentiert, synthetisiert er die Gattungstradition mit dem aufklärerischen Fortschrittsglauben und 153 154 155
Stockinger (²1986), 79. Vgl. Kuon (1986), 351–358. Ebd., 363–373.
Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
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versucht mithilfe einer wahrscheinlichen Darstellungsweise, die den utopischen Entwurf sukzessive aus den Gegebenheiten der Erfahrungswelt ableitet, die literarische Utopie der frühaufklärerischen Wirkungspoetik anzupassen. Dennoch betreibt auch Schnabel in der Insel Felsenburg Utopiereflexion. Schon in der Vorrede wird auf subtile Weise der Fiktionscharakter des Textes angedeutet, implizit aber behauptet, dass auch literarische Fiktionen eine (moralische) Wahrheit zum Ausdruck bringen können, weshalb man ihren Wahrheitsstatus nicht von der Faktizität des Dargestellten abhängig machen dürfe.156 Unter der problemgeschichtlichen Perspektive dieser Arbeit kann auch der utopische Roman L’An 2440 (1770/1771) von Louis-Sébastien Mercier zur gattungsgeschichtlichen Periode der Aufklärungsutopien gezählt werden, obwohl die meisten Utopie-Forscher diesen Text unter formalen Gesichtspunkten als Paradigmenwechsel in der Gattungsgeschichte werten. Wie Veiras und Schnabel versucht indes auch Mercier, in seinem Roman die Idee moralischer Perfektibilität mithilfe eines utopischen Entwurfs zu literarisieren, er projiziert das utopische Gegenbild jedoch nicht auf eine ferne Insel, sondern in eine ferne Zukunft. Und wie bei Veiras und Schnabel finden sich auch bei Mercier marginale fiktionsironische und allegorische Passagen, die den Leser zur Utopiereflexion anhalten (vgl. Exkurs). Was die Aufklärungs-Utopien von Veiras, Schnabel und Mercier aber vor allem zusammenbindet, ist das Darstellungsproblem, das sie alle drei teilen, indem sie versuchen, die literarische Utopie der aufklärerischen Realitätskonzeption anzupassen und sie mit dem Fortschrittsglauben zu synthetisieren. Bei Mercier wird dieses Problem besonders virulent, da er in L’An 2440 die Perfektibilitätsidee zu literarisieren versucht, indem er einen utopischen Entwurf mit aufgeklärten Individuen in einer fernen Zukunft zeigt, ausgerechnet den 700-jährigen Entwicklungsprozess bis dahin aber weitestgehend ausspart. Offenbar widersetzen sich die tradierten, auf die Darstellung von Vollkommenheit ausgerichteten Gattungsstrukturen der Darstellung von Vervollkommnung: Bei dem Versuch, die Idee einer vom Menschen veränderbaren Welt mit utopischen Gesellschaften zu veranschaulichen, wird die Idee gesellschaftlichen Fortschritts zwangsläufig relativiert, da man sie nicht plausibel aus den Gegebenheiten der Erfahrungswirklichkeit ableitet, wenn man sie nur innerhalb eines abgegrenzten Raums oder einer von der Gegenwart isolierten Zukunft mit besonderen Bedingungen zeigt. Der ›realistische‹ Illusionismus der Aufklärungsutopien hat zu einem nicht geringen Teil den Zweck, dieses Problem zu verschleiern, etwa wenn Veiras, Schnabel und Mercier bestimmte Handlungselemente oder institutionelle Einrichtungen erfinden, um die Vernunft- und Konsensfähigkeit ihrer utopischen Staatsbürger zu plausibilisieren: Wichtigster Integrationsfaktor Sevarambiens ist etwa dessen offizieller Kult, den sich der Staatsgründer Sevaris ausgedacht hat. Mit der In-
156
Vgl. Stockinger (1981), 400–404.
2. Gattungsgeschichte
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tegration dieses staatsnotwendigen Betrugs offenbart Veiras implizit, dass die Idee gesellschaftlichen Fortschritts zwangsläufig auf die gläubige Zustimmung zu nicht begründbaren Letztinstanzen angewiesen ist.157 Die Idee vernunftautonomer Individuen lässt sich also nur mithilfe Letztbegründung suggerierender, quasi-mythischer oder religiöser Elemente wahrscheinlich darstellen. Auch Schnabels Inselgesellschaft setzt die Isolierung der Frommen und den Ausschluss der Lasterhaften sowie die Automatik stets bewährten Gottvertrauens voraus, ist also keineswegs auf die Erfahrungswirklichkeit übertragbar.158 Eine entsprechende Analyse von Merciers Roman findet sich in einem Exkurs zwischen Kapitel I und II dieser Arbeit. Unter problemgeschichtlicher Perspektive lassen sich auch Differenzkriterien zwischen den Aufklärungsutopien und den Fortschrittsutopien des 19. Jahrhunderts formulieren. Besonderes Charakteristikum der sogenannten ›Fortschrittsutopien‹159, angefangen von Etienne Cabets Voyage en Icarie (1840) bis zu Theodor Herzls Altneuland (1902), sind fi ktionsbegleitende oder paratextuelle Kommentare, mit denen sich die Autoren gegen eine Klassifi zierung ihrer Texte als literarische Utopien und gegen den polemischen Vorwurf des Utopismus verwehren und stattdessen die Machbarkeit der dargestellten Gesellschaftsentwürfe beteuern. Fortschrittsutopisten intendieren eine konkrete und zumeist zeitnahe Realisierung wesentlicher Elemente ihrer fiktionalen Gesellschaft: So insistiert etwa Edward Bellamy im Nachwort zur 2. Auflage seiner Fortschrittsutopie Looking Backward (1888) darauf, dass das Buch zwar »in der Form eines phantasievollen Romans erschienen ist«, dennoch aber »allen Ernstes in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Evolution als eine Voraussage für den nächsten Schritt in der industriellen und sozialen Entwicklung der Menschheit« gemeint sei.160 Die konstitutive Realisierungsintention der Fortschrittsutopien hat auch Konsequenzen für die Gestaltung der textweltlichen Vermittlung zwischen Erfahrungswirklichkeit und utopischer Gesellschaft: Cabet etwa lokalisiert das utopische Ikarien auf einer fiktiven Halbinsel, die touristisch bereist werden kann. Diese Auflösung der Raumgrenze indiziert einen markanten problemgeschichtlichen Wandel literarischer Utopien, da diese nun zukünftig erwarteten Fortschritt literarisieren und der utopische Staat daher in räumlicher Nähe zur Erfahrungswirklichkeit verortet wird. Besonders illustrativ dafür ist auch die erhebliche numerische Differenz zwischen den 700 Jahren, um die Mercier seinen utopischen Entwurf in die Zukunft vorverlegt, und den nur mehr 21 Jahren, die Theodor Herzls utopisches Israel im Jahr 1923 von der Erfahrungswirklichkeit des zeitgenössischen Lesers im Jahr 1902 trennen.
157 158 159 160
Vgl. Stockinger (²1986), 90. Vgl. Stockinger (1981), 399–449. Vgl. Affeldt-Schmidt (1991). Bellamy (1983), 269.
Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
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In Herzls utopischem Roman Altneuland findet sich noch ein weiteres griffiges Unterscheidungsmerkmal zwischen den Fortschrittsutopien des 19. Jahrhunderts und den fortschrittsoptimistischen Aufklärungsutopien: Fortschrittsutopien wie Herzls Altneuland betreiben nämlich erheblichen Aufwand damit, sich von konkurrierenden Zukunftsentwürfen zu distanzieren.161 Da Fortschrittsutopisten eine zeitnahe Realisierung zentraler Elemente ihrer fiktiven Gesellschaft intendieren, konkurrieren ihre Entwürfe zwangsläufig miteinander. Die Aufklärungsutopien von Veiras, Schnabel und Mercier stehen dagegen gerade nicht unter dem Druck einer solchen Entwurfskonkurrenz, da es ihnen im Unterschied zu Fortschrittsutopien nicht um den konkreten Entwurf einer zukünftigen Gesellschaft geht, sondern vorrangig um die Idee moralischer Vervollkommnung. Die Gesellschaftsentwürfe der Aufklärungsutopien versuchen nicht zukünftige Realität zu antizipieren, sondern wollen im Medium Literatur zum Glauben an die Idee moralischer Vervollkommnung ermutigen.
3.
Problemkonstellation
3.1
Literaturgeschichte als Problemgeschichte
Das Verfahren, Literaturgeschichte sowie Epochen- und Gattungsgeschichte als Geschichte wechselnder Problemlagen zu deuten, geht unter anderem auf eine Konzeption von Philosophiegeschichtsschreibung zurück, die Nicolai Hartmann 1909 in einem Aufsatz in den Kant-Studien entwickelt hat. Statt sich auf Fakten und Personen zu konzentrieren, plädiert Hartmann dafür, Philosophiegeschichte als Kontinuum konstanter Universalprobleme aufzufassen, zu denen sich die einzelnen Philosopheme immer wieder neu positionieren. In Abgrenzung vom philologischen Positivismus beginnt auch der Germanist Rudolf Unger etwa zeitgleich ein ähnliches Konzept für die Literaturgeschichte zu erarbeiten. Gemeinsamer Bezugspunkt von Hartmann und Unger ist die ›Geistesgeschichte‹ Wilhelm
161
In Herzls Altneuland wird das 19. Jahrhundert als »ein merkwürdig hinkendes Zeitalter« diskreditiert, in dem man die »konfusesten Schwärmer« wie Fourier und Cabet ernst nahm und in denen von verstiegenen Träumern die »fabrikrauchgeborenen Wolken eines Zukunftsstaates« an den Himmel gemalt wurden: »zum Beispiel die berühmte Wolke des Amerikaners Bellamy, der in seinem ›Rückblicke aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887‹ eine edle kommunistische Gesellschaft darstellt. Dort kann jeder aus der allgemeinen Schüssel so viel essen, als er mag. Der Wolf weidet neben dem Lamm. Schön, sehr schön! Nur sind dann die Wölfe keine Wölfe und die Menschen keine Menschen mehr. Nach Bellamy kam der Staatsromantiker Hertzka und entwarf seine Utopie ›Freiland‹, ein sehr brillantes Zauberkunststück, vergleichbar dem unerschöpflichen Hute des Taschenspielers. Es sind schöne Träume oder wenn ihr wollt Luftschiffe, aber lenkbar sind sie nicht« (Herzl [2004], 134f.).
3. Problemkonstellation
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Diltheys und dessen Vorstellung verschiedener ›Weltanschauungstypen‹, die der Mensch in Konfrontation mit dem unlösbaren Rätsel des Lebens entwirft.162 In kritischer Auseinandersetzung mit Hartmann und Unger entwickelten vor allem Hans-Georg Gadamer, Hans Robert Jauß, Walter Benjamin, Jochen Hörisch, Niklas Luhmann und Karl Popper eine Reihe von philosophie-, literaturund ideengeschichtlichen Modellen, die in den unterschiedlichsten theoretischen Varianten auf dem zweigliedrigen Schema von Frage und Antwort bzw. Problem und Lösung gründen.163 Während der zurückliegenden 30 Jahre haben sich schließlich Karl Eibl, Wilhelm Voßkamp und Michael Titzmann um eine funktions- und problemhistorische Grundlegung von Literaturgeschichtsschreibung verdient gemacht.164 Eibl, Voßkamp und Titzmann verbinden ein genuin literaturhistoriographisches Interesse mit dem Anspruch, Problemgeschichte als eine Art ›Suchbefehl‹ bei der Bildung von Gattungs- und Epochenbegriffen zu benutzen. Titzmann geht bei seinem Entwurf einer ›integrativen Literaturgeschichte‹ sogar davon aus, dass einzig »das Modell von Wandel als Problemlösungsversuch«165 geeignet sei, den Wandel von literarischen Strukturen zu beschreiben und zugleich zu erklären. Die aktuellste Variante problemgeschichtlicher Modellbildung stammt von Dirk Werle, der in mehreren Beiträgen nicht nur eine facettenreiche wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktion dieses Paradigmas erarbeitet, sondern auch entscheidende Präzisierungsvorschläge für eine literaturwissenschaftliche Ideengeschichte als Problemgeschichte unterbreitet hat.166 Literatur als Problemlösungsaktivität in den Blick zu nehmen, meint für Werle immer zweierlei, nämlich zum einen nach dem Problemszenario zu fragen, auf das ein literarischer Text reagiert, und zum anderen nach der Art und Weise dieser Reaktion. Mit dem Paradigma ›Problemgeschichte‹ geht es Werle vor allem darum, eingliedrige Konzepte literaturwissenschaftlicher Ideen- und Wissensgeschichte, die Ideen nur genealogisch aneinanderreihen, durch das zweigliedrige Konzept einer FrageAntwort- bzw. einer Problem-Lösungs-Konstellation zu erweitern. Der methodische Zugewinn besteht dabei in der Korrelation zwischen literarischen Texten und den realweltlichen Problemen konkreter historischer Akteure. So verstanden, umgeht der problemgeschichtliche Zugriff auf literarische Texte nicht nur eine rein immanente Wissens- und Ideengeschichte, sondern bietet auch Chancen, die Beziehung zwischen Literatur- und Gesellschaftsgeschichte neu zu fassen. Man vermeidet die Behauptung eines trivialen Widerspiegelungsverhältnisses zwi-
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Eine kritische Rekonstruktion der problemgeschichtlichen Modelle von Hartmann und Unger im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext unternimmt Werle (2006), 482– 495. Für eine kritische Rekonstruktion dieser Phase in der Theoriegeschichte problemhistorischer Modellbildung vgl. Werle (2009), 261–279 u. 283–291. Vgl. ebd., 279–283 u. 291–296. Titzmann (1991), 430. Vgl. Werle (2006); Werle (2007), 23–36; Werle (2009).
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
schen Literatur und Gesellschaftsgeschichte und steigert den Erklärungswert von Aussagen über Wissen, Ideen oder Diskurse in literarischen Texten, wenn man zunächst nach jenen Problemen eines konkreten Autors fragt, die sich in seinen Texten manifestieren. Werle versteht ›Probleme‹ daher in erster Linie als ›anthropozentrische‹ Kategorien: »Jemand hat ein Problem, jemand hat eine Frage«167. Werle ergänzend, sollte indes betont werden, dass auch der problemgeschichtliche Zugang Abstraktionen ermöglicht, die über einen einzelnen literarischen Text und seinen konkreten Problemkontext hinausgehen. Man kann die Kontinuität und Diskontinuität von Problemen im Lauf der Literaturgeschichte in den Blick nehmen und Epochenbegriffe ausgehend von der Frage konstruieren, ob bestimmte Textkorpora in ähnlicher Weise auf gleiche Probleme reagieren. Wenn ein Problemhorizont von einer anderen Epoche ›geerbt‹ wurde, dann lassen sich Epochenbegriffe zudem an der veränderten Problemlösungsstrategie oder dem neuen Antworttypus festmachen, den ein Textkorpus in Bezug auf ›geerbte‹ Probleme ausbildet.168 Werle empfiehlt potentiellen Problemhistorikern allerdings, bei der Hypothesenproduktion Diät zu halten. Statt mit großer Geste unscharfe allgemeinmenschliche Problemszenarien für literarische Texte zu entwerfen, sollten sie versuchen, »möglichst spezifische, differenzierte Problemsituationen als Primärkontext ihrer ideengeschichtlichen Studien zu formulieren.«169 Werles Modell bemüht sich also vor allem um eine stärkere ›Szientifi zierung‹ der ›Problemgeschichte‹ und um ihre Immunisierung gegen die Gefahr der Beliebigkeit, die zwangsläufig droht, wenn man Problemgeschichte wie in ihren Anfängen bei Hartmann und Unger betreibt, nämlich bezogen auf unspezifisch-allgemeinmenschliche Universalprobleme wie Liebe, Tod und Freiheit. Darüber hinaus bietet Werles starke Betonung der Zweigliedrigkeit von Problem und Lösung gegenüber dem funktionsgeschichtlichen Modell Wilhelm
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Werle (2009), 258. Eine solche problemgeschichtliche Deutung von Epochenwandel geht zurück auf Hans Blumenbergs Kritik und Neufassung des Säkularisierungsmodells (Die Legitimität der Neuzeit): Demzufolge wandeln sich im Lauf der Ideengeschichte zwar die Begriffssysteme, es entstehen neue Begriffe und bestehende Begriffe werden mit neuer Bedeutung ausgestattet, erhalten bleiben jedoch bestimmte Fragen und neue Deutungssysteme geraten daher unter den Druck, Antworten zu produzieren, die denen älterer und schon vorhandener Deutungssysteme äquivalent sind. Neue Deutungssysteme übernehmen also eine Problemhypothek: »Die Neuzeit hat Probleme als sich aufgegeben angenommen, die das Mittelalter gestellt und vorgeblich beantwortet hatte, die aber nur und gerade deshalb aufgeworfen worden waren, weil man sich schon im Besitz der ›Antworten‹ glaubte. […] Die Kontinuität der Geschichte über die Epochenschwelle hinweg liegt nicht im Fortbestand ideeller Substanzen, sondern in der Hypothek der Probleme, die auch und wieder zu wissen auferlegt, was schon einmal gewußt worden war« (Blumenberg [1996], 59; vgl. auch Kap. IV.1). – Dass Blumenberg mit seinem Angriff auf die Säkularisationskategorie zugleich auch eine Möglichkeit ihrer kritisch-revidierten Neufassung liefert, nämlich ein Funktionsmodell von Geschichte, zeigt Marquard (41997), 15–18. Werle (2009), 298.
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Voßkamps den Vorteil einer schärferen methodischen Eingrenzung: Immerhin lässt die Frage nach den Problembewältigungsstrategien literarischer Texte einen kleineren Antwortspielraum zu, als die Frage nach ihrer Funktion. Verglichen mit dem Modell der Funktionsgeschichte reduziert sich bei einer problemgeschichtlichen Analyse also die Ergebnisvagheit, denn im Unterschied zur Funktion kann eine Lösung »nur da auftauchen, wo auch ein Problem war.«170 Werles Ansatz weiterführend, kann man nun folgenden Problem-Begriff konturieren, der auch dieser Arbeit zugrunde gelegt wird: Probleme unterscheiden sich von Ideen oder Wissensbeständen dadurch, dass sie aus der Konkurrenz von Deutungssystemen und der damit konvergierenden Verunsicherung hervorgehen. Sie schweben aber nicht im luftleeren Raum, als bloßer Widerspruch von Ideologien, sondern Probleme hat jemand: Probleme treten gerade dann zu Tage, wenn die Konkurrenz von Deutungssystemen in der Identitätsfindung eines konkreten historischen Akteurs ausgetragen wird. Das analytische Potential eines solchen Problem-Begriffs wird vor allem in den Kapiteln zu Wieland und Friedrich von Hardenberg (Novalis) unter Beweis gestellt, da sich die Formen ästhetischer Problemreflexion bei beiden Autoren als Versuch verstehen lassen, biographische Konflikte zwischen Deutungssystemen zu handhaben: zwischen Leibniz-Theodizee und Empirismus bei Wieland, zwischen Christentum und Transzendentalphilosophie bei Hardenberg. Abschließend soll noch auf die gravierendste Schwierigkeit jeder Literaturgeschichte als Funktions- oder Problemgeschichte aufmerksam gemacht werden, die im ästhetischen ›Überschuss‹ von literarischen Texten, Epochen und Gattungen besteht. Offenbar lässt sich Literatur fast nie ganz auf das Erfüllen von Funktionen bzw. das Lösen von Problemen reduzieren: »Die künstlerische Formenvielfalt […] dürfte stets größer sein als die Zahl der nachweisbaren Funktionen«171, räumt schon Voßkamp ein. Gerade in solchen Zugeständnissen liegt aber die Krux dieser Methode, da man ihr Ergebnisspektrum mit Verweis auf den ästhetischen ›Überschuss‹, den die Problem- oder Funktionsgeschichte nicht mehr erfasst, denkbar stark ausweiten kann: Theoretisch ließen sich ja beliebige Thesen über den Problemkontext literarischer Texte aufstellen und alle Textelemente, die diesen Thesen widersprechen, als ästhetischer ›Überschuss‹ abtun. Wer will schließlich festlegen, wie viel ästhetischer ›Überschuss‹ zulässig ist, um noch sagen zu können, ein literarischer Text erfüllt diese oder jene Funktion bzw. bewältigt dieses oder jenes Problem? Gerade Werles Überlegungen fordern diese Schwierigkeit geradezu heraus, denn er konzipiert ›Problemgeschichte‹ als Erweiterung von literaturgeschichtlicher Ideen-, Motiv- und Themengeschichte und schlägt vor, den Problemhorizont literarischer Texte primär anhand der Verwendung bestimmter Ideen, Motive und Themen zu rekonstruieren. Wie das konkret aussehen kann, hat er in 170 171
Ebd., 281. Voßkamp (1983), 35.
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seiner Dissertation zur Problemgeschichte imaginierter Bibliotheken zwischen 1580 und 1630 demonstriert:172 Auf breiter Quellenbasis zeigt Werle hier, dass die Frage nach der Ordnung des immer weiter anwachsenden Wissens als Problemkontext für die zahlreichen Bibliotheksvorstellungen und -entwürfe in den Texten frühneuzeitlicher Gelehrter fungiert. Für die Fragestellung dieser Arbeit hat sich die problemgeschichtliche Analyse der Bibliotheksidee als äußerst fruchtbares Theoriedesign erwiesen. Macht man dieses Modell einer Problemgeschichte allerdings zum generellen Maßstab von Literatur-, Epochen- oder Gattungsgeschichtsschreibung, dann öffnet man einer willkürlichen und unkontrollierbaren Konstruktion von Problemhorizonten Tür und Tor. Man kann diese Gefahr freilich nie ausschalten, aber minimieren, wenn man sich bewusst hält, dass nicht Ideen, Motive oder Themen auf bestimmte Fragen antworten oder auf Probleme reagieren, sondern literarische Texte als Ganze. Ideen, Motive und Themen sind als Bedeutungselemente literarischer Texte an ihrer Problemlösungsaktivität zwar mitbeteiligt, aber nicht mit dieser identisch. Werle verwischt diesen Sachverhalt, wenn er durchaus sympathisch gegen die in der Literaturwissenschaft verbreitete Ansicht polemisiert, die Auseinandersetzung mit der Form von Literatur sei pauschal gegenüber einer Auseinandersetzung mit ihrem Inhalt zu privilegieren. Werle hält dagegen: »Ein wesentlicher Reiz von Literatur ist doch der, daß in ihr Inhalte verschiedenster Art thematisiert werden, insbesondere aber: Ideen.«173 – Man könnte hier polemisch fragen, ob Literaturwissenschaft deshalb vom Formalismus zum Inhaltismus und zurück konvertieren solle, je nachdem, ob das ihr gerade vorliegende literarische Artefakt einen reizvollen Inhalt oder eine reizvolle Form besitzt? Werle würde dies wohl bejahen, denn er sieht neben der literaturwissenschaftlichen Privilegierung entweder formaler oder inhaltlicher Analyseaspekte keine realistische Alternative: »Manche Fragestellungen betreffen eher die ›Form‹, manche eher den ›Inhalt‹. Die ideale Vermittlung der beiden Aspekte ist dagegen ein ziemlich leeres Postulat.«174 Nur weil die Vermittlung zwischen Inhalts- und Formaspekten kein einfaches und nicht in jedem Fall einlösbares Wissenschaftsideal ist, sollte man allerdings nicht gleich das Handtuch werfen. Dies gilt vor allem bei einer Modellierung von Literaturgeschichte als Problemgeschichte. Wenn man sich zu einseitig entweder auf inhaltliche oder auf formale Aspekte konzentriert, besteht schließlich die Gefahr, dass man relevante Problemkontexte literarischer Texte unwillentlich ausblendet und literarische Problemlösungskonzepte übergeht, die sich erst implizit, aus der Korrelation oder Spannung zwischen Inhalt und Form ergeben.175
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Werle (2007). Werle (2009), 256. Ebd., 255f. Vgl. dazu ausführlich Löwe (2009).
3. Problemkonstellation
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3.2 Anthropologie als Problem a)
Nach der Theodizee: Geschichtsphilosophie und Anthropologie
Ein Autor, der sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allen Ernstes daran versucht, vernünftig geordnete, utopische Staaten darzustellen, muss sich von seinen Zeitgenossen den Schwärmervorwurf gefallen lassen, er steht also vor einem Problem: Das Erzählen von tugendhaften, utopischen Individuen, die ihren Affekthaushalt vernünftig dirigieren, gerät im späten 18. Jahrhundert in Konflikt mit einem neuen Menschenbild, das den Einfluss der diffusen Gefühle und Einbildungen auf das menschliche Handeln betont und empirisch zu belegen versucht. Solches Wissen um die Phänomene der geistig-körperlichen Einheit des Menschen wird in der deutschen Spätaufklärung bekanntermaßen unter dem Label ›Anthropologie‹ subsumiert.176 Der literarischen Utopie, die sich in der Frühaufklärung dem Weltbild der Theodizee angepasst hatte und eng damit verschmolzen war, droht nach 1750 die generische Daseinsberechtigung entzogen zu werden, als dieses Weltbild in die Krise gerät und (anthropologische) Einwände gegen eine vernünftig geordnete Wirklichkeit und einen vernunftautonom agierenden Menschen in den intellektuellen Diskursen überhandnehmen. Die Konjunktur der Anthropologie seit der Jahrhundertmitte lässt utopische Phantasien von einer umfassenden Steuerbarkeit menschlicher Gesellschaften als etwas erscheinen, das an der empirischen Lebenswelt rundweg vorbeigeht, da sie dem Einzelnen eine Unterdrückung seiner conditio humana abverlangen. Die Anthropologie formiert sich ihrem Selbstverständnis nach geradezu als das Wissen vom »Menschen ›diesseits der Utopie‹«177, als »Antiutopikum«178. Der Franzose Louis-Sébastien Mercier scheint ein ausgeprägtes Problembewusstsein von dieser Gattungskrise besessen zu haben, denn er begegnet ihr mit einer Forminnovation. In seiner literarischen Utopie L’An 2440 (1770/1771) verlegt er den Idealstaatsentwurf in eine 700 Jahre entfernte Zukunft, um zu suggerieren, dass die gegenwärtige zwar nicht die beste aller möglichen Welten ist, es aber in ferner Zukunft sein werde (vgl. Exkurs). Mercier setzt bei seinem Versuch, die Utopie aus der Krise des frühaufklärerischen Weltbildes zu retten, also auf literarisierte ›Geschichtsphilosophie‹. Eine solche Kontextualisierung der literarischen Utopie und ihrer Gattungsgeschichte im Spannungsfeld von Theodizee-Krise, Geschichtsphilosophie und Anthropologie fußt auf den Grundthesen von Odo Marquards Aufsatzsammlung Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie (1973)179, die er in mehreren Beiträ-
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Zur Anthropologie der Spätaufklärung vgl. Kap. I.3.2.d. – Zur Geschichte des Anthropologie-Begriffs vgl. Marquard (1971) u. Linden (1976). Marquard (1991), 10. Ebd., 8. Marquard (41997).
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gen noch einmal präzisiert hat.180 Seine Thesen stoßen in der jüngeren Forschung zur Anthropologie der Spätaufklärung verstärkt auf Widerstand. Dies liegt wohl nicht zuletzt auch an Marquards zuweilen etwas überironisch-manieriertem Schreibstil, der im Auge manchen Betrachters als Signum mangelnder Seriosität erscheinen mag. Warum sich Marquards Deutung aber dennoch als praktikable Erklärung bestimmter Problemkonstellationen nach 1750 brauchen lässt, wird im Anschluss an eine kurze Rekapitulation seiner Argumente eruiert. Leitender Impuls von Marquards Thesen zur Geschichtsphilosophie und Anthropologie des späten 18. Jahrhunderts ist unübersehbar die Auseinandersetzung mit seiner eigenen Zeit: Seine Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie sind tief eingebettet in die bundesrepublikanische Intellektuellengeschichte der 1960er und 1970er Jahre und ihre Konstellationen.181 Marquards Überlegungen zur Geschichtsphilosophie verstehen sich immer auch als kritische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Konjunktur der Geschichtsphilosophie in der Frankfurter Schule und Diskursethik.182 Diese Verankerung in einer (inzwischen selbst historischen) zeit- und diskursgeschichtlichen Formation ändert jedoch per se noch nichts an ihrem Erklärungswert hinsichtlich historischer Phänomene des 18. Jahrhunderts: Marquard koppelt den Aufstieg der modernen Geschichtsphilosophie nach 1750 an die Krise der Theodizee, die sich schon für die Zeitgenossen fi xpunktartig in der Diskussion um das Erdbeben von Lissabon (1755) manifestiert hatte. Die Krise des optimistischen Weltbildes der Frühaufklärung, die Krise der Theodizee gebiert die Geschichtsphilosophie: »Geschichtsphilosophie begreift – ihrer Tendenz nach – die Welt nicht mehr als Schöpfung Gottes, sondern – weil die Welt sich nicht mehr als gute Schöpfung Gottes verstehen läßt – als Schöpfung des Menschen: als Geschichte mit problematischer Gegenwart, aber guter Zukunft.«183 Die moderne Geschichtsphilosophie versucht, das Weltbild der Theodizee vor den gegen sie erhobenen Vorwürfen zu verteidigen, und zwar dadurch, dass sie sich zur Lebenswelt hinwendet, dass sie nicht Gott, sondern den Menschen zum Schöpfer der Welt erklärt, als den Macher von Geschichte. Es handelt sich bei moderner Geschichtsphilosophie daher um eine »durch die Entpflichtung Gottes radikalisierte Theodizee«184. Wenn der Mensch »Gottes Schöpferrolle« übernimmt, dann erbt er zugleich auch dessen »Rolle als Angeklagter der Theodizee«.185 Er muss das Übel in der Welt nun selbst verantworten und diesem Tribunal entkommt er nur, »indem er es wird«186. Der modernen Geschichtsphilosophie korrespondiert mithin ein aus180 181 182 183 184 185 186
Vgl. v.a. Marquard (1980) u. Marquard (2007). Zu Marquards intellektueller Biographie vgl. Leonhardt (2003), 70–73. Vgl. Marquard (41997), 20–23. Marquard (2007), 97. Marquard (1980), 204. Marquard (2007), 105. Ebd.
3. Problemkonstellation
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geprägter Avantgarde-Habitus. Sie bestimmt den Menschen »durch die Theorie der Freiheit als seines ›Endzwecks‹«187 und konstituiert sich als »Flucht in das schlechte Gewissen, das man für die anderen wird, um es die anderen haben zu lassen, damit man es selber nicht mehr zu haben braucht«188. Aus Sicht einer Geschichtsphilosophie als Avantgarde ist die Nicht-Avantgarde verantwortlich für die depravierte Geschichte und Gegenwart des Menschen, also auch dafür, dass sein Endzweck noch nicht erreicht ist. Marquard nennt das »Übertribunalisierung«189 und ›geschichtsphilosophischen Verfeindungszwang‹190. Das verlorene Vertrauen in die Güte Gottes als dem Garanten der besten aller möglichen Welten und die »Wende zur Lebenswelt«191, die aus dieser Theodizee-Krise erwächst, hat bei Marquard aber noch ein zweites Gesicht, nämlich das der Anthropologie. Sie sucht ihr Heil nicht in der Geschichte, nicht in einer »post-theistischen Theodizee mit futurisiertem Über-Optimismus«192, sondern in der radikalen »Nichtgeschichte«193, in der Natur. Die Anthropologie konstituiert sich als »Entdeckung der Zerbrechlichkeit des Menschen«194. Sie deklariert den Menschen zum Mängelwesen und erhofft sich eine Verbesserung seiner Umstände nicht aus einer Verbesserung seiner Natur im Lauf der Geschichte. Marquard, das ist entscheidend, deutet auch die spätaufklärerische Konjunktur der Anthropologie als Resultat der Theodizee-Krise. Der »Anklagedruck«195, unter den der Mensch des post-theistischen Weltbildes gerät, indem er von Gott die Rolle als Angeklagter der Theodizee erbt, erzeugt ein Kompensationsbedürfnis. Die Anthropologie, die Beschäftigung mit den Phänomenen der leib-geistigen Einheit des Menschen und die Problematisierung seiner Vernunftautonomie und Willensfreiheit, trägt diesem Bedürfnis Rechnung. In der anthropologischen Thematisierung seiner eigenen Natur steckt der Mensch »die Grenzen seiner Selbstursächlichkeit«196 ab, betreibt Selbstentschuldung. Er gibt zu verstehen, dass er ist, was die Natur aus ihm gemacht habe, dass er kein freihandelndes Wesen sei, sondern wegen der Abhängigkeit seines Denkens und Handelns vom Körper nur begrenzt für das Übel in der Welt verantwortlich gemacht werden könne. Bei der physiologischen Anthropologie der Spätaufklärung handelt es sich daher, so Marquard pointiert, um einen »Ausbruch in die Unbelangbarkeit«197. Marquards Thesen zur Krise des frühaufklärerischen Weltbilds helfen den Problemhorizont abzustecken, vor dem sich die Gattungsgeschichte der literari187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197
Marquard (41997), 128. Marquard (1980), 205. Ebd., 198. Marquard (2007), 106. Marquard (41997), 124. Marquard (2007), 97. Marquard (41997), 135. Marquard (2007), 106. Marquard (1980), 201. Ebd. Ebd. – Vgl. dazu ausführlich Ebd., 201–204.
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
schen Utopie im späten 18. Jahrhundert abspielt: Die Krise des frühaufklärerischen Weltbildes erzeugt eine agonale Formation, aus ihr gehen die moderne Geschichtsphilosophie und Anthropologie als Zerfallsprodukte hervor, die auf ihre je eigene Weise versuchen, die Krise der Leibniz-Theodizee zu kompensieren, und um die Deutungshoheit über das Aufklärungsprojekt ringen.198 Geschichtsphilosophie ist daher immer auch Anthropologiekritik und vice versa. Man kann die von Marquard beschriebene Formation wohl an kaum einem anderen Phänomen so plastisch studieren wie an der Gattungsgeschichte der literarischen Utopie, denn dieses Textmuster hatte sich in der Frühaufklärung dem Weltbild der Theodizee so sehr angepasst, dass seine Daseinsberechtigung bedroht wird, als dieses Weltbild Geltungsverluste erleidet. Nun gerät die literarische Utopie zwischen die weltanschaulichen Fronten, avanciert zum anti-anthropologischen Textmuster schlechthin und scheint sich nur noch retten zu können, indem es sich auf literarisierte Geschichtsphilosophie spezialisiert. Marquards These, dass Anthropologie und Geschichtsphilosophie agonale Formationen sind, die einander ausschließen, stößt allerdings in der gegenwärtigen Anthropologie-Forschung, ich erwähnte es eingangs, eher auf Widerstand als Gegenliebe.199 Die vorgebrachten Einwände haben auf den ersten Blick durchaus ihre Berechtigung, denn in Schwierigkeiten mit Marquards Thesen gerät man immer dann, wenn man das starke Ineinandergreifen von Anthropologie und Geschichtsphilosophie bei vielen Autoren der Spätaufklärung in den Blick nimmt. Ein besonders plastisches Beispiel für dieses ›konjekturale Denken der Aufklärung‹200, für die Verschränkung von Anthropologie und Geschichtsphilosophie bietet bekanntermaßen das Werk Herders: Der Versuch, Moral mit empirischem und anthropologischem Wissen über die Natur des Menschen zu begründen, markiert die Grundfigur seines Denkens. Der anthropologische Hinweis auf die menschliche Mängelnatur fungiert in Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) als Nachweis der Moralfähigkeit des Menschen und wird zur Ausgangsbedingung für eine Auffassung von Geschichte als fortschreitender Entfaltung von Humanität. Voll entwickelt hat Herder diesen Gedanken dann im Shakespear-Aufsatz (1773), in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) und in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–91). In diesen Texten werden Kulturmorpholo198
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Marquard argumentiert also im Rahmen eines kritisch revidierten Säkularisierungsmodells, eines Funktionsmodells von Geschichte, das sich explizit auf Hans Blumenberg beruft. Ganz im Sinne von Blumenbergs ›Problemhypotheken‹ (vgl. Anm. 168), die ein neues Deutungssystem von seinen Vorgängern erbt, spricht Marquard von »Imitationspflichten« (Marquard [41997], 17): Geschichtsphilosophie und Anthropologie geben neue Antworten auf bestimmte Fragen, zum Beispiel nach der Begründung moralischer Normen oder dem Wesen der menschlichen Freiheit, und wollen damit die Antworten der Theodizee ersetzen. Vgl. insbesondere Gisi (2007), 1–12 u. 318f. – Hier finden sich auch weiterführende Literaturhinweise. Ebd., 5.
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gie und Fortschrittsgeschichte zu synthetisieren versucht. Die Kulturmorphologie verbindet sich bekanntermaßen mit dem Namen Montesquieu, der in De l’esprit des loix (1748) anthropologisch und empiristisch argumentiert, wenn er den Unterschied der Staatsformen aus dem Unterschied der klimatischen und geographischen Kulturräume erklärt, in denen sie sich durchsetzen, sowie aus der körperlichen Beschaffenheit der Bewohner dieser Kulturräume. Montesquieus kulturmorphologische Argumente enthalten damit einen Einspruch gegen die Vorstellung von Geschichte als Fortschrittsprozess, denn wenn sich jede Epoche und Kultur nur in ihrer jeweiligen Individualität und abgeschlossenen Einzigartigkeit verstehen lässt, als das Produkt ihrer spezifischen Umweltfaktoren, dann kann man eine Höherentwicklung nur mehr schwer begründen. Herder versucht dennoch einerseits die Argumente der klimatheoretisch und anthropologisch fundierten Kulturmorphologie ernst zu nehmen und die Individualität jeder Epoche und Kultur zu betonen, anderseits hält er an der Deutung von Geschichte als Fortschrittsprozess fest: Im Shakespear-Aufsatz will er die Einzigartigkeit der antiken und der neuzeitlichen Literatur begründen, zugleich aber eine Entwicklung skizzieren. Shakespeare ist für Herder nicht deshalb ein Genie, weil er Sophokles übertrifft, sondern weil er etwas ganz anderes geschaffen habe. Wo genau jedoch der Fortschritt zwischen dem Originalgenie Sophokles und dem Originalgenie Shakespeare sich ereignet, klärt Herder nicht. Derselbe Widerspruch zwischen Kulturmorphologie und Fortschrittsgeschichte artikuliert sich in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, wo die schwer vereinbaren Behauptungen von der Individualität jeder Epoche und einem geschichtlichen Fortschritt am Schluss mühsam verbunden werden, indem Herder das anthropologische Argument von der Standortgebundenheit aller Wahrnehmung mit einer geschichtsphilosophisch radikalisierten Theodizee kombiniert: Herder glaubt nicht, den Verlauf und Ausgang der Geschichte schon zu kennen. Dennoch folge sie einem göttlichen Plan, den Gott, als genialer Dichter, gedichtet habe und noch immer fortdichtet. Dieser Plan enthüllt sich jedoch nicht dem in der Geschichte stehenden Individuum. Geschichte hat zwar einen Sinn, der lässt sich aber nur schwer erraten.201 Mit solchen Argumentationen ist Herders Werk immer auch das Dokument einer unlösbaren Problemlage.202 Enthält die »anthropologische Historie«203 der Spätaufklärung also wirklich einen Einspruch gegen Marquards Annahme einer grundsätzlichen Opposition von Geschichtsphilosophie und Anthropologie? Vor einer Antwort darauf sei noch ein zweites Beispiel erwähnt: In der deutschsprachigen Literatur des späten 18. Jahrhunderts findet sich keine Zeitutopie von ähnlicher Prominenz wie Merciers L’An 2440. Die Ästhetisierung der Geschichtsphilosophie als radikali-
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Vgl. Herder [1985ff.], Bd. 4, insbesondere 82. Zu diesen Schwierigkeiten von Herders Geschichtsphilosophie im Vergleich mit derjenigen Wielands, vgl. Kap. II.3.3.a. Vgl. Gisi (2007), 4f.
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
sierter Theodizee sucht sich in Deutschland andere Wege, sie formiert sich scheinbar vor allem im neuen Textmuster ›Bildungsroman‹. Tatsächlich wird der Bildungsroman als »individualpsychologische Vervollkommnungsutopie«204 im späten 18. Jahrhundert aber eigentlich nur als theoretischer Entwurf realisiert, v.a. in Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman (1774). Blanckenburg will wie Herder die Leibniz-Theodizee geschichtsphilosophisch retten, zugleich aber das zeitaktuelle anthropologische Wissen um die leib-geistige Einheit des Menschen berücksichtigen.205 Der Roman soll die beste aller möglichen Welten individualpsychologisch demonstrieren, als Vervollkommnung eines Charakters. Der Romanheld darf dabei nicht als Ideenkonstrukt erscheinen, sondern als Mensch mit einem Körper. Sein Bildungsprozess soll kausal motiviert und psychologisch wahrscheinlich gestaltet werden. Dass die Welt Sinn und Zweck hat, zeigt der Roman auf der Grundlage empirischen und anthropologischen Wissens, also durch die kausale Motivierung einer finalen Bildungsgeschichte. Diese Forderung nach einer Synthese von Kausalität und Finalität, von Anthropologie und Geschichtsphilosophie offenbart die Aporien von Blanckenburgs Poetik, da hier Prinzipien zusammengebracht werden, die einander eigentlich widersprechen, ohne dass Blanckenburg diese »Spannung zwischen der strengen Kausalitätsforderung und dem moralischen Anspruch«206 wirklich reflektiert. Offen problematisiert wird die Synthese von Kausalität und Finalität dagegen bezeichnenderweise in der literarischen Praxis des sogenannten Bildungsromans: Die prominenten Beispiele dieses Textmusters wie Wielands Agathon oder Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre affirmieren Bildungs- und Vervollkommnungskonzepte nämlich gar nicht, sondern reflektieren sie ironisch.207 Die paradigmatischen Fälle Herder und Blanckenburg eignen sich daher weniger als Einspruch gegen Marquards These einer Opposition von Geschichtsphilosophie und Anthropologie: An ihnen wird vielmehr deutlich, dass Geschichtsphilosophie und Anthropologie idealtypische Konstrukte sind, die im konkreten Material der Kulturgeschichte gerade des 18. Jahrhunderts oft als Mischformen vorkommen. Wie ist das zu erklären? Offenkundig schrecken Autoren wie Herder und Blanckenburg vor den Konsequenzen einer radikal-idealistischen, anthropologiekritischen Geschichtsphilosophie zurück. Sie wollen nicht als Schwärmer gelten und versuchen daher den Gegner mit ins Boot zu holen: Die Anthropologisierung und Empirisierung von Herders Geschichtsphilosophie und Blanckenburgs Synthese von Finalität und Kausalität lassen sich als Versuch verstehen, das Festhalten an einer geschichtsphilosophisch radikalisierten Theodizee gegen den Einwand der Anthropologie zu immunisieren. Die spätaufklärerische 204 205 206 207
Voßkamp (1985c), 230. Zu Blanckenburgs Versuch vgl.: Frick (1988), Bd. 2, 344–364; Engel (1993), 91–98; J. Heinz (1996), 136–141; Wels (2010), 151–153. Voßkamp (1973), 191. – Vgl. dazu ebd., 190–196. Für den Wilhelm Meister zeigt dies Engel (1993), 229–320. – Zum Agathon vgl. Kap. II.2.1.
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Vermittlung von Geschichtsphilosophie und Anthropologie geschieht immer auch aus Furcht davor, dass der Glaube an die beste aller möglichen Welten, an die Ideen der Freiheit und Humanität, den anthropologischen und empiristischen Gegenargumenten allzu leicht zum Opfer fallen könnte, wenn man diese Argumente nicht in das eigene geschichtsphilosophische System integriert, sei es auch um den Preis von unlösbaren Widersprüchen. Diese grundlegende Einsicht verdankt sich der monumentalen Aufklärungs-Deutung von Panajotis Kondylis, mithilfe derer sich Marquards Thesen gegen die vorgebrachten Einwände der jüngeren Spätaufklärungsforschung absichern lassen.
b)
Aufklärung und Nihilismusfurcht
Keine zehn Jahre nach Marquards Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie erschien 1981 Panajotis Kondylis’ Opus-magnum-Studie zur Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, die mit bislang unerreichter Nüchternheit den polemischen Charakter des neuzeitlichen Denkens offenlegt.208 Geschichtsphilosophie und Anthropologie spielen dabei zwar lediglich als historisch begrenzte Unterphänomene eine Rolle, lassen sich aber in ihrer polemischen Zugehörigkeit zu bestimmten Konstellationen des neuzeitlichen Denkens identifizieren. Kondylis beschreibt das moderne Denken seit der Frühen Neuzeit, das er neuzeitlichen Rationalismus nennt, als den weltanschaulichen Konflikt seiner beiden Binnenströmungen: Intellektualismus und Empirismus. Kondylis zufolge tritt das neuzeitliche Denken, der neuzeitliche Rationalismus an, um der theologischen Ontologie und Moral im Namen der Vernunft Konkurrenz zu machen und gebraucht dabei die Aufwertung der Sinnlichkeit als ›weltanschauliche Waffe‹209 : Die mittelalterliche Philosophie bindet den menschlichen Intellekt an die theologische Ontologie, der zufolge Gott die Stabilität der Seinsordnung und damit auch ihre intellektuelle Erfassung garantiert. Gegen diese Position formuliert der neuzeitliche Rationalismus eine Kampfansage, indem er die Loslösung des Intellekts aus dem Rahmen der theologischen Ontologie als Befreiung und Emanzipation des Menschen vom drückenden Joch der Autoritätsgläubigkeit behauptet und an die Stelle Gottes die menschliche Vernunft setzt. Um seiner Parteinahme für die Autonomie des Intellekts argumentatives Gewicht zu verleihen, wertet das neuzeitliche Denken mit Experiment und Beobachtung die Sinnlichkeit auf und erklärt dies als Abwendung von der Transzendenz, hin zum Unmittelbaren und Lebendigen. Dass die Rehabilitierung der Sinnlichkeit also ausgerechnet durch den weltanschaulichen Rationalismus er-
208
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Kondylis (1981), 19–35. – »Die beste Art, eine bestimmte Philosophie geistesgeschichtlich zu bestgreifen, ist demnach die, ihren Gegner klar ins Auge zu fassen und zu erwägen, was sie beweisen muß bzw. will, um diesen Gegner außer Gefecht zu setzen« (ebd., 20). Ebd., 19.
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
folgt, scheint prima vista paradox, steht aber im Dienst seiner polemischen Behauptung, dass »weder der Umweg der [göttlichen] Autorität zur Erreichung der Wahrheit noch der Askese zur Gewinnung der Moral« nötig seien, denn »Wahrheit und Moral seien potenziell in uns, an uns«210 : [Die] traditionelle Transzendenz wurde in der Neuzeit entweder beseitigt oder in ihrer Wirksamkeit erheblich eingeschränkt, dadurch wurde aber die Spaltung zwischen Transzendenz und Immanenz nicht aus der Welt geschafft. Sie entstand von neuem, implizit zwar (denn das offene Bekenntnis zu ihr hätte als Bekenntnis zur traditionellen Transzendenz ausgelegt werden können und mußte somit aus polemischen Gründen vermieden werden), aber deutlich genug; sie meldete sich nämlich gerade innerhalb jener Immanenz, die die alte Transzendenz in den Schatten stellte, und hatte die gleiche normative Funktion zu erfüllen. Konkreter gesagt: Jene Natur, die zunächst die Immanenz im Kampfe gegen die Transzendenz Gottes vertrat, wurde bald etwas mehr als die empirische Welt, sie bekam nämlich den Status einer höheren Instanz, die die einfache Summe der wahrnehmbaren Erscheinungen transzendiert und auf höchst objektive Weise erklärt, was Gut und Böse ist. […] Aber auch die neuzeitliche Vernunft, insofern sie die göttlichen Gebote zu ersetzen beansprucht, wird nicht empirisch verstanden, d. h. als Vernunft dieses oder jenes Menschen, sondern ebenfalls zur überpersönlichen normativen Instanz hochstilisiert, die alle empirisch gegebenen und bekannten Formen von Vernunft transzendiert – wobei ihr Sitz und Träger unbestimmt bleiben müssen. Tritt schließlich an die Stelle des göttlichen Primats der Primat des Menschen, so ist wiederum dieser Mensch nicht mehr der empirisch gegebene, zufällige Mensch auf der Straße, sondern die Idee des Menschen, die ihrerseits als ontologische Quelle eines Sollens fungiert, da Pflichten und Verhaltensregeln des empirischen Menschen direkt aus ihr abgeleitet werden. […] Es ist offensichtlich und läßt sich historisch reichlich belegen, daß die neuzeitliche Transzendenz, wie sie sich auf bestimmte Schlüsselbegriffe (Natur, Vernunft, Mensch) konzentriert, in sozialer Hinsicht ähnlich fungiert wie die alte. Unter Berufung auf sie wird die jeweilige Wertskala aufgestellt, und Herrscher ist, wer sie jeweils verbindlich interpretieren kann. Nicht wesentlich anders war es früher um die (offen) transzendente Idee Gottes bestellt.211
Aus dieser Allianz zwischen Relativem und Normativem, zwischen den heterogenen Momenten Intellekt und Sinnlichkeit kann Kondylis idealtypisch die Zweideutigkeit und die widersprüchliche Entwicklung des neuzeitlichen Rationalismus als Ausdifferenzierung der beiden ihm inhärenten Positionen erklären, nämlich einerseits des Intellektualismus212, der dem Intellekt das Primat vor der Sinnlichkeit einräumt, und andererseits des Empirismus, der der Sinneswahrneh210 211
212
Ebd., 49. Ebd., 58f. – Zum polemischen Sinn der Berufung auf die Empirie vgl. ebd., 298–309, insbes. 300; zur Struktur des normativistischen Naturbegriffs vgl. ebd., 342–356, insbes. 344. Kondylis gebraucht bei seiner Aufklärungsdeutung den Begriff ›Rationalismus‹ in zweifachem Sinne: Mit dem weitgefassten Begriff des ›weltanschaulichen Rationalismus‹ bezeichnet er das neuzeitliche Denken an sich, das im Namen der Vernunft in weltanschauliche Konkurrenz mit der theologischen Ontologie tritt und die Sinnlichkeit rehabilitiert. Mit Rationalismus im engeren Sinne meint Kondylis hingegen Intellektualismus, also eine ›Strömung‹ innerhalb des ›weltanschaulichen Rationalismus‹, eine seiner möglichen gedanklichen Ausführungen neben dem Empirismus: vgl. ebd., 50ff.
3. Problemkonstellation
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mung das Primat vor der Verstandestätigkeit zuspricht. Hier lassen sich auch Anthropologie und Geschichtsphilosophie als historisch begrenzte Unterphänomene einordnen: Bei der Anthropologie der Spätaufklärung handelt es sich dort, wo der Einfluss der diffusen Gefühle und Einbildungen auf das menschliche Handeln betont wird, fraglos um eine Ausprägung des neuzeitlichen Empirismus. Geschichtsphilosophie in ihrer optimistischen Variante ließe sich dagegen (in Anlehnung an Marquard) als ›futurisierter‹ Intellektualismus beschreiben: Sie glaubt an einen in Zukunft möglichen Sieg der normativen Vernunft, an eine zukünftige Humanität und Freiheit.213 Im Rahmen der Ausdifferenzierung des neuzeitlichen Denkens gewinnt, Kondylis zufolge, spätestens im 18. Jahrhundert die polemische Auseinandersetzung zwischen Intellektualismus und Empirismus die Oberhand und überschattet ihr verbindendes Projekt, nämlich den Kampf gegen die theologische Ontologie und Moral. Das überwölbende Projekt des neuzeitlichen Denkens wird nun vielmehr selbst zur ›weltanschaulichen Waffe‹ im Rangstreit seiner beiden ›Binnenströmungen‹, denn es bietet reichlich Gelegenheit, dem Gegner Verrat an der gemeinsamen Sache vorzuwerfen.214 Besonders effektiv kann man den weltanschaulichen Konkurrenten diskreditieren, indem man ihn anklagt, eine Extremposition zu vertreten, die unwillentlich den Fürsprechern der theologischen Ontologie und Moral in die Hände spielt: So lässt sich dem Intellektualismus von empiristischer Seite aus vorwerfen, dass er für die Vorstellung der Vernunftautonomie und Willensfreiheit einen zu hohen Preis bezahlt, indem er zum Glauben an die Vernunft als überpersönlicher Autorität aufruft, denn er verleiht ihr damit geradezu ›religiösen‹ Charakter, produziert eine von der sinnlichen Erfahrung abgelöste Idee und praktiziert eine vergleichbare idealistische Ontologie wie die theologische Ontologie mit der Idee Gottes. Vice versa ließe sich von intellektualistischer Seite gegen den Empirismus der Vorwurf erheben, dass das Primat der Sinnlichkeit in letzter Konsequenz zum Nihilismus215 bzw. Materialismus und Determinismus führt und damit die Behauptung der menschlichen Freiheit unterminiert, im Namen derer sich das neuzeitliche Denken ja gerade polemisch von der theologischen Heteronomie abzusetzen versucht hatte: 213
214 215
Zur konsequenten Geschichts- und Fortschrittsphilosophie von Turgot und Condorcet und ihrer Einbettung in die agonale Formation des neuzeitlichen Rationalismus: vgl. ebd., 459–468. Vgl. ebd., 52. ›Nihilismus‹ heißt bei Kondylis jene Extremkonsequenz der Empirisierung und Anthropologisierung aller Diskurse, die als Gefahr immer im Hintergrund lauert und daher von Spätaufklärern meistens argumentativ umschifft wird. Kondylis verwendet den Nihilismus-Begriff also nicht umgangssprachlich, im Sinne von ›Zerstörungslust‹, sondern bezeichnet damit die »These von der völligen Relativität aller Werte« (ebd., 54): »Der Nihilismus könnte im Hinblick auf das geistige Spektrum der Aufklärung als der Versuch definiert werden, die Rehabilitation der Sinnlichkeit restlos und wertfrei durchzuführen, wobei die Natur ausschließlich rohe oder verfeinerte Materie (letztere ergibt den »Geist«) und zugleich ledig aller Werte (aber auch aller Unwerte) ist« (ebd., 490).
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss Um den Wirkungsbereich der göttlichen Willkür möglichst eng zu halten bzw. zu eliminieren, schickte man sich an, alles, worin man bis dahin den die Menschenschicksale unsichtbar lenkenden Finger Gottes vermutet hatte, auf natürliche Ursachen zurückzuführen. Nicht Gott, sondern biologische, geographische und sozialgeschichtliche Faktoren (mit anderen Worten: die Sinnlichkeit auf allen Ebenen) sollten nunmehr Temperament, Gesinnung und Handlungsweise der Menschen erklären. Jede Entdeckung in dieser Richtung wurde zu Recht als neuer Sieg im Kampf gegen die Theologie bzw. gegen die alten Herrschaftsformen und deren Vertreter gefeiert. […] Die Durchsetzung des Determinismus setzte [aber] von neuem jene Freiheit aufs Spiel, die sie gegen die Willkür Gottes bewahren sollte. Wenn sich der alte liebe Gott durch Tränen, Beten und aufrichtige Reue beschwichtigen ließ, und wenn seine Gnade bzw. Willkür manchmal auch zugunsten des Menschen ausfallen konnte, so gab es vor der Naturgesetzlichkeit kein Entfliehen; die neue Herrschaft war nicht zu beeinflussen und ließ auch keine Wunder erwarten. Eine tragische Ironie steckte im Versuch, die menschliche Freiheit gegen das Übernatürliche zu retten. Die Freiheit vom Übernatürlichen wurde zur Anhängigkeit vom Natürlichen. Beschaffenheit des Gehirns und der Nerven, Klima, Rasse, Wirtschaft und Sitte – kurzum alles, was gegen den Intellektualismus bzw. die Machenschaften Gottes aufgeboten wurde, zeigte sich nun als noch unerbittlicherer Herr denn der alte. 216
Zu einer von Kondylis’ scharfsinnigsten Beobachtungen gehört die Feststellung, dass indes nicht diese Extrempositionen in der Mehrzahl sind, sondern die Vermittlungsversuche, daß die Vermittlung [aber] im Hinblick auf die Extreme und aus Furcht vor ihnen erfolgt: ganz unabhängig vom Grad ihrer theoretischen Vervollkommnung stehen diese Extreme wie Gespenster da und motivieren Aktionen und Reaktionen; man wehrt sich gegen die voraussichtlich letzten Konsequenzen einer Denkweise, als ob sie bereits eine greifbare Gefahr wären.217
Kondylis beschreibt Aufklärung deshalb als den Versuch, aus Furcht vor Extrempositionen, zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, zwischen Willensfreiheit und Determinismus zu vermitteln. Aufklärung konstituiert sich also aus dem Problem einer »doppelte[n] Gegnerschaft gegen traditionelle Theologie und nihilistische Ansätze«218. Durch ihre Vermittlungsbemühungen steht die Aufklärung jedoch permanent in der Gefahr, sich selbst zu überbeanspruchen. Kondylis bezeichnet diese Gefahr treffend als den aufklärerischen »Dualismus des Schwankens: man will nämlich auf die Aufwertung der Materie im Kampfe gegen die Theologie nicht ganz verzichten, kann aber diese Aufwertung mit Rücksicht auf das Schicksal von Norm und Geist nicht allzu weit treiben.«219 Das Bemühen um eine Vermeidung von Dualismus erreicht seine extremste Form im »monisti-
216 217 218 219
Ebd., 358. – Zum »Verlust der Gnade« im post-theistischen Weltbild vgl. auch die ähnliche Argumentation bei Marquard (1980), 200. Kondylis (1981), 52. Ebd., 23. Ebd., 211f.
3. Problemkonstellation
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sche[n] Ansatz der deutschen Spätaufklärung«220, wobei Kondylis unter anderem an Herder denkt: In dessen Konzept einer ›anthropologischen Historie‹ soll Ganzes und Entwicklung bzw. Normatives und Kausales miteinander verschmolzen werden […]: das Relative bzw. sinnlich Bedingte soll so interpretiert werden, daß kein Relativismus und keine Skepsis daraus entstehen kann. Um dem Relativen die bloße Standfestigkeit des Intellekts entgegenzusetzen oder es einfach zu verachten oder totzuschweigen, war es in dieser Phase der Aufklärung offensichtlich zu spät. Die Rehabilitation der Sinnlichkeit war ein unaufhaltsamer Vorgang, und Herders entscheidende Einsicht ist die, daß das Normative unter diesen Umständen nicht mehr einfach gegen die Sinnlichkeit, sondern durch ihre »Aufhebung« innerhalb einer neuen Metaphysik gerettet werden konnte.221
Kondylis’ zentrale These besteht also in der Annahme, dass sich viele Aufklärer in widersprüchliche Vermittlungspositionen stürzen und zwar aus der klammheimlichen Furcht vor den nihilistischen Konsequenzen jener ›Rehabilitation der Sinnlichkeit‹, die sie selbst betreiben. Bei der spätaufklärerischen Berufung auf die Empirie geht es, so Kondylis, nicht allein um anti-intellektualistische Kritik an den metaphysischen Systemen der Frühaufklärung, sondern die anthropologischen und empiristischen Ankläger der großen Systeme stehen unter dem Konkurrenzdruck, wiederum neue Systeme aufzustellen, denn »[m]an wirkt in der Polemik nicht überzeugend, wenn man keine Grundfragen beantworten kann«222. Die Empirie wird daher zur neuen Norm hochstilisiert: Die Bühne beherrschen nicht Monographien über ein empirisch begrenztes und restlos interpretierbares Problem, sondern ambitiöse und voluminöse »Systèmes de la Nature«, die nicht nur von mittelmäßigen Kompilatoren, sondern auch von den wichtigsten Vertretern der neuen Naturwissenschaft verfaßt werden. Die Behandlung von Teilfragen erfolgt fast immer im Rahmen allgemeiner Überlegungen über Wesen und Beschaffenheit der Natur, die mit größter Selbstverständlichkeit neben der Hochpreisung des empirischen Verfahrens und der Absage an die zügellose Spekulation aufgetischt werden. […] In der Tat ist die Haltung der Aufklärer, wenn sie sich z. B. auf allgemeine Instanzen wie die Natur berufen, um einzelne Phänomene zu interpretieren, in ihrer polemischen Folgerichtigkeit logisch höchst paradox. Man verfährt in Wirklichkeit deduktiv, nur daß die Prinzipien der Deduktion als empirisch gegeben definiert werden, worauf das ganze Verfahren ruhigen Gewissens induktiv genannt wird. Es handelt sich dabei eher um die Entscheidung, sich auf die Empirie als höchste Instanz zu berufen, so oft man eine höchste Rechtfertigungsinstanz braucht, als um das geduldige Verweilen bei ihr […]. Wir haben es mit einer spekulativen Empirie bzw. mit einem spekulativen Gebrauch der Empirie zu tun, der auf der weltanschaulichen Entscheidung zur Aufwertung der Sinnlichkeit beruht.223
Auch die spätaufklärerische Anthropologie, die im Namen der Erfahrung und des Körpers einen Angriff auf die intellektualistische Idee der Vernunftautonomie
220 221 222 223
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
576ff. 620. 300. 305–307.
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
führt, lässt sich vor diesem Hintergrund einordnen. Mit dem anthropologischen und empiristischen Primat der Erkenntnistheorie werden die objektive Erfassung eines vernunftkonform strukturierten Seins durch den menschlichen Intellekt und angeborene Ideen wie ›Gott‹ in Frage gestellt: »Über die Erfahrung hinaus führt kein Weg und Hypothesen über die letzten Eigenschaften der Dinge sind einfach chimärisch.«224 Ein solches »Bekenntnis zur Empirie ist [aber] eigentlich ein höchst symbolischer Akt, ein Anzeichen der Zugehörigkeit zu einer weltanschaulichen Partei.«225 Der polemische Charakter der Berufung auf die Empirie und die menschliche Natur zeigt sich nämlich gerade daran, dass Spätaufklärer den Primat der Erkenntnistheorie zumeist nicht auf die eigene Position anwenden, um deren Normcharakter weiterhin sicherstellen zu können, um sich vor den theologischen und intellektualistischen Gegnern keine Blöße zu geben, um diese nicht auf die nihilistischen Konsequenzen einer rehabilitierten Sinnlichkeit, auf die Relativität aller Normen, hinzuweisen. Für die Anthropologie und den Empirismus der Spätaufklärung gilt daher in der Regel, »daß hier nicht menschliche Erkenntnis überhaupt und als solche für ungewiß oder unmöglich gehalten wird, sondern nur das, was der gegnerischen traditionellen Metaphysik als höchste und wichtigste Erkenntnis galt.«226
c)
Die literarische Utopie zwischen den ›weltanschaulichen‹ Fronten
Ich möchte die These aufstellen, dass der polemische Rangstreit zwischen intellektualistischem und empiristischem Normativismus im Allgemeinen und zwischen Geschichtsphilosophie und Anthropologie im Besonderen als zentraler Problemkontext für die Gattungsgeschichte der literarischen Utopie im späten 18. Jahrhundert zu verstehen ist, gerade weil seit der Jahrhundertmitte empiristische und anthropologische Argumente, die die fundamentale Rolle der Sinneswahrnehmung für die Erkenntnis betonen, auf dem Vormarsch sind. Damit geht in Deutschland eine zunehmende Diskreditierung des Intellektualismus – vor allem in Gestalt des Wolffianismus – einher sowie eine Verschärfung der Fronten zwischen Anthropologie und Geschichtsphilosophie.227 Die Zuspitzung dieser 224 225 226 227
Kondylis (1990), 319. Kondylis (1981), 305. Kondylis (1990), 315. Damit ist nicht behauptet, dass der Empirismus in Deutschland nur in der Spätaufklärung die Oberhand besessen hat und als bloße Reaktion auf den von Christian Wolff ausgehenden Intellektualismus zu verstehen sei. Das Gegenteil ist der Fall, denn im Grunde markiert der Empirismus »den Anfang der deutschen Aufklärung« (Kondylis [1981], 549). Schon die erste Generation deutscher Aufklärer, aus der insbesondere Christian Thomasius hervorsticht, vertritt bereits einen erkenntnistheoretischen Empirismus, wendet sich gegen spekulative Metaphysik und räumt anthropologischen Fragen einen hohen Stellenwert ein. Bekanntermaßen verdankt sich selbst der spätaufklärerische Schlüsselbegriff des ›ganzen Menschen‹ ursprünglich einer Formulierung von Thomasius (vgl. Thomasius’ Einleitung zu der Vernunfft=Lehre, 3. Hauptstück, § 1). Der Empirismus der ersten Generation wird jedoch vom starken Einfluss des
3. Problemkonstellation
51
Konflikte setzt einen erhöhten Bedarf an polemischen Kampfbegriffen frei. Es verwundert daher kaum, dass der Utopie-Begriff in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine rasante Bedeutungserweiterung erfährt und sich von der Werkbezeichnung, über die quasigeographische Ortsbezeichnung ›Utópien‹, bis zur abstrakten Bezeichnung für eine außerempirische und impraktikable Idee entwickelt. Dies hängt offensichtlich damit zusammen, dass man der jeweils gegnerischen Weltanschauung besonders wirkungsvolle Schläge versetzen konnte, wenn man sie des Utopismus verdächtigt. Im späten 18. Jahrhundert häufen sich die Fälle, bei denen der Utopie-Begriff in empiristischen Argumentationen gebraucht wird, um den intellektualistischen und geschichtsphilosophischen Glauben an die Vernunftautonomie als wirklichkeitsferne Idee verstiegener Gutmenschen zu diskreditieren.228 Darüber hinaus gewinnt die Polemik gegen den intellektualistischen Glauben an die Autonomie der Vernunft ab der Jahrhundertmitte auch literarische Gestalt: In einer Reihe von europäischen Romanen, wie Diderots Jacques le fataliste (1771), Samuel Johnsons History of Rasselas (1759) und besonders plakativ in Voltaires Candide (1759) und in dessen deutschsprachiger Nachahmung, dem Roman Belphegor (1776) von Johann Karl Wezel, wird die Leibniz-Theodizee aufs Korn genommen. Signifikanterweise enthalten fast alle diese Romane auch parodistische Anspielungen auf die frühneuzeitliche Utopia-Tradition. Exemplarisch will ich dies an Wezels Belphegor demonstrieren: Wezels Roman vermeidet es tunlichst, den Menschen als vernunftautonom erscheinen zu lassen, um stattdessen zu demonstrieren, dass ›natürliche‹ Triebe wie Neid und Vorzugssucht alles menschliche Handeln leiten. In der Forschung galt der Belphegor daher lange Zeit als paradigmatischer Fall eines spätaufklärerischen ›Desillusionsromans‹ und Wezel als Pessimist.229 Die jüngere Wezel-Forschung hat jedoch berechtigte Bedenken an dieser Deutungsthese angemeldet. Insbesondere die Auswertung von Wezels anthropologischen und pädagogischen Schriften ließ den impliziten Normencharakter seiner Triebfederntheorie stärker in den Blick geraten.230 In Wezels Schriften ist die Betonung der unüberwindlichen menschlichen Selbstbezogenheit nicht Ausdruck von Misanthropie, sondern Teil eines Aufklärungsprogramms, das dem ›Ehrtrieb‹ eine geselligkeitsfördernde Funktion zuspricht. Er versucht also den Normcharakter der menschlichen Triebe nachzuweisen, indem er sie zur Quelle und Basis von Verhaltensregeln hochstilisiert. Seine fundamentalanthropologische Argumentation, so ließe sich mit Odo Marquard sagen, erzeugt bei Wezel offenbar einen Kompensationsdruck, das Bedürfnis nach einem Ausgleich der menschlichen Mängelnatur. Wezel führt
228 229 230
Wolffianismus in der deutschen Frühaufklärung überschattet und erst in der dritten Aufklärergeneration gewinnt der Empirismus wieder an Wirkungsmacht, allerdings ohne sich auf die erste Generation zu berufen (vgl. Kondylis [1981], 545–563). Vgl. die begriffsgeschichtlichen Quellenbelege bei Hölscher (1990), 756–760 u. 763. Vgl. die kritische Darstellung der Forschungsgeschichte bei Ilbrig (2007), 201–206. Vgl. ebd., 95–97 u. 202f.
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
zwar die handlungsbestimmende Rolle körperlicher Triebe gegen die Ideen der Vernunftautonomie und der moralischen Perfektibilität ins Feld, er versucht dabei aber auffällig intensiv, sich gegen die Nihilismusgefahr zu immunisieren und die Konsequenzen der eigenen fundamentalanthropologischen Argumentation zu kaschieren: Die Romanvorrede betont explizit, dass aus der Triebnatur des Menschen auch Gutes hervorgehe, dass Neid und Vorzugssucht als die »allgemeinsten Triebfedern der menschlichen Natur und die Urheberinnen alles Guten und Bösen auf unserm Erdballe«231 zu gelten haben und dass daher das »wunderbare Kompositum«232 Mensch gute und schlechte Eigenschaften, Geselligkeit und Ungeselligkeit vereine. Mit der literarischen Darstellung der triebhaften Natur des Menschen verbindet sich bei Wezel also der polemische Anspruch, dem Leser eine ›realistische‹ Menschenkenntnis zu vermitteln und ihn skeptisch gegen die frühaufklärerischen und empfindsamen Ideen von Liebe, Freundschaft und moralischer Vervollkommnung zu stimmen.233 Wezel zeigt sich damit, hier hat die jüngere Forschung zu diesem Autor recht, keineswegs als ›Misanthrop‹ oder Nihilist, der die ›Rehabilitation der Sinnlichkeit‹ restlos durchführt, bis zur völligen Relativität aller Werte (vgl. Anm. 215). Vielmehr handelt es sich bei der menschlichen Triebnatur um eine unhinterfragte Norm, von der aus Wezel argumentiert. Damit erweist er sich jedoch als typischer Vertreter einer monistischen Spätaufklärung, die Normatives aus Relativem ableitet und zwar aus der klammheimlichen Furcht vor den nihilistischen Konsequenzen jener Rehabilitation der Sinnlichkeit, die sie selbst betreibt. Wezels Programm einer empiristischen und anthropologischen Aufklärung schließt die Produktion literarischer Utopien aus, denn dafür wäre es erforderlich, tugendhafte Individuen darzustellen, die nicht im Sinne der Triebfederntheorie handeln, sondern vernünftig. So nimmt es auch nicht wunder, dass Wezel die Gattungsstrukturen der literarischen Utopie im Belphegor parodiert, um die Gefährlichkeit jener falschen Illusionen bloßzustellen, die durch dieses Textmuster verbreitet werden. Belphegor und seine Begleiterin Akante gelangen im 8. Buch durch eine »zehnfache Mauer von hohem dornichten Gesträuche«234 in das Innere einer Dornenpalisade. Von ihrer Einbildungskraft berauscht, wähnt sich Akante hier in einem Paradies mit glückseligen Einwohnern. Belphegor weist sie aber daraufhin, dass alle Bewohner ihre Köpfe hängen lassen, weil sie »nach aller Wahrscheinlichkeit Langeweile«235 empfinden. Parodistisch überzeichnet, zitiert Wezel damit gattungskonstitutive Strukturelemente der literarischen Utopie, ins-
231 232 233
234 235
Wezel (1982), 8. – Vgl. dazu die Deutung bei Ilbrig (2005) und Ilbrig (2007), 202– 215. Wezel (1982), 10. Durchaus treffend bezeichnet daher Isabel Knautz die Textwelt des Belphegor »als perspektivisch bedingtes Jammertal […], das erblickt, wer Falsches erwartet« (Knautz [1990], 110). Wezel (1982), 349. Ebd., 357.
3. Problemkonstellation
53
besondere die Überschreitung einer geographischen Grenze, die Erfahrungswelt und utopisch-paradiesische Welt voneinander trennt. Während die Gesellschaftsentwürfe der frühneuzeitlichen Utopia-Tradition jedoch auf besonderen anthropologischen Axiomen fußen, etwa auf der Suspendierung der Erbsünde und ihrer Affekte, handelt es sich ihrer Triebstruktur nach bei Wezels utopischen Bewohnern innerhalb der Dornenpalisade um genau die gleichen, vom ›Ehrtrieb‹ gesteuerten Menschen wie außerhalb. In einem Paradies ohne Neid und Vorzugssucht empfinden sie deshalb notwendigerweise Langeweile. Wezel nutzt die Gattungsstrukturen der literarischen Utopie also, um dem Leser zu demonstrieren, dass Entwürfe besserer Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens keinen Aufklärungseffekt haben, weil sie der Natur des Menschen widersprechen und die wahren Beweggründe menschlichen Handelns mit literarischen Illusionen überdecken. Stattdessen führt die »süßklingende Täuscherey«236 literarischer Utopien zu einer gefährlich übersteigerten Aktivität der Einbildungskraft, die falsche Hoffnungen schürt und die menschliche Tatkraft hemmt. Aufklärung bedeutet für Wezel mithin, die selbstbezogene Natur des Menschen in ihrer Unveränderlichkeit zu akzeptieren und sich falscher Illusionen zu entledigen.237 Er verschweigt dabei aber die nihilistischen Konsequenzen eines solchen Aufklärungsprogramms, das sich die Zerstörung von Illusionen zum Ziel setzt. Unbedacht bleibt bei Wezel nämlich ihre lebensweltliche Unzerstörbarkeit, also das Problem, dass man im praktischen Handeln offenbar kaum ohne ›Illusionen‹ wie Vernunft und Willensfreiheit auskommt. Die literarische Utopie läuft in der Spätaufklärung Gefahr, im polemischen Rangstreit zwischen Intellektualismus und Empirismus, zwischen Geschichtsphilosophie und Anthropologie zur reinen ›weltanschaulichen Waffe‹ degradiert zu werden und nur noch für das wirklichkeitsfremde Produkt einer überhitzten Einbildungskraft und als Inbegriff von Schwärmerei zu gelten. Diese Arbeit stellt daher die Frage, ob und wie denn in literarischen Utopien seit der Jahrhundertmitte auf dieses Problem reagiert worden ist und zwar zum einen in den Inhalten der Texte und zum anderen im zitierenden Gebrauch des tradierten Textmusters. Die Untersuchung soll dabei vor allem zeigen, dass innerhalb einer nur von einer Minderheit vertretenen Aufklärungsvariante höchst intelligente und gewagte Lösungen für dieses Problem formuliert werden, die in eine zunächst überraschende Nähe zur Frühromantik gerückt werden können. So entstehen auch im späten 18. Jahrhundert literarische Utopien oder utopische Episoden, die sich nicht einfach als parodistisches oder satirisches Gattungszitat erklären lassen. Im Unterschied zu seinem meist polemischen Gebrauch des Utopie-Begriffs fällt vor allem Christoph Martin Wielands Umgang mit den Gattungsstrukturen der literarischen Utopie deutlich differenzierter aus. Gerade über die utopischen Episoden 236 237
Ebd., 360. Zu Wezels Belphegor als anthropologisch argumentierendem Angriff auf die LeibnizTheodizee im Medium Literatur vgl. zuletzt Wels (2010), 156–161.
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
in seinen Romanen gelingt es ihm, einem problemreflektierenden Verhältnis zur Schwärmerei und zum intellektualistischen Tugend- und Vernunftideal literarisch Ausdruck zu geben. Wielands utopische Entwürfe im Agathon, im Diogenes und im Goldnen Spiegel zeigen zwar stabile Konsensgemeinschaften tugendhafter Individuen, gewähren dem Leser dabei aber großzügig Einblick in den poetischen Bauplan literarischer Utopien und erinnern ihn allenthalben daran, dass sich die anthropologische Disposition der dargestellten utopischen Individuen vom erfahrungsweltlichen Menschen fundamental unterscheidet. Einerseits revidiert er damit den frühaufklärerischen Gattungswandel der literarischen Utopie und die Anpassung der Gattung an die literaturpolitischen Ziele der Aufklärung. Andererseits wird dabei, trotz aller narrativen Ironie, der Normcharakter der utopischen Entwürfe keineswegs dekonstruiert. Wieland kreiert also nicht einfach einen behelfsmäßigen Kompromiss zwischen Intellektualismus und Empirismus, sondern praktiziert im Medium Literatur eine neuartige Variante von Aufklärung, die man selbstreflexive Aufklärung nennen kann und die in philosophischer Form erst Kant mit dem Konzept ›regulativer Ideen‹ realisiert: Wie Wielands Umgang mit der literarischen Utopie zeigt, sucht er zwar nach einer adäquaten Vermittlung zwischen intellektualistischer Norm und empiristischer Skepsis, stellt diese Vermittlung literarisch aber als unlösbares Problem dar. In vielen Varianten führen seine Romane vor Augen, dass die erkenntnistheoretische Skepsis des Empirismus in der Theorie zwar evidenter sein mag als die metaphysischen Spekulationen des Intellektualismus, dass sie aber das soziale Zusammenleben gefährdet, sobald sie als moralphilosophische Skepsis auch auf die Praxis übertragen wird. So entschleiern Wielands Romane zwar den Illusions- und Konstruktcharakter ihrer utopischen Episoden, entlarven aber ihren Normcharakter nicht als Irrtum, wie Wezel im Belphegor. Wieland vermeidet es lediglich, die utopische Norm mithilfe der Illusion poetischer Wahrscheinlichkeit ungebrochen auf die Erfahrungswirklichkeit zu applizieren. Für Wieland besitzen die Gattungsstrukturen der literarischen Utopie offenbar nicht nur parodistischen Wert, sondern dienen ihm als effektives Instrument, um im Medium Literatur das Für und Wider jener intellektualistischen Tugendnormen zu reflektieren, die dem empiristischen und anthropologischen Wissen über die menschliche Natur eklatant widersprechen.
d)
Anthropologie als Legitimationsproblem literarischer Utopien
Ich will das Problem, vor dem eine selbstreflexive Aufklärung steht, die sich die Argumente des Empirismus und der Anthropologie aneignet, aber seine moralphilosophischen Konsequenzen ablehnt, noch etwas schärfer konturieren. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts versucht die Anthropologie sich als neue Disziplin zu formieren und sich von der Philosophie zu emanzipieren, indem sie beansprucht, erstmals den ganzen Menschen als psycho-physisches Doppelwesen zu ihrem Untersuchungsgegenstand zu machen. Sie unterscheidet sich von den vorange-
3. Problemkonstellation
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henden Erklärungen zur leib-geistigen Natur des Menschen dadurch, dass sie die Vernunft von der körperlichen Disposition abhängig macht und menschliches Denken und Handeln auf das ›Commercium corporis et mentis‹ zurückführt. Die Anthropologie der Spätaufklärung trägt damit wesentlich zur Festigung der empiristischen These bei, dass die Sinne das Fundament aller menschlichen Wahrnehmung und Erkenntnis bilden. Mit der anthropologischen Thematisierung kontingenter körperlicher und äußerlicher Einflüsse auf Gefühle und Verstand wird zudem die Möglichkeit von objektiver Verstandeserkenntnis in Frage gestellt. Generell lässt sich in Westeuropa ab den 1750er Jahren bei Autoren wie David Hume, David Hartley, Joseph Priestley, Charles Bonnet, Étienne Bonnot de Condillac, Voltaire und Johann Georg Sulzer eine Empirisierung der Erkenntnistheorie, Naturtheorie und Anthropologie beobachten. Der neuen anthropologischen Position gelingt es zudem, im späten 18. Jahrhundert den drei älteren Erklärungsmodellen für das Leib-Seele-Problem auf dem ›Theorienmarkt‹ erfolgreich Konkurrenz zu machen, nämlich dem Okkasionalismus, dem Harmonismus und dem Influxionismus. Sie verfolgt den Anspruch, mit ihrer neuen »Lösung des commercium-Problems zum Kern des Menschen vorzudringen«238. Anlass zu der vielfältigen Theoriebildung über das Leib-Seele-Problem gibt in der Frühen Neuzeit bekanntermaßen die cartesianische Substanzphilosophie, der zufolge der materielle Körper und die immaterielle Seele zwei grundverschiedene Systeme sind, die im Menschen aber eng zusammenarbeiten. Der Okkasionalismus, wie ihn Nicolas Malebranche vertritt, erklärt sich die Kommunikation zwischen beiden Systemen nicht als kausalen Zusammenhang, sondern als eine Beziehung, die sich der Vermittlung oder Beihilfe Gottes (assistentia supernaturalis) verdankt. Der Harmonismus beruft sich hingegen auf Leibniz, der die cartesianische Unterscheidung zwischen körperlicher und geistiger Substanz zwar aufrecht erhält, der Körper und Geist mit der Vorstellung einer ›prästabilierten Harmonie‹ aber in Parallelität zueinander setzt, ohne eine Verbindung zwischen beiden zu behaupten. Nach Leibniz stehen Körper und Geist zwar in einem harmonischen Verhältnis, der Geist hängt aber nicht vom Körper ab, sondern geistige Wesenheiten gleichen einer unabhängigen ›fensterlosen Monade‹, die sich nicht körperlich äußern muss. Der Influxionismus schließlich weist schon auf den neuen Lösungsansatz der Anthropologie voraus, denn er glaubt, dass für die Kommunikation zwischen Körper und Geist eine natürliche Schnittstelle existiert.239 Die Anthropologie zeichnet sich gegenüber den älteren Antworten auf die cartesianische Trennung der Substanzen vor allem durch einen neuen disziplinären Anspruch aus. Okkasionalismus, Harmonismus und Influxionismus versuchen zwar die Zusammenarbeit von Leib und Seele zu erklären, fußen aber auf der disziplinären Trennung von Psychologie und Physiologie, von Philosophie und Medizin. Exemplarisch zeigen dies zwei verbreitete lateinische Lehrbücher 238 239
J. Heinz (1996), 50. Vgl. Schings (1980), 249ff. und J. Heinz (1996), 55–58.
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
Christian Wolffs, nämlich die Psychologia empirica (1732) und die Psychologia rationalis (1734). Leitdisziplin bei Wolff ist die Psychologia rationalis, die metaphysische Wissenschaft von der immateriellen Seele, vom Menschen als geistigem Wesen. Sie steht fest auf dem Boden des cartesianischen Substanzendualismus und mit ihr stellt Wolff die Unsterblichkeit der Seele, die Willensfreiheit (spontaneitas) und die Möglichkeit vernunftautonomer, von natürlichen und äußeren Einflüssen unabhängiger moralischer Urteile sicher. Demgegenüber fungiert die Psychologia empirica lediglich als Hilfswissenschaft, die mit Fallbeispielen die spekulativen Vernunftschlüsse über die Seele bestätigen soll. Mit Kondylis gesprochen, dient hier die Empirie noch als ›weltanschauliche Waffe‹, um die intellektualistische Idee der Vernunftautonomie gegen offenbarungstheologische Menschenbilder in Stellung zu bringen. Bereits ab der Jahrhundertmitte beginnt sich bei Wolffs Schülern jedoch die Hierarchie zwischen Psychologia rationalis und Psychologia empirica umzukehren und dies wird zur Inkubationsphase der Spätaufklärungsanthropologie.240 Der sich zuspitzende Konflikt zwischen Intellektualismus und Empirismus, den beiden weltanschaulichen Flügeln des neuzeitlichen Denkens, stellt nun ihr verbindendes Projekt, den Kampf gegen die Offenbarungstheologie, immer mehr in den Schatten. Wichtige Katalysatoren bei der Emanzipation empiristischer Argumente waren die Theoretische Lehre von den Gemütsbewegungen überhaupt (1744) von Georg Friedrich Meier und Johann Gottlob Krügers Versuch einer Experimental-Seelenlehre (1756), weil beide Schriften den unteren Erkenntnisvermögen erstmals eine ganze Monographie widmen.241 Ein kleiner Aufsatz von Johann Georg Sulzer aus dem Jahr 1759 zeigt schließlich schon im Titel, wie rasant das intellektualistische Theorem einer Alterität von Körper und Geist nun an Boden verliert: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes: Daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne sichtbare Gründe sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe handelt und urtheilet.242 Gegen die disziplinäre Trennung bei Wolff tritt die neue Anthropologie an, um sich als Fundamentalwissenschaft vom Menschen, als Leitdisziplin aller anderen Wissenschaften zu etablieren. Sie betreibt »Empirisierung der Psychologie« und »Physiologisierung der Seele«243 und versucht, »die Logik, die Moral, die Theologie in bloße Anthropologie aufzulösen«244. Eine prägnante Definition der neuen Disziplin findet sich im Vorwort von Johann Karl Wezels Versuch über die Kenntniß des Menschen (1784/85):
240 241 242 243 244
Vgl. insgesamt dazu die prägnante Darstellung bei W. Riedel (2004), hier insbesondere 5f. Vgl. J. Heinz (1996), 19–122, hier insbesondere 25–28. Vgl. W. Riedel (2004), 9f. Ebd., 17. Cassirer (³1973), 155.
3. Problemkonstellation
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Unsere Einsichten haben viel dadurch erlangt, daß man den Menschen in zwey große Hälften zerschnitt, den körperlichen Theil dem Anatomiker und Physiologen überließ, und den geistigen dem Philosophen zu seinem Antheile gab: allein man schien zulezt ganz zu vergessen, daß beides Theile Eines Ganzen sind und folglich in der genauesten Verbindung mit einander stehen müssen. […] Dieses Band zwischen den beiden getrennten Theilen des Menschen wieder anzuknüpfen, war die Absicht einer Wissenschaft, die man Anthropologie nennte[.]245
Mit seiner Anthropologie für Aerzte und Weltweise gibt der Leipziger Professor für Medizin und Philosophie, Ernst Platner, dem neuen aufklärerischen Forschungsinteresse schon 1772 einen Namen. Das wissenschaftliche Programm, das er unter dem Label ›Anthropologie‹ subsumiert, kann man in zwei seiner Faustformeln zusammenfassen: Endlich kann man Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen betrachten, und das ist es, was ich Anthropologie nenne.246 Der Mensch ist weder Körper, noch Seele allein; er ist die Harmonie von beyden; und der Arzt darf sich, wie mir dünkt, eben so wenig auf jene einschränken, als der Moralist auf diese.247
Der zweite Satz illustriert augenfällig, wie stark die neue Anthropologie bemüht ist, sich gegen den Nihilismus- und Materialismusvorwurf zu wappnen und ihre gefährlichen Konsequenzen für die Idee menschlicher Freiheit zu überdecken. Platners Anthropologie nimmt bei einem älteren Leib-Seele-Modell Anleihen, nämlich beim leibnizschen Harmonismus, und bestimmt Mensch-Sein als ›harmonisches‹ Verhältnis von Leib und Seele. Die ›beste aller möglichen Welten‹ beginnt für Platner »bereits beim menschlichen Körper«248. Platners Bemühen um eine Abwehr des Materialismusvorwurfs gewinnt in den 1790er Jahren noch einmal deutlich an Kontur. In den 1780er Jahren hatte sich der Einfluss des französischen Materialismus auch in der deutschsprachigen Anthropologie bemerkbar gemacht, vor allem bei Autoren wie Johann Karl Wezel und Michael Hissmann. Platner reagiert brüskiert auf die sich anbahnende Synthese von Materialismus und Anthropologie und setzt dem seine Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise (1790) entgegen. Darin degradiert er seine Anthropologie von 1772 zur Jugendsünde und wertet die Rolle des Seelischen bzw. Geistigen erheblich auf:249 Das Wesen des menschlichen Körpers wird hier bestimmt aus seinem Endzweck, sein Endzweck aber ist, der Seele zum Werkzeuge zu dienen[.]250
245 246 247 248 249 250
Wezel (2001), 10 u. 11. Platner (1772), XVIf. Ebd., IV. J. Heinz (1996), 29. Vgl. ebd., 35–41, 63–65 u. 72f. Platner (1790), 63 (= §190).
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
An Platner zeigt sich, dass mit dem Erscheinen der neuen Anthropologen die Aufklärung keineswegs ›gewendet‹ wird. Vielmehr illustrieren gerade seine Schriften »die Eigentümlichkeiten der deutschsprachigen Anthropologie, deren Empirismuskonzeption sich von den vorhergehenden Schulungen durch den Wolffschen Rationalismus nicht vollkommen lösen konnte, damit aber fundamentale Ungereimtheiten zu konstitutiven Elementen ihrer Konzeption machen mußte«251. Die in den Literatur- und Kulturwissenschaften der letzten 15 Jahre zahlreich aufgegriffene formelhafte Rede von der ›anthropologischen Wende‹ ignoriert diesen Sachverhalt häufig und rezipiert die empiristische Anthropologisierung des Denkens zumeist affirmativ.252 Die Anthropologie der Spätaufklärung wird als Befreiung vom vernunftdogmatischen Systemdenken der Frühaufklärung wahrgenommen, als Lösung des von der cartesianischen Substanzenlehre aufgegebenen Problems und als gelungene Wiedervereinigung oder Heilung des rationalistischen ›homo duplex‹.253 In Anbetracht dieser verbreiteten Stilisierung der ›anthropologischen Wende‹ zum Akt einer Selbstaufklärung der Aufklärung, die den verdrängten Körper wieder in seine Rechte setzt, ist man geneigt, der gegenwärtigen Aufklärungsforschung anzuraten, häufiger einmal einen Blick in Kondylis’ Aufklärungs-Monographie zu riskieren. Mit Kondylis lässt sich der polemische und normative Gehalt in Erinnerung rufen, der sich mit der Spätaufklärungsanthropologie verbindet. Ihre Rede vom ›ganzen Menschen‹ erweist sich, so besehen, als »Kampfbegriff antirationalistischer Theorie«254. Mit der ›anthropologischen Wende‹ wird demzufolge nur ein neues Kapitel in der Schlacht der beiden weltanschaulichen Flügel des neuzeitlichen Denkens aufgeschlagen. Auch Platners redliches Bemühen, die Anthropologie gegen den Materialismusvorwurf zu immunisieren, kann man unter diesem Blickwinkel als polemische Maßnahme verstehen: Um dem weltanschaulichen Gegner nicht in die Hände zu spielen, versucht er nihilistische Extrempositionen abzuwehren und vermittelt stattdessen zwischen empiristischer Anthropologie und leibnizschem Harmonismus. Diesen Normativismus des Relativen, dieses Hochstilisieren der Empirie und der Natur des Menschen zur neuen Norm, die Halt gibt, kann man mit Kondylis ursächlich auf die Furcht vor einem ad extremum getriebenen Empirismus zurückführen. Das latent immer drohende Skandalon des Determinismus und der Unbegründbarkeit menschlicher Freiheit lässt selbst einen Autor wie Johann Karl Wezel, der gemeinhin als deutscher Adept des französischen Materialismus gilt, zu Vermittlungsmaßnahmen greifen. Wie Gideon Stiening gezeigt hat, wird bei Wezel der in der Spätaufklärung geprägte und popularisierte Terminus des 251 252 253
254
Stiening (2004), 138. – Speziell zu Platner vgl. Stiening (2007). Vgl. dazu Erhart (1999), 104–118. Für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Forschungsparadigma der ›anthropologischen Wende‹, mit seinen Argumenten und Vertretern, vgl. Stiening (2004), 113– 125. Ebd., 121.
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›Selbstgefühls‹ zur empiristischen Norm nobilitiert und strapaziert, um an zentralen Stellen seiner Argumentation die Begriffsschwierigkeiten einer naturalistischen Anthropologie zu beheben: In seinem Versuch über die Kenntniß des Menschen erbringt Wezel mit dem Selbstgefühl einen pseudoempiristischen Nachweis für das ›Commercium corporis et mentis‹: Im sich selbst fühlenden Denken verklammert er Physiologie und Psychologie und konstruiert eine Begründung für die Freiheit des ›ganzen Menschen‹, um die Anthropologie gegen den Nihilismusvorwurf abzusichern.255 Die Konsequenzen eines Determinismus und eines moralphilosophischen Relativismus werden hingegen nur von wenigen Vertretern der empiristischen Aufklärung so offen ausgesprochen wie von Baron d’Holbach in seinem Système de la nature (1770), dem diese Offenheit freilich das Stigma des materialistischen Schreckgespensts einbrachte: Die Menschen werden sich immer irren, wenn sie die Erfahrung um solcher Systeme willen preisgeben, die durch die Einbildungskraft geschaffen wurden. Der Mensch ist das Werk der Natur, er existiert in der Natur, er ist ihren Gesetzen unterworfen, er kann sich nicht von ihr freimachen, er kann nicht einmal durch das Denken von ihr loskommen.256
Der polemisch-affirmative Gehalt der Spätaufklärungsanthropologie, die ihre moralphilosophischen Konsequenzen kaschiert oder herunterspielt, hat sich nicht selten auch auf ihre Interpreten übertragen. So ist die Rede von der ›anthropologischen Wende‹ häufig »keineswegs als Ergänzungs-, sondern als historiographische Konkurrenz-, mithin Ersetzungskonzeption«257 in Gebrauch. Sie konkurriert vor allem mit der philosophiegeschichtlichen Rede von der ›kopernikanischen Wende‹, die im Erscheinen von Kants Kritiken die zentrale Wetterscheide der Aufklärung und des 18. Jahrhunderts erblickt.258 Auch ein Literaturwissenschaftler, der sich mit dem 18. Jahrhundert beschäftigt, kann sich aus diesem Streit zwischen Philosophie- und Anthropologiegeschichte um die Deutungshoheit über die Aufklärung nicht heraushalten, sondern wird von seinem Gegenstand gezwungen, Position zu beziehen. Das liegt daran, dass der gegenseitige Einfluss von Leib und Seele in der Spätaufklärung zum omnipräsenten Problem wird, was sich »im
255 256 257 258
Stiening (2003/2004), 104–111. Holbach (1978), 17. Stiening (2004), 114. Dies zeigt vor allem Wolfgang Riedels instruktiver Aufsatz zur Genese und zum ideengeschichtlichen Kontext der sogenannten ›anthropologischen Wende‹. Am Schluss seines Beitrags wird indes deutlich, dass Riedel aus Sicht einer gegenwärtig »florierenden Neurowissenschaft« (W. Riedel [2004], 15) die entscheidende Weichenstellung für die Entstehung des modernen ›naturalisierten‹ Menschenbildes in der ›anthropologischen Wende‹ der Spätaufklärung entdeckt. Im Vergleich damit erscheint ihm die Kantische Wende nur noch als bloße ›Retardation‹ (Ebd., 17). Eine kritische Entgegnung auf Riedel findet sich bei Stiening (2004), 114–116.
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
Auftauchen anthropologischer Topoi in allen Arten von Texten [zeigt], seien sie nun pragmatisch oder fiktional, wissenschaftlich oder literarisch«259. Hans-Jürgen Schings hat zuerst nachgewiesen, »daß die Entstehung des »modernen Romans« in Deutschland mit der Entfaltung der neuen Anthropologie Hand in Hand geht, daß sie im Bündnis mit dieser Anthropologie und aus ihrem Geist erfolgt.«260 Zur Allianz zwischen Anthropologie und Ästhetik trägt vor allem die topische Verwendung von anthropologischer Thematik im zeitgenössischen Roman und Drama bei: Narrative und dramatische Fiktionen, die über den Konflikt zwischen Kopf und Herz oder über den Typus des Schwärmers und seinen gefährlichen Hang zur Melancholie handeln, die sich also generell der »Darstellung problematischer Individualität«261 widmen, überschwemmen im späten 18. Jahrhundert den literarischen Markt. Generell gilt für die Allianz zwischen Anthropologie und Ästhetik im 18. Jahrhundert, dass das empiristische Primat der Sinne im Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozess bei Autoren, die sich dieser Argumente annehmen, zu einer poetologischen Umorientierung führt, die sich vor allem in der Etablierung einer neuen Norm poetischer Wahrscheinlichkeit zeigt. Nach seiner poetologischen Orientierung am Empirismus gilt einem Autor wie Wieland nicht mehr die literarische Darstellung von Vernunftwahrheiten als wahrscheinlich, sondern eine Handlung, die die psycho-physischen Determinationsfaktoren menschlichen Handelns hervorkehrt. Die Allianz zwischen Empirismus, anthropologischem Wissen und Ästhetik hat also zur Folge, dass Autoren literarische Aufklärung nicht mehr dadurch praktizieren, dass sie den Leser im Medium Literatur in seinem Glauben an die Theodizee, die Vernunftautonomie und die Willensfreiheit versichern, sondern dadurch, dass sie ihn vor solchen ›Schwärmereien‹ zu bewahren versuchen, indem sie menschliches Denken und Handeln auf natürliche, körperliche Ursachen zurückführen.262 Während diese Entwicklung den entscheidenden Anstoß zur Entstehung des modernen Romans gibt, stürzt sie die literarische Utopie in Deutschland in die tiefste Rechtfertigungskrise ihrer gut zweieinhalb Jahrhunderte währenden Gattungsgeschichte. Die Kritik an literarischen Idealstaatsentwürfen geht in der Spätaufklärung mit der anthropologisch motivierten Schwärmerkritik Hand in Hand. So steht Wieland in seiner Vorbemerkung Über das Historische im Agathon (1773) literarischen Utopien erkennbar kritisch gegenüber, da sie ein unwahrscheinliches Bild sittlicher Vollkommenheit entwerfen, das den »Gesetze[n] der menschlichen Natur« (OA 10.1/2, 9) widerspricht. Das daraus resultierende Darstellungsproblem literarischer Utopien gewinnt vor allem im Vergleich mit der
259 260 261 262
J. Heinz (1996), 2. Schings (1980), 257. J. Heinz (1996), 340. Einen detaillierten Überblick über die ältere Forschung zum Verhältnis zwischen Literatur und Anthropologie bietet W. Riedel (1994).
3. Problemkonstellation
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frühaufklärerischen Poetologie an Kontur: In der Frühaufklärung ließ sich die Konstruktion modellhafter, außerempirischer utopischer Individuen zwar nicht als die Darstellung von Tatsachenwahrheiten, aber immerhin als Literarisierung von Vernunftwahrheiten legitimieren. Gilt hingegen die erfahrungsweltliche Natur des Menschen als ausschließliches Kriterium von poetischer Wahrscheinlichkeit, dann fehlt der Literarisierung utopischer Normen eine triftige poetologische Rechtfertigung. Gerade Wielands darstellungspraktische Handhabe der literarischen Utopie zeigt jedoch, dass literarische Texte des 18. Jahrhunderts empiristisches und anthropologisches Wissen nicht immer einfach in ästhetische Kriterien übersetzen, sondern in manchen Fällen die ›anthropologische Wende‹ an sich problematisieren. So werden bei Wieland eigentlich keine utopischen Entwürfe dargestellt, sondern das Darstellungsproblem literarischer Utopien selbst. Vermittelt darüber drängen Wielands Texte ihren Lesern die zentrale Frage von selbstreflexiver Aufklärung geradezu auf: Kann man die erkenntnistheoretischen Argumente des Empirismus ernst nehmen, ohne daraus radikale moralphilosophische Konsequenzen zu ziehen, d. h. ohne aus der erkenntnistheoretischen Unmöglichkeit, die Wahrheit zu erkennen, auf den bloßen Illusionscharakter einer an moralischen Normen orientierten Handlungspraxis zu schließen? Eine wirklich problemadäquate philosophische Antwort vermag die selbstreflexive Aufklärung vor Kant darauf nicht zu geben, ihre Versuche, dieses Problem literarisch zu bewältigen oder zumindest zu dokumentieren, zeichnen sich aber durch innovative Darstellungsverfahren und die hochgradige Reduktion von expliziter und impliziter weltanschaulicher Polemik aus. Selbstreflexive Aufklärung beteiligt sich zwar an der Popularisierung der empiristischen Erkenntnistheorie, kaschiert dabei aber nicht die nihilistischen Konsequenzen des Empirismus, sondern reflektiert das neuzeitliche Denken in seinem Für und Wider.
e)
Utopie, Anthropologie und Hypokrisie
Anthropologisches Wissen über den Zusammenhang von menschlicher Vernunft und körperlicher Disposition bringt nicht nur das Darstellungsproblem literarischer Utopien mit sich, sondern auch ein brisantes politisches Problem, denn es stellt die aufklärerischen Ideen des freien Willens und der moralischen Souveränität implizit in Frage. Damit gibt die Anthropologie der Theorie des Absolutismus Argumente an die Hand, durch die sich gesellschaftliche Ungleichheit und die Notwendigkeit eines starken, absolutistischen Staats begründen lassen: Wenn es dem Menschen schwer fällt, vernünftig und selbstständig zu handeln, weil seine Leidenschaften, seine Selbstbezogenheit, Bequemlichkeit und Denkfaulheit ihm ständig einen Strich durch die Rechnung machen, dann bedarf es eben eines starken Staats, der ihn vor sich selbst und anderen beschützt. Die politische Instrumentalisierbarkeit anthropologischen Wissens wird schon in der Frühen Neuzeit diskutiert und zwar innerhalb der Lehre der ›Arcana
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
imperii‹.263 Dies meint die politische Vorstellung, dass die Instrumente absolutistischer Herrschaftsausübung geheim gehalten werden müssen, weil sie amoralischen Charakters sind und die Schwächen der menschlichen Natur, ihre Verführund Täuschbarkeit ausnutzen. Zu den ›Arcana imperii‹ gehört auch die Technik des ›Priestertrugs‹ als Mittel der Legitimation von politischen Institutionen. Spinoza spricht bereits 1670 in seinem anonym veröffentlichten Tractatus Theologico-Politicus offen davon, dass es »das letzte Geheimnis einer monarchischen Regierung [ist] und völlig in ihrem Interesse lieg[t], die Menschen in der Täuschung zu erhalten, und die Furcht, durch die sie im Zaum gehalten werden sollen, unter dem schönen Namen Religion zu verbergen«264. Als die Anthropologie im späten 18. Jahrhundert die intellektuellen Diskurse zu dominieren beginnt, bietet gerade die Vorstellung der ›Arcana imperii‹ eine Möglichkeit, anthropologisches Wissen zu problematisieren, denn an den ›Arcana imperii‹ zeigt sich die absolutismusstabilisierende Dimension der Anthropologie: So fungiert in Wielands Goldnem Spiegel der Fundamentalanthropologe und nihilistische Materialist Eblis als Berater des absolutistischen Fürsten Isfandiar und diese gefährliche Liaison führt zur Anarchie und zum Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung Scheschians.265 Während allerdings der selbstreflexive Aufklärer Wieland die Allianz zwischen Fundamentalanthropologie und Absolutismus problematisiert, wird diese in Wezels anthropologisch motiviertem Anti-Theodizee-Roman Belphegor geradezu affirmiert: Dieser Roman konfrontiert zwar die disparaten Perspektiven seiner Protagonisten Belphegor, Medardus und Fromal miteinander und suggeriert, dass diese typenhaft für drei unterschiedliche Weltzugänge stehen (Schwärmer, Theodizee-Anhänger, Materialist). Wegen seiner scheinbaren Multiperspektivität könnte man diesen Roman daher auf den ersten Blick für das Produkt einer selbstreflexiven Aufklärung halten. Der Text ist aber weitaus weniger deutungsoffen, als in der Forschungsliteratur häufig unterstellt. Im Belphegor werden auch explizite Standpunkte und Normen formuliert, vor allem in der Vorrede (vgl. Kap. I.3.2.c), die mit »Wezel« unterschrieben ist, in der Ironie- und Fiktionssignale fehlen und die somit als Autor- und Textposition verstanden sein will. Gleiches gilt für zwei ausführliche Fußnotenkommentare im ersten und siebenten Buch, deren Inhalte man ebenfalls als verbindliche Textperspektive auffassen kann. Bei der ersten dieser beiden Anmerkungen handelt es sich um einen Lobgesang auf die Reformen Josephs II., vor allem auf dessen Lockerung der persönlichen und wirtschaftlichen Abhängigkeit der Bauern.266 Während die Roman263 264 265 266
Vgl. Stolleis (1990). Spinoza (³1994), 5f. – Vgl. dazu Stockinger (21986), 84–86. Vgl. Jordheim (2007), 177–182 u. 332–338. »Bis zum Anbeten kann ich den Monarchen lieben, der seinen Blick auf die niedere verachtete Klasse der Menschheit wirft und ihnen zwar nicht Bequemlichkeiten, Ueberfluß, Verfeinerung geben will – eine schändliche Gabe! – sondern von den vielen Einschränkungen der Freiheit, die sie zur Arbeit nöthigen, diejenigen hinweg-
3. Problemkonstellation
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handlung des Belphegor Egoismus als alles beherrschendes Motiv zeigt, wird hier ein Ausweg aus dem ›Bellum omnium contra omnes‹ präsentiert, der es erlauben soll, an der Auffassung von der leibbestimmten Konstitution des Menschen festzuhalten, ohne in nihilistische Extrempositionen abzurutschen: nämlich der aufgeklärte Absolutismus. Wenn ›Neid und Vorzugssucht‹ die menschliche Natur bestimmen, dann braucht es einen starken Staat, geführt von einem aufgeklärten Monarchen wie Joseph II., der die Oberschicht im Namen des sozialen Friedens vom partiellen Verzicht auf ihre Privilegien überzeugt, um die Unterschichten stärker vom Staat profitieren zu lassen. Abgesehen von ihrer nur geringen Argumentqualität 267, ist an Wezels Fußnote vor allem der Umstand von Interesse, dass hier der aufgeklärte Absolutismus als Ausweg aus jenem Nihilismusproblem präsentiert wird, das die fundamentalanthropologische Ästhetik des Romans erzeugt. Der Spätaufklärer, der die großen Systeme, die Leibniz-Theodizee und den Glauben an eine normative Vernunft als Illusion entschleiert, rettet sich vor Nihilismus und Misanthropie in die Idee des starken Staats, in dem die Willkür des Einzelnen und die einander widerstreitenden Egoismen beschränkt werden. Entscheidend ist dabei der erzeugte Kausalzusammenhang: Fundamentalanthropologie rechtfertigt den Absolutismus. Hier tritt eine markante Differenz zwischen der Problemreflexion bei einem Autor wie Wieland und einem Autor wie Wezel zu Tage: Während sich Wieland mit anthropologischem Wissen als politischem Problem literarisch explizit auseinandersetzt, weicht Wezel dem eher aus und affirmiert im Medium Literatur sogar die Allianz zwischen Anthropologie und Absolutismus. Ausgehend von diesen Einzelbeobachtungen lassen sich folgende drei Thesen aufstellen: 1. Die offenkundig absolutismusstabilisierenden Implikationen anthropologischen Wissens machen seine Handhabe, und das heißt auch seine Literarisierung, im späten 18. Jahrhundert zwangsläufig zum Politikum: Wer fundamentalanthropologisch argumentiert oder dichtet, d. h. wer alles menschliche Handeln aus ›natürlichen‹, körperlichen Ursachen erklärt und (utopisch dargestellte) Tugendideale zum bloßen Schwärmer-Symptom überhitzter melancholischer Gemüter degradiert, liefert damit, ob er will oder nicht, der Absolutismus-Theorie ihre Argumente frei Haus.
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nimmt, die ohne Revolution weggenommen werden können, den Herren einen kleinen zu verschmerzenden Verlust, und dem Unterthan ungleich größern Vortheil verschaffen […]. – Itzt, bey einem so guten Anschein solltest du leben, Belphegor! so würde dich die gute Hoffnung vor der Misanthropie bewahren!« (Wezel [1982], 47). – Zu den Fußnoten im Belphegor vgl. Ilbrig (2007), 234–236. Das (Ausnahme-)Beispiel Josephs II. lässt sich ja nicht generalisieren, ohne damit die fundamentalanthropologischen Grundlagen, die Wezel in der Vorrede formuliert, über Bord zu werfen: Das bedeutet indes, dass ein aufgeklärter Monarch auch nicht außerhalb der egoistischen conditio humana stehen kann und sein Aufklärungsprogramm daher permanent von seinen eigenen Egoismen bedroht wird.
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
2. Wer hingegen anthropologische Vorbehalte rigoros ausklammert und ignoriert, nur um der Idee tugendhaften Lebens oder autonomer Individualität mit literarischen Utopien öffentlich Gehör zu verschaffen, verfährt genauso polemisch wie ein Fundamentalanthropologe. Er ignoriert anthropologisches Wissen und dessen Konsequenzen für die Tugend- und Autonomieidee, um stattdessen die politisch-sozialen Umstände für die mangelnde erfahrungsweltliche Durchsetzung dieser Ideen verantwortlich machen zu können. 3. Bei der spätaufklärerischen Anthropologie handelt es sich also keineswegs um einen politisch neutralen Wissensbestand. Eine primär anthropologie- und wissensgeschichtlich verfahrende Forschung, die diesen Aspekt vernachlässigt, setzt sich damit der Gefahr aus, affirmativ-verkürzende Interpretationen der Spätaufklärung zu produzieren. Eine griffige Formel, mit der sich diese subkutane Politizität von intellektualistischem wie empiristischem Normativismus, von utopistischer Geschichtsphilosophie wie utopiekritischer Anthropologie dingfest machen und einordnen lässt, bietet Reinhart Kosellecks Begriff und Konzept der ›Hypokrisie‹. Kosellecks inzwischen über 50 Jahre alte Aufklärungsdeutung in Kritik und Krise (1959) muss im Einzelnen zweifelsohne auf ihre Haltbarkeit hinterfragt und anhand neuer Quellenforschungen präzisiert werden. Der Grundgedanke seiner Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, jene die Aufklärung prägende polemische Opposition von Politik und Moral, bietet jedoch noch immer reichlich Erklärungspotential für die Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts: Kosellecks Ausgangspunkt ist die Formierung des europäischen Absolutismus nach dem Dreißigjährigen Krieg. Um den Bürgerkrieg zu beenden, entwickelt der absolutistische Staat die Lehre von der Staatsräson, mithilfe derer sich Politik als moralfreier Raum abzirkeln lässt, von dem aus alle Phänomene nur nach ihrem Nutzen für den Erhalt des Staats beurteilt werden. Diese Exklusion der Moral aus der Politik war ihrer ursprünglichen Konzeption nach, so bei Hobbes, gegen die Politisierung religiöser Moral gerichtet, die zum anarchischen Gräuel des Bürgerkriegs geführt hatte.268 Der absolutistische Staat gesteht dem moralischen Gewissen jedoch einen entpolitisierten privaten Innenraum als Asyl zu, in dem es »in secret free«269 sein konnte. Diese Trennung von Politik und Moral gilt Koselleck als wichtigster Katalysator der europäischen Aufklärung, denn aus dem privaten Innenraum brechen die bürgerlichen Funktionseliten auf, um den absolutistischen Staat im Namen eines vorgeblich neutralen Gewissens zu kritisieren. Um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen, vor allem aber um sich ihres Selbstverständnisses zu versichern, formieren sich Intellektuelle als ›bürgerliche Öffentlichkeit‹, indem sie beginnen, ihr privates Gewissen zu veräußern und sich als aufgeklärte Autoren zu konstituieren, denn »[d]ie Selbstgewißheit des morali-
268 269
Koselleck (1973), 17. Hobbes (1992), Bd. 3.1, 350 (= Leviathan II, 31).
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schen Innenraums liegt in seiner Fähigkeit zur Publizität«270. Die frühaufklärerischen Poetiken geben ein illustratives Beispiel für diese Veräußerungsstrategie ab, denn sie drehen sich zu einem Großteil um die darstellungspraktische Lösung der Frage, wie sich denn vernünftiges Denken in die Anschaulichkeit literarischer Fiktionen übersetzen lasse, wie also eine aufgeklärte Öffentlichkeit durch das Medium Literatur in ihrem Glauben an die Idee der Vernunftautonomie versichert werden könne. Der große Gewinn von Kosellecks Studie liegt vor allem im Nachweis der versteckten Politizität von Kritik: Indem der aufgeklärte Autor sich publizistisch und literarisch für bestimmte Normen engagiert, sich im Gebrauch oder der Ästhetisierung des Vernunft-Begriffs oder normativistischer Natur-Begriffe zum Träger eines reinen Gewissens und sein privates Gewissen zum putativ verallgemeinerbaren, politisch-neutralen Tugendmaßstab stilisiert, vollführt er eine politische Handlung. Er inszeniert Aufklärung im Namen von Norminstanzen wie der Vernunft, der Natur oder dem Menschen als politische Gegenkraft zum amoralischen Absolutismus: »Die intendierte Moralisierung der Politik im achtzehnten Jahrhundert bedeutet de facto eine totale Politisierung der geistigen Welt, ohne sie als solche in den Blick zu rücken«271. Dieser subkutane Prozess der Politisierung unter dem Deckmantel moralischer Neutralität entgeht laut Koselleck den meisten der beteiligten historischen Akteure, die ihn tragen. Gerade dieses Fehlen einer Selbstkritik der Kritik, die erst Kant leistet, führt zur »Hypokrisie«272 der Aufklärung, die sich in der Selbstgerechtigkeit eines guten Gewissens auf Seiten der kritischen Aufklärer und in der übersteigerten Erwartung einer moralischeren Zukunft, also in der Geschichtsphilosophie und im Fortschrittsglauben manifestiert. Kosellecks Begriff der ›Hypokrisie‹ beschreibt also eine Haltung, die bestimmte Normen selbstgerecht und fundamentalistisch für sich in Anspruch nimmt, ihnen den Schein intelligibler, wirklicher, ›natürlicher‹ oder zukünftiger Existenz verleiht und von dieser Position aus ihre Umgebung und die bestehenden politisch-sozialen Verhältnisse kritisiert. Die argumentative Nähe von Odo Marquards Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie zu den Thesen Kosellecks ist an dieser Stelle unübersehbar. Der Avantgarde-Habitus moderner Geschichtsphilosophie, den Marquard beschreibt, lässt sich auch als ein Fall von Hypokrisie fassen. Marquard identifiziert offenkundig dasselbe Phänomen wie Koselleck, wenn er von einer aufklärerischen »Dauerflucht aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein«273 spricht. Kosellecks Studie geht auf seine 1954 vorgelegte Dissertation zurück, die in dieser Fassung noch den Untertitel Untersuchung der politischen Funktion des dualistischen Weltbildes im 18. Jahrhundert trägt. Der nüchterne Untertitel bringt sein
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Koselleck (1973), 44. Ebd., 128. »Die Kritik […] erliegt dem Schein ihrer Neutralität; sie wird zur Hypokrisie« (Ebd. 81f.). Marquard (41997), 18.
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Analyseprogramm auf den Punkt: Es geht um eine Beschreibung konstruierter ›weltanschaulicher‹ Polaritäten und ihrer politischen Instrumentalisierung. In diesem Erkenntnisinteresse besteht die Gemeinsamkeit der Aufklärungsdeutungen von Koselleck und Kondylis, denn beide fragen nicht nach der sozial- und philosophiegeschichtlichen Genese und Struktur der Aufklärung, sondern unternehmen eine Funktionsbestimmung aufklärerischer Positionen anhand von deren Auseinandersetzung mit Absolutismus und Theologie. Koselleck und Kondylis zeigen idealtypisch, wie die historischen Akteure ihre gesellschaftliche Stellung durch die Inszenierung und Bekämpfung von weltanschaulichen Gegnern zu festigen versuchen, weshalb es zur Konstruktion von Polaritäten wie denen zwischen Moral und Politik, zwischen Empirismus und Intellektualismus und zwischen neuzeitlichem Denken und Offenbarungstheologie kommt. Die Studien von Koselleck und Kondylis machen deutlich, dass das neuzeitliche Denken von Anbeginn an eine hochpolemische Angelegenheit war, das sich selbst nicht etablieren und halten konnte, ohne einen weltanschaulichen Gegner zu konstruieren und zu bekämpfen. Durch ihre starke Akzentsetzung auf die polemische Agonalität aufklärerischer Positionen und ihre implizite Berufung auf Carl Schmitts Bürgerkriegstopos manövrieren sich die Studien von Koselleck und Kondylis jedoch in die Nähe einer dezisionistischen Argumentation, was ihnen bis heute einen nicht ganz einfachen Stand in der Aufklärungsforschung beschert hat.274 Insbesondere Kosel-
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In seinem Buch Macht und Entscheidung. Die Herausbildung der Weltbilder und die Wertfrage (1984) hat sich Kondylis mit diesem Vorwurf auseinandergesetzt: Er charakterisiert seine eigene ideengeschichtliche Analysemethode hier als ›deskriptiven Dezisionismus‹, der Weltbilder und philosophische Positionen in polemische Zusammenhänge einbettet und ihre Normen nicht als ›Substanzen‹, sondern als funktionale Entscheidungen erklärt, als einen Akt der Absonderung von einem Gegner. Er grenzt diese Methode jedoch von einem ›militanten‹ oder ›normativen Dezisionismus‹ ab, für den sich mit dem Konzept der Entscheidung auch eine Norm ›wahren‹ Lebens verbindet: Dem militanten Dezisionismus gilt als ›wahres‹ Leben nur dasjenige, das sich permanent wach und entscheidungsbereit hält und sich nicht an Gewissheiten klammert. Im Unterschied dazu verbindet Kondylis mit seiner normrelativistischen Methode gerade keinen Anspruch für das Handeln in der Lebenswelt. In der Praxis ist sein ›deskriptiver Dezisionismus‹ überflüssig, denn hier braucht man offenbar Normen, die man nicht permanent hinterfragt: »Unser deskriptiver Dezisionismus läßt also weder die Entscheidung als Sollen noch die pflichtgemäße Bindung von Entscheidungen an ein angeblich objektives Sollen gelten. […] [E]rst durch die Einsicht in die soziale Notwendigkeit der Vorherrschaft des Normativismus vermag diese Theorie deskriptiv, d. h. wertfrei zu bleiben. Das mag paradox klingen, und dennoch gehören, bei Licht besehen, theoretische Wertfreiheit und Anerkennung der Überlegenheit des wert- und normgebundenen Denkens auf praktischem Gebiet unzertrennlich zusammen. Denn restlos wertfrei ist eine Betrachtung nicht schon dann, wenn sie sich der Subjektivität und Relativität der Werte bewußt bleibt, sondern erst dann, wenn sie ihrerseits auf die Rolle des Aufklärers und des Therapeuten – kurzum: des Führers – ganz und gar verzichtet: […] Wertfreie Erkenntnis kann sich nicht die Zerstörung von Illusionen zum Ziel setzen, denn gerade durch die Feststellung von der Unzerstörbarkeit, ja Lebensnotwendigkeit von Illusionen ist sie wertfrei geworden. Sie muß deshalb ein parasitäres Dasein führen und sich eigentlich ausschließlich an diejenigen richten, die
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leck, der schon im Vorwort zu Kritik und Krise seinem akademischen Lehrer Carl Schmitt für zahlreiche Anregungen dankt, hat mit seiner Dissertation heftigen Widerspruch geerntet, etwa durch Jürgen Habermas.275 Ein Problem von Kosellecks Studie ist in der Tat ihr ausgeprägter »Hang zur Denunziation«276, was wohl in ähnlicher Weise auch für Kondylis’ Aufklärungsbuch gilt. Beide Studien lesen sich in vielen Punkten »wie eine Anklageschrift gegen zentrale Figuren der deutschen und französischen Aufklärung«277, denen unterstellt wird, mit ihren wahren Motiven aus taktischen Gründen hinter dem Berg zu halten oder sich derer schlichtweg überhaupt nicht bewusst zu sein. Hier gilt es in genauen Textanalysen etwas mehr Fingerspitzengefühl unter Beweis zu stellen und Kosellecks Generalverdacht gegen die Aufklärung etwas abzumildern. Die Überlegungen zur agonalen Formation von Geschichtsphilosophie und Anthropologie, von Intellektualismus und Empirismus und vor allem der Begriff der Hypokrisie dienen in dieser Untersuchung als Leitfaden, um den Zusammenhang zwischen anthropologischen Argumenten und den moralischen und politischen Epochendiskursen präzise zu fassen. Zudem sollen mithilfe dieses Leitfadens Texte einer ›selbstreflexiven Aufklärung‹, die sich nicht für eine bestimmte intellektualistische oder empiristische Norm stark machen, sondern Aufklärung in ihrem Für und Wider problematisieren, vom ›normalen‹ Hauptstrom der Spätaufklärung klar unterschieden und in die Nähe frühromantischer Lösungskonzepte gerückt werden.
3.3 Methodisches Vorgehen und Analysekorpus Schließlich gilt es noch, meine konkrete Vorgehensweise zu umreißen, denn bei den Studien von Marquard, Kondylis und Koselleck handelt es sich nicht um Arbeiten zur Literaturgeschichte, sie können also für den Umgang mit literarischen Texten nur den äußeren Rahmen abstecken. Will man zeigen, dass die zunehmende polemische Polarisierung und die subkutane Politisierung aufklärerischer Positionen den generellen Problemkontext für literarische Utopien im späten 18. Jahrhundert bilden, so muss man auch klären, wie man die ›weltanschauliche‹ Position eines literarischen Textes zu bestimmen beabsichtigt. Für den Bearbeitungszeitraum des späten 18. Jahrhunderts wird dieses Problem gelöst, indem ich die analysierten literarischen Utopien und utopischen Episoden anhand der Frage periodisiere, wie sie jenes schwerwiegende Epochenproblem poetisch handhaben, das sich durch die Omnipräsenz anthropologischer Topoi in allen Arten von Tex-
275 276 277
praktisch überflüssige, ja hemmende Einsichten zu schätzen wissen« (Kondylis [1984], 9). Vgl. Habermas (1973). Jordheim (2007), 49. Ebd., 50.
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
ten geradezu aufdrängt, nämlich den Konflikt zwischen Vernunftautonomie und Sinnlichkeit. Mit der Frage nach dem Verhältnis von anthropologischem Wissen und literarischen Utopien gerät die Untersuchung zwangsläufig auf das Glatteis der Wissensgeschichte, die Wissen in Literatur erforscht und die spätestens seit der prominenten Debatte zwischen Tilmann Köppe, Roland Borgards und Andreas Dittrich in der Zeitschrift für Germanistik auf dem methodischen Prüfstand steht.278 Anhand der Auseinandersetzung zwischen den beiden konkurrierenden Positionen von Köppe und Borgards wird ersichtlich, dass die Beantwortung der Frage, ob Literatur Wissen enthalten könne, ganz wesentlich davon abhängt, ob man einen distinkten Fiktionalitätsbegriff befürwortet bzw. ob man an der begrifflichen Differenz zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten festhält. Köppes Beitrag, der auf seiner Göttinger Dissertation279 beruht, hält an dieser Unterscheidung fest, was für ihn aber die Existenz von Grenz- und Mischfällen nicht ausschließt.280 Seine inhaltliche Profilierung des Fiktionalitätsbegriffs orientiert sich an einem Grundgedanken von John R. Searles einschlägigem Aufsatz zum Logischen Status fiktionalen Diskurses. Er betont, dass sich nicht-fiktionale Kommunikation von fiktionaler dadurch unterscheidet, dass sie Wahrhaftigkeit voraussetzt, also die aufrichtige Absicht, mit einer Aussage etwas Wahres zu behaupten. Gerade diese »Ernsthaftigkeitsregel«281 tritt bei fiktionaler Rede jedoch außer Kraft bzw. wird durch die Etablierung kultureller Fiktionskonventionen suspendiert. Fiktionale Kommunikation erfüllt daher, so Köppe, gar nicht die Bedingungen für einen erfolgreichen Wissenstransfer, denn dazu würde es gehören, dass die Ernsthaftigkeits- oder Aufrichtigkeitsregel in Kraft bleibt. Bei der Rezeption von sprachlich vermitteltem Wissen vertraut man darauf, dass der Wissensproduzent das Ausgesagte für wahr hält und dafür Gründe angeben kann. Stellen sich diese Gründe als falsch heraus, dann kann man entweder von einem Irrtum oder von einem Täuschungsversuch ausgehen, wohingegen man dem Autor eines fiktionalen Textes, der falsche Aussagen enthält, in der Regel weder Irrtum noch Täuschungsabsicht vorwirft.282 Daher gilt: »Ein Autor mag vieles wissen; sobald er es in einem fiktionalen literarischen Text verarbeitet, sind die Bedingungen, die einen erfolgreichen Wissenstransfer gewährleisten könnten, nicht mehr erfüllt. Ein literarischer Text besteht demnach aus Sätzen, die bestimmte Auffassungen zum Ausdruck bringen können, aber Wissen enthält er nicht«283. Köppe empfiehlt stattdessen, »von in Literatur (implizit oder explizit)
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Vgl. Köppe (2007a), Borgards (2007), Dittrich (2007), Köppe (2007b). – Für eine kritische Rekapitulation der jüngeren Debatte um das Verhältnis von Wissen und Literatur vgl. Specht (2010a). Köppe (2008). Köppe (2007b), 638f. Searle (41998), 84. Köppe (2007b), 640f. Köppe (2007a), 403.
3. Problemkonstellation
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enthaltenen ›Auffassungen‹ zu sprechen«, und versteht ›Auffassung‹ »als propositionale Einstellung, deren Wahrheits- und Begründungsstatus offen ist.«284 Köppes Einsichten besitzen gerade im Hinblick auf die spätaufklärerische Allianz zwischen Ästhetik und Anthropologie einen erheblichen Erklärungswert: Man kann auf dieser theoretischen Grundlage nicht behaupten, dass ein fiktionaler literarischer Text, der sich anthropologischer Topoi bedient, darum auch anthropologisches Wissen transportiere. Mit Köppe lässt sich aber sagen, dass über die fiktionale Vermittlung anthropologischer Topoi eine bestimmte Auffassung von anthropologischem Wissen formuliert wird. Man kann also nach den Gründen fragen, die einen Autor literarischer Texte in einer bestimmten Situation dazu bewegen, in seinem Text mit historischen und zeitgenössischen Wissensbeständen zu arbeiten oder bestimmte Wissensbestände auszuklammern.285 Gerade literarische Fiktionen sind im späten 18. Jahrhundert für einige Autoren offenbar ein besonders geeignetes Mittel, um ihre Einstellung zu anthropologischem Wissen als einem moralphilosophischen und mithin auch einem politischen Problem zu artikulieren. Um verschiedene Typen solcher Einstellungen gegenüber anthropologischem Wissen zu unterscheiden, bietet sich kaum ein Textmuster als Vergleichsgrundlage so sehr an, wie die literarische Utopie, da diese Gattung durch die Allianz von Anthropologie und Ästhetik vor einem schwerwiegenden Darstellungs- und Legitimationsproblem steht und ein spätaufklärerischer Autor literarischer Utopien sich deshalb zwangsläufig zur Anthropologie verhalten muss. Dabei kann selbst das Ignorieren oder Ausklammern anthropologischen Wissens als Ausdruck einer Einstellung gegenüber der Anthropologie gelten, etwa im Falle von literarisierter Fortschrittsphilosophie wie in Louis-Sébastien Merciers Utopie L’An 2440. Auch bei diesem Text handelt es sich um eine implizite Positionierung zur Anthropologie und zwar dann, wenn man sich mit Odo Marquard die polemische Opposition zwischen Anthropologie und Geschichtsphilosophie in Erinnerung ruft, also den grundsätzlich anthropologiekritischen Impetus von Geschichtsphilosophie, ihre fundamentale »Absage an die Anthropologie«286. Gerade wegen der Omnipräsenz anthropologischer Topoi in allen Arten von Texten lässt sich das fehlende Bewusstsein für den Zusammenhang von Körper und Vernunft bei einem spätaufklärerischen Autor wohl kaum auf Unkenntnis zurückführen. Vielmehr muss man in solchen Fällen von einer gezielten Unterdrückung anthropologischer Vorbehalte ausgehen, die erfolgt, um z. B. die eigene geschichtsphilosophische Position abzusichern. Die Analyse der hier besprochenen Texte soll sich daher vor allem auf die fiktionale Vermittlung der utopischen Entwürfe und auf die Frage konzentrieren, inwiefern damit auf die Anthropologie als Problem für eine
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Ebd., 409. Vgl. Stiening (2008). Marquard (41997), 134.
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Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
Darstellung von tugendhaften, vernunftautonomen utopischen Individuen reagiert wird. Dabei möglichst viele literarische Utopien und utopische Episoden erfassen zu wollen, würde den Rahmen sprengen, da eine solche Analysefrage überhaupt nur auf der Grundlage einer sorgfältigen Analyse von fiktionalen Vermittlungsstrukturen zu fruchtbaren Antworten führt. Ich beschränke mich daher auf ein kleines Korpus von Utopien, an denen sich jeweils schlaglichtartig bestimmte Typen von literarisch artikulierten Einstellungen gegenüber der Anthropologie dingfest machen lassen: Der einfachste Fall wurde bereits behandelt, nämlich das parodistische Utopie-Zitat, wie es sich etwa bei Johann Karl Wezel findet. Dies geht zumeist mit einer weitestgehend affirmativen Einstellung zur Anthropologie einher, weshalb auch ihre moralphilosophischen und politischen Konsequenzen verschwiegen bzw. nicht problematisiert werden. Eine besonders komplexe literarische Einstellung zur Anthropologie formuliert dagegen Wieland, dem sich das II. Kapitel widmet. Anhand der utopischen Entwürfe in seinen Romanen soll Wieland als einer der wenigen historischen Akteure markiert werden, die selbstreflexive Aufklärung im Medium Literatur betreiben, d. h. die erkenntnistheoretischen Argumente des Empirismus teilen und anthropologisches Wissen vom Zusammenhang zwischen ›Herz‹ und ›Kopf‹ theoretisch zwar als Erfahrungstatsache für wahr befinden, zugleich aber den moralischen Relativismus darstellerisch problematisieren, der sich im praktischen Handeln daraus ableitet. Das III. Kapitel untersucht mit Wilhelm Heinses Ardinghello (1787) und Friedrich Leopold Graf zu Stolbergs Die Insel (1788) die literarischen Utopien von zwei Autoren, die ihrem biographischen Hintergrund und ihren ethischen Überzeugungen nach in besonders scharfem Kontrast zueinander stehen. Was ihre literarischen Utopien jedoch verbindet, ist die ästhetisch kalkulierte Unterdrückung anthropologischer Vorbehalte gegen die dargestellten utopischen Individuen. Hier soll gezeigt werden, dass nicht nur die Literarisierung einer affi rmativen Einstellung zur Anthropologie polemischen Charakter trägt, wenn sie die moralphilosophischen Konsequenzen der Anthropologie unterdrückt, sondern dass die literarische Unterdrückung anthropologischer Vorbehalte einen nicht minder polemischen Charakter besitzt. Heinse und Stolberg instrumentalisieren ihre utopischen Entwürfe politisch, nämlich als gezielte Absolutismuskritik im Medium Literatur. Sie konstruieren utopische Gesellschaften als wirklichkeitskritische Gegenbilder, machen aber nicht den anthropologischen Zusammenhang zwischen menschlicher Vernunft und körperlichen Leidenschaften dafür verantwortlich, dass sich ihre Utopien in der Erfahrungswirklichkeit nicht durchsetzen, sondern lasten daran indirekt dem Absolutismus die Schuld an. Wir haben es bei den Texten von Heinse und Stolberg daher mit verschiedenen Ausprägungen ein und desselben literarischen Typs zu tun: mit ›hypokritischen Utopien‹.
3. Problemkonstellation
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Schließlich demonstriert das IV. Kapitel, dass unter problemgeschichtlicher Perspektive eine ›Verwandtschaft‹ zwischen Wieland und der Frühromantik besteht. Selbstreflexive Aufklärer wie Wieland und die Frühromantiker suchen gleichermaßen einen gangbaren Weg jenseits der polemisch-politischen Auseinandersetzung zwischen der rationalistischen Frühaufklärung, die an Vernunftwahrheiten glaubt, und der empiristischen Spätaufklärung, die diesen Glauben in Frage stellt, dabei aber ihre nihilistischen Konsequenzen mit neuen Normen wie Mensch, Natur oder Geschichte kaschiert. Sie legen eine erhöhte Sensibilität für die Hypokrisie von Kritik im Namen der Vernunft, der Natur oder des menschlichen Körpers an den Tag und desavouieren die Ideen des Gewissens und der moralischen Souveränität nicht als bloße Selbsttäuschung. Selbstreflexive Aufklärung und Frühromantik teilen einen reflektierten Enthusiasmus für die Idee des moralischen Gewissens und sehen einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen den beiden Polen einer intellektualistischen und geschichtsphilosophischen Moralspekulation und deren empiristischer bzw. anthropologischer Kritik nur im Ruf nach einer Lebenspraxis, in der sich moralische Wahrheit erst erweist. Dies wird an der Fragmentsammlung Glauben und Liebe des Frühromantikers Friedrich von Hardenberg (Novalis) entwickelt. Der Text entwirft einen romantischen Staat, allerdings basierend auf Versatzstücken eines tatsächlich existierenden Staats, nämlich dem Königreich Preußen unter dem jungen Monarchenpaar Friedrich Wilhelm III. und seiner Frau Luise. Auf der Grundlage der nachkantischen Philosophie dichtend, steht Hardenberg bei seinem utopischen Entwurf eines romantischen ›Neupreußen‹ nun die transzendentalpoetische Technik des ›Romantisierens‹ zur Verfügung. Damit ist eine andeutende, verfremdende und stilisierende Form poetischen Sprechens gemeint, mit der man die Dinge in ein anderes Licht rücken, sie als symbolisch-vorläufigen Verweis auf die regulative Idee von moralischer Souveränität, auf ein ›besseres Selbst‹ inszenieren kann, d. h. als gleichzeitige Enthüllung und Verhüllung dieser Ideen. Die neue transzendentalpoetische Ästhetik geht erkenntnistheoretisch von Kant aus und trennt säuberlich zwischen Sein und Sollen, zwischen der empirischen Natur des Menschen und der Idee der Freiheit. Zugleich begreift sie Sein und Sollen aber auch als die beiden Enden eines unendlichen Prozesses und konstruiert daher mit augenzwinkernder Ironie im Medium Poesie dennoch die Ahnung oder Andeutung einer Verbindung zwischen Wirklichkeit und Idee. Die Anthropologie als Darstellungsproblem literarischer Utopien wird dabei freilich hinfällig, denn mit diesem neuen Darstellungsparadigma kündigt die Transzendentalpoesie die spätaufklärerische Allianz zwischen Empirismus und Ästhetik wieder auf. Indes hat die Debatte um das ›Commercium corporis et mentis‹ auch im frühromantischen Denken Spuren hinterlassen: Wie die spätaufklärerische Anthropologie fragen nun auch die Frühromantiker nach dem Nexus und der harmonischen Einheit des dichotomen Verhältnisses zwischen der Autonomie der Vernunft und der
Erstes Kapitel: Begriffsklärung und Problemaufriss
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Empfänglichkeit für sinnliche Reize. Sie suchen allerdings nicht – wie die ›monistische Spätaufklärung‹287 – in der Empirie nach einer solchen Brücke zwischen Körper und Vernunft, zwischen Willensfreiheit und Determinismus oder versuchen, wie etwa Platner, die Harmonie zwischen beiden pseudoempirisch zu erweisen. Stattdessen binden die Frühromantiker ihr regulatives Ideal eines ›besseren Selbst‹ an Kants Rede vom ›philosophischen Chiliasmus‹, an die Vorstellung einer unendlichen Annäherung: Das ›bessere Selbst‹ der Romantiker, bei dem Vernunft und Sinnlichkeit miteinander harmonieren, entsteht eigentlich nur im unendlichen Versuch, es zu finden. In Glauben und Liebe benutzt Hardenberg ausgerechnet den utopischen Entwurf eines romantischen ›Neupreußen‹, um diese regulative Idee als unendliche Annäherung symbolisch darzustellen: Die Informationsvergabe über das romantisierte Preußen erfolgt zum einen in Form vager Behauptung über das ›königliche Paar‹, zum anderen in Form konkreter, aber im Konjunktiv formulierter Wünsche und Vorschläge zur Ausgestaltung des ›gewöhnlichen Lebens‹, bei denen es immer darum geht, das Staatsganze im ›gewöhnlichem Leben‹ sichtbar zu machen, aber eben nur in Form von vorläufigen Andeutungen und Verweisen. Das im königlichen Paar repräsentierte Ideal eines moralisch souveränen Individuums, eines ›besseren Selbst‹, wird mit den Wünschen nach seiner Individualisierung im gewöhnlichen Leben der Konstruktion einer erhofften Tendenz überantwortet. Die konjunktivischen Wünsche legen dem Leser symbolisch nahe, sich im Alltag immer wieder an die Idee der Freiheit und moralischen Souveränität zu erinnern, zugleich aber auch an die unüberbrückbare Divergenz zwischen Wirklichkeit und Idee. Bei der romantisierten preußischen Gesellschaft handelt es sich also um ein transzendentalpoetisches Symbol für die unendliche »Erregung des wircklichen Ich durch das Idealische Ich« (HKA II,529:22), für die frühromantische Vorstellung vom ›besseren Selbst‹ als unendlich-unaufhörlichem Vermittlungsversuch zwischen dem repräsentativen Gattungswesen des Staates und dem gewöhnlichen Leben der Staatsbürger, zwischen Idee und Wirklichkeit, zwischen Vernunft und Körper. In Anlehnung an Manfred Engels Begriff des ›Transzendentalromans‹288 bezeichne ich Hardenbergs Fragmentsammlung Glauben und Liebe daher als ›Transzendental-Utopie‹. Mit diesem Analyseprogramm rekonstruiert meine Arbeit nicht nur die kurze Phase einer literarischen Gattungsgeschichte, sondern will vor allem einen Beitrag zum differenzierten Verständnis der verschiedenen, einander überlagernden literarischen Normensysteme im späten 18. Jahrhundert leisten, indem die Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen Spätaufklärung und Frühromantik anhand ihrer Auseinandersetzung mit der Utopia-Tradition und der Anthropologie diskutiert werden.
287 288
Kondylis (1981), 576–649. Vgl. Engel (1993).
EXKURS Merciers L’An 2440 als kopernikanische Wende der Gattungsgeschichte?
In der gattungsgeschichtlich orientierten Utopieforschung hat sich insbesondere ein Datum als ›archimedischer Punkt‹1 etabliert, der Halt im unüberschaubaren Gewirr von schwer periodisierbaren Einzeltexten und ein verbindendes Moment für die voneinander separierten Gattungsgeschichten in den einzelnen Nationalphilologien verspricht: Die Rede ist vom Jahr 1770/1771, in dem Louis-Sébastien Merciers Roman L’An deux mille quatre cent quarante (Untertitel: Rêve s’ il en fût jamais) erscheint, die erste sogenannte Zeitutopie.2 Viele Interpreten weisen diesem Text eine gattungsgeschichtliche Schlüsselstellung zu, mit dem Argument, dass sich Merciers Ersetzung der räumlichen durch die zeitliche Projektion des utopischen Gegenbildes nicht nur als Forminnovation verstehen lasse, sondern auch als Funktionswandel der tradierten Gattungsstrukturen: Seit Mercier bilde die Antizipation zukünftiger, möglicher Wirklichkeit das dominante Funktionsprinzip literarischer Utopien.3 Von den verdienten Nestoren der Utopie-Forschung wird der Roman sogar zur ›kopernikanischen Wende‹4 der Gattungsgeschichte stilisiert und als eine »Variante der Fortschrittsphilosophie«5 des 18. Jahrhunderts aufgefasst: Der Roman stelle erstmals nicht mehr gesellschaftliche Vollkommenheit, sondern gesellschaftliche Vervollkommnung dar, er dient mithin als anschauliche Quelle für Reinhart Kosellecks These, dass sich im 18. Jahrhundert ein begriffsgeschichtlicher Übergang von der ›perfectio‹ zum ›perfectionnement‹ und zur ›perfectibilité‹ ereigne, im Zuge dessen die frühneuzeitliche Geschichtsmetaphorik des Pflanzenwachstums und des Lebensalters verschlissen werde und der »Entstehung des Fortschritts als einer Bewegungskategorie« 6 Platz mache.7 1 2 3 4 5 6 7
Trousson (1985), 16. Dass Merciers Beschreibung eines zukünftigen Gesellschaftszustandes keineswegs ganz ohne Vorläufer entstand, zeigt Jaumann (²1989), 327. Vgl. u.a. Trousson (1985), 22; Voßkamp (1990), 190–195; Voßkamp (2006), 220; Jordheim (2007), 187. Voßkamp (1984), 81; Trousson (1985), 21; Koselleck (1985), 2; Saage (2001ff.), Bd. 2, 177. Koselleck (1985), 5. Koselleck (³1994), 375. Parallel zu Koselleck kommt auch die französische Mercier-Forschung zu einem ähnlich lautenden Fazit: »Die traditionelle Utopie ist eine statische, eine unbeständige Welt, für Mercier aber, und dies noch vor Wells, ist Utopie kinetisch, ein beständiges Werden« (Trousson [1985], 21). Die von Koselleck und anderen in den 1970er und
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Exkurs: Merciers ›L’An 2440‹ als kopernikanische Wende der Gattungsgeschichte?
Ohne damit Kosellecks begriffsgeschichtlicher Standardanalyse insgesamt widersprechen zu wollen, lohnt es sich, L’An 2440 zunächst unvoreingenommen von dieser Deutung in den Blick zu nehmen. Mercier war zweifelsfrei zeitlebens ein begeisterter Anhänger der französischen Fortschrittsphilosophie in Gestalt ihrer beiden Dioskuren Turgot und Condorcet. Auch Rousseaus kulturkritisch gemeinten Begriff der ›perfectibilité‹ deutet er optimistisch um. Dass sich unter seinen französischsprachigen Zeitgenossen wie Voltaire und Helvétius längst skeptischer Widerstand gegen den Fortschrittsglauben geregt hatte, scheint ihn indes nicht beeindruckt zu haben. Gerade der Versuch, den Fortschrittsoptimismus zu literarisieren, eint L’An 2440 daher auch mit prominenten Romanutopien der Frühaufklärung wie L’Histoire des Sévarambes oder der Insel Felsenburg. Merciers Roman markiert also genau genommen weniger eine Scharnierstelle der Gattungsgeschichte, sondern eher den Kulminationspunkt jenes Gattungswandels, der sich seit der Frühaufklärung vollzieht (vgl. Kap. I.2.2.c). Die literarischen Utopien von Veiras, Schnabel und Mercier sind gleichermaßen das Resultat einer Anpassung der Gattung an die frühaufklärerische Realitätskonzeption, an das Weltbild der Theodizee. Sie unterscheiden sich jedoch in den Darstellungsstrategien, mit denen jeweils versucht wird, dieses Anpassungsproblem zu lösen. Die Kunstfertigkeit von Veiras und Schnabel besteht darin, dass sie ein die Grenzen der Vernunftwahrheit überschreitendes Geschehen durch den Ausbau narrativer Strukturen wahrscheinlich darstellen. Bei Mercier ist die narrative Struktur hingegen auf das Minimum von »Thesenbelletristik«8 reduziert. Der Text ähnelt formal weniger den aufklärerischen Romanutopien, sondern eher einer barocken Allegorieutopie wie Andreaes Christianopolis. Wie bei Andreae beschränkt sich die epische Vermittlung auch hier auf einen Ich-Erzähler, der einen Spaziergang durch das utopische Gemeinwesen unternimmt. Die Vermittlung des utopischen Entwurfs erfolgt wie bei den humanistischen und barocken Utopien in einem langen Bericht, der sich in verschiedene, nach Sachgebieten geordnete Kapitel unterteilt: z. B. Der Tempel, Die königliche Bibliothek, Regierungsform, Die Weiber etc. Zudem enthält Merciers Entwurf des zukünftigen Paris auch eine Reihe allegorischer Elemente, die an die barocke Utopie-Tradition erinnern: So berichtet der Ich-Erzähler im 22. Kapitel von einer sinnbildlichen Plastik, die die Menschlichkeit darstellt und die einzelnen Nationen, die diese in Gestalt allegorischer Figuren kniend um Verzeihung bitten. Auffällig ist auch der Zeichencharakter des geometrisch geordneten Raumes von Merciers zukünftigem Paris, etwa die zentralisierte Stadtstruktur und ihre grundlegende Viergliedrigkeit (vier Stadtviertel, vier Tempelportale, vier
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1980er Jahren entwickelte These von L’An 2440 als erstem Text, der eine »Temporalisierung der Utopien« umsetze, hat sich inzwischen auch außerhalb der textinterpretierenden Wissenschaften, etwa in der Soziologie, als ebenso unumstößliche wie unhinterfragte Gewissheit etabliert: vgl. Luhmann (²1999), Bd. 2, 1008. Sommer (2006), 279.
Exkurs: Merciers ›L’An 2440‹ als kopernikanische Wende der Gattungsgeschichte?
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Theatersäle etc.). Der Roman beruft sich damit auf das Muster der städtebaulichen Symmetrie in den frühneuzeitlichen Utopien und ihre allegorische Anspielung auf das himmlische Jerusalem.9 Einen allegorischen Sinn hat Mercier auch vielen prima vista unwichtigen Details unterlegt, so etwa der nächtlichen Straßenbeleuchtung (vgl. das Kapitel Die Laternen): Die Gassen sah ich hell erleuchtet. Die Laternen waren an den Hausmauern angebracht, in ihrer Gesamtheit ließen die Lichter keinen Schatten mehr übrig. […] Auch traf ich an den Straßenecken nicht mehr jene liederlichen Weibsbilder an, die, mit dem Fuß in der Gosse, das Gesicht erleuchtet, und mit einem Blick, der so frech war wie ihre Gebärden, einem im Ton eines Soldaten ebenso grobe wie geschmacklose Vergnügungen anboten. Alle diese Orte der Unzucht, wo der Mensch sich erniedrigt, zum Tiere herabsetzt und vor sich selbst erröten muß, wurden nicht mehr geduldet.10
Auf der Ebene der wörtlichen Bedeutung wird hier ein ausgeklügeltes Beleuchtungssystem beschrieben, bei dem die Lichtkegel der einzelnen Laternen einander so durchdringen, dass keine Schatten und dunklen Winkel mehr auftreten, die früher der Prostitution zwielichtige ›Orte der Unzucht‹ boten. Dass mit einer verbesserten Straßenbeleuchtung die Prostitution wirklich abgeschafft werden könnte, steht indes eher zu bezweifeln. Wörtlich verstanden, scheint der hier unterbreitete Vorschlag also geradezu naiv. Diese Trivialität auf der wörtlichen Ebene lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers jedoch auf die allegorische Bedeutung, nämlich das vom Licht der Aufklärung vollkommen durchdrungene, vernünftige Subjekt, auf dessen Denken und Handeln die dunklen Schatten der ›gefährlichen‹ Leidenschaften keinen Einfluss mehr haben. Erst dank der Realisierung des Vernunftmenschen gibt es in Merciers Paris keine Prostitution mehr und eben nicht wegen der besseren Lichtverhältnisse. Mithilfe von Allegorien wie der totalen Straßenbeleuchtung formuliert Mercier also jenes utopische Menschenbild, das den Konsens der vernunftfähigen Subjekte im zukünftigen Paris erst ermöglicht, nämlich das aufgeklärte und nicht von seinen Leidenschaften und Egoismen beherrschte Individuum. Was L’An 2440 allerdings von den barocken Allegorieutopien unterscheidet, ist der Versuch, die tradierten Gattungsstrukturen mit dem aufklärerischen Fortschrittsoptimismus zu synthetisieren. Deutlich stellt der Roman sich mit seinem Leibniz-Motto in eine Traditionslinie mit dem Fortschrittstheorem der Frühaufklärung.11 Bei Mercier wird die Literarisierung der Fortschrittsidee aber nicht wie in den frühaufklärerischen Romanutopien durch den Ausbau narrativer Strukturen und die Erzeugung eines wahrscheinlichen Erzählkontinuums zwischen Er9 10 11
Vgl. Ouellet/Vachon (1975) sowie Jurt (1986), 248–250. Mercier (²1989), 140. Das Motto von Merciers Roman lautet: »Die gegenwärtige Zeit ist schwanger von der Zukunft«. – Die ähnlich lautende Formulierung, die hier zur Vorlage diente, findet sich im Vorwort zu Leibniz’ Nouveaux essais sur l’entendement humain (vgl. Leibniz [1965], Bd. 3.1, XXIV/XXV).
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Exkurs: Merciers ›L’An 2440‹ als kopernikanische Wende der Gattungsgeschichte?
fahrungswirklichkeit und utopischer Insel bewerkstelligt, sondern über die Projektion des utopischen Entwurfs in eine ferne Zukunft, von der der Ich-Erzähler geträumt hat. Trotz dieser formalen Divergenz kann man L’An 2440 als geschichtsphilosophisch radikalisierte Zuspitzung jenes Gattungswandels verstehen, der mit den frühaufklärerischen Romanutopien seinen Anfang nimmt. Dies zeigt sich vor allem daran, dass Texte wie L’Histoire des Sévarambes, die Insel Felsenburg und L’An 2440 bei dem Versuch, den aufklärerischen Fortschrittsoptimismus und die tradierten Gattungsstrukturen der frühneuzeitlichen Utopie zu synthetisieren, mit dem gleichen Darstellungsproblem konfrontiert werden. Die Aufklärungsutopien von Veiras bis Mercier eint die Intention, für die frühaufklärerische Fortschrittsidee eine literarische Umsetzung zu kreieren, sowie das dabei entstehende Problem, dass sich die tradierten Gattungsstrukturen der Darstellung von Vervollkommnung eigentlich widersetzen (vgl. Kap. I.2.2.c). Mercier verschleiert dieses Problem geschichtsphilosophisch, indem er das utopische Geschehen in eine ferne Zukunft verlegt. Der Text suggeriert damit, dass sich der Mensch nach einer sehr langen Zeit unter der Ägide der Aufklärung tatsächlich zu einem vernunftautonomen Wesen entwickeln könnte. Wie genau dieser Entwicklungsprozess vonstattengeht, wird aber weitestgehend verschwiegen. Tatsächlich gelingt Mercier darstellungspraktisch also keineswegs eine Verzeitlichung der Utopie (›Uchronie‹12) oder die Literarisierung von Vervollkommnung.13 Mit Herbert Jaumann kann man L’An 2440 daher »als eine in die Zeitdimension transponierte Raumutopie kennzeichnen, so gering sind die Spuren, die die Verzeitlichung des utopischen Entwurfs in der Komposition und Erzählform dieses Romans hinterlassen hat«14.
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Die inzwischen weit verbreitete Bezeichnung ›Uchronie‹ für Merciers vermeintliche Temporalisierung der Utopie geht im Wesentlichen auf eine zuerst 1975 erschienene Studie von Raymond Trousson zurück (Trousson [31999], 161–177) und wurde in einer Reihe einflussreicher Forschungsbeiträge aufgegriffen: vgl. u.a. Koselleck (1985), 3; Fohrmann (²1986), 107f.; Hudde/Kuon (1988); Jaumann (²1989), 344. Zumeist unreflektiert bleibt dabei die ursprüngliche Semantik von ›Uchronie‹: Es handelt sich um einen Neologismus, der von dem französischen Philosophen Charles Renouvier Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt wurde. Renouvier hat 1857 eine Artikelserie publiziert (vgl. Renouvier [²1901]), in der die abendländische Geschichte abweichend von ihrem tatsächlichen Verlauf dargestellt wird. Dieses Verfahren bezeichnet er als ›Uchronie‹, als »l’utopie dans l’histoire«. Uchronie meint also das Erfinden einer alternativen Variante zur faktualen, schon vergangenen Ereignisgeschichte. Auf Merciers Roman passt dieser Begriff daher eigentlich nicht, da es sich hier um die Erfindung zukünftiger Geschichte handelt, zu der es noch gar keine Alternative geben kann (vgl. auch Sommer [2006], 279, hier Anm. 449). Zu dem textsortenunabhängigen Darstellungsmuster der Uchronie vgl. Rodiek (1997), insbesondere 25–31 u. 77–89. – Eine methodisch bewusste Bedeutungserweiterung von Renouviers Uchronie-Begriff als Bezeichnung für Zeitutopien findet sich einzig bei Dittrich (2004), 64ff. Vgl. dazu auch die Deutung bei Schölderle (2011), 243–251: »Mercier löst […] das erzähltechnische Potenzial einer Zeitutopie noch keineswegs ein, weshalb der eigentliche Paradigmenwechsel auch erst im 19. Jahrhundert registriert wurde« (ebd., 244). Jaumann (²1989), 340.
Exkurs: Merciers ›L’An 2440‹ als kopernikanische Wende der Gattungsgeschichte?
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Interpreten, die in Merciers Roman dagegen eine optimistische Literarisierung der ›Perfectibilité‹ erkennen wollen, verweisen zumeist auf das 19. Kapitel, in dem der Begleiter des Ich-Erzählers die religiösen Überzeugungen der zukünftigen Pariser skizziert und in dem Rousseaus Perfectibilité-Begriff wörtlich fällt.15 Die Passage zeigt im Grunde jedoch nur, dass Mercier die Religiosität im Paris des 25. Jahrhunderts als einen Glauben an populäre Vorstellungen der Frühaufklärung inszeniert, die dem Menschen eine mittlere Position innerhalb der ›großen Kette der Wesen‹ zuweist.16 Bei dem Fortschrittsglauben der zukünftigen Pariser handelt es sich um wenig originelle, abgegriffene frühaufklärerische Mainstream-Positionen und Merciers Roman gibt sich damit in erster Linie als literarischer Nachhall der frühaufklärerischen Metaphysik zu erkennen. Am Schluss des 25. Kapitels findet sich eine weitere der Passagen, die viele Interpreten heranziehen, um den Roman als gelungene Darstellung von Vervollkommnung zu deuten. Der Begleiter des Ich-Erzählers gesteht hier zu: Es gibt noch eine ganze Reihe von Dingen, die wir verbessern müssen. Wir sind aus der Barbarei herausgetreten, in der Ihr versunken wart. Einige Köpfe waren gleich am Anfang erleuchtet, aber der Großteil der Nation war noch leichtsinnig und kindlich. Nach und nach wurde der Geist herangebildet. Wir müssen noch mehr tun, als wir bisher geschafft haben. Wir haben nicht viel mehr erreicht als die Hälfte der Leiter. Geduld und Ergebung bewirken alles, aber ich fürchte doch, daß das uneingeschränkte Beste nicht von dieser Welt ist. Dennoch glaube ich, daß wir gerade dadurch die Dinge zumindest erträglich machen können, daß wir danach streben.17
Bezeichnend ist hierbei, dass das Konzept der Vervollkommnung ausschließlich als philosophischer Begriff verwendet, jedoch nicht literarisiert, nicht in eine ›anschauende Erkenntnis‹ übersetzt wird. Jaumann kommt daher zu dem Schluss, dass diese Passagen im Gesamtzusammenhang des Romans »in einer kaum glaublichen Weise isoliert und unvermittelt« stehen, womit sie der Deutung des Werkes »ein schwer lösbares Rätsel«18 aufgeben. Das schwer lösbare Deutungsrätsel verliert etwas von seinem enigmatischen Charakter, wenn man in Rechnung stellt, dass Merciers Roman ähnlich wie die Utopien der Frühaufklärung von Veiras und Schnabel versucht, die tradierten Gattungsstrukturen mit dem aufklärerischen Fortschrittsoptimismus zusammenzuführen und dabei lediglich eine neue Darstellungsstrategie verfolgt. Bei Merciers formaler Innovation handelt es sich um den Versuch, die frühaufklärerische Allianz zwischen Leibniz-Theodizee und literarischer Utopie mithilfe von Geschichtsphilosophie über jene Krise hinwegzuretten, in die sie seit der Jahr-
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»Wir glauben, daß alle Seelen ihrem Wesen nach gleich sind, verschieden aber nach ihren Eigenschaften. Die Seele eines Menschen und die eines Tieres sind in gleicher Weisse immatriell, aber jene hat einen Schritt weiter in der Perfektibilität getan als diese« (Mercier [²1989], 104). Zur Denkfigur der ›great chain of being‹ vgl. das Standardwerk von Lovejoy (1993). Mercier (²1989), 139f. Jaumann (²1989), 346.
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hundertmitte geraten war. Problemgeschichtlich gehört L’An 2440 damit zur Gruppe frühaufklärerischer Utopien, markiert aber den krisenhaften Kulminationspunkt dieser gattungsgeschichtlichen Phase: Bei der zeitlichen Projektion des utopischen Gegenbildes handelt es sich um das literarische Paradebeispiel einer geschichtsphilosophisch radikalisierten Theodizee, wie sie Odo Marquard beschrieben hat (vgl. Kap. I.3.2.a). Um dies zu illustrieren, braucht man nur einige analytische Schlaglichter auf die Kunstgriffe zu werfen, mit denen der Roman den zeitgenössischen Leser von dem freiwilligen sozialen Konsens im Paris des 25. Jahrhunderts und von der Tugendhaftigkeit und Vernunftautonomie der zukünftigen Pariser zu überzeugen versucht: Oberflächlich betrachtet, suggeriert die Nacherzählung des Geträumten, dass sich die Vernunftautonomie der zukünftigen Pariser des Jahres 2440 nach einem 700-jährigen, lediglich angedeuteten Aufklärungsprozess aus der erfahrungsweltlichen, unaufgeklärten Natur des Menschen im 18. Jahrhundert entwickelt habe. Tatsächlich verdankt sich aber auch der soziale Frieden im zukünftigen Paris dem typischen Ausschluss jener Individuen, die partout nicht in der Lage sind, ihre Leidenschaften zu mäßigen und die sich gegenüber jeglichen Aufklärungsbemühungen unempfindlich zeigen. Dieses für frühaufklärerische Romanutopien wie die Insel Felsenburg charakteristische Handlungsmuster der Exklusion unbelehrbarer Individuen tritt vor allem im 16. Kapitel zu Tage, in dem der Ich-Erzähler der Exekution eines Verbrechers beiwohnt: Hingerichtet wird ein Delinquent, der nicht in der Lage war, seine Leidenschaften zu disziplinieren, und aus Eifersucht zum Mörder wurde. Eines Gerichtsverfahrens bedarf es nicht, da er sich, wie alle Verbrecher im zukünftigen Paris, freiwillig schuldig bekennt.19 Um dem Einwand zu begegnen, hier werde etwas gänzlich Unmögliches dargestellt, das nach allem Erfahrungswissen über die menschliche Natur im Einzelfall zwar denkbar sei, niemals aber zum juristischen Standard gemacht werden könne, deklariert das 16. Kapitel die präventive Exklusion uneinsichtiger Individuen zur Bedingung für solche freiwilligen Schuldbekenntnisse. Um der Wahrscheinlichkeit des Erzählten willen verweist der Erzähler darauf, dass die utopische Gesellschaft von sittlich instabilen Individuen ›bereinigt‹ wurde. Die Gesellschaft verdankt sich also nicht einer moralischen Vervollkommnung der zeitgenössischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, sondern konstruierten hypothetischen ›Labor-Konditionen‹, d. h. einer utopischen Axiomatik: Nur ein Missetäter, der mit dem Verbrechen seit langem vertraut ist, könnte kaltblütig eine Tat leugnen, die er eben begangen hat. Doch diese Arten von Ungeheuern, von
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Dazu ausführlich Forsström (2002), 193–204. – Mit dem freiwilligen Schuldbekenntnis greift Mercier ein Motiv auf, das schon aus der frühneuzeitlichen UtopiaTradition, insbesondere aus Campanellas Città del Sole bekannt ist: vgl. Campanella (2008), 49f.
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denen unser Volk gereinigt ist, jagen uns nur noch Schrecken ein, wenn wir die Geschichte der letzten Jahrhunderte betrachten.20
Eine ähnliche Entkräftung möglicher Einwände gegen die Kompatibilität des Dargestellten mit dem empirischen Wissen über die ›gemischte Natur‹ des Menschen findet sich auch im Kapitel Die Weiber: Hier erklärt der Begleiter des Ich-Erzählers, dass es im zukünftigen Paris keine arrangierten Hochzeiten mehr gebe, sondern ausschließlich Liebesehen, bei denen die Ehefrauen keine Eitelkeiten an den Tag legten, sondern allesamt musterhafte Hüterinnen des häuslichen Friedens seien. Der Ich-Erzähler reagiert darauf mit anthropologisch motivierter Skepsis: »Aber«, rief ich dazwischen, »trotz aller Vollkommenheit, die in Euch steckt, bleibt der Mensch doch immer ein Mensch: mit seinen Schwachheiten, seinen Phantasien, seinen abstoßenden Seiten. Wenn das Feuer der Zwietracht den Platz der Fackel des Hymen einnimmt, was macht ihr dann? Ist die Ehescheidung erlaubt?«21
Von seinem Begleiter erfährt der Ich-Erzähler nun, dass die Ehescheidung zwar erlaubt ist, dass von diesem Recht aber nahezu kein Gebrauch gemacht wird, da die zukünftigen Frauen »tugendhaft aus Grundsatz«22 seien. Aus seiner Erklärung über die Unerschütterlichkeit weiblicher Tugend geht allerdings hervor, dass die Sittlichkeit der Pariserinnen sich nicht nur ihrer Vernunftautonomie verdankt, sondern offenbar auch subtilen sozialen Zwängen: Aber, ihr könnt es glauben oder nicht, je leichter es ist, desto größer ist die Scheu, davon Gebrauch zu machen [nämlich vom Scheidungsrecht, M.L.], da es eine Art Schande bedeutet, die Trübsale eines vergänglichen Lebens nicht gemeinsam ertragen zu können.23
Das Tugendideal fungiert im Paris der Zukunft also als omnipräsentes Erwartungsmuster, das über die Furcht vor öffentlicher Schande zum indirekten Mittel von Sozialdisziplinierung wird. Die Pariserinnen handeln daher nur putativ vernunftautonom, de facto sind sie aber weniger aus Grundsatz tugendhaft, d. h. sie handeln nicht frei, sondern interessengebunden, indem sie einem bestehenden Verhaltensdruck nachgeben. Textweltliche Elemente wie die Exklusion unbelehrbarer Individuen oder der Mechanismus subtiler Verhaltenszwänge lassen ein – wenn auch äußert verstecktes – Problembewusstsein davon erkennen, dass die literarische Darstellung der Menschheit in einem fortgeschrittenen Aufklärungsstadium immer in der Gefahr steht, nur eine schon entschieden verbesserte Wirklichkeit zu illustrieren, ohne überzeugend zu erklären, was zum sittlichen Fortschritt des Menschen ge-
20 21 22 23
Mercier (²1989), 81 (Hervorhebung, M.L.). Ebd., 242. Ebd., 243. Ebd. (Hervorhebung, M.L.).
