210 49 11MB
German Pages 339 [340] Year 1995
¿fheatron
Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste
Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele
Band 11
Alexander Kosenina
Anthropologie und Schauspielkunst Studien zur »eloquentia corporis« im 18. Jahrhundert
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1995
Gedruckt mit Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Förderer und Freunde der Freien Universität Berlin sowie des Fachbereichs Germanistik der Freien Universität Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kosenina,
Alexander:
Anthropologie und Schauspielkunst : Studien zur >eloquentia corporis< im 18. Jahrhundert / Alexander Kosenina. - Tübingen : Niemeyer, 1995 (Theatron ; Bd. 11) NE: GT ISBN 3-484-66011-2
ISSN 0934-6252
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1995 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: ScreenArt GmbH & Co. KG, Wannweil. Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten. Einband: Heinr. Koch, Tübingen.
Vorwort
Diese Arbeit, die im Wintersemester 1993/94 v o m Fachbereich Germanistik der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen und für die Drucklegung geringfügig überarbeitet wurde, entstand aus (literarhistorischen Interessen. Die vorgelegten Fragen und Ideen über die Körpersprache des Menschen sind nicht aus der gegenwärtigen Springflut primär methodisch und theoretisch orientierter Beiträge unterschiedlichster Provenienz geschöpft, sondern sie ergaben sich erst aus dem Studium von Quellen mehrerer Fachrichtungen und Herkunftsländer. Die Ideengeschichte der eloquentia corporis, die sich im 18. Jahrhundert vornehmlich in den Disziplinen der Rhetorik, der praktischen Klugheitslehre, der medizinisch-philosophischen Anthropologie sowie der Schauspielkunst ereignet, sollte so einem Jahrhunderte alten Chor abgelauscht und anschließend für die Drameninterpretation fruchtbar gemacht werden. Möglich wurde dies dank der ausgezeichneten Buchbestände der Berliner Staatsbibliothek sowie der Universitäts- und Seminarbibliotheken der F U Berlin, ganz entscheidend ergänzt um die reichen Schätze der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen sowie der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, deren Tore sich mir durch ein Stipendium der Dr. Günther FindelStiftung öffneten. Den Förderern in Wolfenbüttel wie den kundigen Bibliothekaren und den im Verborgenen wirkenden Magazinern an allen Orten, ohne deren unermüdliche Hilfe keine einzige Quelle zu erschließen gewesen wäre, gilt mein größter Dank. Ganz besonders danke ich meinem langjährigen Lehrer, Herrn Prof. Dr. Hans-Jürgen Schings, der die Arbeit mit ermunterndem Zuspruch wie der notwendigen Strenge betreute, und Herrn Prof. Dr. Joachim Wohlleben, der sie zusätzlich förderte. Wichtige konzeptionelle Anregungen und freundschaftliche Bestärkung verdanke ich ferner den Professoren Dr. Achim Aurnhammer (Freiburg) und Dr. Hinrich C. Seeba (Berkeley). Danken möchte ich auch allen Kollegen und Freunden - besonders Rolf Dähn und Hans Dieter Heimendahl - , die mir durch ihre Gesprächsbereitschaft, durch Ratschläge und Kritik halfen, gedanklich und darstellerisch Kurs zu halten, und schließlich den Teilnehmern an meinen Seminaren, die mich durch ihre Perspektiven, Fragen und Wünsche während der ganzen Entstehungszeit dieser Arbeit dazu herausforderten, neue geistesgeschichtliche Regionen zu erschließen und meinen Blick für die Literatur zu schärfen. Daß diese zwischen Literatur- und Theaterwissenschaft, Philosophieund Medizingeschichte angesiedelte Studie durch die freundliche AufnahV
me in die Reihe >Theatron< eine fachliche Zuordnung und Anbindung erfährt, ist ein glücklicher Umstand, der mich gegenüber den Herausgebern zu großem Dank verpflichtet. Namhafte Druckkostenbeihilfen der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften, der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Förderer und Freunde der Freien Universität Berlin und des Fachbereichs Germanistik der Freien Universität Berlin machten es zudem möglich, sie in der vorliegenden Ausstattung erscheinen zu lassen. Berlin, im Frühjahr 1994
VI
Α . K.
Inhalt
Einführung in den Zusammenhang von Anthropologie und Schauspielkunst
ERSTER T E I L :
ι
Theorie und Geschichte der eloquentia corporis
ι. »Ach! dein Mund sagt nein; und deine eignen Thränen sagen ja«: Rhetorik der Körpersprache und Schauspielkunst
31
2. »Du wirst ihre ganze Seele in ihrem Gesichte lesen«: Körperliche Beredsamkeit und Verstellungskunst in der Klugheitslehre
58
3. »Was seh' ich, Lady? Sie haben sich entfärbt? Sie zittern?« Die anthropologische Neubegründung der eloquentia corporis ...
85
4. »Diese Hand hängt wie todt an der betäubten Seite«: Die Entwicklung der neuen psychologisierenden Schauspielkunst
117
5. Johann Jakob Engels Ausdruckspsychologie in den >Ideen zu einer Mimik< und ihre Wirkung
152
ZWEITER T E I L :
Drameninterpretationen
Vorüberlegung
185
ι. »Deine weggewandte Augen, diese Glut auf deiner Stime sind treuere Erzähler als deine Lippen«: Gerstenbergs >Ugolino
Emilia Galotti
Die Zwillinge
Albert von Thurneisen
Kabale und Liebe
Menschenhaß und Reue
Miß Sara Sampson< am ιo.Juli 1755 in Frankfurt an der Oder uraufgeführt wurde, brach das Publikum vor Begeisterung und Rührung in Tränen aus. Karl Wilhelm Ramler berichtet in einem Brief an Gleim: »die Zuschauer haben drey und eine halbe Stunde zugehört, stille geseßen wie Statüen, und geweint.«' Ahnliche Reaktionen des Publikums haben sich auch bei späteren Aufführungen wiederholt und dieses erste deutsche bürgerliche Trauerspiel so zu einem »der größten Weinerfolge des 18. Jahrhunderts« gemacht.2 Eingestellt haben sich die Tränen im Parterre sicher durch Sympathie, durch die unwillkürliche Anteilnahme an dem sichtbaren, also nicht nur hörbaren Leid der dramatis personae. Auf der Bühne beginnen diese insgesamt achtmal zu schluchzen, mehr als dreißigmal ist vom Weinen oder von Tränen die Rede. Zähren wie auch andere körpersprachliche Artikulationsformen bilden aber kein empfindsames Beiwerk, sondern bestimmen ganz entscheidend die dramatische Handlung in diesem Stück. Die Figuren werden durch ihre Empfindungen charakterisiert, ihre innere Verfassung stellen sie durch den willkürlichen oder unwillkürlichen Ausdruck ihrer Gefühle dar. Uber die dramatische Rede hinaus vermitteln besonders die Mienen und Gebärden der Akteure einen Einblick in die inneren Regionen der vorgestellten Personen, die sich dem Zuschauer leichter als dem Leser angemessen erschließen. Freilich finden sich auch im Dramentext die entsprechenden Hinweise, etwa in den Regiebemerkungen oder den Beobachtungen der Mitspieler, die allerdings in Interpretationen gegenüber dem Text oft gering geschätzt und als bühnenpraktische Zutaten übergangen werden. Theodore Ziolkowski hat in einem richtungweisenden Aufsatz zuerst auf die Körpersprache in der >Miß Sara Sampson< aufmerksam gemacht,3 und Peter Michelsen führte diese Anregungen weiter aus.4 Dabei 1
2
3
4
Brief von K. W. Ramler an J . W. L. Gleim, 25. Juli 1755, in: R. Daunicht (Hg.), Lessing im Gespräch (1971), S. 88. W. Barner, »Zu viel Thränen - nur Keime von Thränen«. Über >Miß Sara Sampson« und >Emilia Galotti< beim zeitgenössischen Publikum. In: Das weinende Saeculum (1983), S. 89-105. Th. Ziolkowski, Language and Mimetic Action in Lessing's Miss Sara Sampson. In: Germanic Review 40 (1965), S. 261-276. P. Michelsen, Die Problematik der Empfindungen. Zu Lessings >Miß Sara Sampson
Ganz selbstverständlich setzt der Autor für seine These voraus, daß die »Bewegung der Gehirnfibern« »so genau mit der Akzion der Muskeln zusammenhängt], daß sich kein Mensch erwehren kann, Mienen zu machen, wenn etwas seine Seele beschäftigt. Fast jeder Gemüthsdisposition entspricht eine gewisse Miene.«'0 Diesen aus natürlichen Vorgängen abgeleiteten Umstand macht er nicht nur für das praktische Scheitern der Verstellungskunst verantwortlich, vielmehr geht er über diese Anwendung seiner Einsicht aus dem Bereich der ethica noch hinaus, indem er auf das Theater zu sprechen kommt: »Wenn man dem Zuschauer eines Theaterstücks aus einer gewissen Ferne zusähe; so müste ein Kenner den Inhalt und den ganzen Gang des Stücks beynahe aus dessen Mienen errathen können.«51 Gerade weil diese Bemerkungen von der publizistischen Peripherie herstammen, sind sie der Beachtung wert. Bieten sie doch die Möglichkeit, zunächst von großen Namen und Lehrgebäuden abzusehen, um die Aufmerksamkeit allein auf die Sache zu richten. Man wird sich fragen, welche »Lehre von den Mienen und Geberden« der Monogrammist eigentlich im Auge hat, die gleichzeitig als Erkenntnisquelle für die Psychologie, als Mittel zur praktischen Menschenkenntnis, als Strategie gegen die Praktiken politischer Verstellungskunst und als Anleitung für die Schauspielkunst dienen soll, und ob sie tatsächlich so neuartig ist, wie er glauben machen will. Schließlich wird man wissen wollen, wie ein Zusammenhang zwischen dieser »Lehre« und der »Psychologie« vorzustellen sei. Seinen Text beschließt der Verfasser mit der folgenden Zukunftsvision, in der er mit zeittypischer Emphase die zu vereinigenden Disziplinen nochmals namhaft macht: Wie sehr ist der grosse Zeitpunkt zu erwünschen, da die Menschenkenntniß ein Theil der Naturhistorie werden, Psychologie, Physiognomik und Physiologie Hand in Hand gehen und uns dem Ziele hoher allgemeiner Erleuchtung immer näher bringen werden!' 1 19
Beantwortung einer von K . aufgeworfenen physiognomischen Frage. In: Deutsches Museum 1772/2 (Oktober), S. 353-362, hier: S. 357. 3° Ebd. ' ' Ebd. ' 2 Ebd., S. 36if. Ahnlich emphatisch klingt diese Forderung schon in Herders J o u r n a l meiner Reise im Jahre 1796Universal-Lexicon< dokumentiert unter dem Lemma natürlicher Einfluß< den Kenntnisstand um 1740: Es kömmt dasselbe eigentlich darauf an, daß nach demselbigen die Seele eine Kraft in den Cörper habe, so daß nach ihrem Belieben in ihm den Vorstellungen und Begierden gleichförmige Bewegungen erregt würden, dergleichen wieder von ihm vermittelst der Bewegungen in dem Beleben, den Geistergen in der Seele geschähe, und auf solche Art die Seele in den Cörper und der Cörper in die Seele einen Einfluß thäte. Es geschiehet also dieser Einfluß Wechsels weise; von der Seele in den Cörper und von dem Cörper in die Seele.47
Die in den letzten zwei Jahrzehnten betriebene Erforschung dieser Art medizinisch-philosophischer Anthropologie und ihrer Ausstrahlung auf die Dichtung hat sich inzwischen zu einer regelrechten »Forschungslandschaft« formiert.48 An die dabei erzielten Ergebnisse knüpft diese Arbeit an, ohne sie eigens zu wiederholen. Hervorzuheben ist allerdings, wie der Begriff >Anthropologie< hier nicht verwendet werden soll. Besonders geeignet für eine Abgrenzung ist die Bestimmung Kants aus der Vorrede zu seiner >Anthropologie in pragmatischer Hinsicht< (1798): Eine Lehre von der Kenntniß des Menschen, systematisch abgefaßt (Anthropologie), kann es entweder in physiologischer oder in pragmatischer Hinsicht sein. Die physiologische Menschenkenntniß geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll. 4 '
Kant lehnt die klassische antbropologia physica oder medica, um die es uns gehen soll, ab, weil sie scheinbar den Selbstbestimmungswillen des Menschen behindert. Wenn er im ersten, didaktischen Teil gleichwohl häufig auf sie zurückgreift, so doch hauptsächlich mit dem Ziel, das irritierende >Andere der Vernunft^ 50 die dem Autonomiestreben des aufgeklärten Kopfes offenbar hinderliche und am liebsten zu übergehende Leibgebundenheit und Sinnlichkeit lediglich als eine Vorbedingung für die Vernunftbestimmung des Menschen zu erörtern. Im Vordergrund steht für Kant nicht die innere Natur des Menschen, sondern die »Erkenntniß des Menschen als Weltbürger«,''' die Naturgeschichte der Vernunft und die geschichtsphilo47
J. H. Zedier, Universal-Lexicon, Bd. 23 (1740), Sp. 980. Grundlegende Koordinaten bilden die Studien von H.-J. Schings, Melancholie und Aufklärung (1977) und W. Riedel, Die Anthropologie des jungen Schiller (1985). Zum Forschungsstand vgl. jetzt W. Riedel, Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: IASL Sonderheft 6 (1994), S. 93-155; Vf., Auswahlbibliographie zur Erforschung der (literarischen) Anthropologie im 18. Jh. (1975-1993)· In: H.-J. Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jh. (1994), S. 755-768. 49 I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Akad.-Ausg. VII (1917), S. 1 1 9 . 50 Vgl. zu dem mit einiger Berechtigung zum Topos erhobenen Titel: H. u. G. Böhme, Das Andere der Vernunft (1983). !I I. Kant, Anthropologie (Anm. 49), S. 120. 48
12
