Der Anfang der Geschichte: Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert 9783787322046, 9783787316595

Für das moderne Nachdenken über Geschichte ist es keine beunruhigende Vorstellung, daß die Anfänge der Geschichte "

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Der Anfang der Geschichte: Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert
 9783787322046, 9783787316595

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HELMUT ZEDELMAIER Der Anfang der Geschichte Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert

STUDIEN ZUM ACHTZEHNTEN J AHRHUNDERT Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Band 27

FELIX MEINER VERL AG · HAMBURG

HELMUT ZEDELMAIER

Der Anfang der Geschichte Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert

FELIX MEINER VERL AG · HAMBURG

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar.

Titelvignette: Titelkupfer aus Jean Le Clerc, Compendium historiae universalis ab initio mundi ad tempora Caroli Magni Imperatoris. Editio secunda, Leipzig 1707 (HAB Wolfenbüttel M: Gb 167) © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2003. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Gabriele Murrer, München. Druck: Strauss, Mörlenbach. Buchbinderische Verarbeitung: Litges & Dopf, Heppenheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

INHALT

EINLEITUNG Die Bibel als Buch der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

TEIL I Das Anfangsproblem in der Frühen Neuzeit: Themen, Thesen, Konflikte . . . .

11

TEIL II Das Anfangsproblem in der Naturzustandsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

1. Naturrechtlich erschlossene Anfänge: Samuel Pufendorf . . . . . . . . . . . . . A. Abstraktion von der biblischen Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Naturrechtliche Grundlegung der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Skepsis und politik-historisches Interesse: Johann Peter Ludewig . . . . . . . A. Die Entstehung der Fabeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Primat der Neueren Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24 26 30 34 36 47

TEIL III Das Anfangsproblem in der Philosophiegeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

1. Die Institutionen des Wissens: Christian Thomasius. . . . . . . . . . . . . . . . A. Erklärung der Erklärungen perfekter Ursprünge . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Das Problem der Erziehung und Wissensübermittlung . . . . . . . . . . . . 2. Die Hebräer unter den Barbaren: Nikolaus Hieronymus Gundling . . . . . A. Kritik der gelehrten Philosophiegeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Errungenschaften menschlicher Vernunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die Besonderheit der hebräischen Kultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Ursprung der Philosophie bei den Griechen: Christoph August Heumann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Wechselseitige Beschränkung von Philosophie und Theologie . . . . . . . B. Philosophiegeschichte als Schule der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Der Richterstuhl der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Die Philosophie der Patriarchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Die fromme Fälschung vom perfekten Wissen rekonstruiert . . . . . . . .

61 63 70 77 78 83 90 96 99 104 109 115 124

VI

Inhalt

TEIL IV Das Anfangsproblem im Prozeß historischer Forschung und Erzählung . . . . . 133 1. Vergebliche Rettung der biblischen Historie: Johann Jacob Rambach und Siegmund Jacob Baumgarten . . . . . . . . . . . 2. Die Universal History und ihre deutschen Kommentatoren . . . . . . . . . . . A. Die methodische Einheit der Historie als Forschungsarbeit . . . . . . . . B. Probleme der Chronologie und Kontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die General History und ihre deutschen Kommentatoren . . . . . . . . . . . . A. Marginalisierung der Frühgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Historische Kunst versus gelehrte Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Reduzierung der Frühgeschichte zur Vorgeschichte: August Ludwig Schlözer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135 143 146 154 163 165 173 177

TEIL V Das Anfangsproblem in der Kulturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 1. Das Interesse an den Wilden: Joseph-François Lafitau und Jens Kraft . . . 2. Die Ursprünge der Zivilisation in vernünftiger Erklärung: Antoine Yves Goguet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Ursprung und Wachstum der Zivilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Vernünftige Erklärung der heiligen Geschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Urwelten und Urängste: Nicolas Antoine Boulanger . . . . . . . . . . . . . . . A. Die Sintflut als Anfang der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Fabeln als Schlüssel zur Frühgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Gedächtnisgeschichte als Instrument der Aufklärung . . . . . . . . . . . . 4. Das Urvolk als Kulturvolk: Delisle de Sales und Michael Hißmann . . . .

187 191 196 207 213 216 223 230 237

TEIL VI Das Anfangsproblem in der Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 1. Die Perfektibilität der Menschheit: Isaak Iselin und Jean-Jacques Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Der Anfang der Menschheitsgeschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . B. Menschheit als Objekt und Subjekt der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . C. Transparenz des Naturzustands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Naturzustand und bürgerliche Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geschichtsphilosophische Komplizierung: Christoph Martin Wieland und Jean-Jacques Rousseau . . . . . . . . . . . . . A. Geheime Geschichte der Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Der Wilde als anthropologische Grenzidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

246 248 254 258 264 269 271 276

Inhalt

VII

3. Rehabilitierung der Mutmaßung auf philosophischer Ebene: Immanuel Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 A. Verlegung des Naturzustands in die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 B. Zum Gegensatz von Historie und Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . 291

SCHLUSS Das Buch der Geschichte als »zweite« Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

DANK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

BIBLIOGRAPHIE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314

REGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

EINLEITUNG Die Bibel als Buch der Geschichte

Für das moderne Nachdenken über Geschichte ist es keine beunruhigende Vorstellung, daß die Anfänge der Geschichte »im Dunkeln« liegen. Geschichte ist für die kritische Geschichtswissenschaft nur als zeitlicher Ausschnitt der Totalität vergangenen Geschehens faßbar. Dagegen war die Auffassung einer prinzipiellen Deckung von Geschichte und Historie für die jüdisch-christliche Geschichtstheologie konstitutiv: Daß Anfang und Ende der Geschichte im Licht der Offenbarung erkannt und ausgelegt werden können, eben dieser Vorzug markierte die Überlegenheit der »heiligen Geschichte« gegenüber den profanen Geschichten. Von daher erklärt sich das theologische Gewicht, das Anfang und Ende der Geschichte hatten, erklärt sich die Brisanz, die das Ursprungsproblem gewann, als sich frühneuzeitliche Gelehrte mit den spärlichen Informationen, die die biblischen Bücher zur Frühgeschichte liefern, nicht mehr zufrieden geben mochten. Von daher wird auch verständlich, warum der Anfang der Geschichte zum Gegenstand unablässiger Neugierde wurde. Denn daß die Universalgeschichte im Blick auf ihre Anfänge »mangelhaft« sei, davon waren, konstatierte Gianbattista Vico, »alle« Gelehrten überzeugt.1 Während Vico mit einer »neuen Wissenschaft« noch beanspruchte, das Anfangsproblem endgültig gelöst zu haben, ist dessen unlösbare Offenheit heute ein unhintergehbares Prinzip seiner wissenschaftlichen Erforschung. Zugleich ist die Frage nach dem Ursprung der menschlichen Geschichte ein nüchternes Thema, das spezielle Fachdisziplinen mit umgrenzten Fragestellungen und Methoden erforschen. Dagegen war das Anfangsproblem bis in das 19. Jahrhundert hinein Gegenstand, gleichsam springender Punkt einer Debatte, die fachübergreifend geführt wurde. Der Anfang der Geschichte, nach dem biblischen Bericht die Zeit vor der Sintflut, war noch im 18. Jahrhundert keineswegs ein »vorsintflutliches« Thema, vielmehr ein Problembezirk, ein Ort angespannten Nachdenkens, wo sich theologische, philosophische, juristische und philologisch-historische, ja sogar politische Interessen überkreuzten und ineinander verwickelten. Liest man das Anfangsproblem im pragmatischen Kontext der Ablösung einer über »lectio« und »interpretatio« bestimmter Bücher geordneter (gleichwohl vom »Buch der Bücher« beherrschter) Fächer und der sich zugleich damit über die HerausGianbattista Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, 2 Bde., hg. u. übers. v. Vittorio Hösle u. Christoph Jermann, Hamburg 1990, Erstes Buch, Kap. 51. 1

2

Einleitung

bildung spezieller Fragen und Methoden konstituierenden wissenschaftlichen Disziplinen, erkennt man unterschiedliche Strategien, mit deren Hilfe die Geltung der heiligen Geschichte als Instanz historischer Auslegung zunächst problematisiert und dann ausgegrenzt wurde. Es entstanden je eigene, die Evidenz der wissenschaftlichen Disziplinen nicht mehr theologisch, sondern teleologisch legitimierende Vorgeschichten, zuletzt auch eine Geschichte der Vorgeschichte. Als das Problem des Anfangs der Geschichte schließlich in der historischen Forschung des 18. Jahrhunderts marginalisiert wurde, hatte es in Form der Geschichtsphilosophie ein Nachspiel, bevor es auch hier vielfältig eingeschränkt und durch Aufteilung in diverse wissenschaftliche Fragestellungen diszipliniert und aus dem Bezirk der philosophischen Spekulation ausgewiesen wurde. Die skizzierte Entwicklung war ein komplexer Prozeß, der bis weit in das 19. Jahrhundert hinein mit intensiv geführten Rückzugsgefechten verbunden war, da das Alte Testament als historische Quelle nur schwer wirklich zu umgehen war. Als der protestantische Konsistorialrat und Theologieprofessor Otto Zöckler 1879 eine Lehre vom Urstand des Menschen vorlegte, war für ihn die Frage nach dem Anfang der Geschichte keineswegs bloß ein theologisches Spezialproblem. Die »genauere monographische Beleuchtung des Gegenstandes«, erläutert er im Vorwort, sei vielmehr ein »Zeitbedürfniß«.2 Zöckler ging es um den Nachweis, daß der Anfang der Geschichte, wie ihn der biblische Bericht überliefert, nicht auf einen »bloßen Glaubenssatz« reduziert werden darf, vielmehr als eine »durch schwerwiegende Zeugnisse auch der Wissenschaft gedeckte Wahrheit«3 anerkannt werden muß. Die biblische Urgeschichte zeigte sich ihm als »Kern« einer »Festung«, umzingelt vom »modernen Unglauben«, der sich nicht mit einer »halben Uebergabe« zufriedengeben, vielmehr das »Ganze« erobern und »mit Stumpf und Stiel« ausrotten wollte.4 Bevor Zöckler an die Verteidigung des biblischen Ursprungsberichts ging, machte er die angreifende Moderne dingfest. Er fand sie in Gestalt von Darwins Evolutionstheorie, der prähistorischen Anthropologie und Paläontologie sowie generell in Form der »naturwissenschaftlichen Weltansicht« vor. Der Feind agierte aber auch im eigenen Lager, wirkte als »moderne liberale Theologie« und »kritische Auslegerschule« an jenem »Zerstörungswerk« mit.5 Aus heutiger Sicht erscheint Zöcklers Apologie der historischen Wahrheit des biblischen Anfangs der Geschichte als ein von Resignation über den »in Ausgestaltung immer neuer Wissensfächer unermüdlichen und unerschöpflichen Forschungs-

Otto Zöckler, Die Lehre vom Urstand des Menschen, geschichtlich und dogmatisch=apologetisch untersucht, Gütersloh 1879, Vorwort. 3 Ebd., Einleitung 7 f. (im Original gesperrt gedruckt). 4 Ebd., 112. 5 Ebd., Einleitung 1 ff., sowie im Text 111 u. 266. 2

Die Bibel als Buch der Geschichte

3

drang unsres Jahrhunderts«6 gezeichnetes und somit anachronistisches Unternehmen. Interesse verdient es weniger hinsichtlich der einzelnen Argumente, mit denen Zöckler den biblischen Bericht verteidigt, beispielsweise in einer Auseinandersetzung mit fossilen Funden wie dem »famosen Neanderthal=Schädel«.7 Interessant ist vielmehr bei einem Theologen des späten 19. Jahrhunderts die erstaunliche Lebendigkeit von Fragestellungen und Methoden, mit denen bereits im 18. Jahrhundert nicht nur die Theologie das Problem des Anfangs der Geschichte zu lösen versuchte. So erörtert Zöckler ausführlich die Frage nach dem »Ursitz des Menschengeschlechts« (»wo gelegen? ob einer? ob mehrere?«), behandelt die Gründe für die »Langlebigkeit der Patriarchen als Nachglanz der Paradiesherrlichkeit« und verteidigt das auf biblischer Grundlage berechnete »Alter des Menschengeschlechts« als zentrales Axiom, dessen Aufgabe dazu zwingen würde, sich der »Auffassung der Menschheit als eines rein natürlichen Entwicklungsproducts der seit Hunderttausenden von Jahren unsern Planeten bewohnenden Thierwelt«8 anzuschließen. Zöckler artikuliert dasselbe Bedürfnis, das bis zum 18. Jahrhundert die Bestimmung des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung als Bedingung der Möglichkeit einer Lösung des Anfangsproblems betrachten ließ. Doch er bringt seine Bestimmung dieses Verhältnisses in ein grundlegend verändertes wissenschaftliches Ordnungsgefüge ein, worin theologisch motivierte Problematisierungsansätze ins Leere laufen. »Für viele«, beklagt Zöckler das fehlende Interesse an der Frage nach der historischen Wahrheit des »biblischen Urstands«, »sind diese Fragen schon längst nicht mehr Fragen«. Mochte Zöckler auch »feierlich dawider protestiren, daß man die Sache als in dem bekannten Sinne abgethan und erledigt betrachte«9 – für die wissenschaftlichen Disziplinen, welche im 19. Jahrhundert die Frühgeschichte spezialisiert erforschten, war ein solcher Protest ebenso wie für die historische Bibelkritik, die den Text der Bibel seiner heiligen Aura entkleidete, nur mehr Ausdruck mangelnder Wissenschaftlichkeit. Der von theologischen Fragestellungen emanzipierte Forschungsdrang brauchte sich von ihm nicht berühren zu lassen. Zöckler selbst gibt dafür in einer Auseinandersetzung mit dem »Ueberhandnehmen darwinistischer Speculationen« ein Beispiel. Als 1868 ein Wissenschaftler bei einer Archäologenversammlung in Bonn die Urgeschichte der Menschheit »im Sinne des einseitigsten Evolutionismus« behandelte, wurde der Widerspruch eines Gegners der Evolutionstheorie vom Vorsitzenden der Versammlung »unter ziemlich allgemeinem Beifalle als Producte dogmatischer Befangenheit«10 zurückgewiesen.

6 7 8 9 10

Ebd., 124. Ebd., 159. Ebd., 292. Ebd., Einleitung, 7. Ebd., 146.

4

Einleitung

Im 18. Jahrhundert dagegen besaßen die Fragen Zöcklers keineswegs den Status erledigter Probleme, auch war von ihnen nicht nur die Theologie bzw. eine (konservative) theologische Fraktion betroffen. Neuere Forschungen haben gezeigt, daß die These, »ein gewachsener Falsifikations- oder Improbabilisationsdruck seitens Erfahrung und Vernunft habe die inhaltliche Glaubwürdigkeit der ›historia sacra‹ untergraben und so zu der Notwendigkeit geführt, die universalhistorische Erkenntnis radikal von ihrer bisherigen, revelatorischen, auf eine philosophische Grundlage umzustellen«, ebenso wenig einer genaueren Überprüfung standhält wie die Ansicht, »das 18. Jahrhundert habe, auch nur seinem eigenen Eindruck nach, über historische Erkenntnisse und Vernunftschlüsse verfügt, die sich inhaltlich mit der ›historia sacra‹ nicht länger vereinbaren ließen«.11 Läßt man, ausgehend von dieser kritischen Perspektive, gängige Vorstellungen und Synthesen zur Entwicklung des modernen historischen Denkens und seiner Methodisierung Revue passieren, so erweisen sich Zuschreibungen wie die »Verabsolutierung der Profangeschichte im Humanismus und in der Aufklärung« als fragwürdige Thesen.12 Sie ergeben sich aus einer Sichtweise, die, von gegenwärtigen Disziplingrenzen ausgehend, Geschichte als eine weitgehend autonome Disziplin voraussetzt und dadurch das Konfliktpotential ausblendet, welches das Verhältnis von heiligen und profanen Erklärungs- und Auslegungsinstanzen noch im 18. Jahrhundert besaß. Das Anfangsproblem betraf im 18. Jahrhundert theologische, naturrechtliche, philosophische und historische Fragestellungen und Interessen. Mit dem Anfang der Geschichte standen die Entstehung des Kosmos und der Erde, der Ursprung des Menschen und der Menschheit, die Ursprünge der Gesellschaft, Zivilisation und Kultur, der Wissenschaft und Philosophie zur Verhandlung. Im 18. Jahrhundert waren diese Fragen nicht spezialisiert organisiert, sondern Gegenstand fachübergreifender Debatten, die in der Auseinandersetzung mit der »historia sacra« und ihren theologischen Auslegungsinstanzen einen gemeinsamen Diskussionshorizont besaßen. Scheinbar festgefügte Überzeugungen der Moderne wie die vom Ursprung der Philosophie im antiken Griechenland waren im 18. Jahrhundert umstrittene Positionen. Aufklärer, die die Entstehung der Wissenschaften als Errungenschaft der Menschheit auslegten, hatten sich mit philosophisch-theologisch aufgeladenen Figuren eines perfekten Ursprungswissens auseinanderzusetzen, so mit der Vorstellung von Adam als dem ersten, mit besonderen Einsichten begabten Philosophen. Die Auffassung, daß politische und soziale Ordnungen vom Menschen gemachte, besonderen historischen Arno Seifert, Von der heiligen zur philosophischen Geschichte. Die Rationalisierung der universalhistorischen Erkenntnis im Zeitalter der Aufklärung, in: AKG 68 (1986) 81–117, hier 88. 12 Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991, 196; zur Kritik der These Verf., »Im Griff der Geschichte«: Zur Historiographiegeschichte der frühen Neuzeit, in: HJb 112 (1992) 436–456. 11

Die Bibel als Buch der Geschichte

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Bedingungen geschuldete und deshalb veränderbare Ordnungen sind, war noch im 18. Jahrhundert konfrontiert mit der Auffassung ihrer überzeitlichen, durch göttliche Vermittlung gestifteten Gestalten. In diesem Buch ist die Debatte über den Anfang der Geschichte im 18. Jahrhundert nicht in ihrem ganzen thematischen Spektrum und in allen einschlägigen Texten Gegenstand der Untersuchung. Fragen des Sprach- und Völkerursprungs spielen nur am Rande eine Rolle. Dazu hat Arno Borst Belege und Quellentexte in kaum zu übertreffender Materialfülle aufbereitet.13 Sein voluminöses Werk hat ein bis in die Gegenwart nicht abreißendes Interesse an speziell dieser Fragestellung angeregt.14 Weitgehend ausgespart bleiben auch Fragen der Kosmogonie und der Geogonie. Sie besaßen schon im 18. Jahrhundert ein relativ eigenständiges methodisches Profil und waren von den Spannungen zwischen biblischer Auslegung und vernünftiger Erklärung, denen die folgende Studie besondere Aufmerksamkeit widmet, weniger berührt.15 Das Buch von Paolo Rossi mit dem schönen englischen Titel The Dark Abyss of Time16 ermöglicht einen guten Einblick in diese und weitere Ursprungsdebatten besonders des 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Den einzelnen Kapiteln, in denen Rossi die Schwerpunkte der Debatte an Hand von prägnanten Fällen verdeutlicht, verdankt die vorliegende Arbeit wichtige Einsichten. Anknüpfungspunkte bieten weiterhin vor allem neuere französische Forschungen zur Historiographiegeschichte des 18. Jahrhunderts sowie zur Debatte über die Sintflut.17 Orientierung über das weitverzweigte Netz der Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert ermöglicht außerdem eine Reihe von

Arno Borst, Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, 4 Tle. in 6 Bdn., Stuttgart 1957–1963. 14 Insbesondere zum Sprachursprung, dazu u. a. Umberto Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, München 1994 (zuerst Rom-Bari 1993: La ricerca della lingua perfetta nella cultura europea), vgl. auch die Beiträge in: The Language of Adam. Die Sprache Adams, hg. v. Allison P. Coudert, Wiesbaden 1999. 15 Vgl. Arno Seifert, »Verzeitlichung«. Zur Kritik einer neueren Frühneuzeitkategorie, in: ZHF 10 (1983) 447–477. 16 Paolo Rossi, The Dark Abyss of Time. The History of the Earth and the History of Nations from Hooke to Vico, Chicago-London 1984 (zuerst Milano 1979: I segni del tempo. Storia della terra e storia delle nazioni da Hooke a Vico). 17 Vgl. Chantal Grell, Le Dix-huitième siècle et l’antiquité en France, 2 Bde., Oxford 1995; Claudine Poulouin, Le temps des origines. L’Eden, le Déluge et »les temps reculés«. De Pascal à L’Encyclopédie, Paris 1998; Maria Susana Seguin, Science et religion dans la pensée française du XVIIIe siècle: le mythe du Déluge universel, Paris 2001. Einen knappen, doch instruktiven Überblick zur Ursprungsdebatte von der Antike bis zur Gegenwart verfaßte Dirk van Laak: »Am Anfang war das Wort …«. Über die Theorien zum Beginn der Geschichte, in: Saeculum 40 (1989) 296–312; zur deutschen Debatte im 19. Jahrhundert mit Rückblicken auf die frühe Neuzeit: Stephan Cartier, Licht ins Dunkel des Anfangs. Studien zur Rezeption der Prähistorik in der deutschen Welt- und Kulturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, Herdecke 2000. 13

Einleitung

6

Untersuchungen zu einzelnen Aspekten des Anfangsproblems. Hinweise darauf finden sich in den folgenden Kapiteln. Das vorliegende Buch legt den Schwerpunkt auf bislang nicht oder wenig berücksichtigte Ursprungsdebatten im 18. Jahrhundert. Im Zentrum steht dabei die deutsche Diskussion. Es ist jedoch nicht das Anliegen dieser Studie, eine vollständige Genealogie von Texten und Auffassungen zum Anfangsproblem und zur Frühgeschichte des Menschen im Deutschland des 18. Jahrhunderts zu erstellen. Würden Texte bloß als Repräsentanten von Ideen in eine chronologische Reihe von Antworten auf die Frage nach dem Anfang der Geschichte gestellt, ginge ihnen jene historische Dimension verloren, die in den folgenden Untersuchungen vor allem Aufmerksamkeit beansprucht. Indem versucht wird, den Texten den Problemhorizont, aber auch das Konfliktpotential zurückzugeben, welche sie im Kontext ihrer Zeit besessen haben, interessieren vor allem die Fragen und Probleme, auf welche die Texte Antworten geben. Diese Fragen und Probleme liegen nicht einfach vor, sie müssen u.a. mit Hilfe der Texte erst herausgearbeitet werden. Um es mit den Worten des französischen Historikers Maurice Olender auszudrücken, würden die folgenden Seiten »gern den behandelten Texten ein wenig von der Komplexität der Werke zurückgeben, aus welchen sie stammen«. Denn einen »Text wieder mit den Fragen zu verbinden, die ihn veranlaßt haben, von den Problemen eingeschlagenen Wegen zu folgen, auf die Wahl der Metaphern und unvermuteten Bildverbindungen acht zu geben, erlaubt zuweilen, ein Denken in seiner Wandelbarkeit zu erfassen«.18 An den Texten interessieren deshalb ihre Problematisierungsweisen, aber auch die besonderen biographischen Konstellationen und institutionellen Praktiken, die sie prägen, die Lektüren, aus denen sie sich zusammensetzen, sowie die Methoden ihrer (Text-)Organisation. Weiterhin ist bei der im 18. Jahrhundert stärker als im 19. Jahrhundert europäisch vernetzten wissenschaftlichen Kommunikation gerade im Blick auf die Ursprungsdebatte der europäische Diskussionshorizont mit einzubeziehen, über dessen produktive Rezeption sich bestimmte Behandlungsweisen der Anfangsfrage gerade in Deutschland erst konstituieren. Aus diesen Anliegen ergab sich die Notwendigkeit einer intensiven Auseinandersetzung mit einzelnen Texten, die mehr als nur einzelne Texte sind, indem sie als Diskussionsschwerpunkte gelesen werden können. Historische Phänomene werden lebendig, indem sie mit Ideen und Fragen verbunden werden. Mit ihrer Hilfe gelingt es, wie Paul Veyne einmal sagte, das Wirkliche »der Selbstverständlichkeit, der Fraglosigkeit, der Selbständigkeit zu entreißen«.19 Die Maurice Olender, Die Sprachen des Paradieses. Religion, Philologie und Rassentheorie im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1995, 28 (zuerst Paris 1989: Les langues du Paradis. Aryens et Sémites: un couple providentiel). 19 Paul Veyne, Ein Inventar der Differenzen. Antrittsvorlesung am Collège de France, in: Ders., 18

Die Bibel als Buch der Geschichte

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folgende Untersuchung liest die Ursprungsdebatte des 18. Jahrhunderts als einen Prozeß der Infragestellung von Gewißheiten und Argumentationsweisen, die sich mit der Bibel als einer »epitome historiae mundi«, als Abriß der Weltgeschichte im Verlauf einer langen Auslegungsgeschichte verknüpft hatten. Die Gliederung des Buchs folgt heute geläufigen Gattungsmustern: Philosophiegeschichte, Weltgeschichte, Kulturgeschichte, Geschichtsphilosophie. Das Thema wird damit in ein disziplinäres Ordnungsgefüge abgebildet, das für das 18. Jahrhundert so nicht einfach vorausgesetzt werden kann. Insofern sind die Grundkategorien der Gliederung der Übersichtlichkeit der Darstellung geschuldete Konventionen. Doch gibt es für sie auch sachliche Gründe. In der Ursprungsdebatte des 18. Jahrhunderts zeichnen Philosophie und Geschichte ihre Selbständigkeit und fachliche Eigenständigkeit gegenüber der Theologie aus. Philosophiegeschichte, Weltgeschichte, Kulturgeschichte und Geschichtsphilosophie sind ihre Argumentationsforen. In der Ausgrenzung biblischer Anfänge und theologischer Ableitungen erhalten sie ihre modernen Gestalten. Die Ursprungsdebatte war noch im 18. Jahrhundert vor allem ein Streit um die Auslegung und Reichweite der Bibel für historische Fragestellungen. Mit der Behauptung eigenständiger, vernünftig erschlossener Anfänge (der Philosophie, der Geschichte, der Kultur) ging es Philosophie und Geschichte um ihre Erklärungskraft für Gebiete, die bis ins 18. Jahrhundert theologischen Deutungsmustern unterworfen waren. In Form der Philosophiegeschichte, Weltgeschichte, Kulturgeschichte und Geschichtsphilosophie befreiten sich Philosophie und Geschichte von der Fortschreibung theologisch abgeleiteter Ursprünge und behaupteten ihre Zuständigkeit für die Frage des Anfangs der Geschichte. Mit welchen Argumenten und Methoden theologischer Bibelexegese sich die Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert auseinanderzusetzen hatte, auf welche bereits in der Frühen Neuzeit profilierten Thesen und Konflikte sie bezogen war, umreißt der einführende Teil des Buchs (Teil I: Das Anfangsproblem in der Frühen Neuzeit: Themen, Thesen, Konflikte). In ihrer Formierungsphase im 18. Jahrhundert zeigen sich Philosophiegeschichte, Weltgeschichte, Kulturgeschichte und Geschichtsphilosophie hinsichtlich der Ursprungsfrage als aufeinander bezogene Diskussionszusammenhänge, die sich gegenseitig stützten. Diesem Gesichtspunkt folgt die zeitliche Aufteilung der Ursprungsdebatte in diesem Buch. Sie orientiert sich, wie gesagt, an einzelnen zentralen Texten zum Anfangsproblem in der Philosophie, Geschichte und Kultur. Gewiß ist die Ursprungsfrage nicht nur in den behandelten Texten Thema, doch lassen sie sich als Brennpunkte einer Debatte lesen, die dazu beitrugen, daß sich veränderte Regularitäten für die Darstellung der Philosophiegeschichte, Weltgeschichte und KulturgeDie Originalität des Unbekannten. Für eine andere Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1988, 7–42, hier 42 (zuerst Paris 1976: L’Inventaire des différences).

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Einleitung

schichte formierten. So liegt der Brennpunkt im Fall der Philosophiegeschichte im frühen 18. Jahrhundert. Der gegen die Vorstellung des biblischen Ursprungs der Philosophie ausgearbeiteten Figur des griechischen Ursprungs wächst dann in der Folgezeit eine solche Gewißheit zu, daß sie in philosophiegeschichtlichen Synthesen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als evident vorausgesetzt werden kann, also nicht mehr gegen theologische Gegenbilder legitimiert werden muß. Zugleich gibt die vernunftorientierte Idee des philosophiegeschichtlichen Ursprungs bei den Griechen späteren Brennpunkten der Debatte Argumente für die Auseinandersetzung mit biblischen Ursprungsfiguren an die Hand. Grundlegend für die Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert ist Samuel Pufendorfs Naturzustandshypothese. Aus der Konfrontation von vernünftigem Naturzustand und traditioneller, biblisch fundierter Universalhistorie zeichneten sich am Ende des 17. Jahrhunderts die Konturen eines neuen Modells von Geschichte ab, das es ermöglichte, das Anfangsproblem als Frage nach der Genese zeitgenössischer Politik, Gesellschaft und Kultur zu stellen. Die skeptische Infragestellung der überlieferten profanen Ursprungsmythen diente dabei der Legitimierung einer historischen Rekonstruktion, die sich unter Ausklammerung der heiligen Geschichte auf die historische Erklärung der Neueren Geschichte konzentrierte (Teil II: Das Anfangsproblem in der Naturzustandsdebatte). Der Fragehorizont und die Methoden des naturrechtlichen Vernunftideals prägten die Debatte über das Anfangsproblem in der Philosophiegeschichte zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Sie läßt sich als eine Auseinandersetzung fassen, in der es um die Autonomie der Philosophie ging. Die historisch geschärfte Kritik der Frühaufklärung legte die Philosophie als Errungenschaft menschlicher Vernunft aus. Nicht heilige Männer wie Adam und die biblischen Patriarchen haben die Philosophie erfunden, lautet die gegen die Vorstellung ursprünglicher Wissensvollkommenheit ausgearbeitete These, sie bildete sich erst bei den Griechen in einer vernunftorientierten Schule der Freiheit aus (Teil III: Das Anfangsproblem in der Philosophiegeschichte). Die Figur des griechischen Ursprungs der Philosophie, der Christoph August Heumann besondere Signifikanz verlieh, orientiert die philosophiegeschichtliche Synthese bis heute, beginnend mit Johann Jacob Brucker, dem Verfasser der für die europäische Aufklärung mustergültigen Philosophiegeschichte. Die von theologischen Vorgaben emanzipierte Philosophiegeschichte versorgte aber auch die Auseinandersetzung um die Anfänge der allgemeinen Geschichte mit »vernünftigen« Argumenten. Allerdings war der Abschied von der wirkmächtigen Figur des »heiligen« Ursprungs im Kontext historischer Forschung und Erzählung verwickelter und langwieriger als in der Philosophiegeschichte. Das liegt vor allem darin begründet, daß das Alte Testament als historische Quelle noch im 18. Jahrhundert nur schwer wirklich zu umgehen war. Ein gleichermaßen evidentes Erklärungsmodell wie in der Philosophiegeschichte etablierte sich für die allgemeine Geschichte nicht. Doch war die

Die Bibel als Buch der Geschichte

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biblische Frühgeschichte im 18. Jahrhundert einem Prozeß historisch-kritischer Forschung unterworfen, der sie schließlich auf den Status einer bloßen »Vorgeschichte« reduzierte, die auf den weiteren Geschichtsverlauf keine Auswirkungen hatte. Dies läßt sich an der neuen Weltgeschichte verdeutlichen, die seit den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts, von England aus initiiert, zu einem europäischen Gemeinschaftsprojekt wurde. Der biblische Ursprungsrahmen blieb in der Universal History und General History (und ihren deutschen Übersetzungen und Bearbeitungen) weitgehend unangefochten, zeigte sich aber als ein Bezirk voller Fragen und Probleme. Eine historische Erzählung, die sich an der »pragmatischen« Leitidee der Aufklärungshistorie orientiert, ließ sich auf solch ungewissem Fundament nicht bauen (Teil IV: Das Anfangsproblem im Prozeß historischer Forschung und Erzählung). Die Marginalisierung biblischer Ursprünge im Prozeß historischer Forschung und Erzählung stärkte wiederum die Formierung der Kulturgeschichte, die seit den 50er Jahren des 18. Jahrhunderts als umfassende Geschichte menschlicher Zivilisation ausgearbeitet wurde. Die neue Kulturgeschichte läßt sich im Blick auf die Erörterung des Ursprungs als Historisierung des abstrakten Naturzustandsmodells unter den Bedingungen der durch historische Kritik marginalisierten heiligen Geschichte verstehen. Sie brachte für die Erklärung des Ursprungs der Zivilisation die vernünftige Hypothese des Naturzustands, vor allem aber historische und ethnographische Quellen sowie »natürliche« Bedingungen und Umstände zur Geltung. Die Kulturheroen der heiligen Geschichte und die jüdischen Ursprünge der Zivilisation zeigen sich in ihr, wenn überhaupt, nur mehr als wirkungslos gebliebene, insofern marginale Nebenfiguren der Weltgeschichte. Mit Antoine Yves Goguet und Nicolas Antoine Boulanger stehen zwei heute weitgehend vergessene französische Protagonisten des kulturhistorischen Interesses im Zentrum, die für dessen Formierung im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts großen Einfluß hatten (Teil V: Das Anfangsproblem in der Kulturgeschichte). Die Geschichtsphilosophie der Aufklärung ist in vielem ein Produkt der philosophie-, welt- und kulturhistorischen Interessen des 18. Jahrhunderts, auch und gerade hinsichtlich der Ursprungsfrage, die als »geheime« Triebfeder ihrer Entstehung verstanden werden kann. Der Anfang der Geschichte, in der Welt- und Kulturgeschichte eine stets prekäre, der historisch-philologischen Forschung ausgesetzte Figur, erhält in ihr ein vernünftiges, von der biblischen Offenbarung unabhängiges Antlitz. Den Abschied von der heiligen Geschichte erkaufte die Geschichtsphilosophie mit einer Reduktion der historischen (Quellen-)Probleme, deren methodische Verarbeitung die Ursprungsdebatte in der Philosophie-, Welt- und Kulturgeschichte angetrieben hatte. Die Vernunft übertrumpft in Form der Geschichtsphilosophie die Geschichte. Die daraus resultierende, von Immanuel Kant als produktiv beschriebene Spannung zwischen philosophischer und historischer Rekonstruktion der Vergangenheit wird erst im 19. Jahrhundert zum unversöhnlichen Gegensatz.

