Der Anfang der Geschichte : Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert 9783787322046, 3787322043


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Der Anfang der Geschichte : Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert
 9783787322046, 3787322043

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Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Da­ ten sind im Internet über abrufbar.

Titelvignette: Titelkupfer aus Jean Le Clerc, Compendium historiae universalis ab initio mundi ad tempora Caroli Magni Imperatoris. Editio secunda, Leipzig 1707 (HAB \Volfenbüttel M: Gb 167) © Felix Meiner Verlag, Hamburg

2003. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen

Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Überse12ung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfultigung und Übertragung einzelner Texrabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestat­ ten. Satz: Gabriele lvlurrer, München. Druck: Strauss, /\1örlenbach. Buchbinderische Verarbeitung: Litges & Dopf, Heppenheim. Werkdruckpapier: alrerungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100°/o chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

INHALT

EINLEITUNG Die Bibel als Buch der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

TEIL I 11

Das Anfangsproblem in der Frühen Neuzeit: The1nen, Thesen, Konflikte

TEIL II Das Anfangsproblem in der Naturzustandsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 . Naturrechtlich erschlossene Anfänge: Samuel Pufendorf . . . . . . . A. Abstraktion von der biblischen Offenbarung . . . . . . . . . . . . . B. Naturrechtliche Grundlegung der Geschichte . . . . . . . . . . . . 2. Skepsis und politik-historisches Interesse: Johann Peter Ludewig . A. Die Entstehung der Fabeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Prin1at der Neueren Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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24 26 30 34 36 47

Das Anfangsproblem in der Philosophiegeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

TEIL III 1 . Die Institutionen des \'V'issens: Christian Tho1nasius. . . . . . . . . . . A. Erklärung der Erklärungen perfekter Ursprünge . . . . . . . . . . . . B. Das Problen1 der Erziehung und \'V'issensübermittlung . . . . . . . 2. Die Hebräer unter den Barbaren: Nikolaus Hierony1nus Gundling A. Kritik der gelehrten Philosophiegeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Errungenschaften menschlicher Vernunft. . . . . . . . . . . . . . C. Die Besonderheit der hebräischen Kultur. . . . . . . . . . . . . . . . .

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61 63 70 77 78 83 90

Christoph August Heun1ann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96 99 104 109 115 124

3. Der Ursprung der Philosophie bei den Griechen:

A. \'V'echselseitige Beschränkung von Philosophie und Theologie . . . . . . . B. Philosophiegeschichte als Schule der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Der Richterstuhl der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Die Philosophie der Patriarchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

E. Die from1ne Fälschung vo1n perfekten Wissen rekonstruiert . . . . . . . .

EINLEITUNG Die Bibel als Buch der Geschichte

Für das n1oderne Nachdenken über Geschichte ist es keine beunruhigende Vor­ stellung, daß die Anfänge der Geschichte »itn Dunkeln« liegen. Geschichte ist für die kritische Geschichtswissenschaft nur als zeitlicher Ausschnitt der Totalität vergange­ nen Geschehens faßbar. Dagegen war die Auffassung einer prinzipiellen Deckung von Geschichte und Historie für die jüdisch-christliche Geschichtstheologie konstitutiv: Daß Anfang und Ende der Geschichte in1 Licht der Offenbarung erkannt und aus­ gelegt \Verden können, eben dieser Vorzug markierte die Überlegenheit der »heiligen Geschichte« gegenüber den profanen Geschichten. Von daher erklärt sich das theolo­ gische Ge\vicht, das Anfang und Ende der Geschichte hatten, erklärt sich die Brisanz, die das Ursprungsprobletn gewann, als sich frühneuzeitliche Gelehrte tnit den spär­ lichen Informationen, die die biblischen Bücher zur Frühgeschichte liefern, nicht tnehr zufrieden geben n1ochten. Von daher wird auch verständlich, warum der Anfang der Geschichte zutn Gegenstand unablässiger Neugierde wurde. Denn daß die Universalgeschichte itn Blick auf ihre Anfänge »mangelhaft« sei, davon waren, konstatierte Gianbattista Vico, »alle« Gelehrten überzeugt.1 Während Vico n1it einer »neuen Wissenschaft« noch beanspruchte, das Anfangs­ problem endgültig gelöst zu haben, ist dessen unlösbare Offenheit heute ein unhin­ tergehbares Prinzip seiner wissenschaftlichen Erforschung. Zugleich ist die Frage nach den1 Ursprung der n1enschlichen Geschichte ein nüchternes The1na, das spezi­ elle Fachdisziplinen mit un1grenzten Fragestellungen und Methoden erforschen. Da­ gegen vvar das Anfangsproblen1 bis in das 19. Jahrhundert hinein Gegenstand, gleich­ san1 springender Punkt einer Debatte, die fachübergreifend geführt wurde. Der An­ fang der Geschichte, nach dem biblischen Bericht die Zeit vor der Sintflut, \Var noch im 18. Jahrhundert keineswegs ein »vorsintflutliches« Then1a, vieln1ehr ein Prob­ le1nbezirk, ein Ort angespannten Nachdenkens, wo sich theologische, philosophi­ sche, juristische und philologisch-historische, ja sogar politische Interessen über­ kreuzten und ineinander vervvickelren. Liest n1an das Anfangsproblem in1 pragmatischen Kontext der Ablösung einer über »lectio« und »interpretatio« bestimtnter Bücher geordneter {gleich\vohl von1 »Buch der Bücher« beherrschter) Fächer und der sich zugleich da1nit über die Heraus1

Gianbattista Yico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gen1einsa111e Natur der Völ­ ker, 2 Bde., hg. u. übers. v. Yittorio Hösle u. Christoph Jermann, Han1burg 1990, Erstes Buch, Kap. 51.

Die Bibel als Buch der Geschichte

3

drang unsres Jahrhunderts«6 gezeichnetes und son1it anachronistisches Unternehmen. Interesse verdient es \Veniger hinsichtlich der einzelnen Argun1ente, n1it denen Zöck­ ler den biblischen Bericht verteidigt, beispielsweise in einer Auseinandersetzung mit fossilen Funden wie dem »famosen Neanderthal=Schädel«.7 Interessant ist vieln1ehr bei eine1n Theologen des späten 19. Jahrhunderts die erstaunliche Lebendigkeit von Fragestellungen und Methoden, n1it denen bereits in1 18. Jahrhundert nicht nur die Theologie das Problen1 des Anfangs der Geschichte zu lösen versuchte. So erörtert Zöckler ausführlich die Frage nach den1 »Ursitz des Menschengeschlechts« {»wo gele­ gen? ob einer? ob 1nehrere?«), behandelt die Gründe für die »Langlebigkeit der Patriarchen als Nachglanz der Paradiesherrlichkeit« und verteidigt das auf biblischer Grundlage berechnete »Alter des Menschengeschlechts« als zentrales Axion1, dessen Aufgabe dazu zwingen würde, sich der »Auffassung der Menschheit als eines rein na­ türlichen Ennvicklungsproducts der seit Hunderttausenden von Jahren unsern Plane­ ten bevvohnenden Thiervvelt«8 anzuschließen. Zöckler artikuliert dasselbe Bedürfnis, das bis zun1 18. Jahrhundert die Bestim­ n1ung des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung als Bedingung der Möglich­ keit einer Lösung des Anfangsproblen1s betrachten ließ. Doch er bringt seine Be­ stin1mung dieses Verhältnisses in ein grundlegend verändertes \vissenschafrliches Ordnungsgefüge ein, \Vorin theologisch motivierte Proble1natisierungsansätze ins Leere laufen. »Für viele«, beklagt Zöckler das fehlende Interesse an der Frage nach der historischen Wahrheit des »biblischen Urstands«, »sind diese Fragen schon längst nicht mehr Fragen«. Mochte Zöckler auch »feierlich davvider protestiren, daß n1an die Sache als in den1 bekannten Sinne abgethan und erledigt betrachte«9 - für die \vissen­ schafrlichen Disziplinen, welche i1n 19. Jahrhundert die Frühgeschichte spezialisiert erforschten, war ein solcher Protest ebenso wie für die historische Bibelkritik, die den Text der Bibel seiner heiligen Aura entkleidete, nur mehr Ausdruck n1an­ gelnder Wissenschaftlichkeit. Der von theologischen Fragestellungen en1anzipierte Forschungsdrang brauchte sich von ih1n nicht berühren zu lassen. Zöckler selbst gibt dafür in einer Auseinandersetzung n1it den1 »Ueberhandnehn1en da1winistischer Spe­ culationen« ein Beispiel. Als 1868 ein \'V'issenschaftler bei einer Archäologenver­ sam1nlung in Bonn die Urgeschichte der Menschheit »in1 Sinne des einseitigsten Evolutionismus« behandelte, wurde der Widerspruch eines Gegners der Evolutions­ theorie vo1n Vorsitzenden der Versan11nlung »Unter zien1lich allgen1eine1n Beifalle als Producte dogmatischer Befangenheit« 10 zurückgewiesen.