sophische Perspektive der Menschheitsentwicklung. Dazu kommt die ebenfalls von Kant in Vorlesungen behandelte >physische Geographie< oder Rassenkunde. Anders als Kant versteht es der mit ähnlichen Perspektiven auf den Menschen blickende Herder, wenigstens drei unterschiedliche Arten von Anthropologie miteinander zu verbinden: in der physischen beschäftigt er sich mit der Abgrenzung des Menschen vom Tier, in der philosophischen mit dem Leib-Seele-Problem und in der Kulturanthropologie mit den Unterschieden zwischen den verschiedenen Völkern und Kulturen. *2 Der Erforschung des Menschen nach seinen äußeren Handlungen und Merkmalen, wie sie im 18. Jahrhundert von der pragmatischen Anthropologie, der Völker- und Rassenkunde, 53 betrieben wird, gilt unser Interesse also ebensowenig wie der sozialgeschichtlich, auf die Lebensverhältnisse dieser Zeit orientierten >Historischen Anthropologien 54 Schließlich wird auch der von dem barocken Polyhistor Johannes Praetorius (1630-1680) geprägte Begriff einer »Physiognomia Anthropologics« " hier keine Rolle spielen, überträgt diese Lehre doch lediglich die frühneuzeitliche Signaturenlehre auf den Menschen. Praetorius, der sich durch verschiedene Schriften einen Namen als Prognostiker machte, geht - wie die gesamte ältere physiognomische Literatur - über den naturmystischen Bezugsrahmen der mantischen Deutungskünste (Chiromantie, Metoposcopie etc.) nicht hinaus. Unser Interesse gilt hingegen dem Stellenwert und der wissenschaftlichen Begründung der körperlichen Beredsamkeit - im weiteren Sinne auch der Physiognomik - in der Anthropologie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die von Praetorius zuerst gebrauchte Begriffsverbindung findet, so weit ich sehe, nur noch ein einziges Mal Verwendung: in den - gegenüber dem vielversprechenden Titel - leider kaum ergiebigen >Ideen zu einer physiognomischen Anthropologie< (1791) des Platner-Schülers Johann Christian August Grohmann (1769-1847). 52
Vgl. diese Typologie bei H. B. Nisbet, Herders anthropologische Anschauungen in den >Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: Anthropologie und Literatur um 1800 (1992), S. 1 - 2 3 . " Z u diesem Verständnis von Anthropologie vgl. W. E. Mühlmann, Geschichte der Anthropologie ( 4 i986), bes. Kap. III u. ÎV; S. Moravia, Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung; W. Krauss, Z u r Anthropologie des 18. Jahrhunderts. In: Ders., Aufklärung II: Frankreich (1987), S. 62-247. 54 Vgl. R. Sprandel, Historische Anthropologie. In: Wegbereiter der Hist. Psychologie (1988), S. 440-448. 55 J. Praetorius, Collegium curiosum privatissimum physiognom- chiromant- metoposcop- anthropologicum (1704). »Es ist aber die Physio[gno]mia Anthropologica eine solche Fähigkeit / da man aus gewissen Zeichen des Menschlichen Leibes für eine ieden Natur / Zuneigung und andern zufälligen Dingen urtheilen kann.« >é Grohmann fällt weit hinter den Kenntnisstand seiner Zeit zurück, seine Spekulationen sind wiederum von der bereits verabschiedeten Temperamentenlehre geprägt. N o c h am interessantesten sind seine Überlegungen zu einer Hierarchie der
13
Die Theorie der Physiognomik kommt in dieser Arbeit nur zur konzeptionellen Abgrenzung der eloquntia corporis in Betracht und wird deshalb historisch nur gestreift.' 7 Während nämlich Johann Caspar Lavater ( 1 7 4 1 1801) in den monumentalen >Physiognomischen Fragmenten< (1775-1778) mit seinen geniezeitlichen, naturspekulativen Schwärmereien das medizinische Wissen der Zeit fast völlig vernachlässigt, läßt sich in der physiologischen und anthropologischen Literatur seit der Jahrhundertmitte das deutliche Bemühen erkennen, die Physiognomik gegen den aufklärerischen Vorwurf der Mystik und Wahrsagerei durch die Erklärung der Muskelfunktionen und der Habitualisierung zu verteidigen. Einige Versuche, den von Grohmann angekündigten Zusammenhang zwischen Anthropologie und Physiognomik herzustellen, werden im dritten Kapitel untersucht. Dabei zeigt sich, daß das Konzept einer Physiognomik fester Formen rasch der Kritik von Anhängern einer ausschließlich auf Bewegungen beruhenden Körpersprache, der Pathognomik und Mimik, anheimfällt. Die Anthropologen schließen sich damit fast einheitlich der Position Lichtenbergs gegen Lavater an. Die jüngst von der Forschung in den Blick genommene Schädellehre (Kranioskopie, Phrenologie) Franz Joseph Galls (1758-1828), die übrigens auch Impulse auf die Literatur ausübte,58 setzt ähnlich wie die Rassenphysiognomik Samuel Thomas Soemmerings (1755-1830)" in den Grundgedanken eher die Interessen Lavaters fort. Beide Lehren weisen als anatomisch-physiologische Extremerscheinungen sowohl über den hier zugrundegelegten psychophysischen Begriff von Anthropologie als auch über den Zusammenhang des 18. Jahrhunderts hinaus und bleiben deshalb unberücksichtigt.
57
58
!S
14
Sinne und zu dem in dieser Zeit viel diskutierten Problem eines Farbenklaviers. Den spekulativen Gestus charakterisiert am besten der Historiker der Physiognomik G . G. Fülleborn, Abriß einer Geschichte und Litteratur der Physiognomik (1797, N D 1968), S. 186: »Wieder eine Temperamentslehre, und sonst vieles, was sich gut liest, aber schwer fassen läßt und in der Wirklichkeit bestätigen läßt.« Z u Grohmann vgl. I. Lohmann-Siems, J . C . A . Grohmanns >Ideen zu einer physiognomischen Anthropologie< aus dem Jahre 1 7 9 1 . In: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen 8 (1963), S. 67-84. Das gegenwärtig starke Interesse der Forschung an der Physiognomik hat noch nicht das notwendige historische Werk hervorgebracht, das die Arbeit von G . G . Fülleborn (Anm. 56), ersetzen würde. Hervorzuheben sind aber A . Ohage, V o n Lessings »Wust« zu einer Wissenschaftsgeschichte der Physiognomik im 18. Jahrhundert. In: L Y 21 (1989), S. 5 5-87; J . Saltzwedel, Das Gesicht der Welt. Physiognomisches Denken der Goethezeit (1993). Vgl. S. Oehler-Klein, Die Schädellehre Franz Joseph Galls in Literatur und Kritik des 19. Jahrhunderts (1990). Auf schwerwiegende Mängel dieser Studie macht J . Saltzwedel aufmerksam, in: arcadia 27 (1992), S. 328-330. Unter den zahlreichen Beiträgen der Soemmering-Forschungen zu diesem Thema vgl. auch hier S. Oehler-Klein, Samuel Thomas Soemmerings Neuroanatomie als Bindeglied zwischen Physiognomik und Anthropologie. In: Die Natur des Menschen (1990), S. 57-87. Anthropologie hier im Sinne von Abstammungslehre.
Die Forschungsrichtung der literarischen Anthropologie< untersucht den Brückenschlag von der Menschenkunde philosophischer Arzte zur Dichtung. Dabei hat sich das Interesse auf Autoren konzentriert, die neben der schönen Literatur selbst durch anthropologische Fachschriften hervorgetreten sind. Oftmals handelt es sich dabei um Schüler einflußreicher philosophischer Arzte. Als literarisch besonders produktiv haben sich SchülerLehrer-Verhältnisse wie zwischen Schiller und Jakob Friedrich Abel/ 0 Wieland und Johann Georg Zimmermann, 61 Jean Paul bzw. Wezel und Ernst Platner 62 erwiesen. Dazu kommen Schriftsteller wie Karl Philipp Moritz, die ihre eigentümliche Doppelbegabung in Dichtung und psychologischer Theoriebildung gleichermaßen beweisen. 6 ' Viele Autoren setzten so ihre theoretisch erworbene Menschenkenntnis in poetische Energie um. Geradezu prädestiniert dafür sind die Gattungen der Autobiographie 64 und des Romans sowie deren Theorie, die zeitgleich mit der rasant fortschreitenden Erkundung des Menschen einen ungeheuren Aufschwung erleben. Wie etwa das >Romanmodell Wieland-Blanckenburg< mit der Forderung, die innere statt die äußere Geschichte des Menschen zu erzählen, zeigt, fundieren anthropologische Überlegungen die ästhetischen Ziele einer ganzen Gattung. 65 Die Richtung des Einflusses ist in den meisten Fällen umkehrbar. So beanspruchen immer wieder Dichter durch ihre poetischen Darstellungen zur Erforschung des Menschen beigetragen zu haben. Das gilt nicht nur für Verfasser von Autobiographien und anthropologischen Romanen, sondern auch für Dramatiker. 66 Anthropologen von Herder bis Kant be60
Vgl. W. Riedel, Die Anthropologie des jungen Schiller (1985); ders., Influxus physicus und Seelenstärke. Empirische Psychologie und moralische Erzählung in der deutschen Spätaufklärung und bei Jacob Friedrich Abel. In: Anthropologie und Literatur um 1800 (1992), S. 24-52; H.-J. Schings, Philosophie der Liebe und Tragödie des Universalhasses. >Die Räuber« im Kontext von Schillers Jugendphilosophie (1980/81). 6 ' Vgl. M. Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien: Christoph Martin Wielands >Natur der Dinge< (1989). 62 Vgl. Vf., Ernst Platners Anthropologie und Philosophie (Anm. 42). 63 Vgl. R. Bezold, Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz (1984); L. Müller, Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis (1987); für weitere Literatur s. Vf., Auswahlbibliographie (Anm. 48). 64 Die Forschungsrichtung der literarischen Anthropologie ging aus dem Interesse für Autobiographien hervor. Vgl. neben zahlreichen anderen Studien, besonders zu Moritz: H . Pfotenhauer, Literarische Anthropologie. Selbstbiographie und ihre Geschichte - am Leitfaden des Leibes (1987). Z u weiteren Themen vgl. den Sammelband Anthropologie und Literatur um 1800. Hg. von J . Barkhoff und Eda Sagarra (1992) [mit Beiträgen u. a. zu Claudius, Goethe, Herder, Jean Paul, Moritz, Schiller, Schlegel]. 6> Vgl. H.-J. Schings, Der anthropologische Roman. Seine Entstehung und Krise im Zeitalter der Spätaufklärung (1980). Dieser Aufsatz hat viele der erwähnten Studien angeregt. 66 Ο. H . Frhr. v. Gemmingen erklärt beispielsweise 1780 in seiner >Mannheimer Dramaturgie« ( N D 1969), S. 26: »Ich sehe das Theater hauptsächlich als ein Magazin menschlicher Erfahrungen an, um neben der Belustigung, Menschen-
15
ziehen deshalb ihre Beobachtungen nicht nur aus der wirklichen Welt, sondern auch aus den Fiktionen der schönen Literatur. 67 Bevor die Schriftsteller aber ihren Beitrag zu der Erkundung des Menschen in Aussicht stellen können, verpflichten sie sich selbst zu einem entsprechenden Studium. 68 M a g das folgende v o n Sulzer entworfene Berufsbild des dramatischen Dichters auch noch nicht den Realitäten u m 1 7 7 3 entsprechen, so wäre seine Einschätzung als eine Idealforderung w o h l doch v o n relativ vielen Autoren unterstützt worden: Der Dichter bringt den besten Theil seines Lebens damit zu, die verschiedenen Charaktere der Menschen zu erforschen, die Leidenschaften gründlich kennen zu lernen, die Tugenden und Laster in ihrem wahren Lichte zu beobachten [...].'' Während Arbeiten zur literarischen Anthropologie bislang vornehmlich Romanen und Autobiographien, zuweilen auch Gedichten, galten, soll hier die dramatische Literatur untersucht werden. Dabei geht es weniger um das philosophische Weltbild einzelner dramatis personae
- wie beispielsweise
für Schillers >Räuber< schon gezeigt 7 0 - , sondern um die Frage, wie eine Wirkungsästhetik dramaturgisch realisiert werden kann. Statt auf dramentheoretische E n t w ü r f e wie Lessings Mitleidspoetik konzentriert sich der Blick auf die Kunst des Dramatikers und Schauspielers, »den W e g zu des Zuschauers Seele zu finden«. 7 ' Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Kenntniß zu erwerben und den Gang zu lernen, den menschliche Sachen gewöhnlicher Weise nehmen.« Und der Mannheimer Schauspielstar Iffland zeigt sich ζ. B. davon überzeugt, daß gerade der Schauspieler, »den das psychologische Studium auf den unmerklichsten Keim dessen führt, was hernach Tugend oder Laster wird, der in dem Spiegel der Seele, dem Gesicht und dem ganzen äußeren Menschen rein und deutlich sieht«, daß dieser also »zu der Geschichte des Menschen Beiträge liefern kann«. Vgl. M. Martersteig (Hg.), Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters (1890, N D 1980), S. 1 1 5 . 67
68
69
Herder weist in seiner Schrift >Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele< (1778) drei Wege zur wahren Seelenlehre: »Lebensbeschreibungen: Bemerkungen der Aerzte und Freunde: Weissagungen der Dichter« (SW V I I I , S. 180); Kant zählt zu den Hilfsmitteln der Anthropologie: »Weltgeschichte, Biographien, ja Schauspiele und Romane«, vgl. I. Kant, Anthropologie (Anm. 49), S. 1 2 1 . Die Zukunftsvorstellung von Karl Philipp Moritz in seinen >Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre< (1782) lautet beispielsweise: »Das Nachbeten und A b schreiben in den Werken des Geistes wird aufhören, und der Dichter und Romanschreiber wird sich genötigt sehn, erst vorher Experimentalseelenlehre zu studieren, ehe er sich an eigne Ausarbeitungen wagt.« Vgl. K . Ph. Moritz, Werke, Bd. 3 (1981), S. 91. Ahnlich argumentiert u. a. J . K. Wezel, Versuch über die Kenntniß des Menschen II (1785, N D 1971), S. 138.