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Einleitung

Bewegendes Motiv der geschichtsphilosophischen Entwürfe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war Jean-Jacques Rousseaus »Suche nach den Ursprüngen«. Mit einer anthropologisch fundierten »Geschichte der Menschheit« eroberte die Philosophie die von der kritischen Historie preisgegebene Totalität der Geschichte. Die Anfänge der philosophischen Menschheitsgeschichte bei Isaak Iselin lassen sich so als eine Denkbewegung dokumentieren, die die von Rousseau aufgeworfenen Aporien des Ursprungs einer optimistischen, auf die Idee des Fortschritts vertrauenden Lösung zuführt. Die heilige Geschichte und der biblische Ursprung treten in der philosophischen Rekonstruktion der ganzen Geschichte nur noch als Maske der Vernunft auf (Teil VI: Das Anfangsproblem in der Geschichtsphilosophie). Die Entstehung des modernen historischen Bewußtseins hat einen weiten Horizont. Dies wollen die folgenden Studien am speziellen Gesichtspunkt des Anfangsproblems herausarbeiten. Der Historizität der Moderne soll dadurch ein schärferes Profil verliehen werden, als es in Darstellungen zur Historiographiegeschichte gewöhnlich gezeichnet wird.

TEIL I Das Anfangsproblem in der Frühen Neuzeit Themen, Thesen, Konflikte

Die jüdisch-christliche Offenbarungsreligion ist ein Schriftglauben, der der Vielfalt antiker Kosmologien, Mythen und Geschichten ein einziges Buch entgegenstellt, das die ganze Geschichte in nuce enthält, sie vom Anfang der Zeit bis an ihr Ende in heiligen, göttlich inspirierten Lettern festhält. Mit Hilfe exegetischer Verfahrensweisen wird die Bibel als »epitome historiae mundi«, als Abriß der Weltgeschichte gelesen und ausgelegt. Die nach Vorgabe der historischen Bücher und Prophetien der Bibel strukturierte biblische Historie ist als »heilige Geschichte« (»historia sacra«) allen profanen Historien zeitlich (als älteste GeKartographie der »historia sacra«, im Systema schichtsüberlieferung), inhaltlich (als theologicum (Amsterdam 1655) von Isaac La universale Geschichte) und formal (als Peyrère. HAB Wolfenbüttel M: Te 711 wahre Geschichte) überlegen. Spätantike Kirchenväter begründeten und profilierten die Anciennität der heiligen Geschichte. Mit großer Wirkung tat dies Augustinus. »Kein Wunder«, heißt es im zwölften Buch der Civitas dei über die Heiden und ihre Idee der »steten Wiederkehr des Gleichen«, »daß sie weder Eingang noch Ausgang finden, wenn sie so im Kreise herumirren. Denn sie wissen weder, welchen Anfang das Menschengeschlecht und dies unser sterbliches Dasein genommen hat, noch welches sein Ende sein wird«.1 Die Überlegenheit der biblischen Historie gründet in ihrem zeitlichen Vorrang, aber auch im damit verknüpften Vorrang biblischer Weisheit. Über der »eitlen Prahlerei« der Völker über ihr Alter und das Alter ihrer Weisheit steht für Augustinus die »Weisheit unserer Urväter«, die allen Völkern, selbst dem ägyptischen, das sich seines Alters und seiner Weisheit so rühmt, zeitlich vorangeht.2 Die Anciennität der Bibel Augustinus, De civitate dei, 12,15 (deutsche Übersetzung nach: Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat, Buch 11–22, hg. v. Carl Andresen, übers. v. Wilhelm Thimme, Zürich 1978). 2 Ebd., 18,39. 1

Teil I · Das Anfangsproblem in der Frühen Neuzeit

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wurde schon von der frühchristlichen Apologie auch hinsichtlich der kulturellen Errungenschaften des Menschen, seiner Erfindungen und Wissenschaften, ausgelegt. Nicht nur bestätigte die biblische Historie deren jüdische Ursprünge, bekräftigt wurden sie selbst durch profane Autoren, etwa Herodot, der die Erfindung der meisten »artes, litterae und scientiae« orientalischen Völkern zugeschrieben hatte.3 Kronzeuge für die Ursprünglichkeit des heiligen Wissens war der jüdische Historiker Flavius Josephus.4 In den Antiquitates Judaicae beschreibt er Adam und die frühen Patriarchen als weise Männer, die der Astronomie kundig waren. Sein Bericht über die zwei Säulen, auf denen astronomisches Wissen aus der Zeit vor der Sintflut geschrieben war, um es über die von Adam vorausgesagte Katastrophe zu retten und der Nachwelt zu überliefern,5 veranlaßte eine immense Zahl von Kommentaren. Eine Anfang des 18. Jahrhunderts gedruckte Dissertation, die in der bloßen Aufzählung von Texten über die wenigen Zeilen des Josephus besteht, dokumentiert die Erfolgsgeschichte dieses »locus«.6 Bereits im Mittelalter hatte die Auszeichnung biblischer Ursprünglichkeit und Weisheit ihren apologetischen Charakter verloren. Die von den Kirchenvätern übernommenen Argumentationsschemata wurden schon damals zum gelehrten Zitat. Im Zentrum des scholastischen Interesses steht die systematisch-logische, nicht die historische Begründung von Wissen. Dies ändert sich in der Frühen Neuzeit. Zahlreiche Texte entstehen, in denen die christliche These vom jüdischen Ursprung der Kultur und Wissenschaft erläutert, näher ausgeführt und begründet, aber auch problematisiert wird. Das Spektrum der Untersuchungen reicht von der Genesis-Auslegung der Theologen bis zur Spezialuntersuchung der Philologen.7 Es gab Untersuchungen zur vorsintflutlichen Wissenschaft, man forschte nach Büchern, die Adam verfaßt hatte,8 Vgl. Franz Josef Worstbrock, Translatio artium. Über die Herkunft und Entwicklung einer kulturhistorischen Theorie, in: Archiv für Kulturgeschichte 47 (1965) 1–22; Arthur J. Droge, Homer or Moses. Early Christian Interpretations of the History of Culture, Chicago 1984. 4 Vgl. Heinz Schreckenberger, Die Flavius-Josephus-Tradition in Antike und Mittelalter, Leiden 1972. 5 Vgl. Flavius Josephus, Antiquitates Judaicae, I, 69–71. 6 Vgl. M. Friedrich Hannibal Stempel (Praes.), Johann Christoph Schubart (Resp.), Ad locum Flavii Iosephi Antiquit. Ivdaic. lib. I Cap. III De colvmnis antedilvvianis dissertatio inavgvralis, Jena 1706. 7 Ein Überblick findet sich bei Gottfried Vockerodt, Historia societatum, & rei litterariae mundi primi, in: Ders., Exercitationes academicae: sive commentatio de eruditorum societatibus et varia re litteraria; nec non philologemata sacra auctius & emendatius edita, Gotha 1704, 125–196, hier 135 ff. 8 Vgl. zu dieser Debatte Jakob Friedrich Reimmann, Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam Antediluvianam, zuerst Halle 1709, hier benutzt in der 2. Aufl. Halle 1727, etwa 77 f., sowie die kritischen Annotationen und Kommentare zum Artikel »Adam« in Pierre Bayles Dictionnaire (Historisches und Critisches Wörterbuch nach der neuesten Auflage von 1740, hg. u. 3

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und setzte sich mit dem (astrologischen) Wissen auseinander, das die Söhne von Adams Sohn Seth – nach der Stelle in den Jüdischen Altertümern des Flavius Josephus – auf zwei Säulen geschrieben hatten.9 Bekannte und weniger bekannte Gelehrte beteiligten sich an dieser Auseinandersetzung. Der französische Kabbalist Guillaume Postel vertrat Mitte des 16. Jahrhunderts die These, daß bei den Brahmanen in Indien unzählige Schätze vorsintflutlicher Historien und Bücher verborgen seien.10 Der deutsche Schulrektor Joachim Johann Mader aus Schöningen war einhundert Jahre später unerschütterlich davon überzeugt, daß es schon vor der Sintflut Bibliotheken gegeben habe.11 Mag auch die Existenz dieser Bibliotheken nicht mit Gewißheit, d.h.: durch die Bibel zu belegen sein, so kann Mader doch für das Fundament seiner – mit antiquarischen Zeugnissen erhärteten –12 These, daß nämlich Adam und die ersten Patriarchen schriftkundig waren und auch Bücher verfaßten, eine ehrwürdige und lange Genealogie von gelehrten Belegen anführen. Neben Kirchenvätern wie Johannes Cassian, mittelalterlichen Chronographen (Frechulf von Liseau, Gottfried von Viterbo, Petrus Comestor), frühneuzeitlichen Genesis-Kommentatoren (David Chytraeus) und platonisch inspirierten Erforschern ursprünglicher Weisheit (Agostino Steucho, Athanasius Kircher) zitiert und kommentiert er antike Autoren wie Plinius sowie die Stelle des Flavius Josephus über die beiden beschriebenen vorsintflutlichen Säulen.13 Eine Art Enzyklopädie gelehrter Belege zur Ursprungsfrage hatte schon 1499 der italienische Humanist Polydorus Vergilius verfaßt. Sein Buch De Inventoribus rerum dokumentiert das allgemeine Interesse am Ursprung der Kultur und Wissenschaft

übers. v. Johann Christoph Gottsched, 4 Bde., Leipzig 1741–1744, Bd. 1, 72–76, speziell 75/Anm.[K]). 9 Dazu Reimmanns kritischer Kommentar (Historia Literaria Antediluviana, 68). 10 Vgl. Guilielmus Postellus, De originibus, sev, de varia et potissimum orbi Latino ad hanc diem incognita, aut inconsyderata historia, quum totius Orientis, tum maxime Tartarorum, Persarum, Turcarum, & omnium Abrahami & Noachi alumnorum origines, & mysteria Brachmanum retegente, Basel 1553, 72: »Apud illos [d. h. den Brahmanen, H. Z.] latent infiniti historiarum et librorum antediluuianorum thesauri, quos nos expectare una cum Enochianis opus est, antequam claritatem absolutam rerum Mosaicarum cernamus.« 11 Seine Schlußfolgerung lautet: »Quod si vero extiterunt tot veterum antediluvianorum manu exarata monumenta, velut non vulgarium Auctorum testimoniis abunde firmavimus: cui jam, quaeso, amplius dubium videri queat, num etiam fuerint, qui studiose ista illis temporibus collegerint, atque inde Bibliothecas extruendo, quavis re pretiosissima cariores habuerint, etiamsi nullos eorum in divinis literis videamus memoratos, vel etiam ad post diluvianos mortales, saltem incorruptos, derivatos« (Joachim Johann Mader, De bibliothecis atque archivis […] libelli et commentationes. Cum praefatione de scriptis et bibliothecis antediluvianis, Helmstedt 1666, Praefatio, 26 f.). 12 Vgl. ebd., 27 ff. 13 Am ausführlichsten kommen Steucho, Chytraeus und Kircher zu Wort (vgl. ebd., 7 f., 8 f. u. 11 ff.). Zu Plinius ebd., 4; bei Plinius (vgl. C. Plinii Secundi Naturalis Historiae Libri XXXVII, hg.

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allein durch die große Zahl an Neuauflagen; bis zum 18. Jahrhundert erscheinen über hundert Ausgaben, darunter auch Übersetzungen in die meisten europäischen Sprachen.14 Auf den im Vergleich zum Mittelalter veränderten Interessenhorizont verweisen die zahlreichen Quellen antik-heidnischer Provenienz, die Polydorus Vergilius für seine Untersuchung auswertet und denen er zugesteht, daß »unter einem Schein / die Warheit auch etwan verborgen ligt«.15 Jedoch steht der Vorrang der heiligen Geschichte für ihn unerschütterlich fest. Im Vergleich mit den Aussagen der Heiligen Schrift sind die profanen Erklärungen bloße Fabeln, die durch die Gewißheit der biblischen Historie und ihrer Auslegung entwertet werden. So auch im Fall der Erfindung der Schrift, von der wegen ihrer grundlegenden Bedeutung für alle Wissenschaften »vor allen Dingen«16 gehandelt werden müsse. Über ihren wahren Ursprung läßt sich Polydorus Vergilius von Flavius Josephus belehren: Schon vor der Sintflut haben »die Kinder Seth / deß Sohns Adams / auff zwo Seulen« ihre astronomischen Kenntnisse beschrieben.17 Was der gelehrte Humanist als zwei getrennte Register, als Gegenüberstellung von jüdisch-christlichen und antik-heidnischen Erklärungen und Belegen vorführt, die hinsichtlich ihrer Gewißheit in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen, führt zur gleichen Zeit im Kontext der neuplatonisch inspirierten »philosophia perennis« zu komplizierten Abbildungs- und Überlagerungsverhältnissen. Die Christianisierung der heidnischen Philosophie eines Marsilio Ficino und die synkretistischen Programme seines Schülers Giovanni Pico della Mirandola bringen die Heilige Schrift und die antik-heidnischen Texte zum Zweck der Rekonstruktion einer ihnen gemeinsamen Uroffenbarung in ein Konkordanzverhältnis. So entschlüsselt Ficino etwa den antiken Atlantis-Mythos im Licht der mosaischen Genesis und liest ihn als historisch wahren Bericht über die vorsintflutliche Zeit;18 und als Giovanni Pico seine berühmte Rede über Gott, Adam und die Würde des Menschen verfaßt, will er sich nicht nur auf »die mosaischen und christlichen Mysterien«, sondern auch auf »die u. übers. v. Roderich König, o.O. 1975, Liber VII, 192f.) findet Mader die verschiedenen antiken Auffassungen versammelt. Plinius schließt aus den Angaben von Epigenes, Berosus und Kritodemos, daß von einem »aeternus litterarum usus« auszugehen ist. 14 Die Erstausgabe erschien in Venedig in drei Teilen gedruckt, die 1521 um fünf weitere ergänzt wurden, Übersetzungen ins Englische, Französische, Deutsche, Spanische, Italienische, Holländische und Russische folgten; vgl. Denys Hay, Polydore Vergil. Renaissance Historian and Man of Letters, Oxford 1952, 52 ff. Zu den Quellen des Vergilius Brian P. Copenhaver, The Historiography of Discovery in the Renaissance: The Sources and Composition of Polydore Vergil’s De Inventoribus Rerum, I–III, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 41 (1978) 192–214. 15 Das Zitat nach einer der zahlreichen deutschen Übersetzungen: Polydorus Vergilius von Urbin, Von Erfindung und Erfindern der Dinge […], Frankfurt a. M. 1615, Vorrede (unpag.). 16 Ebd., 38. 17 Ebd., 42. 18 Vgl. den Kommentar in: Marsilius Ficino (Hg.), Omnia divini Platonis opera, Basel 1532, 737ff.

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Theologie der Alten« stützen und belegt seine Ausführungen durch Angaben, in denen Moses und Platons Timaios einträchtig nebeneinander stehen.19 Die heiligen und profanen Texte beleuchten sich gegenseitig, sie sind darüber hinaus auch Teil eines Korpus ursprünglicher Weisheiten, in dem neben den Aussagen der Bibel solche aus philosophischen, kabbalistischen, hermetischen und magischen Texten und Kommentaren stehen. Die Idee der »prisca theologia« und »philosophia perennis« hatte im 16. und 17. Jahrhundert großen Einfluß.20 Dies wirkt bis auf die Problematisierung der Ursprungsfrage im 18. Jahrhundert nach, die ungeachtet aller Unterschiede in der Kritik an der Vorstellung einer vollkommenen ursprünglichen Weisheit ein gemeinsames Anliegen verfolgt. Welche Fragen, Argumente und Methoden trieben die Rekonstruktion ursprünglicher Wissensvollkommenheit an, welche Streitpotentiale besaß die Frage nach dem Ursprung schon vor dem 18. Jahrhundert? Auf den bloßen Buchstaben der Bibel konnte die Auslegung der Figur ursprünglicher Weisheit nicht bauen. Sie war angewiesen auf außerbiblische Quellen und Belege wie die Säulenthese des Flavius Josephus. Welchen Spielraum die Erörterung hier hatte, war davon abhängig, von welchen exegetischen Grundlagen die Auslegung der Genesis ausging. Wenn Moses nicht als Historiker oder Philosoph geschrieben hat, sondern für ein ungebildetes, der Philosophie noch nicht fähiges Volk, dann eröffnete sich ein weiterer Auslegungshorizont, als ihn lutherische Theologen zugestehen mochten, welche die literale als die historische Wahrheit der mosaischen Urkunde betonten. Die erste Position vertrat etwa der spanische Jesuit Benito Pereira. Sie gründet auf einer Differenzierung der biblischen Überlieferung zur Frühgeschichte. Der Pentateuch, argumentiert Pereira, gehe zwar größtenteils auf Moses zurück, jedoch sei er noch lange nach Moses auf der Grundlage überlieferter »Diaria et Annales« ergänzt und redigiert worden. Moses selbst habe sein Wissen nicht nur aus Inspiration, sondern auch aus adamitischer Tradition geschöpft, war also »tam divina, tam humana ratione« instruiert.21 Dagegen hielt sich die lutherische Theologie eng an die »reine« Überlieferung der göttlich inspirierten Schrift und begrenzte damit deren Interpretation. Mit großer Wirkung vertrat diese Position der lutherische Theologe Abraham Calov, der (im Kontext einer Auseinandersetzung um das heliozentrische Weltbild des Kopernikus)

Vgl. Giovanni Pico della Mirandola, De hominis dignitate – Über die Würde des Menschen, Lateinisch-deutsch, übers. v. Norbert Baumgarten, hg. u. eingel. v. August Buck, Hamburg 1990, 4f. u. 22f. 20 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt a. M. 1998. 21 Benedictus Pererius Valentinus, Prior Tomus Commentariorum et disputationum in Genesim, Lyon 1594, 3 f., 9 ff. 19

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etwa die These, Moses spreche nur »populariter«,22 scharf kritisierte. Aus unterschiedlichen Prämissen der Bibelexegese ergaben sich unterschiedliche Prämissen für die Untersuchung und Bestimmung des Wissens der Patriarchen. Während Pereira von einer vollkommenen »scientia«23 Adams ausgeht, bekämpft Calov diese Auffassung als eine katholische und sozinianische Irrlehre.24 Doch wenn lutherische Theologen Adams vollkommenes Wissen bestritten, wollten sie dadurch nicht die Wissenskultur der ersten biblischen Patriarchen als solche in Frage stellen. Von der Existenz einer vorsintflutlichen Wissenschaft auszugehen, war so etwas wie eine überkonfessionelle Position. Die These der vorsintflutlichen Schriftkultur verdeutlicht diesen Konsens. Die Überzeugung, daß die Schrift schon vor Moses in Gebrauch war, wurde auch von solchen Theologen geteilt, welche die Authentizität der Textdokumente und Belege, mit denen Gelehrte seit dem 16. Jahrhundert eine ursprüngliche Wissensvollkommenheit nachzuweisen versuchten, bezweifelten. Zwar seien die Adam und anderen biblischen Patriarchen zugeschriebenen Bücher als Fälschungen abzulehnen, argumentiert etwa der reformierte Züricher Theologe Johann Heinrich Heidegger, dennoch gehe er davon aus, daß Adam schriftkundig war. Dies erweise sich schon »ex ratione«, also durch vernünftige Schlußverfahren. Schrift sei für die Überlieferung von Wissen und jede Kommunikation, die über die Präsenz des bloßen Gesprächs hinausgeht, unabdingbar; auch sei nicht vorstellbar, daß Adam die Schrift nicht erfunden habe, hatte er doch auf Grund eines langen Lebens die dazu notwendige Erfahrungsgrundlage (»experientia«). Der adamitische Schriftgebrauch ist nach Heidegger zudem »ex scriptura Sethitarum« abgesichert, also durch den Bericht des Flavius Josephus über die vorsintflutlichen Schriftsäulen.25 Wenn dagegen der lutherische Theologe und Historiker Johann Heinrich Ursinus die Auffassung von der zeitlosen Evidenz der Schrift kritisierte und ihr die These von einer schriftlosen Frühgeschichte entgegenstellte (die er mit derjenigen einer hohen Wissenskultur für vereinbar hielt), so war dies eine seltene Ausnahme.26 Noch als Jakob Friedrich Reimmann, auch er ein Lutheraner, Anfang des 18. Jahrhunderts die traditionellen Vorstellungen über vorsintflutliche Weisheiten Abraham Calov, Systema locorum theologicorum, 12 Bde., Wittenberg 1655–1677, Bd. 3, 1659, 1036 f. 23 Pererius, Prior Tomus Commentariorum et disputationum in Genesim, 528 ff. 24 Abraham Calov, Commentarius in Genesin, Wittenberg 1671, 382. 25 Johann Heinrich Heidegger, Historia sacra Patriarcharum exercitationes selectae, 2 Bde., Zürich 1729 (aber, laut Widmung, zuerst 1667), Bd. 1, Abschnitt XVI: De Lingua & literis Patriarcharum (287–320), speziell über die litterae ebd., 313 ff. 26 Johann Heinrich Ursinus, De Zoroastre Bactriano, Hermete Trismegisto, Sanchoniathone Phoenicio, eorumque scriptis, et aliis, contra Mosaicae Scripturae antiquitatem exercitationes familiares, Nürnberg 1661; dazu Verf., Der Ursprung der Schrift als Problem der frühen Neuzeit. Die These schriftloser Überlieferung bei Johann Heinrich Ursinus (1608–1667), in: Philologie und Er22

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und Wissenswelten einer radikalen Skepsis aussetzt, findet dieser Zweifel seine Grenze in der auch von ihm geteilten Überzeugung, daß es Schrift schon vor der Sintflut gegeben haben muß.27 Die Geltung der Vorstellung einer vormosaischen Schriftkultur und Wissenschaft war paradigmatisch mit der Anerkennung der heiligen Geschichte als ältester Geschichte und als einer Traditionsinstanz ursprünglicher, göttlich inspirierter Weisheit verknüpft. Radikal in Frage gestellt wurde diese Geltung allerdings von Philosophen, die den Autonomieanspruch der neuen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts mit der Forderung nach einer Emanzipation von theologischen Vorschriften verbanden und die kritische Vernunft statt zur Verteidigung der Heiligen Schrift auf diese selbst anwandten. Thomas Hobbes und Baruch de Spinoza stellten Grundprämissen der heiligen Geschichte in Frage, damit verbunden auch die Auffassung über die hohe Wissenschaftskultur biblischer Patriarchen und ganz allgemein die Überzeugung vom jüdischen Ursprung der Erfindungen und Wissenschaften. Spinozas Kritik der Autorschaft des Moses für den ganzen Pentateuch entzieht dessen Interpretation als Quelle ursprünglicher Weisheit die Grundlagen. Im Kontext einer Analyse der dem menschlichen Vorstellungsvermögen angepaßten Prophetie und Offenbarung wundert sich Spinoza über die merkwürdige »Übereilung«, mit der »man sich allgemein eingeredet, die Propheten hätten alles gewußt, was dem menschlichen Verstande überhaupt zugänglich ist«.28 Spinoza wurde als Häretiker und Atheist diffamiert. Die Auslegung der biblischen Historie war offensichtlich kein bloß wissenschaftliches Problem, die Auffassung von der Weisheit der Patriarchen war eine religiöse Machtpositionen stützende Ideologie. So jedenfalls sah dies Thomas Hobbes, der im Leviathan die auf Alter und Tradition gestützte Autorität »geistlicher Herrn«29 in ihren ganz profanen Herrschaftsansprüchen entlarvt. Die meisten Philosophen waren vorsichtiger und betonten die Arbeitsteilung zwischen Theologie und Philosophie. Die Auslegung der heiligen Geschichte überließen sie der Schriftauslegung der Theologen und Philologen. Francis Bacon hat es so gehalten, ohne allerdings auf die Erforschung der Sapientia veterum, so der Titel eines seikenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher »Philologie«, hg. v. Ralph Häfner, Tübingen 2001, 207–223. 27 Reimmann, Historia Literaria Antediluviana; dazu Verf., Aporien frühaufgeklärter Gelehrsamkeit. Jakob Friedrich Reimmann und das Problem des Ursprungs der Wissenschaften, in: Skepsis, Providenz, Polyhistorie. Jakob Friedrich Reimmann (1668–1743), hg. v. Martin Mulsow u. Helmut Zedelmaier, Tübingen 1998, 97–129. 28 Baruch de Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat, hg. u. eingel. v. Günter Gawlick, Hamburg 1976, 32 f. u. 38. 29 Vgl. die Kapitel 46 u. 47 des Leviathan (hier benutzt in: Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. u. eingel. v. Iring Fetscher, Frankfurt a. M. 1984, 507 ff.).