6 7 s 9

10

Ebd., 124. Ebd., 159. Ebd., 292. Ebd., Einleitung, 7. Ebd., 146.

4

Einleicung l1n 18. Jahrhundert dagegen besaßen die Fragen Zöcklers keinesvvegs den Status

erledigter Proble1ne, auch vvar von ihnen nicht nur die Theologie bzw. eine (konserva­ tive) theologische Fraktion betrofe f n. Neuere Forschungen haben gezeigt, daß die The­ se, »ein gewachsener Falsifikations- oder l1nprobabilisationsdruck seitens Erfahrung und Vernunft habe die inhaltliche Glaubvvürdigkeit der >llistoria sacra< untergraben und so zu der Notvvendigkeit geführt, die universalhistorische Erkenntnis radikal von ihrer bisherigen, revelatorischen, auf eine philosophische Grundlage un1zustellen«, ebenso wenig einer genaueren Überprüfung standhält vvie die Ansicht, »das 18. Jahr­ hundert habe, auch nur seinen1 eigenen Eindruck nach, über historische Erkenntnisse und Vernunftschlüsse verfugt, die sich inhaltlich mit der >historia sacra< nicht länger vereinbaren ließen«. 1 1 Läßt inan, ausgehend von dieser kritischen Perspektive, gängi­ ge Vorstellungen und Synthesen zur Enrvvicklung des n1odernen historischen Den­ kens und seiner Methodisierung Revue passieren, so erweisen sich Zuschreibungen vvie die »Verabsolutierung der Profangeschichte i1n Humanismus und in der Auf­ klärung« als fragvvürdige Thesen. 1 2 Sie ergeben sich aus einer Sichrvveise, die, von gegenwärtigen Disziplingrenzen ausgehend, Geschichte als eine weitgehend autono­ n1e Disziplin voraussetzt und dadurch das Konfliktpotential ausblendet, \velches das Verhältnis von heiligen und profanen Erklärungs- und Auslegungsinstanzen noch in1

18. Jahrhundert besaß. Das Anfangsproble1n betraf in1 18. Jahrhundert theologische, naturrechtliche, phi­ losophische und historische Fragestellungen und Interessen. Mit dein Anfang der Ge­ schichte standen die Entstehung des Kosn1os und der Erde, der Ursprung des Men­ schen und der Menschheit, die Ursprünge der Gesellschaft, Zivilisation und Kultur, der Wissenschaft und Philosophie zur Verhandlung. l1n 18. Jahrhundert \varen diese Fragen nicht spezialisiert organisiert, sondern Gegenstand fachübergreifender De­ batten, die in der Auseinandersetzung mit der »llistoria sacra« und ihren theologi­ schen Auslegungsinstanzen einen gemeinsan1en Diskussionshorizont besaßen. Scheinbar festgefügte Überzeugungen der Moderne wie die vom Ursprung der Philo­ sophie im antiken Griechenland waren in1 18. Jahrhundert u1nstrittene Positionen. Aufklärer, die die Entstehung der Wissenschaften als Errungenschaft der Menschheit auslegten, hatten sich n1it philosophisch-theologisch aufgeladenen Figuren eines per­ fekten Ursprungswissens auseinanderzusetzen, so mit der Vorstellung von Adan1 als dein ersten, n1it besonderen Einsichten begabten Philosophen. Die Aufa f ssung, daß politische und soziale Ordnungen von1 Menschen ge1nachte, besonderen historischen

11 Arno Seifere, Von der heiligen zur philosophischen Geschichce. Die Racionalisierung der uni­

versalhiscorischen Erkenncnis in1 Zeicalcer der Aufklärung, in: AKG 68 ( 1986) 81-117, hier 88. 12 Ulrich Muhlack, Geschichrswissenschafc in1 Hun1anisn1us und in der Aufklärung. Die Yorgeschichce des Hiscorisnltts, München 1991, 196; zur Kricik der These Yerf„ »in1 Griff der Geschichte«: Zur Hiscoriographiegeschichce der f1ühen Neuzeic, in: HJb 1 1 2 ( 1992) 436-456.

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Die Bibel als Buch der Geschichte

Bedingungen geschuldete und deshalb veränderbare Ordnungen sind, war noch in1

18. Jahrhundert konfrontiert n1it der Auffassung ihrer überzeitlichen, durch göttliche Vern1ittlung gestifteten Gestalcen. In diesen1 Buch ist die Debatte über den Anfang der Geschichte in1 18. Jahrhun­ dert nicht in ihrem ganzen then1atischen Spektrun1 und in allen einschlägigen Texten Gegenstand der Untersuchung. Fragen des Sprach- und Völkerursprungs spielen nur an1 Rande eine Rolle. Dazu hat Arno Borst Belege und Quellentexte in kaum zu über­ treffender Materialfülle aufbereitet.1 3 Sein volun1inöses Werk hat ein bis in die Gegen­ vvart nicht abreißendes Interesse an speziell dieser Fragestellung angeregc.14 Weitge­ hend ausgespart bleiben auch Fragen der Kos1nogonie und der Geogonie. Sie besaßen schon in1 18. Jahrhundert ein relativ eigenständiges n1ethodisches Profil und vvaren von den Spannungen zvvischen biblischer Auslegung und vernünftiger Erklärung, de­ nen die folgende Studie besondere Aufn1erksan1keit vvidmet, weniger berührc.15 Das Buch von Paolo Rossi 1nit dein schönen englischen Titel

The Dark Abyss of

Time1 6 ennöglicht einen guten Einblick in diese und weitere Ursprungsdebatten be­ sonders des 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Den einzelnen Kapiteln, in denen Rossi

die Schwerpunkte der Debatte an Hand von prägnanten Fällen verdeutlicht, verdankt die vorliegende Arbeit wichtige Einsichten. Anknüpfungspunkte bieten weiterhin vor allen1 neuere französische Forschungen zur Historiographiegeschichte des 18. Jahr­ hunderts sowie zur Debatte über die Sintfluc. 17 Orientierung über das \veitverz\veigte Netz der Ursprungsdebatte in1 18. Jahrhundert ern1öglicht außerde1n eine Reihe von

Arno Borst, Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, 4 Tle. in 6 Bdn„ Stuttgart 1957-1963. 14 Insbesondere. zun1 Sprachursprung, dazu u. a. Un1berto Eco, Die Suche nach der vollkon1111enen Sprache, München 1994 (zuerst Ron1-Bari 1993: La ricerca della lingua perfetta nella cul­ tura europea), vgl. auch die Beiträge in: The Language of Adan1. Die Sprache Adan1s, hg. v. Allison P. Coudert, Wiesbaden 1999. 15 Vgl. Arno Seifert, »Verzeidichung«. Zur Kritik einer neueren Frühneuzeitkategorie, in: ZHF 10 (1983) 447-477. 16 Paolo Rossi, The Dark Abyss ofTi111e. The History of the Earth and the History of Nations fron1 Hooke to Vico, Chicago-London 1984 (zuerst Milano 1979: 1 segni del te111po. Storia della terra e storia delle nazioni da Hooke a Vico). 17 Vgl. Chantal Grell, Le Dix-huitien1e siede et l'antiquite en France, 2 Bde., Oxford 1995; Claudine Poulouin, Le ten1ps des origines. J.:Eden, le Deluge et »les ten1ps recules«. De Pascal a J.:Encydopedie, Paris 1998; tvlaria Susana Seguin, Science et religion dans la pensee fran�aise du XVllle siede: le n1ythe du Deluge universel, Paris 200 l . Einen knappen, doch instruktiven Über­ blick zur Ursprungsdebatte von der Antike bis zur Gegenwart verfaßte Dirk van Laak: »An1 An­ fang war das Wort «. Über die Theorien zun1 Beginn der Geschichte, in: Saeculun1 40 (J 989) 296-3 12; zur deutschen Debatte in1 19. Jahrhundert n1it Rückblicken auf die frühe Neuzeit: Stephan Cartier, Licht ins Dunkel des Anfangs. Studien zur Rezeption der Prähistorik in der deut­ schen Welt- und Kulturgeschichrsschreibung des 19. Jahrhunderrs, Herdecke 2000. 13

„.