J . G . Sulzer, Philosophische Betrachtungen über die Nützlichkeit der dramatischen Dichtkunst. In: Ders., Vermischte philosophische Schriften, Bd. 1 (1773, N D 1974), S. 1 4 6 - 1 6 5 , hier: S. 152. 7 ° Vgl. H.-J. Schings, Schillers >RäuberGrenzen der Malerei und Poesie< - wie Lessing in seinem >Laokoon< zeigt -, indem sie die Vorteile der Poesie, nämlich eine Abfolge von Handlungen in der Zeit darzustellen, um die Vorzüge der Malerei, nämlich Körper simultan im Raum abzubilden, ergänzt. Gerade die sprachlich schwer beschreibbare räumliche Komposition auf der Bühne bzw. der körpersprachliche Ausdruck der Darsteller wird deshalb auch in theoretischen Werken gerne durch illustrierende Kupferstiche abgebildet. Umgekehrt versucht man im Theater effektvolle Schlußbilder im Stil von Gemälden nachzustellen, indem die Darsteller sich scheinbar erstarrt zu sogenannten >Tableaux vivants< gruppieren.74 Beide Formen der bildlichen Gestaltung, das Porträt ebenso wie das belebte Sinnbild, sind indessen nicht lebendig und nicht psychologisch motivierbar. Aus der Perspektive des Streites zwischen Physiognomen und Pathognomen repräsentieren sie verfestigte Formen, die mit der aktuellen Körpersprache der Leidenschaften kaum noch etwas zu tun haben. Wie später Christian Garve und andere gegen die physiognomischen Bilder einwenden, wird sich eben aus den »immer unbeweglichen Zügen eines Porträts [...] niemals etwas sicheres schließen lassen«.75 Die bildende Kunst erleidet mithin als nachahmende einen beträchtlichen Verlust an Authentizität. Möglicherweise wird man aber von einer Studie zur Geschichte der eloquentia corporis ein Kapitel zu der jüngst in einer großen Ausstellung gewürdigten »Körpersprache in der Kunst«76 erwarten. Zu fragen wäre darin, ob die anthropologische Sichtweise von Malern und Kunsttheoretikern auf die bildende Kunst angewendet wurde.77 Wohl wird die Malerei häufig anderen Künsten, die auf die Erregung von Leidenschaften abzielen, zur Seite gestellt,7® doch der direkte Einfluß auf die dramatische Liceratur 74 75 76
77
78
18
Vgl. K. G. Holmsröm, Monodrama, Attitudes, Tableaux vivants (1967). Briefe von Christian Garve an Christian Felix Weiße und einige andere Freunde, Bd. ι (1803), S. 83. Brief an Weiße vom 19. Oktober 1774. Vgl. W. Kemp, Die Beredsamkeit des Leibes. In: Städel-Jahrbuch N F 5 (1975), S. 111—134, sowie den an Essays und bibliographischen Hinweisen reichen Katalog von I. Barta Fliedl, Chr. Geissmar (Hg.), Die Beredsamkeit des Leibes. Zur Körpersprache in der Kunst (1992). Interessante Hinweise auf die Theorie von Mimik und Physiognomik bietet L. O. Larsson, Der Maler als Erzähler: Gebärdensprache und Mimik in der französischen Malerei und Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts am Beispiel Charles Le Bruns. In: V. Kapp (Hg.), Die Sprache der Zeichen und Bilder (1990), S. 173-189. Die Maler Antoine Coypel und sein Sohn Charles-Antoine entwickeln in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Programm malerischen Körperausdrucks, das sich an der Deklamation und besonders am Vorbild der Körpersprache von Taubstummen orientieren soll. Vgl. N. Mirzoeff, Body Talk: Deafness, Sign and Visual Language in the Ancien Régime. In: Eighteenth-Century Studies 25 (1992), 561-585. Vgl. ζ. Β. Ch. Bonnet, Analytischer Versuch über die Seelenkräfte, Bd. 1 (1770),
scheint im Unterschied zu den anderen vorgestellten Disziplinen eher selten. 79 Deshalb wird in dieser Arbeit nicht eigens auf die Körpersprache in der bildenden Kunst eingegangen, deren Erforschung übrigens mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein dürfte. Dies zeigt sich vielleicht am besten an A b y Warburgs über Jahre hinweg verfolgtem Plan eines zweibändigen »Mnemosyne-Atlas«, zu dem er umfangreiches Material über die »Urformein der Gebärdensprache« besonders in der Renaissancekunst in seiner Bibliothek zu einer »Urkundensammlung zur Psychologie der menschlichen Ausdruckskunde« zusammentrug. Leider konnte er dieses Werk nicht mehr fertigstellen. 80 D o c h zurück zum Titelbegriff >Schauspielkunstactio scenica< läßt einen Zedlers >Universal-Lexicon< gänzlich im Stich. Erstaunlich ist dies allemal, erscheint doch schon fünf Jahre vor dem ersten Band dieser Standardenzyklopädie die >Dissertatio de actione scenica< von Franciscus Lang ( 1 6 5 4 - 1 7 2 5 ) , die allerdings nur f ü r den poetischrhetorischen Unterricht auf dem jesuitischen Schultheater, nicht aber f ü r den Berufsschauspieler, konzipiert ist. Lang beginnt seine Abhandlung mit folgender Definition: Actionem Scenicam ego è meo sensu convenientem totius corporis vocisque irtßexionem appello, ciendis affectihus aptam. Adeóq; tarn ipsam corporis moderationem, motus & posituras, quàm vocis mutationem Actio complectitur, quas ad Artis & Naturae leges componit, ut spectatoribus delectationem faciat, & inde potentiùs moveat ad affectum.8' Vorrangiges Ziel der Schauspielkunst ist nach Lang die Erregung von A f f e k ten durch körperliches und stimmliches Verhalten, das den »Artis & Naturae leges« folgen müsse. Die - später viel diskutierten - Gesetze von Kunst und N a t u r sollen die stimmliche Artikulation und körperliche BeredsamS. 175: »Hat die Kunst des Malers, des Dichters, und des Redners wohl einen andern Gegenstand, als daß sie in uns durch Züge oder Worte diejenigen sinnlichen Ideen hervorbringt, welche am geschicktesten sind uns zu rühren und zu bewegen?« 79 Eine interessante - im fünften Kapitel vorzustellende - Ausnahme bildet Joseph Franz von Goez (1754-1815), der Gottfried August Bürgers Ballade >Lenardo und Blandine< in 160 Kupferstiche übersetzte und mit einer Schrift über den leidenschaftlichen Körperausdruck begleitete. Schließlich hat er die mimisch bearbeitete Ballade als Melodrama für das Theater eingerichtet. 8 ° Vgl. I. Barta Fliedl: »Vom Triumph zum Seelendrama. Suchen oder Finden oder die Abenteuer eines Denklustigen«. In: Die Beredsamkeit des Leibes (Anm. 76), S. 165-170. 81 Franciscus Lang, Dissertatio de actione scenica (1727), S. 12. A. Rudin übersetzt diese Stelle in seiner Ausgabe (S. »Als Schauspielkunst in meinem Sinne bezeichne ich die schickliche Biegsamkeit des ganzen Körpers und der Stimme, die geeignet ist, Affekte zu erregen. Und zwar umfaßt die Schauspielkunst sowohl die Beherrschung des Körpers selbst, die Bewegungen und Stellungen, als auch die Veränderung der Stimme, welche sie nach den Gesetzen der Kunst und Natur vereint, so daß sie den Zuschauern Genuß verschafft und daher wirksamer zum Affekt führt.« i?
keit kontrollieren. Für die vollkommene Darstellung fordert Lang ausdrücklich die Notwendigkeit der Kunst, der regulae artis. Erst solche Regeln vermögen das natürliche Ausdrucksstreben zu verfeinern, es kalkulierbar, erlernbar und wiederholbar zu machen. Damit leistet Lang einen Beitrag zur Aufwertung der in Frage stehenden Lehre von einem handwerklichen Vermögen zu einer Kunst. Bekanntlich erweitern seit dem Mittelalter die artes mechanicae den antiken Kanon der sieben freien Künste, bestehend aus dem Trivium: Grammatik, Rhetorik, Dialektik und dem Quadrivium: Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik. Seit Hugo von St. Victor (f 1 1 4 1 ) bilden die artes mechanicae einen selbständigen vierten Teilbereich der Philosophie, neben theorica, practica und logica.82 Hugo von St. Victor nimmt die Schauspielkunst in sein ebenfalls siebenteiliges System der mechanischen Künste auf (neben Weberei, Schmiede- und Bautechnik, Schiffahrt, Ackerbau, Jagd und Heilkunde).83 Simultan zu der institutionellen Etablierung des Theaters und dem Ringen des Schauspielerstandes um gesellschaftliche Anerkennung84 verstärken sich im 18. Jahrhundert die Bestrebungen, die Schauspielkunst als eine freie Kunst auszuweisen, um sie so gegen die gängige Abwertung als Handwerk oder niedrige Nachahmung zu verteidigen.8' Einen ersten theoretischen Vorstoß wagt Lessings Stiefvetter Christlob Mylius (1722-1754) mit seinem >Versuch eines Beweises, daß die Schauspielkunst eine freye Kunst sey< (1750). Darin zieht er die Kategorien des Witzes, der Beurteilungskraft und des Gedächtnisses zur Abgrenzung zwischen Handwerk und Kunst heran, wobei »eine freye Kunst ist, zu deren Ausübung mehr Witz und Beurtheilungskraft, als Gedächtniß, und mehr Witz als Beurtheilungskraft, erfordert wird.«86 Natürlich versteht Mylius unter dem am höchsten bewerteten Vermögen des Witzes im Sinne des 18. Jahrhunderts Esprit bzw. intellektuelle Kombinationsfähigkeit.87 Er versucht nun für die Schauspielkunst nachzuweisen, daß man »nichts handwerksmäßiges darinne finden« werde und daß sie sogar »über die Sphäre der Künste erhaben seyn« wird.88 Dies gilt für 82
Vgl. H. M. Klinkenberg, Art. >Artes liberales/artes mechanicaeAnkündigung< seiner >Hamburgischen Dramaturgie< vom Schauspieler: »Er muß überall mit dem Dichter denken; er muß da, wo dem Dichter etwas Menschliches wiederfahren ist, für ihn denken.«92 In seinem Lexikonartikel über Schauspieler; Schauspielkunst bestätigt im Jahre 1775 Johann Georg Sulzer die »ausgemachte Wahrheit [...], daß der Schauspieler so große Talente, als irgend ein Künstler, nöthig habe.« Ganz im Sinne von Mylius fordert er von diesem eine ausnehmende Urtheilskraft, weil es ohne diese unmöglich ist, sich so vollkommen, als hier nöthig ist, in die Gedanken und Empfindungen eines andern zu setzen, und seinen Worten allen Nachdruk, und jeden Ton zu geben, den sie in seinem Munde haben würden. Man muß so zu sagen in die Seelen andrer Menschen hineinschauen können."
Wie schon Mylius erhebt Sulzer die Seelen- und Charakterkunde zur maßgeblichen Voraussetzung für die Schauspielkunst. Denn »Miene, Stellung und Bewegung« sollten nicht allein mit den Worten harmonieren, vielmehr müssen sie »mit dem ganzen Charakter der Person übereinstimmen«.94 Sulzer befindet sich auf der Höhe der zeitgenössischen Diskussion, wenn er 89
90 91 92 93
94
Z u allen praktisch-technischen Fragen der Ausstattung und Bühnenkunst im 18. Jahrhundert vgl. die grundlegende Studie von S. Maurer-Schmoock, Deutsches Theater im 18. Jahrhundert (1982). [Mylius,] Versuch eines Beweises (Anm. 86), S. 12. Ebd., S. 12. L M 9, S. 184. J . G. Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste II (1775), S. 597. Vgl. die ähnliche Formulierung in: J . G. Sulzer, Theorie der Dichtkunst II (1789), S. 327 (§ 94)· Ebd. 21
das Anforderungsprofil für den um Anerkennung ringenden Berufsstand mit den Schlagworten »genauer Beobachtungsgeist« und »große Erfahrung und Kenntniß des Menschen«95 umschreibt. Kein Wunder, wenn ein führender Schauspieler wie Wilhelm August Iffland seinen Kollegen zuruft: »Sulzer sei Ihre Bibel.«90 Andere Autoren folgen - wie zu zeigen sein wird - in die von Sulzer gewiesene Richtung. Den »mündlichen Vortrag« und »die Sprache der Gebehrden« bezeichnet Sulzer - nach alter rhetorischer Tradition - als die »zwey Hauptpunkte« der zu definierenden Kunst. 97 Gegenstand der vorliegenden Arbeit bildet lediglich der letztere. Denn gerade das Konzept der körperlichen Beredsamkeit stellt den Zusammenhang von Anthropologie und Schauspielkunst deutlich her. Unter dem Stichwort >Gebehrden< werden bei Sulzer einige ihrer Vorzüge gegenüber der Wortsprache vorgetragen: In gar vielen Fällen sind die Gebehrden eine so genaue und lebhafte Abbildung des innern Zustandes der Menschen, daß man ihre Empfindungen dadurch weit besser erkennet, als der beredteste Ausdruck der Worte sie zu erkennen geben würde. Keine Worte können weder Lust noch Verdruß, weder Verachtung noch Liebe so bestimmt, so lebhaft, viel weniger so schnell ausdrüken, als die G e behrden. Also ist auch nichts, wodurch man schneller und kräftiger auf die Gemüther würken kann. , s
Sulzer lehnt sich mit dieser Bestimmung offenbar eng an die Abhandlung >Les beaux-arts réduits a un même principe< (1746) des Ästhetikers Charles Batteux (1713-1780) an, der drei unterschiedliche Formen des Ausdrucks von Gedanken und Empfindungen unterscheidet, nämlich »die Rede, den Ton der Stimme, und die Geberde.« Töne und Gebärden, also die Zeichen der Deklamation oder des Gesangs und des Tanzes, bilden die allgemeinverständliche Sprache aus dem » Wörterbuch der einfältigen Natur«, weil sie direkt »die Stimme des Herzens« wiedergeben. Zum Ausdruck von Leidenschaften - dem eigentlichen Ziel der Kunst - sind sie deshalb den arbiträren Worten, den »Organefn] der Vernunft« und bloßem »Widerschein der " Ebd. Sulzer behauptet dies auch für die anderen Künste. Im Artikel >Leidenschaften< schreibt er, daß der Künstler, »der die Menschen in ihren leidenschaftlichen Aeußerungen mit einem scharfen Auge fleißig beobachtet hat, der dazu noch eine philosophische Kenntniß der Tiefen des menschlichen Herzens besitzet, in seinen Schilderungen noch größer seyn« werde. Deshalb empfiehlt er »eine genaue und äuserst aufmerksame Beobachtung der Menschen, und ein anhaltendes ganz besonderes Studium der Charaktere und Leidenschaften« (ebd., S. 152). 96 A . W. Iffland, Briefe über die Schauspielkunst. In: Rheinische Beiträge zur Gelehrsamkeit 4 (1781), S. 3 0 4 - 3 1 1 , hier: S. 307. 97 J . G. Sulzer, Allgemeine Theorie (Anm. 93), S. 597. Die mit der Gebärdensprache um den wahren Ausdruck der Seelenregung konkurrierende Musik wäre gesondert zu untersuchen. Dabei ergeben sich im 18. Jahrhundert etliche gemeinsame Quellen, die durch eine Vielzahl von Werken zur Musikästhetik zu ergänzen wären. 98 Ebd. I (1773), S. 571. Vgl. ähnlich: J . G . Sulzer, Theorie und Praktik der Beredsamkeit (1786), S. 247 (§ 71).