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ner Bücher, zu verzichten. »Das früheste Altertum«, kann man dort lesen, »ist mit Ausnahme dessen, was von ihm in der Heiligen Schrift bewahrt ist, in Schweigen und Vergessen gehüllt«. Zwischen diesem Schweigen und Vergessen und der »Zeit der schriftlichen Überlieferung« liegt ein »Schleier von Sagen«, der das, »was verlorengegangen ist«, von demjenigen trennt, »was erhalten geblieben ist«.30 Daß sich Bacons Interesse auf die »Sagen der antiken Dichter« konzentriert und er nur das in ihnen verborgene »Geheimnis«31 aufdecken will, ist bezeichnend für jene Vorsicht. Die Grenze »zwischen göttlichen und menschlichen Dingen«32 zieht der Programmatiker der neuen Wissenschaft deshalb so deutlich, weil erst deren strenge Beachtung der Philosophie die Freiheit eigener Fragen eröffnet, die es ermöglichen soll, die »Säulen des Herkules« zu überwinden. Was Bacon in den antiken Sagen entdeckt, die er »als die geheiligten Relikte und den sanften Atem besserer Zeiten, die durch die Überlieferung älterer Völker in die Flöten und Trompeten der Griechen gelangten«,33 versteht, sind nicht zuletzt Belehrungen über eben jene Grenze, deren Nichtbeachtung »unvermeidlich die Zerfleischung des Geistes und seine rast- und endlose Verwirrung zur Folge hat«.34 Daß aber gerade der Bezirk, der nicht die heilige Geschichte betrifft, die Autonomie des menschlichen Wissensstrebens lehrt, von der sich Bacon den zukünftigen Wissenschaftsfortschritt verspricht, kann als ironischer Kommentar zu den zeitgenössischen Anstrengungen gelesen werden, bei der Suche nach einer ursprünglichen Vollkommenheit des Wissens heilige und profane Texte zu vermischen.35 Eine Grenze zwischen heiliger Geschichte und profanen Geschichten, auf die Bacon nicht nur bei seiner Rekonstruktion der Weisheit der Alten so großen Wert legte, gab es für die Philosophie der »theologia prisca« und »philosophia perennis« nicht. Die Übereinstimmung von Theologie und Philosophie ist Bedingung und AntriebsFrancis Bacon, De sapientia veterum liber, zuerst London 1609, hier zitiert nach der v. Philipp Rippel hg. Ausgabe: Francis Bacon, Weisheit der Alten, Frankfurt a. M. 1990, 9. 31 Ebd., 10. 32 Ebd., 69 (im Artikel über Prometheus). 33 Ebd., 12. 34 Deshalb »muß der Mensch genau und bescheiden zwischen göttlichen und menschlichen Dingen unterscheiden, wenn er nicht eine ketzerische Religion und eine falsche Philosophie haben will« (ebd., 69, im Artikel über Prometheus; vgl. auch den Artikel Actaeon und Pentheus oder die Neugierde, 33 f.). 35 Zu Bacons Kritik an seinen Vorgängern vgl. ebd., 13; zur Begründung der Konzentration auf eine profane Auslegung ebd., 70: »Es ist richtig, daß darin nicht wenige Dinge enthalten sind, die überraschend mit den Mysterien des christlichen Glaubens übereinstimmen.« Jedoch gilt: »Indessen versagen wir uns die Freiheit derartiger Spekulationen, um nicht fremdes Feuer auf den Altar des Herrn zu schüren«. Vgl. zum Kontext dieser Kritik Clark Hulse, Spenser und Bacon. Die Wahrheit der Dichter und die Weisheit der Antike, in: Mythographie der frühen Neuzeit. Ihre Anwendung in den Künsten, hg. v. Walther Killy, Wiesbaden 1984, 115–126, hier 122 ff. 30

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kraft ihrer Rekonstruktionsarbeit.36 Auch für Historiker und Philologen, die sich bemühten, die biblische Historie in Konkordanz mit ägyptischen, babylonischen, chinesischen und anderen (»uralten« und »weisen«) Altertümern zu bringen, existierte eine solche Grenze nicht.37 Das Anliegen, die Einheit und Gewißheit der ältesten Überlieferungen durch vergleichende Interpretation zu begründen, setzte die heilige Ursprungsgeschichte in ein intertextuelles Verhältnis, das deren zeitliche und sachliche Exklusivität relativierte. Die Schwierigkeiten und Widersprüche, die sich daraus sowie durch die Erfahrungen mit außereuropäischen Zivilisationen für die biblische Historie ergeben hatten, wollte der französische Calvinist Isaac La Peyrère lösen, der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts für Furor(e) in der gelehrten Welt sorgte. Ausdrücklich wendet er sich gegen diejenigen, die »scrupulose« den mosaischen Büchern weitere Bücher hinzufügten, und erweist sich in dieser Hinsicht als Verteidiger des Vorrangs der biblischen Historie. Jedoch bestreitet er das dem Adam zugesprochene vollkommene Wissen mit dem Hinweis, daß die Entfaltung von Wissenschaft einer längeren »cultura et tempus« bedürfe.38 Um die biblische Ursprungsgeschichte plausibel erklären zu können, entwickelt La Peyrère die Hypothese über die Existenz von Menschen vor Adam. Mit dieser Annahme nämlich, argumentiert er, erscheint der Bericht der Genesis ebenso in klarem Licht wie die verbreitete Auffassung über den hohen Wissensstand in vorsintflutlicher Zeit und die Berichte über »primitive« Kulturen der neuen Welt.39 Wie das Beispiel des La Peyrère zeigt, wurde die überlieferte, biblisch fundierte Universalgeschichte nicht zuletzt durch die wachsende Ausweitung des geographischen Erfahrungshorizonts fragwürdig.40 Die Entdeckung der Neuen Welt hatte schon vor La Peyrère die heilsgeschichtlich begründete Einheit des Menschengeschlechts dem Zweifel ausgesetzt. Paracelsus hatte zuerst bestritten, daß die neu entdeckten amerikanischen Völker von Adam abstammten.41 In Frage gestellt wurden damit auch die sich auf die Bibel gründenden Rechtskonstruktionen, mit denen die

Vgl. Schmidt-Biggemann, Philosophia perennis, 49 ff. Vgl. Rossi, The Dark Abyss of Time, 123 ff. 38 [Isaac La Peyrère], Systema theologicum ex Prae-Adamitarum hypothesi. Pars prima, o. O. [Amsterdam] 1655, 181 ff. 39 Vgl. Rossi, The Dark Abyss of Time, 132 ff., 200 f.; Richard H. Popkin, Isaac La Peyrère (1596–1676), Leiden 1987, 42 ff., 80 ff. 40 Zum ideengeschichtlichen Zusammenhang vgl. neben der immer noch grundlegenden Arbeit von Adalbert Klempt (Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung. Zum Wandel des Geschichtsdenkens im 16. und 17. Jahrhundert, Göttingen u. a. 1960) die Forschungen von Arno Seifert. 41 Vgl. Giuliano Gliozzi, Adamo e il Nuovo Mondo. La nascità dell’antropologia come ideologia coloniale dalle genealogie bibliche alle teorie razziali (1500–1700), Firenze 1977; zum Polygenitismus, wie ihn Paracelsus im 1520 erstmals gedruckten Liber de generatione vertrat, 306 ff. 36 37

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Teil I · Das Anfangsproblem in der Frühen Neuzeit

Eroberungen der Neuen Welt legitimiert wurden. Sie waren schon bei den Verteilungskämpfen, die die europäischen Mächte untereinander ausfochten, Gegenstand des Streits geworden, weshalb etwa der französische König Franz I. begierig war, das Testament Adams zu sehen.42 La Peyrère wurde wie Spinoza als Atheist bekämpft, obwohl es sein ausdrückliches Anliegen war, die Wahrheit der biblischen Historie zu verteidigen. Dies verdeutlicht, wie brisant die Beschäftigung mit der Ursprungsfrage war, wenn dabei festgefügte Auffassungen, und sei es nur hypothetisch, in Frage gestellt wurden. Die Gefahr, sich dem Verdacht des Atheismus auszusetzen, war bei der Behandlung des Ursprungsproblems ganz generell besonders groß, und zwar auch dann, wenn Gelehrte von gängigen Verfahren und Überzeugungen weniger stark abwichen als Spinoza, Hobbes oder La Peyrère. Der holländische, als Domherr von Windsor bepfründete Philologe Isaac Vossius ist dafür ein gutes Beispiel. In einer 1659 publizierten Dissertatio de vera aetate mundi trat er dafür ein, die lateinische Bibelübersetzung, die Vulgata, durch die griechische Fassung, die Septuaginta, als Grundlage der Chronologie zu ersetzen, um dadurch, weil auf der Grundlage der Zahlenangaben der Septuaginta ein höheres Weltalter errechnet werden konnte, die Geschichte der Welt um 1440 Jahre zu verlängern. Sein Unternehmen begründet er damit, daß nur so die Autorität der Heiligen Schrift gegen die profane – vor allem chinesische –43 Geschichtsüberlieferung und die Angriffe La Peyrères geschützt werden könne. Im gleichen Jahr erschien eine Gegenschrift des in Leiden lehrenden Philologen und Historikers Georg Horn, als »sacrarum & historiarum & chronologiae Vindex«44 gefeiert, der die von Vossius vertretene Auffassung als gottlose, zum Atheismus führende These verdammt und diesen verdächtigt, ein heimlicher Anhänger der Lehre von den Praeadamiten zu sein. Die Intensität und Geschwindigkeit solcher Auseinandersetzungen dokumentiert die Tatsache, daß im selben Jahr, 1659, drei weitere, den Streit um die richtige Bibelfassung fortführende Schriften aus der Feder der beiden Kontrahenten (zwei von Vossius und eine von Horn) gedruckt wurden.45 Ebd., 28. Zu den rechtlichen Argumenten der spanischen Eroberungspolitik u.a. Stephen Greenblatt, Marvelous Possessions, Oxford 1991, hier benutzt in der deutschen Übersetzung: Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker, Berlin 1994, 87 ff.; Daniel Deckers, Die Kontroverse um die Rechtmäßigkeit der Eroberung Amerikas, in: ZHF 21 (1994) 345–374. 43 In De artibus et scientiis Sinarum (in: Isaac Vossius, Variarum observationum liber, London 1685, 69–85) vertritt Vossius die Auffassung, die Chinesen hätten schon fast 5000 Jahre eine literarische und wissenschaftliche Tradition. Allerdings seien ihre wissenschaftlichen Erfolge nicht Ergebnis besonderer Begabung, sondern langer ungestörter Tradition. Die einflußreichste Arbeit zur chinesischen Geschichtsüberlieferung hatte der in China als Missionar tätige Jesuit Martino Martini verfaßt (Sinicae historiae decas prima, München 1658). 44 Christoph Arnold, Spicilegium post messem, longioris epistolae instar […], o. O. u. o. J. (beigebunden dem Werk des Ursinus [De Zoroastre Bactriano]), 5. 45 Zu dieser Auseinandersetzung Rossi, The Dark Abyss of Time, 145 ff. 42

Themen, Thesen, Konflikte

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Die Bekämpfung der Praeadamitenhypothese gehörte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zum Pflichtrepertoire nicht nur von Theologen. Mit den Instrumenten der philologischen Kritik waren die Praeadamiten leicht zu widerlegen. La Peyrère war ein dilettierender Außenseiter, der weder Griechisch noch Hebräisch verstand, also der Sprachen der Quellentexte unkundig war und die gelehrte Forschung zu seinem Thema mißverstand.46 Die historisch-philologische Kritik war im 17. Jahrhundert ganz generell eine scharfe Waffe. Mit ihr widerlegte man die Authentizität und das Alter von Texten, die als Belege für eine über Moses zurückgehende Überlieferung gefunden (oder: erfunden) wurden. So wurden die beiden für die Rekonstruktion ursprünglicher Weisheit einflußreichen Quellentexte, das Corpus Hermeticum und die Antiquitates des Berosus, als Fälschungen späterer Zeiten entlarvt.47 Eine Fortschrittsthese im Sinne zunehmender Autonomie und Überzeugungskraft der historisch-philologischen Kritik bei der Erforschung der Ursprungsfrage läßt sich aus den Errungenschaften der historisch-philologischen Gelehrsamkeit allerdings nicht ableiten. Dagegen spricht schon, daß die Bibel selbst nur in seltenen Ausnahmen zum Objekt ihrer kritischen Arbeit wurde. Zudem schloß die Präzisierung der Kritik ihre Indienstnahme für Traditionsstiftungen unterschiedlicher Art nicht aus, ja diese Präzision und Schärfe verdankt sich zu einem Gutteil diesem Bemühen.48 Als sich deutsche Gelehrte an der Wende zum 18. Jahrhundert daran machten, die Frühgeschichte des Menschen in ein vernünftiges Licht zu stellen, avancierte die philologische Textkritik zum Instrument der Kritik ursprünglicher Wissensvollkommenheit. Ihr besonderes Profil aber gewann diese Kritik in der Auseinandersetzung mit Samuel Pufendorfs Naturzustandsmodell. Davon handelt der folgende Teil.

Vgl. Anthony Grafton, Isaac La Peyrère and the Old Testament, in: Ders., Defenders of the Text. The Traditions of Scholarship in an Age of Science. 1450–1800, Cambridge Mass.-London 1991, 204–213. 47 Vgl. Anthony Grafton, Protestant versus Prophet: Isaac Casaubon on Hermes Trismegistus, in: Ders., Defenders of the Text, 145–161; Ders., Traditions of Invention and Inventions of Tradition in Renaissance Italy: Annius of Viterbo (ebd., 76–103). 48 Vgl. Anthony Grafton, Fälscher und Kritiker. Der Betrug in der Wissenschaft, Berlin 1991 (zuerst in Englisch: Princeton 1990). 46

Samuel Pufendorfs Dissertationes academicae selectiores von 1675. Sie enthalten die Erstfassung von Pufendorfs De statu hominum naturali. HAB Wolfenbüttel M: Li 7197

TEIL II Das Anfangsproblem in der Naturzustandsdebatte

Als der neue Professor »derer Historien« Immanuel Weber im Winter 1698 in Gießen seine historischen Vorlesungen begann, las er öffentlich zunächst wie üblich über die Universalhistorie.1 Im ersten Semester absolvierte er die »Jüdische Geschichte«, beschäftigte sich also mit der biblischen Überlieferung zur Frühgeschichte des Menschen, absolvierte im folgenden Sommersemester die drei ersten Monarchien (Babylon, Persien, Griechenland), schritt im nächsten Wintersemester 1699 zur vierten, römischen Monarchie und hatte am Ende dieses Semesters das erste Jahrhundert (n.Chr.) abgeschlossen.2 Weber lehrte Geschichte nach dem sogenannten Vier-MonarchienSchema, nach dem traditionellen, mit der biblischen Daniel-Prophetie begründeten Epochenmodell, das seit Jahrhunderten, im Prinzip seit der Spätantike, die Universalhistorie strukturierte. Doch Weber war mit seiner Vorlesung nicht besonders erfolgreich. Auch die »privatim« angebotenen Kollegien über Kirchenhistorie und Heraldik stießen bei der studentischen Hörerschaft auf wenig Resonanz.3 Der Professor mußte erkennen, daß sich seine Studenten langweilten und ihnen über der langwierigen Universalhistorie »die Lust zum Historischen Studio« zu vergehen drohte. Er sah sich deshalb gezwungen, seine historischen Vorlesungen zu ändern. Etwas resigniert – »So muß ein Lehrer endlich sich auch darnach accomodiren / und / wo es nicht weiter zu bringen ist / sich zuweilen der Gewalt des gemeinen Wahns mit unterwerffen« –,4 doch auf höhere Geldbeträge der (privaten) Hörerschaft hoffend,5 beschloß er, auf die Interessen Das Folgende nach einem Vorlesungsprogramm von 1701, in dem Weber auch über seine bisherigen Erfahrungen als Geschichtsprofessor berichtet; der vollständige Titel lautet: D. Immanuel Weber / derer Historien Professor P. und Bibliothecarius Academiae eröffnet Der Studirenden Jugend zu Giessen Sein Vorhaben auff dieses Jahr / so wohl Wegen seiner historischen Lectionen und Collegiorum, als auch Wegen Anlegung eines Cabinets von alten Numismatibus, Und Einführung des curiösen Studii rei nummeriae, Und dann Wegen besserer aptirung der Universitäts= Bibliothec zu gemeinsamen Nutzen, Gießen 1701. Zu Weber als Lehrstuhlinhaber für Geschichte in Gießen vgl. Emil Clemens Scherer, Geschichte und Kirchengeschichte an den deutschen Universitäten, Freiburg i. Br. 1927, 164 f. 2 Vgl. Weber, Eröffnet Der Studirenden Jugend, 2 f. 3 In der Fachwelt dagegen war Weber mit einem Buch über Heraldik erfolgreich, zumindest wurde sein Examen artis heraldicae (erstmals Frankfurt 1696) wenigstens siebenmal neu aufgelegt (vgl. Scherer, Geschichte und Kirchengeschichte, 165/Anm. 1). 4 Vgl. Weber, Eröffnet Der Studirenden Jugend, 4. 5 Für das neue Privatkolleg müsse er, argumentiert Weber, wegen des größeren Vorbereitungs1

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Teil II · Das Anfangsproblem in der Naturzustandsdebatte

seines studentischen Publikums einzugehen, das, »begierig / etwas neues zu hören«, sich nicht in erster Linie »ad Scholam qualificiren«, vielmehr »cavalierement« studieren wolle.6 Welches neue historische Interesse trieb den Gießener Professor um die Wende zum 18. Jahrhundert an, »das viele alte Gezeug«7 der traditionellen, biblischen Universalhistorie zu entsorgen? Welches Lehrbuch ermöglichte es, »cavalierement« zu studieren? Der Schlüssel zu diesen Fragen ist Samuel Pufendorfs Naturzustandsmodell.

1. Naturrechtlich erschlossene Anfänge: Samuel Pufendorf Das Modell des Naturzustands, wie ihn Samuel Pufendorf als Gegenpol zu den entwickelten Gesellschaften der europäischen Gegenwart und ihrer Staatenwelt, ihren zivilisatorisch-technischen Praktiken sowie kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen entwarf, führt die moderne Gesellschaft als einen komplizierten Zusammenhang vor Augen. Die Differenz, die im Spannungsfeld von Naturzustand und gegenwärtiger Gesellschaft wahrnehmbar wird, schärfte die Aufmerksamkeit für die Frage nach den historischen Anfängen und sozialen Entstehungsbedingungen von Kultur und Wissenschaft. Von daher erklärt sich, daß der Kulturbegriff durch Pufendorf seine modernen Signaturen erhielt.8 Der Naturzustand, den Pufendorf zwischen 1672 und 1675 in verschiedenen Fassungen ausgearbeitet und in der Auseinandersetzung mit seinen Kritikern später präzisiert hat,9 war schon zu Lebzeiten Pufendorfs ein problematisches Konstrukt, über

aufwandes und Bücherbedarfs eine größere Summe verlangen, nämlich vier Reichstaler pro Semester (ebd., 6). 6 Ebd., 4; »cavalierement« übersetzt Weber in der Perspektive der Schulgelehrsamkeit mit »(das ist auff gut Teutsch in effecta so viel gesagt / als oben hin / und nichts auß dem Grunde / auch in Dingen / wo doch ein mehrers nöthig wäre) studiren«. 7 Ebd. 8 Zu Pufendorfs Verwendung des Begriffs »cultura« im Kontext der Wort- und Begriffsgeschichte vgl. Joseph Niedermann, Kultur. Werden und Wandlungen des Begriffs und seiner Ersatzbegriffe von Cicero bis Herder, Florenz 1941, 132 ff.; Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a. M. u. Leipzig, 2. Aufl. 1994, 55 ff. 9 Vgl. die Fassungen in: Samuel Pufendorf, De jure naturae et gentium libri octo (zuerst Lund 1672), hier benutzt in der Editio secunda, auctior multo et emendatior, Frankfurt a. M. 1684, Liber secundus, Cap. II (De statu hominum naturali, 154–178); Ders., De officio hominis et civis (zuerst Lund 1673, hier benutzt in der deutschen Übersetzung, die als Bd. 1 der v. Hans Maier u. Michael Stolleis hg. Reihe Bibliothek des deutschen Staatsdenkens erschienen ist: Samuel von Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, hg. u. übers. v. Klaus Luig, Frankfurt a. M. u. Leipzig 1994, Buch II, Kap. 1, § 1–11); und v. a.: Ders., De statu hominum naturali, zuerst erschienen in: Ders., Dissertationes academiae selectiores, Lund 1675, hier

Naturrechtlich erschlossene Anfänge

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dessen Wahrheit noch heute gestritten wird. Die Auseinandersetzung betrifft vor allem die Frage, ob bzw. inwiefern Pufendorfs Naturzustandstheorem (genauer: dessen »Status naturalis in se«) eine historische Dimension besitzt, was Hans Medick entschieden bejaht,10 ansonsten aber von der neueren Forschung eher verneint wird.11 Pufendorfs Naturzustand ist ein fiktiver Zustand, ein rational konstruiertes Modell,12 das es ermöglichen soll, die sozialen und politischen Institutionen der Gegenwart sowie deren Rechtsgrundlagen und Moral vernünftig zu vermessen.13 In den hypothetischen vorstaatlichen Vernunft-Raum schreiben sich jedoch nicht nur antike Texte und neuere Reiseberichte,14 sondern auch die biblische Überlieferung ein. Der ursprüngliche Mensch, den Not und Schwäche (»indigentia et imbecillitas«) zur Sozialität zwingen,15 gewinnt dadurch empirische Evidenz, daß ihn die aus Texten gezogenen Erfahrungen und Beispiele für das Vorstellungsvermögen in Szene setzen. In welchem Verhältnis steht Pufendorfs Naturzustandstheorem zur biblischen Offenbarung? benutzt in der v. Michael Seidler hg. Edition der Ausgabe Frankfurt a. M. 1678: Samuel Pufendorf ’s on the Natural State of Men. The 1678 Latin Edition and English Translation, Lewiston-Queenston-Lampeter 1990. Pufendorfs Auseinandersetzung mit seinen Kritikern ist dokumentiert in: Ders., Eris scandica, qua adversus libros de jure naturali et gentium objecta diluuntur, Frankfurt a. M. 1686, hier v. a.: Specimen controversiarum circa jus naturale ipsi nuper motarum, Cap. III: De statu hominum naturali, 217–231. 10 Hans Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith, Göttingen 1973, 39 ff. 11 Vgl. die neuere Arbeit über Pufendorf von Thomas Behme (Samuel von Pufendorf: Naturrecht und Staat. Eine Analyse und Interpretation seiner Theorie, ihrer Grundlagen und Probleme, Göttingen 1995, zum Naturzustand 57 ff.), der in einer langen Fußnote (59/Anm. 16) Medicks Position zu widerlegen versucht. Eine Bibliographie der Forschungen zu Pufendorf (vom 17. Jahrhundert bis 1991) bei Detlev Döring, Pufendorf-Studien. Beiträge zur Biographie Samuel von Pufendorfs und zu seiner Entwicklung als Historiker und theologischer Schriftsteller, Berlin 1992, 214–266. 12 Dies betont Pufendorf besonders in der Auseinandersetzung mit seinen theologischen Kritikern, vgl. etwa Eris scandica, 221. 13 Zu den theoretischen Prämissen und zur methodischen Funktion von Pufendorfs Naturzustandstheorem ausführlich Behme, Samuel von Pufendorf, 30 ff. u. 57 ff. 14 Vgl. etwa die Belege in Pufendorf, De statu hominum naturali, § 4 f. (dazu die Erläuterungen von Seidler, 37 f. u. 137 f.). Zu der von Pufendorf benutzten historischen und ethnographischen Literatur vgl. auch Horst Denzer, Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf. Eine geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zur Geburt des Naturrechts aus der Praktischen Philosophie, München 1972, 333 ff. Pufendorf interessierte sich schon während seines Studiums in Leipzig besonders für ethnographische Literatur und Reiseberichte; vgl. Döring, Pufendorf-Studien, 168 f. 15 Vgl. dazu ausführlich Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, 52 ff.

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A. Abstraktion von der biblischen Offenbarung Pufendorfs Naturzustand verdankt sich einer gedanklichen Operation der Vernunft, die hinsichtlich der Ursprünge der Menschheit von solchen Erkenntnissen abstrahiert, die der Heiligen Schrift zu entnehmen sind.16 Rationale Rekonstruktion und Offenbarung gründen in dieser Hinsicht auf unterschiedlichen Fundamenten und Weisen der Vergewisserung. Ein Widerspruch der Vernunft gegen das geoffenbarte Wissen, wie er aus moderner Perspektive nahezuliegen scheint, die oft unfreiwillig den Positionen der damaligen theologischen Gegner Pufendorfs aufsitzt,17 muß damit nicht verbunden sein. Die rationale Erklärung übertrumpft den biblischen Bericht nicht, zumindest nicht bei Pufendorf; sie argumentiert innerhalb der Grenzen der Vernunft und beansprucht, soweit sie Themen und Probleme erörtert, die auch die Offenbarung betreffen, nicht zu prinzipiell anderen Ergebnissen kommen zu können. Vernünftige Rekonstruktion und biblische Wahrheit werden bei Pufendorf als ein sich gegenseitig bestätigendes Korrespondenzverhältnis aufgefaßt. So bestätigt die vernünftige Schlußfolgerung etwa die auf Grund der biblischen Wahrheit verbürgte Gewißheit, daß das menschliche Geschlecht nicht seit Ewigkeit existierte, sondern einen bestimmten Anfang hatte.18 Nicht dem geoffenbarten Text will Pufendorf widersprechen, wohl aber dessen Instrumentalisierung durch philosophisch inspirierte Theologen und theologisch inspirierte Philosophen.19 Pufendorfs »Status naturalis in se«20 zeigt den Menschen in seiner Mängel- und Bedürfnisnatur, unter Absehung aller kulturellen und zivilisatorischen Errungenschaften, die dadurch als Ergebnis seiner Vergesellschaftung sichtbar Vgl. etwa Pufendorf, De statu hominum naturali, § 4: »Ad hanc rem penitus intelligendam age abstrahamus ab illa cognitione, quam super originibus humani generis ex divinis literis hausimus, ac intra limites rationis sibi jam soli relictae maneamus«. 17 Besonders dann, wenn die Gegnerschaft bestimmter Theologen zur Gegnerschaft der orthodoxen Theologie schlechthin stilisiert wird und Pufendorfs Argumentation »ex solo rationis lumine« als Infragestellung der »cognitio ex sacris literis hausta« ausgelegt wird; zur Kritik dieser Sicht sowie zu Pufendorf als Theologe, der häufig geradezu orthodox argumentiert, Döring, PufendorfStudien, 55 ff. 18 »Hac igitur duce satis liquido colligere videmur posse, humanum genus non extitisse ab aeterno, sed aliquando initium cepisse« (Pufendorf, De statu hominum naturali, § 4; das Zitat schließt unmittelbar an die Anm. 16 zitierte Stelle an). 19 Vgl. zu Pufendorfs Kritik der Vermischung von Theologie und Philosophie, von Offenbarung und Vernunft, sowie zu seiner Betonung der Bibel als alleiniger Grundlage der Theologie Döring (Pufendorf-Studien, 73 ff.). 20 Zur Differenzierung der unterschiedlichen Abstufungen von Pufendorfs Naturzustand vgl. Medick (Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, 49 ff.) und Behme (Samuel von Pufendorf, 58 ff.). 16

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werden.21 Gegenüber dem »Status integritatis«, wie ihn die Bibel als ursprünglichen Zustand des Menschen beschreibt, ist der »Status naturalis in se« eine vernünftige Fiktion. Die Differenz zwischen dem biblisch überlieferten, also historisch gewissen Ausgangspunkt des Menschen und jenem Modell, das die natürlichen Bedingungen des Menschen, wie sie ihn in der Gegenwart bestimmen, rational erklärt, hat Pufendorf immer wieder unterstrichen.22 Zur Disposition steht dabei aber nicht die Wahrheit des »Status integritatis«. Was man über das Paradies und damit über den tatsächlichen (historischen) Anfang der menschlichen Geschichte wissen kann, ist einzig der Heiligen Schrift zu entnehmen, denn die Überreste, die über diese Zeit in heidnischen Schriftstellern begegnen, sind Fabeln und Lügen.23 Der biblische Bericht aber beschreibt das Paradies als einen Zustand, dessen Lebensverhältnisse im Vergleich zu denjenigen gegenwärtiger Menschen von völlig anderen Bedingungen geprägt sind. Weil nämlich im Paradies für alles Vorsorge getroffen war, dort deshalb kein Mangel herrschte, ist nicht davon auszugehen, daß Kenntnisse und Fertigkeiten hätten entstehen können, mit deren Hilfe die Menschen die ihnen natürliche Not (»nativa indigentia«) noch in der Gegenwart Vgl. Pufendorf, De statu hominum naturali, § 4: »Caeterum hoc loco bifariam potissimum statum hominis naturalem considerabimus. Primo quidem si concipiamus animo hominem sibi soli plane relictum citra omne subsidium humanum post nativitatem ipsi accedens, ac citra omnia inventa humana, queis necessitates aut commoditates hominum sublevantur et promoventur, et ita quidem, ut ponamus hominem non amplioribus animi corporisque dotibus instructum, quam nunc in eo nulla praevia cultura deprehenduntur, neque eundem peculiari Numinis cura foveri«. Dadurch könne man verstehen, »quam multa bona homines hominibus debeant, eoque ad philanthropian et socialitatem disponantur«, ebenso aber auch, »quia unus et alter peculiari casu revera in eum penitus, aut in aliquem ejusdem gradum devolvi potest« (ebd. § 5); und: »Caeterum cupido a miseria status istius naturalis quam longissime discendendi societatem inter homines non parum promovit, instituta communicatione rerum ad vitae culturam facientium; per quam omnibus inventa et elaborata velut in medium conferuntur, et cujuslibet industria universis emolumento cedit; cum alias exiguum valde sit, quod unius hominis ingenium invenire, aut industria elaborare citra aliorum auxilium queat. Cui fini in genere humano receptum per informationem priorum inventa in alios transfundere, operas sociare, commercia exercere, domicilia conjungere, congressus celebrare« (ebd. § 6). 22 Vgl. ebd., § 3: »Illud praeterea in limine hujus dissertationis monemus, nos hominem cum suis inclinationibus heic considerare, prout nunc eum sese habere deprehendimus, abstrahando, num ab initio diversus ille fuerit, vel non; adeoque nos semper heic naturam hominis pravitate infectam praesupponere. Cum enim propositum nobis sit isthaec dogmata ex lumine rationis deducere, extra rhombum fuerit altius heic velle adscendere, quam quousque nostra ratio sibi jam relicta pertingere valet«. 23 Ebd. (unmittelbar an die Anm. 22 zitierte Stelle anschließend): »Sane enim quae de statu primi hominis, ex quo ipse peccato suo evolutus est, jam novimus, eam cognitionem divinis literis debemus. Et si quae ejusdem vestigia apud scriptores Ethnicos occurrunt, ea videntur reliquiae traditionis alicujus inter antiquissimos mortalium aliquandiu conservatae, donec ea lapsu temporum alicubi plane exolevit, alicubi in fabulosa commenta degeneravit«. 21

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überwinden müssen.24 Dies legt der Text der Bibel nahe. Daß nämlich Adams Wissen im Paradies zugenommen, Adam selbst für einen zukünftigen Zustand des Mangels Vorsorge getroffen habe, ist eine Annahme, die schwierig nachzuweisen sein dürfte, lautet Pufendorfs noch eher zurückhaltende Kritik an der Vorstellung eines perfekten adamitischen Wissens.25 Pufendorf setzt sich damit deutlich von einer Auslegungstradition ab, die den biblischen Bericht als philosophisches Beweismittel traktiert und so dessen Wahrheit instrumentalisiert. Darin werden ihm die späteren Kritiker adamitischer Weisheit folgen. Den Sündenfall des Menschen zeichnet Pufendorf dann als einen Einschnitt, der den Menschen den Zwang zur Entfaltung ihrer gesellschaftlichen Potenzen auferlegte. Damit erhält der Vergleich zwischen Naturzustand und Heiliger Schrift geänderte Vorzeichen. Denn unter den Bedingungen des Sündenfalls geraten die ersten Menschen in jenen Zustand von Mangel und Not, der auch den Menschen des hypothetisch erschlossenen Naturzustands beherrscht. Offenbarungsgewißheit und rationale Rekonstruktion korrespondieren jetzt miteinander und bestätigen sich gegenseitig. Zwar befreiten sich die ersten Menschen auf Grund göttlicher Vorsorge aus ihrem Elend,26 doch gerade die Notwendigkeit der ersten göttlichen Hilfeleistung bestätigt und unterstreicht das vernünftig erschlossene Szenarium: Auf sich allein gestellt, also ohne unmittelbare göttliche Hilfe, entbehren die Menschen all der (technischen) Hilfsmittel und Kenntnisse, die sie erst in einem allmählichen und langwierigen Prozeß der Vergesellschaftung erlangen.27 Daß aber die Kenntnisse, mit denen Gott die ersten Menschen ausgestattet hatte, im Laufe der Zeit verlorengehen konnten, belegen nicht nur antike Schriftsteller, sondern auch die Erfahrungen mit den amerikanischen Völkern der Neuen Welt.28 Ebd., § 5: »Cum enim in Paradiso vestibus non indiguerint, et fructibus horti ultro enatis victitaverint; non adparet, quomodo actualem cognitionem habuerint earum artium, quibus genus humanum jam nativam indigentiam repellit«; und zwar besonders dann, »si tam exiguo temporis spacio commorationem eorundem in Paradiso cum plerisque circumscribamus«. 25 Vgl. ebd. (im Anschluß an die Anm. 24 zitierte Stelle): »Nisi dicere velimus, Adami in Paradiso scientiam sese extendisse, ipsoque actu jam tunc sese exseruisse circa futura quoque contingentia, et talia quidem, quae statum peccati praesupponunt, eamque scientiam per lapsum mansisse integram. Quod cum valde difficile probatu sit futurum, simplicius putaverim dicere, ex peculiari Dei gratia et informatione protoplastos ejectos miseriam et egestatem ejus status, in quem devoluti erant, sat mature dispulisse; adeoque ab ipso Deo didicisse usum praecipuarum rerum, quibus vitae humanae indigentia sublevatur«. 26 Ebd.: »Sic et protoplasti, postquam admisso peccato felicissima Paradisi conditione exciderant, parum ab extremo gradu status naturalis, de quo nobis jam sermo est, abfuisse videntur, nisi qua divina bonitas miseris peculiariter succurrit«. 27 Ebd.: »Nam ad haec omnia proprio marte addiscenda longa experientia et meditatione opus erat«. 28 Ebd.: »Sic igitur prima hominum stirps sat mature status naturalis incultum exuit, postquam 24

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Die von Pufendorf mit großer Wirkung ausgearbeitete Auffassung, daß die rationale Rekonstruktion des Ausgangspunkts menschlicher Sozialität und zivilisatorischtechnischer Kultur mit der Offenbarung zu vereinbaren ist, hatte für die Problematisierung des Anfangs der Geschichte im 18. Jahrhundert besonderes Gewicht. Sie verlieh einer rationalen Lektüre der biblischen Überlieferung Evidenz, die den »Status integritatis« zu einem für die Lebensbedingungen des Menschen nach dem Sündenfall unwirksamen Sonderfall erklärte und dadurch eine Auslegungstradition marginalisierte, welche die Vollkommenheit des Paradieses auf unterschiedliche Weise für die Bestimmung des Menschen und seiner Lebensverhältnisse in Anschlag gebracht hatte.29 Wenn Pufendorf den Naturzustand hypothetisch, unter Abstraktion der biblischen Offenbarung konstruierte, ging es ihm nicht darum, »die biblische Lehre vom Ursprung des Menschengeschlechts bzw. vom Sündenfall« zu kritisieren.30 Im Fokus der Kritik stand vielmehr eine Auslegungstradition, die seinem Anliegen entgegen-

DEO docente usum earum rerum, quas tetigimus, percepisset; quae non solum vitae humanae cumprimis sunt necessariae, sed et instrumenti vicem subeunt caetero vitae cultui parando. Quod autem longo post tempore minus culturae apud quosdam populos deprehensum est, quam apud primos istos homines, eorumque sobolem jam fuit, alicubi quidem causa fuit regionis, quam sortiti sunt, infelicitas. Alios fortasse validiorum violentia in longinquas, incultasque regiones ejectos egestas oppressit, nullo instrumentorum adparatu ex pristinis sedibus deportato. In similem inopiam inciderunt, qui migratione in remotas terras suscepta per incuriam ejusmodi instrumenta secum ferre neglexerunt, aut casu aliquo iisdem exuti sunt. Quae reparare, cum commercia nondum frequentarentur, difficillimum fuit. Etsi alii defectum istum adhibita materia minus habili utcunque supplere conati sunt. Sicuti multi populi Americae in ferri vicem usurparunt lapides, testas ostrearum, ossa ac dentes animantium, arundinem et similia«. Pufendorf verweist hier auf die deutsche Übersetzung der holländischen Reisebeschreibung Olfert Dappers (Die unbekante neue Welt, oder Beschreibung des Weltteils Amerika und des Sudlandes, Amsterdam 1673); der Hinweis von Seidler (139), daß Pufendorf mit »D.« eine falsche Abkürzung von Dappers Vornamen angebe, ist nicht richtig, denn Pufendorf bezeichnet den Amsterdamer Arzt Dapper hier nur mit seinem akademischen Grad. Zuvor verwies Pufendorf zur Bestätigung, daß auch das Wissen um den Gebrauch des Feuers verlorengehen konnte, auf Georg Horn, De originibvs Americanis libri quatuor, Den Haag 1652. 29 Vgl. Pufendorfs Auseinandersetzung mit einer bei Jacob Thomasius, dem Vater von Christian Thomasius, entstandenen Dissertation (De societatis civilis statu naturali ac legali, dissertatio politica, Leipzig 1670, als Respondent fungierte Christfried Waechtler), deren Position Pufendorf wie folgt zusammenfaßt: »cui naturalis status societatis civilis est perfectissima humani generis societas, et qualis extitura fuerat, si istud intra primaevam integritatem, in qua a Deo conditum fuit, perstitisset: legalis autem status, qualis jam intra tantam mortalium corruptelam haberi potest; ob quam in civilibus institutis non omnia ad unguem possunt exigi, sed multa imperfecta et vitiosa toleranda sunt« (es folgt die Kritik dieser distinctio, vgl. Pufendorf, De statu hominum naturali, § 2). Eine große Zahl von Belegen für die von Pufendorf hier kritisierte Position findet sich wiederum in der frühen Kritik an Pufendorf; vgl. die Dokumentation von Fiammetta Palladini, Discussioni seicentesche su Samuel Pufendorf. Scritti latini 1663–1700, Bologna 1978 (dort 290 f. eine kommentierende Zusammenfassung der Dissertation von Thomasius nach der 2. Aufl. Leipzig 1675). 30 So Behme, Samuel von Pufendorf, 59/Anm. 16.