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führt hat. Die entscheidende Frage bleibt dabei offen, nämlich wie es dazu kam, dass sich die für die Herrschaft der Leidenschaften so anfällige Natur des Menschen zur Vernunftautonomie aufgeklärt hat. An Stellen wie den oben besprochenen wird erkennbar, wie Mercier mit der Konstruktion bestimmter Bedingungen versucht, solche skeptischen Fragen zu unterdrücken und die unvermittelte Differenz zwischen der erfahrungsweltlichen und der utopischen Anthropologie zu verschleiern. Die Verschleierung dieser Differenz mithilfe der poetischen Erfindung bestimmter institutioneller Einrichtungen gehört zu den charakteristischen Gattungselementen vor allem der frühaufklärerischen Romanutopien. Signifikanterweise finden sich auch bei Mercier eine Reihe institutioneller Einrichtungen, die die Tugendhaftigkeit der zukünftigen Pariser plausibel erscheinen lassen sollen: Allem voran der Initiationsritus, der die Jugendlichen in der für die Tugend besonders gefährlichen Phase der Adoleszenz in das Werte- und Normensystem der Gesellschaft einführt. In der Nacht werden sie in ein Observatorium gebracht und müssen dort zuerst durch ein Teleskop in den Sternenhimmel und dann durch ein Mikroskop schauen. Auf diese Weise sollen die zukünftigen Staatsbürger die Analogie zwischen Mikro- und Makrokosmos und damit ihre Stellung in der ›great chain of being‹ erfahren, um später nicht dem Laster der superbia anheim zu fallen.24 Eine ähnliche pädagogische Funktion verbindet sich auch mit dem königlichen Naturalienkabinett (31. Kapitel). Die Architektur dieses riesigen Gebäudekomplexes varriiert das den ganzen Roman durchziehende Allegorizitätssignal der Viergliedrigkeit, denn die Ausstellungsfläche verteilt sich auf vier Gebäudeflügel, in denen alle Arten von Tieren, Pflanzen und Mineralien gezeigt werden. Die Exponate sind so angeordnet, dass sie die ›Stufenleiter in der Entwicklung der Lebewesen‹ vor Augen führen. Das Naturalienkabinett inszeniert also die Ganzheit der Natur und ihre vernünftige Ordnung als Erfahrungstatsache. Man kann hieran genau jene widersprüchliche Verschränkung von Intellektualismus und Empirismus, von Geschichtsphilosophie und Anthropologie beobachten, die Panajotis Kondylis als Fluchtreaktion und Furcht vor Extrempositionen beschrieben hat (vgl. Kap. I.3.2.a-b). Die Empirisierung der Idee einer vernünftigen Naturordnung geschieht im Namen ihrer geschichtsphilosophischen Rettung: Um 1770 hatte die Rehabilitation der Sinnlichkeit die intellektuellen Diskursen bereist so stark infiltriert, dass es schon zu spät war, um an der normativen Vernunft als einer der sinnlichen Erfahrung entgegengesetzten Entität festzuhalten. Stattdessen gilt es, Normatives ins Relative zu projizieren, damit die Berufung auf das 24
Der Blick durch das Teleskop befreit den jugendlichen Betrachter »vom irdischen Ehrgeiz und den kleinlichen Empfindungen des Hasses […]. Er liebt alle Menschen, die vom gleichen Hauch des Lebens beseelt sind, voller Zärtlichkeit, und er fühlt sich als Bruder von alledem, was der Schöpfer angerührt hat. […] Er findet sich weit weniger klein, seit er das Glück hatte, diese großen Dinge zu betrachten« (Mercier [²1989], 112).
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Relative, auf die Empirie, nicht in einen Normrelativismus und Nihilismus ausufert. Die Bewohner von Merciers utopischem Entwurf sind daher nicht von Geburt an vernünftig, die normative Vernunft ist keine angeborene Idee, sondern die zukünftigen Pariser müssen von der vernünftigen Ordnung der Welt erst überzeugt werden, indem man sie ihnen im königlichen Naturalienkabinett als Erfahrungstatsache vor Augen führt. Die stufenweise Anordnung der Ausstellung ermöglicht es dem Besucher, sich als Mensch innerhalb dieser rationalen Naturordnung zu positionieren.25 Der tugendförderliche Effekt von Ausstellungsbesuchen besteht also nicht nur in einer anschauenden Erkenntnis der Idee Gottes als des Urhebers der gezeigten Naturordnung, sondern die unmittelbare sinnliche Erfahrung der großen Wesenskette, die auch den Mensch einschließt, fungiert als wirksames Antidot gegen menschlichen Hochmut. Mit der Erfindung derartiger Erzählelemente kann der Roman die Tugendhaftigkeit der zukünftigen Pariser Bürger zumindest innerhalb der Textwelt plausibel erklären. Es fällt indes auf, dass Mercier sich keineswegs bemüht, etwas so Unglaubwürdiges wie ein überdimensionales Museum, das sämtliche Tier-, Pflanzen- und Mineralienarten ausstellt, poetisch wahrscheinlich darzustellen. Gerade die sinnbildliche Architektur des Naturalienkabinettes zeigt, dass es sich hier in erster Linie um ein Allegorie für die Ganzheit der Natur handelt, deren vernünftige Ordnung man nicht am begrenzten Wirklichkeitsausschnitt, sondern nur in konzentrierten holistischen Sinnbildern erkennt. Es liegt daher nahe, in Merciers utopischem Entwurf weniger die ›Antizipation‹ zukünftiger Wirklichkeit zu lesen, sondern vielmehr eine Allegorie für die Stellung des Menschen im Gesamtzusammenhang einer vernünftig geordneten Natur. Das Bild des zukünftigen Paris fungiert als Illustration eines Zustands, in dem alle Menschen diese vernünftige Naturordnung und die mittlere Stellung des Menschen in ihr erkannt und ihre Lebenspraxis daran orientiert hätten. Gegenüber der Frage, ob sich eine solche stabile Tugendhaftigkeit aus den erfahrungsweltlichen Gegebenheiten des 18. Jahrhunderts wirklich herstellen ließe, verhält sich der Text insgesamt jedoch äußerst ambivalent: Signifikant ist vor allem die überbordende Zahl von Fußnoten, die den Haupttext ornamentieren und die häufig konkrete Missstände im Paris des 18. Jahrhunderts anprangern. Die Fußnotenkommentare können dabei Dimensionen von der Größe eigenständiger kleiner Anekdoten annehmen und finden sich auf fast jeder Seite des Textes. Andreas Urs Sommer hat sie daher treffend den »moralisieren-
25
»Die Stufenleiter in der Entwicklung der Lebewesen […] hatte nun den höchsten Grad der Evidenz erreicht. Man konnte deutlich erkennen, daß die Arten aneinandergrenzten, sich ineinander sozusagen verloren; […] Man hatte erkannt, daß die Natur in allen ihren Wirkungen mit Nachdruck bestrebt sei, den Menschen zu bilden, und daß sie geduldig und mühevoll sich diesem wichtigen Werk von ferne angenähert und zu widerholten Malen versucht habe, dieses Ziel ihrer stufenweisen Vollendung zu erreichen« (Mercier [²1989], 190).
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den Generalbass«26 des Romans genannt. Bezeichnenderweise fordern sie nicht zur integralen Umsetzung des utopischen Entwurfs auf, sondern nehmen zumeist die darin skizzierte Norm zum Anlass für eine Kritik der zeitgenössischen Pariser Wirklichkeit und nutzen sie als idealen Orientierungspunkt für konkrete, im Rahmen des Möglichen liegende und kurzfristig realisierbare Reformvorschläge.27 Die Fußnoten widmen sich scharfzüngig der Erläuterung von Missständen im Ancien Régime, zwingen den Leser also immer wieder, die Erfahrungswirklichkeit mit dem utopischen Entwurf zu vergleichen. Gerade in Anbetracht der großen Zahl von Anmerkungen ist daher wenig verständlich, warum sich bis in die neuere Mercier-Forschung die Deutungsmeinung gehalten hat, dass sich mit L’An 2440 die dominierende Funktion literarischer Utopien von der Gegenwartskritik zur Antizipation zukünftiger Wirklichkeit verschiebe.28 Die literaturgeschichtliche Faktenlage spricht gegen diesen etablierten Forschungskonsens: Keine literarische Utopie der Frühen Neuzeit enthält so viele und so konkrete zeitkritische Passagen wie L’An 2440. Mercier hat zudem gerade für die glossierenden Anmerkungen eine rezeptionssteuernde Funktion einkalkuliert, denn aufgrund ihres brisant-kritischen Inhaltes sah er sich gezwungen den Roman anonym zu publizieren und bekannte sich erst nach der Revolution zu seiner Autorschaft. Ein gattungsgeschichtlicher Wandel, bei dem die dominierende Funktion der Gegenwartskritik von der Antizipation zukünftiger Wirklichkeit abgelöst werde, lässt sich für L’An 2440 daher nicht plausibel machen. Um den Eindruck zu vermitteln, dass mit dem Paris des 25. Jahrhunderts Wirklichkeit antizipiert, also die Möglichkeit einer machbaren Zukunftsgesellschaft literarisch illustriert werde, müsste Mercier versuchen, eine genetische Kontinuität zwischen dem erfahrungsweltlichen und dem zukünftigen Paris zu suggerieren. Dass dies die Intention des Romans sei, gilt denn bei Verfechtern der weitverbreiteten Antizipationsthese als ausgemacht: »[T]he ›ideal‹ and ›real‹ were no longer two totally seperate categories which could never meet, but two
26 27
28
Sommer (2006), 271, hier Anm. 428. Ein Beispiel für dieses Verfahren ist die Beschreibung des Hôtel de Dieu (8. Kapitel), das sich im Jahr 2440 in einzelnen Häusern über die Stadt verteilt, um zu vermeiden, dass dieses berühmt-berüchtigte Pariser Hospital einen ähnlichen Gestank verbreitet, wie sein Pendent zu Lebzeiten Merciers. Ausgehend von diesem utopischen Erzähldetail werden konkrete Reformvorschläge zur Verbesserung von Meriers Erfahrungswirklichkeit unterbreitet (Mercier [²1989], 49): Das Geld, das bislang mit Feuerwerken verschwendet werde, könnte man auch für eine hygienische Entsorgung der Krankenhausabfälle verwenden, anstatt sie einfach in den Fluss zu werfen (zur Hygiene bei Mercier vgl. Forsström [2002], 172–176). So etwa noch bei Riikka Forsström: »Whereas from More’s Utopia to the French Revolution, the main function of utopias was to represent criticism against exististing society, with the birth of utopia set in the future, there took place a shift of focus from a spatial critique of the present to a temporal anticipation of the future« (Forsström [2002], 53).
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distinctive points on the same linear continuity«29. Bei Interpreten wie Riikka Forsström bleibt jedoch außer Acht, dass die poetische Suggestion eines (räumlichen) Kontinuums zwischen Erfahrungswirklichkeit und utopischem Entwurf auch zu den typischen Gattungsmusterelementen der frühneuzeitlichen UtopiaTradition gehört, die hier allerdings über die Vermittlungstechnik der Seereise realisiert wird. Mit Merciers Roman beginnt daher nichts gänzlich Neues, sondern die Vermittlungstechnik der Seereise wird durch die des Traumes ersetzt. Beide Techniken dienen aber dazu, Erfahrungswirklichkeit und utopischen Entwurf als zwei Elemente eines räumlichen oder zeitlichen Erzählkontinuums darzustellen. Dass Merciers Roman in der Phase seiner deutschen Erstrezeption in den 1770er Jahren keineswegs als der gattungsgeschichtliche Schlüsseltext wahrgenommen wurde, zu der spätere Utopie-Forscher ihn stilisiert haben, verwundert deshalb wenig.30 Vor allem die möglicherweise von Wieland stammende Rezension des Romans in der Erfurtischen gelehrten Zeitung vom 16.3.1772 spricht diesbezüglich deutliche Worte: Der Philosoph, in seinem von der Welt abgesonderten Leben, kann uns die Stelle der Nachwelt vertreten, und uns ungefehr in den Gesichtspunct versetzen, aus dem die Nachkommenschaft unsre Thaten richten wird. Seine idealischen Vorstellungen von dem, wie es seyn sollte, erhalten dadurch, daß er sie in die Zukunft versetzt, einen großen Grad der Wahrscheinlichkeit, und, sollte auch die Herannahung so wünschenswerther Zeiten nicht beschleunigt werden, so kann doch vielleicht einst selbst das 2440ste Jahr sich mit diesem Spiegel vergleichen, und, da leider nie die menschliche Gesellschaft die Vollkommenheit erreichen wird, die sich der Philosoph denkt, noch daraus bessern.31
Der Erfurter Rezensent versteht die Traum-Struktur vor allem als Darstellungstechnik, um von der idealen, aber unrealisierbaren Vorstellung einer Gemeinschaft vernunftautonomer Individuen eine ›anschauende Erkenntnis‹ zu vermitteln: Der Traum verleiht dieser Idealvorstellung einen ›hohen Grad der Wahrscheinlichkeit‹, obwohl klar ist, dass die menschliche Gesellschaft diese Vollkommenheit niemals, selbst nicht im Jahr 2440 erreichen kann. Mit dem Traum-Schema verbindet sich für die zeitgenössische deutsche Rezeption zwar eine formale Neuerung, aber nicht die vorwegnehmende Illusion von möglicher Zukunft, denn der Erfurter Rezensent versteht den utopischen Entwurf als einen
29
30 31
Ebd. – Oder in einer anderen Formulierung: »Die bestmögliche Wendung, die die Dinge nehmen sollen, obschon nach der Diagnose des Ich-Erzählers die Übel in der Gegenwart übermächtig sind, ist kein blosser Wunschtraum, sondern die Konsequenz der Gegenwart« (Sommer [2006], 272f.). Vgl. Jaumann (1990), 231. OA 9.1, 725 (Hervorhebung, M.L.).
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›Spiegel‹, der nicht irgendwann zur Wirklichkeit wird, sondern in dem sich noch das ›2440ste Jahr‹ reflektieren könne.32 Der Erfurter Rezensent bestätigt damit die bisher gewonnenen Analyseergebnisse: Mercier setzt das Traum-Schema nur als äußeren Rahmen ein, um zwischen Erfahrungswirklichkeit und utopischem Entwurf zu vermitteln. Bausteine des utopischen Entwurfs wie die Erstkommunion oder das Naturalienkabinett und die mit ihnen verbundene pädagogische Wirkung leisten die eigentliche Illusionsarbeit, indem sie für die Tugendhaftigkeit der zukünftigen Pariser eine plausible Begründung zu liefern versuchen und so die Differenz zwischen erfahrungsweltlicher und utopischer, tugendhafter Anthropologie verschleiern. An anderen Elementen wie dem freiwilligen Schuldbekenntnis der Verbrecher oder den stabilen Liebesehen wird bei genauem Hinsehen jedoch deutlich, dass der utopische Entwurf einer Gesellschaft tugendhafter Individuen sich im Grunde bestimmten restriktiven Bedingungen verdankt, wie der Exklusion nicht-aufklärbarer Individuen oder der Sozialdisziplinierung aufgrund der Furcht vor öffentlicher Schande. Das abschließende Augenmerk soll der Frage gelten, ob Merciers Roman die unüberbrückbare Differenz zwischen Erfahrungswirklichkeit und utopischem Entwurf mit bestimmten literarischen Vermittlungstechniken und textweltlichen Komponenten nur verschleiert oder auch problematisiert, dem Leser also ein Bewusstsein für diese Differenzen zu kommunizieren versucht. Diese Frage kann man zwar nicht eindeutig beantworten, aufmerken lässt aber vor allem eine Äußerung des Ich-Erzählers im 39. Kapitel (Die Steuern): Dieser beobachtet, dass das Steuersystem im zukünftigen Paris auf freiwilligen Abgaben beruht, und reagiert mit ungläubigem Staunen: »Ich gestehe, man muß träumen, um so gefällige Leute zu treffen. O dieses ehrliche Volk!«33 Hier wird offen zugestanden, dass sich der utopische Entwurf hypothetisch zum Besseren veränderten Bedingungen verdankt, die ihn von der Erfahrungswirklichkeit unterscheiden: Nur wenn alle Staatsbürger ehrlich sind, könnte sich das Steuersystem auf freiwillige Abgaben gründen, von einem solchen Gesellschaftszustand kann man allerdings lediglich träumen, realisieren lässt er sich nicht. Ähnliche versteckte Signale, die die Realisierbarkeit des utopischen Entwurfs in Frage stellen, finden sich schon in der frühneuzeitlichen Utopia-Tradition. Man denke nur an eine Bemerkung, die Raphaël Hythlodaeus am Schluss seines Berichtes von der Insel Utopia macht und 32
33
Wielands ambivalentes Verhältnis zu Merciers anonym erschienenem Roman dokumentiert auch eine Fußnote im Goldnen Spiegel. Hier wird auf ein »vor kurzem ans Licht getretene[s] wunderbare[s] Buche« aufmerksam gemacht, »welches seinem Verfasser vielleicht im Jahre 2440. mehr Ehre, als im Jahre 1772. Nutzen bringen wird. […] Der ehrliche Träumer, dessen wir erwähnten, mag wohl ein wenig mehr schwarze Galle in seinem Blute haben als ein Mann, dem seine Ruhe lieb ist, sich wünschen soll« (OA 10.1/1, 208). – Neben der Bewunderung für sein aufklärerisches Anliegen, stellt der Goldne Spiegel dem Verfasser von L’An 2440 hier auch die »Melancholiediagnose« (Jordheim [2007], 188). Mercier (²1989), 250.
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die in deutscher Übersetzung wie folgt lautet: »Ich möchte auch gar nicht daran zweifeln, daß vielleicht schon längst die ganze Welt zu der Gesetzgebung des Utopierstaates bekehrt worden wäre, wenn nicht ein teuflisches Laster allein dagegen ankämpfte: das Haupt und der Ursprung allen Unheils, die Hoffart«34. Hythlodaeus formuliert hier die hypothetische Voraussetzung, auf der die vernünftige Konsensgemeinschaft Utopiens im Unterschied zur Erfahrungswirklichkeit basiert, nämlich auf dem Axiom der Integrität, also auf der christlichen Vorstellung prälapsarer, erbsündeloser Individuen, mit denen die postlapsare ›natura corrupta‹ des depravierten erfahrungsweltlichen Menschen konstrastiert wird. Die ›superbia‹, also der Basisaffekt der ›natura corrupta‹, wird hier mit ›Hoffart‹ übersetzt. Innerhalb eines Wirklichkeitsverständnisses, in dem die Grundannahme eines theologischen Menschenbildes, also die Vorstellung von der postlapsaren Verderbtheit des Menschen dominiert, wird dem Leser damit signalisiert, dass die Utopia nicht eine integrale Realisierung des utopischen Entwurfs intendiert. Unter den erfahrungsweltlichen Bedingungen wäre dieser nämlich gar nicht zu verwirklichen: Die Hoffart »wühlt sich, eine höllische Schlange [= serpens averni], in die Herzen der Menschen ein, hält sie wie eine Bremse (den Wagen) zurück und hindert sie, wenn sie einen besseren Lebensweg einschlagen wollen. Sie hat sich allzu tief in das Menschenherz eingefressen, als daß sie sich ohne weiteres wieder herausreißen ließe.«35 Diese relativierenden Äußerungen des Hythlodaeus werfen ein ähnliches skeptisches Zwielicht auf die Realisierbarkeit des utopischen Entwurfs wie die Bemerkung des Ich-Erzählers über die freiwilligen Steuerzahler in L’An 2440. In Merciers Roman sind relativierende Ironiesignale, mit denen die Machbarkeit der utopischen Zukunftsgesellschaft skeptisch problematisiert wird, allerdings äußerst marginal. Neben wenigen Erzähler-Statements, die die Verwirklichung des Zukunftsentwurfs zur bloßen Traumillusion deklarieren, lässt vor allem der sehr lange zeitliche Abstand zwischen Erfahrungswirklichkeit und utopischem Entwurf an der These zweifeln, dass L’An 2440 eine machbare Zukunft zu antizipieren und zu deren Umsetzung zu stimulieren versucht.36 Ein wirklich auffälliges Rezeptionssignal setzt Mercier jedoch mit dem Romanschluss. Im letzten Kapitel besichtigt der Ich-Erzähler die verwaisten Ruinen von Versailles, in denen sich der wiedergeborene Louis XIV. herumtreibt, der von der göttlichen Gerechtigkeit dazu verdammt ist, die zerbrochenen Denkmäler seiner Genusssucht und seines Stolzes zu beweinen. Als der Ich-Erzähler ein Ge-
34 35 36
Morus (³2001), 146. Ebd. Bei den Fortschrittsutopien des 19. und 20. Jahrhunderts reduziert sich dieser zeitliche Abstand dagegen beträchtlich, insbesondere im Falle von Theodor Herzls Altneuland (1902), wo gerade einmal 21 Jahre zwischen zeitgenössischer Erfahrungswirklichkeit und utopischer Zukunftsgesellschaft liegen. Im Unterschied zu Mercier soll der Leser mit dieser kurzen Zeitdistanz ganz offensichtlich von der Machbarkeit des utopischen Entwurfs überzeugt werden (vgl. Kap. I.2.2.c).
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spräch mit dem ehemaligen Sonnenkönig beginnen will, wird er von einer Ringelnatter in den Hals gebissen und erwacht daraufhin wieder. Reinhart Koselleck hat dies treffend die ›ätiologisch-theologische Pointe‹37 des Romans genannt, allerdings ohne daraus Deutungskonsequenzen zu ziehen. Dabei liegt es nahe, hier ein relativierendes Signal gegenüber der Machbarkeit des utopischen Entwurfs zu entdecken: Wenn ausgerechnet ein Schlangenbiss zum Erwachen und zum Ende des utopischen Traumes führt, dann wird zweifelsohne auf den biblischen Paradiesmythos angespielt, denn der Schlangenbiss katapultiert den Ich-Erzähler zurück in die postlapsare depravierte Gegenwart der Geschichte, in der die superbia die Oberhand besitzt. Wie bei der Bemerkung des Hythlodaeus, der die superbia als ›serpens averni‹ bezeichnet, markiert auch Mercier mit dem Schlangenmotiv am Romanschluss eine unüberbrückbare Kluft zwischen der ›natura corrupta‹ des erfahrungsweltlichen Menschen, in dessen Herz sich die höllische Schlange tief eingewühlt hat, und der verlorenen paradiesischen ›natura integra‹. Das Schlangenbiss-Motiv gibt zu verstehen, dass der utopische Entwurf zwar eine außergeschichtliche Norm zur moralischen Orientierung illustriert, diese aber wegen der höllischen Schlange im menschlichen Herzen nicht zu verwirklichen ist. Resümierend kann man festhalten, dass Mercier wie schon Veiras und Schnabel versucht, Perfektibilität literarisch darzustellen. Dabei wird Wirklichkeitskritik mit einer Versinnlichung der Idee moralischen Fortschritts verbunden, indem Erfahrungswirklichkeit und utopischer Entwurf als ein Erzählkontinuum oder der utopische Entwurf als machbare Zukunft illustriert wird. Zugleich artikulieren aber alle Aufklärungsutopien auch eine subtile und marginale, nicht leicht zu identifizierende Skepsis gegenüber der integralen Realisierbarkeit des dargestellten Gemeinwesens. Veiras, Schnabel und Mercier signalisieren damit, dass es ihren Texten weniger um eine Antizipation zukünftiger Wirklichkeit geht, sondern darum, eine überzeugende Literarisierung für die Idee moralischer Vervollkommnung zu entwickeln. Bei dem Versuch, dafür die tradierten Gattungsstrukturen der literarischen Utopie in Dienst zu nehmen, geraten alle drei Autoren aber in strukturell vergleichbare Darstellungswidersprüche.
37
Koselleck (1985), 6.
ZWEITES K APITEL Selbstreflexive Aufklärung: Die Utopie-Zitate in Wielands Romanen um 1770
1.
Einleitung: Was heißt selbstreflexive Aufklärung?
»Die Kritik übersteigt bei weitem ihren Anlaß, sie wird zum Motor der Selbstgerechtigkeit. […] Die stete Entlarvung der anderen führt zur Verblendung des Entlarvers selbst«1. Mit solchen und ähnlich pointierten Formeln hat Reinhart Koselleck eine der Hypokrisie verfallene Aufklärung charakterisiert. Ich möchte hier die These aufstellen, dass sich Wielands Werk der 1760er und 1770er Jahre als seltener Fall einer seismographischen Dokumentation und Problematisierung der hypokritischen Aufklärung verstehen lässt. Für den Agathon hat dies Horst Thomé bereits demonstriert. Am Streitdialog zwischen Hippias und Agathon weist er auf die latente Politizität der philosophischen Positionen hin, die beide Charaktere vertreten und implizit dekuvrieren sollen. Hippias’ radikale Aufklärung, die sich auf keine normative Moral, sondern nur auf die empirische Psychologie menschlicher Bedürfnisse stützt, wird bei Wieland als geheimes absolutistisches Herrschaftswissen vorgeführt, da sie ein glückliches, alle Bedürfnisse befriedigendes Leben überhaupt nur für eine kleine Elite begründen kann, sofern diese die Mehrheit ausbeutet.2 Im Goldnen Spiegel hat Wieland diese latente Politizität des Materialismus am augenscheinlichsten inszeniert, wenn er den moralphilosophischen Nihilisten Eblis zum Berater des Tyrannen Isfandiar macht und diese gefährliche Liaison zwischen radikaler Aufklärung und Absolutismus im katastrophalen Zusammenbruch Scheschians münden lässt.3 – Nach Thomé demonstriert Wieland aber auch die versteckte Politisierung des vermeintlich neutralen Tugendidealismus, erkennbar an Agathons Versuch der politischen Neuordnung Athens. Darin bekundet sich jener von Koselleck beschriebene versteckte aufklärerische Anspruch, die eigenen moralischen Prinzipien in die Öffentlichkeit eines Staates einzuspeisen.4 Wielands Romane legen mithin den politischen Kern aufklärerischer Philosopheme frei und zeigen sie entweder als »Herrschaftswissen oder Herrschaftsanspruch«5. 1 2 3 4 5
Koselleck (1973), 99f. Thomé (1978b), 209f. Vgl. Jordheim (2007), 177–181. Vgl. Thomé (1978b), 212f. Ebd., 213.
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Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
Das ganze Spektrum von Wielands literarischer Selbstreflexion der Aufklärung demonstriert Thomé aber am Umgang des Erzählers mit den beiden Diskutanten Hippias und Agathon: Während einerseits der Erzähler jene an den neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und der empiristischen Philosophie geschulte Epistemologie vertritt, der sich auch die Überzeugungskraft von Hippias’ theoretischen Argumenten verdankt, warnt er andererseits schon in der Vorrede vor einer lebenspraktischen Umsetzung von Hippias’ ›System‹. Agathons Idealismus wird hingegen erzählerisch durchweg ironisiert, die lebenspraktische Bedeutung seiner moralischen Integrität jedoch affirmiert. Die Suche nach einem dritten Weg zwischen metaphysischem Rationalismus und materialistischer Aufklärung inszeniert der Roman narrativ als schwerwiegendes Problem: »Das Dilemma des Erzählers läßt sich pointiert so formulieren, daß die richtige Theorie zur falschen Praxis führt (Hippias), während sich eine zumindest der Intention nach prinzipiell berechtigte Praxis auf eine falsche Theorie stützt [Agathon]« 6. Für Wielands Musarion hat Dirk von Petersdorff eine vergleichbare Deutung entwickelt, die Wielands Texte bis in ihre formale Gestaltung hinein als beständiges Ringen um »Metaphysikrettung und Kritikbegrenzung«7, um eine Vermittlung zwischen Idealismus und Pragmatismus zeigt: Wieland »kennt die Argumente gegen die großen Systeme der Weltdeutung, aber er glaubt deshalb nicht, daß man ohne jede Sinnbehauptung leben kann.«8 Aus seinen Romanen und Verserzählungen der 1760er und 1770er Jahre erfährt man wohl gerade deshalb so viel über die Symptome jener ›pathogenen‹ Selbstverblendung der kritischen Vernunft und über die lebenspraktische Gefährlichkeit einer empiristisch begründeten, materialistischen Aufklärung, weil Wielands Biographie sich in eine schwärmerische Jugendphase und die ›empiristische Wandlung‹ Ende der 1750er Jahre aufzuspalten scheint. Er war also schon durch die reflektierte Auseinandersetzung mit dem eigenen intellektuellen Werdegang zum selbstreflexiven Aufklärer prädestiniert und reagierte daher besonders sensibel auf die Dissoziation des Aufklärungsprojekts in einen optimistischen, aber selbstverblendeten ›Idealismus‹ der Theodizee bzw. deren Rettung mittels Geschichtsphilosophie und eine sich empiristisch radikalisierenden Vorurteilskritik, die selbst vor den moralischen Grundlagen von Aufklärung keinen Halt macht. Schon im Jahr 1760 schreibt der 27-jährige Wieland: »Erfahrung macht behutsam. Seit dem ich die Welt und mich besser kenne, habe ich gefunden, daß es leichter sey, uns selbst zu verbessern als andere« (AA I.3, 2).9 Dieses Statement stellt das gesellschaftliche Selbstverständnis aufgeklärter Autoren, die sich als ›Ärzte‹ der Unvernünftigen und moralisch Unmündigen gerieren, und das litera-
6 7 8 9
Ebd., 214. Petersdorff (2004), 1017. Ebd., 1011. Vgl. dazu Jaumann (1979), 832f. und Erhart (1991), 61.
1. Einleitung: Was heißt selbstreflexive Aufklärung?
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turpolitische Ziel der Aufklärung, nämlich die sinnliche Vermittlung vernünftigen Denkens, grundlegend in Frage. Programm von Wielands literarischer Aufklärung ist nun zwar nicht mehr die moralische Besserung der anderen, aber auch nicht empiristische Desillusionierung, sondern eine literarische Anstiftung zu aufklärerischer Zurückhaltung bzw. die Vermittlung eines Bewusstseins dafür, dass schon die eigene Selbstaufklärung ein schwerwiegendes Problem darstellt. Etwa seit 1760 tritt Wieland damit als einer der wichtigsten Vertreter der kleinen Gruppe ›selbstreflexiver Aufklärer‹ in Erscheinung, zu der insbesondere noch Lessing mit seinem Spätwerk gezählt werden kann.10 Mit selbstreflexiver Aufklärung wird hier keine Binnenepoche der Aufklärung bezeichnet, sondern das komplexe Aufklärungsprogramm einer kleinen Gruppe von Autoren, für das es im 18. Jahrhundert keine relevante soziale Trägerschicht gab. Selbstreflexive Aufklärer legen eine erhöhte Sensibilität für die Hypokrisie eines normativistischen Intellektualismus und Empirismus an den Tag, ohne dabei das Festhalten an moralischen Normen als bloße Selbsttäuschung zu desavouieren. Selbstreflexive Aufklärer kaschieren gerade nicht jene Schwierigkeiten, Aporien und ›logischen Sackgassen‹11, in die eine monistische Spätaufklärung bei dem Versuch gerät, aus Nihilismusfurcht zwischen Willensfreiheit und Determinismus, zwischen Normativem und Relativem, zwischen Intellekt und Sinnlichkeit zu vermitteln. Stattdessen exponieren sie diese Vermittlung literarisch als drängendes und schwerwiegendes Problem: So etwa Wieland im Agathon, wo dieses Problem als der unlösbare Konflikt zwischen Theorie und Praxis gestaltet wird, zwischen Hippias’ ›richtiger‹ empiristischer Theorie, aber seiner ›falschen‹ Handlungspraxis und Agathons ›falscher‹ idealistischer Theorie, aber seinem der Intention nach ›richtigen‹ Handeln. Selbstreflexive Aufklärung reflektiert also im Medium Literatur ein Problem, auf das erst Kant in den 1780er und 1790er Jahren philosophisch antwortet (vgl. Kap. IV.1). Im Unterschied zu den Autoren der Frühromantik stehen Wieland daher noch nicht jene philosophischen Denkfiguren der ›regulativen Idee‹ und der ›unendlichen Annäherung‹ zur Verfügung. Er hat aber mit Dialog- und Ironiestrukturen versucht, diese Problemlage zumindest literarisch zu artikulieren: Wieland verabsolutiert die Empirie nicht zur neuen Norm, die Erfahrung stimmt ihn aber auch nicht grundsatzskeptisch oder nihilistisch, sondern macht ihn ›behutsam‹. Den Grundstein für sein ambivalentes Urteil über die lebenspraktische Umsetzung von Tugendideen hat Wieland durch seine Beschäftigung mit anthropologiewissenschaftlichem und empiristischem Schrifttum während der späten 1750er Jahre gelegt. Die hierbei erfahrene »anthropologische Herabstimmung«12 frühaufklärerischer Tugendmaßstäbe literarisiert er in den folgenden Jahrzehnten in einer Unzahl von immer wieder neu variierten Schwärmer-Geschichten, 10 11 12
Zu Lessings Reaktion auf die hypokritische Aufklärung vgl. Koselleck (1973), 68–74. Vgl. Kondylis (1981), 518. Schings (1980), 253.
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in denen die Figuren sich zwar um die Steuerung ihrer Leidenschaften bemühen, sich hinter hehren Tugendidealen jedoch nicht selten Verblendung, Selbststilisierung und Eigenliebe verbergen. Figuren wie Agathon oder Danischmend glauben an die moralisierende Kraft des weltlichen Gewissens, überschätzen aber dessen Wirkungskraft. Wielands große Schwärmer-Geschichten literarisieren mithin die Idee moralischer Souveränität als Vorstellung von ›überhitzten‹ Aufklärungsgemütern, die – besonders im Agathon – zumeist auch eine religiöse Vorgeschichte haben. Wie in diesem Kapitel gezeigt werden soll, gerät diese Literarisierung anthropologischen Wissens über den Zusammenhang von Empfindung und Verstand bei Wieland dennoch zumeist nicht zur bloßen Satire über die Schwärmerei der optimistischen Aufklärung. Schon vor dem Hintergrund der eigenen ›weltanschaulichen‹ Entwicklung führt er in seinen literarischen Texten mit den Tugendidealen der Frühaufklärung eine deutlich ambivalentere Auseinandersetzung als viele seiner Zeitgenossen, wie etwa Voltaire im Candide oder Johann Karl Wezel im Belphegor. Jene bekannten Fragen, die Wieland 1776 im Teutschen Merkur stellt, bringen diese Ambivalenz auf den Punkt: Wird durch die Bemühungen kaltblütiger Philosophen und Lucianischer Geister gegen das was sie Enthusiasmus und Schwärmerey nennen, mehr Böses oder Gutes gestiftet? Und, in welchen Schranken müssten sich die Anti-Platoniker und Luciane halten, um nützlich zu seyn? (OA 12.1, 497)
Wielands Fragen suggerieren, dass sowohl das selbstgerechte Urteil, das die ›kalten Philosophen‹ vom klimatisierten Elfenbeinturm der Kritik aus über den Schwärmer fällen, als auch die spottende Schwärmersatiren ›Lucianischer Geister‹ in Grenzen gehalten werden müssen, um keinen Schaden am Aufklärungsprojekt anzurichten. 1775 erscheinen im Teutschen Merkur die Auszüge aus einer Vorlesung über die Schwärmerey von Leonhard Meister, die Wieland mit einem Herausgeberzusatz versieht. Selten hat er seinen Begriff vom Schwärmen so pointiert zum Ausdruck gebracht, wie bei dieser Gelegenheit. Er plädiert darin für eine Differenzierung der Begriffe Schwärmerei und Enthusiasmus: Schwärmerei sei zu verstehen als eine »Erhitzung der Seele von Gegenständen die entweder gar nicht in der Natur sind, oder wenigstens das nicht sind, wofür die berauschte Seele sie ansieht«. Enthusiasmus sei hingegen die Folge des unmittelbaren Anschauens des Schönen und Guten, vollkommnen und Göttlichen in der Natur, und unserm Innersten, ihrem Spiegel! […] und diese feurige Liebe zum Wahren Schönen und Guten ist ganz eigentlich Einwürkung der Gottheit; ist (wie Plato sagt) GOtt in uns. […] Ein Schwärmer seyn, ist nicht schimpflicher als ein hitziges Fieber haben; ein Enthusiast seyn, ist das liebenswürdigste, edelste, und beste seyn, was ein Sterblicher seyn kann. Aber freilich, wer wird die frostigen, lichtlosen, öden und leeren Seelen jemals dahin bringen, dies zu fühlen? (OA 12.1, 395–397)
Wird der Vorurteils- und Schwärmerkritik gänzlich freie Bahn gelassen, dann beraubt sie sich irgendwann ihrer moralischen Grundlagen, weil diese unbegründbar
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werden.13 Zurück bleibt ein frostiger, öder und leerer Utilitarismus oder Nihilismus. Wie Manfred Engel dargestellt hat, legt Wieland dagegen mit seiner partiellen Aufwertung der Begeisterung als Enthusiasmus für das Gute und Schöne den entscheidenden Grundstein für die »Rehabilitation des Schwärmers«14 in der Frühromantik. Wielands ambivalente Theorie und Darstellung des Schwärmens für frühaufklärerische Tugendideale und seine Rolle als paradigmatischer Repräsentant einer selbstreflexiven Aufklärung im Medium Literatur lässt sich an seinem poetischen Umgang mit der frühneuzeitlichen Utopia-Tradition besonders prägnant charakterisieren. Dieser Analysefokus ist deshalb so vielversprechend, weil die zeitgenössische Wahrnehmung der literarischen Utopie sie als anti-skeptisches und antianthropologisches Textmuster par excellence erscheinen lässt (vgl. Kap. I.3.2.c). Parallel zu der Verfestigung dieses Gattungsklischees beschleunigt sich im deutschen Sprachraum die semantische Entwicklung des Utopie-Begriffs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts rasant und es kommt zu einer beträchtlichen Bedeutungserweiterung. Auch das Werk Wielands ist eine ergiebige Quelle für die Rekonstruktion dieses begriffsgeschichtlichen Prozesses.15 Wieland verwendet den Utopie-Begriff häufig in Form der quasigeographischen Ortsbezeichnung ›Utópien‹, die sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in der Gelehrtensprache allmählich etabliert, und treibt die semantische Entwicklung von Utopie als abstraktem Allgemeinbegriff gehörig voran, indem er ›Utópien‹ als quasi-geographische Metapher in neuen Kontexten gebraucht (vgl. Anm. 15). Kommt Wieland hingegen auf die Gattungstradition zu sprechen, dann verwendet er zumeist die Bezeichnung ›Utopische Republiken‹, ›Platonische Republiken‹ oder ›Atlantiden‹. Dort, wo der Utopie-Begriff in seinen verschiedenen Ausprägungen bei Wieland wörtlich fällt, besitzt er jedoch fast immer die Funktion, den damit bezeichneten Gegenstand unter das Schwärmer-Verdikt zu stellen. – Umso mehr erstaunt es, dass Wielands Umgang mit den Gattungsstrukturen der literarischen Utopie 13 14
15
Vgl. Engel (1994), 471. Engels Untersuchung zur Verbindungslinie zwischen einer »partielle[n] Aufwertung des Enthusiasmus« (Engel [1994], 473) in der Spätaufklärung, insbesondere bei Wieland, und der »Aufwertung der Einbildungskraft« (Ebd., 487) in der Frühromantik gehört zu den wichtigsten neueren Arbeiten zum Verhältnis zwischen Aufklärung und Romantik. Engel verweist auf die entscheidende »konzeptuelle Schnittstelle zwischen anthropologischem und idealistischem Diskurs« (Ebd., 492), die sich in der Zwei-Triebe-Lehre auftut. Wie in der spätaufklärerischen Debatte um das ›commercium corporis et mentis‹ fragen auch die Frühromantiker nach dem Nexus und der harmonischen Einheit des dichotomen Verhältnisses zwischen der Selbsttätigkeit der Vernunft und der Empfänglichkeit für sinnliche Reize. Sie tun dies im Unterschied zur Spätaufklärungsanthropologie allerdings auf einer von der kantischen und nachkantischen Philosophie fundamental veränderten erkenntnistheoretischen Basis. Vgl. zudem Engel (2009). Dies wird schon durch die Tatsache belegt, dass Lucian Hölscher bei seiner Untersuchung des Utopie-Begriffs in der publizistischen Sprache des späten 18. Jahrhunderts ausgiebig auf Wielands Werk als begriffsgeschichtlichen Fundus zurückgreift: vgl. Hölscher (1990), 756–760.
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Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
deutlich differenzierter ausfällt. Seine Gattungszitate lassen sich keineswegs nur als Satire oder ›Dekonstruktion‹ der frühneuzeitlichen Utopia-Tradition verstehen. Im Gegenteil dokumentieren gerade die utopischen Episoden in Wielands Romanen sein ambivalentes Verhältnis zum Schwärmen und zum frühaufklärerischen Tugendideal. Das Erkenntnisinteresse dieses Kapitels richtet sich auf die ironisch gebrochenen Utopie-Zitate in Wielands Romanen um 1770. Ihre Darstellungsfunktion soll als Auseinandersetzung mit der frühaufklärerischen Gattungsfunktion literarischer Utopien beschrieben werden: Ludwig Stockinger und Peter Kuon haben den Gattungswandel von der humanistischen Dialog- bzw. der barocken Allegorie-Utopie zur frühaufklärerischen Roman-Utopie eingehend erforscht und als Anpassung der Gattungsstrukturen an die Realitätskonzeption und die literaturpolitischen Ziele der Frühaufklärung erklärt (vgl. Kap. I.2.2.c). Damit einher geht eine Reduktion von Traktat- und Dialogroman-Strukturen zugunsten einer stärkeren narrativen Illusionierung des utopischen Entwurfs. An Wielands Umgang mit der Utopia-Tradition kann man dagegen beobachten, dass er genau diese illusionistische Repräsentation utopischer Entwürfe ironisch bricht, indem er den Leser unentwegt an den poetischen Konstruktcharakter des erfundenen Staates erinnert. Zudem stellt er seine zumeist recht kurzen utopischen Episoden in größere Roman- oder Dialogzusammenhänge, die die Realisierbarkeit und den Nutzen utopischer Entwürfe problematisieren. Er reaktiviert damit, ohne sich dies wirklich klar zu machen, zahlreiche literarische Techniken, mit denen schon in der humanistischen Utopia-Tradition die Idealität des utopischen Entwurfs spielerisch relativiert wurde, vor allem über seine Einbettung in eine rahmende Dialogstruktur. Auf diese Weise ›dekonstruiert‹ Wieland zwar die illusionistische Repräsentation seiner utopischen Staatsentwürfe, aber nicht die damit vermittelte Idee moralischer Souveränität. Vielmehr ist diese in die Krise geratene Aufklärungsidee das Problem, auf das Wielands Utopie-Zitate literarisch reagieren, indem sie die illusionistisch-faszinierende Darstellung utopischer Entwürfe ironisch brechen und so die Krise einer literarische Gattung inszenieren, bei der es sich eigentlich um eine Krise der frühaufklärerischen Funktion von Literatur handelt. Zum konkreten Analysekorpus gehören die Tarent-Episode im Agathon, die Republik des Diogenes in den Dialogen des Diogenes von Sinope und die Naturkinder-Episode im Goldnen Spiegel. In all diesen utopischen Episoden finden sich einzelne selbstaufgeklärte Individuen, die eine gelungene harmonische Einheit von Natur- und Kulturstand, von Vernunft und Gefühl repräsentieren, während alle anderen Individuen ihre Triebharmonie lediglich ihrer Einfalt und dem positiven Einfluss dieser wenigen Tugendexempel verdanken: Gemeint sind Archytas, Diogenes, Psammis und der alte Hausvater im Tal der Naturkinder. Nie wird bei diesen Beispielen versäumt, ihre außerordentliche Seltenheit, ihren Status als zufällige Laune der Natur zu betonen, die sich nicht künstlich, durch Erziehung wiederholen lasse.
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Über die literarische Darstellung weniger Individuen, bei denen Sinnlichkeit und Vernunft miteinander harmonieren, die aber selbst in Wielands utopischen Entwürfen nur die Ausnahme bilden, versucht er seine Leser zum Festhalten an der Idee der Gewissenskultivierung und der tugendhaften Lebenspraxis zu stimulieren, trotz aller Widrigkeiten der Empirie. Indem er sein Ideal gelungener Selbstaufklärung nur an seltenen Fällen und nicht in Form einer Gemeinschaft tugendhafter und vernunftautonomer Individuen demonstriert, verhindert er, dass der Leser vom Medium Literatur im Glauben an die allgemeine Realisierbarkeit tugendhaften und vernünftigen Lebens versichert wird. Wielands Romane vermitteln ihren Lesern durch die ›illusionsstörende‹ Integration utopischer Episoden einerseits empirische Menschenkenntnis und eine moderate Skepsis gegenüber dem Schwärmen für Tugendideale, belassen ihnen andererseits aber auch einen Rest Enthusiasmus und desillusionieren sie nicht gänzlich. Im Medium Literatur wird nicht zum Glauben an die dargestellte Tugendnorm im Sinne eines konstitutiven Prinzips der Wirklichkeit animiert, aber im Sinne einer regulativen Idee. Daher mündet auch keine der hier analysierten utopischen Episoden in eine Depravationsgeschichte: Weder vom Zerfall der Tarent-Republik, noch der Republik des Diogenes oder der Naturkinder-Gesellschaft wird berichtet. Immer dort, wo Wieland eine solche Depravation erzählt – etwa im Falle der Gemeinschaft um die beiden Urmexikaner Koxkox und Kikequetzal in den Beyträgen zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens oder im Falle der Jemal-Tal-Kolonie im Danischmend-Roman – fehlt ein selbstaufgeklärtes, empfindsames und zugleich vernünftiges Individuum vom Typ Archytas. Diese Kombination von empiristischer Desillusion und gezielten Dosen vom Antidot des Enthusiasmus bildet das zentrale Charakteristikum von Wielands literarischer Aufklärung, an der viele Zeitgenossen Standpunktlosigkeit und launigen Relativismus bemängelten.16 Genau besehen, lässt allerdings gerade diese literarische Problematisierung moralischer Souveränität mithilfe ironischer
16
Besonders charakteristisch ist das Bild des standpunktlosen, wankelmütigen Wieland, das Christian Felix Weiße 1770 gegenüber Johann Peter Uz zeichnet: »Ich glaube nicht, daß er ein böses Herz hat, aber er scheint noch in seinen Grundsätzen und seiner Denkungsart so ungewiß zu sein, daß er sich oft widerspricht. […] Dies erklärt auch seine schnellen Übergänge von der Frömmigkeit zur Unmoralität, vom Beten zum Spotten. […] Wenn er immer unter guten Leuten wäre, so würde er gewiß gut werden: denn er scheint ein empfindliches Herz zu haben und voller Enthusiasmus gleich für alles zu sein, was ihm gefällt« (zitiert nach Starnes [1987], Bd. 1, 374). Vgl. auch das Wieland-Bild von Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: »[E]wiges Schwanken des Geistes, ewiges hin u: her wiegen zwischen Bonhomie u: Eitelkeit […] zwischen Gefühl des Wahren u: Pyrrhonismus, ist Wielands wahre Existenz« (StBr 163: Stolberg an Voß, 2.–3.6.1784). – Wieland selbst hat den ihm nachgesagten Wankelmut bis ins hohe Alter zumeist positiv gedeutet: »Meine natürliche Geneigtheit, Alles (Personen und Sachen) von allen Seiten und aus allen möglichen Gesichtspunkten anzusehen, und ein herzlicher Widerwille gegen das nur allzu gewöhnliche einseitige Urtheilen und Parteynehmen, ist ein wesentliches Stück meiner Individualität. Es ist mir geradezu unmöglich, eine Partey gleichsam zu heyrathen« (Wieland [1800], 256).
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Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
Dialogromanstrukturen ohne verlässliche epische Organisationsinstanzen Wieland als Aufklärungsautor besonders hervorstechen. Er gibt das Projekt der Aufklärung und dessen moralisches Fundament – das Gewissen – keineswegs auf, überführt die literarische Aufklärung aber in ein selbstreflexives Stadium, d. h. er hält an Tugendnormen zwar fest, inszeniert und beschwört ihre Realisierbarkeit aber nicht literarisch, sondern zeigt, dass Selbstaufklärung und Gewissenskultivierung unabschließbare und stets gefährdete Prozesse sind.
2.
»Sprung aus dem Fenster« und »magische Ruthe«: Wielands entschleierte Utopien
Mit versteckten Andeutungen oder marginalen textweltlichen Komponenten problematisieren auch die Aufklärungsutopien von Veiras bis Mercier die unüberwindliche Differenz zwischen der erfahrungsweltlichen ›natura corrupta‹ und den utopischen Individuen (vgl. Kap. I.2.2.c u. Exkurs). Vorrangig treiben diese Texte aber einen erheblichen Illusionsaufwand damit, diese Differenz poetisch zu verschleiern, um nicht vorschnell das Interesse derjenigen Leser einzubüßen, die sich an der Darstellung von Unmöglichem stoßen. Auch der Aufklärer Wieland hat zwei seiner Romane aus den 1760er Jahren mit einem utopischen Gesellschaftsentwurf beendet, diesen aber keineswegs mit subtilen erzählerischen Nadelstichen ironisiert, sondern den Leser mit einem weitausgeholten Keulenschwung des Erzählers zur ironischen Perspektive auf den finalen utopischen Entwurf geradezu verdonnert. Beide Romane stechen in Wielands Werk der 1760er Jahre besonders hervor, weil der erste heute als der wohl bekannteste von Wielands Prosatexten gelten darf und weil er den zweiten wiederholt als einen seiner besten bezeichnet hat: Die Rede ist von der Geschichte des Agathon und den Dialogen des Diogenes von Sinope.17
17
Gegenüber Johann Wilhelm Ludwig Gleim lobt Wieland den Diogenes überschwänglich: »Riedel behauptet, es sey das beste was ich noch geschrieben habe, und beynahe möcht’ ich’s glauben« (WBr 4, 38: Wieland an Gleim, 26.10.1769). Gegenüber Sophie von La Roche bezeichnet er den Diogenes sogar als sein »chef-d’oeuvre« (WBr 4, 92: Wieland an Sophie von La Roche, 17.2.1770). – Glaubt man Karl August Böttiger, dann beteuert Wieland noch 1797, der Diogenes sei eines seiner »besten Producte«, und er war sich nicht einmal sicher, »ob [er] ein besseres in Prosa geliefert habe« (Böttiger [1998], 217f.).
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2.1 Das tarentinische Happy-End des Agathon a)
Die Republik von Tarent als literarische Utopie nach Wielands ›großer Wandlung‹
Im Vorbericht zum Agathon behauptet ein fiktiver Herausgeber, die im Folgenden erzählte Geschichte einer alten griechischen Handschrift entnommen zu haben. So deutlich wie in diesem Vorbericht lässt der fiktive Herausgeber seine Stimme erst wieder in der kurzen Einleitung zum letzten Buch der Erstfassung hören, in der Apologie des griechischen Autors.18 Darin eröffnet er dem Leser, dass die Romanhandlung bisher dem »ordentlichen Lauf der Natur« (OA 8.1, 417) entsprochen, dass der griechische Autor im letzten Buch des Romans aber offenbar die Gesetze der Wahrscheinlichkeit missachtet habe. Explizit identifiziert er diese Schreibweise mit der frühneuzeitlichen Tradition literarischer Utopien: [I]n diesem eilften Buch […] scheint der Autor aus dieser unsrer Welt […] ein wenig in das Land der Ideen, der Wunder, der Begebenheiten, welche gerade so ausfallen, wie man sie hätte wünschen können, und um alles auf einmal zu sagen, in das Land der schönen Seelen, und der utopischen Republiken verirret zu seyn. (OA 8.1, 417)
Der Herausgeber macht den Leser also gezielt darauf aufmerksam, dass der griechische Autor die finale Tarent-Episode mithilfe von Gattungsmusterelementen der literarischen Utopie gestaltet hat. Dieser Herausgeberhinweis ist freilich fiktionsironisch, da der antike Autor die frühneuzeitlichen Gattungsstrukturen noch gar nicht kennen konnte. Dennoch sollen die zitierten utopischen Gattungsstrukturen am Schluss des Agathon eine konkrete poetische Funktion besitzen: Die Darstellung eines idealen Gemeinwesen, das sich aus unverdorbenen, unschuldigen und moralisch souveränen Individuen konstituiert, dient dazu, die von »gutherzigen« (OA 8.1, 417) Romanlesern erwartete Erzählkonvention eines glücklichen Schlusses zu erfüllen und sich nicht den von Horaz in der Ars poetica formulierten Vorwurf einzuhandeln: »Amphora cœpit Institui – currente rotâ cur urceus exit?« (OA 8.1, 418). Um also den Eindruck zu vermeiden, dass die Romanhandlung einen Wein- in einen Wasserkrug verwandle, wagt der griechische Autor mit dem elften Buch den »Sprung aus dem Fenster« (OA 8.1, 420) und konstruiert einen harmonisierenden Schluss. Der fiktive Editor gibt das elfte Buch indes nur mit massiven Vorbehalten und lediglich der Vollständigkeit halber heraus, distanziert sich von dessen Inhalt aber ausdrücklich. Wieland zitiert also die frühneuzeitliche Utopia-Tradition am Romanschluss lediglich in Form einer kurzen Episode und entlarvt mit der vorgeschalteten Apologie des griechischen Autors zugleich die gedanklichen Voraussetzungen literarischer Utopien, nämlich die stillschweigende und poetisch verschleierte Veränderung der conditio humana.
18
Zu Leserlenkungsstrategien in den Vorreden bei Wieland vgl. Jørgensen (1976).
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Die ältere Forschung fasst die utopische Tarent-Episode als »gewollt sarkastisches Happy Ending«19 oder als »Flucht in die Utopie«20 auf, identifiziert hier Wielands ästhetisch dekorierten »abgründigen Pessimismus und Skeptizismus«21 oder liest darin vice versa die finale Aufhebung des naturwissenschaftlich-kausalen »Anspruchs auf Tatsächlichkeit«, wie ihn der fiktiver Herausgeber vertritt, zugunsten einer literarischen Vermittlung von Tugendmaßstäben als »autonome Leistung des poetischen Bewußtseins«22. Inspiriert von der Agathon-Deutung Werner Fricks, hat Walter Erhart dagegen betont, dass der Romanschluss der Erstfassung und die ironische »Aufspaltung der Erzählfunktion«23 in einen griechischen Autor und einen Herausgeber keine narrative Notlösung sei, sondern ästhetisch konsequent aus den beiden gegenläufigen Erzähl- und Handlungsperspektiven folge, die den gesamten Roman durchwirken: Während der Vorbericht ankündigt, dass der Roman Agathons Entwicklung zu einem »eben so weise[n] als tugendhafte[n] Mann« (OA 8.1, 7) demonstriere und begründe, illustriert die Romanhandlung tatsächlich jedoch das Scheitern einer an Tugendmaßstäben ausgerichteten Handlungspraxis und zeigt die versteckte Motivation moralischer Gefühle durch die Eigenliebe. Der mutwillig inszenierte Widerstreit dieser beiden Darstellungsintentionen soll nach Erhart eine »reflektierende Lektüre«24 anregen, die die literarisierten Philosopheme identifiziert und kritisch prüft. Vordergründig in Erharts Deutung ist daher das ›kritisch-destruktive Potential‹25 des Agathon. Nach Erhart lässt sich der Agathon-Schluss auch nicht in die frühneuzeitliche Utopia-Tradition einordnen, sondern bricht mit ihr: Im utopischen Tarent »wird eine literarische Form nur zitiert, um deren Funktion als fiktive Überspielung der im Roman festgehaltenen Entzweiungssymptome ironisch aufzuheben«26. Erharts Beobachtung, dass mit dem Zitieren tradierter Gattungsstrukturen deren ursprüngliche Funktion modifiziert werde, deckt sich zwar mit Peter Kuons theoretischen Überlegungen zum Gattungszitat (vgl. Kap. I.1.2, hier Anm. 67–69), sie ist aus gattungsgeschichtlicher Perspektive jedoch noch deutlich zu differenzieren. Vor allem muss eine unkritische Übernahme von Wielands eigenem Verständnis der Utopia-Tradition vermieden werden. Zu klären ist stattdessen, welche Vorstellung Wieland mit dieser Texttradition verbindet und welche ihrer Funktionen er am Schluss des Agathon ironisiert. Unbestreitbar inszeniert Wieland mit dem Utopie-Zitat und mit dem Verweis auf den Konstruktcharakter utopischer Entwürfe eine Krise des frühaufkläreri-
19 20 21 22 23 24 25 26
Hahl (1971), 42. Paulsen (1975), 171. Jacobs (1972), 58. Thomé (1978a), 236. Frick (1988), Bd. 2, 487. Erhart (2008), 266. Erhart (1991), 180. Ebd., 175.
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schen Romanschlusses und dokumentiert darüber die beginnende Krise der aufklärerischen Moralphilosophie um die Jahrhundertmitte: Die spätaufklärerischen Legitimations- und Begründungsprobleme einer bürgerlichen Moral führen […] auch zu einer Krise der Romanschlußfi ktionen […]. Nach dem Verlust metaphysischer Ordnungen kann nämlich auch die Moralphilosophie keine Garantie mehr dafür übernehmen, den Fiktionen eine Einheit zu unterlegen, in der sich die Projekte der Einbildungskraft noch mit der Sinnstiftung durch verbindliche Normen verknüpfen ließe[n].27
Das letzte Buch des Agathon zieht also einen Schlussstrich unter eine Konzeption von der Wirkung literarischer Texte, die sich erst im frühen 18. Jahrhundert etabliert hatte: Die zeitgenössischen Erwartungen an einen Romanschluss verdanken sich im Wesentlichen der frühaufklärerischen Poetologie, die literarische Fiktionen als die ›Übersetzung‹ des leibnizschen Konzepts vernünftig geordneter ›möglicher Welten‹ in eine illusionierende Textwelt und Literatur mithin als ein Medium zur Verbreitung vernünftigen Denkens versteht. Mit wahrscheinlich erzählten Geschichten, die eine vernünftige Weltordnung imaginieren, konnten die ›bürgerlichen‹ Verwaltungs- und Funktionseliten sich über den Erfolg und die lebenspraktische Umsetzbarkeit ihrer Moralvorstellungen versichern und diesen zugleich öffentliche Aufmerksamkeit verschaffen. Etwa ab der Jahrhundertmitte lässt sich jedoch exemplarisch an Autoren wie Wieland ein durch die Lektüre des westeuropäischen Empirismus motivierter, allmählicher Plausibilitätsverlust der rationalistischen Metaphysik und des an der Theodizee-Lehre orientierten Weltbildes beobachten. Bezeichnenderweise zieht dies sehr rasch bestimmte poetologische und ästhetische Konsequenzen nach sich. Mitte der 1750er Jahre hatte Wieland die Korrespondenz mit dem Brugger Stadtphysikus Johann Georg Zimmermann aufgenommen, anhand derer wir seine exzessive Lektüre des westeuropäischen Empirismus rekonstruieren können: Wieland liest Locke, Shaftesbury, d’Alembert, Diderot, Helvétius, David Hartley und wahrscheinlich auch Sulzer und Hume. Angestoßen von diesem intensiven Studium der aktuellsten Philosophie und Ästhetiktheorie vollzieht sich in den folgenden Jahren jene ›Wandlung seiner Realitätskonzeption‹, von der Horst Thomé28 gesprochen hat. Besonders großen Anteil hat daran die durch Zimmermann vermittelte Lektüre der zweibändigen Abhandlung Observations on Man (1749) des englischen Psychologen David Hartley, die in Wielands Korrespondenz seit Mai 1756 dokumentiert ist. Anfangs wehrt sich Wieland noch vehement gegen Hartleys anthropologische Argumentationsweise, die jene in der Frühaufklärung voneinander separierten Disziplinen der Physiologie und der Psychologie miteinander verbindet.29 Später gewinnt seine Vorstellung von Aufklärung je27 28 29
Ebd., 171f. Thomé (1978a), 118. »Ich danke Ihnen verbindlichst für Hartley; […] Bald habe ich mich durch den Physiologischen Theil hindurchgearbeitet, der mir mühe macht, weil diese Art von
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Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
doch gerade daraus ihre wichtigsten Impulse.30 Besonders prägend sind Hartleys Affekttheorie und dessen Überlegungen zur Affektsteuerung, anhand derer er eine »Ethik der Mitte«31, einen ausbalancierten Affekthaushalt propagiert. Die Hartley-Lektüre war also für das bei Wieland immer wiederkehrende Mäßigungsideal richtungsweisend und motiviert die in seinen literarischen Texten häufig demonstrierte Schwierigkeit und Instabilität eines solchen Balanceakts. Jene mit dem zeitgenössischen anthropologischen Wissen nicht mehr vereinbaren moralischen Vorstellungen, die auf einem von der Vernunft dirigierbaren Affekthaushalt beruhen sollen, geraten ab den 1760er Jahren aus dem Fokus von Wielands literarischen Vermittlungsbemühungen. Nach ihrer unsicher gewordenen metaphysischen Legitimation stellt er nicht nur die Umsetzbarkeit der praktischen Philosophie der Frühaufklärung in Frage, sondern vor allem auch den Sinn ihrer Verbreitung in Form literarischer Texte. Literatur verliert bei Wieland die Funktion, eine sich formierende ›bürgerliche Öffentlichkeit‹ in ihrem Glauben an eine vernünftige Weltordnung zu versichern, und verlegt sich stattdessen darauf, den Leser misstrauisch gegenüber seiner Selbstwahrnehmung als vernunftautonomes Subjekt und gegenüber dem Glauben an eine vernünftig geordnete Welt zu stimmen. Der Schluss der Agathon-Erstfassung demonstriert dieses neue poetologische Credo, da der Roman hier die Erzähltechniken zur Erzeugung vernünftig und teleologisch geordneter Textwelten imitiert, zugleich aber die künstlerische Gemachtheit des Schlusses offenlegt. Diesen Funktionswandel des frühaufklärerischen Literaturkonzepts hat die Aufklärungsforschung hinlänglich beschrieben und auch für das Werk Wielands weitestgehend erschöpfend rekonstruiert. Außer Acht bleibt dabei jedoch zumeist, dass in der Frühaufklärung nicht nur die Romanform zur Verbreitung vernünftigen Denkens in Dienst genommen, sondern dass auch die frühneuzeitliche Utopia-Tradition für dieses literaturpolitische Ziel vereinnahmt wird und daher seit Ende des 17. Jahrhunderts eine enge Synthese mit der Romanform eingeht (vgl. Kap. I.2.2.c).
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Speculationen mit meinen herrschenden Ideen an einen so schwachen Faden zusammenhangt. […] Sonst wünscht ich daß Physiologie und Psychologie immer voneinander geschieden blieben, oder wenigstens daß man den Leib nie für etwas anders als das Sensorium und das Instrument der Seele ansähe« (WBr 1, 257: Wieland an Zimmermann, 11.5.1756). Hans-Jürgen Schings hat diese »anthropologische Herabstimmung« der »metaphysischen System-Poesie« (Schings [1980], 253) des jungen Wieland am Briefwechsel mit Zimmerman nachvollzogen: Bereits in seinen Briefen aus dem Jahr 1758 moniert Wieland, dass Zimmermann in seinen Abhandlungen über Einsamkeit und Nationalstolz zu wenig aus den »natürlichen Ursachen« erkläre (WBr 1, 321: Wieland an Zimmermann, 14.2.1758) und bittet ihn, die »wahren Quellen des fanatisme und Mysticisme und des praetendirten amour pur« (Ebd.) aufzudecken. – Anhand des Briefes an Zimmermann vom 8.11.1758 (WBr 1, 377–382) hat Frank Baudach demonstriert, welchen großen Einfluss die neuen empiristischen Denkstrukturen auf Wielands Urteil über die moraldidaktischen Wirkungsmöglichkeiten von Literatur besitzen (vgl. Baudach [1993], 499ff.). Erhart (1991), 59. – Zu Wielands Hartley-Lektüre vgl. ebd., 59–61.
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Wielands Bild von der literarischen Utopie ist stark durch diesen frühaufklärerischen Gattungswandel bestimmt. Eine der aussagekräftigsten Stellungnahmen zur Gattungstradition findet sich in seinen Beyträgen zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens (1770). Er berichtet darin an einer Stelle von dem afrikanischen Stamm der Pholeys, dessen naturgemäße Lebensweise bei zivilisatorisch depravierten Europäern schwärmerische Neidgefühle und eskapistische Begeisterung auslösen könne, wenn man sie entsprechend illusionierend darstellt, weshalb er dringend davon abrät: Was für eine demüthigende Vergleichung ließe sich zwischen uns Europäern, und diesen ehrlichen schwarzbraunen Pholeyern anstellen, »welche […] das sind, was wir gerne seyn möchten […].« – Welch ein reicher Stoff! welche Gelegenheit zu schimmernden Gedanken, und feinen Sprüchen! Aber, wie gesagt, wir haben keine Lust, uns auf Gemeinplätzen herumzutummeln; und so schöne Sachen sich auch immer über diesen Gegenstand sagen ließen, so möchte doch wohl schwerlich Eine darunter seyn, die nicht in den unzählichen Utopien und Sevarambenländern, womit wir seit mehr als zweyhundert Jahren so reichlich beschenkt worden sind, schon mehr als einmal gesagt, und vielleicht schon abgenutzt worden, daß sie zu weiterm Gebrauch nicht mehr tauglich ist. Eine Mischung von Wahrheit ist freylich immer in dergleichen Declamationen; aber was nützen schielende Wahrheiten? (OA 9.1, 297; Hervorhebungen, M.L.)
Die Passage gibt einen aspektreichen Eindruck von Wielands Gattungsverständnis: Zum einen nimmt er die Utopia-Tradition seit Morus als zusammenhängende gattungsgeschichtliche Einheit wahr. Bestimmend für sein Gattungsverständnis sind dabei die ›schimmernden Gedanken‹ und die ›schönen Sachen‹, die sich damit ausmalen lassen, also die illusionierende Bildhaftigkeit utopischer Entwürfe. Wieland ist sich zwar über die frühneuzeitliche Gegenbildfunktion literarischer Utopien im Klaren und rückt sie sogar in die Nähe satirischer Gattungsstrukturen. ›Dergleichen Deklamazionen‹ enthalten daher auch immer eine ›Mischung von Wahrheit‹, weil sie durch die vergleichende Gegenüberstellung von europäischer Erfahrungswelt und utopischer Norm zur kritischen Beurteilung der eigenen Lebenspraxis stimulieren. Dennoch vermitteln literarische Utopien für Wieland nur ›schielende Wahrheiten‹, die das Verhältnis zwischen Norm und Wirklichkeit nicht problematisieren, keine konkreten Missstände benennen oder die Erfahrungswirklichkeit kritisch-rational beurteilen, sondern lediglich die Illusion eines unverdorbenen Menschen in längst abgenutzten Bildern zeichnen. Wieland stößt sich also an einer Entwicklung, die die Gattung erst in der Frühaufklärung, aufgrund ihrer Synthese mit der Romanform und der Dominanz narrativer Vermittlungsformen genommen hat: Während die Problematisierung ganz konkreter und historisch gebundener Missstände der zeitgenössischen Erfahrungswirklichkeit in den frühaufklärerischen Romanutopien von Schnabel bis Veiras zugunsten einer wahrscheinlichen Vermittlung des utopischen Entwurfs eher marginalisiert wird, gehören konkrete zeitkritische Bezüge noch zu den typischen Merkmalen frühneuzeitlicher Utopien: Man denke etwa an das erste Buch der Utopia und die berühmte Diskussion über die Umwandlung von Nahrungsmittel lieferndem Ackerland in eingehegtes Weideland für Schafe, so-
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genannte ›enclosures‹, was tatsächlich zu den drängendsten sozial-ökonomischen Problemen im England der Morus-Zeit gehörte. Eine solche konkrete Anleitung zur kritischen Beurteilung der gesellschaftlichen Erfahrungswirklichkeit lassen literarische Utopien für Wieland jedoch vermissen: Stattdessen produzieren sie mit der Illusion unverdorbener Individuen ›schielende Wahrheiten‹, die nur eskapistische Begeisterung wecken bzw. von der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit ablenken und den Leser im irrigen Glauben an eine prästabilierte Harmonie, eine vernünftige Weltordnung, das moralische Gefühl und die Machbarkeit moralischen Fortschritts versichern. Auch wenn er sich dies nicht bewusst macht, bezieht sich Wielands Reserviertheit gegenüber der literarischen Utopie also in erster Linie auf die frühaufklärerische Periode der Gattungsgeschichte. Dies gilt umso mehr, als Wieland selbst mit dem Textmuster der Utopie erste literarische ›Gehversuche‹ unternommen hatte. Ohne alle ironische Brechung entwirft er in seiner Jugenddichtung Gesicht von einer Welt unschuldiger Menschen (1755) eine Welt erbsündeloser Individuen und versucht damit den Leser im Glauben an den aufklärerischen Harmonismus zu versichern.32 Der Text reflektiert jedoch bereits die Eskapismusgefahr, die solchen poetischen Illusionen innewohnt: In der Konfronation mit den utopischen Individuen versinkt der IchErzähler nämlich in Schwermut und beweint die verlorene Unschuld des erfahrungsweltlichen Menschen. In diesem Moment der Verzweiflung legt ihm der Genius des utopischen Gemeinwesens nahe, sich von dem Gesehenen nicht wehmütig stimmen zu lassen, sondern darin gerade die poetisch zum Vorschein gebrachte moralische Weltordnung zu entdecken, die sich vor dem verengten Blick des erfahrungsweltlichen ›homo corruptus‹ verbirgt.33 Wielands Gesicht repräsentiert damit eine schon weit zugespitzte frühaufklärerische Theorievariante zur Wirkung literarischer Fiktionen, die derjenigen seiner Schweizer Freunde Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger nahe steht. Die Dichtungstheorie der Schweizer markiert den Kulminationspunkt der frühaufklärerischen Wahrscheinlichkeitspoetologie, da sie die von Leibniz entwickelte und von Wolff und Gottsched auf literarische Fiktionen angewendete Unterscheidung zwischen Tatsachen- und Vernunftwahrheiten und die Theorie möglicher Welten noch einmal neu ausrichtet: Innerhalb der frühaufklärerischen Dichtungstheorie zeichnet sich von Gottscheds Critischer Dichtkunst über Alexander Gottlieb Baumgartens Magisterschrift34 bis hin zu Bodmer und Breitinger
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Zum Gesicht vgl. die eingehende Analyse von Baudach (1993), 345–404. »Die moralische Ordnung ist eine unsichtbare Schönheit für euch, in viele Deken und Schleier eingehüllet, welche zulezt fallen, und euern erstaunten Augen eine ganz vollkommene Gestalt und untadeliche Schönheit darstellen werden. […] [E]s ist euch in euerm izigen Zustand nichts nöthiger, als Glauben, daß das Ganze gut sei, und zur Ehre des Schöpfers ausfallen werde, ob ihr gleich nicht deutlich einsehet, wie dieses zugehe« (AA I.2, 421). Vgl. Baumgarten (1983).
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eine Akzentverschiebung ab, bei der die konkrete wirkungsstrategische Behandlung poetischer Texte immer mehr in den Vordergrund rückt. Unter Berufung auf Leibniz’ Begriff der Vernunftwahrheit lässt sich daher auch ein sehr weit von der Erfahrungswirklichkeit abweichendes Geschehen als wahrscheinlich legitimieren, sofern es den Vorgaben der philosophischen Vernunft entspricht.35 Nach Breitinger ist es möglich, selbst das Wunderbare als »vermummetes Wahrscheinliches«36 darzustellen und er empfiehlt sogar die poetische Konstruktion modellhafter, außerempirischer Individuen, da sich dadurch die sinnlich-faszinierende Wirkung von Dichtung und ihr Überredungseffekt steigern lässt.37 Die poetische Phantasie fungiert bei Breitinger nicht als Imitatio der weltlichen Vernunftordnung, sondern er lässt auch den Gedanken zu, dass mit Dichtung eine Vernunftordnung erst erschaffen wird, die in der wirklichen Welt gar keine anschaubare Realität besitzt.38 Trotz gewisser Differenzen39 zwischen der Poetik Bodmers und Breitingers und der des jungen Wieland ist dessen Gesicht vor dem Hintergrund dieser zugespitzten Theorie literarischer Fiktionen zu verstehen, in der sich bereits die drohende Krise des an der Theodizee-Lehre orientierten Weltbildes poetologisch manifestiert. Der Genius, mit dem der Ich-Erzähler sich unterhält, rät am Schluss des Textes daher, das Gesehene nicht als poetische Verdichtung einer sichtbaren immanenten Vernunftordnung oder als bloßes Gegenbild zur Erfahrungswirklichkeit zu verstehen, sondern sich davon im Glauben an die unsichtbare Harmonie der Welt versichern zu lassen (vgl. Anm. 33). Mithilfe eines solchen utopischen Bildes sei es gerade möglich, »auch ehe die Zeit des Glaubens sich in die Zeit des Anschauens verwandelt, mitten durch die Deken […] einige Blike in die verborgene Schönheit der Welt zu thun« (AA I.2, 421). Die poetische Darstellung utopischer Individuen öffnet also den Blick für die zwar seltenen, aber umso bedeutsameren Tugendbeispiele in der Erfahrungswirklichkeit, deren tugendhaftes Handeln dem Kampf mit der eigenen depravierten Natur abgetrotzt sei, und die
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Gottsched hat daraus als erster konkrete dichtungstheoretische Konsequenzen gezogen, die allerdings in seiner Poetologie noch keinen zentralen Stellenwert einnehmen: Er gesteht auch der Fabel, in der Tiere sprechen und handeln, eine ›hypothetische Wahrscheinlichkeit‹ zu, wenn das dargestellte Geschehen der Vernunft nicht widerspricht (vgl. Gottsched [1973], 256f.). Breitinger (1740), Bd. 1, 132. Vgl. Oettinger (1970), 34–51. »[D]enn was ist Dichten anders, als sich in der Phantasie neue Begriffe und Vorstellungen formieren, deren Originale nicht in der gegenwärtigen Welt der würcklichen Dinge, sondern in irgend einem andern möglichen Welt=Gebäude zu suchen sind. […] Und in dieser Absicht kömmt auch dem Dichter alleine der Nahme ποιητου, eines Schöpfers, zu, weil er nicht alleine durch seine Kunst unsichtbaren Dingen sichtbare Leiber mittheilet, sondern auch die Dinge, die nicht für die Sinnen sind, gleichsam erschaffet, das ist, aus dem Stande der Möglichkeit in den Stand der Würcklichkeit hinüberbringet, und ihnen also den Schein und den Nahmen des Würcklichen mittheilet« (Breitinger [1740], Bd. 1, 59f.). – Vgl. dazu Mähl (1985a), 58f. Vgl. Baudach (1995).
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daher auch größeres Gewicht besitzen als die natürliche Tugendhaftigkeit der modellhaften Individuen im Gesicht.40 Diese Lektüreanweisungen des Genius dokumentieren das Dilemma, in das sich die Aufklärungspoetik mit der Adaption des philosophischen Konzepts möglicher Welten verstrickt hat: Ursprünglich als philosophisches Fundament für die literaturpolitischen Ziele der Frühaufklärer gedacht, impliziert die Anwendung dieses Konzepts auf literarische Fiktionen immer die Gefahr, dass damit die wirkliche Welt relativiert und ihre Rechtfertigung als beste aller möglichen Welten in Frage gestellt wird. Diese Gefahr ist gerade der stark wirkungsästhetisch ausgerichteten Poetologie Bodmers und Breitingers und der des jungen Wieland inhärent, der das Problem jedoch bereits zu sehen scheint. Die Reaktion des Ich-Erzählers, der in Wehmut fällt, zeigt, welche Gefahr sich mit einer faszinierenden Darstellung möglicher Welten verbindet: Verzweiflung über den verdorbenen Zustand der wirklichen Welt. Der Genius versucht mit seiner Erläuterung einer ›richtigen‹ Lektüre des Gesicht sicherzustellen, dass der Text das Weltbild der Theodizee nicht ins Wanken bringt. Die seltene Tugendhaftigkeit der wirklichen Welt sei höher zu bewerten, als die Tugendhaftigkeit in der utopischen Textwelt, weil tugendhaftes Handeln in der wirklichen Welt dem Kampf mit den Leidenschaften abgetrotzt wird. Die wirkliche ist also dennoch die beste aller möglichen Welten, weil sich in ihr seltene, dafür aber umso schönere Tugendexempel finden. – Der erzwungene Charakter dieser Beweisführung dokumentiert die merklichen Widersprüche, in die sich die Aufklärungspoetik mit der Zuhilfenahme sensualistisch-wirkungsästhetischer Dichtungskonzeptionen verwickelt. Da sich bei Wieland keine drei Jahre nach der Niederschrift des Gesicht jene poetologische Neuausrichtung vollzieht, kann man diesen Text als den krisenhaften Kulminationspunkt der Poetik seiner Jugendjahre verstehen. Erst zwischen diesen beiden Eckdaten von Wielands Beitrag zur Utopia-Tradition in seinen Jugendschriften und seiner Beurteilung der literarischen Utopie um 1770 lässt sich der Status des Gattungszitats im Agathon differenziert einschätzen: In den Beyträgen moniert Wieland die Abnutzungserscheinungen literarischer Utopien, mittels derer sich nur noch moraldidaktische ›Gemeinplätze‹ (OA 9.1, 297) aussprechen ließen. Nach dem Wandel seiner Dichtungsauffassung Ende der 1750er Jahre führt Wieland nicht nur eine ambivalente Auseinandersetzung mit der frühaufklärerischen Poetik, sondern auch mit der literaturpolitischen Konzeption seiner eigenen Jugenddichtungen. Das letzte Buch der AgathonErstfassung zieht also keinen Schlussstrich unter die frühneuzeitliche Gattungsgeschichte literarischer Utopien, sondern Wieland dokumentiert hier das zunehmend kritische Verhältnis, das er gegenüber der Funktionalisierung literarischer
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»Was ist herrlicher als der Kampf einer muthigen Seele mit ihren Leidenschaften? […] Die Keuschheit eines Josephs ist in gewisser Absicht schöner als die Reinigkeit eines Seraphs; denn jener mußte Reizungen verachten, denen fast alle Menschen unterliegen« (AA I.2, 421f.).
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Fiktionen zur Verbreitung der frühaufklärerischen Realitätskonzeption einnimmt. Noch dem Gesicht liegt die Auffassung zugrunde, dass ein aufgeklärter Dichter die vernünftig-göttliche und moralische Ordnung der Welt zum Vorschein bringe und sich dazu auch faszinierender, außerempirischer Elemente bedienen könne. Dagegen versteht Wieland um 1760 unter Aufklärung nicht mehr die Versicherung des Lesers über die prästabilierte Harmonie, sondern die Verunsicherung über die Ideen des moralischen Gefühls und der vernünftigen Weltordnung. Schon 1758 bemerkt er gegenüber Zimmermann: Ein Dichter ist ein schlauer Kopf, wenn er sich ein Sujet ausserhalb der Menschlichen Sphäre wählt. Wer kan ihn da zur Rechenschaft ziehen? […] Aus den Gegenden über dem Mond darf man ohne Furcht überwiesen zu werden sagen was man will.41
Diese ironische Anspielung auf Klopstocks Messias zeigt, dass Wieland die moralische Orientierungsfunktion von Literatur durchaus ernst nimmt. Kritikfähige moralische Einsichten sind einem aufgeklärten Publikum mittels wunderbarer Elemente aber nicht kommunizierbar, damit entzieht sich ein Autor geradezu seiner Aufklärungsverantwortung und erfüllt nur noch Unterhaltungsbedürfnisse. Nach Wieland soll sich der Autor auf die Schwierigkeit einlassen, moralische Orientierung durch die poetische Nachahmung der empirisch erfahrbaren Natur zu leisten. Dies wirft allerdings die Frage auf, warum Wieland sich dann überhaupt die Mühe macht, im letzten Buch des Agathon die literarische Utopie zu zitieren: Wäre es ihm um einen nur parodistischen Umgang mit den tradierten Gattungsstrukturen gegangen, hätten sich dazu eine Reihe schon vorgeprägter Muster angeboten, nämlich jene Texttradition, die von der Abbaye de Thélème in Rabelais’ Gargantua über Joseph Halls Mundus alter et idem bis zum Land der Yahoos und der unaussprechlichen Houyhnhnms in Swifts Gullivers Reisen reicht. Peter Kuon hat vorgeschlagen, solche Texte und Episoden, in denen die literarische Utopie selbst zum Satireobjekt gemacht wird, als ›utopische Satire‹ zu bezeichnen, denn hier wird kein normatives Gegenbild, sondern ein satirisch verzerrtes Abbild der depravierten Erfahrungswirklichkeit gezeigt.42 Wieland vermeidet im Agathon jedoch einen solchen Schluss, sondern entscheidet sich mit Archytas und den Tarentinern für die erzähltechnisch gebrochene Darstellung einer funktionierenden Gemeinschaft normativer, vernunftautonomer Individuen. Auch baut er die Tarent-Episode nicht zu einer Depravationsgeschichte aus, bei der ein ursprünglich unverdorbenes Volk durch den Kontakt mit Zivilisationsvertretern in den Strudel immer neuer kultureller Bedürfnisse gerissen wird und letztlich untergeht. Geschichten dieser Art finden sich etwa in Wielands Beyträgen mit den Erzählungen von den beiden Urmexikanern Koxkox und Ki-
41 42
WBr 1, 379: Wieland an Zimmermann, 8.11.1758. Vgl. Kuon (1986), 412f. – Ähnliche Argumente finden sich auch bei Jaumann (1990), 229.
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kequetzal und vom ägyptischen Priester Abulfaouaris oder in der Erzählung vom Untergang der naturständischen Gesellschaft im Jemal-Tal im Danischmend-Roman. In diesen Erzählungen wird die semantische Zweiteilung der Textwelt in eine depravierte Zivilisation und eine utopische Gesellschaft durch den Einbruch der überzivilisierten Erfahrungswirklichkeit in das naturständische Gemeinwesen wieder aufgehoben, indem der Text die Geschichte seiner Depravation erzählt. Am Schluss des Agathon hingegen bleibt die semantische Zweiteilung der Textwelt zwischen Erfahrungswirklichkeit und utopischem Tarent intakt. Wie aus dem schon mehrfach zitierten Brief an Zimmermann vom 8.11.1758 hervorgeht, lehnt Wieland literarische Utopien selbst nach seiner poetologischen Neuorientierung nicht rundweg ab, sondern weist ihnen sogar eine Aufklärungsfunktion zu. Just in demselben Brief, in dem er Klopstock wegen dessen ›ausserhalb der Menschlichen Sphäre‹ liegenden Sujets kritisiert, rühmt er überschwenglich den Roman Naufrage des Isles flottantes, ou Basiliade du célèbre Pilpaï (1753) des französischen Aufklärungsphilosophen Étienne-Gabriel Morelly, weil dieser eine utopische Gemeinschaft unverdorbener Individuen zeigt: 43 Haben Sie die Basiliade würklich nicht gelesen? […] Es ist eine Art von Histoire de Severambes oder Utopia; aber die Ausführung macht es neu. […] Der Autor giebt seinem Volke nichts als die Natürliche Religion und eine mit den Gesetzen der Natur harmonische Unschuld und Güte. […] Warum haben doch die besten Bücher das Unglük so schlecht gelesen und aus einem falschen point de vüe beurtheilt zu werden? […] Sollten wir wol ohne einen äusserlichen Gottesdienst und ohne positive CivilGesetze leben können? Nein, antworte ich, so lange wir so sind, wie wir sind. Aber […] [e]s ist gut, wenn man uns lebhafte Gemählde von der Seligkeit macht, welche wir genießen würden, wenn wir der Stimme der Natur und den Vorschriften der gesunden Vernunft gemäß lebten. […] Die Freyheit der Philosophen und Schriftsteller muß uneingeschränkt seyn, wenn sie nur die allgemeinen Grundsätze der Religion und Moral, worinn alle Völker von jeher übereingestimmet, ungekränkt lassen.44
Diese Briefstelle wirft ein klärendes Licht auf die Funktion von utopischen Entwürfen innerhalb von Wielands gerade im Wandel begriffenem Konzept literarischer Aufklärung: 45 So wie der Mensch anthropologisch disponiert ist, kann er nicht ohne das stabilisierende Korsett der Religion und des positiven Rechts existieren. Ein realisierbares Modell sozialen Zusammenlebens stellen literarische Utopien also keineswegs bereit. Allerdings eignet sich dieses literarische Muster, um den Leser im Vergleich mit einer Gemeinschaft außerempirischer, triebharmonischer und tugendhafter Individuen zur kritischen Skepsis gegenüber den bestehenden sozialen und politischen Verhältnissen zu überreden, vor allem aber zur Skepsis gegenüber sich selbst und seinen Leidenschaften. Dazu muss der Le-
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Zu Wielands Rezeption von Morellys Basiliade vgl. Gelzer (2010). WBr 1, 380f.: Wieland an Zimmermann, 8.11.1758. Zur Schlüsselrolle, die dieser Brief in Wielands poetologischer Neuorientierung während der späten 1750er Jahre spielt, vgl. Anm. 30.
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ser aber mit bestimmten Darstellungstechniken in die Lage versetzt werden, den utopischen Entwurf aus dem richtigen ›point de vüe‹ zu beurteilen. Mit der Tarent-Episode hat Wieland erstmals versucht, einen utopischen Entwurf zu schreiben, der dieser neuen Form literarischer Aufklärung genügt. Die Tarent-Episode lässt sich deshalb als Auseinandersetzung mit der Frage verstehen, wie nach dem Plausibilitätsverlust des frühaufklärerischen Harmonismus tugendhaftes Handeln literarisch vermittelt werden kann, ohne mit der Darstellung außerempirischer modellhafter Individuen auf die Trickkiste der Poetologie von Bodmer und Breitinger zurückzugreifen. Den Menschen nur zum triebgesteuerten Instinktwesen herabzuwürdigen, wäre für Wieland der falsche Weg literarischer Aufklärung, da dies den Leser in dieselbe Desillusion stürzen würde, in die im Gesicht schon der Ich-Erzähler angesichts der utopischen Individuen geraten war. Daher gesteht der Agathon explizit zu, dass auch in der Erfahrungswirklichkeit einzelne Tugendbeispiele existieren: Die Epaminondas, die Walsinghams, die More, und Tessins sind freylich zu allen Zeiten selten; aber wenn etwas, welches den verstoktesten Tugend-Läugner, einen Hippias selbst, zwingen muß, die Würklichkeit der Tugend zu gestehen, und auch wider seinen Willen ihre Göttlichkeit zu erkennen: So sind es die Beyspiele solcher Männer. (OA 8.1, 398)
Stellt man solche Beispiele jedoch mit literarischen Fiktionen oder gar im Rahmen einer literarischen Utopie dar, so wirkt sich dies von Wielands Warte aus zwangsläufig aufklärungsgefährdend aus. Wegen der besonderen Faszinationskraft, die das Medium Literatur für solche Tugendbeispiele wecken kann, besteht dabei nämlich die Gefahr, dass der Leser nur in seinem naiven Glauben an die universale Realisierbarkeit tugendhaften Handelns und an die Kongruenz von Sein und Sollen versichert wird. Wielands Lösung für dieses Dilemma ist die sich explizit als solche anzeigende modellhaft-poetische Konstruktion tugendhafter Individuen. Dabei kann er sich einerseits der sinnlichen Wirkung literarischer Texte bedienen, um für die Idee tugendhaften Lebens zu werben, den Leser aber gleichzeitig auf die klaffende Lücke zwischen Wirklichkeit und Idee hinweisen, die der Dichter über eine konstruierte Romanhandlung, einen ›Sprung aus dem Fenster‹, lediglich kaschiert.46 46
Dieser ambivalente Umgang mit der literarischen Utopie, der nicht darin besteht, dieses Textmuster zu parodieren oder zu ›dekonstruieren‹, hält sich bis in Wielands Alterswerk: Das Hexameron von Rosenhain (1805) hat Wieland mit einer Rahmenhandlung ausgestattet, die Boccaccios Decamerone imitiert. Im Vorbericht eines Ungenannten ist von einer Gesellschaft auf dem Land die Rede, bei der die Anwesenden sich Geschichten erzählen, um die Langeweile zu vertreiben. Zunächst wird aber diskutiert, was man erzählen kann und was nicht. In diesem Zusammenhang kommt auch die literarische Utopie auf den Prüfstand und die ambivalente Haltung, die Wieland diesem Textmuster gegenüber einnimmt, wird hier – wie so häufig bei diesem Autor – in einen Dialog mit Pro- und Kontra-Argumenten übersetzt, so dass man die Textperspektive nur implizit erschließen kann. Der junge Wunibald von P. spricht sich gegen moralisch-utopische Erzählung aus: »[I]mmer Unschuld und Wohlthätig-
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Die narrative Präsentation Tarents: Epische Normenvermittlung und Dekonstruktion
Eine Deutung des letzten Agathon-Buchs, die nicht nur das kritisch-destruktive Potential der vorgeschalteten Apologie des griechischen Autors betont, sondern auch den Normen vermittelnden Charakter der Tarent-Episode, ist auf unsicherem Fundament gebaut. Über das politische System der Republik Tarent liefert der Roman nämlich nur wenige Informationen, die ihre Idealität zudem eher fragwürdig erscheinen lassen. Alles, was wir über die Tarentiner erfahren, konzentriert sich in einer kurzen, abstrakt-beschreibenden Passage: Der grösseste Theil der Tarentiner bestuhnd aus Fabricanten und Handelsleuten. Die Wissenschaften und schönen Künste stuhnden in keiner besondern Hochachtung bey ihnen; aber sie waren auch nicht verachtet. Diese Gleichgültigkeit bewahrte die Tarentiner vor den Fehlern und Ausschweiffungen der Athenienser, bey denen jedermann, bis auf die Gerber und Schuster, ein Philosoph und Redner, ein wiziger Kopf und Kenner seyn wollte. Sie waren eine gute Art von Leuten, einfältig von Sitten, emsig, arbeitsam, regelmässig, Feinde der Pracht und Verschwendung, […] Liebhaber des Natürlichen und Gründlichen[.] […] Der Geist der Emsigkeit, der dieses achtungswürdige und glükliche Volk beseelte […] machte, daß man sich zu Tarent weniger, als in den meisten mittelmässigen Städten zu geschehen pflegt, um andre bekümmerte; in so fern man sie durch keine gesezwidrige That, oder durch einen beleidigenden Contrast mit ihren Sitten ärgerte, konnte jeder leben wie er wollte. (OA 8.1, 422f.)
Das Verhältnis der Tarentiner untereinander wird vorrangig von ökonomischen Interessen bestimmt und ihrem Gemeinwesen fehlt eine nennenswerte gelehrte und künstlerische Öffentlichkeit, da dies die tarentinische Einfalt gefährden, überzivilisierte Bedürfnisse und Hang zum Luxus wecken und mithin die sittliche Ordnung zerstören würde. Der Normenkonsens des utopischen Gemeinwesens beschränkt sich auf eine Leistungsethik, für die ökonomische Produktivität einen moralischen Wert darstellt und die sich abgeneigt gegenüber jeder Form von öffentlicher Prachtentfaltung und Verschwendung zeigt. Zu dieser Reduktion des öffentlichen Lebens auf ökonomischen Austausch gehört auch, dass die Freiheit privater Lebensführung, sofern sie nicht die bürgerliche Freiheit des Nächsten gefährdet, bei den Tarentinern als oberste Maxime gilt und in ihrem Staat jeder so leben kann, wie er will. Das Fehlen eines obligatorischen Wertekon-
keit und nichts als Unschuld und Wohlthätigkeit geschildert zu sehen, könnte zuletzt auch dem wärmsten Liebhaber von Unschuld und Wohlthätigkeit lästig werden; zumahl, da der Abstich der Menschen, mit denen wirs in unserm ganzen Leben zu thun haben, von den Bürgern dieses herrlichen Landes Nirgendswo gar zu auffallend und schreyend ist« (AA I.20, 3). Diese Utopiekritik bleibt indes nicht unwidersprochen: Die Frau des Hauses gibt zu bedenken, dass das Problematische an diesem Textmuster nicht seine Inhalte, nicht die utopischen Normen sind, sondern deren illusionistische Vermittlung: »Vielleicht […] liegt der Fehler bloß daran, daß man uns diese rein unschuldigen und durchaus immer guten Menschen in lauter Verhältnissen und Umständen darstellt, worin sie wie Menschen aus dieser Welt aussehen sollen. Da kommt es uns dann vor, als ob uns der Dichter wirklich täuschen […] möchte« (ebd.).
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senses hat aber auch einen Mangel an sozialem Zusammenhalt zur Folge, denn in Tarent bekümmert man sich weniger um den anderen als anderswo und der Einfluss staatlicher Institutionen auf das Leben des Einzelnen ist auf ein Minimum reduziert. Walter Erhart hat deshalb treffend von der »Ent-Politisierung der tarentinischen Lebensform«47 gesprochen. Im Bann dieser tarentinischen Lebensform zieht sich auch Agathon ganz in den »Cirkel des Privat-Lebens« (OA 8.1, 438) zurück: Unter Anleitung des weisen Archytas erkennt er, dass man genug damit zu tun hat, »an seiner eigenen Besserung und Vervollkommnung zu arbeiten«, und erst indem man »solchergestalt an sich selbst arbeitet, arbeitet [man] würklich für die Welt« (OA 8.1, 438). Agathon lernt »mit kälterm Blute« (OA 8.1, 439) zu philosophieren, beginnt »beynahe alles zweifelhaft« (Ebd.) zu finden und bildet einen »bescheidnen Scepticismus« (Ebd.) aus. Mit seinem Roman führt Wieland indirekt allerdings auch die Instabilität dieses moderaten und moralisch begrenzten Skeptizismus und der gemäßigten Leidenschaften vor Augen, denn der ausbalancierte Affekthaushalt Agathons muss sich in keinem Beruf oder politisch-öffentlichem Amt bewähren. Zudem gelingt ihm die Mäßigung seiner Leidenschaften und die Überwindung seines schwärmerischen Enthusiasmus nur um den Preis des erzwungenen Verzichts auf geschlechtliche Liebe: In Tarent stellt sich heraus, dass seine Jugendliebe Psyche eigentlich seine Schwester ist und auch Agathons Verhältnis zu der ebenfalls in Tarent anwesenden Hetäre Danae bleibt gänzlich ungeklärt und reduziert sich auf einen freundschaftlichen Umgang. Letztlich repräsentiert in Tarent einzig die Figur des Archytas eine Idee von Idealmenschentum: Das tarentinische Volk hat »seine Fehler, wie alle andre«, und sein Nationalcharakter gewinnt nur deshalb »eine gesezte und feste Gestalt«, weil Archytas seine »Temperaments-Fehler […] so klüglich zu behandeln« weiß (OA 8.1, 423). Archytas überzeugt die Tarentiner allerdings nicht mit rationalen Argumenten von seinen politischen Ideen, sondern nur aufgrund des sinnlichen Eindrucks, den er dank seiner äußeren Gestalt und seines Bewunderung hervorrufenden Verhaltens hinterlässt. Zudem bedarf es eines langen Gewöhnungsprozesses, um die Tarentiner umzuerziehen: Archytas hatte sie, in einer Zeit von mehr als dreissig Jahren, in welcher er sieben mal die Stelle des obersten Befehlshabers in der Republik bekleidete, an die weisen Geseze, die er ihnen gegeben hatte, so gut angewöhnt, daß sie mehr durch die Macht der Sitten als durch das Ansehen der Geseze regiert zu werden schienen. (OA 8.1, 422)
Ohne Archytas wäre Tarent ein Staat wie jeder andere und die natürliche Einfalt der Tarentiner würde sich schnell verlieren. Über Archytas selbst erfährt der Leser allerdings nicht mehr, als dass die Mäßigung »von seiner Jugend an ein unterscheidender Zug seines Characters gewesen war«48. Der Roman verschweigt
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Erhart (1991), 177. OA 8.1, 425 (Hervorhebung, M.L.).
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seine Lebens- und Bildungsgeschichte, die ihn zu dem gemacht hat, was er ist, und inszeniert Archytas stattdessen als seltene Laune der Natur, der allein es zukomme, »diese glükliche Temperatur der Elemente, woraus der Mensch zusammengesezt ist, hervorzubringen, welche, unter einem Zusammenfluß eben so glüklicher Umstände, endlich zu dieser vollkommnen Harmonie aller Kräfte und Bewegungen des Menschen, worinn Weisheit und Tugend in Einem Punct zusammenfliessen, erhöht werden kann« (OA 8.1, 426). Archytas’ Weisheit und Tugend verdanken sich also einer besonderen psycho-physischen Disposition, die zwar in der menschlichen Natur angelegt ist, in der Erfahrungswirklichkeit aber nur äußerst selten zustande kommt und sich durch Bildung und Erziehung nicht künstlich herstellen lässt: Archytas hatte niemalen weder eine glühende Einbildungs-Kraft, noch heftige Leidenschaften gehabt; eine gewisse Stärke, welche den Mechanismus seines Kopfs und seines Herzens characterisierte, hatte von seiner Jugend an die Würkung der Gegenstände auf seine Seele gemässiget; die Eindrüke, die er von ihnen bekam, waren deutlich und nett genug, um seinen Verstand mit wahren Bildern zu erfüllen, und die Verwirrung zu verhindern, welche in dem Gehirne derjenigen zu herrschen pflegt, deren allzuschlaffe Fibern nur schwache und matte Eindrüke von den Gegenständen empfangen; aber sie waren nicht so lebhaft und von keiner so starken Erschütterung begleitet, wie bei denjenigen, welche […] den zweydeutigen Vorzug einer zauberischen Einbildungs-Kraft und eines unendlich empfindlichen Herzens durch die Tyrannie der Leidenschaften […] theuer genug bezahlen müssen. Archytas hatte es dem Mangel dieses eben so schimmernden, als wenig beneidenswerthen Vorzugs zu danken, daß er wenig Mühe hatte, Ruhe und Ordnung in seiner innerlichen Verfassung zu erhalten; daß er anstatt von seinen Ideen und Empfindungen beherrscht zu werden, allezeit Meister von ihnen blieb[.] (OA 8.1, 426f.)
Ähnlich wie die engelsgleichen, unschuldigen Individuen in Wielands Gesicht ist Archytas kein empirisches Individuum, das seine Tugend mühsam im Kampf mit seinen Leidenschaften behaupten muss, sondern er gleicht der »Reinigkeit eines Seraphs« (AA I.2, 422). Im Gegensatz zur Utopia-Tradition repräsentiert in Wielands utopischen Entwürfen seit dem Agathon zumeist nur noch ein Individuum – oft ein in die Jahre gekommener Hausvater – ein vom erfahrungsweltlichen Menschen unterschiedenes Tugendexempel. Zudem gründet die Darstellung solcher utopischen Individuen nicht mehr auf der frühaufklärerischen Idee einer moralischen Ordnung, die sich hinter der Empirie verbirgt. Mit Archytas konstruiert Wieland stattdessen ein utopisches Individuum, dessen Vernunftautonomie nicht als ein Bild paradiesischer Integrität veranschaulicht wird, sondern im Einklang mit zeitaktuellem anthropologischem Wissen über den Zusammenhang zwischen sinnlicher Wahrnehmung, menschlichem Affekthaushalt und psychischer Disposition. Archytas ist nicht erbsündelos, sondern seine utopische Anthropologie verdankt sich der angeborenen Gabe, sinnliche Reize willentlich zu filtern und die Erregung der Leidenschaften zu mäßigen, ohne asketischen Reizentzug zu praktizieren. Gerade mit diesem Ideal einer ausbalancierten Mitte zwischen dem Sturm und Drang der ungezügelten Leidenschaften und der Über-
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sensibilität der Empfindsamkeit hat Wieland für den Umgang des Menschen mit seiner Körperlichkeit ein Vorstellungsmuster geprägt, das von der Weimarer Klassik und Frühromantik aufgegriffen und auf der Grundlage der kantischen und nachkantischen Philosophie weitergedacht wurde. Gleichwohl unterscheidet sich das von Archytas repräsentierte regulative Mäßigungsideal nicht unerheblich von den frühromantischen Balance-Vorstellungen: Zwar operieren auch die Frühromantiker mit dem Ideal der gesunden goldenen Mitte, die sie mit der Metapher des ›Schwebens‹ umschreiben, als ›Schweben‹ zwischen dem Gegensatz von Gefühl und Verstand (vgl. Kap. IV.2.2–3). Diese frühromantische Balancevorstellung verdankt sich, im Unterschied zu Wielands Mäßigungsideal, jedoch nicht aufklärerischer Diätik, sondern dem Unendlichkeitsgedanken: Die wahre Mitte konstituiert sich nicht in einem Zustand gemäßigter Lebensführung, wie Archytas ihn repräsentiert, sondern in einem Prozess des unendlichen Wechsels zwischen der sehnsüchtig-begeisterten Hitze des Gefühls und der ent-täuschenden Kühle des Verstandes. Friedrich Schlegel bringt es auf den Punkt: »Die wahre Mitte ist nur die, zu der man immer wieder zurückkehrt von den exzentrischen Bahnen der Begeisterung und der Energie, nicht die, welche man nie verläßt«49. Bei Wieland fehlt dagegen jede Form einer solchen Unendlichkeitsvorstellung. Er behilft sich damit, an Figuren wie Archytas zu zeigen, dass jene ›Ethik der Mitte‹ der eigentlichen Natur des Menschen am meisten entspricht, dass ihre lebenspraktische Umsetzung bei empirischen Individuen hingegen ein stets gefährdetes Unterfangen ist, das eine permanente kritische Selbstbeobachtung verlangt und zumeist an der menschlichen Bequemlichkeit und Selbstgerechtigkeit scheitert. Wielands ›Ethik der Mitte‹, das Ideal gemäßigter Lebensführung und dessen Literarisierung in Gestalt außerempirischer Individuen wie Archytas ist freilich keineswegs voraussetzungslos, sondern gehört schon früh zu den zentralen aufklärerischen Paradigmen: Die Tendenz zur Darstellung tugendhafter Individuen, deren moralisches Handeln sich einem geordneten Affekthaushalt verdankt, findet sich bereits in Schnabels Insel Felsenburg.50 Bei Schnabel dient dies allerdings vorrangig zur Erzeugung einer Wahrscheinlichkeitsillusion. Mit der Erfindung narrativer Elemente wie der gemäßigten Genussmitteleinnahme wird die unüberbrückbare Differenz zwischen der erfahrungsweltlichen conditio humana und dem kontrollierten Affekthaushalt der Felsenburger verwischt. Dem Leser wird suggeriert, dass in der Textwelt zwar keine Tatsachenwahrheit, dennoch aber die
49 50
KFSA VIII, 50. – Vgl. dazu Engel (1994), 489. Die Felsenburger trinken Kaffee, rauchen Pfeife und Albert Julius nimmt sogar Alkohol zu sich. Allerdings sind die Figuren von selbst in der Lage, Maß zu halten. Schnabel stellt also Individuen dar, die dem Idealtypus des gelassenen, vernunftautonomen Menschen entsprechen, wie ihn die Moralischen Wochenschriften propagieren, denn ihnen fällt ein tugendhaftes maßvolles Leben nicht schwer und sie müssen sich nicht zur radikalen Askese zwingen, um ihre Leidenschaften zu kontrollieren (vgl. Stockinger [1981], 423).
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Vernunftwahrheit einer ›möglichen Welt‹ veranschaulicht wird, nämlich keine asketischen Engel, sondern Menschen, die ihre Leidenschaften im Griff haben. Wieland hingegen sorgt dafür, dass der Leser auch den poetischen Konstruktcharakter dieses Mäßigungsideals nie aus den Augen verliert. Neben der ironisierenden Apologie des griechischen Autors wirkt sich auch schon die äußere Beschreibung des Archytas illusionsstörend aus: Agathon ist von der äußeren Gestalt des alten Regenten und von seinem Betragen ganz eingenommen. Um aber dem Leser einen sinnlichen Eindruck von Archytas zu vermitteln, fordert der Erzähler ihn auf, seine eigene Vorstellungskraft zu benutzen und Archytas’ Bild vor seinem inneren Auge zu entwickeln. Der Erzähler animiert den Leser, sich bestimmter Elemente aus der Erfahrungswirklichkeit zu bedienen, um überhaupt zu einem sinnlichen Eindruck zu gelangen, verweist zugleich aber darauf, dass man sich Archytas nur dann vorstellen könne, wenn man über das erfahrungsweltliche Wissen vom Menschen hinausgeht und das Reich der Ideen betritt: Stellet euch einen grossen stattlichen Mann vor, dessen Ansehen beym ersten Blik ankündiget, daß er dazu gemacht ist, andre zu regieren, und dem ihr ungeachtet seiner silbernen Haare noch ganz wol ansehen könnet, daß er vor fünfzig Jahren ein schöner Mann gewesen ist – Ihr erinnert euch ohne Zweifel dergleichen gesehen zu haben; aber das ist es noch nicht – Stellet euch vor, daß dieser Mann in dem ganzen Lauffe seines Lebens ein tugendhafter Mann gewesen ist; daß eine lange Reyhe von Jahren seine Tugend zu Weisheit gereift hat; daß die unbewölkte Heiterkeit seiner Seele, die Ruhe seines Herzens, die allgemeine Güte wovon es beseelt ist, das stille Bewustseyn eines unschuldigen und mit guten Thaten erfüllten Lebens, sich in seinen Augen und in seiner ganzen Gesichts-Bildung mit einer Wahrheit, mit einem Ausdruk von stiller Größe und Würdigkeit abmahlt, dessen Macht man fühlen muß, man wolle oder nicht – das ist, was ihr vielleicht noch nicht gesehen habt – das ist das idealische, das ich meynte; und das war es was Agathon sah[.] (OA 8.1, 425)
Der Aufbau eines sinnlichen Eindrucks von Archytas wird der Vorstellungskraft des Lesers überantwortet. Alles Material, was der Erzähler ihm dafür an die Hand gibt, ist das Silber von Archytas’ gealterter Haarpracht. Zudem stiehlt sich der Erzähler am Schluss der Passage aus der Verantwortung für die Wahrheit des Gesagten und bindet die Informationsvergabe über Archytas an Agathons subjektive Figurenperspektive. Der Roman versucht also zu vermeiden, dass der Leser sich von einer ausschmückenden auktorialen Beschreibung des Idealmenschen Archytas faszinieren lässt und dabei dessen poetischen Konstruktcharakter aus den Augen verliert. Der selbstreflexive Schluss der Agathon-Erstfassung und die Aufspaltung des Erzählers in den griechischen Autor und den fiktiven Herausgeber lässt sich mithin als ambivalente Stellungnahme gegenüber der frühaufklärerischen Funktion von Literatur deuten: Die Poetik der Frühaufklärung versucht, durch wahrscheinlich gestaltete literarische Fiktionen beim Leser die unteren Seelenkräfte als vernünftige Affekte zu stimulieren und damit die Diskrepanz zwischen seiner lebensweltlichen Erfahrung und der rationalistischen Idee einer vernünftig ge-
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ordneten Natur zu überspielen. Für dieses literaturpolitische Ziel vereinnahmt sie die verschiedensten Gattungen, nicht nur Roman und Fabel, sondern auch das frühneuzeitliche Textmuster der literarischen Utopie. Die unverhüllte Offenheit, mit der Wieland den Schluss des Agathon als Konstruktion einer Handlung nach der rationalistischen Theodizee-Lehre bloßstellt, ist die erste weitreichende ästhetische Konsequenz, die seine Abkehr von dieser frühaufklärerischen Poetik nach sich zieht. Wieland stellt damit eine Funktion von literarischen Fiktionen in Frage, die auf gar keine lange Tradition zurückblicken konnte, sondern sich in der Frühaufklärung erst etabliert hatte. Das ironisierte Utopie-Zitat am Schluss des Agathon als »Dekonstruktion des Staatsromans«51 oder als »Zurücknahme der Utopie«52 zu verstehen, erweist sich vor diesem Hintergrund als zu undifferenziert. Bei Wieland wird zwar das von Archytas verkörperte Mäßigungsideal als literarische Illusion bloßgestellt, dessen Normcharakter jedoch nicht als Irrtum entlarvt. Der Roman vermeidet es lediglich, dieses Ideal mit den Mitteln poetischer Wahrscheinlichkeit naiv auf die Erfahrungswirklichkeit zu applizieren. Das Neue an Wielands Umgang mit der literarischen Utopie ist nicht, dass er diese Gattung parodiert, sondern dass er den Leser explizit auf ihren poetischen Bauplan aufmerksam macht. Wielands Lesern wird mit einer bis dahin in der Gattungsgeschichte einmaligen Offenheit gezeigt, dass Archytas sich einer hypothetischen Konstruktion verdankt, nämlich der experimentellen Veränderung der menschlichen Natur. Trotz dieses offen zugestandenen Axiomenwechsels und der damit vollzogenen Illusionsbrechung stellt Wieland mit der Tarent-Episode jedoch keinen instabilen utopischen Entwurf dar, in dem es sich dauerhaft nicht aushalten ließe. Die Konturen dieses Bildes bleiben freilich äußerst vage und beschränken sich auf eine konzise Beschreibung des tarentinischen Nationalcharakters und die abstrakte Beschreibung von Archytas’ körperlicher Disposition. Wieland vermeidet es tunlichst, ungebrochen faszinierende Illusionen zu erzeugen, da diese das Mäßigungsideal nicht als außerempirische Orientierungsnorm zeigen, sondern den Leser im irrtümlichen Glauben an die Wirklichkeit dieser Idee versichern würden. Wielands Beschäftigung mit den Argumenten des westeuropäischen Empirismus lassen ihn zwar an der stabilen Moralfähigkeit des Menschen zweifeln und er erhebt diesen skeptischen Zweifel auch zu seinem zentralen Darstellungsgrundsatz. Dies hindert ihn indes nicht daran, mit Literatur auch eine regulative und außerempirische, moralische Orientierungsnorm zur Wirklichkeitskritik und für eine reflektierte, sich den Rahmen des Möglichen bewusst haltende Verbesserung der Erfahrungswirklichkeit zu formulieren.
51 52
Erhart (1991), VI. Ebd.
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2.2 Kynische Selbstaufklärung und poetische Zauberkraft: Wielands Diogenes a)
Werkstattbesichtigung bei einem Utopisten: Die Republik des Diogenes
Wieland erprobt den Modus eines selbstreflexiven utopischen Erzählens erstmals und noch eher zaghaft mit dem Schluss der Agathon-Erstfassung und entwickelt daraus in den zehn Schlusskapiteln seiner Dialoge des Diogenes von Sinope (1770) eine ausgeklügelte narrative Technik. Für diese zehn Kapitel, die Wieland unter dem Titel Die Republik des Diogenes rubriziert, hat Hans-Joachim Mähl eine wegweisende Deutung entwickelt, die den Zäsurcharakter des Diogenes innerhalb der Gattungsgeschichte literarischer Utopien betont.53 In der Apologie des griechischen Autors hatte Wieland den Leser eigentlich nur auf die poetische Verschleierung hingewiesen, mit der Autoren literarischer Utopien das gattungskonstitutive Verfahren des Axiomenwechsels unter dem illusionierenden Deckmantel poetischer Wahrscheinlichkeit verhüllen. Im Diogenes führt er hingegen haarklein vor, welche Operationen der Hypothesenbildung einer poetischen Darstellung von utopischen Entwürfen vorausgehen. Wieland nimmt den Leser also mit in die Werkstatt des Utopisten: In der Überleitung zu seinem utopischen Entwurf stellt Diogenes sich vor, er sei »ein weiser Zauberer« und könne mithilfe einer »kleinen magischen Ruthe alle seine Ideen realisieren« (OA 9.1, 85). Diese Bewusstmachung des utopischen Axiomenwechsels betrifft nicht nur die Einleitung der Republik des Diogenes, sondern auch die erzählerische Vermittlung nahezu aller textweltlichen Elemente des utopischen Entwurfs. Dies beginnt schon bei Diogenes’ Rekrutierung des Personals, mit dem er seine utopische Republik bevölkert. Er will nur die hunderttausend schönsten Mädchen und Jungen mit auf sein erdachtes Eiland nehmen,54 um einen Gesellschaftszustand herzustellen, bei dem alle Bewohner annähernd denselben körperlichen ›Marktwert‹ besitzen, sozialer Unfrieden aufgrund ungleicher körperlich-natürlicher Anlagen also auf ein Minimum reduziert wird. Das verbleibende Restrisiko sozialen Unfriedens durch sexuell frustrierte Männer schmälert er mit einem gehörigen Frauenüberschuss.55 Zudem hat er die Inselsprache auf 365 Wörter reduziert und die Vokabel ›Eifersucht‹ aus dem Inselwortschatz verbannt.56 Gattungsgeschichtlich einschneidend an diesen Bestimmungen ist weniger ihr konkreter Inhalt, sondern dass Diogenes die Selektionsmechanismen expliziert, denen sich sein utopischer Entwurf verdankt.
53 54 55 56
Mähl (1985a). Vgl. OA 9.1, 86f. Ebd., 94. Ebd., 97.
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Die Selektion bestimmter textweltlicher Komponenten entscheidet sich vor allem an der Frage, wie viel Zivilisation die Inselgesellschaft verträgt, ohne dass die ursprünglich-unverdorbene Natur der Insulaner durch kulturelle Verfeinerung und Luxus zerstört wird. Dass alle Berufszweige, die symptomatisch für ›überfeinerte‹ Gesellschaftszustände sind, von Diogenes’ konstruiertem Idealstaat ausgeschlossen bleiben müssen, versteht sich dabei fast von selbst.57 Der Text reflektiert aber auch, dass ein zivilisatorisches Minimum unverzichtbar ist, wenn man einen funktionierenden Gesellschaftsentwurf konstruieren will. Diogenes stattet seine hypothetischen Insulaner daher mit einem Grundstock von Äxten und Beilen aus und lässt alle zwanzig Jahre ein Schiff mit Werkzeugen an Bord vor der Inselküste stranden. Textweltliche Details wie diese erhellen den von Mähl betonten gattungsgeschichtlichen Zäsurcharakter des Diogenes: Das Motiv des zufällig strandenden Schiffs, das die Insulaner mit benötigten Gebrauchsgegenständen versorgt, spielt schon für die narrative Dynamik in Schnabels Insel Felsenburg eine erhebliche Rolle. Bei Schnabel wird die axiomatische Bedingung der strandenden Schiffe, die den Fortbestand des utopischen Gemeinwesens garantieren, jedoch über die die Romanhandlung strukturierende Theodizee-Lehre poetisch legitimiert. Bei Wieland hingegen ist es Diogenes, die fiktionsinterne Konstruktionsinstanz des utopischen Entwurfs, die offen zugesteht, dass sie diese Bedingung einführen muss, damit das utopische Gemeinwesen dauerhaft bestehen kann. Bei Schnabel sind die zahlreichen Seestürme und gestrandeten Schiffe Teil einer poetisch gestalteten und deistisch abgesicherten möglichen Welt, in der Widerspruchsfreiheit und Vernunftordnung herrschen, in der also vernünftiges Handeln positive, lasterhaftes Handeln dagegen negative Folgen hat und in der sich das Gottvertrauen der guten Felsenburger daher automatisch bewährt. Wielands Diogenes demonstriert hingegen, dass es eben nicht Gott ist, sondern der Autor, der als ›alter Deus‹ über die Vernunftordnung in der kleinen Kunstwelt seines utopischen Entwurfs wacht. Die Republik des Diogenes – und das macht sie zu einem Text der selbstreflexiven Aufklärung – legt die Darstellungszwänge offen, unter denen Autoren literarischer Utopien stehen, wenn ihr Entwurf als Norm zur moralischen Beurteilung und Verbesserung der Lebenspraxis fungieren soll: Um eine solche Textfunktion zu realisieren, darf der utopische Konstrukteur keine alles könnenden Fabelwesen erfinden, sondern muss sich an die anthropologische Disposition der menschlichen Natur halten, muss also das Normative ins Relative projizieren. Mit dem Plausibilitätsverlust, den die leibnizsche Metaphysik im Denken Wielands um 1760 erleidet, geht ihm auch das Instrument der ›möglichen Welten‹ verloren (vgl. Kap. I.2.2.c). Für die poetologische Rechtfertigung literarischer Utopien entsteht damit ein Erklärungsvakuum, das dieses Textmuster als
57
Ebd., 89ff.
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gänzlich unvereinbar mit den Zielen aufklärungsfördernder Literatur erscheinen lässt. Wieland steht mithin vor der Frage, wie eine utopische Norm wahrscheinlich dargestellt werden kann, wenn die erfahrungsweltliche Natur des Menschen als ausschließliches Kriterium von Wahrscheinlichkeit gelten soll. Eine Art säkularisiertes Substitut für den biblischen Paradiesmythos entdeckt er in Rousseaus Naturstandstheorem, mit dem er sich in den 1760er intensiv auseinandersetzt. Von Interesse ist daran für Wieland, dass Rousseaus Depravationstheorie einen harmonischen Naturzustand an den Anfang der Menschheitsentwicklung setzt, der sich als gegenbildliche Norm zur moralischen Beurteilung der Erfahrungswirklichkeit brauchen lässt.58 Mit Rousseaus Unschulds-Hypothese als Begründungstheorem für die außerempirische Tugendhaftigkeit utopischer Individuen steht man allerdings vor einem neuen Darstellungsproblem: Der unschuldige Naturmensch ist nämlich auf Schritt und Tritt depravationsgefährdet, da sich seine Unschuld lediglich seiner Einfalt verdankt. Diogenes klagt: »Ich kann nichts dazu, daß die Natur so viele Öffnungen und Ritzen am Menschen gelassen hat, durch welche sich Irthum und Verderbniß einschleichen kann« (OA 9.1, 94). Sobald die Vernunftentwicklung einsetzt, ist die natürliche Harmonie von Selbstliebe und Mitleid passé und das Gleichgewicht verschiebt sich zugunsten des Egoismus und der Entstehung immer neuer zivilisatorischer Bedürfnisse. Die poetische Darstellung naturständischer Unschuld setzt daher eine Reihe hypothetischer Vorannahmen voraus, die erklären, wie sich in einem zumeist geographisch isolierten Gemeinwesen die natürliche menschliche Einfalt erhalten hat. Ein Autor solcher Naturstands-Utopien kann dem Leser aber auch zeigen, dass die sozialen Strukturen eines utopischen Gemeinwesens sich nicht integral auf die Erfahrungswirklichkeit übertragen lassen, indem er den Naturstand als utopisches Axiom nicht nur stillschweigend voraussetzt, sondern explizit macht. Der von Mähl betonte Zäsurcharakter des Diogenes verdankt sich gerade der hohen illusionsbrechenden Explizität, mit der Diogenes die hypothetischen Bedingungen der dargestellten naturständischen Unschuld benennt und ihre poetische Konstruktion vorführt. Gattungsgeschichtlich am interessantesten ist die Republik des Diogenes dabei gerade dort, wo sie entscheidende Aussagen zum Funktionieren des Gesellschaftsentwurfs mutwillig überspringt oder schlichtweg ausspart: Viele Autoren literarischer Utopien verwenden besonderen darstellerischen Aufwand auf die Beantwortung der Frage, wie die heranwachsenden utopischen Individuen durch die gefährliche Lebensphase der Adoleszenz kommen, ohne dass die erwachende Sexualität ihren harmonischen Affekthaushalt aus der Balance bringt. Gerade im 18. Jahrhundert scheint sich an dieser pädagogischen Frage die innere Stimmigkeit und die poetische Plausibilität utopischer Entwürfe und damit auch ihre Leserakzeptanz zu entscheiden. Diogenes entledigt sich die-
58
Vgl. Baudach (1993), 502ff.
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ses Darstellungsproblems durch einen Schlag mit seiner Zauberrute, denn er lässt seine Inselbewohner einfach »die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens wegschlummern« (OA 9.1, 92). Die Erziehungsfrage bleibt daher völlig offen. An Details wie diesem manifestiert sich Wielands ›launige Schreibart‹, die seine zeitgenössischen Leser eher ratlos stimmte und ihnen einen Eindruck von Standpunktlosigkeit vermittelte:59 Genau besehen, handelt es bei dieser mutwillig inszenierten Leerstelle aber nicht um die Verweigerung eines pädagogischen Credos, sondern hier wird der besondere Charakter von Wielands misstrauischer Aufklärung offenbar. In den 1760er und 70er Jahren versteht Wieland Aufklärung als Einübung in ein ›gesundes‹ Misstrauen gegenüber der Aufklärbarkeit durch andere (vgl. AA I.3, 2). Er stellt den Erfolg von aufklärerischer Pädagogik in Frage und lässt das Erziehungsproblem in Diogenes’ Republik daher offen. Noch deutlicher kommt dieses Strategie mutwilligen Verschweigens bei der Frage nach der utopischen Inselreligion zum Tragen: Im IX. Abschnitt problematisiert Diogenes die stabilisierende Wirkung der Religion auf die Sitten einer Nation und erfindet für seine Inselrepublik einen maßgeschneiderten religiösen Kult, der die Einfalt der Insulaner bewahren hilft. Wieland tradiert damit ein textweltliches Muster der Utopia-Tradition, nämlich die Interdependenz zwischen der Tugendhaftigkeit der utopischen Individuen und ihrem Glauben an mythische, religiöse oder metaphysische Rechtfertigungsinstanzen, die sich der Erfindungsleistung eines utopischen Religionsstifters verdanken. Das tugendhafte Handeln von Diogenes’ hypothetischen Insulanern ist kein freies moralisches Handeln, das ausschließlich von ihrer stabil-autonomen Affektbalance herrührt, sondern wird als Folge eines Priestertrugs markiert. Schon in Denis Veiras’ Sevaramben-Staat besitzt eine vom Staatsoberhaupt Sevaris erfundene Religion einen ähnlich gemeinschaftskonstitutiven Stellenwert. Veiras reflektiert damit in einem sehr frühen Stadium der Aufklärung, dass die Leitprinzipen der frühaufklärerischen Ethik sich nur im Glauben an rational nicht begründbare Letztinstanzen fundieren lassen (vgl. Kap. I.2.2.c). Wieland geht jedoch noch einen Schritt weiter: Diogenes’ Ausführungen zu seiner utopischen Religion brechen nämlich mitten im Satz ab und der fiktive Herausgeber kommentiert diese Manuskriptlücke wie folgt: »Hier ist, zu großem Bedauren des Herausgebers, eine Lücke im Manuscript, deren Ergänzung, wie er gestehen muß, über seine Kräfte geht« (OA 9.1, 103). Der fiktive Herausgeber, der sich in der Vorrede als kirchenkritischer Aufklärer charakterisiert, hat die Handschrift zu Diogenes’ Dialogen in einer deutschen Klosterbibliothek entdeckt und sie aus einem ›schlechten Latein‹ (OA 9.1, 5) ins Deutsche übertragen. Der anonymen lateinischen Übersetzung lag wiederum die arabische Übersetzung eines vermutlich griechischen Originals zugrunde. Der deutsche Übersetzer schließt nicht aus, dass der arabische und der lateinische
59
Vgl. Erhart (1991), 199–206.
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Übersetzer das Werk nach Gutdünken verbessert und Diogenes idealisiert haben oder dass einer der Übersetzer sogar der Autor ist. Schließlich gesteht der deutsche Übersetzer sogar ein, dass er selbst an dem Manuskript interpoliert und versucht habe, Diogenes »nach [s]einem besten Können und Wissen, so deutsch reden zu lassen« (OA 9.1, 10), wie er glaubte, dass man zu Diogenes’ Zeiten gesprochen habe. Die Herausgeberfiktion in Wielands Diogenes ist also so gestaltet, dass offen bleibt, wer für besagte Manuskriptlücke die Verantwortung trägt. Zugleich hat die fingierte Lücke auch einen biographischen Hintergrund, nämlich einen Akt der Selbstzensur des Autors Wieland, wie aus dem Briefwechsel mit seinem Leipziger Verleger Reich hervorgeht: A propos. Es ist in der Republik des Diogenes ein kleines Capitel die Religion betreffl. welche Diogenes seinen Colonisten giebt. Hypothetisch zu reden, ist es vollkommen unanstößig. Ich möchte aber doch gerne, daß sie es vorher Hrn. Zollikofern lesen ließen. Glaubt dieser würdige Mann, daß man sich mit Grunde daran stoßen könnte, so streichen Sie es immer durch; es ist ein Abgang von einem einzigen Blat, und das wird nichts zu bedeuten haben.60
Auf Anraten des Leipziger Pfarrers Georg Joachim Zollikofer kam es wohl zur Streichung der Passage über Diogenes’ erfundene Religion.61 Wieland ließ es sich allerdings nicht nehmen, explizit auf das Fehlen der Passage hinzuweisen: Er hat die Ausführungen zur Religion eben nicht stillschweigend getilgt, sondern ihre Streichung in ein fiktives, textweltliches Element transformiert, indem er mitten im Satz abbricht und eine Manuskriptlücke fingiert. Eine Deutung dieser Passage erschöpft sich daher nicht in dem Hinweis auf Wielands brieflich dokumentierte Selbstzensur, sondern hat zu berücksichtigen, dass die Fiktionalisierung dieser Textstreichung in Gestalt einer fingierten Manuskriptlücke auch eine konzeptionelle Modifikation des Gesamttextes und eine neue Sinndimension impliziert: Da die Manuskriptlücke gerade bei Diogenes’ Ausführungen zum religiösen Kult auftritt, wird der Blick des Lesers auf die religiösen Einrichtungen utopischer Gesellschaftsentwürfe als wesentlicher Bedingung ihrer sinnlichen Überzeugungskraft und inneren Stimmigkeit gelenkt. Wielands Diogenes entsteht in der mittleren Phase der Aufklärung, für die sich – bis zum Wolfenbütteler Fragmentenstreit – Vernunft und Offenbarung noch harmonisch ergänzen. Bei Diogenes sind es aber schon keine vernunftautonomen Individuen mehr, deren moralische Souveränität sich gleichermaßen ihrer aufgeklärten Vernunft und ihrem Glauben an die Offenbarungsreligion verdankt, wie bei Schnabels Felsenburgern, sondern die Religion fungiert hier lediglich als Instrument, um einen vernunftlosen, einfältigen Zustand zu stabilisieren und die Vernunftentwicklung zu unterdrücken. Die Offenbarungsreligion wird 60 61
WBr 4, 54: Wieland an Reich, 26.10.1769. Sowohl die gestrichene Passage zur Religion von Diogenes’ Republikanern als auch die vermutlich negative Beurteilung dieser Passage durch Zollikofer sind leider nicht überliefert (vgl. den Kommentar von Siegfried Scheibe in WBr 6.2, 664).
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bei Diogenes also schon nicht mehr mit der aufklärerischen Idee der Vernunftautonomie zu korrelieren versucht, sondern als ein vor der Vernunftentwicklung liegender Weltaneignungsmodus dargestellt, bei dem man sich um der Affektbalance willen selbst betrügt. Der Diogenes ist aber dennoch kein Zeugnis radikaler Religionskritik, im Gegenteil bedenkt Wieland die gesellschaftsgefährdenden Auswirkungen übertriebener Religionskritik sehr genau. Im Goldnen Spiegel bezieht er zu dieser Frage Stellung: Nichts ist in unsern Tagen überflüßiger als Feldzüge gegen Aberglauben und Tartüfferey. […] Andre, in ihren Folgen ungleich mehr verderbliche Ausschweifungen, Geringschätzung der Religion und Ruchlosigkeit gewinnen unvermerkt immer mehr Grund; die ehrwürdige Grundfeste der Ordnung und der Ruhe der menschlichen Gesellschaft wird untergraben, und unter dem Vorwande, einem Übel, welches größtentheils eingebildet ist, zu steuern, arbeitet der zügellose Witz, in den Mantel der Philosophie eingehüllt, der menschlichen Natur ihre beste Stütze, und der Tugend ihre würksamste Triebfeder zu entziehen. (OA 10.1/1, 123)
Der nur wenige Jahre später entstandene Goldne Spiegel liefert für den Stellenwert der Religion im Diogenes den entscheidenden Verständnisschlüssel: Wieland bemüht hier nicht nur erneut das Muster der mehrfachen Übersetzerfiktion, sondern just bei der Darstellung der scheschianischen Religionsgeschichte fingiert auch der Goldne Spiegel eine Manuskriptlücke.62 In einer rechtfertigenden Ansprache an den Leser erklärt der fiktive deutsche Herausgeber, dass er die scheschianische Religionsgeschichte, die ihm lückenlos vorliege, mutwillig zurückhalte. Er lässt es sich aber dennoch nicht nehmen, zumindest einige Auszüge davon wiederzugeben. Diese Vorsicht hat ihren Grund: Der fiktive Herausgeber will verhindern, dass ihm die Darstellung des scheschianischen Aberglaubens und seiner fundamentalistisch-schwärmerischen Auswüchse als bloße Religionssatire ausgelegt wird. Die Passage aus dem Goldnen Spiegel hilft die scheinbar schwer auf einen Nenner zu bringende literarische Problemhandlung im Diogenes erklären: Die fingierten Manuskriptlücken in beiden Texten sind ästhetische Vorsichtsmaßnahmen, die der Autor Wieland ergreift, und Ausdruck seiner »gemäßigten Religionskritik« 63. Zur Zeit der Niederschrift beider Texte stand Wieland als Professor an der Universität Erfurt in Lohn und Brot beim kurmainzischen Bischof und war trotz aller Freiheiten, die er in diesem Amt genoss, in Religionsangele-
62
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Auch diese fingierte Manuskriptlücke geht ursprünglich auf eine Zensurmaßnahme zurück. Karl August Böttiger berichtet am 8.10.1791 nach einem Gespräch mit Wieland davon: »W[ieland] lebte damals in Erfurt, und mußte auf Befehl des Maynzer Vikariats 6 Bogen jenes Buchs [d.i. der Goldne Spiegel] unterdrücken, wo er für die damalige Zeit zu freimüthig über die Religion sich erklärt hatte. Er warf sie, als weiter nicht brauchbar, ins Feuer, wünschte sie aber jetzt gern aus der Asche wieder herzustellen« (Böttiger [1998], 28). Auerochs (2008), 60.
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genheiten eng an die Vorgaben der bischöflichen Zensur gebunden.64 Damit ist der Sachverhalt aber noch nicht erschöpfend erklärt: Wielands Werk zeigt Religiosität zwar häufig als unvernünftiges Schwärmertum und Priestertrug. Gerade im Schwärmen – und nicht nur im religiösen – artikuliert sich für ihn aber auch ein wahrer Kern der Humanitätsidee.65 Mit der Religion ist aus Wielands Perspektive daher schonend umzugehen, denn der erfahrungsweltliche Mensch kann auf sie nicht gänzlich verzichten, da seine Vernunftentwicklung auf halbem Wege feststeckt: Zwar hat er einerseits schon begonnen, seine Vernunft zu entwickeln und hat sich von der natürlichen Einfalt und der bloßen Instinkthaftigkeit emanzipiert, andererseits kann von einer stabilen Harmonie zwischen Vernunft und Leidenschaften keine Rede sein. Die ›Selbsttäuschung‹ durch die Offenbarungsreligion ist demnach eine notwendige Stufe der Vernunftentwicklung und die Mehrzahl der Menschen verharrt bei Wieland auch in dieser stets gefährdeten mittleren Phase. Gerade das psychische Gleichgewicht der halbaufgeklärten Mehrzahl wird jedoch mit Religionssatiren und der Verbreitung von atheistisch-materialistischen Philosophemen gefährdet und man nimmt den meisten Menschen die Möglichkeit, ihre Vernunftentwicklung voranzutreiben, wenn man sie der Haltlosigkeit eines radikalen Skeptizismus ausliefert. Die narrative Vermittlung der Religion im Diogenes lässt sich aus diesem moderaten Verhältnis zur Offenbarungsreligion erklären. Wieland zeigt, dass Diogenes zur Stabilisierung der utopischen Republikaner auf eine erfundene Offenbarung nicht verzichten kann, dass die religiöse Selbsttäuschung also durchaus tugendkultivierende Qualitäten besitzt. Andererseits hält der Roman mit der fingierten Manuskriptlücke Diogenes’ konkreten Religionsentwurf zurück, um den Leser mit Literatur nicht im schwärmerischen Festhalten an der Offenbarungsreligion zu versichern und um nicht den Anschein zu erwecken, Diogenes’ Priestertrug sei als Satire auf das Christentum gemeint. Die fingierten Manuskriptlücken bringen Wielands neues Aufklärungsverständnis und die Rolle, die das Medium Literatur innerhalb dessen spielt, auf den Punkt: Literatur soll den Leser nicht im Glauben an seine Vernunftautonomie versichern, in dem sie utopische Gemeinschaften tugendhafter Individuen mithilfe erfundener religiöser Kulte überzeugend darstellt, sondern dem Leser ein
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65
Die Manuskriptlücke im Goldnen Spiegel und die überzeichnete Darstellung der Religionsstreitigkeit zwischen den scheschianischen Anhängern des blauen und des feuerfarbenen Affen haben indes auch einen konkreten tagespolitischen Hintergrund, denn in Erfurt tobte während Wielands hiesiger Dozentenjahre ein regelrechter Kulturkampf zwischen der aufklärerisch orientierten innerkatholischen Reformbewegung des sogenannten Febronianismus und den papsttreuen Mönchsorden (Jaumann [1979], 725 u. 874f.). Vgl. Wielands Schrift Gedanken von der Freyheit über Gegenstände des Glaubens zu philosophiren (1788) sowie dazu Auerochs (2008), 61–63.
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Bewusstsein für den Ideenstatus dieser Vorstellungen vermitteln. Wielands Texte halten ihre Leser dazu an, sich im Namen einer außerempirischen Norm kritisch mit der Erfahrungswirklichkeit auseinanderzusetzen, ohne sich dabei im Schwärmen für diese Norm zu verlieren. Dass im Diogenes die konkrete Gestalt der utopischen Religion mittels einer Manuskriptlücke mutwillig unterdrückt wird, offenbart auch die auf den ersten Blick überraschende Nähe von Wielands Ästhetik zur Romantik: Romantische Texte kommunizieren zwar einen Glauben an Ideen wie Gott, Totalität oder Freiheit, also an oberste Evidenzen, die sie das Absolute nennen, sie verweigern sich aber dagegen, das Absolute zu positivieren, sondern entwickeln stattdessen eine Formensprache, die dem ewigen Mangel des Absoluten Ausdruck gibt. Allzu weit ist die fingierte Manuskriptlücke im Diogenes von der frühromantischen Ästhetik also gar nicht entfernt, man könnte hier geradezu von einer proto-romantischen Darstellungstechnik sprechen. Vor dem Hintergrund von Wielands selbstreflexivem literarischen Aufklärungsprogramm ist auch der Schluss des Diogenes zu verstehen: Diogenes hält es für nahezu aussichtslos, dass sich die unschuldige Einfalt seiner Republikaner dauerhaft erhalten könne. Er sieht die einzige Möglichkeit darin, »alle Gelegenheit, ihre Perfectibilität zu entwickeln«, zu unterbinden und »zu ihrem Besten, noch einen Schlag mit [s]einer Zauberruthe zu thun, und die ganze Insel auf immer und ewig – unsichtbar zu machen« (OA 9.1, 105). Der Diogenes schließt daher mit der Warnung an den nachgeborenen Leser: »Alle Mühe, die sich eure Seefahrer jemals um ihre Entdeckung geben möchten, würde verlohren seyn; sie werden sie in Ewigkeit nicht finden!« (OA 9.1, 105). Wielands ambivalentes Verhältnis zur literarischen Utopie tritt am Schluss des Diogenes deutlich zu Tage, insbesondere dann, wenn man bedenkt, welche Alternativen für das Ende zur Verfügung gestanden hätte: Wie im Falle der Tarent-Episode gipfelt auch die Republik des Diogenes nicht in einer Depravationsgeschichte, im Rahmen derer sich die Gegenbildlichkeit der utopischen Gesellschaft auflöst. Im Gegenteil: Diogenes versucht mit aller Macht die Zerstörung der raumsemantischen Zweiteilung zu verhindern, indem er die hypothetische Insel durch einen Schlag mit seiner Zauberrute unsichtbar macht, um sie für alle Zeit vor der depravierten Zivilisation zu schützen und ihren Normcharakter zu erhalten. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass die utopische Norm seiner Republik niemals Realität wird und für immer im Reich der Ideen verborgen bleibt. Dass er mit dem Diogenes mehr im Sinn hatte, als eine schlichte Parodie der Utopia-Tradition oder der Tradition rousseauistischer Naturstandsvorstellungen, geht aus jenen wenigen Angaben zur Bedeutung des Diogenes hervor, die Wieland unmittelbar nach dessen Entstehen macht. Gegenüber Sophie von La Roche beklagt er, wie missverstanden er sich von jenen zeitgenössischen Lesern fühlt, die den Diogenes als Satire der Utopia-Tradition lesen: La plupart des lecteurs sont des têtes – comme des têtes de choux, surtout parmi le peuple savant. Tous ces gens-là admirent la harangue sur l’homme de la lune; – comme une satyre contre les anciens Sophiste, et la république de Diogène comme une belle
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Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
satyre contre les républiques à la Platon. Et ce sont des personages, qui se croyent bien fins avec cette découvert là. 66
Im 4. Buch (hier 11. u. 12. Kapitel) der kurz darauf entstandenen Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens (1770) spricht sich Wieland zudem gegen die Texttradition der ›utopischen Satire‹ aus, insbesondere gegen die Yahoo-Gesellschaft in Gullivers Reisen (OA 9.1, 239–246). Satiren dieser Art, die anstatt utopischer, in Wahrheit dystopische Individuen zeigen, sind für den Erfurter Professor offenbar ein so großes Ärgernis, dass er gegen den ansonsten geschätzten Swift in den Beyträgen eine wütende Feder führt. Gerade durch seine rigorose Ablehnung der Tradition utopischer Satiren, die ausgehend von Rabelais über Joseph Hall im 18. Jahrhundert bei Swift ihren Höhepunkt erreicht, unterscheidet sich Wieland eklatant von der radikalen Utopie-Kritik der Spätaufklärung, deren Vertreter – wie Johann Karl Wezel im Belphegor – die literarische Utopie nur zitieren, um sie zu parodieren, und die sich dabei auch auf das Muster der Swiftschen Satire 67 berufen (vgl. Kap. I.3.2.c).68
b)
Wielands Diogenes als Erbauungsbuch der selbstreflexiven Aufklärung
Nun stellt sich die Frage, ob Wielands Diogenes mit dem utopischen Entwurf nur eine ironisch gebrochene, als Ideal aber dennoch ernst gemeinte Orientierungsnorm zu Papier bringt oder ob der Text auch Wege der Vermittlung zwischen dem Ideal des unverdorbenen Individuums und dem depravierten erfahrungsweltlichen Zivilisationsmenschen aufzeigt. Die spärlich gesäte Forschungsliteratur geht davon aus, dass utopische Entwürfe wie die Tarent-Republik oder die Republik des Diogenes als »Einübung des Lesers in ein Möglichkeitsdenken [fungieren], das als mentales Aufbrechen verfestigter Bewußtseinsstrukturen gedeutet werden könnte und ein neues, variables, skeptisch bewegliches Verhältnis zur gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit freisetzt«69.
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WBr 4, 92: Wieland an Sophie von La Roche, 17.2.1770: Die Mehrheit der Leser hat Verstand – den Verstand von Kohlköpfen, besonders unter dem gelehrten Volk. All diese Leute da bewundern die Rede über den Mann im Mond [siehe 35. Kapitel] – als eine Satire gegen die alten Sophisten, und die Republik des Diogenes als eine gute Satire gegen die Platonischen Republiken. Und das sind die Leute, die sich mit dieser Entdeckung für besonders klug halten. Vgl. Kämmerer (1999), 78–131. Dies bestätigt auch Wielands rigorose Ablehnung von Wezels Belphegor und dessen fundamentalanthropologischer Darstellungsintention: »[E]s ist beynahe kein wahres Wort an ihrer ganzen Menschenfeindlichen Theorie; und sie haben aus der Menschl. Natur und der Geschichte der Menschheit ein so verzogenes, verschobenes affentheurliches und Raupengheurliches Unding gemacht, daß unser Herr Gott gewiß seine Arbeit in Ihren Gemählden nicht erkennen wird« (WBr 5, 529: Wieland an Wezel, 22.7.1776). Mähl (1985a), 70.
2. »Sprung aus dem Fenster« und »magische Ruthe«: Wielands entschleierte Utopien
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Wielands utopischen Entwürfen sei ein besonderer »Ermutigungseffekt«70 eigen, da sie versuchen, den Leser zum »›realistischen‹ Utopisten« zu erziehen, ihn in das utopische Denken einzuüben, zugleich aber »gegen ein naiv-utopisches Wunschdenken« zu wappnen und ihn zur Anwendung der utopischen Methode auf die Erfahrungswelt zu stimulieren, indem er »ihre Strukturen axiomatisch analysiert und die Bedingungen und Anknüpfungspunkte ihrer möglichen Verbesserung zu ermitteln sucht«.71 Zwar handele es sich bei der Republik des Diogenes um ein »reines Gedankenexperiment«72, das aber »Ironie und Ernst auf eigentümliche Art verquickt«73. Zudem demonstriere Wieland mit der Diogenes-Figur sein Lebensführungsideal: Diogenes beweise »in seiner Person die Möglichkeit der Verbindung von Kultur und Natur, von Moralität und Wissen«74 : Er führt »als philosophischer Sonderling ein bedürfnisloses Leben am Rande der Gesellschaft […], d. h. [er ist] aus Weisheit wieder ›einfältig‹ geworden« und kommt »aus dieser Position kritischer Distanz heraus gleichwohl seiner moralischen Verpflichtung der Gesellschaft gegenüber« nach.75 Manchem Interpreten gilt Diogenes gar als Wielands »geheimes, ins Idealische erweitertes Selbstporträt«76. Völlig abwegig ist das nicht, da Wieland und seine Figur die Skepsis gegenüber jeder Form von Dogmatismus teilen. Zudem hat Wieland solchen Annahmen selbst Vorschub geleistet, etwa wenn er Sophie von La Roche schreibt: »Vous voyés, chere Amie, que la philosophie de Diogene est beaucoup plus la mienne«77. Auch gegenüber Gleim merkt er an: »Diogenes und die Beyträge, und Agathon selbst, enthalten meine vollständige Rechtfertigung«78. Dass sich Wieland mit dem ›Kynismus‹ seiner Figur identifiziert, rechtfertigt indes noch nicht jene Rede von einem »Diogenes-Wieland«79. Der amerikanische Germanist W. Daniel Wilson hat sogar auf den fulminanten Unterschied zwischen Wielands Lebensentwurf um 1770 und dem seiner Figur Diogenes aufmerksam gemacht.80 Demnach setzt Wieland intellektuelle Unabhängigkeit nicht wie sein Diogenes mit Bedürfnislosigkeit und dem Verzicht auf ein Einkommen, Wohnqualität und eine Familie gleich, sondern erhofft sich, von seinen literarischen Produktionen auch bequem leben und sich private Annehmlichkeit finanzieren zu können.81 Äußerst fraglich ist daher, ob es sich beim Diogenes um 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81
Jaumann (1979), 872. Baudach (1993), 558. Budde (2000), 154. Ebd., 156. Baudach (1993), 556. Ebd. Martini (1964ff.), 843. WBr 4, 112: Wieland an Sophie von La Roche, 20.3.1770. WBr 4, 191: Wieland an Gleim, 15.8.1770. Martini (1964ff.), 849. Wilson (1984a), insbesondere 155 u. 173. »Ist es zuviel, wenn ich durch meine Muse nur einen kleinen Garten und ein kleines Häuschen darinn, worinn ich im Sommer frische Luft schöpfen und staunen, dichten oder lesen könnte, gewinnen möchte?« (WBr 3, 434: Wieland an Geßner, 6.3.1767).
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Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
das literarische Plädoyer für ein bedürfnisloses Leben bzw. die Literarisierung eines Armutsideals handelt, denn Wieland hat dergleichen Ideale überhaupt nicht vertreten.82 Diogenes, der sich selbst aufgeklärt hat und auch im Stande hochentwickelter Vernunft in einem affektharmonischen Naturstand lebt, der also Natur und Zivilisation, Tugend und Wissen miteinander verbindet, ist für Wieland kein universelles Patentrezept, sondern eine Ausnahme, ein »Sonderling« (OA 9.1, 38). Erkauft wird die Unabhängigkeit seines Urteils mit dem Ausschluss aus den bestehenden sozialen Strukturen: Diogenes lebt als bedürfnisloser Philosoph am Rand der korinthischen Gesellschaft und versteht sich als Weltbürger, »der, ohne mit irgend einer Particulargesellschaft in besonderer Verbindung zu stehen, den Erdboden für sein Vaterland, und alle Geschöpfe seiner Gattung […] als seine Mitbürger oder vielmehr seine Brüder ansieht« (OA 9.1, 63). Nur aufgrund dieser besonderen Stellung an der gesellschaftlichen Peripherie kann er als moralisches Gewissen der Gesellschaft fungieren, denn, so fragt er, »wer sollte sich besser dazu schicken, euch die Wahrheiten zu sagen, deren ihr am meisten vonnöthen habt?« (OA 9.1, 64). Im zentralen 24. Kapitel hat Wieland die Diogenes-Figur als Modellfall von Selbstaufklärung problematisiert: Das Kapitel besteht aus einem Dialog zwischen Diogenes und seinem Freund Xeniades. Gegenstand ihrer Unterhaltung ist Diogenes’ Rolle als Vorbild aufgeklärter Lebensführung. Xeniades hört sich geduldig Diogenes’ kulturkritische Ausführungen an, wirft aber die Frage auf, ob der Mensch überhaupt zur Bedürfnislosigkeit gemacht sei, denn die Natur habe »den Erdboden mit Gegenständen des Vergnügens für uns angefüllt […], ihre Absicht sey nicht bloß daß wir leben, sondern daß wir auf die angenehmste Weise leben sollen« (OA 9.1, 40). Diogenes antwortet darauf mit einem Gleichnis, das von dem Gastmahl erzählt, zu dem die Natur die Menschen geladen hat, bei dem aber ein ›starker Kerl‹ (vgl. OA 9.1, 41) unter den Gästen die Oberhand gewinnt und sich auf Kosten aller bereichert. Würden dagegen alle nach Diogenes’ Grundsätzen leben, dann gäbe es keinen maßlosen Egoismus mehr. Er fügt aber hinzu: [S]ey immer unbesorgt, Xeniades. Ich werde nie so viele Nachfolger bekommen, daß die dermalige Verfassung der Welt darunter Gefahr liefe. Und wenn wir auch den unmöglichen Fall setzen, daß mein Beyspiel Kraft genug hätte, eine ganze Nation zu meinem System zu bekehren, – meynst du, daß es desto schlimmer für sie wäre? 83
Daraufhin will Diogenes den Entwurf einer solchen unmöglichen Republik schildern, er wird aber unterbrochen, da er aus dem Meer die Hilferufe einer Ertrinkenden hört. Dieser abrupte Schluss des 24. Kapitels ist alles andere als
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Dies zeigt schon die Tatsache, dass sich Wieland beim Diogenes bemühte, ein stattliches Verlagshonorar für das Manuskript herauszuschlagen: vgl. WBr 4, 53f.: Wieland an Reich, 26.10.1769. OA 9.1, 41 (Hervorhebung, M.L.).
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funktionslos und das folgende Kapitel, das von Diogenes’ Rettung einer Ertrinkenden erzählt, keine bloß unterhaltende Digression mit humoristischen Elementen, sondern hier lassen sich die subtilen Überredungsmechanismen ablesen, die Wieland in seinen Diogenes hineinkomponiert hat: Das praktische Handeln als Weltbürger steht bei Diogenes an erster Stelle, erst dann kommt seine reflektiert-schwärmerische Hoffnung, mit seinem Beispiel vielleicht doch Schule zu machen, und sein augenzwinkernder Enthusiasmus für die Idee einer Republik von Weltbürgern. So muss Xeniades bis zum Schluss warten, um von Diogenes die Darstellung seiner Republik nachgeliefert zu bekommen, denn Diogenes ist kein in seinen Träumen verlorener Schwärmer, sondern auch dann, wenn die Rede auf seine Ideale kommt, hat er ein offenes Ohr für das, was in der Erfahrungswirklichkeit um ihn herum geschieht und ist immer bereit zu solidarisch eingreifendem Handeln. Im Schlusskapitel liefert Diogenes jenen utopischen Entwurf nach, den er im 24. Kapitel verschieben musste, weil sein Einsatz gefordert war: Die Republik des Diogenes ist daher als Teil der Antwort an Xeniades zu verstehen und als Fortsetzung des Gesprächs der beiden Freunde.84 Das ästhetische Verfahren, die Republik des Diogenes als eine literarische Utopie zu vermitteln, die ihre Utopizität selbst aufdeckt und einem »Kartenspiel mit offenen Karten«85 gleicht, motiviert Wieland also durch die unmittelbare erzähllogische Anbindung des Schlusskapitels an das Gespräch zwischen Diogenes und Xeniades.86 Diogenes setzt mit seinem Republik-Entwurf eben jenen eigentlich ›unmöglichen Fall‹, dass eine ganze Nation seinem Beispiel folgt, und erinnert daher sicherheitshalber immer wieder an den reinen Hypothese-Charakter dieser Setzung. Diogenes’ Konstrukt einer utopischen Republik zeigt, dass auch der kynische Skeptiker sich nur deshalb selbst aufklären konnte, weil ihn die reflektierte Hoffnung trägt, mit seinem Beispiel Schule zu machen, auch seine Mitmenschen zur Mäßigung und Selbstaufklärung zu überreden und den von ihren Leidenschaften verschütteten humanen Kern freizulegen.87 Diogenes aufgeklärter Realitätssinn, der sich aus seiner Skep-
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In der Ausgabe seiner Sämmtlichen Werken, die ab 1794 bei Göschen erscheint und die in Band 13 (1795) die Diogenes-Fassung letzter Hand enthält, hat Wieland diesen Sachverhalt noch einmal explizit betont, indem er der Republik des Diogenes den Untertitel An Xeniades gibt (vgl. AA I.7, 296). Mähl (1985a), 68. Ohne sich darüber klar zu sein, reaktiviert Wieland damit im Diogenes (und später auch im Goldnen Spiegel) ein zentrales Darstellungsprinzip humanistischer Utopien, nämlich die fi ktionale Vermittlung des utopischen Entwurfs als Argument in einem rahmenden Streitdialog: Der Bericht des Hythlodaeus vom Land Utopia reagiert auf ein Problem, das in dem voranstehenden Gespräch mit dem fi ktiven Morus und Peter Ägidius aufgeworfen wird. Ebenso antwortet Diogenes’ utopischer Entwurf auf eine Frage seines Freundes Xeniades und Danischmends Naturkinder-Erzählung auf eine Frage von Schach-Gebal. Die Vorstellung, dass der Mensch nicht zur moralischen Selbstvervollkommnung veranlagt, sondern nur der Spielball des Schicksals sei, exkludiert Diogenes mit Entschiedenheit aus seinem Weltbild: »Diese Vorstellung könnte uns, durch einen einzigen
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sis nährt, geht bei ihm mit dem reflektierten Schwärmen für ein Humanitätsideal und dem Glauben daran Hand in Hand, dass sich die Idee der Selbstvervollkommnung und Selbstaufklärung durchaus in der Natur jedes Menschen verbirgt. Hierin gleicht er in der Tat seinem Autor. Diogenes’ Bedürfnislosigkeit ist aber eine besonders zugespitzte und besonders kontrastive Ausformulierung von Wielands Mäßigungsideal und seiner Idee von Selbstaufklärung. Textfunktion des Diogenes kann es daher wohl kaum sein, die Leser zu einem Leben in Armut zu überreden, sondern ihnen stattdessen mit dem Konstrukt diogenesscher Bedürfnislosigkeit und Unabhängigkeit eine einprägsame Richtschnur an die Hand zu geben, um die selbstaufgeklärte Mäßigung der Leidenschaften im alltäglichen Lebensvollzug nicht aus den Augen zu verlieren. Diogenes betont gegenüber Xeniades, dass er sich von seinem Beispiel keine Welt bedürfnisloser Individuen erhofft, sondern gerade jenen Lesern, die sich besonders tief in ihre Egoismen verstrickt haben, mit seinem Beispiel kontrollierter Leidenschaften ein Linderungsmittel zur Seite stellen will: »[W]ürden nicht eure reichen Wollüstigen selbst für ihr eigenes Interesse besser thun, wenn sie wenigstens in der Mäßigkeit meinem Beyspiele folgten?« (OA 9.1, 39). In seiner Korrespondenz zum Diogenes hat Wieland betont, dass er den antiken Kyniker entgegen seinem lächerlichen Ruf gerade nicht als ›häßliche Carricatur‹88 philosophischer Bedürfnislosigkeit zeigen wolle. Stattdessen bietet er seinen Lesern mit Diogenes ein prägnantes Bild für das humane Gewissen und die menschliche Anlage zum Weltbürgertum an. Bei Wieland geht damit die Überzeugung einher, dass man derartiger sinnlicher Idole bedarf, um den Prozess der Gewissenskultivierung und Selbstaufklärung zu aktivieren. Schließlich kommt selbst Diogenes nicht ohne die leise Hoffnung auf die natürliche Anlage des Menschen zur Selbstvervollkommnung aus, stellt diese Hoffnung aber nur in der ironisch gebrochenen Form einer Republik affektgemäßigter Individuen dar, deren Triebharmonie sich noch keinem vollendeten Selbstaufklärungsprozess verdankt, sondern einem experimentell hergestellten Naturstand. Wie man sich im Kulturzustand, in dem das natürliche Gleichgewicht schon zerstört ist, selbst aufklärt, demonstriert er exemplarisch an seiner eigenen Lebenspraxis, indem man nämlich beginnt, ein hilfsbereites Miteinander zu praktizieren und, seinem Beispiel folgend, zumindest ansatzweise die Maßlosigkeit der eigenen Bedürfnisse einschränkt, anstatt nur über Enthaltsamkeitsideale oder verdorbene Sitten zu philosophieren.
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Schritt vorwärts, auf den Gedanken leiten, daß die Menschen nur dazu gemacht seyen, dem Muthwillen irgend einer mächtigern Art von Geistern zur Kurzweile zu dienen; – aber es ist ein so niederschlagender, gelbsüchtiger, hassenswürdiger Gedanke, daß ich es nicht einen Augenblick ausstehen kann, ihn für möglich zu halten« (OA 9.1, 104). WBr 4, 55: Wieland an Reich, ?.11.1769.
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Im Sinne dieses literarischen Aufrufs zu einer gelebten Praxis der Selbstaufklärung und des Weltbürgertums kulminiert die Republik des Diogenes in einem Rundumschlag gegen die zeitgenössische praktische Philosophie, die keine Orientierung für aufgeklärtes Handeln mehr stiftet: In eurem itzigen Zustande, was thun eure Philosophen, als daß sie euch ohne Aufhören beweisen, daß ihr beynahe über alles unrichtig denkt, beynahe immer unrecht handelt, und daß in eurer ganzen Verfassung, Policey und Lebensart beynahe alles anders seyn sollte, als es ist? – Das heißt den Kranken überzeugen, daß er krank ist. – Ihn gesund zu machen, das wäre der große Punct! – Aber ich wollte wetten, daß es ihnen eben so wenig Ernst ist, euch gesund zu machen, als es euch ist, gesund zu werden. (OA 9.1, 105)
Diogenes rät hier dazu, sich die eigene Krankheit einzugestehen und die eigene Gesundung selbst in die Hand zu nehmen, anstatt als ›philosophischer Arzt‹ die Krankheit der Gesellschaft immer nur zu diagnostizieren. Das bedeutet aber nicht, dass der Diogenes eine weltverändernde Lebenspraxis gegen die passive philosophische Reflexionstätigkeit ausspielt, wie etwa Marx’ 11. Feuerbachthese. Um nicht als Plädoyer für Philosophiefeindschaft und gegen Problemreflexionen missverstanden zu werden, warnt der Text seine Leser auch davor, aus Diogenes’ Lebensphilosophie die falschen Schlüsse zu ziehen: Deshalb fehlt die einzige überlieferte Anekdote zum antiken Diogenes auch bei Wieland nicht, nämlich dessen berühmte Begegnung mit dem jungen Alexander von Makedonien, der ihm die Erfüllung eines Wunsches gewährt, woraufhin der Kyniker lediglich darum bittet, ihm aus der Sonne zu gehen. Wieland erfindet jedoch noch eine zweite, inoffi zielle Begegnung zwischen den beiden ungleichen Zeitgenossen. Alexander besucht Diogenes mitten in der Nacht in dessen Hütte und gesteht dem Kyniker, dass er sich ihm seelenverwandt fühle und die Idee des Weltbürgers mit ihm teile: Kurz, ich sehe den Erdboden für ein Ding an, das aus Einem Stücke gemacht ist, und die Menschen darauf haben alle zusammen nicht mehr als Einen Anführer nöthig, und – ich fühle, daß ich gemacht bin, dieser Anführer zu seyn. (OA 9.1, 82)
Diogenes gibt nun zu bedenken, dass sich so ein Weltreich nur mit Zwangsmaßnahmen und Gewalt realisieren ließe. Alexander stört sich daran jedoch wenig: Köpfe mag es kosten! – Es ist mir leid, – denn ich bin kein Freund von Zerstören und Würgen; – aber daß ich um dieser Köpfe willen meinen Plan fahren lasse, das sollen mich alle Köpfe der Welt nicht überreden. Setz’ ich nicht meinen eigenen aufs Spiel? – Zudem sind die Weiber in Hyrcanien und Bactriane so fruchtbar, daß der Abgang unmerklich seyn wird. (OA 9.1, 83)
Im Gespräch mit Diogenes wird Alexanders vermeintliches Weltbürgertum als unreflektierter Aktivismus entlarvt, der über Leichen geht, und nicht die Gattung Mensch im Blick hat, sondern nur das eigene, schwärmerisch geglaubte Ideal. Gegen diesen falsch verstandenen Kosmopolitismus, der sich nicht selbst reflektiert,
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setzt Diogenes seinen Republik-Entwurf, den er Alexanders Großreichsplänen mit folgender Überleitung unmittelbar gegenüberstellt: 89 Man muß ein Alexander seyn, um den ungeheuren Einfall zu haben, aus allen Völkern des Erdbodens einen einzigen Staat zu machen. So weit erstreckt sich meine Einbildungskraft nicht. (OA 9.1, 85)
Innerhalb der rhetorischen Gestaltung des Gesamttextes fungiert die Republik des Diogenes mithin als Kontrastprogramm zu Alexanders irregeführtem und inhumanem Kosmopolitismus: Diogenes’ utopischer Entwurf und seine illusionsstörende Darstellung zeigen, dass es der Selbstaufklärung zuträglicher ist, wenn man sich seine Ideale und Utopien nur im Kopf ausmalt, ohne verbissen für deren integrale Realisierung zu schwärmen. Stattdessen könne man sich von dem dabei gewonnenen kritischen Blick zum Überdenken der eigenen Lebenspraxis und zu einer im Rahmen des Machbaren liegenden Bedürfnismäßigung motivieren lassen. Erkennbar an der schon im Agathon erprobten Mischung aus Exempel-Geschichten, Gleichnis-Erzählungen, predigthaften Reden und Lehrdialogen90 unternimmt Wielands »Halbroman«91 Diogenes damit den Versuch, denjenigen Lesern eine Art säkulares Erbauungsbuch vorzulegen, die die Idee selbstreflexiver Aufklärung und den Glauben an die regulative Idee der Selbstaufklärung teilen. Ihnen wird Diogenes als besonders markante Orientierungsfigur und Richtschnur an die Hand gegeben. An ihm demonstriert der Text, dass derjenige, der sich selbst aufklären will, dabei nicht ohne den reflektierten Glauben an eine im Menschen angelegte Fähigkeit zur Affektharmonie und an die Idee einer utopischen Gemeinschaft selbstaufgeklärter tugendhafter Individuen auskommt. Selbstaufklärung schlägt eben nur dann nicht in falsche Askese oder übertriebene Bedürfnismäßigung um, wenn man dabei das Postulat einer aufgeklärten Menschheit nicht aus den Augen verliert, den eigenen Selbstaufklärungsversuch also in den Dienst einer Aufklärung aller stellt, über deren Durchsetzungschancen aber dennoch ›realistisch‹ urteilt.
c)
Wielands stilisierter Diogenes und der Kynismus-Begriff der Frühromantiker
Die Wieland-Forschung hat die Kynismus-Rezeption der Frühromantiker bislang fast vollständig ignoriert, obwohl diese unverkennbar durch die von Wieland ge-
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Zum Kosmopolitismus-Gedanken bei Wieland vor der berühmten Schrift Ueber das Geheimniß des Kosmopoliten-Orden, insbesondere zum Diogenes, vgl. A. Heinz (2005). – Zum Verhältnis von Diogenes und Alexander bei Wieland vgl. auch Shea (2010), 85–87. Zur charakteristischen Mischung dieser Strukturelemente im Diogenes vgl. Martini (1964ff.), 852. Albrecht (2004), 105.
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zogene Verbindungslinie zwischen dem antikem Kynismus und der Selbstaufklärungsidee inspiriert wurde. Immerhin war es Wieland, der den Kosmopolitismus-Gedanken in die deutsche Literatur eingeführt hat und mit der hohen Auflagenzahl und den vielen Übersetzungen des Diogenes maßgeblich zu dessen Verbreitung im späten 18. Jahrhundert beitrug. Zudem hat der Diogenes eine bestimmte Vorstellung von Kynismus geprägt, auf die zum Teil noch die Frühromantiker zurückgreifen. Wieland blendet nämlich zentrale Aspekte des tradierten Diogenes-Bildes mutwillig aus, um die Idee des ›wahren Cynikers‹ als einen Modus gelungener Selbstaufklärung darstellen zu können. Retuschiert hat er vor allem den Aspekt der Verachtung, der dem antiken Kynismus inhärent war: In der Vorrede zum Diogenes verteidigt der fiktive Herausgeber den »ächten Cynismus« (OA 9.1, 7) gegen seine zahlreichen Kritiker und nimmt den Diogenes als »wahren Cyniker« (Ebd., 8) in Schutz, der sich durch »Liebe zur Unabhänglichkeit«, »Freymüthigkeit und Stärke der Seele«, »Güte des Herzens« und die »Gesinnung eines Menschenfreunds und Weltbürgers« (Ebd.) auszeichne.92 Von diesem eigentlichen Kern des Kynismus entfernt man sich dagegen himmelweit, wenn man Selbstaufklärung und Bedürfnismäßigung nur als Selbstzweck betreibt, um sein gesellschaftliches Ansehen aufzuwerten, wie im Falle der vielen negativ, d. h. hypokritisch gezeichneten Eremiten und Fakire in Wielands Werk93, oder wenn man wie Alexander einem Begriff von Kosmopolitismus anhängt, der eigentlich gar keiner ist, weil er das einzelne Menschenleben verachtet. Die ambivalente Bewertung des ›Cynismus‹ im Werk Wielands kommt dadurch zustande, dass er sich für die positive wie negative Darstellung dieser
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Auch der kurze Zusatz, den Wieland der leicht überarbeiteten Ausgabe von 1795 beigibt, unterstreicht seine Stilisierungsstrategie. Darin rechtfertigt er den gegenüber der Erstausgabe (Σωχράτηϛ μαινόμενοϛ oder die Dialogen des Diogenes von Sinope) veränderten neuen Titel Nachlaß des Diogenes von Sinope: »Der ehemalige Griechische Titel […] ist aus dem zweyfachen Grunde weggeblieben, erstlich weil er Griechisch ist, und dann weil dieser halb ehrenvolle halb spöttische Spitznahme […] auf den Diogenes, der sich in diesen Blättern darstellt, ganz und gar nicht zu passen scheint. Dieser ist zwar ein Sonderling, aber ein so gutherziger, frohsinniger und (mit Erlaubniß zu sagen) so vernünftiger Sonderling als es jemahls einen gegeben haben mag« (AA I.7, 226). Ein Gegenbild zu Diogenes’ lebenspraktisch orientiertem ›ächten Cynismus‹ repräsentiert der Kalender in Wielands Geschichte des Philosophen Danischmende. Auch er versteht sich als »Cyniker« (OA 12.1, 57), bei seinem ›Cynismus‹ besitzt der Aspekt der Weltverachtung allerdings den zentralen Stellenwert, denn er geriert sich als »gleichgültige[r] Zuschauer des menschlichen Lebens« (Ebd., 60). – Auch am Schluss seiner umstrittenen Abhandlung Über das göttliche Recht der Obrigkeit (1777) gebraucht Wieland den Kynismus-Begriff negativ: »Der Cynismus, der je länger je mehr Mode zu werden scheint, und unter Dessen mancherley komischen Symptomen auch dies ist, daß wir so stolze Blicke aus unsern Tonnen hervor auf die Könige werfen – wird wie alle unsre Mode vorübergehen« (OA 13.1, 567). Der Kyniker firmiert hier als zynischer Verächter, der an der sozialen Peripherie lebt und die Gesellschaft skeptisch beäugt, seine kritische Tonne aber nicht verlässt, um das, was er bei anderen einklagt, in der eigenen Lebenspraxis unter Beweis zu stellen.