22
Empfindungen«,
überlegen:'9
»Eine
Sprache,
deren
Ausdrücke
der
M e n s c h h e i t selbst, als d e r M e n s c h e n , sind; w a s ist diese nicht f ü r ein R e i c h t h u m f ü r die K ü n s t e , deren G e s c h ä f f t e es ist, die Seele in B e w e g u n g z u s e t z e n ! « 1 0 0 D i e D e f i z i t e der P o e s i e , eine m e h r e r k e n n e n d e , v e r n ü n f t i g e als e m p f i n d e n d e K u n s t z u sein, k ö n n e n - b e v o r z u g t in der d r a m a t i s c h e n D i c h t u n g - d u r c h die E i n b e z i e h u n g d e r m u s i k a l i s c h e n u n d k ö r p e r l i c h e n >Herzenssprache< ausgeglichen w e r d e n . 1 0 1 I n d i e s e m Sinne lehrt J o h a n n J a k o b B o d m e r in seinen >Critischen B e t r a c h t u n g e n ü b e r die p o e t i s c h e n G e m ä h i d e der Dichter< ( 1 7 4 1 ) , d e r D i c h t e r m ü s s e die A f f e k t e nicht n u r b e s c h r e i b e n , sondern zugleich durch Mienen und Gebärden ausdrücken.102 D i e S p r a c h e d e r G e b ä r d e n ist seit der a n t i k e n R h e t o r i k integraler B e standteil der Literatur. I O ) M a n f i n d e t sie in mittelalterlichen O s t e r s p i e l e n 1 0 4 e b e n s o w i e in d e n D r a m e n S h a k e s p e a r e s 1 0 5 o d e r in der e u r o p ä i s c h e n B a -
99
Ch. Batteux, Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz, Bd. Ι ( 3 I 7 7 O ) , S. 3 9 i f . 100 Ebd, S. 392. Vgl. u. a. J . G . Herder im >vierten kritischen Wäldchen< (1769): »Ausdruck in Körper, in Mine, in Stellung, in Bewegung, in Handlung; wie sich in diesen die Seele so natürlich und ganz äußert - welch ein Ausdruck! welche Würkung!« (SW 4, S. 162). IC " Deshalb plädiert Batteux für die »Vereinigung der schönen Künste«. Vgl. Batteux (Anm. 99), S. 417-424, zur Poesie: S. 419^ 102 »Was man auch zum Vorzug der theatralischen Handlung vor der blossen Erzehlung sagt, das gilt aus demselben Grund von der mahlerischen Vorstellung der sichtbaren Kennzeichen der Leidenschaften. Wer uns in einen Affect setzen will, thut nicht genug, wenn er uns versichert und betheuret, daß er denselben in der Brust fühle; er muß ihn in den Minen und Gebehrden zeigen. Und dieses muß der Poet durch die mahlerische Beschreibung derselben thun.« J . J . Bodmer, Critische Betrachtungen über die poetischen Gemähide der Dichter ( 1 7 4 1 , N D 1971), S. 291. IOJ
104
105
Vgl. z. B. D. Lateiner, Nonverbal Communication in the Histories of Herodotus. In: Arethusa 20 (1987), S. 8 3 - 1 1 9 ; zur Begriffsgeschichte von der Antike bis zum 20. Jahrhundert und zur Forschungsliteratur erscheint vom Vf. der Artikel >GebärdeRäuber Wandel der Gebärde auf dem deutschen Theater im 18. Jahrhundert< (1955) den historischen Fluchtpunkt an: »Das neue Wissen über den Menschen wird sich unmittelbar auf die neue Lehre von seiner Darstellung auf der Bühne anwenden und selbst wiederum von da befruchten lassen.« 109 »Psychologisierung ist von jetzt an Zweck der neuen Schauspielkunst.« 1,0 Erika FischerLichte hat die Ergebnisse Ballhausens ergänzt und systematisiert, um sie in Form einer historischen »Einführung« allgemein zugänglich zu machen. Auf den letzten Seiten ihrer Arbeit zählt sie einige wenige, zudem sehr späte und kaum einschlägige psychologische Quellen auf und kommentiert: Die Parallelen und Querverbindungen zwischen der Konstituierung des kinesischen Codes für das Theater auf der einen und Tendenzen und Resultaten der angeführten Wissenschaften vom Menschen auf der anderen Seite sind so evident, daß die Annahme eines direkten Abhängigkeitsverhältnisses auf der Hand zu liegen scheint. Aber ein solcher Erklärungsversuch ist in mancher Hinsicht problematisch. Denn wie soll beispielsweise die Psychologie die Konstituierung des kinesischen Codes beeinflußt haben, da sie sich doch erst zu einer Zeit zu verbreiten begann, als die Konstituierung des kinesischen Codes nahezu abgeschlossen war? " '
Gegen diese Einschätzung Fischer-Lichtes sprechen eine große Zahl von Quellen aus beiden Bereichen. Ihre »Annahme paralleler Entwicklungen«" 2 läßt sich historisch belegen, unmittelbare Einflüsse sind in beiden Richtungen nachweisbar. Die Berührungspunkte zwischen Anthropologie, Schauspielkunst und einzelnen Dramen lassen sich in mehr als einem Sinne zu einer Linie fügen. Denn die normative Funktion der praktischen Dramaturgie als Darstel108
N A 3, S. 5. G. Ballhausen, Der Wandel der Gebärde auf dem deutschen Theater im 18. Jahrhundert. Dargestellt an den Gebärdenbüchern (maschinenschriftlich 1955), S. 169. 110 Ebd., S. 180. 1,1 E. Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Bd. 2: Vom »künstlichen« zum »natürlichen« Zeichen. Theater des Barock und der Aufklärung O1989), S. 1 8 1 . " 2 Ebd. In ihrem jüngsten Aufsatz: Entwicklung einer neuen Schauspielkunst, in: W. F. Bender (Hg.), Schauspielkunst im 18. Jahrhundert (1992), S. 51-70, hier: S. 70, vertritt Fischer-Lichte ihre These fast noch entschiedener: »Ein direktes Abhängigkeitsverhältnis muß allerdings - allein schon wegen der zeitlichen Differenzen und Verschiebungen - ausgeschlossen werden. Die Annahme paralleler Entwicklungen dagegen scheint plausibel.« 109
25
lungslehre ist nur ein Teilbereich einer ästhetischen Theorie, die diese >neue< Kunst einem System zuordnet, das schließlich auch die Beurteilung und Bewertung von Theaterstücken und deren Inszenierung erlaubt. Innerhalb dieses Systems interessieren hier nur die grundsätzlichen Überlegungen und deren Verbindung zu anthropologischen Denkmodellen, nicht aber wie einzelne Affekte normativ in Körpersprache gefaßt werden und auf der Bühne wiederbegegnen. Die empirische Rekonstruktion einzelner Gebärden nach den zugehörigen Gemütsdispositionen und deren ausführliche Auflistung ist deshalb nicht unser Thema; es wird umgekehrt sogar deutlich, daß die Wendung der Schauspielkunst zu einem ausdruckspsychologischen Programm die aus der Rhetorik stammende Idee der Katalogisierbarkeit von empfindungsrepräsentierenden Gebärden geradezu widerlegt." 3 A u f den Aspekt eines eher deskriptiven als normativen Kunstprogramms der Mimik, das mehr dem Kritiker als dem Darsteller zu Gebote steht, verweist mit einiger Weitsicht schon Dietrich Christoph Rommel ( 1 7 8 1 - 1 8 5 9 ) , Professor für Eloquenz und griechische Sprache in Marburg: Auch die Theorie der Declamir- und Gebehrdenkunst geht nicht der Kunst vor, sondern nach, macht nicht den Künstler, sondern beschreibt ihn; [...]. Sie bezeichnet die Grenzen der Kunst, giebt Regeln und Beurtheilungen an die Hand, lehrt das ungebundene Genie Ordnung und Plan, und ist ein Ausfluß der Poetik oder der Theorie der Kunst überhaupt, aus der sie ihre Principien holt, von der sie das Gesetz der Kunst borgt, und es entweder ganz, das heißt als ein Gesetz der Erfindungsfähigkeit ihrer Kunst genommen ist, blos als ein Gesetz der Darstellung auf sich anwendet." 4 Wird man den in diesen Sätzen aus dem Jahre 1809 über die »Theorie der Kunst überhaupt« sich ankündigenden Geist der neuen Systemarchitekten 113
1,4
26
Ein solcher materialreicher Katalog wurde bereits vorgelegt von D. Barnett und J. Massy-Westropp, The Art of Gesture: The practices and principles of i8th century acting (1987). Verständlich wird das konkrete Vokabular einer Gebärden-Sprache sicher erst durch die zugrundeliegenden, im 18. Jahrhundert sehr kontrovers vertretenen, theoretischen Konzepte. Deshalb wurden zu Recht Vorbehalte gegen die Arbeit erhoben: Vgl. U. Geitner, Die »Beredsamkeit des Leibes« (1990), S. i8$f.: »Barnetts Archiv, welches dem Einspruch jener neuen Anthropologie und Ästhetik der Natürlichkeit jedoch nicht Rechnung trägt, verführt dazu anzunehmen, die Tradition alltäglich praktizierter eloquentia corporis habe sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, ja bis ins frühe 19. Jahrhundert erhalten, eine Annahme, die zweifellos den der Studie von Barnett zugrundegelegten Texten geschuldet ist.« - D. Bachmann-Medick: Die ästhetische Ordnung des Handelns (1989), S. 85: die Vf. kritisiert, »daß Barnett die Universalität gestischer Grundtypen im Sinne eines fixierten gestischen Vokabulars im 18. Jahrhundert überbetont, ja diese als einen gemeinsamen Nenner aller Gestik- und Schauspielkunsttheorien behauptet [...].« Beispielsweise »Engels Theorie des gestischen >AusdrucksMiß Sara Sampson< bis zu den »Ifflandischen, sogar [...] ersten Schillerischen Stücke[n]« reicht."' Eröffnet wird die Reihe mit Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs >Ugolino< (1768), einem Stück, das ähnlich wie Lessings >Philotas< einen Wendepunkt zwischen der hohen, klassizistischen Tragödie und der neuen Natürlichkeit und Menschlichkeit des bürgerlichen Trauerspiels markiert. Mit seiner ungewöhnlichen Leidenschaftlichkeit und Affektivität weist es einen Weg in die Sturm und Drang-Dramatik ebenso wie in die psychologisierende Menschendarstellung des Aufklärungstheaters. Die schauspielerischen und dramaturgischen Möglichkeiten des letzteren werden anhand von Lessings >Emilia Galotti< (1772) erkundet. Während hier die feineren, leiseren, anthropologischen Mittel körpersprachlicher Charakterisierungskunst angewendet werden, bedient sich Friedrich Maximilian Klinger in seinem daran anschließend interpretierten Trauerspiel >Die Zwillinge< (1776) maßloser, outrierter Ausdrucksformen. Die Schauspielkunst des Sturm und Drang erscheint dabei als eine Ubersteigerung des aufgeklärten Konzepts der Naturwahrheit, der sie stellenweise geradezu widerstrebt. Eine verallgemeinerbare Abgrenzung, für die sicher eine ganze Reihe weiterer Dramen herangezogen werden müßte, kann hier jedoch nicht geleistet werden. 115
Vgl. die Schemata für den Theaterabschnitt im 13. Buch von >Dichtung und Wahrheit«, in: W A I, 28, S. 370.