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stand, die Vereinbarkeit der Bedingungen und Konsequenzen des rationalen Naturzustands mit dem biblischen Bericht über die Ursprünge der Menschheit im Blick auf den gefallenen Menschen aufzuweisen. Pufendorfs Naturzustand steht also nicht unversöhnlich gegen die Glaubensgewißheit der Theologen, wie es eine am Topos der »Säkularisierung« orientierte Forschung gerne sieht. Seine rationalen Erklärungen haben umgekehrt die Auslegung der Anfänge menschlicher Geschichte, die auch noch im 18. Jahrhundert nicht ohne Bibelexegese auskam, nachhaltig geprägt. Biblischer Ursprung und vernünftiger Naturzustand konnten in seiner Nachfolge als sich gegenseitig beleuchtende Modelle des Anfangs der Geschichte verstanden werden.31

B. Naturrechtliche Grundlegung der Geschichte Samuel Pufendorf ist als Jurist und politischer Theoretiker noch heute ein geachteter und viel diskutierter Mann. Dagegen wird seine Rolle als Historiker eher gering geschätzt.32 Dies gilt besonders für sein erfolgreichstes historisches Werk: die erstmals 1682 publizierte Einleitung zu der Historie der Vornehmsten Reiche und Staaten / so itziger Zeit in Europa sich befinden.33 Friedrich Meinecke behandelt es bezeichnenderweise nicht in der Entstehung des Historismus, sondern in der Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte.34 Zwar sei die Einleitung ein bemerkenswerter Versuch, »Geschichte, Staaten- und Völkerkunde und Interessenlehre miteinander zu verbinden«, doch ebenso erweise sich, »daß die neue Interessenlehre mit dem überlieferten geschichtlichen Wissen sich ebensowenig organisch zu verbinden vermochte, wie mit Ganz generell eröffnet vielleicht der Blick auf die Rezeption von Pufendorfs Naturzustandstheorem im Kontext des aufgeklärten historischen Interesses eine interessantere Perspektive als der Versuch, das Problem, ob und inwiefern Pufendorf seinen Naturzustand historisch verstand, über eine streng immanente Auslegung seiner Werke lösen zu wollen. Die Arbeiten zur Wirkungsgeschichte Pufendorfs konzentrieren sich vor allem auf seine Rezeption innerhalb des Naturrechtsdenkens und der politischen Theorie. Über die zeitgenössische Diskussion in Form von Rezensionen, Dissertationen und Briefwechseln informiert Palladini (Discussioni seicentesche su Samuel Pufendorf ), die auch den Auktionskatalog der Versteigerung von Pufendorfs Bücherbesitz ediert und kommentiert hat (La Biblioteca di Samuel Pufendorf. Catalogo dell’asta di Berlin del settembre 1697, Wiesbaden 1999). Speziell zum Toleranzkonzept Pufendorfs und seiner Wirkung vgl. Simone Zurbuchen, Naturrecht und natürliche Religion. Zur Geschichte des Toleranzproblems von Samuel Pufendorf bis Jean-Jacques Rousseau, Würzburg 1991. Einen Überblick zur Wirkungsgeschichte Pufendorfs gibt Behme, Samuel von Pufendorf, 183 ff. 32 Vgl. den Forschungsbericht zu Pufendorf als Historiker bei Döring, Pufendorf-Studien, 143 ff. (zur im folgenden untersuchten Einleitung 144). 33 Hier benutzt in der 2. Aufl.: Zum andernmal gedruckt und verbessert, Frankfurt a. M. 1683. 34 München u. Berlin 1929 (3. Aufl.), 287 ff. 31

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der allgemeinen Staatslehre«. Auch in der gründlichsten Arbeit über die deutsche Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert von Peter Hanns Reill dient Pufendorfs Text nur als Beleg des »antihistorical sense of time« und die Krise des historischen Bewußtseins am Beginn der Aufklärung.35 Pufendorfs Rolle als Staats- und Gesellschaftstheoretiker übertrumpft die des Historikers allerdings erst in der modernen, von besonderen Disziplininteressen geleiteten Perspektive. In seiner Zeit dagegen gab es zwischen naturrechtlichem und historischem Interesse einen engen Zusammenhang. Das kann eine Untersuchung des Kontextes der Einleitung und ihrer Wirkung verdeutlichen. Pufendorfs Einleitung ist vor allem eine Staatenkunde und orientiert sich an den Darstellungsregeln und Zwecken dieses frühneuzeitlichen Literaturtyps, die das politische Handeln empirisch fundieren sollte.36 Doch ließ sich der Text auch als Universalhistorie lesen und benutzen. Denn Pufendorf thematisiert einleitend, wenngleich äußerst knapp, die vier Monarchien der traditionellen Universalhistorie. Im einzelnen werden Assyrien, Persien, Griechenland (mit Makedonien und Karthago) und Rom, also die Folge der »klassischen« Universalmonarchien, behandelt.37 Allerdings ist für Pufendorf das römische Reich im Unterschied zur damals noch vorherrschenden Auffassung nur mehr eine historische Größe, wie schon die einleitenden Sätze unterstreichen. Die »alten Reiche« und besonders das römische Reich wolle er nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Relevanz für die »neuen Staaten« behandeln.38 Allein der Seitenumfang des Abschnitts über die »alten Reiche« (innerhalb des knapp neunhundertseitigen Textes nur fünfzig Seiten) verdeutlicht, daß bei Pufendorf die Neuere Geschichte im Fokus des Interesses steht. Eröffnet wird die Darstellung der Alten Geschichte mit einer Erörterung der Anfänge (»Aeltester Zustand deß menschlichen Geschlechts nach dem Fall«),39 ein zwar ebenfalls nur kurzer Abschnitt, doch die Art und Weise, wie Pufendorf hier die Anfänge der menschlichen Geschichte skizziert, unterscheidet sich deutlich von der

Peter Hanns Reill, The German Enlightenment and the Rise of Historicism, Berkeley-Los Angeles-London 1975, 14 ff. 36 Vgl. die Beiträge in: Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit vornehmlich im 16.–18. Jahrhundert, hg. v. Mohammed Rassem u. Justin Stagl, Paderborn u. a. 1980. Zu Pufendorfs Einleitung als Staatenkunde die Charakterisierung bei Horst Dreitzel, Absolutismus und ständische Verfassung in Deutschland. Ein Beitrag zu Kontinuität und Diskontinuität der politischen Theorie in der frühen Neuzeit, Mainz 1992, 70 f. 37 Vgl. Pufendorf, Einleitung zu der Historie, 1–51. 38 Pufendorf, Einleitung zu der Historie, 1; zu Pufendorfs Bedeutung als Kritiker der Monarchienlehre Arno Seifert, Der Rückzug der biblischen Prophetie von der neueren Geschichte. Studien zur Geschichte der Reichstheologie des frühneuzeitlichen deutschen Protestantismus, Köln u. Wien 1990, besonders 107 ff. 39 So die Randglosse zum ersten Abschnitt (Pufendorf, Einleitung zu der Historie, 1). 35

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Methode, die für das universalhistorische Modell in der frühen Neuzeit konstitutiv war. Während die im 16. Jahrhundert (durch Johann Carion/Philipp Melanchthon und Johannes Sleidan) reformierte Universalhistorie die Frühgeschichte des Menschen eng am Text der Bibel beschreibt, ist die biblische Historie für Pufendorf nur der gleichsam leere Rahmen für eine ganz andere Geschichte. Am Anfang des menschlichen Geschlechts, heißt es in der Darstellung der »ersten Zeiten der Welt«, gab es noch keine »Staaten / als itzo sind«. Jeder »Haußvater« regierte souverän über »Weib / Kinder und Gesinde«. Hätten nämlich schon damals geordnete »bürgerliche« Staaten existiert, ließe sich das Entstehen der »abscheulichen Unordnung« nicht erklären, durch die Gott gezwungen war, die Menschen mittels der Sintflut zu bestrafen. Die Begründung lautet: »Wie denn nach eingerichteten Republicquen die Menschen niemahls wiederumb durchgehends in ein solches wüstes Wesen verfallen / daß Gott demselben nicht anders als mit einer allgemeinen äussersten Straffe steuren können / ungeachtet die innerliche Wurtzel deß bösen so wohl nach / als vor der Sündfluth sich kräfftig befunden«.40 Der »Stand der abgesonderten und einzelnen Haußväter«, folgert Pufendorf, scheint bis »geraume Zeit nach der Sündfluth« gedauert zu haben. Erst die durch Bevölkerungsvermehrung anwachsende Rechtsunsicherheit vereinigte die Nachbarn zu gegenseitiger Hilfe und führte dazu, die Regierungsgewalt auf einen Menschen zu übertragen, der »an Verstand und Tapfferkeit« die andern zu übertreffen schien.41 In welchem Jahr die ersten »bürgerlichen Gesellschaften« entstanden, ist ungewiß, daß aber die älteste »Republik« die Demokratie gewesen zu sein scheint, ergibt sich für Pufendorf aus der Struktur und der Funktionsweise früher Gesellschaften.42 Jedenfalls muß es vor dem assyrischen Reich, das allgemein als die älteste Monarchie gelte, kleinere Staaten gegeben haben, denn »wie alle menschliche Dinge bey ihren Anfang nicht alsobald volkommen sind / also waren auch die ersten Staaten gemeiniglich gar schlecht und einfältig eingerichtet / biß sich nach der Hand die Stücken der höchsten Bürgerlichen Gewalt in ihrer Vollkommenheit hervorgewiesen / auch die zu Erhaltung eines Staates dienliche Mittel / Ordnungen und Gesetze ausgefunden worden«.43 Ebd., 1 f. Ebd., 2 f. 42 Vgl. ebd., 4: Das Amt der »Richter / Obristen und Anführer«, denen die »Regierung der Gesellschaft« übertragen wurde, »ist allgemach in eine solche Art der Regierung erwachsen / die Aristoteles ein Heroisch Reich nennet / so nichts anders ist / als eine democratie mit einem sothanen vornehmen Bürger / der mehr Ansehen etwas zu rathen / als Macht nach seinem Belieben zu befehlen hatte. Und scheinet dieses die älteste Art von Republicquen zu seyn; angesehen die Haußväter nicht so stracks ihre natürliche Freyheit vergessen können / daß sie ja zum wenigsten nicht wollten ihre Meynung und Beyfall geben zu den Schlüssen / so im Nahmen der gantzen Gesellschafft solten gefasset werden«. 43 Ebd., 5. Die Ursache, warum es in Assyrien zur ältesten Monarchie kam, scheine zu sein, daß 40 41

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Die Auffassung der gegenwärtigen Staatenwelt als eines Funktionszusammenhangs politischer Interessen und nationaler Besonderheiten, die Pufendorfs Historie der Vornehmsten Reiche und Staaten / so itziger Zeit in Europa sich befinden regiert,44 verändert die universalhistorische Perspektive. Die historische Analyse hat von der Neueren Geschichte auszugehen, muß deren besondere Konstellationen empirisch exakt erfassen. In der Vorrede zur Einleitung hat Pufendorf den Primat der Neueren Geschichte in einer Kritik der herrschenden Praxis historischer Wissensvermittlung an Gymnasien und Universitäten eingefordert. Gewöhnlich behandle man nur die »alten Historici«, heißt es da, dagegen werde die »Historie der neulichen Zeiten« vollständig ausgeblendet: »Nun kan ich nicht absehen / was Cornelius Nepos, Curtius, und die erste decas Livii für ein so groß Liecht geben können in den Geschäften / so in der heutigen Welt vorkommen / wenn man auch gleich solche auf einen Nagel wüste herzusagen / und noch darzu über alle Phrasen und Sententias einen Indicem locupletissimum gemacht hätte«.45 Pufendorfs Kritik ist Ausdruck der Veränderungen, denen das historische Interesse seit dem 17. Jahrhundert unterworfen war. Die dem Bedarf an differenzierten Analysen gegenwärtiger machtpolitischer Konstellationen korrespondierende Aufwertung der Neueren Geschichte führte zur Etablierung neuer historischer Gattungen und damit verbunden auch zu neuen Formen und Praktiken universitärer Wissensvermittlung wie der Staaten- und Reichshistorie.46 Die im humanistisch-rhetorischen Kontext privilegierte antike Historie büßte ihre beherrschende Stellung ein.47 Daß hinsichtlich ihres Nutzens die »Scriptores historici recentes« den »Scriptores historici veteres« vorzuziehen sind, wurde im Kontext politischer Interessen seit dem 17. Jahrhundert häufig vertreten.48 Bei Pufendorf findet dieses Argument (und die Kritik an »die Menschen zu erst in selbiger Gegend gewohnet / und sie angefüllet«, andere Gegenden dagegen dünner besiedelt waren: »Darnebenst auch jene bessere cultur und Vermögen gehabt / als diese / welche mit Erbauung des wüsten Landes beschäftig waren« (ebd. 6). 44 Bei der Historie der einzelnen Staaten, so Pufendorf in seiner Vorrede, wolle er erläutern, »was man insgemein meldet von jeder Nation guten und bösen Qualitäten […] Item von Beschaffenheit / Stärcke / und Schwäche der Länder / und dero Regiments-Form« sowie auch das »Interesse jedes Staates« bestimmen, »weil dieses das Fundamentum ist / woraus man urtheilen muß / ob etwas in Staats-Sachen wohl oder übel gethan seye« (Einleitung zu der Historie, unpag. Vorrede). Dazu Dreitzels Analyse der Einleitung unter dem Gesichtspunkt von Pufendorfs Beurteilung des französischen Absolutismus (Absolutismus und ständische Verfassung in Deutschland, 70 ff.). 45 Pufendorf, Einleitung zu der Historie, Vorrede (unpag.). 46 Vgl. Notker Hammerstein, Reichshistorie, in: Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, hg. v. Hans Erich Bödeker u. a., Göttingen 1986, 82–104. 47 Vgl. für das französische 18. Jahrhundert Chantal Grell, L’histoire entre érudition et philosophie. Etude sur la connaissance historique à l’âge des Lumières, Paris 1993, 125 ff. 48 Etwa von Johann Christoph Becmann. Allerdings setzt dieser spezielle Nutzen (noch) kei-

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der privilegierten Alten Geschichte) eine radikale Zuspitzung. Die politische Welt hat sich nach Pufendorf seit der Antike grundlegend verändert. Um sich in ihr zu orientieren, ist ein differenziertes Verständnis der gegenwärtigen europäischen Staatenund Mächtekonstellation erforderlich. Diesem Zweck kann ein universalhistorisches Ordnungsmodell nicht genügen, in dem die Historien als zeitlose Orientierungsinstanzen individueller und sozialer Erfahrung verbucht werden. Pufendorf reduziert und konzentriert deshalb das universalhistorische Interesse auf die Frage nach der Genese der Gegenwart, deren Differenz zur Vergangenheit herausgearbeitet werden muß, um die Komplexität der besonderen historischen Entstehungsbedingungen zu begreifen. Unter dem Gesichtspunkt der Relevanz für die Gegenwart ist die biblische Frühgeschichte, sieht man von zwei Stichworten (»Fall« und »Sündfluth«) ab, bedeutungslos geworden. In dieser Hinsicht, im Blick auf die gegenwärtige Politik und Gesellschaft, vertraut Pufendorf auf das rationale Erklärungsmodell des Naturzustands, in dem die Erörterung des Ausgangspunkts der menschlichen Geschichte von der Frage nach der Genese der modernen Gesellschaft und Kultur regiert wird.

2. Skepsis und politik-historisches Interesse: Johann Peter Ludewig Pufendorfs Einleitung zu der Historie der Vornehmsten Reiche und Staaten hatte einen durchschlagenden Erfolg. Doch der Text war nicht unproblematisch, und er war, gemessen am Standard historisch-philologischer Gelehrsamkeit, ein schnell zusammengeschriebenes Produkt, in weiten Teilen eine reine Kompilation ohne gelehrte Nachweise. Seine große, im folgenden zu untersuchende Wirkung dokumentieren die zahlreich publizierten Neuauflagen, Fortführungen, Übersetzungen, Erläuterungen und Kommentare. Unter den Kommentatoren sticht ein Gelehrter besonders hervor: Johann Peter Ludewig. Ludewig gehört zu den frühesten Kommentatoren Pufendorfs, und er hat nicht nur die ausführlichsten, sondern auch die interessantesten Kommentare geschrieben. Den ersten von Pufendorfs Einleitung inspirierten Text verfaßte der als Rechtsprofessor und einflußreicher Ratgeber des brandenburgpreußischen Hofs berühmt gewordene (und in den Reichsadel erhobene) Gelehrte 1693 als junger Magister und Adjunkt an der philosophischen Fakultät der neu gegründeten Universität Halle. Ludewig (1668–1743) hatte in Tübingen und Wit-

neswegs die generelle Formel Historia magistra vitae außer Kraft, denn, so Becmann, mögen auch die »Scriptores historici recentes« »res tempori nostro propiores eoque notiores & usui aptiores tradunt«, so vermitteln sie dennoch nichts Neues: »Perpetuae enim Veritatis est illud: Nihil novi sub Sole: Et luditur nunc eadem fabula, quae olim, eaedemque virtutes atque eadem vitia repraesentantur: Tantum personae mutatae sunt, sed quae doctum & prudentem spectatorem desiderant« (Meditationes politicae, Editio tertia, Frankfurt a. O. 1679, Cap. I, § X).

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tenberg die Humaniora und Theologie studiert und kam mit dem 1692 berufenen Juristen Samuel Stryk nach Halle.49 Nach seiner Tätigkeit als Adjunkt erhielt er dort 1695 eine Professur für theoretische Philosophie und 1703 (als Nachfolger von Christoph Cellarius) den Lehrstuhl für Geschichte und Beredsamkeit. Nach der Promotion zum Dr. iur. stieg er 1705 in die juristische Fakultät auf, wo er bis zu seinem Tod lehrte. Historia sine parente 50 heißt der Obertitel des kurzen Textes von 1693. Ein direkter Bezug zu Pufendorfs Einleitung findet sich dort nur in der Widmung an vierzehn »Illustrissimi ac generosissimi domini«, die an einem von Ludewig veranstalteten »Collegium Pvfendorfianum Historicum« teilgenommen hätten.51 In dieser Widmung teilt Ludewig mit, seine Abhandlung erläutere die Gründe für die Schwierigkeit, die er öfters bei der Erklärung von Pufendorf berührt habe, nämlich daß die Historien hinsichtlich der Ursprünge mangelhaft seien.52 Das angesprochene Collegium diskutierte Pufendorfs Einleitung. 1695 wurde Ludewigs Kommentar unter dem TiDie Universität Halle wurde zwar erst am 12. Juli 1694 feierlich eröffnet, doch der Vorlesungsbetrieb hatte schon früher begonnen. Weitere Stationen der steilen Karriere Ludewigs: 1704 brandenburg-preußischer Hofhistoriograph, 1718 Ernennung zum Geheimen Rat, 1719 Erhebung in den erblichen Adelsstand, 1741 Kanzler der Magdeburgischen Regierung; vgl. Notger Hammerstein, Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert, Göttingen 1972, 155 ff. (zu Stryk) u. 169 ff., sowie den Lexikonartikel von Bernd Roeck, in: NDB 15 (1987) 293–295. 50 M. Johannes Peter Ludewig (Praes.) / Laurentius Zernotte (Resp.): Historia sine parente. De causis fabularum circa origines, Halle 1693. Knappe Hinweise auf den Text finden sich bei Markus Völkel (»Pyrrhonismus historicus« und »Fides historica«. Die Entwicklung der historischen Methodologie unter dem Gesichtspunkt der historischen Skepsis, Frankfurt a. M. u. a. 1987, 177/Anm. 41) und Seifert (Von der heiligen zur philosophischen Geschichte, 105/Anm. 54a), allerdings mit ungenauen bzw. widersprüchlichen Angaben zum Erscheinungsjahr. Nachgedruckt wurde er in: Johann Peter Ludewig, Opvscvla miscella, 2 Bde., Halle 1720, Bd. 2, Sp. 475–494 (ohne Widmung, jedoch besitzen in dieser Ausgabe die einzelnen Paragraphen eigene Überschriften); sowie in: Johann Peter von Ludewig, Dissertationes selectae, 3 Bde., Halle 1748, Bd. 1 (die einzelnen Dissertationen sind hier extra paginiert). Die zuletzt genannte Ausgabe, die sich mit Ausnahme einer erweiterten Widmung, eigener Paginierung und neuem Satzspiegel nicht vom Exemplar der Erstausgabe unterscheidet, ist auf dem Titelblatt als Nachdruck einer Ausgabe Halle 1739 gekennzeichnet, die mir nicht zur Verfügung stand. Im folgenden wird, falls nicht anders vermerkt, nach der Erstausgabe von 1693 zitiert. 51 Die Namen der einzelnen »Domini« (vier davon sind Grafen bzw. Barone) sowie die Erläuterung »Collegii Pvfendorfiani Historici avditoribvs lectissimis ventvri secvli deliciis dominis meis omni cvltv svspiciendis« finden sich allerdings nur im Nachdruck der Historia sine parente von 1748. 52 Ludewig, Historia sine parente, (unpag.) Nachwort (»Illustrissimi ac Generosissimi Domini« überschrieben): »Neqve haec legisse Vos poeniteat & in memoriam revocasse; cum, qvae originum in historiis difficultas sit, saepius in Pufendorfii explicationibus dixerim; cujus hic rei causas invenitis«. 49

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tel Erleuterung über S. Pufendorffs Einleitung zur Historie gedruckt. Doch zunächst zur Historia sine parente, zu Ludewigs Text von 1693 über den ungewissen Anfang, genauer: über das ungesicherte Abstammungsverhältnis der Geschichte.

A. Die Entstehung der Fabeln Ohne Zeugnisse keine Geschichte. Zuverlässige Zeugnisse aber fehlen, fragt man nach den Ursprüngen der Völker, und keine noch so große Anstrengung kann sie ersetzen. Erkennt man diese unüberwindliche Schwierigkeit nicht an, führt das verzweifelte Streben nach sicherem Wissen zu Fiktionen, zu Projektionen des Ingeniums. Dagegen ermöglicht es die Anerkennung des Mangels, das Nichtwissen produktiv zu überwinden. Man wird vorsichtiger und umsichtiger, kurzum: man wird zum kritischen Historiker, der zu differenzieren gelernt hat, seine Enttäuschung methodisch diszipliniert und zum Zweck der Erforschung von »vera historiarum monumenta« fruchtbar macht.53 Was Ludewigs Eingangsrede zum Problem der ungewissen Anfänge der Geschichte ausführt, läßt sich als früher Kommentar zur konstruktiven Wirkung und Funktion der historischen Skepsis im Kontext einer fragwürdig gewordenen Gewißheit historischer Überlieferung lesen. Diesen Gesichtspunkt hat Markus Völkel im Blick auf die deutsche Diskussion zur historischen Skepsis differenziert herausgearbeitet und damit die negative Beurteilung der historischen Skepsis, also die vorherrschende Auffassung der Forschung, daß erst deren Überwindung zur Etablierung moderner Geschichtswissenschaft geführt habe, konterkariert.54 Der Maßstab absoluter Gewißheit führt auf dem Gebiet der Geschichte in die Irre: erst die Anerkennung des prinzipiell prekären Status historischer Überlieferung, die Anerkennung ihrer Unvollständigkeit und Bruchstückhaftigkeit, setzt in der Geschichte die methodische Forschung in Gang. Eine Einsicht, die sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts mehr und mehr durchsetzen und entscheidend zur Konstituierung von Geschichte als einer autonomen Ebd., Vorspann: »OPeram pleriqve perdunt, qui eam in gentium origines insumunt. Ipsa enim hic ratio delirat, curiosa nimis, neqve ingenium aliqvid, aut judicium valet; nisi testibus rerum idoneis instructum firmatumqve. Hi vero cum deficiant; ipsa historiarum initia deficiunt, nulla hominum industria resarcienda. Mittimus igitur desperatum laborem, cautius ac circumspectius facturi: si causas rationesqve insuperabilis hujus difficultatis, non ingenio nostro fingamus; sed ex veris eruamus historiarum monumentis«. 54 Vgl. Völkel, »Pyrrhonismus historicus«, 338 ff. Bei Völkel findet sich auch ein Abschnitt über Ludewigs Skepsis gegenüber der »fides archivorum«, die dieser, Samuel Pufendorfs Geschichtsschreibung verteidigend, in einem gelehrten Streit mit dem Weimarer Archivvorstand Tobias Pfanner formulierte, indem er seine Erfahrungen als Teilnehmer der Friedensverhandlungen von Rijswijk (1697) in Anschlag brachte (ebd., 189 ff.). 53

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Wissenschaft mit eigenständigen Erkenntnisinteressen und Methoden beitragen wird.55 Geschichte, soweit man etwas über sie sagen kann, beginnt mit zuverlässigen Zeugnissen, d. h. noch für das 18. Jahrhundert vor allem mit schriftlich fixierten Erzählungen über Handlungen und Geschehnisse der Vergangenheit, mit überlieferter Geschichtsschreibung also, deren Authentizität nach den Kriterien der »fides historica« sichergestellt werden mußte. Die Privilegierung der Geschichtsschreibung innerhalb der überlieferten Quellen verdeutlichen die zur Ermittlung der »fides historica« entworfenen Kriterienkataloge, die auf die Analyse narrativer Quellen zugeschnitten sind. Dokumentarischen (antiquarischen) Quellen sowie auch archäologischen Grabungen kommt zwar für die Rekonstruktion der mittelalterlichen und neueren Geschichte eine wachsende Bedeutung zu.56 Doch was im 18. Jahrhundert als dokumentarische (sowie schriftlose) Quelle für die früheste Geschichte aufgefaßt und wie eine solche Quelle ausgelegt wurde, war abhängig vom biblischen Bericht über die Anfänge der Geschichte bzw. von dessen Auslegung sowie davon, welches Korrespondenzverhältnis zwischen Bibel und profanen Ursprungsmythen angenommen wurde.57 Unter diesen Vorzeichen problematisiert Ludewig die Ursprünge der Geschichte, d. h. diejenigen überlieferten Texte, die vorgeben, darüber etwas auszusagen. Kann man diesen Texten tatsächlich sichere Nachrichten über die ersten Anfänge der menschlichen Geschichte und die Ursprünge der Völker entnehmen? Man kann es nicht, sagt Ludewig. Dabei geht es ihm nicht darum, ob die verschiedenen Erzählungen vom Ursprung der Geschichte bisher falsch ausgelegt wurden oder ihr Korrespondenzverhältnis (untereinander und zum biblischen Bericht) nicht richtig bestimmt wurde. Ludewig fragt prinzipieller: Können die Aussagen dieser Texte überhaupt als authentische Zeugen für die Ereignisse, Zustände oder auch: die Kultur und Wissenschaft der ältesten Zeiten vernommen werden? Unter dieser, im Blick auf die Maßstäbe der modernen historischen Kritik naiven Voraussetzung arbeitete die ansonsten oft hochkomplexe Auslegung sowohl profaner als auch heiliger Texte zur Frühgeschichte. Will man die überlieferten Texte als authentische Zeugen vernehmen, müßten sie entweder schon damals aufgezeichnet worden sein oder aber ihre Dazu Verf., »Im Griff der Geschichte«. Vgl. etwa den Grabungsbericht des Marburger Professors für Geschichte und Beredsamkeit Johann Hermann Schmincke: Dissertatio historica de vrnis sepvlchralibus et armis lapideis vetervm Cattorvm, Resp.: Johannes Österling, Marburg 1714; ein Nachdruck mit deutscher Übersetzung erschien, hg. u. erläut. v. Wilhelm Niemeyer, als Heft IV der Kurhessischen Bodenaltertümer, Marburg 1964. 57 Zur Deutung der sogenannten »Altertümer« in der frühen Neuzeit den Überblick bei Manfred Petri: Die Urvolkhypothese. Ein Beitrag zum Geschichtsdenken der Spätaufklärung und des deutschen Idealismus, Berlin 1990, 74 ff. 55 56