Einleicung

6

Untersuchungen zu einzelnen Aspekten des Anfangsproblen1s. Hinweise darauf fin­ den sich in den folgenden Kapiteln. Das vorliegende Buch legt den Schwerpunkt auf bislang nicht oder wenig berück­ sichtigte Ursprungsdebatten im 18. Jahrhundert. In1 Zentrum steht dabei die deut­ sche Diskussion. Es ist jedoch nicht das Anliegen dieser Studie, eine vollständige Ge­ nealogie von Texten und Auffassungen zu1n Anfangsproblen1 und zur Frühgeschichte des Menschen im Deutschland des 18. Jahrhunderts zu erstellen. \'V'ürden Texte bloß als Repräsentanten von Ideen in eine chronologische Reihe von Annvorten auf die Frage nach dein Anfang der Geschichte gestellt, ginge ihnen jene historische Di1nen­ sion verloren, die in den folgenden Untersuchungen vor allein Aufmerksan1keit bean­ sprucht. Inden1 versucht wird, den Texten den Problen1horizont, aber auch das Kon­ fliktpotential zurückzugeben, welche sie im Kontext ihrer Zeit besessen haben, inter­ essieren vor allem die Fragen und Probleme, auf vvelche die Texte Annvorten geben. Diese Fragen und Probleme liegen nicht einfach vor, sie 1nüssen u. a. 1nit Hilfe der Texte erst herausgearbeitet werden. Un1 es mit den Worten des französischen Histo­ rikers Maurice Olender auszudrücken, würden die folgenden Seiten »gern den behan­ delten Texten ein wenig von der Kon1plexität der Werke zurückgeben, aus welchen sie stan1n1en«. Denn einen »Text vvieder mit den Fragen zu verbinden, die ihn veranlaßt haben, von den Proble1nen eingeschlagenen Wegen zu folgen, auf die \'V'ahl der Me­ taphern und unvennuteten Bildverbindungen acht zu geben, erlaubt ZU\veilen, ein Denken in seiner \'V'andelbarkeit zu erfassen«. 18

An den Texten interessieren deshalb ihre Problen1atisierungsweisen, aber auch die besonderen biographischen Konstellationen und institutionellen Praktiken, die sie prägen, die Lektüren, aus denen sie sich zusan1n1ensetzen, sowie die Methoden ihrer (Text-)Organisation. \'V'eiterhin ist bei der i1n 18. Jahrhundert stärker als in1 19. Jahr­ hundert europäisch vernetzten \vissenschaftlichen Kom1nunikation gerade in1 Blick auf die Ursprungsdebatte der europäische Diskussionshorizont 1nit einzubeziehen, über dessen produktive Rezeption sich besti1nn1te Behandlungsweisen der Anfangs­ frage gerade in Deutschland erst konstituieren. Aus diesen Anliegen ergab sich die Notwendigkeit einer intensiven Auseinandersetzung 1nit einzelnen Texten, die 1nehr als nur einzelne Texte sind, indem sie als Diskussionsschwerpunkte gelesen vverden können. Historische Phänomene vverden lebendig, inden1 sie n1it Ideen und Fragen verbun­ den \Verden. Mit ihrer Hilfe gelingt es, wie Paul Veyne einn1al sagte, das Wirkliche »der Selbstverständlichkeit, der Fraglosigkeit, der Selbständigkeit zu entreißen«. 1 9 Die 18 tvlaurice Olender, Die Sprachen des Paradieses. Religion, Philologie und Rassencheorie in1

19. Jahrhunderc, Frankfurc a. M. 1995, 28 (zuersc Paris 1989: Les langues du Paradis. A1yens ec Sen1ices: un couple providenciel). 19 Paul Veyne, Ein lnvencar der Differenzen. Ancriccsvorlesung an1 College de France, in: Ders„

8

Einleicung

schichte formierten. So liegt der Brennpunkt im Fall der Philosophiegeschichte i1n frühen 18. Jahrhundert. Der gegen die Vorstellung des biblischen Ursprungs der Phi­ losophie ausgearbeiteten Figur des griechischen Ursprungs wächst dann in der Folgezeit eine solche Gewißheit zu, daß sie in philosophiegeschichdichen Synthesen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als evident vorausgesetzt vverden kann, also nicht 1nehr gegen theologische Gegenbilder legitimiert werden 1nuß. Zugleich gibt die vernunftorientierte Idee des philosophiegeschichdichen Ursprungs bei den Grie­ chen späteren Brennpunkten der Debatte Argun1ente für die Auseinandersetzung n1it biblischen Ursprungsfiguren an die Hand. Grundlegend für die Ursprungsdebatte i1n 18. Jahrhundert ist San1uel Pufendorfs Naturzustandshypothese. Aus der Konfrontation von vernünftigem Naturzustand und traditioneller, biblisch fundierter Universalhistorie zeichneten sich an1 Ende des

17. Jahrhunderts die Konturen eines neuen Modells von Geschichte ab, das es ennög­ lichte, das Anfangsproble1n als Frage nach der Genese zeitgenössischer Politik, Ge­ sellschaft und Kultur zu stellen. Die skeptische Infragestellung der überlieferten pro­ fanen Ursprungsn1ythen diente dabei der Legitimierung einer historischen Rekon­ struktion, die sich unter Ausklam1nerung der heiligen Geschichte auf die historische Erklärung der Neueren Geschichte konzentrierte {Teil II: Das Anfangsproblem in der Naturzustandsdebatte). Der Fragehorizont und die Methoden des naturrechdichen Vernunftideals prägten die Debatte über das Anfangsproble1n in der Philosophie­ geschichte zu Beginn des 18. Jal1rhunderts. Sie läßt sich als eine Auseinandersetzung fassen, in der es un1 die Autonomie der Philosophie ging. Die historisch geschärfte Kritik der Frühaufklärung legte die Philosophie als Errungenschaft n1enschlicher Vernunft aus. Nicht heilige Männer wie Adan1 und die biblischen Patriarchen haben die Philosophie erfunden, lautet die gegen die Vorstellung ursprünglicher Wis­ sensvollkon1n1enheit ausgearbeitete These, sie bildete sich erst bei den Griechen in einer vernunftorientierten Schule der Freiheit aus {Teil III: Das Anfangsproblen1 in der Philosophiegeschichte). Die Figur des griechischen Ursprungs der Philosophie, der Christoph August Heu1nann besondere Signifikanz verlieh, orientiert die philosophiegeschichdiche Syn­ these bis heute, beginnend n1it Johann Jacob Brucker, dem Verfasser der für die euro­ päische Aufklärung mustergültigen Philosophiegeschichte. Die von theologischen Vorgaben emanzipierte Philosophiegeschichte versorgte aber auch die Auseinander­ setzung un1 die Anfänge der allgemeinen Geschichte n1it »vernünftigen« Argu1nen­ ten. Allerdings war der Abschied von der wirk1nächtigen Figur des »heiligen« Ur­ sprungs im Kontext historischer Forschung und Erzählung ve1wickelter und lang­ wieriger als in der Philosophiegeschichte. Das liegt vor allen1 darin begründet, daß das Alte Testan1ent als historische Quelle noch i1n 18. Jahrhundert nur schwer vvirk­ lich zu un1gehen \Var. Ein gleichern1aßen evidentes Erklärungs1nodell vvie in der Phi­ losophiegeschichte etablierte sich für die allgen1eine Geschichte nicht. Doch vvar die