27
Die Dramatik von Jakob Michael Reinhold Lenz wäre in diesem Zusammenhang als ein besonders bemerkenswerter Sonderfall zu diskutieren. " 6 Für die Zeit um 1780 hätte das an körperlicher Beredsamkeit reiche Schauspiel >Die Räuber< ( 1 7 8 1 ) nahegelegen, das aber auch unter diesem Aspekt schon verschiedentlich untersucht worden ist. 1 1 7 Die aufklärerischen Auffassungen von Offenheit, Natürlichkeit und Menschlichkeit kommen auch in dem Drama >Der teutsche Hausvater< (1780) des Freiherrn von Gemmingen vorzüglich zum Ausdruck, es bietet aber weniger Ansatzpunkte für die Frage nach der schauspielerischen Realisierung durch Gestik und Mimik. Deshalb fiel die Wahl auf ein anderes Unterhaltungsstück, 118 ebenfalls aus der für die psychologisierende Darstellung bürgenden M a n n heimer SchuleAlbert von Thurneisen< (1781), in dem unter der rührend-moralisierenden Oberfläche manche gelungene Nuance der Charakterisierung zu entdecken ist, die Ifflands Ziel der »Menschendarstellung« entspricht. Daran schließt sich Schillers >Kabale und Liebe< (1784) an, ein Stück, das ähnlich wie der >Ugolino< oder >Die Räuber< Züge des neuen Natürlichkeitsprogramms mit den kraftvoll-barocken des Sturm und Drang verbindet. Die Interpretation profiliert die erstgenannte, anthropologische Tradition in diesem Schauspiel und weist nach, daß die Mißverständnisse zwischen Ferdinand und Luise von Anfang an maßgeblich auf der verwirrten und fehlgedeuteten Körpersprache beruhen. Den Abschluß bildet dann eines der erfolgreichsten Bühnenwerke des in Deutschland meistgespielten Dramatikers, August von Kotzebues >Menschenhaß und Reue< (1790), in dem sich der natürliche, psychologische Ausdruck hinter dem Rollenspiel der Misanthropie verbirgt. Allerdings waren die hier nochmals angewandten Kunstmittel, die Restitution der Empfindsamkeit und der Rührung, inzwischen dem Verdikt der höheren Kunstkritik verfallen. Das Natürlichkeitstheater der Aufklärung zieht sich mit Iffland und Kotzebue für einige Zeit auf die Unterhaltungsbühne zurück, bis dessen Grundprinzipien schließlich durch das bürgerliche Illusionstheater des 19. Jahrhunderts wieder aufgegriffen und in der Schauspielkunst erneut diskutiert werden. 116
117
118
28
Sabina Becker weist Lenz jüngst in einem sehr lesenswerten Aufsatz eine Sonderwenn nicht sogar Außenstellung im Sturm und Drang zu. Seine realistischpsychologisierenden Bemühungen um den ganzen Menschen und seine körpersprachliche Charakterisierungskunst heben ihn zwar von den >Kraftgenies< ab, letztlich zielt aber auch er mehr auf die soziale und gesellschaftliche Formung einer Figur als auf deren anthropologische Entwicklungsgeschichte. Vgl. S. B., Lenz-Rezeption im Naturalismus. In: Lenz-Jahrbuch 3 (1993), S. 34-63. Vgl. P. Michelsen, Der Bruch mit der Vater-Welt. Studien zu Schillers >Räubern< (1979); G . Kluge, Schauspielkunst in Schillers Jugenddramen. In: W. F. Bender (Hg.), Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren. Stuttgart 1992, S. 237-260. Für weitere Beispiele vgl. M. Krause, Das Trivialdrama der Goethezeit 1 7 8 0 1805 (1982).
ERSTER TEIL
Theorie und Geschichte der >eloquentia corporis
Miß Sara Sampson< III, 3 - L M 2, S. 303)
Von dem >kürzeren< Weg der Mimik und Gestik ins menschliche Herz, der außer Lessing auch schon jedem Rhetor vertraut sein soll, war in der Einführung die Rede. Noch vor der Abfassung seiner >Miß Sara Sampon< hält Lessing seine Auffassung von Rhetorik ganz knapp in dem Fragment >Der Schauspielen (ca. 1754) fest. »Die Beredsamkeit« - heißt es dort - »ist die Kunst einem andern seine Gedanken so mitzutheilen, daß sie einen verlangten Eindruk auf ihn machen.« (LM 14, S. 188) Lessing unterscheidet nun die Ordnung der Gedanken - also die klassische dispositio - als »Geistige Beredsamkeit« von der Mitteilung der den Eindruck befördernden Gedanken als »körperliche Beredsamkeit« (ebd.). Diese wirkt sowohl über das Gesicht wie auch über das Gehör des Gegenübers, und Lessing bezeichnet diese beiden Möglichkeiten nach dem klassischen rhetorischen System als »die Lehre von der Action« und »die Lehre von der Pronunciation (Aussprache).« (LM 14, S. i88f.) Während er sich für die Stimme kaum interessiert, versucht er die »Modificationes des Körpers« (ebd.) in den vorangehenden Ubersichtsdarstellungen schematisch zu entwerfen (LM 14, S. 180-185). Lessings Anknüpfen an die rhetorische Tradition für eine Lehre von der Schauspielkunst ist unverkennbar, selbst wenn er sich dann letztlich gemäß der neuen Anthropologie gegen ein starres Regelwerk für die Beredsamkeit wendet. Den Mangel an theoretischen Arbeiten und brauchbaren Handbüchern beklagt er indessen noch lange, besonders eindringlich etwa am Ende der >Hamburgischen Dramaturgies wo er »specielle, von jedermann erkannte, mit Deutlichkeit und Präcision abgefaßte Regeln« (LM io, S. 212) fordert. Dieses auch 1769 noch unbefriedigte Verlangen war Lessing schon aus der 1754 von ihm revidierten Myliusschen Ubersetzung von William Hogarths >The Analysis of Beauty< (1753) geläufig. Hogarth erklärt dort mit Blick in die Zukunft: »Action is a sort of language which perhaps one time or other, may come to be taught by a kind of grammar31
rules«.1 Neben dem rhetorischen Begriff der >Action< ist der der >Grammatik< bemerkenswert, der die Schauspielkunst den artes liberales angliedert, spielt er doch im gleichen Zusammenhang dann bei Ekhof und Goethe eine zentrale Rolle. 2 Das im Fragment bekundete Interesse an der körperlichen Beredsamkeit bestimmt auch die dramatische Handlung der >Miß Sara SampsonPoetik< für wert befindet, kommt im dritten Buch seiner >Rhetorik< auf das Problem zurück. Auch hier geht er auf »die Anweisungen über den mündlichen Vortrag« nur ganz am Rande ein, erklärt aber, daß dieser »die größte Wirkung besitzt, jedoch noch nie in Angriff genommen wurde.« 9 Aristoteles gibt nur wenige Hinweise für den stimmlichen Vortrag, dessen weitere - wohl auch körpersprachliche - Begründung er mit Bemerkungen zur Schauspielkunst verbindet. 10 Diese verbleibt freilich im Bannkreis einer von der ars abgetrennten techne. " In Ciceros >De oratore< wird die Parallele zwischen rednerischer und schauspielerischer actio zur Selbstverständlichkeit. Cicero fordert von einem Redner, neben anderen Fähigkeiten, »vox tragoedorum, gestus paene summorum actorum«,11 und er empfiehlt deshalb allgemein: »Intuendi nobis ' Ebd., S. 9 j f . [Kap. 26; 1462a]. Ebd. Quellen für diese Frage finden sich bei C . Sittl, Die Gebärden der Griechen und Römer (1890), S. 1 9 9 - 2 1 1 (Kap. XI.: »Schauspieler und Redner«). 8 Seit Cicero (De Orat. III, 2 1 3 ) und Quintilian (Inst. orat. X I , 3, 6) findet sich diese Erzählung in fast allen Lehrbüchern der Rhetorik. 9 Aristoteles, Rhetorik, hg. von F. G . Sieveke (1980), S. 166 [III, 1.2; 1403b]. 10 Ebd., S. ι6γ(. [III, 1.4 und 1.7]. 11 Den merkwürdigen Kontrast zwischen den Ankündigungen von Aristoteles, mehr über die Hypokrisis zu sagen, und seinen spärlichen Ausführungen führt W. W. Fortenbaugh auf platonische Einflüsse zurück, die während der Entstehung des dritten Buchs der Rhetorik an der Akademie auf ihn wirkten. Piaton rechnet Stil und Vortrag nämlich zu der >atechnos tribeL'arte de' cenni< (1616) von Giovanni Bonifacio 49 erfährt in Deutschland keine nennenswerte theoretische Beachtung. Erwähnenswert ist sie wegen ihrer rhetorischen Ordnungsmuster. Im Gewand des poetischen Dialogs gelangen indessen einige Überlegungen Bonifacios und der von ihm berufenen Zeugen nach Deutschland. Die Rede
43 44
45
46
47
48 49
Unter diesem Begriff nimmt Ballhausen (Anm. 42) seine Analyse vor. F. Lang, Dissertatio de Actione Scenica (1727, N D 1975), S. j2f.; der Hg. A. Rudin übersetzt: »Wenn er [der Zorn] aber das Maß überschreitet und in Raserei ausartet, dann hält sich freilich auch die Darstellung an kein Maß. Deshalb soll dem Rasenden verstattet sein, was dem Besonnenen nicht ziemt.« (ebd., S. 201) Vgl. dazu G . Braungart, Hofberedsamkeit. Studien zur Praxis höfisch-politischer Rede im deutschen Territorialabsolutismus (1988). Vgl. den ausgezeichneten Aufsatz von R. Konersmann, Die Metapher der Rolle und die Rolle der Metapher. In: Archiv für Begriffsgeschichte 30 (1986/87), S. 84Vgl. den Exkurs »>Theatrum mundiFrauenzimmer-Gesprächspiele< (1641-49). 5 0 Das mangelnde Interesse an der theoretischen Grundlegung der actio und damit auch der Schauspielkunst im Barock besteht auch während des ganzen 18. Jahrhunderts in den meisten Lehrbüchern der Rhetorik fort. Hier wird das fünfte officium oft nur um der systematischen Vollständigkeit willen erwähnt. Aber es gibt auch Ausnahmen. Bereits in dem ersten deutschsprachigen Werk zu diesem Thema, der >Teutschen Rhetorica oder Redekunst« (1634), würdigt Johann Matthäus Meyfart (1590-1642) die Vortragskunst ausführlicher. 51 Das Werk gliedert sich in zwei Teile, das erste, weitaus umfangreichere Buch über die elocutio und das zweite über die pronuntiatio und actio. Meyfart erkennt deutlich die große Bedeutung des praktischen Vortrags, sorge dieser doch dafür, daß die »schlimmste Rede [...] durch eine artige Außsprechung und vernünfftige Gebehrden ein solches Ansehen bekomme[ ] / daß man sich darüber verwundert«, wie auch umgekehrt »die schöneste Rede / durch eine garstige Außsprechung« gänzlich zu verderben sei.52 Während Meyfart in einigen Details - wie etwa dem Wunsch nach einer Notation für die Aussprache nach musikalischem Vorbild - überaus fortschrittlich wirkt, hängt er weiterhin dem klassischen Topos an, daß der Redner sich die Freizügigkeiten des Schauspielers nicht erlauben dürfe: Die Comoedianten haben eine hohe Freyheit / so wohl wegen der Stimm / als wegen der Geberden. Die Comoedianten / nach dem sie Personen haben / dürffen ruffen und schreyen / schnauben vnd toben / gurren vnd murren / springen vnd lauffen / welches alles dem Redner verbotten ist."