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Aussagen über die Anfänge der Geschichte verdanken sich einer Tradierung, die bis zu ihrer schriftlichen Fixierung in den gegenwärtig überlieferten Fassungen hinsichtlich ihrer Authentizität nicht verfälscht worden sind. Beide Prämissen stellt Ludewig in Frage. Zunächst die Möglichkeit einer primären schriftlichen Überlieferung historischer Ereignisse und Zustände der frühesten Zeiten. Dagegen spricht der primitive Ursprung der menschlichen Geschichte. Die ersten Menschen lebten ohne Schrift und Zivilisation (»humanitas«). Deshalb waren sie überhaupt nicht in der Lage, schriftliche Historien zu verfassen und zu überliefern.58 Zwar möchte er, räumt Ludewig sogleich ein, nicht so weit gehen wie Lukrez, Diodor, Vitruv, Horaz und andere, welche die ersten Menschen als taube und stumme Wesen, die nach der Gewohnheit wilder Tiere in Wäldern und Höhlen lebten, beschreiben und die menschliche Fähigkeit zu sprechen als bloßes Produkt eines Vergesellschaftungsprozesses begreifen.59 Das widerspreche dem biblischen Bericht. Mit dem »heiligen Kodex« ist unbedingt davon auszugehen, daß Gott Adam von Anfang an die Sprache lehrte und Adam wiederum seinen Söhnen.60 Daß die Sprache keine natürliche Eigenschaft des Menschen ist, er sie sich vielmehr durch Gebrauch aneignen muß, ist aber auch das Argument des Lukrez, welches auf Grund seiner empirischen Evidenz besonderes Gewicht hat.61 Ludewig stellt verschiedene Beschreibungen und Erklärungen des Anfangs der menschlichen Geschichte zur Diskussion. Und in Abwägung der unterschiedlichen Argumente versucht er die Schlußfolgerungen einander anzunähern, die sich aus der biblischen Offenbarung und »natürlichen« (Erklärungs-)Modellen eines primitiven Ausgangspunktes menschlicher Zivilisation ergeben, wie ihn etwa Lukrez in De rerum natura 62 ausgemalt hatte. Als entscheidendes Verbindungsglied dient Ludewig dabei ein Argument, das in der Auseinandersetzung zwischen theologischen und naturrechtlichen Ursprüngen des Menschen seit Pufendorfs Naturzustandstheorem besonLudewig, Historia sine parente, § I: »AC in principio qvidem antiqvam ac simplicem vitae humanae rationem, qvae ultima illa primorum hominum aetate obtinuit, historiis condendis nec suffecisse, nec sufficere potuisse, ille demum sentiet; qvi hujus artis momenta expendit, & cogitat simul, qvam alieni tunc ab omni literarum & humanitatis genere fuerint mortales«. 59 Ebd. (im Anschluß an die Anm. 58 zitierte Stelle): »Eqvidem non eo impudentiae progredior, ut Lucretius, Siculus, Vitrivius, Horatius aliiqve fecerunt. Hi enim primos homines, surdos plane ac mutos, ferarum more, in sylvis ac cavernis, locisqve inaccessis aliis delituisse scribunt; orationem vero longam demum inter illos consvetudinem effeciste; qva tandem conjuncti inter se sociatiqve sint« (zu den angeführten antiken Autoren finden sich in den Anmerkungen jeweils ausführliche Zitate der einschlägigen Stellen). 60 Ebd.: »Sed Deo magistro orationem Adamum ab initio didicisse, filios qve docuisse, cum sacro codice utiqve statuendum est«. 61 Ebd.: »Satis enim ponderis Lucretii habet argumentum, qvo sermonem nemini naturalem esse contendit, cum & hodie eum infantes usui debeant, & semper debuerint ante«. 62 Vgl. Lukrez, De rerum natura, 5. Buch. 58

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dere Brisanz gewonnen hatte: das Modell vom Sündenfall des Menschen.63 Der Sündenfall nämlich ließ sich hinsichtlich seiner Konsequenzen für die dadurch veränderte conditio humana als gleichsam zweiter (oder überhaupt: als wahrer) Beginn menschlicher Geschichte auslegen, für den Not, Simplizität und Unwissenheit charakteristisch sind. Eben dies ist Ludewigs Konzept: »Mit Gewißheit nämlich steht fest, daß die Menschen nach dem Sündenfall völlige Tölpel waren, von Natur ganz und gar unerfahren in den vornehmen Künsten, außer daß sie den Pflug und das Pflügen beherrschten, obwohl es sogar hier nicht sicher ist, ob wir ihnen diese Fähigkeit tatsächlich zuschreiben dürfen. Dies lehrt Moses, und alle Weiseren sowie die Historie bekräftigen es, ja jeder kann sich auch mit seinen Sinnen davon überzeugen, daß die Künste sich dem Gebrauch und einer kontinuierlichen Folge von Beobachtungen verdanken, welche viele Jahrhunderte hindurch angestellt wurden«.64 Es ist dies eine Auslegung des Pentateuch im Lichte vernünftiger, naturrechtlicher sowie pragmatischer und empiristischer Evidenzen, die dann im frühen 18. Jahrhundert von Christian Thomasius bis Christoph August Heumann für die Frühgeschichte menschlicher Lebensverhältnisse, besonders für die Anfänge der Wissenschaften ausgearbeitet und kritisch gegen die Vorstellungen eines perfekten Ursprungs gewendet werden (Näheres dazu im Teil III dieser Arbeit). Schon für Ludewig sind die Vorstellungen eines goldenen Zeitalters,65 von Adams perfektem Wissen,66 den natürlichen und himmlischen Alphabeten,67 von den Schriften Adams und denjenigen vorsintflut-

Vgl. Martin Mulsow, Gundling versus Buddeus. Different Strategies in Writing the History of Philosophy, in: History and the Disciplines: The Reclassification of Knowledge in Early Modern Europe, hg. v. Donald Kelley, Rochester, NY 1997, 103–125; in erweiterter Fassung jetzt auch Kapitel VII in Ders., Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720, Hamburg 2002, 309–353. 64 Ludewig, Historia sine parente, § I: »Cum tamen liqvido constet, homines post lapsum stipites plane ac rudes in bonis artibus, omnibus ac singulis natura fuisse; & praeter sulcum ac aratrum, si tamen vel hoc eis tribuere cum veritate possumus, scivisse. Id enim & Moses docet & sapientiores omnes, & historia confirmat, imo quivis etiam vel sensibus id judicat, qvum artes usui ac observationibus debeamus, diuturnis ac per multa secula continuatis«. 65 Vgl. die Fußnote zu den »Aurea secula« (ebd., Anm. f ). 66 Vgl. die lange Fußnote (g) über die Vorstellungen derjenigen, die Adam »rerum divinarum humanarumqve peritissimum, etiam post lapsum fuisse, palmam, si nunc viveret, illis quoqve praerepturum, qvi multum se hodie in iis studiis profuisse putent, mira qvadam animi levitate existimant«. Auch hier betont Ludewig die durch den Sündenfall gänzlich verlorene (göttliche) sapientia, so daß gelte: »Nec ultra sapere Adamus potuit miserum post lapsum, qvam hodie nullis artibus edoctus, nullo usu exercitatus homo«. In der Ausgabe von 1720 heißt schon die Überschrift des ersten Paragraphen »Ignorantia Adami et primi aevi«. 67 Dazu die Fußnoten »Helmontii Alphabetum naturale« und »Alphabetum coeleste« (Ludewig, Historia sine parente, § I/Anm. h u. i). Der Mediziner und Kabbalist Franz Mercurius van Hel63

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licher Patriarchen sowie von den Säulen Seths68 nur mehr Ausdruck »ingeniöser« Projektionen und Fiktionen. Und für die Begründung der These, daß Schrift in den ältesten Zeiten unbekannt war und deshalb aus dieser Zeit keine Historien und Handlungen an die Nachwelt überliefert werden konnten,69 findet sich in einer langen Fußnote der Grundstock der Argumente und Beweisgänge, mit welchen dann die Philosophiehistoriker der deutschen Frühaufklärung operieren werden, einschließlich des Verweises auf die schriftlosen Völker der Neuen Welt, Gegenstand der längsten Fußnote von Ludewigs Historia sine parente, die sich über neun eng bedruckte Spalten hinzieht.70 Für Ludewig steht fest: Historische Darstellungen der Anfänge menschlicher Geschichte gründen nicht auf Originalzeugnissen. Daß aber tatsächlich »von so vielen Jahrhunderten und Zeiträumen nicht bekannt ist, von welcher Art das Gemeinwesen und die Herrschaftsform waren«,71 führt die Widerlegung jener zweiten Prämisse vor, der Nachweis also, daß die überlieferten Nachrichten über die ältesten Zeiten auch keine späteren (sekundären) Aufzeichnungen einer unverfälscht weitergegebenen Überlieferung sein können, vielmehr in Wirklichkeit über die Anfänge der Geschichte und die Ursprünge der Völker nur Fabeln erzählen. Zwar ist, so der Ausgangspunkt dieser Beweisführung, von Anfang an von einer mündlichen Überlieferung auszugehen, durch welche die Erinnerung an die ältesten Zeiten zunächst präsent blieb.72 Doch das Erinnerungsvermögen stieß bald an seine Grenzen, die Übermont verfaßte: Alphabeti vere naturalis Hebraici brevissima delineatio, Sulzbach 1667 (vgl. Borst, Der Turmbau von Babel, Bd. 3, Tl. 1, 1363). 68 Dazu die Fußnoten »De Scriptis Adami«, »De Sethi columnis«, »Scripta Enosi, Cainani« und »De Enochi libris« (Ludewig, Historia sine parente, § I/Anm. m u. § II/Anm. o, p, q, r). 69 Ebd., § I: »Verum ne literarum qvidem elementa cum sciverint ab initio mortales: qvi scribere tandem historias, resqve gestas literis ad posteritatem transmittere potuerunt«. 70 Vgl. »De Inventione Literarum« (ebd., Anm. l). Das Argument der schriftlosen Amerikaner führt Ludewig im Kontext der Auseinandersetzung mit der Auffassung ein, daß ohne Schrift kein Handelsverkehr möglich sei: »Exerceri enim haec sine scriptoria arte non potuisse praetendunt. Si ea commercia intelligunt, qvibus hodie regna regnis, regiones regionibus suos thesauros mutuo communicant, falsi penitus sunt & simplicitati primorum hominum, qvi unius regionis fructibus acqviescebant, contrarii. Si vero ad mutuam hominum familiaritatem haec applicant, magis ineptiunt; cum etiam tot mille annis America sine literis hominibus tamen abundaverit, qvas & hodie barbarorum magnus numerus ignorat«. Ludewig bezieht sich in seiner Kritik der Vorstellung einer vormosaischen Schriftlichkeit bzw. bei den dafür angeführten Belegen auch auf Johann Heinrich Ursinus (vgl. § II/Anm. o, r, s; § III/Anm. u); zu Ursinus als frühem Vertreter der These schriftloser Überlieferung Verf.: Der Ursprung der Schrift als Problem der frühen Neuzeit. 71 Ludewig, Historia sine parente, § II: »Igitur per tot seculorum aetates, tot temporum ac annorum spatia, qva ratione gesta respublica, & gubernatus orbis sit, notatum non est«. 72 Ebd.: »Qvae vero fama & auditione a patribus & senioribus aliis acceperant posteri, eadem & suis sermone filiis tradebant, hiqve rursus docebant ore alios: atqve vulgi sic fama, & multitudinis testimonio fides nitebatur historiae. Mansit tamen rerum memoria primis temporibus; cum patres,

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lieferung der Historie wurde lückenhaft.73 Ludewig entwickelt die Auflösung der »ganzen Wahrheit« als einen durch unterschiedliche Auffassungsweisen und die Kompensation von Nichtwissen angetriebenen Prozeß. Perspektivische Brechungen, die Substitution von Erinnerungslücken durch Dichtungen und die Vermischung von Wahrem und Falschem verursachten ein Gespinst unterschiedlicher Erzählungen und setzten so die Anfänge der Geschichte dem Zweifel aus.74 Je größer aber diese Ungewißheit wurde, je mehr wuchs auch das Bedürfnis nach Gewißheit. Aus dieser, gleichsam dialektischen Bewegung heraus entstanden die Fabeln über die ältesten Zeiten, deren Ungewißheit durch die Fiktion sicheren Wissens verhüllt wurde, eine Verhüllung der Wahrheit, die sich in späteren Zeiten noch dadurch verstärkte, daß man den »ältesten Vätern« gefälschte Schriften unterschob.75 Aus dem Szenarium von Fabeln und Verfälschungen, die Ludewig in ihrer Genese als Kompensation des ungewiß gewordenen Anfangs der Geschichte rational entlarvt und, wie einige Jahre zuvor der Niederländer Antonius van Dale und der französische Frühaufklärer Fontenelle,76 als religiösen Betrug und Aberglauben dein tanta plurimorum seculorum aetate, oculati plerorumqve testes essent, & vivae instar bibliothecae«. 73 Ebd. (im Anschluß an die Anm. 72 zitierte Stelle): »at vero post demum sensa difficultas est; ubi arctioribus non solum vita humana finibus terminabatur: sed etiam rerum indies ordo crescebat, & in immensum historia augebatur. cui moli unius tandem hominis non suffecit memoria. Tum ergo lacunis & defectibus laborare coepit historia«. 74 Ebd. (im Anschluß an die Anm. 73 zitierte Stelle): »Dissensiones etiam ac varietates inde ortae sunt: qvod narrationes suo non omnes judicio asseqverentur; plures memoria illas magnam partem amitterent, aliis negotiis districti; alii contra in locum earum figmenta substituerent, & bona malis, vera falsis miscerent, atqve omnem ita perderent veritatem. Qvare fieri aliter non potuit qvam ut res alii sic, alii secius, nec iidem semper uno modo narrarent: donec dubiae penitus fidei omnes factae narrationes peritioribus sunt; ipsisqve fabulis causam dederunt«. 75 Ebd. (im Anschluß an die Anm. 74 zitierte Stelle): »Has vero eo securius ac confidentius posteritas finxit; cum certiora deesse videret, qvae convincere falsitatis, & in ruborem eos dare possent. Et, qvo species tandem major figmentis esset, scripta supponebant, adulterinis patrum antiqvissimorum nominibus vestita. qva tamen sub larva recentiorum hominum foetidi errores, mira somnia ac aniles tandem fabellae latebant«. 76 Antonius van Dale, De oraculis ethnicorum dissertationes duae, Amsterdam 1683; Fontenelle, Histoire des oracles (zuerst 1686); Ders., De l’origine des fables u. Sur l’histoire (beide Texte wurden erst später gedruckt). In Sur l’histoire heißt es zu den frühesten Formen der Überlieferung analog zur Argumentation Ludewigs: »Les premiers hommes ont donc vu bien des prodiges, parce qu’ils étaient fort ignorans; mais parce qu’ils étaient hommes, ils les ont exagérés en les racontant, soit de bonne foi, pour ainsi dire, soit de mauvaise foi. Si ces récits sont déjà gâtés à leur source, assurément ce sera bien pis quand ils passeront de bouche en bouche. Chacun en ôtera quelque petit trait de vrai, et y en mettra quelqu’un de faux, et principalement du faux merveilleux, qui est le plus agréable; et peut-être qu’après un siècle ou deux, il n’y restera rien du vrai qui y était d’abord, et même peu du premier faux« (Bernard Le Bovier de Fontenelle, Sur l’histoire, in: Ders., Oeuvres complètes, hg. v. Georges B. Depping, 3 Bde., Paris 1818, ND Genf 1968, Bd. 2, 424–435, hier 424 f.).

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nunziert,77 ragt einzig die mosaische Urkunde heraus: »Einzig Moses bleibt übrig, der die ersten Anfänge der Schöpfung mit rechtschaffener und unbedingter Zuverlässigkeit beschreibt«.78 Daß Moses sowohl der »divinissimus« als auch der »antiqvissimus scriptor« ist, erläutert Ludewig in der Fußnote, hätten andere durch »luculentissima testimonia« bestätigt, so Hugo Grotius und Pierre-Daniel Huët.79 Dabei betreffe das Problem, ob Moses seinen Bericht in jener Ordnung abgefaßt habe, wie sie uns vorliege, oder der Text später verändert wurde (»an schedas, ejus alius ita digesserit post eum«), nicht dessen göttliche Autorität, wie Ludewig gegen Spinoza (»Atheus SPINOZA«) einwendet.80 Doch löst dieser besondere Vorzug des Moses das Problem der ungewissen Frühgeschichte keineswegs. Denn für Ludewig ist der mosaische Bericht nicht mehr ein einfacher Maßstab, mit dem die profanen Irrtümer erkannt und aufgelöst werden könnten. Moses nämlich »behandelt nur die bedeutendsten und wesentlichsten Dinge und faßt die ersten tausend Jahre äußerst knapp zusammen«. Dadurch aber geriet auch die Heilige Geschichte in den Sog des Irrtums: die Kürze der mosaischen Erzählung wurde mit »Faseleien« und »Auslegungen« überlagert und überzeichnet.81

Ludewig, Historia sine parente, § II (im Anschluß an die Anm. 75 zitierte Stelle): »Harum nihilominus rerum fraudes detegere & larvam subtrahere, pietas & religio prohibere, apud imperitum theologastrorum vulgus videbatur«. Jedoch: »Mansit igitur post tot secula de Adami Sethi Enosi Cainani Enochi Noachi, Chami & suppositiis scriptis aliis non levis etiam inter eruditos suspicio«. 78 Ebd., § III: »Unus Moses superest, qvi prima rerum conditarum initia bona ac simplici fide perscripsit«. 79 Vgl. Hugo Grotius, De veritate religionis christianae, Paris 1640, lib. I, 24: »Mosis quoque scriptis, quibus illa miracula memoriae prodita sunt, fidem maximam conciliat […] Accedit indubitata scriptorum Mosis antiquitas, cui nullum aliud scriptum possit contendere«; bei Pierre-Daniel Huët (Demonstratio evangelica ad serenissimum Delphinum, Paris 1679, Propositio IV, 38 f.) heißt es: »Ac ordiemur primum a Mosis Pentateucho: qui quoniam librorum omnium, qui supersunt, antiquissimus est […] Demum refellemus argumenta, quibus librorum Mosis oppugnari solet dignitas«. 80 Spinoza, so Ludewig, werde durch John Selden widerlegt; vgl. zu Seldens Position Michael Albrecht, Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, 189 ff. 81 Ludewig, Historia sine parente, § III: »Is vero cum summa tantum rerum capita tractet, & in primis mille annis concisus admodum ac brevis sit: homines, qvi hariolari uberiora in eo voluerunt; innumeris litibus, conjecturis suis ac divinationibus causam dederunt. gravi cum verioris historiae damno«. Aus den »tausend Meinungen« wolle er nur zwei auswählen, nämlich diejenigen des Isaac La Peyrère und des Spaniers Josephus Antonius Gonzalez (dessen De duplici viventium terra dissertatio paradoxica erschien Leiden 1650): »Nocet sane uterqve sua haeresi historiae. ille enim gentis Americanae aliarumqve origines ultra Adamum extendit: hic veteris Geographiae terminos confundit lumen ac columen historiae« (die beiden Positionen werden ausführlich in den Fußnoten u und x diskutiert). 77

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Ludewig führt den Streit der »tausend Meinungen« ganz analog zu jenem Prozeß vor, der zur allmählichen Verfälschung der urspünglich authentisch überlieferten Wahrheit von den Anfängen der Geschichte führte. Moses überlieferte zwar die legitimen Eltern der Geschichte, doch forderte die gelehrte Neugierde detailliertere Nachrichten. Sie mochte sich nicht auf die knappe Geschlechtergenealogie beschränken, die dem biblischen Bericht als ältester Urkunde zu entnehmen ist. Die Frage nach dem Ursprung der Geschichte ist für Ludewig kein bloß gelehrtes oder theologisches Problem. Sie betrifft das politische Selbstverständnis der Gegenwart, besonders die Begründung staatlicher Herrschaft. Vor allem dann nämlich, so Ludewig, beginnen die Historiker über die ungewissen Anfänge der Geschichte zu fabulieren, wenn es um die Ursprünge ihres eigenen Volkes geht.82 Welche Motive sie dabei antreiben83 und welche Funktion ihre Fiktionen im Kontext der Legitimation von Herrschaft besitzen, erörtert Ludewig unter dem Gesichtspunkt »De causis fabularum circa gentium origines« (so lautet der Untertitel der Historia sine parente). Je älter etwas ist, desto ehrwürdiger erscheint es den Menschen. Der Altersbeweis besitzt in der Vormoderne eine wichtige Funktion in der Legitimierung von politischer Macht; dies dokumentieren die Genealogien von Herrschern und Völkern, die ihre Ursprünge mit antiken und biblischen Geschlechtern verknüpfen. Der mit dem Alter verbundene Vorrang vor anderen, so Ludewig, stachelt den Hochmut der Menschen an und läßt den Wunsch entstehen, das eigene Volk auf ehrwürdige Ursprünge zurückzuführen.84 Eine weitere Ursache für die Herrschaft fabelhafter Vorstellungen,

Ebd., § IV: »Omnium vero creberrime in proximis a diluvio temporibus fabulantur. Orbem enim dum tribus Noachum filiis distribuisse e libri primi Mosis decimo capite colligunt: suae etiam eo gentis qvivis originem refert. In qvorum tamen nominum interpretatione parcius ac circumspectius faciendum est. cum prudentiores etiam in istis ineptire videamus«. »Ea in divisione cum Europam Japheto contigisse pro explorato«, heißt es in der Fußnote (y) zu 1. Mose 10, »omnes Europaei hunc suum aut patrem, aut avum faciunt, tantaqve confidentia nominibus istis, qvae Japheti filiis Moses tribuit, omne superstruunt suum; ac si gentium stirpes & genealogias per manus qvasi traditas a Japheti posteris accepissent. Tot igitur tamqve diversae expositiones hae sunt, cum suo qvilibet sensu abundet, & novam induat figmentis speciem«. Es folgt ein kritischer Literaturbericht zu diesem Thema, dessen Bedeutung im Kontext abendländischer Geistesgeschichte Arno Borst (Der Turmbau von Babel) herausgearbeitet hat (für die frühe Neuzeit die Abschnitte IV, 2–5 der Bde. 3/1 u. 3/2). Ludewigs Analyse ist hier in einzelnen Teilen stark vom Kapitel IX (Qua ratione populorum origines haberi possint) der Methodus ad facilem cognitionem historiarum Jean Bodins geprägt (benutzte Ausgabe Amsterdam 1650), der dort einleitend konstatiert hatte: »NVlla quaestio magis exercuit historiarum scriptores, quam quae habetur de origine populorum« (vgl. 359). 83 Ludewig, Historia sine parente, § V: »Sed historicos qvae tandem dementia egerit, ut fingerent haec talia, & ficta scientes seqverentur alii; explicandum nunc est«. In der Ausgabe von 1720 ist dieser Paragraph mit »Popvlorvm ambitio in fingendis originibvs« überschrieben. 84 Ebd. (im Anschluß an die Anm. 83 zitierte Stelle): »Primum ego hominum hic superbiam ac82

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die mit den Ursprüngen der Völker verknüpft werden, sind antike Schriftsteller, die ihr Unwissen dadurch verbargen, daß sie sich obskure Erzählungen ausdachten.85 Die wichtigste und nach Ludewig »zuverlässigste«86 Erklärung aber ergibt sich im Blick auf die Funktion der Ursprungsfabeln als Mittel zur Begründung und Absicherung staatlicher Herrschaft: »Weil nämlich die Ursprünge aller Völker und die Anfänge der Staaten armselig sind, zuweilen selbst die Stifter kaum bekannt sind, haben sich deren Nachkommen geschämt und deshalb an den Ursprung entweder Heroen oder Götter gesetzt«.87 Was aber Dichter, die – sieht man von Moses ab – ältesten Schriftsteller,88 fingierten und andere mit zweifelhaften Methoden als Ursprünge der Völker restituierten,89 daran hielt man als gewisse Tatsachen fest, weil den Irrtum die Dignität des Alters umgab, die Würde des eigenen Volkes davon abzuhängen schien und man vor den Abgründen ungewisser Anfänge zurückschreckte, die sich auftun, wenn man auf die fabelhaften Ursprünge verzichtet.90 Und in der Gegenwart verteidigt man ein fabelcuso. Qvo enim antiqviores eo & reliqvis honoratiores cum gentes mortalibus viderentur; omnes vetustatis speciem induere voluerunt. Hinc terrae se filios dixerunt Germani, Aborigines Itali Graeci *autochthonas; Aegyptii vero cum ipsis se Diis genitos esse affirmarunt. & ante Jovem se procreatos putarunt Arcades. Sed omnium tandem sibi aetatem superare Phryges visi sunt«. Die Fußnoten (z, a, b, c, d, e) dokumentieren diese Auffassungen mit antiken Belegen. 85 Ebd., § VI (in der Ausgabe von 1720 mit dem Titel »Desiderivm doctae ignorantiae in originibvs«): »Alteram causam in scriptorum ignorantia, positam fuisse existimo. Hi enim ne nescire haec talia illis viderentur, penes qvos in magna eruditionis erant opinione: figmentis, obscuris ac vetustis imperitam multitudinem decipiebant, ut hoc tandem sub velamine delitescerent“. »Plures ejusmodi errores«, heißt es erläuternd in der Fußnote (f ), »praesertim in Germania nostra Romani pariter ac Graeci committunt scriptores«; Ludewig verweist auf entsprechende »Irrtümer« von Strabon und Herodot. 86 Ebd., § VII: »Sed tertia ratio omnium certissima est«. 87 Ebd. (in der Ausgabe 1720 mit dem Titel »Originvm angvstiae et indignitas fabvlis obdvctae«): »Cum enim tenues omnium gentium origines & imperiorum initia sint; nonnunqvam & ipsi pejoris notae conditores; puduisse eorum posteros existimo, iisqve sive heroes sive deos propterea suffecisse«. 88 Ebd., § VIII: »Fuerunt in eo Poetae inprimis liberales; qvi tamen scriptorum antiqvissimi sunt, si Mosen excipias. Horum igitur figmenta in veras rerum narrationes passim irrepserunt, qvae distingvere alii post a genuinis rerum monumentis nesciverunt«. 89 Ebd., § IX (die Überschrift lautet hier in der Ausgabe 1720 »Divinationes delirae«): »Alii tandem qvi gentium origines e Lingvae vestigiis, corporis habitu ac moribus restituere voluerunt: in alios scopulos ostenderunt«. In den Fußnoten (i, l, m, n) referiert Ludewig Beispiele solch »lächerlicher« Konstruktionen, u. a. die Etymologien des Johann Goropius Becanus (Jan van Gorp); vgl. zu ihm Borst, Der Turmbau von Babel, 1215 ff. (Bd. 3/1), und Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, 106 ff. 90 Ludewig, Historia sine parente, § X: »Has tamen fabulosas gentium origines data illi opera retinuerunt, qvos vel erroris vetustas movit; vel gentis suae dignitas tenuit; vel lacunae deterruerunt, qvibus historiarum initia deformarent«.

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haftes Altertum, um bei Königen und Fürsten zu reüssieren, ja für viele sei der Nachweis eines hohen Alters ein Erfordernis der Staatsräson:91 »Wenn nämlich über die Ansprüche auf Königreiche und Dignitäten Kontroversen entstehen, so pflegt man mit dem Altertum des Volks und des Königsgeschlechts zu argumentieren«.92 Ludewig analysiert das Entstehen und die Wirkungsweise der Ursprungsfabeln als ein von sozialen und politischen Interessen beherrschtes Problem. Der Altersbeweis zeigt sich ihm nicht als gelehrtes Konstrukt, dessen Geltung durch philologische Kritik einfach widerlegt werden könnte. »Es wäre freilich besser«, notiert Ludewig in einer Fußnote, »statt fabelhafter Ursprünge der Begebenheiten überhaupt keine Ursprünge zu haben. Doch nachdem jene dem Pöbel einmal bekannt geworden sind, halten an ihnen auch diejenigen fest, die gründlicher urteilen, damit sie nicht weniger als andere zu wissen scheinen und die Geschichte ja nicht an Mängeln leidet«.93 Ein doppelbödiger Kommentar: Muß man wider bessere Einsicht, daß die Anfänge der Geschichte und die Ursprünge der Völker ungewiß sind, vor der tatsächlichen Herrschaft der Fabeln kapitulieren? Hat man sich damit abzufinden, daß der wahrheitsgemäße Bericht, der den Historiker eigentlich erst zum Historiker macht, angesichts seiner Widerlegung durch die politische Praxis ein hehres, unerfülltes Ideal bleiben muß?94 Ludewigs Text markiert die Probleme, er bietet keine Lösungen an. Mißt man die überlieferten historischen Darstellungen und ihre Auslegung am Maßstab historischphilologischer Quellenkritik, sind die Ursprünge der Völker ungewiß. Darauf kommt es Ludewig an. Sein Nachweis schärft die Skepsis gegenüber der Suche nach historisch

Ebd. (im Anschluß an die Anm. 90 zitierte Stelle): »Plurimi vero in Regum ac Principum favorem tantae tamqve fabulosae antiqvitatis vindices hodienum sunt. Nonnulli & status rationem id reqvirere asserunt«. 92 Ebd., Anm. t: »Cum enim de Praetensionibus in Regna, ac dignitates controversiae oriuntur, e gentis ac Regiae stirpis antiqvitate argumentari solent«. Ludewig verweist als Beispiel auf die gegenwärtige Kontroverse »inter Hispaniae Galliae ac Angliae Reges de praecedentia« sowie auf die damit verknüpfte gelehrte Auseinandersetzung. 93 Ebd., Anm. q: »Satius eqvidem esset, nullas rerum origines, qvam fabulosas habere. hae tamen, cum semel multitudini innotuerint, etiam illi retinent, qvi altius sapiunt. ne minus scire, qvam alii videantur, neve defectibus laboret historia«. 94 Ebd., Anm. r: »Ne qvid falsi scribere audeat, historici est. Qvot tamen in gentium originibus evolvendis contra hanc regulam delinqvant, BODINUS ostendit«, und zwar im Kapitel IX der Methodus ad facilem cognitionem historiarum (dazu auch Anm. 82). Bodins Schlußfolgerung lautete: »ac vehementer falli mihi videntur principes, qui suae nobilitatis decus ab extrema memoria repetunt, aut sempiternum fore sperant« (392). Außerdem zitiert Ludewig eine Stelle über höfische Schmeichler (die ihre Fürsten mit ältesten Ursprüngen ausstatten) aus De vanitate scientiarum von Agrippa von Nettesheim (zuerst Antwerpen 1530; hier benutzt in der Ausgabe: De incertitudine et vanitate scientiarum declamatio invectiva, s. l. 1532; die von Ludewig zitierte Stelle dort im unpag. Caput V, De historia). 91

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gewissen Anfängen der Geschichte. Und Skepsis, argumentiert Ludewig einige Jahre später, ist ganz generell gegenüber dem Anspruch, »wahrhafftige« Historien schreiben zu können, angebracht, und zwar auch dann, wenn es um die Darstellung der Neueren Geschichte geht, die sich auf archivalische Überlieferungen stützen kann.95 Doch haben Fragen nach der Möglichkeit einer objektiven Historie, die für moderne Ohren provozierend klingen, im Kontext einer historischen Praxis, der die Wahrheit der Überlieferung nicht nur ein methodisches Problem ist, einen anderen Klang und Sinn. Als vom Fürsten in Auftrag gegebenes »öffentliches werck« ist die Geschichte »Gefangene der Staatsräson«.96 Daß aber »das Interesse des Fürsten über der Wahrheit« steht,97 erscheint nicht als Beugung einer als »interesselos« hypostasierten Geschichte an sich, vielmehr als eine Frage der pragmatischen Zweckbindung und Wirkung der Geschichte. Zwar hat der Historiker, wie schon Samuel Pufendorf in einer Dissertation De obligatione adversus patriam (1663) betonte, größere Pflichten gegenüber der Menschheit. Dennoch durfte er darüber die berechtigten Erwartungen des »kleineren Teils«, d.h. die des Einzelstaates (patria), für den er schrieb, nicht vernachlässigen und hatte sich deshalb in seiner Darstellung (bzw. in der Auswahl der Fakten) dem fürstlichen Interesse gegenüber als loyal zu erweisen.98 Es ist diese differenzierende, gleichsam strategische Abwägung und Vermittlung allgemeiner und besonderer Interessen, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts dem kritischen Verdikt aufgeklärter Historiker verfällt. In weltbürgerlicher Perspektive wird die Idee der Menschheit zum absoluten Maßstab und zu einem Agenten der Geschichte, dem besondere Interessen gleichgültig sind (dazu Teil VI dieser Arbeit). Dagegen orientierte sich Ludewig noch ganz an Pufendorf. Er ließ sich als königlicher Hofhistoriograph von Brandenburg-Preußen (seit 1704) von der Staatsräson gerne in die Pflicht nehmen, etwa dadurch, daß er eine Schrift verfaßte, mit der Friedrich II. die Eroberung Schlesiens rechtfertigen konnte.99 Zugleich gehört Ludewig zu den