Die Bibel als Buch der Geschichte

7

folgende Untersuchung liest die Ursprungsdebatte des 18. Jahrhunderts als einen Prozeß der Infragestellung von Gewißheiten und Argun1entationsweisen, die sich mit der Bibel als einer »epito1ne historiae n1undi«, als Abriß der Weltgeschichte i1n Ver­ lauf einer langen Auslegungsgeschichte verknüpft hatten. Die Gliederung des Buchs folgt heute geläufigen Gattungs1nustern: Philosophiegeschichte, Weltgeschichte, Kul­ turgeschichte, Geschichtsphilosophie. Das The1na wird dan1it in ein disziplinäres Ordnungsgefüge abgebildet, das für das 18. Jahrhundert so nicht einfach vorausge­ setzt vverden kann. Insofern sind die Grundkategorien der Gliederung der Übersicht­ lichkeit der Darstellung geschuldete Konventionen. Doch gibt es für sie auch sachli­ che Gründe. In der Ursprungsdebatte des 18. Jahrhunderts zeichnen Philosophie und Ge­ schichte ihre Selbständigkeit und fachliche Eigenständigkeit gegenüber der Theologie aus. Philosophiegeschichte, Weltgeschichte, Kulturgeschichte und Geschichtsphilo­ sophie sind ihre Argun1entationsforen. In der Ausgrenzung biblischer Anfänge und theologischer Ableitungen erhalten sie ihre n1odernen Gestalten. Die Ursprungs­ debatte vvar noch in1 18. Jahrhundert vor allem ein Streit u1n die Auslegung und Reichweite der Bibel für historische Fragestellungen. Mit der Behauptung eigenstän­ diger, vernünftig erschlossener Anfänge {der Philosophie, der Geschichte, der Kultur) ging es Philosophie und Geschichte u1n ihre Erklärungskraft für Gebiete, die bis ins

18. Jahrhundert theologischen Deutungs1nustern unter>vorfen waren. In Form der Philosophiegeschichte, Weltgeschichte, Kulturgeschichte und Geschichtsphilosophie befreiten sich Philosophie und Geschichte von der Fortschreibung theologisch abge­ leiteter Ursprünge und behaupteten ihre Zuständigkeit für die Frage des Anfangs der Geschichte. Mit vvelchen Argumenten und Methoden theologischer Bibelexegese sich die Ursprungsdebatte in1 18. Jahrhundert auseinanderzusetzen hatte, auf vvelche be­ reits in der Frühen Neuzeit profilierten Thesen und Konflikte sie bezogen war, u1n­ reißt der einführende Teil des Buchs (Teil I: Das Anfangsproblem in der Frühen Neu­ zeit: Themen, Thesen, Konflikte). In ihrer Forn1ierungsphase i1n 18. Jal1rhundert zeigen sich Philosophiegeschichte, \'V'eltgeschichte, Kulturgeschichte und Geschichtsphilosophie hinsichtlich der Ur­ sprungsfrage als aufeinander bezogene Diskussionszusam1nenhänge, die sich gegen­ seitig stützten. Diese1n Gesichtspunkt folgt die zeitliche Aufteilung der Ursprungsde­ batte in diesen1 Buch. Sie orientiert sich, \vie gesagt, an einzelnen zentralen Texten zum Anfangsproble1n in der Philosophie, Geschichte und Kultur. Ge\viß ist die Ur­ sprungsfrage nicht nur in den behandelten Texten The1na, doch lassen sie sich als Brennpunkte einer Debatte lesen, die dazu beitrugen, daß sich veränderte Regulari­ täten für die Darstellung der Philosophiegeschichte, \'V'eltgeschichte und Kulturge-

Die Originalität des Unbekannten. Für eine andere Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1988, 7-42, hier 42 (zuerst Paris 1976: �lnvenraire des differences).

9

Die Bibel als Buch der Geschichte biblische Frühgeschichte im

18. Jahrhundert einen1 Prozeß historisch-kritischer For­

schung unterworfen, der sie schließlich auf den Status einer bloßen »Vorgeschichte« reduzierte, die auf den vveiteren Geschichtsverlauf keine Auswirkungen hatte. Dies läßt sich an der neuen Weltgeschichte verdeutlichen, die seit den 30er Jahren des

18. Jahrhunderts, von England aus initiiert, zu einen1 europäischen Gen1einschafts­ projekt \vurde. Der biblische Ursprungsrahmen blieb in der

neral History

Universal History und Ge­

{und ihren deutschen Übersetzungen und Bearbeitungen) weitgehend

unangefochten, zeigte sich aber als ein Bezirk voller Fragen und Problen1e. Eine histo­ rische Erzählung, die sich an der »pragn1atischen« Leitidee der Aufklärungshistorie orientiert, ließ sich auf solch ungevvisse1n Fundan1ent nicht bauen {Teil IV: Das Anfangsproblen1 i1n Prozeß historischer Forschung und Erzählung). Die Marginalisierung biblischer Ursprünge in1 Prozeß historischer Forschung und Erzählung stärkte wiederun1 die Formierung der Kulturgeschichte, die seit den 50er Jahren des

18. Jahrhunderts als un1fassende Geschichte n1enschlicher Zivilisation aus­

gearbeitet wurde. Die neue Kulturgeschichte läßt sich in1 Blick auf die Erörterung des Ursprungs als Historisierung des abstrakten Naturzustandsn1odells unter den Bedin­ gungen der durch historische Kritik 1narginalisierten heiligen Geschichte verstehen. Sie brachte für die Erklärung des Ursprungs der Zivilisation die vernünftige Hypo­ these des Naturzustands, vor allen1 aber historische und ethnographische Quellen so­ vvie »natürliche« Bedingungen und Un1stände zur Geltung. Die Kulturheroen der heiligen Geschichte und die jüdischen Ursprünge der Zivilisation zeigen sich in ihr, vvenn überhaupt, nur n1ehr als wirkungslos gebliebene, insofern n1arginale Neben­ figuren der \'V'eltgeschichte. Mit Antoine Yves Goguet und Nicolas Antoine Bou­ langer stehen zvvei heute vveitgehend vergessene französische Protagonisten des kul­ turhistorischen Interesses in1 Zentrun1, die für dessen Fonnierung in1 Deutschland der zweiten Hälfte des

18. Jahrhunderts großen Einfluß hatten {Teil V: Das Anfangs­

proble1n in der Kulturgeschichte). Die Geschichtsphilosophie der Aufklärung ist in vielen1 ein Produkt der philoso­ phie-, vvelt- und kulturhistorischen Interessen des

18. Jal1rhunderts, auch und gerade

hinsichtlich der Ursprungsfrage, die als »geheime« Triebfeder ihrer Entstehung ver­ standen werden kann. Der Anfang der Geschichte, in der Welt- und Kulturgeschichte eine stets prekäre, der historisch-philologischen Forschung ausgesetzte Figur, erhält in ihr ein vernünftiges, von der biblischen Offenbarung unabhängiges Antlitz. Den Ab­ schied von der heiligen Geschichte erkaufte die Geschichtsphilosophie mit einer Re­ duktion der historischen (Quellen-)Problen1e, deren methodische Verarbeitung die Ursprungsdebatte in der Philosophie-, Welt- und Kulturgeschichte angetrieben hatte. Die Vernunft übertrumpft in Fenn der Geschichtsphilosophie die Geschichte. Die daraus resultierende, von Im1nanuel Kant als produktiv beschriebene Spannung zvvi­ schen philosophischer und historischer Rekonstruktion der Vergangenheit wird erst i1n

19. Jahrhundert zum unversöhnlichen Gegensatz.

10

Einleitung Bevvegendes Motiv der geschichtsphilosophischen Entwürfe der zweiten Hälfte des

18. Jahrhunderts \var Jean-Jacques Rousseaus »Suche nach den Ursprüngen«. Mit einer anthropologisch fundierten »Geschichte der Menschheit« eroberte die Philosophie die von der kritischen Historie preisgegebene Totalität der Geschichte. Die Anfänge der philosophischen Menschheitsgeschichte bei Isaak Iselin lassen sich so als eine Denkbewegung dokun1entieren, die die von Rousseau aufge\vorfenen Aporien des Ursprungs einer opti1nistischen, auf die Idee des Fortschritts vertrauen­ den Lösung zuführt. Die heilige Geschichte und der biblische Ursprung treten in der philosophischen Rekonstruktion der ganzen Geschichte nur noch als Maske der Vernunft auf {Teil VI: Das Anfangsproblem in der Geschichtsphilosophie). Die Entstehung des n1odernen historischen Be\vußtseins hat einen weiten Hori­ zont. Dies wollen die folgenden Studien am speziellen Gesichtspunkt des Anfangs­ problems herausarbeiten. Der Historizität der Moderne soll dadurch ein schärferes Profil verliehen vverden, als es in Darstellungen zur Historiographiegeschichte ge­ wöhnlich gezeichnet \vird.