Nicht nur mit der Forderung, die Geberden sollten »sparsam angewendet werden«,' 4 stellt sich Meyfart in die Nachfolge der klassischen Autoren, auch mit seinen Hinweisen auf den körpersprachlichen Einsatz der Augen, des Mundes, der Brust, der Arme, der Hände und Finger sowie der Füße erweist er sich als Kenner des einschlägigen Kanons. Keiner sieht den Mangel an einer zureichenden ¿¡ctzo-Ausbildung deutlicher als Christian Weise ( 1 6 4 2 - 1 7 0 8 ) , der seine Schuldramen aus eben diesem pädagogischen Impetus heraus gezielt f ü r den einzelnen Spieler konzipiert. Die so täglich praktizierte rhetorische Kunstübung findet desbeschränkt sich leider auf die historische Einordnung des Werks zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert, statt es inhaltlich genauer vorzustellen. ° Vgl. dazu die genauen Hinweise von E. Locher, Harsdörffers Deutkunst. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter (1991), S. 243-265. 51 Vgl. E. Trunz, Johann Matthäus Meyfart. Theologe und Schriftsteller in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges (1987), S. 196-210. 52 J. M. Meyfart, Ternsche Rhetorica oder Redekunst (1634, N D 1977), 2. Buch, S. 2. » Ebd., S. 5. ' 4 Ebd., S. 39. s
42
halb nur marginalen Eingang in seine großen oratorischen Schulwerke. Die actio und pronuntiatio bleiben »mehrentheils den Oratoribus practicis anheimgestellet« 55 und werden deshalb auch nicht in seinem >Oratorischen Systema< (1707) behandelt. In der Vorrede zu seiner Lustspielsammlung >Freymüthiger und höfflicher Redner / das ist / ausführliche Gedancken von der Pronunciation und Action< (1693) kommt Weise auf das sonst vernachlässigte Thema indessen gebührend zurück. »DE P R O N U N C I A T O N E & ACTIONE« - erklärt er gleich zu Beginn - , »das ist von mir zwar hin und wieder etwas genennet / gleichwohl aber niemals aus dem FUNDAMENTE untersuchet worden.« 56 Der Nutzen der actio steht für ihn außer Zweifel, diene sie doch den »Unverständigen durch beredte Minen zur Erkäntniß« 57 und mache den Redner zum »Dollmetscher seines Hertzens«. '8 Weise erscheint überall in seinem Text als ein erfahrener Praktiker, als ein Mann der Tat, der von theoretischen Spitzfindigkeiten nichts hält. So wird etwa von einem politischen Redner in der konkreten Situation die Fähigkeit zu »einer extemporalen Rede« verlangt, die voraussetzt, daß »gewisse Minen gleichsam im Vorrathe beysammen« sind, denn schließlich kann er »sich keine vier Wochen ausbitten / daß er in des Demosthenis Spiegel sehen / und hernach mit den ausstudirten Minen viel Wunder-Zeichen thun könte.« " Deshalb listet Weise auch keine Regeln im Sinne Quintilians auf, sondern empfiehlt die praktische Schulung durch den Tanzmeister und die Komödianten. 60 Die actio gilt mithin als lehrbar, obschon nicht aus der Theorie. Bevor sich aber die von Weise diskutierten Fehler einschleichen, tritt seine Grundregel von der Zurückhaltung in Kraft: J a ich kan auch dieses sagen / w o die Lehre nicht so von statten gehet / daß alles in der ACTION ungezwungen und natürlich scheinet / so ist es offtmals besser keine als ungeschickte und unangenehme Minen zu gebrauchen. 6 1
Auch mit dem Anspruch, »daß alles in der action ungezwungen und natürlich scheinet«, macht sich Weise zum Anwalt einer neuen Zeit. Auf seine durchaus frühaufklärerischen Intentionen in anderen Bereichen soll hier nicht eingegangen werden, doch scheint auch für das kleine Teilgebiet der rhetorischen ¿cfzo-Lehre Barners griffige Formel nicht verfehlt: »Mobilisie-
" Chr. Weise, Oratorisches Systema, darinne die vortreffliche Disciplin in ihrer vollkommenen Ordnung aus richtigen Principiis vorgestellet (1707), S. 7. 56 Chr. Weise, Freymüthiger und höfflicher Redner. In: Sämtl. Werke, Bd. 12.2, hg. J . Lindberg (1986), S. 3 9 1 - 4 5 5 , hier: S. 392. Z u dem Rhetoriker Weise vgl. W. Barner, Barockrhetorik (Anm. 39), besonders S. 190-220. '7 Ebd., S. 401. ' 8 Ebd., S. 407. " Ebd., S. 401. 60 Vgl. ebd., S. 4I4Í. und S. 432. Vgl. dazu auch G . Säße, Die Theatralisierung des Körpers. Z u einer Wirkungsästhetik f ü r Schauspieler bei Christian Weise und Bertold Brecht. In: Maske und Kothurn 33 (1987), S. 55-73. 61 Ebd., S. 4 1 7 . 43
rung der ursprünglichen intentionalen Kräfte antiker Rhetorik, in Opposition zu ihren etablierten Sachwaltern«/2 Auch im 18.Jahrhundert setzt man eher auf die Praxis. Gegenüber den übrigen rhetorices partes wird die actio dementsprechend knapp behandelt. Weniger als drei Seiten räumen dem Thema etwa die durchweg dickleibigen Werke von Erdmann Uhse, Friedrich Christian Baumeister oder Johann Gotthelf Lindner ein.6' Aber selbst in den gedrängten Darstellungen sind die neuen Töne nicht zu überhören. Angemessenheit und Anstand - kurz die rhetorischen Kategorien von aptum und decorum - werden zwar weiterhin eingefordert, zugleich aber dem neuen, schon bei Weise anklingenden Natürlichkeitspostulat zur Seite gestellt. Die gegen die Barockdramatik gewandte Individualisierung der dramatis personae erhält hier man erlaube die vereinfachende Parallele - ein Pendant in einem nicht ohne Kritik entworfenen neuen Ideal des Redners. »Die besten Regeln« resümiert Baumeister - »helfen hier nichts, wenn sie nicht durch die natürlichen Gaben unterstützet werden.«64 Zu den in dieser Hinsicht profiliertesten Werken gehört die >Anweisung zur verbesserten teutschen Oratorie< (1725) des späteren Jenaer Professors Friedrich Andreas Hallbauer (1692-1750), der zu dieser Zeit noch Adjunkt der philosophischen Fakultät ist. Im drtio-Kapitel findet sich etwas von jener »antibarocken Kritik der frühen Aufklärungs-Rhetoriker«, von der Barner in Bezug auf Fabricius, Hallbauer, Gottsched und anderen spricht.6' In bisher ungeahntem Maße wird der Natur ein wesentlicher Beitrag an der »stummen Beredsamkeit« übertragen, um so das inzwischen verpönte »affektirte Wesen« zu vermeiden: Es ist demnach eine grosse Schwachheit, wenn man Anfängern weisen will, wie sie die Hand bewegen, erheben, ausstrecken, an sich ziehen, & c . wie sie die Finger halten, wie sie den K o p f , die Augen, und weiß nicht mehr was, richten sollen. Daraus wird nichts, als ein affektirtes Wesen entstehen. Jeder folge seiner Natur, und affektire in nichts, so wird er eine gute und angenehme Action haben. "
Hallbauer vertraut auf den natürlichen Wirkungszusammenhang zwischen der Materie des Vortrages und den sich unwillkürlich einstellenden körpersprachlichen Reaktionen wie der Veränderung der Gesichtsfarbe, dem 62 63
64 65 66
44
Vgl. W. Barner, Barockrhetorik (Anm. 39), S. 192. Vgl. E. Uhse, Wohl-informirter Redner, worinnen die Oratorischen Kunst-Griffe vom kleinesten bis zum grösten durch kurtze Fragen und ausführliche Antwort vorgetragen werden ( ' 1 7 1 2 , N D 1974), S. 34of. [dieses 1704 zum zweiten Mal erschienene Werk ist noch eine Barockrhetorik]; F. Chr. Baumeister, Anfangsgründe der Redekunst in kurzen Sätzen abgefaßt, und mit Exempeln erläutert (1754, N D 1974), S. 57Í.; J . G . Lindner, Kurzer Inbegrif der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst ( 1 7 7 1 , N D 1971), S. 396-398. F. Chr. Baumeister, Anfangsgründe der Redekunst (Anm. 63), S. 57. Vgl. W. Barner, Barockrhetorik (Anm. 39), S. 247. F. A . Hallbauer, Anweisung zur verbesserten teutschen Oratorie (1725, N D
Funkeln der Augen, den lebhaften Bewegungen der Hände oder sogar dem Hervorbrechen von Tränen. »Alles dieses wird sich von selbst geben, wenn man selbst gelassen und aus dem Affekte redet [...]«.67 Bemerkenswert ist die daran sich anschließende Empfehlung, die Gebärdensprache an »den einfältigsten Leuten« zu beobachten, jenen also, die von der höfischen Verstellungskunst noch unberührt sind.68 Freilich erkennt Hallbauer zugleich ganz realistisch, daß die politischen und gesellschaftlichen Umstände einen völligen Verzicht auf die Dissimulation (noch) nicht zulassen. Deshalb müsse der politische Redner, im Unterschied zum Prediger und Schulredner, zwar nicht gezwungen oder knechtisch, wohl aber »ganz gelinde, mäßig und ehrerbietig seyn.«69 Hallbauer kommt auf diesen Fall in seiner >Anleitung zur politischen Beredsamkeit* (1736) noch zurück.70 Für den Orator im allgemeinen Sinne gilt hingegen, daß er sich seiner Natur, der Sprache seines Herzens, überlassen müsse, ohne weiter darüber nachzudenken. Denn die Reflexion führt ihm zufolge nicht nur zum affektierten Wesen, sondern sorgt auch dafür, »aus dem Concepte zu kommen.« 71 Mit dieser Bemerkung antizipiert er gleichsam die später kontrovers diskutierte Position des empfindsamen Schauspielers.72 Wie Hallbauer, so versuchen auch der gelehrte Pastor Johann Christoph Männling (1658-1723) und der spätere Professor am Braunschweiger Collegium Carolinum Johann Andreas Fabricius (1696-1769) den Anschluß an die neue Zeit nicht zu versäumen, allerdings weniger ausgeprägt. Männling stellt in seinem »Expediten Redner< (1718) »der Rede selbst oder Pronunciation« (achtes Kapitel) die »Pathologie« gegenüber, in der es darum geht, »[d]ie Affecte η zu mov iren / und was vor Gestus in der Oratorie anzuwenden« sind (neuntes Kapitel).73 Es ist auffällig, daß Männling den medi-
67 68
70
71
72 73
1974), S. 562. Auch Lindner (Anm. 63) erhebt in seinem viel später verfaßten, für die actio aber unergiebigen Werk die Natürlichkeitsforderung (§ 4). Ebd., S. 562. Ebd. In der Aufklärungspoetik Gottscheds findet sich eine analoge »beste allgemeine Regel« für den Dichter: »die Natur eines jeden Affects im gemeinen Leben zu beobachten, und dieselbe aufs genaueste nachzuahmen.« J. Chr. Gottsched, Versuch einer critischen Dichtkunst ( 4 i 7 5 i , N D 1982), S. 621. Ebd., S. 564. F. A. Hallbauer, Anleitung zur politischen Beredsamkeit (1736, N D 1974), S. 345-351 (§ 52). Die Ausführungen entsprechen den Standards der Hofberedsamkeit und des politischen Zeremonienwesens. Vgl. z. B. S. 346: »Es bestehen fast alle Bewegungen eines politischen Redners darinne, daß er einen Fürsten ietzt mit Bescheidenheit ansiehet, ietzt die Augen ehrerbiethig niederschlägt, und daß er bey Nennung dessen und seines Principals Namens, auch wo sonst die Sache es erfordert, sich beuge.« F. A. Hallbauer, Anweisung zur verbesserten teutschen Oratorie (Anm. 66), S. 563. Vgl. unten, Kap. 4. Vgl. die Kapitelüberschriften. J. Chr. Männling, Expediter Redner oder deutliche Anweisung zur galanten Deutschen Wohlredenheit (1718, N D 1974), S. 273 und S. 276. 45
zinischen Begriff der >Pathologie< hier im Sinne der Lehre von den Leidenschaften, ihrer Erregung und Repräsentation verwendet, also in die Nähe zu dem rhetorischen Begriff der actio rückt. 74 So wird der auch für die rhetorische Literatur des 18. Jahrhunderts signifikante Durchbruch der Affektenlehre und nachfolgend der Anthropologie schon auf begrifflicher Ebene vorbereitet. Seine Pathologie grenzt Männling deutlich gegen die älteren Disziplinen der Physiognomik und der Chiromantie ab, die sich zu dieser Zeit ohnehin bereits geringerer Beliebtheit erfreuen, gelten sie doch vielfach als mystische Wahrsagerei und Scharlatanerie. Männling besinnt sich statt dessen auf >die Alten< zurück, die noch wußten, daß »Hand und Auge das durch Geberden vorbringen, was der Mund mit Worten redet.«75 Auch Fabricius legt in seiner Philosophischen Oratorie« (1724) besonderen Wert auf die Affekte und verbucht die Mienen als Wirkungen der Natur. Besonders das »gesicht muß von dem inwendigen affect des redners am meisten zeugen, damit auch der Zuhörer gemüth [...] dadurch gerühret werde.« 76 Indem Fabricius in diesem Zusammenhang den Begriff >air< benutzt, akzentuiert er stärker diejenigen Mienen, die sich gleichzeitig mit dem Affekt einstellen und nicht habitualisiert sind. Später wird man sie als pathognomische bezeichnen. Walch definiert den Begriff >air< in diesem Sinne in seinem Philosophischen Lexicon«: Ein französisches Wort und bedeutet eine Gestalt des Gesichts, die man bey besondern Fällen, um eine Paßion an Tag zu legen, annimmt, und sind folglich so vielerley Arten desselben, als Affecten sind, daß man also zum Exempel fröliche, traurige, hönische, furchtsame, zornige, verliebte Gesichter u. s. f. machen kan, welches Wort wir brauchen müssen, weil kein teutsches da ist; wodurch wir die hierunter gehörige Idee an den Tag geben könten. Von der Mine ist l'Air darinnen unterschieden, daß jenes die ordentliche Einrichtung des Angesichts bedeutet, und folglich la Mine was beständiges; l'Air aber was veränderliches ist.77
Festzuhalten ist auch im Falle von Fabricius die kritische Wendung gegen die Barocktradition. Mit den anderen Autoren teilt er den Vorbehalt gegen »weitläuftige regeln«,78 denen kein Nutzen zugesprochen wird, und klagt 74
75
76 77 78
46
Der mehrteilige Artikel im HWPh, Bd. 7 (1989), Sp. 182-191, geht auf diese Verwendung überhaupt nicht ein. Unzutreffend ist, daß der Begriff erst 1750 ins Deutsche eingeführt wird. In Zedlers >Universal-Lexicon< wird der Begriff schon 1740 (Bd. 26) aufgenommen. Sicher ließen sich weitere Belege im frühen 18. Jh. finden. Später wird er durch den methodischen Gegensatz zu >Semiotik< geprägt. In K. Sprengeis >Handbuch der Semiotik< (1801), S. 4, heißt es: »In der Pathologie nämlich gehn wir von den Gründen zu den Folgen über; in der Semiotik aber setzen wir sinnliche Folgen, aus denen wir auf ihre Gründe schließen.« Ebd., S. 277. U. Geitner (Anm. 21), S. i8if., sieht sich durch Männlings »wirkungsbezogen konzipierte Stilisierung« im Anschluß an die Antike dazu veranlaßt, ihn in direkten Gegensatz zu Hallbauers eloquentia cordis zu stellen. J. A. Fabricius, Philosophische Oratorie, das ist: Vernünftige Anleitung zur gelehrten und galanten Beredsamkeit (1724, N D 1974), S. 536. J. G. Walch, Philosophisches Lexicon ( 2 i74o), Sp. 62. Vgl. ähnlich A. F. Müller, Einleitung in die Philosophischen Wissenschaften O1733), (Ethic), S. 217. Vgl. Fabricius, Philosophische Oratorie (Anm. 76), S. 537.