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Denkhaltung auf jeweils zwei unterschiedliche Diogenes-Bilder berufen kann.94 Der fiktive Herausgeber des Diogenes rekonstruiert in seinem Vorbericht beide Traditionsstränge (OA 9.1, 6–8): Das wohl populärste Diogenes-Bild geht auf Diogenes Laertius zurück, den spätantiken Philosophiehistoriker, der bei seinem Namensvetter Diogenes von Sinope vor allem den Charakterzug der Weltverachtung akzentuiert hatte: »Besonders stark war er darin, anderen seine Verachtung kundzugeben«95. Als zweite Quelle für das negative Diogenes-Bild nennt der Herausgeber den griechischen Grammatiker Athenaios. Dem »uncritischen Compilator der Biographie der Philosophen, und dem waschhaften Grammaticus« (OA 9.1, 7) sei allerdings wenig zu trauen. Ihr Diogenes-Bild sei »von demjenigen, [das] wir aus diesen Dialogen von ihm bekommen, nicht weniger verschieden, als […] ein launischer, aber feiner und wohlgesitteter Spötter der menschlichen Thorheiten, von einem schmutzigen und ungeschliffenen Misanthropen« (OA 9.1, 6f.). Der Herausgeber findet in den antiken Quellen allerdings auch Anhaltspunkte für ein positives Diogenes- und Kynismus-Bild, vor allem bei Epiktet, in dessen Diatriben vom »ächten Cynismus« (OA 9.1, 7) und von Diogenes als dem »wahren Cyniker« (Ebd., 8) die Rede ist.96 Wieland beruft sich für seinen stilisierten Diogenes und das Paradigma des ›ächten Cynismus‹ vor allem auf »Epiktets moralische[n] Kynismus«97, für den das Hauptaugenmerk der kynischen Lehre nicht auf der Kulturverachtung liegt, sondern bei dem Kynismus ein humanes Antlitz gewinnt und die kosmopolitische ›Liebe zur Unabhängigkeit‹ betont wird. Epiktets stoisches Bild vom ›wahren Kyniker‹ zeichnet sich zudem durch eine charakteristische »Frömmigkeit«98 aus, die den Einzelnen in allgemeine Zusammenhänge stellt: Der ›wahre Kyniker‹ erforscht – »gleichsam stellvertretend für die übrigen Menschen – das Wesen der Moral«99 in praxi und versucht, sich einerseits von Fremdbestimmung zu befreien, die so gewonnene Freiheit aber andererseits nicht als individuelle Freiheit zu verstehen, für deren Zwecke alles andere, einschließlich der Mitmenschen, nur Mittel ist. Die Freiheit des Individuums soll stattdessen an die Idee eines allgemeinmenschlichen Zwecks, wie den der Humanität, gebunden werden.100 Epiktets stilisierter, stoizistisch überformter Kynismus steht zwar in Widerspruch zu vielen der überlieferten Diogenes-Anekdoten, Wieland greift jedoch bewusst darauf zurück, weil sich mit diesem geschönten Bild von Diogenes als ›wahrem Kyniker‹ seine Idee einer selbstaufgeklärten, gemäßigten Lebenspraxis
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Vgl. Niehues-Pröbsting (1987), 85–91 u. Niehues-Pröbsting (1992). Diogenes Laertius (³1990), Bd. 1, 306 (= VI 24). Epiktet spricht in einer seiner Diatriben (III 22) wortwörtlich vom »wahre[n] Kyniker« (Epiktet [1984], 91) und erklärt dort auch das Wesen des echten Kynismus, dessen paradigmatischer Repräsentant Diogenes sei (III 24 = Epiktet [1984], 109–117). Niehues-Pröbsting (1988), 229. Ebd., 231–235. Ebd., 236. Zu Epiktets Diogenes-Bild vgl. ebd. 229–239.
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literarisch problematisieren lässt.101 Wieland hat verschiedentlich selbst Stellung zu seiner poetischen Diogenes-Stilisierung genommen, am prägnantesten mit einer Äußerung, die er am 26.2.1797 gegenüber Karl August Böttiger getätigt haben soll: »Ich habe darinnen den Diognes auf meine eigene Weise idealisirt. Denn vom alten Diogenes ist nur der Hang zur Unabhängigkeit darinnen geblieben«102. Ein Jahr nach dieser Äußerung taucht just dieser idealisierte Kynismus-Begriff, der den Aspekt der Gleichgültigkeit und Verachtung ausblendet und den der Unabhängigkeit besonders akzentuiert, in den Fragmentsammlungen der jungen frühromantischen Intellektuellengeneration wieder auf. In das frühromantische ›System‹ eingeführt wurde der Begriff des ›Cynikers‹ durch Friedrich Schlegel und Friedrich Schleiermacher. Insbesondere die Bedeutungsdimension, die Schleiermacher ihm verliehen hat, gründet, wie schon bei Wieland, auf Epiktets moralischem Kynismus. Für Schlegel und Schleiermacher hat der Kynismus primär keine negativen Implikationen, sondern beschränkt sich auf den Bedeutungsaspekt der Unabhängigkeit, auf die Idee des autarken frühromantischen Intellektuellen, wie ihn das 35. Athenäums-Fragment skizziert: »Der Cyniker dürfte eigentlich gar keine Sachen haben: denn alle Sachen die ein Mensch hat, haben ihn doch in gewissen Sinne wieder.«103 Es war aber vor allem Schleiermacher, der das Bild des Kynikers zur Grundlage einer frühromantischen Verhaltenslehre machte. Unter den eben zitierten Satz Friedrich Schlegels setzt er das mit reichlich paulinischer Theologie (vgl. 1 Kor 7,29ff.) unterfütterte Postulat: »Es kömmt also nur darauf an, die Sachen so zu haben, als ob man sie nicht hätte. Noch künstlicher und noch cynischer ists aber, die Sachen so nicht zu haben, als ob man sie hätte.«104 – Wie Wieland geht es Schleiermacher hier nicht um den Aufruf zu einem Leben in bitterer Armut. Vielmehr transformiert er das idealisierte Bild des kynischen Skeptikers, der seinen Mitmenschen als Muster selbstaufgeklärter Mäßigung erscheint, anstatt sie zu belehren, in eine ›Glaubenskonstruktion‹ (vgl. Kap. IV.2.2). Schleiermacher rät dazu, die Dinge experimentell in ein romantisches Licht zu rücken, anstatt sie nur nach Besitzqualitäten zu beurteilen. Er plädiert dafür, versuchsweise so zu tun, als hätte man die eigenen Bedürfnisse im Griff, ohne dass man dafür gleich in eine Tonne umziehen muss. Das Beispiel des überwundenen Egoismus, das man dabei abgibt, habe eine viel größere Signalwirkung, als jede aufklärerische Sittenlehre und ihre ›moralische Keule‹. Im 329. Athenäums-Fragment schreibt er: »Es ist kindisch, den Leuten das einreden zu wollen, wofür sie keinen Sinn haben. Thut als ob sie nicht da wären, und macht ihnen vor, was sie sehen lernen sollen. Dieß ist zugleich höchst weltbürgerlich und höchst sittlich; sehr höflich und sehr cynisch«105. Wie bei Wie-
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Zu Wielands stoisch überformtem Diogenes-Bild vgl. auch Shea (2010), 83–85. Böttiger (1998), 218. Athenaeum (1798), 1. Bd., 2. St., 187. Ebd., 187f. Ebd., 269.
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land steht auch bei Schleiermachers Kynismus nicht die Verachtung materieller Güter im Vordergrund, sondern die mentale Unabhängigkeit von ihnen, die regulative Idee willentlich gesteuerter Bedürfnisse und das dadurch frei gewordene Vermögen zur Nächstenliebe und zum Weltbürgertum. Die von Schleiermacher geprägte frühromantische Vorstellung einer kynischen Lebenspraxis hat Friedrich von Hardenberg in seiner Fragmentsammlung Glauben und Liebe wieder aufgegriffen. Er entwickelt daraus das stark an die Formulierungen in Wielands Diogenes-Vorrede und an Epiktet erinnernde Bild des ›ächten Cynikers‹, der eine schmale Zone der kontrollierten Affektharmonie repräsentiert, indem er von außen kommenden Bedürfnisreizen mäßigend entgegenwirkt und hilfsbereit mit seinen Mitmenschen umgeht. Er handelt nach der von Schleiermacher vorgeschlagenen Methode des Als-ob, lebt also weiterhin eingebunden in die bestehenden sozialen Systeme, im Geist aber als Kyniker (vgl. Kap. IV.3.3.d.). Selbstaufklärung wird bei Wieland wie bei den Frühromantikern als idealer harmonischer Zustand verstanden, der sich der intellektuellen Unabhängigkeit von der Inklusion in einzelne soziale Systeme verdankt und ein von Partialinteressen freies Urteil sowie eine weltbürgerliche Beziehung zum Nächsten ermöglicht. Sie verdankt sich dem Vermögen, die Reizbarkeit durch die eigenen körperlichen Bedürfnisse in einer ›gesunden‹ Mittellage einzupendeln und das Feuer der Leidenschaften nie so heiß brennen zu lassen, dass der kühlende Verstand dabei gänzlich zerschmilzt. Autoren wie Wieland und Hardenberg formulieren diese Idee von Selbstaufklärung just mithilfe angedeuteter und in ihrer Realisierungsintention mutwillig gebrochener utopischer Entwürfe. Sie geben damit zu verstehen, dass Selbstaufklärung kein Selbstzweck ist. Man soll den Versuch der Selbstaufklärung überhaupt nur im Interesse aller wagen, d. h. getragen von der reflektierten Hoffnung, andere mit dem eigenen Beispiel zur Egoismusmäßigung und zum weltbürgerlichen Denken zu motivieren, und orientiert an der regulativen Idee einer utopischen Gemeinschaft tugendhafter, aufgeklärter Individuen. Hardenberg nennt dies die unendliche ›cosmopolitische Aufgabe‹ (HKA III, 416:762). Ein ›wahrer Cyniker‹ wie Wielands Diogenes und Hardenbergs ›ächter Cyniker‹ glauben heimlich und hypothetisch oder mit romantischer Ironie doch noch an die beste aller möglichen Welten und schwärmen für ›utopische‹ Ideale. Sie tun dies allerdings in dem Wissen, dass alle Erfahrung und die zeitgenössische Anthropologie eigentlich dagegen sprechen, dennoch aber mit der leisen Hoffnung, dass es Früchte trägt, wenn man zumindest bei der Veränderung des eigenen Verhaltens und der Verbesserung der eigenen Lebenspraxis anfängt. Allerdings bestehen auch gravierende Unterschiede zwischen Wielands Kynismus-Konzept und dem der Frühromantiker: Wielands Diogenes umkreist zwar das Problem der Vermittlung zwischen Tugendideal und Erfahrungswirklichkeit, eine Verbindungslinie zwischen beiden kann er aber nicht aufzeigen. Verglichen mit den literarischen Utopien der Frühaufklärung artikuliert Wieland im Diogenes mit den zahlreichen Ironisierungs- und Relativierungstechniken ein deutlich
3. Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im ›Goldnen Spiegel‹
131
gestiegenes Problembewusstsein für diese Fragestellung. Der am Rande der kulturständischen Zivilisation lebende Kyniker Diogenes und die von ihm erdachte utopische Republik bleiben jedoch in sich abgeschlossene außerempirische Tugendideale, die kein praktikables Modell für das Handeln in der Erfahrungswirklichkeit abgeben. Sie sollen aber zumindest dazu anregen, die eigene Selbstzufriedenheit zu hinterfragen bzw. die erfahrungsweltliche Natur des Menschen und die soziale, politische und ökonomische Wirklichkeit nicht als unveränderbare Tatsache hinzunehmen. Etwas anders liegt die Sache bei Hardenberg: Er fasst Selbstaufklärung nicht als einen Idealzustand auf, der sich an stilisierten außerempirischen Figuren wie Archytas oder Diogenes vor Augen führen lässt, sondern als unendliche Aufgabe. Aus romantischer Sicht heißt Selbstaufklärung zu erkennen, dass man sich nicht vollständig aufklären kann und sich im unendlichen Selbstaufklärungsversuch erst wirklich aufklärt. Genau genommen, denkt indes auch Wieland Selbstaufklärung als unabschließbaren Prozess, bei dem man sich immer wieder skeptisch hinterfragt. Zur darstellerischen Umsetzung dieses Gedankens steht ihm jedoch noch nicht die Vorstellung unendlicher Annäherung zur Verfügung, die die Frühromantiker der kantischen und nachkantischen Philosophie verdanken. Wieland kompensiert dies vor allem durch seinen ›launigen‹ Stil (vgl. Anm. 59), der den meisten Zeitgenossen lediglich als Ausdruck von Standpunktlosigkeit galt, da seine Texte zwar Tugendideale literarisieren, deren Praktikabilität aber immer wieder ironisch relativieren. Tatsächlich handelt es sich bei Wielands Verfahren einer ›launigen‹ Textkomposition aber um den proto-romantischen Versuch, Selbstaufklärung als unabschließbare Aufgabe zu demonstrieren. Daher werden in seinen Texten alle Verstehensbemühungen des Lesers von zahllosen relativierenden Elementen immer wieder konterkariert, zugleich aber auch neu stimuliert.
3.
Die Utopie als Dialogreplik: Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im Goldnen Spiegel106
In keinem seiner Texte hat Wieland die ›launige‹ Schreibart so massiv eingesetzt wie in seinem Danischmend-Projekt, zu dem der Goldne Spiegel und der Danischmend-Roman zählen: Wer den Goldnen Spiegel liest und dabei in den
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Ich zitiere den Goldnen Spiegel nach dem Text der Erstausgabe von 1772 (abgedruckt im Bd. 10.1/1 der Oßmannstedter Ausgabe=OA), da sich die unmittelbare zeitgenössische Rezeption auf diese Fassung des Textes bezieht. Für die Ausgabe seiner Sämmtlichen Werke im Göschen-Verlag hat Wieland den Goldnen Spiegel 1794 mit erheblichen Ergänzungen versehen, ihn vor allem um ein längeres Schlusskapitel erweitert. Diese Zusätze zitiere ich nach der 1979 von Herbert Jaumann besorgten Ausgabe, die den Text von 1794 zur Grundlage hat. Ich verwende dafür die Sigle GS 1794.
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Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
verwirrenden Strudel sich gegenseitig ironisierender Dialog-, Kommentar- und Übersetzerinstanzen hineingerissen wird, hat wohl nicht zu Unrecht das Gefühl, es mit einem uninterpretierbaren Text zu tun zu haben, denn auf scheinbar überhaupt keines der narrativen Organisationszentren dieses Romans ist Verlass. Von der Forschung nur selten beachtet, hat Wieland mit diesem Formprinzip in der Fortsetzung des Goldnen Spiegels, in der Geschichte des Philosophen Danischmende, noch einmal bis zur Schmerzgrenze experimentiert. Hier türmen sich bis zu vier Fußnotenkommentare übereinander, in denen sich historische oder erfundene Personen zu Wort melden und nicht nur den erzählten Text, sondern vor allem sich gegenseitig in Frage stellen. Dieser Eindruck der Uninterpretierbarkeit und das schier unlösbare Problem, zwischen all den widersprüchlichen Textsignalen einen Sinn zu entdecken, hat dem Goldnen Spiegel in der Germanistik vielfaches Desinteresse beschert, was nicht selten durch die Unterstellung von ästhetischer Minderwertigkeit legitimiert wurde. Insbesondere Friedrich Sengles Negativ-Urteil fungiert dabei häufig als Stichwortgeber: »Der ›Goldene Spiegel‹ ist […] ein vollkommen unverbindliches Salongespräch über religiöse und politische Fragen, und wo etwa bestimmte Lösungen vorgeschlagen werden, sind sie von einer grotesken Kompromißhaftigkeit, ein genaues Abbild von Josephs II. Regierung«107. Bei Sengle klingt noch ein zweites verbreitetes Urteil an, nämlich dass der Erfurter Philosophieprofessor den Goldnen Spiegel vornehmlich deshalb geschrieben habe, weil er sich davon einen Karriereschub und eine Anstellung als Erzieher am Wiener Kaiserhof versprach.108 Ganz auszuschließen ist das nicht, da schon der Diogenes im kaiserlichen Wien auf begeisterte Leser gestoßen war und daher auch im Falle des Goldnen Spiegels mit einiger Resonanz gerechnet werden konnte.109 Den zweifelhaften »Ruf eines Fürstenschmeichlers«110, der sich des Goldnen Spiegels »zur Gewinnung der Mächtigen bediente«111, dürfte sich Wieland aber unter Germanisten zu Unrecht erworben haben: Bei diesem Verdikt bleibt gänzlich außer Acht, dass Wieland schon gegenüber seinem Verleger Reich ein »Verbot in Österreich«112 einkalkuliert hatte und vorerst auf eine anonyme Veröffentlichung drängte. Gewisse Karriereabsichten schließt freilich auch die anonyme Publikation nicht aus, zumal daraus eher spielerische Halbherzigkeit als ernstgemeinte Vorsichtsmaßnahme spricht, denn Wieland rechnete unbescheiden mit einer raschen Auf-
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Sengle (1949), 260. Vgl. ebd. Von der positiven Aufnahme des Diogenes in Wien erfährt Wieland über seinen Verleger Reich (vgl. WBr 4, 96: Reich an Wieland, 24.2.1770). – Gerühmt wird der Diogenes auch von der Wiener Diplomatengattin von Wartensleben (vgl. WBr 4, 99: Gräfin von Wartensleben an Wieland, Anfang März 1770). Wilson (1984b), 479. Sengle (1949), 263. WBr 4, 271: Wieland an Reich, 9.3.1771.
3. Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im ›Goldnen Spiegel‹
133
deckung seiner Autorschaft.113 Schon der anonymisierten Verfasserschaft wegen lässt sich dieser Text jedoch keineswegs auf ein kompromisslerisches ›Empfehlungsschreiben‹ an den Wiener Kaiserhof reduzieren.114 Wie schon im Falle des Diogenes, steht beim Goldnen Spiegel zudem das geringe Forschungsinteresse in krassem Gegensatz zu Wielands euphorischer Hochschätzung dieser Texte (vgl. Anm. 17). Noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Niederschrift stehend, teilt er dem Verleger Reich mit, sein Werk sei »das Beste was [er] noch in Prosa geschrieben habe. Es ist wichtiger als Agathon und wenigstens eben so interessant«115. Dieses Urteil dürfte bei heutigen Lesern, die den stark narrativ gestalteten Agathon und den von Dialog- und trockenen Traktatstrukturen dominierten Goldnen Spiegel vergleichen, nur verwundertes Kopfschütteln hervorrufen. Man kann dieses Werben für die eigenen Texte wohl zum Teil auf Wielands Hang zur Selbstvermarktung zurückführen, gewinnbringender ist es aber, Wielands irritierende ästhetische Hierarchisierung seiner literarischen Produktionen zum Anlass für die Frage zu nehmen, welche Probleme es denn waren, die ihn so umtrieben, dass ihm deren Reflexion in Formexperimenten mit der literarischen Utopie wie im Diogenes und im Goldnen Spiegel als besonders gelungen galt.
3.1
Die epische Struktur des Goldnen Spiegels: Fokalisierung, Fiktionsironie und narrative Ebenen
Mit einer Beschreibung der Gesamtstruktur von Wielands Goldnem Spiegel kann man kein philologisches Neuland mehr betreten, denn die meisten Forschungsbeiträge zu diesem Text versuchen vor einer Deutung zunächst einmal, dessen komplexer Vielschichtigkeit mit einer narratologischen Analyse seiner Erzählelemente Herr zu werden.116 Mit eigenen Akzentsetzungen bietet sich ein solches
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»Bey allem dem wünschte ich daß der Nahme des Verfassers, wenigstens eine Zeitlang ein Geheimnis bliebe; errathen wird man ihn, und errathen mag man ihn; nur möchte ich daß es nicht geradezu gesagt oder eingestanden würde« (WBr 4, 271: Wieland an Reich, 9.3.1771). – Aus einem Brief Wielands an den Wiener Staatsrat von Gebler geht hervor, dass die Tifan-Figur zwar als panegyrisch-stilisiertes Bild Josephs II. intendiert war, Wieland verwehrt sich jedoch gegen den Vorwurf des berechnenden Karrierismus: vgl. WBr 4, 510: Wieland an Staatsrat von Gebler, 19.5.1772. Auf breiter Quellenbasis setzt sich Wilson (1984b) kritisch mit dem alten Vorwurf auseinander, der Goldne Spiegel sei Wielands karrieristische Selbstempfehlung an den Wiener Kaiserhof. Wilson hält dagegen, dass Wieland »während der Erfurter Jahre ein neues Ideal des Mäzenats ausarbeitete, in welchem der Intellektuelle zum Wohl des Staates beiträgt und gleichzeitig seine kritische Unabhängigkeit bewahrt« (Ebd., 479). WBr 4, 271: Wieland an Reich, 9.3.1771. Allerdings finden sich auch in der jüngeren Forschung noch immer Interpreten, die den verschachtelten narrativen Ebenen des Goldnen Spiegels nahezu keine Beachtung schenken: Vgl. Walter (1999), 123–153 und Scattola (2001). Zwar ist es vor allem das Verdienst von Merio Scattola, auf die naturrechtlichen Schemata bei der Gliederung des narrativen Materials in der Scheschian-Geschichte aufmerksam gemacht zu
134
Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
Vorgehen auch für diese Arbeit an, um vor der anschließenden Deutung die Struktur der verschachtelten Erzähl-, Übersetzer- und Kommentarebenen sowie die Vielzahl von Figuren in Erinnerung zu rufen, zu ordnen und erste Überlegungen zu ihrer Bedeutung anzustellen. Den Rahmen des Textes bilden die Verhältnisse am Hof des indischen Sultans Schach-Gebal, der dem Leser als Nachfahre des berühmten Schach-Riar vorgestellt wird, also jenes asiatischen Herrschers, den Scheherazade in der Märchensammlung Tausendundeine Nacht mit ihren Geschichten vom Einschlafen abzuhalten versucht. Diese dynastische Verbindung Schach-Gebals mit den Hauptfiguren einer Märchensammlung bildet nur den Anfang einer langen Litanei von Erzählelementen, mit denen der Goldne Spiegel dem Leser seinen Fiktionscharakter immer wieder vor Augen führt. Schach-Gebal wird als durchaus gutherziger Herrscher charakterisiert, der sich in bescheidenem Maße auch für moralische Ideen begeistern kann. Allerdings mangelt es ihm eklatant an Konsequenz im Handeln, denn er neigt dazu, sich von spontanen Launen leiten zu lassen. Gebal selbst deutet dieses Verhalten indes ausnahmslos positiv: »Nach Grundsätzen zu denken, oder nach einem Plan zu handeln, war in seinen Augen Pedanterey und Mangel an Genie« (OA 10.1/1, 15). Erkennbar skizziert Wieland in Schach-Gebal sein Bild des »durchschnittlichen Kulturmenschen«117, der durchaus zur Gewissenskultivierung fähig wäre, den seine Trägheit und Selbstverblendung aber immer wieder davon abhalten. Da die Eigenheiten von Gebals Charakter sich auch auf seine Regierungspraxis auswirken und er einen starken Hang zu höfischer Prachtentfaltung an den Tag legt, gerät sein Staatshaushalt in eine Schieflage, über die er sich mit einem verwegenen Finanzsystem hinwegtäuscht. Zeichen des in Gebal verborgen wirksamen Gewissens ist es aber, dass er beginnt sich über den schlechten Zustand seines Reiches und die allenfalls mäßige Glückseligkeit seiner Untertanen zu sorgen und darüber keinen Schlaf mehr findet. Die königliche Schlaflosigkeit, die alles weitere im Goldnen Spiegel motiviert, ist also Ausdruck des in Schach-Gebal rumorenden, aber unkultivierten Gewissens. Sie ist das Signum seiner moralischen Anlage zum aufgeklärten Fürsten. Dass das Gewissen nicht die Oberhand über sein Handeln gewinnt, liegt an seiner mangelnden Bereitschaft zur Selbstkritik, denn einen Zusammenhang zwischen dem schlechten Zustand seines Reiches und seinem Lebens- und Regierungsstil sieht er nicht: »[D]er Einfall, [die Schuld] in sich selbst zu suchen, war gerade der einzige, der ihm unter allen möglichen nie zu Sinne kam« (OA 10.1/1, 18).
117
haben, leider stellt er dabei jedoch Fragen der epischen Vermittlung gänzlich hintan und deutet den Goldnen Spiegel als »Darstellung einer politischen Lehre« und als »politisch-pädagogisches Buch« (Scattola [2001], 103). Dagegen betont Hagel (2010) die narrative Komplexität des Goldnen Spiegels, aufgrund derer sich der Text »gegen solche frontalen Herangehensweisen« (Ebd., 130) sperrt. Baudach (1993), 561.
3. Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im ›Goldnen Spiegel‹
135
Um der königlichen Agrypnie Abhilfe zu schaffen, erinnert man sich am indischen Hof der wirkungsvollen Erzählkunst Scheherazades. Allerdings gilt es im Falle Schach-Gebals einschläfernde Geschichten zu erzählen und nicht wie in Tausendundeine Nacht solche, die ihn vom Schlafen abhalten. Zudem sollten die Erzählungen wegen der erklärten Märchenaversion des Throninhabers »wahr und aus beglaubten Urkunden gezogen seyn« (OA 10.1/1, 20). Zu diesem Zweck verfertigt man die Chronik der Könige von Scheschian, eines ehemaligen Nachbarreiches von Indostan. Mit der Erzählung selbst wird der zum Tugendidealismus neigende Hofphilosoph Danischmend und die königliche Mätresse Nurmahal beauftragt, die sich in fortgeschrittenem Alter befindet und daher am »Verfall ihrer Reizungen« (OA 10.1/1, 23) leidet, gerade so dem Sultan aber die nötige Konzentration auf die Erzählung belässt und sich zudem durch ihre »angenehme Stimme« (Ebd.) besonders zum Geschichtenerzählen qualifiziert. Danischmend will mit der Scheschian-Erzählung das Kunststück vollbringen, einerseits die königliche Schlaflosigkeit zu bekämpfen, andererseits aber auch ästhetische Gewissenskultivierung betreiben und dem Sultan auf indirektem Wege »mit guter Art Wahrheiten [beibringen], die man, auch ohne Sultan zu seyn, sich nicht geradezu sagen läßt« (OA 10.1/1, 20). Den roten Faden des Goldnen Spiegels bildet Danischmends und Nurmahals Erzählung vom fiktiven Scheschian, dessen Faktizität auch innerhalb der Textwelt des Goldnen Spiegels selbst in Frage steht.118 Die Geschichte Scheschians wird als Paradigma menschlicher Zivilisation ab ovo erzählt, beginnend mit dem Entstehungsmythos, demzufolge ein großer Affe den Scheschianern Kultur beigebracht habe. Es folgen Berichte über die Installation eines sehr schwachen Königsamtes durch die scheschianischen Rajas, deren Interessenkonflikte aber wieder zum Sturz des Königs, zu bürgerkriegsähnlicher Anarchie und drohendem Kulturzerfall führen. Schließlich wird Scheschian durch ein benachbartes Tartarenvolk unter dem Anführer Ogul-Kan erobert, der das Land befriedet, die Königsherrschaft wieder aufrichtet, jedem Scheschianer einen nicht-staatlichen Privatraum zur Ausübung von Religions- und Meinungsfreiheit rechtlich zuerkennt
118
Der Rahmendialog beginnt schon mit Fiktionsironie: Schach-Gebal erinnert sich vage, den Namen Scheschian aus dem Schaumlöffel zu kennen (vgl. OA 10.1/1, 23). Der indische Sultan hat also den Roman L’Écumoire (1734) des französischen Dichters Crébillon fi ls (1707–1777) gelesen. Diese inszenierte Anachronie verschafft dem Leser von Anfang an einen Wissensvorsprung gegenüber Schach-Gebal, da er weiß, dass das fi ktive Land Scheschian ein französischer Romanschriftsteller des 18. Jahrhunderts erfunden hat und die Chronik der Könige von Scheschian innerhalb der Textwelt des Goldnen Spiegels demnach von den Höflingen Schach-Gebals lediglich konstruiert wurde. – Darüber hinaus gibt Wieland mit dieser intertextuellen Anspielung das literarische Vorbild zu erkennen, dem er die Idee der mehrfachen Übersetzerfi ktion verdankt, denn Crébillons Schaumlöffel hat ihm nicht nur mit dem fi ktiven Land Scheschian eine Vorlage geliefert, sondern hier lernt Wieland den Prototyp der mehrfachen, ineinander verschachtelten Übersetzerfi ktion kennen. – Auf der narrativen Ebene der fiktiven Übersetzer wird die Faktizität Scheschians auch explizit in Zweifel gezogen, zumindest vom deutschen Übersetzer (vgl. OA 10.1/1, 218, hier Anm. 1).
136
Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
und die Beschäftigung mit Wissenschaft und Kunst gestattet. Hinter dieser »Revolution in dem National-Geiste von Scheschian« (OA 10.1/1, 132) und der »Ausbreitung der Vernunft und der Menschlichkeit« (Ebd.), die sich unter der Regierung Ogul-Kans vollzieht, ist deutlich eine Skizze der frühaufklärerischen Sozialgeschichte und der Entstehung des modernen absolutistischen Staates nach dem Dreißigjährigen Krieg zu erkennen.119 Wielands Goldner Spiegel qualifiziert sich hier zu einem Kerntext der selbstreflexiven Aufklärung, weil er am weiteren Verlauf der scheschianischen Geschichte auch das Umschlagen von Vernünftigkeit in Hypokrisie und die Zersetzung der moralischen Grundlagen von Aufklärung durch die Tätigkeit der Vernunft demonstriert.120 Unter einem der Nachfolger Ogul-Kans gewinnt die schöne Mätresse Lili Einfluss auf die Regierungsgeschäfte und trägt mit der Förderung von Kunst und Luxus dazu bei, dass sich »das Gefühl der Scheschianer verfeinerte« (OA 10.1/1, 40). Dieser Kultur- und Zivilisationsschub lässt allerdings auch erste Verfallssymptome erkennen, da nun unter den Scheschianern zusehends Zukunftsvergessenheit grassiert und die Luxusproduktion immer neue hedonistische Wünsche weckt, die die Sinne nur noch auf den »gegenwärtigen Augenblick« (OA 10.1/1, 42) der Bedürfnisbefriedigung einengen. Lilis Nachfolger verstärken diese Verfallstendenz noch. Ihr Sohn Azor steht unter dem Einfluss wechselnder Mätressen und während seiner Amtszeit kommt es zur Reaktivierung des scheschianischen Aberglaubens und zu erbitterten Religionsstreitigkeiten. Azors Sohn Isfandiar schließlich wird von dem radikalen Materialisten Eblis erzogen, der ihn zu einem rücksichtslosen und launenhaft regierenden Herrscher ausbildet. Isfandiar richtet Scheschian zu Grunde, indem er in übermäßiger Prachtentfaltung regiert, das Volk ausbeutet und Unzufriedenheit mit dem eigenen Stand unter den Scheschianern verbreitet. Nach dem gewaltsamen Sturz dieses ›gekrönten Missetäters‹ (OA 10.1/1, 217) durch das aufgebrachte Volk versinkt Scheschian in Anarchie. Fern von Isfandiars Hof und geschützt vor dessen Zugriff wächst sein Neffe Tifan in einer isolierten Naturkolonie auf und wird in dieser »Pflanzstätte« (OA 10.1/1, 219) von dem weisen Dschengis in »glückliche[r] Armuth« und in »Unwissenheit seiner Abkunft« (Ebd., 220) erzogen. Dank seiner rhetorischen Begabung und einiger Glücksumstände gelingt ihm nach Isfandiars Sturz ein rascher Aufstieg in Scheschian. Schließlich wird er, der unentdeckte Erbe der Krone, zum König gewählt und gibt erst danach seinen Erbanspruch zu erkennen, vereint also Wahl- und Erbmonarchie in einer Person. Er entwirft eine neue Staatsverfassung, 119 120
Vgl. u.a. Walter (1999), 129. »Damals war die Quelle alles Übels, daß [die Nation Scheschian] ihre Vernunft gar nicht zu gebrauchen wußte. Itzt, da die Scheschianer, wie junge Vögel, die Schwingen ihres Geistes zu versuchen anfiengen, begegnete es oft, daß sie zu hoch fliegen wollten und fielen. […] Man hatte den Aberglauben als ein großes Übel kennen gelernt; man bildete sich ein, sich nicht weit genug davon verlaufen zu können, und verlief sich also in den entgegengesetzten Abweg« (OA 10.1/1, 134).
3. Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im ›Goldnen Spiegel‹
137
unter der Scheschian wieder zu kultureller Blüte gelangt. Mit Tifan wiederholt sich die Geschichte Ogul-Kans, der das Land schon einmal der Anarchie des Bürgerkriegs entrissen und in die Arme der Aufklärung geführt hatte. Wie im Falle Ogul-Kans bleibt aber auch Tifans Reich nur eine zeitlich begrenzte kulturelle Blüte beschieden und nach seiner 50-jährigen Herrschaft (vgl. OA 10.1/1, 265) beginnt der Verfallsprozess erneut.121 Mit der Geschichte Scheschians demonstriert Wieland, dass Aufklärung zwar punktuell erreicht werden kann, aber – wie im 1794 ergänzten Schlusskapitel (vgl. Anm. 121) behauptet wird – eine »Tendenz zum schlechter werden« (GS 1794, 305) in der menschlichen Natur liegt: nämlich deren Tendenz, sich von den Leidenschaften beherrschen zu lassen. Daher gerät auch jede noch so ideale Balance – entweder in anthropologischer Hinsicht zwischen Sinnlichkeit und Vernunft oder in politischer Hinsicht zwischen Volk und regierender Oberschicht – zwangsläufig wieder aus dem Gleichgewicht.122 Danischmends Scheschian-Geschichte bildet keineswegs eine in sich geschlossene, konsequent ›durch erzählte‹ narrative Ebene. Im Gegenteil gehört gerade ihre ständige Unterbrechung zu den grundlegenden Formprinzipien des Goldnen Spiegels. Wie in einem Spiegel reflektieren die Gesprächsteilnehmer Schach-Gebal, Danischmend und Nurmahal immer wieder einzelne Episoden. Einmal wird auch der Imam des Hofes hinzugezogen, nämlich als Danischmend die von der Scheschian-Chronik unabhängige utopische Episode vom Tal der Naturkinder erzählt. Einen besonders ironischen Effekt gewinnt das Rahmenge121
122
Wieland hat den Goldnen Spiegel 1794 in seinen Sämmtlichen Werken um ein circa 25-seitiges Schlusskapitel ergänzt, das die Geschichte Scheschians über den Tod Tifans hinaus erzählt. Der Verfall Scheschians beginnt schon mit Tifans Sohn Temor und setzt sich bei den folgenden Königen immer weiter fort. Das Volk lässt sich bald von einigen Schwärmern zur Revolution aufhetzen und so versinkt Scheschian wieder in Anarchie, wird von einem benachbarten Volk erobert und büßt seine politische Existenz nun endgültig ein. – Ein alter Streitpunkt in der Forschung ist das Verhältnis der beiden Fassungen zueinander: Schon 1888 hat Bernhard Seuffert die Auffassung vertreten, dass die zweite Fassung nur jenen Verfallsprozess ausformuliere, der schon in der Erstfassung anklingt (vgl. Seuffert [1888], 357f.). Ebenso sehen es James A. McNeely (McNeely [1961], 280f., hier Anm. 15) und Herbert Jaumann (Jaumann [1979], 874). Bernhard Budde beharrt hingegen auf der »prinzipiellen Differenz« beider Fassungen, da in der Erstfassung offen bleibe, »was aus Tifans Scheschian wird« (Budde [2000], 203, hier Anm. 85), und erst die Zweitfassung das Misslingen seiner Staatsreform zeige (Ebd., 225). Jüngst hat Jürgen C. Jacobs noch einmal darauf verwiesen, dass schon die Erstfassung sehr deutliche Hinweise enthält, die den Verfall von Tifans Staat ankündigen (vgl. Jacobs [2001], 18 u. Jacobs [2003], 142). – Tatsächlich kann man den »verborgenen Kapitalfehler« (GS 1794, 303) in Tifans Reich, von dem die zweite Fassung explizit spricht, auch schon implizit aus der Erstfassung ableiten. Er steckt im möglichen Missbrauch von Privilegien, die Klerus und Adel im guten Glauben an ihre unter Tifan bewährte Moralität eingeräumt wurden: So deutet Danischmend schon in der Erstfassung an, »daß eben dieser vortreffliche Charakter der Scheschianischen Priesterschaft in der Folge die Ursache des Unterganges der Gesetzgebung Tifans geworden, und durch eine lange Reihe von Mittelursachen zuletzt den Untergang des ganzen Reiches nach sich gezogen hat« (OA 10.1/1, 308 u. 308f.). Vgl. Jacobs (2001), 18f.
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spräch dadurch, dass die Scheschian-Erzählung eigentlich darauf abzweckt, Schach-Gebal einzuschläfern. Dies gelingt ausgerechnet immer dann besonders gut, wenn Danischmend das Erzählte zum Anlass nimmt, seine Tugendideale nicht mehr narrativ, sondern diskursiv, in pathetischen Ansprachen zu entwickeln. Als Danischmend schließlich davon erzählt, dass Tifan die klerikale Klasse der Bonzen abgeschafft hat, weil für diese in seinem »gesitteten, aufgeklärten und policierten Scheschian« (OA 10.1/1, 297) kein Platz mehr sei, reagiert Gebal so begeistert, dass er Danischmend zum Itimadulet, also zum Premierminister an seinem Hof macht. Da Gebal sich zeitlebens vom Klerus bevormundet gefühlt hat, verbindet er damit die Hoffnung, Danischmend werde wie Tifan den Einfluss der Religionshüter beschränken. Im 1794 angehängten Schlusskapitel (vgl. Anm. 121) erfährt der Leser jedoch, dass Danischmend in seinem öffentlichen Amt Opfer höfischer Intrigen wird und bei Gebal in Ungnade fällt, der ihn schließlich verhaften lässt und der Hauptstadt verweist.123 Seine eigentliche ästhetische Gestalt, die den eingangs erwähnten Eindruck der Uninterpretierbarkeit erzeugt, gewinnt der Goldne Spiegel allerdings erst mit jener narrativen Ebene, die auch noch die Rahmenerzählung in Schach-Gebals Schlafzimmer überwölbt, nämlich die mehrfache Übersetzer- und Herausgeberfiktion: Die Chronik der Könige von Scheschian wurde von einem anonymen indischen Autor verfasst, dem »besten Kopf von ganz Indostan« (OA 10.1/1, 20)124, geriet dann in die Hände des wenig bekannten chinesischen Schriftstellers Hiang-Fu-Tsee, der sie unter dem Namen Goldner Spiegel ins Chinesische überträgt und mit einer dem chinesischen Kaiser Tai-Tsu gewidmeten Zueignungsschrift versieht. Der »ehrwürdige Vater I.G.A.D.G.I.« (OA 10.1/1, 20) wie-
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Auch dieses Scheitern des Hofphilosophen und Fürstenberaters Danischmend in einem politischen Amt und der damit verbundene desillusionierende Romanschluss ist von Budde als Zeichen einer konzeptionellen Differenz zwischen der Erst- und Zweitfassung des Goldnen Spiegels gelesen worden (Budde [2000], 203, hier Anm. 85). Dagegen lässt sich wiederum einwenden, dass Danischmends Scheitern auf der politischen Bühne auch in der Erstfassung bereits anklingt (vgl. Anm. 121). Schon nachdem Danischmend zum Itimadulet ernannt wird, meldet sich in der Erstfassung der fi ktive deutsche Herausgeber mit einer Prolepse zu Wort: Er verrät dem Leser hier im Voraus, dass Danischmend das Opfer von Intrigen werden wird und »daß er […] mit dem Verlust seiner Ehrenstelle und einer kleinen Pension davon kam« (OA 10.1/1, 301). Wie viel Anteil Danischmend an der Scheschian-Chronik hat, verschweigt der Text und suggeriert stattdessen lediglich, dass es jenen anonymen indischen Autor wirklich gegeben habe und Danischmend die Scheschian-Chronik nur vortrage: Wo das ihm angeblich vorliegende Manuskript Lücken enthält, muss Danischmend Schach-Gebal vertrösten und sich nach dessen wütendem Protest selbst etwas ausdenken (vgl. OA 10.1/1, 309f.) – Auch im Fall von Nurmahal kann der Erzähler des Rahmendialogs nur mit der vagen Vermutung dienen, dass sie »vermuthlich die Geschichte von Scheschian schon in ihrem eigenen Cabinet gelesen hatte, und […] sich im Lesen nicht so genau an den Text gebunden hielt […]. Man erwarte also, daß sie bald in ihrer eigenen Person sprechen, bald ihren Autor reden lassen wird, ohne daß wir nöthig finden, jedesmal besondere Anzeige zu thun, wer die redende Person sey« (OA 10.1/1, 32).
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derum hat die chinesische Übersetzung ins Lateinische übertragen. Vieles deutet darauf hin, dass es sich bei diesem lateinischen Übersetzer um einen Jesuitenpater handelt, nicht nur dass die Jesuiten im 17. Jahrhundert mit der China-Mission betraut waren, sondern hinter den letzten beiden Buchstaben dieser verschlüsselten Initiale (G.I.) scheint auch eine Anspielung auf die ›Gesellschaft Jesu‹ zu stecken. 1772 schließlich hat ein namenloser Übersetzer die lateinische Version des Goldnen Spiegels ins Deutsche übertragen und tritt mit der längeren ›Einleitung‹ als fiktiver Herausgeber in Erscheinung. Alle drei Übersetzer versuchen mit Fußnotenkommentaren, in denen sie sich teils gegenseitig kritisieren (vgl. OA 10.1/1, 119–121), die Rezeptionshaltung des Lesers gegenüber der ScheschianGeschichte und dem Rahmengespräch in Schach-Gebals Schlafzimmer zu beeinflussen. Aber nicht nur mit den Anmerkungen haben die fiktiven Übersetzer Einfluss auf die Textbedeutung genommen, sondern ihren Eingriffen verdankt der Goldne Spiegel überhaupt erst seine Form. Sie treten nämlich auch als selbständige Bearbeiter in Erscheinung, die mit ihrem Material verhältnismäßig frei verfahren. Nachträglich ist für viele Erzählelemente nicht mehr rekonstruierbar, wer für sie innerhalb der Textwelt die Verantwortung trägt. Dies gilt in erster Linie für die Überlieferung und Verschriftlichung des Rahmendialogs. In der Einleitung erhalten wir vom deutschen Herausgeber nur den knappen Hinweis: Was die hier und da der Erzählung eingemischten Unterbrechungen und Episoden, besonders die Anmerkungen des Sultans Gebal betrifft, so versichert zwar Hiang-FuTsee, er hätte sie von guter Hand, und wäre völlig überzeugt, daß die letztern würklich von besagtem Sultan herrührten. Allein dieß hindert nicht, daß der geneigte Leser nicht davon sollte glauben dürfen was ihm beliebt. (OA 10.1/1, 21)
Tatsächlich gibt es an jedem Abend der Scheschian-Erzählung in Gebals Schlafzimmer einen unbeteiligten Zuhörer, der zu Beginn kurz erwähnt wird, nämlich ein junger Mirza (OA 10.1/1, 24), also ein Schreiber. Höchstwahrscheinlich dienten dessen Notizen dem chinesischen Übersetzer als Vorlage, aus denen er den Rahmendialog konstruiert hat. Der Goldne Spiegel ist fiktionsintern also auch das Resultat eines mehrfachen Medienwechsels zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation:125 Danischmend und Nurmahal erzählen die Geschichte Scheschians nach einer schriftlichen Vorlage, ihre mündliche Kommunikation im Schlafzimmer von Gebal wird aber wiederum verschriftlicht und zu einem Text konstituiert. Der Frage, welcher Instanz die Verantwortung für die Inhalte zugeschrieben werden kann, entzieht sich der Goldne Spiegel mit dieser verschlungenen Textgenese. Wie viel bei diesen unsicheren Überlieferungsverhältnissen schon von dem Schreiber und Hiang-Fu-Tsee selbst hinzugedichtet wurde, lässt sich auch daran erahnen, dass in den wenigen, den Rahmendialog vermittelnden Erzählerberichten die beteiligten Gesprächsteilnehmer zuweilen nicht nur extern, sondern auch 125
Vgl. Hagel (2010), 131.
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Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
intern fokalisiert werden, der Leser also über ihre psychischen Zustände, ihr Figurenbewusstsein Auskunft erhält. Der oder die Redakteure und Editoren des Rahmendialogs überschreiten schon damit immer wieder die Grenze zum auktorialen Erzählen.126 Hinzu kommt, dass auch die vorliegende Verschriftlichung und Übersetzung des Rahmendialogs ein unentwirrbares Netz mutwilliger Auslassungen und eigenmächtiger Ergänzungen durch die Übersetzer überzieht. Die drei Übersetzer charakterisieren sich dabei gerade durch die Art und Weise ihrer Auslassungen und Ergänzungen in hohem Maße selbst.127 Keine der Übersetzungsstufen ist unabhängig von einer bestimmten Realitätskonstruktion, sei es die der theologischen Orthodoxie im Falle des lateinischen Übersetzers, die der rationalistischen Aufklärung im Falle des deutschen oder der Schwärmerkritik im Falle des chinesischen Übersetzers. All diese Formen der Wirklichkeitsaneignung haben Einfluss auf die vorliegende Gestalt des Goldnen Spiegels genommen 126
127
Um nur einige Beispiele anzuführen: »Hier klärte sich die Mine des Sultans auf einmal wieder auf. Er dachte an seine Lustschlösser, an seine Zaubergärten […]« (OA 10.1/1, 29) – »Vortrefflich, dachte Danischmende, und noch besser wär’ es, wenn Ihre Hoheit den Muth hätten, selbst ein Tifan zu seyn« (OA 10.1/1, 298). So fehlt schon der Schluss der chinesischen Zueignungsschrift, die nur dem lateinischen Übersetzer vorlag. Dieser sieht darin allerdings keinen großen Verlust, er hat den Text also eigenmächtig gekürzt (OA 10.1/1, 7). Auch der chinesische Übersetzer ist besonders eifrig im Auslassen, etwa wenn das Gespräch auf Gegenstände kommt, die er für unwesentlich hält (vgl. OA 10.1/1, 90 u. 233f.). Seinen Rekonstruktionsbemühungen verdankt sich allerdings der Schluss der Scheschian-Geschichte in der Fassung von 1794: Da Danischmend Opfer höfischer Intrigen geworden war, kann er nicht weiter erzählen. Der chinesische Übersetzer bemüht sich deshalb um eine Ergänzung der Scheschian-Geschichte »aus alten Sagen und glaubwürdigen Urkunden« (GS 1794, 324f.). Hiang-Fu-Tsee ist also verantwortlich für die plakative Drastik des politischen Untergangs von Scheschian. Diese ist offenbar auch durch seine erzieherische Absicht motiviert, den chinesischen Kaiser mit der Scheschian-Chronik einer empiristischen Schwärmerkur zu unterziehen, um ihn »durch den magischen Nebel, der den Schwärmer blendete« (OA 10.1/1, 6), hindurchsehen zu lassen. Erneut wird diese Intention aber durch den lateinischen Übersetzer gebrochen, der aus ungeklärten Gründen den Anhang aus der Feder des Chinesen nicht vollständig wiedergibt, sondern nur »in einem kurzen Auszuge« (GS 1794, 325). – Der deutsche Übersetzer und Herausgeber schließlich wendet sich einmal mit einer längeren Reflexion an den Leser. Darin gesteht er zu, dass er die Religionsgeschichte Scheschians nur auszugsweise paraphrasieren könne, um zu verhindern, dass diese Episode als Religionssatire gelesen werde, denn »[n]ichts ist in unsern Tagen überflüßiger als Feldzüge gegen Aberglauben und Tartüfferey« (OA 10.1/1, 123). Er richtet sich damit gegen die Absichten des lateinischen Übersetzers, der mit der satirischen Darstellung des scheschianischen Aberglaubens »der wahren Religion« einen Dienst leisten wollte, indem er ›Aberglauben und Tartüfferey‹ »in ihrer natürlichen Ungestalt darstelle« (OA 10.1/1, 122). Hinter dem deutschen Übersetzer und seinem moderaten Umgang mit Religion könnte man den Autor Wieland vermuten. Diesen Schluss konterkarieren aber Äußerungen des deutschen Übersetzers an anderer Stelle, besonders sein Glaube an die frühaufklärerische Theodizee: »Ein gelaßner und aufgeklärter Geist sieht durch das verworrene Gewebe der menschlichen Thorheiten hindurch und entdeckt in dem Zusammenhang und in der stufenweisen Entwicklung der großen Weltbegebenheiten den festen Plan einer alles leitenden höhern Weisheit« (OA 10.1/1, 153f., hier Anm. 1). Dies entspricht in dieser apodiktischen Form um 1770 nicht mehr Wielands Wirklichkeitsauffassung.
3. Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im ›Goldnen Spiegel‹
141
und sind analytisch nicht mehr zu trennen, sondern lassen den Text als Konglomerat einander widerstreitender Philosopheme und Absichten erscheinen. Innerhalb der fiktiven Textwelt des Goldnen Spiegels scheint nicht der kleinste Hauch auktorialer Gewissheit zu existieren, nichts scheint, so wie es da steht, wirklich zu gelten, da überhaupt nicht gesagt werden kann, welche Erzählinstanz für welches Erzählelement wie viel Verantwortung trägt. Allerdings handelt es sich dabei um einen literarisch inszenierten Widerstreit aus der Feder des Autors Wieland, für den sich anhand bestimmbarer Textsignale auch eine ästhetische Funktion konstruieren lässt. Die Wieland-Forschung hat bereits sehr früh darauf verwiesen, dass erst eine Analyse der Dialogstrukturen, der dialektisch-widersprüchlichen Textsignale und der damit verfolgten Rezeptionssteuerungsstrategie einen Zugang zu vielen von Wielands Texten ermöglicht.128 Das heißt, man muss en détail bestimmen, in welche Haltung der Goldne Spiegel seine Leser mit der Überlagerung widersprüchlicher narrativer Ebenen im Einzelfall jeweils zu lenken versucht.129 Schon bei der kursorischen Analyse der narrativen Ebenen- und Instanzenstruktur hat sich angedeutet, dass im Goldnen Spiegel keiner der Dialogteilnehmer und Übersetzer konstant eine richtige oder falsche Rezeptionshaltung repräsentiert. Diese indirekte Konstruktion einer bestimmten Lektürehaltung, die sich erst aus den Widersprüchen der narrativen Instanzen ergibt, die zu registrieren und zu überdenken der Leser angehalten wird, lässt sich theoretisch am besten mit dem Begriff des ›implied author‹ fassen, so wie ihn Tom Kindt und Hans-Harald Müller 2006 reformuliert haben. Kindt/Müller sprechen metaphorisch von einem Textsubjekt oder einem ›implied author‹, der nicht wörtlich als Teilnehmer an der Kommunikationsstruktur literarischer Texte bzw. als pragmatische Quelle einer literarischen Äußerung zu verstehen ist, sondern als Platzhalter für deren Bedeutung, als Instanz des Sinnganzen, die der Rezipient hypothetisch bei der Interpretation konstruiert.130 Mit dieser strikt rezipientenseitigen Verortung des ›implied author‹ als einer hypothetisch postulierten, konstruierten Textintention oder Funktion kann man dem Einwand des ›intentionalen Fehlschlusses‹131 Rechnung tragen, den der Chicagoer New Criticism gegen den faktischen Intentionalismus 128
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Grundlegend dazu Barthel (1939). – In jüngerer Zeit hat Bernhard Budde das Dialogische ins Zentrum einer Analyse von Wielands Werk gerückt, vgl. Budde (2000) sowie dazu Jacobs (2003). Auch Herbert Jaumann empfiehlt eine kleinteilige Rekonstruktion der verschachtelten narrativen Ebenen: »Nur eine ausführliche Stilanalyse, die z. B. die Kunst der Dialogführung, die Eingestaltung verschiedener Leserrollen, die kompositionellen Verschachtelungen der Erzählebenen, die partienweise dem Schalenaufbau einer Zwiebel gleichen, zudem Kunstgriffe wie die fingierte Manuskriptlücke und nicht zuletzt die raffinierte Steigerung perspektivischer Komplexität durch die Fußnotenkommentare einander zuordnen müßte […]« (Jaumann [1979], 877f.), kann zeigen, wie der Goldne Spiegel den Leser zu einer mehrdimensionalen Rezeptionshaltung gegenüber der Scheschian-Geschichte veranlasst. Kindt/Müller (2006), 151–181. Vgl. Wimsatt/Beardsley (1954) und dazu Danneberg/Müller (1983).
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Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
vorgebracht hat, zugleich aber hypothetisch an der absichtsvollen Verfasstheit literarischer Texte festhalten. Interpretationspraktisch bedeutet dies, unter Zurkenntnisnahme möglichst vieler Textsignale, insbesondere derjenigen, die von keiner narrativen Instanz auf keiner narrativen Ebene explizit ausgesprochen werden, und der erkennbaren Hierarchie unter diesen Textsignalen eine hypothetische Textintention wissenschaftlich nachvollziehbar zu konstruieren. Im Fall des Goldnen Spiegels zeigt sich dabei, dass eine Vermittlung zwischen den mutwillig inszenierten widersprüchlichen Textsignalen dem (idealen) Leser als Aufgabe aufgebürdet wird. Der Goldne Spiegel wirbt, wie noch genauer auszuführen ist, um einen Leser, den die Polyperspektivität des Textes nicht zur Verzweiflung treibt, sondern ihn zu der mehrschichtigen Rezeptionshaltung einer ›tugendbegeisterten Skepsis‹ stimuliert.
3.2 Die Gattungszitate im Goldnen Spiegel Als einzigen von Wielands Texten haben Vita Fortunati und Raymond Trousson den Goldnen Spiegel in das Dictionary of Literary Utopias aufgenommen.132 Wenngleich das Textkorpus dieses Lexikons nicht in allen Fällen ein wirklich konsistentes Bild der Gattung ergibt, bestätigt dies den Eindruck, dass die Forschung den Goldnen Spiegel häufig als literarische Utopie wahrnimmt bzw. darin die Gattungsstrukturen der Utopia-Tradition als besonders dominant ansieht.133 Das versteht sich jedoch nicht von selbst, denn immerhin gelangen jene zwei Passagen, die man als Utopie-Zitat identifizieren könnte, ihrer Länge nach über Episoden nicht hinaus und dominieren den Text keineswegs: Gemeint sind Danischmends Erzählexkurs über das Tal der Naturkinder und die Tifan-Episode. Zwischen beiden Textteilen bestehen hinsichtlich ihres Status als Gattungszitat zudem noch Abstufungen. Während die Naturkinder-Erzählung alle konstitutiven Merkmale einer literarischen Utopie aufweist134, ist die Tifan-Episode nicht 132 133
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Vgl. Fortunati/Trousson (2000), 247–249. Sowohl Dietrich Naumanns als auch Götz Müllers Studien zur literarischen Utopie in der deutschsprachigen Literatur besprechen von Wielands Texten einzig den Goldnen Spiegel (vgl. Naumann [1977], 162–189 und G. Müller [1989], 104–113). Auch in den Einführungsband von Wolfgang Biesterfeld hat Wieland nur mit dem Goldnen Spiegel Eingang gefunden (Biesterfeld ²1982, 73f.). Erzählt wird die Überschreitung einer geographischen Grenze durch ein aus der Erfahrungswirklichkeit kommendes Individuum (Emir). Der überzivilisierte Charakter des Emirs wird mit den tugendhaften Bewohnern der Talgesellschaft konfrontiert, die eine utopische Anthropologie repräsentieren. – Dass es sich bei dieser Episode nicht um ein Zitat der Gattung Idylle handelt, sondern um ein Utopie-Zitat, lässt sich anhand von Frank Baudachs Vorschlägen zur Distinktion zwischen Idylle und Utopie zeigen, denn die Darstellung der Naturkinderkolonie beschränkt sich keineswegs nur auf private Lebensverhältnisse (vgl. Kap. I.1.2, hier Anm. 60): Zunächst einmal ist die Kolonie gar nicht so überschaubar idyllisch, wie es dem Leser aus der Perspektive des Emirs scheinen will, denn das Tal wird immerhin von »fünfhundert Familien« (OA 10.1/1, 63) bewohnt. Zudem liegt der wesentliche Darstellungsakzent nicht auf den privaten Lebensverhältnissen, sondern auf den gesellschaftlichen Organisations-
3. Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im ›Goldnen Spiegel‹
143
ohne weiteres als Utopie-Zitat zu verstehen, denn hier liegt der Darstellungsakzent auf den persönlichen Umständen Tifans und seiner Bildungsgeschichte. Zwar steht auch der Staat im Mittelpunkt, den Tifan aus den Trümmern des zerfallenen Reichs Scheschian errichtet, dessen Idealität verdankt sich aber allein seinen klugen Einrichtungen und nicht der utopischen Anthropologie der Scheschianer wie im Falle der Republik von Tarent, wie im Falle von Diogenes’ Kolonisten und wie bei den Naturkindern. Im Unterschied zum Tifan-Staat lässt sich die Utopizität dieser drei Gesellschaften auf die Unschuld ihrer Bewohner zurückführen. Genau besehen, nehmen die Gattungsstrukturen der literarischen Utopie also im Goldnen Spiegel nicht wesentlich mehr narrativen Raum ein, als im Agathon oder im Diogenes: Nur die Naturkinder-Episode kann einwandfrei als UtopieZitat gelesen werden, für die Bildungsgeschichte Tifans gelingt dies dagegen nur mithilfe eines stark erweiterten Gattungsbegriffs.135 Eher handelt es sich hierbei um ein Zitat des Topos vom moralisch guten und politisch klugen Fürsten. Dass die literaturwissenschaftliche Forschung den Goldnen Spiegel dennoch häufig als eine Form der literarischen Utopie wahrnimmt, den Agathon und Diogenes hingegen nicht, hat wohl darin seine Ursache, dass im Rahmendialog hauptsächlich politische Gegenstände und Fragen der bestmöglichen Regierung zur Sprache kommen. Ein gattungskonstitutives Merkmal literarischer Utopien ist dies freilich nicht. Zu der Frage, ob und wie sich Wielands Goldner Spiegel generisch einordnen lässt, hat der norwegische Germanist Helge Jordheim einen plausiblen Antwortvorschlag unterbreitet, der hier aufgegriffen und weitergedacht werden soll:136 Er nennt den Goldnen Spiegel einen Dialogroman, der drei Gattungsmuster als Material benutzt und mit der rahmenden Gesprächsstruktur ihre poetischen und poetologischen Widersprüche problematisiert. Gemeint sind erstens der ›Fürstenspiegel‹, zweitens der ›Bildungsroman‹ und drittens die ›literarische Utopie‹: 1. Musterelemente der frühneuzeitlichen Fürstenspiegeltradition finden sich in der dynastischen Abfolge der drei paradigmatischen Herrscherfiguren Azor, Isfandiar und Tifan. Während Azor den guten Menschen im schlechten Fürs-
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strukturen der Kolonie. Die Episode wird von den Berichten des alten Hausvaters dominiert, der dem Emir die Geschichte der Talgesellschaft erzählt und ihm die Sittenlehre des Staatsgründers Psammis, das Fest der Huldgöttinnen, die pädagogischen Prinzipien der Kolonie und den öffentlichen Umgang mit schwer integrierbaren Individuen beschreibt. Wilhelm Voßkamp schlägt einen solchen erweiterten Gattungsbegriff vor, wenn er den deutschen Bildungsroman als »individualpsychologisch fundierte Zeitutopie des vervollkommnungsfähigen und sich permanent vervollkommnenden Individuums« (Voßkamp [1989], 339) beschreibt. Vorüberlegungen zu der These vom »Bildungsroman als spezifische[r] Form der Zeitutopie« finden sich auch in Voßkamp (1985c), 227. Vgl. Jordheim (2007), 147–198. – Instruktive Hinweise zu den verschiedenen Gattungstraditionen im Goldnen Spiegel finden sich auch bei Jaumann (1979), 864–868.
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Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
ten repräsentiert, steht Isfandiar typenhaft für die Ablösung politischen Handelns von moralischen Maßstäben, Tifan dagegen für die erfolgreiche Einspeisung moralischer Maßstäbe in die Politik. Wieland funktioniert das aus der Fürstenspiegeltradition bekannte Muster der Darstellung eines Herrschers, seiner Erziehung, seiner Thronbesteigung und Herrschaftspraxis um, indem er »mehrere Fürstenspiegel«137 aneinanderreiht, die ein je unterschiedliches Verhältnis von Moral und Politik, von Aufklärung und Absolutismus literarisieren und dessen Instabilität narrativ demonstrieren. Der Goldne Spiegel erkundet damit die Chancen und Gefahren einer Infiltration der Politik durch moralische Normen bzw. die Chancen und Gefahren einer Politisierung aufklärerischer Moral.138 2. Gegen Jordheims Rede vom Bildungsroman als Gattungsmuster im Goldnen Spiegel ließe sich einwenden, dass für die 1770er Jahre wohl kaum das Vorhandensein eines entsprechenden Musterwissens angenommen werden kann. Als Musterspender für die Handlungsschemata der Erziehungsgeschichte und der Bildungsreise, die die Tifan-Episode strukturieren, kommen eher wiederum die Fürstenspiegeltradition oder der höfisch-galante Roman in Frage. 3. Auch Jordheim deutet die Naturkinder-Episode als Utopie-Zitat. Seine ansonsten sehr informierte Analyse legt hierbei allerdings die größten Schwächen an den Tag, vor allem deshalb, weil er den ausführlichsten Forschungsbeitrag zu diesem Aspekt nicht zur Kenntnis genommen hat, nämlich das Kapitel zum Goldnen Spiegel in der monumentalen Dissertation von Frank Baudach.139 Jordheim gelingt es nicht, jene theoretische Einsicht, dass es sich beim Goldnen Spiegel um einen komplexen Dialogroman handelt, im Falle der Naturkinder-Episode interpretationspraktisch umzusetzen. Er übersieht, dass die Naturkinder-Erzählung auf ein im Rahmendialog aufgeworfenes Problem reagiert, und reduziert die Episode daher auf die bloße narrative Verzuckerung des moralphilosophischen Credos: »Wer nur den Gesetzen der Natur gehorcht, führt ein gutes Leben«140. Wie Frank Baudach herausgearbeitet hat, antwortet Danischmend mit der Naturkinder-Episode aber eigentlich auf die Frage, ob und wie im Prozess kultureller Verfeinerung verhindert werden 137 138
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Fohrmann (1985), 25. Frank Baudach hat zudem gezeigt, dass der Goldne Spiegel die Kyropädie-Tradition sogar in dreifacher Hinsicht zitiert: Erstens in der Tifan-Geschichte, zweitens in dem Versuch, Schach-Gebal mit der Chronik der Könige von Scheschian auf angenehme Weise moralische Wahrheiten beizubringen und drittens in den Absichten des Übersetzers Hiang-Fu-Tsee, der mit der Chronik von Scheschian seinen Landesherrn Kaiser Tai-Tsu zu erziehen hofft (vgl. Baudach [1993], 560f., hier Anm. 207). Baudach (1993), 558–606. – Nicht nur Jordheim, sondern die meisten jüngeren Forschungsbeiträge zum Goldnen Spiegel haben diese wichtige Deutung überhaupt nicht registriert: Bei Walter (1999), Budde (2000), Scattola (2001), Jacobs (2001), Dittrich (2004) und Hagel (2010) fehlt jeder Hinweis auf Baudach. – Positive Ausnahmen sind dagegen Pott (2002), 235–254, Disselkamp (2004) und Richter (2008), die auch auf Baudach eingehen. Jordheim (2007), 163.
3. Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im ›Goldnen Spiegel‹
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kann, dass die Emanzipation der Sinnlichkeit immer neue Bedürfnisse generiert, die natürliche Triebharmonie des Menschen zerstört und daher alle Zivilisation letztlich an Dekadenz zugrunde geht.141 Mit Kondylis gesprochen (vgl. Kap. I.3.2.b), wird hier also offen über die Frage diskutiert, wie man verhindern kann, dass die ›Rehabilitation der Sinnlichkeit‹ in Nihilismus abdriftet. Die Naturkinder-Episode als literarisches Plädoyer für ein naturgemäßes Leben zu deuten, kratzt daher nur an der Oberfläche dieses Utopie-Zitats, mit dem Danischmend eigentlich die Vermittlung zwischen naturständischer Triebharmonie und kulturständischer Perfektibilität als schwerwiegendes Problem exponiert. Jordheims an sich aber überzeugender Vorschlag, den Goldnen Spiegel als Selektion und Neukombination verschiedener Gattungstraditionen zu verstehen, die im Rahmendialog problematisiert, ironisiert und reflektiert werden, soll im Folgenden für die Deutung der Naturkinder-Erzählung aufgegriffen werden. Dabei richtet sich die Analyseoptik auf die Strategien der Utopiereflexion und auf die Funktion dieser utopischen Episode innerhalb des Goldnen Spiegels: Die Naturkinder-Utopie provoziert im Rahmendialog eine Diskussion darüber, ob und wie sich die darin veranschaulichte utopische Norm auf die Erfahrungswirklichkeit eines Großreichs anwenden und übertragen ließe, und die Tifan-Episode spielt diese Anwendung schließlich narrativ durch. Die Diskussionen im Rahmendialog machen den Leser dabei aber immer wieder auf die lebenspraktische Schwierigkeit einer solchen Umsetzung utopischer Normen und auf die Gefahren der Schwärmerei aufmerksam. Den Überlegungen zur Naturkinder-Utopie und ihrer Anwendung werden zunächst noch einige Bemerkungen über Wielands Perfektibilitätsbegriff und dessen Problematisierung mithilfe literarischer Utopien vorgeschaltet.
3.3 Die Naturkinder-Utopie und ihre praktische Bewährung a)
Geschichtsphilosophie und Individualethik bei Wieland
Ausgehend von Rousseaus Begriff der ›Perfectibilité‹ entwickelt Wieland in seinen Beyträgen zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens (1770) jene Auffassung von Kulturgeschichte, die er im Goldnen Spiegel literarisiert und problematisiert: Während für Rousseau die menschliche Kulturgeschichte und Vernunftentwicklung zur moralischen Depravation und dem Verlust des affektharmonischen Gleichgewichts führt, dieser Prozess aber ein vermeidbares Zufallsgeschehen darstellt, ist die ›Perfectibilité‹ bei Wieland der Natur des Menschen geradezu inhärent und seine ursprüngliche Affektharmo-
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Zum Erzählkontext der Naturkinder-Episode vgl. Baudach (1993), 564–572.
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Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
nie gerät zwangsläufig aus dem Gleichgewicht.142 Weil die Natur des Menschen nicht nur einen Humanisierungstrieb, sondern auch animalische Züge besitzt, die sich in der »Liebe zur Bequemlichkeit und zum Vergnügen« (OA 9.1, 302), in der »Begierde sich in Achtung zu setzen und Einfluß zu haben« (Ebd.), in der »Trägheit« (Ebd.) und Denkfaulheit manifestieren, ist die Vernunftentwicklung bei den meisten erfahrungsweltlichen Menschen aber »auf halbem Wege«143 steckengeblieben. Sie können deshalb jene zentrale Anforderung nicht erfüllen, die die Kulturentwicklung an sie stellt, nämlich die mit der Zivilisation entstehenden neuen Bedürfnisse selbsttätig zu mäßigen, um zu verhindern, dass die Emanzipation ihrer Sinnlichkeit sie zum Opfer ihrer Leidenschaften macht. Wie Frank Baudach eingehend gezeigt hat, weist Wieland jedoch den geschichtsphilosophischen Gedanken zurück, dass man dieses Defizit überwinden könne, indem man versucht, sich an Lebensformen naturständischer Unschuld zu orientieren: Zwar teilt Wieland Rousseaus Kritik an der mit der Kultur einhergehenden moralischen Depravation, doch hält er sie (zumindest theoretisch) allein durch eine Weiterentwicklung der Kultur für behebbar: […] Damit erweitert Wieland das zweistufige Depravationsmodell Rousseaus zum dreistufigen, Kulturkritik und kulturelles Fortschrittsdenken miteinander verbindenden Geschichtsmodell.144
An den Beyträgen überrascht vor allem ihr offenkundiger Kulturoptimismus. Wieland nimmt hier scheinbar wieder Zuflucht zum naiven geschichtsphilosophischen Fortschrittsdenken und übergeht anthropologische Vorbehalte. Aus der Perspektive einer jüngeren, auf die monistische Spätaufklärung fi xierten Literaturgeschichtsschreibung, die in der ›anthropologischen Wende‹ und der Rezeption des westeuropäischen Empirismus die zentrale Wetterscheide des 18. Jahrhunderts erblickt, gibt sich Wieland in den Beyträgen offenbar mit der behelfsmäßigen »Versöhnung von Widersprüchen« und mit »bequeme[n] Synthesen« zufrieden.145 Bei seinem Werk der 1760er und 1770er Jahre handelt es sich vermeintlich allenfalls um ein kompromisslerisches Präludium zur monistischen Spätaufklärung, während Autoren wie Wezel, Forster oder Lichtenberg als pa-
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Paradigmatisch zeigt dies die Beispielnarration von Koxkox und Kikequetzal in den Beyträgen. Erzählt wird die Depravationsgeschichte der beiden Urmexikaner, deren Affektgleichgewicht durch den Kontakt mit anderen Menschen und die beginnende Entstehung von Zivilisationsstrukturen in eine Schieflage gerät. Die Quintessenz des Dargestellten fasst der Schluss der Erzählung zusammen: »Die Menschen sind nicht dazu gemacht Kinder zu bleiben; und wenn es in der Natur ist, daß sie ordentlicher Weise, nicht anders als durch einen langen Mittelstand von Irthum, Selbstbetrug, unordentliche Leidenschaften, und daher fließendem Elend zur Entwicklung und Anwendung ihrer höhern Fähigkeiten gelangen können – wer will darüber mit der Natur hadern?« (OA 9.1, 278). Baudach (1993), 527. Ebd., 531. Hofmann (2003), 22.
3. Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im ›Goldnen Spiegel‹
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radigmatische Exponenten eines »differenzierten Skeptizismus und Relativismus«146 gelten können. Einer solchen Deutung der deutschen Aufklärung, die in der empiristischen Skepsis der Spätaufklärung eine gelungene Überwindung der frühaufklärerischen Metaphysik sieht und Autoren wie Wieland zum Übergangskompromiss degradiert, kann man den in der Germanistik bislang kaum etablierten Begriff der ›selbstreflexiven Aufklärung‹ entgegenhalten: Selbstreflexive Aufklärung macht sich theoretisch die metaphysikkritischen Argumente des Empirismus zu eigen, verweist aber auf die gefährlichen lebenspraktischen und gesellschaftlichen Folgen, die sich ergeben, wenn man den Glauben an die Moralfähigkeit des Menschen ganz aufgibt. Sie reagiert auf diesen Konflikt zwischen Theorie und Praxis aber nicht, indem sie sich um eine widersprüchliche Vermittlung zwischen Normativem und Relativem bemüht. Sie erhebt die Empirie also nicht zur Norm, um die nihilistischen Konsequenzen empiristischer Argumente zu kaschieren, sondern sie exponiert den Konflikt zwischen Vernunft und Sinnlichkeit als schwer lösbares Problem. Der geschichtsphilosophische Kulturoptimismus in den Beyträgen lässt sich damit freilich nicht einfach wegdiskutieren. Frank Baudach hat allerdings auf die subtilen ironischen Strukturen hingewiesen, die sich auch in Wielands Beyträgen finden und sich vor allem in der augenzwinkernden Überspitzung des Kulturoptimismus äußern.147 Man kann noch eine weitere Beobachtung zur Darstellungsform der Beyträge ergänzen: In der Erstfassung von 1770 endet der Text mit einem Selbstgespräch des Autors Wieland, der sich über seine Darstellungsmotive befragt und den Eindruck relativiert, dass die Beyträge nur eine optimistische Fortschrittsphilosophie im hypokritischen Gestus apodiktischen Behauptens formulieren: Schwärme ich? – Es sollte mir leid seyn, wenn nur Einer von denen, welche vorzüglich dazu berufen sind, auf ein so edles Ziel zu arbeiten, denken könnte, daß der Einzige allgemeine Endzweck der Natur, der sich denken läßt, wenn überall ein Plan und eine Absicht in ihren Werken ist, eine Schimäre sey. Ist es eine Schimäre? – Nun so wissen wir, was wir von dieser sublunarischen Welt zu denken haben. So macht alles zusammen genommen eine so schaale, so bürleske, so nonsensicalische Tragi-Comische Pastoral-Farce aus, daß man alle Harlekins, Mezzetins und Bernardons der Welt getrost aufbieten kann, eine schaalere zu erfinden! So sind alle Narren weise Leute, und die Sokraten und Aristoteles, die Epaminondas und Timoleone, von jeher die einzigen Narren in der Welt gewesen! – – Welches der Himmel verhüten wolle! (OA 9.1, 304)
Diese finale Selbstbefragung konterkariert den Fortschrittsoptimismus, denn Wieland schließt hier keineswegs aus, dass die Idee der menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit eine bloße Chimäre und er ins Schwärmen geraten sei, er artikuliert aber zumindest die Hoffnung, dass dem nicht so ist. Dem Glauben an
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Ebd., 26. Vgl. Baudach (1993), 527, hier Anm. 149.
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Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
die Vervollkommnungsfähigkeit wird eine lebenspraktische Funktion zugewiesen, auch wenn es gewichtige erkenntnistheoretische Gründe gibt, daran zu zweifeln. Wieland sieht die Aufgabe von Aufklärung nicht darin, den Glauben an die menschliche Moralfähigkeit zu zerstören und die Welt als dystopische ›nonsensicalische Tragi-Comische Pastoral-Farce‹ zu zeigen, aber auch nicht darin, den Einzelnen im blinden Glauben an eine vernünftige Weltordnung zu versichern. Die Abhandlung Über die vorgebliche Abnahme des menschlichen Geschlechts, die Wieland 1777 im Teutschen Merkur veröffentlicht und 1795 in seinen Sämmtlichen Werken an die Beyträge anhängt, bringt es auf den Punkt: »Meine Absicht ist eben so wenig, unserm Jahrhundert Hohn zu sprechen, als ihm zu schmeicheln. Ich halte es für keines der wirksamsten Mittel, seine Zeitgenossen zu bessern, wenn man ihnen, wie Swift, immer beleidigende Dinge sagt. Aber sie immer zu streicheln und liebzukosen und einzuwiegen und in Schlaf zu singen, taugt auch nichts« (AA I.7, 455). Wielands doppeltes Aufklärungsprogramm einer empiristischen Skepsis ohne Desillusion und eines Enthusiasmus ohne Hypokrisie gilt es bei einer Analyse der meisten seiner Texte stets mitzubedenken, es ist aber nicht immer zu gleichen Anteilen umgesetzt. Während die Beyträge eher zu kulturoptimistischem Enthusiasmus tendieren, dominieren in anderen Texten empiristische Skepsis und anthropologische Vorbehalte. Immer aber lässt sich – manchmal erst bei genauerem Hinsehen – eine Mischung beider Elemente entdecken und so ist es kein Zufall, dass auch die kulturoptimistischen Beyträge in der selbstkritischen Frage ›Schwärme ich?‹ gipfeln. Die Vorstellung, dass sich der Mensch in einem Übergangsprozess, auf halbem Weg zu maßvoller Selbstaufgeklärtheit befinde, fungiert bei Wieland vornehmlich als philosophisches Heilmittel gegen die gesundheitlichen Risiken von Präsentismus und Zukunftsvergessenheit, wie die Literarisierung dieser Geschichtsphilosophie in der Naturkinder-Episode zeigt. Psammis, der aus der Fremde kommende Sittenlehrer, behauptet gegenüber den Naturkindern, der Mensch sei das ›Meisterstück‹ der Natur: In ihm allein scheint sie alles, was sie diesseits des Himmels vermag, vereiniget, an ihm allein mit Wärme und verliebt in ihr eigenes Werk gearbeitet zu haben. Aber sie hat es in unserer Gewalt gelassen, es zu vollenden, oder zu verderben. (OA 10.1/1, 60)
Diese Auffassung, dass Perfektibilität die eigentliche Natur des Menschen sei und nicht ein vermeidbares Unglück, formuliert zeitgleich auch der junge Herder in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772).148 Während Herder mit 148
»Als nacktes, instinktloses Tier betrachtet, ist der Mensch das elendste der Wesen. […] Das instinktlose, elende Geschöpf, was so verlassen aus den Händen der Natur kam, war auch vom ersten Augenblicke an, das freitätige vernünftige Geschöpf, das sich selbst helfen sollte, und nicht anders, als konnte. Alle Mängel und Bedürfnisse, als Tier, waren dringende Anlässe, sich mit allen Kräften, als Mensch zu zeigen« (Herder [1985ff.], Bd. 1, 769f.).
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seiner positiven Wendung von Rousseaus ›Perfectibilité‹-Begriff spätestens seit Arnold Gehlens Diktum, die philosophische Anthropologie habe »seit Herder keinen Schritt vorwärts getan«149, als »Begründer der modernen philosophischen Anthropologie«150 gehandelt wird, gilt es Wielands parallel entstandenen Beitrag zu dieser Disziplin erst noch zu entdecken. Dies lohnt sich allerdings gerade wegen einer markanten Differenz zu Herder: Wieland verleiht dem Gedanken vom Perfektibilitätspotential als der eigentlichen Natur des Menschen nämlich nicht wie Herder apodiktisch eine geschichtsphilosophische Dimension. Herder hat versucht am empirischen Material der Menschheitsgeschichte einen Vervollkommnungsprozess sichtbar zu machen, da sich jede historische Epoche, jedes Einzelwesen durch eine individuelle Originalität auszeichnet, die die ganze Menschheitsgeschichte analogisch schon in sich birgt (vgl. Kap. I.3.2.a).151 So bringt der Mensch als »der erste Freigelassene der Schöpfung«152 in seinem Perfektibilitätsdrang analogisch das Grundgesetz der organischen Natur insgesamt zum Ausdruck: »Nichts in ihr steht still: alles strebt und rückt weiter«153. Im Unterschied zu Herder ist der Perfektibilitätsdrang für Wieland jedoch keine Erfahrungstatsache, die sich etwa am aufrechten Gang empirisch erweisen ließe, jenem herderschen »Königsvorzug« des Menschen vor dem Tier, dem »gebückte[n] Sklaven« der Schöpfung.154 Die meisten empirischen Phänomene können für Wieland auch ohne ihn erklärt werden.155 Als handlungsorientierende regulative Idee erfüllt der Perfektibilitätsdrang jedoch einen lebenspraktischen individualethischen Zweck. Psammis’ Sittenlehre läuft somit auf den Gedanken hinaus, dass der Mensch sich vervollkommne, indem er sich selbst als perfektibles Wesen konstruiert, dessen Glückseligkeit nicht im maßlosen Genuss des gegenwärtigen Augenblicks entsteht. Die Perfektibilitätsidee hat bei Wieland eher den Sinn, an das Leben als
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Gehlen (131986), 84. Vgl. Hartung (2003), 164. »Weil eine Gestalt der Menschheit und ein Erdstrich es nicht fassen konnte, wards verteilt in tausend Gestalten, wandelt – ein ewiger Proteus! – durch alle Weltteile und Jahrhunderte hin – auch, wie er wandelt und fortwandelt, ists nicht größere Tugend oder Glückseligkeit des Einzelnen, worauf er strebet, die Menschheit bleibt immer nur Menschheit – und doch wird ein Plan des Fortstrebens sichtbar – mein großes Thema!« (Herder [1985ff.], Bd. 4, 40 = Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit). Ebd., Bd. 6, 145f. (= Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Teil 1, Buch 4, Kap. 4). Ebd., 176 (= Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Teil 1, Buch 5, Kap. 3). Ebd., 145 (= Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Teil 1, Buch 4, Kap. 4). In einem Brief an seinen Utrechter Korrespondenten Rijklof Michaël van Goens distanziert sich Wieland sogar vom menschlichen Vollkommenheitstrieb. Alle psychologischen Phänomene, die man damit expliziert, ließen sich auch anderweitig erklären: vgl. WBr 4, 21: Wieland an van Goens, 21.8.1769. – Zur Deutung dieses Briefs vgl. Baudach (1993), 528, hier Anm. 150.
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Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
Prozess zu erinnern, dessen verschiedene Zustände kausal auseinander hervorgehen und der zukunftsvergessene Augenblicksgenuss daher immer »mit später Reue bezahlt wird« (OA 10.1/1, 61). Erst indem man sich das Leben als Kausalkette von Ursache und Wirkung bewusst macht, kann man dem Leben auch eine finale Dimension verleihen, es in das Ziel der harmonischen Mitte zwischen Selbstliebe und Mitgefühl, zwischen Genuss und Mäßigung einmünden lassen. Die Natur überlässt den Menschen dabei allerdings nicht seinem Schicksal, sondern gibt ihm durchaus Winke, wie er Selbstvervollkommnung am besten bewerkstelligt. Ihr Sprachrohr ist der menschliche Körper, für dessen Signale man ein Sensorium entwickeln muss, um die Stimme der Natur zu hören. Über den körperlichen Trieb, Freude zu empfinden und zu genießen, offenbart die Natur dem Menschen ihr Gesetz, mit dem körperlichen Schmerz als Folge maßlosen Genießens zeigt sie ihm, wie dieses Gesetz richtig auszulegen sei. Mit Schmerz und körperlicher Erschlaffung als kausaler Folge von Maßlosigkeit gibt sie zu verstehen, dass übermäßiges Genießen die Grundlage zukünftigen Genusses zerstört. Wahre Freude kann also nur der empfinden, der über den Augenblicksgenuss hinaus sein ganzes Leben im Blick hat, seinen gegenwärtigen Zustand nicht verabsolutiert, sondern Ich-Sein als Gesamtheit des Lebensprozesses auffasst: [G]eniesset so viel es möglich ist jeden Augenblick eures Lebens; aber vergesset nie, daß ohne Mäßigung auch die natürlichsten Begierden zu Quellen des Schmerzens, und durch Übermaaß die reineste Wollust zu einem Gifte wird, das den Keim eures künftigen Vergnügens zernaget. […] Der Weise versagt sich zuweilen eine gegenwärtige Lust, nicht weil er ein Feind der Freude ist, oder aus alberner Furcht vor irgend einem gehässigen Dämon, der darüber zürnte wenn sich die Menschen freuen; sondern, um durch seine Enthaltung sich auf die Zukunft zu einem desto vollkommnern Genuß des Vergnügens aufzusparen. (OA 10.1/1, 58)
Der Unterschied zwischen Wieland und Herder gewinnt an dieser Stelle deutliche Konturen: Bei Herder fungiert die These von der Sonderstellung des Menschen als anthropologisch-philosophische Deskription des empirischen Menschen, zugleich aber auch als Ausgangstheorem seiner Geschichtsphilosophie. Dies macht Herder zum Wegbereiter für die philosophische Anthropologie des frühen 20. Jahrhunderts, ausgehend von Max Schelers Stellung des Menschen im Kosmos (1928), über Helmuth Plessners Stufen des Organischen und der Mensch (1928) und dessen Paradigma der ›exzentrischen Positionalität‹, bis hin zu Arnold Gehlens Der Mensch (1940).156 Wieland ist dagegen deutlich bescheidener: Was Herder zur Erfahrungstatsache deklariert, nämlich dass der Mensch derjenige sei, den die Schöpfung aus dem engen Kreis des Instinkts und dem augenblicksverhafteten Reiz-Reaktions-Schema entlassen habe, damit er selbst entscheide und seine Zukunft entwerfe, klingt in Wielands Ohren wie eine Sonntagsrede im Reich der Ideen, denn ein Blick auf den empirischen Menschen, seine Bequem-
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Vgl. Hartung (2008).
3. Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im ›Goldnen Spiegel‹
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lichkeit, Denkfaulheit und instinkthafte Unbesonnenheit, verrät davon wenig. Statt als empirische Beschreibung fungiert die Sonderstellung des selbstbestimmten Menschen in der Natur als regulative ethische Norm. Psammis’ Sittenlehre zeigt allerdings, dass der Mensch aufgrund seiner Körperlichkeit durchaus dazu angehalten ist, sich selbst zu vervollkommnen und mit einer eigenverantwortlichen gemäßigten Lebensführung aus dem engen Kreis des Instinkts herauszutreten. Lebensführungskunst besteht darin, diesen Hinweisen Gehör zu schenken und ein schmerzfreies Leben im harmonischen Wechsel von Freude, Ruhe und »mäßige[r] Arbeit« (OA 10.1/1, 59) zu führen. Mäßigung verliert nach Psammis’ Sittenlehre schließlich ihren Zwangscharakter und schlägt nicht in sinnenfeindliche Askese um, wenn der angeborene Trieb, Freude zu empfinden, nicht eingeschränkt, sondern sublimiert wird. Dies gelingt, indem Freude und Mitgefühl eine Synthese eingehen, soziales und menschliches Handeln also Genuss bereitet: Nur durch Freude an der Nächstenliebe ist es möglich, »Glückseligkeit ins Unendliche zu vermehren« (OA 10.1/1, 61), ohne sich körperlich zu schädigen und die eigene Genussfähigkeit zu zerstören. Freude und Genuss durch soziales Handeln machen Mäßigung überflüssig, weil Lustempfinden dann keine egozentrische Praxis mehr ist, deren Übertreibung mit späterer Reue bezahlt wird, sondern sich der Nächstenliebe verdankt. Wie immer, wenn in Wielands Textwelten der Enthusiasmus für tugendhaftes Handeln die Oberhand gewinnt, so braucht man auch in diesem Fall auf die Ironie nicht lang zu warten. Just auf dem humanistischen Höhepunkt von Psammis’ Sittenlehre muss Danischmend seine Erzählung abbrechen, denn »SchahGebal war über der Sittenlehre des weisen Psammis unvermerkt so gut eingeschlafen« (OA 10.1/1, 62) wie all die Abende zuvor nicht. Gebal wird zumeist dann müde, wenn Danischmend für moralische Ideen schwärmt, die sich besonders weit von der Erfahrungswirklichkeit entfernen. Psammis’ Sittenlehre wird mit dieser ironischen Pointe jedoch nicht lächerlich gemacht, sondern der Leser wird an ihren reinen Status als regulative Norm gemäßigter Lebensführung erinnert. Im Unterschied zu Herder wappnet Wieland mit solchen ironischen Pointen seine Leser dagegen, die Rede von der Sonderstellung des Menschen, seiner Besonnenheitsbegabung und seinem Perfektibilitätsdrang nicht als Behauptungen über seine empirische Natur zu missverstehen, sondern als regulative Norm einer humanistischen Ethik, der man mit Begeisterung und Skepsis gleichermaßen begegnen muss. Die für Wieland charakteristische Mischung von empiristischer Skepsis und reflektiertem Enthusiasmus lässt sich als Aufruf zur Selbstbescheidung von Aufklärung, als Reaktion auf ihre Hypokrisie und den geschichtsphilosophischen Glauben an eine moralischere Zukunft verstehen. Statt sich als Aufklärer zu inszenieren, der den Absolutismus oder die christliche Religion im Namen der Vernunft oder der empirischen Natur literarisch kritisiert und damit ›bürgerliche‹ Funktionseliten in ihrem sozialen Selbstverständnis versichert, steckt sich Wieland bescheidenere Ziele. Unter Aufklärung versteht er vornehmlich die Ein-
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Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
übung einer rationalen Kompetenz zur kritischen Überprüfung der eigenen Lebensführung: Wenn […] hier oder dort jemand dadurch veranlaßt würde […] auf die nächsten Mittel zu denken, wie ers (wenigstens für seine Person) zu machen hätte, um das Bißchen Menschensinn und Menschenkraft, und Freude an seinen Mitgeschöpfen und sich selbst, und Glauben und Liebe, Wahrheit und Treue, womit ihn Gott in die Welt ausgesteuert, so viel er davon übrig hätte, aus diesem großen Getümmel, Zusammenlauf und Jahrmarkte der Welt glücklich davon zu bringen, und in der Stille seines häuslichen Lebens, zu seinem und der Seinigen Nutzen und Frommen anzulegen: – das wäre denn gleichwohl auch so übel nicht! (AA I.7, 455)
Aufklärung erfüllt sich für ihn nicht in ›geschichtsphilosophischem Verfeindungszwang‹ (vgl. Kap. I.3.2), in der Kritik an der Unmoral anderer, sondern im Versuch die eigene Lebenspraxis, die ›Stille seines häuslichen Lebens‹ moralischer zu gestalten und die kulturoptimistische Idee menschlicher Vervollkommnungsfähigkeit zumindest im privaten Umgang zu realisieren, ohne sich darum über die Natur des Menschen insgesamt etwas vorzumachen.
b)
Erzählte Utopiereflexion: Die Naturkinder-Episode
Das ausnehmende Desinteresse, das die Forschung gegenüber Frank Baudachs kontextualisierter Analyse des Goldnen Spiegels an den Tag gelegt hat (vgl. Anm. 139), ist besonders hinsichtlich seiner Deutung der Naturkinder-Episode zu bedauern. Immerhin konnte Baudach zeigen, dass sich diese Binnenerzählung von einer reinen Naturstands-Utopie nicht unerheblich unterscheidet und sich ihr Sinn erst aus ihrer Beziehung zu der Erzählung von der sinnlichen Emanzipation Scheschians unter der Sultanin Lili ergibt. Durch die Lili-Episode war unter den Diskutanten in Schach-Gebals Schlafzimmer die Frage aufgekommen, ob eine gemäßigte kulturelle Verfeinerung und Emanzipation der Sinnlichkeit möglich sei, ohne in ›Überfeinerung‹ und Depravation auszuarten wie unter Lilis Regierung. Diskutiert wird also, ob die Sinnlichkeit rehabilitiert werden kann, ohne in Nihilismus, in die völlige Relativität aller Normen abzurutschen. Danischmend beantwortet diese Frage mittels einer Digression, indem er die von der Scheschian-Geschichte unabhängige Naturkinder-Episode erzählt. Die instruktiven Ergebnisse von Baudachs Analyse lassen sich am einfachsten rekapitulieren, wenn man den Plot der Naturkinder-Episode zusammenfasst und Baudachs Deutung daran expliziert. Auf dieser Grundlage sollen dann Überlegungen zur Funktion dieses Utopie-Zitats in der Gesamtstruktur des Goldnen Spiegels angestellt werden: Ein sinnlich völlig überreizter Emir gelangt nach einem Überfall durch Räuber in ein abgelegenes, von den Kindern der Natur bewohntes Tal. Deren Gesellschaft ist das Resultat eines Erziehungsplans, den der weise Gesetzgeber Psammis entwickelt hat. Psammis stabilisiert den sozialen Frieden bei den Naturkindern, indem er ihren Schönheitstrieb aktiviert. Er stellt weißmarmorne Statuen der
3. Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im ›Goldnen Spiegel‹
153
Huldgöttinnen auf, im Angesicht derer die Naturkinder die von den Statuen repräsentierten Tugenden Freude, Liebe und Unschuld sinnlich erfahren, das Wesen der Humanität also nicht verstandesmäßig erfassen, sondern empfinden. Durch dieses Training des Schönheitstriebs verhindert er, dass die Kulturentwicklung zum Übergewicht egoistischer Triebe führt. Im Gegensatz zum rationalen Vervollkommnungstrieb, der immer neue Begierden und eine immer größere Verfeinerung der Kultur hervorruft, läuft der Schönheitstrieb auf einen Ausgleich der inneren Triebverhältnisse hinaus, lässt also den Perfektibilitätsdrang in einem harmonischen Zustand münden. Hinzu kommen noch eine Reihe anderer Axiome, die die Stabilität des sozialen Konsenses bei den Naturkindern erst bedingen, etwa die mit 500 Familien vergleichsweise überschaubare Größe der Kolonie, die Fruchtbarkeit des Bodens, Sklavenhaltung und das milde Klima, wodurch es möglich ist, ohne übergroßen Arbeitsaufwand alles Lebensnotwendige zu produzieren. Nun gelangt mit dem Emir zwar ein typenhafter Wollüstling in das Naturkinder-Tal, das sittliche Gleichgewicht seiner Bewohner bleibt davon aber gänzlich unberührt. Dies hängt damit zusammen, dass die Naturkinder eben nicht im depravationsgefährdeten Naturstand leben, sondern in einer gemäßigten Zivilisation, in einer idealen Synthese von Natur- und Kulturstand.157 Sie verfügen über gerade genug Zivilisation, um ihre natürliche Affektharmonie zu stabilisieren und Depravationsresistenz zu entwickeln.158 Mit dem Schicksal des aus der Erfahrungswirklichkeit kommenden Emirs führt Danischmend seinen Zuhörern jedoch vor Augen, dass sich diese Synthese von Natur- und Kulturstand in der Erfahrungswirklichkeit nicht realisieren ließe, wo zivilisatorische ›Überfeinerung‹ und Bequemlichkeit bereits die Oberhand gewonnen haben: Trotz der positiven Erfahrungen bei den Naturkindern ist der Emir nicht in der Lage, sich zu mäßigen oder zur Triebharmonie zurückzufinden.159 Die triebharmonisierende Wirkung der Kunstwerke setzt also immer schon einen gewissen Grad an natürlichem Schönheitsempfinden voraus, der kulturständischen Individuen wie dem Emir verloren gegangen ist. Diesem werden bei den Naturkindern zwar die Augen über seine eigene Depravation geöffnet, davon ›kurieren‹ kann ihn die utopische Lebensform der Kolonisten jedoch nicht. In Danischmends Erzählung findet sich aber ein anderer Anhaltspunkt zur Verbesserung der Erfahrungswirklichkeit, der eine gelungene Verbindung von schönem Empfinden und rationalem Denken demonstriert, jedoch nicht verallgemeinerbar ist: Psammis’ ästhetische Erziehungsmaßnahmen fruchten nämlich nicht bei allen Talbewohnern und immer wieder müssen einige Individuen aus
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158 159
Dagegen reduziert Merio Scattola, der Baudach nicht zur Kenntnis nimmt, die Naturkinder-Episode auf eine »Darstellung des historisch oder theoretisch ursprünglichen Naturzustands« (Scattola [2001], 104). Baudach (1993), 571f. Ebd., 594, hier Anm. 252.
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Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
der Gesellschaft ausgesondert werden, weil sich ihr Perfektibilitätsdrang nicht kontrollieren lässt. Das schon aus der Gattungstradition bekannte Motiv der schwer integrierbaren Individuen wird in der Naturkinder-Episode nicht – wie etwa bei Mercier – nur klammheimlich und am Rande abgehandelt, sondern explizit thematisiert und damit zum Gegenstand von Utopiereflexion gemacht: Diejenigen Jünglinge, deren rationaler Vervollkommnungstrieb sich nicht durch den Schönheitstrieb beherrschen lässt, werden in die umliegenden Städte geschickt und sollen dort durch rationale Vervollkommnung moralisch richtiges Handeln lernen. Gelingt dies, können sie zu den Naturkindern zurückkehren. Zu diesen Rückkehrern gehört auch der Hausvater, der dem Emir die sozialen Strukturen der Naturkinderkolonie erklärt. Nach Baudach gestaltet Wieland sein eigentliches Ideal in diesen Rückkehrern, die schönes und rationales Denken miteinander harmonisiert haben und aus freier Vernunftentscheidung moralisch richtig handeln.160 Da solche Individuen aber eine seltene Ausnahme bleiben, kann man mit Baudach schlussfolgern, dass dieses Ideal für Wieland zwar durchaus in der Natur angelegt, aber keineswegs zur Norm verallgemeinerbar ist. Die Rückkehrer bewahren die aus der utopischen Naturkinder-Kolonie mitgebrachte affektharmonische Tugendhaftigkeit auch in der Erfahrungswirklichkeit, obwohl sich hier ihre Vernunft entwickelt, wodurch ihnen der Verlust der Affektharmonie und die gefährliche Unruhe des Kulturmenschen drohen. Den Rückkehrern gelingt also eine Vernunftentwicklung im Einklang mit ihrer emanzipierten Sinnlichkeit. Ihre Tugendhaftigkeit verdankt sich nicht einer natürlichen Triebharmonie und ihrer Stabilisierung durch eine Kunstreligion, sondern sie handeln aus freien Stücken moralisch richtig, sind also Repräsentanten gelungener Gewissenskultivierung und moralischer Souveränität. Dass selbstaufgeklärte Individuen und schöne Seelen nie vollständig exkludiert werden, sondern unter dem Vorbehalt ironischer Brechung oder als seltene Laune der Natur doch noch Eingang in seine Textwelten finden, ist geradezu charakteristisch für Wieland. Ohne Frage wollen auch Wielands Romane die Lebensferne des frühaufklärerischen Tugendideals und die damit verbundene Gefahr der Selbsttäuschung entlarven: Daher gelingt es dem aus der Erfahrungswirklichkeit kommenden Emir nicht, sich im Genuss zu mäßigen. Stattdessen besteht eine der ironischen Pointen der Naturkinder-Episode gerade in der radikalen Kehrtwende des Emirs, der sich nach seinen Erfahrungen bei den Naturkindern am Schluss vom materialistischen Hedonisten zum sinnenfeindlichen Asketen wandelt. Signifikanterweise sind Wielands Textwelten aber nicht in demselben Maße parodistisch überzeichnet wie in Voltaires Candide oder in Wezels Belphegor, denn neben der narrativen Demaskierung tugendidealistischer Selbstverblendung fehlen bei ihm fast nie Hinweise auf die seltene Möglichkeit einer schönen und rationalen Seele. Diese Hinweise kann man mit Jaumanns
160
Ebd., 602.
3. Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im ›Goldnen Spiegel‹
155
treffender Formulierung als »Ermutigungseffekt«161 verstehen, als subtilen literarischen Stimulus für einen reflektierten Glauben an die Verbindung von emanzipierter Sinnlichkeit und moralischer Souveränität.
c)
Die Utopie in praxi
Im Anschluss an die Naturkinder-Erzählung führen die Anwesenden in SchachGebals Schlafzimmer eine heftige Diskussion, die vor allem Danischmend und der als Kontrahent hinzugezogene Hof-Imam austragen. Sie ist ein effektives Instrument der Leserlenkung, mit der eine einseitige Rezeption, die sich nur von der Naturkinder-Kolonie faszinieren oder vom Schicksal des Emirs desillusionieren lässt, verhindert werden soll. Dem Imam zufolge richten literarische Utopien wie die Naturkinder-Erzählung erheblichen Schaden an der staatsbürgerlichen Mentalität an, denn die dadurch stimulierte Suche nach der Illusion des Guten und Schönen verhindert produktives Handeln und dient nur dazu, »einen Geist der Weichlichkeit in der Welt auszugiessen, der die Bürger des Staats von allen mühsamen Anstrengungen und beschwehrlichen Unternehmungen abschreckt« (OA 10.1/1, 69). Danischmend versucht den Einwand des Imams zu entkräften, indem er auf den Eigennutzen als dem Hauptmotiv produktiven staatsbürgerlichen Handelns verweist. Diese Triebfeder könne auch eine schwärmerische Einbildungskraft nicht dauerhaft still stellen: [W]enn auch die ganze Welt mit Gemählden von glücklichen Inseln und glücklichen Menschen angefüllt würden, so sind zehen an Eines zu setzen, daß die Leidenschaften, welche zu allen Zeiten die Beweger der sittlichen Welt waren, ihr Spiel nichts desto weniger fortspielen werden. […] Man wird sich […], so lange man sich an solchen Gemählden ergötzt, in diese glücklichen Inseln, Schäferwelten, oder wie man sie nennen will, hinein wünschen, wo das angenehmste Leben so wenig kostet; aber man wird des Wünschens bald überdrüßig seyn; und […] sich gefallen lassen, diejenigen Mittel zu einem glücklichen leben anzuwenden, die in unsrer Gewalt sind, und in die Verfassung der Welt eingreifen, worinn wir uns befinden. (OA 10.1/1, 71f.)
Erkennbar dreht sich der Disput zwischen Danischmend und dem Imam um jene beiden Rezeptionshaltungen, die die Leseforschung eskapistische und kognitive Lektüre nennt: Während der Imam eine eskapistische, naiv-identifikatorische Lektüre befürchtet, die Erzählungen wie die Naturkinder-Episode zum Stimulus wirklichkeitsferner Wünsche werden lässt, schließt Danischmend für die Dauer der Lektüre eine solche Haltung zwar nicht aus, hält aber die Widerstände, die die Wirklichkeitsstrukturen diesem Wunschverhalten entgegensetzen, für zu gravierend. Zwangsläufig kehre auch nach jeder noch so faszinierenden Lektüre irgendwann das kritische Bewusstsein von der unaufhebbaren Differenz zwischen Utopie und Erfahrungswirklichkeit wieder zurück. Die Langzeitwirkung literarischer Utopien sei daher nicht hypokritische Schwärmerei für außerempirische 161
Jaumann (1979), 872.
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Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
Ideale, sondern ein kritischer Blick für die Missstände der Erfahrungswirklichkeit. Damit aber auch der letzte Zuhörer (und Leser) versteht, dass seine Binnenerzählung nicht als Einladung zum fluchtutopischen Schwärmen von einem vorzivilisierten Dasein gemeint ist, wendet Danischmend sie noch auf die politische Wirklichkeit des Großreichs Indostan an und übersetzt die Aussageabsicht seiner Narration in diskursive Rede. Er nimmt dabei den Faden wieder auf, der durch den Disput mit dem Imam über Wirkung, Nutzen und Gefahr literarischer Utopien unterbrochen worden war, und erinnert daran, dass die Naturkinder-Erzählung eigentlich als Antwort auf jenes Problem gemeint war, das durch die Lili-Episode zur Sprache kam (vgl. Kap. II.3.3.b), nämlich die Frage, ob und wie sinnliche Emanzipation und Zivilisationsentwicklung möglich ist, ohne zur Relativität aller moralischen Normen und zur Anarchie auszuarten.162 Danischmend stellt klar, »daß es ganz verschiedene Sachen seyen, ein kleines von der übrigen Welt abgeschnittnes Volk, und eine große Nation, welche in Verbindung mit zwanzig andern lebt, glücklich zu machen« (OA 10.1/1, 74). Er hofft aber, »daß […] die Geschichte des Emirs und der Kinder der Natur uns dennoch ein paar Grund-Maximen an die Hand geben könnte, durch deren Beobachtung die schöne Lili wenigstens den größesten Theil des Übels […] zu verhüten fähig gewesen wäre«163. In einem langen Vortrag demonstriert Danischmend nun, wie die Grundmaxime eines austarierten Gleichgewichts zwischen Natur und Kultur auf die politische Realität eines Großreichs anwendbar sei. Dabei überträgt er die zweigeteilte Textwelt literarischer Utopien – im vorliegenden Fall die räumliche Dichotomie zwischen der utopischen Naturkinder-Kolonie und der zivilisierten Erfahrungswelt »jenseits der Gebürge« (OA 10.1/1, 64) – von der geographischen Horizontale in die soziale Vertikale des Ständestaats: Der Regent eines Großstaates könne jene utopische Synthese zwischen Kultur und Natur vor allem dadurch in die Praxis übersetzen, dass er das Verhältnis der verschiedenen sozialen Schichten untereinander zu harmonisieren und die soziale Mobilität zwischen den Ständen einzudämmen versucht. Er muss dafür Sorge tragen, dass die naturnahe Landbevölkerung in Zufriedenheit mit ihrem Stand lebt: »Lassen Sie diese guten Leute ihres Daseyns froh werden. […] Lassen Sie dieser unentbehrlichsten und unschuldigsten Classe von Menschen so viel von den Früchten ihrer Arbeit, daß sie mit frohem Muth arbeiten, daß sie Zeit zur Ruhe, Zeit zu ihren ländlichen Festen und Ergötzungen übrig haben« (OA 10.1/1, 76f.). Nur wenn die ständische Identität der Landbevölkerung intakt bleibt, kann man auch unter den kulturständischen Bedingungen eines Groß-
162
163
In Danischmends Worten: »[W]as sollen wir thun, damit die äußerste Verfeinerung der Künste, des Geschmacks, der Leidenschaften, der Sitten und der Lebensart, mit einem Worte, der Luxus, einer großen Nation so wenig als möglich schade?« (OA 10.1/1, 76). OA 10.1/1, 76 (Hervorhebung, M.L.).
3. Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im ›Goldnen Spiegel‹
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reichs der moralgefährdenden Auswirkungen des ›Luxus‹ Herr werden. Konkret bedeutet dies, der naturnahen Lebensweise, die das Gros der Bevölkerung führt, nicht durch Ausbeutung und Unterdrückung ihre Attraktivität zu nehmen, die Landbevölkerung zugleich aber bewusst von den Lockungen der Zivilisation abzuschirmen, in der Hoffnung, mit den Segnungen der Kultur auch deren Übel von ihr fern zu halten. Der dahinter stehende Gedanke, dass das ›gemeine‹ Volk nicht vernunftfähig sei und in einem vormodernen und voraufgeklärten Zustand verharrt, ist charakteristisch für die Zeit und besonders für Wieland. In seinen Romanen begegnet uns die große Menschenmenge zumeist als wütender anarchischer Mob oder als Ansammlung leicht verführ- und manipulierbarer Schwärmer, die auf jeden erstbesten politischen ›Rattenfänger‹ hereinfallen.164 Noch bis hin zu Schillers 5. Ästhetischen Brief herrscht unter vielen deutschen Intellektuellen Konsens darüber, dass der absolutistische Staat, so wie er sich nach dem Dreißigjährigen Krieg formiert hat, ein bewährtes Instrument sei, um die Rohheit der Unterschichten zu disziplinieren. Bei Danischmends Vorschlag, den Bauernstand zu fördern, steht jedoch primär der Gedanke im Vordergrund, den Krisensymptomen des Ancien Régime mit Reformen zu begegnen und seinen wichtigsten sozialen Kitt zu erhalten und zu erneuern, nämlich die ständische Identität und die Zufriedenheit mit dem eigenen Stand. Für ihn besteht das zentrale strukturelle Defizit von Gebals Staat darin, dass der Hang zu höfischer Prachtentfaltung mit der Ausbeutung und Unterdrückung der Unterschichten einhergeht, infolge dessen die schichtenspezifische Identität und damit das soziale Gleichgewicht zerstört wird. Dies wiederum gefährdet den Fortbestand des Staates insgesamt, da bei unzufriedenen Untertanen dem politischen Ganzen langfristig Bürgerkrieg, Revolution und Anarchie drohen. Bezeichnenderweise formuliert er diese Kritik aber nicht explizit, sondern mit einem Gegenbild, indem er nämlich von einer harmonischen stratifikatorischen Differenzierung als idealer Synthese von Natur- und Kulturstand zu schwärmen beginnt. Der Leser, der noch Danischmends vorangegangene Schutzrede für eine kognitive Lektüre literarischer Utopien im Ohr hat, muss über den performativen Selbstwiderspruch des indischen Hofphilosophen stolpern, der nun alle Befürchtungen des Imams wahr macht und für die Machbarkeit seines eigenen Idealstaatsentwurfs zu schwärmen beginnt.
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In zugespitzter Form zeigt dies vor allem Wielands umstrittener Merkur-Aufsatz Über das göttliche Recht der Obrigkeit (1777): »Eine Menge Volks ist – eine Menge großer Kinder, eben so unfähig ohne Obrigkeit sich selbst in einem leidlichen Zustande zu erhalten, als unsre kleinen Kinder leben und gedeyhen könnten, wenn man sie der lieben natürlichen Freyheit überlassen wollte« (OA 13.1, 558). – Zudem sorgt allein im Goldnen Spiegel die blind wütende Menge dreimal dafür, dass Scheschian in Anarchie versinkt, nämlich bevor Ogul-Kan das Reich erobert, dann auf dem Höhepunkt von Isfandiars tyrannischer Regierung und schließlich am Romanschluss (in der Fassung von 1794).
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Auch hinter Danischmends Plädoyer für die Entlastung des Bauernstandes steht ein Vorstellungsmuster, das unter den deutschen Intellektuellen des späten 18. Jahrhunderts alles andere als unpopulär war. Gemeint ist der Gedanke, dass familiäre Privatheit und damit zusammenhängend auch ständische Identität als eigentliche Quelle von Humanität fungieren können und daher unbedingt zu schützen sind, weil nur sie einen Raum zur Verfügung stellen, der die Entfaltung von Individualität ermöglicht. Werden die basalen menschlichen Bindungen zerstört, dann bewirkt dies langfristig auch eine Auflösung der politischen Ordnung.165 Wegen der schlechten Regierung Schach-Gebals ist auch der Staat Indostan von einer solchen Aushölung der stratifikatorischen Differenzierung bedroht. Danischmend führt Gebal daher das Modell einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft vor Augen, die als Ganze eine gelungene Harmonie von Natur- und Kulturstand repräsentiert. Neben dem Erhalt der schichtenspezifischen Identität spielt dabei auch die Vermittlung zwischen den sozialen Schichten eine wichtige Rolle, die allerdings nicht in soziale Mobilität oder in Sehnsucht nach dem Dasein in einem anderen Stand ausarten darf. Was die Rückkehrer in der Naturkinder-Episode sozusagen in der geographischen Horizontale repräsentieren, nämlich die gelungene Synthese von Natur- und Kulturstand, das überträgt Danischmend mit seinem stratifikatorischen Gesellschaftsmodell in die Vertikale sozialer Schichten, die einen lebendigen Austausch untereinander führen: Eine mit ihrem Dasein zufriedene Landbevölkerung, die ihr schichtenspezifisches Brauchtum und ihre ständische Individualität pflegt, bietet für Angehörige der Oberschicht oder der Stadtbevölkerung einen Erholungsraum, der ihnen im Rahmen eines Kuraufenthaltes auf dem Land die Erfahrung von Individualität jenseits sozialer Rollen ermöglicht.166 Zugleich fungiert eine mit dem eigenen Stand zufriedene Landbevölkerung in Danischmends Vorstellung als schier unerschöpfliches ›Menschenreservoir‹: Die Natur ist fruchtbar. Das Landvolk, sobald es nach seiner Weise glücklich ist, vermehrt sich ins Unendliche. Das Land wird eine unerschöpfliche Quelle, woraus die Städte (und bey Gelegenheit vielleicht auch die edelsten Familien) mit gesundem fri-
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Goethe hat diesen für das 18. Jahrhundert charakteristischen Vorstellungskomplex, der gerade durch die Entwicklung im nachrevolutionären Frankreich neuen Nährboden bekam, wohl am prononciertesten literarisiert, nämlich in seinem Versepos Hermann und Dorothea, das mit der Ehe der beiden titelgebenden Protagonisten endet und diese als humanes Gegengewicht zur Französischen Revolution inszeniert, die alle menschlichen Bindungen auflöst und daher in Verrohung und Bürgerkrieg gipfelt. »Von Zeit zu Zeit werden unsre Großen, werden die reichen und üppigen Bewohner der Hauptstädte, von Überdruß, Langerweile und von der Nothwendigkeit eine abgenützte Gesundheit auszubessern, aufs Land geführt werden; unvermerkt werden sie Geschmack an den einfältigen aber mit der menschlichen Natur so fein zusammen gestimmten Freuden des Landlebens gewinnen; unvermerkt werden sie eine Menge von Vorurtheilen und die dicke Haut der Fühllosigkeit, die sich gleichsam um ihr Herz gezogen hatte, abstreifen« (OA 10.1/1, 78).
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schen Blute wieder angeschwellt werden, welches den Staat in immerwährender Jugend und Stärke erhält. Aus den jungen Schwärmen, die diese Bienenstöcke ausstoßen, werden sich die übrigen Stände ergänzen, und so werden die Verheerungen, die der Luxus anrichtet, beynahe unmerklich bleiben. (OA 10.1/1, 78f.)
d)
Die Tifan-Episode als narrative Anwendung der Naturkinder-Utopie
Die Kernpunkte von Danischmends Ideal einer stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft finden sich im Aufbau von Tifans Staat wieder: Der Bauernstand ist hier »die wahre Grundlage der ganzen bürgerlichen Gesellschaft« (OA 10.1/1, 294) und zugleich die »glücklichste Classe der Einwohner« (Ebd.), denn Tifan befreit sie von obrigkeitlicher Unterdrückung und hält ihre Abgabenlast in Grenzen, so dass sie faktisch alle »Vorzüge freygebohrner Bürger« (Ebd.) genießen. Markantes Symbol für die Übertragung von Danischmends Modell idealer gesellschaftlicher Schichtung auf den Staat Scheschian ist die Ehe des Monarchen Tifan: Noch während seiner Jugendzeit, die er als Dschengis’ Pflegesohn in dessen isolierter Naturkolonie verlebt, heiratet der »verborgene Prinz«167 Tifan die »Tochter eines gemeinen Landmannes« (OA 10.1/1, 226). Tifans Ehe verbindet damit nicht nur zwei Individuen, sondern symbolisch auch die zwei elementaren sozialen Gruppen, nämlich die politische und moralische Verantwortung tragende adelige Obrigkeit und den Bauernstand, der den Staat ernährt. Die ideale Verbindung zwischen den einzelnen sozialen Schichten gleicht unter Tifan mithin einer glücklichen Ehe, in der liebevolles Geben und Nehmen herrscht. Tifans Ehe hat aber nicht nur repräsentativen Symbol-, sondern auch sozialen Vorbildcharakter. Unter seiner Regierung besitzt nämlich die Vermehrung des Bevölkerungswachstums hohe Priorität: Er erlässt ein rigides »Fertilitätsgesetz«168, das niemandem die Ehelosigkeit erlaubt, »der nicht eine angebohrne oder zufällige körperliche Untüchtigkeit von der unverbesserlichen Art gerichtlich erweisen konnte« (OA 10.1/1, 278). Hinter dieser Auffassung, der »höchste Wohlstand eines Staates hange von der möglichsten Bevölkerung ab« (OA 10.1/1, 291), und hinter der Vorstellung einer agronomischen Wirtschaftsordnung waren für die Zeitgenossen unschwer die Grundprinzipien des Physiokratismus nach François Quesnay zu erkennen, der die Landwirtschaft zur Hauptquelle ökonomischer Wertschöpfung stilisierte. Quesnays Lehre befand sich just zur Entstehungszeit des Goldnen Spiegels auf dem Höhepunkt ihrer Popularität in Deutschland, da bedingt durch eine schwere Versorgungskrise in den Jahren 1769–1772 akute Hungersnot herrschte. Die grassierende Nahrungsmittelknappheit führte vielen Zeitgenossen die fundamentale Abhängigkeit der Staatsökonomie von der Landwirtschaft vor Augen und bescherte Quesnays Lehren erheblichen Zulauf. Es kommt daher nicht von unge-
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G. Müller (1989), 106. Richter (2008), 286.
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Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
fähr, dass einer der Höhepunkte der Landlebendichtung im 18. Jahrhundert die 1770er Jahre waren, in denen viele Autoren sich am literarischen Lob des Landlebens versuchten. Einer von ihnen war Wielands Freund Gleim mit seinen Liedern für das Volk, für die Wielands Naturkinder-Episode offenbar eine nicht unwesentliche Inspirationsquelle gewesen ist. Gleim lagen seit dem 18. April 1772 die ersten beiden Teile des Goldnen Spiegels vor, Teil drei und vier stellte Wieland erst im Mai fertig.169 Zwar hat sich Gleims briefliche Reaktion auf den Goldnen Spiegel nicht erhalten, aber aus Wielands folgendem Antwortbrief ist Gleims offene Begeisterung zu entnehmen. Wieland versucht hier, seinen Freund Gleim, der den Goldnen Spiegel zu diesem Zeitpunkt noch nicht als Ganzes kennt, in seiner Euphorie zu bremsen, und warnt ihn vor dem naiven Glauben, die Tugendhaftigkeit der Naturkinder ließe sich unter erfahrungsweltlichen Bedingungen integral realisieren:170 Ich kan nicht genug eilen, […] Ihnen für das Vergnügen zu danken, so mir Ihre Zufriedenheit mit dem Goldenen Spiegel gegeben hat. Mit welcher Sehnsucht erwart’ ich Ihre Lieder für die Kinder der Natur! Sie erinnern sich doch bey diesen Kindern der Natur meiner vielgeliebten Fulier oder Fowleys in Africa, und der guten Einwohner der Insel Taiti, von denen uns der Ritter Bougainville ein so anziehendes Gemählde macht? Es ist ein süsser Gedancke daß es doch würklich noch hier und da solche Kinder der Natur auf dem Erdboden giebt. Aber unsre armen, zu Boden gedrückten, hungersterbenden Landsleute zu solchen umzuschaffen, – nun, daran ist wohl nicht zu dencken. Aber es giebt doch auch einen glücklichern Theil unter unserm Landvolcke, der des Lebens froh zu werden fähig ist, der in dem glücklichen Mittelstand zwischen Dürftigkeit und Überfluß gerade in derjenigen Verfassung steht, worinn der Mensch die meiste Disposition hat, gut und froh zu seyn. Findet mein Gleim daß diese Classe unsrer Brüder durch die Geschichte der Kinder der Natur erbaut werden könnte, so gebe ich meine Einwilligung von Herzen dazu. Nur müßte freylich diese Geschichte ganz umgeschmolzen und alles den Begriffen und der Sprache unsers Landvolcks angepaßt werden; denn leider! so wie sie in meinem Buche steht, würde sie den guten Leutchen weder verständlich noch erbaulich seyn.171
Um nachzuvollziehen, warum Wieland so empfindlich auf Gleims Missverständnis und auf dessen Euphorie für das Landleben reagiert, lohnt es sich, einige Forschungsergebnisse zur Funktionsgeschichte der Landlebendichtung im 18. Jahrhundert zu Rate zu ziehen: Anke-Marie Lohmeier hat in ihrer Studie zum Traditionszusammenhang zwischen dem urbanitätskritischen Lob des Schäferlebens im 17. Jahrhundert und der Landlebendichtung des 18. Jahrhunderts gezeigt, dass »das poetische Modell ›Landleben‹ in erster Linie als eine literarische Chiffre fungiert für die Lebensweise und die Lebensnormen einer sich selbst als mittelständisch klassifizierenden Bildungsschicht, als ein literarisches Medium, das der Selbstverständigung, Selbstvergewisserung und Selbstaufwertung dieser Schicht in Abgrenzung 169 170 171
Vgl. WBr 6.2, 992. Vgl. Baudach (1993), 539f., hier Anm. 173. WBr 4, 489: Wieland an Gleim, 4.5.1772 (Hervorhebung, M.L.).
3. Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im ›Goldnen Spiegel‹
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gegenüber sozial höher rangierenden Gesellschaftsschichten dient«172. Mit dem Lob eines stilisierten Landlebens artikulieren aufgeklärte Autoren demnach subkutan ein »Lob des Mittelstandes«173, zu dem sie sich selbst zählen und den sie als soziale Manifestation von Horaz’ moralischem Ideal der ›aurea mediocritas‹ inszenieren, der goldenen Mitte verfeinerten, aber gemäßigten Genusses, also der goldenen Mitte ›zwischen Dürftigkeit und Überfluß‹, von der Wieland in seinem Brief spricht. In Wielands Unbehagen an Gleims Lektüre der Naturkinder-Episode äußert sich mithin die Befürchtung, dass auch Gleim sein stilisiertes Landleben als literarische Chiffre missversteht, mit der bestimmte Lesergruppen lediglich in ihrem sozialen Selbstverständnis versichert werden sollen. Er befürchtet, Gleim wolle dem mittelständischen Leser mit den Naturkindern suggerieren, dass dieser schon im Besitz des moralischen Statussymbols eines gemäßigten Lebens sei, um von dieser hohen Warte aus das ungezügelte Konsumverhalten der Oberschichten moralisch zu delegitimieren. Hinter Wielands ausgeprägtem Interesse an dialogischen und ironischselbstreflexiven Darstellungsformen verbirgt sich offenkundig die Absicht, gerade einen solchen Mechanismus der Hypokrisie zu vermeiden. Für Wieland wird dem Aufklärungsprojekt ein Bärendienst erwiesen, wenn man versucht, Leser über die Idee des moralischen Gewissens und des gemäßigten Lebens mithilfe diskursiver Texte zu belehren oder sie mit literarischen Fiktionen im Glauben an diese Idee zu vergewissern. Er versucht daher zu verhindern, dass man seinem Mäßigungsideal pauschal eine soziale Dimension verleiht und es mit einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht identifiziert, die daraus ihr Selbstbewusstsein bezieht. Bei Wieland ist die Idee gemäßigten Lebens primär individualethisch, als Orientierungsnorm für die private Lebenspraxis jedes Einzelnen gemeint. Eine literarische Aufklärung, die bestimmte soziale Schichten zum empirischen Träger seines Mäßigungsideals stilisiert, lehnt er dagegen ab. Im Goldnen Spiegel wird daher immer wieder das Problem mangelnder Fiktionskompetenz im Umgang mit der literarischen Darstellung utopischer Tugendgesellschaften und idealer Herrscher aufgeworfen. Vor allem Danischmend gelingt es entgegen seinen eigenen Erzählmaximen häufig nicht, selbstreflexiv zu erzählen, denn er beginnt immer wieder für das Erzählte zu schwärmen und sich über seine Erzählung als aufgeklärten Propheten zu inszenieren, der seine eigene moralische Kompetenz nicht mehr hinterfragt.174 Gerade während der Tifan-Epi172 173 174
A.-M. Lohmeier (1981), 423. Ebd. 425. Helge Jordheim hat Danischmends Hang zu Weitschweifigkeit und schwärmerisch-prophetischen Ansprachen über die repressive Öffentlichkeit in Gebals Schlafzimmer erklärt, aufgrund derer der Philosoph zu Strategien der Hypokrisie und Doppelkommunikation Zuflucht nehmen müsse (vgl. Jordheim [2007], 164). Dabei ist jedoch zu bedenken, dass Danischmends Verhalten nicht nur von Gebal gerügt, sondern auch auf der narrativen Ebene der Übersetzerfi ktionen ironisiert wird, etwa wenn der deutsche Übersetzer den Hofphilosophen als »schwatzhaften Danischmende« (OA 10.1/1, 311) bezeichnet, für dessen Verhalten also nicht primär die repres-
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Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
sode verliert Danischmend immer wieder die Distanz zum Erzählten. Wenn er im Erzählen innehält, ist ihm, »als ob er plötzlich aus einem Traum erwachte« (OA 10.1/1, 234). Mehrfach prophezeit er sogar das Kommen eines künftigen Tifan.175 Der Märchenfeind Schach-Gebal reagiert mit verstimmter Ablehnung auf Danischmends schwärmerisches Erzählverhalten und behandelt ihn wie einen Entrückten, den man mit einem Heilkraut gegen Geisteskrankheit wieder auf den Boden der Tatsachen holen muss: »[I]ch sehe du rasest; unser Prophet befiehlt uns Leute in deinen Umständen mit Ehrerbietung anzusehen; aber gleichwohl könnte, däucht mich, eine Prise Niesewurz nicht schaden, Freund Danischmende!« (OA 10.1/1, 235). Zudem erweist sich Gebal im Laufe des Disputs über Tifan als der Kompetentere im Umgang mit Fiktionen. Er weist Danischmend darauf hin, dass Tifan nur ein poetisches Konstrukt sei, diese Geschichte aber durchaus einige Grundmaximen enthalte, in Anbetracht derer man »sich nicht erwehren [kann] zu wünschen, daß man dreyßig Jahre jünger seyn möchte, um eine so schöne Phantasie wahr zu machen!« (OA 10.1/1, 254). Schach-Gebal formuliert damit jene Rezeptionshaltung gegenüber der literarischen Darstellung tugendhafter Individuen, die Wielands Texte ihren Lesern zumeist regelrecht aufdrängen: Zum einen soll der Leser den poetischen Konstruktcharakter des Dargestellten nie aus den Augen verlieren, zum anderen aber auch die Faszinationskraft des Dargestellten bis zu einem gewissen Grad zulassen. Überschlägt man indes Gebals Verhalten im gesamten Dialogverlauf, so kommt es nicht selten vor, dass die Chronik der Könige von Scheschian ihn zwar dazu stimuliert, gewisse moralische Normen, die er aus Danischmends Erzählung ableitet, in die politische Wirklichkeit seines Herrschaftsbereiches zu übersetzen. Allerdings ist diese Handlungsbereitschaft stets von so kurzer Dauer, dass er sie schon am nächsten Morgen vergessen hat und Danischmend sich seinen Unwillen zuzieht, wenn er ihn daran erinnert.176 Demjenigen Leser, der sich von Tifan zu realpolitischen Veränderungen motivieren lässt, wird am Beispiel des launigen Gebal – einem weder besonders guten noch besonders schlechten
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siven Kommunikationsverhältnisse in Gebals Privaträumen verantwortlich macht, sondern Danischmends schwärmerisch-hypokritischen Charakter. »Aber mein Herz sagt mir, daß die Idee eines solchen Fürsten, die ich in diesem Augenblick, wie durch eine Art von Eingebung, auf einmal in meiner Seele fand, kein Hirngespinste ist. Er wird kommen, und sollt es auch erst in vielen Jahrhunderten seyn, ganz gewiß wird er kommen, um zu gleicher Zeit die Ehre der Fürsehung, der Menschheit und des Fürstenstandes zu retten, und der Trost eines unglücklichen Zeitalters, das Vorbild der Könige, und die Liebe und Wonne aller Menschen zu seyn« (OA 10.1/1, 235). – »Tifan ist kein Geschöpfe der Phantasie; es liegt dem ganzen Menschengeschlechte daran, daß er keines sey. Entweder er ist schon gewesen, oder, wenn er […] nicht unter den Itztlebenden ist, wird er ganz gewiß künftig einmal seyn« (OA 10.1/1, 252). Vgl. OA 10.1/1, 115 u. 194f.
3. Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im ›Goldnen Spiegel‹
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Durchschnittsindividuum – also nahegelegt, seine eigenen Kräfte und Kompetenzen nicht zu überschätzen und sich nicht über sich selbst zu täuschen. In der Erfahrungswirklichkeit bedarf es für Veränderungen eben oft eines deutlich längeren Atems, um das idealistische Feuer des Tugendenthusiasmus auch über ein kurzes schwärmerisches Aufflammen hinaus am Glühen zu halten.177 In der zweiten Textfassung von 1794 enthält die Tifan-Episode zusätzlich noch die ›Anmerkung eines Ungenannten‹, die dem Leser nahelegt, sich vom Goldnen Spiegel trotz aller Ironie und Selbstreflexion nicht desillusionieren zu lassen, und ihm die Lektürehaltung eines »›realistischen‹ Utopisten«178 empfiehlt: Sollt es möglich sein, daß unter allen künftigen Regenten, denen diese Geschichte in einem Alter, da ihr Kopf noch nicht zu sehr verschroben und ihr Herz noch nicht versteinert ist, in die Hände käme, auch nur Einer wäre, der, nachdem er diesen Tifan kennen gelernt, den Gedanken ertragen könnte, einen solchen Charakter ein bloßes Ideal bleiben zu lassen? (GS 1794, 249)
Hier meldet sich eine unbestimmte Instanz zu Wort, die gerade durch ihre Anonymität an Deutungsautorität gewinnt, weil diese ihr eine interessenfreie und neutrale Interpretation der Tifan-Figur ermöglicht. Zudem fordert der Ungenannte nicht apodiktisch, dass Tifan einem empirischen Fürsten als Orientierungsnorm dienen solle, sondern formuliert stattdessen eine Suggestivfrage, bedient sich also einer rhetorischen Überredungstechnik, die später gerade bei den Frühromantikern allenthalben zum Einsatz kommen wird. Über Dialoge, die die utopische Norm und ihre Darstellung problematisieren, und über die performativen Selbstwidersprüche jener Figuren, die diese Dialoge führen, wirbt der Goldne Spiegel also gleichzeitig um Akzeptanz für und Distanz zu der utopischen Norm gemäßigter Zivilisation und Lebensführung. Vor allem weil diese Norm dem selbstwidersprüchlichen und zum Schwärmertum neigenden Danischmend in den Mund gelegt wird, sperrt sich der Goldne Spiegel gegen den Versuch, sie als poetische Chiffre zu missverstehen, anhand derer eine ›bürgerliche Öffentlichkeit‹ sich über die Moralität ihrer eigenen Lebensführung versichert. Wer sich von der Naturkinder-Episode oder dem Ideal-Monarchen Tifan
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Dass der Goldne Spiegel mit Schach-Gebals widersprüchlichen Reaktionen auf Danischmends Scheschian-Geschichte in doppeltem Sinne Einfluss auf den Leser auszuüben versucht, einerseits wirklichkeitskritische Veränderungsbereitschaft in ihm wecken will, ihn andererseits aber vor einer schwärmerischen Überschätzung der Veränderungsmöglichkeiten und der eigenen Willenskraft warnt, geht auch aus der Selbstrezension zum Goldnen Spiegel hervor, die Wieland im Juni 1772 für die Erfurtische gelehrte Zeitung schreibt. Darin empfiehlt er einem fürstlichen Leser am Beispiel Gebals zu lernen, die eigenen Stimmungsschwankungen zu beobachten und sich selbst einen langen Atem bei politischen Veränderungen anzutrainieren: »Sollte endlich ein Schach auf die Gedanken kommen, es zu seiner Lektüre vor der Mittagsruhe zu machen, […] so möchten wir den etwanigen Entschliessungen, die es in ihm erweckte, eine etwas längere Dauer oder schnellere Vollziehung wünschen, als die von Schah-Gebal gehabt haben sollen« (OA 10.1/1, 327f.). Baudach (1993), 558.
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Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
in seinem Glauben an die eigene Tugendhaftigkeit bestätigen lassen wollte, müsste sich mit Danischmend identifizieren und sich dabei zugestehen, dass er keine literarische Utopie lesen oder erzählen kann, ohne ins Schwärmen zu geraten, also überhaupt nicht fiktionskompetent ist. Hinter Danischmends physiokratischem Gesellschaftsmodell und dem idealisierten Bauernstand steckt auf der Ebene des Gesamttextes zwar durchaus eine Norm zur Verbesserung der Wirklichkeit, aber keineswegs mit der hypokritischen Implikation, eine bestimmte soziale Schicht sei der prädestinierte Träger des moralischen Gewissens. Stattdessen formuliert der Goldne Spiegel Maximen zur allmählichen Reform des absolutistischen Staates, basierend auf der Überzeugung, dass nur die Reform und nicht die revolutionäre Zerschlagung der sozialen Wirklichkeit Aufklärung befördert. Die ›Geisel‹ der Anarchie birgt für Wieland immer die Gefahr der Zerstörung von privater und ständischer Identität, also der Quelle von Humanität. Daher wird an die regierungsverantwortliche Oberschicht appelliert, für den Erhalt schichtenspezifischer Identität zu sorgen, Ausbeutung und Unterdrückung zu reduzieren, Luxusproduktion und Verschwendung einzudämmen. Diese Grundmaximen werden den Regierungsverantwortlichen jedoch nicht als pauschales Allheilmittel aufgenötigt, da gerade ihre Umsetzung sehr viel Engagement, einen langen Atem und Frustrationstoleranz verlangt, die einem normalen Fürsten vom Typ Gebal fehlen.179 Ablesen lässt sich hieran aber vor allem Wielands Überzeugung von der Notwendigkeit stratifikatorischer Differenzierung, da diese sich an der Natur des Menschen und seinen animalischen Trieben am besten bewehrt habe. Offenbar gerät die Haltung der Ironie bei Fragen nach der Legitimität der ständischen Ordnung doch an ihre Grenzen. Diese ist zwar reformbedürftig, soll aber nicht
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Dass dieses Zusammenspiel von utopischem Entwurf und Utopiereflexion schon von den Zeitgenossen zum Teil erstaunlich genau verstanden wurde, zeigt eine anonyme Rezension, die im Juli 1772 erscheint und die den Erzählkontext und die Bedeutung der Naturkinder-Episode wie folgt erklärt: »Unter einem […] Könige erlangen die Scheschianer, durch den Dienst der schönen Lili […] Kenntnis der Bequemlichkeiten und feinern Ergötzungen. Bei dieser Epoche wird dem Hofphilosophen die Frage vorgelegt, ob und wie die schädlichen Folgen des Luxus verhindert werden können? zu deren Beantwortung er sich den Weg bahnt mittelst einer Episode, die uns eines der schönsten Stücke im ganzen Buch zu sein dünket. Ein kleines Völkchen gemachter Wollüstlinge […] wird mit aller Stärke der bilderreichen Imagination des V[erfassers] reizend geschildert (ob Schilderungen wie diese da, schädlich, wird im Buche selbst untersucht). Ein durch Ausschweifungen äußerst entkräfteter Emir, der sich zu diesem Völkchen verirrt, getreu nach der Natur gemalt, macht das erhebende Gegenbild. Ihre Sitten, ihre Gesetze (in welchen die Philosophie des Vergnügens enthalten ist) sollen zeigen, wie alle Arten feiner und gesuchter Ergötzungen ohne Nachteil genossen werden können. […] Aber in einem großen Staate? – Gerade dies soll begreiflich gemacht werden, daß wenn es bei einem kleinen Völkchen unter besondern Umständen etwa möglich wäre, bei einem großen Staate es unmöglich ist, die schädlichen Folgen des Luxus gänzlich zu verhindern. Etwas aber kann doch geschehen. Es kann wenigstens ein Teil der Nation, vielleicht der größte und wichtigste, vor der Ansteckung bewahrt werden« (zitiert nach Jaumann [1979], 743).
3. Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im ›Goldnen Spiegel‹
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abgeschafft werden. Der Goldnen Spiegel skizziert daher die Idee eines Ständemodells ohne ökonomische Gräben zwischen den einzelnen sozialen Schichten, aber auch ohne allzu große soziale Mobilität. Vergessen werden darf dabei nicht, dass Wieland zur Zeit der Erstveröffentlichung des Goldnen Spiegels noch die Leibeigenschaft im Heiligen Römischen Reich vor Augen hatte. Erst am 1. November 1781 erließ Joseph II. für die habsburgischen Erblande als erster europäischer Monarch ein ›Leibeigenschaftsaufhebungspatent‹. Der Goldne Spiegel plädiert indes schon Anfang der 1770er Jahre für eine Lockerung der Abgabenlast und eine stärkere Integration der Bauern in den Staat.
3.4 Die Korrelation von Mysterienkult, Utopiereflexion und anthropologischem Vorbehalt a)
Der Saïs-Kult und der Aberglaubensdiskurs im Goldnen Spiegel
Eine vergleichbar selbstreflexive Darstellungsstrategie wie bei der utopischen Naturkinder-Episode oder bei dem Ideal-Monarchen Tifan verfolgt der Goldne Spiegel nur noch im Falle der scheschianischen Religionsgeschichte und inszeniert auf diese Weise eine strukturelle Analogie zwischen dem Schwärmen für utopische Entwürfe und dem Aberglauben. Als Danischmend seinen Zuhörern die Geschichte der scheschianischen Religion erzählt, gibt er sich als kompromissloser Religionskritiker zu erkennen, für den die »Schwachheiten der menschlichen Natur« (OA 10.1/1, 121) in nichts so deutlich zum Ausdruck kommen, wie im Aberglauben. Vor allem prangert er die schreiende Unvernunft des scheschianischen Mythos vom großen Affen an und vergleicht dieses Frühstadium der scheschianischen Religionsgeschichte mit der altägyptischen Religionspraxis (vgl. OA 10.1/1, 119). Ägypten gilt Danischmend geradezu als »Mutterland der Schwärmerei«180 und er echauffiert sich vor allem über den Isis-Kult zu Saïs, an dem sich seiner Meinung nach das ägyptische Aufklärungsdefizit bekundet, da die Ägypter die Ganzheit der Natur nicht vernünftig, mit »gesunden Begriff[en]« (OA 10.1/1, 120) erklären, sondern sie zum »heilige[n] Dunkel« (Ebd.) verklären. Signifikanterweise fordern Danischmends Ausführungen zur ägyptischen Religionspraxis die drei Übersetzer zu so vielen Fußnotenkommentaren heraus wie an keiner anderen Stelle des Goldnen Spiegels. Die ›Schichtenstruktur‹ des Textes wird dem Leser in dieser Passage also graphisch vor Augen geführt, denn die Übersetzer-Verfasser kommentieren sich ausgiebig gegenseitig (vgl. OA 10.1/1, 119–121). Auch Danischmends Polemik gegen den Isis-Kult bleibt dabei nicht unwidersprochen, sondern prompt schaltet sich der deutsche Übersetzer ein:
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Zu dieser Formulierung vgl. Petersdorff (1996), 67ff.
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Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
Danischmende scheint hier die berühmte Inschrift vor Augen gehabt zu haben, welche zu Sais im Tempel der Isis gelesen wurde: »Ich bin alles was ist, was gewesen ist und was seyn wird; und meinen Schleyer hat noch kein Sterblicher aufgedeckt.« In diesem Falle hat er Unrecht gehabt, nicht zu empfinden, daß uns diese Inschrift von der unermeßlichen Größe und der majestätischen Unbegreiflichkeit der Natur das erhabenste Bild giebt, das jemals in der Seele eines Sterblichen entworfen worden ist. (OA 10.1/1, 120)
Hinter dieser inszenierten Frontstellung zwischen Danischmend und den fiktiven Übersetzern steckt offensichtlich eine Leserlenkungsstrategie und eine bestimmte Überredungsintention: Aus der Textperspektive wird hier dafür plädiert, Aberglaubens- und Religionskritik behutsam zu üben und nicht wie Danischmend im Gestus aufgeklärt-intellektualistischer Arroganz, denn allzu kritische Feldzüge gegen die Religion schaden auch ihrem aufklärungsförderlichen Kern. Unabhängig vom naiven Aberglauben, stellt Religion selbstreflexiven Aufklärern nämlich ein Modell zur Verfügung, das schon seit Jahrtausenden den Glauben an eine empirisch nicht-sichtbare Wahrheit erprobt und bereits eine Reihe von Ausdrucksformen, wie die verschleierte Isis, hervorgebracht hat, die den Gedanken einer Erhellung der Wahrheit durch ihre Verdunkelung veranschaulichen. Für den deutschen Übersetzer kommt gerade im Isis-Kult jener ›wahre‹ Kern von Religion zum Ausdruck, der die Vernunft davor warnt, sich selbst zu überschätzen, die Natur selbstgerecht zu einer vernunftkonform strukturierten Entität zu deklarieren, die man mit ›gesunden‹ Begriffen durchschauen könne, und mangelnde Tugend einfach als Vernunftdefizit zu erklären, obwohl es sich dabei eigentlich um ein lebenspraktisches Problem handelt. Der Widerspruch zwischen Danischmend und den Übersetzerinstanzen leistet also zweierlei: Der Leser wird von der Polemik gegen die altägyptischen Tierapotheosen und dem satirischen Unterton zwar zu einer moderaten Aberglaubensskepsis angehalten, aber auch an jenen ›wahren‹ Kern von Religion erinnert, der die Autonomie und Allmacht der menschlichen Vernunft in Frage stellt. Das Schleierhafte abergläubischer Religionspraktiken wird dem Leser einerseits aufgedeckt, ohne in ihm andererseits aber das trügerische Souveränitätsgefühl zu erzeugen, als habe er mit diesem Wissen um die Möglichkeit des Priestertrugs auch schon den Schleier der Isis gelüftet und das Ganze und Wahre erkannt. Gerade vor solcher Hypokrisie soll der Leser bewahrt werden. An der ambivalenten Religionskritik im Goldnen Spiegel wird erneut jenes Charakteristikum von Wielands Poetik ersichtlich, nämlich die Erzeugung einer bestimmten Lektürewirkung, die ein unmittelbares Souveränitätsgefühl des Verstehens oder der Bestätigung vermeidet. Der (ideale) Leser muss mühevoll das auf der Textebene Gemeinte erschließen, indem er nicht nur den vielstimmigen Dialog der Figuren aufmerksam verfolgt, sondern auch den mehrschichtigen ›Dialog‹ der widersprüchlichen Textsignale auf den unterschiedlichen narrativen Ebenen. Marga Barthel hat dieses Verfahren von Wielands Poetik schon vor 70 Jahren treffend als das »immanent Dialogische«181 oder das »immanent gesprächhafte 181
Barthel (1939), 19.
3. Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im ›Goldnen Spiegel‹
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Stilprinzip«182 bezeichnet und Wielands Texten die »Geste des Zur-Wahl-Stellens«183 sowie eine ausgeprägte Tendenz zu »negative[n] Pointe[n]«184 attestiert. Erzeugt wird diese ›Dialogizität‹ von Wielands Prosa dadurch, dass die Kritik einer narrativen Instanz an einer anderen fast immer mit einem identifizierbaren Interesse kombiniert wird, was dem Leser ermöglicht, nicht nur die kritisierte Position, sondern auch die Beweggründe des Kritikers zu hinterfragen: So wird gerade hinter Danischmends Aberglaubens- und Religionskritik das Interesse erkennbar, Schach-Gebal, der seine politische Macht vom Einfluss religiöser Institutionen bedroht sieht, für die eigene aufklärerische Position zu gewinnen, ihm die Ideen einer moralischen Politik zu vermitteln und damit Tugend bzw. Vernunft zu politisieren. Gebal ist Danischmends Religionskritik zwar willkommen, weil die Macht der Bonzen und Fakire in Indostan seine Souveränität beständig bedroht. Danischmends moralische Postulate stellen aber zugleich seine politische Souveränität in Frage, weshalb Gebal immer wieder mit anthropologischen Vorbehalten reagiert, wenn Danischmend in schwärmerischen Utopismus verfällt: Danischmende, mein Freund, […] alles was du uns hier gesagt hast, mag sehr gut seyn, wenn von einem Staat in Utopien die Rede ist, den du mit idealischen Menschen nach Belieben besetzen und regieren kannst, wie es dir gefällt […]; und da wirst du vermuthlich zugeben, daß sich kein würklicher Staat, mit Menschen von Fleisch und Blut besetzt, denken lasse, dessen Bewohner die Vortheile, so sie darinn genießen, nicht mit Aufopferung eines Theiles ihrer natürlichen Rechte erkaufen müßten. (OA 10.1/1, 138f.)
Anthropologisches Wissen um den Zusammenhang von Körper und Vernunft, der Verweis auf den ›Menschen von Fleisch und Blut‹, auf die von der Vernunft nicht domestizierbaren Leidenschaften, liefert Gebal eine Rechtfertigung des souveränen absolutistischen Staats, der den Bürgerkrieg aller gegen alle unterbindet. Bei Gebal steht der anthropologische Vorbehalt also im Dienst eines absolutistischen Herrschaftsinteresses (vgl. Kap. I.3.2.e). Die interessenfreie ethische Norm gemäßigter Lebensführung und gemäßigter Zivilisation lässt sich im Goldnen Spiegel nur implizit, aus dem Gegeneinander der interessengebundenen Positionen und deren Selbstwidersprüchen ableiten. Nicht Danischmends hypokritischer geschichtsphilosophischer Utopismus und auch nicht der vermeintliche anthropologische ›Realismus‹ Gebals werden dabei bestätigt. Stattdessen resultiert die spezifische Rhetorizität des Goldnen Spiegels aus der Kombination von sinnlich-konkreter utopischer Narratio und abstraktdiskursiver utopiereflexiver Argumentatio, wobei sich Letztere zudem auf verschiedene Dialoginstanzen verteilt.
182 183 184
Ebd., 16. Ebd., 40. Ebd.
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Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
Was Mythos- und Utopiereflexion dabei thematisch zusammenbindet, ist im Grunde die alte aristotelische Frage nach der ›Wahrheit‹ im Erfundenen: Kann man aus mythischen Praxen wie dem Isis-Kult oder aus (utopischen) Fiktionen handlungsorientierende Normen ableiten und sich zugleich darüber im Klaren sein, dass es sich nur um ein mythisches oder poetisches Konstrukt handelt? Danischmends mangelnde Kompetenz im Umgang mit literarischen Fiktionen, seine Neigung zur schwärmerischen Verwechslung von Idee und Wirklichkeit demonstriert dem Leser eine der Gefahren, denen er sich dabei aussetzt. Dagegen erweist sich der Märchenfeind Gebal zwar als fiktionskompetent und durchschaut Tifan als »phantasierte[n] Held[en] eines politischen Romans« (OA 10.1/1, 254), die konkrete Narration weckt in ihm jedoch durchaus den Wunsch, »daß man dreyßig Jahre jünger seyn möchte, um eine so schöne Phantasie wahr zu machen!« (Ebd.). Mit dem Ende des Erzählvorganges und dem Verblassen der sinnlich-konkreten Faszinationskraft des Erzählten verfliegt dieser bescheidene Veränderungswille allerdings ebenso schnell, wie er gekommen ist. Damit steht die Frage im Raum, wie man den sinnlichen Anreiz von mythischen Praxen oder literarischen Fiktionen zu einem länger anhaltenden realistischen Reformwillen veredeln kann. Eine Antwort darauf gibt der Goldne Spiegel vor allem mit dem wiederholten, indirekten Rekurs auf das Saïs-Bildnis und auf die religiöse Praxis der Mysterienkulte: Obwohl Danischmend sich über die verschleierte Isis als Bild für das ›heilige Dunkel‹ der Natur belustigt, enthält seine Naturkinder-Erzählung eine bislang zwar unbemerkte, eigentlich aber recht markante Anspielung auf den Saïs-Kult: In der Naturkinder-Erzählung wird explizit betont, dass man von den persönlichen Umständen des Psammis, jenes legendären Sittenlehrers, überhaupt nichts weiß, »weder von seiner Abkunft noch von den Begebenheiten seines Lebens« (OA 10.1/1, 55). Informationslücken wie diese, die im Text ausdrücklich hervorgekehrt werden, sind ein ständig wiederkehrendes Verfahren in Wielands Poetik. Der Leser wird damit provoziert, sich seinen Teil zu denken und Unausgesprochenes, aber Angedeutetes selbst zu ergänzen, so auch im Falle von Psammis’ geheimnisumwitterter Vorgeschichte. Anlass zur Spekulation gibt dabei dessen auffälliger Name, der als sprechender Name auf eine konkrete Herkunft hindeutet, nämlich auf Ägypten und noch dazu auf eine ganz bestimmte Phase der ägyptischen Geschichte: Herbert Jaumanns Kommentar verweist auf den altägyptischen Pharao Psammetich II., der die Kurzform ›Psammis‹ als Beinamen führte.185 Man braucht sich wohl nicht einmal so konkret festlegen, um die Anspielungsimplikationen von ›Psammis‹ aufzuschlüsseln. Psammetich II. gehörte der 26. altägyptischen Pharaonendynastie an, die man auch als Saïten-Dynastie bezeichnet, weil ihr Begründer Psammetich I., über den Herodot in seinen Historien ausgiebig berichtet (II, 152–157), die Hauptstadt Ägyptens von Theben
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Jaumann (1979), 767.
3. Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im ›Goldnen Spiegel‹
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in das westliche Nildelta, in die Stadt Saïs verlegte und dem Land zu einer neuen kulturellen Blüte verhalf. ›Psammis‹ dürfte nun bei jedem Leser, der nur ein wenig mit der ägyptischen Geschichte vertraut ist, fast zwangsläufig die Assoziation der Saïten-Dynastie aufrufen, da immerhin drei Pharaonen dieser ohnehin nicht sehr lange währenden Dynastie den Herrschernamen Psammetich tragen (Psammetich I–III). Bei Wieland taucht auch schon in den Beyträgen ein Angehöriger der Saïten-Dynastie auf, nämlich Psammetich III., der in einer Exempelgeschichte seinen Priester Abulfaouaris ausschickt, um ein Naturvolk im inneren Afrikas auszubeuten (vgl. OA 9.1, 149–181). Psammis, der geheimnisvolle Sittenlehrer der Naturkinder, kommt demnach offensichtlich aus dem ägyptischen Saïs. Zur kulturellen Saïs-Semantik gehören die bekannten Zusammenhänge aus Platons Dialog Timaios, demzufolge Solon seine Erzählung vom utopischen Atlantis ebenfalls aus Saïs mitbrachte, wo ihm ein Priester davon berichtet hat (Timaios, 21e–22b). Der Name Psammis und die saïtische Herkunft dieses »wunderbaren Fremdling[s]« (OA 10.1/1, 56) setzt daher eine ganze Assoziationskette frei: Andeutungsweise wird zwischen Psammis’ Sittenlehre und der aus Saïs stammenden Atlantis-Sage eine Parallele gezogen und so implizit die Utopizität der Naturkinder-Ethik markiert. Vor allem aber stiftet Psammis’ sprechender Name eine Relation zwischen der ästhetischen Erziehung der Naturkinder mit weißen Marmorstatuen und der verschleierten Isis als Sinnbild für das ›heilige Dunkel‹ der Natur. Gemeinsam ist beiden der Glaube an die theophanische Wirkung von Kunstwerken.
b)
Psammis’ Kunstreligion und Tifans Mysterienkult
In der Naturkinder-Episode besteht Psammis’ Hauptproblem darin, seine Sittenlehre wirkungsvoll zu vermitteln. Er muss vermeiden, den Naturkindern die Idee eines triebharmonischen Lebens unter den Bedingungen gemäßigter Zivilisation abstrakt-diskursiv zu erklären, da dies einen unkontrollierbaren Entwicklungsschub ihrer Vernunft zur Folge hätte, der ihr Affektgleichgewicht in eine irreparable Schieflage versetzen würde. Psammis vermittelt den Naturkindern die Idee gemäßigter Zivilisation daher »auf rein sinnlichem Wege, d. h. ohne die Beteiligung von Verstand und Vernunft«186 und macht sich den »Symbolcharakter des Schönen«187 zunutze: Wie erwähnt, stellt er weißmarmorne Statuen der Huldgöttinnen auf, »Sinnbilder der Liebe, der Unschuld und der Freude« (OA 10.1/1, 57), »die man ohne Liebe und sanftes Entzücken nicht ansehen konnte« (Ebd., 56). Zudem sorgt er für eine Verschönerung des alltäglichen Lebens, indem er die Talbewohner auffordert, sich in ihren Wohnungen mit schönen Gegenständen zu umgeben, die ihr »Auge an die Schönheiten der Natur« (OA 10.1/1, 59) gewöhnen. Weil die Naturkinder so die anmutige Schönheit jenes äußeren Schleiers 186 187
Baudach (1993), 579. Ebd., 577.
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Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
schätzen lernen, der das ›heilige Dunkel‹ der Natur verhüllt, werden sie vor der gefährlichen Versuchung bewahrt, diesen Schleier mit den Mitteln des ›eitlen‹ Verstandes zu lüften. Was genau aber die theophanische Wirkung der schönen Huldgöttinnen-Statuen und die unwillkürliche Übersetzung der von ihnen repräsentierten Naturharmonie in eine Triebharmonie beim Betrachter ermöglicht, bleibt unausgesprochen. Das Schicksal des aus der Erfahrungswirklichkeit kommenden Emirs zeigt lediglich, dass diese Form der ästhetischen Erziehung nicht auf die Erfahrungswirklichkeit übertragbar ist, denn sie setzt »einen gewissen Grad an natürlicher Ästhetik«188 und das »Axiom der Unschuld«189 voraus, die dem depravierten Kulturmenschen unwiederbringlich verloren gegangen ist. Markantes Indiz für die angeborene natürliche Ästhetik der Naturkinder ist ihre ›griechische Abkunft‹ (OA 10.1/1, 54). Obwohl die Zeit nach und nach »den größesten Theil der Merkmale ihres Ursprungs aus[gelöscht]« (OA 10.1/1, 54) hat, blieb ihnen »von den Künsten, die der griechischen Nation einen unverlierbaren Rang über alle übrigen gegeben haben, […] die Liebe zur Musik, und ein gewisser angebohrner Hang zum Schönen und zu geselligen Vergnügungen« (Ebd.) erhalten. Die Stabilität der gemäßigten und tugendhaften Zivilisation im Naturkindertal ist also das Ergebnis einer idealen Verbindung zwischen dem griechischen Sinn für das Schöne und dem ägyptischen Sinn für das ›heilige Dunkel‹ der Natur, den Psammis aus Saïs importiert. Einem erfahrungsweltlichen ›homo corruptus‹ wie dem Emir fehlt dagegen der Sinn für das Schöne, da er aufgrund seiner Lebenspraxis, die von unablässiger Bedürfnisbefriedigung gekennzeichnet ist, seine Umwelt nur als das Objekt seiner eigenen Wünsche wahrnimmt. Ist die Emanzipation der Sinnlichkeit bereits zum hedonistischen Egozentrismus verkommen, dann gelingt es nicht mehr, den mäßigenden Sinn für das ›heilige Dunkel‹ der Natur über die ästhetische Erfahrung zu reaktivieren, da persönliches Begehren das ›interesselose Wohlgefallen‹ der Schönheitserfahrung immer wieder vereitelt: Am ersten Abend, den der Emir bei den Naturkindern verbringt, wird er Zeuge, wie der alte Hausvater in Gegenwart dreier schöner Frauen, die ihm in einem schwach beleuchteten Zimmer Lieder vorsingen und ihm angenehme Düfte zufächeln, zu innerer Ruhe findet und sanft einschläft. In scharfem Kontrast dazu verfehlt dieses Einschläferungsprogramm beim Emir gänzlich seine Wirkung. Als man auch ihm eine schöne Sängerin aufs Zimmer schickt, beruhigt ihn das keineswegs, sondern weckt sein sexuelles Begehren, und als die schöne Sängerin ihn in Verwunderung über sein Verhalten verlässt, leidet er die ganze Nacht an Schlaflosigkeit (vgl. OA 10.1/1, 50f.).190 Die Parallele zu Schach-Gebals Schlaflosigkeit ist dabei offenkundig, Agrypnie fungiert im Goldnen Spiegel also als markantes äußeres Anzeichen für die innere Unfähigkeit zur Bedürfnismäßigung. 188 189 190
Ebd., 594, hier Anm. 252. Ebd., 595. Vgl. ebd., 593, hier Anm. 249.
3. Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im ›Goldnen Spiegel‹
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Aus der Szene wird ersichtlich, dass die Vermittlung des Mäßigungsideals bei einem erfahrungsweltlichen Menschen anderer Strategien, einer anderen Form der ästhetischen Erziehung bedarf. Die Kunstreligion des Psammis erfährt daher in Tifans scheschianischer Verfassung bezeichnenderweise keine Neuauflage, denn die Scheschianer sind erfahrungsweltliche Individuen, »weder lenksamer noch besser als irgendein andres Volk in der Welt« (OA 10.1/1, 266). Tifan versucht die Tugendhaftigkeit der Scheschianer über eine Abwandlung der antiken Mysterienkulte zu stabilisieren, die allmählich den alten scheschianischen Aberglauben an den großen Affen ersetzen soll. Für diejenigen, »welche sich geneigt erkläreten, den Dienst der beyden Affen zu verlassen« (OA 10.1/1, 304f.), richtet er einen »geheimen Gottesdienst« (Ebd., 304) ein.191 Über die genauen Inhalte dieser Mysterienkulte ist jedoch nichts überliefert, außer dass sie »mit den Mysterien bey den Egyptern und Griechen eine grosse Ähnlichkeit« (OA 10.1/1, 305) besaßen. So kann der Erzähler Danischmend lediglich mutmaßen, dass es bei diesen Geheimgottesdiensten darum ging, die Adepten, »theils durch symbolische Vorstellungen, theils durch deutlichen Unterricht, von der Eitelkeit des Götzendienstes zu überzeugen, und vermittelst einer Art von feyerlicher Verpflichtung auf die Grundwahrheiten der natürlichen Religion, sie zu besserer Erfüllung ihrer menschlichen und bürgerlichen Pflichten verbindlich zu machen« (OA 10.1/1, 305). Die Mysterienkulte entwickeln in Tifans Scheschian, besonders aufgrund ihrer sinnlichen Faszinationskraft, eine erhebliche soziale Integrationswirkung und garantieren geradezu die Stabilität der Gesellschaftsverfassung, denn die »Begierde zu diesen Mysterien zugelassen zu werden, wurde nach und nach eine Leidenschaft bey den Scheschianern« (OA 10.1/1, 305). Tifan gelingt es, »den Scheschianern die sinnlichen Gegenstände ihres bisherigen vermeynten Gottesdienstes zu entziehen [und] etwas anderes, welches ihre Sinnen und ihre Einbildungskraft gehörig zu rühren geschickt war, an dessen Stelle [zu] setzen« (OA 10.1/1, 305). Die Mysterienkulte leisten zwar den wesentlichen Beitrag zur inneren Befriedung und Humanisierung Scheschians, werden aber zugleich zum entscheidenden Katalysator für den schleichenden Verfall Scheschians nach Tifans Tod. Die Privilegien, die Tifan den Priestern der geheimen Mysterienkulte zugesteht, enthalten bereits jenen »verborgenen Kapitalfehler« (GS 1794, 303), der zur politischen Implosion des nach-tifanischen Scheschian führt (vgl. Anm. 121): Tifan hat die scheschianischen Priester nämlich nicht nur mit der Liturgie der geheimen Mysterienkulte betraut, sondern sie auch zu »öffentlichen Lehrern des Buchs der Rechte und Pflichten« (OA 10.1/1, 306) ernannt, jener schriftlichen Kodifizierung der scheschianischen Verfassung: »Er glaubte den Gesetzen den Charakter der Unverletzlichkeit nicht tiefer eindrücken zu können, als indem er den Unterricht in denselben zu einem wesentlichen Theile des Gottesdienstes machte« (OA 10.1/1, 306). Tifan vertraut darauf, dass die Priester nur eine »buchstäb191
Zum Motivkomplex solcher Mysterienkulte und ihrer ästhetischen Funktion in Wielands Werk vgl. Petersdorff (1996), 88–141.
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Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
liche Erklärung der Gesetze« (OA 10.1/1, 306) praktizieren und sich aller spitzfindigen Auslegungen enthalten. Er hat durchaus guten Grund zu solchem Vertrauensvorschuss, denn unter seiner Ägide wurde die Priesterausbildung rundum reformiert, so dass der scheschianische Klerus durch seinen »vortreffliche[n] Charakter« (OA 10.1/1, 308) besticht. Mit dem öffentlichen Ansehen, das den Priestern dadurch zu Teil wird, verfallen sie allerdings der superbia, lassen sich von ihrem öffentlichen Ruhm korrumpieren, vertauschen die Demut vor ihrem Amt mit Amtsdünkel und missbrauchen ihr Amt zu guter Letzt. Es kommt also, wie es der textweltlichen Logik von Wielands Romanen zufolge fast immer kommen muss, denn die »Priester von Scheschian waren Menschen« (OA 10.1/1, 308): [D]a es schwer wo nicht ganz unthulich war, die Priester in eine physische Unmöglichkeit, aus den ihnen vorgeschriebenen [anthropologischen] Grenzen heraus zu treten, zu setzen: so begab sichs (wiewohl sehr lange nach Tifans Zeiten) daß die Priester Mittel fanden, aus Lehrern des Gesetzes unvermerkt Ausleger, aus Auslegern Richter, und aus Richtern, zu großem Nachtheil der Scheschianer, zuletzt selbst Gesetzgeber zu werden; (OA 10.1/1, 306)
Die Entartung der Priesterschaft koinzidiert also mit einem Mechanismus der Hypokrisie. Der Moment, in dem nicht mehr die lebenspraktische Vermittlung der tugendhaften Gesetze im Zentrum ihrer priesterlich-pädagogischen Bemühungen steht, sondern deren sophistische Kritik, läutet den Niedergang Scheschians ein. Wenn auch der Goldne Spiegel zweifelsfrei nicht zu den unterhaltsamsten, leserfreundlichsten oder ästhetisch wertvollsten Texten in deutscher Sprache gehört, so kann man an Passagen wie dieser doch die analytische Schärfe bewundern, mit der Wieland die problematischen Verwerfungslinien im Aufklärungsprojekt des 18. Jahrhundert aus einer vergleichsweise unbefangenen Zeitgenossenschaft heraus beobachtet und diese Beobachtungen literarisiert hat: Die scheschianischen Priester – unter Tifan Träger des moralischen Gewissens der Nation und darum auch deren Sittenlehrer – vernachlässigen die praktische Vermittlung tugendhaften Lebens zugunsten ihrer sozialen Rolle als spitzfindige Kritiker, in der sie sich vornehmlich deshalb inszenieren, um ihre gesellschaftliche, vor allem aber ihre politische Stellung nachhaltig zu festigen. Ihre Kritik entartet also zur Hypokrisie und gipfelt schließlich in der Staatskrise.192 192
Hinsichtlich ihrer ambivalenten Darstellung besteht eine deutliche Parallele zwischen den geheimen Gottesdiensten der Scheschianer und den orphischen Mysterienkulten im Agathon: Wie Dirk von Petersdorff gezeigt hat, besitzen auch im Agathon die orphischen Mysterien einerseits eine erheblich größere ethische Überzeugungskraft als die aufklärerische Metaphysik und Geschichtsphilosophie, weil sie Tugendideale nicht als abstrakte Postulate behandeln, sondern mit einer effektvollen Mischung von ästhetischen und religiösen Elementen eine »idealische Gemeinschaft zwischen den Höhern Wesen und den Menschen« (OA 8.1, 173) inszenieren. Andererseits hat Wieland die orphische Philosophie mithilfe der Erzählumstände nicht unerheblich relativiert: So hängt ihre Wirkung nicht nur maßgeblich mit dem adoleszenten »Entwicklungsstand« (Petersdorff [1996], 91) zusammen, auf dem Agathon sich befindet,
3. Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im ›Goldnen Spiegel‹
173
Zwar macht der Goldne Spiegel damit explizit auf die Entartungsgefahr aufmerksam, mit dem scheschianischen Mysterienkult in seiner ursprünglichen, von Tifan konzipierten Gestalt vermittelt er aber auch ein anschauliches Bild für den Grundgedanken selbstreflexiver Aufklärung: Aus dem Dilemma zwischen den beiden Polen einer deduktiven Moralspekulation einerseits und deren sophistischer Kritik andererseits sieht diese einen Ausweg nur im Ruf nach einer Lebenspraxis, in der sich die richtige Wahrheit erst erweist.193 Wie Wielands Programm selbstreflexiver literarischer Aufklärung ist auch Tifans Mysterienreligion vornehmlich als sinnlicher Stimulus zu tugendhaftem Leben gedacht: Da sie durchaus praktisch war, da alles Grübeln über die Natur des höchsten Wesens durch ein ausdrückliches Strafgesetz untersagt war: so machte sie auf einer Seite blos ein politisches Institut, und auf der andern eine Angelegenheit des Herzens aus; oder, mit andern Worten, es war blos darum zu thun, durch sie ein besserer Bürger, und ein glücklicherer Mensch zu werden, als man ohne sie hätte seyn können. Aus diesen Gesichtspuncten allein lehrte man die jungen Priester die Religion von Scheschian betrachten[.] (OA 10.1/1, 319)
Die Passage ist aufschlussreich, weil sie den impliziten Zwangscharakter von Tifans Verfassung erkennen lässt, der auch in der tifanischen Ehegesetzgebung zu Tage tritt, die das Single-Leben unter Strafe stellt: Tifan muss Spekulationen über Gott und mithin auch über die Moralität des Menschen per Gesetz verbieten, um künstlich einen Geheimnisschleier um die Idee menschlicher Tugend zu weben, der sich erst in einer Lebenspraxis tugendhaften Handelns sukzessive enthüllt.194 Der Unterschied zur unmittelbaren ästhetischen Erziehung der Naturkinder ist hier entscheidend: Aufgrund der ›natürlichen Ästhetik‹ der Naturkinder besitzen Psammis’ schöne Kunstwerke bei ihnen automatisch eine theophanische Wirkung und einen triebharmonisierenden Effekt. Diese ästhetische Erziehung versagt aber vor der anthropologischen Disposition erfahrungsweltlicher Individuen. Dem ›homo corruptus‹ können die Ideen von Tugend und Humanität, wenn überhaupt, nur in Form eines ästhetisch verschleierten Geheimnisses vermittelt werden, das sich religiöser Anleihen bedient. Die wirksame ästhetische Inszenierung der Idee gemäßigten, naturgemäßen Lebens jenseits von Hedonis-
193 194
als er die Kulte kennen lernt, sondern auch der Umstand, dass einer der Priester Agathons Einweihung in das Mysteriengeheimnis »zur Befriedigung pädophiler Bedürfnisse« (Ebd.) missbraucht, wirft ein zwiespältiges Licht auf die orphische Philosophie. Der Agathon demonstriert damit die Entartungsgefahr, die den Mysterienkulten anhaftet, da sie leicht für Partikularinteressen instrumentalisiert werden können. Wie Petersdorff betont, führt die Aufdeckung der eigentlichen Absichten des Mysterienpriesters allerdings keineswegs dazu, dass Agathon sich rundweg vom orphischen Kult distanziert. Zum Primat der Lebenspraxis in Wielands Programm selbstreflexiver Aufklärung vgl. Thomé (1978b), 215. Zur Vorstellung von menschlicher Moralität als Geheimnis, das die Aufgabe seiner lebenspraktischen Enthüllung enthält, und der Rolle dieser Vorstellung in der Poetik von Autoren der selbstreflexiven Aufklärung und der Frühromantik vgl. den grundlegenden Beitrag von Stockinger (1988a), insbesondere 194.