TEIL 1 Das Anfangsproblem i n der Frühen Neuzeit Themen, Thesen, Konflikte

--

T ..1veisen wird die Bibel als »epitotne historiae n1undi«, als Abriß der Weltgeschichte gelesen und ausge­ legt. Die nach Vorgabe der historischen Bücher und Prophetien der Bibel struk­ turierte biblische Historie ist als »heilige Geschichte« (»historia sacra«) allen pro­ fanen Historien zeitlich {als älteste Ge­ schichtsüberlieferung), inhaltlich (als universale Geschichte) und formal (als wahre Geschichte) überlegen. Spätantike

Kirchenväter begründeten und profilierten die Anciennität der heiligen Geschichte. Mit großer Wirkung tat dies Augustinus. »Kein Wunder«, heißt es itn zwölften Buch der

Civitas dei über die Heiden und ihre Idee der »steten Wiederkehr des Gleichen«,

»daß sie weder Eingang noch Ausgang finden, vvenn sie so im Kreise herutnirren. Denn sie vvissen weder, \velchen Anfang das Menschengeschlecht und dies unser sterbliches Dasein genomtnen hat, noch welches sein Ende sein \vird«. 1

Die Überlegenheit der biblischen Historie gründet in ihrem zeitlichen Vorrang, aber auch itn damit verknüpften Vorrang biblischer Weisheit. Über der »eitlen Prah­ lerei« der Völker über ihr Alter und das Alter ihrer Weisheit steht für Augustinus die »Weisheit unserer Urväter«, die allen Völkern, selbst dem ägyptischen, das sich seines Alters und seiner Weisheit so rühmt, zeitlich vorangeht.2 Die Anciennität der Bibel

1 Augustinus, De civitate dei, 12, 1 5 (deutsche Übersetzung nach: Aurelius Augustinus, Vo1n Gottesstaat, Buch 11-22, hg. v. Carl Andresen, übers. v. Wilhel1n Thimn1e, Zürich 1978}. 2 Ebd., 18,39.

Teil 1 Das Anfangsproblen1 in der frühen Neuzeit

12

·

vvurde schon von der frühchristlichen Apologie auch hinsichtlich der kulturellen Errungenschaften des Menschen, seiner Erfindungen und Wissenschaften, ausgelegt. Nicht nur bestätigte die biblische Historie deren jüdische Ursprünge, bekräftigt vvur­ den sie selbst durch profane Autoren, enva Herodot, der die Erfindung der n1eisten »artes, litterae und scientiae« orientalischen Völkern zugeschrieben hatte.3 Kronzeuge für die Ursprünglichkeit des heiligen Wissens war der jüdische Historiker Flavius Josephus.4 In den

Antiquitates judaicae beschreibt

er Adan1 und die frühen Patriar­

chen als weise Männer, die der Astrono1nie kundig vvaren. Sein Bericht über die zwei Säulen, auf denen astronon1isches Wissen aus der Zeit vor der Sintflut geschrieben vvar, um es über die von Adan1 vorausgesagte Katastrophe zu retten und der Nach\velt zu überliefern,5 veranlaßte eine i1nn1ense Zahl von Kon1mentaren. Eine Anfang des

18. Jahrhunderts gedruckte Dissertation, die in der bloßen AufZählung von Texten über die vvenigen Zeilen des Josephus besteht, dokumentiert die Erfolgsgeschichte dieses »locus«. 6 Bereits im Mittelalter hatte die Auszeichnung biblischer Ursprünglichkeit und Weisheit ihren apologetischen Charakter verloren. Die von den Kirchenvätern über­ non1n1enen Argun1entationsschen1ata \vurden schon dan1als zun1 gelehrten Zitat. In1 Zentru1n des scholastischen Interesses steht die systematisch-logische, nicht die histo­ rische Begründung von Wissen. Dies ändert sich in der Frühen Neuzeit. Zahlreiche Texte entstehen, in denen die christliche These von1 jüdischen Ursprung der Kultur und Wissenschaft erläutert, näher ausgeführt und begründet, aber auch problen1ati­ siert wird. Das Spektrun1 der Untersuchungen reicht von der Genesis-Auslegung der Theologen bis zur Spezialuntersuchung der Philologen.7 Es gab Untersuchungen zur vorsintflutlichen Wissenschaft, n1an forschte nach Büchern, die Adam verfaßt hatte,8

Vgl. Franz Josef Worstbrock, Translatio arriun1. Über die Herkunft und Entwicklung einer kulturhistorischen Theorie, in: Archiv für Kulturgeschichte 47 (1965) 1-22; Arthur J. Droge, Hon1er or Moses. Early Christian Interpretations of the History of Culrure, Chicago 1984. 4 Vgl. Heinz Schreckenberger, Die Flavius-Josephus-Tradition in Antike und Mittelalter, Leiden 1972. > Vgl. Flavius Josephus, Antiquitates Judaicae, !, 69-71. 6 Vgl. NI. Friedrich Hannibal Sten1pel (Praes.), Johann Christoph Schubart (Resp.), Ad locun1 Flavii losephi Antiquit. lvdaic. lib. 1 Cap. III De colvn1nis antedilvvianis dissertatio inavgvralis, Jena 1706. 7 Ein Überblick findet sich bei Gottfried Vockerodt, Historia societatun1, & rei lirrerariae n1undi prin1i, in: Ders„ Exercirationes acaden1icae: sive con1n1entatio de eruditorun1 socieratibus et varia re litteraria; nec non philologen1ara sacra auctius & en1endatius edita, Gotha 1704, 125-196, hier 135ff. 8 Vgl. zu dieser Debatte Jakob Friedrich Rein1n1ann, Versuch einer Einleitung in die Historiam Literarian1 Antediluvianan1, zuerst Halle 1709, hier benuczt in der 2. AuA. Halle 1727, etwa 77f„ sowie die kritischen Annotationen und Kon1n1entare zun1 Artikel »Adan1« in Pierre Bayles Dictionnaire (Historisches und Critisches Wörterbuch nach der neuesten Auflage von 1740, hg. u. 3

The1nen, Thesen, Konflikte

13

und setzte sich n1it dem (astrologischen) Wissen auseinander, das die Söhne von

Adan1s Sohn Sech - nach der Stelle in den jüdischen Altertümern des Flavius Josephus - auf zwei Säulen geschrieben hatten.9 Bekannte und weniger bekannte Gelehrte beteiligten sich an dieser Auseinander­ setzung. Der französische Kabbalist Guillaun1e Postei vertrat Mitte des

16. Jahr­

hunderts die These, daß bei den Brahn1anen in Indien unzählige Schätze vorsintflut­ licher Historien und Bücher verborgen seien.10 Der deutsche Schulrektor Joachim Johann Mader aus Schöningen vvar einhundert Jahre später unerschütterlich davon

überzeugt, daß es schon vor der Sintflut Bibliotheken gegeben habe. 11 Mag auch die Existenz dieser Bibliotheken nicht n1it Gewißheit, d. h.: durch die Bibel zu belegen sein, so kann Mader doch für das Fundan1ent seiner - n1it antiquarischen Zeugnissen erhärteten