seine Zeit an, die »mehr die schalen als den kern, mehr den äusserlichen glantz als den innerlichen werth beobachte«.79 Johann Christoph Gottsched (1700-1766), der prominenteste Gewährsmann aus der ersten Jahrhunderthälfte, reiht sich mit seiner zuerst 1736 erschienenen >Ausführlichen Redekunst umstandslos in die versammelte Kritikerschar ein. Auch er vertraut auf »die natürlichen Gaben« und »eine ungezwungene Freyheit in Minen und Gebärden«.80 Gleichwohl ist er nicht in dem Maße wie seine Vorgänger bereit, die actio gänzlich den natürlichen Wirkungen zuzurechnen. Zwar sei gerade das Gesicht dafür prädestiniert, »alle Gemüthsbewegungen eines Redners auszudrücken«,81 also gerade auch die unwillkürlichen, doch dürfe dies keinesfalls zu einem völligen Verlust der Kontrolle führen. Ist Hallbauer ein Vordenker des später umstrittenen Konzepts vom empfindsamen Schauspieler, so wäre Gottsched als Vertreter der Gegenposition, der des reflektierenden Akteurs, zu bezeichnen. In diesem Sinne erklärt er: Man behalte also allezeit eine gewisse freymüthige Mine, wechsele sie auch wohl zuweilen mit einem etwas leutseligen Antlitze ab: doch so, daß man auch zu rechter Zeit, nämlich bey verdrießlichen Leidenschaften, einen strengen und fürchterlichen Blick in seiner Gewalt habe. 81
Um 1740 scheint die Notwendigkeit der actio als einer das Verständnis der Rede nachdrücklich fördernden zweiten Sprache in der Theorie etabliert zu sein. So begründet beispielsweise Johann Jacob Bodmer (1698-1783) in seinen >Critischen Betrachtungen über die poetischen Gemähide der Dichter (1741) »die gantze Kunst der sogenannten Action der Redenden« auf den körpersprachlichen Ausdruck der Gemütsbewegungen und erklärt: wer seine Reden mit der gehörigen Gebehrdung begleitet, der erkläret sich in zwoen Sprachen auf einmahl, und läßt den Zuhörer seine Meinung nicht alleine hören, sondern giebt sie ihm auch zu sehen, indem er durch die Worte das Gehör und durch die Gebehrden das Gesicht unterhält; welches nicht ohne großen Nachdruck geschieht, massen der Anblick derer, die im Affecte sind, die Zusehenden gleichsam anstecket, und Parthey zu nehmen nöthiget. 8 '
Schon in den Diskursen >Die Mahlen (1723) hatte Bodmer gemeinsam mit Johann Jacob Breitinger (1701-1776) diese zweite Sprache der »Passionen« zu einer »universal-Sprache« erklärt, die der Mensch noch vor der Wortsprache von der Natur erlernt habe. Daraus folgern sie für die Redner: diese »müssen die Gebehrden, die einer jeden Passion eigen sind, studieren, wenn sie die Zuhörer um ein Applaudissement betriegen wollen.«84 Ebd., S. 538. J . Chr. Gottsched, Ausführliche Redekunst. Erster, allgemeiner Theil [nach der fünften Auflage. Leipzig 1759]. Bearbeitet von Rosemary Scholl (1975), S. 436. 81 Ebd., S. 439. 82 Ebd., S. 4 4 o f . 8 > J . J . Bodmer, Critische Betrachtungen über die poetischen Gemähide der Dichter ( 1 7 4 1 , N D 1971), S. 290. 84 Vgl. J . J . Bodmer / J . J . Breitinger, Die Mahler, oder Discourse von den Sitten der 80
47
Nicht mit der Rhetorik im Sinne einer normativen Lehre vom Verfassen und Vortragen einer Rede, um letztlich zu »betriegen«, befaßt sich Johann Martin Chladenius (1710-17$9), Altvater der modernen Hermeneutik, sondern umgekehrt mit deren Auslegung aus der Perspektive der Zuhörer. Ebenfalls im Gegensatz zur aristotelischen Geringschätzung der actio erkennt er die Bedeutung der eloquentia corporis für das Verständnis einer Rede. In seiner Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften< (1742) läßt er keinen Zweifel daran aufkommen, »daß die Geberden dessen, der redet, zum Verstände der Rede etwas beytragen können, dannenhero soll man einen Redner nicht allein hören, sondern auch sehen.«8' Ist dies allerdings nicht möglich, so ist gegebenenfalls auf den Augenzeugenbericht eines Zuhörers zurückzugreifen. Anders verhält es sich mit ausschließlich schriftlich überlieferten Reden: Aufgeschriebene Reden sind nicht so verständlich, als wenn sie angehöret werden, wegen der Abwechselung der Stimme, der Minen und Stellungen des Leibes, die nicht mit angemerckt werden. Dannenhero haben aufgeschriebene Reden eine Auslegung nöthig. 8 '
Um eine solche Rede auslegen zu können, bedarf der Interpret entweder des Berichtes von einem zuverlässigen Augenzeugen, oder er ist mit den mimischen Angewohnheiten des betreffenden Redners schon so vertraut, daß er die zugehörige Körpersprache erschließen kann. Denn per Analogie kann man, »wenn man in diesem Stücke der Rede-Kunst geübt ist, aus den Umständen muthmassen, mit was vor einem Ton der Redner diese und jene Stelle werde ausgesprochen haben. Eben so ist es mit denen Minen und Stellungen des Leibes beschaffen.«87 Chladenius weist sehr scharfsichtig auf das zugrundeliegende Problem hin, nämlich daß »die Minen und Stellungen des Leibes nicht recht füglich durch Worte vorgestellt werden können.«88 Diese Schwierigkeit begegnet nicht nur in der später in der Deklamationslehre diskutierten Suche nach einem - der Musik entlehnten - Notationssystem wieder,89 sondern ist natürlich für die dramatische Literatur überaus beMenschen, 4. Teil (1723), S. 4óf. Die Verfasser berufen sich auf einen wohl fiktiven, noch unpublizierten Text mit dem Titel >Systema von den Grimatzen / dem löblichen Frauenzimmer der Stadt Zürich dediciertFernwirkung< des Schriftstellers, »daß ihm der Vortheil abgeht, mit dem lebendigen Ausdruck der Rede und dem accompagnement der Gesten auf das Gemüth zu wirken, daß er sich immer nur durch nach Art der Tonkunst gezeichnet werden? ( 1 7 9 1 ) Ein ähnliches Zeichensystem für die Betonung und Aussprache wird schon entwickelt von J . Steele, A n Essay Towards Establishing the Melody and Measure of Speech to be Expressed and Perpetuated by Peculiar Symbols (1775). Für die Mimik wird später ein Notationssystem entwickelt von J . M. Zimmermann, Mimische Schrift-Lehre ( 1841). Fünf Buchstaben in Analogie zu Notenschlüsseln bezeichnen St(ehen), G(ehen), S(itzen), K(nien) und L(iegen) und stehen quer zu den vier Notationslinien, die den Körper in Blick, Arme und Füße einteilen. Zwischen den Linien werden die Spezialzeichen eingetragen. Die Ideen Schochers entwickelt J . C. Wötzel in seinem >Grundriß eines allgemeinen und faßlichen Lehrgebäudes oder Systems der Declamation< (1814) weiter, in dem er eine Grammatik, Logik, Eloquenz und Rhetorik der Gebärdensprache formuliert (§§ 201-249). 90
91 91
Bodmer fordert zum Ausgleich eben dieses Vorzuges der dramatischen Literatur die Dichter aller anderen Gattungen zur malerischen Beschreibung der Minen und Gebärden auf. Vgl. J . J . Bodmer (Anm. 83), S. 291. Schiller an Garve, 1. Oktober 1794, in: N A 37 (1958), S. 57. A n Garves ausführlicher Antwort vom 17. Okt. 1794 ist besonders sein Plädoyer für den mündlichen Vortrag interessant [ N A 35 (1964), S. 74]: »Und oft kann ein guter Gedanke, oder eine noch so unvollständige Erörterung eines Gegenstandes, die in Gesellschaftlichem Gespräche vorkommen, unterstützt durch Ton und Geberdensprache, auf den kleinen Kreis mehr Eindruck machen, und durch diesen selbst auf ein größeres Publicum wirken, als derselbe Gedanke, oder dieselbe Betrachtung gethan haben würde, wenn sie in einem Buche gestanden hätte, das sich nicht durch ausnehmende Vorzüge, oder durch einen berühmten Nahmen auszeichnet.«
49
abstrakte Zeichen, also durch den Verstand an das Gefühl wendet [...].«9i Die prinzipiellen Schwierigkeiten für die sprachliche Beschreibung der eloquentia corporis bleiben letztlich auch über Lavaters physiognomische Studien hinaus bestehen. Denn ihre bloß empirische Beschreibung führt unweigerlich zu Katalogen, die wiederum zur Anlage eines Regelkanons verführen würden. Daß eine solche Beschreibung schließlich unzulänglich bleiben wird, beweist gerade den ästhetischen Eigenwert der körperlichen Beredsamkeit. Sie muß als eine zweite, eigentlich kaum übersetzbare Sprache der Wortsprache ergänzend und auslegend zur Seite treten. Die Beredsamkeit wird durch eine >Rhetorik des Schweigens< ergänzt.94 Johann Georg Sulzer drückt diesen Sachverhalt in seiner >Theorie und Praktik der Beredsamkeit (1786) sehr zutreffend aus: Aber so bestimmt jede Empfindung, sogar jede Schattierung und jeder Grad einer Empfindung, sich durch ihre besondern Gebehrden ausdrücken läßt, so unbestimmt und unzureichend hingegen ist jede Sprache, wenn man diesen Theil der Kunst in Regeln fassen wollte. »
Das von Sulzer formulierte Sprachproblem ist der rhetorischen Theorie der 80er Jahre geläufig und steht in historischem Zusammenhang mit den Debatten über den Sprachursprung sowie den Möglichkeiten einer Natursprache. 96 Aus der gleichen Diskussion bildet sich aber auch eine ganz eigenständige Disziplin der >Rhetorik der Körpersprache< heraus, nämlich die konventionalisierte Zeichensprache der Taubstummen. Um die Jahrhundertmitte treffen in Frankreich die durch Beobachtungen unterstützten Überlegungen über die ursprüngliche Gebärdensprache und ihre Wiederbelebung - wie sie Condillac in seinem >Essai sur l'origine des connaissances 93
Schiller an Garve, 25. Januar 1795, in: N A 37 (1958), S. 126. Vgl. Chr. L. Hart Nibbrig, Rhetorik des Schweigens. Versuch über den Schatten literarischer Rede (1981). Hart Nibbrig lenkt in der Einleitung und den ersten beiden Kapiteln die Aufmerksamkeit auch auf die Phänomenologie des beredten Schweigens im 18. Jahrhundert. E r vertritt die These, daß »Literaturwissenschaft, die sich ausschließlich dem verschreibt, was im > Wortkunstwerk < aus Sprache gemacht ist, [...] den Schatten [verfehlt], den die Texte werfen.« (S. 42) " J. G. Sulzer, Theorie und Praktik der Beredsamkeit. Hg. von Albrecht Kirchmayer (1786), S. 248. 96 Hugh Blair erklärt z . B . in seinen >Lectures on Rhetoric and Belles Lettres» (1788), S. 386: »The signification of our sentiments, made by tones and gestures, has this advantage above that made by words, that it is the language of nature. It is that method of interpreting our mind, which nature has dictated to all, and which is understood by all, whereas, words are only arbitrary, conventional symbols of our ideas [...].« Bodmer und Breitinger sprechen in diesem Zusammenhang schon 1723 von einer »Universal-Sprache« (Die Mahler, oder Discourse von den Sitten des Menschen, S. 47). Vgl. zu dem Problem J . R. Knowlson, The Idea of Gesture as a Universal Language in the X V I I th and X V I I I th Century. In: Journal of the History of Ideas 26 (1965), S. 495-508; J . Gessinger, Der Ursprung der Sprache aus der Stummheit. Psychologische und medizinische Aspekte der Sprachursprungsdebatte. In: Ders., W. v. Rahden (Hg.), Theorien vom Ursprung der Sprache II (1989), S. 345-387. 94
JO
humaines« (1746) und Diderot in seinem >Lettre sur les sourds et muets< (1751) vorstellen - mit Entwürfen zu einem Handalphabet aus dem 17. Jahrhundert zusammen und führen 175 5 zu der Gründung der ersten Schule für die gestische Taubstummensprache durch Charles-Michel de l'Epée. 97 Diese arbiträre Zeichensprache hat mit der rhetorischen Wirkintention nichts mehr zu tun und bildet deshalb in unserem Zusammenhang einen nicht weiter relevanten historischen Seitenpfad. Eine interessante Verknüpfung dieser Gehörlosensprache mit der Gebärdensprache der Empfindsamkeit begegnet später in dem historischem Drama >L'Abbé de l'Epée< (1800) von Jean Nicolas Bouilly (1763-1842), das August von K o t z e b u e im Jahre 1800 bearbeitet und übersetzt als >Der Taubstumme, oder: Der A b b é de l'Epée< (1800).98 A u f die von Sulzer festgestellten Mängel der W o r t - im Vergleich zur Körpersprache weist auch Wilhelm von H u m b o l d t hin. Während seines Besuchs bei Lavater in Zürich im Jahre 1789 kommen ihm Zweifel an der Physiognomik, und er hält im Tagebuch fest, daß »unsre spräche gar keine ausdrükke für die feineren nüancen hat, vorzüglich keine ausdrükke für die feineren grade, für die elemente der empfindungen«. 9 9 D e n eigentlichen Mangel der physiognomischen Theorie erkennt er darin, daß »unsre charakterkenntniss noch so unvollständig ist.« 100 Dieser Einwand wird genau so von den Adepten der neuen Anthropologie seit den 70er Jahren vertreten. Interessant ist nun, daß ähnliche, wenngleich noch relativ schlecht begründeten Überlegungen auch in der Rhetorik sichtbar werden. Schon in der ersten Jahrhunderthälfte umkreisen die genannten Gedanken das K o n z e p t der Natürlichkeit und der oratorischen Pathologie und kündigen, verbunden mit der Kritik am Regelkanon, diesen Vorstellungswandel an. Die
97
'8
99
V g l . N . M i r z o e f f , B o d y T a l k : D e a f n e s s , Sign and V i s u a l L a n g u a g e in the A n c i e n R é g i m e . In: E i g h t e e n t h - C e n t u r y Studies 25 (1992), S. 561-585; z u r E n t w i c k l u n g in Spanien: M . T i e t z , D i e K ö r p e r s p r a c h e als T o r z u r Seele. L o r e n z o H e r v á s y P a n d u r o s >Escuela española de sordomudos« (1795). In: L e i b - Z e i c h e n (1993), S. 6 1 - 8 2 . I m 19. Jahrhundert k ä m p f t e besonders L a u r e n t C l e r c ( 1 7 8 6 - 1 8 6 9 ) f ü r die D u r c h s e t z u n g einer G e b ä r d e n s p r a c h e f ü r G e h ö r l o s e . D a v o n z e u g t jetzt die v o n H a r l a n L a n e in a u t o b i o g r a p h i s c h e r F o r m nacherzählte L e b e n s g e s c h i c h t e C l e r c s : H . L a n e , M i t der Seele h ö r e n (1990). V g l . D e r T a u b s t u m m e (1800), in: T h e a t e r v o n A u g u s t v. K o t z e b u e . B d . 10(1840), S. 253-334. D e r v e r s t o ß e n e Julius G r a f v o n Solar kehrt unter d e m N a m e n T h e o d o r in seine H e i m a t z u r ü c k , u m sich mit H i l f e seines T a u b s t u m m e n l e h r e r s seine R e c h t e z u verschaffen. W ä h r e n d sich die beiden untereinander in der Z e i c h e n sprache verständigen, ü b e r z e u g e n sie die anderen P e r s o n e n insbesondere d u r c h ihre aufrichtige, natürliche, e m p f i n d s a m e G e b ä r d e n - u n d M i e n e n s p r a c h e . K o t z e b u e hat das Institut de l ' É p é e s in Paris übrigens später selbst besucht u n d d a r ü b e r in seinen E r i n n e r u n g e n aus Paris im Jahre 1804« berichtet. V g l . A u s g e w ä h l t e prosaische Schriften, Bd. 40 (1843), S· 350-354. W . v. H u m b o l d t , G e s a m m e l t e Schriften. B d . X I V : T a g e b ü c h e r I, 1 7 8 8 - 1 7 9 8
( I 9 I 6 ) , S. 156 (3.-5. X . 1789). •°o E b d .