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mus und Askese gelingt bei einem Menschen aus Fleisch und Blut nur mit einem Mysterienkult, der das ›heilige Dunkel‹ der Natur verschleiert und dem Geheimnisschleier damit eine ethische Funktion verleiht, weil er zugleich verhüllt und fasziniert: Der Vernunft zeigt er einerseits ihre Grenzen auf, indem er sie vom Mysteriengeheimnis ausschließt und damit zur Bescheidenheit mahnt, andererseits erregt sein anziehendes ästhetisches Äußeres aber auch das Begehren, den Geheimnisschleier zu lüften.
c)
Mysterienkult und Utopie-Zitat als Chiffren selbstreflexiver Aufklärung
In der Differenz zwischen Psammis’ Kunstreligion für die tugendhaften Naturkinder und Tifans Mysterienkulten für den erfahrungsweltlichen Menschen lässt sich auch eine literarische Chiffre für die Auseinandersetzung der selbstreflexiven Aufklärung mit der frühaufklärerischen Wirkungsästhetik entdecken: Wielands Poetik basiert auf einer komplexen Dialektik von ironischer Entschleierung und impliziter Verhüllung. Bildlich ausgedrückt, besteht eines ihrer Grundprinzipien darin, mit dem Messer der Ironie gezielte Risse in jenen illusionierenden Schleier der ›narratio verisimilis‹ zu schneiden, den frühaufklärerische Autoren um die Idee menschlicher Tugendhaftigkeit weben, um ihre Leser im Glauben an das Weltbild der Theodizee zu vergewissern. Diese Risse gewähren Wielands Lesern jedoch keinen Einblick in die kalte Klarheit einer materialistischen Wirklichkeit, in der jeder Glaube an das moralische Gewissen bloßer Selbstbetrug wäre, sondern geben den Blick auf einen zweiten undurchdringlichen Schleier frei, nämlich auf das ›heilige Dunkel‹ der menschlichen Natur, das weder allein im Typ Hippias, noch allein im Typ Archytas, weder allein im Typ Eblis, noch allein im Typ Tifan aufgeht. In einem hervorragenden Beitrag hat Karl-Heinz Kausch schon 1958 gezeigt, dass Wielands literarische Texte gerade nicht auf die Erzeugung »plastischer Schönheit«195 abzielen, an der einem »Symbolkünstler«196 gelegen sei, sondern auf die »Grazie der [dialogisch] bewegten Form«197. Aus diesen Begriffsformeln klingt zwar der suggestive Ton der Nachkriegsgermanistik, Kausch führt aber auch handfeste sprachanalytische und narratologische Argumente ins Feld: Immer wiederkehrende Charakteristika von Wielands Prosa sind »selbstständige Erzählschichten«198, die Häufung rhetorischer Fragen, eine »Neigung zur Weitschweifigkeit und Umständlichkeit«199 sowie die Fiktion von Manuskriptlücken und diversen, zum Teil anonymisierten Kommentarinstanzen und Zwischenred-
195 196 197 198 199
Kausch (1958), 15. Ebd., 42. Ebd., 15. Ebd., 16. Ebd., 20.
3. Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im ›Goldnen Spiegel‹
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nern, die ihr einen »Schein von Improvisation«200 verleihen. Wielands Prosa bezieht den Leser zudem explizit mit ein, denn bei den zahlreichen Auslassungen und Andeutungen ist seine Einbildungs- und Deutungskraft gefordert. Dabei wird dem Leser jedoch zumeist ein verlässliches episches Orientierungszentrum vorenthalten, und es ist darum »nicht möglich, Wielands Dichtung von hoher Warte aus zu interpretieren«201, dem Souveränitätsgefühl des unmittelbaren Verstehens oder der Bestätigung verweigert sie sich. Das implizit Gemeinte lässt sich nur im genauen und distanzierten Überdenken der einander widersprechenden Textsignale, Leerstellen und Andeutungen erahnen. Der sprachliche Schleier von Wielands Prosa, der das Gemeinte verhüllt und zugleich dazu reizt, es zu lüften, ruft eine gemischte Wirkung hervor, die sich Wielands Zeitgenossen zumeist nur als launenhaften Relativismus erklären konnten, weil sie dem Leser keine Gewissheiten anbietet, weder die des Tugendglaubens noch die der Tugendskepsis, sondern Hoffnung und Skepsis gleichermaßen kommuniziert. Kausch hat deshalb darauf verwiesen, dass das Bild der verschleierten Isis, wie die Mysterienkulte, bei Wieland auch eine poetologische Bedeutung besitzt, da es als poetische Chiffre das Wirkungskalkül seiner Prosa reflektiert: »So steht der Mensch vor dem verschleierten Bild jedesmal bangend und hoffend zugleich, und diesen Schwebezustand soll nun bei Wieland der Schleier der Kunst darstellen, indem er ihn bewirkt«202. Während die frühaufklärerische Poetik mit dem Schleier der ›narratio verisimilis‹, mit der wahrscheinlichen Illusion darauf zielt, den Leser im Glauben an Vernunftwahrheiten zu versichern, verbirgt Wielands Prosa das Gemeinte hinter dem Schleier des ›immanent Dialogischen‹ (Barthel), erzeugt damit Ungewissheit und statt zu souveränem Glauben an die Vernunft oder die Empirie als Norm stiftet sie zu Behutsamkeit und Bescheidenheit an. Eine sich unmittelbar durch das Gefühl erschließende Bedeutung plastischer Illusionen, die noch dazu automatisch das Verhalten des Betrachters oder Lesers zum Besseren verändern, funktioniert für Wieland allenfalls bei außerempirischen idealischen Individuen wie den Bewohnern des utopischen Naturkindertales. Bei ihnen kann sich der aus Saïs stammende Psammis daher eine Verschleierung der Götterplastiken sparen, da sie dank ihrer Unschuld und dank ihres relikthaften griechischen Schönheitsempfindens ohnehin in der Lage sind, das Wahre und Gute unmittelbar im unverhüllten Schönen zu fühlen. Da solche idealen Rezipienten, wie die frühaufklärerische Wirkungsästhetik sie eigentlich voraussetzen würde, nicht der gemischten Natur empirischer Individuen entsprechen, muss sich eine Poetik der selbstreflexiven Aufklärung anderer wirkungsstrategischer Techniken bedienen, um beim empirischen Leser nicht hypokritische Schwärmerei oder das trügerische Gefühl tugendhafter Souveränität zu erzeugen. Der Wechsel zwischen einer en200 201 202
Ebd. Ebd., 18. Ebd., 31.
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thusiastischen Erwärmung für das Tugendideal und der skeptischen Kühlung, der Enttäuschung über dessen Unrealisierbarkeit, also die Konfrontation einander widersprechender Erzählinstanzen und narrativer Ebenen gehört daher zu den zentralen Techniken von Wielands poetischem Stil. Die Idee des moralischen Gewissens wird dabei nicht einfach in literarische Fiktionen ›übersetzt‹ oder von diesen dementiert, sondern von einem sprachlichen Schleier verhüllt, um nur an seltenen Lichtpunkten durchzuschimmern. Auch Wielands literarische Utopie-Zitate lassen sich vor dem Hintergrund dieser Poetik selbstreflexiver Aufklärung verstehen. Es greift daher zu kurz, wenn die ältere Forschung die utopischen Entwürfe als literarische Dokumente für den Zerfall der frühaufklärerischen Wirkungsästhetik, als »beliebig setzbaren Schlußpunkt epischer Zusammenhänge«203 erklärt, mit dem Wieland die vernünftige Geschlossenheit von Textwelten, die nach dem Modell der Theodizee konstruiert sind, lediglich skeptisch parodiert. Verglichen mit den frühaufklärerischen Roman-Utopien ist für seinen Umgang mit der literarischen Utopie hingegen eine Reduktion illusionistischer Vermittlungsformen charakteristisch, gepaart mit einer starken Zunahme utopiereflektierender Elemente. Aufgrund der gleichwertigen Kombination von utopischem Entwurf und Utopiereflexion fungiert das ironisierte Utopie-Zitat bei Wieland nicht als Instrument einer literarischen Dekonstruktion der frühaufklärerischen Metaphysik und der von ihr abhängigen Poetik, sondern als »lichte Stelle die wir in der unermeßlichen Nacht der Natur erblicken« (AA I.14, 191), es vermittelt also bescheidene Hoffnung und behutsame Skepsis gleichermaßen, es exponiert den Konflikt zwischen Vernunft und Sinnlichkeit als schwerwiegendes Problem. Letzteres Zitat stammt aus Wielands Aufsatz Was ist Wahrheit?, den man ohne Übertreibung als zentrale Programmschrift der selbstreflexiven Aufklärung vor Kant lesen kann. Wielands Antwort auf die im Titel gestellte Frage gipfelt in der finalen Aufforderung an das aufgeklärte Zeitalter, im Tugendglauben und in der Tugendskepsis »bescheiden zu seyn!« (AA I.14, 192): Die subtilste und kaltblütigste Vernunft hat von je her die subtilsten Zweifler hervorgebracht. Karneades, Pyrrho, Sextus, le Vayer, Bayle, Hume, waren Männer von großer Vernunft – und ich frage […], was ist es, als gerade die kaltblütige, spitzfindige, immer zurückhaltende, immer argwöhnische, immer voraus sehende, immer räsonierende Vernunft, was von je her am geschäftigsten gewesen ist, Glauben und Liebe, die einzigen Stützen unsers armen Erdelebens, zu untergraben und umzustürzen? – Wer wollte darum verkennen, wie viel der Mensch diesem Strahle der Gottheit, dem wir den so sehr gemißbrauchten Nahmen Vernunft geben, schuldig ist? Allerdings kann sie nichts dafür, daß Sofisten und Witzlinge von je her ihren natürlichen Gebrauch in den unnatürlichen verwandelt haben: aber da der Mensch nun einmahl diesen unglücklichen Hang hat, wehe ihm, wenn seine Vernunft die einzige Führerin seines Lebens ist! (AA I.14, 187)
203
Paulsen (1975), 171.
3. Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im ›Goldnen Spiegel‹
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Schließlich empfiehlt Wieland einerseits, dem »innern Gefühl« (AA I.14, 188) Glauben zu schenken, denn »[u]nter allen Kennzeichen der Wahrheit ist dieß unläugbar das sicherste« (Ebd.). Andererseits fragt er selbstkritisch, ob ein intersubjektiv repräsentierbares Wissen vom Selbstgefühl überhaupt möglich sei und ob es einen Vermittlungsmaßstab zwischen meinem eigenen inneren Gefühl und dem eines anderen geben könne: »[W]er soll zwischen seiner Empfindung und der unsrigen, oder zwischen unsrer Vernunft und seinem Gefühl oder Glauben Richter seyn? Wo ist der Areopagus, wo sind die Amfiktyonen, deren Ausspruch man in solchen Fällen sich unterwerfen könnte, wollte, müßte?« (AA I.14, 189). Die Antwort bleibt Wieland schuldig, rät aber zur Trennung zwischen der privaten und der öffentlichen Handhabe von Wahrheitsfragen: Endgültige Gewissheit sei Privatsache, denn »[w]er hat ein Recht in seines Nachbars Verzäunung einzudringen und den Frieden seiner Hausgötter zu stören?« (AA I.14, 189). Beim Versuch, die Privatwahrheit des ›innern Gefühls‹ in den öffentlichen Raum einzuspeisen, ist hingegen äußerste Behutsamkeit vonnöten und eine immer wieder neu zu erringende Bescheidenheit, denn die wahre Natur offenbart sich keinem ganz, »jeder sieht sie nur stückweise, nur von hinten, oder nur den Saum ihres Gewandes – aus einem anderen Punkt, in einem andern Lichte« (AA I.14, 190). Wielands Programm selbstreflexiver Aufklärung kreist immer wieder neu um dieses Problem der ›Veröffentlichung‹ gefühlter Privatwahrheit, gerade weil die unbedarfte kritisch-publizistische Veräußerung des privaten moralischen Gewissens aufgeklärter Autoren das Aufklärungsprojekt insgesamt in ein hypokritisches Stadium geführt hatte. Aufklärung bzw. ›ächter Cynismus‹ heißt für Wieland dagegen, auf die erkenntnistheoretische »Krise des Wahren«204 und die moralische »Krise des Guten«205 nicht theoretisch zu reagieren, also in Form spitzfindiger öffentlicher Debatten, sondern als Konsequenz aus diesem erkenntnistheoretischen und moralischen Defi zit die eigene Bescheidenheit praktisch zu kultivieren. Das Potential von Literatur für diese Anstiftung zu aufklärerischer Bescheidenheit liegt in ihren unzähligen Möglichkeiten des Selbstbezugs und der Selbstironisierung, die es erlauben, eine private Norm tugendhaften Lebens und zugleich das Für und Wider ihrer ›Veröffentlichung‹ zu gestalten, ohne direkte einseitige Kritik zu üben: So gelingt es Danischmend zwar im Privatraum von Schach-Gebals Schlafzimmer206 diesem ein positives Bewusstsein von der Diskrepanz zwischen seiner eigenen Regierungspraxis und der Tifans zu vermitteln, Gebals Bequemlichkeit macht dem dabei entfachten Veränderungswillen allerdings schnell den Garaus und die ›Übersetzung‹ von Danischmends moralischen
204 205 206
Engel (2009), 60. Ebd., 61. Den Hinweis auf den Privatraum des Schlafzimmers als impliziter Gelingensbedingung der Kommunikation zwischen Danischmend und Schach-Gebal gibt Thomé (1984), 516.
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Privatwahrheiten in die Öffentlichkeit des indischen Großreichs misslingt. Auch Danischmends eigene ›Übersetzungsversuche‹ scheitern: Sobald er die erzählte Moral auf die politische Wirklichkeit Indostans anzuwenden versucht, gerät er ins Schwärmen und als er schließlich selbst ein politisches Amt bekleidet, fehlt ihm die nötige Bescheidenheit im Umgang mit seiner privaten Moral. Er erweist sich als unfähig, das von ihm privat als wahr Erkannte den politischen Notwendigkeiten anzupassen oder mit den Interessen seiner politischen Gegner abzugleichen. Aus Mangel an Kompromissbereitschaft, an ›philosophia civilior‹207, wird er schließlich zum Opfer höfischer Intrigen. Vor dem Hintergrund seines Programms selbstreflexiver Aufklärung, das sich um die beiden Schlüsselbegriffe ›Behutsamkeit‹ und ›Bescheidenheit‹ gruppiert, lässt sich auch Wielands poetische Handhabe der Utopia-Tradition einordnen. Er inszeniert seine private Norm gemäßigter Lebensführung nicht öffentlich und mithilfe der Illusionskraft eines literarischen Textes, sondern umgibt sie mit dem sprachlich-poetischen Schleier des ›immanent Dialogischen‹, der dem Leser die Aufgabe abnötigt, ihn selbst nach ›lichten Stellen‹ (AA I.14, 191) abzusuchen. Die Norm gemäßigter tugendhafter Lebensführung wird dem Leser mit einem utopischen Entwurfs schmackhaft gemacht, im utopiereflexiven Rahmendialog aber gleichzeitig die Schwierigkeit ihrer lebenspraktischen Umsetzung mit serviert. Darüber hinaus enthält der Goldnen Spiegel aber auch Verbesserungsvorschläge für die Erfahrungswirklichkeit, die sich in bescheidener Indirektheit hinter dem Für und Wider der unterschiedlichen Dialogpositionen und Textsignale verstecken, etwa das Plädoyer für den Erhalt ständischer Identität oder der Fingerzeig auf die Gefahr klaffender ökonomischer Gräben, die das Ancien Régime bedrohen. Wieland lag jedoch viel daran, dass man dies nicht als öffentliche Absolutismuskritik verstand. In einem von der Forschung208 selten beachteten Dokument hat er das poetische Verfahren des Goldnen Spiegels, die »Methode dieses Werkes« (OA 10.1/1, 166), erklärt, nämlich in der später wieder gestrichenen Vorrede zum dritten Teil der Erstausgabe von 1772 (Der Herausgeber an den Leser): Darin werden zunächst die Vor- und Nachteile der zwei möglichen Darstellungsmodi bei der Behandlung von »Gegenstände[n] der Praktischen Philosophie« (OA 10.1/1, 163) ausgelotet: Mit diskursiver Rede, d. h. mit einer Gegenstandsbehandlung »durch allgemeine Betrachtungen, Theorien und Beweise a priori« (OA 10.1/1, 163) lasse sich zwar ein »Schein der Gründlichkeit« (Ebd.) und eine höhere Beweiskraft erzeugen, wodurch Missverständlichkeit reduziert wird, dafür sei sie aber »trocken und unangenehm« (Ebd., 164) und zumeist nur »Gelehrten von Profession« (Ebd., 163) verständlich. Überdies laufe eine allgemeine »Theorie der menschlichen Natur«
207 208
Zum Zusammenhang zwischen diesem Begriff und der frühneuzeitlichen Utopia-Tradition vgl. Stockinger (1985), 239f. Eine Ausnahme ist Hagel (2010), 127–129, der auf besagte Vorrede und ihren Kontext eingeht.
3. Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im ›Goldnen Spiegel‹
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Gefahr, »aus Mangel an Kenntniß des Besondern die größesten Fehler in der Anwendung derselben auf die vorkommende Fälle [zu] machen« (OA 10.1/1, 164). Wirkungsvoller seien hingegen exemplarische Erzählungen, die auf dem »Wege der Induction moralisieren« (OA 10.1/1, 165) und »eine Art von anschauender Erkenntniß« (Ebd., 164) vermitteln, weil sie bestimmte Affekte hervorrufen, aus denen moralische Urteile erwachsen können. Allerdings sei hier die Gefahr »unbedachtsamer oder muthwilliger Mißdeutungen« (OA 10.1/1, 165) besonders groß. Wielands Problem mit exemplarischen aufklärerischen Erzählungen von tugendhaften Charakteren oder einer nach Vernunftwahrheiten geordneten Wirklichkeit besteht also vornehmlich in deren trügerischer Wirkung. Vernunftwahrheiten werden dem Leser nicht als handlungsregulierende Ideen vermittelt, sondern es wird ihm deren Allgemeingültigkeit suggeriert, er wird im Glauben an die menschliche Vernunftautonomie versichert und nicht zu kritischer Selbstbeobachtung angeregt. Mit exemplarischem Erzählen sei »die Sucht, Sätze, welche nur unter gewissen Bestimmungen wahr sind, durch Weglassung derselben allgemeiner aber eben dadurch falsch und betrüglich zu machen, auf Seiten vieler Leser beynahe unvermeidlich verbunden«( OA 10.1/1, 165). So tendiere die Mehrzahl der Leser dazu, idealisierte Charaktere eben nicht als regulative Tugendnorm zu verstehen, sondern sie auf die Erfahrungswirklichkeit zu beziehen und »das Urbild dazu unter ihren Bekanntschaften aufzusuchen« (OA 10.1/1, 165). Andererseits sei bei Dichtern die Neigung besonders häufig ausgeprägt, exemplarisches Erzählen für »Personal-Satyren« (OA 10.1/1, 165) und für die Befriedigung ihrer »Privat-Leidenschaften« (Ebd.) zu missbrauchen. Wielands Poetik, seine »sorgfältigste Behutsamkeit« (OA 10.1/1, 166) bei der literarischen »Einkleidung« (Ebd., 167) der ethischen Idee gemäßigter Lebensführung, ist daher Ausdruck einer doppelten ästhetischen Vorsichtsmaßnahme: Er versucht der missbräuchlichen Rezeption des Goldnen Spiegels einen Sperrriegel vorzuschieben, indem er auf zahlreichen einander relativierenden narrativen Ebenen und in weit- und abschweifendem Erzählen das lebenspraktische Für und Wider dieser ethischen Norm inszeniert. Vermieden werden soll dabei einerseits der Eindruck, dass diese Tugendnorm eine allgemeingültige Erfahrungstatsache bzw. dass es leicht möglich sei, wie Tifan zu leben oder zu regieren. Andererseits soll aber auch eine bloß-satirische Lektüre unterbunden werden, die etwa Figuren wie Isfandiar oder Eblis als verzerrte Parodien lebender Vorbilder liest und den Goldnen Spiegel als öffentliche Absolutismuskritik in literarischer Form versteht. In der Vorrede macht Wieland Regierungsverantwortung tragende Leser deshalb darauf aufmerksam, dass der Goldne Spiegel nicht als Frontalangriff gemeint sei, den eine hypokritische Aufklärung im Namen des moralischen Gewissens gegen politische Akteure führe, sondern als privater Austausch mit dem Autor Wieland über die Kunst der richtigen Lebensführung. Der Roman sei ein »freundschaftlicher Spiegel« (OA 10.1/1, 167), den ein fürstlicher Leser nicht als Träger eines politischen Amtes, sondern als Privatmann »in unbelauschter Einsamkeit« (Ebd.) rezipieren solle.
180
d)
Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
Missverständlichkeit als unvermeidbares Risiko selbstreflexiver Aufklärung
Dass die Polyperspektivität und die äußerst subtilen Leserlenkungsstrategien des Goldnen Spiegels wenig geeignet waren, um das 1772 schon verfestigte Klischee zu zerstreuen, Wieland sei ein launiger Relativist, der sich aus Karrierismus den Mächtigen anbiedere (vgl. Anm. 113), war offenbar auch ihm selbst bewusst. Er vermutet daher, man werde den Autor des Goldnen Spiegels entweder für feige halten, weil er »den Muth nicht hat herbe aber heilsame Wahrheiten zu sagen« (OA 10.1/1, 167), oder für einen Schmeichler, »der aus Nebenabsichten lobt« (Ebd.). Auch mit einem Erzähldetail im Goldnen Spiegel reflektiert Wieland diese Gefährdung seines Programms selbstreflexiver Aufklärung durch dessen hohe Missverständlichkeit. An einer Stelle unternimmt Danischmend eine »kleine Digression in die Gelehrten-Geschichte« (OA 10.1/1, 177) Scheschians, die sich jedoch hauptsächlich auf den Schriftsteller Kador konzentriert. Schon eine zeitgenössische Rezension, die mit hoher Wahrscheinlichkeit von dem Wieland persönlich nahe stehenden Johann Heinrich Merck stammt, vermutet hinter dieser Figur ein Selbstportrait des Autors.209 Kador vertritt wie Wieland einen moderaten anthropologischen Empirismus, d. h. er leitet »die meisten praktischen Urtheile und Handlungen der Menschen aus den mechanischen Würkungen physischer Ursachen, oder aus den geheimen Täuschungen der Einbildung und des Herzens her« (OA 10.1/1, 177f.), glaubt aber dennoch an Wahrheit, Tugend und »die ursprünglich schöne Form der Menschheit« (Ebd., 178). Diese sei jedoch »binnen etlicher tausend Jahre, durch die unaufhörliche Bemühung an ihr zu künsteln, zu bessern und zu putzen«, verschüttet worden (OA 10.1/1, 178). Kadors Ansichten finden rasch Anklang in einem bestimmten intellektuellen Milieu und schließlich formieren sich seine Anhänger sogar zu einer Sekte. Diese sogenannten »Philosophen« (OA 10.1/1, 179) folgen Kador allerdings nur in seiner anthropologischen Herabstimmung menschlicher Tugendbegriffe, nicht aber in seinem unerschütterten Glauben an die Idee der Tugend: Er hat recht, sagten sie, so lang er in seinem wahren Charakter bleibt, so lang er das Eitle der menschlichen Begriffe und Leidenschaften schildert und das Lächerliche ihrer Forderungen an Weisheit und Tugend aufdeckt. Aber er schwärmt selbst, sobald er von schönen Seelen, von der Zauberey der Empfindung, von Sympathie mit der Natur, und von der Göttlichkeit der Tugend fabelt. Es giebt keine schönen Seelen, und nur ein Thor glaubt an die Tugend. (OA 10.1/1, 179)
Kador gerät daher rasch ins Kreuzfeuer der Kritik von »besagten Philosophen« (OA 10.1/1, 180) und dem »Pöbel der Moralisten« (Ebd.) gleichermaßen und
209
»Sich und sein System scheint der Verf. unter dem Namen Kador abgebildet zu haben. Denn alle schiefe Urteile, die wir je von Heuchlern aller Stände haben von seinen Grundsätzen fällen hören, sind hier in demjenigen vereinigt, was die Zeitverwandten Kadors von ihm behaupten« (zitiert nach Jaumann [1979], 747)
3. Zur Funktion von Idealstaatlichkeit im ›Goldnen Spiegel‹
181
kann nur eine »kleine Zahl der Vernünftigen« (Ebd.) überzeugen. – Mercks Vermutung, Kador sei als ›Cameo-Auftritt‹ Wielands in seinem eigenen Roman zu verstehen, liegt also denkbar nahe, denn die Kador-Figur erinnert an Wielands häufige Selbststilisierung zum missverstandenen Intellektuellen, der zwischen allen Stühlen sitzt. Mit der Kador-Episode problematisiert er die hohe Ambiguität von selbstreflexiver Aufklärung allerdings eher, als dass er sie beklagt: Bei der Suche nach der horazischen ›aurea mediocritas‹ zwischen Tugendglauben und Tugendskepsis, so Kador, grenze die Wahrheit »immer so nah an den Irrthum, daß man keinen großen Sprung vonnöthen hat, aus dem sanft sich empor windenden Pfade des einen in die reizenden Irrgärten des andern zu verirren« (OA 10.1/1, 179). Wie nah die ›Wahrheit‹ der goldenen Mitte und der gefährliche Irrtum radikaler Skepsis tatsächlich beieinander liegen, zeigt sich an der Konstellation zwischen Kador und Eblis, jenem materialistischen Lehrer des Tyrannen Isfandiar. Bezeichnenderweise stammt Eblis nämlich aus dem intellektuellen Milieu jener ›Philosophen‹, die sich partiell auf Kador berufen. Ein einseitiger Missbrauch von Kadors Philosophie und seinen empiristisch-anthropologischen Argumenten kann also in der gesellschaftlichen Katastrophe kulminieren, wenn man sie zur Grundlage praktischen politischen Handelns macht. Akzeptiert man nicht Wielands ganzes philosophisches Paket, das sich aus so komplementären Ingredienzien wie Tugendglauben und Tugendskepsis zusammensetzt, dann gerät Aufklärung zur Gefahr für das soziale Zusammenleben. Mit textweltlichen Elementen wie der Kador-Episode versucht der Goldne Spiegel den Leser zwar für das Problem eines einseitigen Missverständnisses des Gemeinten zu sensibilisieren und ihm die falschen und gefährlichen Konsequenzen zu demonstrieren, die sich aus solchem Missbrauch ergeben können. Aufgrund ihrer Subtilität und Indirektheit gleichen diese Versuche der Rezeptionssteuerung indes weniger einer hellerleuchteten Magistrale, die zur goldenen Mitte des Gemeinten führt, sondern eher einem schlecht befestigten Gebirgspfad, der verschleiert unter dem Sprachnebel von Digression und Ironie liegt und durch das dialogisch arrangierte Für und Wider von Tugendglauben und Tugendskepsis verläuft. Auch in diesem Sinne besteht eine auffällige Parallele zwischen Wielands Poetik und den Mysterienkulten: Wie die Mysterienkulte die Adepten, versucht auch Wieland seine Leser in die Kunst tugendhaften Lebens einzuweihen. Wie bei den Mysterien versteckt aber auch er seine eigentliche Lehre, die Idee gemäßigter Lebensführung, das horazische »verae numeros modosque discere vitae«210, unter dem Schleier des ›immanent Dialogischen‹, der sich seine Geheimnisse nur mit erheblichen hermeneutischen Kraftanstrengungen entlocken lässt und sich gerade deshalb als besonders anfällig für den Missbrauch durch priesterliche Partialinteressen erweist.
210
Vgl. OA 10.1/1, 167. – Wieland zitiert hier Horaz’ Epistulae (Liber II, 2, Vers 144).
Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
182
4.
Ergebnisthesen
Die entwickelten Argumente zum Stellenwert von Wielands Utopie-Zitaten in der Gattungsgeschichte lassen sich in vier Ergebnisthesen bündeln: I. Mit den Utopie-Zitaten bei Wieland beginnt gattungsgeschichtlich etwas Neues: Mit gewagten Transformationen der tradierten Textmusterstrukturen wird hier die generische Krise der literarischen Utopie und, damit zusammenhängend, die Krise des frühaufklärerischen Weltbildes reflektiert. Unter dieser problemgeschichtlichen Perspektive muss die gattungsgeschichtliche Schlüsselstellung, die Louis-Sébastien Merciers L’An 2440 von der bisherigen Forschung zugewiesen wurde, stark relativiert werden. Merciers Text lässt sich seiner Problemreflexion nach zum Korpus frühaufklärerischer Utopien wie Veiras’ L’Histoire des Sévarambes und Schnabels Insel Felsenburg zählen. Alle drei Romane instrumentalisieren die tradierten Gattungsstrukturen in ähnlicher Weise und produzieren dabei vergleichbare Darstellungsantinomien: Die funktional auf wirklichkeitskritische Gegenbildlichkeit ausgerichteten Gattungsstrukturen der Utopia-Tradition werden bei Veiras, Schnabel und Mercier für die literaturpolitischen Ziele der Frühaufklärung vereinnahmt. Deshalb dient hier die literarische Vermittlung utopischer Entwürfe vornehmlich dazu, den Leser im Glauben an die Ideen des moralischen Gewissens, der menschlichen Tugendhaftigkeit und des sittlichen Fortschritts zu bestärken. Mercier verfolgt dieses Ziel mittels literarisierter Geschichtsphilosophie, indem er den utopischen Entwurf in eine erträumte Zukunft verlegt, die er in ein zeitliches Kontinuum mit der Erfahrungswirklichkeit stellt. Die Aufklärungsutopien von Veiras bis Mercier eint zudem das Problem, dass sich die auf Vollkommenheitsbilder ausgelegten Gattungsstrukturen der literarischen Utopie einer Darstellung von Vervollkommnung eigentlich widersetzen. II. In Abgrenzung zu den frühaufklärerischen Utopien von Veiras bis Mercier wird hier der gattungsgeschichtliche Zäsurcharakter von Wielands UtopieZitaten um 1770 betont. Bei diesen handelt es sich keineswegs um eine bloße Parodie oder ›Dekonstruktion‹ der frühneuzeitlichen Utopia-Tradition, sondern Wieland führt über Utopie-Zitate eine ambivalente Auseinandersetzung mit dem frühaufklärerischen Konzept literarischer Wirkung, vor allem mit der wirkungsästhetischen Zuspitzung der Aufklärungspoetik seit den 1740er Jahren und mit der eigenen Poetik seiner Jugendjahre. Die epische Vermittlung der Tarent-Episode im Agathon, der utopischen Republik im Diogenes und der Naturkinder-Episode im Goldnen Spiegel variiert daher das immer gleiche erzähltechnische Muster ironischer Brechung. Die Ironie gilt dabei nicht der dargestellten Idee des moralischen Gewissens oder der menschlichen Tugendhaftigkeit, sondern ihrer literaturpolitisch motivierten Präsentation durch illusionistische literarische Fiktionen, wie sie die frühaufklärerische Poetologie, insbesondere in der zugespitzen Variante bei Bodmer
4. Ergebnisthesen
183
und Breitinger, empfiehlt. Wielands utopische Entwürfe zeigen zwar stabile Konsensgemeinschaften tugendhafter Individuen, gewähren dem Leser dabei aber großzügig Einblick in den poetischen Bauplan literarischer Utopien und erinnern ihn allenthalben daran, dass sich die anthropologische Disposition der dargestellten utopischen Individuen vom erfahrungsweltlichen Menschen fundamental unterscheidet. Einerseits revidiert er damit den frühaufklärerischen Gattungswandel der literarischen Utopie und die Anpassung der Gattung an die literaturpolitischen Ziele der Aufklärung. Ohne dies wirklich zu reflektieren, reaktiviert er dabei markante poetische Vermittlungsformen der humanistischen Utopie des 16. Jahrhunderts, vor allem mit der Einbettung des utopischen Entwurfs in ironisierende Dialogstrukturen (vgl. Anm. 86). – Andererseits wird bei den analysierten utopischen Entwürfen, trotz aller narrativen Ironie, ihr Normcharakter keineswegs unterminiert, denn die dargestellten utopischen Individuen verfallen nicht der Depravation. Anstatt solche desillusionierenden Szenarien zu entwerfen, reduziert Wieland die Repräsentanten der utopischen Anthropologie drastisch. Zumeist verkörpert nur ein einzelnes utopisches Individuum eine stabile Einheit von Natur- und Kulturstand, von Vernunft und Gefühl. Dabei wird zudem nie versäumt, dessen außerordentliche Seltenheit erzählerisch explizit zu betonen. Mithilfe utopischer Entwürfe literarisiert Wieland zwar die Idee menschlicher Tugendhaftigkeit, versucht dabei jedoch zu unterbinden, dass der Leser durch Literatur in der Allgemeingültigkeit und Realisierbarkeit moralischer Souveränität versichert wird. Romane wie der Agathon, insbesondere aber der Diogenes und der Goldne Spiegel vermitteln ihren Lesern daher empirische Menschenkenntnis und zugleich ein gewisses Maß an Enthusiasmus für das Gute und Wahre. III. Dieses poetische Anliegen lässt sich als selbstreflexive Aufklärung im Medium Literatur auf den Begriff bringen. Wieland zählt zu einer kleinen Gruppe von aufklärerischen Intellektuellen, die besonders sensibel auf die Aufklärungskrise und die Hypokrisie von aufklärerischer Kritik reagieren, aber den Glauben an die Idee des moralischen Gewissens auch nicht als nutzlose Selbsttäuschung brandmarken. Im Unterschied zu einer Absolutismus- oder Religionskritik vom Olymp des moralischen Gewissens bzw. im Namen einer moralischeren Zukunft oder im Namen der emprischen Natur als Norm üben Wielands Texte eine indirekte Kritik, die auch bereit ist, den eigenen Standpunkt aufs Spiel zu setzen. Vor allem plädieren sie für das vorrangige Bemühen um eine Moralisierung der individuellen Lebenspraxis, anstatt an der publizistischen Inszenierung einer ›bürgerlichen Öffentlichkeit‹ zu partizipieren, die sich selbst zum Träger des moralischen Gewissens und zum kritischen Gegengewicht eines vermeintlich amoralischen Absolutismus stilisiert. Wielands Sensibilität für das sozialgeschichtliche Dilemma der Aufklärung, deren realhistorische Vertreter die Aura der Kritik polemisch instrumentalisieren, um ihre soziale Stellung als moralische Gegenkraft zur
184
Zweites Kapitel: Selbstreflexive Aufklärung
politischen Oberschicht zu festigen, zeigt sich bezeichnenderweise am prägnantesten in seinem Verhältnis gegenüber einem der Reizbegriffe des spätaufklärerischen Anthropologie-Diskurses, nämlich der Schwärmerei. Gerade deshalb bietet Wielands Werk einen griffigen Ansatzpunkt, um zwischen den Konkurrenzprojekten einer sozialgeschichtlichen und einer anthropologiegeschichtlichen Deutung der Aufklärungsepoche zu vermitteln: Zum einen inszenieren Wielands Textwelten die Verfechter frühaufklärerischer Tugendideale als melancholiegefährdete überhitze Gemüter, die im Begriff sind, ihr gesundes Gleichgewicht einzubüßen. Von spätaufklärerischen Schwärmersatiren unterscheiden sich Wielands Romane aber andererseits dadurch, dass sie für empiristische Bescheidenheit im Umgang mit Tugendidealen plädieren und ihren Lesern eine entsprechende Menschenkenntnis zu vermitteln suchen, aber auch die geselligkeitsfördernde Kraft eines selbstreflexiven Tugendglaubens betonen. Wieland hält daher am Normcharakter utopischer Entwürfe fest, drosselt ihre anschauliche Faszinationskraft ironisch jedoch so weit, dass der Leser die utopische Norm als eine Art regulative Idee akzeptieren kann, ohne naiv für ihre Umsetzung zu schwärmen. Man erkennt daran zudem, welche enge Allianz auch eine Poetik der selbstreflexiven Aufklärung mit dem neuen anthropologischen Wissen über den Zusammenhang zwischen der körperlichen und der ›geistigen‹ Natur des Menschen eingeht: Wenn die Vernunft nicht unabhängig vom Körper ist, dann kann sie auch dadurch stimuliert werden, dass man mit dem sinnlichen Bild eines utopischen Entwurfs die Lebensgeister erhitzt. Entscheidend für Wieland ist dabei das richtige Maß: Literatur soll ihre Leser in eine tugendbegeisterte ›Wallung‹ versetzen, ohne dass dabei die skeptische Vernunft gänzlich zerschmilzt. IV. Mit seinem ambivalenten Urteil zum Schwärmen bereitet Wieland die Rehabilitation eines reflektierten Enthusiasmus in der Frühromantik vor (vgl. Anm. 14).211 Selbstreflexive Aufklärung und Frühromantik teilen den reflektierten Enthusiasmus für die Idee des moralischen Gewissens und sehen einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen den beiden Polen einer deduktiven Moralspekulation einerseits und deren sophistischer Kritik andererseits nur im Ruf nach einer Lebenspraxis, in der sich moralische Wahrheit erst erweist. Markantes Indiz dieser epochenübergreifenden Parallele ist das Paradigma eines ›echten Kynismus‹, auf das sowohl der Aufklärer Wieland als auch Frühromantiker wie Schleiermacher und Hardenberg referieren. Anhand von Wielands Utopie-Zitaten kann man daher nicht nur die Konturen einer Poetik der selbstreflexiven Aufklärung schärfen, sondern auch deren problemgeschichtliche Allianz mit der frühromantischen Poetik ausloten. Zwischen Wielands Aufklärungsvariante und der Frühromantik besteht
211
Vgl. dazu auch die Überlegungen bei Voßkamp (2010).
4. Ergebnisthesen
185
nicht nur eine Parallele hinsichtlich der ethischen Idee eines reflektierten Tugendenthusiasmus, sondern auch hinsichtlich ihrer Ästhetisierung. Insbesondere in einem Text wie dem Goldnen Spiegel finden sich eine Reihe proto-romantischer Darstellungstechniken: Über Multiperspektivität, ironisierende Dialogstrukturen und einen hohen Grad an Selbstbezüglichkeit inszeniert der Text die Idee aufgeklärten Lebens in ihrem Für und Wider und versucht den Leser dafür zu sensibilisieren, dass es sich bei Selbstaufklärung um einen stets gefährdeten Prozess handelt. Vor allem Wielands Verweigerung verlässlicher epischer Orientierungszentren und die inszenierten Manuskriptlücken bei der Religionsfrage im Diogenes und im Goldnen Spiegel ähneln dem romantischen Umgang mit der Idee des Absoluten. Wie die Romantiker kommuniziert auch Wieland hier den Glaube an offenbar unverzichtbare moralische Normen, an eine religiöse Wahrheit und oberste Evidenz, deren konkrete Gestalt wird aber im Text nicht positiviert, sie lässt sich nur negativ, als Manuskriptlücke erkennen. – Am Goldnen Spiegel kann man aber auch beobachten, welchen großen erzähltechnischen Aufwand eine Poetik der selbstreflexiven Aufklärung betreiben muss, wenn sie Ideal und relativierende Ironie miteinander konfrontiert, um dem Leser die Vorstellung von Selbstaufklärung als unabschließbarer Aufgabe zu kommunizieren. Man kann diesen immensen erzähltechnischen Aufwand als Kompensation eines philosophischen Defizits von selbstreflexiver Aufklärung deuten, denn die kantische Denkfigur unendlicher Annäherung steht ihr noch nicht zur Verfügung. Erst den Frühromantikern gelingt auf Basis dieser Denkfigur ein neuer Umgang mit dem Epochenproblem säkularer Normenbegründung: Ihr ethisches Ideal erschöpft sich nicht im Besitz eines neutralen moralischen Gewissens, denn gerade dadurch, dass man sich in seinem Besitz wähnt, wird man selbstgerecht, erliegt der Hypokrisie. Frühromantischer Ethik zufolge entsteht das Ideal eines ›besseren Selbst‹ daher nur im unendlichen Versuch, es zu finden.
Drittes Kapitel Hypokritische Utopien: Die Politisierung der Gattung bei Heinse und Stolberg
1.
Einleitung: Was heißt Hypokrisie?
Wahrscheinlich hätten Wilhelm Heinse und Friedrich Leopold Graf zu Stolberg es sich verbeten, mit dem jeweils anderen in einem Kapitel verhandelt zu werden, und tatsächlich könnten beide Autoren ihrem biographischen Hintergrund, ihrem Verhältnis zum Christentum und ihren ethischen Grundüberzeugungen nach gegensätzlicher kaum sein. Heinse (1746–1803) stammt aus bescheidenen Verhältnissen, findet erst im Alter von 40 Jahren eine feste Anstellung und legt schon in jungen Jahren eine dezidiert antiklerikale Haltung an den Tag, die er sein Leben lang beibehält. Der Adlige Stolberg (1750–1819) beginnt seine berufliche Laufbahn hingegen bereits als 25-Jähriger, sein Beamtendasein bereitet ihm zwar Unbehagen und er sehnt sich nach einer Existenz als unabhängiger Landadeliger, materielle Not, wie Heinse sie kannte, erlebt er jedoch nie. Dem streng pietistisch erzogenen Stolberg war radikale Religionskritik zudem ein Dorn im Auge, denn er bezog zeitlebens nahezu alle Aspekte seiner Lebenspraxis unmittelbar auf Gott. Was Heinse und Stolberg, trotz starker biographischer Differenzen, in dieser Arbeit zusammenführt, ist die Tatsache, dass sie Ende der 1780er Jahre als Autoren einer literarischen Utopie bzw. einer utopischen Episode hervortreten. Ihre beiden Texte könnten allerdings unterschiedlicher wiederum kaum sein: Heinses Roman Ardinghello (1787) erzählt die Begebenheiten eines Ausnahmeindividuums in der italienischen Spätrenaissance, dem zwar meist die Erfüllung seines erotischen Begehrens glückt, das sich dabei jedoch in gewaltsame, meist durch Eifersucht motivierte Konflikte verstrickt und wiederholt zum Mörder wird. Der gut zehnseitige Romanschluss zeigt den Protagonisten Ardinghello schließlich als Mitbegründer einer utopischen Seeräuberrepublik, an der mehrere gleichgesinnte ikarisch-hedonistische Renaissanceindividuen teilnehmen. Ihr Zusammenleben verläuft weitestgehend reibungsfrei und ohne Eifersuchtskonflikte, obwohl der soziale Konsens der utopischen Insel ausdrücklich die promiske Gestaltung zwischengeschlechtlicher Beziehungen befürwortet. Stolberg hingegen hat mit seinem Roman Die Insel (1788) nicht nur eine kurze utopische Episode, sondern eine literarische Utopie geschrieben, die ihrem Umfang nach den Maßstäben der frühneuzeitlichen Utopia-Tradition entspricht. Zudem setzt er die von Wieland
188
Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
begonnene Reaktivierung der renaissance-humanistischen Dialogutopie fort. In der Insel unterhalten sich mehrere empfindsam-tugendhafte Individuen über die Ermöglichungsbedingungen eines utopischen Inselstaats, der ausschließlich von frommen Christen bewohnt wird, die dort ein naturnah-tugendhaftes Leben führen. Trotz dieser erheblichen formalen und inhaltlichen Disparität von Heinses kurzem Utopie-Zitat und Stolbergs Dialogutopie haben die zwei bislang umfangreichsten Beiträge zur deutschsprachigen Gattungsgeschichte literarischer Utopien beide Texte in einem Kapitel zusammengefasst: Dietrich Naumann rubriziert Heinse und Stolberg unter dem vagen Stichwort »Utopie und Natur«1 und betont die »Entkonkretisierung der politischen Intention«2 ihrer beiden Utopien, da Heinses wie Stolbergs utopische Inseln sich der apolitischen Idee einer hedonistisch-sinnlichen bzw. einer empfindsamen Natürlichkeit verdankten. Götz Müller verhandelt den Ardinghello und die Insel unter dem Schlagwort ›sentimentalische‹3 bzw. ›rückwärtsgewandte Utopie‹4, weil der Ardinghello sich in eine stilisierte hedonistisch-gewalttätige, kunstliebende Renaissance zurücksehne und Stolberg sich mit seiner Insel als »strenger Adept Rousseaus«5 zeige, der die wahre einfältig-empfindsame Natur des Menschen unter dem Schutt ihrer kulturellen Depravation suche.6 Intuitiv kann man diesen Korpuskriterien zustimmen. Allerdings besitzen sie zu wenig Präzision und Trennschärfe, um beide Romane stichhaltig von Wielands Utopie-Zitaten abzugrenzen: Auch dessen utopische Entwürfe werden ja von Individuen bevölkert, die in einem Zustand natürlicher Einfalt oder zumindest in einem Zustand angehaltener Modernisierung und Zivilisation leben. Auch aus Wielands utopischen Entwürfen lässt sich keine konkrete politische Intention erschließen und auch Wieland reduziert das Muster der literarischen Utopie auf den Status einer kurzen Episode am Schluss eines Romans oder implementiert utopische Entwürfe in übergreifende Dialogromanstrukturen. Markante Differenzen zwischen dem selbstreflexiven Aufklärer Wieland und Stolberg/Heinse lassen sich hingegen über die problemgeschichtliche Perspektive dieser Arbeit zu Tage fördern. Was Heinses und Stolbergs Utopien eint und von Wieland abgrenzt, ist der Umstand, dass bei beiden die Literarisierung anthropologischer Vorbehalte komplett unterbleibt: Ihre utopischen Entwürfe stellen einen friedlichen sozialen Konsens zwischen autonomen Individuen dar, deren freier Wille bzw. deren Autonomie sich entweder auf einen radikalen Sensualis-
1 2 3 4 5 6
Naumann (1977), 268–296. Ebd., 296. G. Müller (1989), 123. Ebd., 126 u. 132. Ebd., 132. Auch für Horst Brunner bestätigen Heinses Ardinghello und Stolbergs Insel, »daß die fluchtutopischen Inseln der Glückseligkeit der für die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts kennzeichnende Typus der poetischen Insel sind« (Brunner [1967], 152).
1. Einleitung: Was heißt Hypokrisie?
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mus (Heinse), d. h. auf die Idee von Freiheit als maßloser Sinnlichkeit, oder auf eine radikale Empfindsamkeit (Stolberg), d. h. auf die Idee von Freiheit als einem unbestechlich-tugendhaften Gefühl gründet. Heinses Ardinghello wie Stolbergs Insel verbinden zudem keinen expliziten Realisierungsanspruch mit ihren utopischen Entwürfen, sondern betonen, dass die dargestellten utopischen Kollektive unter erfahrungsweltlichen Bedingungen nicht zu verwirklichen sind: Ardinghellos Inselstaat hat nur kurze Zeit Bestand und bei der Insel wird schon in der Vorrede explizit hervorgekehrt, dass es sich bei dem utopischen Entwurf um einen poetischen Traum handelt. Das entscheidende Differenzkriterium zu Wieland liegt nun in der Begründung, mit der beide Romane die Realisierbarkeit ihrer utopischen Entwürfe verneinen. Hierbei spielt zeitgenössisches anthropologisches Wissen nämlich überhaupt keine Rolle: Die Übertragbarkeit des utopischen Entwurfs auf die Erfahrungswirklichkeit scheitert bei Heinse und Stolberg nicht an der leibgeistlichen, ›gemischten‹ Natur des Menschen, dessen Tugendgefühl leicht durch seine Leidenschaften und Eigenliebe korrumpierbar ist oder der durch maßlose Sinnlichkeit zum Sklaven seiner Triebe wird, sondern sie scheitert an den äußeren politisch-sozialen Umständen der Erfahrungswirklichkeit. Mit diesem Befund verbindet sich ein weiteres Differenzkriterium gegenüber Wieland, nämlich die politische Textfunktion von Heinses und Stolbergs Romanen, genauer gesagt, ihre subkutane hypokritische Politizität: Entgegen Naumanns These von der ›Entkonkretisierung der politischen Intention‹, zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass Heinse wie Stolberg ihre utopischen Entwürfe politisch gezielt als literarische Absolutismuskritik instrumentalisieren. Sie kritisieren die Erfahrungswirklichkeit im Namen utopischer Gegenbilder von christlich-tugendhaften oder hedonistisch-autonomen Individuen, die in friedlichem sozialen Konsens miteinander leben, bestreiten die Realisierbarkeit dieser Gegenbilder jedoch nicht mit anthropologischen Vorbehalten, sondern machen stattdessen indirekt den Absolutismus dafür verantwortlich, dass sich autonome Individualität oder moralische Souveränität in der Erfahrungswirklichkeit nicht durchsetzen. Heinses und Stolbergs Romane engagieren sich also für bestimmte Normen, die sie mehr oder minder fundamentalistisch für sich in Anspruch nehmen und im Namen derer sie die Erfahrungswirklichkeit kritisch beäugen. Beide Texte lassen sich daher als zwei Varianten desselben literarischen Typs verstehen, nämlich der ›hypokritischen Utopie‹, die wirklichkeitskritische Normen für sich reklamiert, ohne dabei ihren eigenen Standpunkt selbstreflexiv aufs Spiel zu setzen. Mit welchen unterschiedlichen ästhetischen Techniken Heinse und Stolberg dabei jeweils verfahren, soll dieses Kapitel klären.
Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
190
2.
Literarische Utopie des radikalen Sensualismus7 – Wilhelm Heinse: Ardinghello und die glückseeligen Inseln
2.1 Heinses Autonomieideal als ›logische Sackgasse‹8 1772 schreibt Heinse an Gleim, dass die beste Welt nicht anders eingerichtet ist, und nicht anders bestehen kann, als daß immer ein Thier das andere ermordet und davon ein Paar Tage lebt; eine Einrichtung, worüber die Jakobi und alle zärtlichen Geister die bittersten Zähren weinen! Eine Einrichtung, welche durch alle die goldnen Spiegel des göttlichen Platons, des beßer irrdischen Helvetius, des schwärmenden Verfaßers des Jahres 2440 und des dreymahl göttlichen Wielands nicht hat können verbeßert werden, ja so gar durch einige darunter noch verschlimmert worden ist.9
Von einem Autor, der so gegen Utopien polemisiert, erwartet man keinen literarischen Idealstaat. 15 Jahre nach diesem Brief hat Heinse dennoch einen utopischen Entwurf publiziert, nämlich am Schluss seines Skandalromans Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Eine Italiänische Geschichte aus dem sechszehnten Jahrhundert (1787). Bei dem kurzen Gattungszitat handelt es sich allerdings nicht, wie man in Anbetracht von Heinses Brief an Gleim vermuten könnte, um eine Parodie literarischer Utopien. Ironie- oder Satiresignale, die dem Leser die Funktions- und Nutzlosigkeit des Idealstaatsentwurfs am Romanschluss kommunizieren würden, sucht man im Ardinghello vergebens. Obwohl er mit einem utopischen Entwurf endet, verzichtet der Ardinghello auf explizite Formen der Illusionsbrechung. Der Roman reaktiviert in den späten 1780er Jahren sogar noch einmal das abgegriffene Muster der Herausgeberfiktion und zwar ohne jedwede Fiktionsironie. Der Wahrheitsstatus des dargestellten Idealstaats steht textintern überhaupt nicht in Frage, im Gegensatz zu Wielands Utopie-Zitaten oder zu Stolbergs gleichzeitig entstehender Insel, bei der der Erzähler den utopischen Entwurf schon in der Vorrede zum bloßen Traum deklariert (vgl. Kap. III.3.5). Die topographische Raumgestaltung des Ardinghello suggeriert dem Leser hingegen, dass der utopische Staat in dieser Form tatsächlich existiert haben könnte, denn er wird innerhalb der geographisch erschlossenen Erfahrungswirklichkeit – auf den Kykladen Paros und Naxos – lokalisiert. Darüber hinaus spielt die Handlung auf diverse historische Ereignisse an – etwa auf den 5. Venezianischen Türkenkrieg von 1570–1573 – und für den utopischen Kykladenstaat gibt es eventuell sogar ein konkretes historisches Vorbild, nämlich das Herzogtum Naxos, eine der letzten italienischen Exklaven im Ägäischen Meer.10
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Der treffende Begriff des ›radikalen Sensualismus‹ als Bezeichnung für Heinses Philosophie und Ästhetik geht auf Michael Hofmann zurück: vgl. Hofmann (1998–1999). Vgl. Kondylis (1981), 518. SW 9, 72: Heinse an Gleim, 18.7.1772. Vgl. Herrmann (2010), 103.
2. Wilhelm Heinse: ›Ardinghello und die glückseeligen Inseln‹
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Dieser Abgleich der Handlung mit der politischen Ereignisgeschichte erzeugt Wahrscheinlichkeit: Dabei geht es freilich nicht darum, den Leser glauben zu machen, das Erzählte sei faktual. Dass ein zeitgenössischer Rezipient sich von einer Herausgeberfiktion im Glauben an die historische Wahrheit des Erzählten versichern lässt, damit konnte Heinse wohl kaum rechnen, dazu war diese Erzähltechnik in den 1780er Jahren schon zu konventionell. Auffällig ist indes, dass der Ardinghello auf Fiktionsironie gänzlich verzichtet, also eine ungebrochene, affirmative Perspektive auf den finalen Idealstaatsentwurf vermitteln will. Im Unterschied zu Wielands Agathon verläuft der Übergang von Ardinghellos Lebensgeschichte zum finalen utopischen Entwurf ohne illusionsbrechende Erzählerkommentare. Über die Gestaltung eines bruchlosen Erzählkontinuums realisiert der Roman jenen konzeptionellen Nexus zwischen ›Ardinghello‹ und den ›glückseeligen Inseln‹, den schon der Titel lanciert. Dem utopischen Kykladenstaat wird am Romanschluss das von Ardinghello repräsentierte Ideal autonomer, vitaler, potenter, kreativer, hedonistischer, wehrhafter und weitestgehend skrupelloser Individualität übertragen. Während sich Ardinghello umstandslos in die Kykladengesellschaft integriert und dabei als einer unter mehreren Kolonisten aus dem erzählerischen Blick gerät, repräsentiert nun der utopische Seeräuberstaat das Autonomieideal des Romans, da er außenpolitisch als Aggressor und Eroberer auftritt, sich also wie ein ›ardinghelloeskes‹, von allen rechtlichen Schranken entbundenes Individuum verhält. Bei dem erzählerisch und konzeptionell bruchlosen Übergang von Ardinghellos Biographie zur Beschreibung des utopischen Kykladenstaats fällt indes die erhebliche quantitative Asymmetrie ins Auge, die zwischen der 350 Druckseiten langen Lebensgeschichte des Protagonisten und dem nur zehn Seiten umfassenden utopischen Entwurf besteht. Die Vermutung liegt nahe, dass mit der Vagheit des utopischen Entwurfs seine konzeptionellen Aporien kaschiert werden sollen. Um diesen Verdacht erhärten zu können, gilt es im Folgenden zunächst Heinses Autonomieideal auf den philosophischen Prüfstand zu stellen und dessen verdeckte Aporien auszuloten. Wie sich bei Wieland ein Zusammenhang zwischen der Poetik des ›immanent Dialogischen‹ (vgl. Kap. II.3.4.a) und seiner erkenntnistheoretischen Bescheidenheit ausmachen lässt, so besteht vice versa bei Heinse eine Korrespondenz zwischen dem Fehlen von Fiktionsironie und seinem »prinzipielle[n] Erkenntnisoptimismus«11. Kants Philosophie war für Heinse ein ausgesprochenes Ärgernis und er hielt es für abwegig, daß ich aus dem Zeugniß meiner Sinne nicht soll schließen können, daß Wirkliches außer mir da sey, weil ich bloß Beschaffenheiten und das Wesen nicht selbst wahrnehme. Denn Beschaffenheiten selbst sind schon wirkliches, wenn ich auch nicht erklären kann, was. Und dieß ist nicht bloß Glaube, oder Täuschung. (SW 8.2, 199)12 11 12
Mohr (1971), 27. Zu Heinses Kant-Kritik vgl. ebd., 23–28.
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Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
Während Wielands Aufsatz Was ist Wahrheit? (vgl. Kap. II.3.4.c) Zurückhaltung in Wahrheitsfragen empfiehlt, sieht Heinse keinerlei Anlass, in die erkenntnistheoretische Krise der Spätraufklärung einzustimmen. Dass es ein wahres Wesen des Menschen und der Natur gibt, das man auch erkennen kann, steht für ihn außer Frage: Die Stunden, wo man genießt, und diejenigen, wo man eben verdaut hat, sind die besten in des Menschen Leben: sie sind die Zeit der Wahrheit Ein und Aus. Wahrheit ist Reife. Wahrheit ist ein Ganzes, das alles hat, was es haben muß. Wahrheit ist relatif, heißt weiter nichts, als jeder Baum trägt seine eigne Frucht. In der Natur ist alles wahr, was reif, oder zu einem Ganzen geworden ist: das übrige ist noch unentschieden. (SW 8.1, 6f.)
Erst im Genuss wird der Mensch zum Ganzen und kommt zu seiner wahren Natur, weil er genießend das Grundprinzip des Universums in sich lebendig macht. Nur wer genießt, ist freies und vollständiges Individuum. Die Quintessenz des 50-seitigen ›metaphyischen Gesprächs‹, das Ardinghello mit dem Griechen Demetri auf dem Dach und im Inneren des römischen Pantheons führt, besteht daher in dem spekulativen Gedanken, dass Genuss, ohnehin »Heinses Zentralbegriff«13, die Geschichte der gesamten Natur strukturiert und dynamisiert. Die anfängliche Anarchie des Ursprungskosmos wird im gegenseitigen Genuss der Elemente von einem ordnenden Prinzip durchdrungen: »Und die Liebe ward geboren, der süße Genuß aller Naturen füreinander, der schönste, älteste und jüngste der Götter, von Uranien, der glänzenden Jungfrau, deren Zaubergürtel das Weltall in tobendem Entzücken zusammenhält« (Ard. 270). Genießend konstituiert sich das Universum als pulsierende Dynamik zwischen zwei Polen, zwischen dem Wesen der Allnatur und den unzähligen Formen, in denen es sich ausdrückt: Im Anfange war Alles Eins, das Wesen so zart zerflossen, fein und dünn wie der Raum schier. Und es regte sich; da ward Form. Aus der unvollkommnen ging die vollkommnere hervor; und so entstanden die Elemente: Wasser, Luft, Erde, Feuer; Pflanzen, Tiere und Mineralien. Alles wechselt miteinander ab und geht wieder in das Eins zurück. Vater Äther, aller Lebengeber! […] Form und Wesen, und Wesen und Form! das sind die zwei Pole des Weltalls, um welche sich alles herumdreht. Die bildende Kraft liegt in dem Wesen und ist ein Streben nach Genuß. (Ard. 304)
Die Offenbarung des ewig-formlosen Wesens in vergänglichen Formen geschieht einerseits aus dem Bedürfnis, in der Beschränktheit der Form zu genießen, wie sich andererseits im Genuss das Verschiedene vereinigt und das Leben seine Beschränkung in Einzelformen wieder rauschhaft übersteigt. Vor dem Hintergrund der ionischen Naturphilosophie14, durch deren Privilegierung er der ›griechischen
13 14
Ebd., 109 (hier Anm. 12) sowie Herrmann (2010), 66–71. Zu Heinses Kenntnis und Rezeption vorsokratischer Naturphilosophie vgl. Mohr (1971), 44–54.
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Aufklärung‹ bei Sokrates eine strategische Absage erteilt, entwickelt Heinse mit dem Genussprinzip ein Welterklärungsmodell, das Allnatur und Individuum, Wesen und Form nicht dualistisch voneinander trennt, aber ihre Differenz auch nicht fundamentalpantheistisch neutralisiert.15 Heinses ›Hen kai pan‹ meint keine statische Identität zwischen der Allnatur und den Einzelformen, sondern einen dynamischen Prozess von Werden und Vergehen: Die Natur hat sich aus eignen Grundtrieben dies Spiel von Werden und Auflösen so zubereitet, um immer in neuen Gefühlen selig fortzuschweben; und unser Beruf ist, dies zu erkennen und glückselig zu sein. (Ard. 275)
Wechselt man mehrfach den Sexualpartner und begibt sich ständig auf die Suche nach neuen erotischen Abenteuern, dann führt man ein Leben, das diesem metaphysischen Prinzip der Natur entspricht: Männliche und weibliche Elemente machten […] am begreiflichsten die Natur lebendig und erklärten die ewige unaufhörliche Bewegung und den wütenden Trieb zur Begattung […] am besten. Liebe, Hochzeit, Ehe und Ehescheidung: daraus bestünde die Welt. (Ard. 291)
Wer diese metaphysisch-erotische Universaldynamik einsieht, weiß um die Bedingung autonomer Individualität und freien Handelns. Wem es gelingt seine Sinnlichkeit zu entfesseln, wer genießt, ohne sich von äußeren Umständen daran hindern zu lassen, ist frei, denn er wiederholt im Kleinen die lustvolle Schöpfung aller Lebensformen durch die wesenhafte Natur: Wenn Eins Alles ist, so ist jede Form desselben ursprünglich freie Handlung; denn es läßt sich kein Grund denken als seine Lust, warum es aus sich so mancherlei wird. Und Allgenuß seiner Kraft ist die höchste Freiheit. Das Wesen hat also die Welt nach seiner Lust aus sich erschaffen und in mannigfaltige, für uns unendliche Formen geordnet. (Ard. 307)
Konsequenterweise bedeutet Willensfreiheit daher auch die Furcht vor dem Tod abzulegen, denn Sterben ist der Metaphysik des Ardinghello zufolge nichts anderes, als die zwangsläufige und genusshafte Wiederauflösung des ›principium individuationis‹ innerhalb eines ewigen Werdens und Vergehens. Todesgefahr ruft bei Ardinghello daher dieselben Empfindungen hervor, wie die Nähe einer Geliebten. Im Vorfeld einer Schlacht mit Seeräubern ruft er aus: O wie klopfte mir das Herz, bald im Schlachtengetümmel zu sein! Der Tod ist dabei doch nichts anders als eine freie Bahn auf die edelste Art in die Geisterwelt aus diesem Chaos von Unwissenheit. (Ard. 95)
Fehlende Todesfurcht als Bedingung autonomer Individualität impliziert freilich eine strikte Absage an die Vorstellung vom jüngsten Gericht, die durch moralfreie
15
Dass das ›metaphysische Gespräch‹ im Ardinghello keinen reinen Pantheismus propagiert, zeigt Herrmann (2010), 71–79.
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Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
Naturmetaphysik ersetzt wird. Über den utopischen Kykladenstaat erfährt der Leser am Romanschluss, »daß auf dem ganzen Erdboden kein andrer Platz war, wo man sich so wenig vor dem Tode scheute« (Ard. 373). Fraglich ist dabei allerdings, was denn den sozialen Frieden des Kykladenstaats garantiert, wenn die Todesstrafe keine abschreckende Wirkung mehr besitzt. Zweifelnde Fragen wie diese leiten schon über zur Insuffi zienz von Ardinghellos Autonomieideal: An das ungewöhnliche Verständnis von Willensfreiheit als selbstgeschaffenem Zustand, in dem das Individuum unbeeindruckt von allen moralischen Konventionen seine Begierden befriedigt, knüpft sich bei Heinse nämlich auch eine politische Stellungnahme, die den aporetischen Charakter seines Autonomieideals offenbart. Heinses Ardinghello zufolge handelt nicht derjenige frei, der verhindert, dass seine Leidenschaften ihn beherrschen, sondern derjenige, dem es gelingt, seine Leidenschaften auszuleben. Ardinghellos Patentrezept, um nicht zum Opfer oder Sklaven seiner Begierden zu werden, ist also nicht deren Mäßigung, sondern ihre konsequente ›Entfesselung‹. Körperlicher Genuss gilt in Heinses Roman als oberster Maßstab einer autonomen Existenz: »Wir schätzen unsern Körper viel zuwenig; und doch muß jeder fühlen, daß ihn ein Händedruck, Kuß und Umarmung von einer schönen Person ganz anders ergreift als der wohlstilisierteste ciceronianische Brief von bloßem Geist« (Ard. 294). Eingeschränkt wird der freie Wille daher auch nicht durch die Körperlichkeit des Menschen, sondern durch die politischen und sozialen Umstände, in denen er lebt. Wer durch sein Verhalten eine gesellschaftliche Rechtsordnung anerkennt, ist schwach und unfrei, denn er unterwirft sich dem zivilisierten Kulturstand, der die Entfaltung des Genussprinzips, also die wahre menschliche Natur einschränkt: Der wahre große und verständige Mensch lebt immer im Stande der Natur. Die Gesetze und alle die bürgerlichen Verhältniße sind nur für den Pöbel: nur ein mittelmäßiger Mensch läßt sich davon fesseln[.] (SW 8.1, 8)
Leonhard Herrmann hat auf die antirousseauistische Naturstandsvorstellung aufmerksam gemacht, die Heinse in seinem Frankfurter Nachlass entwickelt. Vor der Zivilisation ist der Heinsesche Naturmensch nicht empfindsamer Schäfer, sondern lebte als Jäger in einem ›kriegerischen Arkadien‹16. Dass diese Naturstandsvorstellung Hobbes nahesteht, liegt auf der Hand. Im Unterschied zu Hobbes folgt aus der Idee naturständischer Anarchie bei Heinse jedoch kein Plädoyer für rationale Staatsräson und zivilisierte Rechtsordnung. Stattdessen, so zeigt Herrmann, stilisiert Heinse das naturständische ›bellum omnium contra omnes‹ zum goldenen Zeitalter der Menschheit:
16
Herrmann (2010), 44–46.
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Die Zeiten, wo bellum omnium contra omnes war, sind, nach aller Geschichte, immer die glücklichsten Zeiten für die Menschheit gewesen. Gefahr spitzt den Kopf und harnischt das Herz. Der Mensch ist ein Raubthier; und zwar das größte.17
Gewalt und Krieg sind genau wie die geschlechtliche Liebe Rausch- und Genusszustände, in denen der Mensch als autonomes selbstbestimmtes Individuum agiert. Im ›metaphysischen Gespräch‹ erklärt Demetri: Bewegung ist Wirksamkeit der Kraft auf einen Gegenstand. Wo Kraft und Gegenstand ist, ist auch Bewegung. Wo doppelte Kraft aufeinander wirkt: Liebe oder Krieg, Neues-Werden oder Abprallung. (Ard. 283)
Zu dieser Wirksamkeit, zur Entfaltung des wahren autonomen Kerns der menschlichen Natur, sind nur wenige Individuen in der Lage, weil freier Wille sich überhaupt nur in Ausnahmezuständen konstituieren kann: Freies Handeln gründet gleichsam parasitär auf dem Normalzustand, auf der Existenz fester legaler Strukturgefüge, zu denen das autonome Ausnahmeindividuum in Widerspruch tritt. Der Heinsesche Naturmensch bedarf der Zivilisation als ›Gegenstand‹, an dem er seine freie Wirksamkeit unter Beweis stellt, indem er sich ihr widersetzt. Autonomie durch Eremitage, Freiheit durch radikale Exklusion und Vereinzelung kann es für Heinse und Ardinghello nicht geben, denn der »Mensch für sich allein, überhaupt jedes Wesen, abgesondert, ist unglücklich« (Ard. 124). Hier liegt die implizite Aporie von Ardinghellos Autonomiekonzept, die der Roman, so meine These, mit dem utopischen Schluss zu kaschieren versucht: Der freie Wille als anthropologisches Problem stellt sich für Ardinghello überhaupt nicht. Im Unterschied zu Aufklärung und ›Goethezeit‹, für die die Körperlichkeit des Menschen seinen freien Willen einschränken kann, nämlich wenn die Begierden das Handeln bestimmen, beweist Heinses ardinghelloesker Mensch seinen freien Willen nur, wenn er seine Begierden gegen alle Widerstände durchsetzt. Dies entspricht Heinses »doppelte[m] Grundbedürfnis nach Freiheit und Selbständigkeit einerseits, nach genußvollem Berühren und Reiben andererseits«18. Ardinghellos Autonomiekonzept lässt sich daher mit dem Trittbrettfahrer-Topos erklären, denn der ardinghelloeske Mensch braucht den rechtlich kodifizierten gesellschaftlichen Normalzustand, um sich ihm durch Rechtsbruch zu widersetzen: Er fährt mit, aber ohne zu bezahlen und profitiert davon, dass alle anderen die Fahrt finanzieren. Freier Wille konstituiert sich nur in bestehenden rechtlichen Schranken, nämlich indem er sie durchbricht. Diese Aporie, die Heinses Autonomieideal innewohnt, hat bislang einzig Heinrich Mohr präzise benannt: Heinse begreift den Menschen als Gesellschaftswesen, vermag ihn aber nur als Individuum, ja als Ausnahme vorzustellen.19
17 18 19
Heinse (2003–2005), Bd. 1, 363. Gaier (1998), 35. Mohr (1971), 158.
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Heinses Denken mündet in eine böse Paradoxie. Der ‹große Mensch› ist möglich nur in der Gesellschaft, im Staat, weil er kein primitives Natur-, sondern Kulturwesen ist. Gleichzeitig aber macht er den Staat als Rechtsgemeinschaft kraft seiner Natur unmöglich. […] Dieses Dilemma seines Denkens in Sachen Politik hat Heinse selbst in der ganzen Schärfe und Ausweglosigkeit nicht gesehen.20
Nach Zurkenntnisnahme dieser theoretischen Insuffizienz von Heinses Autonomieideal gilt es in den folgenden Kapiteln zu zeigen, wie der Roman dieses Dilemma kaschiert und welche politische Funktion sich mit dem Utopie-Zitat am Romanschluss verbindet.
2.2 Stationenroman in Briefform: Die Raumsemantik des Ardinghello und ihre epische Vermittlung In der Vorrede zum Ardinghello, die auf »Dezember 1785« datiert, behauptet der fiktive Herausgeber, im Folgenden die Übersetzung einer italienischen Handschrift aus dem 16. Jahrhundert vorzulegen, die er »in einer verfallnen Villa« bei Cajeta (heute: Gaëta) entdeckt habe (Ard. 7). Erst im Laufe des Romans stellt sich heraus, dass die Handschrift von einem Venezianer namens Benedikt verfasst wurde.21 Benedikt erzählt nicht seine eigene Lebensgeschichte, sondern seine Begegnung mit dem florentinischen Maler Ardinghello und dessen sich über mehrere Stationen erstreckende Wanderschaft durch Italien. Der Charakter Benedikts entsteht in seinen groben Umrissen nur im Vergleich mit und in Absetzung von der Hauptfigur Ardinghello. Die relative Durchschnittlichkeit seines Charakters trägt dazu bei, das Charisma der überdurchschnittlichen Ardinghello-Figur erzählerisch zu konturieren. Immer wieder hält Benedikt Informationen zurück, die den Fortgang seines persönlichen Schicksals in jenen Phasen betreffen, in denen er nicht mit Ardinghello reist, sondern nur in Briefkontakt mit ihm steht. Er unterdrückt persönliche Details, die »nicht zu dieser Geschichte gehören« (Ard. 101), »um die Geschichte nicht zu verwickeln und weitläufig zu machen« (Ard. 357). Während Benedikt im handlungsreichen Ersten Teil als Ich-Erzähler unmittelbar an den Ereignissen um Ardinghello partizipiert, verringert sich ab dem Zweiten Teil seine Beteiligung am Geschehen drastisch. Nachdem Ardinghello zum Mörder geworden ist, begibt er sich auf die Flucht und Benedikt fungiert nun fast ausschließlich als Adressat von Ardinghellos Korrespondenz. Mit den Briefen, die Ardinghello von seinen Reisen schreibt, wird er selbst zur Erzählinstanz. Während sich Benedikt anfangs als Kommentarinstanz immer wieder zwischen die Briefe schaltet und seine Antworten in äußerst geraffter Form paraphrasiert, tritt er ab Ardinghellos Rombriefen (Ard. 157ff.) überhaupt nicht mehr als epische Vermittlungsinstanz in Erscheinung. Der entscheidende Unterschied 20 21
Ebd., 131. Zur ersten namentlichen Erwähnung Benedikts vgl. Ard. 49.
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zwischen den Erzählinstanzen Benedikt und Ardinghello liegt in der Adressierung ihres Erzählens. Während Benedikt sich mit der italienischen Handschrift an einen größeren Leserkreis wendet, und in der relativistischen Behandlung des eigenen Schicksals ein gewisses Formbewusstsein beweist, sind Ardinghellos Brieferzählungen einzig und allein für den Freund bestimmt. Als Romanfigur wie als Erzählinstanz bleibt Ardinghello stets der aktiv Handelnde, der die Relevanz des eigenen Schicksals für andere nicht zögerlich in Zweifel zieht und sich selbst, trotz aller Exkurse, nicht zum erzählenden Sachwalter eines anderen Schicksals als dem eigenen degradieren lässt. Von eminenter Bedeutung für die Frage nach dem literarischen Umgang mit der oben erörterten Insuffizienz von Ardinghellos Autonomieideal ist schließlich die Tatsache, dass Benedikt im letzten Fünften Teil wieder an narrativem Einfluss gewinnt, denn es ist nicht Ardinghello, sondern Benedikt, aus dessen Feder der Leser die Gründung des utopischen Inselstaates erfährt. Bevor aus diesen Analysedaten Deutungsaussagen abgeleitet werden sollen, lohnt es sich, noch einige Blicke auf die Semantisierung jener geographischen Räume zu werfen, die Ardinghello während seiner Wanderschaft durchreist: Heinses Roman wurde nach seinem Erscheinen von einem großen Teil des zeitgenössischen Publikums als der erste Renaissanceroman rezipiert.22 Genau genommen, fällt die Zeitspanne der Romanhandlung in die italienische Spätrenaissance. Zudem lässt sich ein zeitlich und politisch relativ exakter historischer Kontext rekonstruieren, in den Heinse das Romangeschehen versetzt. Die Gestaltung der Handlungsstränge und des Renaissancemilieus fußt auf einem umfangreichen Quellenstudium, das Heinse vor allem während seiner Italienreise betrieb und das ein starkes Bemühen um eine möglichst authentische Darstellung der Spätrenaissance verrät.23 Die Handlungsstationen des Romans folgen im Wesentlichen der Route von Heinses Italienreise in den Jahren 1780–1783. Die Handlung beginnt im Frühjahr 1574 in Venedig und endet im Frühjahr 1578 auf den beiden Kykladeninseln Paros und Naxos.24 Das Italien, das Ardinghello durchreist, ist von seiner politischen und administrativen Ordnung her das Italien nach dem zweiten Friedensschluss von Cateau-Cambrésis (1559). Dieses Vertragswerk zwischen dem habsburgischen Spanien und dem französischen Valois-Königtum setzt dem politischen und militärischen Ringen um die Vormacht in Italien ein Ende. Der Frieden zementiert die spanische Hegemonie auf der Apenninenhalbinsel und legt die Grundlage für die politische Ordnung Italiens im späten 16. und im 17. Jahrhundert. Im Roman selbst klingt diese spanische Prädominanz während der
22 23
24
Vgl. Baeumer (1998), 643. Die umfangreichste Rekonstruktion der Materialbasis von Heinses Renaissance-Studien unternimmt Brecht (1911). Auf eine zusätzliche Quelle verweist Herrmann (2010), 62f. Vgl. Baeumer (1998), 675.
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Neapel-Episode an, denn von den italienischen Staaten, die Ardinghello durchreist, gehört nur das Königreich Neapel den spanischen Ländern zu. Indes berührten die Auswirkungen des spanischen Absolutismus auf die Mentalität der Zeit auch die unabhängigen Staaten. Im Werturteil des Historikers erscheinen die eineinhalb Jahrhunderte spanischer Vorherrschaft (1559–1700) daher als »die ruhigsten und ereignislosesten Menschenalter, die Italien je gesehen hat«25, und im Vergleich mit der Aufstiegsepoche der italienischen Städtelandschaft zeigt diese Periode Symptome »einer tiefen Passivität und Erschlaffung«26. Heinses Roman handelt in einem historischen Milieu, in dem diese Entwicklung ihren Anfang nimmt, denn Ardinghello bekommt das »Erlahmen der Vitalität«27, das die italienische Spätrenaissance in Folge der spanisch-absolutistischen Fremdbestimmung auszeichnet, vielfach zu spüren, kehrt wegen mangelnder Wirkungsmöglichkeiten Italien schließlich den Rücken und gründet den utopischen Kykladenstaat. Bevor er sich von Brindisi aus nach Paros und Naxos einschifft, beklagt er noch einmal die absolutistische Fremdbestimmung auf der Apenninenhalbinsel: O Vaterland, Vaterland, daß ich dich in Ketten und Banden sehen muß und von dir scheiden! Lebe wohl, schönes Italien, lebe wohl! Lebe wohl, Venedig, Genua und Rom! O du warst es wert, stolzes Land, vor allen andern einmal die Herrschaft über die Welt zu haben! (Ard. 362).
Dass die italienische Spätrenaissancekulisse leicht als Anspielung auf die deutschen Verhältnisse im 18. Jahrhundert verstanden werden kann, liegt daran, dass das Italien des 16. Jahrhunderts seiner politisch-administrativen Struktur nach einem ähnlichen ›Flickenteppich‹ von Territorialstaaten gleicht wie Deutschland im Aufklärungszeitalter. Giuliano Procacci rubriziert seine Wertung der italienischen Spätrenaissance unter dem Begriffspaar »Verfall und Größe«28. Auch wenn sich in dieses Werturteil eine Nuance zu viel Historikerpathos mischt, ist damit doch das italienische Spätrenaissancemilieu, das Heinses Roman entwirft, treffend charakterisiert. Dies zeigt schon die erste Handlungsstation des Romans, die Republik Venedig. Wirtschaftlich und politisch gesehen bedeutet das 16. Jahrhundert den beginnenden Niedergang der Lagunenstadt. Dennoch erhebt sich das künstlerische und geistige Leben noch einmal zu einer unerwarteten Blüte. Der Markusplatz erhält seine heutige Gestalt und Venedig wird zur Wahlheimat so bedeutender Künstler wie Palladio und Veronese. Procacci resümiert: »Man könnte fast sagen, daß Venedig am Rande seines Niedergangs darum bemüht war, der Nachwelt noch ein letztes, besonders glänzendes Bild zu hinterlassen.«29 Vor dem Hinter-
25 26 27 28 29
Seidlmayer (²1989), 309. Ebd., 301. Ebd., 303. Procacci (1989), 131. Ebd., 150.
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grund der außenpolitischen Bedrohung durch die Türkenkriege lassen die politischen Strukturen im Spätrenaissance-Venedig jedoch einen Rückgang der libertär-weltoffenen venezianischen Gesinnung und eine Verfestigung starrer, oligarchischer Verhältnisse erkennen, wie die erste Unterhaltung zwischen Ardinghello und dem Venezianer Benedikt zeigt (Ard. 13ff.): Ardinghello reagiert zunächst sehr verhalten auf Benedikt, dessen politischen Standpunkt er noch nicht kennt. Er lobt den venezianischen Senat und dessen Bündnispolitik. Dies geschieht jedoch nicht aus Rücksichtnahme, sondern aus Furcht vor öffentlicher Observation. Erst als Benedikt ihm »das etwanige Mißtrauen gegen einen Nobile« (Ard. 14) nimmt, und damit einen isolierten Privatraum schafft, äußert Ardinghello unverhohlen seine Kritik an der Senatspolitik. In seiner »Freimütigkeit« (Ard. 15) geht er dabei sogar so weit, dass er Benedikts »damals noch allzu parteiisch-vaterländisches Herz« (Ebd.) kränkt. Mit Blick auf die zeitgenössischen venezianischen Verhältnisse leitet er schließlich auch schnell von dem offensichtlich nicht ungefährlichen politischen Thema zu einem Kunstgegenstand über: »Aber wir sind doch immer in Venedig, und die Mauren haben da Ohren; sprechen wir von etwas anderm!« (Ard. 15). Ardinghello, der »Maler aus Florenz« (Ard. 15), geriert sich hier, wie überhaupt, wenn er mit festen Strukturgefügen konfrontiert wird, als von außen kommender Fremder, der jenseits aller Ordnung zu stehen scheint. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der politischen Verhältnisse in seiner Herkunftsregion. Der ›Exil-Florentiner‹ Ardinghello ist mit den Medici unter Cosimo I. erbittert verfeindet, da sein Vater ein außereheliches Verhältnis mit einer Tochter Cosimos hatte und daher von den Medici ermordet wurde (vgl. Ard. 54–59). Dementsprechend negativ fällt Ardinghellos Urteil über Florenz aus: O ihr Venezianer […] habt gut reden! Euch hat kein Haus, wie uns das Mediceische, so niederträchtig zugrunde gerichtet […]; Toskana, die alte Glorie von Welschland, liegt da in Schmutz und Trauerkleidern, mit Ketten behangen von seinen eignen Söhnen. (Ard. 59)
Nach dem Tod Cosimos I. kehrt Ardinghello in das Großherzogtum Toskana zurück, wobei ihm zuerst die mangelnde Selbständigkeit und Freimütigkeit der Florentiner auffällt: »[D]ie Nation [habe] seit weniger als hundert Jahren […] den großen Sinn verlor[en], wodurch sie sich in den Zeiten der Freiheit auszeichnete« (Ard. 141). Ardinghellos Eindruck kommt der historischen Entwicklung im Florenz des späteren 16. Jahrhunderts recht nahe. Mit den Medici entwickelt sich der Stadtstaat allmählich zum homogenen Territorialstaat des Großherzogtums Toskana. Unter Cosimo I. (1537–1574), dem »Tyrannen von Toskana« (Ard. 126), werden Bürokratisierung und Zentralisierung vorangetrieben: Durch diesen Wandlungsprozeß ging jedoch mehr an städtischer Vitalität verloren, als an Charakterzügen eines modernen absolutistischen Staates gewonnen wurde. […] Am Ausgang des 16. Jahrhunderts hatte sich Florenz von dem bedeutenden Handelsund Gewerbezentrum, das es noch zu Anfang des Jahrhunderts gewesen war, in eine
200
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Residenzstadt von Grundeigentümern und Bürokraten verwandelt, die es bis heute geblieben ist.30
Dieser Tendenz begegnend, versucht Ardinghello im Dritten Teil den »edle[n] Kern der Selbstständigkeit« (Ard. 138) in Florenz wieder zu aktivieren, indem er am Hof der Medici unter Cosimos Sohn Francesco I. mitarbeitet und Reformen anstößt. Signifikantes äußeres Anzeichen dieser Integration in bestehende politische Strukturen ist die Tatsache, dass Ardinghello seine Briefe an Benedikt nun mit seinem vollen Namen »Prospero Frescobaldi« (Ard. 143) unterzeichnet und den Decknamen Ardinghello vorübergehend ablegt. Erst seine letzten beiden Briefe aus Brindisi (Ard. 363) und dem »Hafen zu Scio« (Ard. 366) sind wieder mit dem Titelnamen signiert.31 Als Ardinghello jedoch im Fünften Teil aus Rom nach Florenz zurückkehrt, wird die Wirkungslosigkeit seines Reformprogramms offenbar. Gegen die obrigkeitliche Sozialdisziplinierung und deren lähmende Wirkung auf die Vitalität der Untertanen und gegen das mondäne Klima im Florenz der Medici richtet er nichts aus: »An unserm Hofe herrscht eine unerträgliche Langeweile; alles muß sich in den Ton des Monarchen stimmen« (Ard. 335). Ardinghellos Unternehmen, erzieherisch auf die Mentalität seiner Landsmänner einzuwirken, scheitert. Die Florenz-Episode und der erfolglose Versuch, sich legal am absolutistischen Medici-Staat zu beteiligen, sind markantes Indiz für die Schwierigkeit, Ardinghellos Individualitätskonzept in das zementierte politische System der italienischen Spätrenaissance zu integrieren, das von ihm verlangt, sich in bestimmte Rollen zu fügen und innerhalb bestimmter vorgegebener moralischer und rechtlicher Schranken zu agieren. Dies bestätigt sich auch während Ardinghellos anschließendem Romaufenthalt, obwohl es auf den ersten Blick den Anschein hat, als ermögliche die hohe Präsenz antiker Kunst und Sinnlichkeit im Renaissance-Rom Ardinghello ein legales Leben im Naturstand unbeschränkten Genießens. Die Rombriefe sind die längsten und wohl auch zähesten des gesamten Romans. In ihnen dominieren kunsttheoretische Gespräche, Gemälde- und Skulpturenbeschreibungen und schließlich der umfangreiche philosophische Dialog zwischen Ardinghello und Demetri. Ardinghello reist im Auftrag des Hauses Medici nach Rom, um dort
30 31
Ebd., 141. Ardinghellos erster Brief aus Rom (Ard. 157ff.) sowie sämtliche Briefe des Vierten und Fünften Teils, bis auf diese letzten beiden, tragen keine Unterschrift. Dies ist damit zu erklären, dass Heinse große Teile der Rombriefe und der zahlreichen darin enthaltenen Ekphraseis in Heinrich Christian Boies Deutschem Museum unter dem Titel Fragmente einer Italiänischen Handschrift aus dem sechzehnten Jahrhundert vorabgedruckt hatte. Durch ihre ausufernde Länge büßt Ardinghellos Romkorrespondenz den Briefcharakter fast vollständig ein (Ardinghellos 5. Rombrief umfasst immerhin 64 Seiten!). Die von Michael Hofmann am Ardinghello konstatierte »mangelnde epische Integration reflektierender Passagen« (Hofmann [1998–1999], 230) gilt daher vor allem für die Romkorrespondenz.
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»Kunstsachen zu kaufen und in Ordnung zu bringen« (Ard. 157). Der Romaufenthalt wird zu einer Zeit intensiver Auseinandersetzung mit der antiken Kunst. Dabei begegnet uns ein Muster der Romerfahrung, das besonders mit Goethes Römischen Elegien zum Typus wird. In der Konfrontation mit der antiken Kunst vergegenwärtigt sich für Ardinghello eine vergangene Epoche, und das in einer Umgebung, in der diese Epoche und ihr anthropologisches Ideal vollständiger, natürlicher Individualität noch teilweise präsent ist. Diese scheinbare Nähe der Antike erschöpft sich nicht allein in den antiken Statuen und Bauwerken, sondern Ardinghello trifft auch bei den Mädchen, die dem Künstlerbacchanal am Schluss des ersten Bandes beiwohnen, auf Rudimente antiker Mentalität und Physiognomie: »Die Mädchen waren echte Römerinnen an Wuchs und Gestalt, mit der erhabnen antiken, noch republikanischen Gesichtsbildung, die auch auf fremde Fürsten wie nur Barbaren herunterschaut« (Ard. 195). Motivisch eng damit verbunden ist die Semantik des Festes. Ardinghello erreicht Rom im Oktober und schreibt an Benedikt: »Der Oktober ist hier wie Wetter aus dem Paradiese, jeder Tag heiter und Fest schon an und für sich« (Ard. 204). In Ardinghellos Wahrnehmung der römischen Gesellschaft dominieren also Aspekte des Außeralltäglichen und Bacchantischen. Dem historischen Rom der Spätrenaissance wird damit keineswegs Unrecht getan: Mit seiner Kurie, seinen Kardinälen, den zahllosen Herbergen, den Kurtisanen, den Scharen von Bittstellern an den verschiedenen Höfen war Rom sicherlich die italienische Stadt, in der am wenigsten produziert und am meisten konsumiert wurde. Mehr noch als um Konsum handelte es sich um Verschwendung, um Reichtum, der im Bau von Kirchen und Palästen »zu Stein« wurde, der in Festen und ostentativ zur Schau getragenem Luxus verflog.32
Entgegen dem pejorativen Urteil des Historikers wird diese Atmosphäre aus Konsum, Luxus und ostentativer Festkultur zum Nährboden für das bei Heinses Zeitgenossen berüchtigte Künstlerbacchanal. Die anstößige Wirkung dieser Passage erschließt sich dem heutigen Leser allerdings nur schwer, denn orgiastischer Rausch wird hier nur innerhalb enger moralischer Schranken dargestellt. Die Bacchanten schließen vorab »den feierlichen Vertrag, nichts Schändliches zu beginnen und die Leidenschaften bis ans lange Ziel gleich olympischen Siegern im Zügel zu halten, wie’s braven Künstlern gezieme« (Ard. 196). ›Brav‹ und ›schändlich‹ sind ihrer Semantik nach moralische Kategorien. Die Überschreitung moralischer Grenzen wird also mit einer Überschreitung der Grenzen des Schönen gleichgesetzt. Die konkrete Gestalt des bacchantischen Tanzes gleicht daher eher einer theatralisch-rituellen Umwandlung von Realität in eine Kunstform.33 Gert Theile spricht von einem »orgiastischen Rausch mit Sicherheitsvorabsprachen und hinter verschlossenen römischen Türen«34. Schon die teilnehmenden Frauen 32 33 34
Procacci (1989), 157. Vgl. dazu auch Frankhäuser (2007). Theile (1998), 67.
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verleihen dem dionysischen Fest einen artifiziellen Charakter und lassen es als Inszenierung erscheinen: Die typisierten Römerinnen sind Malermodelle und gehören damit dem Milieu der Kunstproduktion zu. Genuss als die wahre menschliche Natur vermittelt das römische Künstlerbacchanal also nur innerhalb eines theatralisch organisierten Rahmens, der die bacchantischen Handlungen auf der Basis moralischer Argumente begrenzt. Während Ardinghello die tanzenden Römerinnen betrachtet, äußert er denn auch, dass er »noch kein vollkommner weiblich Schauspiel genossen«35 habe. Die antinomische Symbiose von inszenierter dionysischer Orgie und ihrer moralischen Begrenzung ist symptomatisch für das Spannungsverhältnis, das der Romsemantik im Roman zugrunde liegt. Rom ist der Ort in Italien mit der größten Präsenz antiker Kultur und gleichzeitig die Hauptstadt des Katholizismus. Unter Papst Paul III. (1534–1549) und Paul IV. (1555–1559) wird die Römische Inquisition neu organisiert, und so ist denn auch Ardinghellos aus Griechenland stammender Mentor Demetri gezwungen, seine pantheistisch-naturphilosophische Metaphysik »wegen der heiligen Inquisition« (Ard. 262) lediglich einem kleinen römischen Kreis von Eingeweihten zu lehren. Die Semantik von Ardinghellos letzter italienischer Station, dem Königreich Neapel, wird vor allem durch die Nähe zum Vesuv bestimmt. Der Vulkan gleicht einem »Wesen, das sich selbst gemacht hat« (Ard. 355), und kontrastiert daher mit den politischen Verhältnissen im Neapel der Spätrenaissance. Ardinghello und seine als Mann verkleidete Begleiterin Fiordimona erregen hier mit ihrer bloßen Präsenz die Leidenschaft der Gräfin von Coimbra (Ard. 351), die mit dem Sohn des spanischen Vizekönigs in einem Liebesverhältnis steht. Die Lage eskaliert und zwingt Ardinghello und Fiordimona zur Flucht. Angesichts des spanischen Absolutismus und seiner Macht bleibt nur der passive Rückzug in die bewährte Flüchtlingsexistenz. Im Überblick vereint also alle italienischen Stationen Ardinghellos eine gemeinsame Semantik: Trotz der erhaltenen Vielfalt politischer Strukturen im Italien der Spätrenaissance erlebt Ardinghello nirgends einen Zustand, in dem er ungehindert genießen kann, ohne dass sich moralische und gesellschaftliche Konventionen und Traditionen gegen seinen Anspruch stemmen. Selbst im republikanischen Venedig verfestigen sich oligarchische Verhältnisse und obrigkeitliche Sozialdisziplinierung, weshalb Ardinghellos ›Freimütigkeit‹ ihn in Gefahr bringt. Ardinghellos Autonomieideal mündet in Italien immer wieder in der Illegalität einer Flüchtlingsexistenz. Auf keiner seiner Stationen gelingt es ihm, seinen unbedingten Autonomieanspruch zur Grundlage friedlichen sozialen Zusammenlebens zu machen. Dort, wo dies scheinbar glückt, generiert der Roman eine latente Moralität, wie im römischen Künstlerbacchanal, wo rauschhaft
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Ard., 196 (Hervorhebung, M.L.).
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dionysische Entgrenzung nur als theatralische Inszenierung und auf der Grundlage moralischer Vorvereinbarungen umgesetzt wird. Dass Ardinghellos Ideal autonomer Individualität, verstanden als unbeschränktes sinnliches Genießen, zumindest für einen begrenzten Zeitraum als Grundlage kollektiven Zusammenlebens vorstellbar wäre, demonstriert erst der zehnseitige utopische Romanschluss. Mit dieser Integration von Ardinghellos Charakter in ein überindividuelles Strukturgefüge kreiert der Roman jedoch eine brisante Paradoxie. Eigentlich müsste sich Ardinghello aufgrund seines Autonomieideals eo ipso jeder gesellschaftlichen Restriktion gegenüber renitent verhalten. Dennoch scheint er, der mehrfache Mörder, widerspruchsfrei zu akzeptieren, dass auch in dem utopischen Staat bestimmte Handlungen justiziabel gemacht werden können. Um den Fortbestand des Ganzen zu gewährleisten, endet auch auf Paros und Naxos die Freiheit des Einzelnen dort, wo sie der Freiheit des Anderen den Boden entzieht. In Benedikts abschließendem Bericht findet sich keine Stellungnahme zu diesem Problem, aber in einer Reihe von Aussagen wird jene ›logische Sackgasse‹ erkennbar, in die Heinses literarischer Integrationsversuch hierbei gerät: »jedes hatte völlige Freiheit seiner Person, und alle Gewalttätigkeit wurde hart bestraft« (Ard. 371). Obwohl völlige Freiheit und Bestrafung einander logisch ausschließen, firmieren sie als gleichwertige Verfassungsprinzipien des insularen Gemeinwesens. Weil der utopische Schluss diese Insuffi zienz von Ardinghellos Autonomieideal nicht explizit oder mit dem Mittel der Fiktionsironie zur Sprache bringt, bleibt nur die Vermutung, dass hiermit die Aporien von Ardinghellos Autonomieideal kaschiert werden. Dieser Verdacht erhärtet sich zusätzlich, wenn wir uns der narratologischen Analyse zu Beginn dieses Kapitels erinnern. Die Tatsache, dass nicht Ardinghello, sondern sein Freund Benedikt von der Gründung jenes Kykladenstaats erzählt, der vollkommen autonome Individualität und friedliche kollektive Identität miteinander synthetisieren soll, kann als markante narrative Plausibilisierungsstrategie verstanden werden. Dem utopischen Raum der beiden Kykladeninseln korrespondiert eine spezifische Form der narrativen Vermittlung: In Benedikts abschließendem Bericht über die Inselgesellschaft verliert das individuelle Schicksal Ardinghellos seinen Brennpunktcharakter und Ardinghello gerät zu einer Figur unter mehreren, die alle gemeinsam an der neuen Gesellschaft partizipieren. Nur in diesem Rahmen wird es möglich, die Widersprüche zwischen dem Charakter Ardinghellos, der sich jeder sozialen Integration zu widersetzen scheint, und der innenpolitisch wenig revolutionären Inselgesellschaft zu camouflieren. Im Erzählfokus des utopischen Schlusses stehen nicht mehr einzelne Figuren, sondern die Institutionen des insularen Gemeinwesens. Verräterisch sind dabei die oft nur andeutende Kürze und die auffällig kursorische Darstellungsweise von Benedikts Bericht, der das Alltagsleben der Bewohner völlig unterschlägt. Damit unterdrückt der utopische Schluss die Frage, wie denn ein soziales Zusammenleben organisiert werden kann, dem ein Konzept von Individualität zugrunde liegt, das für Befriedigung sinnlicher Be-
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Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
gierden plädiert, selbst wenn dies zur Zerschlagung der Rechtsordnung führen sollte.
2.3 Gewaltige Leidenschaft: Ardinghellos Umgang mit Frauen Vergleicht man Ardinghello mit typischen Charakteren des Sturm und Drang wie Guelfo in Klingers Zwillingen, Gerstenbergs Ugolino, Götz von Berlichingen, Leisewitz’ Julius von Tarent oder Läuffer in Lenz’ Hofmeister, dann zeigt sich eine aufschlussreiche Differenz: Während diese Figuren, bis auf Läuffer allesamt Renaissancecharaktere, zum Opfer ihrer Leidenschaft werden und ihre persönlichen und politischen Ziele nicht durchzusetzen vermögen, ist Ardinghellos Verhältnis gegenüber seiner Sinnlichkeit nicht durch Auslieferung bestimmt und er kapituliert nicht vor der Realisierung seiner erotischen Wünsche. Das ungezügelte Ausleben sexueller Leidenschaft zwingt ihn jedoch immer wieder, die Flucht zu ergreifen und für die Erfüllung seiner erotischen Wünsche illegale Handlungen in Kauf zu nehmen. Seine zahlreichen Liebesabenteuer künden von der Unfähigkeit, das Ausleben sexuellen Begehrens in normale gesellschaftliche Strukturen zu integrieren. Ardinghellos Libido durchbricht immer wieder soziale und rechtliche Schranken. Den Hang zu unbedingter Leidenschaftlichkeit, die sich über Verbote hinwegsetzt und mit Gefahren kalkuliert, kennt Ardinghello als Muster schon durch sein Elternhaus. Auch sein Vater begab sich aus Leidenschaft für Isabella, die verheiratete Tochter Cosimos I., auf gefährliches Terrain und ließ dabei sein Leben. Heinse gestaltet diesen aus florentinischen Chroniken montierten Erzählstrang im Ersten Teil des Romans zu novellistischer Dichte. Er konstruiert eine verwickelte Verbindung von Cäcilia, Ardinghellos Geliebter, mit den Mördern von Ardinghellos Vater und zitiert dabei die Kernelemente einer typischen Renaissancegeschichte. Der komponierten Geformtheit dieses ersten Handlungsstranges stehen die folgenden Teile in vielem nach.36 Zentrales Motiv und Höhepunkt der Handlung im Ersten Teil bildet die ›bella vendetta‹37, die ›schöne Rache‹, die Ardinghello an Cäcilias frisch gekürtem Ehemann Mark Anton verübt (Ard. 77). Ardinghellos Mord wird jedoch nicht durch ein einzelnes Tatmotiv erklärt, sondern seine Leidenschaft für Cäcilia vermischt sich dabei mit der Einlösung seines Racheschwurs (vgl. Ard. 58). Er mordet nicht nur, um seinen Vater zu rächen, sondern auch, weil er die Frau seines Opfers begehrt. In der Cäcilia-Episode deutet sich zudem an, dass Ardinghello nicht nur Gewalt gegenüber Männern ausübt, wenn diese der Erfüllung seiner Triebe im Weg stehen,
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Die übrigen Romanteile folgen eher dem Modell des barocken Romans, denn eine wirkliche Kunstform ist die Romanform für Heinse nicht gewesen. Vielmehr verstand er den Roman als »bequeme Art der Mitteilung […], als Gefäß, in dem Heterogenstes, lose aneinandergefügt, sich präsentieren ließ« (Mohr [1971], 146, hier Anm. 16). Vgl. Brecht (1911), 30f.
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sondern dass er auch im intimen Umgang mit Frauen vor Gewaltanwendung nicht zurückschreckt, wenn sie sich seinem erotischen Verlangen widersetzen. Während der ersten Treffen mit Cäcilia verweigert diese Ardinghello noch den Geschlechtsakt, aus Furcht vor dem Verlust ihrer Unschuld und den sozialen Folgen. Gegenüber Benedikt beteuert er: »Wir lebten im Stande der Unschuld« (Ard. 60). Während des Aufenthalts am Gardasee erzwingt Ardinghello jedoch die Erfüllung seines erotischen Begehrens: »mit der Nachricht von der Ankunft des Bräutigams zur Hochzeit erobert ich endlich, ach, unter wieviel Schmeicheleien, beredten Bitten, heißen Wollustküssen und Gewalttätigkeiten! das heilige Palladium, umrungen von Glanz und Feuer, jede Fiber süße Wut.«38 Die Szene gleicht einer Vergewaltigung und zeigt, dass Ardinghello seine Idee vom Recht des Stärkeren auch im Umgang mit Frauen, die er begehrt, aufrecht erhält. Aus seiner Sicht vergewaltigt Ardinghello Cäcilia nicht, sondern zwingt sie, sich von ihrer Keuschheit, ihrer ›bürgerlichen‹ Moralität und ihren falschen Frömmigkeitsvorstellungen zu befreien, die der Entfaltung von natürlicher Sexualität im Wege stehen. Diese Logik seines »radikalen Sensualismus«39 rechtfertigend, schreibt er später an Benedikt: Wie, bin ich strafbar, daß ich mich mit dem Schönen zu vereinigen suche, wo ich’s finde? Ist dies nicht der edelste Trieb unsers Geistes? Ist der nicht ein Elender, ein von Gott Verworfener, der diesen Trieb nicht hat, nicht ausübt? In was für einer Welt bin ich, wo dies Naturlaster sein soll? Den Menschen zerrüttende bloße bürgerliche Ordnung ist es. (Ard. 106)
Während der Lucinde-Episode in Genua tritt Ardinghellos ›radikaler Sensualismus‹ im Umgang mit Frauen besonders deutlich zu Tage: Lucinde geht zunächst nicht auf Ardinghellos Werben ein, aus Treuepflicht ihrem in Gefangenschaft lebendem Verlobten Florio gegenüber. Sehnsuchtsvolle Erwartung füllt Lucindes Wesen ganz aus und bezieht sich nicht nur auf ihren Verlobten, sondern auch auf die christliche Vorstellung der unsterblichen Seele. Damit steht sie in schroffem Gegensatz zu Ardinghellos die Immanenz betonendem monistischen Weltentwurf. Ihm gegenüber klagt sie: »warum leb ich noch, um auf immer unglücklich zu sein! Niemand weiß mein Leiden. O wär ich nur dort oben bei den Auserwählten unter den Heiligen und Engeln!« (Ard. 98). Lucinde tritt als empfindsam-melancholischer Charakter in Erscheinung, dessen Unglück aus einer ›widernatürlichen‹ Selbstmäßigung herrührt: »Es ist mancher von ihr angebrannt und lüstern bis zur Wut nach ihrem Ambrosia und Nektar: aber wen sie etwa möchte, der will oder darf sie nicht heuraten; und so ist der Engel melancholisch und unglücklich« (Ard. 103). Ardinghellos Zuneigung wird einzig von Lucindes körperlicher Attraktivität motiviert, die direkte Konfrontation mit ihren Moralismen und ihrer biederen Lebenswelt erzeugt bei ihm hingegen Befremden. Als er
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Ard. 63 (Hervorhebung, M.L.). Hofmann (1998–1999).
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sich in ihrem Zimmer versteckt, schaudert ihn und er wähnt sich in einem »Tempel der Keuschheit« (Ard. 110). Ein längeres Gespräch offenbart ihm schließlich den grundsätzlichen Antagonismus ihrer beider Lebensentwürfe: Doch erschreck ich zuweilen vor Lucinden; sie hat in manchen Punkten nicht die Biegsamkeit ihres Geschlechts, und in ihrer Gestalt entdeck ich Züge von fürchterlicher Heftigkeit; und eben diese sind es, was mich so gewaltsam ergreift und an sie fesselt. […] und doch ist der Engel zu schön für die Welt, die ihn mit ihren Sitten angesteckt hat, als daß ein Natursohn ihr ihn so ungenossen sein Leben lang überlassen sollte. (Ard. 125)
Dass er Lucinde trotz ihrer »barbarische[n] Moral« (Ard. 133) begehrt, ist symptomatisch für Ardinghellos ›radikalen Sensualismus‹, nach dessen Logik ein echter ›Natursohn‹ sein weibliches Gegenüber zu sexueller Emanzipation überreden muss, notfalls mit Gewalt. Seinen misslingenden Versuch, Lucinde zu verführen, deutet Ardinghello denn auch als ritterlichen Dienst: Als selbsternannter »Liebesritter« (Ard. 115) dringt er in Lucindes Schlafzimmer ein, transzendiert damit die ›widernatürlichen‹ Grenzen von Anstand und Intimität und hebt die Trennung von privater und öffentlicher Sphäre zugunsten einer sensualistischen »Entsublimierung«40 auf. Motivisch für die Privatheit Lucindes in all ihrer fromm-christlichen Bonhomie steht die kärgliche Ausstattung ihres Zimmers. Dabei lässt insbesondere die Tatsache aufmerken, dass auf ihrem Tisch »die Gedichte des Petrarca« (Ard. 110) liegen. Der wiederholte Rekurs auf Petrarca hat im Ardinghello fast leitmotivischen Charakter, dessen Bedeutung sich aus den wertenden Stellungnahmen für oder gegen Petrarcas Dichtung ergibt. Ardinghellos Urteil fällt schon im Ersten Teil: Petrarca »war ein armer Sünder und hing nur am Schein, nie an der Wirklichkeit; er hat mit seinem Geächz und Jammer schier unsre ganze Poesie zugrunde gerichtet« (Ard. 61). Ardinghello stilisiert Petrarca zum Exponenten einer empfindsamen Moral, wie sie die Lebenshaltung Lucindes bestimmt. Symbolcharakter kommt in diesem Zusammenhang dem Erzähl-Detail zu, dass für die Unterzeichnung des Paktes, in welchem Lucinde Ardinghello ihre »erste höchste Gunst« (Ard. 113) verspricht, wenn er ihren Verlobten Florio Branca aus türkischer Gefangenschaft befreit, just »Petrarca zur Unterlage« (Ebd.) dient. In einem markanten Bild konzentriert der Roman hier das ambivalente Verhältnis seines Protagonisten gegenüber den eingeschränkten Wirkungsmöglichkeiten der italienischen Spätrenaissance: Die Unbedingtheit seiner (erotischen) Ansprüche verhält sich jeder sozialen Integration gegenüber destruktiv, enthält aber zugleich eine quasi-paternalistische Verantwortungsattitüde, da Ardinghello versucht, seinen (weiblichen) Zeitgenossen die Idee entsublimierter, natürlicher Sexualität aufzuoktroyieren, um sie von ihren ›widernatürlichen‹, empfindsam-petrarkistischen Liebesvorstellungen zu befreien.
40
Vgl. Hofmann (1998–1999).
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In diesem Sinne hat Michael Hofmann die Lucinde-Episode als ästhetisch inszenierte »Auseinandersetzung zwischen Empfindsamkeit und Sensualismus«41 gelesen. Im Unterschied zum elegischen Charakter empfindsamer Sinnlichkeit steht nicht »der spannungserzeugende Aufschub der Erfüllung«42 im Mittelpunkt von Ardinghellos Liebesauffassung, sondern für ihn ist in »entsublimierender Emphase das Ziel der sinnlichen Erfüllung wichtiger als die Artistik des Wegs und die Kunst der Verführung, um die es im erotischen Spiel geht.«43 Hofmann arbeitet damit zwar die Radikalität von Ardinghellos Leidenschaft als zentrales Movens der Romanhandlung heraus, schenkt aber ihren konfliktären Konsequenzen und deren narrativer Verschleierung kaum Beachtung. Ardinghellos sensualistischer Lebensentwurf und der immer neue Versuch, mit Gewalt bei der von ihm begehrten Frau die Befreiung ihrer natürlichen Leidenschaften herbeizuführen, gleicht einem gefährlichen Vabanquespiel, das zum Erfolg verdammt ist und bei Lucinde misslingt. Dass Ardinghello jeder Bindung entgeht, bleibt Lucinde nicht verborgen: »Ardinghello, der Flüchtling, heuratet mich doch nicht.«44 Im Unterschied zu Cäcilia scheitert Ardinghellos ›Entsublimierungsvorhaben‹ bei Lucinde, weil sie erkennt, dass Ardinghello sich nicht in der Rolle des Ehemanns binden lässt. Äußeres Anzeichen dieses Scheiterns ist die Tatsache, dass Lucinde als einzige von Ardinghello begehrte Frau kein Kind von ihm austrägt. An die Stelle einer Schwangerschaft setzt der Roman »Lucindens Verwirrung« (Ard. 135): Im Stil zeitgenössischer Empfindsamkeitskritik versucht die Lucinde-Episode also zu demonstrieren, dass ›widernatürliche‹ Empfindsamkeit, zumal wenn sie mit christlicher Frömmigkeit eine Allianz eingeht, in gefährlicher Melancholie mündet und sogar zu Geisteskrankheit führen kann. Dennoch ringt Ardinghello mit sich um eine Mitschuld an Lucindes Schicksal und dieses Gefühl latenter Reue hallt im Roman noch lange nach. Noch aus Rom schreibt er: »Ich habe seit meiner letztern Begebenheit mit Lucinden gerungen und gekämpft, in keine solche Torheit wieder hineinzugeraten« (Ard. 203). Und in einem seiner letzten Briefe an Benedikt offenbart Ardinghello: »Lucinde, du allein brennst mich auf dem Herzen; aber ich will alle Verfolgungen des erzürnten Himmels dulden, wenn ich’s büßen kann« (Ard. 362). Während die Entsublimierung bei Cäcilia gelingt und sie schwanger wird, führt der Misserfolg bei Lucinde zur Zerstörung ihrer Psyche. Sie nimmt daher nicht an der utopischen Inselgesellschaft teil, denn ihr Schicksal markiert den wunden Punkt von Ardinghellos radikalem Sensualismus, der offen einkalkuliert, dass Unschuldige durch ihn zu Schaden kommen. Bezeichnenderweise versucht der Roman diesen Rückschluss 41
42 43 44
Hofmann (1998–1999), 240. – Zu einer ähnlichen Deutung kommt auch Heinrich Mohr: »Die Episode kann als Kontrafaktur zu entsprechenden Szenen in christlich erbaulich oder aufklärerisch moralisch bestimmten Romanen der Zeit aufgefaßt werden« (Mohr [1971], 149). Hofmann (1998–1999), 242. Ebd., 243. Ard. 109 (Hervorhebung, M.L.).
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beim Leser jedoch zu unterdrücken, da das Handlungsfinale, wie unten gezeigt wird, auch ein glückliches Ende für die geisteskranke Lucinde vorsieht. In Rom lernt Ardinghello schließlich Fiordimona kennen, die sich als sein weibliches Pendant erweist, denn sie bedarf keiner Entsublimierung mehr. Auch sie hat ausgeprägte Aversionen gegen Petrarcas Lyrik und deren empfindsame Wirklichkeitsferne: »Petrarca geht zuviel in der Luft« (Ard. 228), bekennt sie. Mit der Fiordimona-Figur affirmiert der Roman Ardinghellos radikalen Sensualismus, nachdem sich in der Lucinde-Episode dessen gefährlicher Charakter angedeutet hatte. Fiordimona überbietet Ardinghellos »extrem individualistische Ethik«45 sogar noch: »Jeder Mensch existiert für sich und in keinem andern« (Ard. 225), behauptet sie und versteht die Ehe als »unauflösliche[s] Joch« (Ard. 224), das die Frau versklave. Eifersucht gilt ihr als »unnatürliche Leidenschaft« (Ard. 224), sie gehöre zum »Krebsschaden der Vorurteile vieler Jahrtausende« (Ard. 225). Stattdessen sei Promiskuität naturgemäß und Fiordimona rät daher den Männern, sie »sollten sich eine Freude daraus machen, ein schönes Weib gemeinschaftlich zu lieben« (Ard. 224). Ardinghello reagiert jedoch mit Verunsicherung auf Fiordimonas Maximen, denn mit ihr fällt sein radikaler Sensualismus auf ihn selbst zurück: »Ich erschrak und erstaunte über diesen pindarischen Schwung; so weit hatt ich meine Philosophie noch nicht getrieben« (Ard. 225). Plötzlich empfindet er Leidenschaft als Einschränkung seines freien Willens und sieht durch die Ebenbürtigkeit von Fiordimonas Position seine Freiheit gefährdet: »Ich habe nie geglaubt, daß eine Dirne derart mich in Ketten und Banden legen würde, und tobe über mich selbst« (Ard. 222). Fiordimonas Ausführungen über Polyandrie bereiten Ardinghello erhebliche Schwierigkeiten, er kann sich seiner Eifersucht nicht erwehren und verfällt in ein empfindsam-petrarkistisches Vokabular. Fiordimona ist nun die »bezaubernde unüberwindliche Tyrannin […] des Herzens und des Geistes«, die »Grausame«, die er nicht für sich allein besitzen kann (Ard. 223). Unwillkürlich stellt sich mit der Fiordimona-Episode daher die Frage, wie die soziale Integration von Individuen gelingen soll, die sich vornehmlich um ihre Autonomie bekümmern: Ardinghello kann sich ja nicht auf Fiordimona einlassen, ohne eine Restriktion seiner Freiheit zu riskieren, da auch sie ein Entsublimierungsprogramm verfolgt und ihre sexuelle Liberalität bei Ardinghello Eifersucht evoziert. Bei Eifersucht aber schränkt körperliches Begehren den freien Willen ein, weil das persönliche Befinden von der Gunst oder Ungunst anderer abhängt, sie bringt also sinnliche Leidenschaft und freien Willen miteinander in Konflikt. Erneut verdeckt jedoch die Handlungskonstruktion dieses Problem, denn Ardinghello und Fiordimona finden zu einem proto-romantischen Liebeskonzept, leben als potentiell autonome Individuen in einer eheähnlichen Gemeinschaft und halten sich freiwillig die Treue, so dass das Eifersuchtsproblem
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Mohr (1971),115.
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zwischen beiden überhaupt nicht virulent wird. Ihre Beziehung lässt sich nur deshalb notdürftig mit dem Autonomieideal des Romans vermitteln, weil beide von ihrer Autonomie keinen Gebrauch machen. Ardinghello schreibt an Benedikt: »mit ihr hätt ich die Torheit begehen können, zu heuraten und alle meine brennenden Begierden und Hoffnungen in ihrer Liebe dämpfen zu wollen« (Ard. 228). Während die Radikalität von Ardinghellos Leidenschaft ihn immer wieder zur Flucht trieb, weil sie sich nicht in die konventionellen Gemeinschaftsformen von Liebe und Ehe fügen wollte, widerruft er nun seinen bisherigen Lebensentwurf. Als Ardinghello in Fiordimona gleichsam sich selbst begegnet, entsteht das Bedürfnis nach der Integrationswirkung der Liebe und sogar die Bereitschaft, diese in der verhassten Form des Ehebündnisses kulturell zu institutionalisieren und zu perpetuieren. Der Neapelaufenthalt stiftet schließlich beiderseitigen Vereinigungswillen: Endlich werden wir denn doch noch das Band der Ehe der bürgerlichen Ordnung wegen tragen; aber wahrlich nicht deswegen, daß es uns zusammenhalten soll. O sie ist der glückliche Hafen aller meiner stürmischen Wünsche! (Ard. 348)
Ardinghello deklariert eine Eheschließung mit Fiordimona zwar zur bloßen Mimikry, um den Konflikt mit den moralischen Strukturen der Erfahrungswirklichkeit zu entschärfen. Subkutan instrumentalisiert der Roman hier jedoch den empfindsamen Liebesbegriff und das Ehebündnis, um die Radikalität von Fiordimonas libertären sexuellen Ansichten zu kanalisieren und Ardinghello keinen Grund mehr zur Eifersucht zu geben. Heinses Roman reflektiert mit keiner Silbe, dass die konstruierte eheähnliche Beziehung zwischen beiden die Insuffizienz des ardinghelloesken Autonomieideals, die sich gerade in der Begegnung von Ardinghello und der ihm ebenbürtigen Fiordimona zeigt, ganz offensichtlich nur kaschiert. Stattdessen bietet vor allem der Fünfte Teil mehrere Exempel-Erzählungen, die Eifersucht als ›widernatürlichen‹ Affekt der zivilisatorisch depravierten Erfahrungswirklichkeit vorführen. Die Lehre, die aus den erzählten Exempeln zu ziehen ist, eröffnet den Fünften Teil, so dass der Leser von Anfang an weiß, worum es geht: »Neid und Eifersucht sind die Dornen im Rosengarten der Liebe« (Ard. 318). Auf den folgenden 50 Seiten, die der Kykladenutopie vorausgehen, wird signifikanterweise jedoch nicht Eifersucht als Problem zwischen Ardinghello und Fiordimona demonstriert, sondern die Eifersucht, die beide während ihrer gemeinsamen Reisen bei anderen erregen: Fiordimonas bloße Anwesenheit weckt, wo immer sie sich aufhält, Begehren und Neid. Als sie Ardinghello auf seinem Landgut besucht, geraten die Leute »schon im Vorübergehen bei ihrer Annäherung in eine solche Feuersbrunst« (Ard. 342), dass beide sich gezwungen sehen, inkognito zu fliehen. Ähnliches wiederholt sich in der Eifersuchtsszene um den Kardinal und den Vetter des Papstes, die beide gleichermaßen in Fiordimona verliebt sind und versuchen, Ardinghello zu ermorden (Ard. 361). Ein besonders komplexes Eifersuchtsszenario ergibt sich in Neapel, wo Fiordimona als Ardinghellos kränklicher Bruder verkleidet (Ard. 349) auftritt, um Eifersuchts-
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szenen zu vermeiden. Als beide sich bei der jungen Witwe Candida einquartieren, kommt es dennoch zum Eklat: Candida verliebt sich in Ardinghello und ihre Nachbarin, die Gräfin von Coimbra, in die als Mann verkleidete Fiordimona. Verschärft wird die Situation dadurch, dass Coimbra eigentlich die Geliebte vom Sohn des spanischen Vizekönigs ist, so dass Ardinghellos und Fiordimonas Anwesenheit ein explosives Gefühlschaos erzeugt: »Coimbra ist eifersüchtig auf mich und Candida auf Fiordimonen, und der Sohn vom Vizekönig ward es endlich auf uns beide und schöpfte Verdacht gegen alle« (Ard. 351). Die Szene eskaliert, als Coimbras Leidenschaft für die verkleidete Fiordimona immer heftiger wird, Ardinghello und die entkleidete Fiordimona durch Candida in flagranti erwischt werden und zudem ein Mordanschlag durch den gehörnten Sohn des Vizekönigs droht (Ard. 356). Eifersucht wird in allen diesen Fällen als Affekt vorgeführt, der mit Fiordimonas Autonomie- und Polyandrie-Vorstellungen kollidiert, weil er Unfreiheit und Zwänge erzeugt, dem aber offenbar die große Mehrzahl der erfahrungsweltlichen Individuen immer wieder erliegt, weil sie sich von ihren Leidenschaft beherrschen lassen, anstatt sie auszuleben. Bei den exemplarischen Eifersuchtsszenen im Fünften Teil und der radikal-sensualistischen Lehre, die sie vermitteln sollen, scheint Ardinghello indes völlig zu vergessen, dass ihm im Vierten Teil selbst der Verlust seiner Willensfreiheit drohte, weil ihn die Konfrontation mit Fiordimonas sexueller Liberalität eifersüchtig machte: Mit der freiwilligen eheähnlichen Lebensform zwischen Ardinghello und Fiordimona hatte der Roman den Widerspruch zwischen Autonomie und Eifersucht lediglich unterdrückt. Auch die Eifersuchtsszenen im Fünften Teil lenken den Leser von diesem Problem ab, indem sie Eifersucht als Defizit schwacher erfahrungsweltlicher Individuen vorführen, um elitäre ›Kernmenschen‹46 wie Fiordimona und Ardinghello von ihnen zu unterscheiden. Man kann an diesen Aspekten des Ardinghello paradigmatisch studieren, dass die spätaufklärerische ›Rehabilitation der Sinnlichkeit‹ häufig mit dem Bemühen einhergeht, die nihilistischen Konsequenzen dieses Prozesses zu kaschieren. Heinse verdeckt diese Konsequenzen, indem er in seinem Roman die Sinnlichkeit zur neuen Norm hochstilisiert und suggeriert, dass auch eine radikal rehabilitierte Sinnlichkeit sozialverträglich sei und sich als Basis und Quelle von Verhaltensregeln brauchen lasse, als Gradmesser ›richtigen‹ und ›falschen‹ Handelns. Dieses narrative Ablenkungsmanöver kulminiert im utopischen Romanschluss: Der Gesellschaftsentwurf auf den beiden Kykladeninseln suggeriert dem Leser nämlich, dass eine effiziente Suspendierung von Eifersucht im promisken Zusammenleben autonomer Individuen durchaus vorstellbar sei, allerdings nicht innerhalb der verhärteten Strukturen der italienischen Spätrenaissancegesellschaft, sondern nur im kleinen elitären Kreis von ›Natursöhnen‹ und ›Kernmenschen‹. Genauer besehen, steckt dahinter indes erneut eine ästhetische Strategie, 46
Zu diesem Quellenbegriff als Chiffre für Heinses Autonomie- und Individualitätsidee vgl. Herrmann (2010), 55f.
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die die Aporie des ardinghelloesken Autonomieideals verdeckt. Aus den wenigen Bemerkungen zum sozialen Leben der utopischen Gesellschaft geht zwar hervor, dass Promiskuität unter den Insulanern gang und gäbe sei, allerdings mit Einschränkungen: »Ferner waren die Weiber nach dem erhabnen Schüler des Sokrates, jedoch auch nur gewissermaßen, gemeinschaftlich, und so die Männer«47. Über Polyandrie und Polygynie besteht unter den Teilnehmern des Inselstaates zwar Konsens, Fiordimonas Maximen bilden also die Grundlage zwischengeschlechtlicher Beziehungen auf Paros und Naxos, jedoch gewissermaßen nur auf dem Papier. In der Praxis gestalten sich die Dinge recht wohl geordnet und der Roman bemüht sich am Schluss auffällig darum, seine Figuren in Zweierpaaren zu ordnen, so dass die promiske Aufhebung konventioneller Beziehungsstrukturen zwar eine mögliche Option wäre, tatsächlich aber nicht stattfindet. Stattdessen konstruiert das utopische Romanende ein harmonisierendes Schlusstableau, das alle konfliktgeladenen Figurenkonstellationen neutralisiert, dabei ausgiebig den Zufall bemüht und Ardinghellos radikalen Sensualismus mit empfindsamen Liebesvorstellungen entschärft: Nachdem Benedikts Braut zufällig (!) zu Tode kommt, ›übernimmt‹ er Cäcilia. Lucindes verheiratete Freundin Fulvia, die sich während seines Genua-Aufenthalts in Ardinghello verliebt hatte, gerät auf ihrer Flucht aus Genua in ein »mörderliche[s] Gefechte, wo sie die volle Ladung eines Mörsers traf und in Trümmern zerfleischte« (Ard. 369). Als Eifersuchtskandidatin, die zudem eine ähnliche sexuelle Liberalität vertritt wie Fiordimona (vgl. Ard. 105), widerspricht sie der Schlussharmonisierung und ihr konstruierter Tod ist daher erzähllogisch nur konsequent. Mit dem Unglück Lucindes wird am Schluss auch Ardinghellos Schuld beseitigt. Sie erholt sich von ihrem Wahnsinn und heiratet in Lissabon ihren Verlobten Florio Branca, nachdem ihr Vater, ein portugiesischer Prinz, den dortigen Thron bestiegen hatte (Ard. 369f.). Selbst kleinste Erzähldetails werden bei der finalen Entschärfung konfliktärer Figurenkonstellationen berücksichtigt: Während seines Florenz-Aufenthalts war Ardinghello seiner früheren Geliebten Emilia begegnet, mit der er im Alter von 15 Jahren eine Tochter gezeugt hatte (Ard. 152). Am Romanschluss nimmt auch Emilia an dem utopischen Staat auf Paros und Naxos teil, nun allerdings als die Geliebte von Ardinghellos Jugendfreund Mazzuolo (Ard. 370). Wo Ardinghellos Leidenschaft zu unehelichen Kindern geführt hat und den Müttern dadurch die Gefahr sozialen Abstiegs droht, konstruiert der Roman Zufälle, die die moralische Fragwürdigkeit von Ardinghellos Handeln verdecken, indem sie dessen negative Folgen beseitigen. Diese finale Konfliktharmonisierung kulminiert in der Stilisierung von Ardinghello und Fiordimona zum »vollkommenste[n] Paar« (Ard. 363), das einander auch im Kykladenstaat freiwillig treu bleibt, obwohl hier die Option zu mehreren Sexualpartnern besteht (Ard. 372). Die Frage, wie sich die promiske Entsublimierung
47
Ard. 371 (Hervorhebung, M.L.).
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individuellen Begehrens und die Liebe zu einem konkreten Individuum konfliktfrei gestalten lassen, wird mit dem narrativen Konstrukt freiwilliger Treue einfach unterdrückt und das Autonomieideal vom Einzelindividuum auf das empfindsame Konstrukt eines ›vollkommenen Paars‹ übertragen, das nun selbst den Charakter ›unteilbarer‹ Individualität erhält: Fiordimona und ich sind nun völlig ein Wesen, so zusammengeschmolzen von tausendfachem Entzücken; alles Hohe und Schöne, Kühne und heroisch Erduldende der menschlichen Natur ist in ihr vereinbart. (Ard. 348)
Die empfindsamen Liebesvorstellungen, mit denen der utopische Romanschluss Ardinghellos radikalen Sensualismus entschärft, kommen schließlich auch in der räumlich getrennten Unterbringung der Geschlechter zum Ausdruck: Auf Naxos wohnen, abgesondert von den Männern, die Frauen und Kinder des Kykladenstaats. Die Frauen werden durch diese Zweiteilung des geographischen Raumes in ihrer Mutterrolle vor dem gewaltsamen und unkontrollierten Zugriff der Männer von Paros geschützt. Zudem besitzt Naxos keinen Hafen, »nur die Barken der Verliebten können anländen« (Ard. 371). Zugänglich ist Naxos also nur im Falle einer empfindsamen Gefühlsneigung zu einer bestimmten Frau. Vagheit und harmonisierende Glättung sind demnach die zentralen ästhetischen Strategien, denen sich die darstellerische Integration von Ardinghellos Autonomieideal in das konfliktfreie soziale Zusammenleben mit Gleichgesinnten verdankt. Während sich sein Leidenschaftsindividualismus mit den rechtlich und moralisch kodifizierten Strukturen zivilisierten menschlichen Zusammenlebens als unvereinbar erweist, deshalb nur illegal und auf Kosten anderer ausgelebt werden kann und Ardinghello daher in den Ausnahmezustand einer Flüchtlingsexistenz treibt, bedeutet der utopische Zielpunkt dieser Flucht nicht die Genese eines neuen, undenkbaren Vermittlungskonzepts zwischen der Autonomie individuellen Begehrens und einem friedlichen sozialen Konsens, sondern moralische Konventionalisierung mithilfe empfindsamer Liebesvorstellungen. Promiskuität wird zwar ausgerufen, findet aber in praxi nicht statt, da die Figuren sich bereits zu Liebespaaren geordnet haben.
2.4 Kaschieren oder Problematisieren: Heinses Haltung zu Fiktionsironie Nicht leicht zu beantworten, dafür aber umso klärungsbedürftiger ist die Frage, ob es sich bei den ästhetisch kaschierten Aporien und dem Konstruktcharakter der utopischen Schlussharmonisierung um eine vom Roman mutwillig betriebene Strategie handelt, mittels derer die ›logische Sackgasse‹, in der Ardinghellos Autonomieideal steckt, im Medium Literatur problematisiert wird, oder um eine Verschleierungstaktik, die den Leser von problematischen Fragen ablenken soll. Die Heinse-Forschung hat zwar vielfach ihre Unzufriedenheit mit dem utopischen Romanschluss artikuliert, diese Frage bislang aber nicht stichhaltig ge-
2. Wilhelm Heinse: ›Ardinghello und die glückseeligen Inseln‹
213
klärt: Heinrich Mohr moniert, der Kykladenstaat sei lediglich eine ›grobstrichige Utopie‹48. Gert Theile betont die »poetische Brüchigkeit«49 des Kykladenstaats und das Behelfsmäßige dieser »ästhetisch und sozial geglätteten Lösung«50. Michael Hofmann schließlich gilt der utopische Entwurf allenfalls als sozialer und ästhetischer ›Märchenschluss‹51. Letztere Formulierung erinnert auffällig an die Forschungsdiskussion um die Tarent-Episode in Wielands Agathon (vgl. Kap. II.2.1.a). Ein Vergleich des Ardinghello-Schlusses mit dem Agathon-Schluss verspricht daher eine konstruktive Klärung des eingangs formulierten Deutungsproblems. Wie der Ardinghello endet auch der Agathon mit einem Utopie-Zitat, das den Widerspruch zwischen der desillusionierenden Romanhandlung und der Vorredeintention in einem konstruierten harmonischen Schluss auflöst. Im Unterschied zum Ardinghello macht Wielands Agathon den Leser aber durch massiven Einsatz von Fiktionsironie darauf aufmerksam, dass das finale Utopie-Zitat die entstandenen Widersprüche lediglich kaschiert und den Erwartungen von ›gutherzigen Lesern‹ Rechnung trägt (vgl. Kap. II.2.1.a). Fiktionsironie dieser Art sucht man im Ardinghello hingegen vergebens. Mehr noch, Heinse selbst hat sich in den umfänglichen Aufzeichnungen zu Wielands Agathon, die sich in seinem Frankfurter Nachlass finden und die von der Forschung bislang nicht ausgewertet wurden, explizit gegen Formen literarischer Selbstreflexivität und gegen Illusionsbrechung ausgesprochen.52 Offensichtlich während der Lektüre des elften Agathon-Buchs mit der fiktionsironischen Apologie des griechischen Autors notiert er: »Es ist ganz einfältig, den Leser immer selbst in der Täuschung zu stören, indem man ihm sagt, wie man Geschichten dichtet, und wie sie andre dichten; impertinente Eitelkeit!«53 Dass ein Roman die Widersprüche seines Protagonisten oder seiner Handlung selbst zum Problem machen könnte, war Heinse gänzlich fremd, wie seine intensive Beschäftigung mit dem Agathon zeigt. Nicht anders als die heutige Agathon-Forschung, sieht auch Heinse in Wielands Roman den Widerstreit zweier gegensätzlicher Darstellungsintentionen am Werk. Trotz seiner verblüffend scharfsinnigen Agathon-Lektüre ist er dennoch nicht in der Lage, diesen Widerstreit als vom Autor Wieland intendierte Darstellungsabsicht zu durchschauen: Das Ganze scheint das Werden eines vollkommnen Mannes seyn zu sollen, der, vom Schicksal getrieben, verschiedne Schulen durchläuft, um sich zur Vortrefflichkeit zu bilden. Dieß ist es aber nicht; sondern im Agathon wird vielmehr überhaupt ein Mensch aufgestellt, dem in seiner Kindheit und ersten Jugend fern von gymnastischen Uebungen und wirklichem Leben der Kopf mit platonischen Phantasieen und andern
48 49 50 51 52 53
Mohr (1971), 127. Theile (1998), 71. Ebd. Hofmann (1998–1999), 252. Vgl. Heinse (2003–2005), Bd. 2, 262–276 u. 281–284. Ebd., 271.
214
Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
Grillen, und Wörtern vollgepfropft wird, und der hernach seine beste Lebenszeit braucht, das leere Zeug entweder wieder wegzuarbeiten, oder das gute in Wirklichkeit u Erfahrung zu bringen, und darüber Kraft u Energie u Glückseeligkeit einbüßt. […] Der Roman, so wie er ist, bleibt folglich ein Zwitterding, woraus Niemand recht klug werden kann, was es für einen Zweck haben soll.54
Wenn Literatur mutwillig Aporien inszeniert, um diese fiktionsironisch zu problematisieren, dann ist dies für Heinse offenbar Ausdruck ästhetischer Minderwertigkeit. Man liest den Ardinghello demnach in seinem Sinne, wenn man dessen utopischen Schluss ernst nimmt, d. h. seine Vagheit und Konstruiertheit nicht als ironische Problematisierung der Insuffizienzen von Ardinghellos Autonomieideal auffasst, sondern als Versuch, diese zu kaschieren.55 Welche Funktion sich mit diesem utopischen Ablenkungs- und Täuschungsmanöver verbindet, soll das folgende Kapitel klären.
2.5 Republik Wahlverwandter: Utopisches Ablenkungsmanöver und politische Textfunktion Einen griffigen Anhaltspunkt zur Bestimmung der Funktion von Heinses utopischem Entwurf bietet die Regierungsform des Kykladenstaats, denn das Gemeinwesen auf Paros und Naxos ist republikanisch organisiert. Mit der utopischen Staatsgründung schien »das alte Athen unter dem Perikles […] wieder aufzuleben« (Ard. 368). Die legislative Gewalt auf den glückseligen Inseln liegt in den Händen einer »allgemeine[n] Versammlung, worin wir die nötigen neuen Einrichtungen oder Abänderungen für das ganze Jahr trafen« (Ard. 373f.) und in der sogar die Frauen Stimmrecht besitzen, zwar »nur zehn Prozent in Vergleich mit den Männern« (Ard. 372), aber immerhin. Explizit richtet sich die politische Organisation des Kykladenstaats gegen absolutistischen Despotismus: Der beste Staat ist, wo alle vollkommne Menschen und Bürger sind; und diesem folgt, wo die mehrsten es sind. Hier wird kein Nero gedeihen! Derjenige Mensch und Bürger ist vollkommen, welcher seine und seines Staats Rechte kennt und ausübt. (Ard. 374)
54 55
Ebd., 273. Dazu passt auch, dass Heinse selbst schon früh vom Leben in einer Kolonie geschwärmt hat. Als er im Spätsommer 1771 zwei ehemalige adlige Offi ziere auf ihrer Reise durch Süddeutschland begleitet, träumt er vor Reiseantritt von nichts Geringerem, als auf jene glückseligen Inseln zu gelangen, von denen er später dichtet. Bei der Insel-Utopie am Schluss des Ardinghello handelt es sich also um einen ernst gemeinten, d. h. normativen Lebensentwurf, dessen Realisierung zumindest der junge Heinse sogar einmal für sich selbst erhoffte: »Vielleicht kan ich mich auf meiner (oder vielmehr des Hauptmanns) Reise zu einer Colonie gesellen, die ein schönes Land in einem glükseeligen Klima aufsuchen will! es mit ihr finden, die Natur in ihm verschönern, es zu einem alten Tempe der Grazien machen, und hier – ohne dem Joche der Hobbesischen, vielweniger der Platonischen Gesetze unterworfen zu seyn […] – sterben« (SW 9, 24: Heinse an Gleim, 23.8.1771; vgl. auch SW 9, 80f.: Heinse an Gleim, 7.8.1772).
2. Wilhelm Heinse: ›Ardinghello und die glückseeligen Inseln‹
215
Wie passen diese antidespotischen Implikationen des republikanischen Kykladenstaats zu Ardinghellos Autonomieideal und seinem radikalen Sensualismus? Ist ein Nero auf dem Thron nicht auch ein ›Kernmensch‹ und ›Natursohn‹, der seinen Willen mit dem Recht des Stärkeren durchsetzt? – Nach Ardinghello und Heinse gerade nicht, denn im absolutistischen Fürsten zeigt sich keineswegs die wahre menschliche Natur. Ardinghello diskutiert dieses Problem ausführlich in einem Brief aus Florenz, in dem er seine Mitarbeit bei den Medici gegenüber Benedikt rechtfertigt, nachdem dieser ihn an seine ›republikanische Gesinnung‹ (Ard. 144) erinnert hatte. In der brieflichen Intimkommunikation macht Ardinghello keinen Hehl aus seiner antidespotischen Einstellung, entwickelt diese aber äußerst dialektisch. Auch absolutistische Fürsten benutzten das Argument vom Recht des Stärken und der natürlichen Herrschsucht des Menschen, um ihre Macht gegenüber den Untertanen zu rechtfertigen, etwa folgendermaßen: Jedes Wesen darf von Natur um sich greifen, soviel es Macht hat, es sei unter seinesgleichen oder andern Dingen. Du zürnst, daß du gehorchen mußt? Gehorche nicht, wenn du kannst! und du erhälst ein ander Recht. Daß ich, Sultan, zu Konstantinopel herrsche, da es mir Millionen und Millionen Sklaven erlauben, wie nimmst du das mir übel? Willst du über nichts herrschen? Ist nicht jeder Mensch ein Sultan, wenn er kann, nicht jeder ein Stier und Hirsch? (Ard. 148)
Ardinghello entgegnet aber auf dieses Argument: Daß der Löwe minder starke Tiere zerreißt und ihr Blut aussaugt, ist nun freilich einmal so in der Natur und erhält ihn und macht ihn glücklich. Daß du Sultan aber über Millionen herrschest, ist Stelzenwerk und macht dich im Grunde unglücklich; denn du lebst nur im Traum und Nebel, ohne eigentlichen Genuß. Der Zufall hat dich obenan geschleudert und nicht deine Kraft hingestellt. Du füllst deine Sphäre nicht aus und bist immer in einem ohnmächtigen Streben, Gefühl von Schwäche; hast den Anschein von Held und Sieger und das Innre von einem niedergetretnen Überwundenen!56
Weil er nicht aus eigener Kraft, sondern über das zufällige Privileg der Geburt an die Macht kommt, ist der Despot kein Exempel eines ardinghelloesken ›Kernmenschen‹, kein Löwe, der ein Rudel versorgt, »kein Kopf am Ganzen des Staats, sondern ein Ungeziefer, ein Bändelwurm im Leibe, eine Laus, Mücke, Wespe, das sich nach Lust an seinem Blute nährt« (Ard. 145). Ardinghellos dialektische Auseinandersetzung mit dem Despotismus hat Heinse wortwörtlich aus seinen persönlichen Aufzeichnungen in den Roman übertragen, die Ansichten seines Protagonisten sind also auch die seinen.57 In Heinses privaten Aphorismensammlungen finden sich ohnehin diverse antiabsolutistische Stellungnahmen:
56 57
Ard. 148f. (Hervorhebung, M.L.). Vgl. SW 8.2, 108f.
216
Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
Die Großen kommen mir gerade vor wie Statuen, die auf einer hohen Säule oder Maschiene stehen; sie können sich weder regen noch bewegen, ohne herunter zu fallen, und sich zu zertrümmern. Hinaufgeschraubte unglückseelige Geschöpfe, die nie recht zur Natur kommen, und immer durch die dritte Person mit ihr sprechen. Und welch ein Unsinn von Putz und Flitterwerk um sie herum; und Ziererey in allem. (SW 8.1, 495f.)
Heinse versteht privilegierte Geburtsadelige und absolutistische Fürsten, trotz ihrer politischen Macht, nicht als ardinghelloeske ›Natursöhne‹, weil sie keine unabhängige Existenz führen, sondern ihr Leben nur mithilfe einer Entourage von Höflingen organisieren können: Caesar der Athlet und kluge Heros; Augustus der feine schlaue Sultan, Halbgott, aber nicht mehr ganzer Mensch, wie bey uns alle Großen; ihre Kammerdiener, und Kutscher und Schreiber und Laquayen machen sie erst ganz; sie sind weniger im Grund als der schlechteste Bettler und Bauer, und folglich auch nicht so glücklich, weil ihnen immer der Haupttheil der Glückseligkeit, das volle ganze Gefühl eigner unabhängiger Existenz fehlt, welches Bettler und Bauer ganz hat. Gewalt und Druck über sich macht gewiß weniger elend, als Leere, innere Leerheit, die man aus Gewohnheit von zarter Jugend an hernach nie ausfüllen kann. (SW 8.1, 486f.).58
Trotz solcher eindeutigen Äußerungen hat die Forschung Heinses antiabsolutistische Polemik zumeist ignoriert: Die Monographie Jürgen Schramkes59, die sich als einzige detailliert mit dem politischen Heinse auseinandersetzt, fehlt in den Literaturverzeichnissen der neueren Heinse-Monographien.60 Gegen Walther Brechts einflussreiches Schlagwort von Heinses ›ästhetischem Immoralismus‹ 61 rückt Schramke den Absolutismuskritiker Heinse in den Blick, der zwar zeitlebens eine Art republikanische Gesinnung vertrat, sich jedoch opportun und loyal verhält, als er 1786 in den Dienst des Mainzer Kurfürsten und Erzbischofs tritt. Diese Anpassung ist indes leicht zu erklären, denn mit der Rolle als Höfling erhielt der aus bescheidenen Verhältnissen stammende Heinse im Alter von 40 Jahren erstmals eine feste Anstellung und fand damit nach einer 20 Jahre währenden prekären Erwerbsbiographie zu einer gesicherten Existenz. Heinse leidet aber fortan an demselben Rollenkonflikt wie unzählige frühneuzeitliche Intellektuelle und führt, nach Schramke, seit 1786 »ein Doppelleben: nach außen ein loyaler Diener des mächtigen Kirchenfürsten, vertraut er sein Inneres nur noch monologisch den Tagebüchern an.«62 Wie haltbar Schramkes Thesen im einzelnen sind, insbesondere was die konkrete Ausprägung der »republikanischen Gesinnung Heinses«63 und sein ambiva-
58 59 60 61 62 63
Auch diese antiabsolutistische Stellungnahme hat Heinse seinem Protagonisten fast wortwörtlich in den Mund gelegt (vgl. Ard. 156). Schramke (1986). Vgl. Goer (2006) und Herrmann (2010). Vgl. Brecht (1911). Schramke (1986), 12. Ebd., 32
2. Wilhelm Heinse: ›Ardinghello und die glückseeligen Inseln‹
217
lentes Verhältnis zur Französischen Revolution betrifft, braucht hier nicht eingehend diskutiert zu werden. Entscheidend in unserem Zusammenhang ist der Hinweis, dass die in Heinses Aufzeichnungen immer wiederkehrende antiabsolutistische Polemik und Ardinghellos Antidespotismus keineswegs in Widerspruch mit dem Ideal des kraftstrotzenden ›Kernmenschen‹ stehen: Absolutistische Fürsten führen eine naturwidrige Existenz, weil sie sich nicht aus eigener Kraft durchsetzen und ernähren, weil sie lediglich ›Abkömmlinge alter Eroberer‹ 64 sind, ihre Macht also dem Zufall der Geburt verdanken. Eine Gesellschaft ist naturwidrig, wenn sie sich auf solche erblichen Privilegien stützt, und ein echter ›Kernmensch‹ wird zwangsläufig in Konflikt mit ihr geraten. In einer Gesellschaft, die den Machtanspruch weniger und dessen Weitervererbung festschreibt, ohne dass die Mehrheit dem zugestimmt hat, ist es für Heinse daher völlig legitim, egoistisch sein Privatinteresse zu verfolgen, auch gegen geltende Gesetze und Moralvorstellungen: Warum soll ich mich von selbst Gesetzen unterwerfen, wozu ich meine Einwilligung nicht gegeben habe, wenn ich nicht mit Gewalt dazu gezwungen werde, oder diese verhüten kann? warum in irgendeinem Staat als Unterthan handeln, wo ich weder Haus und Hof noch Acker besitze, Lohn der Sklaverey in unsern erzwungnen politischen Formen? hab ich eine andre Gerechtigkeit unter Despotismus, (er sey verlarvt oder mit unverschämter Stirn da, wo ich bloß leidender Theil und nicht Mitglied bin, Knecht und Gefangner aus Gewalt, so lange sie an mir haftet,) als mein eigen Interesse? (SW 8.2, 108)
Mit Ardinghellos Verhalten im Italien der Spätrenaissance, in dem sich absolutistische Strukturen zunehmend verfestigen (vgl. Kap. III.2.2), verleiht Heinse dieser Polemik literarische Gestalt. In einer Gesellschaftsverfassung, die nach Heinses Vorstellungen eingerichtet wäre, würde hingegen der Genuss- und Entsublimierungsanspruch des Einzelindividuums nicht mehr mit dem Gemeinwohl in Konflikt geraten, und dies sei eben in der Republik eher möglich, als in der Monarchie oder Aristokratie: Es ist schwer, daß ein Volk nach den Rechten aller sich selbst vollkommen regiere; aber es ist schweerer, und fast unmöglich, daß Einer allein nach den Rechten aller es vollkommen regiere. (SW 8.1, 50) Daß ein Volk sich besser regieren kann, als ein Monarch es regieret, davon sind alle Republiken Zeuge. (SW 8.1, 52)
Wichtiges Vorbild für Heinses politische Einstellung war Machiavelli, er wundert sich jedoch, »daß ein solcher Republikaner wie Macchiavell, der immer den Brutus und Cassius im Munde hatte, und wegen unternommener Befreyung des Vaterlandes Tortur ausstand, einen Unterricht für Tyrannen schrieb« (SW 8.2, 84). Machiavelli würde stattdessen
64
Heinse (2003–2005), Bd. 2, 763.
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Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
ein löblicher Werk verrichtet haben, wenn er ein System angegeben hätte, wie ein unterjochtes Volk sich frey machen könne. Ich möchte so ausgeführt wie seinen Fürsten eine Republik weit lieber. Es ist wohl keine Frage mehr, welche Regierungsverfassung besser ist; man reise nur durch die Schweiz oder Holland: und man wird sich mit den ersten Blicken überzeugen, wie die schlechtesten Länder unter solchen Händen fruchtbar werden und aufblühen; statt daß die herrlichsten unter Fürsten verderben. (SW 8.2, 83)
Obwohl er sich in Florenz in den Dienst der Medici begibt, steht auch für Ardinghello fest: Ein Staat von Menschen, die des Namens würdig sind, vollkommen für alle und jeden, muß im Grund immer eine Demokratie sein; […] das Wohl des Ganzen muß allem andern vorgehn, jeder Teil gesund leben, Vergnügen empfinden, Nutzen von der Gesellschaft und Freude haben; (Ard. 146)
Ardinghello ist jedoch kein republikanischer Schwärmer, sondern sich durchaus darüber im Klaren, dass eine einfache Abschaffung des Despotismus durch Tyrannenmord »allein noch keinen Staat um[ändert], wenn er nicht reif zu einer bessern Verfassung ist« (Ard. 150). Dass eine Republik stabil funktionieren könne, »dazu gehört ein durchgearbeitetes Volk, das sich selbst, seine Kräfte und sein Intresse kennt und sich in einen Punkt vereinigen kann« (Ard. 146). Ein solches republikfähiges Volk findet Ardinghello in Italien, vor allem im Großherzogtum Toskana jedoch nicht vor, da die Sozialdisziplinierung unter dem Medici-Absolutismus die Selbstständigkeit der Florentiner bereits ausgehöhlt und ihre einstige Vitalität auf eine apolitische »bloße Schuster- und Schneider- und Tuchknappengeschäftigkeit« (Ard. 334) herabgewürdigt hat: 65 »Das Völkchen war überaus lustig und witzelte und sang und scherzte; aber überall fehlte der edle Kern der Selbständigkeit« (Ard. 138). Den Grund für seine Bereitschaft, sich im Dritten Teil dennoch dem absolutistischen Medici-Staat dienstbar zu machen, offenbart Ardinghello in besagtem Brief an Benedikt: Er hofft, zumindest die florentinische Jugend umerziehen zu können und folgt mit diesem Entschluss dem Vorsatz, »daß man […] nicht allein auf glücklichre Zeiten hoffe, sondern dieselben herbeileite« (Ard. 151). Ardinghello erarbeitet also eine Art erlebnispädagogische Schulreform, um die Vitalität und Mündigkeit der Jugend zu restituieren. Dabei erhält die Erfahrung den Vorrang gegenüber der Buchgelehrsamkeit. Das Gelernte »sollen die Zöglinge während der Ferien bei den Wallfahrten […] an Ort und Stelle in eignen Augenschein nehmen« (Ard. 155). Vor allem aber initiiert er die Ausbildung im Fechten und an der Schusswaffe, um den natürlichen Kampfeswillen der Jugendlichen zu wecken, so »daß der Kern der Mannschaft sich geschwind vereinigen kann, wenn es die Not erfordert« (Ard. 156). Dahinter steht ein in Heinses Aufzeichnung immer wiederkehrender Gedanke, nämlich sein
65
Vgl. dazu auch Vedder (2011), 250.
2. Wilhelm Heinse: ›Ardinghello und die glückseeligen Inseln‹
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Plädoyer für die Organisation von Volksheeren und demokratischen Milizen.66 Während sich die Naturwidrigkeit des Absolutismus darin ausdrückt, dass er stehender Söldnerheere bedarf, in denen Soldaten für die Ziele anderer kämpfen, basieren Republiken auf ›allgemeiner Volksbewaffnung‹67 und jeder Bürger ist hier potentiell zugleich Soldat. Gerade deshalb sind Republiken mit Heinses Idee des ›Kernmenschen‹ kompatibel, der Absolutismus aber nicht, denn der Gedanke allgemeiner Volksbewaffnung besitzt eine besondere Affinität zum Ideal eines kriegerischen Naturstandes (vgl. Kap. III.2.1). Idealtypischen Charakter haben für Heinse die wehrhaften Republiken der Antike: Die Römische Republik ist der herrlichste Staat gewesen, der je in der Welt existirt hat. Jeder Bürgermeister war eine neue Frühlingssonne. Sie ist gewachsen von Krieg und Raub, wie ein junger Löwe. So bald der einen Hüter bekam, so wars natürlicher Weise mit ihm aus. (SW 8.1, 52)
Wie erwähnt (vgl. Kap III.2.2), misslingt es Ardinghello, das despotisch domestizierte Großherzogtum Toskana zu einem solchen ›jungen Löwen‹ umzugestalten. Erst der utopische Entwurf am Romanschluss realisiert eine wehrhafte Republik und allgemeine Volksbewaffnung. Nach dem Vorbild der auf ›Krieg und Raub‹ gegründeten römischen Republik setzt auch der utopische Kykladenstaat auf geographische Expansion: »Binnen wenig Jahren hatten wir schon alle Cykladen im Besitz und starken Einfluß auf dem festen Lande« (Ard. 373): Wenn alle kriegerische Energie dieser republikanischen Ansammlung gleichberechtigter ›Kernmenschen‹ sich auf Eroberung und Seeräuberei richtet, dann braucht man nicht weiter zu erklären, wie das alltägliche Zusammenleben unter dem Gebot entfesselter Sinnlichkeit funktionieren soll, denn Entsublimierung auf Kosten anderer findet im Kykladenstaat nur außenpolitisch statt: »Kriegerische Schiffahrt und Handlung zwischen Kleinasien, dem Schwarzen Meer und den westlichen Ländern, und höchste Freiheit, süßes Ergötzen und frohe Geschäftigkeit im Innern, darauf zweckte alles« (Ard. 373). Offenkundig fungiert auch das außenpolitische Aggressorverhalten der Kykladenrepublik als narrative Plausibilisierungsund Ablenkungsstrategie. Ähnlich wie schon bei der Stilisierung von Ardinghello und Fiordimona zum ›vollkommnen Paar‹ wird hier das Autonomieideal des Romans nicht von Einzelindividuen eingelöst, sondern von einem Figurenkollektiv: »Ein vollkommner Staat muß ein Tier sein, das sich selbst nach seiner Natur, seinen Bedürfnissen und Erfahrungen regiert, wie ein Ulysses für sich nach den 66
67
»Man sollte jedem unterjochten Volk so geschwind als möglich einen Tarquin wünschen; denn unter einem tapfern und verständigen Fürsten hat sich noch keins frey gemacht. Diesen Zeitpunkt muß keins außer Acht lassen. Dann die Landmiliz auf guten Fuß setzen; und endlich als die Hauptsache eine Art sich zu vereinigen herbeyschaffen, in den Städten und auf dem Lande. In großen Reichen besonders in der Residenz; allein unser stehendes Gesindel von Truppen ist ein zu starker Schutz für die Tyrannen. Zu den Zeiten Macchiavells wars leichter; aber er durfte wohl einen Fürsten schreiben, und keinen Republikaner« (SW 8.2, 83). Vgl. dazu Schramke (1986), 32f.
220
Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
Umständen und gegen andre« (Ard. 146). Die ardinghelloeske Grundprämisse, »Wir sollen einander bekriegen, weil kein höher Geschöpf es kann« (Ard. 375), erfüllt am Romanschluss nur die Kykladenrepublik als milizmäßig organisierter Kampfverband in der außenpolitischen Begegnung mit anderen Territorialmächten. Innenpolitisch wird dagegen ein friedlicher Konsens konsolidiert. »Das besondre Geheimnis [der] Staatsverfassung« (Ard. 375), über das nur eine kleine Elite unterrichtet ist, bildet der Kampf gegen die osmanische Prädominanz im östlichen Mittelmeerraum. Dies lässt aufhorchen: Immerhin war es in der Publizistik des späten 18. Jahrhunderts gang und gäbe, das osmanische Reich als Chiffre für den europäischen Absolutismus zu gebrauchen und nicht vom absolutistischen Fürst und seinen Untertanen zu sprechen, wenn man etwas Kritisches zu sagen hatte, sondern von Sultanen und Sklaven.68 Dass am Schluss von Heinses Ardinghello eine republikanische Zusammenrottung von Ausnahmeindividuen beschließt, gegen den türkischen Sultan zu kämpfen, ist daher als chiffrierte, jedoch leicht zu entschlüsselnde Absolutismuskritik zu werten, die der Roman im Namen der normativen Idee einer wehrhaften Republik von autonomen Kernmenschen übt. Die utopischen Kolonisten setzen sich freilich gegen die türkische Übermacht nicht durch. Zum Scheitern des utopischen Experiments »nach seligem Zeitraum« (Ard. 376) führen nicht innenpolitische Faktoren, sondern just der kriegstreiberische Autonomieanspruch, mit dem der Staat außenpolitisch auftritt. Auf das Scheitern der Seeräuberrepublik reagiert der Roman jedoch nicht mit bedauerndem Lamento, sondern quittiert das Fehlschlagen der außenpolitischen Ziele nur mit einem lakonischen Schlusssatz. Dass ein autonomes Staatsindividuum auch unterliegen kann, gehört eben zum Wesen eines kriegerischen Naturstandes zwischen den Nationen: Der Krieg richtet greuliche Verwüstungen an, es ist wahr; bringt aber auch die wohltätigsten Früchte hervor. Er gleicht dem Element des Feuers. Es ist nichts, was den Menschen so zur Vollkommenheit treibt, deren er fähig ist. (Ard. 375)
Wie das Feuer ist der Krieg weder gut noch schlecht.69 Die Lakonie des Romanschlusses anerkennt dies und nimmt das außenpolitische Scheitern der Kykladenrepublik in Kauf, da dies der Metaphysik eines ewigen Werdens und Vergehens entspricht.70 68 69
70
Vgl. z. B. Friedrich von Hardenbergs Thesen zu Sultanen und Sklaven in den Glauben und Liebe-Fragmenten Nr. 50–57 sowie Kap. IV.3.3.d. Der Vergleich zwischen Krieg und Feuer erklärt sich aus der kurzen Fabel, die der fi ktive Herausgeber des Ardinghello in der Vorrede erzählt: »Ein wächserner Hausgötze, den man außer acht gelassen hatte, stand neben einem Feuer, worin edle campanische Gefäße gehärtet wurden, und fing an zu schmelzen. Er beklagte sich bitterlich bei dem Elemente. ›Sieh‹, sprach er, ›wie grausam du gegen mich verfährst! Jenen gibst du Dauer, und mich zerstörst du!‹ Das Feuer aber antwortete: ›Beklage dich vielmehr über deine Natur; denn ich, was mich betrifft, bin überall Feuer.‹« (Ard. 7). Vgl. dazu auch Vedder (2011), 251–253.
2. Wilhelm Heinse: ›Ardinghello und die glückseeligen Inseln‹
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Prima vista scheint die Romankonzeption also in sich stimmig: Literarisch propagiert wird die Idee autonomer Individualität, die sich in einem kriegerischen Naturstand bewährt, der alle moralischen Kategorien obsolet macht und den nur das Prinzip von Werden und Vergehen durchwirkt. Der utopische Romanschluss veranschaulicht dies, indem er Gründung und Untergang einer autonomen, auf Eroberung ausgelegten Seeräuberrepublik darstellt. Handelt es sich bei dem utopischen Schluss demnach nur um narrative Effekthascherei, um ein faszinierendes Ende mit Skandalpotential, aber ohne moralische oder politische Absichten? Die Heinse-Forschung hat es zumeist so gesehen: Exemplarisch gilt etwa Max L. Baeumer die Kykladenutopie als »phantastisches, ziemlich unrealistisches, ästhetisch lustbetontes Wunschbild einer zukünftigen Gesellschaft […] [ohne] eigentlichen Wirklichkeitscharakter und […] politisch lehrhafte Absicht«71. Das geheime Staatsziel der Kykladenrepublik und die Anspielung auf das osmanische Reich als gängige zeitgenössische Chiffre für den europäischen Absolutismus berechtigt zu Zweifeln an dieser These. Auch die Plausibilisierungsstrategien, die Heinses Roman bemüht, um die friedliche republikanische Koexistenz mehrerer ardinghelloesker Individuen zu suggerieren, sowie Ardinghellos antiabsolutistische Stellungnahmen nähren diese Zweifel und lassen auf eine implizite politische Textfunktion schließen: Immerhin liegt der finale Darstellungsakzent nicht auf der autonomen Individualität einer Einzelfigur, sondern gezeigt wird eine vitale und wehrhafte Republik, an der – so will es der Roman suggerieren – vollkommen autonome Einzelindividuen beteiligt sind. Die utopische Republik unterliegt zwar außenpolitisch, da dem Roman jedoch jedwede Fiktionsironie fehlt, bleibt ihre Funktion als Norm für die Organisation von Staatlichkeit eine unwidersprochene Tatsache. Just dieses Fehlen von ironischer Selbstbezüglichkeit, in Allianz mit der narrativen Unterdrückung anthropologischer Vorbehalte, macht den utopischen Entwurf am Schluss von Heinses Ardinghello zum literarischen Politikum mit hypokritischem Charakter. Nicht das autonome Individuum, sondern die republikanische Verfassung des utopischen Kykladenstaats ist das letzte Wort des Romans und daher auch als jene zentrale wirklichkeitskritische Norm zu verstehen, die er vermitteln will. In Kombination mit Ardinghellos antidespotischen Stellungnahmen und den negativen Erfahrungen, die er mit dem Absolutismus der italienischen Spätrenaissance macht, muss man den utopischen Schluss als Absolutismuskritik lesen, die der Roman im Namen der utopische Norm einer kraftstrotzenden, vitalen und milizmäßig organisierten Republik übt: Während sich nur in einer solchen wehrhaften Republik die wahre ›Raubtier-Natur‹ des Menschen entfalten kann, führt absolutistische Staatlichkeit – so suggeriert es die Romanhandlung – zur Verstümmelung und Degeneration von echtem ›Kernmenschentum‹, widerspricht also der wahren menschlichen Na-
71
Baeumer (1966), 37.
222
Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
tur. Über das antiabsolutistische Kritikpotential des Ardinghello scheint sich Heinse durchaus im Klaren gewesen zu sein: In seiner Rolle als Mainzer Hofrat distanziert er sich 1794 mit der Vorrede zur zweiten Auflage von einigen allzu radikalen ›Antiabsolutismen‹ seines Romans, wohl wissend um deren politische Sprengkraft in Anbetracht des in Frankreich grassierenden Revolutionsterrors und in Anbetracht der erst wenige Monate zuvor niedergeschlagenen Mainzer Republik.72 Bei Heinses Ardinghello handelt es sich demzufolge um einen Fall von Hypokrisie im Sinne Reinhart Kosellecks, allerdings um einen vergleichsweise ungewöhnlichen. Der utopische Schluss übt literarische Absolutismuskritik, allerdings nicht im Namen von Tugendhaftigkeit oder moralischer Neutralität, sondern im Namen der Idee des ›Kernmenschen‹ als mentaler Grundlage einer Republik autonomer Individuen. Hypokritisch ist dies, weil anthropologische Vorbehalte dabei mutwillig unterdrückt werden, um die innenpolitische Verträglichkeit von Ardinghellos Autonomieideal mit dem sozialen Frieden der Kykladenrepublik zu suggerieren, um also den Normcharakter des utopischen Romanschlusses und sein absolutismuskritisches Potential, seine politische Textfunktion narrativ abzusichern.