-12

These, daß nän1lich Ada1n und die ersten Patriarchen schriftkundig

\Varen und auch Bücher verfaßten, eine ehrwürdige und lange Genealogie von gelehr­ ten Belegen anführen. Neben Kirchenvätern \vie Johannes Cassian, n1itcelalcerlichen Chronographen (Frechulf von Liseau, Gottfried von Vicerbo, Petrus Comestor), früh­ neuzeitlichen Genesis-Kon1mentatoren (David Chycraeus) und platonisch inspirier­ ten Erforschern ursprünglicher \'V'eisheit (Agostino Steucho, Achanasius Kircher) zitiert und ko1nn1entiert er antike Autoren wie Plinius sowie die Stelle des Flavius Josephus über die beiden beschriebenen vorsintflutlichen Säulen. 13 Eine Art Enzyklopädie gelehrter Belege zur Ursprungsfrage hatte schon italienische Hu1nanist Polydorus Vergilius verfaßt. Sein Buch

1499 der

De fnventoribus

reru111

dokumentiert das allgen1eine Interesse an1 Ursprung der Kultur und Wissenschaft

übers. v. Johann Christoph Gottsched, 4 Bde„ Leipzig 1741-1744, Bd. I, 72-76, speziell 75/Ann1.[K)). 9 Dazu Reimn1anns kritischer Kon1n1entar (Historia Literaria Antediluviana, 68). 10 Vgl. Guilieln1us Postellus, De originibus, sev, de varia et potissin1un1 orbi Latino ad hanc dien1 incognira, aut inconsyderata historia, quun1 totius Orientis, tun1 1naxin1e Tarrarorun1, Persarun1, Turcarun1, & on1niun1 Abraha1ni & Noachi alun1norun1 origines, & n1ysteria Brachn1anun1 re­ tegente, Basel 1553, 72: »Apud illos (d.h. den Brahmanen, H.Z.J latent infiniti historiarun1 et li­ brorun1 antediluuianorun1 thesauri, quos nos expectare una cun1 Enochianis opus est, antequan1 claritaten1 absolutan1 rerun1 Mosaicarun1 cernan1us.« 1 1 Seine Schlußfolgerung lautet: »Quod si vero extiterunt tot veterun1 antediluvianorun1 n1anu exarata n1onun1enta, velut non vulgariun1 Auctorun1 testimoniis abunde. finnavimus: cui jam, quae­ so, an1plius dubium videri queat, nun1 etian1 fuerint, qui studiose ista illis ten1poribus collegerint, atque. inde Bibliothecas extruendo, quavis re pretiosissin1a cariores habuerint, etian1si nullos eorun1 in divinis literis videan1us n1en1oratos, vel etian1 ad post diluvianos n1orrales, salten1 incorruptos, derivatos« Uoachin1 Johann Mader, De bibliothecis atque archivis [„.] libelli et conunentationes. Cun1 praefatione de scriptis et bibliothecis antediluvianis, Heln1stedt J 666, Praefatio, 26 f.). 12 Vgl. ebd„ 27ff. 13 An1 ausführlichsten kon1n1en Steucho, Chyrraeus und Kircher zu Wort (vgl. ebd., 7f„ 8 f. u. 1 1 ff.). Zu Plinius ebd., 4; bei Plinius (vgl. C. Plinii Secundi Naturalis Historiae Libri XXXVII, hg.

14

Teil 1 Das Anfangsproblen1 in der frühen Neuzeit ·

allein durch die große Zahl an Neuauflagen; bis zum

18. Jahrhundert erscheinen über

hundert Ausgaben, darunter auch Übersetzungen in die n1eisten europäischen Spra­ chen. 14 Auf den im Vergleich zum Mittelalter veränderten Interessenhorizont ven,vei­ sen die zahlreichen Quellen antik-heidnischer Provenienz, die Polydorus Vergilius für seine Untersuchung auswertet und denen er zugesteht, daß »Unter einen1 Schein I die \'V'arheit auch etwan verborgen ligt«.15 Jedoch steht der Vorrang der heiligen Ge­ schichte für ihn unerschütterlich fest. I1n Vergleich n1it den Aussagen der Heiligen Schrift sind die profanen Erklärungen bloße Fabeln, die durch die Gewißheit der biblischen Historie und ihrer Auslegung ennvertet werden. So auch i1n Fall der Erfin­ dung der Schrift, von der vvegen ihrer grundlegenden Bedeutung für alle \'V'issen­ schaften »vor allen Dingen«16 gehandelt werden n1üsse. Über ihren wahren Ursprung läßt sich Polydorus Vergilius von Flavius Josephus belehren: Schon vor der Sintflut haben »die Kinder Seth

/ deß Sohns Adan1s / auff z>vo Seulen« ihre astronomischen

Kenntnisse beschrieben.17 Was der gelehrte Humanist als z>vei getrennte Register, als Gegenüberstellung von jüdisch-christlichen und antik-heidnischen Erklärungen und Belegen vorführt, die hinsichtlich ihrer Ge\vißheit in einen1 hierarchischen Verhältnis zueinander stehen, führt zur gleichen Zeit im Kontext der neuplatonisch inspirierten »philosophia peren­ nis« zu ko1nplizierten Abbildungs- und Überlagerungsverhältnissen. Die Christiani­ sierung der heidnischen Philosophie eines Marsilio Ficino und die synkretistischen Progra1nn1e seines Schülers Giovanni Pico della Mirandola bringen die Heilige Schrift und die antik-heidnischen Texte zum Zvveck der Rekonstruktion einer ihnen gen1einsamen Uroffenbarung in ein Konkordanzverhältnis. So entschlüsselt Ficino etvva den antiken Atlantis-Mythos in1 Licht der mosaischen Genesis und liest ihn als historisch \vahren Bericht über die vorsintflutliche Zeit;18 und als Giovanni Pico seine berühn1te Rede über Gott, Ada1n und die Würde des Menschen verfaßt, \vill er sich nicht nur auf »die 1nosaischen und christlichen Mysterien«, sondern auch auf »die

u. übers. v. Roderich König, o. 0. 1975, Liber Vll, l92f.) findet Mader die verschiedenen antiken Auffassungen versan1n1elt. Plinius schließt aus den Angaben von Epigenes, Berosus und Kritoden1os, daß von einen1 »aeternus litterarun1 usus« auszugehen ist. 14 Die Erstausgabe erschien in Venedig in drei Teilen gedruckt, die 1521 um fünfweitere ergänzt wurden, Übersetzungen ins Englische, Französische, Deutsche, Spanische, Italienische, Holländi­ sche und Russische folgten; vgl. Denys Hay, Polydore Vergil. Renaissance Historian and Nlan of Letters, Oxford 1952, 52 ff. Zu den Quellen des Vergilius Brian P. Copenhaver, The Historiography of Discovery in the Renaissance: The Sources and Con1position of Polydore Vergil's De ln­ ventoribus Rerun1, 1-111, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 41 (1978) 192-214. 15 Das Zitat nach einer der zahlreichen deutschen Übersetzungen: Polydorus Vergilius von Urbin, Von Erfindung und Erfindern der Dinge („.], Frankfurt a.NI. 1615, Vorrede (unpag.). 16 Ebd„ 38. 17 Ebd„ 42. 18 Vgl. den Kon1n1entar in: Marsilius Ficino (Hg.), On1nia divini Platonis opera, Basel 1532, 737ff

The1nen, Thesen, Konflikte

15

Theologie der Alten« stützen und belegt seine Ausführungen durch Angaben, in de­ nen Moses und Platons

Timaios einträchtig nebeneinander stehen.19 Die heiligen und

profanen Texte beleuchten sich gegenseitig, sie sind darüber hinaus auch Teil eines Korpus ursprünglicher \Veisheiten, in den1 neben den Aussagen der Bibel solche aus philosophischen, kabbalistischen, hermetischen und magischen Texten und Kon1mentaren stehen. Die Idee der »prisca theologia« und »philosophia perennis« hatte in1

16. und 17. Jahr­

hundert großen Einfluß.20 Dies \virkt bis auf die Problen1atisierung der Ursprungs­ frage in1

18. Jahrhundert nach, die ungeachtet aller Unterschiede in der Kritik an der

Vorstellung einer vollkom1nenen ursprünglichen Weisheit ein gen1einsan1es Anliegen verfolgt. Welche Fragen, Argun1ente und Methoden trieben die Rekonstruktion ursprünglicher Wissensvollkon1menheit an, welche Streitpotentiale besaß die Frage nach den1 Ursprung schon vor den1