Vgl. Johann Peter Ludewig, Uber die Riswikische Frieden=Handlung Und dessen Instrumentum wird Der Studierenden Jugend ein Collegium eröffnet Anno 1698, in: Ders., Gesamte kleine teutsche Schrifften, Halle 1705, 321–335. Zu der (sich an diesem Kollegprogramm entzündenden) Auseinandersetzung Ludewigs mit dem Weimarer Archivvorstand Tobias Pfanner um die »fides archivorum« Völkel, »Pyrrhonismus historicus«, 186 ff. 96 Völkel, »Pyrrhonismus historicus«, 187 f. (mit dem Verweis, daß schon Francesco Patrizi eine entsprechende Position vertrat; der Begriff »öffentliches werck« ist ein Zitat von Christian Thomasius aus dessen Monatsgesprächen). 97 Ebd., 188 (bezogen auf eine Differenzierung von Nikolaus Hieronymus Gundling in dessen Via ad veritatem, vgl. zu diesem Hauptwerk Gundlings Teil III, Anm. 106 vorliegender Arbeit). 98 Vgl. Samuel Pufendorf (Praes.) / Andreas Ulcken (Resp.), De obligatione adversus patriam, Heidelberg 1663; dazu Völkel, »Pyrrhonismus historicus«, 189 f. 99 Vgl. Johann Peter von Ludewig, Rechtsgegründetes Eigenthum, Des königlichen ChurHauses Preussen und Brandenburg, auf die Hertzogthümer und Fürstenthümer, Jägerndorff, Lieg95

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bedeutendsten Vertretern der historisch orientierten Reichspublizistik, deren Forschungen und Quelleneditionen die Verfassungsgeschichte des deutschen Reiches auf ein historisch-kritisches Fundament stellten.100 Beides, also historische Legitimation der Staatsräson und historisch-kritische Forschung, schloß sich dabei nicht aus, ja die differenzierte Kenntnis des historischen Fundaments ermöglichte effizientere und juristisch stichhaltigere Begründungen staatlicher Machtansprüche. Demgegenüber erschien die Argumentation mit traditionellen, fabelhaften Ursprüngen von Völkern und Herrschaftsinstitutionen als ein überholtes, von der methodisch vorgehenden, juristisch geschärften historischen Kritik desavouiertes Mittel: Es ließ sich allzu leicht aus den Angeln heben.101

B. Primat der Neueren Geschichte Die Ausführungen Ludewigs zeigen, unter welchen Bedingungen das Modell des Naturzustands in den »heiligen« Raum der biblischen Geschichte eindringen und mit dem geoffenbarten Wissen jene Vernunft-Ehe eingehen konnte, die im 18. Jahrhundert in vielfältigen Varianten ausgearbeitet wurde. Damit nämlich Adam als ein primitiver und beschränkter Mensch ausgemalt werden konnte, wie er im Lichte des Naturzustands und betrachtet mit den Erfahrungen der Neuen Welt erschien,102 mußte einmal der gelehrte Raum profaner Geschichten über die Ursprünge des Menschen freigeräumt, der Nachweis geführt werden, daß er von verdorbenen Fabeln späterer Zeiten angefüllt ist, die keine sicheren Rückschlüsse auf die wirklichen Anfänge der Geschichte des Menschen zulassen. Worauf Pufendorf in De statu hominum naturali und in seiner Einleitung nur beiläufig anspielt, findet bei Ludewig eine eingehende Begründung. Zugleich dient der Verweis auf antike Darstellungen einer primitiven Frühzeit des Menschen (besonders die des Lukrez in De rerum natura) bei Pufendorf und Ludewig dem Zweck, den Naturzustand empirisch auszuzeichnen.103

nitz, Brieg, Wohlau, und zugehörige Herrschafften in Schlesien, o. O. 1740; dazu Hammerstein, Jus und Historie, 199 ff. 100 Vgl. Hammerstein, Jus und Historie, 177 ff.; Uwe Neddermeyer, Das Mittelalter in der deutschen Historiographie vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Geschichtsgliederung und Epochenverständnis in der frühen Neuzeit, Köln u. Wien 1988, 178 ff. (zu Ludewigs »Schlüsselstellung« bei der Durchsetzung der Epochentrias Antike-Mittelalter-Neuzeit sowie zu seinen Mittelalterforschungen). 101 Das hatte schon Bodin, der Theoretiker staatlicher Souveränität, so gesehen (vgl. Anm. 82). 102 Vgl. dazu den Abschnitt »Adam as Beast-Man« bei Rossi, The Dark Abyss of Time, 222 ff. 103 Wie Pufendorf das 5. Buch von De rerum natura zur Verdeutlichung seiner Naturzustandshypothese einsetzt, zeigt Fiammetta Palladini, Lucretio in Pufendorf, in: La Cultura XIX, N. 1 (1981) 110–149, 116 ff.

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Um die Vereinbarkeit des biblischen Berichts mit dem primitiven Menschen des Naturzustands verdeutlichen zu können, mußte aber auch die Dürftigkeit des biblischen Wissens sowie die Fragwürdigkeit der darauf aufbauenden Auslegungen herausgearbeitet werden. Der biblische Bericht über die Ursprünge ist zwar sicher, doch er ist eine nur spärlich fließende Quelle. Beide Nachweise hat Ludewig in seiner Kritik traditioneller Auffassungen, die dem historisch verstandenen Naturzustand widersprachen, mit skeptischem Scharfsinn geführt und dadurch Pufendorfs Naturzustandstheorem historische Evidenz verliehen. Daß dadurch die Gewißheit der Historie als ein kontinuierlicher, »heiliger« Überlieferungszusammenhang eingeschränkt wurde, die Anfänge der Geschichte der historischen, auf überlieferte zeitgenössische Quellen angewiesenen Rekonstruktion entglitten, hat der junge Gelehrte nicht als Verlust, sondern als produktiven Verzicht aufgefaßt: Er konnte die historische Forschung auf ertragreichere Felder verweisen sowie in methodisch besser gesicherte Bahnen lenken.104 An der Universität Halle war Pufendorfs Einleitung seit dem Ende des 17. Jahrhunderts bis weit in das 18. Jahrhundert hinein fester Bestandteil des Vorlesungsprogramms der philosophischen Fakultät. Ludewig las über den Text wie später auch Nikolaus Hieronymus Gundling.105 Und Ludewig hat nicht nur mit seiner Historia sine parente für Pufendorfs naturrechtliches Vorgeschichtsmodell eine gelehrt-historische Legitimationsfolie erstellt, sondern 1695 auch eine ausführliche Erleuterung über S. Pufendorffs Einleitung zur Historie veröffentlicht.106 Weil er »das beliebte Buch« Pufendorfs als »fundament« seiner »information« benutzte, heißt es dort in der Vorrede, wurde ihm schnell klar, daß es zu seinem rechten Verständnis eines erläuternden Kommentars bedurfte.107 Denn Pufendorfs Text war, trotz des retrospektiven Urteils Eine Ausarbeitung dieser (Forschungs-)Perspektive stellt etwa die frühe Projektskizze zur Erforschung der deutschen Reichshistorie dar: Johann Peter Ludewig, Vorrath / zu einer echten und biß dahin ermangelnden Reichs=Historie, 1704, in: Ders., Gesamte kleine teutsche Schrifften, 410–476. 105 Über Gundlings Vorlesungen zu Pufendorfs Einleitung gibt eine posthum von Franz Varrentrapp herausgegebene Hörermitschrift Auskunft: Nicolaus Hieronymus Gundling, Academischer Discours über des Freyherrn Samuel von Pufendorffs Einleitung zu der Historie der vornehmsten Reiche und Staaten / so jetziger Zeit in Europa sich befinden. Aus richtigen und unverfälschten MSCtis ans Licht gestellt, Frankfurt a. M. u. Leipzig 1737. 106 Der vollständige Titel lautet: Johann Peter Ludwig [sic!], Erleuterung über S.T. Herrn Samuel von Pufendorf Einleitung zur Historie Der vornehmsten Reiche und Staaten / so in jetziger Zeit in Europa sich befinden / In vollständigen Allegaten und nützlichen Anmerckungen bestehend, Leipzig u. Halle 1695 (eine 2. Aufl. erschien Halle 1700). Ludewig verweist in der Erleuterung auch auf seinen Text Historia sine parente (10). Über Ludewigs historische Kollegien vgl. seine Schrift von 1702: Was von kurtzen Collegiis zuhalten sey, in: Ders., Gesamte kleine teutsche Schrifften, 267–279, sowie die (unpag.) Vorrede zur Erleuterung. 107 Ludewig, Erleuterung, Vorrede (unpag.). Daß er die Philosophie, »die biß dahin einen gros104

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vom »allgemeinen Beyfall«, nicht unumstritten. Es fehlte ihm ein gelehrter Apparat, und überhaupt war die Einleitung, die Pufendorf (damals schwedischer Hofhistoriograph) ursprünglich für die Unterweisung der schwedischen Jugend konzipiert hatte,108 wie gesagt schnell zusammengeschrieben.109 Pufendorf, so Ludewig, habe »in dem gantzen Buche nur drey mahl / und zwar in neben=Dingen citiret«; mit seiner Erleuterung wolle er dem Mangel »nützlicher Anmerckungen« abhelfen. Erforderlich schien dies besonders deshalb, da »auch diejenige / die auf Academien über dieses Buch so vielfältig gelesen / demselbigen öffters einen Flecken mit ihren unzeitigen judiciis, gleich als wenn der Herr Auctor hie und da nur etwas aus dem Kopf gesponnen hätte / angehänget«.110 Ludewig wandte sich mit seinem Projekt (bzw. Manuskript) eines Kommentars zu Pufendorfs Einleitung, um Unterstützung und Überprüfung bittend, mit Briefen an verschiedene Gelehrte, so auch an den berühmten »Hannoveranus polyhistor« Gottfried Wilhelm Leibniz.111 Zwar lobte Leibniz Ludewigs Arbeit in hohen Tönen, doch für dessen Gegenstand hatte er nur Verachtung übrig. Eigene Beiträge wollte er Ludewig nur dann überlassen, wenn dieser sich von Pufendorfs Text völlig freimachen würde. Dem Namen Pufendorfs nämlich wollte er, Leibniz, seine Noten nicht unter-

sen Theil meiner studien ausmachte«, in Halle »etwas bey Seite legen« mußte und sich der Historie zuwandte, erklärt Ludewig mit den Erwartungen der in Halle vor allem vertretenen adeligen Hörerschaft. 108 Zum Entstehungszusammenhang vgl. Pufendorf, Einleitung, Vorrede (unpag.). Deshalb fehlte auch bei der Darstellung der einzelnen europäischen Staaten Schweden. Eine entsprechende Ergänzung erschien unter dem Titel: Continuirte Einleitung zu der Historie der vornehmsten Reiche und Staaten von Europa, Worinnen deß Königreichs Schweden Geschichte […] insonderheit beschrieben werden, Frankfurt a. M. 1686. 109 Die flüchtige Abfassung der Einleitung deckt Ludewig in seinem anläßlich von Samuel Pufendorfs Tod verfaßten Evlogivm Esaiae ac Samvelis Pvfendorfiorvm schonungslos auf: »Nam illius introductio brachii leuioris. In singulis rebuspublicis stetit fide unius. Satis fuerat ei, exscripsisse in Lusitania Vasconcellum; in Hispania Marianum; in Gallia Aemylium; in Anglia Vergilium; Grotium in Belgio; in Heluetia Simlerum; in Germania Lehmannum; in Polonia Neugebauerum; in Dania Pontanum; in Russia Herbersteinium. Ouorum gressus sequutus est pedetentim. In curiae Romanae arcanis ducem habuit anonymum Gallum. In rebus autem sui aeui principem sustinet locum etiamnunc« (Evlogivm Esaiae ac Samvelis Pvfendorfiorvm, laconice scriptum, in: Johann Peter Ludewig, Opvscula oratoria, Halle 1721, 463–488, hier 480 f.). In der Vorrede zur Erleuterung hält sich Ludewig dagegen vornehm zurück. 110 Ludewig, Erleuterung, Vorrede (unpag.). 111 Ludewig berichtet darüber in einem sich auf sein Evlogivm Esaiae ac Samvelis Pvfendorfiorvm beziehenden Abschnitt der Praefatio der Opvscvla oratoria (XXXIV f.). Zwar nennt er Leibniz nicht beim Namen, doch die Kombination des Kürzels »G.G.L.«, die Bezeichnung »Hannoueranus polyhistor« und die Charakterisierung »uir magnae famae et doctrinae per Europam uniuersam« verweist eindeutig auf Leibniz; vgl. zu dieser Stelle auch Palladini, Discussioni seicentesche su Samuel Pufendorf, 28 f. (Anm. 76).

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werfen.112 Ludewig ließ sich über die Abneigung von Leibniz gegenüber Pufendorf von einem weiteren Korrespondenten aufklären. Sie gehe, so dessen Auskunft, auf die Bewerbung von Leibniz um einen Lehrstuhl in Heidelberg zurück, die Pufendorf, damals in Heidelberg als Professor für Natur- und Völkerrecht tätig, hintertrieben hatte.113 Dem von Leibniz vorgeschlagenen Plan folgte Ludewig nicht,114 nicht zuletzt deshalb, weil er seinerseits einen Lehrstuhl anstrebte und sich hier von Pufendorf mehr versprach als von Leibniz. Denn auch Pufendorf hatte er von seinem Projekt geschrieben, und dieser antwortete nicht nur mit den freundlichsten Worten und ermunterte ihn zur Fortsetzung der Arbeit, sondern versprach auch, dafür zu sorgen, daß der damals in Berlin noch unbekannte Ludewig in Halle einen Lehrstuhl erhalten würde.115 Und tatsächlich hat Ludewig dann 1695, also exakt im Erscheinungsjahr der Erleuterung, das Pufendorf allerdings nicht mehr erlebte (er war 1694 gestorben), eine Professur, zunächst für theoretische Philosophie, bekommen.

Vgl. Ludewig, Opvscvla oratoria, Praefatio, XXXIV (als Zusammenfassung des Urteils von Leibniz): »Pufendorfianam introductionem indignam commentarii mei adperatu. Quo cuiusque regni exhibuerim et laudauerim praestantissimos et rarissimos scriptores, quorum ubique contulerim et meo iudicio aestimauerim testimonia et rationes. Tantam industriam mereri singularis libri famam neque habendam instar adpendicis. Ponerem igitur de manibus meis Pufendorfium et mea mihi uindicarem unice. Promiserat Hannoueranus polyhistor symbola mihi sua. Quae tamen nollet subiici margini et notulis eorum, quae nominis Pufendorfiani«. 113 Vgl. ebd., XXXV: »Contra Suecicus consiliarius, magno BIELCKIO, Pomerianiae tum proregi, familiarissimus, FRISIVS in sinu gauisus est de commentario meo. Idque tum rerum, tum ipsius Pufendorfii ergo, cui fuerat plurimis annis familiarissimus«. Dieser eröffnete ihm auch die Ursache, »quare Hannoueranus polyhistor Pufendorfio succenseret. Nam odia inter utrumque doctissimum uirum incepisse Heidelbergae, ubi archiprincipi ultimus auctor fuerit dissuasorque: ne primus academicam spartam consequeretur, quam ambierat tum anxie. Inde semel concepti liuoris postea reliquiae«. Vgl. zu dem gespannten (sicherlich nicht auf die hier angedeuteten persönlichen Animositäten zu reduzierenden) Verhältnis von Leibniz und Pufendorf (mit weiteren brieflichen Äußerungen und Literaturverweisen) Döring, Pufendorf-Studien, 134 ff. 114 Zu Ludewigs Begründung ebd., XXXIV f. (im Anschluß an die Anm. 112 zitierte Stelle): »Facile ex his intellexi, uirum hunc magnae famae et doctrinae per Europam universam liuore perfusum esse aduersus Pufendorfium. Inde declinavi modeste in responsoriis meis, illius consilium sequi«. 115 Vgl. ebd., XXXV f.: Pufendorf selbst, »tum Berolini agens, ubi illo tempore nomen meum fuerat ignotum, rescripsit mihi humanissimis uerbis adseruitque, idem sibi olim in animo fuisse consilium, addere suae INTRODVCTIONI huic testes et auctoritates, in historia omnino necessarios«. Doch wurde er wegen anderer Geschäfte daran gehindert und freue sich jetzt um so mehr über die Erleuterung, »in quo et industria eluceat et iudicium in reiiciendis partium studio corruptis narrationibus et melioribus adprobandis et defendendis. Hortabatur me simul, ne calamum ante ponerem, quam omnium regnorum et rerum publicarum, quae superessent, confecissem periodum. Addidit, se omnem moturum esse lapidem; ut consequerer munus professoris in Fridericiana. Neque dubitare se de successu suae commendationis apud patrones et rerum ualidos administros«; vgl. zu Pufendorfs positiver Reaktion auf Ludewigs Anfrage auch die Vorrede zur Erleuterung. 112

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Ludewig hat einen Teil der Einleitung Pufendorfs (die Abschnitte zu Spanien, Portugal und England) sowie dessen Sicht auf die früheste und Alte Geschichte mit einem feingesponnenen Netz von »Allegaten« versehen, in einem insgesamt 865 Seiten umfassenden Erläuterungstext. Er stellt dabei einzelne Sätze Pufendorfs voran und erläutert sie durch Paraphrasierungen darauf bezogener Quellen, gelehrte Auslegungen (mit genauen Stellennachweisen) und eigene Kommentare. Im Unterschied zur geläufigen Methode, sich auf einen engen Kanon von »Scriptores« zu beziehen, habe er »hier eine andere methode ergriffen«. Er sei nämlich auf »die coaevos selbsten gegangen« und habe bei diesen »von den Schlacken das Gold aufs neue sorgfältig heraus gesuchet«.116 Indem Ludewig dafür sorgte, daß »fast iede Zeile des Auctoris mit tüchtigen Skribenten versehen / und was noch zweiffelhaftig scheinen kann / nun gänzlich erläutert ist«, sollte den falschen Auslegungen von Pufendorfs Text vorgebeugt werden. Auf die Angabe von Nachweisen komme nämlich in der Historie alles an. Dadurch könne jeder selbst nachschlagen und das rechte Verstehen überprüfen, so daß »daraus der Wahrheit keine Gefahr entstehet«: »Dahingegen / wo man die auctores verschweiget / jeder Jrrthum in der Historie einen neuen Flecken machet. Weil man nicht allezeit weiß / ob ein solcher Scribent in seiner Meynung ein Fundament gehabt oder nicht. Und diß halte ich vor die gröste Ursach der vielfältigen Fabeln in der Historie«. Die Auseinandersetzung über das kritische Fundament, der Vergleich »discrepanter Meynungen«, wird damit »zum grossen Liecht in der Historie«.117 Ludewig hat dazu beigetragen, das Modell einer von der Neueren Geschichte regierten Universalhistorie als ein historisch-kritisches Forschungsprojekt auszuzeichnen. In dieser Perspektive stehen auch seine Urteile über die früheste Geschichte, so im abschließenden Resümee zur knappen Kommentierung von Pufendorfs »Daß es biß an die Sündfluth keinen Staat gegeben«: »Ich halte auf dergleichen einfälle nicht viel, weil sich die Historie nicht aus dem Kopff spinnen lässet; sondern aus glaubwürdigen monumentis will dargethan seyn. Und gewiß / so offt ich sehe / daß ein Historicus von Dingen / die vor der Sündfluth passiret / viel Wesens macht / so fällt sein halber credit schon weg. Weil ich mir doch nichts anders / als ein Regiment andrer Meinungen verheissen kan, wodurch die Historie mit Fabeln belästiget / und doch nichts gewissers auf die Bahn gebracht wird. Will dannenhero das Papier auf etwas nützlichers sparen«.118

Auf den erläuternden Nachweis der »Haupt-Quellen und richtigsten Particular-Schrifften« kam es auch Gundling (Academischer Discours über des Freyherrn Samuel von Pufendorfs Einleitung, unpag. Vorrede des Herausgebers Varrentrapp) und Weber (Eröffnet Der Studirenden Jugend, 5) an. 117 Ludewig, Erleuterung, Vorrede (unpag.). 118 Ebd., 4 f., sowie, unter Bezugnahme auf die Historia sine parente, 9 f. 116

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Zwar hat Ludewig, die Strategien »politischer« Klugheit berücksichtigend,119 seine gelehrten Noten nicht uneigennützig gesetzt. Doch jenseits von persönlichen Interessen und Animositäten hatte die historische Neugierde von Pufendorf, Leibniz und Ludewig einen gemeinsamen Horizont, der unabhängig davon, wie unterschiedlich er ausgemalt wurde, von der Frage nach der Eigenbedeutung der gegenwärtigen Welt und damit auch: von der Frage nach der Besonderheit historischer Welten beherrscht war. Die politischen, religiösen und wissenschaftlichen Institutionen und Praktiken der Gegenwart zeigten sich ihnen als komplizierte Ordnungsgefüge, dessen Entstehungsgeschichte mit Hilfe der bekannten Modelle und Methoden nicht hinreichend zu erklären war. Die für eine differenzierte Sicht in Anschlag gebrachten Konzepte und Projekte waren unterschiedlich. Pufendorf skizzierte die Entstehung der gegenwärtigen politischen Welt nach dem Modell des Naturzustands und mit den Mitteln hypothetischer Vernunftschlüsse.120 Dagegen war Leibniz ein früher Programmatiker und Praktiker quellenkritischer historischer Forschung, die auf ein Fundament angewiesen ist, das erst durch die (als ein Gemeinschaftsunternehmen zu organisierende) Sammlung und Edition aller verfügbaren Quellen erarbeitet werden muß.121 In dieser Hinsicht ist Ludewig mit seinen späteren historischen Arbeiten dem von Leibniz propagierten Weg gefolgt. Die Vermittlung beider Ansätze, um die er sich in seinen frühen historischen Arbeiten bemüht hatte, war der Konzentration auf die detaillierte Erforschung eines besonderen historischen Bezirks (dem der deutschen Reichshistorie) gewichen.122 Zum Konzept der »politischen« Klugheit Volker Sellin, Art. »Politik«, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. v. Otto Brunner u. a., Bd. 4, Stuttgart 1978, 789–874; Gotthardt Frühsorge, Der politische Körper. Zum Begriff des Politischen im 17. Jahrhundert und in den Romanen Christian Weises, Stuttgart 1974. 120 Was sich in der Einleitung auch sprachlich in der Verwendung von Wortverbindungen dokumentiert, welche die Argumentation als wahrscheinliche Schlußfolgerung und rational begründete Vermutung kennzeichnen: »es kommt mir sehr glaublich vor«, »scheinet Anlaß gegeben zu haben« etc. (vgl. Pufendorf, Einleitung zu der Historie, 1 ff.). 121 Zu Leibniz als Historiker und Organisator historischer Forschung gibt es eine reiche Forschungsliteratur; vgl. neben den älteren Arbeiten (Louis Davillé, Leibniz historien. Essai sur l’activité et la mèthode historiques de Leibniz, Paris 1909, ND Aalen 1986; Werner Conze, Leibniz als Historiker, Berlin 1951) Günther Scheel (Leibniz und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1700, in: Historische Forschung im 18. Jahrhundert. Organisation, Zielsetzung, Ergebnisse, hg. v. Karl Hammer u. Jürgen Voss, Bonn 1976, 82–101) sowie die Beiträge in: Leibniz als Geschichtsforscher, hg. v. Albert Heinekamp, Wiesbaden 1982 (= studia leibnitiana, Sonderheft 10). Zum Naturrechtskonzept von Leibniz Hans-Peter Schneider, Justitia Universalis. Quellenstudien zur Geschichte des »Christlichen Naturrechts« bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Frankfurt a. M. 1967 (zum Unterschied zu Pufendorf 78 ff.). Zum Ursprungskonzept von Leibniz und seinem Kontext vgl. die Beiträge in: Leibniz and Adam, hg. v. Marcelo Dascal u. Elhanan Yakira, Tel Aviv 1993. 122 Vgl. Ludewig, Vorrath / zu einer echten und biß dahin ermangelnden Reichs=Historie (in: 119

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Pufendorfs Einleitung hatte, wie gesagt, großen Erfolg. Als der Gießener Professor Immanuel Weber, den der Erwartungsdruck seiner studentischen Hörerschaft zur Änderung seines Vorlesungsprogramms zwang, Pufendorfs Text zum Gegenstand seiner öffentlichen Vorlesung über Universalhistorie machte, strömten die Zuhörer wieder in seine Vorlesung. Und die Einleitung befriedigte nicht nur in Halle und Gießen den Bedarf an neuen Perspektiven und Orientierungen. Sie war bis weit in das 18. Jahrhundert hinein eines der erfolgreichsten historischen Lehrbücher in ganz Europa. Insgesamt erschienen weit über 50 vollständige Ausgaben (darunter französische, englische, italienische und spanische Übersetzungen).123 Schon 1695 heißt es in Ludewigs Erleuterung,124 daß Pufendorfs Einleitung »in Teutschland fast iedem zum manuale in der Historie dienet« und an vielen Universitäten als Lehrbuch benutzt werde. »Dieses Werk wurde von jedermann so beliebt aufgenommen«, lautet eine Stimme aus dem Jahr 1723, »weil man dergleichen noch niemals gesehen, daß es bey Hohen und Niedrigen, besonders auf denen Academien zu dem Grunde bey der Erlernung der Historie angenommen wurde«.125 Das Buch wurde damals, heißt es Mitte des 18. Jahrhunderts in einer der zahlreichen Neuauflagen, »mit allgemeinem Beyfalle aufgenommen, und gar bald in die meisten Europäischen Sprachen, ja selbst in die Rußische, übersetzt«.126 Trotz ihrer weitgehenden Konzentration auf die neuere europäische Staatenhistorie vermittelte die Gesamte kleine teutsche Schrifften, 410–476). Dieser Forschungsüberblick rühmt Leibniz als Gelehrten, der das »wichtigste und neueste« Editionsunternehmen zur (mittelalterlichen) deutschen Geschichtsschreibung begonnen habe und der auch in der Erforschung und Edition von Diplomata hervorgetreten sei (458 f. u. 470 f.). 123 Vgl. Denzer, Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf, 369–371; Denzers Liste von 51 vollständigen Ausgaben und 12 Auszügen ist keineswegs vollständig, so fehlen die russische Übersetzung, auf die Olenschlager (vgl. Anm. 126) verweist, sowie die italienischen und spanischen Übersetzungen, die Ludewig nennt. Zumindest hinsichtlich der Zahl seiner Neuauflagen und der Verwendung als Lehrbuch an protestantischen Gymnasien und Universitäten im deutschen Reich der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts dürfte es sich um das erfolgreichste historische Lehrbuch handeln. Zur Rezeption der Einleitung an protestantischen Universitäten Scherer, Geschichte und Kirchengeschichte, 179 (»Fast an allen Universitäten sehen wir es als Lehrbuch in Gebrauch«; zu den Einzelbelegen die Verweise auf Pufendorf in Scherers Register), sowie darauf aufbauend Dreitzel (Absolutismus und ständische Verfassung in Deutschland, 70). Als Staatenhistorie war die Einleitung über fünfzig Jahre im gelehrten Unterricht des deutschen Reiches ohne Konkurrenz (vgl. Scherer, 197 f.). 124 Vorrede, unpag. 125 Jacob August Franckenstein, Historisches Theatrum, Halberstadt 1723, Vorrede (zitiert nach Dreitzel, Absolutismus und ständische Verfassung in Deutschland, 70). 126 Samuel Pufendorf, Einleitung in die Geschichte der vornehmsten Europäischen Reiche und Staaten, vermehrt, ausgebessert und biß auf jetzige Zeiten fortgesetzt von Johann Daniel von Olenschlager, Erster Teil, Frankfurt a. M. u. Leipzig 1763, unpag. Vorrede (diese Ausgabe erschien erstmals 1746).

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Einleitung in Form von Abrissen zur frühesten Geschichte eine historische Gesamtsicht und wurde im gelehrten Unterricht auch als universalhistorisches Kompendium verwendet.127 So ersetzte sie an vielen protestantischen deutschen Gymnasien und Universitäten die traditionellen Universalhistorien von Carion/Melanchthon und Sleidan.128 Der Erfolg der Einleitung als Lehrbuch dokumentiert das wachsende, von juristischen und politischen Fragestellungen geleitete Interesse an der Neueren Geschichte, d. h. damals vor allem: an der für die Entstehung und Herausbildung der modernen Staatenwelt in Europa wesentlichen historischen Bedingungen.129 Mochte die historia sacra als die glaubwürdigste und zuverlässigste historische Überlieferung des Ursprungs der Geschichte gelten, einer an der Neueren Geschichte interessierten Erklärungs- und Forschungsperspektive hatte sie immer weniger zu erzählen. Für das empirische Politikverständnis hatte sich die historia universalis schon im 17. Jahrhundert in eine Historia orbis terrarum, geographica et civilis130 aufgelöst, in eine um geographische, klimatische und naturhistorische Informationen ergänzte Deskription der neueren Staatenwelt, in der die historische Perspektive auf einzelne Problemkreise zusammengezogen wurde.131 Doch nicht nur in diesem besonderen Zusammenhang verschwand die am Leitfaden der biblischen Überlieferung ausgelegte frühe Geschichte des Menschen aus dem Blickfeld. Auch in den Lehrbüchern der Universalhistorie, soweit diese nicht, oft auf tabellarische Abrisse reduziert,132 bloß mnemoSo bot schon 1685 der Straßburger Gymnasiallehrer Johann Kaspar Khun der Schulaufsicht an, »über des Pufendorfii introductionem in historiam universalem ein Collegium zu halten« (vgl. Scherer, Geschichte und Kirchengeschichte, 182), verstand also die Einleitung als Universalhistorie. 128 Allerdings wurden häufig weiterhin ergänzend zur Einleitung traditionelle universalhistorische Abrisse gelesen (vgl. etwa das Beispiel Greifswald bei Scherer, Geschichte und Kirchengeschichte, 167). 129 In dieser Perspektive gilt auch das Mittelalter noch lange nach der Durchsetzung der modernen Epochentrias als ein Abschnitt der neueren Geschichte. So heißt es noch im Handbuch der Geschichte des Mittelalters (Berlin 1816, 1) von Friedrich Rühs: »Das Mittelalter ist also der Anfang oder der erste Teil der neuern Geschichte« (zitiert nach Neddermeyer, Das Mittelalter in der deutschen Historiographie, 332/Anm. 524). 130 So der Titel eines Werks des Frankfurter (Oder) Professors für Politik und Geschichte Johann Christoph Becmann (erstmals Frankfurt a. O. 1673, bis Ende des Jahrhunderts erschienen wenigstens fünf Auflagen, hier benutzt in der 2. Aufl. Frankfurt a. O. 1680). 131 Der Untertitel von Becmanns Werk lautet entsprechend: »De variis negotiis nostri potissimum et superioris seculi, aliisve rebus selectioribus«. Die »Historia geographica« thematisiert nicht nur die Geographie im engeren Sinn, sondern auch unterschiedliche Sachverhalte menschlicher Kultur und Geschichte. In einer »Historia Antiqvitatum« (313 ff.) finden sich Abschnitte über antike Ruinen, früheste Völkergeschichte, die Herkunft der Amerikaner und Adams Sprache und Wissen (382 f.). 132 Vgl. Markus Völkel, Topik, Lokal- und Universalgeschichte bei Jakob Friedrich Reimmann, in: Skepsis, Providenz, Polyhistorie. Jakob Friedrich Reimmann (1668–1743), hg. v. Martin Mul127

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technischen Zwecken dienten,133 schrumpfte die biblisch überlieferte Frühgeschichte auf ein knappes Einleitungskapitel zusammen oder kam, wie in dem für die Etablierung der modernen Epochentrias einflußreichen Lehrbuch des Christoph Cellarius,134 einfach nicht mehr vor.135 Mit der frühesten Geschichte verlor aber die Universalhistorie die ganze Geschichte, »Geschichte und Historie waren von da an nicht mehr miteinander kongruent«.136 Das war jedoch weniger Resultat einer inhaltlichen Infragestellung oder philologischen Kritik der biblisch überlieferten Historie.137 Vielmehr wurde gerade im Kontext der quellenkritischen Erforschung der »dunklen« Anfänge menschlicher Geschichte deren Überlegenheit gegenüber den profanen Historien herausgearbeitet und dadurch ihre Gewißheit befestigt. Doch führte gerade die Exklusivität der biblisch gesicherten Frühgeschichte allmählich zu deren Isolierung (und inhaltlichen Reduktion) innerhalb des universalhistorischen Zusammenhangs. Die früheste Geschichte wurde zu einem zwar durch besondere Glaubwürdigkeit ausgezeichneten, doch für das historische Interesse und seine sich differenzierenden Erkenntnismittel und Methoden weitgehend stummen, »heiligen« Bezirk. Umgekehrt profilierte sich die Neuere Geschichte im Kontext juristischer und politischer Interessen als ein historischer Zusammenhang von besonderer Relevanz, als autonomer Raum weltlicher Politik und Herrschaft, der sich theologischen Deutungen und revelatorischen Erkenntnismöglichkeiten zunehmend entzog.138 Die biblisch überlieferte Frühgeschichte zeigt sich so als ein Sonderbezirk der Geschichte, als der er dann auch in Gianbattista Vicos Scienza nuova entgegentritt. Ent-

sow u. Helmut Zedelmaier, Tübingen 1998, 230–266; Arndt Brendecke, Synopse, Segment und Vergleich. Zum Leistungsvermögen tabellarischer Geschichtsdarstellungen der Frühen Neuzeit, in: Storia della storiografia 39 (2001) 75–85. 133 Vor allem für diesen Zweck waren die zahlreichen universalhistorischen Synopsen, besonders die für den Gebrauch an Gymnasien, konzipiert; vgl. etwa Friedrich Hildebrand, Synopsis historiae universalis, conscripta bono discentium, Editio quinta, Osterode 1685 (mit einer Mantissa seu versus mnemonici, 306 ff.). Zum universalhistorischen Lehrbuch in der frühen Neuzeit vgl. den Überblick von Markus Völkel, Aufstieg und Fall der protestantischen Universalgeschichte, in: Storia della storiografia 39 (2001) 67–73. 134 Christoph Cellarius, Historia vniversalis breviter ac perspicve exposita, in antiqvam, et medii aevi ac novam divisa, cum notis perpetvis, 3 Bde., Jena 1702–1704 (es handelt sich um die erste Gesamtausgabe der schon 1685, 1688 und 1696 in Einzelausgaben erschienenen Teile; zur Ausformung der Epochentrias bei Cellarius Neddermeyer (Das Mittelalter in der deutschen Historiographie, 153 ff.). 135 Vgl. Verf., Die Marginalisierung der Historia sacra in der frühen Neuzeit, in: Storia della Storiografia 35 (1999) 15–26. 136 Seifert, Von der heiligen zur philosophischen Geschichte, 105. 137 Vgl. Seiferts Einleitung zu: Der Rückzug der biblischen Prophetie, 3 ff. 138 Vgl. Seifert, Der Rückzug der biblischen Prophetie.