3.
Literarische Utopie radikaler Empfindsamkeit – Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: Die Insel
3.1
Stolbergs Inspirationsästhetik und die Idee adeliger Freiheit
1776 beginnt Stolberg seine berufliche Laufbahn und wird Gesandter des Lübecker Fürstbischofs in Kopenhagen. Zu dieser Zeit liegen Studienjahre in Halle und Göttingen hinter ihm, die Mitgliedschaft im Hainbund, eine ausgedehnte Reise durch die Schweiz und eine vergleichsweise intensive Phase der Produktion pathetischer, heute weitestgehend vergessener Lyrik. Mit Dienstantritt reduziert sich Stolbergs schriftstellerische Betätigung indes merklich: Umfangreichstes dichterisches Produkt, an dem er während der Kopenhagener Gesandtschaft (1776–1781) arbeitet, ist das Versepos Die Zukunft. Mit dem Eintritt ins Berufsleben entsteht jener existenzielle Rollenkonflikt, dessen Schlichtung Stolberg bis zu seiner Konversion im Jahr 1800 nicht dauerhaft gelingt, nämlich der »zwischen Dienst und Dichten«73. Der Beginn der Berufstätigkeit wird für
72
73
»Bey der neuen Auflage dieses Werks ist zu erinnern, daß es 1785 fertig war. Einige Jahre nach Erscheinung desselben haben sich Begebenheiten zugetragen, die der Herausgeber, so plötzlich, nicht ahnden konnte. Man betrachte also manches nicht gegen ihn aus dem verrückten Gesichtspunkte. Auch hat er Gedanken, darin zerstreut, in spätern berühmten Schriften angetroffen; einen und den andern, seiner Meinung nach, zu weit getrieben« (Ard. 449). Vgl. dazu Schramke (1986), 5. Hempel (1997), 100.
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ihn daher vor allem zu einer Phase poetologischer Selbstvergewisserung. Zwischen 1777 und 1782 erscheinen im Deutschen Museum seines ehemaligen Bundesgenossen Heinrich Christian Boie vier rhapsodische Essays, in denen Stolberg seine Poetik umreißt: Ueber die Fülle des Herzens (1777), Vom Dichten und Darstellen (1780), Ueber die Ruhe nach dem Genuß und über den Zustand des Dichters in dieser Ruhe (1780), Ueber die Begeistrung (1782). Die vier Essays sind eng verflochten mit den Epochenproblemen der Spätaufklärung: Stolbergs poetologische Aufsätze entstehen inmitten jenes erbittert geführten Rangstreites um die Deutungshoheit über das Aufklärungsprojekt, den im Januar 1776 Wielands berühmte Schwärmerfrage im Teutschen Merkur auslöst (vgl. Kap. II.1) und den man mit Hans-Jürgen Schings als »konzentrierte Neuauflage des Wertherstreits«74 verstehen kann. Von Kopenhagen aus versucht Stolberg der empfindsamen Position in Form einer Poetik des göttlich begeisterten Dichters Gehör zu verschaffen und diese zugleich gegen die Standardvorwürfe der schwärmerkritischen Aufklärungsparteien zu immunisieren, vor allem gegen den Vorwurf eines notwendigen Zusammenhangs zwischen Enthusiasmus und Melancholie. Dabei erreicht er freilich keineswegs jenen Grad an Problembewusstsein, den wir von Wieland kennen, selbstreflexive Aufklärung betreibt Stolberg nicht. Die Ideen des moralischen Gefühls und der moralischen Perfektibilität gelten ihm als mögliche Erfahrungstatsache, was er am Typus des begeisterten Poeten zu belegen versucht, der aus seiner ›Fülle des Herzens‹ Gedichte schafft. Anthropologisch motivierte Zweifel an der empirischen Qualität dieser Ideen sucht man bei Stolberg jedoch vergebens. Von Interesse für die Fragestellung dieser Arbeit sind die poetologischen Essays daher vor allem deshalb, weil sie die epische Vermittlungsformen seiner literarischen Utopie Die Insel erklären helfen. Der zuerst erschienene ist auch der bekannteste von Stolbergs Essays. Den titelgebenden biblischen (Mt 12,34) und pietistischen Terminus der ›Fülle des Herzens‹75 stilisiert er darin zur Conditio sine qua non echter Kreativität. ›Fülle des Herzens‹ hat derjenige, bei dem sich moralische Qualitäten mit einem bestimmten Temperament mischen. Stolberg umreißt ein zahlensymbolisches Set von sieben Eigenschaften des vollen Herzens: »Liebe, Mut, Mitleiden, Andacht, Bewundrung des Guten, Abscheu des Bösen, Wonne beim Anblick der ans Herz redenden Natur«76. Stichwortgebend für das Ideal des vollen Herzens ist die französische ›courage‹, die Beherztheit, die – etymologisch von ›cœur‹ abstammend – den männlichen Mut und das mitfühlende Herz in einem Wortkörper umschließt.77 Stolbergs Plädoyer für die Verbindung von Männlichkeit und Empfindsamkeit richtet sich primär gegen das Konzept melancholischer Empfindsamkeit, wie Goethes Tasso und Werther sie repräsentieren: Eine »bloß leidende
74 75 76 77
Schings (1977), 271. Vgl. Baeumer (1971). Stolberg (1970), 5. Ebd.
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Reizbarkeit« und »weiche Empfindsamkeit« bringe den »göttlichen Funken« in jedem Mann zum Erlöschen.78 Stolbergs pietistische Rhetorik von der ›Fülle des Herzens‹ zielt stattdessen auf »active sensibility«79, die empfindsam-innerliches Naturerleben in dichterisches Handeln umsetzt. Im Unterschied dazu zeichnen sich bei Werther Momente des vollen Herzens gerade durch fehlende Schaffenskraft aus. Er scheitert an der Ästhetisierung seines empfindsamen Naturerlebens.80 Am 10. Mai nimmt eine »wunderbare Heiterkeit« seine ganze Seele ein und, »so ganz in dem Gefühl von ruhigem Daseyn versunken«, gebricht es ihm an dessen kreativer Veräußerung: »Ich könnte jetzo nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin niemalen ein grösserer Mahler gewesen als in diesen Augenblicken« (FA I.8, 14).81 Eine Lösung für Werthers fehlende Gestaltungskraft liefert Stolbergs Poetik jedoch nicht, denn die Fähigkeit zur künstlerischen Objektivierung der ›Fülle des Herzens‹ gilt ihm als dem Menschen unverfügbare »Gabe Gottes«82. Stolbergs Poetik als Nachbeben der Sturm und Drang-Vorstellung vom begeisterten Genie zu lesen, liegt auf der Hand. Seine vier poetologischen Essays reaktivieren die ästhetischen Schlagwörter der Generationenkohorte um Herder, Goethe und Hamann: Insbesondere der letzte Essay Ueber die Begeistrung zeigt seinen Autor als spätberufenen Theoretiker der Inspirationsästhetik, da er noch einmal den von den Poetiken des Sturm und Drang lancierten Nexus zwischen dem kreativen Genie und dem antiken Begriff des ›Enthusiasmos‹ bemüht, mit dem Gottbesessenheit bzw. eine Form kultischer Ekstase gemeint ist.83 Stolbergs Poetik radikalisiert das antike Motiv der Musenanrufung und die Poeta-vatesTradition: »Den Dichter macht die Begeistrung, die vom Himmel kommt!« (In. 137), ruft Sophron in Stolbergs Insel aus. Als »seltenes Geschenk der Natur«84 ist Begeisterung ein exklusives Gut, das nur wenigen Geweihten zuteilwird und dem menschlichen Willen nicht untersteht: »Die Begeistrung ist unabhängig von dem, welcher sie – oder vielmehr welchen sie besitzt. Er kann sie nicht rufen, wann er will; sie schleußt ihr Ohr vor der Stimme des Beschwörers«85. Radikal ist Stolbergs Poetik vor allem deshalb, weil sie sich die antike Vorstellung transzendenter Inspiration besonders konsequent zu eigen macht, so dass für den göttlich begeisterten Dichter kein Jota Autonomie mehr übrig bleibt, sondern Poesie sich allein auf die unmittelbare, noch im Moment der Inspiration vollzogene Versprachlichung der vom Himmel kommenden Begeisterung beschränkt. In Ueber
78 79 80 81 82 83 84 85
Ebd., 4. Joshua (2005), 42. Zu Stolbergs Ueber die Fülle des Herzens als Kritik an einer Empfindsamkeit à la Werther vgl. Baeumer (1971), 141 und Joshua (2005), 47ff. Vgl. dazu Petersdorff (2006), 69–71. Stolberg (1970), 15. Vgl. ebd., 34. Ebd., 33. Ebd., 35.
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die Ruhe nach dem Genuß […] behauptet Stolberg: »Der Dichter hat, als Dichter, keine eigentliche Arbeit«86. Stolbergs »Glaube an die selbstschaffende Macht der Begeisterung«87 geht über Klopstocks Konzept des begeisterten Dichters deutlich hinaus: Klopstock, das zeigen etwa die vielen Varianten des Messias, hat an seinen Texten gefeilt, hat sich auch als Formkünstler verstanden, der nicht nur im trunkenen Zustand der Inspiration das Himmlische reproduziert, sondern zugleich die nüchterne Arbeit kleinteiliger Textredaktion auf sich nahm. Stolberg hingegen galt das einmal ›emanierte‹ Werk als unantastbar.88 Die Begeisterung als Quelle echten poetischen Ausdrucks war ihm schon hinreichender Garant für die Qualität von Dichtung: »Dem Dichter leistet das Wagen, wenn er con amore wagt, allzeit Bürgschaft für die Ausführung«89. Diese radikal einseitige poetologische Parteinahme für die Absolutheit des Gefühls und die Verweigerung gegenüber dem Autorkonzept des subjektstolzen Genies, das dem Gefühlsmaterial erst durch den dichterischen Arbeitsprozess Form verleiht, entspricht auch Stolbergs eigener Arbeitsweise und bescherte ihm bei Klopstock und Voß den Ruf eines nachlässigen Übersetzers und Dichters.90 Als Klopstock ihm die Mängel seiner Ilias-Übersetzung vorhält, gesteht Stolberg zu: »Im Ernste fühl ich daß viel Nachlässigkeiten in meiner Uebersetzung sind, aber ich habe warlich nicht die Gabe zu feilen«91. Auch als Voß ihn zum genaueren Arbeiten anhält, sperrt sich Stolberg gegenüber der Vorstellung vom Formkünstler, der ein Werk erst durch nüchterne Überarbeitung vollendet: »Ich kann die Idee der Dichtkunst (welche einen Dichtkünstler implicirt) schlechterdings nicht ertragen. Grosse Dichter haben anders gedacht, Virgil u: Horaz, Klopstock u: Sie dencken noch anders«92. Die poetologischen Essays, die während der Zeit der Kopenhagener Gesandtschaft und im Anschluss an erste eigene Übersetzungsversuche entstehen, sind daher zu wesentlichen Teilen eine »Rechtfertigung der eigenen poetischen Praxis etwa gegenüber den penibel-berechtigten Vorhaltungen eines Johann Heinrich Voß«93. Daneben ziehen die vier Aufsätze auch poetologische Konsequenzen aus Stolbergs pietistischer Erziehung, aufgrund derer er bis ins hohe Alter alle Aspekte
86 87 88 89 90
91 92 93
Ebd., 29 Behrens (1980), 152. Vgl. Behrens (1964), 65f. StBr 176: F.L. Stolberg an Christian Stolberg, 26.3.1785. In Der Dichter und der Kritiker (1788) hat sich Stolberg lyrisch mit diesem Vorwurf auseinander gesetzt: »Ein Dichter, den in kühnem Flug / Der Pegasus gen Himmel trug, / Erhub sich mit des Adlers Eile. / Da schrie mit ungestümen Ruf, / In seiner Rechten eine Feile, / Ein Kritikaster: Weile! weile! / Daß ich am linken Hinterhuf / Dir noch den letzten Nagel feile!« (GW II, 54). StBr 100: Stolberg an Klopstock, 20.1.1778. StBr 221: Stolberg an Voß, 17.4.1787. Theile (2002), 90.
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seiner Lebenspraxis auf Gott bezog.94 Besonders markant zeigt sich dies, als seine Frau Agnes 1788 überraschend stirbt und Stolberg in diesem Ereignis eine himmlische Prüfung seiner Hingabe an Gott vermutet.95 ›Himmlisch‹ begeistert zu dichten, meint daher für ihn, sich in der Hinwendung an die Transzendenz zu üben, anstatt als autonomer Dichter zu firmieren. Gegenstand eines der bekanntesten Gedichte von Stolberg, An die Natur (1775), ist denn auch die priesterliche Abhängigkeit des Dichters von einer metaphysisch aufgeladenen Natur, in der sich Gott zeigt und deren begeistertes Erleben ihm alle erwachsene Eigenständigkeit nimmt, da Naturempfinden nur um den Preis infantiler Abhängigkeit von der Mutter Natur und nur durch eine Absage an die Autonomie des eigenen Ichs zu haben ist: Süße, heilige Natur, Laß mich geh’n auf deiner Spur, Leite mich an deiner Hand, Wie ein Kind am Gängelband! Wenn ich dann ermüdet bin, Sink’ ich dir am Busen hin, Athme süße Himmelslust Hangend an der Mutterbrust. Ach! wie wohl ist mir bei dir! Will dich lieben für und für; Laß mich geh’n auf deiner Spur, Süße, heilige Natur! (GW I, 113)
Die Sehnsucht nach einer pantheistischen Vereinigung mit der Natur gehört auch zu den Gegenständen von Goethes Sturm und Drang-Lyrik. Allerdings gestaltet er dabei vornehmlich die Paradoxie von Empfindsamkeit, die sich der sinnlichen Natur ganz auszusetzen und gleichzeitig die Ich-Identität zu bewahren versucht. In der Hymne Ganymed scheitert dieser Versuch: Der vom artikulierten Ich angesprochene ›alliebende Vater‹ (v.33) zeigt sich zwar zeichenhaft im »Morgenrot« (v.1), im »Frühling« (v.3), in »Blumen« und »Gras« (v.13), einen konkreten substantiellen Ort im Raum besitzt er jedoch nicht (FA I.1, 205). Die Vereinigung zwischen artikuliertem Ich und angesprochenem Du gelingt nur in den Wolken, also jenseits des sinnlich erfahrbaren Raums und nur um den Preis der aufgelösten Identität des artikulierten Ich. Signifikant ist die Ähnlichkeit der Bilder zwischen Stolbergs An die Natur und der Erstfassung von Goethes Auf dem See. Goethes Gedicht entsteht bezeichnenderweise nach einer Fahrt über den Zürcher See, die er am 17.6.1775 mit den Brüdern Stolberg im Rahmen ihrer gemeinsamen Schweizreise unternimmt. Prima vista dem artikulierten Ich bei Stolberg vergleichbar, das sich im Zustand der Naturbegeisterung wie ein ›Kind
94 95
Vgl. Hempel (1997), 20–25. Vgl. Theile (2002), 94f.
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am Gängelband‹ oder ›hangend an der Mutter Brust‹ fühlt, stilisiert auch das Ich in Goethes Gedicht Naturerleben zum Zustand inniger Verbundenheit: »Ich saug an meiner Nabelschnur / Nun Nahrung aus der Welt. Und herrlich rings ist die Natur / Die mich am Busen hält« (FA I.1, 169, v.1–4). Genau besehen, beschreibt Goethes Gedicht – im Unterschied zu Stolberg – allerdings ein Naturerleben, das nicht der sklavischen oder infantilen Abhängigkeit von einer dominanten Mutter gleicht, sondern – erkennbar am konstruierten Bild eines an der Nabelschnur saugenden Embryos – Genuss und Selbsttätigkeit betont: »Der Embryo saugt nicht an der Nabelschnur; ihm fließt Nahrung zu. Saugen bezeichnet demgegenüber eine lustvolle Lebensaktivität«96. Zudem gipfelt Goethes Auf dem See im Konzept eines symbolischen Naturerlebens, bei dem das Ich sich nicht an die Natur verliert, sondern sich in ihr ›bespiegelt‹: Am Schluss des Gedichts werden im Morgengrauen die am Ufer stehenden Obstbäume auf der Wasseroberfläche erkennbar. Gespiegelt vom See erlebt das Ich die Natur nun als ›reifende Frucht‹ (FA I.1, 169, v.20) und erinnert sich damit im enthusiastischen Naturerleben symbolisch an die Idee der eigenen Perfektibilität. Gerade der Vergleich mit dem Konzept enthusiastischen Naturerlebens in Goethes Lyrik erhellt die unreflektierte Radikalität von Stolbergs Inspirationsund Reproduktionsästhetik, die den Widerspruch zwischen Enthusiasmus und Ich-Identität nicht problematisiert. Zu erklären ist dies aus der eingangs erwähnten polemischen Stellung der vier Essays im Rangstreit zwischen Rationalismus und Empfindsamkeit, zwischen Philosophie und Dichtung, um die Deutungshoheit über das Aufklärungsprojekt. Stolbergs polemisch ausgerichtete Inspirationsund Reproduktionspoetik unternimmt den Versuch, Klopstocks Konzept der begeisterten Dichtung in radikalisierter Form gegen die Empfindsamkeitskritik der deutschen Spätaufklärung zu verteidigen. Eleoma Joshua hat die Intention von Stolbergs Poetik treffend zusammengefasst: »Stolberg’s essay on ›die Fülle des Herzens‹ was an essay on genuine feeling which captured the ebbing era of ›Empfindsamkeit‹, and tried to keep it separate from over-sentimentalization«97. Aufschlussreich und charakteristisch ist dabei vor allem die Strategie, mit der Stolberg sein Ideal des vollen Herzens gegen den Vorwurf der Über-Empfindsamkeit zu immunisieren versucht. Am Schluss von Ueber die Begeistrung bemüht er sich, die Empfindsamkeitskritik mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, nämlich mit anthropologischen Argumenten, allerdings in Gestalt der abgegriffenen und schon längst zum unwissenschaftlichen Allgemeinplatz verkommenen Tempera-
96
97
Kaiser (1987), 148. – Auch Stolberg benutzt häufig das Bild des von der Natur ernährten Dichters. Bei ihm liegt der Akzent jedoch nicht auf der lustvollen Aktivität selbsttätigen Saugens, sondern auf dem Gesäugt-Werden durch die fürsorgliche Mutter Natur. In An das Meer (1777) reimt er: »Der Geist des Herrn den Dichter zeugt, / Die Erde mütterlich ihn säugt« (GW I, 174). – Ähnlich auch im Abendlied (1784): »Noch säugt die Erd’ als Amme mich, / Und lullt mich freundlich ein; / Bald führt ein sanfter Schlummer mich / Zum Vater selbst hinein« (GW I, 412). Joshua (2005), 49f.
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Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
mentenlehre: Der Essay schließt mit der Frage nach dem Verhältnis von Begeisterung und körperlichem Temperament. Stolberg prüft alle vier Temperamente auf ihre Eignung, sein Ideal des begeisterten, aus der angeborenen Fülle des Herzens schöpfenden Dichters zu bezeichnen. Gegen die empfindsamkeitskritische Gleichsetzung von begeistertem Dichter und melancholischem Temperament98 behauptet er: Alle Werke der Begeistrung atmen Leidenschaft. Dichter sind mehrenteils sehr cholerischen Temperaments. So zeigt sich David in seinen Taten und in seinen Psalmen, so Homer im Charakter seiner Helden, so Milton und Dante in ihren Leben und ihren Gedichten.99
Bei Stolbergs Ideal des vollen Herzens überlagern Dichter und Held, »innige Liebe im Herzen« und »Zorn« einander.100 Stolbergs Ausdruck ›Zorn‹ ist ein Zugeständnis an die lexikalischen Bedingungen der deutschen Sprache, da im Deutschen kein dem griechischen »Oργη«101 entsprechendes Wort existiert, mit dem nicht nur ›Zorn‹ und ›Wut‹, sondern auch ›Leidenschaft‹ gemeint ist. Erst wenn das volle Herz ›Oργη‹ vermissen lässt, der begeisterte Dichter also nicht auch voller Tatendrang steckt oder wie Stolbergs Ikone Klopstock einen »Volkan im Busen«102 trägt, dann nähert sich der empfindsame Dichter dem melancholischen Temperament.103 Stolbergs Poetologie zeigt durchaus Verständnis für empfindsame Dichtermelancholie, verpflichtet ist sie aber dem Autorschaftskonzept des empfindsamen Cholerikers, dessen Dichtung nicht eine sanft-idyllische ungefährliche Natur darstellt, sondern eine wilde Natur, um deren Schönheit zu erfahren, man nicht nur Empfindsamkeit, sondern auch männlichen Mut, Tapferkeit und cholerische Entschlossenheit braucht (vgl. Anm. 103). Vorbild für die Landschaft in Stolbergs Insel sind denn auch die gebirgigen Schweizer Alpenlandschaften104 und die rauen Küstenlandschaften der Ossian-Dichtung. Das Leben in dieser wilden Gebirgsnatur formt die Kolonisten der Insel zu Repräsentanten seines anthropologischen Ideals, bei dem sich empfindsames Herz und männlicher Mut vereinen. Nach dem Vorbild von Homer, dem Psalmisten David, Dante, Milton und insbesondere Klopstock soll echte Poesie demnach einerseits heilige Emanation der göttlichen Natur sein, die der Dichter im Moment der empfindsamen Begeis98 99 100 101 102 103
104
Vgl. Sauder (1974), 147–154; Schings (1977), 256–269. Stolberg (1970), 40. Ebd., 41. Ebd. Ebd., 40. In den Gedichten melancholischer Dichter »ist weniger Erfindung vielleicht, weniger Kontrast; sie gleichen nicht Alpengegenden, wo am Fuße des ewigen Eises die Schätze des Sommers blühen, wo ins tiefe einsame Tal der rauschende Bergstrom hinabstürzt – aber das sanfte Adagio ihres Gesangs, welcher wie ein stiller Bach zwischen dunklen Tannen gleitet, wieget die Seele in süße Ideen ein, von denen sie ebenso ungern, als von ihren Entzückungen, erwacht« (Ebd., 41). Vgl. Huth (1933), 19.
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terung sprachlich reproduziert und dabei einem willenlosen Orakel gleicht. Andererseits entspricht die Versprachlichung des vollen Herzens schon einer mutigen männlichen Tat, denn durch seine publizistische Tätigkeit wird der empfindsame Dichter zum männlichen Helden, der in der Welt wirkt: [S]eelig ist u: dreymal seelig das Looß des Dichters welcher mit warmen Herzen für alles was gut u: edel ist, dichtet. Sein Gesang ist That, ist wie andre Thaten Saat in die Zukunft.105
Die Fülle des Herzens in Dichtung zu übersetzen, bedeutet für Stolberg die Idee der Freiheit als Grundlage zukünftiger Vergemeinschaftung darzustellen. Insofern ist der empfindsam-begeisterte Dichter ein ›Seher‹ und seine Vision zugleich Kritik an der bestehenden Wirklichkeit. Empfindsam zu dichten setzt immer auch die männliche Tapferkeit des Entdeckers voraus, denn der begeisterte Dichter sieht Land, »wann das Schiff noch auf hoher See schwimmt; viel später [erst] forschet der Philosoph mit dem Bleiwurf, ob das Land nahe, ob die Küste sicher sei«106. Diese Widersprüchlichkeit von Stolbergs radikaler Inspirationsästhetik, ihr Lavieren zwischen dem passiven Werkzeug des Dichter-Priester, der am Gängelband der Natur nur himmlische Offenbarung reproduziert, und dem männlich-cholerischen Aktivismus eines Dichters, der mit empfindsamer Dichtung zugleich öffentlich wirkt, kann man erst verstehen, wenn man sie auf den zentralen Vorstellungskomplex von Stolbergs politisch-sozialem Denken bezieht, nämlich auf die Idee adeliger Freiheit. Dirk Hempel hat in seiner Stolberg-Monographie erstmals umfassend dargestellt, dass Stolbergs Freiheitsbegriff nicht »abstrakte Vokabel des jugendlichen Stürmers und Drängers« bleibt, sondern reichsständische Freiheit meint und sich auf die »politische Stellung des Adels im Reich« bezieht.107 Während seines Jura-Studiums in Halle und Göttingen war Stolberg mit den Ideen der ›Reichs-Publicistik‹ in Berührung gekommen, die in der Jurisprudenz an beiden Universitäten dominierte. Die Reichs-Publicistik orientiert sich am positiven Recht des Heiligen Römischen Reichs, pflegt den Reichsgedanken und macht sich für die Tradierung der ständischen Verfasstheit des Reichs stark. Für Stolberg besaß sie deshalb eine so große Attraktivität, weil sie seine antiabsolutistische Gesinnung und zugleich sein adeliges Standesbewusstsein stützte. Mit ihrer Lehre von einer »organischen Entwicklung des Reiches und von der Unantastbarkeit des Reichsrechts«108 ließ sich der Souveränitätsanspruch des Absolutismus juristisch in Frage stellen, dessen Recht aus Sicht der Reichs-Publicistik nicht in der Seinsordnung verankert, sondern gemachtes Recht war, der also den politi-
105 106 107 108
StBr 36: Stolberg an Miller, 19.11.1774. Stolberg (1970), 42. Hempel (1997), 56. Ebd., 62.
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Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
schen Einfluss des Adels beschnitt und eine über Jahrhunderte gewachsene reichsständische Verfassung aushöhlte. Die antiabsolutistischen Lehren der Reichs-Publicistik waren mithin der Position von Adeligen wie Stolberg besonders zuträglich. Hempel zeigt, wie Stolberg in seiner politischen Lyrik, etwa dem Freiheitsgesang aus dem zwanzigsten Jahrhundert (1775) oder dem Versepos Die Zukunft, die Positionen eines antiabsolutistischen Adels literarisiert. Im Freiheitsgesang setzen reichsunmittelbare Ritter und reichsständische Adelige, zu denen sogar »[z]ween Jünglinge, Stolberg ihr Name« (GW I, 91), gehören, Freiheit gegen absolutistische Tyrannenwillkür durch. Auch im Versepos Die Zukunft ist »adelige Selbstbestimmung Bedingung politischer Freiheit in Deutschland«109. Hier führt eine adelige Avantgarde einen Freiheitskampf gegen die absolutistische Monarchie,110 um schließlich ein aristokratisches Gemeinwesen zu errichten, in dem Ruhe, sittliche Einfalt und Eintracht zwischen Wehrstand und Nährstand, zwischen Adel und Landbevölkerung herrschen.111 Als Anhänger eines solchen Ideals adeliger Freiheit war Stolberg paradigmatischer Repräsentant konservativen Denkens im Sinne des von Panajotis Kondylis konturierten Konservatismus-Begriffs. Konservatismus meint nicht die psychische Disposition eines zähen Festhaltens am Altbewährten, sondern bindet sich an eine bestimmte historische Bedürfnislage. Als Konservatismus bezeichnet Kondylis das antiabsolutistische und antirationalistische Plädoyer für den Erhalt der über Jahrhunderte gewachsenen juristischen und administrativen Ordnung des ›alten Reichs‹.112 Stolbergs »Vision der Wiedereinsetzung der reformierten alten Ordnung entspricht [daher] dem Bestreben konservativer Theorie, den bekämpften modernen Staat des Absolutismus als begrenzte historische Periode erscheinen zu lassen, isoliert zwischen zwei natürlichen Zuständen«113. Hempels überzeugende Darstellung von Stolbergs Literarisierung konservativer Positionen lässt sich gewinnbringend für ein Verständnis von dessen radikal-empfindsamer Inspirationsästhetik nutzen. Stolbergs Parteinahme für die Empfindsamkeit verdankt sich einerseits seiner pietistischen Erziehung, andererseits ist sie Teil jenes frühneuzeitlichen Prozesses der »Verbürgerlichung des Adels«114 : Mit der Entstehung des modernen absolutistischen Staats nach dem
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113 114
Ebd.,104. Vgl. Stolberg (1885), 253, v.113ff. Vgl. Ebd., 255, v.182ff. »Im streng historischen Sinne läßt sich also der Konservativismus als die ideologische und sozialpolitische Strömung definieren, deren Ziel die Aufrechterhaltung der societas civilis und der Herrschaftsstellung ihrer Oberschichten war. […] Sozialpolitisch bedeutet wiederum der Konservativismus den Widerstand der (Oberschichten der) societas civilis gegen deren Auflösung, welche zunächst in Form der neuzeitlichen Trennung von Staat und Gesellschaft auf den geschichtlichen Plan trat, um sich später durch die Verdrängung des Primats der Agrarwirtschaft durch den Primat der Industrie zu vervollständigen« (Kondylis [1986], 23). Vgl. dazu auch Kap. IV.3.3.d. Hempel (1997), 105. Aretin (1974), 28.
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Dreißigjährigen Krieg droht europäischen Adeligen durch die Souveränitätsansprüche der absolutistischen Fürsten die Herabwürdigung auf den Status von Privatpersonen. Um ihren gesellschaftlichen Einfluss in dieser Krise zu wahren, treten viele Adlige in Konkurrenz mit nichtadligen Funktionsträgern, eignen sich spezifisch administratives Beamtenwissen an und beginnen, nichtadlige Verwaltungseliten an den absolutistischen Höfen aus ihren Ämtern zu verdrängen. Auch Stolbergs Familie vollzieht diese Transformation zum Dienstadel. Stolbergs Vater verdingte sich seit 1756 als Oberhofmeister der dänischen Königinwitwe Sophie Magdalene und verwaltete ihr Vermögen und das königliche Gut Hirschholm (Hørsholm). Nicht mehr die geburtsständische Zugehörigkeit zum Adel ist nun zentrale Ermöglichungsbedingung politischer Einflussnahme, sondern intellektuelles Vermögen und individuelle Leistung im Beamtenapparat eines absolutistischen Fürsten.115 Der Erhalt ihres persönlichen Ansehens und ihrer gesellschaftlichen Stellung erfordert von den Adeligen Rollenmanagement und die Fähigkeit, sich als Funktionsträger in eine Beamtenhierarchie einzubringen. Das dabei entstehende Problem der Individualität, d. h. der Unverwechselbarkeit der eigenen Person jenseits aller sozialen Rollen, teilt der neue Dienstadel mit nichtadeligen Funktionsträgern, es ist ein zentraler Aspekt seiner ›Verbürgerlichung‹. ›Bürgerlich‹ sind auch die Strategien der Entdifferenzierung, die Adelige wie Stolberg entwickeln, um dieses Identitätsproblem zu handhaben: Sie stilisieren die Intimitätssysteme Liebe, Familie und Freundschaft sowie den Aufenthalt in der Natur zur Erfahrung einer entdifferenzierten Ganzheit der eigenen Person. ›Verbürgerlichung‹ meint bekanntermaßen nicht den Wechsel sozialer Zugehörigkeit, sondern die Partizipation an der kulturellen Fiktion einer ›bürgerlichen Öffentlichkeit‹. ›Verbürgerlichung‹ findet also dann statt, wenn die genannten Entdifferenzierungsstrategien zum Gegenstand publizistischer Tätigkeit gemacht und öffentlich als Befreiung von der Selbstentfremdung durch soziale Rollen sowie als Bedingung eines unabhängigen moralischen Gewissens behauptet werden. Autoren, die im 18. Jahrhundert literarisch oder publizistisch suggerieren, das System der Intimität oder ein emphatisches Naturerleben ermögliche die Erfahrung einer von Partialinteressen befreiten Ganzheit der Person bzw. ein reines Herz und Gewissen, beziehen damit unter der Hand eine politisch-polemische Position: Sie hypostasieren ihr privates Gewissen zum putativ verallgemeinerbaren, neutralen Tugendmaßstab, stilisieren sich zu moralisch souveränen Individuen mit einem vollen Herzen und inszenieren sich als ›bürgerlich‹-moralische Gegenkraft zum amoralischen Absolutismus. Stolbergs Lyrik und seine poetologischen Essays sind Paradebeispiele dieses Problemzusammenhangs, der hier angelehnt an Reinhart Koselleck unter dem Stichwort ›Hypokrisie‹ rubriziert wird. Stolbergs Lyrik und seine Essays beschwören eine enthusiastische Naturbegeisterung, ohne wie Goethe das Problem der Gefähr115
Für den norddeutschen und dänischen Raum und mit Seitenblicken auf die Familie Stolberg zeichnet D. Lohmeier (1980) diese ›Verbürgerlichung‹ der Adelskultur nach.
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Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
dung von Ich-Identität in der begeisterten Hingabe an die Natur zu reflektieren. Stattdessen werden die Schwierigkeiten von Ganzheitserfahrungen im System der Intimität oder in der Natur überdeckt. Insbesondere das immer wieder kehrende Motiv der Musenanrufung besitzt in Stolbergs radikaler Inspirationsästhetik eine unterschwellige politische Dimension (vgl. Anm. 139). Mit der Behauptung, der echte Dichter hänge am ›Gängelband‹ der Natur oder fungiere als Medium seines persönlichen Genius, wird die moralische Allgemeingültigkeit und politische Neutralität von begeisterter Poesie unterstellt. Poesie nicht als Produkt eines persönlichen Interesses, sondern als sprachlich emanierte Offenbarung zu verstehen, soll ihr die Weihe eines moralisch unbefangenen, politisch-neutralen Urteils verleihen. Mit dem Motiv der Musenanrufung inszeniert Stolberg Poesie als neutrale Kritik am amoralischen und interessengebundenen Absolutismus im Namen einer vorgeblich reinen Herzensfülle. Im Motiv der Musenanrufung ›verbucht‹ er das moralische Kapital des reinen Herzens auf seinem ›Konto‹. Paradoxerweise bedingt für ihn daher gerade die sklavische Abhängigkeit von ›himmlischer‹ Inspiration die politische Neutralität und moralische Freiheit echter Poesie. Wie aus seinen Briefen ersichtlich, besaß Stolberg ein ausgeprägtes adeliges Standesbewusstsein. Aus deutschem Uradel stammend, sah er die Idee adeliger Freiheit noch in sich wirksam, vermittelt über die lange Tradition seiner Herkunftsdynastie: Ey for shame was sagst Du von unserem 900jährigen Adel? Waren denn nicht vor 1000 Jahren unsre Väter Beherrscher von Sachsen? Hör das ist vor kein Gold zu geben, daß alter Adel Gottes Werck ist, nicht durch Menschenwillen, uns hat weder König geadelt, noch Pabst, noch Kaiser, sondern weil unsre Väter starck waren u: tapfer[,] herrschten sie von Natur. Von Natur das ist das wahre Von Gottes Gnaden.116
Als Vorbild des nur von Gott abhängigen, tapferen und moralisch souveränen Adeligen, der aus freien Stücken soziale Verantwortung übernimmt, galt ihm zeitlebens sein Vater Christian Günther, der 1751 auf seinem Gut Stedinghof bei Bramstedt als erster norddeutscher Gutsbesitzer die Leibeigenschaft aufgehoben hatte.117 Für eine solche, nur dem eigenen Gewissen verpflichtete Wirksamkeit fehlte Stolberg die gesamten 1770er Jahre hindurch jedoch das Betätigungsfeld. Erst als Landvogt
116 117
StBr 96: F.L. Stolberg an Christian Stolberg, 21.10.1777. Ein markantes Zeugnis der Verehrung, die Stolberg seinem Vater zeitlebens entgegenbrachte, findet sich in dem bislang ungedruckten Brief vom 13.12.1789 an Sophie von Redern: »Seine kühne Offenheit u: Rechtschaffenheit waren so bekannt, daß in sehr vielen Fällen auf ihn, wie ein Orakel appellirt ward. In Holstein war er der erste welcher auf einem ihm gehörigen Gute die Leibeigenschaft abschafte, in Dännemarck machte er auf einem königl. Amte zuerst eben diese Einrichtung, welche nun im ganzen Königreich eingeführt wird. Hätte er länger gelebt so wäre er Chef der Kammer geworden, diese Stelle war ihm bestimmt. Ich habe nicht leicht bey einem Manne so unerschütterliche Festigkeit mit so vieler Zärtlichkeit des Herzens gesehen« (zitiert nach Hempel [1997], 16).
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in Neuenburg während der 1780er und vor allem als Kammerpräsident in Eutin während der 1790er Jahre gelang es ihm, eine politische Reformtätigkeit nach dem Muster seines Vaters auszuüben. Dennoch ist schon die Zeit des Studiums und der frühen Berufstätigkeit stark von dem Wunsch nach selbstbestimmtem öffentlichen Wirken geprägt. Nach dem Erscheinen von Klopstocks Gelehrtenrepublik (1774) entwickelte sich unter den Mitgliedern des Göttinger Hains eine lebhafte Debatte um Klopstocks Ansichten über das Verhältnis von Schreiben und Handeln. In den Grundsäzen der Republik hatte Klopstock behauptet: Handeln und Schreiben ist weniger unterschieden, als man gewöhnlich glaubt. Wer handelt und wer schreibt, bringt Wirkungen hervor. Diese sind auf beiden Seiten sehr mannigfaltig. Die das Herz angehn, sind die vorzüglichsten.118
Jene Vorstellung von der politischen Wirksamkeit empfindsamer Poesie, die Stolberg einige Jahre später in seinen poetologischen Essays formuliert, findet in Klopstock als dem Autor der Gelehrtenrepublik also schon einen Gesinnungsgenossen. Während der Studienzeit und der Mitgliedschaft im Göttinger Hain ist die Idee öffentlicher Wirksamkeit durch Diskurs, also durch Textproduktion, bei Stolberg allerdings noch deutlich nachrangig gegenüber dem Ideal habitueller Wirksamkeit, sprich: dem körperlich-konkreten Eingreifen ins politische Geschehen. Brieflich teilt er Klopstock seine Ansichten über die Grundsätze der Gelehrtenrepublik mit: Schreiben u: Handeln – Glücklich ist der dessen Lied den Arm des Urenckels wafnet, aber seelig u: dreymal seelig ist der welcher selbst zum Schwerdte greift! selbst FreiheitsBlut strömen sieht!119
Gleichzeitig sieht Stolberg aber in der entstehenden funktional differenzierten Gesellschaft, die vom Einzelnen ein Handeln in Systemrationalitäten auch gegen die Fülle des eigenen Herzens verlangt, kaum Möglichkeiten im Sinne der Idee adeliger Freiheit sozial verantwortlich zu agieren: Handeln das ist ein göttliches Ding um das Handeln! aber wie schwer in einem cultivirten Staate! […] Alle die grossen Männer Cato, Brutus, Timoleon, Herman, Epaminondas – alle die liebe ich ohne sie mit Staunen zu bewundern, denn wir mein Freund thäten alles was sie thaten. Es ist keine Schande 2000 Jahre jünger zu sein als sie, das ist ihr Vorzug daß sie zu denen Zeiten lebten da man handeln konnte. Und hebt nicht die Religion uns über sie!120
Schließlich tragen die negativen Erfahrungen, die er während der frühen Berufstätigkeit mit dem dänischen Absolutismus macht, dazu bei, ihn über das Ideal habitueller Wirksamkeit zu desillusionieren. Bei der poetologischen Selbstvergewisserung, die Stolberg mit den vier Essays unternimmt, handelt es sich mithin
118 119 120
Klopstock (1975), 22. StBr 33: Stolberg an Klopstock, 15.3.1774. StBr 32f.: Stolberg an Miller, 12.3.1774.
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Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
um ein Kompensationsgeschehen. Die Idee adeliger Freiheit, so kann man ihre Intention zusammenfassen, lässt sich nur mit begeisterter Poesie realisieren, die eine ›himmlische‹ Offenbarung verbalisiert bzw. die ›Fülle des Herzens‹ ästhetisiert und auch einer politischen Tat entspricht, weil sie sich auf eine moralischere Zukunft richtet. Der Poeta vates hängt zwar am ›Gängelband der Natur‹, ist aber ansonsten vollkommen frei. Stolberg kompensiert also mit der Idee des begeisterten Dichters die Unerfüllbarkeit seines Ideals vom freien Adeligen, der nur Gott und nicht einem Fürsten verpflichtet ist und aus der ›Fülle seines Herzens‹ soziale Verantwortung übernimmt. Den poetologischen Anspruch einer politisch wirksamen Poesie hat er vor allem mit seinen zeit-, sozial- und absolutismuskritischen Jamben einzulösen versucht, die 1782 und 1783 entstehen, zum Teil in Boies Deutschem Museum erscheinen und 1784 von der Weidmannschen Buchhandlung in Leipzig verlegt werden.121 Die Jamben machen Stolbergs Ideal des cholerischen Dichters alle Ehre, denn ihr Ton ist fast durchweg unverhohlen zornig. Sie sind voll engagierter, aber bissiger und daher kaum selbstkritischer Anklage verlogener kirchlicher Würdenträger, spätwolffianischer ›Weltweisheit‹, absolutistischer Fürsten und Höflinge, und sie plädieren für die Abschaffung von Sklavenhandel und Leibeigenschaft. Schon mit der erste Jambe, Die Warnung, stellt Stolberg sich in die antike Tradition satirischer Jambendichtung, indem er sich auf die jambischen Schmähverse beruft, die Archilochos von Paros um 650 v. Chr. auf seine untreue Braut verfasst hatte.122 Die Warnung lässt deutlich Stolbergs gewandeltes Urteil zum Verhältnis von Schreiben und Handeln erkennen. Hatte er sich 1774 noch daran gestört, dass Klopstock in der Gelehrtenrepublik Schreiben als öffentlich wirksames Handeln versteht, und dagegen das blutige Schwert in der Hand dem Lied vorgezogen (vgl. Anm. 119), so zeigt er sich in den Jamben überzeugt von der politischen Wirksamkeit begeisterter Poesie und versteht die gedruckte Verszeile als Peitsche, deren Schlag vor allem deshalb so schmerzhaft und bedrohlich ist, weil er durch die Öffentlichkeit des Drucks überall gehört werden kann: Der Dichter prangt nicht mit der Leyer nur, Auf eine scharfe Geißel trotzt er auch, Und schwinget sie mit angeborner Kraft. Noch will ich warnen, will die Geißel nur Dem Auge zeigen: Narren, tretet her, Und schaut! – Mit dieser Geißel geißelte Der Griech’ Archilochos; er flocht sie selbst Aus lang und kurzer Sylben Wechselschlag, Schwang hoch den Arm und rasch, daß Griechenland Von Kretas Eichen bis zum Hellespont, Von Rhodus bis Illyrien erscholl. (GW III, 4)123
121 122 123
Eine detaillierte Analyse der Jamben unternimmt Hempel (1997), 110–117. Vgl. ebd., 111, hier Anm. 119. Auf den Peitschenhieb der Verszeile als Metapher für die öffentliche Wirkung von
3. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: ›Die Insel‹
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Im empfindsamen und zugleich öffentlich wirkenden Dichter entdeckt Stolberg eine Realisierungsmöglichkeit für seine Idee adeliger Freiheit unter den Bedingungen des Absolutismus. Mit der Übertragung seiner Idee adeliger Freiheit auf das Konzept öffentlichkeitswirksamer ›bürgerlicher‹ Autorschaft produziert Stolbergs Poetologie jedoch den von Koselleck beschriebenen Mechanismus der Hypokrisie, weil sie die Selbstgerechtigkeit empfindsam-moralischer Poesie und ihre versteckten politisch-polemischen Intentionen nicht hinterfragt. Mit geschärftem Bewusstsein für die Aporien von Stolbergs Poetik widmen sich die folgenden Kapitel nun seiner literarischen Utopie Die Insel (1788) und ihren ästhetischen Problembewältigungsstrategien.
3.2 Kollektiver Wachtraum am Wochenende: Die fiktionale Vermittlung der utopischen Insel In Anbetracht der zeitgenössischen Kritik am empfindsamen Schwärmen für die außerempirischen Ideen ›Platonischer Republiken‹ hätte sich eine literarische Utopie, die im späten 18. Jahrhundert das frühaufklärerische Prinzip der illusionierenden Verschleierung ungebrochen weitertradierte, leicht jedes kommunikativen Erfolgs beraubt. Stolberg stellt sich mit seinem Roman Die Insel dieser Herausforderung. Er setzt die Tendenz zur Reaktivierung traktatartiger Vermittlungsformen und humanistischer Dialogstrukturen fort. Auch die Insel praktiziert die bei Wieland erprobte illusionsbrechende Offenlegung der Konstruktionsprinzipien des utopischen Entwurfs. Stolberg erfindet dafür jedoch eine eigenständige Ausdrucksform und entwickelt das gattungsgeschichtlich singuläre Muster des kollektiven Wachtraums: Im Laufe mehrerer Wochenendaufenthalte auf einer Donauinsel stellt sich der Protagonist Sophron gemeinsam mit seinem Freund La Riviere und einigen Nachbarsjungen eine ferne Insel im Meer vor. Den gesamten ersten Romanteil über unterhalten sich die Wochenendausflügler über die Bedingungen, unter denen sich auf diesem erdachten Eiland ein utopischer Staat installieren ließe. Wie bei Wieland erfüllt die Dialogstruktur auch in der Insel eine illusionsstörende Wirkung, da die Jünglinge Sophron immer wieder mit Zwischenrufen und -fragen unterbrechen und so den Aufbau eines geschlossenen Erzählkontinuums unterbinden. Hinzu kommt, dass Sophron in seinen Gesprächsbeiträgen narrative Strukturen nur in sehr reduzierter Form gebraucht. Erst nach gut 60 Druckseiten argumentiert oder beschreibt er nicht mehr, sondern erzählt mehrere Seiten lang. Um seine Zuhörer für den Traum einer utopischen Insel zu faszinieren, stimuliert Sophron sie narrativ dazu, sich in die Situation einer Seereise hineinzuversetzen: »Stellet euch den großen Augenblick vor, in welchem wir ins Schif steigen! – Nun theilt der Kiel schon die Wellen; […] nun entschwindet den AuDichtung greift Stolberg auch in anderen Jamben zurück. So ist etwa in Der Widerruf von der »strengen Jamben schnelle[m] Geißelschwung« (GW III, 9) die Rede.
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Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
gen die vaterländische Küste« (In. 61). Dann wechselt er aber sicherheitshalber in den Konjunktiv: »Und wenn wir denn, nach Monaten, in der Ferne, einen kleinen Nebelfleck in der Luft entdeckten! nun die Schneegebirge unsrer Insel! nun ihre Felsengestade! Sie läge da wie ein Garten Gottes, in jungfräulichem Schmuck, unser gewähltes Land!« (Ebd.). Mit dem Moduswechsel zwischen Indikativ und Konjunktiv, den Sophron noch mehrfach wiederholt, versucht er bei seinen Zuhörern, trotz aller Faszination für die Idealstaatsidee, ein bloß obskurantistisches ›Hineinversetzen‹ in ihre gemeinsame utopische Illusion zu vermeiden. Der Moduswechsel erinnert die Zuhörer und mit ihnen auch den Romanleser an den hypothetischen Charakter des utopischen Entwurfs. Ohnehin bleibt es nur bei diesem kurzen narrativen Intermezzo der Phantasiereise über das Meer. Sophron erzählt zwar noch in der Wir-Form von der Ankunft und den ersten Tagen auf der vorgestellten Insel, dann verschwindet das Erzähler-Wir jedoch allmählich und die Narration vom Erleben einer konkreten Personengruppe geht über in eine abstrakte, nicht an einen konkreten Blickwinkel gebundene Beschreibung der sozialen und administrativen Struktur des Inselstaates und seiner Sitten und Gebräuche. Wie in Wielands Diogenes wird auch in Stolbergs Insel von Anfang an mit offenen Karten gespielt und nicht versucht, fiktionsintern die Wahrheit der utopischen Insel zu suggerieren. Von Anfang an ist klar, dass es sich nur um einen Traum handelt. Die Dialogstruktur der Insel führt dem Leser zudem einen ›richtigen‹ Umgang mit dieser Hypothese vor Augen: Der utopische Traum soll nicht in der Nacht betäuben und die Widrigkeiten des Tages vergessen machen, sondern über die illusionsstörende Dialogstruktur zu einem »›wachen‹, bewußt-rationalen Nachvollziehen des utopischen Entwurfs«124 stimulieren. Der Preis, der für diese Ermöglichung einer kognitiven und die Unterbindung einer eskapistischen Lektüre gezahlt wird, ist aber die fehlende Evidenz bzw. Faszinations- und Überzeugungskraft des utopischen Entwurfs. Obwohl die Gesprächsteilnehmer sich in Gedanken von ihrer realen Donauinsel auf eine utopische Insel versetzen, erfolgt die Darstellung des Inselstaates fast ausschließlich in Form abstrakter Beschreibung. Zwar denken sich die Gesprächsteilnehmer eine überbordende Fülle von Bestimmungen zur Lebensführung auf der Insel aus, die bis hin zu peniblen Kleidervorschriften reichen: So ist sogar genau geregelt, wann Frauen Handschuhe tragen müssen (In. 96).125 Wie und ob die Umsetzung solcher Vorschriften in praxi allerdings funktioniert, bleibt während des ersten Romanteils außer Acht, vom Alltagsleben auf der Insel erfährt der Leser vorerst nichts.
124 125
Baudach (2002), 164. Stolbergs Detailversessenheit hat schon bei zeitgenössischen Rezensenten Irritation erzeugt: vgl. [Anonymus] (1794), 389.
3. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: ›Die Insel‹
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Stolberg versucht dieses Defizit im zweiten Romanteil mit einem Wechsel der Gattung zu kompensieren. Hier findet sich eine Sammlung von sechs Versidyllen und einem Hymnus, die fi ktionsintern aus der Feder des Protagonisten Sophron stammen, sowie eine Prosaidylle seiner Frau Psüche. Der neuen Gattung wird überantwortet, was die Dialogutopie im ersten Romanteil vermissen lässt, nämlich die Vermittlung eines anschaulichen Eindrucks vom Alltag auf dem utopischen Eiland. In der Einleitung zum zweiten Romanteil erfährt der Leser, dass Sophron die Idyllen während einiger Morgenstunden allein auf der Donauinsel gedichtet hat und sie keineswegs schon als gültige Darstellung des Inselalltags oder als gelungene Exempel der Inselpoesie, sondern als »Schattenbilder einer lebenden Naturpoesie« (In. 152) verstanden wissen will. Auch im zweiten Romanteil ergreift Stolberg also ästhetische Vorsichtsmaßnahmen, die die Illusion des utopischen Entwurfs stören und seine Realisierbarkeit unter erfahrungsweltlichen Bedingungen fragwürdig erscheinen lassen: Einen lebensweltlichen Eindruck vom Inselalltag vermittelt Stolbergs Roman nur unter dem Vorbehalt der skizzenhaften Andeutung und nur als Poesie in der Poesie, als Erzählungen aus der Feder fiktiver Romanfiguren. Die Idyllen im zweiten Teil verleihen dem utopischen Entwurf zwar eine konkrete Anschaulichkeit, besitzen aber auch fiktionsintern nur den Status poetischer Erfindung. Die Frage liegt daher nahe, welche hypothetische Intention sich mit dieser Form der illusionsstörenden fi ktionalen Vermittlung verbindet. Aufgrund der Offenheit, mit der Stolbergs Roman die Utopie als privaten Wachtraum einer kleinen Gruppe von Individuen ausstellt, hat sich in der älteren Forschung das Deutungsklischee festgesetzt, die Insel sei nur eine eskapistisch gemeinte ›Fluchtutopie‹, die vor der Unveränderlichkeit der bestehenden Wirklichkeitsstrukturen kapituliere und ihre Leser zum Rückzug in den privaten Innenraum eines irreal-ästhetizistischen utopischen Traums anhalten wolle, der nichts verändert, aber am Wochenende trügerische Erholung von den Widrigkeiten des Alltags in der modernen Gesellschaft verspricht. Um diesen Verdacht am Text hinreichend prüfen zu können, gilt es im folgenden Kapitel vor allem die Aussageintentionen der Romanvorrede im Zusammenhang mit Stolbergs Poetik zu diskutieren.
3.3 Gedrucktes Geheimnis: Putativer Privatismus und politische Textfunktion Die literaturwissenschaftliche Forschung zu Stolbergs Insel ein weites Feld zu nennen, wäre euphemistisch, denn es handelt sich de facto nur um eine kleine Zahl von Beiträgen, die sich mit diesem Roman befassen. Trotz ihrer wenigen Akteure hat die Forschungsgeschichte zur Insel aber bereits einen Paradigmenwechsel hervorgebracht: Während die ältere Deutungstradition im Motiv des kollektiven Wachtraums auf der Donauinsel und in den Idyllen am Romanschluss den Privatismus, Eskapismus und Ästhetizismus der Insel sowie ihren Status als
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Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
›Fluchtutopie‹ ausmacht, hat Frank Baudach 2002 einen Beitrag vorgelegt, der erstmals auf die ironischen Strukturen der Romanvorrede und deren rezeptionssteuernde Intention aufmerksam macht.126 In der kurzen Romanvorrede meldet sich ein Sprecher-Ich zu Wort, das seine Rolle als Autor oder Herausgeber des Romans zwar nicht klar benennt, dessen Ausführungen man aber doch entnehmen kann, dass hier jemand spricht, der sich nicht nur als Editor, sondern als Textproduzent im Sinne einer ›Verschriftlichungsinstanz‹ versteht: Diese wenigen Blätter enthalten Träume, und werden manchem eher viele als wenige scheinen; denn Träume sind einmal nur Träume, dazu Träume eines Wachenden! – Ich darf indessen erwarten, daß mancher Leser sich meine Träume, vielleicht gar mir nachzuträumen, werde gefallen lassen, und wenn ihm das Vergnügen macht, so bereue ich die Mittheilung dieser Ideen nicht. (In. Vorrede, unpaginiert)
Die Vorrede hofft zwar auf aktivierbare Leser, also auf solche, die sich von den dargestellten Träumen zum privaten Nachträumen stimulieren lassen, nimmt aber gleich vorweg, dass es zwei Lesergruppen gebe, denen von einer Lektüre des Romans abzuraten sei, da sie, wegen der Wichtigkeit ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihrer beruflichen Bindung ans ›Reale‹, ohnehin keine Kapazität zum Träumen hätten. Das Vorrede-Ich bittet daher diese berufsbedingten Nicht-Träumer zumindest Nachsicht mit demjenigen zu haben, der private Träume zu Papier bringt. Die beiden apostrophierten Lesertypen sind der rationalistische Philosoph und der absolutistische Fürst. Die Philosophen, »deren nächtliche Lampe Völker erleuchtet«, die der Welt also das Licht der Vernunft spenden, bittet der Vorredner: »o gehet leise, vor den Träumenden vorbei, ohne sie unfreundlich aufzuschrecken. Sehet uns an wie Nachtwandler, die man in ihrem Wahnsinn nicht stören muß« (In. Vorrede, unpaginiert). Der Vorredner verspricht im Gegenzug, den rationalistischen Systemen mit seinen privaten Träumen keine Konkurrenz zu machen: »Wir wollen auch eure archimedischen Sandkreise nicht stören; wollen nicht einen Halm euern Aeckern entwenden, sollte er auch – wie doch selten der Fall ist – einmal über die Umzäunung, welche eure Vorweser aus dürren Dornreisern flochten, hervorragen« (In. Vorrede, unpaginiert). – »Und ihr«, ruft er dann den absolutistischen Staatenlenkern zu, die ihr mit gleicher Größe über die nächtliche Lampe des Philosophen, und über die Johanniswürmchen des Parnassus hinwegschauet, ihr, denen das Wohl der Staaten, an deren Steuer ihr bisweilen – einschlaft – viel zu sehr obliegt, als daß ihr Muße haben könntet von der Menschen Glückseligkeit zu träumen, habet Mitleiden mit unsrer Schwäche! […] Seid milde, wie andre Frohnvögte, die den fremden Wandrer ruhen lassen wenn auch dem Landmann, welcher euch zu fröhnen die Ehre hat, kein Mittagsschlummer gegönnt wird. (In. Vorrede, unpaginiert)
126
Vgl. Baudach (2002): Eine kritische Auswertung der älteren Forschung zu Stolbergs Insel findet sich ebd., 156, hier Anm. 2.
3. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: ›Die Insel‹
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In der Forschungsgeschichte hat bislang einzig Baudach auf die Ironie dieser unterwürfigen Bitte um Nachsicht hingewiesen,127 was einigermaßen verwundert, gerade weil es sich hierbei keineswegs um sonderlich subtile Ironiesignale handelt. Immerhin ziehen die mutwillig übertriebenen Demutsgesten in beiden Fällen unmittelbar kritische Bemerkungen nach sich, die die Demut wieder aufheben: Den rationalistischen Philosophen wird vorgeworfen, sie seien allenfalls Epigonen ihrer ›Vorweser‹, zwängen sich also in das enge Korsett des Wolffianismus, ohne eigene Ideen zu entwickeln.128 Der absolutistische Souverän schließlich schere sich nicht einmal um die ›nächtliche Lampe‹ der Philosophen, d. h. um die Vernunft, sondern schlafe am Steuer des Staatsschiffs einen traumlosen Schlaf. Außerdem lebten die absolutistischen ›Fronvögte‹ auf Kosten des in der Leibeigenschaft versklavten Landmannes. In Anbetracht dieser unverhohlenen ›konservativen‹ Kritik an Absolutismus und Rationalismus lässt sich die im Vorwort praktizierte demütige Herabwürdigung der Idealstaatsidee auf den Status privater Träume keineswegs als Indiz eines literarischen Eskapismus oder Privatismus werten. Ironisch kritisiert wird nicht das utopische Träumen vom Idealstaat, sondern die Wirklichkeitsentwürfe bestimmter sozialer Gruppen, die Idealstaatsideen keinen Nutzen zugestehen und sie zur Privat-Schwärmerei empfindsamer Gemüter degradieren, sich damit aber als Apologeten des Faktischen ausweisen, denen ein skeptisches Verhältnis zur sozial-politischen Wirklichkeit fehlt. Rationalismus und Absolutismus seien die Nutznießer der auf Ausbeutung beruhenden Wirklichkeitsstrukturen und nur aus diesem Grund gelte ihnen der Traum von humaneren Lebensbedingungen als politisch irrelevante Schwärmerei. Mit seiner Demutsgeste imitiert der Vorredner zwar die pejorative Auffassung von Humanität als privater Schwärmerei, die Ironie verkehrt die eingestandene Schwäche für private Träumereien jedoch in eine Kritik an den rationalistischen und absolutistischen Nicht-Träumern und am Fehlen der Humanitätsidee im öffentlichen Raum. 127 128
Baudach (2002), 158–161. Stolbergs Aversionen gegenüber der spätwolffianischen Aufklärungsphilosophie konzentrieren sich vor allem auf die Person Friedrich Nicolais. 1786 hat er in Berlin neben Nicolai die Aufklärer Johann Erich Biester und Johann Jacob Engel getroffen, sich ihnen gegenüber aber sehr distanziert verhalten. Mit Moses Mendelssohn und Johann Joachim Spalding pflegte er hingegen einen vertrauteren Umgang (vgl. Hempel [1997], 131f.). Hinzu kam, dass Stolberg im Spinoza-Streit in Opposition zur schwärmerkritischen Berliner Aufklärung ging und sich auf die Seite ihrer Gegner, Friedrich Heinrich Jacobi, Mendelssohn und Lavater, schlug. Als er 1787 Lavater, den die Berliner Aufklärung der Schwärmerei bezichtigte, eine Ode widmet, wird er öffentlich von Nicolai attackiert (vgl. ebd., 167, hier Anm. 347). – Besonders symptomatisch für Stolbergs distanziertes Verhältnis zur Aufklärungsphilosophie ist die Tatsache, dass er während eines Aufenthaltes in Königsberg zwar Hamann besucht, nicht aber Kant. Wie später in Berlin suchte er schon in Königsberg lieber die Nähe religiös Gleichgesinnter, anstatt sich ernsthaft mit den verschiedenen Aufklärungsphilosophemen auseinanderzusetzen (vgl. ebd., 131). Zu Stolbergs abwehrendem Verhältnis gegenüber Kants Philosophie, die er zunächst offenbar nur vom Hörensagen kannte, vgl. StBr 216: F.L. Stolberg an Luise Stolberg, 23.2.1787.
Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
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Baudachs Überlegungen zur Ironie der Vorrede gewinnen besondere Evidenz, wenn man Dirk Hempels Hinweis auf Der Rath berücksichtigt, ein Gedicht aus Stolbergs Jamben-Zyklus von 1784, in dem er die politische Funktion des literarischen Träumens problematisiert.129 Ich zitiere daraus einige relevante Passagen: Dank sei’s den Weisen unsrer Zeit, wir sind So weit gekommen, daß bewiesen ward Die Freiheit sei ein Traum, ihr Nam’ ein Schall, Des Narren Losung, und des Klugen Spott. […] Ich härme manchen Tag und manche Nacht Mich schlaflos um das Wohl der Könige, […] O dürft’ ich rathen! zwar ihr hört mich nicht, Doch überlaßt mich meinem süßen Wahn, Daß von den Weisen, die um euren Thron, Wie Wasserblasen um die Klippen sind, Mich einer hört, und zu gelegner Zeit, Euch ehrerbietig das Gehörte sagt. […] O selig ist der König, der vom Thron Das Schnarchen des gestreckten Volkes hört! […] Auch Träume sind gefährlich! tiefer Schlaf, Ja tiefer, schwerer, starrer Schlaf allein, In schwarzer Finsterniß, giebt wahre Ruh! (GW III, 52–55)
Dem schließt sich eine Reihe von Ratschlägen an, deren Befolgung das artikulierte Ich dem angesprochenen absolutistischen Souverän nahelegt, um den Untertanengeist beim Volk zu erhalten und es in einen narkotisierten Schlaf zu wiegen, ohne dass es den gefährlichen Traum der Freiheit träumt. Die Parallelen zur Vorrede der Insel liegen auf der Hand: Die Herabwürdigung des Traums von politischer Freiheit ist unmissverständlich ironisch gemeint. Der Rath spricht zwar wörtlich vom gefährlichen Traum der politischen Freiheit, mit dem Mitteln der Ironie wird damit jedoch implizit die Unterdrückung dieses Traums durch Rationalismus und Absolutismus kritisiert. Zugleich wird dem Träumen ein Gefahrenpotential für die Fürstenherrschaft zuerkannt: Gerade weil der Traum von Freiheit geeignet ist, den ›starren Schlaf‹ der Untertanen zu stören, ist er keineswegs nur eine politisch irrelevante Privatsache. Der Rath ist symptomatisch für jenes Verständnis von Dichtung als politischem Handeln, das Stolberg während der Kopenhagener Gesandtschaft entwickelt. Dichtung soll eine politische Beratungsfunktion übernehmen und damit die realpolitische Machtlosigkeit des Dichters kompensieren: Zwar seufzt das artikulierte Ich ›O dürft’ ich rathen!‹, tatsächlich simuliert es im gedruckten Ge129
Hempel (1997), 146f.
3. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: ›Die Insel‹
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dicht jedoch bereits ein Beratungsgespräch mit den apostrophierten absolutistischen Fürsten. Der Rath unterscheidet sich nur durch seine Ironie von einer herkömmlichen Fürstenberatung. Die eigentliche Botschaft ist nicht identisch mit der wörtlichen Bedeutung, sondern Stolbergs Gedicht erteilt einen impliziten Rat, den nur beherzigen kann, wer die Ironie identifiziert: Diese entsteht dadurch, dass geheimes absolutistisches Herrschaftswissen öffentlich ausgesprochen und den absolutistischen Fürsten vor aller Augen gelehrt wird, wie sie im Volk den sklavischen Untertanengeist erzeugen und erhalten können. Ironisch-implizit wird damit die Aufforderung kommuniziert, das Volk aus seinem traumlosen Tiefschlaf aufzuwecken und es zum Träumen anzuhalten. Unbedacht bei Hempel und Baudach bleibt allerdings, dass man an der Inszenierung von Poesie als spezieller Form politischer Beratung, die Stolberg im Rath und in der Insel erprobt, Kosellecks Theorem der Hypokrisie paradigmatisch studieren und den fundamentalen Unterschied zwischen Wielands und Stolbergs ›politischer‹ Poesie offenlegen kann. Für Stolberg ist Dichtung Mahnung an den moralischen Traum von Humanität und Freiheit, also der Versuch, über die öffentliche Verbreitung von Moral im Medium Literatur politisch Einfluss zu nehmen und in der Rolle des empfindsamen Dichters den Verlust jener adeligen Freiheit zu kompensieren, die nur Gott und dem reinen Herzen verpflichtet ist. Das Vorrede-Ich in der Insel behauptet zwar: »Wenn wir träumen, so träumen wir in unserm Eigenthum« (In. Vorrede, unpaginiert). Dieser Privatismus ist aber nur putativ, denn er wird durch die Öffentlichkeit des gedruckten Texts wieder aufgehoben. Stolbergs Roman versucht also Moral, die vorgeblich einem von gesellschaftlichen Partialinteressen befreiten Privatraum entstammt, über das Medium der literarischen Öffentlichkeit in die Politik einzuspeisen, denn wenn sie öffentlich werden, dann sind auch empfindsame Träume gefährlich. Hypokritisch ist diese Poetik deshalb, weil sich der Romanautor damit als moralische Gegenkraft zum Absolutismus und Rationalismus, als empfindsamer Träumer, als Träger reiner Herzensfülle und Inhaber eines moralischen Gewissens inszeniert. Wenn ein Autor wie Stolberg sich dieser Rolle des empfindsamen Dichters, also einer ›Verbürgerlichungsstrategie‹ bedient, um das vom absolutistischen Souveränitätsanspruch kompromittierte Ideal adeliger Freiheit zu kompensieren, dann erzeugt er den zentralen Selbstwiderspruch ›bürgerlicher‹ Öffentlichkeit: Das private ›bürgerliche‹ Gewissen kann nur gesellschaftlich relevant werden, wenn es öffentlich wird. Die Veröffentlichung macht es aber zum Politikum, entzieht ihm seine moralische Neutralität und hebt es auf, da ein öffentliches Gewissen nicht mehr ›in secret free‹ ist (vgl. Kap. I.3.2.e), sondern politisch instrumentalisiert wird: Das Statussymbol putativer moralischer Neutralität dient dann dazu, den gesellschaftlichen Rang ›bürgerlicher‹ Autorschaft aufzuwerten, sie als Gegenkraft zur amoralischen Politik zu installieren.130 130
Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Brief Stolbergs an Gleim: »Mit der Ostermesse sendet Ihnen Göschen ein Ey über welches meine Muse mehr als
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Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
Eine Passage in dem Dialog, den Sophron mit den Nachbarsjungen führt, bringt die hypokritische Dimension von Stolbergs Insel auf den Punkt. Der Jüngling Kallias ist so begeistert von den Wochenendgesprächen mit Sophron, dass er auch unter der Woche kaum noch an etwas anderes denken kann, als an den gemeinsamen Traum von der utopischen Insel. Sophron befürchtet, dass die Idealstaatsidee, von der die Gesprächsteilnehmer nur im geschützten Privatraum der unbewohnten Donauinsel träumen, öffentlich werden könne. Es entspinnt sich folgender Dialog: K ALLIAS : Ich habe in diesen acht Tagen mehr in unsrer Insel, als hier an der Donau zugebracht. SOPHRON : st! st! Saget es nicht an zu Gath! verkündigets nicht auf der Gassen zu Asklon! HILAROS : Wie so? SOPHRON : Weil es gewisse Leute giebt, die solche Ideen für sehr gefährlich halten. Bezahlte Sachwalter der wirklichen Welt, klagen sie jeden des Verbrechens der beleidigten Realität an, der sich nur Einmal einen Wunsch außer den bestrickenden Verhältnissen um uns her erlaubt. So wie es Hausherrn giebt, die auch der traulichen Schwalbe keinen Winkel im Gesimse ihrer Scheunen gönnen, wiewohl sie ihnen kein Körnchen entwendet […]: so dulden auch gewisse Ehrenmänner unschuldige Träume der Phantasie nicht; meinen, es thue solches alles ihren Gözen Abbruch; möchten gern eine Nachtigall aus dem Busch fangen, weil sie ihre Fröhnlinge einen Augenblick verführen könnte, auf der Sense zu ruhen. Solche Leutlein halten die keuschen
über irgend eines con amore gebrütet hat. Es heißt die Insel. Wenn Vater Gleim mir sagt daß er wohl Lust hätte sich zur kleinen Schaar der Einschiffenden zu gesellen, so wird mein Patriotismus für die Insel um vieles zunehmen. Da diese Insel ein Traum, u: ihre Bewohner in der großen Diaspora einzeln verstreut sind, ist es mir ein Wonnegedanke daß unter den hin u: hergestreuten denen ich von ganzer Seele ergeben bin, u: die auch mich Lieben, auch Vater Gleim sich befindet« (StBr 228: Stolberg an Gleim, 22.1.1788). – Stolberg konstruiert hier einen elitären Leserkreis, der sich durch eine bestimmte Lektüre der Insel über seine Zugehörigkeit zu einer Normengemeinschaft vergewissert. Wer Sophrons utopischen Traum lesend nachträumt, wird damit selbst zum utopischen Kolonisten und gesellt sich zur ›kleinen Schaar der Einschiffenden‹. Für diese kleine Schar bedeutet die Lektüre der Insel im übertragenen Sinne die Teilnahme an einer öffentlichen Versammlung Gleichgesinnter, die ihr moralisches Gewissen und ihr reines Herz in Widerstand zur amoralischen politischen Öffentlichkeit bringt. Über diese eingeweihte Rezeptionshaltung können sich also diejenigen, die glauben in einer solchen moralischen ›Diaspora‹ zu leben, darüber vergewissern, dass sie zusammen eine ›bürgerliche‹ Gegen-Öffentlichkeit repräsentieren. Stolbergs Brief führt damit anschaulich vor Augen, dass ›Bürgertum‹ sich im 18. Jahrhundert nicht als soziale Schicht verstand, sondern als literarisch und publizistisch erzeugte Fiktion einer moralischen Öffentlichkeit, deren konkrete Teilnehmer sich über verschiedene soziale Schichten verstreuten. – Zudem kann man an diesem Brief den Unterschied zwischen Stolbergs Literaturpolitik und Wielands selbstreflexiver Aufklärung studieren: Auch Wieland hat am 4.5.1772 einen Brief an Gleim geschrieben und erklärt, wie er seinen utopischen Entwurf des Naturkinder-Tals aufgefasst wissen will. Im Unterschied zu Stolberg rät Wieland Gleim jedoch davon ab, seinen utopischen Entwurf als literarische Chiffre zu missverstehen, anhand derer sich eine bestimmte Lesergruppe erbauen und darüber vergewissern könne, schon im Besitz des moralischen Statussymbols gemäßigter Lebensführung zu sein (vgl. Kap. II.3.3.d).
3. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: ›Die Insel‹
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Musen für gefährliche Sirenen […]. Einen Mann, der solche Träumereien, wie sie sie nennen, der lieben Jugend mittheilt, halten sie für einen Störer der Ruhe, der gleich dem Ratzenfänger von Hameln die Kinder durch süße Töne verführt. (In. 130f.)
Wie das Ich der Vorrede deklariert auch Sophron seine Idealstaatsideen zu ›unschuldigen Träumen der Phantasie‹, die sich einer ›keuschen Muse‹ verdanken. Aus der Figurenperspektive stimmt dies, denn Sophron ist sichtlich bemüht, seine Träume nicht öffentlich zu instrumentalisieren, ihnen ihre ›Unschuld‹ zu belassen, von ihnen nur im privaten Schutzraum der Donauinsel zu sprechen, sie ansonsten aber geheim zu halten. Stolbergs gedruckter Roman macht sie jedoch öffentlich und zwar mit dem ästhetischen Kalkül, dass die Literarisierung der privaten Träume ihnen ihre Unschuld nimmt, ihr Gefahrenpotential aktiviert und das Medium Literatur so als Instrument antiabsolutistischer und antirationalistischer Wirklichkeitskritik fungiert. Der Roman reflektiert dabei allerdings nicht, dass eine Veröffentlichung, also auch eine Literarisierung, die ›unschuldige‹ Moralität des privaten Gewissens gewissermaßen ›defloriert‹, indem es sie zum Instrument öffentlicher, an politische Partialinteressen gebundener Kritik macht. Just das Fehlen dieser Reflexionsebene unterscheidet Stolbergs Poetik von der selbstreflexiven Aufklärung Wielandscher Prägung. Die Insel zeigt den moralischen Traum vom Idealstaat als privates Geheimnis einer kleinen Personengruppe, zielt aber nicht auf eine eskapistische ›fluchtutopische‹ Leserreaktion, sondern versucht im Medium Literatur Wirklichkeitskritik zu üben. Dabei soll der inszenierte apolitische moralische Privatismus der dargestellten Idealstaatsidee Normcharakter verleihen und die unausgesprochenen politischen Implikationen der literarischen Wirklichkeitskritik verdecken. Der Vorredner der Insel stilisiert sich zum Statthalter eines tugendhaften Traums und moralischen Gewissens, im Namen derer er die Wirklichkeit kritisiert. Jene anthropologischen Vorbehalte gegenüber der Idee moralischer Souveränität, die von Aufklärern seit der Jahrhundertmitte verstärkt formuliert werden, fallen bei Stolberg aber fast gänzlich unter den Tisch. Die Frage danach, wie denn Tugendhaftigkeit und Gewissen möglich sein soll, wenn man die Vernunft in Abhängigkeit vom Körper und seinen Leidenschaften denkt, blendet Stolberg aus und nimmt stattdessen moralische Neutralität für den empfindsamen Autor schlichtweg in Anspruch. Im Unterschied zu Stolberg zeigen sich Wieland und später die Frühromantiker besonders sensibel für jene Hypokrisie, die in dem quasi-dogmatischen literarischen Anspruch auf die Idee moralischer Neutralität liegt. Statt das Paradox einer privat-empfindsamen Moral zu produzieren, die im Medium Literatur öffentlich und damit implizit auch politisch wird, verbindet die Poetik der selbstreflexiven Aufklärung und der Frühromantik der Versuch einer ästhetischen ›Arkanisierung‹ der Idee des reinen Gewissens und Herzens. Verstehbar als Reaktion auf die Hypokrisie von Aufklärung und Empfindsamkeit, inszenieren sie moralische Souveränität nicht als Geheimnis ›bürgerlichen‹ Privatlebens, das im Medium Literatur öffentlich gemacht wird, sondern entwickeln ästhetische Strategien,
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Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
die die Idee des reinen Herzens als etwas zeigen, das überhaupt nur als poetisch verschleiertes Geheimnis kommuniziert werden kann. Mit Literatur wird der Leser bei Wieland und den Frühromantikern nicht über die Wahrheit moralischer Souveränität im poetischen Bild ›bürgerlichen‹ Privatlebens vergewissert, sondern mit poetischen Mitteln dazu stimuliert, die Wahrheit dieser moralischen Idee in seiner privaten Lebenspraxis überhaupt erst zu erweisen.
3.4 Donauinsel im Oberlauf: Raumsemantik und Perfektibilitätsidee Die Überblendung der erzählten Privatheit gemeinsam ›phantasierender‹ Figuren mit der öffentlich-politischen Textfunktion des gedruckten Romans prägt auch dessen Raumsemantik: Dass eine Donauinsel als jener Ort fungiert, an dem die Romanfiguren gemeinsam von einer fernen utopischen Insel träumen, ist wohl die zentrale gattungsgeschichtliche Innovation der Insel. Diese Raumaufteilung suggeriert, dass der Traum von der utopischen Insel innerhalb der bestehenden Verhältnisse selbst eine ›insulare‹ Dimension besitzt: Mit der Idee von einem Idealstaat schlägt man keine ›Brücken‹ zur Erfahrungswirklichkeit und liefert keine Anknüpfungspunkte für eine allmähliche Reform der bestehenden Gesellschaftsstrukturen, sondern diese Idee gleicht dem Rückzug auf die von öffentlichem Diskurs isolierte ›Insel‹ privater Gedankenspiele. Dass das gattungsgeschichtlich singuläre Narrativ eines utopischen Insel-Traums, dessen Erzählbarkeit sich an den isolierten Privatraum einer Donauinsel bindet, Stolbergs Roman in der älteren Forschungsgeschichte den Ruf eingebracht hat, mit Literatur zu Privatismus und Eskapismus anzustiften, ist oben erörtert und kritisch hinterfragt worden. Auch die raumsemantische Gestaltung der Donauinsel selbst macht eine Differenzierung dieser alten Fluchtutopie-These notwendig. Keineswegs beliebig ist nämlich, dass die Insel, auf der die Gesprächsteilnehmer sich über ihren gemeinsamen utopischen Traum verständigen, im schwäbischen Oberlauf der Donau liegt. Die semantische Motivierung dieses Naturraums leistet Sophron, indem er sich gegen die Spötteleien La Rivieres wehrt, für den der Donau-Oberlauf im Vergleich mit der französischen Rhône, Loire und Garonne keine wirklich legendenfähige Aura besitzt. Sophrons Gegenargument geht so: [S]pottet des Riesenknaben in der Wiege nicht! Du hast den Jüngling in Wien, ich habe den Mann da gesehen, wo er wie ein Titan mit den Wogen des schwarzen Meeres kämpft! Hier freue ich mich seines freundlichen Lächelns. Siehe wie die beiden Ufer so schön sind! Hier die Weinberge, dort unter hohen Pappeln der Mühlenbach […]! Oft auch seh’ ich den wachsenden Wogen im Geist, von jener Seite der Insel, bis an die Mündung des Stromes nach! Welcher Fluß rollet, wie dieser, seine Wasser der aufgehenden Sonne entgegen? – Deine Garonne, sagte Hilaros, läuft vor ihr, und stürzet sich, ohne Zweifel mit viel Geräusch, aber fliehend ins Meer. (In. 19f.)
Die geographische Lage der Donauinsel wird hier mit Perfektibilitäts-Semantik und Wachstumsmetaphorik konnotiert. Der kleine verschwiegene Kreis von Utopisten trifft sich nicht in der Isolation einer statischen Natur, sondern auf der
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Insel im Oberlauf eines Flusses, der mehrere tausend Kilometer flussabwärts ins Meer mündet. In ihrem Oberlauf gleicht sie einem ›Riesenknaben in der Wiege‹, ist bei Wien schon im Jünglingsalter, reift dann rasch zum Mann und repräsentiert in ihrem Mündungsdelta das Ideal des freien und mutigen Adeligen, wenn sie ›wie ein Titan‹ mit den Wogen des Schwarzen Meeres kämpft. Den Keim zum Titan trägt die Donau in ihrem Oberlauf jedoch bereits in sich. Die Raumsemantik von Stolbergs Roman verleiht also dem prima vista eskapistischen Bild von der isolierten Privat-Insel utopischer Träumer eine geschichtsphilosophische Dimension: Die utopische Idealstaatsidee firmiert in der Gegenwart zwar nur als privater Traum weniger, ist aber – so suggeriert es die Raumsemantik – Teil einer Entwicklungstendenz, die sich wortwörtlich im Fluss befindet. Gegenwärtig steckt sie noch in den Kinderschuhen, muss noch im privaten Kreis einer ›Familie‹ von Utopisten gehütet werden. Aber schon jetzt gleicht sie einem ›Riesenknaben in der Wiege‹, der sich irgendwann ins ›Meer‹ einer freien Öffentlichkeit ergießt. Auch die Eigennamensemantik im Falle von Sophrons Freund La Riviere gibt zu verstehen, dass die Flussmetaphorik für die Textbedeutung insgesamt eine zentrale Rolle spielt. Die metaphorische Formulierung der geschichtsphilosophischen Hoffnung auf eine moralischere Zukunft begegnet häufig in Stolbergs Texten und nicht selten wird sie im Bild vom Strom wachsender Freiheit artikuliert. Ein Stichwortgeber dafür war fraglos Goethes Gedicht ‹Mahomets› Gesang, das Stolberg aus dem Göttinger Musen-Almanach von 1774 kannte und in dem das Bild eines Gebirgsbaches entworfen wird, der sich mit anderen Bächen ›verbrüdert‹, anschwillt und schließlich als mächtiger Strom dem Ozean zufließt. So gehören der Fluss und das Meer seit den Hainbund-Jahren zu Stolbergs zentralen poetischen Bildern, etwa im Freiheitsgesang aus dem zwanzigsten Jahrhundert, wo der anschwellende Freiheitsstrom die Throne der Tyrannen mit sich reißt.131 Stolberg kombiniert die Strom-Metapher im Freiheitsgesang zudem mit dem Bild der aufgehenden Sonne, das auch in der Raumsemantik der Insel einen zentralen Stellenwert besitzt. In Anspielung auf Jesajas bildliche Messiasverheißung als Aufgang der Sonne über denen, die da wohnen im finstern Lande (Jes 9,1), eröffnet den Freiheitsgesang eine Anrufung der Sonne und die Aufforderung, mit ihrem Licht bald die Nacht der Völker zu beenden. Literarische Sonnenaufgangsbilder sind keine Seltenheit im 18. Jahrhundert132, besitzen aber in Stolbergs Arsenal poetischer Bilder ebenso wie die Flussmetaphorik einen besonders zentralen Stellenwert, weil sich damit in Form einer Naturpoesie, die in der biblischen Bildtradition wurzelt, die geschichtsphilosophische Hoffnung auf eine moralischere Zukunft artikulieren lässt.133 Implizit wird damit die naturpoetische Beschwörung des Sonnenaufgangs immer auch als politische Kritik an jenen sozialen 131 132 133
Vgl. Wichelhaus (1991), 129ff. Vgl. Engel (2008). Vgl. auch Stolbergs Ode An Lavater (1786): »Ach, Hüther, Hüther! ist sie bald aus,
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Gruppen instrumentalisiert, die aus Sicht Stolbergs für die ›Umnachtung‹ und den ›Tiefschlaf‹ der Welt verantwortlich sind. Signifikanterweise endet die Insel denn auch in großer pathetischer Geste, nämlich mit dem Hymnus Feier der Schöpfung aus der Feder Sophrons: Die Inselbewohner versammeln sich vor Sonnenaufgang auf einem Berg und besingen in einem generationenübergreifenden Wechselgesang, den ihnen die Begeisterung des unmittelbaren Erlebens eingibt, die Naturszenerie des Sonnenaufgangs als naturmythisch lesbares Bild für Gottes Schöpfungsakt und für die Ausschüttung göttlicher Liebe in die Welt. Der Sonnenaufgang im finalen Schöpfungshymnus setzt damit den Kontrapunkt zur ›nächtlichen Lampe‹ der Weltweisheit, gegen die das Vorrede-Ich polemisiert. Während das Licht der Vernunft gerade einmal den Schreibtisch des Philosophen erhellt, vermag es allein das Sonnenlicht der Religion, die Welt aus ihrer ›Umnachtung‹ zu befreien. In Anbetracht des zentralen Stellenwerts, den Sonnenaufgangsbilder in Stolbergs Poetik besitzen, ist es alles andere als beliebig, dass Sophrons Insel in der Donau liegt, also in einem Fluss, der in Deutschland entspringt und nach Osten fließt, der aufgehenden Sonne entgegen und nicht vor ihr ›fliehend‹, wie die französische Garonne. Diese Semantisierung der Donauinsel lässt sich als ästhetischer Versuch verstehen, die räumliche Statik, die die zweigeteilten Textwelten der frühneuzeitlichen Utopia-Tradition auszeichnet, zu dynamisieren: Zunächst einmal versucht Stolberg, wie schon Wieland, den utopischen Entwurf nicht mehr wahrscheinlich zu erzählen, indem utopische Insel und europäische Erfahrungswirklichkeit vom Erzählkontinuum einer narrativen Ebene umschlossen werden, sondern die Seereise auf die Insel geschieht auch fiktionsintern nur als Phantasiereise einer kleinen Gruppe von Romanfiguren. Die textweltliche Zweiteilung zwischen Insel und Festland wird bei Stolberg zusätzlich dadurch verkompliziert, dass er sie auch auf jene sozialen Räume überträgt, die den Traum von der utopischen Insel ermöglichen bzw. ausschließen: Die Sphäre ›bürgerlichen‹ Privatlebens gleicht einer Insel, auf der man noch von einer utopischen Insel träumen kann, das ›Festland‹ der politischen Öffentlichkeit fordert vom Einzelnen dagegen antiutopische politische Klugheit und Pragmatismus. Die basale räumliche Opposition von Stolbergs Roman besteht nicht zwischen Erfahrungswirklichkeit und utopischem Entwurf, sondern zwischen privater und öffentlicher Sphäre. Der daraus abgeleitete Vorwurf des Privatismus, der in der älteren Forschung zum Ausdruck kommt, lässt sich allerdings auch mit Blick auf die Raumsemantik der Donauinsel nicht aufrecht erhalten. Die Moralität ›bürgerlichen‹ Privatlebens und der hier wurzelnde Traum von Freiheit und Humanität wird zwar von der statischen Innerlichkeitsmetapher einer isolierten unbewohnten Insel repräsentiert, aber – und das ist die entscheidende Bedeutungsnuance – von einer Insel in einem Fließgewässer. Die im privaten utopischen Träumen zum Ausdruck komdie Nacht! / Ich rief es zagend; siehe! da strahlet’ es, / Und rief mit Gottes Stimme: Selig, / Welche nicht sehen, und dennoch glauben« (GW II, 2).
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mende Moralität ist also der Beginn einer ›im Fluss‹ befindlichen geschichtsphilosophischen Tendenz. Die private Moral utopischen Hoffens wird, wie die Donau auf ihrem Weg nach Osten, immer weiter an Kraft gewinnen, in ferner Zukunft in die Sphäre der politischen Öffentlichkeit eindringen und die absolutistische Trennung zwischen privat und öffentlich, zwischen Moral und Politik aufsprengen. Dann wird die ›Umnachtung‹ der Welt und der ›Tiefschlaf‹ der Völker ein Ende haben, die Sonne der Freiheit und der göttlichen Liebe aufgehen und jeder Einzelne ein beherzter und empfindsamer Titan sein, wie die Donau in ihrem Mündungsdelta. In Kombination mit dem Bild des Sonnenaufgangs am Romanschluss enthält diese geschichtsphilosophische Hoffnung auch die politische Warnung an den amoralischen Absolutismus, dass er in Zukunft mit der öffentlichen Wirksamkeit privater ›bürgerlicher‹ Moral rechnen muss. Die Kampfansage an den europäischen Absolutismus, die Stolbergs Hainbund-Lyrik noch vergleichsweise unverhohlen artikulierte, wird in der Insel in poetische Bildsprache übersetzt. Dabei versucht der Roman mit der geschichtsphilosophischen Semantisierung von politisch-neutralen Naturszenarien wie der Donau und dem Sonnenaufgang jedoch gerade zu überspielen, dass die Idee privater moralischer Perfektibilität im Medium Literatur als öffentliche Absolutismus- und Rationalismuskritik politisch instrumentalisiert wird. In der affirmativen Art und Weise, wie Stolbergs Insel mit der aufklärerischen Idee moralischer Perfektibilität verfährt, steht der Roman eher Merciers L’An 2440 nahe, als den Utopie-Zitaten bei Wieland. Die Raumsemantik der Donauinsel, auf der Sophron im kleinen Kreis seine Ideen kundtut, versucht glauben zu machen, dass der utopische Traum von einer Gemeinschaft tugendhafter Individuen im Laufe eines moralischen Fortschrittsprozesses tatsächlich möglich sei, ähnlich wie bei Mercier, der die Erfahrungswirklichkeit und die Idee einer moralischeren Zukunft innerhalb eines zeitlichen Kontinuums inszeniert. Beide Autoren literarisieren also mit einem utopischen Entwurf die Idee moralischen Fortschritts. Frank Baudach hat gezeigt, dass das anthropologische Konstrukt moralisch perfektibler Menschen bei Stolberg allerdings nicht über Grundaxiome der frühaufklärerischen Metaphysik wie die große Wesenskette hergeleitet wird, sondern über das positive Menschenbild des Pietismus, das sich von der orthodoxen lutherischen Erbsündenlehre in der Annahme unterscheidet, die menschliche ›natura corrupta‹ könne durch persönliche Glaubensbemühungen tendenziell überwunden werden.134 Im Bild der utopischen Insel artikuliert Sophron seine Hoffnung auf die »Erziehung eines neuen Menschengeschlechts« (In. 36). Ausgangspunkt dieses Erziehungsprozesses sollen keine schon fertigen utopischen Gutmenschen sein, sondern erfahrungsweltliche Individuen, die sich zwar nicht durch vollkommene Tugendhaftigkeit auszeichnen, aber durch die basale Anlage
134
Vgl. Baudach (2002), 167–172.
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Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
zu moralischer Souveränität, die ihr christlicher Glaube legt: »Ungläubigen, Spinozisten [und] Atheisten« (In. 57) bleibt die Partizipation an der utopischen Gemeinschaft verwehrt. Die institutionellen Einrichtungen der utopischen Insel erfüllen allesamt die Aufgabe, den Funken christlicher Sittlichkeit im Herzen ausgewählter Individuen am Glimmen zu halten, ihre moralische Souveränität zu bilden und emotional zu stabilisieren: Wir müßten, so sehr das Menschen möglich ist, fromme, von allem Hurenschmuck falscher Weisheit entkleidete, nur mit dem Feigenblatt der Schamhaftigkeit gezierte Sittenreinheit mitbringen; müßten jedes ihr drohende, auch nur zweideutige Lüftchen, von uns und unsern Nachkommen, wie verderbenden Pesthauch, zu entfernen suchen. (In. 44f.)
Nach den von Wieland bekannten Mustern wird auch auf Sophrons utopischer Insel Kultur, d. h. vor allem die Luxus- und Buchproduktion drastisch reduziert, so dass die Sittenreinheit der ausgewählten Insulaner nicht durch Überzivilisierung zerstört wird. Götz Müller verweist zudem darauf, dass es sich bei dem heiteren Osterfest (In. 108f.), das Sophrons utopische Insulaner feiern, um eine »bloße Auferstehungsfeier«135 handelt, die ohne die Passion Christi und den Karfreitag auskommt: Wenn tendenziell jeder einzelne durch Glaubensbemühung selbst in der Lage ist, »das Gold unsrer Natur von allen Schlacken, die es umgeben, [zu] säubern« (In. 46), dann bedarf es keiner christlichen Soteriologie mehr, der zufolge Christus stellvertretend die Welt von ihren Sünden erlöst. Zwar räumt Sophron ein: »Die Wurzeln menschlicher Begierden können wir nicht aus menschlichen Herzen reißen« (In. 126), weshalb es auch auf seiner utopischen Insel Justiz und Strafgesetzgebung gibt, jedoch könne man durch »Reduktion des kulturellen Entwicklungstandes«136 verhindern, dass die menschlichen Begierden ausbrechen und der Tugend gefährlich werden. Um das ›Gold unserer Natur‹ zu läutern, muss vor allem die Macht des rationalen Verstandes beschnitten werden, der die sittliche Einfalt gefährdet, weil er »unmäßige Wißbegierde« (In. 121) und mithin immer neue Bedürfnisse evoziert: »Wollen wir reisen, so müssen wir viele Kenntnisse mit uns aussterben lassen, wie wir ein Licht, das uns geleuchtet hat, den Morgen auslöschen, damit es unser Haus nicht anzünde« (In. 78). Auch die ›philosophischen Ärzte‹ der Spätaufklärung sind Sophron ein Dorn im Auge, denn ihre unentwegte Beschäftigung mit den Krankheiten der menschlichen Natur treibe diese wohlmöglich erst hervor. Höre man hingegen auf, unentwegt über das Konstrukt menschlicher Erbsünde und ihre säkularen Varianten zu räsonieren, dann könnte man sie vielleicht sogar überwinden: Wären wir durch die Unbekanntheit mit allen Krankheiten, welche Fülle des Bauches, schändliche Begierden, getäuschte Hofnung des Ehrgeizes, hofnungslose gegenseitige Liebe, übertriebne Anstrengung des Geistes, Sorgen des Geizes, auf der einen Seite;
135 136
G. Müller (1989), 138. Baudach (2002), 168.
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Hunger, Blöße, Unterdrückung, das ganze Gefolge niederschlagender Ungleichheit auf der andern Seite, hervorbringen; nicht gesunder, als durch die ganze medizinische Wissenschaft […]? (In. 122)
Solche Polemik gegen die ›philosophischen Ärzten‹, die die moralischen Krankheiten des Menschen unentwegt diagnostizieren, ohne sie zu heilen, kennen wir schon aus Wielands Diogenes. Wieland formuliert damit allerdings eine Mahnung zu aufklärerischer Bescheidenheit und verweist auf die Selbstgerechtigkeit aufklärerischer Kritik, die ein moralisches Gewissen für sich reklamiert und dessen Fehlen bei anderen einklagt, ohne die lebenspraktischen Schwierigkeiten moralischer Souveränität zu reflektieren. Hinter der Polemik gegen die ›philosophischen Ärzte‹, die Stolbergs Protagonist Sophron formuliert, verbirgt sich indes ein vergleichsweise unkritischer Glaube an die Tugendhaftigkeit des Christenmenschen und an sein moralisches Perfektibilitätspotential, das die gelehrte »Hypochondrie« (In. 121) ›philosophischer Ärzte‹ verschütte. Den utopischen Traum von der humanen menschlichen Natur zu träumen, heißt für Sophron dagegen, dieses moralische ›Gold der menschlichen Natur‹ zu läutern, die Idee der nach Osten fließenden, immer weiter anschwellenden Donau im eigenen Herzen zu entdecken und so der Erbsünde ein Schnippchen zu schlagen. Im Unterschied zu Wielands Diogenes blendet Stolbergs Sophron dabei die Instabilität und Gefährdung menschlicher Tugendhaftigkeit weitestgehend aus: Nicht die innere anthropologische Disposition des Menschen verhindert seine moralische Perfektibilität. Schuld an der mangelhaften Durchsetzung der Tugendidee tragen stattdessen die äußeren Rahmenbedingungen der Erfahrungswirklichkeit, nämlich der empfindsamkeitsfeindliche Rationalismus und der moralfeindliche Absolutismus. Zu dem Versuch, den Leser mit semantisierten Naturszenarien über den Zusammenhang zwischen moralischer Perfektibilität und natürlich-empfindsamer Einfalt poetisch zu vergewissern, gehört auch die inszenierte schwäbische Landschaft, in der die Donauinsel liegt. Sophron beschreibt sie als Agrarraum vor dem Beginn gesellschaftlicher Ausdifferenzierung, als ein Bild angehaltener Modernisierung. Weinberge und Getreidemühlen prägen die Donauufer: »Hier die Weinberge, dort unter hohen Pappeln der Mühlenbach« (In. 19f.). Das ist fraglos ein stilisiertes Naturszenario, das bestimmte Assoziationsketten beim Leser aufzurufen versucht: Weinbau und Getreideverarbeitung stehen schon seit der Antike für eine Kultivierung der Natur, bei der Mensch und Natur nicht voneinander entfremdet werden. Vielmehr verhelfen die menschlichen Kulturtechniken des Wein- und Getreidebaus den Kräften der Natur überhaupt erst zu ihrer Wirksamkeit. In der antiken Mythologie stehen denn auch Bacchus und Ceres für die Kultivierung der Naturkräfte. Mit Brot und Wein auf dem Abendmahlstisch erfährt diese antike Mythisierung der Natur eine christliche Reaktivierung und Transformation. Sophrons Donauinsel liegt demnach, metaphorisch gesprochen, mitten in einer ›eucharistischen Landschaft‹. Über den stilisierten schwäbischen Naturraum verleiht der Roman dem utopischen Traum auf der privaten Donauinsel den Charakter einer himmlischen Offenbarung. Sophrons utopischer Ent-
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wurf gilt nicht mehr nur als subjektive soziale Phantasie, sondern scheint im Sinne eucharistischer ›Realpräsenz‹ schon eine Ahnung vom Aufgang der Sonne im Osten, vom eschatologischen Anbruch der Gottesherrschaft auf Erden zu vermitteln. Diese beginnt sozusagen überall dort, wo man im kleinen privaten Kreis Gutes bewirkt und den Traum tugendhaften Lebens weitersagt.
3.5
Ambivalenter Wahrheitsstatus: Die Insel-Utopie als poetische Offenbarung oder fiktiver Traum?
Stolbergs Roman inszeniert seinen Protagonisten Sophron nicht nur als jemanden, der einigen Nachbarsjungen seine utopischen Phantasien mündlich erzählt, sondern im zweiten Romanteil auch als Autor literarischer Fiktionen. Allerdings stilisiert Sophron selbst seine mündlich erzählten Träume und seine schriftlichen Texte zum Resultat ›himmlischer‹ Begeisterung, verhilft Stolbergs poetologischem Ideal des inspirierten Dichters also zu literarischer Gestalt. Es fällt jedoch auf, dass die Sophron-Figur einen entscheidenden Aspekt von Stolbergs Inspirationspoetik (vgl. Kap. III.3.1) gerade nicht aktualisiert, nämlich die Verbindung von enthusiastischer Dichtung und öffentlicher Wirksamkeit, von Poesie und politischem Handeln. Sophron ist Privatier, der zusammen mit La Riviere das Erbe von Numa aufzehrt, dem gemeinsamen Großvater ihrer beiden Frauen. Er geht keinem Beruf nach, sondern tut in bescheidenem Rahmen und im kleinen Kreis mit dem großväterlichen Erbe an Waisen, Witwen und Kranken Gutes (In. 15f.). Zudem ist er sichtlich bemüht, seine Phantasie von der utopischen Insel als Privatangelegenheit verstanden zu wissen. Bei Sophron handelt es sich also nicht um einen Repräsentanten von Stolbergs Ideal des cholerisch-empfindsamen Dichters, der den Mut besitzt, mit seinen ›himmlisch‹ inspirierten Texten auch öffentlich zu wirken. Ganz anders liegt die Sache jedoch im Fall jener Dichtung, die Sophron sich auf seiner erträumten utopischen Insel vorstellt: Diese utopische Inselpoesie kennt nur noch eine Gattung, nämlich die Lyrik. Drama und Epos finden im insularen Formenkanon keinen Platz, zum einen, weil der Beruf des Schauspielers, der Tragödien oder Komödien aufführt, mit der ›edlen Einfalt‹ der Insulaner unverträglich ist, zum anderen, weil das ›sanfte Glück‹ der Insulaner keinen für ein Nationalepos notwendigen, zweideutigen Stoff biete (In. 144). Sophrons Insel ist also ein »Utopia für Lyriker«137. Maßgebliches Kriterium dieser insularen Lyrik soll ihre Sangbarkeit sein. Lyrik fungiert nicht als Medium zum Ausdruck subjektiv-privaten Empfindens, sondern als Element einer multimedialen öffentlichen Liturgie, einer ›Urpoesie‹ im Sinne Herders: »Statt der Schauspiele würden wir öffentliche Reigen haben, welche Gesang und Musik, oft auch mit beiden den Tanz, vereinigten« (In. 145). Poesie entspricht auf Sophrons utopischer Insel
137
Fetscher (1966).
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nicht einem entdifferenzierten sprachlichen Refugium, in dem sich das Humanitäts- und Freiheitsideal eines moralischen Privatlebens in seinem Unterschied zur Amoralität der politischen Öffentlichkeit formulieren lässt, sondern sie ist elementarer Bestandteil öffentlicher Gesinnungsbildung. Vorbildcharakter für diese Funktion von Poesie hat für Sophron die dorische Feldmusik, bei der es gerade nicht darum geht, die Sinne, wie die lärmende Trommel, zu betäuben, […] sondern ihr Zweck war, die Seelen der Streiter mit erhabnen Empfindungen, mit Liebe des Vaterlandes, mit Gedanken an ihre Weiber, Kinder und Gräber der Väter, mit Verachtung des Todes, zu erfüllen. Eine solche Musik sollte nicht vergessen machen, sie sollte erinnern! (In. 147f.)
Öffentlich instrumentalisierte Poesie, bei der Worte in ihrer Wirkung »männliche[r] Feldmusik« (In. 133) ähneln, dient auf Sophrons Insel der Bildung und Pflege einer titanischen Gesinnung, also einer Lebenshaltung, die dem Ideal des freien Adeligen entspricht und die empfindsames Herz und männlichen Mut vereint. Auf der utopischen Insel besitzt Poesie diverse öffentliche Funktionen, Dichten impliziert aber in jedem Fall eine aktive Beteiligung an der öffentlichen Gesinnungsbildung des insularen Gemeinwesens: Bei uns [auf der utopischen Insel] würden naturbesingende Dichter erwachen, welche nicht mit dem Pinsel der Dichtkunst nachahmen, sondern mit dem Zauberstabe schaffender Poesie jeden Gegenstand beleben, jede Erscheinung in Handlung und That verwandeln würden! (In. 140)
Öffentlich eingesetzt wird Dichtung vor allem an Sonn- und Feiertagen, die mit einem abendlichen Fest beschlossen werden, bei dem auch Poesie vorgetragen wird: Jünglinge, Männer oder Greise, in deren Herzen die heilige Flamme der Begeistrung steiget, sagen hier ihre Gesänge her. Ihnen lauschet jedes Alter. Gegen Abend, wenn kühlere Lüfte zu wehen beginnen, werden die männlichen Einwohner des Dorfs von geschmückten Jungfrauen eingeladen. Nun ist die ganze Gemeine versammelt. Den Alten lacht das Herz, indeß Söhne und Töchter, Enkelinnen und Enkel sich ergözen in freiem kunstlosen Tanz. Ins Herz strömende Musik belebt ihn; Musik, lebendig, sittsam und warm, wie die Lebensgeister einer keuschen Jungfrau; Musik beseelet vom Geiste der edlen, einfältigen Poesie. Ungesehen würde die erste Liebe den Jüngling und die Jungfrau berühren mit ihrem leisen Stabe, Liebe, der Schönheit zugeleitet, an der Unschuld Hand! (In. 105f.)
Poesie und Musik haben also wesentlichen Anteil an der emotionalen Stabilisierung der jungen Insulaner in der für ihre Moral gefährlichen Phase der Adoleszenz und der erwachenden Sexualität. Das gegenseitige Kennenlernen vollzieht sich in einem poetisch-musikalisch gestalteten Rahmen, so dass die Liebe zwischen Mann und Frau aus der Liebe zur Schönheit erwächst und zwischengeschlechtliche Liebe daher schon von Anfang an so empfindsam, unschuldig und sittsam ist wie die Inselpoesie.
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Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
Auch um andere Bereiche des öffentlichen Lebens zu organisieren, wird Poesie instrumentalisiert. So müssen alle Jünglinge im 23. Lebensjahr für eine begrenzte Zeit in den insularen Bergwerken arbeiten, zum einen um den öffentlichen Bedarf an Bodenschätzen zu decken, zum anderen um ihre Männlichkeit zu entwickeln. Um den Jünglingen diese entfremdete, aber notwendige Arbeit schmackhaft zu machen, stilisieren die Männer und Greise die Hochgebirgslandschaft, wo die Eisenminen liegen, mit Erzählungen und Liedern zum »Wunderlande« (In. 83), in dem man Heldentaten vollbringen könne. Auch bei der Vermittlung der Gesetzgebung kommen poetisch-klangliche Verfahrensweisen zum Einsatz, wichtige Gesetze »werden in rythmische Form gebracht, und von der Jugend auswendig gelernet« (In. 73). Ohnehin dominiert Oralität die mediale Verbreitung von Poesie, was auch die Privilegierung lyrischer Formen erklärt, bei der Klang und Reim die Merkbarkeit und mithin die mündliche Tradierung erleichtern. Auf der utopischen Insel gibt es nur eine sehr eingeschränkte Papierproduktion, damit kein Übermaß an Dichtung produziert wird und außer der Bibel kein Schrifttum entsteht, das die insulare Einfalt depravieren könnte. Echte insulare Dichtung verdankt sich ausschließlich spontaner ›himmlischer‹ Begeisterung, wird also nicht neu geschaffen, sondern reproduziert. Eine nachträgliche Verschriftlichung könnte den poesiekonstitutiven Moment der Begeisterung ohnehin nur notdürftig rekonstruieren und müsste daher die ursprüngliche Ausdruckskraft der enthusiastischen Inspiration verfehlen, denn »[w]ir wissen nicht, was die Kraft der Poesie im Dichter eigentlich sei; der Dichter selbst weiß es nicht« (In. 138). Zudem ist das Konzept einer insularen Inspirationspoesie gänzlich unverträglich mit jeder Form von Epigonentum, denn »der wahre Dichter leidet Gefahr, durch Lesung andrer Dichter etwas von seiner Größe, von seinem Charakter, seinem wahren Ich, zu verlieren« (In. 136). Die Entstehung einer ›Offenbarungspoesie‹, die sich keiner vorgefertigten kulturellen Muster bedient und die ›himmlische‹ Begeisterung daher weniger verfälscht, sondern in originären Ausdrucksformen vermittelt, wird auch durch sprachpolitische Regelungen begünstigt: Die Insulaner sprechen nicht deutsch, sondern italienisch, zum einen weil es sich hier um eine noch lebendige Sprache handelt, die für die Sprecher im milden Klima der utopischen Insel besonders geeignet ist, zum anderen weil die deutschen Kolonisten diese Sprache nur halb kennen. Mit einer schon fertig gebildeten Muttersprache würde man »eine zahllose Menge fremder Ideen« (In. 54) auf die utopische Insel importieren und die Einfalt ihrer Bewohner gefährden. Die auf einigen wenigen italienischen Anleihen basierende Inselsprache »müßte sich erst in einigen Geschlechtern unter uns und durch uns, und für uns, umbilden« (In. 54). Verglichen mit diesem hypothetischen Ideal einer Inselpoesie versteht Sophron seine eigene Dichtung im zweiten Romanteil jedoch als defizitär: [E]r war weit davon entfernt, diese Gedichte als ächte Proben von jener einfältigen und edlen Inselpoesie anzusehen, deren Ideal er so groß gefaßt hatte. Höchstens, sagte er, sind es Blumen, aus dem milderen Boden der Insel auf die rauhe Veste verpflanzt; (In. 152)
3. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: ›Die Insel‹
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Diese Deklassifizierung der eigenen dichterischen Produktion gegenüber seinem Ideal der Inselpoesie erklärt sich daraus, dass Sophron mit seiner Dichtung nicht öffentlich agiert. In seiner Lebenspraxis beschränkt sich die Produktion und Verbreitung von Poesie ausschließlich auf die Sphäre von Familie, Freund- und Nachbarschaft, seine poetischen Träume sind ein Privatgeheimnis ohne Publikationsanspruch. Der Textperspektive zufolge liegt das nicht an seinen mangelnden dichterischen Fähigkeiten oder an seinem poetischen Understatement, sondern an den widerständigen Strukturen der Erfahrungswirklichkeit, die Poesie und die darin formulierte Idee moralischer Perfektibilität zur Privatsache degradieren. Dies geht aus Sophrons Bildungsgeschichte hervor, die am Romananfang erzählt wird: Sein Vater Eubulos war erster Minister bei einem deutschen Fürsten, wurde aber wiederholt das Opfer von Intrigen und schließlich ins Gefängnis geworfen. Paradoxerweise setzt ihn aber erst diese Inhaftierung in den Stand, seinem Sohn eine umfassende Erziehung angedeihen zu lassen und ihn bei dessen häufigen Gefängnisbesuchen zum Dichter zu bilden. Während seiner Berufstätigkeit »wurden ihm durch abgedrungene Verantwortungen seiner Verwaltung die Stunden der Muße geraubt«, so dass die Erziehung seines Sohnes »mehrentheils die Frucht der […] ruhigen Epochen seines Privatlebens« war (In. 4f.). Erst die erzwungene Beschränkung auf den Status eines inhaftierten Privatmannes erlaubt es Eubulos, die dichterischen Anlagen seines Sohnes auszubilden, indem er das Gefängnis in einen »Tempel der Musen« (In. 5) verwandelt. Die hier vom Roman angebotene Raumsemantik ist vergleichsweise plakativ und leicht als Kritik am Absolutismus und an der damit zusammenhängenden ausdifferenzierten Gesellschaftsform zu entschlüsseln: Durch die hohen Anforderungen der modernen Gesellschaft an berufliche Funktionsträger werden deren müßige Nebenstunden derart beschnitten, dass das Familienleben und die Kindererziehung darunter leiden und für eine wirksame Vermittlung von Humanitäts- und Sittlichkeitsvorstellungen durch elterliche Liebe nahezu keine Zeit mehr bleibt. In Sophrons Jugendgeschichte gipfelt dieses Dilemma in der überzeichneten Pointe, dass einem Vater die humanistische Erziehung seines Sohnes nur noch im Gefängnis gelingt, also nur dank der erzwungenen Exklusion aus allen sozialen Systemen. Das Schicksal seines Vaters Eubulos führt Sophron die Aussichtslosigkeit des Versuchs vor Augen, sich aus ehrlichem Patriotismus heraus beruflich am modernen absolutistischen Staat zu beteiligen.138 Die Vermittlung von Absolutismus und moralischer Perfektibilität scheitert zwangsläufig, so zeigt es die Handlung, 138
Carl Huth hat zuerst darauf hingewiesen, dass das Schicksal von Stolbergs Schwager Andreas Peter Graf von Bernstorff zum Vorbild für die Eubulos-Figur diente. Wie Sophrons Vater musste auch Bernstorff sein Amt als Minister am dänischen Königshof in Kopenhagen zweimal quittieren, nämlich 1772 und 1780, da er im Konflikt zwischen Holsteinismus und Danismus, zwischen dem deutschen Adel aus Holstein – zu dem Bernstorff gehörte – und Dänen wie Ove Høegh-Guldberg, das Opfer von Intrigen geworden war: vgl. Huth (1933), 22f. sowie Hempel (1997), 146.
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an der übermächtigen Amoralität der politischen Verhältnisse. Humanität lässt sich daher nur privat kommunizieren, z. B. im Medium elterlicher Liebe. Sophron zieht aus diesen Erfahrungen seines Vaters den Schluss, dass auch poetische Bilder von moralischer Souveränität und Humanität nicht öffentlich, sondern nur in der intimen Kommunikation mit Familie, Freunden oder Nachbarn fruchtbar vermittelt werden können. Für Sophron könnte Poesie lediglich in einem utopischen Staat öffentlich sein, der die Diskrepanz zwischen der Moralität des Privatlebens und der Amoralität der politischen Öffentlichkeit beseitigt hat. In der Erfahrungswirklichkeit bleibt nur die Hoffnung, dass die Anhängerschaft der Humanitätsidee durch ihr fortwährendes privates Weitersagen immer stärker anschwillt, so wie die Donau auf ihrem Weg gen Osten. Um vor seiner kleinen Zuhörerschaft die Wahrheit der Humanitätsidee zu bezeugen, obgleich sie in Form des poetischen Bildes von einer utopischen Insel vermittelt wird, gibt Sophron jedoch vor, schon in der Erfahrungswirklichkeit ›offenbarte Poesie‹ zu schaffen. Um seiner Humanitätsidee Gewicht zu verleihen, benutzt er das Muster der Musenanrufung, krönt sich also selbst zum inspirierten Offenbarungspoeten. Bevor er den Nachbarsjungen von seinem utopischen Traum berichtet, versäumt er nicht, diese auf die antike Vorstellung zu verweisen, dass Träume göttlichen Ursprungs seien: »Auch Träume kommen von Zeus ja! sagt Homer« (In. 28). Daneben entwickelt Sophron eine Art Privatmythos, indem er wiederholt behauptet, ihm sei auf der unbewohnten Donauinsel die Egeria, die römische Quell- und Geburtsgöttin, erschienen, die ihm seine poetischen Träume eingeflüstert habe (In. 16). Insbesondere die Idyllen und Hymnen im zweiten Romanteil seien das Produkt dieser Einflüsterungen. In den Parallelbiographien bei Plutarch ist Egeria die Geliebte des Numa Pompilius, jenes sagenhaften zweiten römischen Königs, der ebenso wie Sophron behauptet hat, sich von der Quellnymphe beraten zu lassen, um seine Anordnungen zu sanktionieren.139
139
Vgl. Plutarch (²1973), 49–93. – Die Konstellation Numa-Egeria beschäftigt Stolberg wiederholt und er zitiert sie schon in seinem Essay Ueber die Begeistrung als Beispiel für ›himmlische‹ Inspiration und Musenanrufung: vgl. Stolberg (1970), 38. Auch das Gedicht Die Quelle aus dem Jambenzyklus von 1784 erwähnt Numa und Egeria: Numa wird hier zum idealen Herrscher stilisiert, der die öffentlich-politische Würde des Thrones mit privater moralischer Weisheit vereint. Letztere findet er in der einsamen Natur eines Quell-Hains, wo die »Weisheit, in Egeria’s Gestalt, / Mit ihrem Nektar […] seinen Geist« tränkt und er zum »Seher Gottes« wird (GW III, 16). Hinter der Konstellation Numa-Egeria verbirgt sich bei Stolberg demnach seine bereits kritisch erörterte Idee, dass man sich in der Natur als moralisch souveränes Individuum erfahren und gerade emphatisches Naturerleben für den Eingeweihten zur ›Quelle‹ eines vollen Herzens werden könne (vgl. Kap. III.3.1): »Wohl dem, der an der Quell, im Schatten ruht, / Der Schatten ist kein Traum, die Quelle nicht, / Sie floß zu allen Zeiten überall, / Hier trüber, heller dort, hier schmal, dort breit, / Genährt vom Himmel und aus tiefem Schooß / Der heimlichen allnährenden Natur, / Und wo sie fleußt, da labet sie und stärkt / Den Trinkenden mit immer neuer Kraft. / Doch immer fanden sie nur wenige« (GW III, Die Quelle, 14). – In der Insel trägt der schwäbische Großvater von Sophrons Frau Psüche den Beinamen Numa, weil er charakterliche Ähnlichkeit mit dem sagenhaften römischen König besitzen soll. Von
3. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: ›Die Insel‹
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Der Erzähler der Insel hegt allerdings eine gewisse Skepsis gegenüber dem Topos der Musenanrufung und gibt Sophrons Behauptung nur konjunktivisch wieder: »In der That begleiteten ihn [Sophron] oft diese Ideen [der Humanität], wenn er einsame Stunden der Frühe auf seiner kleineren Donauinsel zubrachte; und in diesen Stunden soll ihm seine Egeria diese Gedichte eingegeben haben«140. Der Erzähler negiert Sophrons Behauptung, ›himmlisch‹ begeistert zu dichten, zwar nicht, geht aber merklich auf Distanz. In seiner Vorrede spricht er neutral von ›Träumen eines Wachenden‹, nicht aber von ›himmlisch‹ inspirierten Träumen. Zudem meldet sich im Incipit des Romans, zu Beginn der Rahmenerzählung von Sophrons Jugend- und Bildungsgeschichte, noch einmal das VorredeIch, nun allerdings als Erzähler, zu Wort und gibt sich als diejenige Instanz zu erkennen, die den künstlerischen Selektionsprozess steuert, dem das Romanganze sich verdankt: »Sophrons Vater, den ich Eubulos nenne, war einer von den wenigen Menschen, denen der Wunsch ganzer Länder einen Thron bestimmen würde […].«141 Offenkundig hat das Vorrede-Ich, das hier zum Erzähler wird, für die Romanfiguren bestimmte Namen erfunden, will also auch als Autor-Instanz verstanden werden, die keine wahre oder wahrscheinliche Geschichte erzählt, sondern eine literarische Fiktion, die sich seiner Erfindungsleistung verdankt. Dass außer dem Franzosen La Riviere sämtliche Romanfiguren gräzisierende Eigennamen tragen, obwohl es sich um deutsche Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts handelt, ist ein zusätzliches Textsignal, mit dem der Roman seinen eigenen Kunstcharakter, sein poetisches Gemacht-Sein anzeigt. Stolbergs Insel bietet demnach auf unterschiedlichen narrativen Ebenen zwei verschiedene Stellungnahmen zur Wahrheit des utopischen Entwurfs: Der Protagonist Sophron behauptet, sein utopischer Traum und die Idyllen über den utopischen Inselalltag seien Resultat göttlicher Inspiration. Er setzt also einen deutlichen Akzent auf die moralische Wahrheit des utopischen Entwurfs und überspielt dessen Fiktivität. Diese Akzentsetzung bindet er jedoch an eine intime Gesprächssituation, denn nach seiner Auffassung sollen ›himmlisch‹ inspirierte Träume in der Erfahrungswirklichkeit nur unter Gleichgesinnten kommuniziert werden. Das Vorrede-Ich, das im Roman als Erzähler auftritt, legt den Akzent hingegen auf den Traumcharakter des utopischen Entwurfs und auf den Kunstcharakter des Romans. Es ist allerdings diejenige Instanz, die Sophrons private ›Offenbarungspoesie‹ publiziert und zwar entgegen dessen explizitem Wunsch nach Geheimhaltung. Über die ironische Demutsgeste, mit der die Vorrede Sophrons
140 141
ihm erbt Sophron die Donauinsel, auf der ihm dann Egeria erscheint. Die Numa-Figur aus der Insel firmiert auch als Protagonist in Stolbergs gleichnamigem zweiten Roman, den er unmittelbar nach der Drucklegung der Insel zu schreiben beginnt, jedoch nie vollendet. Das Romanfragment wurde erst 1960 von Jürgen Behrens entdeckt: vgl. Hempel (1997), 149–156. In. 151 (Hervorhebung, M.L.). Ebd., 3 (Hervorhebung, M.L.).
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Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
Privatpoesie aus dem Mund der Nymphe Egeria öffentlich macht, verleiht sie dem utopischen Entwurf jedoch eine spezifische Funktion. Auf dessen fiktiven Traumcharakter wird hier nur aus Rücksicht auf die rationalistischen Philosophen und die absolutistischen Fürsten verwiesen, verbunden mit der Bitte sich an den Ideen von Schwärmern wie Sophron nicht zu stören, da dieser seine Träume ja lediglich im privat-intimen Gespräch als Offenbarung göttlicher Wahrheit ausgebe. Indem die Vorrede ironisch um Verständnis bei diesen beiden Lesergruppen wirbt, übt sie implizit jedoch Kritik an ihnen: Gerade Rationalismus und Absolutismus tragen die Schuld an der Fiktivität, d. h. an der Nicht-Wirklichkeit von Sophrons utopischen Träumen. Die gegen empfindsame Moral gerichtete, wirklichkeitsaffirmative Welthaltung des Absolutismus und des Rationalismus verhindere, dass die poetische Offenbarung von Humanitätsidealen und moralischen Gefühlen zur öffentlichen Gesinnungsbildung beitragen könne, weil diese »Sachwalter der wirklichen Welt« (In. 130) den Traum von humaneren Lebensverhältnissen zur Privatsache herabwürdigen. Daher fehle es im öffentlichen Raum an ›himmlischer‹ Begeisterung für die Idee moralischer Perfektibilität und an ihrer poetischen Verkündung. Identifiziert man die komplexe Raumsemantik, die divergenten Stellungnahmen zur poetischen Wahrheit durch verschiedene Textinstanzen und vor allem die ironische Demutsgeste der Vorrede, dann blickt man mit einiger Überraschung auf die ästhetische Raffinesse von Stolbergs Roman: Der Vorredner ›entzaubert‹ zwar einerseits die von Sophron behauptete ›Offenbarungspoesie‹ als fiktiven Traum, aufgrund der Ironie, mit der er dies tut, werden andererseits aber nicht die privaten utopischen Träume des Musenanrufers Sophron zum Satireobjekt, sondern jene gesellschaftlichen Instanzen, die nicht einmal mehr von einer Utopie humaneren Lebens träumen. Über das Mittel der Ironie reagiert Stolbergs Insel polemisch auf die spätaufklärerische Kritik an der Schwärmerei für moralische Perfektibilität und an deren poetischer Darstellung in Form literarischer Utopien. Die Raffinesse dieser ironischen Konstruktion sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die literarische Kritik am absolutistischen und rationalistischen ›Anti-Utopismus‹ ihrerseits Indiz einer selbstgerechten und unkritischen empfindsamen Moral ist. In Stolbergs Insel mangelt es an Auseinandersetzung mit jenen anthropologischen Vorbehalten, die der spätaufklärerische Empirismus gegenüber der Idee moralischer Perfektibilität formuliert. Über das Mittel der Ironie beklagt die Vorrede zwar, dass es in der Erfahrungswirklichkeit an empfindsamer Moral in Form utopischer Träume fehle. Im Unterschied zu Wieland geschieht dies jedoch nicht aus anthropologisch-empiristisch motivierter Vorsicht und nicht mit Blick auf die stete Gefährdung der menschlichen Tugendhaftigkeit durch das florierende ›Commercium‹ zwischen Vernunft und Leidenschaften. Der Mangel an empfindsamer Moral wird nicht anthropologisch zu begründen versucht, sondern literaturpolitisch instrumentalisiert, indem in der Vorrede die Nicht-Wirklichkeit von Sophrons utopischem Traum konkreten Schuldigen an-
3. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: ›Die Insel‹
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gelastet wird. Die Vorrede kritisiert ironisch-implizit, dass man mit Ideen, in denen sich die Fülle eines human-empfindsamen Herzens offenbart, nicht an die Öffentlichkeit treten könne, weil man augenblicklich unter Schwärmerverdacht gerate. Ob es überhaupt möglich wäre, das moralische Gefühl eines von ›himmlischer‹ Begeisterung ausgefüllten Herzens öffentlich zu machen, ohne sich dabei selbst zu betrügen und mit empfindsamer Moral eigentlich egoistisch-selbstgerechte Interessen zu verfolgen, wird dabei nicht hinterfragt.142 Stolbergs Roman ähnelt zwar strukturell Wielands Tarent-Episode oder dem Diogenes, da seine Vorrede hinsichtlich der Fiktivität des utopischen Entwurfs mit offenen Karten spielt. Bei der persuasiven Instrumentalisierung dieser Illusionsbrechung schlagen Stolberg und Wieland indes grundverschiedene Wege ein: Wieland funktionalisiert die Kombination von utopischem Entwurf und Fiktionsironie, um seinen Lesern eine empiristische Skepsis gegenüber utopischen Entwürfen zu vermitteln, zugleich aber auch ein gewisses Maß an Enthusiasmus für das darin zum Ausdruck kommende Tugendideal. Stolbergs Roman bricht zwar auch mit dem Illusionismus der frühaufklärerischen ›narratio verisimilis‹ und zeigt die Fiktivität des utopischen Entwurfs explizit an, allerdings nicht um den Leser zu aufklärerischer Bescheidenheit anzuhalten, sondern um die Nicht-Wirklichkeit des utopischen Entwurfs und die spätaufklärerische Delegitimation der dahinter stehenden Idee moralischer Perfektibilität öffentlich anzuklagen. Die Technik der Illusionsbrechung wird bei Stolberg literaturpolitisch instrumentalisiert, um konservative Wirklichkeitskritik zu üben, bei der mit den absolutistischen und rationalistischen ›Sachwaltern der wirklichen Welt‹ schon vorab diejenigen ausgemacht sind, die an der Nicht-Wirklichkeit des utopischen Traums die Schuld tragen. Die spezifische Hypokrisie dieser empfindsam-konser142
Dass die Position der Romanvorrede sich mit der des Autors Stolberg deckt, zeigt ein Brief Stolbergs an seine Schwägerin Luise: »Laß uns nicht über die Insel vergeblich disputiren. Es müsse Dir genügen daß Du die Welt in der wir leben allen idealischen vorziehest. Ich lasse mir am Schatten meiner idealischen genügen, wenn Tiranney, Geld, Frivolität, Unglauben pp mir die grosse Veste verleiden. Es ist schon als ich ein Kind war, meine Stimmung gewesen die Ideen zu verfolgen an denen noch itzt mein Herz hängt u: die Idee der Entbehrung des überflüssigen, war mir immer eine der Liebsten« (StBr 218: F.L. Stolberg an Luise Stolberg, 23.3.1787). – Für Stolberg steht der reine Ideenstatus seines utopischen Entwurfs also völlig außer Zweifel. Die Unmöglichkeit »Ernst aus dem Projecte« (Ebd.) zu machen, begründet er jedoch nicht anthropologisch, sondern ›konservativ‹: Schuld ist die ›Tiranney‹ des Absolutismus und dessen auf Privateigentum und Geldvermehrung fußende ökonomische Verfasstheit sowie der rationalistische ›Unglauben‹, d. h. der von der Aufklärung verursachte Geltungsverlust des Christentums. Hierzu lassen sich zwei biographische Begründungsmomente ergänzen: Eine diplomatische Reise nach St. Petersburg, die Stolberg 1785/86 – unmittelbar vor Entstehung der Insel – unternimmt und die ihm mit dem Regiment Zarin Katharinas II. eine besonders radikale Form absolutistischer Herrschaftspraxis vor Augen führt (vgl. Hempel [1997], 130f.), gibt seinem ›Tyrannenhass‹ aus den Hainbund-Jahren neuen Nährboden. Auch die negativen Erfahrungen, die er auf der Rückreise von St. Petersburg während eines Zwischenstopps in Berlin mit Vertretern des popularphilosophischen Spätwolffianismus macht (vgl. Anm. 128), festigen seine adelig-konservative, antiabsolutistische und antirationalistische Haltung.
Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
258
vativen Poetik wurzelt in Stolbergs strikter Verweigerung gegenüber den Argumenten der empiristischen und anthropologischen ›Naturalisierung‹ des Denkens, die den Aufklärungsdiskurs im späten 18. Jahrhundert prägt.
4.
Ergebnisthesen
Die Überlegungen zur ästhetischen Problembewältigung von Heinses und Stolbergs literarischen Utopien lassen sich in folgenden Thesen bündeln: I. Über die Form des episodischen Gattungszitats (Ardinghello) und über den expliziten Gebrauch von illusionsbrechender Fiktionsironie (Die Insel) schließen Heinses und Stolbergs Romane zwar an Wielands Umgang mit der Utopia-Tradition an, bei ihnen verbindet sich damit jedoch nicht der literarische Problembewältigungsmodus selbstreflexiver Aufklärung, sondern eine politische Textfunktion. Ursächlich dafür ist ihre narrative Unterdrückung anthropologischer Vorbehalte: Beide Romane formulieren und inszenieren keinen Realisierungsanspruch für den dargestellten utopischen Entwurf, begründen dieses Realisierbarkeitsdefizit jedoch nicht mit der Gefährdung der Vernunft- oder Willensautonomie durch die Körperlichkeit des Menschen, sondern machen politisch-soziale Umstände dafür verantwortlich. Aufgrund dieser spezifischen fiktionalen Vermittlung lassen sich die utopischen Entwürfe nicht als Norm verstehen, im Namen derer der Leser aufgefordert ist, seine individuelle Lebenspraxis und den Umgang mit seinen Leidenschaften kritisch zu überprüfen, sondern Heinses und Stolbergs utopische Wirklichkeitskritik richtet sich primär gegen die ›Sachwalter der wirklichen Welt‹, geht also an die Adresse des Absolutismus, der die Entfaltung der jeweils ›wahren‹ sinnlich-hedonistischen oder empfindsam-tugendhaften Natur des Menschen unterdrücke. Man kann deshalb an beiden Utopien das breite Spektrum literaturpolitischer Hypokrisie im späten 18. Jahrhundert besonders anschaulich studieren. II. In Heinses Ardinghello fungiert eine außenpolitisch wehrhafte, milizmäßig organisierte Republik autonomer ›Kernmenschen‹ als utopische Norm, mit der die Gesellschaft der italienischen Spätrenaissance kontrastiert wird, in der nicht individuelles Vermögen, sondern erbliche Privilegien Ursache gesellschaftlicher Ungleichheit sind und deren Vitalität daher rapide erschlafft. Um den Normencharakter des entworfenen utopischen Gegenbildes abzusichern, entwickelt der Roman eine Reihe von Plausibilisierungsstrategien, mit denen anthropologische Vorbehalte gegen das dargestellte konfliktfreie Zusammenleben mehrerer ›ardinghelloesker‹ Individuen in einer autonomen utopischen Republik beim Leser unterdrückt werden sollen. An diesem Ablenkungsmanöver sind drei narrative Verfahren beteiligt: a) Finaler Wechsel der Erzählinstanz: Nicht Ardinghello erzählt am Schluss die Gründung des utopischen Gemeinwesens, sondern sein vergleichswei-
4. Ergebnisthesen
259
se konturloser Freund Benedikt, da sich der Bruch im Charakter der Ardinghello-Figur aus der Außenperspektive leichter kaschieren lässt: Obwohl es Ardinghello die gesamte Romanhandlung über kaum gelingt, staatliche Strukturen, Gesetze und moralische Konventionen anzuerkennen, fügt er sich umstandslos in das Gemeinwesen auf Paros und Naxos und seinen sozialen Konsens. b) Harmonisierende Handlungskonstruktion: Nahezu alle konfliktären Figurenkonstellationen, die durch Ardinghellos egoistischen Hedonismus im Umgang mit Frauen entstanden sind, werden am Schluss entschärft, indem sich die Figuren zu Zweierpaaren ordnen, die sich zu empfindsamen Liebesvorstellungen bekennen und sich freiwillig treu sind. Gerade das Eifersuchtsproblem, das bei der promisken Lebensform der utopischen Kykladenrepublik zwangsläufig virulent werden müsste, würde Anlass für anthropologische Vorbehalte gegen Ardinghellos Autonomieideal bieten. Solche Einwände, die sich leserseitig gegen die Darstellung einer Republik ›entsublimierter‹ Individuen vorbringen ließen, werden jedoch mit der narrativen Entschärfung der Eifersuchtskonflikte unterdrückt. c) Übertragung des Autonomieideals auf die utopische Republik: Das im ›metaphysischen Gespräch‹ konturierte Ideal des moralfreien, autonomen und bellizistischen Individuums, das sich in einem kriegerischen Naturstand durchsetzt oder unterliegt, wird am Schluss nicht von einer Romanfigur repräsentiert, sondern vom republikanischen Kollektiv des Kykladenstaates. Der utopische Staat tritt außenpolitisch als Aggressor gegenüber anderen Territorialstaaten in Erscheinung, während innenpolitisch friedlicher Konsens, also nicht kriegerischer Naturstand, sondern staatsvertraglich organisiertes, soziales Zusammenleben herrscht. Indem der Roman sein Autonomieideal außenpolitisch mit der utopischen Seeräuberrepublik einzulösen scheint, wird die Aufmerksamkeit des Lesers von der Frage abgelenkt, wie denn innenpolitisch der friedliche Konsens zwischen autonomen, kraftstrotzenden Individuen funktionieren soll. III. In Stolbergs Insel fungiert nicht allein der Entwurf eines Inselstaats als jene utopische Norm, im Namen derer Aspekte der Erfahrungswirklichkeit kritisiert werden, sondern vielmehr das private Gespräch über den Traum von einer utopischen Insel, das eine kleine Gruppe von gleichgesinnten empfindsamen Individuen auf einer unbewohnten Donauinsel führt. Im Vergleich mit diesem Bild empfindsamen Privatlebens, in dem das utopische Träumen Zuflucht nimmt, werden Rationalismus und Absolutismus zu Apologeten des Faktischen degradiert und dafür verantwortlich gemacht, dass die Idee eines naturnahen humanen Zusammenlebens tugendhafter Individuen nicht Wirklichkeit wird. Unterdrückt werden dabei anthropologische Vorbehalte, die Anlass zum Zweifel an der stabilen Tugendbefähigung des Menschen geben. Stattdessen nutzt die Insel unterschiedliche ästhetische Strategien, um
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Drittes Kapitel: Hypokritische Utopien
den moralischen Normencharakter privaten utopischen Träumens abzusichern und aufzuwerten: a) Veröffentlichung empfindsamer Privatgeheimnisse: Stolbergs Roman inszeniert den Traum von der utopischen Insel als Privatgeheimnis einer kleinen Gruppe tugendhafter und empfindsamer Individuen und versucht der utopischen Norm damit die Aura entpolitisierter Moralität zu verleihen. Dieser empfindsame Privatismus ist indes nur putativ, denn über die Publizität des gedruckten Romans wird der utopische Entwurf öffentlich instrumentalisiert und damit politisiert, nämlich im Sinne eines wirklichkeitskritischen Gegenbildes zu Rationalismus und Absolutismus. b) Perfektible Raumsemantik: Auch die raffinierte Raumsemantik des Romans steht im Dienst dieser impliziten politischen Textfunktion. Das private Gespräch über den Traum vom utopischen Staat wird an den isolierten Raum einer unbewohnten Donauinsel gebunden, findet also mitten in einem Fließgewässer statt. Mit dieser Donausemantik verknüpft der Roman eine geschichtsphilosophische und politische Aussage. c) Fiktionsironie als politische Anklage: Besonders deutliche Kontur gewinnt die politische Textfunktion von Stolbergs Insel schon in der Romanvorrede. Wie bei Wieland wird hier mit offenen Karten gespielt und der utopische Entwurf zum bloßen poetischen Traum empfindsamer Gemüter degradiert. Diese Fiktionsironie ist bei Stolberg jedoch nicht wie bei Wieland Ausdruck von anthropologischen Vorbehalten gegenüber der stabilen Tugendhaftigkeit utopischer Individuen, sondern wird literaturpolitisch instrumentalisiert.
VIERTES K APITEL Transzendental-Utopie: Novalis’ Glauben und Liebe als Romantisierung der Gattung1
1.
Einleitung: Was heißt Romantik?
In seinen teils hermetischen Fichte-Studien findet sich unter der Nummer 566 eine Aufzeichnung, in der es dem jungen Kant- und Fichte-Leser Friedrich von Hardenberg gelingt, mit wenigen Sätzen die zentrale Problemkonstellation der Romantik zu umreißen: Alles Filosofiren muß also bey einem absoluten Grunde endigen. Wenn dieser nun nicht gegeben wäre, wenn dieser Begriff eine Unmöglichkeit enthielte – so wäre der Trieb zu Filosophiren eine unendliche Thätigkeit – und darum ohne Ende, weil ein ewiges Bedürfniß nach einem absoluten Grunde vorhanden wäre, das doch nur relativ gestillt werden könnte – und darum nie aufhören würde. Durch das freywillige Entsagen des Absoluten entsteht die unendliche freye Thätigkeit in uns – das Einzige mögliche Absolute, was uns gegeben werden kann und was wir nur durch unsre Unvermögenheit ein Absolutes zu erreichen und zu erkennen, finden. Dies uns gegebne Absolute läßt sich nur negativ erkennen, indem wir handeln und finden, daß durch kein Handeln das erreicht wird, was wir suchen[.] (II,269f.:566)
Bei der Romantik, so kann man diesen Überlegungen entnehmen, handelt es sich um eine Auseinandersetzung mit dem Problem eines fehlenden festen Standorts: Romantiker suchen nach einem ›archimedischen Punkt‹, von dem aus man wieder sicheres Wissen erlangen kann, gehen aber zugleich davon aus, dass sich ein solcher fester Halt in der Empirie nicht finden lässt. Dass sie diese Suche nach einem festen Standpunkt so massiv beschäftigt, lässt sich unter anderem als Identitätsproblem erklären: Romantiker beziehen sich auf ein Absolutes, im Sinne von etwas, das ihnen durch ihre Sozialisation schon immer präsent gewesen ist, denn sie stammen nicht selten aus religiös bzw. pietistisch geprägten Milieus. Durch die intensive Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes – und d. h. vor allem mit dem Theorem der Subjektgebundenheit aller Wahrheit – werden die in der Kindheit erfahrene Lebenspraxis und der Glaube an Gott jedoch zum Identitätsproblem. Romantische Texte stellen daher zumeist die Frage, wie und ob man an gefühlsmäßig erfahrenen Gewissheiten und
1
Der Nachweis aller Zitate aus Werken Friedrich von Hardenbergs erfolgt nach der HKA und in der Kurzform (Bandzahl, Seite: Nr. einer Aufzeichnung).
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
Normen festhalten kann, ohne hinter die neuen philosophischen Einsichten der Transzendentalphilosophie zurückzufallen. Ein Vorschlag, wie man Romantik als Säkularisat deuten kann, stammt von Ludwig Stockinger.2 In Anlehnung an Hans Blumenbergs kritisch revidiertes Säkularisierungsmodell geht es dabei nicht um eine Beschreibung von Neuzeitwerdung als Weitergabe von Ideen im Sinne identischer ›Substanzen‹, die nur ihr Erscheinungsbild ändern, sondern um eine Beschreibung von Epochenwandel als Prozess, bei dem neue Deutungssysteme ›Problemhypotheken‹ von älteren Deutungssystemen ›erben‹ können: Sie geraten dabei unter den Druck, auf bestimmte Fragen Antworten zu geben, die denen schon vorhandener Deutungssysteme äquivalent sind (vgl. Kap. I.3.1, hier Anm. 168). Dies gilt z. B. für den Wandel der begrifflichen Deutungssysteme im Übergang von der Offenbarungstheologie zur rationalen Metaphysik und schließlich zur Transzendentalphilosophie. Den Druck, äquivalente Deutungsangebote zu schon vorhandenen zu finden, kann man jedoch nicht erklären, wenn man den Wandel von Deutungssystemen bloß als diachrone Abfolge versteht wie Blumenberg, in dessen Modell ein neues Deutungssystem die Problemstellungen älterer Deutungssysteme mehr oder minder freiwillig ›erbt‹. Den Druck, ›Problemhypotheken‹ zu übernehmen, versteht man vielmehr erst dann, wenn man mit Kondylis von einer synchronen Deutungskonkurrenz ausgeht. Neue Deutungssysteme müssen demnach in der Lage sein, auf die Problemstellungen schon vorhandener Deutungssysteme mit neuen Lösungen zu reagieren, denn »[m]an wirkt in der Polemik nicht überzeugend, wenn man keine Grundfragen beantworten kann«3 : Ideengebilde sind als Säkularisate zureichend nur dann zu verstehen, wenn man Theologie und neuzeitliche Philosophie nicht als zwei aufeinanderfolgende Epochen, sondern als gleichzeitig sich gegenüberstehende konkurrierende Deutungsangebote versteht, deren Vertreter sich im Kampf um die dominierende Interpretation befinden […]. Diese Gleichzeitigkeit impliziert auch, daß einzelne Individuen den Kampf konkurrierender Sinndeutungen in der eigenen Identitätsfindung austragen müssen und dabei Kompromißlösungen produzieren, die ebenfalls die Gestalt eines Säkularisats haben.4
Zur Illustration dieses gerade bei romantischen Intellektuellen markant ausgeprägten Identitätskonflikts und seiner Bewältigung verweist Stockinger auf Friedrich Schleiermachers 1. Rede über die Religion und Friedrich Schlegels Rezension der Reden über die Religion im Athenaeum:5 Bedenke nur, welche himmlische Gabe des Friedens dieses Buch für so manche liebenswürdige Menschen werden kann, die nun einmal weder von dem Christenthum
2 3 4 5
Stockinger (1988b), 268–306. – Vgl. auch Stockinger (1992) sowie, unter anderer Akzentsetzung, Auerochs (2006). Kondylis (1981), 300. Stockinger (1988b), 272. Vgl. ebd., 282f. und 648f., hier Anm. 50.
1. Einleitung: Was heißt Romantik?
263
noch von der Bildung des Zeitalters ablassen können, weil sie es nicht wollen können. Ja es kann und muß, wirst du selbst sagen, ihr Innres, wo bisher zwey Mächte unfreundlich und einzeln gegen einander standen, in Harmonie bringen.6
Bezogen auf diesen Identitätskonflikt handelt es sich bei der literarischen Romantik um eine poetische Formensprache, die Intellektuelle entwickeln, um bestimmte historische Erfahrungen zu verarbeiten: Die Romantiker halten an der Vorstellung eines Absoluten, einer letztgültigen Wahrheit fest, beschreiben diese aber nicht als Kollektivwissen, sondern als ein reflexiv nicht einholbares subjektives Gefühl. Das Absolute, also kontrafaktische Ideen wie Gott, Totalität oder Freiheit bzw. die Autonomie des eigenen Selbst sind für das empirische Ich nur als deren ewiges Verfehlen erfahrbar: »Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge« (II,412:1). Das Absolute zeigt sich nirgends in der Erfahrungswirklichkeit, man kann sich aber indirekt, im Gefühl der Sehnsucht oder im Modus des Glaubens darauf beziehen, indem man seinen Mangel artikuliert. Romantik meint demnach einen bestimmten Umgang mit dem Problem fehlender Letztbegründung, bei der auf diese Erfahrung nicht mit der ernst gemeinten Behauptung neuer Totalität und Absolutheit der Kunst reagiert wird, sondern mit einer künstlerischen Formensprache, die dem unendlichen Mangel und der Sehnsucht nach dem Absoluten Ausdruck gibt. Diese skeptische Dimension gehört zum Basisinventar romantischen Denkens und aus ihr erklärt sich auch Friedrich von Hardenbergs distanziertes Verhältnis zur Gattungstradition literarischer Utopien: Von Hardenberg gibt es keine wörtliche Stellungnahme zu diesem Textmuster. Wenn er überhaupt eine tiefere Kenntnis der Gattungsgeschichte besessen hat7, so unterscheidet sich seine Auffassung kaum von dem im 18. Jahrhundert eingespielten Vorwurf, literarische Utopien würden dem Leser ein Schlaraffenland versprechen und zu Weltfluchtphantasien stimulieren. Dies zeigt etwa folgende Passage aus den Vermischten Bemerkungen/Blüthenstaub: Die Fantasie sezt die künftige Welt ent[weder] in die Höhe, oder in die Tiefe, oder in der Metempsychose, zu uns. Wir träumen von Reisen durch das Weltall – Ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unsers Geistes kennen wir nicht – Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten – die Vergangenheit und Zukunft. (II,416/418:17)
Das Fragment stellt alle Versuche, sich eine künftige bessere Welt mit den Mitteln der poetischen Phantasie auszumalen, in Frage, denn das Idealreich sei nur auf dem ›geheimnisvollen Weg nach Innen‹ zu finden. Verurteilt wird die chiliastisch-prophetische Ausmalung einer paradiesischen ›goldenen Zeit‹, unter Verweis auf das ›Paradies des Herzens‹, in dem die ›goldenen Zeit‹ schon in der
6 7
Athenaeum (1798ff.), 2. Bd., 2. St., 293. Die überlieferten Bücherlisten zeigen immerhin, dass sich schon 1790 Stolbergs Insel und Heinses Ardinghello in Hardenbergs Besitz befanden (IV,694: Nr. 80 u. Nr. 85).
264
Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
Gegenwart wirklich sein könne. Diesen Gedanken haben bekanntlich nicht die Frühromantiker erfunden, sondern er hat seine Wurzeln in der Innerlichkeitsmystik des Barock.8 Vermittelt über den pietistischen Chiliasmus steht Hardenberg denn auch, wie Hans-Joachim Mähl gezeigt hat, in einer Traditionslinie mit dem barocken Pansophismus.9 Neben der pansophisch-pietistischen Vorstellungstradition eines ›inneren Reichs‹ dürfte sich bei einem zeitgenössischen Leser, der die damals aktuellste Philosophie kannte, aber noch eine zweite Assoziation eingestellt haben, nämlich der Begriff des Gewissens aus der kantischen Moralphilosophie.10 Bei der Erläuterung dieser moralischen Instanz in der Metaphysik der Sitten (1797) bedient sich Kant tradierter Bildvorstellungen aus der Innerlichkeitsmystik: Er beschreibt das Gewissen als einen »inneren Gerichtshof« mit einem »inneren Richter«.11 Der innere Gerichtshof gibt seine Urteile nicht über den Verstand, sondern über das Herz kund, der innere Richter ist ein »Herzenskündiger«12. Einen gewissenlosen Menschen kann es für Kant nicht geben: »Gewissenlosigkeit ist nicht Mangel des Gewissens, sondern Hang, sich an dessen Urteil nicht zu kehren«13. Indem der Mensch in die schwer »zu ergründende[n] Tiefen (Abgrund) des Herzens«14 zu dringen versucht, löst er die oberste Pflicht gegen sich selbst ein, nämlich »sein Gewissen zu kultivieren, die Aufmerksamkeit auf die Stimme des inneren Richters zu schärfen und alle Mittel anzuwenden […], um ihm Gehör zu verschaffen«15. Kant gilt das Gewissen zwar als »angeborne[r] Richter«16, als ein im Herzen verankertes moralisches Gefühl, er betont aber zugleich dessen »unerforschlichen Ursprung«17. Für den transzendentalphilosophisch vorgebildeten Hardenberg gerät daher gerade das fühlende Herz, also der Zielpunkt jenes Weges nach Innen, zum fernsten Ort, da es dem denkenden Ich
8 9
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11 12 13 14 15 16 17
Vgl. etwa den allegorischen Roman Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens (1631) des Pansophen Johann Amos Comenius. Zum pietistischen Chiliasmus des 18. Jahrhunderts, seinen Wurzeln im barocken Pansophismus und seiner Wirkung auf Lessing und die Frühromantiker vgl. Mähl (²1994), 232–252. Erste Kant-Kenntnisse eignete sich Hardenberg vermutlich während des Studiums in Jena 1790/91 an, wo Kants Philosophie in der kritischen Perspektive Carl Leonhard Reinholds vermittelt wurde (vgl. Frank [²1998a], 26–47). Zu Hardenbergs Kant-Lektüre vgl. HKA II, 330–343 (speziell zur Lektüre der Metaphysik der Sitten, deren zweiter Teil im August 1797 erscheint, vgl. ebd., 342f.). – Ferner Uerlings (1991), 124f. Kant (1974ff.), Bd. VIII, 573. Ebd., 574. Ebd., 532. Ebd., 576. Ebd., 532. Ebd., 572. Ebd., 531. – »Dieses Gefühl einen moralischen Sinn zu nennen ist nicht schicklich; denn unter dem Wort Sinn wird gemeiniglich ein theoretisches, auf einen Gegenstand bezogenes Wahrnehmungsvermögen verstanden: dahingegen das moralische Gefühl […] etwas bloß Subjektives ist, was kein Erkenntnis abgibt« (Ebd.).
1. Einleitung: Was heißt Romantik?
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nicht zugänglich ist: Das Ich kennt die in ihm verborgenen Tiefen, kennt seinen Grund nicht, sondern fühlt ihn nur. Die Reise ins ›innere Reich‹ scheitert immer wieder an den schlechten Sichtverhältnissen, denn der Weg nach Innen verbirgt sich unter dem Nebel eines Geheimnisses.18 Während noch im Blüthenstaub die weltentwerfende Phantasie kritisiert wird, veröffentlicht Hardenberg nur kurze Zeit später die Fragmentsammlung Glauben und Liebe (1798), die mit einer besonderen Art poetischen Sprechens den Entwurf einer öffentlichen Ordnung skizziert. Seiner Kritik an der Weltfluchtphantasien schürenden, geographischen oder zeitlichen Ferne wird er damit jedoch keineswegs untreu, denn Grundlage dieses utopischen Entwurfs ist paradoxerweise die preußische Monarchie, also ein politisches Gebilde, das dem zeitgenössischen Leser täglich vor Augen steht. Was aber hat ein solches Phänomen der äußeren Erscheinungswelt mit jenem geheimnisvollen Weg nach Innen zu tun, von dem im Blüthenstaub die Rede ist? Bei der Frage nach der konkreten Bedeutung von Novalis’ romantischem Preußen wird man bis heute von den meisten Forschungsarbeiten im Stich gelassen und muss sich mit vagen Andeutungen begnügen, die um den König als ›mystischem Souverain‹ (GL 15) oder um das verliebte Monarchenpaar als Symbol einer Einheit von Moral und Politik kreisen. Zudem ist die Deutungsgeschichte dieses Textes geradezu abenteuerlich.19 An ihr lassen sich paradigmatisch die verschlungenen Wege der Romantikforschung im 20. Jahrhundert ablesen, wie bereits einige Eckdaten illustrieren: Unter Berufung auf das von Wilhelm Dilthey kreierte Bild von Romantik als kulturkritischer Protestbewegung, die sich im Namen quasi-religiöser Ideale gegen die empiristische Aufklärung und die rationalistische Zivilisation richte, geriet die Romantikdeutung »seit dem 1. Weltkrieg in den Sog antidemokratischer Einstellungen im Umfeld der ›konservativen Revolution‹ und des Nationalsozialismus.«20 Unter dem Eindruck der ›konservativen Revolution‹ liest 1925 Richard Samuel auch Glauben und Liebe als Plädoyer für »ein Vaterideal, gegründet auf die Autonomie eines freien, sich selbst bewußten Menschen, der durch die Geburt bestimmt ist, andere Menschen absolut zu beherrschen, nachdem er den Befähigungsnachweis gegeben, selbst dienen und gehorchen zu können«21. Dagegen werden in der bundesrepublikanischen Romantikforschung der Nachkriegszeit die Deutungsvorzeichen umgepolt und seit den 1960er Jahren kann man eine »›demokratische Normalisierung‹ der Ro18
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Zur Rolle des kantischen Gewissens-Begriffs bei Hardenberg, für den er auch Formulierungen gebraucht wie ›transcendentales Selbst‹, ›besseres Selbst‹, ›Ich des Ich’s‹, ›idealisches Ich‹ etc., vgl. Stockinger (2001a), 96–99. – Zum Anspielungsrahmen von VB 17 gehört auch Kants Unterscheidung zwischen dem ›inneren‹ und dem ›äußeren Sinn‹, mit der sich Hardenberg ebenfalls auseinandergesetzt hat (vgl. HKA II, 331). Vgl. auch die Bemerkungen zur Deutungsgeschichte von Glauben und Liebe bei Uerlings (1991), 563–569. Stockinger (²2003), 83. – Vgl. dazu ausführlich Kurzke (1983), 36–49; Stockinger (1988b), 58–62 und insbesondere Uerlings (1991), 523–541. Samuel (1925), 98.
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mantik«22 beobachten. Dies äußert sich vor allem in dem Versuch, eine progressive und republikanische Frühromantik gegen eine konservative und katholische Spätromantik zu rehabilitieren, um sich damit von der Deutungstradition der Zwischenkriegszeit abzusetzen und Frühromantik nicht mehr als Etappe auf dem ›deutschen Sonderweg‹, sondern als Teil jener Traditionen zu verstehen, auf denen die westdeutsche Demokratie gründet.23 Diese demokratische Indienstnahme der Frühromantik hat auch vor einem Text wie Glauben und Liebe nicht Halt gemacht: »Die Grundlage von Hardenbergs Preis der Monarchie ist die prinzipielle Bejahung der Demokratie«, postuliert Richard Brinkmann 1974.24 In den 1980er Jahren haben dann Hermann Kurzke und Ludwig Stockinger in ihren Studien zu Romantik und Konservatismus (1983) und Romantik und Katholizismus (1988) kritisch hinterfragt, inwiefern bei einer demokratisch normalisierten FrühromantikDeutung »die Suche nach Identifikations- und Legitimationsmustern für die eigene Position die wirkliche Auseinandersetzung mit der kulturellen Tradition behindert, weil sie diese nicht als das Andere bestehen läßt, weil sie vorschnell aktualisiert, ohne vorher konsequent zu historisieren.«25 Konsequent zu historisieren, heißt im Rahmen einer problemgeschichtlich orientierten Literaturgeschichtsschreibung, das Normensystem der Romantik aus der historischen Problemkonstellation abzuleiten, in der sie steht. Romantik wird daher hier als eine Form der Auseinandersetzung mit ungelösten Problemen und Aporien verstanden, die die monistische Spätaufklärung ihr als ›Hypothek‹ (vgl. Kap. I.3.1, hier Anm. 168) hinterlässt: nämlich die ›Krise des Wahren und des Guten‹26, die Schwierigkeiten säkularer Moralbegründung unter den Bedingungen einer Anthropologisierung und Naturalisierung der intellektuellen Diskurse.27 Die Romantik erbt von der Aufklärung also das Problem jener »doppelte[n] Gegnerschaft gegen traditionelle Theologie und nihilistische Ansätze«28. Wie die Aufklärung kann sie in diesem »Zweifrontenkampf gegen Theologie und Materialismus […] weder die antimetaphysischen Argumente des letzteren verwenden noch ihr Festhalten an der Idee des Jenseits mit dem Bekenntnis zur traditionellen theologischen Metaphysik identifizieren«29. Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem spätaufklärerischen und dem frühromantischen Antworten besteht allerdings darin, dass die Frühromantiker im Unterschied zur Spätaufklärung auf dem Boden von Kants Transzendentalphilosophie argumentieren. Noch innerhalb der monistischen deutschen Spätaufklärung wird diese
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Stockinger (1988b), 57. Vgl. ebd., 63–70. Brinkmann (1974), 184. Stockinger (1988b), 83. Vgl. Engel (2009), 60f. Zum Verhältnis von Aufklärung und Romantik vgl. Stockinger (1988b), 268–306 und Stockinger (²2003). Kondylis (1981), 23. Kondylis (1990), 277.
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Philosophie eher beargwöhnt und fristet ein isoliertes Sonderdasein30, weil Kant das Monismus-Bedürfnis vieler Spätaufklärer untergräbt, weil er säuberlich zwischen Sein und Sollen trennt, zwischen der empirischen Natur des Menschen und der Idee der Freiheit, die sich in der Empirie nirgends zeigt. Das empirische Ich ist für Kant nicht der Erfahrungsort der Freiheit: »[A]us so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden«31. Entgegen einer weit verbreiteten Legende, das gilt es hier zu betonen, besteht dabei Kants zentrale und für die Frühromantiker prägende Weichenstellung keineswegs darin, dass er der Erkenntnis Grenzen setzt, die traditionelle Metaphysik in ihre Schranken weist und die Erkenntnistheorie zur philosophischen Königsdisziplin nobilitiert: »In Wirklichkeit bildeten diese Auffassungen bereits seit Jahrzehnten Gemeinplätze der westeuropäischen Aufklärung […]; der antimetaphysische Agnostizismus bildete die fast obligatorische Einstellung jedes Aufklärers nach Locke.«32 Die isolierte Sonderstellung Kants in der monistischen deutschen Spätaufklärung hat andere Gründe, sie fußt vor allem auf seinem Konzept ›regulativer Ideen‹: Während Kant nämlich die Lehre von den Grenzen menschlicher Erkenntnis akzeptiert, die bis dahin in der Regel mit empiristischen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen einherging, behauptet er gleichzeitig in bewußtem Gegensatz zum westeuropäischen Empirismus die Möglichkeit einer Erkenntnis a priori […]; und während er den Primat der Erkenntnistheorie einerseits und des Praktischen andererseits bejaht, will er daraus das Gebot einer Restauration zentraler Ideen der traditionellen, und zwar der theologischen Metaphysik ableiten.33
Im Vergleich mit dem monistischen Ansatz der deutschen Spätaufklärung erschwert Kants Transzendentalphilosophie und ihre anti-monistische Trennung zwischen Normativem und Relativem die säkulare Moralbegründung zunächst einmal. Die Frühromantiker stehen damit vor dem Problem, »die Lösungsangebote des Moralproblems, die schon die vorkritische Spätaufklärung der orthodoxen Theologie, dem Rationalismus und dem Empirismus entgegengestellt hatte, auf der Grundlage der Grundthese des Kritizismus, wonach die Normativität der Natur nur regulative Idee, nicht konstitutives Prinzip sein könne, neu zu formulieren.«34 Von geradezu »symbolischer Bedeutung«35 für dieses romantisch-transzendentalphilosophische Abtragen von Problemhypotheken, die der 30
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So die Deutung von Panajotis Kondylis, demzufolge Kants »objektive philosophische Isoliertheit innerhalb der deutschen Spätaufklärung […] sich in verschiedenen Formen zeigte: in Herders und Hamanns Polemiken, in Goethes Distanz und nicht zuletzt in den Uminterpretationen Schillers und der Nachkantianer« (Kondylis [1981], 639). Kant (1974ff.), Bd. XI, 41 (= Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 6. Satz). Kondylis (1990), 350. Ebd., 350f. Stockinger (1988b), 279. Ebd., 281.
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monistischen Spätaufklärung entstammen, ist die Tatsache, dass Friedrich von Hardenberg 1797 nahezu gleichzeitig die Schriften von Hemsterhuis, also dem Vertreter einer monistischen Spätaufklärung, und Kants Kritik der reinen Vernunft studiert.36 Ein frühromantischer Autor steht also vor der Schwierigkeit, das von der Spätaufklärung geerbte Problem säkularer Moralbegründung zu lösen, ohne sich dabei auf empirische Argumente stützen zu können. Anders gesagt, wollen die Frühromantiker die »Auflösung Gottes in eine regulative Idee nicht zurücknehmen, aber […] den Pantheismus vermeiden, ohne in den Dualismus zurückzufallen.«37 Eine Möglichkeit, das von der Spätaufklärung geerbte Problem zu handhaben, entdecken die Frühromantiker in Kants Idee einer Geschichtsphilosophie, denn diese eröffnet ein winziges Schlupfloch in dem ansonsten unüberwindlichen Hochsicherheitszaun, den Kant zwischen der empirischen Wirklichkeit und der Idee der Freiheit errichtet, nämlich die Vorstellung einer unendlichen Annäherung zwischen beiden. An diesen ›philosophischen Chiliasmus‹38 Kants knüpfen die Frühromantiker an.39 Sie begreifen Sein und Sollen als die beiden Enden eines unendlichen Prozesses und konstruieren mit augenzwinkernder Ironie im Medium Poesie dennoch die Ahnung oder Andeutung einer Verbindung zwischen Wirklichkeit und Idee. Die prominenten Verfahren der romantischen Ästhetik wie die Ironie- und Fragmentpoetik sind deshalb daraufhin angelegt, beim Leser den Widerspruch zwischen zweifelndem Verstand und glaubendem Gefühl zu erzeugen. Romantische Ästhetik versucht zugleich eine »Vermittlung und Divergenz«40 zwischen Wirklichkeit und Idee zu leisten, im selben Atemzug eine Enthüllung und Verhüllung, eine »Epiphanie und Kenosis der ›Ideen‹«41 zu artikulieren. Die romantische Ästhetik stellt sich damit eine hochanspruchsvolle Aufgabe, denn sie muss versuchen, regulative Ideen wie Gott, Freiheit oder Totalität zu vergegenwärtigen und dabei zugleich den regulativen Charakter dieser Ideen mit zu kommunizieren. Die Vergegenwärtigung dieser Ideen darf nicht in einen monistischen Normativismus des Relativen ausarten, sie darf niemals »zur illusionären Identifizierung mit der Realität werden, niemals darf dieses Bild so ›hinreißend‹ sein, daß es die Freiheit des moralischen Bewußtseins einschränken würde, aber es soll trotzdem ›Begeisterung‹ für das Ziel erwecken: für die romantische Bildlichkeit eine Quadratur des Zirkels.«42
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Vgl. Hans-Joachim Mähls Einleitung zu den Hemsterhuis- und Kant-Studien in HKA II, 299–344. Stockinger (1988b), 282. Kant (1974ff.), Bd. XI, 45 (= Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 8. Satz). Vgl. Mähl (1985b). Uerlings (1991), 146. Stockinger (2009a), 36. Stockinger (1988b), 286.
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Die Wetterscheide, die eine ›normale‹ monistische Spätaufklärung von einer selbstreflexiven Aufklärung à la Wieland und vor allem von der Frühromantik trennt, lässt sich anhand der unterschiedlichen Lösungsansätze beschreiben, mit der innerhalb dieser intellektuellen Milieus das zentrale Epochenproblem zu handhaben versucht wird, nämlich die säkulare Begründung moralischer Normen: Aufklärung ist dann hypokritisch, wenn sie versucht, Normenvermittlung weiterhin unter den Bedingungen einer ständischen Gesellschaft zu betreiben, in der Sinnmonopole existieren, im Namen derer sich gesamtgesellschaftlich gültige Normen legitimieren lassen. Als ein solches Sinnmonopol fungiert aus Sicht einer hypokritischen Aufklärung zwar nicht mehr die göttliche Offenbarung, aber die Vernunft, die die Funktion der Religion in der ständischen Gesellschaft beerben und göttliche Gebote ersetzen soll. Eine hypokritische Aufklärung nimmt also für sich das Exklusivrecht in Anspruch, gesamtgesellschaftlich gültige Normen zu ›emanieren‹, und ist dabei nicht bereit, die eigene Position aufs Spiel zu setzen. Auch die monistische Spätaufklärung bleibt letztlich in diese Aporien der Aufklärungshypokrisie verstrickt, sie verschärft diese sogar noch, indem sie am Exklusivanspruch einer normenvermittelnden Aufklärung festzuhalten, zugleich aber die ›Rehabilitation der Sinnlichkeit‹, die Argumente des Empirismus und der Anthropologie ernst zu nehmen versucht. Die Vermittlungsbemühungen der monistische Spätaufklärung laufen deshalb darauf hinaus, Phänomene wie die Natur, den menschlichen Körper oder die Geschichte, also Phänomene des Relativen, zur Projektionsfläche für das Normative zu gebrauchen, diese werden damit aber letztlich überbeansprucht. Die Spätaufklärung gerät gerade dort, wo sie Empirismus, Fundamentalanthropologie oder Materialismus mit Moral oder einer Norm zu verbinden versucht, in eine »logische Sackgasse«43 (vgl. Kap. I.3.2.b). Nun überbeanspruchen auch die Romantiker – z. B. Hardenberg in Glauben und Liebe – allenthalben das Relative, indem sie es zur Projektionsfläche für Normatives brauchen, sie tun dies aber – und das ist entscheidend – im Modus der Einbildungskraft, der Fiktion, des Fragments, der Ironie, des Märchens, im Konjunktiv, in Frageform etc. Bei der romantischen Ästhetik handelt es sich um den Versuch einer Vermeidung von Nihilismus einerseits und Normativismus andererseits. Romantiker philosophieren daher auch nicht in der Form von Abhandlungen, sondern in der Form des Fragments. Sie halten an einer Norm fest, ohne sie als objektives Kollektivwissen formulieren zu können: Sie artikulieren diese Norm, die sie das Absolute nennen, im Medium der Einbildungskraft, füllen sie aber selbst hier nicht mit konkreten Inhalten, sondern verweisen auf das Absolute, indem sie sein Verfehlt-Werden in der Empirie kommunizieren. Auf das Problem einer säkularen Moralbegründung, die Nihilismus und Hypokrisie gleichermaßen vermeidet, formulieren Romantiker also keine wirklichen Antworten, sondern geben zu verstehen, dass man sich darüber nur mithilfe inverser Denkfi-
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Kondylis (1981), 518.