51
merkwürdige Vermischung von teilweise psychologisierenden Erklärungsversuchen mit den gleichzeitig weitertradierten rhetorischen Ordnungskategorien setzt sich auch in den Rhetoriklehrbüchern der 8oer Jahre fort. So fordert beispielsweise der umstrittene Theologe und Philanthropist Carl Friedrich Bahrdt (1741-1792) in seinem »Versuch über die Beredsamkeit (^1782) einerseits höchst konventionelle malende Gebärden, 101 beruft sich aber andererseits auf die Erfahrung und die Macht der »Sympathie«, nach der »jede Empfindung von selbst in uns über[geht], die wir in den Mienen und Geberden desjenigen gewahr werden, der uns stark interessirt«.102 In seiner »Rhetorik für geistliche Redner< (1784) behauptet er gar: »Unsere Gesichtsmuskeln ziehen sich von selbst nach der Sprache des Herzens.«IO> Bahrdt findet für die Unvereinbarkeit von unwillkürlichem Naturausdruck und künstlichem Gebrauch der actio, die dann in der Theorie der Schauspielkunst eine systematische Reflexion erfährt, keine Lösung, oder er scheint den Gegensatz von Natürlichkeit und Künstlichkeit nicht mehr als Widerspruch anzusehen: Seine [des Menschen; A . K . ] Augen und Gesichtszüge werden von selbst mit sprechen ohne daß er sie nach Kunstregeln zu sprechen zwinge. Also bleibts bei der allgemeinen Regel: Jede Bewegung muß mit dem Ausdruck der Augen und Mienen unterstützt werden, wie es der Natur gemäß ist. 104
Sei es nun der natürliche Ausdruck der Natur oder die natürlich erscheinende Kunst, der Vorbehalt gegen den Zwang von Kunstregeln, die strikt zu befolgen und nicht durch Erfahrung vermittelt sind, ist eindeutig. Die Attacke gegen Quintilian und seine Nachfolger wird von vielen Autoren mitgetragen und keineswegs nur in Deutschland. Hugh Blair (1718-1800), Professor der Rhetorik in Edinburgh und Kopf der englischen »New Rhetoric«, markiert in seinen »Lectures on Rhetoric< (1788) beispielsweise sein Angriffsziel ganz explizit durch Nennung des antiken Orators, zu dessen schulmäßig vorgetragenen ¿ícfío-Regcln er bemerkt: »I am not of opinion, that such rules, delivered either by the voice or on paper, can be of such use, unless persons saw them exemplified before their eyes.« !°> Mit direktem 101
Vgl. [C. F. Bahrdt], Versuch über die Beredsamkeit nur für meine Zuhörer bestirnt (1782), z. B. S. 182: »Innigkeit - die Hand aufs Herz. Aufforderung zum Ueberlegen - die Hand auf die Stirn oder vors Gesicht [...]. Freudigkeit - eine oder beide Hände hoch und schwebend mit abgekehrter Fläche.« In seiner »Rhetorik für geistliche Redner< (1784), S. 156, schreibt er dem Redner »eine senkrechte Stellung« vor und betont: »Ausdruck heftiger Leidenschaften durch Körperstellungen ist nie sein Fall.« (§ 243) Z u Bahrdt vgl. jetzt die Aufsatzsammlung: G. Sauder, C . Weiß (Hg.), Carl Friedrich Bahrdt (1740-1792) (1992). 102 Ebd., S. 174. Vgl. ebenso: C . F. Bahrdt, Rhetorik für geistliche Redner (1784), S. i4of. (§ 216). IO ' Vgl. C . F. Bahrdt, Rhetorik für geistliche Redner (1784), S. 163. 104 [C. F. Bahrdt], Versuch über die Beredsamkeit nur für meine Zuhörer bestirnt (1782), S. 183. 105 H . Blair, Lectures on Rhetoric and Belles Lettres (1788), S. 408. Von den 1 1 8 0 Seiten des Werkes entfallen nur 26 auf die pronuntiatio\
52
Bezug auf die Vorlesungen seines engen Freundes Blair wagt sich George Campbell ( 1 7 1 9 - 1 7 9 6 ) auf das psychologische Terrain vor. Er verdankt dabei viel dem Sensualismus seines bewunderten Freundes Henry Home, auf den noch ausführlicher zurückzukommen sein wird. Campbell entwirft in seiner >Philosophy of Rhetoric« (1776), deren Ubersetzung zunächst von Christian Garve 1 0 6 geplant und schließlich 1791 von Daniel Jenisch ausgeführt wurde, die anthropologischen und ästhetischen Grundlagen für den Redner. Denn wie keine andere Kunst bezieht sich die Beredsamkeit auf die Anlagen und Kräfte der menschlichen Seele. »Sie ist die große Kunst der Mittheilung, nicht allein der Ideen, sondern auch der Empfindungen, der Leidenschaften, der Entschließungen und der Vorsäzze.« 107 Campbell geht so weit, seine »Philosophie der Rhetorik< zur eigentlichen Menschenkunde zu erheben, die den unmittelbarsten Zugang zu den Triebfedern der Seele eröffnet. Seine - jedenfalls unter den Fachbüchern der Rhetorik - neuartige Lehre sei, so versichert er, »vielleicht der kürzeste, und sicherste, als der angenehmste Weg, in den menschlichen Geist einzudringen.« 108 N u r derjenige Redner versteht es deshalb vollkommen, seinen Zuhörern »die Wahrheit ins Herz einzudrücken«, 109 der mit der Seelenlehre bis ins Kleinste vertraut ist. Das sonst geläufige, in der Gliederung fast aller Rhetorikbücher eingehaltene Ordnungsschema wird durch Campbeils Anthropologie gesprengt. Hier firmiert ein Versuch über die Kenntnis des Menschen unter dem Titel der Rhetorik. Es ist deshalb kein Wunder, daß sich über die actioLehre in dem Werk nichts Konkretes findet. Mehr zu diesem Thema bieten John Walkers »Elements of Elocution« (1781), die sich ebenfalls durch psychologischen Scharfblick auszeichnen. Obgleich sich der Schauspieler und Philologe Walker (1732-1807) in seinem zweibändigen Werk auf den stimmlichen Ausdruck konzentriert, schaltet er zwei aufschlußreiche Kapitel über Körpersprache (»Gesture«) und Leidenschaften (»Passions«) ein, die von einem langen deskriptiven Katalog einzelner Gemütszustände nebst zugehöriger stimmlicher und körperlicher Ausdrucksformen gefolgt werden. Walker bedauert wiederholt die neuzeitliche Geringschätzung der actio, die er den bloßen Worten als eine klar überlege'° 6 Dieses Vorhaben, von dem der Übersetzer uns in der Vorrede in Kenntnis setzt, hätte sich thematisch vorzüglich in Garves Übertragungen englischer Texte zur Moralphilosophie und Ästhetik eingereiht. So übersetzte er u. a. Adam Fergusons »Grundsätze der Moralphilosophie< (1772), Edmund Burkes »Untersuchung über den Ursprung unsrer Begriffe vom Erhabenen und Schönen« (1773), Alexander Gerards »Versuch über das Genie« (1776) und bearbeitete zusammen mit J . J . Engel Henry Homes »Grundsätze der Kritik« (1772). 107 G. Campbell, Die Philosophie der Rhetorik, aus dem Englischen (1791), S. 19. Z u Campbell vgl. jetzt J . Weinsheimer, The Philosophy of Rhetoric in Campbell's »Philosophy of Rhetoric«. In: 1650-1850. Ideas, Aesthetics, and Inquiries in the Early Modern Era, Bd. 1 (1994), S. 227-246. 108 G . Campbell, ebd., S. 22. •°9 Ebd., S. 272.
53
ne, weil direkt in das Herz dringende »language of nature in the strictest sense« entgegenstellt.110 Wie Campbell fordert er deshalb genaueste Beobachtung von seinem Redner 111 und vertraut für die praktische Ausführung auf die Wirksamkeit psychologischer Selbstinduktion. Um sich selbst in den der Rede angemessenen affektiven Zustand zu versetzen, soll der Redner sich an vergleichbare Situationen aus seiner eigenen Erfahrung erinnern, denn diese »assist[s] us in gaining that fervor and warmth of expression, which, by a certain sympathy, is sure to affect those who hear us.« 1,2 Die Parallele zum Affekttopos »si vis me fiere, dolendum estprimum ipsi tibi...« des Horaz [De arte poet. V. i02f.] ist kaum zu übersehen. " 3 Walkers große Vorbilder für seine ausführliche »explanation and description of the passions« sind Aaron Hill - auf den im Zusammenhang mit der Schauspielkunst zurückzukommen ist - und James Burgh (1714-1775), der in seinem Werk >The Art of Speaking< (1761) schon recht früh »the principal passions, humours, sentiments, and intentions« in einem ausführlichen Katalog nach ihren Ausdrucksmöglichkeiten durch »speech and action« analysiert und beschreibt.1,4 In England beginnt man unter dem Einfluß des philosophischen Sensualismus mithin schon viel früher, auch in der Redekunst die pronuntiatio und actio psychologisch zu analysieren. So betont Burgh die Beredsamkeit eines jeden einzelnen Körperteils und besonders des Gesichtes und spricht ihr eine direkte Einwirkung auf die Seele der Zuschauer zu. It is no wonder, then, that masterly action, joined with powerful elocution, should be irresistible. And the variety of expression by looks and gestures, is so great, that, as is well known, a whole play can be represented without a word spoken.
Eine Besonderheit von Burghs Werk besteht in dem umfangreichen Übungsteil, in dem antike und zeitgenössische Quellentexte mit Anweisungen zur richtigen pronuntiatio und actio in Form von Marginalien versehen sind und Schülern der Beredsamkeit zu Gebote stehen. Burgh und Campbell sind dabei keine Einzelfälle. Schon 1748 propagiert John Mason (17061763) in seinem >Essay on Elocution, or Pronunciation eine natürliche actio, für die er eine einprägsame Formel findet: »study Nature; avoid Affection; never use Art, if you have not the Art to conceal it«. 116 Auch hier J. Walker, Elements of Elocution, Bd. 2 (1781), S. 260. Vgl. ebd., S. 264: »In order therefore, to gain a just idea of suitable action and expression, it will be necessary to observe that every passion, emotion, and sentiment, has a particular attitude of the body, cast of the eye, and tone of the voice that particularly belongs to that passion, emotion, or sentiment; these should be carefully studied, and practised before a glass when we are alone; [...].« 1,2 Ebd., S. 276. 113 Vgl. J. Stenzel, »Si vis me fiere...« - »Musa iocosa mea«. Zwei poetologische Argumente in der deutschen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts. In: DVjs 48(1974), S. 650-671. " 4 J. Burgh, The Art of Speaking (1804), S. 18. Ebd. 1,6 J. Mason, An Essay on Elocution, or, Pronunciation (1748), S. 3 1 . Vgl. ebd., S. 34: 111
54
begegnet der Topos von der Überlegenheit der eloquentia corporis wieder: »There is often more Eloquence in a Look than any Words can express.« 1,7 Der pädagogische Schriftsteller William Cockin (1736-1801) plädiert in seiner dem Schauspieler David Garrick gewidmeten Abhandlung >The Art of Delivering Written Language« (1775) wohl realistischer für eine relative Gleichstellung der Wort- und Körpersprache, wie sie beispielsweise auf der Bühne der Zeit immer selbstverständlicher behandelt werden. Cockin spricht einfach von another language, which instead of the ear, addresses itself to the eye, thereby giving the communications of the heart a double advantage over those of the understanding, and us a double chance to preserve so inestimable a blessing. This language is what arises from the different, almost involuntary movements and configurations of the face and body in our emotions and passions, and which, like that of tones, every one is formed to understand by a kind of intuition. " 8
Leider gelangt Cockin weder für die Ausbildung der willkürlichen Körpersprache, die er an die Anstandslehrer delegiert, noch für die >involuntary movements« zu Ergebnissen, die über seine Vorgänger hinausführen würden. Gleichwohl trägt er zur weiteren Verbreitung ihrer Lehren von der Natürlichkeit der Körpersprache bei. In Deutschland dringt das anthropologische Wissen aus Schottland nicht so weit in die rhetorische Fachliteratur vor. Wenn es vereinzelt dennoch geschieht, so durch die Vermittlung von Philosophen und Anthropologen. Ein gutes, wenn auch sehr spätes Beispiel dafür ist der Hallenser Professor für Philosophie, Mathematik und Rhetorik Johann Gebhard Ehrenreich Maaß (1766-1823). Er beruft sich nämlich in seinem >Versuch über die Leidenschaften« (1805/1807) und seinem >Versuch über die Gefühle« ( 1 8 1 1 / 12) selbst auf die bekanntesten Anthropologen und Mimik-Theoretiker unter ihnen Engel, Feder und Platner - , die wiederum selbst an die Lehren des schottischen Sensualismus anknüpfen. " 9 In beiden Werken richtet Maaß seine Aufmerksamkeit aus der Perspektive psychophysischer Wechselwirkung auch auf den Körperausdruck bzw. die psychische Selbstinduktion durch äußere Nachahmung dieses Ausdrucks. Nicht zufällig fordert er deshalb schon in seinem >Grundriß der allgemeinen und besondern reinen Rhetorik« (1798) »der körperlichen Beredsamkeit [...] ein psychologisches Princip zum Grunde« zu legen.120 Allerdings wird dieses Postulat hier noch »The Action then should be easy and as natural as the Elocution; and, like that, must be varied and directed by the Passions.« 117 Ebd., S. 35. Auch die oben erwähnte Frage von der Beschreibbarkeit der Körpersprache wird von Mason diskutiert: »The Language of the E y e is inexpressible. It is the Window of the Soul; from which sometimes the whole Heart looks out at once, and speaks more feelingly than all the warmest Strains of Oratory;« (S. 36). 1,8 W. Cockin, The Art of Delivering Written Language (1775), S.