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gegen der »Anmaßung« eines jeden Volkes, »es würde seine Erinnerungen vom Anfang der Welt an aufbewahren«, ist dies »ein Privileg ausschließlich der Hebräer«, heißt es ganz ähnlich wie schon bei Ludewig auch bei Vico. Doch die Hebräer, die als einzige »das Verhältnis der in der Welt abgelaufenen Zeiten richtig« zählten (»was heute von den strengsten Kritikern als wahr angenommen wird«), lebten für alle heidnischen Völker unbekannt. Zwar überliefert deshalb ausschließlich die biblische Geschichte, die »älter als selbst die ältesten profanen Geschichten« ist, den Anfang der Geschichte. Doch die »heidnische Universalgeschichte« beginnt erst mit der »allgemeinen Sintflut«; und für die Rekonstruktion dieser Frühgeschichte ist man nach Gianbattista Vico auf die Mythen als »erste Geschichte der heidnischen Völker« angewiesen.139 Für die Fragen, die sich in einer an den Ursprüngen von natürlichen Rechten und weltlichen Herrschaftsformen interessierten universalhistorischen Perspektive stellten, konnte die biblische Historie nicht weiterhelfen. »Die Regierungsform vor der Sintflut, die zu erforschen doch so wichtig und von erheblichem Nutzen für die Politik wäre«, kann man schon 1660 in einer Wittenberger Dissertation lesen, »skizzierte der heilige Historiker nur in knappen Strichen: in sehr wenigen Kapiteln der Genesis findet man darüber kaum einige Hinweise«. Es verhalte sich so, wie wenn ein Historiker eine Darstellung Martin Luthers auf einen einzigen Satz beschränken würde (»Lutherus insignis praeco, divini repurgator verbi, vixit post annum Christi 1500, docuit Witteberge annis plus 30«); dabei beherrschte Luther in diesen Jahren die Geschichte ganz Europas. Entsprechend war ohne Zweifel auch die vorsintflutliche Zeit ein dichter Handlungszusammenhang, »von dem aber die Genesis mit Ausnahme des Namens des Autors nichts weiter überliefert«.140 Während so die biblisch überlieferte Frühgeschichte als ein wenig aussagekräftiger Sonderbezirk den Zusammenhang mit der Universalhistorie zu verlieren drohte, gewannen alternative Modelle zur Erklärung des Ausgangspunkts und der Frühge-

Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft, § 9, 51, 53 f., 94, 165. De imperio antediluvianorum (Praes.: M. Georg Caspar Kirchmaier, Resp.: Melchior Eustachius Möller), Wittenberg 1660, § 1: »ANtediluvianorum regimen, dignissimam indagine materiam, et post raritatem, sua se utilitate, in Politicam redundatura commendantem, excussuri, ab Adamo, ad diluvium usque id quoad ejus fieri potest, nos fore deductoros, praesignificamus. Succintas admodum ea de re, sacer duxit Historicus, lineas«; »[…] etsi de illis, in Genesi, praeter nomen auctoris nihil quicquam amplius habemus«, ganz zu schweigen von der profanen Überlieferung: »In historia scriptorum profanorum, nihil antea de rebus, a mundi incunabulis, revera gestis, legere est« (ebd., § 2). Der Text erschien auch in: Georg Caspar Kirchmaier, De Paradiso, ave paradisi manucodiata, imperio antediluviano, et arca Noae, cum descriptione diluvii, IV. dissertationes comprehensae, Wittenberg 1662, 79–106. Kirchmaier (1635–1700) war Rhetorikprofessor in Wittenberg. Seine Bibelauslegung ist stark von naturhistorischen und technischen Interessen geprägt; vgl. den Artikel von W. Heß, in: ADB 16 (1882) 16. 139 140

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schichte des Menschen verstärkt historische Evidenz. Mit neuen Interessen und Methoden erschlossen sie »retrodiktiv« jenen Geschichtsraum, den die biblisch überlieferte Frühgeschichte nicht mehr ausfüllte.141

141

Vgl. Seifert, Von der heiligen zur philosophischen Geschichte, 106 f.

Titelkupfer, vorangestellt dem ersten Band von Christoph August Heumanns Acta philosophorum (Halle 1715). HAB Wolfenbüttel M: Va188:1

TEIL III Das Anfangsproblem in der Philosophiegeschichte

Christoph August Heumann sucht man in neueren Philosophiegeschichten vergeblich. Dennoch ist er im Horizont des Interesses für die Geschichte eben dieser Philosophiegeschichte eine epochale Figur. In den – zwischen 1715 und 1727 – erschienenen Acta Philosophorum,1 Rezensionsorgan und zugleich Projekt eines umfassenden Archivs zur Geschichte der Philosophie, dessen Artikel mit wenigen Ausnahmen Heumann selbst verfaßt hat, »kommt die Philosophiegeschichte zu sich selbst und sucht in den Besitz ihres spezifischen Gegenstandes zu gelangen«.2 Unter den Beiträgen (»Stücke«), die Heumann statt großer Bücher (diese seien gewöhnlich »nur Zierrathen der Bibliothequen« und »zum Nachschlagen« zu gebrauchen) der Lektüre und dem Urteil seiner Leser anbietet,3 finden sich drei ausführliche Artikel über die »Philosophie der Patriarchen«.4 Heumann erörtert in ihnen den »gemeinen Jrrwahn«, daß der Ursprung der Philosophie in vorsintflutlicher Zeit gesucht werde und sogar die »allerersten Menschen zu Philosophis« gemacht werden.5 Gelehrte, die diese Meinung vertreten, so Heumanns Urteil über die vorliegenden Forschungen, finde man viele,6 doch sei ihm keiner bekannt geworden, »der dieses Praejudicium hätte fahren

Die 18 Stücke wurden in 3 Bde. zusammengefaßt, mit einem ausführlichen Index versehen und (ohne Verfasserangaben) in Halle gedruckt. Der vollständige Titel lautet: Acta Philosophorum, das ist: Gründliche Nachrichten aus der Historia Philosophica, Nebst beygefügten Urtheilen von denen dahin gehörigen alten und neuen Büchern; vgl. zu ihnen Braun, Histoire de l’histoire de la philosophie, Paris 1973, 100 ff. (bzw. in der deutschen Übersetzung: Geschichte der Philosophiegeschichte, übers. v. Franz Wimmer, bearb. v. Ulrich Johannes Schneider, Darmstadt 1990, 109 ff.); Mario Longo, Le storie generali della filosofia in Germania 1690–1750, in: Storia delle storie generali della filosofia, hg. v. Giovanni Santinello, Bd. 2 (Dall’età cartesiana a Brucker), Brescia 1979, 327–635, hier 441 ff., sowie Ders., Historia philosophiae philosophica. Teorie e metodi della storia della filosofia tra Seicento e Settecento, Milano 1986, 76 ff. 2 Braun, Geschichte der Philosophiegeschichte, 114. 3 Vgl. [Heumann], Acta Philosophorum, Bd. 1, Erstes Stück, Halle 1715, Vorbericht (unpag.). 4 Ebd., Fünftes Stück, Halle 1716, 755–809, Sechstes Stück, 925–943; Bd. 2, Halle 1716, Siebtes Stück, 1–58. 5 Ebd., Fünftes Stück, 756 u. 762. 6 Vgl. ebd., 760 ff.; Heumann nennt als Beispiele Theophilus Gale, Georg Horn und Joachim Johannes Mader. Zu den Werken des Engländers Gale und Horns vgl. Luciano Malusa, Le prime storie generali della filosofia in Inghilterra e nei Paesi Bassi, in: Storia delle storie generali, hg. v. Santinello, Bd. 1 (Dalle origini rinascimentali alla »historia philosophica«), Brescia 1981, 167–402, hier 315 ff. bzw. 252 ff. Zu beiden auch Heumanns kritische Rezensionen: Gales Historia philoso1

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lassen / als erst vor zehen Jahren Herr Rath Gundling in seiner Historia philosophiae moralis: wiewohl derselbe den Herrn geheimen Rath Thomasium wie auch den Bayle, zu Vorgängern gehabt hat«.7 In modernen Philosophiegeschichten ist die »abendländische« Philosophie der Inbegriff von Philosophie. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, daß ihr Ursprung ganz selbstverständlich griechischen Philosophen zugerechnet wird. Sokrates, Platon, Aristoteles sind die Gründungsheroen der Philosophie. Orientalische Mythen, Texte und Gelehrte besitzen, so die moderne Auffassung, sicherlich bedeutende »Einflüsse« auf die Anfänge griechischen Philosophierens. An der Differenzierung der schon von griechischen Philosophen selbst gestellten Frage nach der Selbständigkeit ihrer Philosophie arbeitet die moderne philosophiehistorische Forschung noch heute. Daß aber die Produkte des »vorgriechischen« Denkens nur den Status einer »Vorgeschichte« der Philosophie beanspruchen können, darüber besteht für die moderne philosophiegeschichtliche Vorstellung kein Zweifel. Unter der Herrschaft der heiligen Geschichte, also bis in das 18. Jahrhundert hinein, gab es eine solche Gewißheit nicht. Die heilige Geschichte als höchste Instanz, sozusagen als Abdruck ursprünglicher göttlicher Weisheit und Moral, ließ sich auch in der Philosophiegeschichte nur mit aufwendigen und verwickelten Argumentationen zugunsten eines profanen, »heidnischen« Ursprungs der Philosophie umgehen. Gewiß wurde die griechische Philosophie schon vor dem 18. Jahrhundert auf besondere Weise ausgezeichnet. Für die Ausarbeitung der Vorstellung des griechischen Ursprungs der Philosophie bedurfte es aber eines veränderten Begriffs von Philosophiegeschichte, der über die Vorstellung einer bloßen Tradierung überlieferten Wissens hinausgeht. Diese Arbeit am Begriff der Philosophiegeschichte ist Thema der folgenden Ausführungen. Ihnen liegt die These zugrunde, daß die Entstehung der modernen Philosophiegeschichte eng mit einer Problematisierung der heiligen Ursprünge der Philosophie verknüpft ist. Es waren deutsche Gelehrte, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entscheidend dazu beitrugen, die Philosophie von heilsgeschichtlich begründeten Ursprüngen zu lösen und ihr eine eigenständige Geschichte zuzugestehen. Christian Thomasius, Nikolaus Hieronymus Gundling und Chriphica (gemeint ist der Bd. 2 von Gales The Court of the Gentiles, London 1676) wolle die Philosophie reformieren, indem er sie auf ihre ursprüngliche Gestalt, d. h. die Bibel, zurückführt (vgl. Acta Philosophorum, Bd. 3, 17. Stück, Halle 1726, 793–802; zu Horn ebd. Bd. 1, Sechstes Stück, Halle 1716, 1039–1061). Zu Joachim Johannes Mader, dessen Arbeit über vorsintflutliche Bibliotheken im 18. Jahrhundert geradezu zur Chiffre der Kritik vorsintflutlichen Wissens wird, vorliegende Arbeit, S. 13. 7 [Heumann], Acta Philosophorum, Bd. 1, Fünftes Stück, 763. Vgl. zur Fragestellung und zu den behandelten Texten dieses III. Teils auch die Dissertation von Sicco Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte. Philosophiegeschichtsschreibung zwischen Pietismus und Aufklärung, Diss. FU Berlin 2002.

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stoph August Heumann taten dies auf unterschiedliche Weise. Alle drei beriefen sich dabei auf Pierre Bayles skeptische Infragestellung überlieferter Vorstellungen zur Geschichte des Wissens, wie sie in den Artikeln über biblische Patriarchen im Dictionnaire historique et critique zum Ausdruck kommt. In ihrer Kritik des biblischen (»vorsintflutlichen«) Ursprungs der Philosophie brachten sie die historischen Umstände des Philosophierens, dessen gesellschaftliche und politische Kontexte zur Geltung. Die Philosophie erhielt mit der Arbeit am Begriff der Philosophiegeschichte ein historisch-kritisches Fundament. An dessen Erforschung und Darstellung arbeiteten dann, ausgehend von Johann Jacob Bruckers Historia critica philosophiae, die großen deutschen philosophiehistorischen Synthesen des 18. und 19. Jahrhunderts und arbeiten noch heute die moderne philosphiehistorische Forschung und Erzählung.

1. Die Institutionen des Wissens: Christian Thomasius In einem Grundriß zur Antiquitas literaria des Altertumsforschers Jakob Friedrich Reimmann finden sich unter dem Stichwort »Scholae & academiae veterum« literarhistorische Hinweise zum Thema Ursprung der Schulen (»De origine scholarum«).8 Als Lektüregrundlage empfiehlt Reimmann die Exercitatio academica de origine & usu scholarum des Leipziger Geschichts- und (ab 1699) Theologieprofessors Adam Rechenberg. Der Autor, so Reimmann in der Rezension des Textes, setze sich mit Thomas Hobbes auseinander, der im 46. Kapitel des Leviathan den Ursprung der Schulen den Heiden zugeschrieben hatte. Rechenberg widerlege Hobbes, den, so Reimmann, in der »Historia literaria« völlig Unwissenden, und zeige deutlich, daß der Ursprung der Schulen auf die Hebräer zurückzuführen sei.9 Doch trotz der verdienstvollen Untersuchung Rechenbergs, klagt Reimmann, wurde die »ruchlose Jakob Friedrich Reimmann, Idea systematis antiquitatis literariae generalioris & specialioris desiderati adhuc in republica eruditorum literaria, nunc primum adumbrati, Hildesheim 1718, 64 f.; zu Reimmann als Ursprungsforscher Verf., Aporien frühaufgeklärter Gelehrsamkeit. 9 Reimmann, Idea systematis antiquitatis literariae generalioris, 64 f.: »Auctor [d. h. Rechenberg; H. Z.] celeberrimus Hobbesium cumprimis in hac Diatribe oppugnandum sibi sumsit, qui in suo Leviathane C. 46. originem scholarum Ethnicis adscripserat […] Hobbesii sententiam confutavit, et originem Scholarum Ebraeis vindicavit, usumque earum insignem ex cultura animi demonstravit, ad quem capessendam omnes jure divino et naturae obstringuntur«. Die fehlende Forschung zu Adam Rechenberg, »der eine sehr interessante Vermittlerrolle zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung eingenommen hat«, beklagt Döring (Pufendorf-Studien, 64). Rechenbergs Text war zuerst als Dissertation erschienen: Adam Rechenberg (Praes.) / Johann Neumann (Resp.), De origine et usu scholarum, contra Th. Hobbesii Leviathanis Cap. XLVI ex historia, Leipzig 1684. Reimmann benutzte ihn in: Adam Rechenberg, Exercitatio Academica, Leipzig 1707. Als Hobbes-Kritiker profilierte sich Rechenberg in der Schrift: Thomae Hobbesii Heurema Compendiarium in Religione Christiana novum, Leipzig 1674. 8

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Hypothese des Hobbes von einigen wieder auf den Kampfplatz zurückgeführt und durch neue, gleichsam kriegerische Anschläge verbreitet«.10 Als Propagator der erneut ausgebrochenen Auseinandersetzung nennt Reimmann den Verfasser zweier Artikel in den – zwischen 1700 und 1705 anonym erschienenen – Hallenser Observationes selectae.11 Im ersten Band dieser bedeutenden Zeitschrift der deutschen Frühaufklärung, deren Infragestellung des herrschenden, universitär vermittelten Wissens und die mit dieser Kritik verbundene Offenheit für alternative Denktraditionen auch der damals noch junge Reimmann mit mehreren Artikeln unterstützt hatte,12 hatte der Verfasser der Artikel, so Reimmanns Kritik, die Notwendigkeit und den Nutzen von Schulen bestritten und ihren Ursprung, zusammen mit dem der »Respublica civilis«, aus der »Secta Cainitica« abgeleitet.13 Dies alles aber, lautet Reimmanns Resümee, »behandelte der Autor stillschweigend auf eine solche Weise, daß er den Rechenberg herausforderte und gegen diesen den Hobbes verteidigte und schützte«.14 Verfasser der anonymen Artikel über Notwendigkeit, Nutzen und Ursprung der Schulen in den Observationes selectae war der Kopf der Hallenser Frühaufklärung Christian Thomasius.15 Warum die Artikel aus dem Jahre 1700 nicht nur den Pastor Reimmann, Idea systematis antiquitatis literariae generalioris, 65: »Quo ipso licet apud plerosque non parvam gratiam promeruerit, efficere tamen non potuit, quin Hobbesii hypothesis profligata, a nonnullis rursus in aciem reducta, & novis quasi quibusdam machinis bellicis communita sit«. 11 Ebd.: »Quippe qui Tomo I. observationum Hallensium observationem X. et XXX. elucubravit et in priori Scholarum necessitatem juxta et utilitatem rejecit, et in posteriori eas una cum republica civili e Secta Cainitica arcessivit, tacite id egit, ut Rechenbergium lacesseret & Hobbesium contra eum defenderet et vindicaret«. 12 Vgl. Martin Mulsow, Die Paradoxien der Vernunft. Rekonstruktion einer verleugneten Phase in Reimmanns Denken, in: Skepsis, Providenz, Polyhistorie, hg. v. Mulsow/Zedelmaier, 15–59. Ein Verzeichnis der von Reimmann verfaßten Artikel findet sich in: Bibliotheca historiae literariae critica, eaque generalis, in qua libri ad historiam literariam generalem spectantes, et bibliotheca Reimmanniae partem facientes, qua fieri potuit solertia enumerantur, et quid in unoquoque sit asteriso vel obelo dignum, ea, qua fas est, modestia et libertate indicatur. Editio secunda vita auctoris locupletata, Hildesheim 1743, 22. 13 Vgl. Reimmann, Idea systematis antiquitatis literariae generalioris, 65 (vgl. das Zitat Anm. 11). Der Text verweist auf die Observationes X und XXX; tatsächlich aber sind die Observationes X und XIX gemeint. 14 Ebd. (das Zitat Anm. 11). 15 Insgesamt veröffentlichte Thomasius im ersten Band der Observationes selectae (Halle 1700) sechs Artikel zu dieser Problematik; neben den von Reimmann genannten, nämlich Obs. X (Scholae an necessariae sint & vtiles ad studium sapientiae, 111–138) und Obs. XIX (De scholis antedilvvianis, 277–303), Obs. II (Scholae an & quomodo ab Academiis differant), XI (Scholae ad quem statum, & bonorum hominis classem pertineant? Atque de officio sapientis in tolerandis scholarum naevis), XII (Respondetur scholarum panegyristis. Naeui crassiores scholarum: privatae Scholae publicis praeferendae) und XIII (Applicatio dictorum de necessitate & vtilitate Scholarum 10

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Reimmann, dem die Verfasserschaft der Artikel ohne Zweifel bekannt war,16 noch 1718, also zum Zeitpunkt der zitierten Notiz, zu solch scharfen Invektiven veranlaßte, soll mit den folgenden Ausführungen deutlicher werden.

A. Erklärung der Erklärungen perfekter Ursprünge De scholis antediluvianis heißt bei Thomasius der leitende Gesichtspunkt. Die Frage nach der vorsintflutlichen Wissenschaft ist eine Frage nach den Institutionen des Wissens, ein Problem der Erziehung und Wissensübermittlung. Zunächst referiert Thomasius die gängigen Auffassungen zu diesem Thema. Er sucht nach Erklärungen für die Erklärungen, so zur Diskussion über die Frage, ob es im Paradies Schulen gegeben hat. Da die Menschen im »paradiesischen Zustand von Natur aus weise waren«, ist es für Thomasius evident, daß es damals keine Schulen gegeben haben kann.17 Warum aber wird deren Existenz sogar von Martin Luther verteidigt? Luther, erklärt Thomasius, läßt sich von einem Vorurteil leiten, das weit verbreitet ist, nämlich »daß man von den entfernten und vergangenen Dingen sich ein Bild nach der Gegenwart formt«.18 Thomasius bleibt bei dieser Kritik nicht stehen. Ausgehend von dem Grundsatz, »daß man bei der Erforschung des Altertums und fremder Gewohnheiten den Zustand der Menschen, deren Gewohnheiten man beschreibt, zu berücksichtigen und den Unterschied zwischen diesen Gewohnheiten und der Zeit, in der man lebt, zu bedenken hat«,19 geht es ihm um das Verstehen der mit »frommer Intention« vorge-

ad conciones). Zusammen mit zwei Hallenser Kollegen, dem Professor der Moralphilosophie Johann Franz Budde (ab 1705 Theologieprofessor in Jena) und dem Medizinprofessor (und preußischen Leibarzt) Georg Ernst Stahl, war Thomasius auch der Herausgeber der (anonym erschienenen) Observationes selectae. 16 Und zwar nicht nur, weil er selbst Mitarbeiter dieser Zeitschrift war, sondern auch deshalb, weil Thomasius etwa in der Obs. X trotz der Anonymität auf eigene Schriften verweist. 17 [Thomasius], De scholis antedilvvianis, 279 f.: »[…] cum homines in statu integro a natura fuissent sapientes«. 18 Ebd., 282: »Scilicet eo praeiudicio videtur laborasse B. Lutherus, quod adhuc valde frequens & commune est, vt quisque de rebus absentibus aut praeteritis imaginem sibi formet secundum res praesentes.« Die von Thomasius kritisierten Luther-Stellen finden sich in Martin Luther, Vorlesungen über 1. Mose von 1535–45, in: Ders., Werke, Kritische Gesamtausgabe (ed. WA), Bd. 42, Weimar 1911, 72 u. 80. 19 Vgl. (unmittelbar an die in Anm. 18 zitierte Stelle anschließend): »Ita & Lutherus de primaeuorum hominum statu ideam quandam sibi imaginatus est secundum statum suorum temporum, cum tamen potius in examinanda antiquitate & moribus peregrinis, quilibet respicere debeat ad statum hominum, quorum mores describit, & inde differentiam morum populi & temporis, sub quo viuit, notare«.

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tragenen Fabeln:20 »Luther und die anderen Reformatoren streiten in ihren Schriften gegen das Papsttum. Deshalb achten sie bei den Punkten, wo sie vom Papsttum abweichen, genau darauf, daß ihre Lehre mit dem Altertum der Patriarchen und ersten Christen übereinstimmt […]. Um also die vollkommene Reinheit ihrer Lehre in jeder Hinsicht unter Beweis zu stellen, bemühten sie sich, jene Abweichungen mit dem Altertum entweder des alten oder neuen Bundes zu legitimieren. In diesem Streben aber konnte es nicht ausbleiben, daß meist verdrehte und den Regeln einer guten Interpretation widersprechende Erklärungen des Textes der Heiligen Schrift zur Anwendung kamen«.21 Jene gegenwärtigen Erfahrungen und Erwartungen, die sich in den Text der Heiligen Schrift einschreiben, ergeben sich aus konfessionellen bzw. allgemeiner: aus gesellschaftlichen und theologischen Interessenskonflikten und Spannungen. Diese (und eben nicht: bloß häretische Absichten oder bloße Unwissenheit) regieren im Licht der Thomasianischen Vorurteilskritik und Affektenlehre ganz generell die Eigenart der erörterten protestantischen Schriftauslegungen zum Problem der »scholae antediluvianae«.22 Ob nun Schulen schon im Paradies oder erst nach dem Sündenfall angenommen werden, ob Adam, Seth oder die Nachkommen Kains die »scientiae naturales« und die davon abhängigen »artificia« erfunden haben sollen, beinahe alle Entwürfe dieser Art zeigen für Thomasius, »daß solche Lehren ihre Auffassung nicht aus den Worten der Schrift gemäß den Regeln einer guten Interpretation ableiten. Statt dessen fügen sie völlig gegen diese Regeln den Worten Sinn hinzu oder aber unterstellen der Schrift einen scheinbaren Mangel – unter Absehung der Schrift (geleitet nur durch das Vorurteil von der Notwendigkeit und dem Nutzen der Schulen sowie von der Vollkommenheit des gegenwärtigen Zustandes, also ausgeVgl. ebd.: »Quae fabulae quamuis ob piam intentionem excusationem mereantur, non tamen opus erit, vt tempus in earum refutatione consumamus, cum aperte repugnent perfectioni humani generis in statu integro«. 21 Unmittelbar an die in Anm. 19 zitierte Stelle anschließend: »Adde, quod Lutherus aliique reformatores Papatus in scriptis suis subinde saltem id agant, vt in iis punctis, in quibus a Papatu recesserunt, obseruent doctrinam suam conuenire cum antiquitate Patriarcharum & primaeuorum Christianorum: in iis autem moribus, qui haud dubie corruptam naturam hominum qua talem autorem agnoscunt, atque a Papatu ex paganismo in Christianismum introducti ac stabiliti sunt, (quorum adhuc infiniti ex historia Ecclesiastica monstrari possunt & tamen a Luthero & aliis Reformatoribus intacti remanserunt) isti Reformatores primi, vt de puritate doctrinae omnibus numeris absoluta gloriari possent, omnem operam dederunt, vt illos ex Antiquitate vel Veteris vel noui foederis deducant. Quo pacto aliter fieri haud potuit, quam vt fere semper contortae & regulis bonae interpretationis repugnantes expositiones textuum Scripturae Sacrae fuerint adhibitae«. 22 Die einzelnen Positionen »de origine scholarum post lapsum« faßt Thomasius in einem Referat zusammen (ebd., 283–289). Zur Vorurteilskritik und Affektenlehre des Thomasius die Arbeit von Werner Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilskritik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, 84 ff. 20

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richtet an jenem anderen Vorurteil von der notwendigen Übereinstimmung der ersten mit der gegenwärtigen Welt) und indem sie, ich weiß nicht unter welchem Vorwand und mit welchem Recht, etwas fingieren, von dem die Schrift schweigt«.23 Wortreich und elegant scheint Thomasius das protestantische Sola Scriptura einzuklagen. Doch die Rede von der an »Regeln einer guten Interpretation« zu bindenden Schriftauslegung hat für den »selbstdenkenden« Aufklärer keineswegs den Rückzug auf den Wortlaut der Schrift zur Konsequenz.24 Gegen den Sinnüberschuß der gängigen Auslegungen, ihre selbstverständliche Geltung, die er als Präsenz von Konflikten und autoritativer Interessen problematisiert und entlarvt, setzt Thomasius kritische Vernunft. Er will diejenigen überzeugen, »die bis jetzt, durch das Vorurteil der Autorität geblendet, die Erfindungen müßiger Menschen wie göttliche Offenbarungen anbeten«.25 Jede menschliche Satzung und Auslegung ist nämlich irrtumsanfällig und, wie das Beispiel von Luthers Genesis-Auslegung verdeutlicht, besonderen historischen Bedingungen geschuldet. Deren Erforschung hat die rationale Textkritik – Thomasius folgt hier den Grundsätzen Jean Le Clercs – deshalb auch auf die christliche Exegesetradition seit der Patristik zu beziehen.26 Thomasius profiliert den Einsatz der kritischen Vernunft als Kritik extremer Meinungen. Gerade sie sind von Vorurteilen und Irrtümern besonders affiziert. Für die Frage nach dem Wissen Adams folgt daraus, daß sowohl die Auffassung zu ver[Thomasius], De scholis antedilvvianis, 289 f.: »Iam vt taceamus doctrinam hanc communem initio quoad intentionem disciplinarum, ad cognitionem creaturarum & artificia pertinentium, parum sibi cohaerere, dum ab aliis Adamus, ab aliis Sethus, ab aliis Caini posteritas scientias naturales & inde dependentia artificia inuenisse dicuntur; omnes fere lineae ostendunt, quod istae doctrinae sententiam suam non ex verbis scripturae secundum regulas bonae interpretationis deducant, sed plane adversus omnes bonae interpretationis regulas sensum verbis inferant, aut etiam deficiente plane scriptura, (ex solo praeiudicio de necessitate & vtilitate scholarum, & de perfectione status praesentis, ac exinde subsecuto alio praejudicio de necessaria convenientia status primi cum praesente) nescio sub quo praetextu ac quo jure fingendi aliquid, de quo scriptura tacet, defectum aliquem imaginarium scripturae suppleant«. 24 Zum Begriff »Selbstdenken« bei Thomasius Michael Albrecht, Kants Kritik der historischen Erkenntnis – ein Bekenntnis zu Wolff?, in: studia leibnitiana 14 (1982) 1–24, hier 18 ff. 25 [Thomasius], De scholis antedilvvianis, 290: »[…] qui adhuc auctoritatis praeiudicio excoecati, inuenta otiosorum hominum vt reuelationes diuinas exosculantur«. 26 So warf Thomasius den Kirchenvätern vor, nicht »selbst nachzudenken« (Vorrede von 1707 zu Hugo Grotius, De jure belli ac pacis libri tres, neu hg. v. Walter Schätzel, Tübingen 1950, 9 (zitiert nach Albrecht, Eklektik, 414). Am eindringlichsten hat Jean Le Clerc (Clericus) das Prinzip der traditionskritischen, d. h. rationalen und historischen Textkritik vertreten; vgl. Le Clercs Kritik der Irrtümer, Widersprüche und der mangelnden Gelehrsamkeit der Kirchenväter sowie seine »moderne« Auffassung einer fortschreitenden Differenzierung der philologischen Kritik seit dem Humanismus in den Epistolae criticae (zuerst Amsterdam 1700, hier benutzt in der Ausgabe Amsterdam 1712, 116 ff.). Thomasius bezieht sich in De scholis antedilvvianis zweimal auf Le Clerc (vgl. 299 u. 301/Anm.). 23