18. Jahrhundert?

Auf den bloßen Buchstaben der Bibel konnte die Auslegung der Figur ursprüngli­ cher Weisheit nicht bauen. Sie war angewiesen auf außerbiblische Quellen und Be­ lege wie die Säulenthese des Flavius Josephus. Welchen Spielraum die Erörterung hier hatte, \Var davon abhängig, von vvelchen exegetischen Grundlagen die Auslegung der Genesis ausging. Wenn Moses nicht als Historiker oder Philosoph geschrieben hat, sondern für ein ungebildetes, der Philosophie noch nicht fähiges Volk, dann eröffne­ te sich ein weiterer Auslegungshorizont, als ihn lutherische T heologen zugestehen mochten, welche die literale als die historische \Vahrheit der 1nosaischen Urkunde betonten. Die erste Position vertrat enva der spanische Jesuit Benito Pereira. Sie gründet auf einer Differenzierung der biblischen Überlieferung zur Frühgeschichte. Der Pentateuch, argumentiert Pereira, gehe zwar größtenteils auf Moses zurück, jedoch sei er noch lange nach Moses auf der Grundlage überlieferter »Diaria et Annales« ergänzt und redigiert worden. Moses selbst habe sein \Vissen nicht nur aus Inspiration, sondern auch aus ada1nitischer Tradition geschöpft, war also »tan1 divi­ na, tan1 hun1ana ratione« instruiert.21 Dagegen hielt sich die lutherische Theologie eng an die »reine« Überlieferung der göttlich inspirierten Schrift und begrenzte dan1it deren Interpretation. Mit großer Wirkung vertrat diese Position der lutherische Theologe Abrahan1 Calov, der (im Kontext einer Auseinandersetzung um das heliozentrische Weltbild des Kopernikus)

19 Vgl. Giovanni Pico della Nlirandola, De hon1inis dignitate- Über die Würde des Nlenschen, Lateinisch-deutsch, übers. v. Norbert Bau1ngarten hg. u. eingel. v. August Buck, Han1burg 1990, 4 f. u. 22 f. 20 Vgl. Wilhelm Sch1nidt-Biggemann, Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländi­ scher Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt a. M. 1998. 21 Benedictus Pererius Valentinus, Prior Ton1us Con1n1entariorun1 et disputationun1 in Gene­ sin1, Lyon 1594, 3 f„ 9 ff. ,

Teil 1 Das Anfangsproblen1 in der frühen Neuzeit

16

·

etvva die These, Moses spreche nur »populariter«,22 scharf kritisierte. Aus unter­ schiedlichen Prämissen der Bibelexegese ergaben sich unterschiedliche Prän1issen für die Untersuchung und Bestin1mung des Wissens der Patriarchen. \Vährend Pereira von einer vollkon1n1enen »scientia«23 Ada1ns ausgeht, bekän1pft Calov diese Auffas­ sung als eine katholische und sozinianische Irrlehre.24 Doch wenn lutherische T heologen Adams vollkom1nenes Wissen bestritten, woll­ ten sie dadurch nicht die Wissenskultur der ersten biblischen Patriarchen als solche in Frage stellen. Von der Existenz einer vorsintflutlichen Wissenschaft auszugehen, war so envas wie eine überkonfessionelle Position. Die T hese der vorsintflutlichen Schrift­ kultur verdeutlicht diesen Konsens. Die Überzeugung, daß die Schrift schon vor Moses in Gebrauch vvar, wurde auch von solchen Theologen geteilt, welche die Au­ thentizität der Textdokun1ente und Belege, mit denen Gelehrte seit dem

16. Jahr­

hundert eine ursprüngliche Wissensvollkom1nenheit nachzu\veisen versuchten, be­ Z\veifelten. Zwar seien die Ada1n und anderen biblischen Patriarchen zugeschriebenen Bücher als Fälschungen abzulehnen, argumentiert enva der reforn1ierte Züricher Theologe Johann Heinrich Heidegger, dennoch gehe er davon aus, daß Adam schrift­ kundig \Var. Dies erweise sich schon »ex ratione«, also durch vernünftige Schlußver­ fahren. Schrift sei für die Überlieferung von Wissen und jede Ko1nn1unikation, die über die Präsenz des bloßen Gesprächs hinausgeht, unabdingbar; auch sei nicht vor­ stellbar, daß Adam die Schrift nicht erfunden habe, hatte er doch auf Grund eines langen Lebens die dazu notwendige Erfahrungsgrundlage {»experientia«). Der ada1nitische Schriftgebrauch ist nach Heidegger zuden1 »ex scriptura Sethi­ taru1n« abgesichert, also durch den Bericht des Flavius Josephus über die vorsintflut­ lichen Schriftsäulen.25 Wenn dagegen der lutherische Theologe und Historiker Jo­ hann Heinrich Ursinus die Auffassung von der zeitlosen Evidenz der Schrift kritisier­ te und ihr die T hese von einer schriftlosen Frühgeschichte entgegenstellte {die er mit derjenigen einer hohen Wissenskultur für vereinbar hielt), so war dies eine seltene Ausnahme.26 Noch als Jakob Friedrich Rein1n1ann, auch er ein Lutheraner, Anfang des

18. Jahrhunderts die traditionellen Vorstellungen über vorsintflutliche Weisheiten

Abrahan1 Calov, Syste111a locorun1 theologicorun1, 12 Bde„ Wittenberg 1655-1677, Bd. 3, 1659, 1036f. 23 Pererius, Prior Ton1us Con1111encariorun1 et disputationum in Genesi111, 528 ff. 24 Abrahan1 Calov, Con1n1entarius in Genesin, Wittenberg 1671, 382. 25 Johann Heinrich Heidegger, Historia sacra Patriarcharun1 exercitationes seleccae, 2 Bde„ Zü­ rich 1729 (aber, laut Widn1ung, zuerst 1667), Bd. I, Abschnitt XVI: De Lingua & literis Patriar­ charum (287-320), speziell über die linerae ebd„ 313 ff 26 Johann Heinrich Ursinus, De Zoroascre Bactriano, Hern1ete Trismegisto, Sanchoniathone Phoenicio, eorun1que scriptis, et aliis, contra tvlosaicae. Scripturae. antiquitaten1 exercicationes fan1i­ liares, Nürnberg 1661; dazu Verf„ Der Ursprung der Schrift als Problen1 der frühen Neuzeit. Die These schriftloser Überlieferung bei Johann Heinrich Ursinus ( 1608-1667), in: Philologie und Er22

17

The1nen, Thesen, Konflikte

und Wissens\velten einer radikalen Skepsis aussetzt, findet dieser Zweifel seine Grenze in der auch von ihn1 geteilten Überzeugung, daß es Schrift schon vor der Sintflut gegeben haben muß.27 Die Geltung der Vorstellung einer vonnosaischen Schriftkultur und Wissenschaft \var paradigmatisch 1nit der Anerkennung der heiligen Geschichte als ältester Ge­ schichte und als einer Traditionsinstanz ursprünglicher, göttlich inspirierter Weisheit verknüpft. Radikal in Frage gestellt wurde diese Geltung allerdings von Philosophen, die den Autonon1ieanspruch der neuen Wissenschaft des

17. Jahrhunderts 1nit der

Forderung nach einer E1nanzipation von theologischen Vorschriften verbanden und die kritische Vernunft statt zur Verteidigung der Heiligen Schrift auf diese selbst an­ \vandten. Thon1as Hobbes und Baruch de Spinoza stellten Grundprä1nissen der hei­ ligen Geschichte in Frage, dan1it verbunden auch die Auffassung über die hohe Wissenschaftskultur biblischer Patriarchen und ganz allgemein die Überzeugung vom jüdischen Ursprung der Erfindungen und \'V'issenschaften. Spinozas Kritik der Autor­ schaft des Moses für den ganzen Pentateuch entzieht dessen Interpretation als Quelle ursprünglicher \'V'eisheit die Grundlagen. I1n Kontext einer Analyse der dem n1ensch­ lichen Vorstellungsvermögen angepaßten Prophetie und Offenbarung \vundert sich Spinoza über die merkwürdige "Übereilung«, 1nit der »man sich allgemein eingeredet, die Propheten hätten alles gewußt, was dem n1enschlichen Verstande überhaupt zugänglich ist«.28 Spinoza \vurde als Häretiker und Atheist diffan1iert. Die Auslegung der biblischen Historie \Var offensichtlich kein bloß vvissenschaftliches Problen1, die Auffassung von der \'V'eisheit der Patriarchen vvar eine religiöse Machtpositionen stüt­ zende Ideologie. So jedenfalls sah dies Thon1as Hobbes, der in1