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guren und Symbole verständigen kann, die in etwa den folgenden Sachverhalt zum Ausdruck bringen: Ein Romantiker strebt nach einer moralischen Wahrheit, die eigentlich nur durch sein Streben entsteht (vgl. Anm. 253). Im Unterschied zu einer hypokritischen Aufklärung handelt es sich bei Romantik also um den Versuch einer Normenvermittlung, die den Kommunikationsbedingungen einer nicht-ständischen Gesellschaft zu entsprechen versucht, die mit dem Fehlen von Sinnmonopolen und der Subjektgebundenheit aller Wahrheit rechnet und bereit ist, die eigene Position aufs Spiel zu setzen. Ein romantischer Intellektueller kann Normenvermittlung daher nicht in begrifflicher Demonstration bewerkstelligen, sondern er muß zusehen, wie er primär die Tätigkeit in den Menschen hervorbringt, die mit der unmittelbaren Erfahrung des freien Ich verbunden ist. Denn nur so wird das Verhältnis von Intelligenz und Gesellschaft aus einer Nachahmung des Verhältnisses von lehrendem Priester und gehorchendem Laien zu etwas Neuem, der nichtständischen Gesellschaftsform angemessenerem, zu einer nicht endenden intersubjektiven Suche nach der Wahrheit, für die der Gelehrte allerdings der Anreger und Integrator bleibt […]. Zwar wird das kirchlich-ständische Modell des Priestertums im Verhältnis zum Laien abgelehnt, doch an dessen Stelle tritt ein anderes Modell, das im Verhältnis von Profanen und Eingeweihten, von Adepten und Mystagogen in den antiken Mysterienkulten vorgebildet ist […]. Zwischen diesen Polen von kommunikativer Wahrheitsfindung und esoterischer Mystagogie ist der romantische Diskurs angesiedelt.44
Dass die Romantiker die Funktion des Intellektuellen unter den Bedingungen einer nicht-ständischen Gesellschaft zu bestimmen versuchen, bedeutet jedoch keineswegs, dass es sich bei Romantik um das Plädoyer für Demokratie oder eine offene Gesellschaft handelt. Immerhin legen die Romantiker mit ihrer regulativen Idee einer idealen menschlichen Gemeinschaft Einspruch gegen eine Reihe zentraler Aspekte ein, die zur Demokratie als realpolitischem Konzept gehören: insbesondere gegen die Vorstellung einer Demokratie, die auf der Grundlage einer kodifizierten Verfassung individuelle Grundrechte garantiert, die Interessenkonflikte regelt und sich bei aufeinanderprallenden Egoismen um Ausgleich bemüht. Romantiker wie Friedrich von Hardenberg haben eine solche Funktion von Staatlichkeit als Konfliktregulierung massiv beargwöhnt. Diese Vorstellung verband sich für sie mit der Staatsauffassung des aufklärerischen Eudämonismus, der Politik als Verwaltung des Interessenpluralismus und die Sicherstellung menschlicher Lebensgrundlagen versteht.45 Sie folgen dabei im Wesentlichen der Eudämonismuskritik in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1786),
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Stockinger (1988b), 291. – Dass es sich bei Romantik um den Versuch handelt, die Funktion der Intelligenz in einer sich schubweise durchsetzenden nicht-ständischen Gesellschaft zu bestimmen, zeigt Ludwig Stockinger auch an Fichtes Vorlesungen Über die Bestimmung des Gelehrten von 1794, in denen der Begriff des Gelehrten nicht mehr als Standesbegriff verstanden wird (ebd., 284–288 u. 304–306). Vgl. GL 36 sowie Hardenbergs Brief an A.W. Schlegel vom 12. Januar 1798: »Es ist eigentlicher Unsinn mit dem sogenannten Eudämonismus. […] In der That ist es keinem nachdenkenden Menschen in den Sinn gekommen ein so flüchtiges Wesen, wie
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d. h. der Kritik an der Glückseligkeit als einem Prinzip der Moral. Schon deshalb können die Versuche der älteren bundesrepublikanischen Romantikforschung, selbst Texte wie Hardenbergs Glauben und Liebe zu ›demokratisieren‹, als gescheitert betrachtet werden, denn sie übergehen die historischen Argumentationszusammenhänge, in denen diese Texte stehen.46 Hermann Kurzke hat am Forschungsprogramm einer ›demokratischen Normalisierung der Romantik‹ konkret moniert, dass man eine »Geringachtung der Inhalte [praktiziere], um Novalis vor dem Konservatismusverdacht in Schutz nehmen zu können«47. Vor allem der permanente Verweis auf das transzendentalphilosophische Wurzelgeflecht, aus dem dessen romantische Bildlichkeit erwachse, diene primär dazu, die Anbindung der Frühromantik an die wahrheitspluralistische Tradition westlich-liberaler Demokratien sicherzustellen. In verschiedenen Deutungsmilieus haben diese Monita offenbar besonderes Gehör gefunden, denn seit den 1990er Jahren sind eine Reihe von Interpretationen erschienen, die einem Text wie Glauben und Liebe jene Aspekte absprechen, die oben als Kennzeichen romantischer Ästhetik skizziert wurden: In Glauben und Liebe werde keine romantische Normenvermittlung unter den Bedingungen einer nicht-ständischen Gesellschaft, keine unendliche intersubjektiven Suche nach Wahrheit praktiziert, wird da implizit behauptet, sondern im Grunde hypokritische Aufklärung: Die Fragmentsammlung entwerfe eine mit konkreten Inhalten gefüllte Norm idealer Staatlichkeit – ein romantisches Preußen –, zu deren realpolitischer Umsetzung sie ihre Leser – wie der Priester die Laien – anhalten wolle.48 Die in diesem Kapitel entwickelte Deutung versucht die Fallstricke einer demokratischen Normalisierung von Glauben und Liebe ebenso zu umgehen, wie eine ›Ent-Romantisierung‹ dieses Textes, also eine Deutung, die Glauben und Lie-
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Glückseeligkeit, zum höchsten Zweck, gleichsam also zum ersten Träger des geistigen Universums zu machen« (IV,245). Vgl. dazu Stockinger (1988b), 70 u. 552f. (hier Anm. 111). Kurzke (1983a), 63. Dennis Mahoney zufolge, will Hardenberg »eine Verwandlung des alten, friderizianisch verwalteten Staats bewirken […]. Aber nicht nur der König und die Königin von Preußen, an die die Staatsschrift gerichtet war, sollten diese Verwandlung durchführen. Indem Novalis seine Leser dazu aufforderte, eine ganz neue Einstellung zu König und Königin zu entwickeln – nämlich Glauben und Liebe – sollten auch sie an dieser Neugestaltung des Staates beteiligt sein« (Mahoney [1990], 194). An anderer Stelle reduziert er Glauben und Liebe sogar ganz auf eine bloße »Fortsetzung der aufklärerischen Fürstenspiegel« (Mahoney [2001], 77). – Unter anderer Deutungsperspektive ist auch Ethel Matala de Mazza der Ansicht, dass Glauben und Liebe auf die »Verwirklichung einer sozialen Utopie« (Mazza [1999], 167) dränge, nämlich darauf, »die Ordnung des Sozialen in der Natur des Körpers zu fundieren« (ebd., 170). – Joseph Vogl schließlich geht davon aus, dass Novalis mit seinem romantischen Preußen »auf eigene Art das Schaubild des Feudalismus aktiviert und die Rückbindung an eine Struktur sucht, die vor dem Auseinandertreten von Haushaltung und Staatsökomomie liegt – an den Modellcharakter der Familie, die in den kleinen Parzellen das Bild der Totalität wiederholt« (Vogl [1997], 479).
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be gar nicht mehr als Phänomen romantischer Transzendentalpoesie liest, sondern als ›feudalistischen‹ oder ›konservativen‹ Aufruf zur totalen Vergemeinschaftung, als Plädoyer für eine Ersetzung von Rechtsstaatlichkeit und individuellen Grundrechten durch die liebende Aufopferung an ein organologisch gedachtes Allgemeines. Stattdessen wird erfragt, inwiefern Glauben und Liebe auf jene Epochenfrage nach der säkularen Begründung moralischer Normen antwortet und inwiefern es sich dabei um einen spezifisch romantischen Antwortmodus handelt. Der Text entwirft einen romantischen Staat, basierend auf Versatzstücken eines tatsächlich existierenden Staats, nämlich dem Königreich Preußen unter dem jungen Monarchenpaar Friedrich Wilhelm III. und seiner Frau Luise. Vom preußischen Königspaar ist fast nirgends wörtlich die Rede, stattdessen wird allgemein über König und Königin gesprochen: Die Monarchie ist deswegen ächtes System, weil sie an einen absoluten Mittelpunct geknüpft ist; an ein Wesen, was zur Menschheit, aber nicht zum Staate gehört. Der König ist ein zum irdischen Fatum erhobener Mensch. Diese Dichtung drängt sich dem Menschen nothwendig auf. Sie befriedigt allein eine höhere Sehnsucht seiner Natur. Alle Menschen sollen thronfähig werden. Das Erziehungsmittel zu diesem fernen Ziel ist ein König. Er assimilirt sich allmählich die Masse seiner Unterthanen. Jeder ist entsprossen aus einem uralten Königsstamm. Aber wie wenige tragen noch das Gepräge dieser Abkunft? (II, 489:18)
Unter Verwendung romantischer Signalvokabeln wie ›ächt‹, ›absolut‹, ›Dichtung‹, ›fernes Ziel‹, ›höhere Sehnsucht‹ ist hier die Rede davon, dass alle Menschen ›thronfähig‹ seien, jeder Mensch einen König in sich trage, die meisten dies aber vergessen hätten. Zur Erinnerung an das ferne Ziel der ›Thronfähigkeit aller‹ bedarf es eines äußeren poetischen Zeichens, das die Sehnsucht danach weckt und erhält. Mit dem König kann daher nicht nur das preußische Regierungsoberhaupt gemeint sein, sondern es handelt sich hier offenbar auch um das Bild für eine Norm wahrer Menschlichkeit, die jedoch nicht mit konkreten Inhalten gefüllt wird.49 Offenbar wird in Glauben und Liebe am Beispiel der preußischen Monarchie also die ästhetische Operation des Romantisierens vollzogen, was bei Hardenberg bedeutet, die vorfindliche Wirklichkeit augenzwinkernd in ein anderes Licht zu rücken. Romantisieren meint
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Dafür sprechen auch die Schlussverse von Hardenbergs Gedicht ‹Kenne dich Selbst›, das auf den 11. Mai 1798 datiert ist, also auf jenen Tag, an dem Hardenberg das Manuskript zu Glauben und Liebe an Friedrich Schlegel sendet: »Glücklich, wer weise geworden und nicht die Welt mehr durchgrübelt, / Wer von sich selber den Stein ewiger Weisheit begehrt. / Nur der vernünftige Mensch ist der ächte Adept – er verwandelt / Alles in Leben und Gold – braucht Elixiere nicht mehr. / In ihm dampfet der heilige Kolben – der König ist in ihm – / Delphos auch und er faßt endlich das: Kenne dich Selbst.« (zitiert nach Stockinger [2001a], 88: das Gedicht wird hier auf der Grundlage einer wiederaufgefundenen Handschrift gedeutet, die den Herausgebern der HKA noch nicht vorlag).
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eine qualit[ative] Potenzirung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identificirt. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – dies wird durch diese Verknüpfung logarythmisirt. Es bekommt einen geläufigen Ausdruck. […] Wechselerhöhung und Erniedrigung. (II,545:105).
Was bedeuten ›niederes‹ und ›besseres Selbst‹? Bezieht man Romantik auf das Epochenproblem säkularer Moralbegründung unter den Bedingungen einer Anthropologisierung und Empirisierung der intellektuellen Diskurse, so kann man einfach antworten: der ›empirische Mensch‹, dessen Handeln und Denken u.a. von diffusen Gefühlen, körperlichen Zuständen, Umwelteinflüssen, Einbildungen und seinen sozialen Rollen abhängt, und die ›Idee des Menschen‹, der in der Lage ist moralisch frei und nicht interessengebunden oder nur nach Lust und Unlust zu handeln. Die Romantiker nehmen also die anthropologischen und empiristischen Einwände gegen den Rationalismus ernst, aber auch die mit solchen Argumenten verbundene Gefahr, in Nihilismus, Determinismus und Materialismus abzurutschen. Sie konzipieren daher mit der ästhetischen Operation des Romantisieren eine Art moralische ›Starthilfe‹, die eine Möglichkeit bietet, hypothetisch über die Widrigkeiten hinwegzusehen, die die empirische selbstbezogene Natur des Menschen seinem ›besseren Selbst‹, dem Ideal der moralischen Souveränität, Willensfreiheit, Vernunftautonomie etc. entgegenstellt. Dass in Glauben und Liebe eine Romantisierungsoperation stattfindet und ein transzendentales Ideal wahrer Menschlichkeit oder wahrer menschlicher Gemeinschaft in irgendeiner Art und Weise symbolisch repräsentiert werden soll, wurde vom ›normalen‹ Hauptstrom der neueren Novalis-Forschung nie ernsthaft in Zweifel gezogen.50 Selbst Hermann Kurzke räumt ein: »Das transzendentalphilosophische Moment ist stets mitzuhören: der »gebildete«, »gesittete«, »moralische«, »genialische« Staat ist (im Gegensatz zum wilden, unmoralischen und philiströsen) immer auch das »Große Ich«, das potenzierte Selbstbewußtsein der Bürger, das ihnen als Makroanthropos gegenübersteht, in dessen Spiegel sie sich selbst erkennen und so den Weg zu ihrer höheren Bestimmung finden.«51 Ihre liebe Mühe haben die meisten Interpreten dagegen mit einer Reihe von konkreten, aber im Konjunktiv formulierten Reformvorschlägen, die ebenfalls in der Fragmentsammlung enthalten sind. Da wünscht sich Novalis beispielsweise die Einführung von Abzeichen und Uniformen (GL 19), das Aufhängen von Bildern der Königin in allen Privathäusern (GL 30), die Nachahmung der Königinnenmode durch die Kleidung der neupreußischen Frauen (GL 27) oder die Erweiterung privater Hochzeiten zu Huldigungszeremonien der Königin (GL 30). Diese Vorschläge werden in der Forschung fast immer wörtlich genommen, sie scheinen
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Vgl. die Standard-Deutung im Kommentar von Ludwig Stockinger (1987), 370–372. Kurzke (1983), 223.
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nicht romantisierbar zu sein, scheinen sich nicht in das spezifisch romantische Kommunikationsmodell zu fügen, sondern hier nimmt offenbar ein Intellektueller für sich in Anspruch, im Besitz bestimmter utopischer Normen zur Verbesserung der Erfahrungswirklichkeit zu sein, zu deren Umsetzung er seine Leser frontal auffordert. Bei dieser offenen Forschungsfrage setzt die Untersuchung an: In diesem Kapitel soll die symbolische Bedeutung des gesamten Staatsentwurfs rekonstruiert und dabei sollen insbesondere die konjunktivischen Reformwünsche stärker berücksichtigt werden. All diese Vorschläge eint, dass sie um das Sichtbarwerden des Staats in der privaten Lebenswelt kreisen, den Staat also »vielmöglichst zu individualisiren such[en]« (II,489:20). Sie bitten allesamt darum, »mit dem König und der Königin das gewöhnliche Leben [zu] veredeln« (II,493:30). Erkennbar gründet das in Glauben und Liebe konstruierte Bild des ›neupreußischen Staats‹ damit also auf den beiden Dimensionen von Hardenbergs Romantisierungsprogramm, nämlich dem Wechsel zwischen Potenzierung und Logarithmisierung, der Wechselerhöhung und Erniedrigung zwischen wirklichem und idealischem Ich. Die allgemeinen, indikativischen Behauptungen über König und Königin konstruieren die immanente Transzendenz einer regulativen Idee: Sie verweisen im Bild von König und Königin auf das in jedem Staatsbürger verborgene Gattungswesen, die Idee des moralisch frei und nicht nach Lust und Unlust agierenden Individuums. Vice versa handelt es sich bei den konjunktivischen Wünschen um die »Konstruktion einer erhofften Tendenz«52 : Sie legen dem Leser der Fragmentsammlung nahe, das ›gewöhnliche Leben‹ mit dem königlichen Paar zu veredeln, sich im Alltag immer wieder an die Idee vollständiger Individualität zu erinnern. Der Moduswechsel zwischen Indikativ und Konjunktiv verleiht den Aussagen über das romantisierte Preußen dabei seine charakteristisch unspezifische zeitliche Struktur: Die Behauptung der Gegenwart des ›neupreußischen Staates‹ wird mit seiner gleichzeitig nur erwünschten Naherwartung kombiniert. Im Glauben und Liebe-Fragment Nr. 35 hat Novalis diese Darstellungsstrategie auf die paradoxe Formulierung gebracht: »Nichts ist erquickender als von unsern Wünschen zu reden, wenn sie schon in Erfüllung gehn«. Hardenbergs romantisches Preußen, so die Deutungsthese, formuliert also keine konkrete, inhaltlich gefüllte utopische Norm wahrer Menschlichkeit und wahrer menschlicher Gemeinschaft, sondern die Struktur eines prozessualen Wechselverhältnisses: die doppelte Operation des unendlichen Potenzierens und Logarithmisierens. Hardenberg inszeniert Preußen wie einen organischen Blutkreislauf (vgl. GL 10), der zwischen einer vorbildlichen Regierung und Hofkultur und der Individualisierung (vgl. GL 20) dieses Vorbildes im »gewöhnliche[n] Leben« (II,493:30) zirkuliert. Die Darstellung des Staates im gewöhnlichen Leben vollzieht sich aber nur vermittelt-vorläufig, etwa durch Orden oder Abzei-
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Uerlings (1991), 609.
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chen, durch Bilder und Briefe der Königin in jedem Privathaushalt, ja selbst durch die der Königin nachempfundene Kleidung der Staatsbürgerinnen. Zudem wird die Individualisierung des Staates lediglich in Form konjunktivischer, auf die Zukunft gerichteter Wünsche, d. h. im Modus des Postulierens von Zielen formuliert, die Einheit des neupreußischen Staates also nur als zeitlicher Prozess von noch offener Dauer dargestellt. Hardenberg entwirft mit der utopischen preußischen Gesellschaft demnach symbolisch ein Bild für die nur als ewige Verfehlung erfahrbare Idee der Freiheit, eines moralisch souveränen Ichs, für die frühromantische Vorstellung von vollständiger Individualität als unendlicher Selbstvermittlung zwischen dem idealischen Ich und dem wirklichem Ich, zwischen dem Gattungswesen des Staates und dem gewöhnlichen Leben der Staatsbürger. Der ganze neupreußische Staat repräsentiert eine unendliche »Erregung des wircklichen Ich durch das Idealische Ich« (II,529:22) und der transzendentalpoetische Sinn der Fragmentsammlung lässt sich als Mittlerbild für die Idee eines romantisches Ichs reformulieren, das ›schwebend‹ zwischen Vernunft und Gefühl, zwischen Normativem und Relativem einen »ewigen Selbstbeweis« (II,412:5) führt. Romantische Texte wie Glauben und Liebe versuchen ihre Leser mit solchen Darstellungsstrategien an ihre ›innere Unendlichkeit‹ zu erinnern, das heißt an den Gedanken, dass man kein auf den gegenwärtigen Augenblick beschränktes, egoistisch-erstarrtes, absolutes Ich ist, dass man nicht schon im Besitz einer moralischen Norm ist, über die man seine Umwelt hypokritisch aufklärt, sondern erst im Prozess unendlicher Selbstvermittlung zwischen gewöhnlichem und besserem Selbst zum vollständigen Individuum im romantischen Sinne werden könnte. Insofern hat der romantische Unendlichkeitsgedanke immer auch eine konkrete ethische Funktion: er schützt vor Hypokrisie und Normativismus, aber auch vor Nihilismus. Der (ideale) Leser, den der Text konstruiert, lässt sich daher von der Bildlichkeit und der Sprechsituation der Fragmentsammlung zur Sehnsucht nach dem Absoluten stimulieren und zugleich zu einem Gefühl des Mangels, einem Bewusstsein für das ewige Verfehlt-Werden des Absoluten in der Erfahrungswirklichkeit. Ausgehend davon, wird in diesem Kapitel versucht, einen Zusammenhang zwischen der Fragmentsammlung und der Tradition literarischer Utopien herzustellen. Bezeichnend ist ja, dass auch im Falle von Glauben und Liebe das Problem säkularer Normenfindung in einem Text reflektiert wird, der eine von der Erfahrungswirklichkeit abweichende öffentliche Ordnung in einer anspruchsvollen ästhetischen Form darstellt. Die Fragmentsammlung zitiert mithin Textmusterelemente der literarischen Utopie, also einer Gattung, die schon frühneuzeitlichen Intellektuellen dazu gedient hat, sich über das Problem der Normenbegründung unter den Bedingungen der Neuzeitwerdung zu verständigen.53 Glauben und Liebe kreiert dabei jedoch eine originäre Umsetzung für die Synthese zwischen literari-
53
Vgl. Stockinger (1985).
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scher Utopie und Vervollkommnungsidee, die das Darstellungsproblem der aufklärerischen Utopien von Veiras bis Mercier umgeht, weil hier gerade kein von der Erfahrungswirklichkeit räumlich oder zeitlich isolierter utopischer Entwurf dargestellt wird. Dass Novalis’ romantisches Preußen zwar einen Ausschnitt der zeitgenössischen Wirklichkeit in stilisierter Form abbildet, der zugleich aber dennoch als utopisch-gegenbildliche Norm fungieren kann, verdankt sich, wie gezeigt werden soll, den darstellerischen Möglichkeit romantischer Transzendentalpoesie, die es erlaubt, die Wirklichkeit, die romantische Interpretation der Wirklichkeit und die damit zum Ausdruck gebrachte Idee hypothetisch zu verbinden und reflexiv auseinander zu halten. Warum aber wählt Hardenberg ausgerechnet die Monarchie als Romantisierungsvorlage und nicht etwa eine offenere Gesellschaftsform? Man könnte darauf eine einfache und apologetische Antwort geben, nämlich dass sich die Monarchie schlicht und ergreifend besser zum Symbol eignet als die Demokratie, weil die Idee das Ganzen sich hier in einem konkreten Bild konzentriert, nämlich im König. Hinzu kommt, dass sich die preußische Monarchie einem Romantiker auf Symbolsuche just 1798 als Romantisierungsvorlage geradezu aufdrängte, da König Friedrich Wilhelm III., der fast gleich so alt wie Hardenberg war, soeben den Thron bestiegen hatte. Mit dem neuen preußischen König verband die reformoffene, bürgerliche und adelige Intelligenz große Hoffnungen, da er mit seiner Frau Luise in glücklicher Ehe lebte und man von der moralischen Integrität des Monarchen auf seine politischen Fähigkeiten schloss. – Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Monarchie für Hardenberg offenbar nicht nur Symbolqualität besaß, nicht nur als Mittlerbild für transzendentale Ideale interessant war, sondern von ihm auch als konkrete Staatsform in der Erfahrungswirklichkeit scheinbar bevorzugt wurde, um sich dem Ideal anzunähern.54 Allerdings, das gilt es hier ebenfalls zu bedenken, artikuliert Hardenberg nirgendwo in seinem Werk eine wirklich konkrete Position zum Ständestaat. Man kann seine politische Einstellung nicht dingfest machen, es sei denn, man lässt sich auf Spekulationen ein.55
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Vgl. Kurzke (1983), 82, 191ff. u. 220 und Stockinger (1987), 372–375. Die Frage von Hardenbergs konkreter politischer Einstellung wurde zwischen den 1960er und 1980er Jahren in der Novalis-Forschung intensiv diskutiert: Unter Bezug auf AB 1128 sind etwa Kuhn (1961), 170–178 und Peter (1980), 135ff. davon ausgegangen, Hardenberg habe für eine Abschaffung der ständischen Verfassung votiert. Ihre Deutung wurde aber von Kurzke (1983), 213–215 plausibel widerlegt. Stockinger rekapituliert dann Ende der 1980er Jahre noch einmal die Argumente dieser Forschungskontroverse um Hardenbergs Einstellung zur ständischen Verfassung, diskutiert weitere strittige Stellen in dessen Werk und kommt zu dem Schluss: »Die konkreten Fragen einer organisatorischen Vermittlung von Staat und Gesellschaft sind bei [Hardenberg] nie ausführlich behandelt worden. Gerade diese Lücke ist das Signifi kante, und man sollte sie nicht durch Spekulationen zu füllen versuchen« (Stockinger 1988b, 666, hier Anm. 156). Vgl. auch ebd., Anm. 159.
1. Einleitung: Was heißt Romantik?
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Es wäre daher zu einfach, aus der Tatsache, dass in Glauben und Liebe panegyrische Vorstellungen verwendet werden, die in der Theorie des aufgeklärten Absolutismus zur Verteidigung von Monarch und Monarchie dienen, vorschnell ein Bekenntnis Hardenbergs zur preußischen Monarchie, zum Absolutismus oder zum Ständestaat abzuleiten. Wie in diesem Kapitel gezeigt werden soll, verwendet Hardenberg solche panegyrischen Vorstellungen als Bildspender und artikuliert mit seinem romantisierten Preußen die Struktur einer unendlichen Vermittlung zwischen Entgegengesetztem. Dadurch wirkt aber die Semantik des Unendlichkeitsgedankens auch auf die verwendeten Bildspender selbst zurück und entfaltet ihnen gegenüber ein wirklichkeitskritisches Potential. Gebraucht man nämlich den aufgeklärten Monarchen als vorläufiges Symbol einer unendlichen Annäherung, dann relativiert man damit zugleich auch die Versuche der zeitgenössischen Panegyrik, einen empirischen Monarchen zum idealen zu stilisieren. Gerade indem er Aussagen zur preußischen Monarchie macht und vermittelt darüber auch zur Idee unendlicher Annäherung, kreiert der Text eine utopische Kritik an der Erfahrungswirklichkeit ohne Hypokrisie: Das Bestehende wird nicht im Namen einer konkreten utopisch-gegenbildlichen Norm kritisiert, sondern die Idealisierung empirischer Machthaber vor dem Hintergrund des romantischen Unendlichkeitsgedankens relativiert. Auch eine solche Deutung ändert jedoch nichts daran, dass es sich bei Glauben und Liebe bis heute um Hardenbergs provokativsten und gewagtesten Text handelt.56 Es verwundert daher nicht, dass es der Romantik- und Novalis-Forschung weitaus leichter fällt, Novalis’ naturphilosophischen Überlegungen eine transzendentalpoetische Sinndimension zuzuweisen.57 Schwerer scheint es dagegen zu akzeptieren, dass auch Hardenbergs politische Statements eine solche Sinndimension besitzen. Dies hat den einfachen Grund, dass romantische Naturphilosophie, wenn man sie ernst nehmen und nicht nur symbolisch verstehen würde, keine so gravierenden Folgen hätte, wie ernst genommene romantische Aussagen über das politische Zusammenleben von Menschen (vgl. Anm. 287). Um Hardenbergs Fragmentsammlung im Rahmen seiner frühromantischen Ästhetik verstehen zu können, soll zunächst deren Konzeption in der kritischen Auseinandersetzung mit der nachkantischen Philosophie zusammengefasst und herausgearbeitet werden, inwiefern es sich bei Glauben und Liebe um eine Sonderform unter den frühromantischen Fragmentsammlungen handelt. Vor diesem Hintergrund werden schließlich der Entwurf des neupreußischen Staates und dessen transzendentalpoetischer Sinn rekonstruiert. Den Abschluss bildet eine Lektüre der Fragmentsammlung im Kontext ihrer Erstveröffentlichung in den Jahrbüchern der preußischen Monarchie unter der Regierung Friedrich Wilhelms III.
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Wegen seiner gewagten und provokativen Inhalte steht Glauben und Liebe immer in der Gefahr, als Dokument konservativer Ideologie ausgelegt zu werden: Zum Verhältnis von Romantik und Konservatismus vgl. Kap. IV.3.3.d. Vgl. zuletzt Specht (2010b), 216–308.
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2.
Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
Der Nexus zwischen Hardenbergs frühromantischer Philosophie, Ästhetik und Ethik
Für die jüngere Frühromantikforschung haben sich insbesondere die materialreichen Arbeiten Manfred Franks zur Konstellation der nachkantischen Philosophie in den 1790er Jahren als richtungsweisende Inspirationsquelle erwiesen.58 Frank hat mit seiner minutiösen Rekonstruktion der Argumentation in den Fichte-Studien gezeigt, dass die frühromantische Philosophie und Ästhetik, ausgehend von diesem ersten philosophischen Beitrag Hardenbergs, einen eigenständigen Weg einschlägt. Im Umgang mit dem kardinalen Problem der nachkantischen Philosophie, nämlich der philosophischen Begründung von Selbstbewusstsein59, verfolgen die Frühromantiker eine originäre Problemlösungsstrategie, die sich vom nachkantischen Idealismus Fichtes wesentlich unterscheidet: Zwar gehört die Gruppe von Texten, die spätere Forscher unter dem Titel der ›philosophischen Frühromantik‹ behandelt haben, mit in den mächtigen Strom der von Kant angestoßenen und im spekulativen Idealismus gipfelnden Denkbewegung. Dennoch war es falsch, sie unter die Etikette (einer unreifen oder spielerischen Vorstufe) des ›absoluten Idealismus‹ zu bringen. Sie gehört gar nicht zum Idealismus sensu stricto. Wenn ›Idealismus‹, grob gefaßt, der Name für die Überzeugung ist, daß die Grundgegebenheiten unserer Wirklichkeit geistige (eben ideelle) Entitäten sind oder auf solche zurückgeführt werden können, dann war die Frühromantik nicht einfach dem idealistischen Hauptstrom zuzurechnen. […] [F]ür den Kreis um Novalis und Friedrich Schlegel ist der Grundbegriff unserer Wirklichkeit, ›Sein‹, nie völlig in Gedanken – also in Idealitäten – aufzulösen. ›Sein‹ ist aber auch nicht, wie Kants ›Ding an sich‹, einfach nur das andere zu unserer Bewußtseins-Welt: dasjenige, wovon unsere Sinneseindrücke Erscheinungen sind. Der Ausdruck ›Sein‹ steht vielmehr für den Einheitsgrund der physischen und der geistigen Wirklichkeit. Er steht auch für die Einheit, als die wir uns in der ausgezeichneten Erfahrung des Selbstbewußtseins kennen, die wir aber in dem Urteil ›Ich = Ich‹ nicht als solche erfassen können. […] Und von dieser notwendig vorauszusetzenden, aber nie offenbaren Einheit wird angenommen, daß wir sie eben im Bewußtsein nicht angemessen repräsentieren können […]. So wird der unverfügliche Einheitsgrund, von dem der spekulative Idealismus als von einem Bestand unseres Wissens entweder ausgeht oder zu dem er todsicher hinführt, zu einer unverfüglichen Voraussetzung.60
58 59
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Insbesondere Frank (1969), Frank/Kurz (1977), Frank (1989), Frank (²1990), Frank (²1998a), Frank (1998b) und Frank (2002). Dass man sich selbst nicht einfach reflektieren kann, dass sich die Substanz des eigenen Ichs nicht als theoretisches Wissens erkennen lässt, dies stellt sich als Problem seit Kants Kritik der reinen Vernunft: Selbsterfahrung erfolgt bei Kant im Modus des ›inneren Sinns‹, der aber an die Kategorie der Zeit gebunden ist (vgl. Kant [1974ff.], Bd IV, 383f. = Kritik der reinen Vernunft A 381). Daher liefert auch der ›innere Sinn‹ »keine Erkenntnis von mir, wie ich bin, sondern bloß, wie mir selbst erscheine. Das Bewußtsein seiner selbst ist also noch lange nicht ein Erkenntnis seiner selbst« (ebd., Bd. III, 153 = Kritik der reinen Vernunft B 158). Vgl. auch ebd., Bd. IV, 358f. (= Kritik der reinen Vernunft B 426f.). Frank (²1998a), 27f.
2. Der Nexus zwischen Hardenbergs frühromantischer Philosophie, Ästhetik und Ethik
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Dass die romantische Ästhetik sich aus einem scheinbaren philosophischen Spezialproblem heraus entwickelt, hat – vor allem in der älteren Forschung – nicht unwesentlich zur Entstehung von Ressentiments gegenüber der Frühromantik als weltfremder, sich um sich selbst drehender Hyperreflexion beigetragen.61 Gerade die romantische und nachkantische Diskussion um die Begründung von Selbstbewusstsein steht jedoch in engem Zusammenhang mit dem Problem säkularer Moralbegründung. Indem die Romantiker nämlich darüber nachdenken, wie man von Identität, von einer Substanz des eigenen Ichs, von einem ›Selbst‹ jenseits aller Erfahrung und aller sozialen Rollen sprechen kann und ob es so etwas überhaupt gibt, legen sie die Grundlage für eine Konzeption von Romantik als intellektueller Kommunikation über Normen unter den Bedingungen einer nicht-ständischen Gesellschaftsordnung.62 Wem schon die Rede von einem konsistenten Ich als etwas Nicht-Selbstverständliches, als intellektuelle Aufgabe gilt, der ist auch davor gefeit, bei Fragen einer säkularen Moralbegründung vorschnell Normen fundamentalistisch festzulegen oder hypokritisch für sich in Anspruch zu nehmen. Er kann nicht sagen ›cogito ergo sum‹ oder vice versa behaupten, dass im Selbstgefühl seine Ich-Existenz repräsentiert sei (vgl. Anm. 66). Er kann nicht darauf hoffen, durch Selbstreflexion auf verbindliche Normen und Gewissheiten zu stoßen oder einen Zugang zur Substanz seines Ichs zu bahnen. Er wird stattdessen Kommunikationsformen entwickeln, die eine Verständigung über Normen wie über die Substanz des eigenen Ichs zwar als unverzichtbare Aufgabe, aber auch als unlösbares Problem zeigen, als nicht endende intersubjektive Suche nach einer subjektiv geglaubten Wahrheit, die sich einer Repräsentation immer wieder entzieht. Die von Manfred Frank erarbeitete Genese der frühromantischen Ästhetik aus Hardenbergs kritischer Auseinandersetzung mit der nachkantischen Begründung von Selbstbewusstsein, vor allem in der Frühfassung von Fichtes Wissenschaftslehre, ist bereits in zahlreichen Beiträgen der jüngeren Romantik-Forschung aufgegriffen und nachgezeichnet worden.63 Um für die Deutung von Glauben
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In fast erheiternder Offenheit verkündet etwa der Wieland-Biograph Friedrich Sengle, »daß mir die ›transzendentale‹, d. h. die im engeren Sinne idealistische Romantik – ein hybrides und völlig deutsches Produkt! – theoretisch und menschlich von jeher so ferne lag wie meinem ehemaligen ›Vater Wieland‹ […]. Vielleicht darf ich generalisieren und behaupten, daß die meisten Süddeutschen meine Aversion gegen die transzendentale Romantik teilen und, negativ ausgedrückt, ihre poetologische und philosophische Spekulation keineswegs zu interpretieren versuchen« (Sengle [1980], 1026f.; dazu Stockinger [1988a], 182–185). Vgl. Stockinger (1988b), 286–291. Vgl. Helfer (1996), 80–89; Iber (1997), 115–121; Bark (1999), 362–379; Loheide (2000), 181–238; Schmaus (2000), 9–52; Götze (2001), 115–133; Barth (2001), 229–259; Daiber (2001), 140–151; Zanucchi (2006), 21–49; Gilardoni-Büch (2011), 97–133. – Starke Kritik an Franks Rekonstruktion der frühromantischen Philosophie äußert Kubik (2006), 132–142: Kubik moniert vor allem Franks erzwungenen Nachweis, dass Hardenberg zum Entstehungszeitpunkt der Fichte-Studien bereits fundierte philosophische Kenntnisse besessen habe (Ebd., 140f.), und er sieht darin eine
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
und Liebe ein Argumentationsfundament zu legen, ist es dennoch hilfreich, die Eckpunkte von Hardenbergs selbstbewusstseinsphilosophischer Position und seiner daraus generierten »Ethik der Einbildungskraft« 64 zusammenzutragen.
2.1 Selbstbewusstsein und ›ordo inversus‹ Während der Idealismus, nach Frank, alle Grundgegebenheiten der Wirklichkeit auf das Bewusstsein zurückführt, eint die Frühromantiker die Überzeugung von einem dem Bewusstsein vorgängigen Sein, aus dem das Bewusstsein seine Selbstgewissheit bezieht. Dies bedeutet zunächst, dass die Frühromantiker im Unterschied zum Idealismus eine der traditionellen Metaphysik analoge Position einnehmen. Frank hat jedoch herausgearbeitet, dass sich zwischen Frühromantik und traditioneller Metaphysik die Modi der Gewissheit, die das Bewusstsein vom Sein gewinnen kann, grundlegend unterscheiden: Während Metaphysik davon ausgeht, dass das Bewusstsein vom Sein ein repräsentierbares Wissen erlangen könne, kann sich das Bewusstsein nach Hardenberg nur im Modus eines präreflexiven Fühlens auf das Sein beziehen, gewusst werden kann es nicht. Das »Selbstgefühl« (II,113:15) als philosophischen Terminus hat Hardenberg vermutlich über Fichtes Wissenschaftslehre 65 kennengelernt und Fichte seinerseits hat ihn von Ernst Platner übernommen.66 Möglich ist auch, dass Hardenberg in
64 65 66
eklatante Überschätzung des jungen Hardenberg (Ebd., 136). Das größte Manko von Franks Rekonstruktion der philosophischen Frühromantik sei zudem seine blasse Fichte-Deutung (Ebd., 139; ähnliche Kritik üben schon Loheide [2000], 173 und Götze [2001], 18 u. 254). Kubiks Einwände verdienen zweifelsohne Berücksichtigung. Im Rahmen meiner Arbeit geht es aber nicht um ein ›richtiges‹ Fichte-Verständnis oder um die Plausibilität von Franks monumentaler Skizze der nachkantischen Philosophie, sondern um die Rekapitulation einiger Eckpunkte von Hardenbergs Auseinandersetzung mit Fichte. Dafür sind Franks Ausführungen aber noch immer richtungsweisend. – Schwerer wiegt indes Kubiks Einwand (Kubik [2006], 139), dass die für Franks Deutung so zentralen Begriffe ›Selbstgefühl‹ und ›Selbstbewußtsein‹ in den Fichte-Studien nur je ein einziges Mal vorkommen (II,113:15; II,286:646). Was das Selbstgefühl betrifft, so ließe sich gegen Kubik wiederum einwenden, dass Hardenberg zwar in der Hauptsache den von Jacobi (²1789) entlehnten Begriff des ›Gefühls‹ mit der Bedeutung eines ›Urseyns‹ gefühlter Existenz gebraucht (vgl. Frank [2002], 79), damit aber im Grunde Ähnliches bezeichnet wie das ›Selbstgefühl‹ (vgl. Anm. 66). Dies wäre auch mit Kubiks Bemerkungen zu Hardenbergs philosophischem Dilettantismus kompatibel, denn immerhin gehört die Lektüre von Jacobis Spinoza-Buch zu den wenigen philosophischen Basiskenntnissen, die Kubik dem jungen Hardenberg zugesteht (Kubik [2006], 140). Was den Terminus Selbstbewusstsein anbelangt, so kann Kubiks Einwand als Indiz dafür gelten, dass die Fichte-Studien eben nicht primär als selbstbewusstseinsphilosophischer Beitrag zu lesen sind, sondern als Theorie der transzendentalpoetischen Darstellung. Für die Darstellungstheorie als Hardenbergs zentralem Konzept plädiert auch Uerlings (2004b). Uerlings (2004a), 38. Vgl. Grundlagen der gesammten Wissenschaftslehre § 7–10, GA I.2, 417–446; Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre, GA I.3, 167. Im § 65 seiner Anthropologie für Aerzte und Weltweise bestimmt Platner das Selbstgefühl als »die eigene Erfahrung von den Wirkungen und Modificationen unserer Seele«
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seiner Leipziger Studienzeit selbst Vorlesungen bei Platner gehört hat.67 Mit dem Gefühl oder Selbstgefühl greift er jedenfalls einen Terminus wieder auf, der insbesondere in der Spätaufklärungsanthropologie bereits eine Schlüsselrolle gespielt hat, etwa bei dem Versuch, die Anthropologie gegen den Nihilismus- und Determinismusvorwurf zu immunisieren und eine anthropologische Begründung menschlicher Freiheit zu konstruieren (vgl. Kap. I.3.2.d).68 Im Unterschied zur empiristisch argumentierenden physiologischen Anthropologie wird Hardenbergs Denken allerdings von der kantisch motivierten Frage getragen, wie denn ein Phänomen rein subjektiver Erfahrung wie das Gefühl als oberstes Prinzip eines philosophischen Systems fungieren könne. Im Ausgang von dieser Fragestellung entwickelt er die frühromantische Darstellungstheorie. Die Nicht-Objektivierbarkeit dieses rein subjektiven Vermögens, die in der spätaufklärerischen Anthropologie zumeist unter den Tisch fällt, macht für Hardenberg gerade den philosophischen Wert dieses Terminus aus. Die Undarstellbarkeit des Selbstgefühls, zugleich aber die Sehnsucht nach einer Darstellung, die es erzeugt, den ›Trieb Ich zu sein‹, das Bedürfnis, die nur gefühlte Ganzheit des Ichs auch auf den Begriff bzw. ins Bild zu bringen, diese beiden Dimensionen sind es, aufgrund
67 68
(vgl. Platner [1772], § 65, 18). – Platner gehört damit zu einem wichtigen Wegbereiter der These, dass das Selbstgefühl die eigene Existenz repräsentiert: In den Philosophischen Aphorismen spricht er von einem »Selbstgefühl Ich« und einem »Gefühl: Ich bin« (Platner [³1793], §142 u. §146 = GA II.4 S, 47), das dem Cogito vorausgehe (vgl. Thiel [2007]). – Die dritte Auflage von Platners Philosophischen Aphorismen liegt Fichtes Vorlesungen seit dem Wintersemester 1794/95 zugrunde, in denen er Platners These vom Existenz-Gefühl im Selbstbewusstsein attackiert: vgl. GA IV.1, 226. Für Fichte eignet sich das Selbstgefühl nicht als Begründungstheorem von Selbstbewusstsein bzw. Ich-Existenz, weil ihm Wirklichkeit und Existenz überhaupt nur als Einschränkung eines vorgängigen Tuns gelten. Platners These, dass das Selbstgefühl Ich-Existenz repräsentiert, verträgt sich nicht mit Fichtes Auffassung vom absoluten Ich: vgl. GA IV.1, 223. – Gegen Fichtes Kritik an Platner greift Hardenberg in den Fichte-Studien wieder auf dessen Gedanken zurück, dass im Selbstgefühl Selbstsein repräsentiert werde, allerdings nun unter den Vorzeichen einer transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie. Dass es sich dabei, vermittelt über die Fichte-Lektüre, um eine explizite Auseinandersetzung mit dem Platnerschen Selbstgefühl handelt, darf allerdings eher bezweifelt werden. – Zu der problem- und ideengeschichtlichen Konstellation Platner-Fichte-Hardenberg vgl. Frank (2002), 34–40 u. 87f. Vgl. Frank (²1998a), 674f. und Košenina (1989), 36, hier Anm. 102. – Zu Hardenbergs und Friedrich Schlegels Studienzeit in Leipzig vgl. Stockinger (2010). Vgl. Stiening (2003/2004), insbesondere 104–111. – Der Terminus des ›Selbstgefühls‹, der in der Spätaufklärungsanthropologie eine beachtliche Karriere macht und bei Fichte und Hardenberg wieder auftaucht, verdankt sich einem Übersetzungsvorschlag, den Johann Bernhard Basedow für John Lockes Begriff des ›inner sense‹ unterbreitet hat. Das ›Selbstgefühl‹ taucht also im deutschen Sprachgebrauch im Zusammenhang mit der Verarbeitung und Verbreitung des englischen Empirismus auf (vgl. Frank [2002], 101). Der Begriff meint schon bei Spätaufklärern wie Basedow, Johann Georg Heinrich Feder, Platner und Johann Nicolas Tetens oder den Materialisten Michael Hissmann und Christoph Meiners ein unmittelbares Bewusstsein der eigenen Perzeption, ein Existenzbewusstsein. 1772 erscheint sogar eine eigene Monographie zu diesem Vermögen (Michael Ignaz Schmidt: Geschichte des Selbstgefühls. Frankfurt/Leipzig 1772).
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derer das Gefühl bei Hardenberg einen so herausragenden Stellenwert besitzt. Auf der Folie eines scheinbaren Spezialproblems der nachkantischen Philosophie, nämlich der Begründung von Selbstbewusstsein im Selbstgefühl, setzen sich die Romantiker also mit dem zentralen Epochenproblem um 1800 auseinander, mit dem Fehlen eines festen Standpunkts, einer obersten perspektivunabhängigen Wahrheit, sprich: mit der ›Krise des Wahren und des Guten‹.69 Das Selbstgefühl bezeichnet eine vorreflexive »Identität-mit-sich-selbst«70, eine »präreflexive Selbstvertrautheit«71, die ein »rezeptives, ungegenständliches Bewußtsein des Absoluten«72 ermöglicht. Mit dem Selbstgefühl hat das Bewusstsein sein Selbstsein schon erschlossen, noch bevor es sich in dem thetischen Urteil ›Ich bin Ich‹ selbst setzt. Die präreflexive unbestimmte Vertrautheit des Selbstgefühls hat jedoch nur so lange Bestand, wie das Selbstgefühl nicht um sich selbst weiß, denn Wissen bestimmt das Sein und modifiziert es insofern auch. Beim Gefühl handelt es sich daher um ein »Geseztseyn durch ein Nichtsetzen« (II,125:31). Hardenberg versteht das Selbstgefühl als bewusstseinsimmanentes Phänomen, aber als den äußersten, nicht-reflexiven Rand des Bewusstseins: »Die Grenzen des Gefühls sind die Grenzen der Filosofie« (II,114:15). Vom Gefühl bezieht das Bewusstsein seine Selbstgewissheit, darüber hinaus kann Philosophie nichts mehr aussagen, über einen metaphysischen Zusammenhang von Ich und Natur kann man nur poetisch spekulieren: »Die Filosofie ist streng auf die bestimmte Modification – des Bewußtseyns – eingeschränkt. Sie ist bescheiden – Sie bleibt in ihren Gränzen. Sie begreift, was in ihr, oder unter ihr ist« (II,268:559).73 Bei Hardenbergs frühromantischer Philosophie handelt es sich also nicht um Metaphysik im vorkritischen Sinne, sondern um eine die Grenzen der Transzendentalphilosophie respektierende »Sofistik des Ich« (II,136:46). Wenn man sein philosophisches System auf das Selbstgefühl und die gefühlsmäßige Sehnsucht nach dem Absoluten gründet, dann muss man auch die Repräsentation des Gefühls im Bewusstsein erklären, denn »[d]as Gefühl kann sich nicht selber fühlen« (II,114:15). Die Überführung der präreflexiven Selbstvertrautheit in einen bewussten Zustand, in ein Urteil über das eigene Selbst, geht nach Hardenberg notwendigerweise mit einer »innere[n] Selbstscheidung« (II,547:112) einher. Hölderlin hatte dies 1795 etymologisch-spekulierend die »Ur=theilung«74 genannt. Jede reflexive Darstellung des nur mit sich selbst identischen Gefühls ist lediglich in einem Scheinsatz möglich, denn »[w]ir verlassen das Identische um es darzustellen« (II,104:1). Die Darstellung des beziehungslo-
69 70 71 72 73 74
Vgl. Engel (2009), 60f. Frank (²1990), 145. Frank (1989), 252. Schmaus (2000), 15. Vgl. zudem: »Alles Absolute muß aus der Welt hinaus ostraciren. In der Welt muß man mit der Welt leben« (II,395:55). Hölderlin (1992–1993), Bd. 2, 50.
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sen Selbstgefühls wird also mit einem »Mangel an Sein«75 erkauft. Eine Darstellung ist ein »Nichtseyn[…] im Seyn« mit dem Sinn, »das Seyn für sich auf gewisse Weise da seyn zu lassen« (II,106:2). Das Basistheorem von Hardenbergs ›Sofistik des Ich‹ lässt sich daher als die unhintergehbare Dualität von Gefühl und Reflexion auf den Begriff bringen, denn erst das dialektische Verhältnis dieser beiden Momente, die wechselseitig voneinander abhängen, sich aber gegenseitig ausschließen, konstituiert Selbstbewusstsein.76 Hardenbergs Modell von Ichheit als »wechselseitiger Beziehung« (II,130:41) muss allerdings auch erklären, wie sich das Selbstbewusstsein seines Grundes versichern kann, wenn dieser Grund zwar gefühlt, aber nicht erkannt und repräsentiert werden kann bzw. alle Versuche, das mit sich identische Selbstgefühl darzustellen, lediglich Scheinsätze produzieren. Manfred Frank und Gerhard Kurz haben Hardenbergs Handhabe dieses Problems 1977 auf den Quellenbegriff ›ordo inversus‹ gebracht.77 Ausgehend von der wörtlichen Ableitung des ReflexionsBegriffs aus der Spiegelungsmetapher (II,142:63/64), meint Hardenberg mit ›ordo inversus‹ eine »Verdoppelung der Reflexion«78, also die Korrektur des seitenverkehrten Schein-Bildes vom Sein, das die erste Reflexion, die reflexive Repräsentation des nur mit sich identischen Selbstgefühls produziert, durch eine
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77
78
Frank (1989), 255. – In FSt. 566 spricht Hardenberg wortwörtlich davon, dass sich das Absolute nur »durch ewigen Mangel realisirt« (II,270:566). Nach Hardenberg lässt sich das Gefühl einerseits »nur in der Reflexion betrachten[, aber] der Geist des Gefühls ist da heraus« (II,114:15). Andererseits kann die Reflexion ein Bewusstsein von »Sich-als-Sein« (Frank [²1990], 142) nur auf der Grundlage des Selbstgefühls erlangen. Manfred Frank hat dieses dialektische Verhältnis zwischen Gefühl und Reflexion in Anlehnung an ein Zitat aus den Fichte-Studien als ›Rollentausch‹ bezeichnet (Frank [²1990], 155): »Das Ich der Reflexion hat aber die Form des Ichs […] Es ist also Subject – und das Ich des Gefühls Object. Ist jenes Ich, so ist dieses Nichtich. Reflexion wird hier, was Gefühl ist – Gefühl, was Reflexion ist – sie tauschen die Rollen« (II,127:33). – Vgl. auch II,130:41. Frank/Kurz (1977). – Die Begriffsfindung von Frank/Kurz stützt sich auf folgende Quellenbelege: II,127:32; II,128:36; II,131:41; II,133:44. – Der lateinische Terminus ›ordo inversus‹ bezeichnet eine schon in der Antike greifbare Denkfigur, nämlich »die Bewegung eines Ausgehens von einem Ausgangspunkt, die sich im Zuge eines Zurückkehrens wieder mit ihm verknüpft« (Danneberg [2010], 93). Obwohl Hardenberg diesen Terminus nur in den Fichte-Studien und hier auch nur in wenigen, zudem kurz aufeinander folgenden Passagen gebraucht, ist Frank/Kurz recht zu geben, wenn sie darin eine Grundfigur von Hardenbergs Denken erblicken, denn Hardenberg hat sie mit kontextuell variierenden Bezeichnungen, wie z. B. ›Hin und her Direction‹, ›Weg nach innen und wieder heraus‹, ›Hereinwärts und herauswärts‹, ›Potenzierung und Logarithmisierung‹ etc., immer wieder neu formuliert (eine umfängliche Liste dieser Begriffsvarianten findet sich bei Uerlings [1991], 229f.). Ob man diese Grundfigur nun als inverse Kreisbewegung, als Hin- und Herdirektion oder als Wechsel zwischen Potenzierung und Logarithmisierung fassen will, ist letztlich einerlei, da sich Formulierungsvarianten oder Bilder, die dies zum Ausdruck bringen, bei Hardenberg allenthalben finden. Dagegen zieht Kubik, gerade wegen der verschwindend geringen Zahl von Quellenbelegen, den Stellenwert des ›ordo inversus‹ als Hardenbergs zentraler Denkfigur in Zweifel (Kubik [2006], 149). Schmaus (2000), 19.
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zweite Reflexion, die sich selbst und damit auch den Schein negiert.79 Mit der zweiten Reflexion bringt das Ich sich durch »Scheinnegation« (II,196:278) die Scheinhaftigkeit seiner Selbstdarstellung zu Bewusstsein, generiert also gegenüber dem »Urseyn« (II,142:63) des Gefühls eine Haltung »wissenden Nichtwissens«80. Die philosophische Pointe dieser Überlegungen besteht darin, dem Ich einen Weg aufzuzeigen, wie es transzendentalphilosophisch legitim vom Absoluten sprechen kann, nämlich indem es zugleich dementiert, das Absolute repräsentieren bzw. seine Existenz sicher behaupten zu können. Das Absolute, die Autonomie des eigenen Selbst ist für das empirische Ich nur als deren ewiges Verfehlen erfahrbar. Das Ich kann nur durch »Reflexionsnegation […] indirekt auf den Gedanken ›Sein‹«81 gebracht werden. Dieser ›reflektierte Reflex‹82 als Grundoperation von Hardenbergs Darstellungstheorie folgt mithin aus dem »berühmte[n] Widerstreit im Ich« (II,127:32), denn das Ich fühlt sich zwar selbst als Einheit, muss sich aber bei dem Versuch, diese Einheit zu erkennen oder zu denken, selbst zum Objekt machen und verfehlt damit die Einheit zwangsläufig. Das sich als Einheit fühlende Ich kann seine Einheit nur in deren Abwesenheit fassen, durch »das freywillige Entsagen des Absoluten« (II,269f.:566), durch die reflexive Einsicht in seine »Unvermögenheit ein Absolutes zu erreichen und zu erkennen« (II,270:566). Die Einsicht in die reflexive Uneinholbarkeit der Vertrautheit des Selbstgefühls erzeugt im Ich einen Widerspruch und einen Mangel, eine Sehnsucht nach der Wiederaneignung jener ›Identität-mit-sich-selbst‹, einen »Trieb Ich zu seyn« (II,134:44). Die diesem Trieb zugrunde liegende Idee eines ›absoluten Ichs‹, in dem Gefühl und Reflexion, Sein und Bewusstsein eine Einheit bilden, muss das Ich seiner Existenz zwar voraussetzen, sie entzieht sich seinen Repräsentationsbemühungen aber immer wieder. Resultat dieser »Widerspruchsstruktur des Ich«83 ist deshalb das romantische Konzept von Ichheit als unendlichem Prozess, als unaufhörlicher »Selbsthervorbringung« (II,200:282).
2.2 Einbildungskraft und Ichheit Mit der tragenden Rolle, die Hardenberg der Darstellung des Selbstgefühls im Erkenntnisakt zuweist, erhält die Einbildungskraft in seinen Überlegungen eine zentrale Gelenkfunktion. Sie leistet jene Repräsentation der präreflexiven Selbst-
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»Ich bin nicht Ich inwiefern ich mich setze, sondern inwiefern ich mich aufhebe« (II,196:278). – Bekanntermaßen gebraucht auch Friedrich Schlegel im 116. Athenaeums-Fragment die Metapher der gespiegelten Spiegelung und der unendlichen Reihe von Spiegelungen, um das romantische Darstellungsprinzip, die ›progressive Universalpoesie‹ zu charakterisieren. Frank (1989), 257. Frank (²1998), 842. Schmaus (2000), 19. Ebd., 23.
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vertrautheit und verleiht dem nicht-thetischen Gefühl eine Anschauung, vollbringt also die Vergegenständlichung eines an sich gegenstandslosen Zustands. Dabei handelt es sich allerdings um die Produktion von Scheinsätzen, was erst die Verdopplung der Reflexion im Schema des ›ordo inversus‹ erkennbar macht. Hardenberg entdeckt aber eine ethische Dimension in dieser von der Einbildungskraft geleisteten Selbstrepräsentation, nämlich ihre sinnliche Überzeugungskraft, ihr Glauben erzeugendes Potential. Deshalb ist für Hardenberg der dem Gefühl korrespondierende epistemische Modus der des Glaubens, denn »[w]as ich nicht weis, aber fühle / das Ich fühlt sich selbst, als Gehalt / glaube ich« (II,105:1). Die Idee eines absoluten Ichs bezeichnet insofern die reflexive Repräsentation der sich im Gefühl offenbarenden Selbstvertrautheit, der reflektierte Reflex des ›ordo inversus‹ bringt aber ans Licht, dass es sich bei der Darstellung des präreflexiven Einheitsgefühls um eine Einheit handelt, die zwar postuliert und geglaubt, aber eben nicht gewusst werden kann. Die Selbstrepräsentation durch die Darstellung seines Selbstgefühls dient dem ›mittelbaren Ich‹ als Strategie, um den Widerspruch zwischen Gefühl und Reflexion zu lösen, indem es sich als Einheit, als »das absolute Ich postulirt« (II,130:41). Gerade damit erzeugt es diesen Widerspruch aber eigentlich erst.84 Die Reflexion der reflexiven Selbstrepräsentation offenbart dem Ich schließlich den rein postulatorischen Charakter seiner Selbstrepräsentation, verweist es zugleich damit aber auf die von ihm erbrachte schöpferische Leistung, auf die Tatsache, dass es sich bei seiner Ich-Identität um eine von ihm geschaffene »Glaubensconstruction« (II,387:44) handelt. Im reflektierten Reflex nach dem Schema des ›ordo inversus‹ erfährt das Ich sich damit als »unendliche freye Thätigkeit« (II,270:566).85 Hardenberg erschließt mit diesen Überlegungen das ichkonstituierende Potential der Einbildungskraft, indem er ihre Vermittlungsfunktion in dem ›Rollentausch‹ zwischen Gefühl und Reflexion herausstellt (vgl. Anm. 76). Ichheit wird bei Hardenberg als »dynamisches Modell«86, als »Konstruktionsprinzip«87 verstanden und die Einbildungskraft als »Möglichkeitsbedingung von Ich-Identität«88. Diesen komplexen Sachverhalt hat er in einem kurzen Notat in den Fichte-Studien konzentriert: Das Ich scheint im Widerspruch zu stehn, wenn man die Natur seiner Wircksamkeit die Thätigkeit d[er] produktiven Imagination nicht kennt, indem es die Erreichung seines Zwecks gleichsam durch das gewählte Mittel zu vereiteln scheint – aber eben dadurch handelt es mit sich selbst in Uebereinstimmung, consequent möchte ich sa-
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Der ›berühmte Widerstreit im Ich‹ ist nichts »als eine nothwendige Täuschung des mittelbaren Ich allein – das aufhören will mittelbares Ich zu seyn und insofern sich selbst widerstrebt« (II,127:32). Vgl. auch II,130f.:41. »Ich soll immer Ich seyn« (II,144:74) – »Wir sind gar nicht Ich – wir können und sollen aber Ich werden. Wir sind Keime zum Ich werden« (III,314:398). Schmaus (2000), 50. Ebd., 36. Ebd., 32.
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gen, es muß so, vermöge seiner Natur, agiren – nemlich weil es nichts ist als ein Schweben [zwischen Gefühl und Reflexion] etc. und so gerade allein nur hervorbringt, und hervorbringen kann, was es hervorzubringen sucht – Es kann ohne so zu verfahren gar nicht hervorbringen – denn alles Hervorbringen geht aufs Seyn und Seyn ist Schweben etc. (II,267:556)
Die Einbildungskraft bildet die Scharnierstelle im Rollentausch zwischen Gefühl und Reflexion, bezeichnet als »Wechselkraft« (II,186:246) also den ›Ort‹ von Ichheit, macht Ichheit als das erfahrbar, was sie nach romantischer Auffassung ist, nämlich eine unendliche Selbstvermittlung in der Zeit. In dieser Bestimmung von Selbstbewusstsein als Zeitlichkeit, das haben die Arbeiten von Manfred Frank zuerst gezeigt, bezieht die Frühromantik eine neue selbstbewusstseinstheoretische Position gegenüber Kant und der nachkantischen, frühidealistischen Philosophie.89 Für das auf sich selbst reflektierende Ich liegt die Realisierung seiner Ich-Identität in der Vergangenheit und Zukunft zugleich, denn mit der reflexiven ›Selbstscheidung‹ geht ihm zum einen die identische Vertrautheit des Gefühls verloren und zum anderen erzeugt diese einen Mangel, den sehnsüchtigen ›Trieb Ich zu sein‹, der das Ich eine Wiedergewinnung seiner Einheit in der Zukunft erhoffen lässt. Das durch die zweite Reflexion entwickelte Bewusstsein vom Täuschungscharakter dieser Einheitsvorstellung eines vergangenen und künftigen absoluten Ichs lenkt den Blick des gegenwärtigen Ichs jedoch auf seine Einbildungskraft als »gemeinschaftliche Sfäre« (II,189:256), die den Gegensatz von Gefühl und Reflexion und damit den Gegensatz zwischen seinem vergangenen und künftigen identischen Ich und seinem gegenwärtigen geteilten Ich umschließt. Realität wird von Hardenberg daher als »Schweben zwischen Extremen« (II,266:555), als »das Differenzial der Funktion der Zukunft und Vergangenheit« (III,475:1132) und Selbstbewusstsein als die »unendliche Realisirung des Seyns« (II,267:566) aufgefasst. So verstanden, meint das Romantisieren der Realität bei Hardenberg die Konstruktion einer »Relationalität«90 zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Ich und Nicht-Ich, Subjekt und Objekt, Gefühl und Reflexion. Dabei besitzt die Realisierung eines absoluten Ichs oder einer zeitlosen »Vollk[ommnen] Gegenwart« (III,61), einer ›goldnen Zeit‹, lediglich den Status eines notwendigen, regulativen Postulats. Diese Ideen sind ein Produkt der vom Selbstvermittlungstrieb angeregten Einbildungskraft, denn »[e]s giebt nur Einbildungskraft – Gefühl und Verstand« (II,167:215).
2.3 Transzendentalpoesie und Ethik Aus romantischer Sicht verdanken wir der Einbildungskraft die ›angenehme Täuschung‹ (III,653:572) unserer Ich-Identität. Aus dem Bewusstsein dieser Täuschung hat Hardenberg eine »poëtische Ethik« (III,420:782), eine »Ethik der 89 90
Vgl. u.a. Frank (²1990), 130–232. Schmaus (2000), 40.
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Einbildungskraft« (vgl. Anm. 64) entwickelt. Der Gedanke ›Ich‹ verfehlt zwar die nur gefühlte Identität immer wieder, ist aber ein umso notwendigeres Mittel der Ich-Konstitution, da sich im Selbstvermittlungsversuch das eigentliche Wesen des Ichs, nämlich unendliche Selbstvermittlung, erst konstituiert. Romantiker streben also nach einer Wahrheit, die eigentlich nur durch ihr Streben entsteht (vgl. Anm. 253). Um dies erfahren zu können, bedarf es der Einbildungskraft. Aus deren Schlüsselrolle im Schema des ›ordo inversus‹ hat Hardenberg seine Konzeption von Transzendentalpoesie abgeleitet. Mit ihr dehnt er den Gebrauch der Einbildungskraft vom Selbstverhältnis des Ichs auch auf dessen Weltverhältnis aus. Transzendentalpoesie meint die symbolische ›Verwandlung‹ des NichtIchs in ein Ich, denn [d]eutlich wird etwas nu[r] [du]rch Repraesentation. Man versteht eine Sache am leicht[este]n, wenn man sie repraesentirt sieht. So versteht man das Ich nur insofern es vom N[icht]I[ch] repraesentirt wird. Das N[icht]I[ch] ist das Symbol des Ich, und dient nur zum Selbstverständniß des Ich. So versteht man das N[icht]I[ch] umgekehrt, nur insofern es vom Ich repraesentirt wird, und dieses sein Symbol wird. (III,246:49) 91
Transzendentalpoesie fungiert mithin als poetische Praxis einer sinnlichen Repräsentation absoluter Postulate, als »symbolische Offenbarung dessen, was in der Philosophie nur als regulative Idee gedacht werden kann«92. Das transzendentalphilosophische Element besteht dabei im Bewusstsein von der Scheinhaftigkeit symbolischer Repräsentation: Hardenberg warnt vor einer »Verwechselung des Symbols mit dem Symbolisirten«, denn »auf ihre[r] Identisirung – auf de[m] Glauben an wahrhafte, vollst[ändige] Repraesentation – und Relation des Bildes und des Originals […] beruht der ganze Aberglaube und Irrthum aller Zeiten« (III,397:685). Die transzendentalphilosophische Selbstreflexion markiert den eigentlichen ethischen Kern von Transzendentalpoesie, denn sie verweist das Ich auf den Täuschungscharakter seiner Identitätskonstrukte, damit aber auch auf die ich-konstitutive Rolle der Einbildungskraft, auf die »unendliche freye Thätigkeit in uns – das Einzige mögliche Absolute, was uns gegeben werden kann« (II,270:566).93 Symbolische Repräsentationen fungieren als »sichtbares Produkt« (II,282:633) dieser unendlich freien Tätigkeit.
91 92 93
Vgl. zudem: »Ich = N[icht]I[ch] – höchster Satz aller Wissenschaft und Kunst« (II,542:83) und: »Alles kann Ich seyn und ist Ich oder soll Ich seyn« (III,430:820). Uerlings (2004a), 28. Vgl. zudem: »Eigentlich ist der Kriticism […] diejenige Lehre, die uns beym Studium der Natur auf uns selbst, auf innre Beobachtung und Versuch, und beym Studium unsrer Selbst, auf die Außenwelt, auf äußre Beobachtungen und Versuche verweißt – philosophisch betrachtet die fruchtbarste aller Indicationen. Sie läßt uns die Natur, oder Außenwelt, als ein menschliches Wesen ahnden – Sie zeigt, daß wir alles nur so verstehn können und sollen, wie wir uns selbst und unsre Geliebten, uns und euch verstehn« (III,429:820).
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Ein adäquates Verständnis von Transzendentalpoesie hat daher immer die beiden Momente zu berücksichtigen, die damit zum Ausdruck gebracht werden, nämlich »Vermittlung und Divergenz«94, die Gleichzeitigkeit von Enthüllung und Verhüllung, von »Epiphanie und Kenosis der ›Ideen‹«95. Herbert Uerlings hat diesen Doppelaspekt von Transzendentalpoesie auf das prägnante Begriffspaar der ›narrativen Konstruktion immanenter Transzendenz‹96 und der ›narrativen Konstruktion einer erhofften Tendenz‹97 gebracht. Damit umschreibt er einerseits die Symbolisierungsleistung von Transzendentalpoesie sowie deren Scheincharakter und andererseits ihre Konstruktion von Realität als Relationalität und von Ichheit als ›unendlicher Realisierung des Seins‹. Mit Uerlings’ Begriffspaar wird erklärbar, warum sich Transzendentalpoesie bei Hardenberg häufig eucharistischer und eschatologischer Bilder bedient bzw. diese oft sogar miteinander kombiniert: Die symbolische Repräsentation bzw. eucharistische Vermittlung von regulativen Ideen und Postulaten wie dem absoluten Ich lässt sich in der Erfahrungswelt transzendentalpoetisch nur als Konstruktion einer eschatologischen Tendenz realisieren:98 Ich bedeutet jenes negativ zu erkennende Absolute – was nach aller Abstraction übrig bleibt – Was nur durch Handeln erkannt werden kann und was sich durch ewigen Mangel realisirt. /So wird Ewigkeit d[urch] Zeit realisirt, ohnerachtet Zeit d[er] Ewigkeit widerspricht. (II,270:566).
Transzendentalpoesie ist daher nicht als Dekonstruktion von Realität zu verstehen, wie in poststrukturalistischen Hardenberg-Deutungen des Öfteren zu lesen,99 94 95 96 97 98
99
Uerlings (1991), 146. Stockinger (2009a), 36. Uerlings (1991), 229. Ebd., 609. Hardenbergs Hymne etwa vergleicht den Zustand romantischer Begeisterung mit einem geselligen Mahl am »Tisch der Sehnsucht, / Der nie leer wird« (I,168). Die eucharistische Erfahrung immanenter Transzendenz äußert sich also nur eschatologisch, als sehnsüchtig erhoffte Tendenz. Vgl. Stockinger (1997), 184f. Hörisch (1976) und Menninghaus (1987) sind die beiden wichtigsten Exponenten der These, dass in der frühromantischen Philosophie und Ästhetik poststrukturalistische und dekonstruktivistische Konzepte bereits ›vorweggenommen‹ werden. Eine kritische Entgegnung darauf findet sich bei Uerlings (1991), 615–625. – Bezogen auf Glauben und Liebe hat Martin Schierbaum die These stark gemacht, dass es sich beim Romantisieren »um ein Konzept der Gestaltungsfreiheit der Bilder« (Schierbaum [2002], 11) handele, das er als ›poetisierte Rhetorik‹ bezeichnet. Der König in Glauben und Liebe sei lediglich ein arbiträres ästhetisches Zeichen (vgl. ebd., 467, hier Anm. 188). Die Fragmentsammlung kappe das »Band der Repräsentation« (ebd., 472) und leiste eine »Überschreitung der Grenze zwischen Kunst und Leben in die Zeichenordnung hinein, also die Einebnung der Differenz« (ebd.). Wesentlich sei dabei nicht, »was das Zeichen repräsentiert, sondern welche Effekte es produziert« (ebd.), denn die »Romantisierung eines arbiträren Zeichens« (ebd., 518) soll nach Schierbaum »Auflösungsmodelle für Hemmungen jeglicher Art bereitstellen« (ebd., 517). Das Romantisieren wird also auf eine bloße Objektivitätskritik mithilfe Wirklichkeit dekonstruierender ästhetischer Formen reduziert. Außer Acht bleibt dabei, dass Romantisieren nicht bedeutet, die Objektivität der Dinge zu dekonstruieren,
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sondern als die hypothetische Konstruktion von Realität als geschichtsphilosophischer Tendenz. Hardenberg selbst stellt klar, dass mit Transzendentalpoesie »keine Decomposition, und Umschaffung der Welt« (II,554:125) gemeint ist, sondern eine »Variations Operation« (Ebd.). Die der Transzendentalpoesie zugehörige poetische Operation des ›Romantisierens‹ meint daher ein Romantisieren von Gegebenem, das als dessen »nothwendiges Werkzeug« (II,503:68) fungiert. Die ethische Dimension von Transzendentalpoesie als einer ethischen ›Starthilfe‹ (vgl. Kap. IV.1) ergibt sich aus dem ihr zugehörigen Doppelaspekt, die Idee des frei handelnden besseren Selbst vermittelnd zu repräsentieren und ihr gegenüber zugleich eine unüberbrückbare Distanz zu artikulieren. Hardenbergs Romantisierungsprogramm lässt sich daher als eine Einübung und Schulung im transzendentalphilosophisch disziplinierten Gebrauch der Einbildungskraft fassen, durch den das Ich die Einbildungskraft als den eigentlichen Ort seiner Ichheit, sich selbst als unendliche Selbstvermittlung und Realität als Relationalität erfährt. Das regulative Bildungsziel seiner ›Ethik der Einbildungskraft‹ nennt Hardenberg das ›vollendete Selbstverständnis‹. Übersetzt in Kants Moralphilosophie wäre dies ein vollständig kultiviertes Gewissen bzw. die zu voller Geltung gebrachte Stimme des inneren Richters. Hardenberg bezeichnet damit einen Zustand, in dem es dem Ich gelingen würde, »sich seines transcendentalen Selbst zu bemächtigen, das Ich seines Ich’s zugleich zu seyn« (II,425:28). Das ›vollendete Selbstverständnis‹ bezeichnet den höchsten Punkt, zu dem sich das Ich bilden könnte, indem es sich selbst als unhintergehbare Dualität von Gefühl und Reflexion, die Vollständigkeit seines Selbst also nur in deren ewiger Abwesenheit erfährt. Romantische Transzendentalpoesie lässt das Ich seine Autonomie und Ganzheit nur im Gefühl ewig verfehlter Autonomie und einer sich immer wieder entziehenden Ganzheit erfahren. Manfred Frank hat dies auf die griffige Formulierung gebracht: »Das höchste uns mögliche Bewußtsein ist das Bewußtsein von der autonomen Praxis gefühlter Verweigerung der Autonomie«100. Das regulative Bildungsziel von Hardenbergs ›Ethik der Einbildungskraft‹ könnte man als die Idee des ›pluralen Ichs‹ bezeichnen, dessen Vernunft und Sinnlichkeit, dessen Vermögen und Interessen, dessen zeitlich wechselnde Zustände und soziale Rollen trotz ihrer Differenz miteinander eine Einheit bilden.101 Das plurale Ich umschließt Sinnlichkeit und Vernunft als »gemeinschaftliche Sfäre« (II,189:256), denn »Gemeinschaft – Pluralism ist unser innerstes Wesen«
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sondern sie zu verfremden, sie in ein anderes Licht zu rücken, um ein »neues Sehen der ›Dinge‹« (Mähl [1992], 171) zu generieren und die »erhabene Ueberzeugung von der Relativität jeder positiven Form« (II,503:68) zu erlangen. Wird indes die Positivität der Dinge gänzlich dekonstruiert, werden mithilfe ästhetischer Verfahren alle Hemmungen aufgelöst, dann mündet dies nach Hardenberg in Nihilismus und in Anarchie, die nur wieder neue Hemmungen und Differenzen produziert (vgl. Kap. IV.3.2). Frank (²1990), 221. Vgl. Engel (1993), 447.
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(III,571:107). Zwischen den gegensätzlichen Polen dieses Ichs besteht nicht Dissonanz, sondern eine ›Liebes- und Verbrüderungsgemeinschaft‹. Man darf das ›plurale Ich‹ der Romantiker daher nicht mit dem spätaufklärerischen Konzept des ›ganzen Menschen‹ verwechseln, denn Spätaufklärer suchen in der Empirie, etwa in den Nerven und Fibern, nach einer natürlichen Schnittstelle, nach einem Übergang zwischen Körper und ›Geist‹, um so den ›ganzen Menschen‹ nachzuweisen (vgl. Kap. I.3.2.d). Mit dem ›pluralen Ich‹ bezeichnet Hardenberg hingegen eine Einheit, die sich immer wieder entzieht, die auf der unhintergehbaren Dualität von Körper und ›Geist‹ basiert.102 Erst als voneinander unabhängige »selbständige, selbstbestimmte Wesen« könnten Sinnlichkeit und Vernunft überhaupt eine »freye Verbindung« miteinander eingehen (II,457:95). Hardenberg umschreibt das mit der Metapher des ›Schwebens‹: beim pluralen Ich handelt es sich um ein »Schweben zwischen Extremen, die nothwendig zu vereinigen und nothwendig zu trennen sind« (II,266:555). Auch der Unterschied gegenüber Fichtes ›Reflexionstheorie‹103 tritt hierbei augenfällig zu Tage:104 Während sich zumindest in der ersten Fassung der Wissenschaftslehre das Ich nur in der Entgegensetzung zum Nicht-Ich konstituiert und sich damit selbst als Absolutes setzt, verlegt Hardenberg diese Entgegensetzung ins Ich selbst, in die Wechselrelation zwischen Gefühl und Reflexion. Er entgegnet auf Fichtes frühes Konzept des absoluten Ichs, dem seine Umwelt als Nicht-Ich gilt: »Statt N[icht] I[ch] – Du« (III,430:820). Nur ein ›vollendetes Selbstverständnis‹, bei dem das Ich sich nicht einem Nicht-Ich entgegensetzt, sondern sich selbst als Wechselrelation der entgegengesetzten Bewusstseinspole Gefühl und Reflexion auffasst, würde ein Verständnis des Anderen ermöglichen, der genau der gleichen Wechselrelation unterliegt: Ohne ein »vollendetes Selbstverständniß wird man nie andere wahrhaft verstehn lernen« (II,425:28). Die Pointe von Hardenbergs ›Ethik der Einbildungskraft‹ bildet also nicht ein dauerhaft-realisierbarer moralischer Zustand, sondern ein »transitorisches – Punctähnliches Ich« (III,442:904), das ein nicht-objektiviertes Verständnis des Anderen als Subjekt ermöglicht, weil es sich selbst nicht absolut setzt, sondern sich romantisierend als unendliche Selbstvermittlung, als »unendlich wachsenden Selbstbund« (II,541:74) wahrnimmt.105 Hardenberg hat Transzendentalpoesie daher auch nicht als Allheil-, sondern als Linderungsmittel konzipiert:106 »Die Poësie heilt die Wunden, die der Ver-
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Vgl. dazu u.a. Schmaus (2000), 9–52. Mit diesem Begriff hat Dieter Henrich jene philosophischen Bemühungen bezeichnet, die sich ausgehend von Kant mit dem Phänomen Selbstbewusstsein beschäftigen: Henrich (1966), 192. Vgl. Uerlings (1998), 63. »Frey seyn ist die Tendenz des Ich – das Vermögen frey zu seyn ist die productive Imagination – Harmonie ist die Bedingung ihrer Thätigkeit – des Schwebens, zwischen Entgegengesezten« (II,266:555). Vgl. Stockinger (2004), 67–72.
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stand schlägt« (III,653:572), nur insofern, als sie dem »beleidigenden Irrthum« (Ebd.) der unvermeidbaren, trennenden Verstandesurteile mit der »angenehme[n] Täuschung« (Ebd.) eines ganzheitlichen Zusammenhangs begegnet. Unter epistemischen Gesichtspunkten verfehlen aber Verstandesurteil und Poesie gleichermaßen die Wahrheit des Seins. Poesie gilt bei Hardenberg keineswegs als Substitut für Verstandesurteile, er schreibt ihr aber die Funktion zu, »deren trennende Auswirkungen zu mildern«107, und versteht sie als eine »Medizin, mit der die chronische Krankheit, die immer neuen Wunden der Trennung und des Verfehlens wahrer Individualität, erträglich gemacht werden«108. Diesen Effekt romantischer Poesie, der sich der Verbindung und der gleichzeitigen Differenzierung von Alltag und transzendenter Sehnsucht verdankt, hat Hardenberg wie folgt beschrieben: »Alle Poësie unterbricht den gewöhnlichen Zustand – das gemeine Leben, fast, wie der Schlummer, um uns zu erneuern – und so unser Lebensgefühl immer rege zu erhalten« (II,568:207).109
2.4 Transzendentalpoesie und Anthropologie Neben dem regulativen Bildungsziel eines vollendeten Selbstverständnisses besitzt Hardenbergs Romantisierungsprogramm noch eine zweite ethische Dimension, die sich auf die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen dem Ich und den Dingen bezieht. In dem berühmten Eingangsfragment des Blüthenstaub hat Hardenberg eine grundsätzliche Problemlage formuliert: »Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge« (II,413:1). Er deutet hier eine doppelte Schwierigkeit an: Die Suche nach dem Unbedingten bzw. die Sehnsucht nach dem Absoluten oder der ›Trieb Ich zu sein‹ resultiert aus der Widerspruchsstruktur im Ich. Aufgrund der Begrenztheit, Gegenständlichkeit und Dinglichkeit der Dinge muss die Unbedingtheitssehnsucht aber stets unbefriedigt bleiben, so dass sie sich staut und sich irgendwann in einem rauschhaften, schwärmerischen Wahn entlädt. Seit Ende 1797 hat Hardenberg sich intensiv mit dem medizinischen Phänomen ›Wahn‹ beschäftigt und dabei versucht, die Transzendentalpoesie vor dem Vorwurf zu bewahren, sie sei eine wahnhafte Praxis. Vermittelt über die Schriften von Andreas Röschlaub110, Carl August Eschenmayer111 und Schelling112 lernte 107 108 109
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Ebd., 71. Ebd., 72. Vgl. zudem: »Die Poesie ist für den Menschen, was das Chor dem griechischen Schauspiele ist – Handlungsweise der schönen, rythmischen Seele – begleitende Stimme unsers bildenden Selbst – Gang im Lande der Schönheit – überall leise Spur des Fingers der Humanitaet – freye Regel – Sieg über die rohe Natur in jedem Worte – ihr Witz ist Ausdruck freyer, selbstständiger Thätigkeit – Flug – Humanisirung. Aufklärung – Rythmus – Kunst« (II,237:435). Röschlaub (1798). Eschenmayer (1797), 67–96. Schelling (1976ff.), Bd. I.6 (Von der Weltseele), 194–196.
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er die Physiologie des schottischen Arztes John Brown kennen.113 In Röschlaubs stark von Brown inspirierter Reizlehre und der darin entwickelten Differenzierung von Krankheit und Gesundheit entdeckte Hardenberg offenbar eine Möglichkeit, die schon in seinen Jugendschriften Von der Begeisterung (1788) und Apologie der Schwärmerey (1789) anvisierte moralische Rehabilitierung von Begeisterung, Schwärmerei und Einbildungskraft auf ein transzendentalphilosophisches Fundament zu stellen. Er greift nun bestimmte Elemente der Reizlehre von Brown/Röschlaub auf, also einem typischen Produkt der monistischen und empiristischen Spätaufklärung, und implementiert sie seiner frühromantischen Ästhetik. Nach Röschlaub unterscheidet sich Gesundheit von Krankheit dadurch, dass zwischen den von außen einwirkenden Reizen und der Erregbarkeit – d. h. der Kapazität, diese Reize zu verarbeiten – ein ausgewogenes Verhältnis herrscht. Krankheit manifestiert sich dagegen in der Disproportionalität dieses Verhältnisses. Hermann Kurzke hat aus dieser Reizlehre eine plausible Deutung von VB 8 entwickelt.114 Hardenberg beschreibt in diesem Fragment zwei Formen des Krankheitsbildes Wahn, nämlich ›Schwärmerey‹ und ›Philisterey‹, bei denen eine je verschiedene Art der Disproportionalität zwischen Reiz und Erregbarkeit vorliegt: Die Schwärmerei meint eine ›logische Entzündung‹, die ›einen scheinbaren Mangel an Denckkraft‹ produziert, weil der Reizüberschuss die Erregbarkeitskapazität übersteigt. Dagegen bezeichnet Philisterei einen Zustand, bei dem eine hohe Erregbarkeitskapazität mit einem Mangel an Reizen zusammenfällt. Kurzke hat nun gezeigt, dass Hardenberg Schwärmerei und Philisterei vor dem Hintergrund der Reizlehre von Brown/Röschlaub als »paradoxe Gegensatzphänomene«115 konzipiert, die eigentlich auseinander hervor und ineinander übergehen. Dies lässt sich, über Kurzke hinaus, auch an dem berühmten Philister-Fragment im Blüthenstaub und dem hier entwickelten Paradox des ›revoluzionairen Philisters‹ illustrieren: Philister leben nur ein Alltagsleben. […] Sie thun das alles, um des irdischen Lebens willen; wie es scheint und nach ihren eignen Äußerungen scheinen muß. Poesie mischen sie nur zur Nothdurft unter, weil sie nun einmal an eine gewisse Unterbrechung ihres täglichen Laufs gewöhnt sind. In der Regel erfolgt diese Unterbrechung alle sieben Tage, und könnte ein poetisches Septanfieber heißen. Sonntags ruht die Arbeit, sie leben nur ein bißchen besser als gewöhnlich und dieser Sonntagsrausch endigt sich mit einem etwas tiefern Schlafe als sonst […]. Den höchsten Grad seines poetischen Daseyns erreicht der Philister bey einer Reise, Hochzeit, Kindtaufe, und in der Kirche. Hier werden seine kühnsten Wünsche befriedigt, und oft übertroffen. Ihre sogenannte Religion wirkt blos, wie ein Opiat: reizend, betäubend, Schmerzen aus Schwäche stillend. […] Die schlechtesten unter ihnen sind die revoluzionairen Philister, wozu auch
113 114 115
Vgl. Kurzke (1983a), 156–164. – Zum Verhältnis zwischen Brown und der deutschen Frühromantik vgl. Neubauer (1967). Kurzke (1983a), 157. Ebd., 158.
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der Hefen der fortgehenden Köpfe, die habsüchtige Race gehört. Grober Eigennutz ist das nothwendige Resultat armseliger Beschränktheit. (II,447/449:77)
Die hier geschilderte Lebenswelt des Philisters zerfällt in ein borniertes, egoistisches Alltagsleben und einen komatösen ›Sonntagsrausch‹. Da die Suche nach dem Unbedingten unter der Woche ausgeklammert und nicht in das Alltagsleben integriert wird, müssen die von der angestauten Sehnsucht verursachten Schmerzen am Sonntag notdürftig von der Religion, wie von einem Opiat, betäubt werden. Das philisterhafte Alltagsleben ist bestimmt von einer beschränkten Hingebung an die reine Dinglichkeit der Dinge, was eine bloße Bedürfnisbefriedigung und ›groben Eigennutzen‹ nach sich zieht. In einer verdinglichten Alltagswelt fehlen der »mystische Ausdruck« (II,485:3) und der »Gedankenreiz« (Ebd.). Es herrscht ein Mangel an Reizen, die die Sehnsucht nach dem Unbedingten stillen könnten, was die Erregbarkeit über ein gesundes Maß hinaus erhöht und den Organismus schwächt. Die Erregbarkeit steigert sich am Sonntag zum ›poetischen Septanfieber‹, das sich aufgrund der Schwäche und Schmerzen, die es im Organismus des Philisters verursacht, nur durch eine sprunghafte Erhöhung religiöser Reize notdürftig stillen lässt: Im ›Sonntagsrausch‹ wird der Philister daher zum Schwärmer, zum ›revoluzionairen Philister‹, verwechselt dabei aber nur eine Form des Wahns mit einer anderen. Dieses Fluktuieren zwischen einem egoistischen, dingbezogenen Philisterleben und dem notdürftigen, betäubenden Sonntagsrausch versucht Hardenberg mit seinem Romantisierungsprogramm zu lindern. Bei seiner »symbolische[n], indirecte[n], Constructionslehre des schaffenden Geistes«116 handelt es sich um eine ästhetische Operation, mit der die Dinge als ›Symbol des Ichs‹ behauptet werden können, mit der das Ich also die von seinem Selbstgefühl verursachte Sehnsucht symbolisch auf seine Lebenswelt, auf »jede[…] Kleinigkeit des Alltagslebens« (II,291:651) projiziert.117 Für den Moment der transzendentalpoetischen Praxis verleiht das Ich dem Nicht-Ich der Objektwelt damit den Status eines Du118, demgegenüber es kein bloß funktionales Besitz- oder Gebrauchsverhältnis einnimmt, und so Realität als Relationalität, als einen ganzheitlichen Beziehungszusammenhang mit einer geschichtsphilosophischen Tendenz konstruiert. Die Dinglichkeit und Objektivität der Dinge wird damit allerdings nicht aufgehoben, sondern hypothetisch relativiert. Transzendentalpoesie kann und soll Verstandesurteile, die über die Dinge als Objekte gefällt werden, nicht ersetzen. Ohne die Dinglichkeit der Dinge, ohne ihre Funktion als ›nothwendiges Werkzeug‹ von Transzendentalpoesie, wäre Romantisieren schlichtweg nicht möglich:
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IV,263: Novalis an Friedrich Schlegel, 7.11.1798. Vgl. auch: »Alles zu beleben ist der Zweck des Lebens« (II,560:166) – »Alles ist Samenkorn« (II,563:188). »Wird nicht der Fels ein eigenthümliches Du, eben wenn ich ihn anrede?« (I,100: Die Lehrlinge zu Saïs).
294
Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
Das Obj[ect] darf nur der Keim, der Typus seyn, der Vestpunct – die bildende Kraft entwickelt an, in und durch ihn erst schöpferisch das schöne Gantze. Anders ausgedrückt – das Object soll uns, als Produkt des Ich, bestimmen, nicht, als bloßes Obj[ect]. (II,282:633)
Transzendentalpoesie löst also die Dinglichkeit der Objektwelt nicht wahnhaft auf, sondern gebraucht sie als einen festen »Stock« (II,490:21), an den ihre Repräsentationen ›anschießen‹ »und in neuen schönen Formen sich um ihn her bilde[n]« (Ebd.). Diese im Modus der Transzendentalpoesie mögliche Bestimmung des Objektes als Produkt des Ichs nennt Hardenberg ›indirecte Selbstbezweckung‹ (III,399:688), denn das Ich »findet sich, außer sich« (II,150:98). Transzendentalpoesie fungiert als Gegengewicht zur Objektivierung der Dingwelt durch die ebenso notwendigen Verstandesurteile. Sie mildert die moralgefährdenden Auswirkungen der Verstandesurteile, die die Dinge als bloße Objekte behandeln, und dabei Gefahr laufen, das Ich durch ununterbrochene ›directe Selbstbezweckung‹ zum ›groben Egoïsm‹ zu verleiten.119 Die transzendentalpoetische ›Ethik der Einbildungskraft‹ zielt also auf eine Lebenspraxis, durch die man sich gegen eine bornierte, gänzliche Verstrickung im Alltag und gegen ein ›philiströses‹, egoistisches Abhängigkeitsverhältnis den Dingen gegenüber verwahrt, aber auch gegenüber gemeinschaftsgefährdendem, rauschhaftem Wahn und Aberglauben. Es geht darum, das Ich vor dem Abrutschen in Nihilismus und Materialismus zu bewahren, aber auch vor Hypokrisie und Normativismus, also vor dem ›wahnhaften‹ Glauben, im Besitz von endgültigen Gewissheiten und Normen zu sein, oder solche aus der Natur, der Geschichte, dem Körper tatsächlich ableiten zu können. Gemeint ist mit Transzendentalpoesie keine betäubende, gänzliche Enthebung aus dem Alltagsleben, sondern ein relativierender Ausgleich zwischen den unfreien Extrempositionen Philisterei und Schwärmerei.120 In medizinischer Hinsicht hat Hardenberg Transzendentalpoesie also als ein Ventil konzipiert, das einen permanenten Stau der Unbedingtheitssehnsucht, dem schwächenden, komatösen ›Sonntagsrausch‹ vorbeugt. Treffend nennt er das Romantisieren einen »Wahnsinn nach Regel und mit vollem Bewußtseyn« (II,547:111). Vom Rausch unterscheidet sich Transzendentalpoesie dadurch, dass sie das Unbedingte zwar vermittelt, zugleich aber eine
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120
»Die directe Selbstbezweckung ist ein Unding mithin – entsteht durch sie eine zerstörende, mithin zerstörliche – und zu zerstörende Potenz – der grobe Egoïsm« (III,399:688). Dirk von Petersdorff hat gezeigt, dass Hardenbergs Einbindung in relativ intakte familiäre Strukturen und seine erfolgreiche Berufstätigkeit erheblichen Anteil an seiner starken Orientierung von Transzendentalpoesie auf Erfahrungs- und Alltagswirklichkeit und Phänomene privater Intimität gehabt haben dürften. Besonders plausibel wird Petersdorffs sehr vorsichtige Beziehungsstiftung zwischen Hardenbergs Biographie und seiner Poetik im Vergleich mit dem fast gleichaltrigen Hölderlin: So lassen der eher problematische familiäre Hintergrund und die berufliche Erfolglosigkeit Hölderlins auch gewisse Rückschlüsse auf die häufig konstatierte ›Weltlosigkeit‹ von dessen Dichten zu (vgl. Petersdorff [2004/2005]).
2. Der Nexus zwischen Hardenbergs frühromantischer Philosophie, Ästhetik und Ethik
295
unüberbrückbare Distanz ihm gegenüber formuliert und dem Ich statt des selbstund gemeinschaftsgefährdenden Oszillierens zwischen egoistischer Dingbezogenheit und rauschhafter Betäubung eine Erfahrung des eigenen Selbst als unendlicher Selbstvermittlung ermöglicht.121 In der ersten Hälfte des Jahres 1798, also während der Entstehung von Blüthenstaub und Glauben und Liebe, befindet sich Hardenbergs Versuch, die anthropologische Reizlehre von Röschlaub/Brown transzendentalpoetisch umzuformulieren, erst im Anfangsstadium. In den ‹Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen› deutet sich mit dem Begriff der ›Aufmerksamkeit‹ (II,577f.:235) allerdings bereits eine Lösung für das Problem an, wie sich die deterministische Reizlehre von Röschlaub/Brown und Hardenbergs Romantisierungsprogramm vereinbaren ließen. Der transzendentalphilosophisch disziplinierte Gebrauch der Einbildungskraft hat eigentlich das Ziel, das Vermögen der Aufmerksamkeit zu trainieren, indem das Ich versucht, die eigene Reizbarkeit zu steuern und damit die Kontrolle über die eigene Erregungskapazität zu gewinnen. Hardenbergs Ausführungen zur Aufmerksamkeit zeigen die Nähe seiner »poëtische[n] Ethik« (III,420:782) zu Kants Moralphilosophie, der zufolge Gewissenskultivierung sich einer erhöhten Aufmerksamkeit auf die Stimme des inneren Richters verdankt. Als Movens moralischer Selbsterkenntnis gilt Hardenberg aber nicht wie Kant eine Pflicht gegen sich selbst, sondern in der reflektierten Einbildungskraft entdeckt er eine Möglichkeit zur Gewissenskultivierung auf der Basis einer Einheit von Lust und Pflicht, von Gefühl und Vernunft. Das nie erreichbare Approximationsprinzip dieses unabschließbaren Bildungsprozesses ist ein auf der Grundlage seiner Gefühle und seiner Vernunft moralisch frei handelndes Individuum: »Der vollkommenste Mensch hat alle Constitutionen samt ihren Veränderungen in seiner Gewalt« (III,350:500). Der ethische Effekt von Transzendentalpoesie besteht aber gerade darin, das Ich die Unerreichbarkeit dieser Vollkommenheit erfahren zu lassen, indem sie die Aufmerksamkeit auf das ›bessere Selbst‹ mit dem Gefühl der Sehnsucht nach diesem vermischt. Gegen die Selbstdeutung des Ichs als autonomes, vernünftiges Subjekt wird also immer wieder die Vorstellung einer unendlichen ›Erregung des wircklichen Ich durch das Idealische Ich‹ gesetzt. Ein bekanntes und charakteristisches Bild für den ethischen Effekt von transzendentalpoetischer Unendlichkeitssymbolik hat Hardenberg mit dem Berufsethos des Bergmanns im Heinrich von Ofterdingen gestaltet: Antriebskraft seiner montanen Tätigkeit ist nicht der Wunsch, die Schätze im inneren des Berges endgültig zu besitzen, sondern sein Berufsverständnis erfüllt sich gerade im immer wieder neu in Angriff genommenen Heben und Fördern der Schätze aus den Tiefen des Berges. Mit der kantischen Moralphilosophie gesprochen, unternimmt der Bergmann also den unentwegten und unabschließba121
»Jede immer getäuschte und immer erneuerte Erwartung deutet auf ein Capitel in der Zukunftslehre hin. vid. mein erstes Fragment im Blüthenstaub« (III,296:314).
296
Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
ren Versuch, in die Tiefen seines Herzens vorzudringen und sein Gewissen zu kultivieren.122 Im Allgemeinen Brouillon hat Hardenberg aus seinen Vorüberlegungen zur Aufmerksamkeit schließlich das Theorem der ›Sensibilität‹ generiert.123 Eine erhöhte und zugleich reflektierte Sensibilität würde es dem Ich ermöglichen, die Aufmerksamkeit aus ihrer völligen Verstrickung in die ›Objektivität‹ des Alltags zu befreien und die Wirklichkeit nicht nur als Ansammlung von besitzbaren Dingen, sondern als ›Relationalität‹, als Zusammenhang wahrzunehmen, in den Dingen also einen Entwicklungsprozess zu konstruieren, der sie »als nothwendige Basen und Anfänge einer künftigen Verbesserung« (III,317:409) behauptet. Mit dem Begriff der Sensibilität realisiert Hardenberg im Allgemeinen Brouillon ein Anliegen, das ihn schon seit seiner Jugendschrift, der Apologie der Schwärmerey, umtreibt, nämlich die moralische Rehabilitierung des in der empfindsamkeitskritischen Spätaufklärung in Verruf geratenen Schwärmertums.124 Sensibilität lässt sich als romantisch verstandenes Schwärmertum deuten. Das Romantisieren fungiert als Ventil, um die Schäden der trennenden, aber notwendigen Verstandesurteile zu mildern, mit denen das Ich die Dinge zu bloßen Objekten degradiert. Dabei erwächst das ›romantische Sehen‹ nur dann nicht zum selbst- und gemeinschaftsgefährdenden Wahn oder Aberglauben, wenn es stets als aktive Konstruktionsleistung des Sehenden, als »Beziehung d[es] Willens auf d[ie] prod[uktive] Imag[ination]« (III,421:782) durchschaut wird.125 In Glauben und Liebe hat Hardenberg für sein Romantisierungsprogramm eine erste ästhetische Umsetzung gefunden, anhand derer er demonstriert, wie und mit welchem Wirkungseffekt man sich eine solche durch die Einbildungskraft geleistete Verbindung von Wirklichkeit und Idee vorstellen soll. Als er später im Allgemeinen Brouillon die Funktionsweise des Romantisierens noch einmal erklärt, zieht er denn auch diese Fragmentsammlung als illustrierendes Beispiel heran. Hardenberg hielt das Zusammenspiel zwischen frühromantischer Selbst-
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123 124 125
Am Schluss des Ofterdingen-Fragments erhält der Begriff des Gewissens sogar einen zentralen Stellenwert, nämlich als Heinrich den Fremden Sylvester bittet, ihm die Natur des Gewissens zu erklären und der Gefragte antwortet: »Wenn ich das könnte, so wär ich Gott, denn indem man das Gewissen begreift, entsteht es. […] Allerdings ist das Gewissen […] der eingeborne Mittler jedes Menschen. Es vertritt die Stelle Gottes auf Erden und ist daher so Vielen das höchste und lezte. […] Das Gewissen ist der Menschen eigenstes Wesen in voller Verklärung, der himmlische Urmensch« (I,330–332). Vgl. Kurzke (1983a), 161 u. Lukas (2000), 37–66. Zur Apologie der Schwärmerey vgl. Kurzke (1983b). Dennoch verstehen etliche Interpreten Romantisieren als eine Form der Veränderung des Seins allein durch das Bewusstseins. Dementsprechend lesen sie Glauben und Liebe auch als konkete Aufforderung, das Bild des neupreußischen Staats nur aus der wollenden Kraft des Gedankens oder bloß aufgrund eines physiologischen Wirkungspotentials von Poesie in der Wirklichkeit umzusetzen: vgl. Pikulik (1989), 153; Mahoney (1990); Mahoney (2001), 69–80; Matala de Mazza (1999), 167–172.
3. ›Glauben und Liebe‹ als literarische Utopie
297
bewusstseinsphilosophie, Ästhetik und Ethik darin also offenbar für besonders gelungen: Die ganze Repraesentation beruht auf einem Gegenwärtig machen – des Nicht Gegenwärtigen und so fort – (Wunderkraft der Fiction.) Mein Glauben und Liebe beruht auf Repraesentativem Glauben. So die Annahme – der ewige Frieden ist schon da – Gott ist unter uns – hier ist Amerika oder Nirgends – das goldne Zeitalter ist hier – wir sind Zauberer – wir sind moralisch und so fort. (III,421:782)
3.
»Die Lehre vom Mittler leidet Anwendung auf die Politik«126 : Glauben und Liebe als literarische Utopie
Zu Ostern 1798 erscheint im ersten Heft des Athenaeum der Brüder Schlegel die Fragmentsammlung Blüthenstaub von Novalis. Abgesehen von dem Jugendgedicht Klagen eines Jünglings, das der Teutsche Merkur 1791 abdruckt, ist dies Hardenbergs erste Veröffentlichung. Überraschend erhält Friedrich Schlegel schon kurze Zeit darauf erneut eine Manuskriptsendung seines Freundes. Im Begleitschreiben heißt es: Ich schicke Dir hier etwas, was ich gern bald irgendwo abgedruckt hätte. Am besten schickt es sich in die Jahrbücher der preußischen Monarchie, ihrem Plane nach. In euer Journal paßt es, wie mich dünkt, nicht. […] Ohne Glauben und Liebe ist es nicht zu lesen. Das Andre sagt die Vorrede.127
Die Fragmentsammlung Glauben und Liebe, von der hier die Rede ist, muss binnen sehr kurzer Zeit, in den zweieinhalb Monaten zwischen dem 24. Februar und dem 11. Mai 1798 entstanden sein. Am 24. Februar hatte Hardenberg das Blüthenstaub-Manuskript an August Wilhelm Schlegel gesandt und diesem von seinen gegenwärtigen Projekten und von weiterem, für eine Publikation in Frage kommendem Material berichtet, Glauben und Liebe erwähnt er jedoch nicht.128 Er dürfte die Fragmentsammlung damals also noch nicht fertig gestellt oder überhaupt noch nicht begonnen haben.129 Hermann Kurzke hat Glauben und Liebe »als Anwendungsfall der Gesetze der transzendentalen Poesie«130 verstanden, zu der in den Vermischten Bemerkungen/Blüthenstaub das Programm entworfen wird. Diese Deutungsthese bestätigen insbesondere Hardenbergs ›politische‹ Fragmente: In den Vermischten 126 127 128
129 130
III,314:398. IV,253: Novalis an Friedrich Schlegel, 11.5.1798. »Steht Ihnen diese Masse an [die Vermischten Bemerkungen], so kann ich noch mit mehr aufwarten. Ich habe noch einige Bogen logologische Fragmente, Poëticismen, und einen Anfang, unter dem Titel, der Lehrling zu Saïs – ebenfalls Fragmente – nur alle in Beziehung auf Natur« (IV,251: Novalis an August Wilhelm Schlegel, 24.2.1798). Vgl. II,475. Kurzke (1983a), 132.
298
Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
Bemerkungen/Blüthenstaub fehlt seinen Überlegungen noch jene Symbol- und Bildhaftigkeit, die Glauben und Liebe auszeichnet. Auch Hardenberg selbst plagte ein gewisses Ungenügen an der Bild- und Symbolhaftigkeit der Vermischten Bemerkungen/Blüthenstaub, wie aus seinem Schreiben an A.W. Schlegel hervorgeht: Wenn Sie nur erst diese Fragmente gelesen haben werden, und die Folge, die noch stärker auftritt, so bitt ich mir von neuem ihr Urtheil über meinen Mystizismus aus, der noch ein sehr unreifes Wesen ist.131
Wenn Hardenberg hier die Unreife seines Mystizismus beanstandet, dann lenkt dies den Blick zuerst unweigerlich auf seine ›politischen‹ Überlegungen und die Rede vom ›mystischen Staatsindividuum‹ in VB 64, denn dies ist überhaupt die einzige Belegstelle, die sich in den Vermischten Bemerkungen/Blüthenstaub für das semantische Feld von ›Mystik‹, ›mystisch‹ und ›Mystizismus‹ finden lässt. Hardenberg meint also, dass für die Konzeption einer Transzendentalpoesie mit den Vermischten Bemerkungen/Blüthenstaub bereits Entscheidendes gesagt wurde, das eigentliche ›Romantisiren‹ hier aber noch nicht gelingt, da begrifflich formulierten Ideen wie dem ›mystischen Staatsindividuum‹ und dem ›poëtischen Staat‹ (VB 122) noch die symbolische Repräsentation fehlt. Bezeichnenderweise blieb VB 122, wo vom ›poëtischen Staat‹ die Rede ist, denn auch unveröffentlicht und wurde nicht in den Blüthenstaub-Druck im Athenaeum aufgenommen. Es handelt sich dabei eben um ein absolutes Postulat und nicht um ein romantisches Symbol, das das Absolute als unendlichen Mangel zum Ausdruck bringt. Unter dem Lektüre-Eindruck einer neuen Zeitschrift, den Jahrbüchern der preußischen Monarchie unter der Regierung Friedrich Wilhelms III., entwickelt Hardenberg im Frühjahr 1798 mit dem neupreußischen Staat schließlich ein transzendentalpoetisches Bild für das erzromantische Konzept eines sich in der Empirie enthüllenden, zugleich aber immer wieder entziehenden Absoluten. Die Zeitschrift war anlässlich der Thronbesteigung des neuen preußischen Königs gegründet worden, mit dem die reformoffene, bürgerliche und adelige Intelligenz große Hoffnungen verband, da Friedrich Wilhelm III. seit 1793 mit seiner Frau Luise in glücklicher Ehe lebte, und man von der moralischen Integrität des Monarchen auf seine politischen Fähigkeiten schloss.132 Einen entsprechend hohen Stellenwert sollte in der neu gegründeten Zeitschrift auch die Charakteristik der Regentenfamilie erhalten, denn von der öffentlichen Verbreitung des moralkonformen königlichen Familienlebens versprachen sich die Herausgeber einen wesentlichen Beitrag zur sozialen Integration Preußens. Gerade jene Artikel der Jahrbücher, die im Duktus der Panegyrik dem neuen preußischen Königspaar huldigen, haben einen unmittelbaren Einfluss auf die
131 132
IV,252: Novalis an August Wilhelm Schlegel, 24.2.1798. Vgl. Stamm-Kuhlmann (1992), 146–151.
3. ›Glauben und Liebe‹ als literarische Utopie
299
Konzeption von Glauben und Liebe ausgeübt, was die unerwartete Plötzlichkeit und Intensität erklärt, mit der sich Hardenberg im Frühjahr 1798 an die Niederschrift von Glauben und Liebe macht. Das in den Jahrbüchern von der preußischen Monarchie präsentierte Bild hat offenbar nicht unerheblichen Anteil an Hardenbergs ›politischer‹ Anwendung jener romantischen Darstellungsoperation, mithilfe derer sich das, was in der Philosophie nur ›regulative Idee‹ ist, auch transzendentalpoetisch ›offenbaren‹ ließ. Damit einher gehen einige grundsätzliche formale und sprachliche Veränderungen, die Glauben und Liebe von anderen frühromantischen Fragmentsammlungen unterscheiden. Ihnen widmen sich die folgenden Abschnitte.
3.1
Zur Fiktionalität und Textkohärenz von Hardenbergs Fragmentsammlungen
Vor einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit Glauben und Liebe stellt sich eine Frage, die die meisten Interpreten stillschweigend übergehen, nämlich ob es sich bei der Fragmentsammlung überhaupt um einen kohärenten Text handelt. Immerhin verträgt sich das Konzept einer kohärenten Fragmentsammlung prima vista keineswegs mit dem frühromantischen Fragmentbegriff, wie ihn Friedrich Schlegel im 206. Athenaeums-Fragment formuliert hat: Ein Fragment muß gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel. (KFSA II,197)
Schlegel charakterisiert das Fragment über seine autonome Individualität und insistiert auf seiner Arrondiertheit, seiner igelhaften Isolation und seiner ganz auf sich konzentrierten Einheit. Er projiziert also wesentliche Formmerkmale des Aphorismus auf den frühromantischen Fragmentbegriff. Auch seine Umschreibung des Fragments als »Chamfortsche Form«133 – eine Anspielung auf das aphoristische Werk Nicolas Chamforts (1741–1794) – sowie sein Selbstverständnis als »Wiederhersteller der epigrammatischen Gattung« (KFSA XVIII,130) bestätigen diesen Transfer von Gattungsmerkmalen. Daneben finden sich bei Schlegel allerdings auch gegenläufige Äußerungen, die das Fragmentarische des Fragments, seine Bruchstückhaftigkeit akzentuieren und das Fragment zur »formlosen Form« (KFSA II,398) deklarieren. Hardenberg wiederum hat im Unterschied zu Schlegel überhaupt keine diskursiv formulierte Fragmenttheorie entwickelt.134 Berühmtheit haben jedoch seine Fragmentmetaphern erlangt, bei denen etwa das
133 134
KFSA XXIV,21: Friedrich Schlegel an Novalis, 26.9.1797. Zum Fragment bei Hardenberg vgl. Uerlings (1991), 215–227; Kubik (2006), 186– 203.
300
Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
Samenkorn oder der Senker als Bildspender für den Fragmentbegriff dienen.135 Hardenberg betont damit den »transitorischen Werth«136 des Fragments. Was die Hardenbergsche Transitions-Metaphorik und Schlegels Fragmentbegriff, der zwischen hermetischer Autonomie und bruchstückhafter Offenheit oszilliert, zur frühromantischen Fragmenttheorie verbindet, ist die Funktion des Fragments als Medium einer ›progressiven Universalpoesie‹.137 Die Fragmentform bezieht ihr Leistungspotential für die frühromantische Ästhetik aus der Fähigkeit, die »Sehnsucht nach d[em] Unendlichen« (KFSA XVIII,418) mitzuteilen und dabei zugleich die Inadäquatheit dieser Mitteilung gegenüber dem Absoluten oder Unendlichen zu kommunizieren. Wie Ernst Zinn gezeigt hat, fungierte für diese spezifisch frühromantische Funktion der Gattung Fragment das Neue Testament als wichtige Inspirationsquelle.138 Das Fragment, von dem man als Gattung überhaupt erst ab der deutschen Frühromantik sprechen kann, entsteht als eigenständiger Begriff mit dem Aufkommen der Philologie in der Renaissance und meint innerhalb dieser allgemeineuropäischen Begriffstradition ein unvollständiges Artefakt. Bei der Karriere, die der Fragmentbegriff im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Deutschland macht, handelt es sich um eine originäre Sonderentwicklung, die von Hamann und Herder angestoßen und besonders durch die johanneische Erzählung von der wunderbaren Brotvermehrung (Joh 6,1–15) und durch das paulinische Diktum »Denn unser Wissen ist Stückwerk!« (1 Kor 13,9) inspiriert wurde: »Der wunderbaren Brotvermehrung schließt sich im Johannesevangelium gleich die eucharistische Ausdeutung dieser Begebenheit an, der zufolge Jesus selbst das wahre Brot des Lebens ist, was der Sammlung der übriggebliebenen Brocken eine vertiefte Bedeutung verleiht. Auf entsprechende Weise verbindet sich mit dem Stückwerkartigen der Erkenntnis aus dem ersten Brief an die Korinther die Erwartung, daß dieses Stückwerk nur für jetzt gilt, im Stande der Vollendung aber durch das wahre Erkennen aufgehoben sein wird«139. Manfred Frank hat diesen ›fragmentarischen Universalismus‹140 bzw. die ›transzendentale Moralistik‹141 der Frühromantiker als »negative Dialektik«142 beschrieben, die aus einer Sammlung von Fragmenten ein Ganzes macht. Frank geht von Friedrich Schlegels Fragmentbegriff aus und identifiziert die igelhafte, hermetische Geschlossenheit frühromantischer Fragmente vor allem in ihrem
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»Die Kunst Bücher zu schreiben ist noch nicht erfunden. Sie ist aber auf dem Punct erfunden zu werden. Fragmente dieser Art sind litterairische Sämereyen. Es mag freylich manches taube Körnchen darunter seyn – Indeß wenn nur einiges aufgeht.« (II,462:104); »Es sind Bruchstücke des fortlaufenden Selbstgesprächs in mir – Senker« (IV,241f.: Novalis an Friedrich Schlegel, 26.12.1797). IV,271: Novalis an den Kreisamtmann Just, 26.12.1798. Zum frühromantischen Fragmentbegriff vgl. Ostermann (²2003). Vgl. Zinn (1959). Behler (1985), 127. Ostermann (²2003), 281. Neumann (1976), u.a. 79–85. Frank (1984), 219.
3. ›Glauben und Liebe‹ als literarische Utopie
301
sich gegenseitig widersprechenden Verhältnis. Aus der antinomischen Relation der frühromantischen Fragmente zueinander ergibt sich ex negativo ihr absoluter Zusammenhang, da sich nur das widerspricht, was sich auf ein und dieselbe Sache bezieht. In diesem Spezifikum frühromantischer Fragmente liegt nach Frank auch ihr entscheidendes Distinktionsmerkmal gegenüber dem Aphorismus der französischen Moralistik, bei dem Schlegel für seinen Fragmentbegriff formale Anleihen nimmt. Aus diesem Verhältnis zwischen frühromantischem Fragment und Fragmentssammlung resultiert allerdings ein schwerwiegendes Problem für den literaturwissenschaftlichen Umgang mit diesem Textmuster, nämlich die Frage, wie viel Sinnkohärenz ein Interpret der Beziehung einzelner Fragmente zueinander bzw. der Fragmentsammlung als geschlossener Form zumuten kann, ohne dass seine Deutung zur Zumutung wird, weil sie kohärenzstörende Widersprüche glättet und daher der frühromantischen Fragmentästhetik nicht mehr gerecht wird. Dieses Problem lässt sich nicht generell, auch nicht für einen Autor, sondern nur am Einzeltext lösen. So kann man bereits für die 1798 in kurzer zeitlicher Folge entstandenen Fragmentsammlungen Hardenbergs keinen gemeinsamen Modus von Textkohärenz mehr ausmachen. Eine Sichtung der vorhandenen Forschungsliteratur fördert zum Kohärenzproblem von Hardenbergs Fragmentsammlungen kaum verwertbare Ergebnisse zutage.143 Im Gegenteil, insbesondere bei der Literatur zum Blüthenstaub fällt rasch das große Übergewicht ins Auge, das die Interpreten der Untersuchung inhaltlicher Fragestellungen beimessen. Die Konstruktion von Textbedeutung beschränkt sich zumeist auf den Versuch, die in den Fragmenten getroffenen Aussagen in eine diskursive Beschreibungssprache zu übersetzen und Verständnisrelationen zu Hardenbergs Gesamtwerk herzustellen. Fragen nach der Makroform der Fragmentsammlung als bedeutungstragendem Element stehen demgegenüber häufig hintan.144 Welche möglichen Gründe hat dieses gering ausgeprägte litera-
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144
Nişcov (1978) ist einer der wenigen dieser Fragestellung gewidmeten Beiträge: Nişcov hat für das frühromantische Fragment die originelle Erklärung einer ›programmierten Unterbrechung‹ (Ebd., 564) geprägt. Nach Nişcov bilden frühromantische Fragmentsammlungen »kein organisch zusammenhängendes Ganzes, sondern ein Mosaik diskontinuierlicher, nicht korrelierter Elemente, die mehr oder weniger voneinander abgesondert zu bestehen, gedacht worden sind«. Dennoch kommt es bei einer Fragmentsammlung automatisch zu einem »Mechanismus übertextueller Synthese«, denn die Fragmentsammlung erscheint »als ein textueller Raum, der mit einem höheren Künstlichkeitsgrad ausgestattet ist« (Ebd., 567). Trotz der Widersprüche zwischen den Fragmenten entstehen bei der Fragmentsammlung »durch die Kraft der räumlichen Kontiguität auf dem beschriebenen Blatt vielseitige Sinnkorrelationen, auch dann, wenn es sich um die eventuelle Juxtapposition von sich gegenseitig ausschließenden Texten handelt« (Ebd., 568). Dies gilt auch für die bislang detaillierteste Interpretation der Vermischten Bemerkungen, die Satz-für-Satz-Deutung in der Habilitations-Schrift von Gerhard Neumann: Neumann (1976), 289–381.
302
Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
turwissenschaftliche Interesse an der Textkohärenz von Hardenbergs Fragmentsammlungen? Ein Blick auf den in der germanistischen Literaturwissenschaft etablierten Fragmentbegriff bringt ein wenig Licht ins Dunkel dieser Fragestellung: Von Ernst Behler stammt einer der noch immer grundlegenden Beiträge zur Gattung des (frühromantischen) Fragments, der signifikanterweise in einem Sammelband zu den Gattungen der nicht-fiktionalen Prosa abgedruckt wurde.145 Behler, verdienter Herausgeber der Werke Friedrich Schlegels, nimmt hierin die Gattung, ausgehend von Schlegels Fragmentbegriff und dessen Fragmentsammlungen, in den Blick. Daher steht für ihn außer Frage, dass es sich bei den frühromantischen Fragmentsammlungen um nicht-fiktionale Texte handelt. Unangetastet bleibt dieser literaturwissenschaftliche Konsens auch bei der Explikation, mit der das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft aufwartet. Neben einem Artikel (Fragment2 ), der das Fragment im Sinne der gesamteuropäischen Begriffstradition als »Bruchstück eines Textes«146 expliziert, enthält das Lexikon auch das Lemma Fragment1, darin wird jedoch lediglich auf die Artikel Aphorismus und Werk verwiesen. Harald Fricke, von dem der Artikel zum Aphorismus stammt, subsumiert hierunter auch das frühromantische Fragment, nimmt also Friedrich Schlegels Rede vom Fragment als ›Chamfortscher Form‹ für bare Münze.147 Dass er damit einem keineswegs unproblematischen Transfer von Gattungsmerkmalen Tür und Tor öffnet, braucht nach dem oben Gesagten nicht eigens ausgeführt werden.148 Entscheidend an Frickes Artikel für das hier verhandelte Problem ist vielmehr die Begriffsexplikation, die er für den Aphorismus und insofern auch für das frühromantische Fragment anbietet: Gattungskonstitutiv für beide ist auch nach Fricke deren Nicht-Fiktionalität.149 Ich will im Folgenden erfragen, ob das von Behler etablierte Gattungsmerkmal der Nicht-Fiktionalität auch für Hardenbergs Fragmentsammlungen gilt oder ob man, aufgrund der spezifischen Organisation bestimmter Textmerkmale, im Falle der Sammlungen Blüthenstaub und Glauben und Liebe besser von fiktionaler Rede sprechen und gerade die Fiktionalität dieser Texte als ein maßgebliches Kriterium ihrer Kohärenz als Fragmentsammlung bewerten sollte. Der dabei zugrunde gelegte Begriff von fiktionaler Rede basiert auf der instruktiven Fiktionalitätstheorie von Frank Zipfel, deren Kernthesen hier kurz versammelt werden:150
145 146 147 148
149 150
Vgl. Behler (1985). Strohschneider (1997), 624. Fricke (1997). Eine begriffs- und sachgeschichtliche Differenzierung und Verhältnisbestimmung zwischen Aphorismus und frühromantischem Fragment findet sich bei Spicker (1997), 341–344. Fricke (1997), 104. Vgl. Zipfel (2001). – Für eine Kurzfassung seiner Thesen vgl. Zipfel (2011).
3. ›Glauben und Liebe‹ als literarische Utopie
303
Zipfel geht von der analytischen Unterscheidung zwischen Fiktivität und Fiktionalität aus. Mit Fiktivität meint er die Nicht-Wirklichkeit bzw. das ErfundenSein eines Sachverhaltes oder Ereignisses. Mit Wirklichkeit meint er im Gegenzug aber nicht das Ontische oder das Ding an sich, sondern einen historisch und sozio-kulturell variablen, intersubjektiven Konsens darüber, was wirklich ist, sprich: eine dominierende Realitätskonzeption. Wirklich ist, »was den Mitgliedern einer Gesellschaft als wirklich oder real gilt«151. Was von diesem historisch und sozio-kulturell bedingten Konsens abweicht, ist mithin fiktiv. Bei der Darstellung von etwas Fiktivem bzw. Erfundenem handelt es sich entweder um eine Lüge oder um fiktionale Rede. Erst die Einbettung in eine soziale Fiktionspraxis, die Partizipation an einer etablierten Fiktionskultur erlaubt es, fiktive Sachverhalte in Form von fiktionaler Rede darzustellen und zu rezipieren.152 Ein »FiktionsPakt«153 zwischen Produzent und Rezipient tritt dann in Kraft, wenn der Rezipient aufgrund bestimmter, in ihrer Bedeutung konventionell geregelter Fiktionalitätssignale hypothetisch eine vom Produzenten intendierte Rezeptionsanweisung rekonstruieren kann und dessen Rede als fiktionale versteht. Textuelle wie paratextuelle Fiktionsindizien zu identifizieren und angemessen zu bewerten, ist dabei immer Teil der vom Leser erbrachten Rezeptionsleistung.154 Um festzustellen, ob es sich bei einer sprachlichen Äußerung um fiktionale Rede handelt, muss also zunächst geklärt werden, ob – bezogen auf die jeweils geltende Realitätskonzeption – die Darstellung eines fiktiven Sachverhaltes vorliegt. In einem zweiten Analyseschritt gilt es dann zu erfragen, ob die Darstellung des fiktiven Sachverhaltes nach den historisch jeweils gültigen Fiktionskonventionen im Rahmen einer etablierten sozialen Praxis ›Fiktion‹ verstanden werden konnte und verstanden wurde. Nun handelt es sich jedoch bei Hardenbergs Fragmentsammlungen überhaupt nicht um die Darstellung eines Ereignisses oder Geschehens, geschweige denn um ein fiktives, sondern um diskursive und argumentierende Texte. Da frühromantische Fragmentsammlungen kein Geschehen darstellen, das auf seine Fiktivität hin befragbar wäre, verbleibt für eine entsprechende Analyse nur das Äußerungsereignis selbst, dem sich die Fragmente verdanken. Wenn sich zeigen lässt, dass Hardenbergs Fragmentsammlungen ihrer Textlogik nach von einer nicht-wirklichen Aussageinstanz artikuliert werden, dann liegt eine fiktionskonstitutive Dissoziation zwischen realem Autor und fiktiver Äußerungsinstanz vor, eine sprachhandlungslogische Verdopplung der Produktionsinstanz.155
151 152 153 154 155
Zipfel (2001), 75. Ebd., 279–287. Ebd., 279. Ebd., 243. Ebd., 115–122.
304
a)
Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
›Novalis‹ als fiktive Autorimago
Bei einer Reihe von Hardenbergs Texten liegt es geradezu auf der Hand, von einer sprachhandlungslogischen Verdopplung der Produktionsinstanz auszugehen, nämlich dann, wenn er unter seinem romantischen Pseudonym publiziert. Ludwig Stockinger hat dafür plädiert, zwischen dem Autor Friedrich von Hardenberg und der Autorimago ›Novalis‹ zu unterscheiden.156 Hardenberg kreierte ›Novalis‹ bekanntermaßen für die Veröffentlichung des Blüthenstaub im ersten Heft des Athenaeum und verwendete dieses Pseudonym unter anderem auch für die Teilpublikation von Glauben und Liebe in den Jahrbüchern der preußischen Monarchie. Nach Stockinger referiert das »poetisch klingende[…] Pseudonym« ›Novalis‹ dort, wo Hardenberg selbst ihm die Funktion als Autorsignatur zugewiesen hat, auf ein »konstruiertes, der Erfahrungswelt enthobenes Ich«, das »einer ernüchternden Identifikation mit einer Person der empirischen Welt entzogen wird«157. Durch die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Hardenbergs Werk wurde dieser Unterschied freilich überdeckt und die Autorimago ›Novalis‹ zumeist synonym mit Friedrich von Hardenberg gebraucht. Bei ›Novalis‹ handelt es sich, Stockinger zufolge, um eine ›Stimme‹ im Athenaeum, um den Teilnehmer an einer frühromantischen Kommunikation. Hardenbergs Pseudonym unterscheidet sich zudem von Pseudonymen, die nur als Deckname fungieren und die tatsächliche Verfasserschaft verrätseln sollen. Immerhin ruft der sprechende Name ›Novalis‹ das Bild einer Person auf, nämlich das eines ›Neuland Rodenden‹ und ›Saaten Streuenden‹.158 Stockingers Rede von der Autorimago ›Novalis‹ trifft deswegen den eigentlichen nervus rerum, da Hardenberg mit seinem Pseudonym nicht nur einen Decknamen, sondern eine ›Maske‹ konstruiert, die über eine charakteristische Handlung, das Roden von Neuland, bestimmt wird.159
156
157 158
159
Vgl. Stockinger (1999a). – Vor Stockinger hatte darauf bereits William Arctander O’Brien aufmerksam gemacht (vgl. O’Brien [1995], 2–4). Mit etwas anderer Akzentsetzung plädiert auch Herbert Uerlings für die Unterscheidung zwischen Hardenberg und dem Ich seiner frühromantischen Texte (Uerlings [2001], 518–522). Stockinger (1999a), 33. Wie hinlänglich bekannt, leitet sich Hardenbergs Pseudonymwahl von einem alten Geschlechtsnamen seiner Vorfahren ab, nämlich dem erstmals 1190 belegten Titel ›de Novali‹ oder ›von Rode‹, der sich auf die Besitzung Großenrode (lat. magna novalis) bei Göttingen bezieht. Novalis bedeutet folglich ›der Neuland-Rodenden‹. Vgl. I,2 und IV,834. Nach der Klassifi zierung, die Gerhart Söhn für die verschiedenen Unterarten von Pseudonymität vorgeschlagen hat, ließe sich Hardenbergs ›Novalis‹ am ehesten als ein Phraseonym beschreiben, d. h. als ein Pseudonym, bei dem der Verfasser statt seines amtlichen Namens ein umschreibendes Wort oder eine Wortgruppe verwendet, wie etwa im Falle des ›Wandsbecker Bothen‹ Matthias Claudius, des ›Schlesischen Boten‹ Angelus Silesius alias Johann Scheffler oder der Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts mit ihren phantasievollen Sozietätennamen wie ›Der Dauerhafte‹, ›Der Einsame‹, ›Der Wohlgefällige‹ etc. Zum Phraseonym vgl. Söhn (1974), 166ff.
3. ›Glauben und Liebe‹ als literarische Utopie
305
Der Vergleich mit der ansonsten im Athenaeum üblichen Praxis der Autorsignatur zeigt, dass einzig Hardenbergs Beiträge (nämlich der Blüthenstaub im ersten Band 1798 und die Hymnen an die Nacht im dritten Band 1800) mit einem ›poetisch klingenden‹ Autornamen signiert wurden, der nicht ohne Weiteres auf den empirischen Autor schließen lässt. August Wilhelm und Friedrich Schlegel haben ihre Beiträge dagegen mit dem vergleichsweise leicht aufzulösenden Kürzel ›W.‹ bzw. ›F.‹ gekennzeichnet. Hardenbergs Begründung für die Verwendung der Autorsignatur ›Novalis‹ deutet zudem darauf hin, dass er damit weit mehr intendierte, als die bloße, durch ein Pseudonym gewährleistete Anonymität: »Hätten Sie Lust öffentlichen Gebrauch davon zu machen, so würde ich um die Unterschrift Novalis bitten – welcher Name ein alter Geschlechtsnahme von mir ist, und nicht ganz unpassend«160. Mit dem Hinweis, sein alter Geschlechtsname (vgl. Anm. 158) sei ›nicht ganz unpassend‹, gibt Hardenberg deutlich zu verstehen, dass es ihm um mehr geht, als eine bloße Verschleierung der Verfasserschaft, sondern dass die Pseudonymwahl eine Bedeutungsbeziehung zwischen der fiktiven Äußerungsinstanz und den Blüthenstaub-Fragmenten stiften soll. Zu fragen ist allerdings, ob der Blüthenstaub die Fiktivität der Autorsignatur ›Novalis‹ auch selbst markiert, der Text also im Rahmen einer sozialen Praxis ›Fiktion‹ produziert wurde und ob die Fiktivität des Pseudonyms bei der zeitgenössischen Erstrezeption verstanden, der Text also innerhalb der sozialen Praxis ›Fiktion‹ rezipiert wurde. Die Signatur ›Novalis‹ ordnet die 114 Blüthenstaub-Fragmente einer einzigen Aussageinstanz zu und mit deren ›poetisch klingendem‹ Namen verbindet sich ein rezeptionssteuerndes Wirkungskalkül, das an zwei Signalen erkennbar wird: Der offensichtliche Kontrast zwischen der lateinischen Autorsignatur und dem deutschsprachigen Text vermittelt dem Leser bereits einen deutlichen Hinweis darauf, dass es sich bei ›Novalis‹ nicht um den tatsächlichen Autornamen des Verfassers handelt. Eine noch größere Signalwirkung geht von der Eingliedrigkeit der Autorsignatur aus, da ›Novalis‹ die in der europäischen Neuzeit konventionalisierte Erwartung von Vor- und Zunamen nicht erfüllt. Ein zwei- oder mehrgliedriger Autorname (vorstellbar wären Friedrich Novalis, F. Novalis, Dr. Novalis, Friedrich von Novalis etc.) hätte es dem Leser erschwert zu entscheiden, ob er es mit einem Pseudonym zu tun hat oder nicht. Die eingliedrige, lateinische Autorsignatur ›Novalis‹ enthält dagegen die leicht zu entschlüsselnde Rezeptionsanweisung, ›Novalis‹ nicht als eine tatsächliche Person der Erfahrungswelt zu verstehen, aber auch nicht als Pseudonym, das versucht, seine Pseudonymität zu camouflieren, sondern als einen sich selbst als solchen anzeigenden fiktiven Autornamen. Wie Stockinger anhand eines Briefs von Wieland an Karl August Böttiger vom 28. Mai 1798 nachgewiesen hat, haben die Zeitgenossen diese Strategie auch
160
IV,251: Novalis an August Wilhelm Schlegel, 24.2.1798.
306
Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
leicht erkannt.161 Nach der Lektüre des ersten Athenaeum-Heftes schreibt Wieland an Böttiger: »Weil ich die ausgezeichneten Masken gern kennen mag, so wünsche ich wohl, daß Sie erfahren könnten, wer der mit Zungen redende Novalis ist?« (IV,617). Der fiktive Autorname ›Novalis‹ wurde also innerhalb einer sozialen Praxis ›Fiktion‹ produziert und rezipiert, bei den Blüthenstaub-Fragmenten handelt es sich demzufolge um fiktionale Rede, d. h. um den in aphoristischer Form geäußerten Monolog einer fiktiven Sprecherinstanz, die dem Leser ihre eigene Fiktivität anzeigt. Was die zeitgenössische Rezeption aber offenbar ignorierte, war jene Bedeutungsdimension, die Hardenberg mit der Wahl seines ›alten Geschlechtsnamens‹ zum Ausdruck bringen wollte, wenn er ihn ›nicht ganz unpassend‹ nennt. Zumindest Friedrich Schlegel scheint sich über diese Bedeutungsdimension nicht völlig im Klaren gewesen zu sein, sonst hätte er Hardenberg vermutlich nicht geraten, das schon mit dem Blüthenstaub und Glauben und Liebe verbundene Pseudonym zu ändern oder künftig durch ein Kürzel zu ersetzen, als während der öffentlichen Aufregung um Glauben und Liebe nach dem Verfasser der Fragmentsammlung gefahndet wurde: »Auch wäre es wohl gut, wenn Du den fingirten Namen wechseltest, oder einen Buchstaben wähltest«162. Diese Bemerkung erzeugt zumindest den Eindruck, dass Schlegel dem ›fingirten Namen‹ eine gewisse Beliebigkeit zumaß. Mit Blick auf Hardenbergs Konzept von Transzendentalpoesie ist die Wahl seines alten Geschlechtsnamens tatsächlich aber alles andere als beliebig: Das Bild des ›Neuland-Rodenden‹ oder ›Neuland-Bestellenden‹, der durch den Einsatz körperlicher Gestaltungskraft Brachland urbar macht, bringt metaphorisch die Funktion von Transzendentalpoesie zum Ausdruck, nämlich die Erfahrung von Ichheit als ›Selbsthervorbringung‹, als unendlichen Versuch, dem gestaltlosen Brachland des identitären Selbstgefühls durch Einsatz von Bildungskraft eine Form zu geben. Die ›Novalis‹-Metapher zugrunde legend, gleicht romantische Individualität einer unendlichen ›Selbstrodung‹ und ›Selbstbestellung‹.163 Im Blüthenstaub-Motto hat Hardenberg das Bild der rodenden und säenden romantischen Autorimago wieder aufgegriffen und es auf den Kreis der im Athenaeum publizierenden frühromantischen Intellektuellen übertragen, indem er auch seine Freunde auffordert, reichlich zu säen. Das Bestellen von Neuland, das Gestalten und Besäen einer formlosen Brache, ist also ein besonders charakteristisches Symbol für einen romantischen Autor. Die leicht zu entschlüsselnde
161 162 163
Vgl. Stockinger (1999a), 34f. IV,499: Friedrich Schlegel an Novalis, 9.8.1798. Auch bei der Namenswahl für seine Romanfiguren hat sich Hardenberg gelegentlich so sprechender Transitionsmetaphorik bedient wie bei seinem eigenen romantischen Pseudonym: Am auffälligsten sicherlich im Falle von Sylvester, dem Heinrich am Schluss des Ofterdingen-Fragments begegnet. Der Name Sylvester erinnert an den Jahreswechsel und den Neujahrstag, steht also symbolisch für den Übergang zwischen Vergangenheit und Zukunft.
3. ›Glauben und Liebe‹ als literarische Utopie
307
Fiktivität des im Inhaltsverzeichnis angegebenen Blüthenstaub-Verfassers lädt zu einer Beschäftigung mit der Bedeutung und Bildlichkeit des Pseudonyms ein und soll den Leser reizen, sich zum Freundeskreis der ›säenden‹ und ›Neuland bestellenden‹ romantischen Intellektuellen zählen zu können, denn »der wahre Leser muß der erweiterte Autor seyn« (II,470:125). Bei diesem rhetorischen Verfahren handelt es sich indes nur um eine Protoform des Romantisierens. Mit ›Novalis‹ wird keine symbolische Repräsentation für die Idee vollständiger Individualität als ›innerer Unendlichkeit‹, aber zumindest die ›Maske‹ eines Autor-Ichs konstruiert, das diese Idee repräsentiert. Mit der Erfindung einer romantischen Autorimago als ›Maske‹, die zu tragen, auch der Leser gereizt werden soll, erprobt Hardenberg zum ersten Mal die Möglichkeiten, die ein publizierter Text für seine Konzeption von Transzendentalpoesie bietet. Die ›Maske‹ romantischer Autor-Individualität lässt sich auch als das Organisationsprinzip der bei Frank beschriebenen ›negativen Dialektik‹ von Hardenbergs Fragmentsammlungen verstehen, aber nicht weil sie deren Sinnkohärenz auf den Begriff bringt, sondern weil ›Novalis‹ diejenige Instanz ist, die trotz der Widersprüche alle Aussagen der Fragmentsammlung verantwortet. Die Antinomien zwischen den Fragmenten heben sich demnach erst in einem unendlichen Prozess des Neuland-Bestellens auf. Ein ›romantisches Sehen‹ wird im Blüthenstaub jedoch nicht vorgeführt, sondern dessen Voraussetzungen in einer diskursiven, den generalisierenden Ton des Aphorismus imitierenden Sprache benannt, etwa mit der Grundlegung des Mittler-Gedankens in Bl. 74. Der Blüthenstaub bedient sich noch nicht der poetischen Einbildungskraft und ihrer Glauben erzeugenden Wirkung, um die Verquickung von Ideellem und Reellem im Scheinsatz darzustellen, sondern kann im Anschluss an Hermann Kurzke (vgl. Anm. 130) als eine Programmschrift der Transzendentalpoesie, jedoch nicht als ein Beispiel transzendentalpoetischer Praxis gelten. Dass die von Hardenberg anvisierte Leistungsfähigkeit romantischer Transzendentalpoesie im Blüthenstaub noch nicht erreicht wird, mag erklären, weshalb er sich in dem Brief an A.W. Schlegel für die ›Unreife‹ seines Mystizismus entschuldigt. Da sich diese Bemerkung vor allem auf die ›politischen‹ Überlegungen des Blüthenstaub bezieht, verwundert es nicht, dass Hardenberg mit Glauben und Liebe, also bereits kurze Zeit nach Erscheinen des Blüthenstaub, das Romantisieren just unter Indienstnahme eines politischen Bildfeldes erstmals erprobt. Dass er sich bei seinem ersten transzendentalpoetischen Versuch den Entwurf eines Staates vornimmt, zeigt zudem ein vorhandenes Bewusstsein von jener in der frühen Neuzeit vielfach bewährten Leistungsfähigkeit, die literarische Entwürfe idealer Staaten für den problemorientierten poetischen Umgang mit der Differenz zwischen moralischem Sollen und empirischem Sein besitzen. In Glauben und Liebe überführt Hardenberg seinen ›Mystizismus‹ in ein neues Stadium, was er vor allem durch eine unter allen frühromantischen Fragmentsammlungen gänzlich singuläre Strukturierung der Raumdeixis erreicht.
308
b)
Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
Kohärenz als Überlieferungsproblem: Textgestalt und Editionsgeschichte von Glauben und Liebe
Die am Blüthenstaub entwickelten Überlegungen zur Verfasserfi ktion lassen sich auch auf Glauben und Liebe übertragen, denn der Fragmentsammlung wird im Inhaltsverzeichnis der Jahrbücher ebenfalls ›Novalis‹ als Verfasser zugeordnet. Die Frage, worauf sich die Textkohärenz dieser Fragmentsammlung gründet, ist nach dem zuvor Gesagten daher scheinbar schon beantwortet. Bei Glauben und Liebe steht man allerdings vor der schwierigen quellenkritischen Frage, von welchem Text man ausgehen soll und inwiefern hier überhaupt von einem zusammenhängenden Text die Rede sein kann, denn eine handschriftliche Fassung, die Auskunft über den ursprünglichen Textaufbau der Fragmentsammlung geben könnte, existiert nicht mehr. Unter dem Titel Glauben und Liebe werden nach der heute üblichen Edition drei Textteile subsumiert: 1. die im Juni-Heft der Jahrbücher abgedruckten acht Gedichte unter der vermutlich nicht von Hardenberg selbst stammenden Überschrift Blumen. 2. die 43 Fragmente, die im Juli-Heft der Jahrbücher unter dem Titel Glauben und Liebe oder Der König und die Königin veröffentlicht wurden. 3. jene 25 Fragmente, die wegen des negativen Aufsehens, das bereits die Teilpublikationen im Juni- und Juli-Heft am Berliner Hof erregt hatten, nicht mehr zur Veröffentlichung gelangten und die erst 1846, in dem von Eduard von Bülow besorgten dritten Band164 der Schriften-Ausgabe publiziert wurden. In der Edition der HKA führen diese letzten 25 Fragmente den Herausgebertitel ‹Politische Aphorismen›, was auf Friedrich Schlegel zurückgeht, der damit in einem Brief an Hardenberg vom 28.5.1798 den letzten Teil der Sammlung selbstverständlich und ohne weitere Erklärung bezeichnet hat (vgl. Anm. 165). Es ist daher anzunehmen, dass der Titel ‹Politische Aphorismen› auf Hardenberg selbst zurückgeht und dass darunter schon in der Handschrift die letzten 25 Fragmente subsumiert wurden. Die in den heute gängigen Novalis-Ausgaben vorliegende Textgestalt und Anordnung der drei aufeinanderfolgenden Teile, insbesondere die Isolierung der Blumen, verdankt sich den publikationsstrategischen Eingriffen, die Schlegel für die Erstveröffentlichung vorgenommen hat.165 Die Zusammengehörigkeit aller drei
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Vgl. HKA V, 279–361, hier 305–309. Schlegel selbst gibt Auskunft darüber, dass er wegen der Publikationsmodalitäten der Jahrbücher gezwungen war, den Text etappenweise zu veröffentlichen: »Es ist gewöhnlich und gesetzlich in den Jahrbüchern, recht viele Nummern zu haben, und es giebt auch eine ziemliche Anzahl stehende Artikel. Da war nun Dein Aufsatz für auf einmal zu lang und ich habe endlich einwilligen müssen, daß die Gedichte am Schluß des Stücks, was eben gedruckt ward, geordnet sind, und der Glauben und Liebe ist für den Anfang des nächsten Stücks, und die politischen Aphorismen für das nächstfolgende bestimmt« (IV,493: Friedrich Schlegel an Novalis, 28.5.1798).
3. ›Glauben und Liebe‹ als literarische Utopie
309
Textteile konnte daher mit ungefährer Wahrscheinlichkeit erst auf der Grundlage wiederaufgefundener Korrespondenzen zwischen Friedrich Schlegel und Hardenberg rekonstruiert werden.166 Aufgrund der schwierigen Quellenlage lassen sich aber bis heute einige Unwägbarkeiten nicht ausschließen: Nicht restlos geklärt werden konnte die ursprünglich von Hardenberg intendierte Stellung der Blumen, also der acht heute üblicherweise vorangestellten Gedichte.167 Ebenso unsicher ist auch die Frage, ob ihre Titel von Hardenberg selbst stammen.168 Aufgrund der prekären Überlieferungssituation lässt sich auch nicht ausschließen, dass die ‹Politischen Aphorismen› in der Gestalt der HKA-Edition unvollständig sind.169 Strittig war zudem lange Zeit, ob auch das Gedicht ‹Kenne dich Selbst› (I,403f.) ursprünglich zum Glauben und Liebe-Komplex gehörte.170 Nahe legt dies auf den ersten Blick dessen parallele Entstehungszeit und die darin anzutreffende Bemerkung, dass in jedem ›vernünftigen Menschen‹ ein ›König‹ wohne, was an die Ausführungen zur ›Thronfähigkeit‹ jedes Einzelnen in GL 18 erinnert (vgl. Anm. 49). Anhand einer wiederaufgefundenen Handschrift kann aber zumindest diese Frage geklärt werden: Auf diesem Blatt datiert Hardenberg das Gedicht auf den 11. Mai 1798, an dem er Schlegel auch das Glauben und Liebe-Manuskript zusendet, unterzeichnet aber mit seinem amtlichen Namen »Fridrich Georg von Har166
167
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170
Erstveröffentlicht in Preitz (1957). – Auf Grundlage dieser Dokumente hat Hans Wolfgang Kuhn die Zusammengehörigkeit der drei Textteile rekonstruiert (vgl. Kuhn [1961], 225–231). Ein wichtiges Indiz für die Zugehörigkeit der ‹Politischen Aphorismen› zum Glauben und Liebe-Komplex ist Hardenbergs Hinweis auf die Verwendung von Schlegels ›Cyniker‹-Begriff in den ‹Politischen Aphorismen›. Er gibt diesen Hinweis im Postskriptum jenes Briefs vom 11.5.1798, mit dem er Schlegel das Glauben und Liebe-Manuskript sendet. Richard Samuel nennt zwei Möglichkeiten für die strukturelle Stellung der acht Gedichte: Entweder waren sie über die gesamte Fragmentsammlung verteilt, oder sie folgten als Block auf die sechs Vorrede-Fragmente (II,476). Die heute gebräuchliche Edition, die sich an der Chronologie der Teilpublikationen im Juni- und Juli-Heft der Jahrbücher orientiert und deshalb die acht Gedichte noch vor der Vorrede druckt, dürfte somit den ursprünglichen Verhältnissen der Handschrift am wenigsten entsprechen. – Dass die Blumen als Block auf die programmatische Vorrede folgten, hält Hermann Kurzke für die wahrscheinlichste Variante, weil die Fragmentsammlung so mit einem sehr hohen Verschlüsselungsniveau in den Gedichten beginnen und mit den diskursiv argumentierenden Passagen in den ‹Politischen Aphorismen› enden würde, also nach einer sinnvollen Struktur gebaut wäre (Kurzke [1983a], 133). – Es lässt sich noch ein Argument hinzufügen, dass Kurzkes These stützt: Das letzte der Gedichte trägt den Titel Land, und das erste Fragment nach der Vorrede beginnt mit dem Satz: »Ein blühendes Land ist doch wohl ein königlicheres Kunstwerk, als ein Park« (II,486:7). Sollten die Blumen ursprünglich zwischen der Vorrede und diesem Fragment gestanden haben, dann würde sich die Nominalphrase ›Ein blühendes Land‹ motivisch direkt dem voranstehenden Distichon Land anschließen. Vgl. Kuhn (1961), 230. Vgl. ebd., 231. – Gegen die von Kuhn befürchtete Unvollständigkeit spricht zwar Bülows Beteuerung, die abgedruckten Fragmente getreu aus Hardenbergs Handschriften wiedergegeben zu haben (HKA V, 187), ob Bülow aber die vollständigen Papiere vorlagen, ist umstritten. Diese Vermutung äußert Kuhn (1961), 230.
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
denberg« und nicht mit seiner romantischen Autorimago. Er signalisiert also, dass in dem Gedicht ‹Kenne dich Selbst› das empirische Autor-Ich Hardenberg und eben nicht Novalis spricht, wie in Glauben und Liebe. Schon aufgrund dieser beiden unterschiedlichen Kommunikationsmodelle kann man die Zugehörigkeit von ‹Kenne dich Selbst› zum Glauben und Liebe-Komplex ausschließen, obwohl in beiden Texten fraglos ähnliche Probleme reflektiert werden.171 Ein letztes Quellenproblem betrifft schließlich die vorhandene textliche Version der Fragmentsammlung: Verstreut in den von Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel besorgten Schriften-Ausgaben finden sich schon einige Glauben und Liebe-Fragmente. Der Anhang der 4. vermehrten Auflage der Schriften von 1826 gibt zudem die acht Blumen wieder und Bülows 3. Teil der Schriften von 1846 enthält vor den ‹Politischen Aphorismen› auch eine größere Auswahl von Glauben und Liebe-Fragmenten. Diese Schriften-Varianten weichen in einigen Punkten nicht unerheblich vom Wortlaut in den Jahrbüchern ab. Von Jacob Minor und Hans Wolfgang Kuhn ist daher vermutet worden, dass den Herausgebern der Schriften-Ausgaben noch die Handschrift von Glauben und Liebe zur Verfügung stand.172 Die von der dürftigen Quellenlage bedingten Unklarheiten erschweren die Beantwortung der Frage, inwiefern bei Glauben und Liebe überhaupt von einem kohärenten Text gesprochen werden kann. Allerdings bleiben noch genügend verlässliche Indizien, um sich dieser Frage zu nähern: Ein wesentlicher Unterschied zum Blüthenstaub besteht schon im Vorhandensein einer programmatischen Vorrede.173 Damit werden bestimmte Fragmente exponiert und es wird signalisiert, dass diese ein für alle anderen Fragmente gültiges, ästhetisches Programm entwerfen. Neben der programmatischen Vorrede und der Autorimago ›Novalis‹, die die kommunikationslogische Zusammengehörigkeit der Fragmente indiziert, lässt sich noch ein weiteres kohärenzstiftendes Kriterium anführen. Das Vorhan-
171 172
173
Vgl. dazu ausführlich Stockinger (2001a). Minor fragt sich, »ob die Herausgeber der ›Schriften‹ nicht am Ende noch die Handschriften vorliegen hatten und einen besseren Text bieten konnten« (Minor [1902], 107). Diese These wird von Paul Kluckhohn abgewiegelt (vgl. Novalis [1929], Bd. II, 46; ebenso von Richard Samuel in der HKA II,478), aber von Hans Wolfgang Kuhn wieder aufgegriffen (Kuhn [1961], 229). Bei ihm findet sich auch eine Liste mit den wichtigsten Varianten der Schriften-Ausgaben (Ebd., 249f.). – Um diese These zu stützen, hat Kuhn zudem einen hypothetisch-möglichen Überlieferungsweg der Glauben und Liebe-Manuskripte bis 1846 rekonstruiert (Ebd., 227f.). Nach 1846 verliert sich deren Spur aber endgültig, da Tieck mit Hardenbergs Nachlass sehr freizügig umging und Handschriften bedenkenlos verschenkt hat (Minor [1911], 168), darunter möglicherweise auch jene zum Glauben und Liebe-Komplex. Im Druck in den Jahrbüchern sind die ersten sechs Fragmente durchnummeriert und mit dem Titel Vorrede überschrieben. Dass es sich dabei nicht um eine Interpolation Schlegels handelt, sondern der Vorredecharakter der ersten sechs Fragmente sich mit Hardenbergs Manuskript deckt, beweist eine Bemerkung in dem Begleitschreiben zur Manuskriptsendung an Schlegel: »Ohne Glauben und Liebe ist es nicht zu lesen. Das Andre sagt die Vorrede« (IV,253: Novalis an Friedrich Schlegel, 11.5.1798; Hervorhebung, M.L.).
3. ›Glauben und Liebe‹ als literarische Utopie
311
densein einer Vorrede bedeutet nämlich, dass die konsekutive Anordnung der Fragmente alles andere als beliebig ist. In der Forschung wurde der Form- und Kunstcharakter von Glauben und Liebe freilich nie ernsthaft in Zweifel gezogen.174 Im Gegenteil, die häufig getätigte Feststellung, dass die letzten ‹Politischen Aphorismen› in der Form eines Dialogs angeordnet sind,175 impliziert ja bereits die Annahme, die Fragmentsammlung sei ein kohärenter Text, bei dem auch der Reihenfolge der Fragmente Bedeutung zukommt. Friedrich Schlegels Begriff vom Fragment, der dessen ›igelhafte‹ autonome Individualität betont, lässt sich daher auf keine frühromantische Fragmentsammlung so wenig anwenden, wie auf Glauben und Liebe. Dass Glauben und Liebe von allen frühromantischen Fragmentsammlungen am wenigsten der Form einer losen Sammlung entspricht, sondern klaren Formprinzipien unterliegt und Argumentationsketten entwirft, die über das Einzelfragment hinausgehen, scheint auch den Frühromantikern bewusst gewesen zu sein, da sie den Text in ihrer Korrespondenz zumeist als ›Aufsatz‹176 bezeichnen.
c)
Hysteron proteron: Der fingierte Sprecherstandpunkt in Glauben und Liebe
Bei dem Versuch, das ästhetische Verfahren von Glauben und Liebe zu explizieren, konzentriert sich das Interesse der Interpreten177 häufig auf die Vorrede, in der sich einige der berühmten Schlagwörter von Hardenbergs Romantisierungsprogramm finden, wie die »Tropen und Räthselsprache« (II,485:1), der »mystische Ausdruck« (II,485:3) und der »Gedankenreiz« (Ebd). Übersehen wird bei dieser Fokussierung auf das Verschlüsselungs- und Verfremdungsprogramm, dass die Vorrede auch bestimmte Signale enthält, die auf ein der Fragmentsammlung insgesamt unterliegendes Äußerungsereignis hinweisen. Am Schluss der Vorrede findet sich eines der wenigen zu Hardenbergs Lebzeiten gedruckten Fragmente, die ein Versmaß besitzen. Neben dieser formalen Exponiertheit178 handelt es sich
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So merkt Samuel in seinem editorischen Vorwort an: »Blumen, Glauben und Liebe und Politische Aphorismen müssen nun als eine unauflösliche Einheit gewertet werden, die Novalis’ Staatsauffassung nach der Abwendung vom radikalen Republikanismus zusammenhängend darstellen« (II,478). Vgl. Kurzke (1983), 185–191. IV,493: Friedrich Schlegel an Novalis, 28.5.1798; IV,621: August Wilhelm Schlegel an Gottlieb Hufeland, 22.7.1798; vgl. zudem Hardenbergs eigenen Sprachgebrauch in Bezug auf Glauben und Liebe: II,610:403. Vgl. beispielsweise Stockinger (1988a) oder Mähl (1992). Sollten die acht Blumen tatsächlich, wie Kurzke und andere vermuten, in der verlorenen Handschrift auf die Vorrede-Fragmente gefolgt sein, so wäre das Versmaß des letzten Vorrede-Fragments ein weiteres Indiz für das kohärenzstiftende Formprinzip, dem Hardenberg bei der konsekutiven Anordnung der Fragmente folgte, denn mit der metrischen Gestaltung des sechsten Vorrede-Fragments hätte Hardenberg in diesem Falle einen formalen Übergang zu den folgenden acht Blumen geschaffen. Diese Vermutung äußert auch Kuhn (1961), 231.
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
zudem um das enigmatischste Fragment der gesamten Sammlung und es kann daher geradezu als Musterfall einer ›Tropen und Räthselsprache‹ gelten: Laßt die Libellen ziehn; unschuldige Fremdlinge sind es Folgen dem Doppelgestirn froh, mit Geschenken, hieher. (II,486:6)
Zum Verständnis dieses rätselhaften Distichons hat Ludwig Stockinger mit plausiblen Deutungsvorschlägen Wesentliches beigetragen. In knapper Form seien die Kernpunkte seiner Deutung von GL 6 noch einmal rekapituliert:179 Das Doppelgestirn bezieht sich unmissverständlich auf den König und die Königin. Die Fremdlinge, die mit Geschenken einem kosmischen Phänomen an den Ort einer Zeitenwende folgen, spielen zwar auf die drei Weisen aus dem Morgenland an, in der Bildlichkeit von GL 6 sind mit den Fremdlingen allerdings keine orientalischen Gelehrten gemeint, sondern Libellen. Dem liegt ein Wortspiel mit dem lateinischen ›libellus‹ zugrunde, was kleines Buch oder kleine Schrift bedeutet. Die Libellen sind also die einzelnen Fragmente und deren Botschaft, ihre Geschenke, oder gar der ganze Text der Fragmentsammlung, der auch ein kleines Buch gefüllt hätte. Das Distichon fordert mithin dazu auf, den Libellen – der Botschaft des Textes – in einigem Abstand zu folgen, ohne sie vorzeitig einzufangen. Eine adäquate Lektüre von Glauben und Liebe besteht also darin, sich vom Farbenspiel der Libellen – vom mystischen Ausdruck des Textes – anziehen zu lassen, sich aber zugleich den Unterschied zwischen der Wirklichkeit, deren romantischem Bild und der damit angedeuteten Idee bewusst zu halten. Stockinger lässt allerdings das letzte Wort des Distichons unkommentiert, nämlich das durch ein isolierendes Komma hervorgehobene Raumdeiktikon ›hieher‹. Noch im Blüthenstaub bleibt der räumliche Standpunkt des fiktiven Sprecher-Ichs nahezu unbestimmt, da Novalis sich hier nicht deiktisch auf konkrete Orte und Räume bezieht. Verglichen damit, wird die Raumdeixis in Glauben und Liebe grundlegend neu strukturiert. In Kombination mit dem Raumdeiktikon ›hieher‹ lässt sich aus der Bildlichkeit des Distichons die topologische Position, von der aus Novalis spricht, ziemlich genau bestimmen: Das Sprecher-Ich befindet sich den deiktischen Indizien zufolge dort, wo gerade eine Zeitenwende anbricht, nach der Bildlichkeit des Distichons in Bethlehem an der Krippe Jesu, zu der die drei Weisen aus dem Morgenland – die Fremdlinge mit ihren Geschen-
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Vgl. Stockinger (1988a), 202–206. – Dass mit Stockingers Beitrag das interpretatorische Bemühen um ein Verständnis der Fragmentsammlung auf ein ganz neues Niveau gehoben wurde, zeigt sich an den enormen Deutungsschwierigkeiten, die GL 6 früheren Interpreten bereitete: Hans Wolfgang Kuhn etwa kann dem Distichon überhaupt keine Bedeutung abgewinnen und ist daher sogar bereit, hier von einem Leserfehler oder einem redaktionellen Eingriff der Jahrbücher-Herausgeber auszugehen. In der Annahme, es mit einem Lapsus zu tun zu haben, ändert er daher die erste Hälfte des Hexameters nach Gutdünken ab und liest ›Laßt die Liebenden sehn […]‹ anstelle von ›Laßt die Libellen ziehn […]‹. Diese Interpolation legt er auch seiner Deutung der Fragmentsammlung zugrunde (Kuhn [1961], 120ff.).
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ken – ziehen. Novalis spricht also von einem hypothetisch eingenommenen, außerempirischen Standpunkt, von einem Indifferenzpunkt180 der Geschichte, an dem sich eine immanente Transzendenz, eine Offenbarung absoluter Ideale ereignet. Eine Bemerkung in GL 15 liefert eine diskursive Erklärung für diese besondere Form des Sprechens: »Wer hier mit seinen historischen Erfahrungen angezogen kömmt, weiß gar nicht, wovon ich rede, und auf welchem Standpunct ich rede« (II,488:15). Der Produktionsinstanz der Fragmentsammlung wird hier eine sprachlich realisierte Aktantenrolle zugewiesen, nämlich mit der deiktisch gebrauchten Ich-Form.181 Explizit markiert das Sprecher-Ich damit, dass die in den Fragmenten aufgestellten Behauptungen von einem hypothetisch eingenommenen, außerempirischen Standpunkt aus getätigt werden, dass also ein wesentlicher Unterschied zwischen seinem Standpunkt und dem des Lesers besteht. Vor allem durch diesen Sprecherstandpunkt unterscheidet sich Glauben und Liebe von anderen frühromantischen Fragmentsammlungen. Novalis spricht so, als stehe er neben der Krippe Jesu, und erst diese Hypothese legt eine Verständnisgrundlage für die indikativischen Behauptungen, die er über die Erfahrungswirklichkeit aufstellt: Es handelt sich bei Glauben und Liebe um eine Romantisierung konkreter Erfahrungswirklichkeit, die von einem außerempirischen Standpunkt aus erfolgt. Die besondere Raffinesse besteht darin, dass für den nicht-empirischen, hypothetischen Standpunkt dennoch ein räumlicher Ort, nämlich neben der Krippe Jesu, beansprucht wird. Die transzendentalpoetische
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181
Der Terminus ›Indifferenzpunkt‹ stammt aus der Naturphilosophie Schellings und bezeichnet hier die für eine kurze Zeit mögliche Erinnerung an eine ursprüngliche und die Ahnung einer noch kommenden Identität: Indifferenz meint eine aus der Differenz hervorgegangene neue Identität, die jedoch keine absolute Identität mehr sein kann, sondern eine Identität nach der Differenz, also eine Indifferenz. Nach Schelling strebt die Natur unendlich nach dieser neuen Identität der Indifferenz, kann sie aber nur in kurzen vorausweisenden und lediglich relativen Indifferenzpunkten realisieren, die sich stets wieder auflösen, weil sie immer noch Differenzen übrig lassen (vgl. Schelling [1976ff.], Bd. I.8, 63f.). Zur Rolle von Schellings Geschichtsphilosophie und seinem naturphilosophischen Indifferenz-Begriff für die Frühromantiker vgl. Stockinger (1999b), 285f. – Obwohl Schelling seine Gedanken zur Identität, Differenz und Indifferenz erst 1799 in der Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie verschriftlicht hat, liegt es nahe, dass gerade der umstrittene Begriff des ›Indifferentisten‹ aus GL 56 sich darauf bezieht (vgl. Kapitel IV.3.3.d). Hardenberg kannte Schelling seit Ende 1797 persönlich, weshalb anzunehmen ist, dass der Indifferenz-Begriff in den Gesprächen zwischen beiden bereits vorher fiel. Neben diesem Beispiel aus GL 15 lassen sich noch folgende weitere Belege für IchFormen anführen: »Wenn ich morgen Fürst würde, so bät ich zuerst den König um einen Eudiometer, wie den Seinigen. […] Auch würde ich, wie er, die Lebensluft für meinen Staat mehr aus blühenden Pflanzungen, als aus Salpeter zu ziehen suchen« (II,486:9); »Daß die Königin durchaus antifrivole ist, weiß jedermann. Daher begreife ich nicht, wie sie das Hofleben, wie es ist, ertragen kann« (II,493:29); »Was ich mir vor allem wünschte? das will ich euch sagen: eine geistvolle Darstellung der Kinderund Jugendjahre der Königin. […] Mir kommt Natalie, wie das zufällige Portrait der Königin vor« (II,498:43); in GL 16 findet sich zudem das Modalverb ›meinethalben‹, das auf die Sprecher-Instanz verweist: »Meinethalben mag jetzt der Buchstabe an der Zeit seyn […]« (II,488).
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
Bedeutung der einzelnen Fragmente und der Fragmentsammlung insgesamt lässt sich überhaupt nur dann angemessen verstehen, wenn man die Äußerungen auf ein gemeinsames deiktisches Zentrum, auf eine allen Fragmenten gemeinsame Origo bezieht. Erst dieser außerempirische Standpunkt, den das Sprecher-Ich hypothetisch einnimmt und der bildhaft und räumlich-situativ ausgestaltet wird, ermöglicht jene romantisierende ›Variations-Operation‹, jenen romantischen Zugriff auf konkrete Elemente aus der Gegenwartswirklichkeit des zeitgenössischen Lesers. Von der hypothetischen Indifferenz seines Standpunktes aus kann Novalis die Wirklichkeit als vorläufige oder tendenzielle Offenbarung absoluter Postulate inszenieren. Diese romantisierende Variation der Erfahrungswirklichkeit folgt einer Konstruktionsmethode, die dem Verfahren des utopischen Axiomenwechsels nicht unähnlich ist, denn den Behauptungen des fiktiven Verfassers Novalis liegt die axiomatische Hypothese zugrunde, der ewige Friede sei schon da, Gott sei unter uns und das goldene Zeitalter sei schon gegenwärtig.182 Unter Berücksichtigung dieser veränderten Axiomatik, die jene besondere Art des Sprechens in Glauben und Liebe gewährleistet, wird auch der eigenartige gleichzeitige Gebrauch von indikativischen und konjunktivischen Verbformen sowie die widersprüchlich-uneinheitliche Zeitdeixis erklärbar. In GL 32 lassen sich diese Phänomene exemplarisch beobachten: Sonst mußte man sich vor den Höfen, wie vor einem ansteckenden Orte, mit Weib und Kindern flüchten. An einem Hof wird man sich jetzt vor der allgemeinen Sittenverderbniß, wie auf eine glückliche Insel zurückziehen können. Um eine trefliche Frau zu finden, mußte ein behutsamer junger Mann sonst in die entlegenern Provinzen, wenigstens in die gänzlich von Stadt und Hof entfernten Familien gehn; künftig wird man […] an Hof, als zum Sammelplatz des besten und schönsten gehn […]. (II,494:32) (Hervorhebungen, M.L.)
Aufgrund ihrer temporaldeiktischen Struktur schwanken die hier getroffenen Behauptungen zwischen Aussagen über einen gegenwärtigen Zustand und der Vorhersage eines künftigen: Einmal heißt es ›sonst…jetzt‹, das andere Mal ›sonst…künftig‹, einmal ist die Hofreform schon vollzogen, ein anderes Mal steht sie erst kurz bevor. Es fällt zudem auf, dass das Temporaladverb ›jetzt‹ nicht, wie von seiner Semantik gefordert, mit dem Präsens oder Perfekt kombiniert wird, sondern mit dem Futur. Die Wendung ›jetzt wird man sich zurückziehen können‹ führt paradigmatisch vor Augen, mit welcher sprachlichen Raffinesse das Sprecher-Ich dem Leser das konstruierte Bild des reformierten Hofes präsentiert, nämlich als etwas, das bereits gegenwärtig ist, obwohl seine Gegenwart eigentlich erst kurz bevor steht. Das Schwanken zwischen den beiden Zeitmodellen ist charakteristisch für den gesamten Text. So kontrastiert die Behauptung in GL 42, »Wer den ewigen Frieden jetzt sehn und lieb gewinnen will, der reise nach Berlin und sehe die Königin« (II,498:42; Hervorhebung, M.L.), mit Passagen, die eine
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Vgl. Hardenbergs Selbstinterpretation von Glauben und Liebe in III,421:782.