Leviathan

die auf

Alter und Tradition gestützte Autorität »geistlicher Herrn«29 in ihren ganz profanen Herrschaftsansprüchen entlarvt. Die n1eisten Philosophen \Varen vorsichtiger und betonten die Arbeitsteilung Z\vi­ schen Theologie und Philosophie. Die Auslegung der heiligen Geschichte überließen sie der Schriftauslegung der Theologen und Philologen. Francis Bacon hat es so gehal­ ten, ohne allerdings auf die Erforschung der

Sapientia veterum, so der Titel eines sei-

kenntnis. Beiträge zu Begriff und Problen1 frühneuzeitlicher »Philologie«, hg. v. Ralph Häfner, Tübingen 2001, 207-223. 27 Rein1n1ann, Historia Literaria Antediluviana; dazu Verf., Aporien frühaufgeklärrer Gelehr­ samkeit. Jakob Friedrich Reinunann und das Problen1 des Ursprungs der Wissenschaften, in: Skepsis, Providenz, Polyhistorie. Jakob Friedrich Rein1n1ann (1668-1743), hg. v. Nlarrin Mulsow u. Heln1ut Zedelinaier, Tübingen 1998, 97-129. 28 Baruch de Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat, hg. u. eingel. v. Günter Gawlick, Ham­ burg 1976, 32 f. u. 38. 29 Vgl. die Kapitel 46 u. 47 des Leviathan (hier benutzt in: Tho1nas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Forn1 und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staate.s, hg. u. eingel. v. lring Fetscher, Frankfurt a. NI. 1984, 507 ff.).

Teil 1 Das Anfangsproblen1 in der frühen Neuzeit

18

·

ner Bücher, zu verzichten. »Das früheste Altertun1«, kann n1an dort lesen, »ist mit Ausnahme dessen, \Vas von ihm in der Heiligen Schrift bewahrt ist, in Sch\veigen und Vergessen gehüllt«. Zwischen diese1n Schweigen und Vergessen und der »Zeit der schriftlichen Überlieferung« liegt ein »Schleier von Sagen«, der das, »was verlorenge­ gangen ist«, von de1njenigen trennt, »was erhalten geblieben ist«.30 Daß sich Bacons Interesse auf die »Sagen der antiken Dichter« konzentriert und er nur das in ihnen verborgene »Gehein1nis«3 I aufdecken will, ist bezeichnend für jene Vorsicht. Die Grenze »Zvvischen göttlichen und n1enschlichen Dingen«32 zieht der Progra1nn1atiker der neuen Wissenschaft deshalb so deutlich, weil erst deren strenge Beachtung der Philosophie die Freiheit eigener Fragen eröffnet, die es ennöglichen soll, die »Säulen des Herkules« zu überwinden. Was Bacon in den antiken Sagen ent­ deckt, die er »als die geheiligten Relikte und den sanften Aten1 besserer Zeiten, die durch die Überlieferung älterer Völker in die Flöten und Trompeten der Griechen gelangten«,33 versteht, sind nicht zuletzt Belehrungen über eben jene Grenze, deren Nichtbeachtung »unvern1eidlich die Zerfleischung des Geistes und seine rast- und endlose Verwirrung zur Folge hat«.34 Daß aber gerade der Bezirk, der nicht die hei­ lige Geschichte betrifft, die Autonon1ie des n1enschlichen Wissensstrebens lehrt, von der sich Bacon den zukünftigen \Vissenschaftsfortschritt verspricht, kann als ironi­ scher Kon1mentar zu den zeitgenössischen Anstrengungen gelesen \Verden, bei der Suche nach einer ursprünglichen Vollko1nn1enheit des Wissens heilige und profane Texte zu vennischen.35 Eine Grenze zwischen heiliger Geschichte und profanen Geschichten, auf die Ba­ con nicht nur bei seiner Rekonstruktion der Weisheit der Alten so großen Wert legte, gab es für die Philosophie der »theologia prisca« und »philosophia perennis« nicht. Die Übereinstim1nung von Theologie und Philosophie ist Bedingung und Antriebs-

Francis Bacon, De. sapientia veterun1 liber, zuerst London 1609, hier zitiert nach der v. Philipp Rippe! hg. Ausgabe: Francis Bacon, Weisheit der Alten, Frankfurt a. M. 1990, 9. 31 Ebd„ 1 o. 32 Ebd„ 69 (in1 Artikel über Pron1etheus). 33 Ebd„ 12. 34 Deshalb »n1uß der tvlensch genau und bescheiden z'vischen göttlichen und n1enschlichen Dingen unterscheiden, wenn er nicht eine ketzerische Religion und eine falsche Philosophie haben will« (ebd„ 69, in1 Artikel über Pron1etheus; vgl. auch den Artikel Actaeon und Pentheus oder die Neugierde, 33 f.). 35 Zu Bacons Kritik an seinen Vorgängern vgl. ebd„ 13; zur Begründung der Konzentration auf eine profane Auslegung ebd„ 70: »Es ist richtig, daß darin nicht wenige Dinge enthalten sind, die überraschend n1it den Mysterien des christlichen Glaubens übereinstin1n1en.vun­ gen, seine historischen Vorlesungen zu ändern. Etwas resigniert - »So n1uß ein Lehrer endlich sich auch darnach accon1odiren

/ und / wo es nicht weiter zu bringen ist /

sich ZU\veilen der Gewalt des gen1einen Wahns 1nit unterwerffen«

4 doch auf höhe­

,

-

re Geldbeträge der (privaten) Hörerschaft hoffend,5 beschloß er, auf die Interessen

1 Das Folgende nach einen1 Vorlesungsprogran1n1 von 170 I , in den1 Weber auch über seine bis­ herigen Erfahrungen als Geschichtsprofessor berichtet; der vollständige Titel lautet: D. ln1n1anuel Weber I derer Historien Professor P. und Bibliochecarius Acade111iae eröffnet Der Scudirenden Ju­ gend zu Giessen Sein Vorhaben auff dieses Jahr I so wohl Wegen seiner historischen Leerionen und Collegiorun1, als auch Wegen Anlegung eines Cabinecs von alten Nun1is111acibus, Und Einführung des curiösen Scudii rei nun1n1eriae, Und dann Wegen besserer apcirung der Universitäts= Bibliochec zu gen1einsa111en Nutzen, Gießen 1701. Zu Weber als Lehrstuhlinhaber für Geschichte in Gießen vgl. Emil Clen1ens Scherer, Geschichte und Kirchengeschichte an den deutschen Univer­ sitäten, Freiburg i. Br. 1927, 164 f. 2 Vgl. Weber, Eröffnet Der Studirenden Jugend, 2f. 3 In der Fachwelt dagegen war Weber n1it einen1 Buch über Heraldik erfolgreich, zun1indest wurde sein Examen arcis heraldicae (erst111als Frankfurt 1696) wenigstens siebenmal neu aufgelegt (vgl. Scherer, Geschichte und Kirchengeschichte, 165/Ann1. 1). 4 Vgl. Weber, Eröffnet Der Studirenden Jugend, 4. 5 Für das neue Privatkolleg n1üsse. er, argun1encierc Weber, wegen des größeren Vorbereitungs-

24

Teil II Das Anfangsproblem in der Naturzustandsdebacre ·

seines studentischen Publikums einzugehen, das, »begierig

/ etwas neues zu hören«,

sich nicht in erster Linie »ad Scholan1 qualificiren«, vielinehr »cavalieren1ent« studie­ ren wolle.6 Welches neue historische Interesse trieb den Gießener Professor um die Wende zun1

18. Jahrhundert an, »das viele alte Gezeug