3. ›Glauben und Liebe‹ als literarische Utopie
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Naherwartung artikulieren: »Es würde ein sehr gefährliches Symptom des Neupreußischen Staats sein, wenn man zu stumpf für die wohlthätigen Einflüsse des Königs und der Königin wäre, wenn es in der That an Sinn für dieses klassische Menschenpaar gebräche. Das muß sich in Kurzem offenbaren« (II,492:28; Hervorhebung, M.L.). Mit dieser anachronistischen Kombination einer behaupteten Gegenwart des neupreußischen Staates und seiner gleichzeitigen Naherwartung gibt der Text seine Doppelperspektive und die damit verbundene Wirkungsintention preis, die er bereits mit GL 6 in der Form hochverschlüsselter Bilder andeutet: Novalis spricht von einem Indifferenzpunkt der Geschichte und bezeichnet die Botschaften der eigenen Rede als Libellen, denen der Leser folgen muss, um zu jenem Indifferenzpunkt zu gelangen. In das Bild einer Libelle gebracht, schweben die Glauben und Liebe-Fragmente also von der Erfahrungswirklichkeit des Lesers allmählich in Richtung des hypothetischen Sprecherstandpunktes, vermitteln zwischen beiden, markieren aber auch ihre Divergenz. Hardenberg entwirft in Glauben und Liebe also eine Glaubenskonstruktion, die mit seiner Darstellungstheorie aus den Fichte-Studien bestens kompatibel ist, denn im Verbund mit seiner Romantisierung der preußischen Monarchie vermittelt er dem Leser auch ein Bewusstsein von der Nicht-Identität zwischen dem konstruierten Bild, dem verwendeten Bildspender und der angedeuteten Idee. Das Sprecher-Ich stellt sich hypothetisch auf einen Indifferenzpunkt der Geschichte, wirft von dieser weiteren Aussicht einen romantischen Blick auf die Gegenwart der preußischen Monarchie und macht »auf der Höhe des Zeitalters« (II,497:38) dessen Relation mit der Zukunft ›sichtbar‹, konstruiert eine ›geistige Gegenwart‹, die man vom Standpunkt der ›gewöhnlichen Gegenwart‹ aus nicht ›erkennt‹ (vgl. Bl. 109). Der hypothetische Standpunkt des Novalis ist also keineswegs identisch mit der preußischen Monarchie, über die er spricht. Die Kairosqualität der preußischen Monarchie zeigt sich nur im ›Scheinsatz‹, in der von außen um sie gelegten ›Atmosphäre des Dichters‹ (Bl. 109), die sie »auf gewisse Weise da seyn« (II,106:2) lässt. Nicht von ungefähr vergleicht das Sprecher-Ich daher seine Fragmente mit Libellen, die zwischen dem hypothetischen Standpunkt relationaler Realität und der ›gewöhnlichen Gegenwart‹ eines preußischen Lesers schweben und mit ihrem Farbenspiel das Ideelle durch das Reelle lediglich ›schillern‹ lassen. Mit etwas Bereitschaft zur Assoziation kann man im Bild der schwebenden Libellen zudem eine Anspielung auf Hardenbergs Begriff der »schwebenden Einbild[ungs]Kr[aft]« (II,188:249) entdecken: Einer bunt schillernden Libelle vergleichbar, die zwischen hypothetischem Sprecherstandpunkt und erfahrungsweltlichem Leserstandpunkt schwebt, besteht auch die Tätigkeit der Einbildungskraft im »Schweben zwischen Extremen, die nothwendig zu vereinigen und nothwendig zu trennen sind« (II,266:555). In GL 35 hat Novalis diese besondere Art des Sprechens über die schon gegenwärtige immanente Transzendenz eines Ideals und dessen gleichzeitige Naherwartung treffend als ein Reden von Wünschen charakterisiert, die gerade in Erfüllung gehen. Bekanntlich bezeichnet man in der Rhetorik eine solche ana-
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
chronistische Inversion oder Überlagerung einer zeitlichen Folge als Hysteron proteron (›das Spätere eher‹).183 Im Falle von GL 35 ist die Zukunft der erwünschten Erfüllung schon jetzt Realität, das Kommende also das Gegenwärtige. Dass jene Gedankenfigur des Hysteron proteron gerade über die temporaldeiktische Struktur der Fragmentsammlung erzeugt wird, zeigen insbesondere aufwendige grammatische Konstruktionen wie ›jetzt wird man sich zurückziehen können‹ (GL 32). Dank ihrer inszeniert Novalis in Glauben und Liebe jene relationale Realität, in der sich Gegenwart und Zukunft mischen.184 Um aus den sprachlichen Formen, derer sich Hardenberg in Glauben und Liebe bedient, hypothetisch Rückschlüsse auf eine mit der Fragmentsammlung verbundene Textintention ziehen zu können, muss man allerdings noch den zweiten raumdeiktischen Hinweis auf den Standpunkt des Sprecher-Ichs berücksichtigen. Eines der berühmtesten Fragmente der Sammlung lautet: Wer den ewigen Frieden jetzt sehn und lieb gewinnen will, der reise nach Berlin und sehe die Königin. Dort kann sich jeder anschaulich überzeugen, daß der ewige Friede herzliche Rechtlichkeit über alles liebt, und nur durch diese sich auf ewig fesseln läßt. (II,498:42) (Hervorhebung, M.L.)
Friedrich Schlegel veranlasste dieses Fragment zu folgender Rüge gegenüber Hardenberg, der zeitlebens nie in Berlin war: [I]ch wollte Dir hier Männer genung [sic!] zuweisen, mit denen Dich ein Gespräch mehr mit der Eigenthümlichkeit der Preuß[ischen] Monarchie bekannt machen könnte, als ganze Bücher darüber. Du Sakrament willst alle Welt nach Berlin schicken und selbst nicht kommen!185
183 184
185
Vgl. Coenen (1998), 128. Gerhard Kurz hat dem Hysteron proteron und seiner Funktion in der ›Goethezeit‹ eine kurze instruktive Untersuchung gewidmet, vgl. Kurz (2001): Gerade Autoren wie Hamann haben diese Gedankenfigur für eine kritische, aber anschlusssuchende Auseinandersetzung mit der aufklärerischen Realitätskonzeption benutzt. Dabei hat Hamann das Hysteron proteron wieder in einem seiner Entstehungskontexte gebraucht, nämlich in der typologischen Bibelexegese, die eine um Christus zentrierte Heilsgeschichte rekonstruiert, also das Alte Testament schon abhängig vom Neuen Testament liest. Von jenem Indifferenzpunkt des Erscheinens Jesu Christi aus ist dabei das Frühere immer schon das Spätere und vice versa. Bekanntlich zeigen sich auch die Frühromantiker begeistert von diesen Denkfiguren der Typologie. Mit Kurz seien hier nur jene Verse aus Hardenbergs Ofterdingen zitiert: »Und was man geglaubt, es sey geschehn / Kann man von weiten erst kommen sehn« (I,319: v. 73f.). Es scheint, als seien Kurz’ wenige Andeutungen zum Hysteron proteron bei Hardenberg auch als ein Alternativvorschlag zu der mit Manfred Frank verfassten ›ordo inversus‹-Studie gemeint. Damit wäre zumindest noch einmal klar gestellt, dass es mit diesem Beitrag von Frank/Kurz nicht vornehmlich darum ging, die Vielzahl inverser Denkfiguren bei Hardenberg zwangsläufig auf die Kreisbewegung des ›ordo inversus‹ festlegen zu wollen (vgl. Anm. 77). IV,494: Friedrich Schlegel an Novalis, 28.5.1798.
3. ›Glauben und Liebe‹ als literarische Utopie
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Schlegels Bemerkung zeigt, dass er die ebenso komplizierte wie eigenartige ästhetische Struktur der Fragmentsammlung nicht vollends durchschaut, denn er bezieht das Deiktikon ›dort‹ in GL 42 auf den historischen Standpunkt des im sächsischen Freiberg studierenden Hardenberg, identifiziert also das Sprecher-Ich der Fragmentsammlung mit dem empirischen Autor. Diese Lesart produziert freilich den Widerspruch, dass dann auch das Deiktikon ›hieher‹ in GL 6 auf Hardenberg als empirischen Autor der Fragmentsammlung zu beziehen wäre. Dies wiederum würde konsequenterweise bedeuten, dass auch die Bildlichkeit in GL 6 auf den historischen Standpunkt des empirischen Autors anspielt. Damit wäre aber behauptet, dass das sächsische Freiberg jener Ort sei, zu dem die Libellen bzw. die Fremdlinge mit ihren Geschenken ziehen, indem sie dem Doppelgestirn folgen. Wenn man Hardenberg mit dem Sprecher-Ich in Glauben und Liebe identifiziert, so wie Schlegel dies tut, dann führt die Raumdeixis der Fragmentsammlung genau genommen zu dem widersinnigen Schluss, dass in Freiberg jener Indifferenzpunkt sei, an dem die Krippe Jesu steht. Man sieht gerade an solchen scheinbar unwichtigen Details, dass das Aufbauprinzip des Textes und die ihm zugrunde liegende deiktische Struktur es erfordern, zwischen Hardenberg und Novalis zu unterscheiden, da das Deiktikon ›hieher‹ überhaupt nur Sinn ergibt, wenn man es auf einen fiktiven Sprecher bezieht und nicht auf den in Freiberg studierenden empirischen Autor. Die gesamte Fragmentsammlung enthält nur jene zwei deiktisch gebrauchten Lokaladverbien ›hieher‹ und ›dort‹, anhand derer das Sprecher-Ich seine topologische Position artikuliert. Diese wenigen Rudimente einer räumlichen Struktur genügen jedoch, um den Text im Sinne der romantischen Darstellungstheorie zu verstehen. Das historische preußische Königspaar in Berlin ist demnach nicht einfach mit der Realisierung des goldenen Zeitalters, des ewigen Friedens oder des ›poëtischen Staates‹ identisch: Weil das Unbedingte sich nur in Scheinsätzen darstellen lässt, also bei jedem Repräsentationsakt ein Mangel an Sein in Kauf genommen werden muss, ist jede Darstellung absoluter Ideen in der Erscheinungswelt vom hypothetischen Standpunkt einer absoluten Idee aus gesehen immer ein ›Dort‹. Mit der raumdeiktischen Opposition ›hieher‹ vs. ›dort‹ signalisiert Hardenberg also, dass der aus Elementen der vorfindlichen Wirklichkeit entwickelte romantische Entwurf eines neupreußischen Staates nicht als Realisierung einer idealen Gemeinschaft missverstanden werden soll, sondern als deren Mittlerbild, das als Hysteron proteron zugleich eine immanente Transzendenz und eine erhoffte Tendenz konstruiert. In Glauben und Liebe wird demnach nicht zur tatsächlichen Realisierung des neupreußischen Staates aufgerufen, sondern versucht, den Leser zur Einnahme jenes hypothetischen Sprechstandpunkts zu stimulieren und dazu, sich die ›Maske‹ der romantischen Autorimago ›Novalis‹ aufzusetzen. Die Libellen bzw. die Botschaft des Textes lockt den Leser nicht in das romantisierte Preußen, sondern auf einen hypothetischen Indifferenzpunkt, der die Romantisierung Preußens mithilfe von Scheinsätzen erst ermöglicht.
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
Die Fragmentsammlung, so kann man resümieren, versucht ihre Leser in ›Fremdlinge‹ zu verwandeln, indem sie ihre Erfahrungswirklichkeit verfremdet.186 Beim ›Fremdling‹, der auch in GL 6 erwähnt wird (dort folgen die Fremdlinge dem Doppelgestirn mit ihren Geschenken), handelt es sich um einen Schlüsselbegriff von Hardenbergs romantischer Ästhetik. Nicht nur widmet er der Lebensform des Fremdlings ein ganzes Gedicht187, in dem er seine Erfahrung am Beginn der Studienzeit in Freiberg verarbeitet, sondern auch in der ersten Hymne an die Nacht spielt der ›Fremdling‹ ein prominente Rolle: Fremdlinge sind hier diejenigen, die »im Lichte stehen, eingedenk der Nacht«188. Man kann im Begriff des Fremdlings daher leicht eine Selbstbeschreibung des romantischen Intellektuellen entdecken. Fremdlinge stehen in der Welt des Lichts, in der Welt der sichtbaren Dinge, bewahren sich aber ein Gefühl für das Unbedingte, für das jenseits des Lichts liegende Reich der Nacht. Sie haben zwar keinen unmittelbaren Zugang zu diesem nächtlichen Reich des Unbedingten, versuchen aber die sichtbaren Dinge in ein anderes Licht zu rücken, sie als Zeichen des Unbedingten zu deuten.189 Auch in Glauben und Liebe wird die sichtbare Welt des Lesers verfremdet und zum vorläufigen Zeichen kontrafaktischer Ideen umcodiert, um damit den romantischen Fremdling im Leser zu wecken, der die Erfahrungswirklichkeit als Stimulanz für seine Unendlichkeitssehnsucht gebraucht. In Glauben und Liebe werden die Bedingungen und die Funktionsweise dieser romantischen ›Variations-Operation‹, der Konstruktion von Realität als Relationalität, zudem deutlich präziser und mit größerem rhetorischen Aufwand vorgeführt als im Blüthenstaub. Beschränkt sich das Romantisieren dort noch auf die Konstruktion einer frühromantischen Autorimago und auf die Forderung, der Leser solle der erweiterte Autor sein (vgl. VB 125), wird in Glauben und Liebe gezeigt, dass es eines hypothetischen Standpunktes bedarf, um romantisch zu sehen und zum Fremdling in der sichtbaren Welt zu werden. Im Sehenden muss die Sehnsucht nach absoluten Idealen vorhanden sein, zugleich aber auch ein Bewusstsein davon, dass diese sich in der Erfahrungswirklichkeit allenfalls als ›angenehme Täuschung‹ (III,653:572) verwirklichen lassen.
3.2 ›Poëtischer Staat‹ vs. ›Neupreußischer Staat‹ Hans-Joachim Mähl hat anhand der Strukturähnlichkeit zwischen der ›utopischen Methode‹ Raymond Ruyers190 und Hardenbergs Verfahren der Hypothe-
186 187 188 189 190
Zum Verfahren der Verfremdung bei Novalis vgl. Mähl (1992). Zum Gedicht Der Fremdling (1798) vgl. Stockinger (2009b), 61–63. Vgl. Stockinger (2001b). Vgl. ebd., 14f. Vgl. Ruyer (1950) sowie Kap. I.1.2.
3. ›Glauben und Liebe‹ als literarische Utopie
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senbildung191 versucht, einen Begriff der frühromantischen Utopie zu etablieren, der »die Einengung des Begriffs auf die Tradition der Sozialutopie nach Muster von Morus ebenso zu vermeiden [sucht], wie die […] Ausweitung auf eine Kategorie des Ästhetischen schlechthin, womit alle Literatur als utopisch deklariert werden kann«192. Mähl zeigt, dass die frühromantischen »Approximationsprincipe« (III,296:314) und absoluten Postulate ihrer Funktionsbestimmung nach als Utopien verstehbar sind. Die Parallele zur frühneuzeitlichen Utopia-Tradition resultiere aus der Operation des hypothetischen Setzens, bei dem grundsätzliche erfahrungsweltliche Axiome verändert werden. Mähl weist auf die Vorläuferschaft hin, die der kantischen Postulatenlehre und der Theorie des ›philosophischen Chiliasmus‹193 hinsichtlich der frühromantischen ›Approximationsprincipe‹, Hypothesen, ›Glaubensconstructionen‹ etc. zukommt. Er macht darauf aufmerksam, dass sich das transzendentalpoetische Verfahren zur Darstellung absoluter Ideale einer ähnlichen Konstruktionsoperation verdankt, wie sie auch den literarischen Idealstaatsentwürfen des 16. und 17. Jahrhunderts zugrunde liegt: Beiden Darstellungsmustern gemeinsam ist ihr Appellcharakter, d. h. die Intention, den Leser im Namen einer außerempirischen Norm zu einer wirklichkeitskritischen Haltung zu bewegen. Aus dieser funktionalen Analogie entwickelt Mähl den Begriff der frühromantischen Universalutopie194, die sich auf alle Bereiche des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens sowie die Wissenschaft erstrecke und sich in verschiedene Teilutopien auffächere: etwa die Utopie des ›poëtischen Staats‹, des ›ewigen Friedens‹, einer ›Universalwissenschaft‹, der ›Neuen Mythologie‹ und der ›verwandelten Natur‹. Obwohl sich Mähls Begriff der frühromantischen Utopie in der jüngeren Hardenberg-Forschung inzwischen als Handbuchwissen etabliert hat,195 kann hier nicht darauf zurückgegriffen werden, da dies zu einer – für das Anliegen dieser Arbeit kontraproduktiven – Vermischung von ›Utopie‹ als Gattungsbegriff und abstraktem Allgemeinbegriff führt. Zudem ist Mähls Begriff einer in mehrere Teilutopien subkategorisierbaren frühromantischen Universalutopie für ein adäquates Verständnis der Frühromantik auch nicht unproblematisch:196 Immerhin provoziert er das Missverständnis, die sogenannten Utopien des ›poëtischen Staats‹, des ›ewigen Friedens‹, der ›Universalwissenschaft‹, der ›Neuen Mytholo-
191
192 193 194 195 196
Im 5. Dialog hat Hardenberg den frühromantischen Begriff der Hypothese entwickelt. In diesem Streitdialog verteidigt ein Frühromantiker gegenüber einem Empiristen die Hypothese als erfolgversprechendes Mittel zur »Erweiterung der Wissenschaften« (II,668f.), da diese nur auf der Grundlage eines empiristischen Skeptizismus keine Fortschritte machen könnten. Mähl (1985b), 273. Vgl. Kant (1974ff.), Bd. XI, 45 (= Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 8. Satz). Mähl (1985b), 282. Vgl. Uerlings (1998), 68. Vgl. auch Peter Kuons kritische Bedenken gegen Mähls funktionsgeschichtlich erweiterten Utopie-Begriff: dazu Kap. I.1.2, Anm. 48.
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
gie‹ und der ›verwandelten Natur‹ seien als eine Versinnlichung oder Veranschaulichung der frühromantischen Universalutopie zu verstehen, weil sie partiell etwas auf den Begriff bringen, wofür in der Frühromantik gar kein Quellenbegriff existiert, nämlich die Einheit der frühromantischen Philosophie, Ästhetik, Wissenschaftslehre und Ethik. Der Begriff der Universalutopie versucht ein die Frühromantik einendes begriffliches Substrat für das Absolute nachzuliefern, überdeckt damit allerdings, dass es den Frühromantikern offenbar nicht darum ging, einen solchen universalen Substanzbegriff an die Spitze ihres ›Systems‹ zu stellen, sondern dass sich dessen Einheit dem Funktionsbegriff des ›Romantisierens‹ verdankt. Schließlich unterschlägt Mähls Rede von Universal- und Teilutopien auch den Unterschied, der zwischen einem Ideal oder absoluten Postulat und einer narrativ und/oder bildhaft bzw. deskriptiv vermittelten utopischen Konstruktion besteht. Bezeichnet man frühromantische Ideale und absolute Postulate als Utopien, so unterstellt man damit eine Identität zwischen den absoluten Postulaten und den frühromantischen Symbolen und Bildern einer unendlichen Annäherung an diese, leistet also jener Verwechslung von Bild und Idee Vorschub, vor der Hardenberg ausdrücklich gewarnt hat. So behauptet Mähl, »die Utopie des ›poëtischen Staates‹ [sei] von Novalis in der Fragmentsammlung Glauben und Liebe entwickelt [worden]«197, obwohl dieser Begriff gar nicht auf Glauben und Liebe, sondern auf die Vermischten Bemerkungen zurückgeht und zudem nicht in den Blüthenstaub-Druck aufgenommen wurde. Dass es sich für ein differenziertes Verständnis von Glauben und Liebe dagegen durchaus lohnt, zwischen dem Ideal des ›poëtischen Staats‹ und dem utopischen Entwurf eines ›Neupreußischen Staates‹ zu unterscheiden, ist Gegenstand dieses Kapitels. Am Anfang steht daher eine dezidierte Betonung des Unterschieds, der zwischen absoluten Idealen, Postulaten bzw. Approximationsprinzipien und narrativ oder bildhaft dargestellten Utopien besteht.198
197 198
Mähl (1985b), 281. Wegen seiner begriffsgeschichtlichen Abstammung von einer literarischen Gattung gehört zur Semantik des abstrakt-allgemeinen Utopie-Begriffs immer auch die Vorstellung einer konkreten Anschaulichkeit. Eine ungenaue Verhältnisbestimmung zwischen Ideal und Utopie provoziert daher zwangsläufig Missverständnisse. – Lucian Hölscher geht zwar davon aus, dass der Begriff ›Ideal‹ als geschichtsphilosophischer Vorläufer des positiv besetzten, abstrakt-allgemeinen Utopiebegriffs aus der Sozialphilosophie und Wissenssoziologie des frühen 20. Jahrhunderts gelten kann (Hölscher [1990], 775). Diese Entwicklung lässt sich auf Kant zurückführen, der mit Ideal eine Vorstellung, ein ›Urbild‹ meint, das man sich in Gedanken von einer regulativen Idee macht, um sich dieser anzunähern (vgl. Anm. 257). Utopie und Ideal synonym, im Sinne einer Vorstellung zu verwenden, die in der Erfahrungswelt nirgends verwirklicht ist, impliziert allerdings eine Reihe von Nebenassoziationen, die einen analysetauglichen Begriffsgebrauch erschweren. Auf den im 20. Jahrhundert erreichten Stand der Begriffsgeschichte, den Mähl voraussetzt und der eine synonyme Verwendung von Ideal und Utopie erlaubt, kann für die Auseinandersetzung mit der Frühromantik nur sehr bedingt zurückgegriffen werden, da sich die Essenz der frühromantischen Darstellungstheorie ja gerade aus der Differenzierung zwischen absoluten Idealen und deren symbolisch-konstruierter Darstellung ergibt. – Wegen seiner Abstammung
3. ›Glauben und Liebe‹ als literarische Utopie
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In seinem grundlegenden Aufsatz zum Konzept der frühromantischen Universalutopie hat Mähl nicht nur den Begriff der romantischen Utopie entwickelt, sondern auch eine von deren Erscheinungsformen näher beschrieben, nämlich die Utopie des ›poëtischen Staats‹. Mähl definiert diesen Begriff aus VB 122 als »de[n] frei erschaffene[n], nicht mimetisch an die vorfindliche Wirklichkeit rückgebundene[n] Staat«199. Er spitzt damit den oben beschriebenen Widerspruch zu, denn der von ihm als Utopie bezeichnete ›poëtische Staat‹ wird damit als Ideal menschlichen Zusammenlebens ausgegeben, für das in der Erscheinungswelt keine Anschauungsform existiert. So verstanden, ist allerdings fraglich, wie dann Mähls Behauptung aufzufassen ist, dass die Utopie des ›poëtischen Staats‹ in Glauben und Liebe entwickelt werde, denn Hardenbergs Fragmentsammlung bezieht sich mit der preußischen Monarchie unleugbar auf Versatzstücke der vorfindlichen Wirklichkeit. Nicht zuletzt diese definitorische Aporie macht luzide, dass die Unterscheidung zwischen Ideal und Utopie gerade für die Frühromantik nicht aufgegeben werden sollte. Mähls Definition des ›poëtischen Staats‹ ist vor dem Hintergrund von Hardenbergs Poesie-Begriff zwar durchaus zutreffend, es ist jedoch zu klären, welche Differenzen zwischen dem begrifflichen Ideal des ›poëtischen Staats‹ und dem utopischen Entwurf eines ›Neupreußischen Staats‹ bestehen und ob sich der Begriff des ›poëtischen Staats‹ überhaupt auf Glauben und Liebe anwenden lässt. Neben Mähl hat auch Hermann Kurzke zum Verständnis von Hardenbergs Poesie-Begriff einen wesentlichen Beitrag geleistet. Bei seinem Versuch, die Formel ›poëtischer Staat‹ zu deuten, weist er auf Hardenbergs Poesietheorie in dessen Brief an A.W. Schlegel vom 12.1.1798 hin, die mit der Bildlichkeit in VB 122 in enger motivischer Verbindung steht.200 Hardenberg unterscheidet in diesem Brief Prosa und Poesie anhand der gegensätzlichen Bilder des Stromes, der in einem fest gefügten Bett fließt, und des Meeres, das sich nach allen Seiten im Raum ausbreitet. Die Poesie »ist von Natur Flüssig – allbildsam – und unbeschränkt – Jeder Reitz bewegt sie nach allen Seiten – Sie ist Element des Geistes – ein ewig stilles Meer, das sich nur auf der Oberfläche in tausend willkührliche Wellen bricht«201. Flüssigkeit bzw. die Fähigkeit zur Verflüssigung kennzeichnen mithin Hardenbergs Poesieverständnis. Flüssigkeit bezeichnet einen Zustand der Vermischung und Allverbundenheit, der mit dem Begriff des ›poëtischen Staats‹ eine
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von einer literarischen Gattung hat der abstrakt-allgemeine Utopiebegriff in der Umgangssprache ohnehin die Tendenz, hauptsächlich für die Bezeichnung außerempirischer, aber dennoch anschaulicher Vorstellungen verwendet zu werden, während der Begriff ›Ideal‹, trotz Kant, eher für begrifflich-abstrakte außerempirische Normen gebraucht wird. Man spricht umgangssprachlich einerseits von Freiheit und Gleichheit als Ideal oder dem Ideal der Gerechtigkeit etc. und andererseits von ›Werkstatt als Utopie‹ (Kambas [1988]), ›Musik als Utopie‹ (Bönnighausen [1997]), ›Heimat als Utopie‹ (Schlink [2000]) oder gar ›Nachschlagewerk als Utopie‹ (Caldenberg [2005]). Mähl (1985b), 297, hier Anm. 49. Kurzke (1983a), 124–127. IV,246: Novalis an August Wilhelm Schlegel, 12.1.1798.
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
soziale und politische Dimensionierung erfährt: »Naturwillkühr und Kunstzwang durchdringen sich, wenn man sie in Geist auflößt. Der Geist macht beydes flüssig. Der Geist ist jederzeit poëtisch. Der poëtische Staat – ist der wahrhafte, vollkommne Staat« (II,468:122). Wenn man die Figur der Verflüssigung und das Bild des Meeres auf die Sammlung Glauben und Liebe bezieht, die nur wenige Monate nach den Vermischten Bemerkungen und dem Brief an A.W. Schlegel entsteht, stößt man indes auf einige nicht unerhebliche Widersprüche. So wird in GL 11–14 zwar das Bild des Meeres wieder aufgegriffen, gegenüber VB 122 allerdings unter veränderten Vorzeichen: 11. Ein einstürzender Thron ist, wie ein fallender Berg, der die Ebene zerschmettert und da ein todtes Meer hinterlässt, wo sonst ein fruchtbares Land und lustige Wohnstätte war. 12. Macht nur die Berge gleich, das Meer wird es euch Dank wissen. Das Meer ist das Element von Freiheit und Gleichheit. Indeß warnt es, auf Lager von Schwefelkies zu treten; sonst ist der Vulkan da und mit ihm der Keim eines neuen Continents. 13. Die mephitischen Dünste der moralischen Welt verhalten sich anders, wie ihre Namensvettern in der Natur. Jene steigen gern in die Höhe, da diese am Boden hängen bleiben. Für die Höhenbewohner ist kein besseres Mittel dagegen, als Blumen und Sonnenschein. Beides hat sich nur selten auf Höhen zusammen getroffen. Auf einer der höchsten moralischen Erdhöhen, kann man aber jetzt die reinste Luft genießen und eine Lilie an der Sonne sehn. 14. Es war kein Wunder, wenn die Bergspitzen meistentheils nur auf die Thäler herabdonnerten und die Fluren verwüsteten. Böse Wolken zogen sich meist um sie her, und verbargen ihnen ihre Abkunft vom Lande; dann erschien ihnen die Ebene nur wie ein dunkler Abgrund, über welchen sie die Wolken zu tragen schienen, oder wie ein empörtes Meer, da doch nichts eigentlich gegen sie empört war, und sie allmählig abstumpfte und herunterwusch, als die anhänglich scheinenden Wolken. (II,487:11–14)
Kurzke hat für GL 11–14 eine umfängliche Deutung entwickelt und diese in Beziehung zu der Bildlichkeit von Hardenbergs Poesietheorie gesetzt.202 Im Zusammenhang mit der Bildlichkeit, die schon in den hochverschlüsselten Blumen etabliert wird, versteht er die vier Fragmente als Absolutismuskritik, zugleich aber auch als Ausdruck von Revolutionsskepsis. Demnach lassen sich die ›Berge‹ als die absolutistischen Throne entschlüsseln und die ›mephitischen Dünste‹ und ›bösen Wolken‹ als Höflinge, falsche Berater oder allgemein als die politische Klugheitslehre der frühen Neuzeit.203 Beim Fallen der Berge handelt es sich offenkundig um ein Symbol für den revolutionären Sturz des Ancien Régime infolge der Verselbständigung seiner Macht, denn die ›bösen Wolken‹ suggerieren den ›Bergen‹, dass sie über dem Tal schweben, verschleiern ihnen also ihre ›Abkunft vom Lande‹. Im Gegensatz zu dem Brief an A.W. Schlegel liest Kurzke die nicht kanalisierte Flüssigkeit des Meeres in GL 11–14 allerdings durchweg negativ: 202 203
Kurzke (1983a), 133–137. Vgl. dazu auch die Deutung dieser Passage, die der Kreisamtmann Just in seinem Brief an Hardenberg vom 17. und 24.11.1798 unternimmt (IV,505f.).
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»Der Zusammenhang der Bilder stellt klar, daß das Meer an dieser Stelle nichts mit dem flüssigen Meer der Poesie aus dem Brief an A.W. Schlegel vom 12.1.1798 zu tun haben kann […]«204. An der Frage, ob die These von der Inkompatibilität der Bildlichkeit des ›poëtischen Staats‹ und der Bildlichkeit in GL 11–14 aufrecht zu erhalten ist, entscheidet sich ganz wesentlich die Deutung von Glauben und Liebe. Unzweifelhaft spielt das ›empörte Meer‹ als ›Element von Freiheit und Gleichheit‹ auf die strukturerschütternde Kraft der Revolution an, die Anarchie erzeugt. In GL 12 hat Novalis sogar ein Bild dafür kreiert, dass die nivellierende Kraft der Revolution wieder neue Ungleichheiten produziert: Die ›Lager von Schwefelkies‹ unter dem Meeresboden oder in der Nähe des Meeres wirken, nach Meinung der zeitgenössischen Geologie, als Katalysator neuer Vulkantätigkeit und bedingen die Entstehung neuer Berge und Kontinente. Novalis skizziert in diesen vier Fragmenten also einen verheerenden Zyklus aus geologisch-vulkanischen und meteorologischen Zusammenhängen. Die ›Lager von Schwefelkies‹ und das Meer lösen vulkanische Tätigkeit aus, sind elementare Bedingungen der Gebirgsentstehung.205 Dagegen stumpfen Wetterphänomene wie die ›bösen Wolken‹ das Gebirge wieder ab, waschen es herunter und bringen die Berge zu Fall, so dass wiederum nichts als ein ›todtes Meer‹ übrig bleibt. In der metaphorisch-bildhaften Form der ›Tropen und Räthselsprache‹ wird hier ein zyklischer Geschichtsverlauf geschildert, bei dem aus einem gestürzten Thron revolutionäre Anarchie hervorgeht, die wiederum strukturelle Ungleichheit produziert. Die Bildlichkeit, die Novalis für die Darstellung dieses Geschichtszyklus wählt, der endlose Kreislauf von Eruption und Erosion, basiert allerdings ausnahmslos auf Phänomenen der anorganischen Welt. Erst die Entstehung der organischen Welt durchbricht den hermetisch-anorganischen Zyklus und biegt ihn in ein Perfektibilitätsmodell um: »Für die Höhenbewohner ist kein besseres Mittel dagegen [gegen die ›mephitischen Dünste‹ und ›bösen Wolken‹], als Blumen und Sonnenschein« (GL 13). Erst die Entstehung einer Gebirgsvegetation unterbricht den eruptiv-erosiven Kreislauf der Weltgeschichte und verhindert, dass »die Bergspitzen meistentheils nur auf die Thäler herabdonner[n] und die Fluren verwüste[n]« (GL 14). Die Humus- und Vegetationsschicht leistet im Zusammenhang dieses Bildfeldes zweierlei: Sie legt einerseits einen organischen Mantel über das anorganische Gebirge und verschafft diesem damit Stabilität und Schutz gegen wetterbedingte Erosion und produziert darüber hinaus Sauerstoff, »reinste Luft« (GL 13), löst also die mephitischen Dünste und bösen Wolken auf, die das Gebirge erodieren, und gibt den Blick frei für den elementaren Zusammenhang
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Kurzke (1983a), 136, hier Anm. 10. Kurzke weist darauf hin, dass nach den zeitgenössischen geologischen Ansichten jede Vulkantätigkeit die Nähe des Meeres erfordert, insofern enthält gerade das Meer den ›Keim eines neuen Continents‹ (Kurzke [1983a], 135).
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
von Ebene und Gebirge.206 Das Bildfeld in GL 11–14 kreiert mithin einen Kontrast zwischen dem beständig »blühende[n] Land« (II,486:7), das sich in Berg und Tal gliedert, und dem umwölkten, instabilen und vegetationslosen Gebirge. Offen bleibt jedoch, wie es zum Übergang zwischen der anorganischen und organischen Welt kommt, denn im Bild des anorganischen Zyklus aus Eruption und Erosion ist auch ein logisches Anfangsproblem enthalten: Nach der Bildlogik von GL 11–14 bedarf es nämlich eines Initialereignisses, aufgrund dessen der hermetische, anorganische Zirkel zwischen Eruption und Erosion durchbrochen wird. Da die Berge von ›mephitischen Dünsten‹ umgeben sind, die das Sonnenlicht abschirmen, fehlt einerseits die elementare Bedingung für eine die Erosion verhindernde Gebirgsvegetation. Andererseits muss bereits eine Vegetationsschicht, die Sauerstoff produziert, vorhanden sein, um die ›mephitischen Dünste‹ aufzulösen. Die Entstehung der organischen Progression aus dem anorganischen Zirkel ist nach der Bildlogik von GL 11–14 also sehr unwahrscheinlich, wenn nicht gar unmöglich, da sich hierbei das organische Leben als Bedingung seiner Entstehung selbst schon voraussetzen muss. In GL 13 führt Novalis deshalb unvermittelt die ›Lilie‹ ein, die den anorganischen Zyklus von Eruption und Erosion in die Stabilität des ›blühenden Landes‹ überführt. Die entscheidende Attribuierung, mit der er sie charakterisiert, ist ihre ›Seltenheit‹: Blumen und Sonnenschein haben sich »nur selten auf Höhen zusammen getroffen. Auf einer der höchsten moralischen Erdhöhen, kann man aber jetzt die reinste Luft genießen und eine Lilie an der Sonne sehn« (GL 13). Novalis inszeniert die im Gebirge blühende Lilie als ein Mittlerglied zwischen Anorganizität und Organizität und ihr seltenes Vorkommen auf dem wolkenverhangenen Berg als Lösung des logischen Anfangsproblems, das dem gesamten Bild innewohnt. Auch das Blumen-Distichon Die Alpenrose artikuliert den zentralen Stellenwert, den der Begriff der ›Seltenheit‹ für die Bildlogik dieser vier Fragmente besitzt, und gibt zu verstehen, was mit dem Blumen-Bild gemeint ist, nämlich die Königin: »Selten haftet auf Höhn ein Funken himmlischen Lebens, / Aber, als Königin, blüht, dann auch die Rose des Bergs« (II,483). Im Bild der Alpenrose oder Lilie, die als ein ›Funke himmlischen Lebens‹ selten im Gebirge blüht, kombiniert Hardenberg den Mittlergedanken mit der für die Frühromantik charakteristischen Parusie- und Naherwartungskonstruktion, entwirft also eine Glaubenskonstruktion, die für kurze Zeit die Möglichkeit einer kommenden, neuen Welt anzeigt. Stockinger hat dieses generelle romantische Verfahren als das Kairosbewusstsein der Frühromantiker auf den Begriff
206
Hardenberg kannte bereits die von Antoine Laurent de Lavoisier entwickelte Sauerstofftheorie, derzufolge die Tiere ›Stickluft‹ produzieren, die dann die Pflanzen in von den Tieren benötigte atembare Luft umwandeln (vgl. Stockinger [1987], 384). Mit ›romantischem Auge‹ besehen, lässt sich in der Photosynthese also das Bild für ein der Natur inhärentes liebevolles Geben und Nehmen entdecken, denn immerhin »nähren die Pflanzen die Thiere, wie die Thiere die Pflanzen« (III,39).
3. ›Glauben und Liebe‹ als literarische Utopie
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gebracht.207 Der Kairos-Begriff stammt ursprünglich aus der griechischen Mythologie und fungiert als Schlüsselbegriff des biblischen Zeitverständnisses, das sich bekanntermaßen einer triadischen Konstruktion bedient: Dabei folgt auf den paradiesischen Anfangszustand der Menschheitsgeschichte eine mittlere Epoche, in der Transzendenz und Immanenz voneinander getrennt sind, und schließlich endet die Geschichte mit der Königsherrschaft Gottes auf Erden, der ›basileia tou theou‹. Allerdings untergliedert sich die mittlere Epoche noch einmal nach verschiedenen Wendepunkten, bei denen jeweils für kurze Zeit die Möglichkeit besteht, ein von Gott unterbreitetes Heilsangebot, ein momentanes Sich-Ereignen der Transzendenz zu erkennen und zu ergreifen, ansonsten verstreicht diese Chance ungenutzt. Ein solches ›Zeitfenster‹ bezeichnet die katholische Dogmatik als Kairos. Die Frühromantiker bedienen sich der tradierten Sprachmuster christlicher Eschatologie und Apokalyptik, deuten diese aber transzendentalphilosophisch um:208 z. B. mit Schellings Begriff des ›Indifferenzpunktes‹, der etwas Ähnliches bezeichnet wie der Kairos (vgl. Anm. 180). Demnach eignen sich besonders die in der christlichen Dogmatik vorgeprägten Sprachbilder und -symbole, um eine immanente Transzendenz zu konstruieren, weil deren Wirkung bereits über Jahrhunderte erprobt ist, den eucharistischen Bildern also schon wegen ihrer Bedeutung innerhalb der christlichen Liturgie eine besondere sinnliche Überzeugungskraft zukommt, allem voran der Liturgie und den Sprachformen des Abendmahls.209 Zudem nutzt Hardenberg auch die im Christentum vorgeprägten Muster von Geschichtsdeutung und Kairosbewusstsein, um die ›narrative Konstruktionen immanenter Transzendenz‹ mit einer bestimmten Appellfunktion auszustatten und erfahrungsweltliche Ansatzpunkte einer möglichen Verbesserung zu konstruieren, indem er sie zum zeitgeschichtlichen Wendepunkt deklariert und dies sinnlich überzeugend präsentiert. Die in GL 11–14 entwickelte Bildlichkeit führt vor Augen, dass in Glauben und Liebe beide Grundfiguren von Hardenbergs Denken zusammenwirken, die ›narrative Konstruktion immanenter Transzendenz‹ und die einer ›erhofften Tendenz‹: Deutlich erkennt man dies am Bild der Alpenrose oder Lilie, die als immanent-transzendenter ›Funken himmlischen Lebens‹ selten im Gebirge blüht, also als Zeitfenster inszeniert wird, innerhalb dessen der eruptiv-erosive Zyklus durchbrochen werden, die Erde sich »bräutlich«210 schmücken und ein stabiles ›blühendes Land‹ entstehen kann. Die vier Fragmente geben damit subtile Hinweise auf die ästhetische Verfahrensweise, die dem gesamten Text zugrunde liegt und ihn eint. Ein besonders öffentlichkeitswirksames und Aufmerksamkeit erregendes Element der zeitgenössischen Erfahrungswirklichkeit, nämlich der preußische Staat mit dem verliebten Königspaar an der Spitze, wird als ein Fall imma-
207 208 209 210
Stockinger (1999b). Ebd., 282. Vgl. dazu auch Stockinger (1997). II,483: Das irrdische Paradies.
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nenter Transzendenz behauptet und zugleich die Seltenheit dieses Ereignisses, seine Kairosqualität sinnfällig gemacht. Diese Behauptung suggeriert dem Leser, die preußische Monarchie sei der Beginn einer erhofften Tendenz. Der Blick wird dabei auf den Zielpunkt dieser Tendenz gelenkt, auf das Approximationsprinzip einer Einheit von Liebe, Moral und Politik, von Monarchie und Republik und auf die Idee der ›Thronfähigkeit‹ (vgl. II,489:18) bzw. der moralischen Souveränität jedes Einzelnen. Die intendierte Lektüre der Fragmentsammlung besteht darin, die inszenierte Kairosqualität der preußischen Monarchie im Rahmen einer frühromantisch-geschichtsphilosophischen Umdeutung der christlichen Heilslehre zu lesen, sie also augenzwinkernd auf einen Prozess unendlicher Annäherung an ein nie erreichbares Ideal sozialen Zusammenlebens zu beziehen. Dank ihrer sinnlich konkreten, Glauben erzeugenden Kraft, stimuliert die symbolische Kairoskonstruktion dazu, an der Suche nach dem Unbedingten in den Dingen festzuhalten, auch wenn es »ein Produkt der Einbildungskraft [ist], woran wir glauben« (II,273:568). Gerade die zentrale Rolle der Einbildungskraft bei Hardenberg und ihr Vermögen zur Konstruktion einer immanenten Transzendenz und einer erhofften Tendenz erfordert es aber, zwischen utopischen Konstruktionen und postulatorischen Idealen zu unterscheiden. Die produktive Einbildungskraft bedarf immer einer Anbindung an Gegebenes, Bedingtes, an die Erfahrungswirklichkeit im weitesten Sinne, da nur gestaltete und begrenzte Formen überhaupt wahrnehmbar sind. Damit produziert sie aber auch immer nur bedingte Scheinsätze. Wenn Mähl den ›poëtischen Staat‹ einen ›frei erschaffenen, nicht mimetisch an die vorfindliche Wirklichkeit rückgebundenen Staat‹ nennt, dann deklariert er ihn indes zum absoluten Postulat, dem nichts sinnlich Gegebenes entspricht: Der ›poëtische Staat‹ meint das Ideal einer Gemeinschaft, in der »alle Regierungsformen einerlei sein« (II,503:67) würden, in der staatliche Souveränität durch die moralische Souveränität jedes Einzelnen ersetzt worden wäre. Hier herrscht ein ›organisches‹ und liebevolles Geben und Nehmen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen, »Gemeinschaft und wechselseitiger Tauschhandel aller Glieder« (III,295:308). Im ›poëtischen Staat‹ handeln die Individuen nicht aus Egoismus, sondern aus »absolute[r] Liebe« (II,500:53). Der ›poëtische Staat‹ entspricht mithin einer »freye Verbindung selbständiger, selbstbestimmter Wesen« (II,457:95), hier würde sich jeder so verhalten wie das Idealbild eines aufgeklärten Monarchen, wie ein moralischer Souverän. Man kann den ›poëtischen Staat‹ daher eine »republic of kings«211 nennen, einen ›verflüssigten‹ Staat, in dem Republik und Monarchie keinen Gegensatz mehr bilden, sondern sich mischen. Der in Glauben und Liebe gebrauchte Begriff der ›Republik‹ darf jedoch nicht mit modernen Republik- und Demokratievorstellungen verwechselt werden, sondern leitet sich vom romantischen Republikanismus-Begriff her, wie ihn etwa Fried-
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O’Brien (1995), 186.
3. ›Glauben und Liebe‹ als literarische Utopie
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rich Schlegel im Versuch über den Begriff des Republikanismus (1796) konturiert. Romantischer Republikanismus meint das Ideal einer »Gemeinschaft der in Verbrüderung und Liebe lebenden Menschen«212. Eine solches Ideal der Verbindung von Freiheit und Gleichheit findet sich um 1800 nicht nur bei den Romantikern, sondern wird schon in Rousseaus Gesellschaftsvertrag (1762) ausgerufen 213, es kursiert im Tübinger Stift 214 bei Hegel, Schelling und Hölderlin, der im Gedicht Die Eichbäume (1796) ein poetisches Bild 215 dafür erfindet, und wird in Fichtes 8. Rede an die deutsche Nation (1808) propagiert.216 Auch Tifans Scheschian-Monarchie im Goldnen Spiegel oder die Kykladen-Republik im Ardinghello fußen letztlich auf diesem Konzept einer Liebes- und Verbrüderungsgemeinschaft. Gerade an diesen zwei Beispielen – einerseits einer Monarchie, andererseits einer Republik – sieht man zudem, dass diese Gemeinschaftsidee sich an keine konkrete politische Organisationsform bindet. Auch beim romantischen, frühidealistischen und fichteanischen Begriff des Republikanismus als Gemeinschaft der in Verbrüderung und Liebe lebenden Menschen handelt es sich um eine solche von Nebelkerzen umstellte Idee, weil er nichts darüber besagt, »auf welcher konkreten politischen Organisation die Volksgemeinschaft beruhen und in welcher Beziehung diese Organisation zu diesem oder jenem aus der Revolution stammenden Modell stehen sollte.«217 Aus dieser inhaltlichen Vagheit ist es auch zu erklären, dass das romantische Republikanismus-Konzept einer Liebes- und Verbrüderungsgemeinschaft von den kulturkritischen Gemeinschaftsideologien vor allem der 1920er Jahre wieder aufgegriffen, nun aber als Einspruch gegen die industrielle Massengesellschaft und ihre republikanische und demokratische Organisationsform gedeutet werden konnte: z. B. in der Wandervogel-Bewegung, im George-Kreis, aber auch in der frühen soziologischen Theoriebildung, die mit dem Gemeinschafts-Begriff operiert, etwa bei Ferdinand Tönnies, Helmuth Plessner, Max Scheler u.a.218 Nun lässt sich der in Glauben und Liebe entworfene Staat jedoch nicht ohne Weiteres mit der Gemeinschaftsideologie einer Liebes- und Verbrüderungsgemeinschaft identifizieren, denn Novalis nutzt hier erfahrungsweltliche Versatzstücke, um eine Anschauung für die Abwesenheit des ›poëtischen Staates‹ und zugleich für eine Tendenz auf diesen hin zu konstruieren. In GL 21 verzahnt
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Kondylis (1979), 194. »Finde eine Form des Zusammenschlusses, die […] die Person […] jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor« (Rousseau [2003], 17). Vgl. Kondylis (1979), 186–217, insbesondere 194f. Vgl. Willems (2005). Zum romantischen Republikanismus-Begriff vgl. Kurzke (1983a), 82f., 191ff. und Stockinger (1988b), 66f., 552f. (hier Anm. 111). Kondylis (1979), 195. Vgl. M. Riedel (³1992), 857–862, insbesondere 859f.
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
Hardenberg die Lehre von der Notwendigkeit eines sinnlichen Mittlers eng mit den Argumenten der zeitgenössischen Revolutionskritik: So nöthig es vielleicht ist, daß in gewissen Perioden alles in Fluß gebracht wird, um neue, nothwendige Mischungen hervorzubringen, und eine neue, reinere Krystallisation zu veranlassen, so unentbehrlich ist es jedoch ebenfalls diese Krisis zu mildern und die totale Zerfließung zu behindern, damit ein Stock übrig bleibe, ein Kern an den die neue Masse anschieße, und in neuen schönen Formen sich um ihn her bilde. (II,490:21)
Novalis’ Kritik richtet sich hier nicht gegen die Ideen der Revolution, sondern gegen den philosophisch naiven Versuch, diese durch einen menschengemachten radikalen Umsturz in der Erfahrungswirklichkeit etablieren zu wollen, ohne den regulativen Status solcher Ideen zu berücksichtigen. Die mineralogische Metapher des ›Anschießens‹ an einen ›festen Stock‹, für die ein Kristallisationsverfahren als Bildspender dient, bringt den für Hardenbergs Denken fundamentalen Unterschied zwischen Wirklichkeit, Bild und Idee zum Ausdruck. Die ›völlige Zerfließung‹, die Auflösung aller staatlichen Strukturen und ihre Ersetzung durch die moralische Souveränität des Einzelnen taugt nur als regulative Revolutionsidee im Rahmen einer »Teleologie der Revolution« (III,575:153), aber nicht als realpolitisches Programm, weil der völligen Form- und Strukturlosigkeit die Glauben erzeugende sinnliche Anschaulichkeit fehlt.219 Die völlige Zerfließung der Revolution als erfahrungsweltliches Phänomen schafft damit immer nur neue Ungleichheit, wie die vulkanologische Metapher in GL 12 illustriert, denn die unter dem Meer liegenden ›Lager von Schwefelkies‹ werden zum ›Keim eines neuen Continents‹ und eines neuen Gebirges, sprich: eines neuen absolutistischen Throns. Dies bedeutet indes nicht, dass zwischen der Metapher des Meeres in GL 12 und dem flüssigen Meer der Poesie in Hardenbergs eingangs zitiertem Brief an A.W. Schlegel oder der verflüssigenden Wirkung des ›poëtischen Staats‹ überhaupt kein bildlogischer Zusammenhang besteht, wie Kurzke annimmt. Das Gegenteil ist der Fall: Indem Novalis das Meer in GL 12 bildlogisch als ›Element von Freiheit und Gleichheit‹ kennzeichnet, macht er gerade auch hier den motivischen Zusammenhang zwischen der allseitigen Flüssigkeit des Meeres und der Poesie geltend. Novalis meint, dass es sich bei Freiheit und Gleichheit um Ideen handelt, die eine universale verflüssigende Wirkung besitzen, so dass der Versuch, die Idee ohne ein Mittelglied auf die Wirklichkeit zu applizieren, zwangsläufig in totaler ›Zerfließung‹, sprich: in Anarchie enden muss. Was für die ästhetische 219
Schon Richard Brinkmann betont, dass die Kritik der Frühromantiker an der realgeschichtlichen Revolution nicht mit einer Absage an die Revolutionsideen als regulative Prinzipien einher gehe: Brinkmann (1974), 176. – Dass Hardenberg an den Ideen der Revolution festhält, sie aber als Approximationsprinzipien für die Selbstmoralisierung jedes Einzelnen versteht, macht auch eine seiner Randbemerkungen zu Friedrich Schlegels Ideen sinnfällig: »Die Ursachen der Revolution und ihr eigentliches Wesen, muß wenn sie wircklich historisch ächt ist, jeder Zeitgenosse in sich selbst finden können« (III,490).
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Praxis des Romantisierens gilt, die der objektiven Wirklichkeit als eines ›nothwendigen Werkzeuges‹ bedarf, gilt also auch für eine an regulativen Ideen orientierte politische Praxis. Diese soll nicht im Namen der Idee des sich selbst Gesetze gebenden autonomen Individuums alle bestehenden Bindungen auflösen, sondern Wirklichkeitsveränderung allenfalls durch die Konstruktion einer erhofften Tendenz leisten, die von Gegebenem ausgeht. Die Französische Revolution gilt Hardenberg wie vielen anderen deutschen Intellektuellen am Ende des 18. Jahrhunderts geradezu als Paradebeispiel des naiven Versuchs, Ideale in der Erfahrungswirklichkeit umzusetzen, infolge dessen die poetisch-verflüssigende Wirkung der Ideen von Freiheit und Gleichheit zur totalen Zerfließung und Anarchie ausufert. Dass Hardenberg mit seinem Poësie-Begriff dagegen ein regulatives Approximationsprinzip meint, gibt der Brief an A.W. Schlegel zu verstehen, wenn man an oben zitierter Stelle weiterliest: Sie [die Poësie] ist von Natur Flüssig – allbildsam – und unbeschränkt – Jeder Reitz bewegt sie nach allen Seiten – Sie ist Element des Geistes – ein ewig stilles Meer, das sich nur auf der Oberfläche in tausend willkührliche Wellen bricht. Wenn die Poësie sich erweitern will, so kann sie es nur, indem sie sich beschränkt – indem sie sich zusammenzieht – ihren Feuerstoff gleichsam fahren läßt – und gerinnt. Sie erhält einen prosaischen Schein […] – Sie wird fähiger zur Darstellung des Beschränkten. […] [D]em, der den Versuch mit der Poësie in dieser Form wagt, wird es bald offenbar werden, wie schwer sie in dieser Gestalt vollkommen zu realisiren ist. Diese erweiterte Poësie ist gerade das höchste Problem des practischen Dichters – ein Problem, was nur durch Annäherung gelößt werden kann […] – Man könnte jene höhere Poësie die Poësie des Unendlichen nennen.220
Wie einige Monate später in der Sammlung Glauben und Liebe bedient sich Hardenberg auch schon in diesem Brief zweier verschiedener Bildfelder, nämlich der unbeschränkten Flüssigkeit des Meeres und der Gerinnungs- oder Kristallisationsmetapher. Es geht ihm also immer darum, dass absolute Ideen eine verflüssigende Wirkung besitzen, aber auch eines sinnlichen Zeichens bedürfen. Die ›Poësie‹ muss sich beschränken, um sich zu erweitern, sie muss einen prosaischen Schein erzeugen, eine immanente Transzendenz als erhoffte Tendenz konstruieren, um zwischen Idee und Wirklichkeit vermitteln und differenzieren zu können. Auf die von den Frühromantikern bewusst eingesetzte Mehrdeutigkeit des Fremdwortes Poësie, dessen Bedeutungsspektrum sich zwischen einer metaphysischen Idee vom Zusammenhang zwischen dem Ich und dem Universum und einem Prinzip zur Darstellung dieser Idee auffächert, hat bereits Ludwig Stockinger hingewiesen.221 Auch schon Mähls Erläuterung des ›poëtischen Staats‹ liegt das Verständnis einer im frühromantischen Poësie-Begriff enthaltenen absoluten Idee zugrunde, wenn er ihn als ›frei erschaffenen, nicht mimetisch an die vorfind-
220 221
IV,246f.: Novalis an August Wilhelm Schlegel, 12.1.1798. Stockinger (2004), 74.
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
liche Wirklichkeit rückgebundenen Staat‹ definiert. Umso dringlicher ist vor Mähls irreführender, aber vielfach aufgegriffener Behauptung zu warnen, Hardenberg ›entwickle‹ den ›poëtischen Staat‹ in Glauben und Liebe.222 Immerhin bietet Glauben und Liebe einen anderen konkreten Quellenbegriff, mit dem Novalis einen deutlichen Unterschied zur bloß begrifflichen Idee des ›poëtischen Staats‹ markiert, nämlich den ›Neupreußischen Staat‹: Es würde ein sehr gefährliches Symptom des Neupreußischen Staats sein, wenn man zu stumpf für die wohltätigen Einflüsse des Königs und der Königin wäre, wenn es in der That an Sinn für dieses klassische Menschenpaar gebräche. Das muß sich in Kurzem offenbaren. Wirken diese Genien nichts, so ist die vollkommene Auflösung der modernen Welt gewiß, und die himmlische Erscheinung ist nichts, als das Aufblitzen der verfliegenden Lebenskraft, die Sphärenmusik eines Sterbenden, die sichtbare Ahndung einer bessern Welt, die edlern Generationen bevorsteht. (II,492:28) (Hervorhebung, M.L.)
Die Passage kehrt einen deutlichen Unterschied zwischen dem Ideal des ›poëtischen Staats‹ und dem utopisch-sinnlichen Entwurf des ›Neupreußischen Staats‹ hervor, indem sie ihn als unendliche Annäherung an den ›poëtischen Staat‹ kennzeichnet. Der ›poëtische Staat‹ ließe sich als ideale Verbindung bzw. Mischung von Freiheit und Gleichheit, als eine Gemeinschaft thronfähiger, moralisch souveräner Individuen verstehen, in der alle Regierungsformen einerlei und der Staat als Institution überflüssig wäre, sich also vollkommen in die einzelnen Staatsindividuen ›verflüssigt‹ hätte. Demgegenüber wird in Glauben und Liebe suggeriert, der Entwurf des ›Neupreußischen Staats‹ sei eine ›himmlische Erscheinung‹, eine anschaubare immanente Transzendenz dieser Idee. Er fungiert als »Erziehungsmittel zu diesem [unendlich] fernen Ziel« (II,489:18) und versprachlicht nicht die regulative Idee des ›poëtischen Staats‹, sondern eine erhoffte Tendenz in Richtung auf dieses Ziel, was sich an der Kombination von Naherwartungsformeln (›Das muß sich in Kurzem offenbaren‹) und der Warnung vor einem Verpassen der zeitgeschichtlichen Chance zeigt (›Wirken diese Genien nichts […]‹).
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Auch Stockingers Kommentar unterscheidet nicht wesentlich zwischen dem Ideal des ›poëtischen Staats‹ und dem in Glauben und Liebe entworfenen Staat und provoziert damit die irreführende Annahme, dass zwischen beiden eine Identität bestehe: »Die Ausarbeitung und Anwendung dieses Konzepts [sc. des ›poëtischen Staats‹] auf den preußischen Staat am Ende des 18. Jh.s liegt uns in ›Glauben und Liebe‹ und in den ›Politischen Aphorismen‹ von 1798 vor« (Stockinger [1987], 367). Eine vergleichbar vage Formulierung findet sich auch in Samuels Kommentar zu Vermischte Bemerkungen/Blüthenstaub: »Am Ende von VB hat Novalis ein längeres Fragment über den Staat gestrichen (Nr. 122). Seine Essenz, die Idee vom ›poetischen Staat‹, wird in Glauben und Liebe verarbeitet« (II,403).
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3.3 »das Ziel des Menschen ist nicht die goldne Zeit«223 – Der utopische Staat als Symbol unendlicher Annäherung Zweifelsohne besteht der größte Unterschied zwischen Glauben und Liebe und der frühneuzeitlichen Utopia-Tradition schon auf den ersten Blick in der äußeren Form, d. h. in der Art und Weise, wie der utopische Entwurf literarisch jeweils vermittelt wird: Die Glauben und Liebe-Fragmente liefern keinen zusammenhängenden narrativen Bericht von einem utopischen Staat, sondern bedienen sich anderer Formen der Informationsvergabe. Dies hängt damit zusammen, dass Hardenberg nicht einen ausgedachten Staat in geographischer oder zeitlicher Ferne, sondern den Staat, in dem der zeitgenössische Leser des Textes lebt, zum utopischen Entwurf stilisiert. Die einzelnen Fragmente informieren den Leser über den neupreußischen Staat zudem auf sehr unterschiedliche Weise: Abgesehen von den lyrischen und hochverschlüsselten Blumen und dem diskursiven Sonderstatus der ‹Politischen Aphorismen›, lassen sich für den eigentlichen Kern der Sammlung, nämlich für die 43 im Juli-Heft der Jahrbücher publizierten Fragmente, drei Formen der Informationsvergabe unterscheiden: 1. Fragmente, die über das transzendentalpoetische Verfahren der Sammlung Auskunft geben: Zu dieser Gruppe gehören die 6 Vorrede-Fragmente, aber auch GL 15, wo der frühromantische Zusammenhang zwischen Idee und Symbol expliziert und zudem auf die besondere Art der Rede aufmerksam gemacht wird, die nicht auf historischen Erfahrungen basieren soll (»Wer hier mit seinen historischen Erfahrungen angezogen kömmt, weiß gar nicht, wovon ich rede, und auf welchem Standpunct ich rede«, II,488:15). Schließlich zählt dazu auch GL 35 (»Nichts ist erquickender als von unsern Wünschen zu reden, wenn sie schon in Erfüllung gehn«, II,494:35), denn der Text verweist hier auf die ihm zugrunde liegende, paradoxe Zeitstruktur des Hysteron proteron, indem eine immanente Transzendenz, gleichzeitig aber auch eine nur erwünschte Naherwartung behauptet wird. 2. Fragmente, in denen figurativ-metaphorisches Sprechen dominiert: Hierzu zählen die oben analysierten Fragmente GL 11–14, daneben GL 10, in dem Gold und Silber mit dem Blut des Staatskörpers verglichen werden, ferner GL 21, in dessen Zentrum die mineralogische Metapher des Anschießens steht, zudem GL 39, das den König mit einem Schauspieler, einem Theaterdirektor und einem Poeten vergleicht, und schließlich GL 41, das auf den Tierfrieden im goldenen Zeitalter angespielt.224 3. Fragmente, die sehr allgemeine, indikativische Behauptungen aufstellen, mit denen sie beschreibungssprachlich das romantische Bild des neupreußischen Staates konturieren. Allerdings ist hier nicht der Indikativ, sondern der optativische Konjunktiv der dominierende grammatische Modus. So beginnen die
223 224
II,269:565. Vgl. Mähl (1985b), 297, hier Anm. 68.
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
Fragmente zwar häufig mit einleitenden Behauptungen im Indikativ, der Modus wechselt dann aber zumeist rasch in den Konjunktiv. Im Konjunktiv werden einerseits konkrete Wünsche formuliert, die unmittelbar an die zeitgenössische Wirklichkeit Preußens unter Friedrich Wilhelm III. anschließen, die aber andererseits auch einen Beitrag zum romantischen Bild des neupreußischen Staates leisten, da der konjunktivisch geäußerte Wunsch nach einer bestimmten Reform ja schon eine sinnliche Andeutung davon liefert, wie man sich die institutionelle Einrichtung des neupreußischen Staates vorzustellen hätte, wenn der Reformwunsch in Erfüllung ginge. Das Gros der 43 Fragmente lässt sich der dritten Gruppe zuordnen. Im Folgenden sollen zentrale indikativische und konjunktivische Andeutungen schlaglichtartig zusammengetragen und die esoterisch-transzendentalpoetische Bedeutung des neupreußischen Staates erschlossen werden, um dann deren Relation mit einer exoterischen, politisch-konkreten Bedeutung der Fragmentsammlung erfragen zu können.
a)
Der Sonnenkönig
Wieso ging für Hardenberg ein so großer Reiz davon aus, die preußische Monarchie zu romantisieren, obwohl stilisiertes Bild und Wirklichkeit dabei denkbar leicht verwechselt werden konnten? Aufgrund der panegyrischen, populären Darstellung in den Jahrbüchern, aufgrund der absolutistischen Metaphorik von der Sonne und den um sie kreisenden Planeten und aufgrund der zeitgenössischen Theorie des aufgeklärten Absolutismus, die den Monarch als erziehenden »Mittelpunkt der Macht«225 und als »Muster sittlicher Vollkommenheit«226 rechtfertigt, eignete sich das Königsamt für ihn offenbar als besonders aussagekräftiger Bildspender. In GL 17 wird es wie folgt beschrieben: Der König ist das gediegene Lebensprinzip des Staats; ganz dasselbe, was die Sonne im Planetensystem ist. Zunächst um das Lebensprinzip her, erzeugt sich mithin das höchste Leben im Staate, die Lichtatmosphäre. Mehr oder weniger vererzt ist es in jedem Staatsbürger. Die Äußerungen des Staatsbürgers in der Nähe des Königs werden daher glänzend und so poetisch als möglich, oder Ausdruck der höchsten Belebung seyn. Da nun in der höchsten Belebung der Geist zugleich am wirksamsten ist, die Wirkungen des Geistes Reflexionen sind, die Reflexion aber, ihrem Wesen nach, bildend ist, mit der höchsten Belebung also die schöne, oder vollkommene Reflexion verknüpft ist, so wird auch der Ausdruck des Staatsbürgers in der Nähe des Königs, Ausdruck der höchsten, zurückgehaltenen Kraftfülle, Ausdruck der lebhaftesten Regungen, beherrscht durch die achtungsvollste Besonnenheit, ein unter Regeln zu bringendes Betragen seyn. Ohne Etiquette kann kein Hof bestehn. Es giebt aber eine natürliche Etiquette, die schöne, und eine erkünstelte, modische, die häßliche. Herstellung der erstern wird also keine unwichtige Sorge des denkenden Königs seyn,
225 226
Eberhard (1798), 398. Eberhard (1793/1794), Heft 2 (1794), 133.
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da sie einen bedeutenden Einfluß auf den Geschmack und die Liebe für die monarchische Form hat. (II,488f.:17)
Hier wird behauptet, der ›denkende König‹ besitze eine ›Lichtatmosphäre‹, die bei den Staatsbürgern eine Verhaltensänderung bewirkt, so dass sie von der ›achtungsvollsten Besonnenheit‹ beherrscht werden, ihr Reflexionsvermögen steigern und ein ›unter Regeln zu bringendes Betragen‹, eine ›natürliche Etiquette‹ ausbilden. Dieser Gedanke, dass der aufgeklärte Monarch eine erzieherische Vorbildwirkung auf die Untertanen besitze, ist eines der Standardargumente zur Verteidigung des aufgeklärten Absolutismus. Einer langen, auf das frühneuzeitliche Naturrecht zurückgehenden Argumenttradition folgend 227, wird dabei jedoch zumeist versucht, die menschliche Selbstbezogenheit in die Theorie des aufgeklärten Absolutismus zu integrieren, weshalb der Monarch auch in seiner Rolle als Muster besonnener Beherrschtheit lediglich seinem eigenen Interesse folgt und die Untertanen dem Vorbild des Monarchen keineswegs uneigennützig nacheifern. Hardenbergs bissige Kritik an genau diesem »alten berühmten System« (II,494:36), das versucht, »jeden durch Eigennutz an den Staat zu binden« (Ebd.), kann man in GL 36 nachlesen (vgl. Kap. IV.4.2). Entscheidend an GL 17 ist daher die Differenz, die Novalis mit der metaphorischen Rede von der ›Lichtatmosphäre‹ gegenüber der Theorie des aufgeklärten Absolutismus markiert. Die Metapher spielt auf die zeitgenössische Diskussion um den Ursprung und Verbreitungsmodus des Sonnenlichts an, für das William Herschel eine populäre Erklärung angeboten hatte, denn er nahm an, dass das Sonnenlicht in der Sonnenatmosphäre entstehe. Hardenberg war mit der Debatte durch die Lektüre von Schellings Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797) vertraut.228 Schelling setzt sich hier in einem Kapitel zum Licht minutiös mit der im 18. Jahrhundert weit verbreiteten Theorie der ›imponderablen Fluida‹229 auseinander und liefert eine Vorläufererklärung zur modernen Photosynthesetheorie. Dabei konnte er sich bereits auf die in den 1770er Jahren veröffentlichte Theorie von Joseph Priestley stützen, der nachgewiesen hatte, dass Pflanzen unter Sonnenlichteinwirkung atembare ›Lebensluft‹ produzieren, sowie auf die daraus von Lavoisier entwickelte Sauerstofftheorie und die Vorstellung eines gegenseitigen Gebens und Nehmens zwischen Pflanzen- und Tierwelt.230 Schelling nimmt im Licht-Kapitel (1. Buch, 2. Kapitel) seiner Ideen, das als Hardenbergs wichtigste diesbezügliche Quelle231 gelten kann, eine genaue Verhältnisbestimmung von
227 228 229
230 231
Vgl. Vollhardt (2001a). Vgl. Stockinger (1987), 386. Dies meint die Auffassung, dass sich physikalische Phänomene wie Wärme, Licht, Magnetismus und Elektrizität und die von ihnen bewirkten Zustandsveränderungen durch gewichtslose Trägersubstanzen, wie den ›Wärmestoff‹ oder ›Lichtstoff‹, erklären lassen (vgl. Stockinger [1987], 388). Vgl. Stockinger (1987), 384 u. 388f. Für die herausgehobene Rolle, die die naturwissenschaftliche, über Schelling vermittelte Lichttheorie für Hardenberg seit Ende 1797 spielt, spricht auch folgende briefli-
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
Licht und Wärme im Rahmen organischer Prozesse vor und beschreibt die Rolle des Lichts als Initiator allen organischen Lebens und der Sauerstoffproduktion.232 Das Licht ist »das große Mittel, dessen sich die Natur bedient, um Zersetzung und Verbindung überall zu bewirken, wo sie zur Erhaltung des vegetabilischen und animalischen Lebens nothwendig sind«233. Novalis erweitert also die Bildsprache des Absolutismus, indem er deren gängige metaphorische Rede von der Sonne und den um sie kreisenden Planeten mit der naturwissenschaftlichen Metapher der ›Lichtatmosphäre‹ kombiniert: Die kosmologische Metapher der Sonne und der um sie kreisenden Trabanten war als Sinnbild für den absolutistischen Hof in der westeuropäischen Höflings-Literatur des 17. Jahrhunderts eine geläufige Vorstellung und Ludwig XIV. hat daraus das Bild der von Planeten umgebenen Sonne als Symbol für die alles beherrschende Rolle seiner Person entwickelt. In der Theorie des aufgeklärten Absolutismus wird mit dem Sonnensystem zudem ein Gleichgewichtsverhältnis zwischen regierender Oberschicht und Untertanen versinnbildlicht, das auf beiderseitigem Eigennutzen basiert. Das keplersche Sonnensystem wird als symbolisches Abbild der politischen Verhältnisse ausgegeben, um diese mithilfe der kosmologischen Metaphorik in ihrer ›gottgegebenen‹ Unabänderlichkeit zu konservieren und die proklamierte ›übermenschliche‹ Einzigartikeit des Monarchen zu legitimieren.234 Das um die naturwissenschaftliche Lichttheorie erweiterte Bild bei Novalis macht dagegen luzide, dass die Sonnenmetaphorik hier nicht als rechtfertigende Anschauung für die politischen Verhältnisse der zeitgenössischen Erfahrungswirklichkeit fungiert, sondern als Bildspender, als Symbol für die ethische Wirkung des Romantisierens. Bei der transzendentalpoetischen Umcodierung der absolutistischen Bildsprache bedient Hardenberg sich gezielt der neuesten naturwissenschaftlichen Lichttheorie und schleust sie in die tradierte absolutistische Sonnenmetapher ein. Zudem kombiniert er diese Lichtmetaphorik noch mit einem aus der Geologie und Mineralogie stammenden Bildfeld, wenn er behauptet, der König sei das ›gediegene Lebensprinzip des Staats‹, das sich ›mehr oder weniger vererzt‹ in jedem Staatsbürger wiederfinde: Die Begriffsopposition gediegener und vererzter Metalle bezeichnet in der Geologie den Gegensatz von in der Natur rein vorkommenden (gediegenen) Metallen und solchen, die als Erz im Gestein
232 233 234
che Bemerkung gegenüber Friedrich Schlegel, die Hardenberg offenbar vor dem Hintergrund seiner Lektüre von Schellings Ideen macht: »Zu einem Tractat vom Lichte, ist vieles fertig. Das Licht wird nur der Mittelpunct, von dem aus ich mich in mancherley Richtungen zerstreue« (IV,242: Novalis an Friedrich Schlegel, 26.12.1797). Überliefert ist ein solcher Traktat allerdings nicht. Vgl. Schelling (1976ff.), Bd. I.5, 125f. Ebd., 126. In einem ungedruckt gebliebenen Kapitel seiner Habilitationsschrift weist Kurzke nach, dass die Sonnenkönig-Metaphorik in den 1790er Jahren noch völlig selbstverständlich zum Repertoire der absolutistischen Bildsprache gehörte: vgl. Kurzke (1980), 285.
3. ›Glauben und Liebe‹ als literarische Utopie
335
eingelagert sind und demzufolge durch Wärmezufuhr erst aus diesem heraus geschmolzen werden müssen. Versteht man den König als ›mystischen Souverain‹ (GL 15), also als transzendentalpoetisches Sprachbild für die frühromantische Idee eines moralisch souveränen Ichs, so wird klar, worauf Hardenberg mit dieser für ihn typischen Überlagerung mehrerer Sinnschichten (geologische Metapher, absolutistische Sonnenmetapher, naturwissenschaftliche Lichttheorie) hinaus will: Die Idee eines moralisch souveränen Ichs findet sich als Idee in jedem Menschen, sie ist in jedem Einzelnen ›vererzt‹. Der Mensch trägt den ›Keim zum Ich werden‹, kantisch gesprochen den ›inneren Richter‹ in sich. Dieser Idee fehlt jedoch die sinnliche Anschaulichkeit und die Glaubenswirkung, denn im Gegensatz zur illusionierenden Leuchtkraft gediegener Metalle sind vererzt vorkommende Metalle vor dem Schmelzvorgang äußerlich nicht zu erkennen. Novalis gebraucht demnach die in der frühen Neuzeit entwickelten Vorstellungen vom absolutistischen Monarchen als souveränem, selbstbestimmtem Individuum, um dem Leser dank der bereits erprobten und eingespielten Überzeugungskraft dieser Vorstellungen die Idee eines moralisch und frei handelnden Individuums zu kommunizieren und ihn zur ›Bemächtigung‹ des in ihm angelegten ›transscendentalen Selbst‹ zu motivieren (vgl. VB 28). Dass die absolutistische Sonnenmetaphorik in GL 17 nicht als Abbild für einen historischen Monarchen dient, sondern als eine wirklichkeitsverfremdende frühromantische Glaubenskonstruktion, signalisiert die Erweiterung des Bildfeldes durch die naturwissenschaftliche Lichttheorie: Die Quintessenz von Schellings Ausführungen zum Verhältnis von Licht und Wärme besteht in der Annahme, dass »das Licht, indem es in die Körper eindringt, [aufhört,] Licht zu seyn, und […] von nun an fühlbare Wärme«235 wird. Letztlich erst dieser bei Schelling beschriebene physisch-chemische Zusammenhang von Licht und Wärme erklärt, weshalb aufgrund der ›Lichtatmosphäre‹, die den König umgibt, die »Äußerungen des Staatsbürgers in der Nähe des Königs […] glänzend, und so poetisch als möglich, oder Ausdruck der höchsten Belebung« (II,488:17) werden. Die vom sichtbaren Licht erzeugte, fühlbare Wärme belebt das in den Staatsbürgern vererzte Lebensprinzip, also die Idee moralischer Souveränität. Mit der komplexen Metaphorik demonstriert Hardenberg den ethischen Effekt des Romantisierens: Das romantische ›bessere Selbst‹ bedarf der klaren Leuchtkraft eines sinnlich-poetischen Zeichens, muss nach außen projiziert werden, um seine wärmende und belebende Wirkung entfalten zu können.236 Nach Hardenbergs »poëtische[r] 235 236
Schelling (1976ff.), Bd. I.5, 125. Hardenberg greift mit ›Licht‹ und ›Wärme‹ auf zwei in den 1790er Jahren äußerst populäre Metaphern zurück, für die er eine eingespielte Bedeutung voraussetzen konnte. Exemplarisch sei hier auf die Bildlichkeit beider physikalischer Phänomene bei Schiller verwiesen: In den sogenannten Augustenburger Briefen schreibt Schiller: »[F]ür die Aufklärung des Verstandes ist schon sehr viel gethan worden. Es fehlt uns nicht sowohl an der Kenntniß der Wahrheit und des Rechts, als an der Wirksamkeit
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
Ethik« (III,420:782) verdankt sich Gewissenskultivierung nicht einer von der Vernunft geforderten Pflicht, sondern der sinnlich-belebenden Wirkung von transzendentalpoetischen Bildern, die das empirische Ich von seinem besseren Selbst mithilfe der Einbildungskraft entwirft.237 Im Unterschied zur politischen Theorie des aufgeklärten Absolutismus geht es dabei nicht um die äußerliche Nachahmung der Vorstellung vom König als Muster sittlicher Vollkommenheit, sondern um die Fähigkeit für die Idee eines ›besseren Selbst‹ in der Erscheinungswelt einen symbolischen Ausdruck zu finden, z. B. den in einer glücklichen Ehe lebenden Monarchen. Transzendentalpoetische Glaubenskonstruktionen fungieren bei Hardenberg als sinnliche Erinnerungshilfe und Gedächtnisstütze, als »Aufforderung an das wirckliche Ich, daß es sich besinnen, erwachen und Geist seyn solle« (II,529:22). Der Mensch ist nach Hardenberg so disponiert, dass er ohne die Hilfe seiner Einbildungskraft gar nicht gegenständlich wahrnehmen kann, alle Wahrnehmung verdankt sich einer Gestaltungsleistung des wahrnehmenden Subjekts: »Aller Sinn ist repraesentativ – symbolisch – ein Medium. Alle Sinnenwahrnehmung ist aus der 2ten Hand. […] Sinn ist ein Werckzeug – ein Mittel. Ein absoluter Sinn wäre Mittel und Zweck zugleich« (II,550:118). Statt zur bloßen Nachahmung der äußeren Gestalt und des äußeren Verhaltens zu stimulieren, aktiviert der in einer Lichtatmosphäre erstrahlende König bei Hardenberg daher die in jedem Einzelnen vererzte romantisch-schöpferische Anlage: Das Bild des moralischen Königs liefert den Staatsbürgern eine Anschauung für die Idee von selbständiger, Gefühl und Reflexion umschließender Identität, dessen sinnliche, Glauben erzeugende Kraft sie dazu ermutigt, freiwillig und nicht aus Eigennutz ›ein unter Regeln zu bringendes Verhalten‹, eine ›natürliche Etiquette‹ auszubilden. In GL 17 bringt Hardenberg also metaphorisch den ethischen Effekt des Romantisierens zum Ausdruck.
237
dieser Erkenntniß zu Bestimmung des Willens, nicht sowohl an Licht als an Wärme, nicht sowohl an philosophischer als an ästhetischer Kultur« (NA 26, 266: Schiller an Friedrich Christian von Augustenburg, 13.7.1793; Hervorhebungen, M.L.). Im Musenalmanach für des Jahr 1798 hat Schiller zudem ein Gedicht unter dem Titel Licht und Wärme veröffentlicht, das mithilfe der Licht- und Wärmemetapher zur Vereinigung von Schwärmertum und kosmopolitischer, reflexiver Besonnenheit auffordert (vgl. NA 1, 383). Was die metaphorische Bedeutung von Licht und Wärme bei Hardenberg von der Schillers unterscheidet, ist die Tatsache, dass Hardenberg zwar an der gängigen metaphorischen Bedeutung vom Licht des Verstandes und der Wärme des Gefühls festhält, diese tradierte Licht- und Wärmemetaphorik aber zugleich mit den aktuellen naturwissenschaftlichen Theorien zum physikalisch-chemischen Zusammenhang zwischen Licht und Wärme überlagert, dadurch einen kausalen Zusammenhang zwischen beiden Bildern herstellt und so diese schon etwas abgegriffenen Metaphern neu motiviert. Hardenberg imitiert damit zugleich die Sprachbilder aus der euphorischen Vorrede der Jahrbücher: »[D]ie Erscheinung eines neuen Regenten, eines neuen Vaters des Vaterlandes, [weckt] wie ein elektrischer Schlag das Leben in allen Theilen und Bürgern des Staats« (Rambach [1798], 3).
3. ›Glauben und Liebe‹ als literarische Utopie
337
In den zahlreichen Ergänzungen zum 8. der Teplitzer Fragmente, die im Juli und August 1798 während eines Kuraufenthaltes im böhmischen Teplitz entstanden, hat Hardenberg die Lichtmetaphorik noch beträchtlich erweitert: Was ist also die Sonne? Ein nur durch sich erregbarer – mithin immer selbstthätiger, ewigleuchtender Körper – und ein Planet –? ein relativ erregbarer, für fremde Anregung gestimmter Körper. (II,619:434)
Hardenberg hat in Teplitz das Bild von der Sonne und den Planeten offenbar selbst als Symbol für das Verhältnis von Wirklichkeit und Idee, von ›wirklichem‹ und ›idealischem Ich‹ für sich entdeckt. Euphorisch schreibt er an Friedrich Schlegel: In meiner Philosophie des täglichen Lebens bin ich auf die Idee einer moralischen / im Hemsterhuisischen Sinn / Astronomie gekommen und habe die interessante Entdeckung der Religion des sichtbaren Weltalls gemacht. Du glaubst nicht, wie weit das greift. Ich denke hier, Schelling weit zu überfl iegen. Was denkst Du, ob das nicht der rechte Weg ist, die Physik im allgemeinsten Sinn, schlechterdings Symbolisch zu behandeln?238
Die ›Religion des sichtbaren Weltalls‹ greift in der Tat sehr weit, denn gerade in Kombination mit den physikalisch-chemischen Eigenschaften des Lichts besitzt das heliozentrische Weltbild eine besondere Symboleignung: Die Sonne dient in den Teplitzer Fragmenten erneut als Symbol für die Idee des ›besseren Selbst‹, das sich zu einem ›vollendeten Selbstverständnis‹ gebildet hat und daher keiner Gedankenreize mehr bedarf, sondern »wie ein Gott, in ewiger Selbstthätigkeit die Mitte beseelt« (II,619:432). Hardenberg versteht das Sonnenlicht als »Symbol der ächten Besonnenheit« (Ebd.), als »ein divinatorisches Wesen« (III,625:432). In den Planeten entdeckt er hingegen ein Symbol für das wirkliche Ich, das in einem unendlichen Prozess zwischen Gefühl und Reflexion hin und her oszilliert und um die Idee eines vollendeten Selbstverständnisses kreist. Das wirkliche Ich kann den Zustand der erleuchteten Besonnenheit immer nur vorläufig erreichen, da romantisches Sich-Selbst-Verstehen bedeutet, Einblick in seine ›innere Unendlichkeit‹ zu gewinnen, in den »ewigen Selbstbeweis« (II,412:5), den das Ich führt und mit dem ein Gefühl des Seins-Mangels einhergeht, da besonnene Zustände zwangsläufig wieder in eine Sehnsucht nach der sich ins Unendliche entziehenden Ich-Identität übergehen. Die wechselnden Lichtverhältnisse auf den rotierenden Planeten symbolisieren diese »Hin und her Direction« (II,117:19) des wirklichen Ichs: »Der Tag ist also das Bewußtseyn des Wandelsterns«, in der Nacht hingegen »thut ein Planet nach dem Andern auf längere oder kürzere Zeit das Eine Auge zu und erquickt in kühlen Schlaf sich zu neuen Leben und Anschaun«239.
238 239
IV,255: Novalis an Friedrich Schlegel, 20.7.1798. II,619:432. – Im Allgemeinen Brouillon präzisiert Hardenberg das in den Teplitzer Fragmenten entwickelte Bild des Planeten noch einmal: »Der Schlaf ist nur den Planetenbewohnern eigen – Einst wird der Mensch beständig zugleich Schlafen und
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
Die ethischen Implikationen seiner ›Idee einer moralischen Astronomie‹ umreißt Hardenberg schließlich wie folgt: Wie wir, schweben die Sterne [gemeint sind die Planeten, die ›Wandelsterne‹, M.L.] in abwechselnder Erleuchtung und Verdunklung – aber uns ist, wie ihnen im Zustand der Verfinsterung doch ein tröstender, hoffnungsvoller Schimmer leuchtender und erleuchteter Mitsterne gegönnt. (II,619:436)
Mit der ›Religion des sichtbaren Weltalls‹ hat Hardenberg neben dem neupreußischen Staat ein weiteres Bild für den Zusammenhang zwischen der »Sofistik des Ich« (II,136:46) und dem ethischen Prozess einer unendlichen Annäherung an das Bildungsziel der »freye[n] Verbindung selbständiger, selbstbestimmter Wesen« (II,457:95) erfunden: Orientierung stiftend für diese freie Verbindung ist die Idee ›ächter Besonnenheit‹ (II,619:432), die allein zur moralischen Souveränität befähigt, weil das Ich sich dabei als unhintergehbare Dualität von Gefühl und Reflexion durchschaut. ›Ächte Besonnenheit‹ bildet erst die Basis für ein wahrhaftes Verständnis des Anderen, der derselben Wechselrelation unterliegt. Das Gegenüber hilft sogar beim eigenen Selbstverstehen, denn »[u]m sich selbst zu begreifen muß das Ich ein anderes ihm gleiches Wesen sich vorstellen, gleichsam anatomiren. Dieses andre ihm gleiche Wesen ist nichts anderes, als d[as] Ich selbst« (II,107:3). In den Teplitzer Fragmenten hat Hardenberg die Mystifikation des Du, in der sich das Ich erst selbst begreift, auf das Bild der leuchtenden und erleuchteten Mitsterne gebracht, die ›im Zustand der Verfinsterung einen tröstenden, hoffnungsvollen Schimmer‹ spenden. Als rotierender Wandelstern unterliegt das wirkliche Ich dem ewigen Wechsel von Nacht und Tag, von Gefühl und Reflexion und von verschiedenen sozialen Rollen, ihm fehlt der feste Halt. Die Planeten kreisen jedoch nicht nur um sich selbst, sondern auch um die Sonne – jenen ›immer selbsttätigen, ewig leuchtenden Körper‹ –, also um die Idee des vollendeten Selbstverständnisses, des idealischen Ichs, des besseren Selbst. Diese Idee konstituiert ihre Gemeinschaft und markiert ihr Gravitationszentrum. Im unbesonnenen Zustand der Verfinsterung, im Gefühl des Mangels und der Sehnsucht nach dem Absoluten, spenden die ›Mitsterne‹ sich gegenseitig das Licht der Besonnenheit und ›fühlbare Wärme‹. Sie erhalten sich also gegenseitig die ›wärmende‹ Sehnsucht, sprich: das »ewige[…] Bedürfniß nach einem absoluten Grunde« (II,269:566), und zugleich das ›lichte‹ Bewusstsein dafür, dass »die unendliche freye Thätigkeit in uns – das Einzige mögliche Absolute [ist], was uns gegeben werden kann und was wir nur durch unsre Unvermögenheit ein Absolutes zu
Wachen. Der größeste Theil unsers Körpers, unsrer Menschheit selbst schläft noch tiefen Schlummer« (III,319:409). Die Gleichzeitigkeit von Schlafen und Wachen, das »Schweben zwischen Extremen« (II,266:555), markiert Hardenberg hier als Approximationsprinzip, das den Planetenbewohnern nur als Idee zur Verfügung stehen kann, da durch die Eigenrotation der Planeten ausgeschlossen ist, dass sich ein Planetenbewohner zugleich auf der sonnenzugewandten, ›wachen‹ und der sonnenabgewandten, ›schlafenden‹ Seite befindet.
3. ›Glauben und Liebe‹ als literarische Utopie
339
erreichen und zu erkennen, finden« (II,270:566). Nach Hardenberg nähert man sich einem Selbstverständnis daher vor allem über einen liebevollen Umgang mit dem Gegenüber, weil das Verständnis des Anderen nur dadurch möglich wird, dass man zwischen Ich und Du eine analogische Verbindung konstruiert, die gegen eine Degradierung des Anderen zum Objekt immunisiert. Diese analogische Verbindung leistet ein beiden gemeinsames Drittes, nämlich das Bewusstsein von der unentrinnbaren Wechselrelation zwischen Gefühl und Reflexion, der Ich und Du gleichermaßen unterliegen. Deshalb verweist der Versuch, den Anderen zu verstehen, das Ich auf sich selbst zurück und deshalb kann auch das Ich seinem Gegenüber als symbolisches Medium für dessen Selbstverständnis dienen. Aus dieser Idee vom Licht als »Vehikel der Gemeinschaft« (II,619:435), das im Weltall und in der organischen Natur ein liebevolles Geben und Nehmen in Gang setzt, hat Hardenberg auch die transzendentalpoetische Bedeutung des Königs in Glauben und Liebe generiert: Umgeben von einer ›Lichtatmosphäre‹, fungiert er als das Lebensprinzips des Staats und im Umgang mit ihm entsteht bei den Staatsbürgern ›achtungsvollste Besonnenheit‹ und eine ›natürliche Etiquette‹: Mit dem König bezeichnet Novalis also die später auch mit der Sonne selbst symbolisierte Idee ›ächter Besonnenheit‹, das ›große Ich‹240, die idealischen Person des Gewissens, an die sich die Individuen gegenseitig erinnern sollen, indem sie sich nicht als Nicht-Ich, sondern als Du wahrnehmen. Dann würde aus dem Licht der Besonnenheit die Wärme gegenseitigen Mitfühlens hervorgehen. Mit der Anspielung auf die aktuelle naturwissenschaftliche Lichttheorie wird in GL 17 markiert, dass der Sonnenmetapher keine mechanistisch-zentralistischen, auf Eigennutzen basierenden Gleichgewichtsvorstellungen zugrunde liegen, wie sie die absolutistische Bildsprache aus Keplers Heliozentrismus ableitet, sondern die Idee eines organisch-natürlichen, liebevollen Gleichgewichts.241 Bei der Rede von einer ›Lichtatmosphäre‹ handelt es sich mithin um ein Lektüresignal, das eine Verwechslung des romantischen Bildes vom Sonnenkönig und den Planeten mit der Erfahrungswirklichkeit verhindern soll, um auf die außerempirische Idee moralischer Souveränität zu verweisen, an der sich jeder Einzelne orientieren kann, wenn er ihr durch die Tätigkeit der Einbildungskraft die wärmende Täuschung eines empirischen Scheins verleiht.
240
241
»So ist für das große Ich, das gew[öhnliche] Ich und das gew[öhnliche] Du nur Supplemente. Jedes Du ist ein Supplement zum großen Ich. Wir sind gar nicht Ich – wir können und sollen aber Ich werden. Wir sind Keime zum Ich werden. Wir sollen alles in ein Du – in ein zweytes Ich verwandeln – nur dadurch erheben wir uns selbst zum Großen Ich – das Eins und Alles zugleich ist« (III,314:398). – Vgl. auch II,590:279. »Zu dir kehr ich zurück, edler Keppler, dessen hoher Sinn ein vergeistigtes, sittliches Weltall sich erschuf, statt daß in unsern Zeiten es für Weisheit gehalten wird – alles zu ertödten, das Hohe zu erniedrigen, statt das Niedre zu erheben – und selber den Geist des Menschen unter die Gesetze des Mechanismus zu beugen« (II,619:433).
340
b)
Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
Königliches Paar und ›gewöhnliches Leben‹
Welche Rolle spielt bei alledem aber die Königin und in welchem Verhältnis steht das königliche Paar zum gewöhnlichen Leben der Neupreußen? Bei genauer Textlektüre liegt es nahe, nicht nur den König als romantisches Bild eines besseren Selbst zu lesen, sondern das königliche Paar. Dafür spricht schon die bei Hardenberg häufig anzutreffende Analogiebildung zwischen einem ›vollständigen Individuum‹ und einer Ehe.242 Die Analogie erklärt sich aus Hardenbergs symbolischer Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit. Schon in den Fichte-Studien erscheinen Mann und Frau als transzendentalpoetische Bilder für die beiden Pole, zwischen denen sich der ›ordo inversus‹ des Selbstbewusstseins vollzieht: Der Mann muß seine Natur bezwingen und dem Individuo in sich Recht und Herrschaft verschaffen – ihm gebührt Herrschaft des Willens – und Unterthänigkeit der Empfindung. Die Frau muß ihrer Natur gehorchen – ihr Individuum bezwingen – Ihre Empfindung muß den Willen bestimmen. […] Er ist das Ideal des Inhalts – Sie die Seele der Form. (II,260:510) Im Manne ist Vernunft, im Weibe Gefühl /beydes positiv/ das Tonangebende. Die Moralität des Weibes ist im Gefühl – wie die des Mannes, in der Vernunft gegründet. (II,275:576)
Hardenberg reduziert die Frau auf ihre Rolle als Hüterin von Familie und Häuslichkeit. Ihr Wirkungsradius beschränkt sich auf einen klar abgezirkelten Aktionsraum. Er spricht von der »Pflanzenaehnlichkeit der Weiber« (III,651:564), die schön blühen, aber auf einen Standort festgelegt sind. Als Ehefrau und Mutter agiert die Frau ausschließlich im System der Intimität, setzt sich also nicht wie der Mann den Rollenkonflikten der Gesellschaft aus und gilt Hardenberg daher als sichtbares Rudiment naturständischer Unschuld und Triebharmonie bzw. als transzendentalpoetisches Bild des nur mit sich identischen Selbstgefühls: »Die Frauen wissen nichts von Verhältnissen der Gemeinschaft – Nur durch ihren Mann hängen sie mit Staat, Kirche, Publikum etc. zusammen. Sie leben im eigentlichen Naturstande« (III,568:92).243
242
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»Nur insofern der Mensch also mit sich selbst eine glückliche Ehe führt – und eine schöne Familie ausmacht, ist er überhaupt Ehe und Familienfähig. Act der Selbstumarmung« (II,541:74) – »Alle Menschen sind Variationen Eines vollständigen Individuums, d. h. einer Ehe« (II,564:198) – »Eine Ehe sollte eigentlich eine langsame, continuirliche Umarmung, Generation – wahre Nutrition – Bildung eines Gemeinsamen, harmonischen Wesens seyn?« (III,255:83) – »Die Politik – Die Gesellschaftslehre – die Ehetheorie – gehören in die höhere M[enschen]L[ehre] wo von zusammengesezten Menschen gehandelt wird« (III,320:426) – »Die Ehe ist für die Politik, was der Hebel für die Maschinenlehre. Der Staat besteht nicht aus einzelnen Menschen, sondern aus Paaren und Gesellschaften. Die Stände der Ehe sind die Stände des Staats – Frau und Mann« (III,470:1106). Vgl. auch IV,278f.: Novalis an Caroline Schlegel, 27.2.1799; III,262:117; III,319:409.
3. ›Glauben und Liebe‹ als literarische Utopie
341
Aus diesen Geschlechterkonstrukten hat Hardenberg mit König und Königin zwei romantische Symbole entwickelt: Da dem Mann die ›Herrschaft des Willens‹ gebührt, firmiert in Glauben und Liebe auch der neupreußischen König als »Ausdruck der höchsten, zurückgehaltenen Kraftfülle […], beherrscht durch die achtungsvollste Besonnenheit [und] ein unter Regeln zu bringendes Betragen« (II,488f.:17). Bei der Frau hingegen ist das Gefühl tonangebend, sie besitzt einen natürlichen ›moral sense‹. Dem korrespondiert das angeborene Mitgefühl und der natürliche Geschmack der Königin (vgl. GL 27 u. 29). Die von Natur aus moralischen Empfindungen der Frau, die ihr ›sittliche Grazie‹ (II,494:31) verleihen, verhelfen dem im Mann repräsentierten Ideal ›ächter Besonnenheit‹ überhaupt erst zu einer Form: »Wird nicht der König schon durch das innige Gefühl Ihres Werths zum König?« (II,491:24). Wie der König der Königin bedarf, um jene wirkungsvolle ›Lichtatmosphäre‹ des Hofes um sich auszubilden, so bedarf aber auch die Königin des Königs, um ihrem Geschmack überhaupt einen repräsentativen Ausdruck zu verleihen. Die symbolische Konstruktion von Frau und Mann versinnbildlicht also eine Wechselrelation, ein liebevolles Geben und Nehmen zwischen Gefühl und Reflexion. Die in den Fichte-Studien entwickelten Geschlechterkonstrukte hat Hardenberg später in immer neuen Varianten wieder aufgegriffen. Den geläufigen Geschlechterstereotypen des späten 18. Jahrhunderts folgend, identifiziert er dabei Weiblichkeit mit Natur und Gefühl und Männlichkeit mit Kunst und Verstand bzw. Reflexion und charakterisiert die Frau als passives, den Mann hingegen als aktives Temperament.244 Immer geht es darum, die wechselseitige Zusammenge-
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Eine prägnante Formulierung dieser Geschlechterstereotype konnte Hardenberg in der Lebensgeschichte Thereses in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre lesen, in die eingebettet sich ein längerer Monolog Lotharios über das ideale Verhältnis der Geschlechter findet: »Es ist sonderbar, […] daß man es dem Manne verargt, der eine Frau an die höchste Stelle setzen will, die sie einzunehmen fähig ist: und welche ist höher als das Regiment des Hauses? Wenn der Mann sich mit äußern Verhältnissen quält […], wenn er sogar an der Staatsverwaltung Anteil nimmt, überall von Umständen abhängt, und […] nichts regiert, indem er zu regieren glaubt, immer nur politisch sein muß, wo er gern vernünftig wäre, versteckt, wo er offen, falsch, wo er redlich zu sein wünschte, wenn er um des Zieles willen, das er nie erreicht, das schönste Ziel, die Harmonie mit sich selbst, in jedem Augenblicke aufgeben muß, indessen herrscht eine vernünftige Hausfrau im Innern wirklich, und macht einer ganzen Familie jede Tätigkeit, jede Zufriedenheit möglich. Was ist das höchste Glück des Menschen, als […] daß wir wirklich Herren über die Mittel zu unsern Zwecken sind. Und wo sollen, wo können unsere nächsten Zwecke liegen, als innerhalb des Hauses?« (FA I.9, 829 = VII. Buch, 6. Kapitel). – Man kann davon ausgehen, dass Hardenberg, der den Wilhelm Meister in- und auswendig kannte, bei dieser flammenden Rede Lotharios Anleihen für sein Bild von König und Königin genommen hat. Nahe legen dies nicht nur die Anspielung auf Goethes Natalie in GL 43, sondern auch Formulierungen, die Lotharios Bild idealer Häuslichkeit stark ähneln: »Die Königin hat zwar keinen politischen, aber einen häuslichen Wirkungskreis im Großen« (II,491:27). Oder: »Hat ein Weib einmal diese innere Herrlichkeit ergriffen, so macht sie den Mann, den sie liebt, erst allein dadurch zum Herrn« (FA, I.9, 830). In fast gleichem Wortlaut, nun allerdings in Frageform, artikuliert auch GL 24 eine solche Relation zwischen der politischen
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
hörigkeit und Korrelation beider Temperamente zu betonen, sie als Symbole für die Einheit im Sinne eines ›Schwebens zwischen Entgegengesetztem‹ (vgl. II,266:555) zu gebrauchen, z. B. mit dem Bild der Ehe oder des Staates. Die symbolischen Konstrukte von Männlichkeit und Weiblichkeit sowie die Vorstellung der Liebesehe und deren Übertragung auf den Staat bilden den Hintergrund für die Darstellungsstrategie von Glauben und Liebe. Im Rahmen der frühromantischen Allianz zwischen Selbstbewusstseinsphilosophie, Einbildungskraft und Ethik lässt sich der neupreußische Staat mit dem Königspaar an der Spitze demnach als transzendentalpoetisches Bild für die Idee eines vollständigen Ichs bzw. besseren Selbst verstehen. Eine wirklich anschauliche Vorstellung vom königlichen Paar liefert die Fragmentsammlung allerdings nicht. Dort, wo Behauptungen über König und Königin aufgestellt werden, bleibt der Text denkbar vage: Ein konkretes Bild des romantischen Preußen vermittelt Novalis nicht durch die indikativischen Behauptungen über König und Königin, sondern in Form konjunktivischer Reformwünsche, die zumeist das ›gewöhnliche Leben‹ der Preußen betreffen. Folgendes wünscht sich Novalis: Die Einführung von Abzeichen und Uniformen für die Staatsbürger (GL 19), die Abschaffung der Berliner Bordelle (GL 27), die Organisation des Hoflebens durch einen geistvollen Maitre de Plaisir und den Geschmack der Königin (GL 29), das Aufhängen von Bildern der Königin in allen Privathäusern (GL 30), die Erweiterung von allen Trauungen zu einer Huldigungszeremonie der Königin (GL 30), die quasi-kultische Verehrung von Johann Gottfried Schadows Prinzessinnengruppe (GL 31), die Ausbildung der Staatsbeamten im königlichen Kabinett (GL 37) und die beständige Aus- und Weiterbildung des Königs durch die staatlichen Akademien (GL 38). Interpreten, die in der Fragmentsammlung von ihrem Schluss her ein Plädoyer für die repräsentative Demokratie lesen,245 bereiten insbesondere jene Wünsche Kopfzerbrechen, die dazu dienen, das einzelne Individuum dem Staatsganzen zu assimilieren. So laufen die Wünsche nach staatlichen Abzeichen und Uniformen, nach einem Konterfei der Königin in jedem Privathaushalt und einem quasi-familiären Umgang der Staatsbeamten mit dem König dem aufklärerischen Gedanken bürgerlicher Freiheit zuwider, da sie eine Aufhebung der von staatlichem Einfluss befreiten bürgerlichen Privatheit und der individuellen Freiheitsrechte durchzusetzen und eine »beständige Verwebung des königlichen Paars
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Souveränität des Mannes und seiner moralischen Integrität als geliebtem Ehemann: »Wird nicht der König schon durch das innige Gefühl Ihres Werths zum König?« (II,491:24). Bezogen auf Lotharios Lob idealer Häuslichkeit bringt Hardenberg in seinen Notaten zum Wilhelm Meister die Vorstellung einer harmonischen Wechselrepräsentation zwischen den Geschlechtern auf die Formel: »Lothario ist nichts, als die männliche Therese […]« (III,312:390). Vgl. zuletzt Gaál-Baróti (2006), 83. – Bekanntlich geht dieses Deutungsmuster auf Thomas Manns Rede Von deutscher Republik zurück, in der er Glauben und Liebe zum romantischen Plädoyer für Demokratie und Republik uminterpretiert. Zu Thomas Manns Romantik- und Novalisbild vgl. Kurzke (1983a), 36–40.
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in das häusliche und öffentliche Leben« (II,493:30) zu etablieren suchen. Einigen Interpreten gelten die konjunktivischen Wünsche daher als Signum für die totalitären Züge246 von Hardenbergs frühromantischem Staatsentwurf bzw. für seine affirmative Haltung247 zum ›Feudalismus‹ und für seinen ›Konservatismus‹. Aber auch Deutungen, die das Bild des preußischen Königspaars als transzendentalpoetische Glaubenskonstruktion für die Einheit von Moral und Politik verstehen, bringen die konjunktivischen Wünsche damit nicht in einen sinnvollen Zusammenhang, sondern gehen wie Stockingers Kommentar davon aus, dass die Fragmentsammlung in die symbolische Beschwörung einer idealen Einheit von Moral und Politik, dargestellt im preußischen Königspaar, und in politisch-konkrete Reformvorschläge dissoziiere.248 Fraglos lassen sich die Abschaffung der Prostitution in Berlin, die Reform des Hoflebens, die Ausbildung der Staatsbeamten im königlichen Kabinett und die Bildung des Königs durch Exzerpte der Akademien auch als ernst zu nehmende realpolitische Vorschläge verstehen. Eine Deutung, die zwar das preußische Königspaar als transzendentalpoetisches Bild auffasst, die konjunktivischen Passagen dagegen nur als realpolitische Reformvorschläge, provoziert jedoch das Missverständnis, Hardenberg gehe es realpolitisch um die Zurückdrängung bürgerlicher Freiheiten. Hardenberg plädiert zwar für einen Vorrang des Staats- vor dem Privatinteresse, allerdings primär vor dem Hintergrund der im Kameralismus behaupteten Identität von Staats- und Gemeinwohl.249 Der Staatszweck wird im Kameralismus nicht über die Regelung privater Konflikte definiert, sondern über die Aufgabe, private Zwecke zu ermöglichen. Uerlings hat an den ökonomischen Überlegungen Hardenbergs exemplifiziert, wie essentiell es für ein angemessenes Verständnis von dessen Denken ist, Aussagen über bzw. Verbesserungsvorschläge für die Erfahrungswirklichkeit von normativen Aussagen klar zu unterscheiden, beide gleichzeitig aber aufeinander zu beziehen. Daher liegt etwa Hardenbergs Plädoyer für eine kameralistische Ökonomie und Steuerpolitik oder für die Einrichtung »gemeinschaftliche[r] Küchen« und »Gemeinsch[aftlicher] Wohngebäude« (III,314:397), die den Holzverbrauch reduzieren sollen, ohne Frage eine realpolitische und realökonomische Intention zugrunde. Gleichzeitig besteht aber auch ein deutlicher Zusammenhang zwischen der von ihm favorisierten Idee des
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Vgl. u.a. Kuhn (1961), 150; Petersdorff (2001), 23–37; Stiening (2001), 215. Vgl. u.a. Samuel (1925), 98; Träger (1961), 634; Janz (1973), 131f.; Vogl (1997), 479. Stockinger liest die Passagen im optativischen Konjunktiv als Reformvorschläge für das historische Preußen und will sie »nicht von vornherein dem vergegenwärtigten poetischen Staat« zuschreiben (Stockinger [1987], 372; ebenso Kurzke [1983a], 203). Wegen ihrer Konkretheit seien die konjunktivischen Reformwünsche prinzipiell von der »Beschwörung des Ideals« (Stockinger [1987], 372) mithilfe sehr allgemeiner, indikativischer Aussagen über König, Königin und Staat zu unterscheiden. Vgl. Uerlings (1991), 593ff. – Hier finden sich auch weiterführende Literaturhinweise und Textbelege. – Hardenberg war mit dem kameralistischen Ideengut und der kameralistischen Wirtschaftspraxis aufgrund eines Berufspraktikums bei dem Tennstedter Kreisamtmann Just gut vertraut: vgl. Rommel (2007), 17–26.
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
kameralistischen Gemeinwohls und seiner selbstbewusstseinsphilosophischen Lehre vom ›Großen Ich‹ (vgl. Anm. 240) oder dem Gattungswesen, an dem sich das wirkliche Ich orientieren soll, um sich aus der philiströsen Borniertheit eines ›gemeinen Egoismus‹ »approximando« (III,413:745) zum ›vollständigen Individuum‹ zu bilden. Wie das harmonische Verhältnis zwischen wirklichem Ich und idealischem Ich denkt Hardenberg auch ideale Staatlichkeit als organisch-harmonisches, ›liberales‹ Wechselverhältnis zwischen verschiedenen Gliedern, die erst im liebvollen Handel miteinander ein schönes Ganzes ausmachen. Für ihn gehören ideale »Gemeinschaft und wechselseitiger Tauschhandel aller Glieder« (III,295:308) grundsätzlich zusammen, wodurch sich seine ökonomischen Vorstellungen auch von dem physiokratischen oder liberalistischen Versuch unterscheiden, Wirtschaft nur als künstliches Gleichgewicht miteinander konkurrierender Egoismen zu verstehen. Nicht von ungefähr steht daher für ihn bei der Anwendung der Organismusmetapher auf den Staat nicht die völlige Assimilation des Einzelnen durch das Ganze, sondern der liebevolle Austausch im Vordergrund, wie das Bild eines staatlichen Blutkreislaufs in GL 10 andeutet. Dementsprechend müsste sich auch die reale Ökonomie an der Idee des guten Lebens und des schaffenden Handelsgeistes ausrichten, also nach einem Verhältnis des liebevollen Gebens und Nehmens zwischen Staat und Staatsbürgern streben, um sich als »Schöne, liberale Oeconomie« (III,469:1097) dem Approximationsprinzip einer »freye[n] Verbindung selbständiger, selbstbestimmter Wesen« (II,457:95) anzunähern.250 Es scheint daher geraten, die bei der Interpretation von Glauben und Liebe häufig praktizierte strikte Trennung zwischen einer transzendentalpoetischen Bedeutungsebene und den konjunktivischen, realpolitischen Reformvorschlägen aufzugeben. Stattdessen gilt es, den transzendentalpoetischen Zusammenhang zwischen den indikativischen Behauptungen über König, Königin und Hof und den konjunktivischen Wünschen zur Ausgestaltung des »gewöhnliche[n] Leben[s]« (II,493:30) stärker zu betonen, ohne damit die durchaus realpolitische Intention dieser Reformwünsche zu leugnen: Den allgemeinen indikativischen Aussagen über König, Königin und Hof gemeinsam ist, dass sie den Staat als »sichtbare[n] Geist [des Volks]« (II,444:75) beschreiben, d. h. als ein Objekt, das sich aus der Summe des in jedem Einzelnen ›vererzten‹ »Genius des Staats« (III,314:398), sprich: der Idee des besseren Selbst ergibt. Umgekehrt eint die konjunktivischen Reformwünsche, dass sie alle um das Sichtbarwerden des Staats in der privaten Lebenswelt kreisen, den Staat also »vielmöglichst zu individualisiren such[en]« (II,489:20).251 Nach der berühmten 250 251
Uerlings (1991), 594f. Mit dieser Intention der konjunktivischen Wünschen imitiert Hardenberg erneut auch ein panegyrisches Muster aus der suggestiven Vorrede der Jahrbücher: »Jemehr das königliche Haus, durchdrungen von dem Werthe ächter Häuslichkeit, diese zu der seltenen Höhe des Thrones erhebt, um desto mehr erkennt die große Familie des Volkes sich in diesem Bilde wieder, tritt in den schönen Kreis ein, theilt inniger das
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Definition des Romantisierens (II,545:105) sollen die konjunktivischen Wünsche die Logarithmisierung des Staats in der Alltagswelt der Staatsbürger befördern, während sich aus der Potenzierung der in den Staatsbürgern ›vererzten Thronfähigkeit‹ vice versa das Bild des Monarchenpaares ergibt. Das in Glauben und Liebe entworfene Bild des neupreußischen Staates gründet also auf den beiden Dimensionen von Hardenbergs Romantisierungsprogramm, auf der Grundfigur seines Denkens und Schreibens, der »Hin und her Direction« (II,117:19) zwischen wirklichem und idealischem Ich, dem Wechsel zwischen Potenzierung und Logarithmisierung.252 Der gesamte Entwurf des romantischen Preußens fungiert daher als symbolische Konstruktion einer utopischen Norm. Diese wird dem Leser aber nicht konfrontativ gegenübergestellt, sondern als Prozess von noch offener Dauer formuliert: Das romantische Preußen ist bereits Gegenwart, zugleich aber nur ein auf die Zukunft gerichteter Wunsch. Bei Glauben und Liebe handelt es sich mithin auch um eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie man an eine handlungsorientierende Wahrheit glauben kann, wenn deren Wahrheitscharakter sich erst im Handeln, im ›gewöhnlichen Leben‹ erweist. Auf die Schwierigkeit, sich über das Problem säkularer Moralbegründung zu verständigen, ohne in Nihilismus abzurutschen, aber auch ohne hypokritisch und manipulativ konkrete Normen zu postulieren, antworten frühromantische Intellektuelle mit inversen Denkfiguren wie dem ›ewigen Selbstbeweis‹: Das ›bessere Selbst‹ entsteht erst im unendlichen Versuch, es zu finden.253 Symbol für das ›bessere Selbst‹ ist mithin nicht allein der König oder das königliche Paar, sondern die als zeitlicher Prozess inszenierte Wechselrelation zwischen den beiden »Genien« (II,492:28) König und Königin und den Staatsbürgern, die erst noch ›thronfähig‹ werden sollen, in denen König und Königin aber
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allgemeine Wohl, und vereint sich zu stärkerer Kraft dasselbe zu schützen« (Rambach [1798], 5). Schon GL 4 und GL 5 geben Hinweise auf die Potenzierungs- und Logarithmisierungsoperation des Romantisierens: »Meine Geliebte ist die Abbreviatur des Universums, das Universum die Elongatur meiner Geliebten« (II,485:4); »Gewinnt aber nicht das Allgemeine durch individuelle, das Individuelle durch allgemeine Beziehungen?« (II,486:5). Vgl. dazu Stockinger (1988b), 290f. – Hier findet sich auch der Verweis auf Schellings Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus (1795), in denen diese Grundfigur romantischen Denkens besonders prägnant formuliert wird: »Wir müssen das sein, wofür wir uns theoretisch ausgeben wollen, daß wir es aber seien, davon kann uns nichts, als unser Streben, es zu werden, überzeugen. Dieses Streben realisirt unser Wissen vor uns selbst: und dieses wird eben dadurch reines Product unsrer Freiheit. Wir müssen uns selbst da hinauf gearbeitet haben, wovon wir ausgehen wollen« (Schelling [1976ff.], Bd. I.3, 75f. = 6. Brief). – Mit einer ähnlichen inversen Denkfigur verkündet Sylvester im Ofterdingen, dass man Gewissen nicht erklären könne, weil es erst entsteht, indem man es begreift (vgl. Anm 122). – Auch bei F. Schlegels, Hardenbergs und Schleiermachers Begriff des ›Cynikers‹ – der so hat, als hätte er nicht, und so nicht hat, als hätte er – handelt es sich um den Versuch, sich im Modus romantischer Kommunikation über das Problem säkularer Moralbegründung zu verständigen (vgl. Anm. 292).
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schon ›vererzt‹ sind. Hardenberg übersetzt damit sein ethisches Grundanliegen in ein komplexes romantisches Bild: Die Reformwünsche stimulieren allesamt dazu, »mit dem König und der Königin das gewöhnliche Leben [zu] veredeln« (II,493:30), demonstrieren mit der Individualisierung des Staates bzw. der Verstaatlichung der privaten Lebenswelt jene Bemächtigungsoperation des Romantisierens, d. h. die Identifikation des wirklichen Ichs mit dem idealischen Ich. Mit den allgemeinen, indikativischen Behauptungen über König, Königin und Hof konstruiert Novalis eine immanente Transzendenz, nämlich das aus jedem Staatsbürger hervorleuchtende androgyne Gattungswesen, potenziert zum Bild des »klassische[n] Menschenpaar[s]« (II,492:28). Vice versa konstruieren die konjunktivischen Wünsche eine erhoffte Tendenz, indem sie dem Leser der Fragmentsammlung nahelegen, die mit dem königlichen Paar verbundene Idee zu logarithmisieren, das ›gewöhnliche Leben‹ mit ihr zu verknüpfen. Auch die konjunktivischen Wünsche besitzen daher einen transzendentalpoetischen Sinn. Sie artikulieren die von der Lektüre des Textes erhoffte Wirkung: Glauben und Liebe liefert dem Leser im königlichen Paar ein Bild für die Idee des ›idealischen Ichs‹ als liebevollem Geben und Nehmen zwischen Gefühl und Reflexion. Mit den konjunktivischen Wünschen wird der Leser schließlich aufgefordert, diese Idee mit seiner Lebenswelt zu identifizieren, um sich im Alltag die Sehnsucht nach dem ›besseren Selbst‹ zu erhalten. Aus Sicht eines Romantikers auf Symbolsuche ist es daher auch ein großer Fehler, daß man den Staat zu wenig sieht. Überall sollte der Staat sichtbar, jeder Mensch, als Bürger characterisirt seyn. Ließen sich nicht Abzeichen und Uniformen durchaus einführen? Wer so etwas für geringfügig hält, kennt eine wesentliche Eigenthümlichkeit unsrer Natur nicht. (II,489:19)
Der Fokus liegt hier nicht auf einer Aufopferung ans Allgemeine durch das Tragen von Uniformen, sondern auf dem Sichtbarwerden einer regulativen Idee von Gemeinschaft im ›gewöhnlichen Leben‹. Auch die in GL 27 monierte liederliche Mode der Berliner Frauen und der Wunsch, die Königin möge ein »ächtes Muster des weiblichen Anzugs sein« (II,492:27), demonstriert diesen ethischen Effekt des Romantisierens. Hier wird behauptet, dass sich die Kleidung als Symbol einer moralischen Idee brauchen lasse, mit dem sich das wirkliche Ich im Alltag an sein ›besseres Selbst‹ erinnert, denn »[d]er Anzug ist gewiß ein sehr richtiger Ethometer«254. 254
II,492:27 – Bei dem Neologismus ›Ethometer‹ handelt es sich um eine Analogiebildung zu Eudiometer, also einem Luftgütemesser zur Feststellung des Sauerstoffgehalts in einer Gasmenge (vgl. GL 9). ›Ethometer‹ bezeichnet daher im übertragenen Sinn einen »Sittenmesser« (vgl. Stockinger [1987], 390). – Zum Verhältnis zwischen einem inneren »Ideal der Sittlichkeit« (II,576:232) und dem äußeren Schein der Kleidung vgl.: »Die mahlerische Bekleidung muß harmonisch mit dem Bekleideten zusammenstimmen. Die Kleidung muß selbstständig – frey sich schönbildend – congruppirend seyn« (III,290:282). – In AB 685 spekuliert Hardenberg zudem ausführlich »[ü]ber den Anzug – als Symbol« und just im Anschluss hieran formuliert er auch sei-
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In GL 30 hat Novalis diesen Zusammenhang zwischen der sinnlichen Repräsentation einer moralischen Idee und der verhaltensverändernden Wirkung solcher sinnlichen Erinnerungsstützen besonders prägnant formuliert: Jede gebildete Frau und jede sorgfältige Mutter sollte das Bild der Königin, in ihrem oder ihrer Töchter Wohnzimmer haben. Welche schöne kräftige Erinnerung an das Urbild, das jede zu erreichen sich vorgesetzt hätte. Ähnlichkeit mit der Königin würde der Karakterzug der Neupreußischen Frauen, ihr Nationalzug. (II,493:30)
Der kundige zeitgenössische Leser konnte in GL 30 neben einem Hinweis auf Platons Höhlengleichnis auch eine versteckte Anspielung auf Lavaters Physiognomische Fragmente entdecken.255 Nicht nur bedient sich Novalis mit der Rede vom ›Urbild‹ eines platonischen Begriffs, der bei Lavater hohen Stellenwert besitzt,256 sondern er imitiert hier auch das Grundanliegen von Lavaters Physiognomik, reformuliert es allerdings transzendentalpoetisch: Lavater wollte in der Beschäftigung mit dem äußeren Erscheinungsbild des Menschen, insbesondere mit dem menschlichen Gesicht, das Christusbild rekonstruieren und auf diesem Wege die Wiederannäherung des Menschen an seine göttliche Abstammung betreiben. Die Hoffnung, dass die neupreußischen Frauen der Königin zu ähneln beginnen könnten, wenn man ein Bild von ihr in jedem Haushalt aufhängt, imitiert dieses Anliegen. Was Hardenberg an Lavaters Physiognomik fasziniert haben dürfte, war die Vorstellung einer verborgenen Immanenz Gottes im menschlichen Gesicht, mit der sich in der Wiederannäherung des Menschen an seine göttliche Abkunft zugleich eine erhoffte Tendenz verbindet. Hardenberg übernimmt dieses für die monistische Spätaufklärung typische Muster einer Verankerung des Normativen im Relativen von Lavater, integriert es aber in seine frühromantische Konstruktionslehre: Demnach repräsentiert das ehelich verbundene Königspaar die Idee des ›idealischen Ichs‹, die im wirklichen Ich ›vererzt‹ ist und aus ihm hervorleuchten soll. Im Unterschied dazu handelt es sich bei Christus, den Lavater zum ›Urbild‹ jeden menschlichen Gesichts deklariert, aber gerade nicht um ein Repräsentationsphänomen, denn nach dem nizänischen Trinitätsdogma sind Gottvater und Christus wesensgleich, Christus ist also wahrer Mensch und wahrer Gott in natura und nicht nur der fleischliche Repräsentant Gottes. Diese Differenz zwischen dem Trinitätsdogma, das eine Seinsidentität zwischen Gott und Christus behauptet, und der frühromantischen Repräsentationsoperation, die für jede Darstellung einen unaufhebbaren Mangel an Sein in Kauf nimmt, gilt es
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ne berühmte Warnung vor einer »Verwechslung des Symbols mit dem Symbolisirten« (III,397:685). – Hardenbergs Überlegungen zur Symbolik menschlicher Kleidung imitieren zudem eine biblische Denkfigur, nämlich die Vorstellung, dass wahrer Glaube bedeutet, von Gott die ›Kleider des Heils‹ und den ›Mantel der Gerechtigkeit‹ angezogen zu bekommen (Jes 61,10), oder auch die Vorstellung, dass man sich mit der Taufe Christus selbst anzieht (Gal 3,27). Zu Hardenbergs Lavater-Lektüre vgl. Stadler (1994) und Stadler (1997). Vgl. Stadler (1997), 94: Hier findet sich auch eine Liste der entsprechenden Belegstellen bei Lavater.
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
auch in GL 30 zu beachten: Mit dem Wunsch, das Bild der Königin in jedem Privathaushalt aufzustellen, bittet Novalis darum, ein symbolisches Bild – die Königin als ›besseres Selbst‹ der neupreußischen Frauen – bildlich zu reproduzieren, offenbart damit also die Bild- und Symbolhaftigkeit der Königin, die selbst nur an ein Urbild, an eine außersinnliche Idee erinnert.257 Im fortwährenden Umgang mit dem Bild der Königin sollen die neupreußischen Frauen ihr allmählich ähnlich werden. Dabei handelt sich aber nicht um eine magische Gestaltverwandlung, die auf einer schon vorausgesetzten körperlichen Ähnlichkeit beruht, sondern um eine ›Erregung des wircklichen Ich durch das Idealische Ich‹, um einen aktiven Akt der ›Selbsthervorbringung‹, der sich einem bewussten Vorsatz, der Bereitschaft zur Selbsttätigkeit und moralischer Mündigkeit verdankt. Die Bilder der Königin führen nicht automatisch zur Ähnlichkeit mit ihr, sondern sie erinnern die neupreußischen Frauen an »das Urbild, das jede zu erreichen sich vorgesetzt hätte« (II,493:30). Es bedarf also des aktiven Willens, um der Königin ähnlich zu werden. Der Konjunktiv gibt zudem zu verstehen, dass diese transzendentalpoetische Mündigkeit in der Wirklichkeit noch gar nicht vorhanden ist, man sich ihr aber durch die Schulung der Einbildungskraft im alltäglichen Umgang mit romantischen Symbolen unendlich annähern könne. Die Konjunktive verweisen den Leser mithin auch auf die Differenz zwischen der historischen Wirklichkeit und dem kontrafaktischen Bild des neupreußischen Staats. Sie machen deutlich, dass das königliche Paar nur als ›Erziehungsmittel‹ zum ›fernen Ziel‹ des ›poëtischen Staats‹, der »republic of kings«258, der ›Thronfähigkeit‹ jedes Einzelnen fungiert. Beim neupreußischen Staat, an dessen Spitze die »höchste gebildete Menschheit in monarchischer Form« (II,488:16) steht, der die Staatsbürger uneigennützig nacheifern und die sie kultisch verehren, handelt es sich daher um das Bild einer gerade im Prozess befindlichen, schwebenden Vermittlung zwischen Wirklichkeit und Ideal. Der utopische Staatsentwurf insgesamt lässt sich als Symbol für die frühromantische Vorstellung eines ›besseren Selbst‹ lesen, das eigentlich im unendlichen Versuch, es zu finden, erst entsteht. Die indikativischen Passagen stellen Behauptungen über König, Königin und Staat auf, die von solcher unkonkreten Allgemeinheit sind, dass sie sich nicht von
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Vgl. dazu auch Kohns (2008), 37f. – Hier wird zudem an den transzendentalphilosophischen Stellenwert erinnert, den der Begriff des ›Urbilds‹ in Kants Kritik der reinen Vernunft besitzt. Kant bezeichnet mit ›Urbild‹ Ideal-Vorstellungen, die man sich von regulativen Ideen macht, um sich diesen anzunähern: »Tugend, und, mit ihr, menschliche Weisheit in ihrer ganzen Reinheit, sind Ideen. Aber der Weise (des Stoikers) ist ein Ideal, d.i. ein Mensch, der bloß in Gedanken existiert, der aber mit der Idee der Weisheit völlig kongruieret. So wie die Idee die Regel gibt, so dient das Ideal in solchem Falle zum Urbilde der durchgängigen Bestimmung des Nachbildes, und wir haben kein anderes Richtmaß unserer Handlungen, als das Verhalten dieses göttlichen Menschen in uns, womit wir uns vergleichen, beurteilen, und dadurch uns bessern, obgleich es niemals erreichen können« (Kant [1974ff.], Bd. IV, 513f. = Kritik der reinen Vernunft B 597). O’Brien (1995), 186.
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vornherein als kontrafaktische Konstruktionen zu erkennen geben und daher eine Glaubenswirkung erzeugen. Die konjunktivischen Wünsche markieren die Differenz zwischen Wirklichkeit und Bild und liefern zugleich eine im Unterschied zu den indikativischen Behauptungen deutlich konkretere Vorstellung vom neupreußischen Staat. Erst im Zusammenspiel von abstrakten, indikativischen Behauptungen und konkreten, konjunktivischen Wünschen ergibt sich mithin die Konstruktion des utopischen Entwurfs: In Novalis’ romantischem Preußen wird das Absolute, repräsentiert von König und Königin, im gewöhnlichen Leben nur als erhoffte Tendenz sichtbar, als ein im Konjunktiv formulierter Wunsch. Man kann Glauben und Liebe deshalb eine neue Form der literarischen Utopie nennen, weil darin der bildhafte Ausdruck einer utopischen Norm kreiert wird, nämlich das königliche Paar, zugleich aber auch ein Bild für die im Prozess befindliche Annäherung an diese Norm, die erhoffte Tendenz, die Individualisierung und Logarithmisierung dieser Norm im ›gewöhnlichen Leben‹. In dem utopischen Entwurf überlagern sich Vollkommenheit und Vervollkommnung in einem Bild. Der neupreußische Staat stellt nicht eine satirisch gebrochene, allegorisch gemeinte oder als wahrscheinlich verschleierte utopische Norm gesellschaftlichen Zusammenlebens dar, sondern ein Bild für den unendlichen Vermittlungsprozess zwischen der Wirklichkeit und dem undarstellbaren Ideal des ›poëtischen Staats‹: Novalis inszeniert den neupreußischen Staat als ›Erziehungsmittel‹ innerhalb einer im Übergang befindlichen Wirklichkeit und behauptet, dass die zeitgenössische preußische Gegenwart als Mittler zwischen Vergangenheit und Zukunft fungiere. Nicht das Ideal des ›poëtischen Staats‹ wird damit auf die preußische Monarchie ›angewendet‹, sondern die ›Lehre vom Mittler‹ auf die Politik (vgl. AB 398).259
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Dafür, dass Novalis’ romantisches Preußen sich eng mit dem philosophisch-ethischen Grundanliegen seiner »Sofistik des Ich« (II,136:46) berührt, spricht eine euphorische Andeutung, die Hardenberg am 11. Mai 1798 gegenüber Friedrich Schlegel macht: »Eine Idee such ich jezt zu bearbeiten, auf deren Fund ich beynah stolz bin. Sobald etwas davon verständlich ist, so sollst Du gleich Nachricht davon erhalten. Mir scheint es eine sehr große, sehr fruchtbare Idee, die einen Lichtstrahl der höchsten Intensitaet auf das Fichtische System wirft – eine practische Idee ∞. Du verzeihst, daß ich Deine Neugierde spanne, ohne sie zu befriedigen – Wahrhaft befriedigen kann ich sie noch nicht und doch muß ich Dir meine Freude mittheilen – da es nichts minder betrift, als die mögliche, evidente Realisierung der kühnsten Wünsche und Ahndungen jeder Zeit – auf die analogste, begreiflichste Art von der Welt« (IV,254: Novalis an Friedrich Schlegel, 11.5.1798). Es handelt sich um einen Auszug aus jenem Schreiben, mit dem zusammen Hardenberg das Glauben und Liebe-Manuskript an Friedrich Schlegel sendete. Die Niederschrift der Fragmentsammlung hatte offenbar einen nicht unwesentlichen Anteil an dem Erkenntnisprozess, im Laufe dessen sich das hier angedeutete Grundprinzip seiner Philosophie, Ästhetik und Ethik entwickelte. Die Ankündigung einer ›practischen Idee ∞‹ signalisiert, dass Hardenberg sich im ersten Halbjahr 1798 mehr und mehr mit den Möglichkeiten vertraut macht, die eine auf der produktiven Einbildungskraft fußende symbolische Konstruktionslehre
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c)
Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
Exoterik und Esoterik
Unbestreitbar handelt es sich bei Glauben und Liebe auch um einen politischen Text, mit dem Hardenberg seine Ressentiments gegenüber der Entwicklung im nachrevolutionären Frankreich, seine Affinität zur kameralistischen Vorstellung von ›Gemeinwohl‹ und seine Kritik an der »maschinistischen Administration« (II,494:36) des friderizianischen Preußen zum Ausdruck bringt. Ohne Frage verband Hardenberg mit der Fragmentsammlung auch die realpolitische Intention, dem preußischen Königshaus bestimmte politischen Ansichten zu vermitteln, sonst hätte er wohl kaum so vehement auf eine Veröffentlichung in den Jahrbüchern gedrungen. Ich schließe mich der erwähnten These von Herbert Uerlings an, dass es für ein Verständnis von Hardenbergs Texten essentiell ist, zwischen der empirischen und transzendentalpoetischen Bedeutungsebene zu unterscheiden, beide zugleich aber wechselseitig aufeinander zu beziehen. Mit der stärkeren Akzentsetzung auf den esoterischen Textsinn soll daher keineswegs behauptet werden, dass die Textbedeutung auf ein transzendentalpoetisches Bild zu reduzieren sei. Eine Deutung vor dem Hintergrund der ethischen Idee unendlicher Selbstvermittlung ist fraglos zu einseitig. Charakteristisch für Hardenbergs Veröffentlichungsstrategie ist vielmehr eine exoterisch-esoterische Doppeladressierung. Wie die meisten von Hardenbergs poetischen Texten ist auch Glauben und Liebe doppeladressiert und lässt eine esoterische, auf frühromantische Ethik bezogene, und eine exoterische, ›nicht-eingeweihte‹, in diesem Fall eine politisch-konkrete Lektüre zu.260 Das heißt allerdings nicht, dass die Fragmentsammlung lediglich versuchen würde, sich an verschiedene Adressatengruppen zu richten. Vielmehr konstruiert sie einen (idealen) Leser, der die vom Text inszenierte Spannung zwischen Exoterik und Esoterik bereits in sich trägt: Der ideale Rezipient wird durch die Lektüre der Fragmentsammlung zu einem jener romantischen ›Fremdlinge‹ (vgl. Kap. IV.3.1.c), die »im Lichte stehen, eingedenk der Nacht«261, die in der exoterischen Welt der sichtbaren und verstehbaren Dinge leben, um deren Grenzen wissen und diese akzeptieren, aber dennoch an ein nicht unmittelbar zugängliches esoterisches Unbedingtes glauben, z. B. an die kantische Idee der Freiheit, die sich in der Empirie nirgends zeigt. Ein romantischer ›Fremdling‹ kann daher auch versuchen, empirische Phänomene im System Politik, etwa die preußische Monarchie, als esoterisches Zeichen umzudeuten, das ihn an solche kontrafaktischen Ideen erinnert. Er hat nur das Gegebene zur Verfügung, um sich zu veranlassen, über ein sich immer wieder entziehendes Absolutes nachzudenken. Der Leser, den die Fragmentsammlung konstruiert, wäre demnach jemand, der sich
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bietet, nämlich das Ich über symbolische Konstruktionen erfahren zu lassen, was es ist: unendliche Selbstvermittlung. Zur exoterischen und esoterischen Doppeladressierung bei Hardenberg vgl. Stockinger (1988a), Petersdorff (1996), 318–383, Engel (1999), 25f., Löwe (2011). Vgl. Stockinger (2001b).
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mit dem Status quo des politischen Absolutismus und den politischen Theorien des aufklärerischen Eudämonismus nicht mehr identifiziert, der aber auch ein transzendentalphilosophisch imprägnierter Skeptiker ist und keine Alternative weiß, die sich mit empirischen Menschen umsetzen ließe. Die Fragmentsammlung versucht diesen idealen Leser daher gegen eine Verabsolutierung des politischen Status quo zu immunisieren, aber auch gegen den Glauben, das Reich der Freiheit könne durch einen revolutionären Umsturz herbeigeführt werden (vgl. GL 57), und schließlich vor allem gegen ein Abrutschen in den Nihilismus. Ludwig Stockinger hat zudem aufmerksam gemacht, dass die romantische Entscheidung für esoterische Kommunikationsformen in den 1790er Jahren auch auf bestimmte historische Rahmenbedingung zurückgeführt werden kann, nämlich auf die antiaufklärerische Religionspolitik im Staat von Friedrich Wilhelm II. und seinem Minister Christoph Wöllner. Wie die Zensur von Kants Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1794) und das Wöllnersche Religionsedikt zeigen, drohte Preußen in den frühen 1790er Jahren innenund kulturpolitisch ein Rückfall in die Voraufklärung, d. h. in eine an der orthodoxen Theologie orientierte Begründung moralischer Normen. Wie es in dieser Frage unter dem neuen König weiterging, war Anfang 1798 noch nicht absehbar. Glauben und Liebe entsteht also in einer historischen Phase, in der für einen Diskurs über religiöse und moralische Fragen erschwerte Kommunikationsbedingungen herrschen.262 Die Fragmentsammlung imitiert daher, insbesondere in der Vorrede, die Kommunikationsformen der Geheimbünde des späten 18. Jahrhunderts, versucht aber deren esoterische Redestrategien so umzugestalten, »daß sie noch als Geheimnisträger funktionieren, aber dennoch dem Anspruch auf Allgemeinheit, Vernünftigkeit und Wahrhaftigkeit der öffentlichen Rede Rechnung tragen.«263 Wichtigstes sprachliches Mittel, mithilfe dessen Hardenberg seine Texte doppeladressiert, ist die Vermeidung konkreter begrifflicher Benennung und der Einsatz suggestiver Fragen, vager Umschreibungen oder verfremdender Umakzentuierungen. So unterlässt er es in allen 15 Geistlichen Liedern, außer einmal in Nr. I, theologisch konkret von Jesus oder Christus zu sprechen und man kann diese 15 Gedichte daher als Beitrag zum christlichen Kirchenliedgut lesen, sie aber auch auf die romantische Individualitäts-Idee beziehen.264 Auch mit den Geistlichen Liedern wird daher letztlich ein idealer Leser adressiert, der den Konflikt zwischen christlichem Offenbarungsglauben und Transzendentalphilosophie in sich selbst bereits austrägt. Die gleiche Strategie verfolgt auch Glauben und Liebe, wo Novalis statt der konkreten Namen des Königspaars die Abstrakta ›König‹
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Vgl. Stockinger (1988a), 188–200. Ebd., 189. Vgl. Stockinger (1997), 178–186.
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
und ›Königin‹ gebraucht.265 Dass Hardenberg nahestehende Zeitgenossen wie der Kreisamtmann Just diese Doppeladressierung leicht verstanden haben, ist bekannt. Seine briefliche Reaktion gehört wohl zu den geistreichsten Zeugnissen der Frührezeption von Glauben und Liebe.266 Eine nicht in der HKA abgedruckte zeitgenössische Stimme zeigt zudem, dass es auch einem gänzlich ›uneingeweihten‹ Leser, der weder Hardenberg noch die frühromantische Ästhetik kannte, möglich war, zumindest den augenzwinkernden Unterton der Fragmentsammlung zu identifizieren und darin nicht primär ernst gemeintes politisches Programm, sondern eine Sammlung witziger Einfälle zu lesen. Aus dem ostpreußischen Landsberg schreibt im Juli 1798 Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch, der Onkel Friedrich Schleiermachers, seinem Neffen einen Brief, in dem er interessiert fragt: »wer ist der Herr Novalis, der unter der Ueberschrift Glaube und Liebe uns so schnakisch zu unterhalten wußte?«267 Man kann dieser Lesart von Schleiermachers Onkel einiges abgewinnen, denn ›schnakisch‹ bedeutet hier so viel wie ›drollig‹, ›spaßhaft‹ oder ›lustig‹. Stubenrauch versteht also ohne Vorwissen, dass es in Glauben und Liebe nicht allein um ernsthafte Behauptungen über zeitgenössische Politik geht. Meine Deutungsperspektive richtet sich daher auf den inszenierten wechselseitigen Bezug zwischen exoterischer und esoterischer Adressierung, zwischen politisch-konkreter und transzendentalpoetischer Ebene. In der Forschung herrscht Uneinigkeit darüber, in welchem Verhältnis genau esoterische und exoterische Sinnschicht zueinander stehen. Schon Hermann Kurzke hat in seiner verdienstvollen Habilitationsschrift moniert, die Forschung zu Hardenbergs geschichtsphilosophischen und ›politischen‹ Texten praktiziere eine »Geringachtung der Inhalte, um Novalis vor dem Konservatismusverdacht in Schutz nehmen zu können«268. Dementsprechend hat Kurzke auch versucht, die politische Bedeutung von Hardenbergs ›politischem‹ Werk im Kontext der zeitgenössischen Staatstheorie stärker hervorzukehren. Dies hat allerdings zur Folge, dass er die transzendentalpoetische Textbedeutung nur mehr verhältnismäßig vage und unkonkret umreißt. Das »transzendentalphilosophische Moment [sei zwar] stets mitzuhören«269, es gelingt Kurzke aber nicht, der Transzendentalpoesie eine lebens-
265 266
267 268 269
Auch hier gibt es eine Ausnahme, nämlich das erste Blumen-Distichon An den König, wo »Louisen« (II,483) erwähnt wird. »Wir haben Ihre Blumen, Glauben und Liebe, gelesen. […] [W]enn sich nach diesem Aushängeschild ein Monarch in Ihnen einen eingefleischten Monarchisten kaufen wollte, und Sie dann nach dem Kaufe näher besähe, würde er sich trefflich betrogen finden. […] Mit den Vorstellungen in der Religion geht es Ihnen wie Kant. Beide behalten die Worte aus dem christlichen Religionssystem bei und legen ihnen andere Bedeutung unter. Der gemeine Leser glaubt, man halte es noch ganz mit dem alten System. […] Man muß schon (und das haben Sie auch mit Kant gemein) mit Ihrer Sprache etwas bekannt sein, wenn man Sie verstehen und beurtheilen will« (IV,505f.: Kreisamtmann Just an Novalis, 17./24.11.1798). Schleiermacher (1988), 355: Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch an Schleiermacher, 18.7.–28.7.1798. Kurzke (1983a), 63. Ebd., 223.
3. ›Glauben und Liebe‹ als literarische Utopie
353
praktische Bedeutung zuzuweisen, also die transzendentalpoetische Darstellung des ›besseren Selbst‹ und die realpolitische Textbedeutung wechselseitig aufeinander zu beziehen. Im Gegenteil zeichne sich Hardenbergs Transzendentalpoesie gerade durch ihren Antipragmatismus und ihre lebenspraktische Wirkungslosigkeit aus. Das in GL 56 postulierte Ideal eines indifferenten Wirklichkeitsverhältnisses mache Hardenbergs Vorstellungen idealer Lebensführung dem Konservatismus vergleichbar.270 Gegenüber der von Kurzke angemahnten ›Geringachtung der Inhalte‹, d. h. der realpolitischen Intentionen der Fragmentsammlung, und gegenüber einer Reduktion des Textsinns auf die transzendentalpoetische Bedeutung, setzt diese Arbeit auf die von Uerlings eingeforderte Differenzierung und Relationierung der transzendentalpoetischen Referenz und der politisch-konkreten Referenz von Hardenbergs Glauben und Liebe. Obwohl sich die These, dass die ›politischen‹ Schriften Hardenbergs immer auch transzendentalpoetisch zu lesen seien, inzwischen fast schon als festgeschriebener Deutungskonsens etabliert hat, bleibt eine genauere Bestimmung dieser transzendentalpoetischen Referenz noch bis hin zu neueren Arbeiten ein scheinbar wohl gehütetes Geheimnis der Hardenberg-Forschung: Während Kurzke etwa die ebenso problematische wie unspezifische Behauptung aufstellt, »Glauben und Liebe fi xier[e] die goldene Zeit im Bilde der Monarchie«271, teilen die meisten Interpreten die von Mähl und Stockinger in Umlauf gebrachte Ansicht, in Glauben und Liebe werde das Konzept des ›poëtischen Staats‹ ausgearbeitet und auf den preußischen Staat angewendet. Inhaltliche Konkretisierungen des transzendentalpoetischen Bildes gelangen meist über den Verweis auf die im königlichen Paar ausgedrückte Liebesidee und die damit symbolisierte Einheit von Moral und Politik nicht hinaus.272 Demgegenüber ist hier versucht worden, den transzendentalpoetischen
270
271
272
»Der magisch-idealistisch radikalisierte Fichtianismus als Basistheorie führt dazu, daß die Positivierung nur Wunsch, nur Experiment, nur absichtsvolle Fiktion bleibt und nirgends eine unbezweifelt feste Positivität und Objektivität erreicht. Alles Ausgreifen ins Feld der Bestimmtheiten, sei es Natur, Monarchie oder Katholizismus, bleibt im Banne des Ich, ist nur Modus der Selbstbestimmung, nicht der Weltaneignung, nicht des Handelns in der objektiven Wirklichkeit selbst« (Kurzke [1983a], 263). – Kurzkes Novalis-Deutung fußt unverkennbar auf einer von Manfred Franks Thesen klar unterschiedenen epochalen Einordnung der Frühromantik. Kurzke, dem freilich Franks erst in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre abschließend ausgearbeitete Deutung der frühromantischen Philosophie noch nicht vorlag, versteht Hardenbergs ›magischen Idealismus‹ als einen radikalisierten Fichteanismus, rechnet die Frühromantik also zum idealistischen Hauptstrom der nachkantischen Philosophie. Eine kritische Auseinandersetzung mit Kurzkes Deutung findet sich bei Uerlings (1991), 591–595. Kurzke (1983a), 262. – Auch Dennis F. Mahoney deutet das königliche Paar zwar als transzendentalpoetisches Zeichen, unterstellt der Fragmentsammlung aber dennoch eine primär politische Intention: »Novalis beabsichtigte also, durch sprachliche Mittel ein Idealbild der Monarchie herzustellen und seine Leser dazu zu überreden, jenes Idealbild auch zu verwirklichen« (Mahoney [1990], 196). Die Deutung der Fragmentsammlung unter dieser Perspektive geht zurück auf Peter (1980).
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
Sinn der Fragmentsammlung stärker zu konkretisieren und dabei die konjunktivischen Passagen mit einzubeziehen. Ausführliche Überlegungen zur Relation zwischen der transzendentalpoetischen Form und den konkreten politischen Inhalten der Fragmente werden in Kapitel IV.4.2 angestellt.
d)
Glauben und Liebe: eine konservative Utopie?
Hermann Kurzkes Hinweise auf die ›konservativen‹ Dimensionen der Fragmentsammlung lassen sich nicht einfach beiseiteschieben, sondern stellen noch immer eine Herausforderung dar, da ein Text wie Glauben und Liebe außerhalb des engen Kreises einer spezialisierten Frühromantik-Forschung bis heute das Bild von Hardenberg als ›konservativem‹ Romantiker prägt. Problematisch nicht nur bei Kurzke, sondern bei den meisten Forschungsbeiträgen, die die Frage nach konservativen Dimensionen der Romantik stellen oder streifen, ist allerdings der nicht hinreichend reflektierte und daher unscharfe Konservatismusbegriff. Im Falle von Kurzke mag das auch daran liegen, dass erst drei Jahre nach Veröffentlichung seiner Habilitationsschrift zu Romantik und Konservatismus eine grundlegende, bis heute in der Literaturwissenschaft aber kaum rezipierte Studie zum historischen Konzept des Konservatismus erschien, nämlich Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang (1986) von Panajotis Kondylis.273 Die Ergebnisse von Kondylis’ Untersuchung erlauben es, das Verhältnis von Romantik und Konservatismus auf neuem analytischen Niveau auszuloten, was bislang aber – soweit ich sehe – nur von Ludwig Stockinger versucht worden ist, von dessen ausführlicher Behandlung dieser Frage ich daher ausgehe.274 In seinem Konservatismus-Buch setzt sich Kondylis kritisch mit dem bis dahin dominierenden Konservatismusbegriff Karl Mannheims auseinander. Bei Mannheim wird der Konservatismus als anthropologisch-psychologische Konstante verstanden und definitorisch auf den Begriff des ›Traditionalismus‹ bezogen, also auf die psychische Disposition eines zähen Festhaltens am Althergebrachten. Kondylis dagegen verzichtet auf eine solche anthropologische Begründung des Konservatismusbegriffs, sondern versteht darunter »eine konkrete geschichtliche, also an eine bestimmte Epoche und an einen bestimmten Ort gebundene Erscheinung«275. Konservatismus als historisches Phänomen entsteht in der frühen Neuzeit, bindet sich an eine bestimmte Bedürfnislage und meint das antiabsolutistische und antirationalistische Plädoyer von (adeligen) Oberschichten für den Erhalt der über Jahrhunderte gewachsenen juristischen und administrativen Ordnung des ›alten Reichs‹ und der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft. Als erste Phase des Konservatismus beschreibt Kondylis den Kampf gegen den modernen absolutistischen Staat, 273 274 275
Zu Kondylis’ Konservatismus-Begriff vgl. auch Kap. III.3.1., hier Anm. 112. Stockinger (1988b), 306–322. Kondylis (1986), 11.
3. ›Glauben und Liebe‹ als literarische Utopie
355
gegen die Lehre von der Staatsräson und die Souveränitätslehre.276 Seine zweite geschichtliche Phase bildet schließlich der Kampf gegen die Übertragung solcher neuzeitlichen Politik- und Rechtskonzepte vom absolutistischen auf den demokratisch-liberalen Staat.277 Konservative Ideologie kämpft also gegen die Trennung von Moral (bzw. Religion) und Politik, gegen die »fundamentale Trennung von Staat und Gesellschaft«, gegen die »Gleichheit vor dem Gesetz oder die ›Menschenrechte‹«, gegen die »Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem oder Legalität und Moralität«278 und – das ist wichtig – auch gegen das Prinzip der konfessionellen und religiösen Toleranz279. Demnach scheint es sich auch bei der Fragmentsammlung Glauben und Liebe aus der Feder des Adeligen Friedrich von Hardenberg um ein Dokument konservativer Ideologie zu handeln, denn auch hier wird offenbar für eine Aufhebung der Trennung zwischen Moral, Recht und Politik, zwischen Öffentlichem und Privatem plädiert. Ludwig Stockinger hat jedoch darauf hingewiesen, dass die Kritik am neuzeitlichen Staat, an der Trennung von Politik und Moral nicht nur von Konservativen vertreten wurde, sondern dass sie auch Teil jener »moralistische[n] Kritik der Aufklärer am absolutistischen Staat«280 ist, aus der sich, wie wiederum Klaus Peter281 gezeigt hat, die Frühromantik herleitet. Der Unterschied zwischen der konservativen und der aufklärerischen Absolutismuskritik besteht darin, dass konservative Verteidiger einer Einheit von Moral und Politik »ihre Argumente immer mit der kirchlichen Theologie begründen möchten, nicht mit Säkularisaten wie die Aufklärer, die deswegen letztlich zur Forderung nach einer ›neuen‹ Religion getrieben werden; weiterhin: daß letztere immer für das Prinzip der religiösen Toleranz eintreten, weswegen […] die ›neue‹ Religion Universalität und Individualisierung miteinander verbinden muß, und daß sie sich niemals positiv für die Privilegien der Oberschichten […] einsetzen«282. Um sich diesen Unterschied zwischen einer konservativen und einer aufklärerischromantischen Absolutismuskritik klar zu machen, braucht man nur an das Schluss-Fragment von Glauben und Liebe zu denken, das den Leser mit einem anti-konservativen Toleranz-Apell entlässt: Man sei also nur wenigstens politisch, wie religiös, tolerant – man nehme nur die Möglichkeit an, daß auch ein vernünftiges Wesen anders incliniren könne als wir. Diese Toleranz führt, wie mich dünkt, allmälig zur erhabenen Ueberzeugung von der Relativität jeder positiven Form – und der wahrhaften Unabhängigkeit eines reifen
276 277 278 279 280 281 282
Ebd., 63–206. Ebd., 207–386. Ebd., 29. Ebd., 142f. Stockinger (1988b), 317. Vgl. Peter (1980) Stockinger (1988b), 317f.
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
Geistes von jeder individuellen Form, die ihm nichts als nothwendiges Werkzeug ist. (II,503:68)283
Zudem hat sich Hardenberg nicht explizit für Privilegien der Oberschicht engagiert und in seinem Werk fehlt ein eindeutiges Bekenntnis zum Ständestaat (vgl. Anm. 55). Die frühromantische Absolutismuskritik ist daher, wie Stockinger gezeigt hat, nicht konservativ, sondern steht in der Tradition einer absolutismuskritischen Aufklärung. Vor dem Hintergrund von Kants Transzendentalphilosophie handhaben die Frühromantiker die absolutismuskritische Norm einer Einheit von Moral und Politik allerdings nicht als realpolitische Position, sondern als transzendentale regulative Idee. Höchst missverständlich ist ein Text wie Glauben und Liebe freilich dennoch: Die Romantik gerät »trotz der Anerkennung von funktionaler Differenzierung, Autonomie und Toleranz in der Frage der politischen Organisation der neuen Gesellschaft von Anfang an in das Fahrwasser von Traditionen, die sich konservativ auslegen ließen«284. Vor dem Hintergrund von Kondylis’ Konservatismus-Begriff handelt es sich aber bei Glauben und Liebe, zumindest wenn man genau hinsieht, eigentlich nicht um ein Dokument konservativer Ideologie, sondern der Text steht partiell in einer Traditionslinie mit der aufklärerischen Absolutismuskritik Welchen Stellenwert haben dann jedoch die zahlreichen Staat-Körper-Vergleiche bei Hardenberg, jene organologischen Gemeinschaftsvorstellungen, die er mit dem neuzeitlichen ›Maschinen-Staat‹ kontrastiert?285 Hardenberg prägt die griffigen Formeln vom Staat als »Macroandropos« (III,286:261) oder als »Allegorische[m] Mensch[en]« (III,287:261) und spricht von »Staatskörper«, »Staatsseele« (III,284:250), »StaatsGeist«, »Staatskranckheiten«, »Staatsphysiologie« (III,295:308) etc. Er bestimmt den ›vollkommenen Bürger‹ als jemanden, der »kein Eigenthum außer dem Staate« (III,273:189) besitzt. Wird damit nicht zur totalen Vergemeinschaftung aufgerufen und für die Ersetzung von Rechtsstaatlichkeit und individuellen Grundrechten durch die liebende Aufopferung an ein organologisch gedachtes Allgemeines plädiert? Genau besehen, bemächtigt sich hier der ›vollkommene Bürger‹ des Staates und nicht anders herum: Er besitzt den Staat, wird jedoch nicht vom Staat besessen. Wie im Falle der konjunktivischen Wünsche in Glauben und Liebe liegt also auch hier der Akzent nicht auf einer Aufopferung des Einzelnen ans Allgemeine, sondern auf dem Sichtbarwerden, der ›Individualisierung‹ einer Idee von Staatlichkeit im ›gewöhnlichen Leben‹. Es besteht eine offensichtliche Analogie zwischen Hardenbergs kameralistischer Verhältnisbestimmung zwischen Staatsbürger und Staatsganzem und jener »Sofistik des Ich« (II,136:46), von der in den Fichte-Studien die Rede ist. Wie der 283 284 285
Zum romantischen Konzept religiöser Toleranz vgl. Stockinger (2007). Stockinger (1988b), 318f. Eine Auflistung der ›politischen‹ und ›staatstheoretischen‹ Notate findet sich bei Kurzke (1983a), 208.
3. ›Glauben und Liebe‹ als literarische Utopie
357
Staatsbürger sich den Staat zu eigen machen muss, so soll das wirkliche Ich sich seiner ›inneren Unendlichkeit‹, seines romantischen ›transcendentalen Selbst‹ bemächtigen und das ›Ich seines Ich’s‹ werden, das sich als Ganzes nur im unendlichen ›Schweben‹ zwischen Gefühl und Reflexion erfährt. AB 250 bezieht sogar die Vorstellung vom Gesetze garantierenden Staatsvertrag in dieses Bildfeld ein: Hier wird behauptet, dass es im Zustand »vollständiger Selbstkenntniß« eines Gesetze garantierenden Staates nicht mehr bedürfe, da dieser nur »das Complement mangelhafter Naturen« sei, und an die Stelle des »Moralgesetzes« dann das »moralische Wesen« und seine »vollk[ommene] Constitution« trete (III,284f.:250). Den Begriff der ›Constitution‹ gebraucht Hardenberg immer wieder gezielt mehrdeutig, um eine Analogie der Verhältnisse zwischen Staatsbürger und Staat und wirklichem Ich und idealischem Ich zu konstruieren, so auch in Glauben und Liebe: Ein wahrhaftes Königspaar ist für den ganzen Menschen, was eine Constitution für den bloßen Verstand ist. Man kann sich für eine Constitution nur, wie für einen Buchstaben interessiren. Ist das Zeichen nicht ein schönes Bild, oder ein Gesang, so ist Anhänglichkeit an Zeichen, die verkehrteste aller Neigungen. – Was ist ein Gesetz, wenn es nicht Ausdruck des Willens einer geliebten, achtungswerten Person ist? (II,487:15)
Während ›Constitution‹ hier ›Staatsvertrag‹ meint, Novalis also seine frühromantische ›Staatstheorie‹ von jener Linie der kontraktualistischen und eudämonistischen Staatstheorie abgrenzt, die den Staat als Regulator privater Konflikte auf der Grundlage schriftlich fi xierter Gesetze versteht, verwendet er den Constitutions-Begriff in den ‹Politischen Aphorismen› als Bezeichnung für die körperliche Verfassung, für den Gesundheitsgrad eines Menschen (vgl. GL 51–55). Die Doppeldeutigkeit286 des Constitutions-Begriffs hat Novalis in Glauben und Liebe bewusst eingesetzt, um auf die transzendentalpoetische Bedeutung des neupreußischen Staats als Repräsentation eines ›besseren Selbst‹ hinzuweisen. GL 15 nimmt Anstoß an einer Haltung, die sich ›für eine Constitution nur wie für einen Buchstaben interessiert‹: Um sich zu einem vollständigen Individuum zu bilden, bedarf der Staat nicht nur des »papiernen Kitt[s]« (II,488:16) einer Verfassung, sondern auch einer gesunden ›körperlichen‹ Konstitution. Es muss ein organisches, liebevolles Geben und Nehmen zwischen seinen Teilen bzw. zwischen den Teilen und dem Ganzen herrschen: »Gemeinschaft und wechselseitiger Tauschhandel aller Glieder« (III,295:308). Staatsvertragsmodelle treiben dagegen die gesellschaftliche Ausdifferenzierung, die Trennung von Staat und Gesellschaft, Moral und Politik etc. voran, weil sie das Individuum nicht als Ganzes,
286
Dass es sich in Glauben und Liebe um ein mutwilliges Wortspiel mit der Doppeldeutigkeit von ›Constitution‹ handelt und nicht um eine Bedeutungsveränderung, betone ich gegen Ethel Matala de Mazza, die davon ausgeht, dass der Begriff ›Constitution‹ bei Hardenberg seinen juridischen Sinn gänzlich verliert (Matala de Mazza [1999], 142f.).
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
sondern nur verstandesmäßig, als politische Rolle mit gesetzlich verbürgten Rechten und Pflichten behandeln. Ihnen fehlt ein »absolute[r] Mittelpunct« (II,489:18), eine transzendentale Idee. Sie erzeugen daher keine Glaubenswirkung, keinen »ächte[n] Patriotism« (II,493:30), weil der ›Genius des Staats‹ hier »von Federn und Pressen zerstückelt« (II,488:16) werde. Damit ist freilich noch nicht behauptet, dass Staatsverträge und Gesetze entbehrlich sind, sondern dass sich der neuzeitliche Staat der kontraktualistischen Staatstheorie nicht als romantische Glaubenskonstruktion eignet: »Ist das Zeichen nicht ein schönes Bild, oder ein Gesang, so ist Anhänglichkeit an Zeichen, die verkehrteste aller Neigungen« (II,487:15). Der Staat der Vertragstheorie besitzt keine moralisierende Wirkung, weil der schriftlich fi xierte Vertrag »so weit von der Natur entfernt« (II,488:16) sei. In Glauben und Liebe werden zwar keine konservativen Ideologeme vertreten, es wird aber auch nicht für eine offene Gesellschaft oder für Demokratie im realpolitischen Sinne plädiert, denn die Fragmentsammlung wendet sich offenkundig gegen die auch zur Demokratie gehörende Vorstellung vom Staat als Regulator von Interessenkonflikten und aufeinanderprallenden Egoismen. Der neuzeitliche Staat eignet sich aus Sicht von Novalis nicht als romantisches Symbol, zu sehr basiert er dafür auf bloßen Erfahrungstatsachen und anthropologischem Wissen über die selbstbezogene Natur des Menschen. Der neuzeitliche Staat verabsolutiert also aus romantischer Sicht das Relative und produziert kein Normatives, keine regulativen Ideen. Glauben und Liebe reflektiert daher über das Verhältnis zwischen der politischen Empirie und der regulativen Idee eines ›Staatskörpers‹, in dem ein ›organisches‹ Geben und Nehmen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen, in dem nicht Egoismus, sondern »absolute Liebe« (II,500:53) herrscht. Wie schon im Falle der absolutistischen SonnensystemMetaphorik codiert Novalis auch in den ‹Politischen Aphorismen› die Vorstellungstradition des Staatskörpers um, indem er sie mit damals aktuellem naturwissenschaftlich-medizinischen Wissen kombiniert und erweitert, nämlich mit der aus John Browns Reizlehre stammenden Definitionen von Krankheit und Gesundheit beim Menschen (vgl. Kap. IV.2.4). Die Idee des Staatskörpers erhält damit eine primär individualethische Dimension. Ob der Staat zum Körper wird, hängt vom Einzelnen ab: Von einem Staat nicht als eudämonistische ›Maschine‹, die nur Interessenkonflikte regelt, sondern als ›Körper‹ könnte man erst dann sprechen, wenn die Individuen, aus denen er sich konstituiert, ›gesund‹ wären, also nicht auf ›gemeinen Egoismus‹, sondern ›absolute Liebe‹ setzen würden.287 Wie man dieses regulative Approximationsprinzip und absolute Postulat 287
Zu welchen riskanten und kaum noch transzendentalpoetisch zu rechtfertigenden Äußerungen sich Hardenberg von seinem Argwohn gegenüber der eudämonistischen Staatsauffassung dabei gelegentlich hinreißen lässt, zeigt allerdings GL 8. Das Fragment bezieht sich auf einen bekannten Ausspruch des französischen Königs Heinrich IV., der jedem seiner Untertanen ein Huhn im Topf verschaffen wollte und der deswegen im 18. Jahrhundert als Idealbild eines Monarchen galt: »Der Beste unter
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einer ›gesundesten Constitution‹ in die Lebenspraxis integriert, diskutiert Novalis in GL 50–57: 50. Was sind Sklaven? Völlig geschwächte, comprimirte Menschen. Was sind Sultane? Durch heftige Reizungen incitirte Sklaven. Wie endigen Sultane und Sklaven? Gewaltsam. – Jene leicht als Sklaven, diese leicht als Sultane, d. h. phrenetisch, hirnwüthig. Wie können Sklaven kurirt werden? Durch sehr behutsame Freilassung und Aufklärung. Man muß sie wie Erfrorne behandeln. Sultane? Auf die Art, wie Dionysius und Krösus kurirt wurden. Mit Schrecken, Fasten und Klosterzwang angefangen und allmählich mit Stärkungsmitteln gestiegen. Sultane und Sklaven sind das Extrem. Es gibt noch viel Mittelklassen bis zum König und dem ächten Cyniker – der Klasse der vollkommensten Gesundheit. Terroristen und Hofschranzen gehören so ziemlich in die nächste Klasse nach Sultanen und Sklaven – und gehen so in einander über, wie diese. Beides sind die Repräsentanten der beiden Krankheitsformen einer sehr schwachen Constitution. 51. Die gesundeste Constitution unter einem Maximum von Reizen repräsentirt der König, – dieselbe unter einem Minimum von Reizen – der ächte Cyniker. Je gleicher beide sind, je leichter und unveränderter sie ihre Rollen verwechseln könnten, desto mehr näh[e]rt sich ihre Constitution dem Ideal der vollkommenen Constitution. Je unabhängiger also der König von seinem Thron lebt, desto mehr ist er König. 52. Alle Reize sind relativ – sind Größen – bis auf Einen, der ist absolut – und mehr als Größe. 53. Die vollkommenste Constitution entsteht durch Incitation und absolute Verbindung mit diesem Reize. Durch ihn kann sie alle übrigen entbehren – denn er wirkt anfänglich stärker im Verhältniß, daß die relativen Reize abnehmen, und umgekehrt. Hat er sie aber einmal ganz durchdrungen, so wird sie völlig indifferent gegen die relativen Reize. Dieser Reiz ist – absolute Liebe. 54. Ein Cyniker und ein König ohne sie, sind nur Titulaturen.
den ehemaligen französischen Monarchen hatte sich vorgesetzt, seine Unterthanen so wohlhabend zu machen, daß jeder alle Sonntage ein Huhn mit Reiß auf seinen Tisch bringen könnte. Würde nicht die Regierung aber vorzuziehn seyn, unter welcher der Bauer lieber ein Stück verschimmelt Brod äße, als Braten in einer andern, und Gott für das Glück herzlich dankte, in diesem Lande geboren zu seyn?« (II,486:8). Hardenberg riskiert hier, dass man das als Aufforderung versteht, um der Regierung willen Hunger und Armut in Kauf zu nehmen. Dieser Eindruck lässt sich nicht wegdiskutieren. – Eine etwas wohlmeinendere, freilich aber auch apologetischere Lesart ist dennoch möglich: Man kann das Fragment auch so verstehen, dass Heinrich IV. zwar einer der besten empirischen Könige war, als regulative Idee oder romantisches Symbol aber ungeeignet. Die Liebe, die seine Untertanen ihm entgegen gebracht haben, ist nicht romantisierungsfähig, lässt sich nicht als Bild für die unendliche Annäherung an das moralisch frei handelnde Ich brauchen, denn: Die Untertanen lieben Henri Quatre nicht mit dem Herzen, sondern mit dem Magen, sie lieben ihn nicht uneigennützig für seine moralische Integrität, sondern weil er ihnen die Bäuche füllt, ihre körperlichen Bedürfnisse befriedigt. Ein auf individuellen Eigennutzen gegründeter Wohlfahrtsstaat mag zwar in der Empirie eine der menschlichsten und realistischsten Regierungsformen sein, als regulative Idee moralischen Zusammenlebens ist er für Novalis aber fragwürdig. Gerade GL 8 zeigt daher, wie gewagt die Fragmentsammlung konzipiert ist, denn ernst genommen, mündet dieses Fragment direkt in die Sanktionierung unmenschlicher Politik. Das hat offenbar auch Hardenberg gesehen und daher im zweiten, problematischen Fragmentteil eine seiner Standard-Romantisierungstechniken eingesetzt, nämlich die abmildernde Suggestivfrage, anstelle der harten Behauptung.
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
55. Jede Verbesserung unvollkommener Constitutionen läuft daraus hinaus, daß man sie der Liebe fähiger macht. 56. Der beste Staat besteht aus Indifferentisten dieser Art. 57. In unvollkommenen Staaten sind sie auch die besten Staatsbürger. Sie nehmen an allem Guten Theil, lachen über die Alfansereien ihrer Zeitgenossen im Stillen, und enthalten sich von allem Uebel. Sie ändern nicht, weil sie wissen, daß jede Aenderung der Art und unter diesen Umständen nur ein neuer Irrthum ist, und das Beste nicht von außen kommen kann. Sie lassen alles in seinen Würden, und so wie sie keinen geniren – so genirt auch sie keiner, und sind überall willkommen. (II,499f.:50–57)
Für diese Fragmente existiert nach wie vor nur eine einzige, detaillierte Deutung, nämlich die von Hermann Kurzke.288 Kurzke hat die Passage mithilfe der Brownschen Physiologie gedeutet und auf VB 8 als wichtige Parallelstelle aufmerksam gemacht. Allerdings stützt Kurzke gerade mit GL 50–57 die Hauptthesen seiner Arbeit, dass die aus dem ›magischen Idealismus‹ generierte Lebenspraxis letztlich konservativ sei: Der transzendentale Revolutionarismus ist vereinbar mit einem praktischen Konservatismus. Das Veränderungspathos im Grundsätzlichen bezieht sich auf ein zeit- und ortloses Niemandsland. Die Lebenspraxis unter den andauernden gewöhnlichen Verhältnissen beherrschen konservative Impulse. »Sie ändern nicht, weil sie wissen, daß jede Aenderung der Art und unter diesen Umständen nur ein neuer Irrthum ist« (G|L Nr. 57) – so beschreibt Novalis die liebenden Indifferentisten, seine »besten Staatsbürger«.289
Kurzke formuliert damit zweifelsohne ein Grundproblem von Novalis’ Terminus des ›Indifferentisten‹. Für sich genommen, suggeriert GL 57, dass die Lebenspraxis der Indifferenz als Haltung eines um sich kreisenden, unruhigen Ichs zu verstehen sei, das bei einer Idee von sich selbst Halt sucht. Da das wirkliche Ich dabei die ›Aufmerksamkeit‹ auf sich selbst erhöht, hat es den Anschein, als sei ›Indifferentismus‹ ein Zustand, in dem »die Kontrollfunktion der Außenwelt weitgehend ausgefallen ist«290 und damit auch der Wille zur Wirklichkeitsveränderung. Immerhin sind für Novalis jene die besten Staatsbürger, die »alles in seinen Würden« (II,500:57) lassen. Es lohnt sich aber, den Begriff des ›Indifferentisten‹ im Rahmen von Hardenbergs »Sofistik des Ich« (II,136:46) und seiner »poëtische[n] Ethik« (III,420:782) zu lesen und dabei die Differenzen einer solchen Deutung gegenüber der von Kurzke hervorkehren: Bei der Erschließung von GL 50–57 vor dem Hintergrund der Brownschen Physiologie kann ich mich indes uneingeschränkt auf die hervorragende Rekonstruktion von Kurzke stützen. Sklave und Sultan markieren demnach die zwei Extrempositionen291 (Krankheiten) eines disproportionierten Verhältnisses zwi-
288 289 290 291
Vgl. Kurzke (1983a), 156–164. Ebd., 259. Ebd., 263. Das Vorbild für diese zwei Entartungsformen des Ancien Régime sind offenkundig Schillers ›Wilder‹ und ›Barbar‹ aus dem vierten und fünften der Briefe Ueber die ästhe-
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schen Reiz und Erregbarkeit, in deren Mitte sich eine schmale Zone der Gesundheit befindet, der König und ›Cyniker‹ angehören. Der König lebt unter einem Reizüberangebot so, als gäbe es diese Reize nicht, und vice versa lebt der ›Cyniker‹ mit einem Unterangebot an Reizen so, als ob es ihm nicht an Reizen ermangele.292 Worauf aber gründet die Indifferenz von König und ›Cyniker‹, auf Gleichgültigkeit gegenüber der äußeren Realität und auf einem um sich selbst kreisenden Subjekt? Hat Kurzke also letztlich recht?: »[N]ur ihr Reiz, nur die Empfindung, die sie im erkennenden Subjekt auslöst, wird zum Gegenstand, nicht die Strukturen eines als wirklich außenstehend erfahrenen Objektiven. Der magische Idealismus kennt daher, auch wenn er sich von der Positivität faszinieren läßt, kein wirklich Positives. Empirische, pragmatisch umsetzbare Urteile sind infolgedessen in seinem politischen Denken außerordentlich selten«293. ›Höhere Gesundheit‹ und ›absolute Liebe‹ sind bei Hardenberg das Resultat eines ›vollendeten Selbstverständnisses‹ und äußern sich als ›Indifferenz‹ gegenüber relativen Reizen. Ein solches romantisches Selbstverständnis meint die Einsicht in die unhintergehbare Dualität von Gefühl und Reflexion. Kurzke rekonstruiert den Begriff des ›Indifferentisten‹ dagegen auf der Grundlage der fichteanischen Trennung von Subjekt und Objekt, von absolutem Ich und Nicht-Ich, denn die unterstellte Leugnung alles Objektiven im Zustand der Indifferenz bezieht sich ja auf die Unterscheidung von Subjekt und Objekt, oder, fichteanisch gesprochen, von Ich und Nicht-Ich. Damit verfehlt Kurzke den Kern von Hardenbergs Selbstbewusstseinsphilosophie, denn er bedenkt nicht den vom Idealismus zu unterscheidenden Ansatz der Frühromantik (vgl. Anm. 270). Hardenberg weist in den Fichte-Studien die
292
293
tische Erziehung des Menschen. Novalis bietet in den ‹Politischen Aphorismen› für diese zwei gesellschaftsdiagnostischen Idealtypen Schillers eine medizinische Erklärung an: In den verwilderten ›niedern Klassen‹ stellen sich nach Schiller »rohe gesetzlose Triebe dar, die sich nach aufgelöstem Band der bürgerlichen Ordnung entfesseln, und mit unlenksamer Wuth zu ihrer thierischen Befriedigung eilen« (NA 20, 319). Diesen wilden entfesselten Rausch führt Novalis mit Brown auf das Reizunterangebot im Sklavendasein zurück, das nach der Auflösung aller Bindungen in ›unlenksame Wut‹ übergeht, die aber nur trügerische Stärke ist. – Die barbarischen ›civilisirten Klassen‹ bieten nach Schiller »den noch widrigern Anblick der Schlaffheit und einer Depravation des Charakters, die desto mehr empört, weil die Kultur selbst ihre Quelle ist« (Ebd., 320). Novalis führt dies auf die pathogenen Strukturen der Sultansexistenz zurück, bei der ein Reizüberangebot die Erregbarkeit zerstört hat, was eine fiebrige Schwäche nach sich zieht. Hardenberg hat den Begriff des ›Cynikers‹ aus Friedrich Schlegels Athenaeums-Fragmenten entlehnt (vgl. Anm. 166): »Der Cyniker dürfte eigentlich gar keine Sachen haben: denn alle Sachen die ein Mensch hat, haben ihn doch in gewissem Sinne wieder. Es kömmt also nur darauf an, die Sachen so zu haben, als ob man sie nicht hätte. Noch künstlicher und noch cynischer ists aber, die Sachen so nicht zu haben, als ob man sie hätte« (Athenaeum [1798ff.], 1. Bd., 2. St., 187f.). – Zu Schleiermachers Anteil an diesem Fragment vgl. KFSA II,171. – Vgl. zudem Anm. 253 und Kap. II.2.2.c. Kurzke (1983a), 261.
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
Subjekt-Objekt-Trennung als Grundlage von Ich-Identität zurück (»[d]er Mensch ist so gut Nichtich, als Ich«, II,268:561) und verlagert These und Antithese in das Ich selbst, als ›ordo inversus‹ von Gefühl und Reflexion (»Subj[ect] und Obj[ect] wechseln in der Sfäre des Bewußtseyns«, II,263:539). Das romantische Individuum wird sich über sich selbst nicht durch eine Trennung zwischen absolutem Ich und Nicht-Ich bewusst, sondern versteht sich als unhintergehbare Dualität von Gefühl und Reflexion. Indifferenz meint daher eigentlich nicht Gleichgültigkeit 294, meint keine Leugnung äußerer Realität im Namen eines absoluten Subjekts, sondern die Relativierung der Subjekt-Objekt-Differenz als Maßstab von Selbstbewusstsein. Auf romantischer Indifferenz beruht die am Schluss von Glauben und Liebe postulierte »erhabene Ueberzeugung von der Relativität jeder positiven Form« und damit die »wahrhafte[…] Unabhängigkeit eines reifen Geistes von jeder individuellen Form, die ihm nichts als nothwendiges Werkzeug ist« (II,503:68). Relativierung äußerer Objektivität bedeutet also nicht ihre Leugnung, denn immerhin wird die Wirklichkeit als ›nothwendiges Werkzeug‹ von moralischer Bildung in Dienst genommen. Indifferenz bezeichnet vielmehr eine im romantischen Gebrauch der Einbildungskraft erfahrbare Immunisierung gegen relative, von der bloßen Dinghaftigkeit der Dinge abhängige Reize, also eine Immunisierung gegen Materialismus und Nihilismus. Das heißt aber nicht, dass damit die Subjekt-Objekt-Differenz in eine unterschiedslose Einheit überführt würde, sondern Indifferenz lindert die moralische Gefahr des subjektstolzen Egoismus. Nur aufgrund der reinen Objektivität der Dinge kann das Ich sich ja in ein Besitzverhältnis ihnen gegenüber bringen, die strikte Trennung zwischen Subjekt und Objekt ist also bei Novalis ein ursächliches Motiv für den »gemeinen Egoismus« (II,495:36), den erst ein ›vollendetes Selbstverständnis‹ überwinden könnte. Solange sich das Ich sein Selbst durch die Trennung von Ich und Nicht-Ich bewusst macht, ist »[g]rober Eigennutz […] das nothwendige Resultat [dieser] armselige[n] Beschränktheit« (II,449:77). Romantische Indifferenz ›verwandelt‹ die Subjekt-Objekt-Trennung in ein Wechselverhältnis und ermöglicht dem Ich ›absolute Liebe‹, d. h. ein vom Besitzwunsch befreites Verhältnis zu den Dingen und zu seinem menschlichen Gegenüber. Die Aufforderung an die Bürger in unvollkommenen Staaten, alles in seinen Würden zu belassen und nichts zu verändern, scheint aber weiterhin Kurzkes These zu bestätigen, dass die Indifferenz-Idee von einem ›konservativen‹ Impuls getragen werde und Hardenberg hier unter dem Eindruck der Geschehnisse in Frankreich zu einer kontemplativen Haltung der Tugendhaftigkeit auffordert, eingreifendem Handeln aber kritisch gegenübersteht. GL 57 rät unmissverständlich von wirklichkeitsveränderndem Handeln ab und zwar deshalb, weil »jede Aenderung der Art und unter diesen Umständen nur ein neuer Irrthum ist, und das Beste nicht von außen kommen kann« (II,500:57).
294
Vgl. Stockinger (1987), 393.
3. ›Glauben und Liebe‹ als literarische Utopie
363
Man sieht an dieser Stelle von Kurzkes Deutung noch einmal, zu welchen problematischen Rückschlüssen ein unscharfer Konservatismusbegriff führt, bei dem Konservatismus nicht als konkretes historisches Phänomen, sondern als nebulöse psychologisch-anthropologische Katgorie eines zähen Festhaltens am Althergebrachten verstanden wird. Löst man sich dagegen von einem solchen analytisch unbrauchbaren, umgangssprachlichen Konservatismus-Begriff, dann ist der Hinweis in GL 57, dass Veränderungen der äußeren Wirklichkeit nur neue Irrtümer produzieren, nicht Ausdruck konservativer Ideologie, sondern einer pragmatischen Skepsis, die über die Bedingungen des in der Wirklichkeit Möglichen reflektiert und anthropologische Vorbehalte ernst nimmt. Dies lässt sich auch an einer Bemerkung Hardenbergs zur Idee der Menschenrechte erläutern: Die abs[olute] Gleichheit ist das höchste Kunststück – das Ideal – aber nicht natürlich – Von Natur sind die Menschen nur relativ gleich – welches die alte Ungleichheit ist – der Stärkere hat auch ein stärckeres Recht. Ebenfalls sind die Menschen v[on] Natur nicht frey, sondern vielmehr mehr oder weniger gebunden. Wenig Menschen sind Menschen – daher d[ie] Menschenrechte äußerst unschicklich, als wircklich vorhanden, aufgestellt werden. Seyd Menschen, so werden euch die M[enschen]Rechte von selbst zufallen. (III,416:762)
Im Lichte der Erfahrungstatsache menschlicher Selbstbezogenheit, im Lichte anthropologischer Vorbehalte gegen Vernunftautonomie und Willensfreiheit erscheint die Idee der Menschenrechte ›äußerst unschicklich, als wircklich vorhanden, aufgestellt zu werden‹. Dennoch formuliert Hardenberg am Schluss von AB 762 einen ethischen Imperativ: ›Seyd Menschen, so werden euch die Menschenrechte von selbst zufallen‹. Die Formulierung einer solchen Sollens-Idee oder erhofften Tendenz wäre einem Spätaufklärer wohl verdächtig vorgekommen, weil sie sich über das in der Realität Machbare hinwegsetzt und die Gefahr impliziert, falsche Hoffnungen über die Möglichkeiten menschlicher Tugendhaftigkeit zu verbreiten, die – ausgeartet in Schwärmerei – die öffentliche Ordnung gefährden. Die in GL 57 entwickelte Verhaltenslehre für ein Leben in ›unvollkommenen Staaten‹ beschreibt hingegen eine solche an der regulativen Idee einer ›gesundesten Constitution‹, am Gattungswesen bzw. am Mensch-Sein ausgerichtete romantische Lebenspraxis. Mit den ›indifferenten‹ Staatsbürgern, die »keinen geniren« und daher auch von keinem »genirt« werden und »überall willkommen« sind (II,500:57), skizziert Novalis nicht Individuen, die indifferent im Sinne von gleichgültig leben, sondern solche, die ein liebevolles Miteinander pflegen. Zugrunde liegt diesem sozialen Modell die bei Hardenberg immer wiederkehrende Denkfigur des ausgeglichenen Gebens und Nehmens. Dass dabei ›alles in seinen Würden‹ bleibt, ist nicht Ausdruck konservativer Ideologie, sondern Indiz für die skeptische Grundtendenz romantischen Denkens: Die ›besten Staatsbürger‹ haben zwar die Hoffnung, durch ›menschliches‹ Handeln von anderen auch ›menschlich‹ behandelt zu werden, wissen aber, dass das eigentlich dem anthropologischen Erfahrungswissen über die selbstbezogene menschliche Natur widerspricht. Beim ›Indifferentisten‹ handelt es sich mithin um den frühromantischen
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
Gegenentwurf zum »revolutionairen Philister« (II,448:76): Ein ›Indifferentist‹ ist Skeptiker genug, um zu wissen, dass Versuche, die Welt im Namen außerempirischer Ideen revolutionieren zu wollen, schwärmerischen Wahn erzeugen. In ihm äußert sich die Idee eines ›vollendeten Selbstverständnisses‹, bei dem sich das Ich über seine eigene Natur, über die unhintergehbare Dualität von Gefühl und Reflexion aufgeklärt hat und daher weiß, dass Versuche einer revolutionären Veränderung im Namen des ›ganzen Menschen‹ nur einem ›neuen Irrtum‹ erliegen. Der ›Indifferentist‹ ist genau genommen nur eine andere Bezeichnung für jene ›romantischen Fremdlinge‹, die »im Lichte stehen, eingedenk der Nacht«295, und dennoch die Grenzen der Empirie kennen und akzeptieren. Sie leben aber eben nicht als gänzlich in die Empirie verstrickte Philister, da ein egoistisches oder rein pragmatisches Alltagsleben die Unbedingtheitssehnsucht nicht stillt und mithin immer wieder das Bedürfnis nach einem Rausch evozieren würde. Weil das ›bessere Selbst‹, jenseits von Schwärmer- und Philistertum, ›nicht von außen kommen kann‹, lassen die Indifferentisten ›alles in seinen Würden‹. Vor Nihilismus schützen sie sich aber durch die ›angenehme Täuschung‹, dass man durch ›menschliches‹ Handeln dem Anderen eine Erfahrung vollständiger Individualität ermöglichen könne, wenn man ihn nicht zum Objekt der eigenen Bedürfnisse degradiert, und man daher hoffen kann, auch von ihm gut behandelt zu werden, als ›Indifferentist‹ also »überall willkommen« (II,500:57) ist. Der ›Indifferentist‹ handelt versuchsweise so, als sei der ›poëtische Staat‹ und die ›gesundeste Constitution‹ Wirklichkeit, als hätten sich seine Mitmenschen bereits zum sittlichen Gattungswesen gebildet, als sei die ›beste aller möglichen Welten‹ eine Erfahrungstatsache, als müsse also das liebevolle Handeln eines Individuums auch dessen liebevolle Behandlung nach sich ziehen. Wie der Name schon sagt, stellt sich der ›Indifferentist‹ hypothetisch auf einen konstruierten ›Indifferenzpunkt‹ der Geschichte, von dem aus er die Erfahrungswirklichkeit in Augenschein nimmt (vgl. Anm. 180). Mit der romantischen Als-ob-Existenz des ›Indifferentisten‹ liefert Novalis einen Oberbegriff für die schmale Zone der Gesundheit, der sich von der einen Seite der ›König‹, von der anderen Seite der ›ächte Cyniker‹ annähert. Transzendentalpoesie ist in diesem Sinne als eine Art ethische ›Starthilfe‹ zu verstehen, die eine Möglichkeit bietet, mit »Repraesentative[m] Glauben« (III,421:782) vorläufig und hypothetisch über die Widrigkeiten hinwegzusehen, die die Empirie dem »Ideal der Sittlichkeit« (II,576:232) in den Weg stellt, und einen liebevollen Umgang mit seinen Mitmenschen zu pflegen, aus der reflektierten Hoffnung heraus, damit möglicherweise Nachahmer zu finden, frei nach dem Leitspruch: Einer muss ja den Anfang machen. Der ethische Effekt von Transzendentalpoesie besteht also vor allem in der spielerischen Überwindung des logischen Anfangsproblems, das sich zwangsläufig ergibt, wenn man sich nur an anthropologischem Wissen und den Erfah-
295
Stockinger (2001b).
3. ›Glauben und Liebe‹ als literarische Utopie
365
rungstatsachen über die Natur des Menschen orientiert: Dass transzendentalpoetische Konstruktionen wie der neupreußische Staat zu einer solchen »Construction eines abs[oluten] Anfangs« (III,405:717) dienen, hat schon die Analyse der metaphorischen Fragmente GL 11–14 ergeben, wo das seltene Blühen der Lilie im Gebirge die Entstehung eines ›blühenden Landes‹ einleitet (vgl. Kap. IV.3.2). Mit dem Begriff des ›Indifferentisten‹ liefern die ‹Politischen Aphorismen› nun eine Übersetzung dieses metaphorischen Bildes in die romantische Handlungspraxis des reflektierten Beginnens, denn »[j]eder Mensch kann seinen jüngsten Tag durch Sittlichkeit herbeyrufen« (III,62).296 Der Begriff des ›Indifferentisten‹ schreibt also keine konkrete moralische Norm wahrer Menschlichkeit vor, sondern artikuliert und reflektiert jenes Epochenproblem säkularer Moralbegründung, das die Romantiker umtreibt und auf das sie mit inversen Figuren wie dem ›ewigen Selbstbeweis‹ antworten: ›Thronfähige‹ romantische Indifferentisten, Cyniker und Fremdlinge streben nach einer Wahrheit, die durch ihr Streben eigentlich erst entsteht (vgl. Anm. 253). Vor diesem Hintergrund ist auch die transzendentalpoetische Bedeutung von Staatlichkeit und Hardenbergs Bild vom Staat als ›Macroandropos‹ zu lesen, wie man an einem ›politischen‹ Notat aus dem Allgemeinen Brouillon demonstrieren kann: Der Mensch hat den Staat zum Polster der Trägheit zu machen gesucht – und doch soll der Staat gerade das Gegentheil seyn – Er ist eine Armatur der gesammten Thätigkeit – Sein Zweck ist den Menschen ab[solut] mächtig – und nicht abs[olut] schwach – nicht zum trägsten – sondern zum thätigsten Wesen zu machen. Der Staat überhebt den Menschen keiner Mühe, sondern er vermehrt seine Mühseligkeit vielmehr ins Un-
296
Das logische Anfangsdilemma von Vollkommenheitsvorstellungen hat Hardenberg immer wieder beschäftigt und man kann die Transzendentalpoesie als Versuch verstehen, aus diesem Dilemma einen Ausweg zu finden: Vorstellungen vollkommener Zustände sind nur so lange vollkommen, so lange sie sich klar von der Erfahrungswirklichkeit unterscheiden. Sollen sie aber irgendetwas zur Verbesserung der Wirklichkeit beitragen und nicht nur eine Möglichkeit zur Wirklichkeitsflucht sein, dann gefährdet der Versuch, eine Verknüpfung zwischen Wirklichkeit und Vollkommenheitsbild herzustellen, zwangsläufig die Legitimität der Vollkommenheitsvorstellung, da diese sich der strikten Isolation von der Wirklichkeit verdankt. Das Resultat ist also ein klassisches Dilemma, für das Hardenberg im Allgemeinen Brouillon ein treffendes Beispiel gibt: »Wenn man etwas bestimmtes thun und erreichen will, so muß man sich auch provisorische, best[immte] Grenzen setzen. Wer aber dies nicht will, der ist vollk[ommen], wie der, der nicht eher schwimmen will, bis ers kann« (III,384f.:638). Wer schwimmen können will, muss irgendwann einmal anfangen, es zu lernen, dabei aber auch riskieren unterzugehen. Wer nicht eher ins Wasser steigt, als bis er vollkommen schwimmen kann, wird es nie lernen. – Hardenbergs Ausweg aus diesem Dilemma ist das Als-ob der Transzendentalpoesie, mit dem er eine Möglichkeit erfindet, auch in unvollkommenen Zuständen probeweise unter der Annahme zu leben, »der ewige Frieden [sei] schon da – Gott [sei] unter uns – hier [sei] Amerika oder Nirgends – das goldne Zeitalter [sei] hier – wir [seien] Zauberer – wir [seien] moralisch und so fort« (III,421:782). Im 5. Dialog hat Hardenberg die mit Transzendentalpoesie mögliche Überwindung dieses Anfangsdilemmas in den berühmten Vers gefasst: »Hypothesen sind Netze, nur der wird fangen, der auswirft« (II,668).
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
endliche – Freylich nicht ohne seine Kraft ins Unendliche zu vermehren. Der Weg zur Ruhe geht nur durch den Tempel (das Gebiet) der allumfassenden Thätigkeit. (III,298:326)
Hier wird die lebenspraktische Funktion romantischer Glaubenskonstruktionen beschrieben, die sich des Staates als Bildspender bedienen. Die einleitende Bemerkung unterscheidet das romantische Staatssymbol vom Staatsbegriff des politischen Eudämonismus bzw. jener Linie des Kontraktualismus, bei der der Staat als Regulator von Interessenkonflikten und Garant von Ruhe und Glückseligkeit fungiert. Dem Vertragsstaat als ›Polster der Trägheit‹ wird das Bild vom Staat als ›Armatur der gesammten Thätigkeit‹ entgegen gesetzt. Der Staat als transzendentalpoetisches Bild des moralisch souveränen Gattungswesens ist eine ›Armatur‹, eine Kriegsausrüstung, die sich der Staatsbürger anlegt, um in die Arena des ›ewigen Selbstbeweises‹ zu ziehen, denn der »Staat überhebt den Menschen keiner Mühe, sondern er vermehrt seine Mühseligkeit vielmehr ins Unendliche – Freylich nicht ohne seine Kraft ins Unendliche zu vermehren« (III,298:326). Die Kriegsausrüstung dient dem wirklichen Ich als Repräsentation seines besseren Selbst, das es unaufhörlich potenzieren, symbolisch in die Außenwelt projizieren soll, um es wieder mit sich identifizieren, es logarithmisieren zu können.297
4.
Veröffentlichungskontext: Die Jahrbücher der preußischen Monarchie
Seit Januar 1798 erscheinen in Berlin die Jahrbücher der preußischen Monarchie unter der Regierung Friedrich Wilhelms III., an denen vor allem Autoren der Spätaufklärung mitarbeiten, wie Friedrich Eberhard Rambach, Christian Garve, Johann Jacob Engel, Johann Erich Biester und Johann August Eberhard. Die bei Johann Friedrich Unger verlegten Jahrbücher stellen auf dem Berliner Zeitschriftenmarkt der späten 1790er Jahre ein vergleichsweise singuläres Phänomen dar, da es sich zwar um ein politisches Organ handelt, das sich im Zeitraum zwischen 1789 und 1806 allerdings erstmals ausschließlich der Besprechung von Preußens inneren Verhältnissen verschreibt und auf außenpolitische Zustände dezidiert nicht eingeht.298 Lange bestand die Zeitschrift allerdings nicht und bis auf die Tatsache, dass Hardenberg darin eine der zentralen frühromantischen Fragmentsammlungen publiziert hat, hält sich auch ihre historische Bedeutung in Grenzen. Dennoch ist es nicht unerheblich, dass das Bild, das sich der 1798 im sächsischen Freiberg studierende Hardenberg von dem neuen preußischen König
297
298
Das in AB 326 gebrauchte Bild der ›Armatur‹ erinnert wiederum an GL 27, wo Novalis sich wünscht, die der Königin nachempfundene Kleidung der neupreußischen Frauen solle ihnen als ›Ethometer‹ dienen (Vgl. Anm. 254). Vgl. Schumann (2001), 53.
4. Veröffentlichungskontext: Die ›Jahrbücher der preußischen Monarchie‹
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Friedrich Wilhelm III. und seiner Frau Luise macht, maßgeblich auf seiner Lektüre der Jahrbücher beruht. Friedrich-Wilhelm III. hatte nach dem Tod seines Vaters am 16. November 1797 den Thron bestiegen und war nur zwei Jahre älter als Hardenberg. Persönlich haben beide einander allerdings nicht gekannt. Um sich über die Wirkungsabsichten der Fragmentsammlung zu versichern, ist es daher unerlässlich, zentrale Aspekte des Bildes, das die Jahrbücher von dem neuen Regentenpaar und der preußischen Monarchie zeichnen, genauer in den Blick zu nehmen. Ich konzentriere mich dabei auf zwei besonders aussagekräftige Artikel, die Hardenberg mit großer Wahrscheinlichkeit gut gekannt hat.
4.1 Schwesterliche Umarmung: Schadows Prinzessinnengruppe in Novalis’ romantischem Preußen In GL 31 stilisiert Novalis die Prinzessinnengruppe des Berliner Hofbildhauers Johann Gottfried Schadow zum Aushängeschild seines romantischen Preußen: Die Gruppe von Schadow sollte die gute Gesellschaft in Berlin zu erhalten suchen, eine Loge der sittlichen Grazie stiften und sie in dem Versammlungssaale aufstellen. Diese Loge könnte eine Bildungsanstalt der jungen weiblichen Welt aus den kultivirtern Ständen seyn, und der Königsdienst wäre dann, was der Gottesdienst auf eine ähnliche Weise seyn sollte, ächte Auszeichnung und Belohnung der trefflichsten ihres Geschlechts. (II,494:31)
Weshalb die Prinzessinnengruppe in Novalis’ romantischem ›Neupreußen‹ eine so staatstragende Rolle spielt, geht aus dem Fragment nicht hervor. Offen bleibt, welche Eigenschaften die Marmorplastik zum Kultobjekt qualifizieren. Zudem gibt das Fragment biographische Rätsel auf: Wie kommt Hardenberg dazu, Schadows Prinzessinnengruppe eine gottesdienstliche Funktion zuzusprechen, obwohl er sie nie zu Gesicht bekommen hat, denn er war zeitlebens kein einziges Mal in Berlin? Wie passt schließlich die kultische Verehrung einer Porträtstatue von zwei lebenden Frauen zu jenem romantischen Dichter Hardenberg, der von der »[a]ufgegebne[n] Tendenz die Natur zu copiren« (III,673:618) spricht? Hilfreich zur Beantwortung dieser Fragen ist es, zunächst einige Eckpunkte der wechselvollen Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der Prinzessinnengruppe in Erinnerung zu rufen: Die Gipsausführung der Plastik wurde 1795 an der Berliner Kunstakademie ausgestellt und erwies sich als enormer Publikumserfolg. Schadow galt wegen seiner ›lebensnahen‹ Darstellungsweise schon früh als Außenseiter in der europäischen Bildhauerszene. Er war Kronprinzessin Luise und ihrer Schwester bei den Porträtsitzungen sogar mit Maßband und Tastzirkel zu Leibe gerückt 299 und die Plastik besticht durch ihre Lebensgröße und ihre realitätsechte Rundsichtigkeit.
299
Lacher (2007), 42f.
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
Ein Ausstellungsbesuch ahmt daher gleichsam die vis-à-vis-Begegnung zwischen den preußischen Prinzessinnen und ihren Untertanen nach. Die ungewöhnlich große Ausstellungsresonanz lässt bald den Ruf nach einer ›verewigenden‹ Marmorausführung laut werden. Friedrich Wilhelm II. gilt dabei gemeinhin als treibende Kraft. Neuere kunstgeschichtliche Quellenforschung zeigt jedoch, dass der preußische König die Akademieausstellung überhaupt nicht selbst besucht hat, als er die Marmorausführung genehmigt. Wichtigster Wegbereiter dieses kostspieligen Projekts war in Wahrheit Friedrich Anton von Heynitz, nicht nur Gründer der Freiberger Bergakademie und seit 1777 preußischer Minister, sondern auch Kurator der Berliner Kunstakademie und Schadows größter Förderer. Unter seiner Ägide kam es seit 1786 zu einer tiefgreifenden Erneuerung der Berliner Kunstakademie und in der Forschung gilt er als die »einflussreichste Persönlichkeit der preußischen Kunstgeschichte«300 in den 1790er Jahren. Relevant im Zusammenhang mit Glauben und Liebe sind zudem seine dynastischen Verhältnisse, denn Heynitz war der Großonkel Friedrich von Hardenbergs. Im Sommer 1797 ist die Marmorausführung fertiggestellt und wird im Herbst erneut mit überwältigendem Aufsehen auf der Berliner Akademieausstellung gezeigt. Danach überschlagen sich die Ereignisse: Am 16. November stirbt Friedrich Wilhelm II. und sein Sohn besteigt als Friedrich Wilhelm III. den preußischen Thron. Dem neuen Regenten war die Prinzessinnengruppe bekanntermaßen ein Dorn im Auge. Die genauen Gründe für diese Abneigung sind indes nicht bekannt: Ganz allgemein erinnerte ihn die Plastik wohl an das verschwenderische und genusssüchtige Regiment seines Vaters, dessen Hofhaltung sich vor allem durch eine florierende Mätressenwirtschaft auszeichnete. Mit der teuren Marmorausführung avancierte die Prinzessinnengruppe zudem vom Gipsporträt für private Zwecke zum Kunstwerk, da die materielle Dauerhaftigkeit des Marmors Antikengleichheit suggerierte. Die beiden Prinzessinnen wurden damit vom porträtierten Darstellungsgegenstand zum Modell degradiert. Dass seine Frau Luise, die neue preußische Königin, als das Modell eines Bildhauers fungierte, war dem sittenstrengen Friedrich Wilhelm sicherlich alles andere als recht. Sehr wahrscheinlich hat aber vor allem der Lebenswandel der Königinnenschwester die Vorbehalte des neuen Königs evoziert. Die 19-jährige Friederike war zum Zeitpunkt des Thronwechsels schon seit über einem Jahr verwitwet und wurde von diversen Verehrern bestürmt, mit denen sie zum Teil vermutlich auch Affären hatte. Da Friederikes leidenschaftliches Liebesleben gerüchteweise an die Öffentlichkeit drang, hatte sie sich in den Augen des Königs offenbar »als Porträtpartnerin Luises disqualifiziert«301. Als Schadow daher Anfang 1798 über den Minister Heynitz Vorschläge zur weiteren Aufstellung der Prinzessinnengruppe macht, hält der König ihn lange hin. Die Plastik sollte von nun an die nächsten drei
300 301
Ebd., 13. Ebd., 116 (vgl. auch ebd., 114f.).
4. Veröffentlichungskontext: Die ›Jahrbücher der preußischen Monarchie‹
369
Jahre in Schadows Atelier verbleiben, eingepackt in eine Kiste, in der nach einiger Zeit Mäuse zu nisten begannen.302 Mitten hinein in diese gereizte Stimmung macht Novalis den Vorschlag einer kultisch-liturgischen Nutzung des Doppelstandbildes. Er musste damit zwangsläufig auf wenig königliche Gegenliebe stoßen und zu fragen ist deshalb, was hinter seiner Parteinahme für die Plastik steckt. Hardenberg hat die neu erscheinenden Jahrbücher der preußischen Monarchie zwar nicht ausgiebig studiert, aber offenbar doch einige ausgewählte Artikel, die ihn interessierten, verhältnismäßig gut gekannt. Dazu gehört vor allem eine kunstkritische Besprechung der Prinzessinnengruppe, die im Februar-Heft erscheint und von einem bisher nicht ermittelten Autor mit dem Kürzel »Tb« stammt, vermutlich jemand aus dem persönlichen Umfeld Schadows.303 Die Schadow-Forschung hat diesen versierten Aufsatz gerade erst als die wohl wichtigste Quelle zur Frührezeption der Prinzessinnengruppe für sich entdeckt.304 Bei einer Deutung von Glauben und Liebe spielt der Text eine fast noch wichtigere Rolle, da Hardenberg die Plastik nicht vom unmittelbaren Sehen kannte. Die Vorstellung, die er sich von ihr gemacht hat, beruht daher hauptsächlich auf der Ekphrasis und Deutung des anonymen Kunstkritikers. Weshalb die Prinzessinnengruppe für Novalis eine so elementare Rolle spielt, geht aus Glauben und Liebe zwar nicht schlüssig hervor, durch die Veröffentlichung seiner Fragmentsammlung in den Jahrbüchern konnte er den anonymen Aufsatz jedoch als Assoziationskontext voraussetzen. Schon allein die bloße Erwähnung der Prinzessinnengruppe musste daher als ›Gedankenreiz‹ fungieren und ein regelmäßiger Leser der Jahrbücher dürfte sich durch das provozierende Unterangebot von Sinn in GL 31 an die Besprechung der Marmorplastik im Februar-Heft verwiesen gefühlt haben. Zumindest legt es Hardenbergs Drängen auf eine Veröffentlichung in den Jahrbüchern nahe, dass er sich für die Fragmentsammlung eine solche Lektüre versprach, die bestimmte andere, in der Zeitschrift publizierte Artikel mit einbezieht und erst darüber ein sinnvolles Verständnis der Fragmentsammlung generiert. In dem anonymen Aufsatz wird ein eigentümlicher Nexus zwischen der Individualität der dargestellten Prinzessinnen und ihrer Idealität behauptet. So beschrieben, ließ sich das Doppelstandbild leicht in Hardenbergs frühromantisches System integrieren, denn auch zu dessen Grundgedanken gehört die Wechselrelation von Idealisierung und Individualisierung bzw. ›Potenzierung‹ und ›Logarithmisierung‹. Der anonyme Kunstkritiker verfolgte mit der behaupteten Vereinbarkeit von Porträt und idealisierendem Kunstwerk freilich vorrangig das Ziel, die königlichen Bedenken zu zerstreuen. Die Wahrnehmung der Plastik als öf-
302 303 304
Vgl. ebd., 116–119. Ebd., 91. Vgl. ebd., 89ff. – Bei Schätzke (2002) wird der anonyme Aufsatz lediglich kurz erwähnt (S. 117).
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
fentliches Kunstwerk sollte Luise nicht zum bloßen Bildhauermodell degradieren: Der Zweck der ganzen Gruppe ist freilich zwei Bildnisse darzustellen; und in so fern ist das Kunstwerk freilich nur ein Monument; und die Nachahmung der Individualität die Hauptsache. Allein […] je mehr dieses Individuum durch seine Schönheit sich zu einem Repräsentanten einer ganzen Schönheitsklasse der Menschen qualificiert, um so leichter wird es dem Künstler, ein individuelles Kunstwerk in ein ideales zu verwandeln. Dürfen wir es erst anführen, wie unvermeidlich dies bei den dargestellten Fürstinnen war? Daß der Künstler hier nur copirte, um seinen Endzweck zu erreichen?305
Neben der Adressierung an den König kämpft der Kunstkritiker noch an einer zweiten Front und positioniert sich zur neuen Ästhetik der Weimarer Klassik. Mit Schadows Prinzessinnengruppe versucht er der Kritik, die die nachkantische Kunstphilosophie am Nachahmungsbegriff einer monistischen Spätaufklärung übt, auf eine Weise zu entgegnen, die sich für den Stand der philosophischen Debatte in den 1790er Jahren anschlussfähig hält. So verteidigt er nicht Schadows ›Realismus‹, sondern die Prinzessinnengruppe als gelungenes Beispiel für die gleichrangige Verbindung von individuellem Porträt und idealisierender Darstellung: Es giebt nämlich ein geheimes Band zwischen der Kunst und dem Herzen, welches der Genuß der dargestellten Persönlichkeit stärker anzieht, […]; denn die Kunst, welche allgemeine Schönheit bildet, führt in das Reich der Ideale und Ahndungen; da hingegen die, welche individuelle bildet, im Reiche der Wirklichkeit und der Erfahrung stehen bleibt. Weit entfernt also daß die letztere Art des Genusses jener untergeordnet sein sollte, ist sie nur eine andere, eine bedingte: denn hat das Individuum ein persönliches Interesse, sei es […] für Mitglieder einer Familie, oder […] für Bürger eines Staates; so fesselt die Darstellung desselben die Neugier und das Herz.306
Geschmacksurteile über Kunst können also sehr wohl von persönlichem Interesse flankiert sein. Das ›geheime Band‹ des persönlichen Interesses nimmt den Betrachter überhaupt erst für die Idee ein, die die sinnliche Oberfläche des Kunstwerks repräsentiert. Parallelen zu Hardenbergs romantischem Konzept des Mittlers oder der Glaubenskonstruktion liegen dabei auf der Hand. Auch deren Wirkung beruht nicht auf ›interesselosem Wohlgefallen‹, sondern auf der persönlichen und liebevollen Relation zwischen glaubendem Subjekt und Glaubensobjekt: »Was ist ein Gesetz, wenn es nicht Ausdruck des Willens einer geliebten, achtungswehrten Person ist? Bedarf der mystische Souverain nicht, wie jede Idee, eines Symbols, und welches Symbol ist würdiger und passender, als ein liebenswürdiger treflicher Mensch?« (II,487:15). Bei Hardenberg ist dabei freilich immer die Warnung vor der naiven Verwechslung von Symbol und Symbolisiertem mitzudenken (vgl. AB 685). 305 306
[Anonymus] (1798), 132f. Ebd., 130f.
4. Veröffentlichungskontext: Die ›Jahrbücher der preußischen Monarchie‹
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Dagegen sind die Behauptungen des Kunstkritikers kein romantischer Akt »Rhetorische[r] Gewalt« (III,269:153), sondern ernst gemeint: Bei dem patriotischen Gefühl, das die Prinzessinnengruppe auslöse, handelt es sich um eine Wirkung, die er den dargestellten Fürstinnen tatsächlich zuschreibt. Ihre Schönheit nehme den Betrachter für die Eigenschaften der Milde, Güte und Häuslichkeit ein, ohne sein Begehrungsvermögen zu wecken. Das Verhältnis zwischen Betrachter und Marmorplastik werde vom Gefühl patriotischer Majestätsverehrung und nicht von sexueller Anziehung dominiert. Ein persönliches Interesse an den dargestellten Individuen wirkt sich daher nicht sittlichkeitsgefährdend aus, sondern gewährleistet erst die sinnliche Vermittlung der repräsentierten Idee. Diese Synthese aus der Schönheit der dargestellten Fürstinnen und ihrem politischen Repräsentantenamt, das persönliches Interesse auf patriotische Verehrung beschränkt, erklärt dem Kunstkritiker zufolge den besonderen Effekt, der sich mit der Plastik verbindet, nämlich die künstlerische Idealisierung historischer Personen durch ihre naturgetreue Nachahmung: »So geschah also der erste Schritt von dem Bildniß zum Ideal durch die Treue der Copie«307. Die anonyme Besprechung gehört damit zu einer Debatte zwischen der Berliner Bildhauerschule um Schadow und der Weimarer Klassik, die um 1800 in einigen bissigen Äußerungen Goethes über den Zustand der Berliner Kunst kulminiert: »In Berlin scheint […] der Naturalismus, mit der Wirklichkeits- und Nützlichkeitsforderung, zu Hause zu seyn und der prosaische Zeitgeist sich am meisten zu offenbaren. Poesie wird durch Geschichte, Character und Ideal durch Portrait, symbolische Behandlung durch Allegorie, Landschaft durch Aussicht, das allgemein Menschliche durchs Vaterländische verdrängt.«308 Auch im konkreten Fall der Prinzessinnengruppe gab es eine kritische Stimme aus Weimar, die sich an Schadows vehementem Naturalismus stieß. Auslöser war Luises Kinnbinde, die die Königin wegen eines Halsleidens trug, und die Schadow nicht idealisierend überging, sondern abbildete. Der berühmte Altphilologe Karl August Böttiger hat Schadow bei einem Atelierbesuch ungläubig gefragt, warum er auf die Kinnbinde nicht verzichtet habe: »›Ich mußte es thun‹, war seine Antwort, ›weil die eine Prinzessin einen dicken Hals hat.‹« Böttiger notiert daraufhin irritiert: »O, der armen bedauernswürdigen Kunst, die sich in ihrem veredelnden zum Ideal hinstrebenden Geschäft nicht einmal über einen dicken Hals wegsetzen darf.«309 Diese Reaktion zeigt, dass der Vorwurf bloßer Wirklichkeitsimitation schon 1797 im Raum stand. Der anonyme Kunstkritiker nimmt Schadow gegen solche Kritik vonseiten einer idealistischen Autonomieästhetik in Schutz, denn das ›interesselose Wohlgefallen‹ am ›Allgemein-Menschlichen‹ in der Kunst »dürfte […] wohl nur das göttliche Eigenthum weniger sein; die Menge unserer […] Zeit307 308 309
Ebd., 133. Goethe (1800), 167. – Eine Replik findet sich in Schadow (1801). Zitiert nach Lacher (2007), 32.
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genossen, begnügt sich mit einem individuellen Interesse; und wo erschiene dies reiner als dann, wenn der Patriotismus es erregt«310. Um zu beweisen, dass die Prinzessinnengruppe individuelles Porträt und idealisierendes Kunstwerk zusammenführt, analysiert der Aufsatz ausführlich Schadows »Zauberkunst«311, also seine darstellerischen Tricks: Vor allem hebt er die Kleidung der Fürstinnen hervor, die »weder genau griechisch, noch genau modern, sondern ideal« sei und die Prinzessinnengruppe »über das Zeitalter und den Ort hinweg, zu einem allgemeinen Kunstwerke empor« hebe.312 Tatsächlich kommt diese Beschreibung Schadows Darstellungsverfahren recht nahe: Das antikisierende Kostüm der Plastik entsprach durchaus der modernen Frauenmode um die Jahrhundertwende, die gerade die beiden Prinzessinnen oft und gern bei öffentlichen Anlässen trugen. Sie waren damit in der preußischen Gesellschaft das, was man heute Stilikonen nennen würde. Ausführlich berichtet etwa das Journal des Luxus und der Moden nach Hofbällen und ähnlichen Veranstaltungen über ihre Frisuren, Accessoires und leichtfallenden Chemisenkleider, die die Körpersilhouette nicht vollständig verhüllten. Freilich übersteigt die Körperlichkeit des Kostüms bei der Prinzessinnengruppe den Rahmen dessen, was auch nach der aktuellen Mode zulässig gewesen wäre: Erkennbar zeichnet sich etwa Luises Bauchnabel ab, ihr Dekolleté fällt für den Zeitgeschmack etwas zu tief aus und Friederikes Rücken ist entblößt. Die Kostümierung der Prinzessinnengruppe ist allerdings keineswegs zweideutig, sondern an der Festgarderobe der beiden Prinzessinnen orientiert, die ohnehin die Frauenmode des griechischen Altertums imitierte. Schadow hat diesen zeitgenössischen Goût grecque noch verstärkt, indem er die Kleider mit einem stilisierten Faltenwurf antikisierend drapierte.313 Auch in Glauben und Liebe klingt die Rolle der beiden Schwestern als borussische Stilikonen an, wenn Novalis sich wünscht, die Königin möge »ächtes Muster des weiblichen Anzugs sein« (II,492:27). Weshalb Novalis so viel daran liegt, dass sich die preußischen Frauen wie ihre modebewusste Königin kleiden, versteht man wohl erst, wenn man berücksichtigt, dass Hardenberg die Königinnenmode nur aus der Beschreibung des anonymen Kunstkritikers kannte. An dessen Behauptung, die Kleider der Prinzessinnen seien eine Mischung aus Antike und Moderne, ließ sich für einen Frühromantiker problemlos das Konzept der ›Neuen Mythologie‹ anschließen. ›Neue Mythologie‹ meint bei Hardenberg nicht die Konstruktion einer gänzlich neuen Wirklichkeit, sondern eine ›schöpferische Weltbetrachtung‹ (I,102), die die vorfindliche Wirklichkeit in ein neues Licht rückt, sie romantisiert. Die in dieser ›Atmosphäre des Dichters‹ konstruierte ›geistige Gegenwart‹ grenzt Vergangenheit und Zukunft nicht voneinander ab, son-
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[Anonymus] (1798), 130. Ebd., 135. Ebd., 134. Vgl. insgesamt dazu Lacher (2007), 54–57.
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dern ›mischt‹ sie miteinander.314 Angelehnt an die anonyme Beschreibung der Königinnenkleidung sind Novalis’ Wünsche zur neupreußischen Frauenmode daher als Versuch einer Romantisierung von Alltagswirklichkeit zu verstehen: Die Kleidung der neupreußischen Frauen löst Antike und Moderne ineinander auf und fungiert als Symbol einer geistigen Gegenwart, einer Gegenwart als historischer Umbruchzeit. Dabei kommt es Novalis vornehmlich auf den individualethischen Effekt dieser geschichtsphilosophischen Konstruktion an, wenn er die neupreußische Frauenmode zum »Ethometer« (II,492:27), zum Sittenmesser erklärt. Sie erinnert ihren Träger daran, dass er kein auf den gegenwärtigen Augenblick beschränktes, egoistisch-erstarrtes, absolutes und philisterhaft-borniertes Ich ist, sondern erst im Prozess unendlicher Selbstvermittlung zwischen Vergangenheit und Zukunft, erst durch unendliche ›Selbsthervorbringung‹ zum vollständigen Individuum im frühromantischen Sinne werden könnte. Neben der Gestaltung des Kostüms dürfte noch ein weiterer Aspekt Novalis zum Wunsch nach einer kultischen Verehrung der Prinzessinnengruppe veranlasst haben, nämlich die von dem Kunstkritiker hervorgehobene Symbolik der schwesterlichen Umarmung: Die »Umarmung, in welche der Künstler beide Figuren vereinigt hat«, fungiert als »Bild und Ausdruck der schwesterlichen Liebe«315, schreibt dieser. Die schwesterliche Liebe, die nicht nur in der Umarmung, sondern auch im zärtlichen Berühren der Hände zum Ausdruck kommt, drängt sich – mit ›frühromantischem Auge‹ besehen – als transzendentalpoetische Anschauung einer harmonischen Wechselbeziehung geradezu auf. Es verwundert daher kaum, dass auch Hardenberg die ›Umarmung‹ gern als Bild gebraucht: Ein vollständiges Individuum vergleicht er einem »Act der Selbstumarmung« (II,541:74) und die Ehe einer »langsame[n], continuirliche[n] Umarmung« (III,255:83). Suggestiv fragt er, ob »die Umarmung nicht etwas dem Abendmahl Ähnliches« sei (II,596:324), und behauptet »Umarmen ist Genießen – Fressen« (III,88). Dies erinnert auch an den skurrilen Bildkomplex aus Hardenbergs Hymne, in der die Liebe zwischen zwei Menschen, also auch der Kuss und die Umarmung, zum eucharistischen Akt gegenseitigen Aufessens stilisiert werden. Am Schluss des achten Ofterdingen-Kapitels besiegelt denn auch eine sexuell konnotierte »lange Umarmung« zwischen Heinrich und Mathilde den Bund dieses »seligen Paars« (I,290). Das Bild der Umarmung, dem der empfindsame Freundschaftskult im 18. Jahrhundert zu Popularität verholfen hatte, gehört bei Hardenberg zu jener langen Litanei von Bildern, die in der Erscheinungswelt seine Idee von Identität als unendlicher Selbstvermittlung zwischen Entgegengesetztem symbolisch-vorläu-
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»Die gewöhnliche Gegenwart verknüpft Vergangenheit und Zukunft durch Beschränkung. Es entsteht Kontiguität, durch Erstarrung Krystallisazion. Es giebt aber eine geistige Gegenwart, die beyde durch Auflösung identifi zirt, und diese Mischung ist das Element, die Atmosphäre des Dichters« (II,461:109). [Anonymus] (1798), 133.
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fig repräsentieren. Durch kontinuierliche ›Selbstumarmung‹ entsteht das plurale Ich, dessen Vermögen, zeitlich wechselnde Zustände und soziale Rollen trotz ihrer Verschiedenheit miteinander eine Einheit bilden. Andere symbolische Ausdrücke für diese regulative Idee einer ›ächt synthetischen Person‹ (III,250:63), eines ›besseren Selbst‹ oder ›idealischen Ich‹ sind Bilder wie das ›Volk‹316, die ›Familie‹ (II,540:72) oder die ›Ehe‹ (II,564:198). Auch die Prinzessinnengruppe lässt sich problemlos in die Reihe dieser Bilder aufnehmen und als Symbol für das ›Schweben‹ zwischen Entgegengesetztem verstehen. Immerhin verbinden sich mit beiden Prinzessinnen zwei divergente Lebensmodelle: Während Luise das Muster einer Ehefrau abgibt, unterhielt ihre verwitwete Schwester Friederike mehrere Affären. Luise hatte 1794 eine Totgeburt zu verkraften, was am Berliner Hof bald als Zäsur in ihrem Leben wahrgenommen wurde. Ihre mädchenhafte Unbeschwertheit wandelte sich zusehends in frauliche Ernsthaftigkeit. Schadow porträtiert diesen Charakterzug in Luises erhobener, aufrechter Kopfhaltung und ihrem freien, frontalen Blick. Demgegenüber verleihen die seitliche Kopfneigung, der versonnene Blick, die hochgezogenen Augenbrauen und die Zöpfe Friederike eine mädchenhafte Koketterie. In mehrerlei Hinsicht synthetisiert die gruppenbildende Umarmung daher verschiedene Gegensätze, nämlich zwei Weiblichkeitskonstrukte: die besonnene Hausfrau und das versonnene Mädchen; zwei menschliche Vermögen: die ernste Vernunft und das kokette Gefühl; zwei soziale Rollen: das staatstragende Königinnenamt und einen ungebundenen Witwenstand; zwei Konzepte geschlechtlicher Liebe: die eheliche Monogamie und den wiederholten Partnerwechsel; und zwei ästhetische Kategorien: nämlich königliche Würde und mädchenhafte Anmut. Unter romantischer Perspektive symbolisiert die Prinzessinnengruppe also, pointiert gesagt, die liebevolle Umarmung zwischen der vernünftig-sittlichen und der leidenschaftlich-sinnlichen Natur des Menschen. Ob Hardenberg freilich Kenntnis von den boulevardesken Details um das Liebesleben der blutjung verwitweten Friederike hatte, lässt sich nicht mehr feststellen. Allerdings verkehrt er just während der Entstehungszeit von Glauben und Liebe häufig im Haus des Freiberger Berghauptmanns Karl Wilhelm Benno von Heynitz, dem Bruder des erwähnten Schadow-Förderers. In seinem ersten Freiberger Brief an Caroline Just vom Februar 1798 meldet er: »Bey Heynitzens bin ich aus Grundsatz oft.« (IV,249). – Hier hätte Hardenberg aus erster Hand von den Querelen um die Prinzessinnengruppe und Friederike hören können. Es liegt daher nahe, das Doppelstandbild in jener ›Loge der sittlichen Grazie‹ als Glaubenskonstruktion für die regulative Idee eines vollständigen Individuums zu lesen, bei dem sich Lust und Pflicht liebevoll umarmen. Der Wunsch nach einer kultischen Verehrung der Plastik, also nach ihrer liturgischen Einbindung
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»Das Volk ist eine Idee. Wir sollen ein Volk werden. Ein vollkomner Mensch ist ein kleines Volk. Ächte Popularitaet ist das höchste Ziel des Menschen« (II,432:47).
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in die Lebenspraxis, enthält damit das ästhetische Prinzip von Glauben und Liebe in nuce schon in sich. In der vermittelten Form, in der Hardenberg die Prinzessinnengruppe aus der Beschreibung des Kunstkritikers kannte, ließ sie sich leicht als Ergebnis einer Romantisierungsoperation umdeuten: Zwei in der Erfahrungswirklichkeit existierende Frauen werden zwar naturgetreu abgebildet, aber durch die subtil-antikisierende Gestaltung des Kostüms und die besondere Form der Gruppenbildung erinnern sie symbolisch an ein Ideal. Die Romantisierung der preußischen Monarchie gelingt vor allem mithilfe der für Hardenberg typischen Techniken des andeutenden, verfremdenden oder stilisierenden Sprechens über Erfahrungsweltliches. Vorschläge, wie das Anlegen von königlichen Orden und das Aufstellen von Bildern der Königin oder die kultischen Verehrung der Prinzessinnengruppe bitten daher symbolisch den Leser, Phänomene seiner Erfahrungswirklichkeit mithilfe der ›quasi halluzinativen Wahrnehmung‹317 des Romantisierens in ein anderes Licht zu rücken. Ihr gemeinsamer Tenor ist nicht die Aufopferung des Einzelnen ans Allgemeine, sondern das Sichtbarwerden des Staates im gewöhnlichen Leben. Glauben und Liebe enthält eine originelle Aufforderung an den Leser, die eigene Lebenswirklichkeit zu romantisieren, so wie Novalis es mit der preußischen Monarchie oder der Prinzessinnengruppe vormacht. Deren kultische Verehrung imitiert zwar die naiv-patriotische Ästhetik des anonymen Kunstkritikers aus den Jahrbüchern, eigentlich geht es dabei aber um ein Sehnsuchts- und Erinnerungszeichen an die Kultivierung eines ›besseren Selbst‹, in dem sich die wechselnden Launen und sozialen Rollen des empirischen Ichs so liebevoll umarmen wie Schadows gegensätzliche Prinzessinnen oder wie das Liebespaar auf dem preußischen Thron.318 Obwohl die frühromantische Ästhetik über den Verdacht erhaben ist, einen am Imitatio-Gedanken orientierten Kunstbegriff das Wort zu reden, trägt Novalis zufolge ausgerechnet ein Kunstwerk, das ein lebendiges Vorbild naturgetreu abbildet, zur sozialen Harmonie ›Neupreußens‹ bei. Man sieht daran, welche gewaltige Integrationskraft die Transzendentalpoesie gegenüber den diversesten Theorien entwickelt hat, die im Zeichen eines spätaufklärerischen Monismus stehen und Normatives mit Relativem begründen, obwohl diese Theorie den transzendentalphilosophischen Grundlagen frühromantischen Denkens, näm317 318
Vgl. Engel (1993), 449. Ein Eintrag in Hardenbergs Tagebuch demonstriert, dass er selbst auch im ›gewöhnlichen Leben‹ immer wieder um eine Anwendung seiner ›Ethik der Einbildungskraft‹ gerungen hat, indem er versucht, den ›Trieb Ich zu sein‹ in sich wach zu halten. Daran wird ersichtlich, dass die ›Harmonie des Schwebens zwischen Entgegengesetztem‹ nicht einen ein für alle Mal erreichbaren und letztgültigen Zustand der Beruhigung meint, sondern eine punktuelle, von den ›Veränderungen des Gemüths‹ immer wieder gefährdete Harmonie: »Ich muß schlechterdings suchen Mein bessres Selbst im Wechsel der Lebensszenen, in den Veränderungen des Gemüths behaupten zu lernen. Unaufhörliches Denken an mich selbst, und das, was ich erfahre und thue« (IV,40: 25.5.1797).
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lich der säuberlichen Trennung von Sein und Sollen, von Relativem und Normativem zuwiderlaufen. Die Frühromantik lässt sich geradezu als transzendentalpoetischer Um- und Einbau von Elementen der monistischen Spätaufklärung verstehen, die alle einen Platz im neuen System zugewiesen bekommen,319 dabei aber ihre Bedeutung grundlegend verändern, so auch die an ›lebensechter‹ Darstellung orientierte Ästhetik der Berliner Bildhauerschule. Nach Hardenberg ist der Kritizismus diejenige Lehre, die den Menschen beim Studium der Natur auf sich selbst verweist (vgl. Anm. 93), auf das romantische ›besseres Selbst‹, auf die Anlage zu ›unendlicher freier Tätigkeit‹. Mit den naturgetreuen Abbildungen der Königin in jedem Haushalt und der ›realitätsechten‹ Prinzessinnengruppe demonstriert Novalis genau diesen Effekt, nämlich die augenzwinkernde romantische Verbindung der Erfahrungswirklichkeit mit dem »Ideal der Sittlichkeit« (II,576:232). Die moralisierende Wirkung, die die ›Gruppe von Schadow‹ auf die Mitglieder in der ›Loge der sittlichen Grazie‹ ausübt, besteht darin, dass sie im Betrachten der sich umarmenden Schwestern ihr ›besseres Selbst‹ erfahren, allerdings nur indem sie sich darüber bewusst werden, dass sie selbst es sind, die diese symbolische Verbindung zwischen Bild und Idee leisten. Auch bei einem Leser der Fragmentsammlung, der diese Darstellungsintention durchschaut, soll nicht ›interesseloses Wohlgefallen‹ an idealisierter Kunst erzeugt werden, sondern ein sehnsüchtiges Gefühl des Mangels, das aus der andeutend-abbildenden, verfremdend-kopierenden Romantisierung der preußischen Erfahrungswirklichkeit, aus der Überblendung von Alltagswirklichkeit und Idee entsteht.
4.2 Wohlgeordnete Monarchie: Johann August Eberhards Theorie des aufgeklärten Absolutismus und ihre romantische Imitation Im April-Heft der Jahrbücher findet sich unter dem Titel Über die wohlgeordnete Monarchie. In Briefen an einen Freund in der Schweiz eine längere Abhandlung von Johann August Eberhard, einem in Halle lehrenden Popularphilosophen320 und Theoretiker des aufgeklärten Absolutismus. Eberhard hatte sich in staatswissenschaftlichen Fragen mit seiner vielgelesenen, zweibändigen Abhandlung Ueber 319 320
Zum Verhältnis zwischen Aufklärung und Romantik vgl. Stockinger (²2003). Eine systematische Beschäftigung mit dem Terminus ›Popularphilosophie‹, der zumeist als schwammiger Sammelbegriff für die unkritischen Strömungen jenseits des philosophischen Höhenkamms im Kant-Zeitalter herhalten muss, blieb lange Forschungsdesiderat, liegt aber inzwischen mit Böhr (2003) vor: Böhr definiert Popularphilosophie nach dem Selbstverständnis ihrer Vertreter als besonders plastische und transparente Form des Argumentierens. Insbesondere an der Kontroverse zwischen Christian Garve und Kant zeigt Böhr, dass Popularphilosophen wie Garve den Charakter ihres eigenen, mit Bildern und Beispielen operierenden Philosophierens in Abgrenzung von der Trockenheit und Schwere kantischer Prosa als anschaulich, angenehm, als leicht zugänglich und als Appell an den gesunden Menschenverstand verstehen. Kant selbst hat sich zumeist nur schulterzuckend zu dieser popularphilosophischen Attacke geäußert, etwa mit dem Hinweis, die Vernunft könne niemals populär werden, habe dies aber auch nicht nötig (vgl. Böhr [2003], 88–104).
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Staatsverfassungen und ihre Verbesserung 321 einen Namen gemacht und nutzt die politische Situation im Frühjahr 1798, um seine fünf Jahre zuvor entwickelten staatswissenschaftlichen Theoreme in anschaulicher Form zu reformulieren. Den äußeren Anlass liefert ihm die ereignisgeschichtliche Gemengelage aus der innenpolitischen Aufbruchsstimmung um die Thronbesteigung und das allgemeine Gefühl wachsender außenpolitischer Bedrohung, denn am 5. März war das französische Revolutionsheer in Bern einmarschiert. In seinem Artikel zur ›wohlgeordneten Monarchie‹ bedient sich Eberhard einer anschaulichen Darstellungstechnik, um seine staatswissenschaftlichen Theoreme pointiert und unter Bezug auf das aktuelle politische Zeitgeschehen zu demonstrieren: Er korrespondiert mit einem fingierten Schweizer Briefpartner über die Frage, welche Regierungsform am besten in der Lage sei, eine Nation aufzuklären und im Angriffsfall möglichst effektiv ihre Unabhängigkeit zu verteidigen. Für Eberhard zeigt die französische Besetzung, dass die Eidgenossenschaft diesen Anforderungen nicht gewachsen war, weil ihr ein »Mittelpunkt der Macht«322 fehlte. Dem Schweizer Briefadressaten gegenüber preist er daher die Vorteile der Monarchie. Seine Argumente unterscheiden sich dabei kaum von der gängigen, eudämonistisch orientierten Theorie des aufgeklärten Absolutismus in den 1790er Jahren, für die in der Garantie öffentlicher Ruhe und Sicherheit eine der Hauptstärken der Monarchie lag. In seiner entschiedenen Präferenz der Erbmonarchie setzt sich Eberhard allerdings merklich von der Hauptlinie der Regierungsformendebatte ab. Die Erbmonarchie sei aus einer instinktiven Urwahl der frühen Völker entstanden und stimme deshalb vollständiger mit dem Staatsinteresse und dem Willen der Nation überein, als jede Wahlmonarchie.323 Ausgerechnet dieser Argumentkomplex zur Erbmonarchie taucht in Hardenbergs Fragmentsammlung wieder auf, die zwei Monate nach Eberhards Beitrag in den Jahrbüchern erscheint. Hardenberg verfolgte mit der Veröffentlichung in den Jahrbüchern also offenbar auch das Anliegen, gängige Argumente des aufgeklärten Absolutismus in einem seiner Publikationsorgane so zu imitieren, dass die ›politischen‹ Vorstellungen der Frühromantik sich nicht ohne weiteres zum ideologischen Gegner stilisieren ließen, sondern ernst genommen werden mussten, obwohl sie aufgeklärte Argumente transzendentalpoetisch umfunktionierten. Gerade Eberhards Artikel zur ›wohlgeordneten Monarchie‹, der einzige Beitrag zur Regierungsformendebatte in den Jahrbüchern im ersten halben Jahr ihres Bestehens, hat dem staatswissenschaftlichen Laien324 Hardenberg die Argumente des aufgeklärten Absolutismus mit popularphilosophischer Anschaulichkeit präsentiert. Eberhards Theorem der ›wohlgeordneten Monarchie‹ dürfte ihm als
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Eberhard (1793/94). – Zu Eberhards politischer Theorie im Kontext vgl. Epstein (1973), 317–321 u. 570–572. Eberhard (1798), 398. Vgl. Eberhard (1793/94), Heft 2 (1794), 73–80. Vgl. Kurzke (1983a), 258.
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willkommene Kontaktstelle gedient haben, an der sich sein frühromantisches Konzept der ›ächten Monarchie‹ öffentlichkeitswirksam platzieren ließ. Um dieser These nachzugehen, sollen zunächst die Eckpunkte von Eberhards politischer Theorie erarbeitet werden: Richtungsweisend für Eberhards Staatsauffassung ist der wolffianische Vollkommenheitsbegriff325 und das damit verbundene Ordnungsmodell einer »Zusammenstimmung des mannigfaltigen«326, das Wolff auch zum regulativen Prinzip seiner Sittenlehre erhebt: Sittliche Vollkommenheit erreicht der Mensch, wenn seine freien Handlungen »mit einander zusammen stimmen, dergestalt, daß sie endlich alle insgesamt in einer allgemeinen Absicht gegründet sind«327. Der ›consensus in varietate‹ als erkenntnisleitendes Modell für die sittliche Vervollkommnung des Einzelnen wird bei Wolff aber nicht unabhängig von der Vergemeinschaftung gedacht. Wolff in diesem Punkt zustimmend, geht auch Eberhard davon aus, dass in einer Gesellschaft von Individuen mit gleichermaßen hochentwickelter Vernunft »ein jeder, indem er dem Willen der Gesellschaft folgte, seinem eigenen Willen folgen«328 würde. Diesem regulativen Zusammenhang von vollkommenem individuellen Sein und vollkommener, kollektiver Organisationsform hat Eberhard auch einen sprachlichen Ausdruck verliehen: Das Adjektiv ›wohlgeordnet‹ gebraucht er nicht nur zur Kennzeichnung einer aufgeklärten Erbmonarchie, sondern bereits in seiner Ethik, der Sittenlehre der Vernunft. Hier spricht er dann von ›wohlgeordneter Selbstliebe‹, wenn die Selbstliebe »den gemeinschaftlichen Gesetzen unserer Vollkommenheit gemäß ist«329. Eberhard greift damit auf eine lange staatswissenschaftliche Tradition zurück, nämlich auf den Grundsatz des ›wohlverstandenen Interesses‹ und auf die Idee eines kausalen Zusammenhangs zwischen Selbstliebe und Geselligkeit, mithilfe derer in den frühneuzeitlichen Naturrechtssystemen der Eigenliebe eine gesellschaftserhaltende Rolle zugedacht wird. Aus der im Naturrechtsdenken und in der Moralistik in unzählbaren Varianten getätigten psychologischen Beobachtung menschlicher Selbstbezogenheit versucht die moraldidaktische Literatur im 18. Jahrhundert moralische Normen und Verbindlichkeiten, also eine Sittenlehre zu entwickeln.330 Dabei sind freilich verschiedenen Entwicklungslinien zu differenzieren. Signifikant für Wolff ist etwa, dass die Selbstliebe in eine über den metaphysischen Vollkommenheitsbegriff begründete Ethik eingebettet wird.331 325 326 327 328 329 330 331
Zum Stellenwert des Vollkommenheits-Begriffs bei Christian Wolff vgl. M. Riedel (1970); Bissinger (²1986); Schwaiger (1995), 93–120. Wolff (1962ff.), Bd. I.2 (Deutsche Metaphysik), § 152. Ebd. Eberhard (1793/94), Heft 1 (1793), 14. Eberhard (1781), 188. Vgl. Vollhardt (2001a); Vollhardt (2001b). »Und dannenhero billigen wir nicht die Meinung derer, welche den Eigen=Nutz zum Grunde des Gesetzes der Natur machen. Wer eigennützig ist, siehet nur auf sich, und suchet seinen Nutzen auch mit anderer ihrem Schaden, woferne er ihn nur ohne seinen grösseren Schaden erhalten kan: hingegen wer sich suchet so vollkommen zu
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Eberhards Ethik steht in dieser Tradition und in der Sittenlehre der Vernunft warnt er davor, die Selbstliebe mit dem Eigennutze oder der Selbstsucht (selfishness) [zu] vermengen […]. Da wir uns nun durch die geselligen Handlungen als Mittel vollkommner machen: so müssen unsere Handlungen, wenn sie nicht bloß besondern, sondern gemeinschaftlichen Gesetzen der Vollkommenheit gemäß seyn sollen, auch durch die Vollkommenheit anderer bestimmt werden.332
Richtungsweisend dürfte für Eberhard dabei auch der Terminus des ›egoismus moralis‹ gewesen sein, den Alexander Gottlieb Baumgarten in seiner Ethik geprägt hat.333 Mit der ›wohlgeordneten Selbstliebe‹ versucht Eberhard jedenfalls, der Selbstbezogenheit eine sittliche und normative Funktion zu geben, indem er sie, wie schon Wolff, mit dem christlichen Caritas-Gedanken versöhnt. Dies funktioniert allerdings nur im Rahmen der Wolffschen Pflichtenlehre, also vor dem Hintergrund einer in der menschlichen Natur liegenden, vernunftmäßig einsichtigen Pflicht, den eigenen Zustand zu vervollkommnen, und zur Vervollkommnung anderer so viel beizutragen, wie es die Pflicht zur eigenen Vervollkommnung zulässt. Mit dieser ›obligatio naturalis‹ ließ sich schon bei Wolff staatlicher Zwang problemlos rechtfertigen, nämlich unter Berufung auf die Erfahrungstatsache, dass wegen Vernunftdefiziten nicht jeder pflichtkonform handelt, der Zweck der Natur also dazu legitimiert, den Einzelnen zur Moralität zu zwingen.334 Eberhard entwickelt ausgehend von dieser Erfahrungstatsache ungleicher Verstandeskräfte seine Theorie des aufgeklärten Absolutismus, denn »der erste Schritt zu einiger Kultur wird gerade dadurch bemerkbar, daß sich Einige unter ihr durch Weisheit, Künste und gebildete Sitten über den großen Haufen erheben.«335 »Es ist daher eine unbegreifliche Verblendung, die Vertilgung aller Ungleichheit in einer großen Nation für einen Schritt zu einer höhern Vollkommenheit zu halten,«336 denn auch die »Natur zweckt nirgends auf völlige Gleichheit ab; sie strebt nach Reichtum und nach einer Mannichfaltigkeit, in den Theilen, die durch wechselseitige Bedürfnisse und Dienste Einheit und Vollkommenheit in das Ganze bringen.«337 Ganz im Sinne eines spätaufklärerischen Monismus lädt Eberhard die Natur normativ auf und mit der Übertragung des natürlichen ›consensus in varietate‹-Modells auf den Staat versucht er für die natürliche Ungleichheit eine möglichst vollkommene politische Handhabe zu entwickeln. Am besten dazu eignet sich für ihn die Erbmonarchie:
332 333 334 335 336 337
machen als möglich ist, der suchet auch was des andern ist, und verlanget nichts mit anderer ihrem Schaden« (Wolff [1962ff.], Bd. I.4 [Deutsche Ethik], § 43). Eberhard (1781), 189f. Baumgarten (²1751), § 300. Vgl. M. Riedel (1970), 95. Eberhard (1793/94), Heft 1 (1793), 65. Ebd., 64f. Ebd., 56f.
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
Den erblichen Monarchen […] bindet sein eigenes Interesse und das Interesse seines Stammes an die Erhaltung und die Glückseligkeit des Staates; […] so wird er sich freywillig die Hände binden, und die […] Staatsverwaltung […] solchen Staatsbeamten anvertrauen, deren Fähigkeiten hinlänglich geprüft und bewähret […] sind.338
Bei der Erbmonarchie folgt das wohlverstandene Eigeninteresse des Regenten den gemeinschaftlichen Gesetzen der Vollkommenheit, da Eigen- und Staatsinteresse hier dynastisch miteinander verklammert sind, die wohlgeordnete Selbstliebe des Erbmonarchen also die Wohlgeordnetheit des Staates konditioniert. Die generelle Ungleichheit der Verstandeskräfte lässt sich nicht mit völliger Gleichheit staatlich organisieren, da »ein sinnloses System von Gleichheit auch die Gefühle der Ehre vertilgt«339. In der ›wohlgeordneten Monarchie‹ findet man stattdessen eine vollkommene Gleichheit, die die Vernunft befriedigt und ein adäquates Entsprechungsverhältnis zwischen intellektueller Befähigung und politischem Amt herstellt, »denn sie theilt die Ämter und Würden nach der Tüchtigkeit und den erkannten Verdiensten derjenigen aus, die sie damit bekleidet.«340 Um mit dem affirmierten Leistungsprinzip allerdings nicht die Ausbreitung des moralisch gefährlichen Eigennutzens zu befördern, bedarf es des Erbmonarchen, der zwar als Mensch wie jeder andere sein Eigeninteresse verfolgt, dieses ist jedoch über das Mittelglied der Dynastie an die Glückseligkeit des Staats gekoppelt. Ähnlich wie bei der anonymen Beschreibung von Schadows Prinzessinnengruppe liegt auch Eberhards Beitrag in den Jahrbüchern die Behauptung zugrunde, dass sich seine Vorstellung vollkommener monarchischer Staatlichkeit im neuen preußischen König und dessen Regierung verwirkliche. Diese Verbindung von Idealität und Individualität, von Normativem und Relativem, die Behauptung der augenscheinlichen Sichtbarkeit von vollkommener Staatlichkeit im preußischen Königspaar, hat Hardenberg in seiner Fragmentsammlung mit der bekannten und provozierenden Behauptung imitiert: »Wer den ewigen Frieden jetzt sehn und lieb gewinnen will, der reise nach Berlin und sehe die Königin« (II,498:42). Bei Eberhard liefert gerade die Sichtbarkeit der wohlgeordneten Monarchie, ihre historische Realität, das entscheidende Argument, um den fingierten Schweizer Korrespondenten zu überzeugen. Er schreibt diesem am Schluss seiner Verteidigung der ›wohlgeordneten Monarchie‹: Sie sind mit meiner Schilderung einer wohlgeordneten Monarchie zufrieden. Das freuet mich desto mehr, m. th. Fr. da sie mir so leicht geworden ist; denn sie ist bloß die getreue Kopie von dem, was ich in meinem Vaterlande vor Augen habe.341
Eberhards rhetorischer Eifer geht sogar soweit, dass er sich bemüht, auch das darstellungslogische Problem zu beseitigen, das sich mit dieser Argumentations-
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Eberhard (1793/94), Heft 2 (1794), 95. Ebd., 134. Eberhard (1798), 409. Ebd., 405.
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strategie gegenüber dem fingierten Briefpartner zwangsläufig ergibt, denn dieser hat die preußische Monarchie in der Schweiz ja nicht vor Augen. Sein letzter Brief schließt daher mit der Aufforderung: Wundern Sie sich nun nicht, daß es in einer solchen Monarchie glückliche und patriotische Bürger giebt, die eben so gern für ihren König als für ihre Verfassung alles aufopfern, und um sich davon zu überzeugen, wenden Sie Ihre Augen auf das nahe Neufchatel.342
Das in der Westschweiz gelegene und zu Preußen gehörige Fürstentum Neuchâtel blieb 1798 von einem Anschluss an die ›Helvetische Republik‹ verschont, da bereits der Frieden von Basel von 1795 dessen Verbleib im Besitz Preußens geregelt hatte. Für Eberhard dient die preußische Enklave Neuchâtel mithin als sichtbares Zeichen der ›wohlgeordneten Monarchie‹, auf das er seinen Schweizer Briefpartner mitten in den politischen Wirren zwischen den ersten beiden Koalitionskriegen verweist. Gerade Eberhards Theorie des aufgeklärten Absolutismus und ihre an der vorfindlichen Wirklichkeit orientierte Argumentation dürfte Hardenberg daher einen wesentlichen Anstoß geliefert haben, diese Mischung aus Staatswissenschaft, Panegyrik und popularphilosophischer Anschaulichkeit und die Vermischung von Relativem und Normativem, von Sein und Sollen, im Rahmen einer frühromantischen Glaubenskonstruktion zu imitieren. Dies geht bei ihm allerdings mit der Absicht einher, die ›falschen‹ Voraussetzungen des aufgeklärten Absolutismus zu eliminieren. Auch dabei fungiert Eberhards Beitrag als wichtiger Bezugspunkt, wie Hardenbergs Gebrauch genuin Eberhardscher Argumente demonstriert. Am markantesten ist seine Adaption von Eberhards Argumentkomplex zur Erbmonarchie. In GL 15 schreibt Novalis: »Übrigens ist auch ein geborner König besser, als ein gemachter. Der beste Mensch wird eine solche Erhebung nicht ohne Alteration ertragen können. Wer so geboren ist, dem schwindelt nicht, den überreizt auch eine solche Lage nicht. Und ist denn am Ende nicht die Geburt die primitive Wahl?« (II,487f.:15). Eberhards Aufsatz diente für diese, heutige Leser irritierende Behauptung als Stichwortgeber. Darin heißt es: Man hat sich das schöne Bild geträumt […], daß die Vertheilung der höchsten Macht unter Mehrere, […] ein größeres Bestreben nach Popularität zur Folge haben werde. Die Erfahrung hat diese so anziehende Erwartung noch nicht wahr gemacht. […] Indeß sieht man einen geliebten Monarchen mitten unter seinem Volke ohne Pomp und Zurüstung mit Simplicität und wahrem Wohlwollen einhergehen, jedem ohne abschreckendes Ceremoniel zugänglich seyn, und sich mit der einnehmenden Popularität zu zeigen, die desto mehr die Herzen gewinnt, je erhabener sein Rang ist. Das ist in der menschlichen Natur gegründet. Wen sogleich seine Geburt über Andere erhoben hat, der besitzt den höchsten Rang ohne Genuß und sieht sich darinn ohne Stolz.343
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Ebd., 414. Ebd., 401.
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
Eberhards Schilderung des ›geliebten Monarchen‹, der sich seinem Volk ›ohne Pomp und Zurüstung mit Simplicität und wahrem Wohlwollen‹ und ›ohne abschreckendes Ceremoniel‹ zeigt, hat offenbar die Vorlage für Novalis’ Skizze des Königsamtes in GL 17 und für den Begriff der ›natürlichen Etiquette‹ abgegeben. Gleiches gilt für die einschlägigen Formulierungen zum König in GL 18: Für Eberhard belegt die militärische Niederlage der Schweiz, dass Regierungsformen, in denen ein Souverän fehlt, in existentiellen Entscheidungssituationen wie der Landesverteidigung immer unterliegen: Anders kann der Natur der Dinge nach das Schicksal des besten politischen Körpers nicht seyn, der aus lauter verbündeten aber unabhängigen Staaten besteht, die keinen Mittelpunkt der Macht in sich haben, durch den sie zusammengehalten werden. Zerstreute Kräfte, und wären sie auch noch so stark, sind so gut wie gar keine; denn sie wirken nicht zugleich und nach einerley Richtung.344
Seine Thesen zur Erbmonarchie finden einen direkten Niederschlag in Glauben und Liebe, nämlich in der Behauptung: »Die Monarchie ist deswegen ächtes System, weil sie an einen absoluten Mittelpunct geknüpft ist; an ein Wesen, was zur Menschheit, aber nicht zum Staate gehört« (II,489:18). Allerdings – und das entlarvt Hardenbergs romantische Adaption dieses Konstrukts – basiert auch Eberhards Modell auf dem in der frühneuzeitlichen Staatslehre tradierten Nexus zwischen Selbstliebe und Geselligkeit. In der ›wohlgeordneten Monarchie‹ wird nicht nur die Kopplung von Eigen- und Staatsinteresse mithilfe des naturrechtlichen Selbstliebekonzepts bewerkstelligt, sondern auch die Bindung des Volkes an die regierende Oberschicht. Der Hallenser Popularphilosoph hat Hardenberg für dessen Kritik an genau diesem »alten berühmten System« (II,494:36) einer Verbindung von Eigennutz und Geselligkeit eine markante Vorlage geliefert, denn in seinem Beitrag in den Jahrbüchern verteidigt er seine Überzeugung von der moralischen Erziehungswirkung der höheren Stände: Eine allgemeine Verwilderung ist also die sichtbare Folge der Vertilgung der höhern Stände aus der gesellschaftlichen Stufenleiter bis auf die letzte Staffel derselben. […] Ich trage gar keine Bedenken zu behaupten, daß man ihnen einen Theil der Verbesserung der Sitten und der Vervollkommnung des geselligen Lebens verdankt. Ihr höherer Rang gebietet ihnen die Nothwendigkeit eines größern Anstandes, eines Tones von Würde, Verbindlichkeit und Leutseligkeit. Dieser erhält die Niedrigern nicht allein in den Gränzen der Achtung, sie fesselt nicht allein die Ausbrüche der Rohigkeit, sondern sie erregt auch den Geist der Nachahmung und durch diesen verbreitet sich Anmuth und Eleganz über das ganze gesellige Leben. Ich bin sogar überzeugt, daß die Befriedigung der Eigenliebe und der Eitelkeit durch die völlige Ebenung leiden müsse, dieser Genuß, der nicht ohne seine Süßigkeiten ist, zu dem Umgange der Höhern zugelassen zu werden. Denn auch dieser hat, wie Alles, seine Guten Seiten. Er hat, was auch eine vielleicht zu strenge Moral dagegen sagen mag, doch wenigstens die vortheilhafte Wirkung, daß diese Glücklichen von den Höhern lernen können, indem sie ihre feinern Sitten annehmen.345 344 345
Ebd., 398. Ebd., 411f.
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Die Eigenliebe dient bei Eberhard, ganz im Sinne der frühneuzeitlichen Staatslehre, nicht nur zur einseitigen Bindung der Untertanen an den Staat, sondern geradezu als Grundbedingung von Geselligkeit, die er als vollkommenes Gleichgewicht eigennütziger Interessen versteht. Genau diese selbstrechtfertigende Konstruktion des vermeintlich aufgeklärten Absolutismus gerät ins Fadenkreuz von Hardenbergs Kritik. Denkbar nahe liegt es daher, dass vor allem Eberhards Beitrag in den Jahrbüchern, der diesen Zusammenhang zwischen dem aufgeklärten Absolutismus, den zeitgenössischen Geselligkeitsvorstellungen und dem naturrechtlichen Eigennutzmodell anschaulich darstellt, Hardenberg zu seiner bissigen Kritik in GL 36 herausgefordert hat: Das Prinzip des alten berühmten Systems ist, jeden durch Eigennutz an den Staat zu binden. Die klugen Politiker hatten das Ideal eines Staats vor sich, wo das Interesse des Staats, eigennützig, wie das Interesse der Unterthanen […] wäre, daß beide einander wechselseitig beförderten. […] Indeß ist durch diese förmliche Aufnahme des gemeinen Egoismus, als Prinzip, ein ungeheurer Schade geschehn und der Keim der Revolution unserer Tage liegt nirgends, als hier.346
Novalis’ Alternative zum neuzeitlichen Staat, der als Regulator von Interessenkonflikten fungiert, ist keine konservative Ideologie, sondern die Ausrichtung des Lebens an regulativen moralischen Ideen wie der ›gesundesten Constitution‹ und dem ›besseren Selbst‹: Weil das ›bessere Selbst‹ sich und den Anderen als unhintergehbare Dualität von Gefühl und Vernunft versteht, trägt es »[u]neigennützige Liebe im Herzen und ihre Maxime im Kopf, [denn] das ist die alleinige Basis aller 346
II,494f.:36 – Die Forschung zu Glauben und Liebe ist geteilter Ansicht darüber, was genau Hardenberg mit dem ›alten berühmten System‹ meint: Hans Wolfgang Kuhn bezieht die Bemerkung auf den Merkantilismus (Kuhn [1961], 187), Rolf-Peter Janz auf den Liberalismus nach Adam Smith (Janz [1973], 115) und Ulrich Stadler auf den Physiokratismus (Stadler [1980], 325, hier Anm. 311, und 327, hier Anm. 324). Allerdings sind diese Assoziationen wohl zu eingeschränkt, eher ist denkbar, dass Hardenberg sich hier allgemein auf die von Pufendorf stammende Idee des ›wohlverstandenen Interesses‹ bezieht, die Eingang in den Physiokratismus, Merkantilismus sowie die aufklärerische Moraldidaktik findet und im späten 18. Jahrhundert von der liberalen Wirtschaftstheorie beerbt wird. In diesem globalen Anspielungsrahmen verstehen auch Klaus Peter (Peter [1980], 85ff.) und Hermann Kurzke (Kurzke [1983a], 140ff.) die Passage. – Im Zusammenhang mit seiner Kritik am ›alten berühmten System‹ gebraucht Novalis in GL 36 sogar einen naturrechtlichen Fachterminus, nämlich den Imbecillitas-Begriff: »Wie herrlich wär es, wenn der jetzige König sich wahrhaft überzeugte, daß man auf diesem Wege nur das flüchtige Glück eines Spielers machen könne, das von einer so veränderlichen Größe bestimmt wird, als die Imbecillität, und der Mangel an Routine und Finesse seiner Mitspieler« (II,495:36). Die Verwendung des Imbecillitas-Begriffs in diesem Kontext weist darauf hin, dass GL 36 sich nicht gegen eine bestimmte sozialökonomische Theorie richtet, sondern als Anspielung auf das frühneuzeitliche Naturrecht und sein Weiterwirken in den aufklärerischen Sittenlehren und in der Spätaufklärungsanthropologie zu lesen ist. Immerhin gehört die ›imbecillitas‹, also die angeborene Bedürftigkeit und Schwachheit des Menschen, neben der ›socialitas‹, zu den Grundpfeilern der Pufendorfschen Staatslehre (vgl. Vollhardt [2001a], 68–76). Dass der staatswissenschaftliche Laie Hardenberg sich hier tatsächlich über diese naturrechtliche Dimension des Imbecillitas-Begriffs im Klaren ist, darf allerdings eher bezweifelt werden.
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wahrhaften, unzertrennlichen Verbindung, und was ist die Staatsverbindung anders, als eine Ehe?« (II,495:36). Auf diese ambivalente Einstellung zum Gemeinwohlgedanken des aufgeklärten Absolutismus lässt sich auch die in GL 27 geforderte Abschaffung der Prostitution zurückführen: Offenbar richtet sich Novalis’ Kritik nicht vornehmlich gegen Prostitution generell, sondern gegen die in den Zeitschriften der 1780er und 90er Jahre heftig diskutierte Idee ihrer staatlichen Kontrolle bzw. ihrer Integration in den Wohlfahrtsstaat. Die Prostitution war in Berlin unter der Regierung von Friedrich Wilhelm II. stark angewachsen, was eine öffentliche Debatte um den moralischen Zustand des nachfriderizianischen Preußens auslöste. Nahezu alle Reiseberichte über Berlin widmen sich seit den 1780er Jahren auch dem Aspekt der Prostitution, wobei sich in den entsprechenden Stellungnahmen eine aufklärerisch-engagierte Kritik am Bordellwesen und die moralische Selbstrechtfertigung der männlichen Reiseberichtsautoren als Nutznießer der Prostitution widersprüchlich miteinander vermischen. Grundtenor der publizistischen Auseinandersetzung mit den Freudenhäusern ist daher nicht die Forderung nach ihrer Abschaffung, sondern nach einer sozialverträglichen Reform des Bordellwesens, bei der der Staat für den Kampf gegen die Verführung zur Prostitution in die Pflicht genommen werden soll.347 Diese halbherzigen Versuche, eine reformierte Prostitution in die aufklärerische Vorstellung von Gemeinwohl zu integrieren, kritisiert Novalis, da auch ein staatlich kontrolliertes Bordellwesen erzwungene Prostitution und damit die »tiefste Herabwürdigung [des weiblichen] Geschlechts« nicht verhindern könne: »Die gepriesene Sicherheit, die dadurch beabsichtigt wird, ist eine sonderbare Begünstigung der Brutalität« (II,491:27), heißt es in GL 27 pointiert. Die Äußerung ergibt überhaupt nur vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Prostitutionsdebatte Sinn. Hardenbergs Plädoyer für eine gänzliche Abschaffung des Bordellwesens richtet sich also in erster Linie gegen die aufgeklärten Versuche, die Freudenhäuser mit dem zweifelhaften Argument der öffentlichen Sicherheit einer stärkeren staatlichen Kontrolle zu unterwerfen, denn dies würde die Prostitution staatlich sanktionieren und den Staat damit als Institution moralischer Erziehung sowie als Symbol des idealischen Ichs disqualifizieren. Der realpolitische Reformwunsch besitzt also auch eine transzendentalpoetische Bedeutungsdimension. Novalis’ Prostitutionskritik wird von dem Anspruch getragen, die Aporien des aufklärerischen Gemeinwohlgedankens und der Theorie eines aufgeklärten Absolutismus hervorzukehren, zugleich aber die darin enthaltene Idee zu betonen und sie transzendentalpoetisch im Bild des moralisch souveränen Staates zu repräsentieren. Mit welcher Motivation aber imitiert Hardenberg ausgerechnet die Argumentationsmuster der frühneuzeitlichen Staatslehre in der Gestalt einer Theorie des aufgeklärten Absolutismus? Was Hardenberg an Eberhards Erbmonarchie-Kon-
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Vgl. Albert (1999).
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zeption interessiert haben dürfte, ist ihre besondere Symboleignung, die sich aus der Unabhängigkeit des Erbmonarchen ergibt. Dessen Autonomie beruht Novalis zufolge jedoch nur auf dem »Glauben an einen höhergebornen Menschen, […] an ein Wesen, was zur Menschheit, aber nicht zum Staate gehört« (II,489:18). Der aufgeklärte Absolutismus entwirft die Erbmonarchie und ihre moralisierende Wirkung demnach selbst nur als eine Glaubenskonstruktion, gibt diese jedoch als ›wahrhafte Repräsentation‹, als »getreue Kopie«348 der preußischen Wirklichkeit aus. Als transzendentalpoetisches »Erziehungsmittel« (II,489:18) taugt sie dagegen nur dann, wenn Bild und Idee nicht verwechselt werden. Ausdrücklich warnt Novalis vor einer solchen ›identisierenden‹ Fehllektüre seiner Fragmentsammlung: »Wer hier mit seinen historischen Erfahrungen angezogen kömmt, weiß gar nicht, wovon ich rede, und auf welchem Standpunct ich rede« (II,488:15). Dementgegen versucht die Theorie des aufgeklärten Absolutismus aber gerade der historischen Wirklichkeit einen politischen Entwurf aufzuprägen. Deshalb ist sie auch gezwungen, anthropologische Vorbehalte zu berücksichtigen, und etwa der menschlichen Selbstbezogenheit als ›wohlgeordnete Selbstliebe‹ eine politische und moralische Funktion zuzuweisen. Nach Hardenberg darf die historische Erfahrung dagegen gerade nicht zum Bezugspunkt politischer und moralischer Ideen dienen, sondern nur als Bildspender, als ›Gedankenreiz‹, der die Differenz von Wirklichkeit und Idee bewusst macht und eine vorläufige Versinnlichung des sich immer wieder entziehenden Absoluten liefert. Hardenbergs Entscheidung für die preußische Monarchie ist indes keineswegs beliebig und besitzt nicht nur eine transzendentalpoetische, sondern auch eine ›politische‹ Bedeutung, die sich direkt an die transzendentalpoetische anschließt: Mit der Adaption bestimmter Argumentschleifen aus Eberhards Beitrag unterstreicht er nachdrücklich, dass er den Keim seines Erziehungsgedankens schon im aufgeklärten Absolutismus vorgebildet sieht, allerdings unter der falschen ethischen Voraussetzung einer ›wohlgeordneten Selbstliebe‹, die sich des christlichen Caritas-Gedankens nur bedient, um die sittliche und politische Funktionalisierung menschlicher Selbstbezogenheit zu rechtfertigen, und nicht als Idee, um diese zu überwinden. Mit der transzendentalpoetischen Adaption des panegyrischen Bildes vom preußischen Königspaar führt er daher die Fundamentalaporie eines sich aufgeklärt gebenden Absolutismus vor Augen, wie Eberhard ihn konzipiert. Diese besteht darin, dass der Gedanke sittlicher Erziehung selbstrechtfertigend zum Staatszweck erhoben, dabei aber verschwiegen wird, dass eine fortschreitende sittliche Vervollkommnung der Staatsbürger den Staat letzten Endes überflüssig machen müsste.349 Novalis bringt diese Aporie zum Ausdruck, wenn 348 349
Eberhard (1798), 405. Zu dieser für den aufgeklärten Absolutismus charakteristischen Aporie in Eberhards politischer Theorie vgl. Vollhardt (1991), 394f. – Die These einer dem aufgeklärten Absolutismus inhärenten Widerspruchsstruktur geht bekanntermaßen auf Aretin (1974) zurück. Aretin geht davon aus, dass Aufklärung und Absolutismus sich in letzter Konsequenz ausschließen: »Das Bündnis zwischen beiden war daher ein Bünd-
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er postuliert: »Alle Menschen sollen thronfähig werden. Das Erziehungsmittel zu diesem fernen Ziel ist ein König« (II,489:18). Hardenbergs Insistieren auf einer Veröffentlichung in den Jahrbüchern – und nicht etwa im Athenaeum – unterstreicht daher sein eigenwilliges Anliegen: Es geht ihm mit der Fragmentsammlung offenbar darum, die Theorie des aufgeklärten Absolutismus durch eine Romantisierung ihrer Argumente zu ›reformieren‹ und ihre Aporien aufzudecken. Dies erklärt auch, warum in der Fragmentsammlung eine exoterische, also politisch konkrete und eine esoterische, also eine auf die frühromantische Ethik bezogene Sinnschicht einander überlagern. Wie sehr Hardenberg dabei bemüht war, besonders auf Eberhards Artikel zu reagieren, zeigen auch die ‹Politischen Aphorismen›. Hier versucht Novalis in einer diskursiven, sich jeder ›Tropen und Räthselsprache‹ enthaltenden Argumentation zu demonstrieren, dass seine Glaubenskonstruktion einer ›ächten Monarchie‹ mit der Theorie des aufgeklärten Absolutismus durchaus kompatibel wäre, sobald man letztere von ihren ethisch-bedenklichen Voraussetzungen befreit. In Anlehnung an Eberhards Beitrag in den Jahrbüchern gestaltet er die Schlussfragmente der ‹Politischen Aphorismen› als einen Dialog, bei dem ein Sprecher A einem Sprecher B im anschaulichen Ton der Popularphilosophie die Vorteile der Monarchie auseinandersetzt.350 Mit der Dialogform zwischen einem Sprecher A, der als Stimmführer der Monarchie fungiert, und einem Sprecher B, der dementgegen die »Vortrefflichkeit der repräsentativen Democratie« (II,502:66) im Blick hat, imitiert der Schluss von Glauben und Liebe das Argumentationsmuster von Eberhards Aufsatz, nämlich den Briefdialog zwischen dem Befürworter der ›wohlgeordneten Monarchie‹ und dem in der Schweiz lebenden Verfechter des Republikanismus. Wie bei Eberhard ist auch Hardenbergs Dialog so inszeniert, dass aus der Textperspektive Sprecher A, der die Monarchie befürwortet, die stichhaltigeren Argumente vorbringt, die Debatte also für sich entscheidet. Positiv an der Theorie des aufgeklärten Absolutismus ist für Hardenberg offenkundig, dass sie von der Idee eines vollkommen besonnenen und vollkommen sittlichen, gesetzgebenden Individuums und damit von der Idee einer moralischen
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nis auf Zeit, das so nur in einer bestimmten Situation möglich war. Der Aufgeklärte Absolutismus trug daher im Gegensatz zum Absolutismus und zur konstitutionellen Monarchie den Keim der Überwindung in sich« (Ebd., 43). So plausibel Aretins These auch ist, so setzt sie doch einige problematische Annahmen über politischen Wandel voraus, die inzwischen von Gestrich (2002) kritisch hinterfragt worden sind. Gestrich widerspricht insbesondere Aretins Behauptung, dass der dem aufgeklärten Absolutismus inhärente Widerspruch als Agens des historischen Wandels zu verstehen sei. Ob Widersprüche in politisch-gesellschaftlichen Systemen zum Faktor von Instabilität und Wandel werden, hat Gestrich zufolge hauptsächlich soziale oder mentalitätsgeschichtliche Gründe (Ebd., 285). Bei der Theorie des aufgeklärten Absolutismus handelt es sich um ein Phänomen, das sich dem politischen Denken der Frühaufklärung verdankt und auch auf deren anthropologischen Prämissen fußt. Für die junge Generation der nach 1770 geborenen und transzendentalphilosophisch vorgebildeten Intellektuellen waren diese Prämissen nicht mehr ohne weiteres akzeptabel. Vgl. Kurzke (1983a), 185–191.
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Legislative getragen wird. Negativ ist dagegen, dass die Theorie des aufgeklärten Absolutismus behauptet, dieses Ideal realisiere sich in der historischen Gestalt absolutistischer Monarchen, nur um diese damit als den staatlichen »Mittelpunkt der Macht«351 legitimieren zu können. Da Glauben und Liebe mit der Imitation des aufgeklärten Absolutismus freilich selbst eine Verwechslung von Erscheinung und Idee provoziert, kann gerade die Rolle der konjunktivischen Wünsche, die diese Verwechslung relativieren, kaum überschätzt werden. Einer der skurrilsten Reformwünsche wird in GL 38 entwickelt, mit dem Novalis seine Imitation des aufgeklärten Absolutismus ironisch auf die Spitze treibt: Er wünscht sich vom König, dieser möge auf seine »gelehrte[n] Academien« zurückgreifen und sich von ihnen mit »Auszüge[n] aus den vorzüglichsten Büchern« (II,497:38) versorgen lassen. Hier wird die aufklärerische Vorstellung zitiert, dass die Regierung in den Händen der Weisesten liegen solle. Bezeichnenderweise findet sich gerade in Eberhards Beitrag eine Reihe von entsprechenden aufklärerischen Standardargumenten.352 Novalis greift diese Überlegungen auf und behauptet, dass es dort »keine Monarchie mehr [gebe,] wo der König und die Intelligenz des Staats nicht mehr identisch sind« (II,492:28). Den Nutzen einer Umwandlung der staatlichen Akademien zu Exzerpieranstalten des Königs umreißt er wie folgt: Der Mühe einer ungeheuren Lektüre überhoben, genösse [der König] die Früchte der europäischen Studien im Extracte, und würde in kurzem durch fleißiges Überdenken dieses Geläuterten und inspissirten Stoffs neue mächtige Kräfte seines Geistes hervorgebrochen, und sich in einem reinern Elemente, auf der Höhe des Zeitalters erblicken. Wie divinatorisch würde sein Blick, wie geschärft sein Urtheil, wie erhaben seine Gesinnung werden! (II,497:38)
Der Reformwunsch reaktiviert die renaissancehumanistische Vorstellungstradition eines maximal belesenen Individuums, das als einziges die Flut des produzierten Wissens noch überschaut und daher als Orientierungszentrum für alle anderen fungiert, deren Wissen nur ›Stückwerk‹ ist.353 Im Gesamtzusammenhang der Fragmentsammlung stellt GL 38 klar, dass die Unterstellung des aufgeklärten Absolutismus, der Erbmonarch qualifiziere sich wegen seiner dynastischen Verklammerung mit dem Staat zum idealen Gesetzgeber, ebenso eine Verwechslung von Wirklichkeit und Idee impliziert, wie die republikanische Hoffnung, jeder könne sein eigener Gesetzgeber sein (vgl. GL 64). Das ›geschärfte Urteil‹ eines idealen Gesetzgebers, der sowohl sich selbst als auch der ganzen Menschheit Gesetze geben könnte, wird hier an die Menschenmögliches übersteigende Kenntnis 351 352
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Eberhard (1798), 398. »Welche Regierung ist aber eine wohlgeordnete? […] diejenige, worin die besten, das ist, die einsichtsvollesten, die aufgeklärtesten, die verdienstvollesten Männer, Männer von der geprüftesten Rechtschaffenheit und Amtstreue die Geschäfte der Regierung verwalten« (ebd., 403). – »Nun ist aber dadurch allein die Monarchie eine wohlgeordnete, daß die Gesetze der Weisesten und Besten darin Alles sind« (ebd., 406). Vgl. Werle (2007), 65f.
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des »vormaligen und gegenwärtigen Zustand[s] der Litteratur überhaupt« gebunden, an die Kenntnis von den »wissenswürdigsten Vorfällen in allem, was den Menschen, als solchen, interessirt«, an die Kenntnis derjenigen »Produkte der schönen Kunst, die eigne Betrachtung und Genießung verdienten« (II,497:38) etc. Eine ›vollständige Selbst- und Weltkenntniß‹, im Falle derer erst das ›moralische Wesen‹ an die Stelle des ›moralischen Gesetzes‹ treten würde (vgl. AB 250), liegt also gar nicht im Bereich des Möglichen, weil es die Erkenntniskräfte des einzelnen Individuums übersteigt, das ganze Wissen seiner Epoche zu erfassen. Selbst mit den institutionellen Möglichkeiten, die einem König zur Verfügung stehen, ist es allerhöchstens möglich, sich das gesamte Wissen »im Extracte« (II,497:38) anzueignen. Der Wunsch, die Akademien mögen dem König Abstracts der gesamten zeitgenössischen Literatur anfertigen, lässt unweigerlich an Hardenbergs eigene Lektürepraxis des unentwegten Exzerpierens denken. Zudem erinnert GL 38 an das enzyklopädische Projekt, das er mit dem Allgemeinen Brouillon verfolgt und dessen Quintessenz darin besteht, das Absolute, die ›wahre Einheit der Naturlehre‹ (vgl. II,669), negativ zu erfahren, d. h. ihren enzyklopädisch nicht erfassbaren Gesamtzusammenhang durch die Tätigkeit der spekulativen Einbildungskraft, durch die Konstruktion von Analogien, symbolisch erscheinen zu lassen. Der eigentliche Lerneffekt für den König besteht also nicht in der Wissensvermehrung, die unendlich fortsetzbar wäre, sondern in einer Erfahrung der Unendlichkeit des Wissens, denn selbst dem König, dem ›Mittelpunkt der Macht‹, ist die Ganzheit des Wissens nur ›im Extracte‹ zugänglich. Der ›divinatorische Blick‹, das ›geschärfte Urteil‹ und die ›erhabene Gesinnung‹, die Novalis am Schluss von GL 38 als Bildungsziele dieses königlichen Lernprozesses bezeichnet, verdanken sich nicht einem bloßen Wissensvorsprung, sondern einer Unendlichkeitserfahrung, der bloßen Ahnung von der Totalität der Natur, die die Wissensextrakte dem König vermitteln: Erst »durch fleißiges Überdenken dieses geläuterten und inspissierten Stoffs [würden nämlich] neue mächtige Kräfte seines Geistes hervorgebrochen« (II,497:38). Vom Schluss der Fragmentsammlung her wird einsichtig, dass mit dieser neuen Geisteskraft, mit der ›erhabenen Gesinnung‹ des Königs nicht maximales Wissen oder Weisheit gemeint ist, wie sie etwa die Theorie des aufgeklärten Absolutismus mit dem idealen Monarchen verbindet, sondern die »erhabene Ueberzeugung von der Relativität jeder positiven Form« (II,503:68), durch die sich das frühromantische ›bessere Selbst‹ auszeichnet. Die echte ›Thronfähigkeit‹ verdankt sich also nicht der erhabenen Geburt, sondern der ›erhabenen‹ Wirkung von Unendlichkeitserfahrungen, die gegen die Absolutsetzung des Bestehenden, gegen einen monistischen Normativismus des Relativen immunisieren. GL 38 ist charakteristisch für die Art und Weise, wie in Glauben und Liebe aufgeklärte Ideen integriert und zugleich transzendentalpoetisch umfunktioniert werden: Den aufgeklärten Gedanken, dass die Regierung in den Händen der Besten und Weisesten liegen solle, greift Novalis auf, überträgt ihn aber nicht wie
5. Ergebnisthesen
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Eberhard auf die Wirklichkeit einer realexistierenden Monarchie, sondern formuliert das Ideal des allseits gebildeten, weisen Individuums als Gegenstand eines konjunktivischen Wunsches. Der Vorschlag, den er zur Annäherung an dieses Ideal macht, zielt zudem nicht auf die Konzentration des gesamten Wissens in den Händen des Königs ab, sondern läuft darauf hinaus, dem König ›im Extracte‹ exemplarisch eine Ahnung von der Unendlichkeit oder Totalität der Natur und Kultur zu vermitteln. Mit dem vergeblichen Versuch, das gesamte Wissen ›im Extracte‹ zu erfassen, erinnert Novalis an den reinen Ideenstatus eines weisen Gesetzgebers auf dem Thron. Dies soll verhindern, dass der König sich als legislative Instanz nicht mehr hinterfragt, weil er Idee und Wirklichkeit verwechselt und sich selbst als ›Muster sittlicher Vollkommenheit‹ begreift. Wie der König kann sich auch jeder Einzelne nur durch die ethische Kraft von Unendlichkeitserfahrungen »approximando« (III,413:745) der in ihm ›vererzten‹ ›Thronfähigkeit‹ und ›gesundesten Constitution‹, also dem Vermögen sein eigener Gesetzgeber zu sein, nähern, weil er nur mit dem Gedanken der Unendlichkeit im Hinterkopf sein ›wirkliches Ich‹ nicht irrtümlich für ein absolutes hält.
5.
Ergebnisthesen
Die Überlegungen zu Novalis’ romantischer Transformation der literarischen Utopie lassen sich in folgenden Thesen bündeln: I. Legt man den in Abschnitt I.1.2 erarbeiteten Katalog von Gattungsmerkmalen zugrunde, dann lässt sich auch Glauben und Liebe als literarische Utopie lesen: In der Fragmentsammlung wird eine öffentliche Ordnung im Rahmen einer literarischen Fiktion dargestellt und der Entwurf dieses utopischen Gemeinwesens erfolgt über die Setzung eines von der Erfahrungswirklichkeit abweichenden, hypothetischen Axioms. II. Um Glauben und Liebe als fiktionale Rede verstehen zu können, muss man sein Augenmerk auf die besondere Art des Sprechens richten, die Hardenberg mithilfe der fiktiven Aussageinstanz ›Novalis‹ realisiert. ›Novalis‹ dient als ›Maske‹ frühromantischer Autorindividualität und demonstriert als fiktives Sprecher-Ich den Modus romantischen Sehens. Die besondere Art des Sprechens basiert auf der Wahl eines hypothetischen Standpunkts, der am Schluss der Vorrede als der Ort einer Zeitenwende inszeniert wird. Aus dieser romantischen Perspektive heraus stilisiert Novalis den Regierungsantritt Friedrich Wilhelms III. und seiner Frau Luise zum Kairos, den es zu ergreifen gilt. Entscheidend ist dabei, dass Novalis nicht von Berlin aus spricht, sondern von einem unspezifischen Ort außerhalb Preußens. Folgt man den Textsignalen der Vorrede, dann geht es nicht darum, den Leser zum Glauben an das Bild des neupreußischen Staats zu stimulieren, sondern zur Einnahme jenes romantischen Sprecherstandpunkts. In Glauben und Liebe wird die Praxis des Romantisierens vorgeführt und der Leser ist aufgefordert, das ro-
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mantische Sehen nachzuahmen, sich selbst die ›Maske‹ eines frühromantischen Autors aufzusetzen. Das von Hardenberg entwickelte Romantisierungsverfahren ermöglicht es, augenzwinkernd die vorfindliche Wirklichkeit zum utopischen Entwurf zu erklären, denn Romantisieren meint eine Vermittlung und eine Differenzierung zwischen der vorfindlichen Wirklichkeit, der Konstruktion von Wirklichkeit als utopischem Entwurf und der damit repräsentierten Idee, die zugleich ent- und verhüllt wird. Statt der wahrscheinlichen Illusion eines utopischen Gegenbildes kreiert Novalis das Paradox eines utopischen Abbildes, das sich einem andeutend-verfremdenden Umgang mit der vorfindlichen Wirklichkeit, der »Variations Operation« (II,554:125) des Romantisierens verdankt. III. Die provozierende Stilisierung eines Wirklichkeitsausschnittes zum utopischen Entwurf, die paradoxe Überlagerung von Gegenbild und Abbild, modifiziert die tradierte Gattungsfunktion der literarischen Utopie erheblich: In der frühneuzeitlichen Utopia-Tradition wird dem Leser über die Erzählung oder Beschreibung eines utopischen Staates ein handlungsorientierendes Bild von einer Norm menschlicher Tugendhaftigkeit vermittelt. Glauben und Liebe deutet die Konturen eines utopischen Gemeinwesens dagegen nur vage an, indem ausgewählte Elemente der zeitgenössischen Erfahrungswirklichkeit, wie die Prinzessinnengruppe und die preußische Monarchie, mithilfe einer verfremdenden Art poetischen Sprechens zum Entwurf einer öffentlichen Ordnung montiert werden. Damit wird versucht, im Leser das Vermögen zum eigenständigen, transzendentalphilosophisch disziplinierten Verbinden von Erfahrungswirklichkeit und Idee zu wecken. Er soll lernen, Phänomene seiner Erfahrungs- und Alltagswirklichkeit als symbolische Erinnerungsstützen an sein ›besseres Selbst‹ zu gebrauchen, indem er sich romantisierend die unüberbrückbare Distanz zwischen Idee und Erscheinung bewusst macht. Im Leser würden so die tätigkeitsfördernde Energie romantischer Sehnsucht und das ethische Potential des Unendlichkeitsgedankens geweckt werden. Novalis’ Glauben und Liebe kreiert also eine originäre Umsetzung für die Synthese zwischen literarischer Utopie und Vervollkommnungsidee, die das Darstellungsproblem der aufklärerischen Utopien von Veiras bis Mercier umgeht, weil hier gerade kein von der Erfahrungswirklichkeit räumlich oder zeitlich isolierter Vollkommenheitszustand dargestellt wird (vgl. Anm. 296). IV. Diese esoterische, auf die frühromantische ›Ethik der Einbildungskraft‹ bezogene Bedeutungsdimension der Fragmentsammlung wird dadurch erzeugt, dass die Informationsvergabe über den entworfenen neupreußischen Staat abwechselnd in Form indikativischer Behauptungen und konjunktivischer Wünsche erfolgt: Die indikativischen Aussagen über König, Königin und Hof behaupten einen Zustand als gegenwärtig, den es erst noch herzustellen gilt. Einen andeutenden Einblick in die Lebenstotalität des neupreußischen Staates vermitteln aber nur die konjunktivischen Wünsche, deren
5. Ergebnisthesen
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grammatischer Modus zugleich dessen Kontrafaktizität ins Bewusstsein rückt. Die konjunktivischen Wünsche demonstrieren einerseits, wie die in der königlichen Ehe repräsentierte Idee mit dem ›gewöhnlichen Leben‹ verbunden werden kann. Anderseits fordert ihr grammatischer Modus, der optativische Konjunktiv, den Leser symbolisch dazu auf, die Verbindung von vollständiger Individualität und Alltagswirklichkeit mithilfe der Einbildungskraft selbst vorzunehmen. Das Aufstellen von Bildern der Königin in jedem Haushalt wäre dann nur äußerlich ein Akt der Luisen-Verehrung, eigentlich aber eine Form des Romantisierens, eine Erinnerung an die unendliche Selbstkonstruktion, ein ›ewiger Selbstbeweis‹. Der neupreußische Staat veranschaulicht keine utopische Norm sozialen Zusammenlebens. Vielmehr fungieren das Monarchenpaar als potenzierte ›Thronfähigkeit‹ der Staatsbürger und die Wünsche nach einer Individualisierung des Staates in der alltäglichen Lebenswelt zusammen als komplexes Symbol für die romantische Idee eines ›besseren Selbst‹ als unendlicher ›Selbstvermittlung‹: Dies meint, die Idee des moralisch und frei handelnden ›idealischen Ichs‹ in immer neue transzendentalpoetische Bilder wie das der harmonischen Ehe zu projizieren und damit in sich selbst diese Idee und die wärmende Sehnsucht nach ihrer Erfüllung wach zu halten, zugleich aber zwischen Erscheinung und kontrafaktischer Idee zu unterscheiden, sich also im Wechsel von Potenzierung und Logarithmisierung als ›unendliche Realisierung des Seyns‹ zu erfahren. Auch mit der Raumdeixis von Glauben und Liebe hat Hardenberg eine raffinierte Realisierung für diese Gleichzeitigkeit von Selbstvermittlung und Selbstdistanz kreiert. Ihr verdankt sich die ebenso eigentümliche wie charakteristische, Abbild und Gegenbild, Vervollkommnung und Vollkommenheit überblendende Art des Sprechens, nämlich das paradoxe Reden von Wünschen, die gerade in Erfüllung gehen (vgl. GL 35). Über das Nebeneinander indikativisch-abstrakter Behauptungen und konjunktivisch-konkreter Wünsche, über die widersprüchliche Kombination einer behaupteten Gegenwart des neupreußischen Staates und seiner gleichzeitigen Naherwartung offeriert die Fragmentsammlung ihren Lesern ein Symbol für das romantische Bildungsziel der ›Ruhe in der allumfassenden Tätigkeit‹ (III,298:326). Der esoterische oder transzendentalpoetische Sinn des utopischen neupreußischen Staates besteht also in einem Bild dessen, was der Mensch nach Hardenberg eigentlich ist und sein soll: unendliche Selbstvermittlung.354
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Ein vergleichbares Urteil zum Verhältnis zwischen Glauben und Liebe und der frühneuzeitlichen Utopia-Tradition findet sich im ungedruckten Kapitel zu den Jahrbüchern der preußischen Monarchie in der Habilitationsschrift von Hermann Kurzke: »Novalis ist keineswegs mit der Utopie des aufgeklärten Absolutismus zufriedengestellt. Er hat den »utopischen Indikativ« entdeckt. Sein Indikativ ist so provokant, so verblüffend, daß er nicht das Gegenwärtige preist, das hinter dieser Utopie ja ganz offenkundig zurückbleibt, sondern im Gegenteil die Erfahrung des Kontrasts zwischen Gegenwart und Utopie zum Motor der Aktivierung der utopischen Poten-
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Viertes Kapitel: Transzendental-Utopie – Novalis’ ›Glauben und Liebe‹
V. Wie die meisten von Hardenbergs poetischen Texten ist auch Glauben und Liebe doppeladressiert und lässt eine esoterische, auf frühromantische Ethik bezogene und eine exoterische, in diesem Fall eine politisch-konkrete Lektüre zu. Unbestreitbar handelt es sich bei Glauben und Liebe auch um einen politischen Text, der Hardenbergs Ressentiments gegenüber der Entwicklung im nach-revolutionären Frankreich, seine Affinität zur kameralistischen Vorstellung von ›Gemeinwohl‹ und seine Kritik am friderizianischen Preußen zum Ausdruck bringt. Will man diese exoterisch-esoterische Doppeladressierung aber angemessen deuten, so muss man die wörtlich konkrete und die transzendentalpoetische Bedeutungsebene einerseits analytisch unterscheiden, sie interpretierend aber zugleich aufeinander beziehen: In Glauben und Liebe wird die transzendentalpoetische Symbolik des unendlichen Wechsels zwischen Entgegengesetztem auf ein romantisiertes Preußen übertragen, dem ein Spannungsverhältnis zwischen ›gewöhnlichem Leben‹ und ›königlichem Paar‹ innewohnt. Novalis macht sich dabei die panegyrische Stilisierung der preußischen Monarchie in den Jahrbüchern zunutze und demonstriert, dass in der zeitgenössischen Theorie des aufgeklärten Absolutismus die Norm eines moralisch souveränen Individuums schon angelegt ist. Diese wird hier aber naiv mit der Erscheinungswelt in eins gesetzt und dient nur mehr dazu, die Absolutheit und die bewährte Vollkommenheit der bestehenden Institutionen zu rechtfertigen. Der Clou dieser transzendentalpoetischen Absolutismuskritik besteht darin, dass sie nicht nur auf das Monarchie-Bild des aufgeklärten Absolutismus angewendet wird, sondern auch dem Republikanismus und den Demokratievorstellungen der Französischen Revolution gilt: Immerhin suggerieren deren idealistische Anhänger, dass jeder frei und autonom, also sein eigener Gesetzgeber sein könne und solle. Die politischen Entwürfe der Französischen Revolution stützen sich wie der Absolutismus auf die als empirisch behauptete Idee eines souveränen absoluten Ichs, das alle Bindungen entbehren, alle Hemmungen auflösen könne und ›Herr im eigenen Haus‹ sei. Aufgrund der Doppeladressierung von Hardenbergs Fragmentsammlung und ihrer Verwendung politischer Gebilde als Bildspender, die eine unendliche Vermittlung zwischen Entgegengesetztem veranschaulichen, wirkt die Semantik des Unendlichkeitsgedankens auf die Bildspender selbst zurück und entfaltet ihnen gegenüber ein wirklichkeitskritisches Potential: Gebraucht man den absolutistischen Monarchen und den absolut mündigen republikanischen Staatsbürger als Symbol einer unendlichen Vermittlung, dann relativiert man die empirisch behaupteten Autonomievorstellungen des Absolutismus und
zen werden läßt. Wie er damit nach vorwärts den Boden der Selbstzufriedenheit der Jahrbücher-Autoren verläßt, so auch nach rückwärts, indem er die konjunktivische Utopie wieder in ihre von jenen verratenen Rechte einsetzt. Indikativ und Konjunktiv verhalten sich also hier nicht wie Wirklichkeit und Möglichkeit oder wie affirmativ und utopisch, sondern wie neuartige und traditionelle Utopie« (Kurzke [1980], 287).
5. Ergebnisthesen
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des Republikanismus und codiert sie zu höchstens vorläufigen symbolischen ›Indifferenzpunkten‹ (vgl. Anm. 180) innerhalb einer unendlichen Tendenz um. Die Fragmentsammlung macht also darauf aufmerksam, dass die Norm moralischer Souveränität, auf denen diese politischen Vorstellungen basieren, sich zwar nicht empirisch begründen lässt, es aber dennoch wert ist, sich an ihr als Approximationsprinzip zu orientieren. Man kann nach Hardenberg die Wahrheit dieser Norm aber nur dadurch unter Beweis stellen, dass man die Vorstellung der eigenen moralischen Absolutheit immer wieder in Frage stellt, dennoch aber nicht in Nihilismus verfällt, sondern den ›Trieb Ich zu sein‹, die gläubige Sehnsucht nach moralischer Souveränität in sich wach hält. VI. Hardenberg hat mit Glauben und Liebe eine neue Form utopischer Wirklichkeitskritik entwickelt: Wie schon Wieland zeigt er sich besonders sensibel für die Hypokrisie, die sich mit utopischen Gegenbildern verbindet, sobald diese einen quasi-dogmatischen literarischen Anspruch auf moralische Wahrheit artikulieren und im Namen einer Norm die Erfahrungswirklichkeit kritisieren. Zudem nimmt auch Hardenberg empiristische Argumente und anthropologische Vorbehalte gegen die Idee moralischer Souveränität und Willensautonomie ernst, ohne aber das daraus resultierende moralphilosophische Nihilismusproblem, die Unbegründbarkeit menschlicher Freiheit zu verschleiern. Im Unterschied zu Wieland stehen Hardenberg allerdings die Denkfigur unendlicher Annäherung und die Darstellungsmöglichkeiten der Transzendentalpoesie zur Verfügung, um diesem Dilemma literarisch Ausdruck zu verleihen. Frühromantische Ethik versteht die Norm moralischer Souveränität nicht als etwas, das man durch eine bestimmte Lebensführung besitzen könne, sondern das frühromantische ›bessere Selbst‹ konstituiert sich überhaupt nur im unendlichen Versuch, es zu finden. Die Romantik macht sich jedoch die ›naiven‹ empiristischen und popularphilosophisch-panegyrischen Versuche zunutze, bestimmte Autonomie- und Souveränitätsideen auf die Erfahrungswirklichkeit zu übertragen, codiert diese Übertragungen allerdings zu transzendentalpoetischen Mittlerbildern um, die einen unendlichen Prozess vorläufig symbolisieren. Über diese romantische Unendlichkeitssymbolik werden jene Versuche der monistischen Spätaufklärung und des aufgeklärten Absolutismus relativiert, die Idee der Freiheit und moralischen Souveränität an der Empirie zu erweisen. Eine Absage wird darüber hinaus auch der rationalistischen Strategie erteilt, der Idee der Vernunftautonomie im Medium Literatur mit utopischen Gegenbildern öffentlich Gehör zu verschaffen. Verstehbar als Reaktion auf die Hypokrisie von Rationalismus und Empirismus, inszeniert Hardenberg moralische Souveränität dagegen nicht als wirklichkeitskritisches ideelles Eigentum einer intellektuellen Elite, das im Medium Literatur öffentlich wird, sondern entwickelt ästhetische Verfahren, die die Idee des reinen Herzens als etwas zeigen, das überhaupt nur als poetisch verschleiertes Geheimnis kommuniziert werden kann.
SCHLUSS Die deutschsprachige Utopie um 1800: ›Sonderweg‹ oder ›toter Ast‹ der Gattungsgeschichte?
Zugrunde liegt dieser Arbeit die These, dass sowohl die Gattungskrise der literarischen Utopie als auch die ›Allianz‹ zwischen selbstreflexiver Aufklärung und Frühromantik ursächlich auf ein epochales Problem zurückführen, das sich mit dem Schlagwort ›Anthropologie‹ rubrizieren lässt, nämlich der schleichende Wandel des aufklärerischen Menschenbildes ab 1750. Mit der Empirisierung und Anthropologisierung der intellektuellen Diskurse im späten 18. Jahrhundert gewinnt das im gesamten Prozess der Neuzeitwerdung ohnehin virulente Problem säkularer Normenfindung und -begründung eine neue Brisanz, denn hinter der ›Rehabilitation der Sinnlichkeit‹ lauert die Nihilismusgefahr wie ein Gespenst. Die spätaufklärerische Vorstellung eines Menschen, dessen Vernunft von seiner körperlichen Disposition abhängt, der zu reiner ›Vernünftigkeit‹ also nicht in der Lage ist, erschüttert die Grundfesten der frühaufklärerischen Ethik, nämlich den Glauben an die Ideen der Vernunftautonomie und der Willensfreiheit. Zu Ende gedacht, enthält die Anthropologie auch reichlich theologischen Zündstoff, denn wenn der Mensch nicht frei handelt, sondern sich von seinem Körper leiten lässt, dann ist ihm auch die Option von Schuld- und Sündenbewusstsein entzogen. Zum Epochenproblem gerät die Anthropologie aber vor allem deshalb, weil ihre ethischen und theologischen Konsequenzen auf ein Politikum hinauslaufen. Die Anthropologie gibt der Theorie des Absolutismus Argumente an die Hand, durch die sich die Notwendigkeit eines starken, absolutistischen Staats begründen lässt: Wenn es dem Menschen schwer fällt, vernünftig und frei zu handeln, weil seine Leidenschaften, seine Selbstbezogenheit, Bequemlichkeit und Denkfaulheit ihm ständig einen Strich durch die Rechnung machen, dann bedarf es eben eines machtvollen Staats, der ihn vor sich selbst und anderen beschützt. Solche nihilistischen Konsequenzen einer restlos rehabilitierten Sinnlichkeit, nämlich die Relativität aller Normen und Werte, werden vom ›Mainstream‹ der monistischen Spätaufklärung zumeist kaschiert und stattdessen werden die Empirie, die Natur, der menschliche Körper und seine Leidenschaften, die Geschichte oder der Staat des aufgeklärten Absolutismus zur neuen Norm hochstilisiert, wie wir etwa bei Herder, Wezel und Heinse gesehen haben. Auffällig ist indes, dass sich gerade auf dem literarischen ›Höhenkamm‹ der ›Goethezeit‹ etliche Beispiele finden, die jene Nihilismusgefahr nicht mit einem Normativismus des Relativen überdecken, sondern ästhetisch exponieren und reflektieren. Man denke
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nur an Werther, dem es nicht gelingt, aus seinem subjektiven Naturgefühl objektive Normen abzuleiten.1 Man denke ferner an die Nihilismus-Monologe Franz von Moors in Schillers Räubern, an den Nihilismus-Brief am Schluss des ersten Buchs von Hölderlins Hyperion, an Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, an Klingemanns Nachtwachen des Bonaventura und an Mephisto in Goethes Faust. Auch Autoren literarischer Utopien sind im späten 18. Jahrhundert gezwungen, sich mit der Anthropologie als einem Problem auseinanderzusetzen, das die Begründung von Normen massiv erschwert. Immerhin führt die spätaufklärerische Allianz zwischen Anthropologie und Ästhetik zur Gattungskrise der literarischen Utopie, da dieses Textmuster tugendhafte, vernunftautonome Individuen darstellt, daher dem zeitgenössischen anthropologischen Wissen widerspricht und zum anti-anthropologischen Textmuster schlechthin avanciert. Gerade ein Autor literarischer Utopien muss sich daher im späten 18. Jahrhundert in irgendeiner Form zu den Konsequenzen der Anthropologie für diese Gattung verhalten und er tut dies eben selbst dann, wenn er anthropologisches Wissen um die Phänomene der leib-geistigen Einheit des Menschen unterdrückt oder ignoriert. Unter der hier eingenommenen problemgeschichtlichen Perspektive verschieben sich die in der Utopie-Forschung tradierten gattungsgeschichtlichen Periodisierungsmuster erheblich. Vor allem Merciers Erfi ndung der Zukunftsutopie gerät zu einem formgeschichtlich zwar auffälligen, problemgeschichtlich aber zweitrangigen Phänomen. Seinem Problembewältigungsmodus nach unterscheidet sich L’An 2440 nicht von den frühaufklärerischen Utopien, die versuchen, die Utopia-Tradition mit der frühaufklärerischen Vervollkommnungsidee zu synthetisieren und den aufklärerischen Glauben an den moralischen Fortschritt zu literarisieren. Wielands Utopie-Zitate markieren demgegenüber eine scharfe Zäsur, denn hier artikuliert ein Autor ein deutliches Problembewusstsein davon, dass anthropologisches Wissen und seine Literarisierung nicht nur die literarische Utopie vor massive Legitimationsschwierigkeiten stellen, sondern an der Idee menschlicher Vervollkommnungsfähigkeit überhaupt zweifeln lassen. Die Kunstfertigkeit von Wielands Utopie-Zitaten besteht darin, anthropologische Vorbehalte nicht auszublenden, sie aber auch nicht zu verabsolutieren, sondern mit ironischen Erzählstrukturen, Übersetzerfiktionen, inszenierten Textlücken etc. auf den Konflikt zwischen der theoretischen Evidenz von empiristischer Erkenntnistheorie und ihren handlungspraktisch bedenklichen Folgen hinzuweisen. Die Norm tugendhaften Lebens wird in Wielands utopischen Entwürfen nicht sinnlich faszinierend vermittelt, um den Leser im Glauben daran zu versichern, sondern als poetisches Konstrukt inszeniert, dessen Wahrheit man nicht mit Poesie, sondern
1
Vgl. Petersdorff (2006), 69–71.
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nur in der eigenen Lebenspraxis erweisen könne. Dadurch qualifiziert sich Wieland zum Exponenten einer selbstreflexiven Aufklärung, die sich zwar theoretisch die metaphysikkritischen Argumente des Empirismus zu eigen macht, aber auf die gefährlichen lebenspraktischen und gesellschaftlichen Folgen verweist, die sich ergeben, wenn man den Glauben an die Moralfähigkeit des Menschen aufgibt. Selbstreflexive Aufklärung erhebt die Empirie also nicht zur neuen Norm, um die nihilistischen Konsequenzen empiristischer Argumente zu kaschieren, sondern sie exponiert den Konflikt zwischen Theorie und Praxis und zwischen Vernunft und Sinnlichkeit als schwer lösbares Problem. Der vergleichende Blick auf die utopischen Entwürfe von Heinse und Stolberg hat zudem das Spezifikum dieser literarischen Problembewältigungsstrategie offenbart. Auch Heinse und Stolberg betonen den poetischen Konstruktcharakter ihrer utopischen Entwürfe. Sie artikulieren damit jedoch kein literarisches Problembewusstsein gegenüber anthropologischem Wissen, sondern politisieren ihre utopischen Entwürfe und instrumentalisieren diese als subtile Absolutismuskritik im Namen utopischer Normen. Demgegenüber besteht die problemgeschichtliche Allianz zwischen Wielands selbstreflexiver Aufklärung und der Frühromantik in dem Versuch, die utopische Norm tugendhaften Lebens ästhetisch zu ›arkanisieren‹, d. h. sie zu literarisieren und zugleich ihren poetischen Konstruktcharakter anzuzeigen, den Leser über ihre Wahrheit also nicht zu versichern, sondern sie als poetisch verschleiertes ›Geheimnis‹ zu vermitteln, das zu seiner lebenspraktischen Enthüllung auffordert. Wieland und Hardenberg unterscheiden sich jedoch darin, dass Letzterer mit dem ästhetischen Verfahren des Romantisierens auch eine Möglichkeit zur Verbindung von poetischem Konstrukt und Lebenspraxis aufzeigt, denn romantisch zu sehen bedeutet, die Erfahrungswirklichkeit in ein anderes Licht zu rücken, sie augenzwinkernd als Tendenz, als Beginn einer unendlichen Entwicklung zum Besseren zu inszenieren. Beim Romantisieren handelt es sich mithin um die transzendentalphilosophisch fundierte Reformulierung der frühaufklärerischen Vervollkommnungsidee. In Glauben und Liebe synthetisiert Hardenberg diese romantische Vervollkommnungsidee auch mit den Gattungsstrukturen der literarischen Utopie und pointiert kann man sagen, dass hier erstmals im 18. Jahrhundert eine wirklich problembewusste Darstellung von Vervollkommnung mithilfe eines utopischen Staatsentwurfs gelingt. Nicht nur gebraucht Novalis’ neupreußischer Staat Versatzstücke der zeitgenössischen preußischen Wirklichkeit, sondern im romantisierten Preußen werden Vollkommenheits- und Vervollkommnungsbild ineinander verzahnt: Die im Monarchenpaar repräsentierte Verbindung von Moral und Politik zeigt sich zeichenhaft und als erhoffte Tendenz zugleich im ›gewöhnlichen Leben‹ der Staatsbürger. Die utopischen Entwürfe von Wieland und Hardenberg bestätigen keine schon vorhandenen außerliterarischen Problemlösungen, indem sie die philosophisch-ethischen Ideen der Vernunft- und Willensautonomie oder des tugend-
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haften Lebens in Gestalt utopischer Individuen versinnlichen, sondern sie reflektieren im Medium Literatur bestimmte Probleme in ihrer Unlösbarkeit.2 Karl Eibl hat dafür den Begriff der ›komplementären Literatur‹ geprägt und sie von ›subsidiärer Literatur‹ unterschieden, »die vorhandene Problemlösungen unterstützt«3. Wielands und Hardenbergs Versuche, das Konzept einer komplementären Literatur ausgerechnet in Form literarischer Utopien zu aktualisieren, bleiben gattungsgeschichtlich allerdings eher die seltene Ausnahme. Die Probleme des anthropologischen Wissens, der moralischen Vervollkommnung und der Nihilismusgefahr werden in der deutschsprachigen Literatur um 1800 vorrangig am Erzählen von Einzelindividuen und nicht an utopischen Kollektiven exponiert. Wilhelm Voßkamp geht sogar davon aus, dass »der Bildungsroman als eine spezifische Form der literarischen Zeitutopie der individuellen Totalität in Deutschland eine mit der politischen Utopie der Verzeitlichung (s. Louis Sébastien Merciers L’an 2440) in Frankreich korrespondierende Rolle«4 übernimmt. Über Voßkamp hinaus, zeigt besonders der Terminus des ›Transzendentalromans‹, den Manfred Engel anstelle von ›Bildungsroman‹ vorschlägt, dass in der deutschsprachigen Literatur um 1800 nicht literarische Utopien den bevorzugten Rahmen für eine ästhetische ›Arkanisierung‹ moralischer Ideen bieten, sondern ›transzendentale Geschichte‹ von Einzelindividuen:5 Über ihre auktoriale Erzählform und Motivik erwecken etwa Goethes Lehrjahre die Erwartung von Textmusterelementen des Aufklärungs- und Geheimbundromans. Die geweckten Erwartungen werden jedoch nur unzureichend erfüllt, denn ein auktorialer Auflösungseffekt wie im Aufklärungsroman fehlt ebenso wie die finale Enthüllung eines Geheimnisses. Vor allem die vage Informationsvergabe über das eingreifende Handeln der Turmgesellschaft lässt den Leser dieses Romans einigermaßen ratlos zurück. Die Problembewältigung der Lehrjahre vollzieht sich also über das mutwillige Nichterfüllen von geweckten Erwartungen an Inhalt und Form. Im Gegensatz zum Aufklärungsroman geben sie keine sichere Antwort auf die Frage nach dem Zusammenhang der Welt, aber gerade in dieser verweigerten Antwort, in der erzählerischen Zurückhaltung in jenen Punkten, die Aufklärung über den kausalen und fi nalen Zusammenhang der erzählten Handlung geben könnten, liegt ihre implizite Antwort. Die spätaufklärerische ›Krise des Wahren und des Guten‹ 6, die mit Kants Transzendentalphilosophie an theoretischer Brisanz gewinnt, gehört mithin zum Problemkontext auch von Goethes Lehrjahren. Der Roman reagiert darauf mit einer ästhetischen ›Arkanisierungsstrategie‹, die den Leser über moralische Wahrheiten nicht vergewis-
2 3 4 5 6
Vgl. Eibl (1995), 30–34. Eibl (2000), 182. Voßkamp (1985c), 230. Vgl. Engel (1993). Vgl. Engel (2009), 60f.
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sert, aber auch nicht desillusioniert: In den Lehrjahren herrscht eine ausgesprochene »Diskontinuität auktorialer Führung«, die bis zum »völlige[n] Ausbleiben auktorialer Hilfen« reicht.7 Die Lehrjahre demonstrieren damit, dass der Zusammenhang der Welt nur noch als Poesie formulierbar sei, also etwa in Form eines Transzendentalromans, der zwar eine Ahnung von diesem Zusammenhang als regulativer Idee vermittelt, zugleich aber auch auf dessen Konstruktcharakter verweist, der also die Transzendentalphilosophie in einen Erzählzusammenhang übersetzt. Mit solchen und ähnlichen Darstellungsstrategien emanzipiert sich Literatur um 1800 als eigenständige Form der Kommunikation über Normen, als eigenständiger Weltaneignungsmodus, dessen Problembehandlung sich nicht einfach in außer-literarische Medien übertragen lässt. Moralische Normen werden dabei nicht in Poesie übersetzt oder durch Poesie dekonstruiert. Damit würde ein Autor der literarischen Hypokrisie verfallen und suggerieren, dass er selbst jenen moralischen Anspruch schon erfülle, den er literarisiert, oder dass er eine Art ›kritischer Arzt‹ sei, der seine tugendschwärmenden Leser von ihren Illusionen heilt. Die literarische Problembewältigung von selbstreflexiver Aufklärung und Romantik versucht indes gerade die beiden Klippen bestätigender Vergewisserung und dekonstruierender Desillusion zu umschiffen, indem sie moralische Normen ästhetisch ›arkanisiert‹. Um 1800 etabliert sich ein breites Spektrum ästhetischer ›Arkanisierungstechniken‹, die zudem Eingang in die unterschiedlichsten Gattungszusammenhänge finden. Anhand dessen lassen sich Artefakte aus verschiedenen literarischen Normensystemen einem gemeinsamen Problembewältigungsmodus zuordnen, der auch epochengeschichtlich weit auseinander liegende Texte wie etwa die ›Ringparabel‹ in Lessings Nathan der Weise (1779) und Eichendorffs Gedicht Abschied (1815) umspannt: In der Ringparabel kopiert ein Künstler den wahren Ring zweimal und seine beiden ›Plagiate‹ gelingen so gut, dass sie vom echten Ring nicht mehr zu unterscheiden sind. Bei der Tätigkeit des Künstlers handelt es sich um einen Akt ästhetischer ›Arkanisierung‹, denn er verwandelt die Wahrheit in ein künstlerisch verschleiertes Geheimnis. Das Urteil jenes Richters, der schließlich hinzugezogen wird, um den entstandenen Echtheitsstreit zu schlichten, hebt den Geheimnisschleier aber nicht auf, sondern der wahre Ring soll sich erst in der tugendhaften Lebensführung und der Nächstenliebe der drei Ringträger enthüllen. Die von dem Künstler vollbrachte ›Arkanisierungsleistung‹ bewirkt also, dass die drei Söhne nicht im Besitz einer Wahrheit versichert, sondern dazu stimuliert werden, die Echtheit ihres Ringes durch ihr Handeln erst zu erweisen. Genau denselben literarischen Problembewältigungsmodus finden wir noch in Eichendorffs Abschied: »Da steht im Wald geschrieben, / Ein stilles, ernstes Wort / Von rechtem Tun und Lieben, / Und was des Menschen Hort. / Ich habe
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Engel (1993), 270f.
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treu gelesen / Die Worte schlicht und wahr, / Und durch mein ganzes Wesen / Ward’s unaussprechlich klar.«8 Mitten in der Natur erfährt das artikulierte Ich die moralische Wahrheit vom ›rechten Tun und Lieben‹. Die handlungsorientierenden Einsichten, die das bei ihm auslöst, sind aber ›unaussprechlich‹, sind nicht als Kollektivwissen formulierbar. Nicht einmal jenes ›stille, ernste Wort‹, das im Wald geschrieben steht, teilt das Gedicht uns mit. Wie der Künstler in Lessings ›Ringparabel‹ betreibt auch Eichendorffs artikuliertes Ich ästhetische ›Arkanisierung‹, indem es moralische Wahrheiten nicht kommuniziert, sondern zum poetisch verschleierten Geheimnis stilisiert, das sich erst in der individuellen Lebenspraxis eines Lesers enthüllt, der das ›stille, ernste Wort‹ mit eigenen Erfahrungen füllt.9 Diese autonom-literarische Problembehandlung, die eine ganze Reihe von Texten der selbstreflexiven Aufklärung und der ›Goethezeit‹ auszeichnet, trifft in der Gattungsgeschichte literarischer Utopien jedoch nur auf wenig Resonanz. Neben Morus’ Utopia, die man wegen ihrer ausgeprägten Fiktionsironie adäquat überhaupt nur als eine Form genuin-literarischer Problembewältigung verstehen kann, bleibt es im wesentlichen bei den wenigen komplementär-literarischen Utopien von Wieland und Hardenberg, die nicht versuchen, vorhandene philosophische oder theologische Problemlösungen in subsidiäre utopische Fiktionen zu übersetzen, sondern eigenständig-literarische Problemreflexion betreiben. Dass ihre komplementär-literarischen Utopien kaum Nachahmer gefunden haben, liegt wohl vor allem an der hohen Missverständlichkeit, die ein Autor riskiert, wenn er einen utopischen Staatsentwurf ironisch gebrochen oder romantisierend darstellt, um daran das Problem säkularer Normenbegründung in seiner Unlösbarkeit zu reflektieren: Wieland handelte sich mit der komplexen epischen Vermittlungsform des Goldnen Spiegels das Verdikt des kompromisslerischen Fürstenschmeichlers ein, und dagegen half keine seiner noch so differenzierten Gegendarstellungen. Auch Hardenberg hat mit Glauben und Liebe seinen bis heute umstrittensten und gewagtesten Text vorgelegt. Dessen brisanter Inhalt verhinderte schon eine vollständige zeitgenössische Veröffentlichung, denn der preußische König bezog ihn auf sein Amt, verband mit der Fragmentsammlung also eine an ihn adressierte Norm und fühlte sich von dem Text zudem maßlos überfordert, wie Friedrich Schlegel berichtet: Ueber einige Aeußerungen in Glauben und Liebe soll der König etwas verdrießlich gewesen seyn. Er hat gesagt: ›Von einem König wird mehr verlangt als er zu leisten fähig ist. Immer wird vergessen daß er ein Mensch sey. Man solle nur einem Mann, der dem König seine Pflichten vorhält vom Schreibepult zum Thron bringen und dann wird er erst die Schwierigkeiten sehen die [ihn] umgeben und die nicht möglich zu heben sind.‹ […] Der König hat den Glauben und Liebe gelesen aber nicht verstanden, und daher dem Obristlieutenant Köckeritz Ordre gegeben, ihn zu lesen. Weil dieser
8 9
Eichendorff (1987), 346f. Vgl. Petersdorff (2008) u. Petersdorff (2010), hier insbes. 100–106.
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ihn aber gleichfalls nicht verstanden, hat er den Consistorialrath Niemeyer zu Rathe gezogen. Dieser hat auch nicht verstanden, worüber er höchlich entrüstet geweßen und gemeynt hat, es müsse gewiß einer von den beyden Schlegeln geschrieben haben.10
Die Gattungsstrukturen der literarischen Utopie waren im allgemeinen Bewusstsein des 18. Jahrhunderts wohl zu eng verknüpft mit der wirklichkeitskritischen Darstellung einer Vollkommenheitsnorm, als dass sie sich geeignet hätten, um einfach in den Kontext komplementärer Literatur bzw. der ›Autonomieästhetik‹ übertragen zu werden. Überblickt man die Rezeptionsgeschichte der literarischen Utopie, dann kann man ohne Zweifel von einer inhaltsdominierten Wahrnehmung dieser Gattung sprechen. Nur so ist es zu erklären, dass die Utopie – ein ursprünglich literarisches Phänomen – heute vorwiegend von Politikwissenschaftlern erforscht wird. Das primäre Interesse an diesem Textmuster gilt schon im 18. Jahrhundert seinen politisch-sozialen Inhalten, nicht seiner literarischen Form, sei sie auch noch so raffiniert. Eine Gattung aber, deren Textfunktion sich in der allgemeinen Wahrnehmung vorrangig über Inhalte definiert, verträgt sich rezeptionsgeschichtlich gesehen nur schwer mit dem Versuch, ihrer Form oder gar der ironischen Spannung zwischen Inhalt und Form wesentliche Aussagefunktionen zu übertragen. Selbst wenn ein Autor seinen utopischen Entwurf in multiperspektivische, fi ktionsironische, selbstreflexive oder romantisierende Textstrukturen einbettet, um seinen Lesern eben nicht Normen vorzuschreiben, sondern um ihre säkulare Begründung zu problematisieren, dann werden diese literarischen Anteile in der zeitgenössischen und selbst noch in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Rezeption nicht selten zum schmückenden, aber entbehrlichen Dekor herabgestuft. Von diesem Schicksal einer inhaltsreduzierten Wahrnehmung war und ist sogar schon der gattungsgeschichtliche Prototyp betroffen, die Utopia von Thomas Morus. Deren fi ktionsironisches Komplexitätsniveau lässt sich im Kontext um 1500 zwar allenfalls noch mit Erasmus von Rotterdams Lob der Torheit vergleichen, dennoch existiert von diesem fast 500 Jahre alten Text bis heute keine vollständige deutsche Übersetzung, die alle seine Ebenen berücksichtigt: Vor allem die kommentierenden Randglossen von Morus’ Humanistenfreunden, die den Text als Dokumente einer exemplarischen Erstrezeption ornamentieren, fehlen in sämtlichen deutschen Übersetzungen (vgl. die Übersetzungen von Gerhard Ritter im Reclam-Verlag, von Jacques Laager im Manesse-Verlag, von Hermann Kothe im Insel-Verlag oder von Alfred Hartmann im Diogenes-Verlag). Berühmt wurde der Text nicht wegen seiner Dialog-Form oder seinen verschachtelten literarischen Kommunikationsniveaus, sondern wegen der Insel Utopia, von der einer der Dialogteilnehmer erzählt.
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HKA IV, 497: Friedrich Schlegel an Novalis, Ende Juli 1798.
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Wer Utopien schreibt, will Normen vorschreiben: Gegen diese, schon im Gattungswissen des 18. Jahrhundert festverankerte Vorstellung11 von der Funktion literarischer Utopien ließ sich ihre komplementär-literarische bzw. ›autonomieästhetische‹ Rehabilitierung nur schwer durchsetzen. Wer dieses Textmuster nicht zur ästhetischen Popularisierung einer wirklichkeitskritischen Norm nutzt, sondern um säkulare Normenfindung als unlösbares Problem zu reflektieren, musste daher auf nicht unerhebliche Rezeptionswiderstände stoßen. Im Hinblick auf die teils sehr irritierte zeitgenössische Rezeption kann man daher wohl sagen, dass die gewagten utopischen Formexperimente von Wieland und Novalis die tradierten Gattungsstrukturen funktional erheblich überstrapaziert haben.
11
Vgl. z. B. die Definition der Gattung bei Zedler (1742).
Abkürzungsverzeichnis
AA
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AB
Das Allgemeine Brouillon (Materialien zur Enzyklopädistik 1798/99). In: HKA III, 242–478.
Ard.
Heinse, Wilhelm: Ardinghello und die glückseligen Inseln. Kritische Studienausgabe, hg. von Max L. Baeumer. Stuttgart 1998.
Bl.
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FA
Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, hg. von Dieter Borchmeyer u.a. 40 Bde. 2 Abteilungen. Frankfurt a.M. 1985ff.
FSt.
Fichte-Studien. In: HKA II, 104–296.
GA
Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, hg. von Reinhard Lauth und Hans Jacob. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962ff.
GL
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GS 1794
Der goldne Spiegel oder Die Könige von Scheschian. Eine wahre Geschichte aus dem Scheschianischen übersetzt. In: Wieland, Christoph Martin: Der goldne Spiegel und andere politische Dichtungen, hg. von Herbert Jaumann. München 1979, 5–329.
GW
Stolberg, Christian Graf zu/Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu: Gesammelte Werke der Brüder Christian und Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg. 20 Bde. Hamburg 1820–1825.
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KFSA
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404
Abkürzungsverzeichnis
NA
Schiller, Friedrich: Schillers Werke. Nationalausgabe, hg. von Julius Petersen u.a. Weimar 1943ff.
OA
Wieland, Christoph Martin: Wielands Werke. Historisch-kritische Ausgabe (Oßmannstedter Ausgabe), hg. von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma. Berlin/New York 2008ff.
StBr
Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu: Briefe, hg. von Jürgen Behrens. Neumünster 1966.
SW
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VB
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WBr
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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Quellen
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Personenregister
Affeldt-Schmidt, Birgit 4, 33 Ägidius, Peter 19, 123 Agostini, Ludovico 25 Albert, Claudia 384 Albrecht, Wolfgang 126 Alembert, Jean-Baptiste le Rond de 97 Alexander III. von Makedonien 125ff. Andreae, Johann Valentin 5, 18, 23–27, 31, 74 Angelus Silesius 304 Archilochos von Paros 234 Aretin, Karl Otmar Freiherr von 230, 385f. Aristoteles 24, 147 Arndt, Johannes 26 Athenaios 128 Auerochs, Bernd 117f., 262 Augustenburg, Friedrich Christian von 335f. Bachmann, Ingeborg 2 Bacon, Francis 19 Baeumer, Max L. 197, 221, 223f. Bark, Irene 279 Barth, Andreas 279 Barthel, Marga 141, 166, 175 Basedow, Johann Bernhard 281 Baudach, Frank 4, 6f., 11ff., 30, 98, 100f., 114, 121, 134, 142, 144–147, 149, 152ff., 160, 163, 169, 236, 238–241, 247f. Baumgarten, Alexander Gottlieb 28, 100, 379 Beardsley, Monroe C. 141 Behler, Ernst 300, 302 Behrens, Jürgen 225, 255 Bellamy, Edward 33f. Benjamin, Walter 35 Berghahn, Klaus L. 4 Bernstorff, Andreas Peter Graf von 253 Bersier, Gabrielle 4 Biester, Johann Erich 239, 366 Biesterfeld, Wolfgang 142 Bissinger, Anton 378 Blanckenburg, Friedrich von 44
Bloch, Ernst 2f. Blumenberg, Hans 36, 42, 262 Boccaccio, Giovanni 105 Bodmer, Johann Jakob 100ff., 105, 182 Böhr, Christoph 376 Boie, Heinrich Christian 200, 223, 234 Bonnet, Charles 55 Bönnighausen, Marion 321 Borgards, Roland 68 Böttiger, Karl August 94, 117, 129, 305f., 371 Braungart, Wolfgang 4 Brecht, Walther 197, 204, 216 Breitinger, Johann Jakob 28, 100ff., 105, 183 Brinkmann, Richard 266, 328 Brown, John 292, 295, 358, 360f. Brunner, Horst 188 Budde, Bernhard 121, 137f., 141, 144 Budé, Guillaume 22 Bülow, Eduard von 308ff. Cabet, Étienne 33f. Caldenberg, Yvonne 321 Campanella, Tommaso 5, 18, 25f., 78 Cassirer, Ernst 56 Claudius, Matthias 304 Comenius, Johann Amos 264 Condillac, Étienne Bonnot de 55 Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de 47, 74 Crébillon (fi ls), Claude-Prosper Jolyot de 135 Croce, Benedetto 15 Daiber, Jürgen 279 Danneberg, Lutz 141, 283 Dante Alighieri 228 Dethloff, Uwe 4 Diderot, Denis 51, 97 Dilthey, Wilhelm 35, 265 Diogenes Laertius 128 Disselkamp, Martin 144 Dittrich, Andreas 13f., 68, 76, 144 Doni, Francesco 23
Personenregister
428 Eberhard, Johann August 332, 366, 376–389 Eibl, Karl 35, 398 Eichendorff, Joseph von 399f. Engel, Johann Jacob 239, 366 Engel, Manfred 44, 72, 91, 109, 177, 245, 266, 282, 289, 350, 375, 398f. Epiktet 128ff. Epstein, Klaus 377 Erasmus von Rotterdam 401 Erhart, Walter 58, 88, 96, 98, 107, 111, 115 Eschenmayer, Carl August 291 Feder, Johann Georg Heinrich 281 Fest, Joachim 4 Fetscher, Iring 250 Fichte, Johann Gottlieb 261, 270, 278–281, 283, 290, 315, 327, 340f., 353, 356, 361 Fohrmann, Jürgen 4, 76, 144 Foigny, Gabriel de 5, 25, 27 Forsström, Riikka 78, 82f. Fortunati, Vita 142 Fourier, Charles 34 Frank, Manfred 264, 278–284, 286, 289, 300f., 307, 316, 353 Frankhäuser, Gernot 201 Frick, Werner 44, 96 Fricke, Harald 17, 302 Friederike von Preußen 368, 372, 374 Friedrich Wilhelm II. von Preußen 351, 368, 384 Friedrich Wilhelm III. von Preußen 71, 272, 276, 298, 332, 367f. Fukuyama, Francis 4 Gaál-Baróti, Márta 342 Gadamer, Hans-Georg 35 Gaier, Ulrich 195 Garve, Christian 366, 376 Gehlen, Arnold 149f. Gerhard, Johannes 26 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 204 Geßner, Salomon 121 Gestrich, Andreas 386 Gilardoni-Büch, Karin Birge 279 Gisi, Lucas Marco 42f. Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 94, 121, 160f., 190, 214, 241f. Gnüg, Hiltrud 4 Goens, Rijklof Michaël van 149 Goer, Charis 216 Goethe, Johann Wolfgang 15, 44, 158, 201, 223, 224, 226f., 231, 245, 267, 341, 371, 396, 398 Göschen, Georg Joachim 123, 131, 241 Gottsched, Johann Christoph 15, 28, 100f.
Götze, Martin 279f. Grimm, Reinhold 4 Habermas, Jürgen 67 Hagel, Michael Dominik 134, 139, 144, 178 Hahl, Werner 96 Hall, Joseph 18f., 103, 120 Hamann, Johann Georg 224, 239, 267, 300, 316 Hardenberg, Friedrich von (siehe Novalis) Hartley, David 55, 97f. Hartmann, Alfred 401 Hartmann, Nicolai 34ff. Hartung, Gerald 149f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 15, 327 Heinrich IV. von Frankreich 358f. Heinse, Wilhelm 70, 187–222, 258, 263, 395, 397 Heinz, Andrea 126 Heinz, Jutta 44, 55ff., 60 Helfer, Martha B. 279 Helvétius, Claude Adrien 74, 97, 190 Hempel, Dirk 222, 226, 229f., 232, 234, 239ff., 253, 255, 257 Hempfer, Klaus W. 12, 15–18 Hemsterhuis, Frans 268, 337 Henrich, Dieter 290 Herder, Johann Gottfried X, 42ff., 49, 148ff., 224, 250, 267, 300, 395 Herschel, William 333 Herrmann, Leonhard 190, 192ff., 197, 210, 216 Hertzka, Theodor 34 Herzl, Theodor 33f., 85 Herzog, Reinhart 19 Heyer, Andreas 6 Heynitz, Friedrich Anton von 368 Heynitz, Karl Wilhelm Benno von 374 Hinrichs, Boy 4 Hissmann, Michael 57, 281 Hobbes, Thomas 30, 64, 194, 214 Høegh-Guldberg, Ove 253 Höfener, Heiner 19 Hofmann, Michael 146, 190, 200, 205ff., 213 Hohendahl, Peter Uwe 3f. Holbach, Paul Henri Thiry de 59 Hölderlin, Friedrich 282, 294, 327, 396 Hölscher, Lucian IX, 1, 51, 91, 320 Honke, Gudrun 9 Horaz 95, 161, 181, 225 Hörisch, Jochen 35, 288 Hudde, Hinrich 4, 76 Hufeland, Gottlieb 311 Hume, David 55, 97, 176 Huth, Carl 228, 253
Personenregister Iber, Christian 279 Ilbrig, Cornelia 51f., 63 Jahn, Isabel-Dorothea 24 Jacobs, Jürgen C. 96, 137, 141, 144 Jacobi, Friedrich Heinrich 190, 239, 280 Janz, Rolf-Peter 343, 383 Jaumann, Herbert 73, 76f., 83, 88, 103, 118, 121, 131, 137, 141, 143, 154f., 164, 168, 180 Jauß, Hans Robert 35 Johnson, Samuel 51 Jordheim, Helge 13, 62, 67, 73, 84, 87, 143ff., 161 Jørgensen, Sven-Aage 95 Joseph II. 63, 165 Joshua, Eleoma 224, 227 Jurt, Joseph 75 Just, Caroline 374 Just, Coelestin August 300, 322, 343, 352 Kaiser, Gerhard 227 Kambas, Chryssoula 321 Kämmerer, Harald 120 Kant, Immanuel 5, 34, 54, 59, 61, 65, 71f., 89, 91, 109, 131, 176, 185, 191, 239, 261, 264–268, 270, 277–282, 286, 289f., 295, 319ff., 335, 348, 350–353, 356, 370, 376, 398 Katharina II. von Russland 257 Kausch, Karl-Heinz 174f. Kepler, Johannes 334, 339 Kindt, Tom 11, 141 Klausnitzer, Ralf 15f. Klinger, Friedrich Maximilian 204 Klopstock, Friedrich Gottlieb 103f., 225, 227f., 233f. Kluckhohn, Paul 310 Knautz, Isabel 52 Kohns, Oliver 348 Kondylis, Panajotis 45–51, 56, 58, 66f., 72, 80, 89, 145, 190, 230, 262, 266f., 269, 327, 354, 356 Köppe, Tilmann 68f. Koselleck, Reinhart 64–67, 73f., 76, 86, 87, 89, 222, 231, 235, 241 Košenina, Alexander 281 Kothe, Hermann 401 Krüger, Johann Gottlob 56 Kubik, Andreas 279f., 283, 299 Kuhn, Hans Wolfgang 276, 309–312, 343, 383 Kuon, Peter 4, 6f., 9–13, 15, 18, 20, 22–27, 29–31, 76, 92, 96, 103, 319 Kurz, Gerhard 278, 283, 316 Kurzke, Hermann XII, 265f., 271, 273, 276, 292, 296f., 307, 309, 311, 321ff.,
429 327f., 334, 342f., 352ff., 356, 360ff., 377, 383, 386, 391f. Laager, Jacques 401 Lacher, Reimar F. 367, 371f. Landauer, Gustav 2 La Roche, Sophie von 94, 119ff. Lavater, Johann Caspar 239, 245, 347 Leibniz, Gottfried Wilhelm IXff., 27ff., 37, 42, 44, 51, 53, 55, 57f., 63, 75, 77, 97, 100f., 113 Leisewitz, Johann Anton 204 Lenz, Jakob Michael Reinhold 204 Leonhardt, Rochus 40 Lessing, Gotthold Ephraim 89, 264, 399f. Linden, Mareta 39 Locke, John 5, 97, 267, 281 Loheide, Bernward 279f. Lohmeier, Anke-Marie 160f. Lohmeier, Dieter 231 Lovejoy, Arthur O. 77 Luhmann, Niklas 20, 35, 74 Luise von Preußen 71, 272, 276, 298, 367f., 370ff., 374, 389, 391 Lukas, Anna Verena 296 Luther, Martin 24, 26f., 247 Machiavelli, Niccolò 217 Mähl, Hans-Joachim 7, 9, 11, 101, 112ff., 120, 123, 264, 268, 289, 311, 318–321, 326, 329ff., 353 Mahoney, Dennis F. 271, 296, 353 Malebranche, Nicolas 55 Mann, Thomas 342 Mannheim, Karl 2, 354 Maresch, Rudolf 4 Marquard, Odo X, 5, 36, 39–45, 47, 48, 51, 65, 67, 69, 78 Martini, Fritz 121, 126 Marx, Karl 125 Matala de Mazza, Ethel 271, 296, 357 McNeely, James A. 137 Meier, Georg Friedrich 56 Meiners, Christoph 281 Meister, Leonhard 90 Mendelssohn, Moses 239 Menninghaus, Winfried 288 Mercier, Louis-Sébastien 5, 32ff., 39, 43, 69, 73–86, 94, 154, 182, 247, 276, 390, 396, 398 Merck, Johann Heinrich 180f. Milton, John 228 Minor, Jacob 310 Mohl, Robert von 1f., 5, 10 Mohr, Heinrich 191f., 195, 204, 207f., 213 Moller, Martin 26
430 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de 43 Morelly, Étienne-Gabriel 5, 12f., 104 Morus, Thomas 1, 5, 7ff., 18ff., 22ff., 29, 31, 82, 85, 99f., 105, 123, 319, 400f. Müller, Götz 4, 142, 159, 188, 248 Müller, Hans-Harald 11, 141 Müller, Wolfgang 23 Musil, Robert 2 Naschert, Guido 15f. Naumann, Dietrich 142, 188f. Neubauer, John 292 Neumann, Gerhard 300f. Neusüss, Arnhelm 2f., 6 Nicolai, Friedrich 239 Niehues-Pröbsting, Heinrich 128 Nişcov, Viorica 301 Novalis (Hardenberg, Friedrich von) XI, 12, 37, 71f., 130f., 184, 220, 261–393, 397f., 400ff. O’Brien, William Arctander 304, 326, 348 Oettinger, Klaus 101 Opitz, Martin 15 Ostermann, Eberhard 300 Ouellet, Réal 75 Palladio, Andrea 198 Parker, Henry 5 Paulsen, Wolfgang 96, 176 Peter, Klaus 276, 353, 355, 383 Petersdorff, Dirk von XII, 88, 165, 171ff., 224, 294, 343, 350, 396, 400 Pfister, Manfred 4 Pikulik, Lothar 296 Platner, Ernst 57f., 72, 280f. Platon 5, 19, 22, 24f., 90f., 120, 169, 190, 213f., 235, 347 Plessner, Helmuth 150, 327 Plutarch 254 Popper, Karl 35 Pott, Sandra (siehe Richter, Sandra) Preitz, Max 309 Priestley, Joseph 55, 333 Procacci, Guiliano 198, 201 Pufendorf, Samuel 12, 30, 383 Quesnay, François 159 Rabelais, François 23, 103, 120 Rambach, Friedrich Eberhard 336, 345, 366 Redern, Sophie von 232 Reich, Philipp Erasmus 116, 122, 124, 132f.
Personenregister Reinhold, Carl Leonhard 264 Renouvier, Charles 76 Richter (geb. Pott), Sandra 144, 159 Riedel, Manfred 327, 378f. Riedel, Wolfgang 5, 56, 59f. Ritter, Gerhard 401 Rodiek, Christoph 76 Rommel, Gabriele 343 Röschlaub, Andreas 291f., 295 Rötzer, Florian 4 Rousseau, Jean-Jacques 5, 74, 77, 114, 119, 145f., 149, 188, 194, 327 Rutherford, Samuel 5 Ruyer, Raymond 11, 318 Saage, Richard 5f., 73 Samuel, Richard 265, 309ff., 330, 343 Sauder, Gerhard 228 Scattola, Merio 133f., 144, 153 Schadow, Johann Gottfried 342, 367– 376, 380 Schätzke, Andreas 369 Scheibe, Siegfried 116 Scheler, Max 150, 327 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 291, 313, 325, 327, 333ff., 337, 345 Schierbaum, Martin 288 Schiller, Friedrich 157, 267, 335f., 360f., 396 Schings, Hans-Jürgen 5, 55, 60, 89, 98, 223, 228 Schlegel, August Wilhelm 270, 297f., 305, 307, 311, 321ff., 328f. Schlegel, Caroline 340 Schlegel, Friedrich 109, 129, 262, 272, 278, 281, 284, 293, 297, 299–302, 305–311, 316f., 327f., 334, 337, 345, 349, 361, 400f. Schleiermacher, Friedrich 129f., 184, 262, 345, 352, 361 Schlink, Bernhard 321 Schlözer, August Ludwig 5 Schmaus, Marion 2, 279, 282–286, 290 Schmidt, Burghart 3 Schmidt, Michael Ignaz 281 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 27 Schmitt, Carl 66f. Schnabel, Johann Gottfried 31–34, 74, 77, 86, 99, 109, 113, 116, 182 Schölderle, Thomas 4, 7, 76 Schramke, Jürgen 216, 219, 222 Schumann, Axel 366 Schwaiger, Clemens 378 Searle, John R. 68 Seeber, Hans Ulrich 4 Seibt, Ferdinand 24 Seidlmayer, Michael 198 Sengle, Friedrich 132, 279
Personenregister Seuffert, Bernhard 137 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper, 3rd Earl of 97 Shakespeare, William 42f. Shea, Louisa 126, 129 Smith, Adam 383 Söhn, Gerhart 304 Sokrates 193, 211 Sommer, Andreas Urs 74, 76, 81ff. Sophokles 43 Spalding, Johann Joachim 239 Specht, Benjamin 68, 277 Spicker, Friedemann 302 Spinoza, Baruch de 62, 239, 280 Spoerhase, Carlos 11 Stadler, Ulrich 347, 383 Staiger, Emil 15 Stamm-Kuhlmann, Thomas 298 Starnes, Thomas C. 93 Stiblin, Kasper 18, 23f. Stiening, Gideon 58f., 69, 281, 343 Stockinger, Ludwig XII, 2ff., 6–13, 16, 19, 23, 27, 29, 31ff., 62, 92, 109, 173, 178, 262, 265–273, 275f., 279, 281, 288, 290, 304ff., 310ff., 318, 324f., 327, 329f., 333, 343, 345f., 350f., 353–357, 362, 364, 376 Stolberg, Christian Graf zu 225, 232 Stolberg, Christian Günther Graf zu 232 Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 70, 93, 187–189, 190, 222–260, 263, 397 Stolleis, Michael 62 Strasser, Johano 4 Strohschneider, Peter 302 Strube, Werner 17 Stubenrauch, Samuel Ernst Timotheus 352 Sulzer, Johann Georg 55f., 97 Swales, Martin 9 Swift, Jonathan 103, 120, 148 Tetens, Johann Nicolas 281 Theile, Gert 201, 213, 225f. Thiel, Udo 281 Thomasius, Christian 30, 50 Thomé, Horst 87f., 96f., 173, 177 Tieck, Ludwig 310 Titzmann, Michael 35 Tönnies, Ferdinand 327 Träger, Claus 343 Trousson, Raymond 73, 76, 142 Turgot, Anne Robert Jacques 47, 74
431 Ueding, Gert 2f. Uerlings, Herbert 264f., 268, 274, 280, 283, 287f., 290, 299, 304, 319, 343f., 350, 353 Unger, Johann Friedrich 366 Unger, Rudolf 34ff. Uz, Johann Peter 93 Vachon, Hélène 75 Vedder, Björn 218, 220 Veiras (auch Vairasse), Denis 5, 19, 29–34, 74, 76f., 86, 94, 99, 115, 182, 276, 390 Veronese, Paolo 198 Vischer, Friedrich Theodor 15 Vogl, Joseph 271, 343 Vollhardt, Friedrich 333, 378, 383, 385 Voltaire 51, 55, 74, 90, 154 Voß, Johann Heinrich 93, 225 Voßkamp, Wilhelm XII, 3f., 6–11, 13, 20f., 35, 37, 44, 73, 143, 184, 398 Walter, Torsten 133, 136, 144 Weiße, Christian Felix 93 Wells, Herbert George 73 Wels, Volkhard 25, 44, 53 Werle, Dirk 35–38, 387 Wezel, Johann Karl 51–54, 56–59, 62f., 70, 90, 120, 146, 154, 395 Wichelhaus, Manfred 245 Wieland, Christoph Martin XI, 23, 37, 43f., 53f., 60ff., 70f., 83f., 87–185, 187–192, 213, 223, 235f., 241ff., 244, 246ff., 256ff., 260, 269, 279, 305f., 393, 396ff., 400, 402 Willems, Gottfried 16, 327 Wilson, W. Daniel 121, 132f. Wimsatt, William K. 141 Winter, Michael 4, 24 Wintermonat, Gregor 19 Wolff, Christian 50f., 56, 58, 100, 234, 239, 257, 378f. Wöllner, Christoph 351 Xenophon 24 Zanucchi, Mario 279 Zedler, Johann Heinrich 402 Zeller, Winfried 25 Zimmermann, Johann Georg 97f., 103f. Zinn, Ernst 300 Zipfel, Frank 302f. Zollikofer, Georg Joachim 116 Zymner, Rüdiger 15–17, 20