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meiden ist, Adam sei im Paradies nicht einmal mit den geistigen Fähigkeiten eines Kindes begabt gewesen (weshalb ihm nach dem Sündenfall nur eine ganz schlichte Kenntnis in den Wissenschaften und Künsten zugesprochen werden dürfe), als auch das entgegengesetzte Extrem, nämlich die Auffassung, Adam sei der erste Lehrer aller Fakultäten und Wissenschaften gewesen.27 Extreme Meinungen sind Produkte des Widerstandes gegen das Bestehende und insofern in dessen Präsenz verwickelt.28 Dieser Präsentismus beherrsche auch die Wahrnehmung, Auslegung und Beschreibung der Geschichte der ersten Menschen. Wie kann man der Befangenheit in der Gegenwart entkommen? Nach Thomasius dadurch, daß man die Anachronismen, die den Meinungen über vorsintflutliche Schulen und Wissenschaften ihre Geltung verschaffen, in Frage stellt und den Zustand der ersten Menschen nach dem Sündenfall als Differenz zur Gegenwart begreift.29 Dann freilich, so die Schlußfolgerung, zeigt sich deutlich, »daß Adam, obwohl er ohne Zweifel mit der Einfachheit einer weisen Klugheit ausgestattet war […], es dennoch nicht nötig hatte, Schulen zu errichten, zu unterrichten, die Grammatik, Astrologie, Philosophie, Medizin und Theologie (soweit diese durch bestimmte Definitionen oder Axiome in die Form einer Kunst oder irgendeines anderen geistigen Habitus gebracht worden sind) zu verstehen oder diese seinen Kindern zu lehren«.30 Die Differenzen zwischen dem »status primaevorum hominum post lapsum« und der Gegenwart zeichnet Thomasius mit besonderer Schärfe. Er kann dadurch die Vgl. [Thomasius], De scholis antedilvvianis, 290 f.: »Deinde Adamum quod attinet, vti euitandum est illud opinionis extremum, quasi Adamus in statu integro iis saltem animi viribus fuerit praeditus, quibus hodie gaudent infantes aut pueri nostri, adeoque omni prudenti sapientia fuerit destitutus, vnde non potest non prona consequentia eidem post lapsum in omnibus scientiis & artibus ruditas aliqua plusquam rustica attribui; ita & pariter evitandum est sapientiae studioso, ne vel nimio contradicendi aestu vel alio affectu praecipitanter in alterum extremum inclinet, atque Adamum primum Doctorem omnium facultatum & scientiarum effingat«. 28 Dazu die erläuternde, auf zeitgenössische theologische und philosophische Auseinandersetzungen und Tendenzen anspielende Fußnote zur Anm. 27 zitierten Stelle: »Possent exempla plura afferri defensarum etiam a Viris Magnis sententiarum absurdarum ex nimio studio contradicendi, v.g. de vbiquitate corporis Christi, de damnosis bonis operibus ad salutem, de doctrina Monarchomachorum, & his opposita doctrina de Deo causa Maiestatis immediata. Ita & hodienum quidam Viri minime mali ex nimio studio contradicendi philosophiae paganae omnem philosophiam, h.e. cognitionem creaturarum & sui ipsius tollere volunt, postulantes simplicitatem aliquam irrationalem, h.e. vt quis ipsis credat, etiamsi dubia ex sana ratione & perspicuis textibus scripturae sacrae desumta tollere nequeant« (ebd., 291, Anm. a). 29 Vgl. (unmittelbar im Anschluß an die Anm. 27 zitierte Stelle): »Sed status primaevorum hominum post lapsum, eiusque simplicitas & paucarum rerum indigentia, plurimarum vero, quibus hodie vtimur, vbique felix & quieta carentia probe considerandae sunt«. 30 Ebd., 291 f. (unmittelbar im Anschluß an die Anm. 29 zitierte Stelle): »Tum equidem facile apparebit, Adamum, etsi simplicitate sapientis prudentiae […] haud dubie praeditus fuerit, non tamen opus habuisse, vt vel scholas erigeret, vel concionaretur, vel Grammaticam, Astrologiam, Philo27

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Grenzen der Geltung von Auffassungen der Gegenwart um so schärfer markieren. Es ist vor allem dieser Strategie geschuldet, wenn er ein zentrales Argument der Ursprungsdebatte preisgibt, an dem damalige Gelehrte, etwa der eingangs zitierte Reimmann,31 auch dann hartnäckig festhielten, wenn sie die Existenz einer vorsintflutlichen Wissenschaft in Zweifel zogen: die Evidenz der Schriftlichkeit. Das Argument, daß vor Moses der Gebrauch der Schrift unbekannt war, wurde vor Thomasius vereinzelt zur Verteidigung der Offenbarung gegen Libertins (speziell gegen Spinoza) in Anschlag gebracht.32 Dabei wurde ausdrücklich zwischen (Zeichen)-Schrift und Hieroglyphen unterschieden, die man als autochthone Bildzeichen deutete. Hieroglyphen konnten deshalb ohne Kontakt zu Moses, dem eigentlichen Ausgangspunkt von Schriftlichkeit, entstanden sein. Keines der frühen Völker kam über eine solche (hieroglyphische) Zeichensprache hinaus.33 Das Argument der schriftlosen Frühgeschichte erfüllte außerdem den Zweck, Belege wie den Hinweis des Flavius Josephus auf die zwei beschrifteten Säulen des Seth zu widerlegen.34 Das spielte auch bei Thomasius eine Rolle.35 Doch das Argument der schriftlosen Frühgeschichte war für ihn noch aus einem weiteren Grund attraktiv. In einer erläuternden Fußnote verweist er auf jene Grenzen des gelehrten, von der Schrift beherrschten Selbst- und Gesellschaftsverständnisses, die durch neue Erfahrungen in Frage gestellt wurden: »Freilich können wir uns nur schwer vorstellen, wie eine große Gesellschaft von Menschen ohne Schrift bestehen kann. Jedoch bezeugen die Historien der neuen Welt, daß die Indianer vor der Ankunft der Spanier den Gebrauch der Schrift nicht kannten«.36 sophiam, Medicinam, Theologiam (quatenus hae certis definitionibus aut axiomatibus in formam artis aut alterius cuiuscunque habitus intellectualis sunt redactae) calleret, aut eas liberos doceret«. 31 Vgl. Reimmann, Historia Literaria Antediluviana; dazu Verf., Aporien frühaufgeklärter Gelehrsamkeit. 32 Dazu Verf., Der Ursprung der Schrift. 33 So argumentierte der französischen Refugé Isaac Jaquelot, Gegner Bayles und seit 1702 bis zu seinem Tod (1708) Berliner Hofprediger (vgl. F.R.J. Knetsch, Der Refugé, in: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts [= völlig neubearbeitete Ausgabe von Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie], Bd. 2: Frankreich und Niederlande, hg. v. Jean-Pierre Schobinger, Basel 1993, 991–1004, hier 1000 f.), in: Dissertations sur l’existence de Dieu, Den Haag 1697, Dissertation I, 289 ff.); zum Hieroglyphenargument: »Cette manière d’écrire à passé de la Chine au Japon, et aux Amériquains qui sont sans doute originaires de ces Nations Septentrionales« (ebd. 297). Thomasius verweist bei seinem Argument der schriftlosen Frühgeschichte auf Jaquelot, außerdem auf den spanischen Jesuiten Juan Eusebio Nierenberg (ohne näher einen Text zu bezeichnen). Er bezog sich dabei wohl auf Nierenbergs Schrift: De origine sacrae scripturae libri duodecim, Lyon 1641. Auch nach Nierenberg existierte vor Moses keine Schrift (und wie für Jaquelot sind auch für ihn Hieroglyphen keine Schriftbelege). 34 Vgl. zu den Säulen des Seth vorliegende Arbeit, Teil I, S. 12. 35 Vgl. [Thomasius], De scholis antedilvvianis, 292 ff. 36 Ebd., 292, Anm. b: »Nos quidem difficulter concipimus, quomodo magna societas hominum possit subsistere sine scriptura. Sed tamen historiae noui orbis testantur, quod Indiani ante adven-

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Über den Status einer Fußnote kommt allerdings die Begründung des Arguments einer ursprünglich schriftlosen Gesellschaft und Kultur durch Erfahrungen aus der Neuen Welt, die jenseits des Bibeltextes liegen, bei Thomasius noch nicht hinaus. Seine eigene Auslegung des Ursprungs der Schulen bindet er, zumindest auf den ersten Blick, eng an die Heilige Schrift.37 Adam, von Gott nach seinem Ebenbild geschaffen und mit einer vollkommenen Erkenntnis der Schöpfung ausgestattet, verlor diese »intuitive« Erkenntnis durch den Sündenfall.38 Was ihm blieb, waren nur mehr Schatten der Erinnerung an die verlorene Vollkommenheit sowie einfache, der Bewältigung des Alltags dienende Überreste natürlicher Wissenschaft.39 Dies vermittelte er seinen Kindern, jedoch wegen der Einfachheit und Kürze der Lehre waren dazu kein Unterricht und keine Schulen notwendig, vielmehr wurde alles unmittelbar über die tägliche Praxis gelernt und gelehrt.40 Die frommen Männer lebten einfach, ohne Ausbildung des Verstandes, ohne Studien und auch ohne staatliche Ordnung.41 Doch Kain, ein dem Genuß, dem Ehrgeiz und der Habsucht verfallener Mensch, mißfiel diese Einfachheit. Er hielt die Rede seines Vaters vom Paradies und dessen Vollkommenheit, vom Sündenfall und

tum Hispanorum nullum vsum scripturae habuerint«. Anschließend verweist Thomasius noch auf das Zeugnis der Germania des Tacitus: »Testatur Tacitus de Germanis, quod literarum secreta ignoraverint. Nec obstat, quod tales populi dicantur Barbari. Alibi enim ostensum, populos Barbaros esse sapientiores gentibus, quae moratiores vocantur«. 37 Vgl. den Schlußabschnitt ebd., 299–303, der wie folgt beginnt: »Meam vero sententiam de origine scholarum quod attinet; videtur res genuinis de origine rerum principiis, quas sacrae literae tradunt, sic esse maxime conueniens«. 38 Ebd., 299: »Postquam Adamus a Deo ad sui imaginem conditus, & sic perfecta cognitione intuitiua creaturarum, atque amore puro & sincero creatoris praeditus, comestione arboris vetitae Deo aequalis fieri & intima inaccessibilis & imperceptibilis essentiae diuinae ope sensitiuae vnionis cum spiritu creaturarum, cui dominari debebat, speculari niteretur, poenam peccati mox sentiens & id quod antea erat statim esse desinens, factus est creatura Deum odio habens & cognitione intuitiua illa priuabatur, adhaerentibus perpetuo ei eiusque progeniei duobus eminentibus lapsus signis«. 39 Ebd., 300: »Remansisse etiam Adamo arbitror, in ista vmbra recordationis, reliquias scientiae naturalis de essentia creaturarum seu earum vero & genuino vsu, non systematicae cuiusdam, chimaeris terminorum & abstractionum superbientis, nec curiosae etiam & luxuriantis, artificiosissimas & affectibus humanis inseruientes easque foeuentes machinas inuenientis; sed simplicis, & quantum solum ad necessitates humanas esset opus«. 40 Ebd., 301: »Propterea tamen nullis concionibus aut scholis fuit opus ob doctrinae simplicitatem & breuitatem, sed omnia ista partim inter medios labores quotidianos & domesticos ipso vsu ostendi & doceri poterant, partim in quiete quotidiana a laboribus sat temporis supererat, amico colloquio & discendi & docendi absque obseruatione certae horae, absque dictatis, absque Catechismo & verborum certorum commemoratione«. 41 Ebd., 302: »In ista simplicitate qui permanserunt viri pii, nullo alio cultu animi, nullis studiis, nullo defensore adeoque nec vlla Republica habebant opus«.

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dessen Bestrafung für eine Fabel, welche die Menschen von ruhmreichen Handlungen abhalten sollte. Um die Menschen von ihrem armseligen Leben zu befreien und ihnen ein bequemes Leben zu ermöglichen, verließ er die väterliche Einfachheit, gründete eine Stadt, erließ Gesetze und erfand Künste.42 Erst dadurch wurden öffentliche Schulen notwendig. Sie dienten dem Zweck, den Menschen von Jugend an »das Vorurteil der Autorität« einzuprägen, damit sie »mit blindem, verordnetem Gehorsam« die Herrschaft verehrten. Durch »die ständige Überredung, der gefallene Mensch sei das Vortrefflichste der Schöpfung und die Ausbildung des Verstandes sowie neuer Künste und Wissenschaften könne zur höchsten Glückseligkeit fortschreiten«, fielen sie von der »wahren Kirche« ab: »Das ganze Menschengeschlecht wurde so von der himmlischen Weisheit, jener unschuldigen, barmherzigen und einfachen ohne Schein und Sekten, zur irdischen, menschlichen und dämonischen Weisheit geführt. Dies jedenfalls lehrte der Ausgang, nachdem in der Zeit Noahs alle Nachkommen Adams zur Sekte Kains übergelaufen waren, angelockt nicht zuletzt durch die göttlich blendende Verehrung, die sich die Kainiten ausgedacht und durch frohlockende Musik ausgeschmückt hatten. Und diese Verehrung beherrschte ohne Zweifel auch die vielen Lehrvorträge an das Volk, die den Götzendienst stärkten«.43 Was Thomasius seinen Lesern zum Ursprung der Schulen anbietet, verzichtet also keineswegs, wie die entsprechenden Ausführungen des Thomas Hobbes im Leviathan,44 auf die Bibel; ja seine Darstellung, betont er, stimme im höchsten Grad mit den wahren Fundamenten über den Ursprung aller Dinge, wie sie die Heilige Schrift überliefere, überein.45 Daß Reimmann in seiner Rezension dennoch einen Zusam-

Ebd., 302: »Sed haec simplicitas vitae & religionis mox displicebat Caino, homini voluptatibus, ambitioni & auaritiae maxime dedito. Vnde tradita patris de statu integro eiusque perfectione, de lapsu eiusque poenis, immersus desideriis cordis sui haud dubie pro fabulis habuit, homines ab actionibus gloriosis ad vitam ingloriam ducentibus. Hinc viribus ingenii abutens & a simplicitate paterna secedens ciuitatem condidit, leges promulgauit, artes inuenit, vitam hominis magis commodam, amoenam, & delectabilem reddentes«. 43 Ebd., 302 f.: »Ciuitate condita & scholis opus erat publicis, partim vt a teneris annis homines discerent a praeiudicio auctoritatis pendere, & ita coeca obedientia jussa imperantium venerari; partim vt persuasione perpetua, quod homo lapsus etiam sit praestantissima creaturarum, quodque cultura intellectus & nouarum artium ac scientiarum ad summam felicitatem progredi possit, separarentur eius subditi a vera Ecclesia, & sic totum genus humanum ad sapientiam terrenam, humanam, & daemoniacam a sapientia coelesti, casta illa, misericordi, simplici sine fuco & sectis traduceretur. Id quod & eventus docuit, tempore Noachi omnibus Adami posteris ad Cainiticam Sectam translatis, alliciente eos etiam cultu illo diuino splendido a Cainitis excogitato & musica Iubalitica exornato, in quo adeo haud dubie & multae ad populum conciones pro confirmanda idololatria fuere habitae«. 44 Vgl. vorliegende Arbeit, S. 61f., 73. 45 Vgl. die Anm. 37 zitierte Stelle. 42

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menhang mit den Überlegungen des als Atheisten verdächtigten Engländers herstellte, erscheint also wie eine böswillige Unterstellung. Zudem geht Thomasius in seinem Text mit keinem Wort auf Hobbes ein. Doch die Provokation, die der Text für Reimmann darstellte, sowie die tatsächliche Nähe, aber auch Differenz zu Hobbes zeigen sich deutlicher, wenn man die Aussagen und Konsequenzen der luziden, scheinbar so harmlosen Konjekturen, die Thomasius feinsinnig mit dem biblischen Bericht verwoben hat, im Kontext seiner Aufsätze über die Notwendigkeit und den Nutzen von Schulen liest.

B. Das Problem der Erziehung und Wissensübermittlung Thomasius unterscheidet die adamitischen Erkenntnisvermögen strikt von den menschlichen Erkenntnis- und Wissensformen, die mit Kain beginnen und noch dem gegenwärtigen Wissensstreben zugrunde liegen. In dieser, deutlich am Naturzustandsmodell Samuel Pufendorfs orientierten Perspektive arbeitet Thomasius, wie dann auch Gundling und Heumann, an der Zerstörung jener Figur eines vollkommenen Anfangswissens, deren Rekonstruktion die frühneuzeitliche Philosophie der »theologia prisca« und »philosophia perennis« betrieb. Wie auch immer die Formen des Zusammenlebens und Wissens unmittelbar nach dem Sündenfall auszumalen sind, auf jeden Fall ist ihr Charakteristikum die »simplicitas«, wie Thomasius nicht müde wird zu betonen. Erst mit Kains Abfall von den einfachen Lebens- und Wissensformen seines Vaters kommen die Bedingungen und Regeln ins Spiel, die von da an die menschliche Gesellschaft und ihr Wissensstreben beherrschen und denen Thomasius die Affektgebundenheit menschlicher Erkenntnis und eine pessimistische Anthropologie abliest.46 Das Wissen hat seitdem einen prekären Status, denn es unterliegt Techniken und Strategien der Macht und Rhetorik, die seine Einübung und Verehrung erzwingen und den Raum individueller Erfahrung und Einsicht zunehmend einengen. Ausdruck des Verlusts der »simplicitas« ist die Entstehung von öffentlichen Schulen und, damit zusammenhängend, von philosophischen »Sekten«. Thomasius, dem Kritiker scholastischer Autoritätsfixierung und Propagator unabhängigen Selbstdenkens, zeigen sich so die Anfänge des Wissens zwiespältig. Ihre heiligen Ursprünge sind einfach und in ihrer gleichsam bewußtlosen Praxis geradezu profan, zugleich aber unwiederbringlich verloren, ihre profanen Ursprünge, die noch Dazu, im Blick auf die Erkenntnistheorie des Thomasius, Hans-Jürgen Engfer, Christian Thomasius. Erste Proklamation und erste Krise der Aufklärung in Deutschland, in: Christian Thomasius 1655–1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung. Mit einer Bibliographie der neueren Thomasius-Literatur, hg. v. Werner Schneiders, Hamburg 1989, 21–36, 28 ff. 46

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die Gegenwart beherrschen, von religiös verbrämter Verblendung gezeichnet. Die Verhaftung des menschlichen Wissens an die von Beginn an von profaner Herrschaft geprägten Bedingungen ihrer Vermittlung wird von der gängigen Konstruktion eines heiligen Ursprungs der Schulen verkannt, ja die Konstruktion dieses Ursprungs erweist sich in der Perspektive des Thomasius, des Analytikers der Vorurteile, als Verteidigung und Legitimierung gegenwärtiger Macht und Schulautorität. In seiner Untersuchung über vorsintflutliche Schulen geht es Thomasius deshalb nicht nur um Kritik und Widerlegung von Textbelegen, mit denen die Vorstellung eines heiligen Ursprungs des Wissens gewöhnlich legitimiert wurde.47 De scholis antedilvvianis reflektiert vor allem die Grenzen gegenwärtiger Vergangenheitsauffassung und verweist zugleich auf die Bedingungen dieser Grenzen. Wissen zeigt sich als ein Problem der pragmatischen Bedingungen seines Erwerbs und seiner Vermittlung. Und wie Thomasius das protestantische Schrift- und Traditionsprinzip als Ausdruck einer besonderen historischen Konfliktkonstellation interpretiert, kann man auch seine eigenen Überlegungen zum Ursprung, Nutzen und zur Notwendigkeit von Schulen im Blick auf seine Erfahrungen und Konflikte mit der herrschenden Schulphilosophie und dem episkopalistischen Kirchenregiment48 lesen. Daß seine historische Auszeichnung des »Ursprungs und Fortschritts der Schulen« von der Frage nach der Notwendigkeit und dem Nutzen gegenwärtiger Schulen angetrieben werden, hat Thomasius gleich zu Beginn der Abhandlung über die vorsintflutlichen Schulen unterstrichen und dabei auf eigene Artikel verwiesen.49 Auseinandergesetzt hatte er sich dort mit der gängigen Begründung der Notwendigkeit und des Nutzens von Schulen, nämlich daß ohne Schulen das Seelenheil und das, was die Ausbildung dieses »bonum« fördert, die »sapientia vera«, nicht erreicht werden können.50 Thomasius bestreitet keineswegs, daß Schulen zur Ausbildung von praktischen und theoretischen Fähigkeiten förderlich sein können,51 doch entschieden kritisiert er Neben der Kritik der »fabula de columnis Sethianis« geht es Thomasius hier u.a. um den Nachweis, daß das »librum Enochi esse supposititium« ([Thomasius], De scholis antedilvvianis, 295f.). 48 Dazu die Beiträge von Martin Pott (Thomasius’ philosophischer Glaube) und Stephan Buchholz (Christian Thomasius: Zwischen Orthodoxie und Pietismus – Religionskonflikte und ihre literarische Verarbeitung), beide in: Christian Thomasius, hg. v. Schneiders, 223–247 bzw. 248–255. 49 Vgl. [Thomasius], De scholis antedilvvianis, 279: »Cum supra euidenter ostenderim, scholarum tantam necessitatem non esse, vt vulgo jactatur, ordo nunc postulat, vt ex historia iam in originem & progressum Scholarum inquiramus, vt appareat, vnde & quo tempore scholae in statu hominis lapsi originem sumserint, quo postea suo loco eo melius de iure principum circa emendandos scholarum naeuos progredi possimus«. 50 Vgl. [Thomasius], Scholae an necessariae sint & vtiles, 114 f. 51 Vgl. ebd., 116: »[…] ne satisfecisse nos argumento putemus, si ostenderimus, doctrinam sapientiae esse homini necessariam ac vtilem, vt quod non est in quaestione, verum, vt videamus, an modus docendi in scholis receptus momentum afferat ad aquirendam sapientiam veram«. 47

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die Auffassung, daß Schulen für das Streben nach wahrer Weisheit notwendig oder auch nur, im Sinne einer verbesserten Effektivität dieses Strebens, nützlich sind.52 Schulen dürfen deshalb nicht mit der »doctrina sapientiae« selbst identifiziert werden, sie können nur Mittel sein, mit dessen Hilfe Weisheit gelehrt werden kann.53 Während nämlich die – als »societas arbitraria« definierte – Schule je unterschiedliche »sapientiae scholasticae« lehrt, ist die »vera sapientia« unteilbar. Zur Begründung verweist Thomasius auf die Vielzahl der in Schulen vermittelten – auch unnützen – Wahrheiten. Dagegen haben die Prototypen der Vernunft- und Glaubenswahrheit, also Sokrates und Christus, überhaupt keine Schulen gekannt.54 Es können hier nicht die komplexen Überlagerungen und Überblendungen von theologischen, naturrechtlichen, philosophischen sowie schul- und kirchenpolitischen Konflikten und Interessen im einzelnen analysiert werden, die sich in den Text des Thomasius über vorsintflutliche Schulen eingeschrieben haben.55 Wichtig ist für die Ursprungsdebatte Folgendes: Schulen sind für Thomasius willkürliche, profane Institutionen. Von Anfang an besitzen sie deshalb einen problematischen Status, den die Vertreter des heiligen Ursprungs und der Heilsnotwendigkeit von Schulen nicht anerkennen wollen, um dadurch die »Scham Noahs«, d. h. ihre eigenen Irrtümer, zu verbergen.56 Daß Thomasius damit das kirchlich beherrschte Schulsystem zur Dispo-

Vgl. ebd., 114: »Per necessitatem vero intelligimus h. l. id, sine quo studium sapientiae verae non potest perfici, aut sapientia vera acquiri, et per vtilitatem id, sine quo sapientia non ita facile ac commode acquiritur«. Den Nachweis führt Thomasius dann ausführlich ebd., 117 ff. 53 Ebd., 116. Diese Differenzierung ist auf das Problem der Mitteldinge, der Adiaphora, zu beziehen; dazu Buchholz, Christian Thomasius (in: Christian Thomasius, hg. v. Schneiders). Daß die »scholae« nicht »ipsa doctrina sapientiae« sind, sondern nur »modum sapientiam hanc docendi«, behandelt Thomasius in Obs. II (Scholae qvid? Et qvomodo ab Academiis differant, 26–35). 54 Vgl. [Thomasius], Scholae an necessariae sint & vtiles, 117 f.: »Quod sapientiae paganae magister famigeratissimus Socrates, quod verae sapientiae et salutis summae animi nostri autor ac restaurator, Christus, non duxit esse necessarium, id qua ratione nos pro necessario haberemus? At scholas ignorasse et Socratem, et Christum, iam supra d. obs. 2. §.6. & 7. docuimus«. 55 Aufschlußreiche Parallelen und Erläuterungen ergeben sich im Vergleich mit den Interpretationen von Engfer, Pott und Buchholz sowie mit weiteren Beiträgen des von Schneiders herausgegebenen Thomasius-Bandes (Klaus Luig, Das Privatrecht von Christian Thomasius zwischen Absolutismus und Liberalismus, ebd. 148–172; Rolf Lieberwirth, Christian Thomasius und die Gesetzgebung, 173–186; Manfred Beetz, Ein neuentdeckter Lehrer der Conduite. Thomasius in der Geschichte der Gesellschaftsethik, 197–222); vgl. auch die Beiträge in: Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung, hg. v. Friedrich Vollhardt, Tübingen 1997. Zur Auseinandersetzung des Thomasius mit der Theorie und Praxis pietistischer Reformpädagogik August Hermann Franckes Döring, Pufendorf-Studien, 107 f., Martin Kühnel, Das politische Denken von Christian Thomasius, Berlin 2001, 271 ff. 56 So Thomasius in der Auseinandersetzung mit einem seiner Leipziger Hauptkontrahenten, dem Theologen Johann Benedikt Carpzov; vgl. Werner Schmidt, Ein vergessener Rebell. Leben und Wirken des Christian Thomasius, München 1995, 147. 52

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sition stellte, dies vor allem mag den als Superintendenten und Leiter der Schulverwaltung in Hildesheim tätigen Pastor Reimmann gegen den Text des Thomasius besonders sensibel gemacht haben. Wenn der weltläufige Jurist Thomasius, der nicht bei der Kritik der zünftigen und pedantischen respublica literaria stehenblieb,57 sondern gegen jede Form von monopolisierter Wissensinstruktion durch »Sekten« polemisierte,58 private und offene Formen der Wissensaneignung empfahl,59 dann war dieses »Denken, das ins Leben greift«,60 auf eine außerakademische, politische Welt bezogen, von der Reimmanns gelehrte Neugierde weitgehend unberührt blieb. Der Nachweis des Thomasius, daß Schulen seit ihren Anfängen profane, durch den Sündenfall mit all seinen Konsequenzen gezeichnete Institutionen sind,61 ist von dem Interesse beherrscht, die Legitimität »heiliger Autoritäten« in Frage zu stellen. In dieser Hinsicht, also im Blick auf die Konsequenzen für die Gegenwart, ist seine Abhandlung über vorsintflutliche Schulen durchaus mit dem von Reimmann angeführten Abschnitt des Leviathan vergleichbar. Auch Hobbes geht es in seiner Untersuchung der Ursprünge sowie des Nutzens von Schulen und Universitäten um die Kritik der bloß auf Alter und Tradition gestützten Autorität »geistlicher Herrn«, die er in ihren ganz profanen Herrschaftsansprüchen entlarvt.62 Mag die Übereinstimmung in den Konsequenzen auf unterschiedliche theologische und philosophische Prämissen zurückgehen,63 so hat doch auch Thomasius die geheiligten Autoritäten einer scharfen Kritik unterzogen: Eingekleidet in eine Bibelauslegung, hat er seine Gegner gleichsam auf ihrem eigenen Feld zu schlagen versucht. Dazu Wilhelm Kühlmann, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters, Tübingen 1982, 423 ff.; Gunter E. Grimm, Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung, Tübingen 1983, 346 ff. 58 Vgl. Albrecht, Eklektik, 398 ff. Zu den Grenzen der von Thomasius postulierten Freiheit des Denkens Günter Gawlik, Thomasius und die Denkfreiheit, in: Christian Thomasius, hg. v. Schneiders, 256–273 (dort auch, 259, der Nachweis der Stelle, wo Thomasius die als »Monopol« betriebene Wissenschaft kritisiert). 59 Zur Schulkritik im einzelnen und zur Begründung der Vorzüge der Privaterziehung [Thomasius], Scholae an necessariae sint & vtiles, 118ff., sowie den Artikel [Thomasius], Scholae ad quem statum, 138–145; vgl. dazu Kühnel, Das politische Denken von Christian Thomasius, 264ff. 60 Braun, Geschichte der Philosophiegeschichte, 105. 61 Zu diesen Konsequenzen für die Erkenntnistheorie Engfer, Christian Thomasius, 26 ff. 62 Vgl. das von Reimmann angesprochene Kapitel 46, das »Von der Finsternis auf Grund von Afterphilosophie und Überlieferungen, die ins Reich der Fabel gehören« überschrieben ist, sowie das 47. Kapitel (»Von dem Vorteil aus dieser Finsternis, und wem er zugute kommt«) und den »Rückblick und Schluß« (in: Thomas Hobbes, Leviathan, 507 ff.). 63 Die hier nicht näher von Interesse sind. Zu den philosophischen und theologischen Grundlagen des Leviathan vgl. die einschlägigen Artikel in: Ueberweg (Neubearbeitung), Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, hg. v. Jean-Pierre Schobinger, Bd. 3: England, Basel 1988, 91 ff. (zur Forschungsliteratur ebd., 192 ff.). 57

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Teil III · Das Anfangsproblem in der Philosophiegeschichte

Die Frage nach den Anfängen des Wissens war für Thomasius nicht eine Frage nach ersten Erfindern oder ursprünglichen Weisheiten. Ähnlich sah dies bereits sechzig Jahre früher der Helmstedter Professor Hermann Conring.64 Conring stellte die Frage nach den Anfängen der Institutionen des Wissens, soweit sie durch profane, d. h. außerbiblische Quellen belegt und damit der historisch-philologischen Kritik zugänglich waren. In der Dissertation De statu scholarum ubique terrarum ac gentium inde ab antiquissima memoria usque ad Academiarum in Europa ortum 65 untersucht er kritisch die antiken Quellenbelege über älteste (d. h. ägyptische, chaldäische und persische) Schulen.66 »Scholae antediluvianae« sucht man hier vergeblich. In einer langen Anmerkung (»Supplementum«) gibt Conring darüber Auskunft, warum er sie in seiner Abhandlung nicht berücksichtigte.67 Die Schlußfolgerung lautet: »Das Leben des menschlichen Geschlechts vor der Sündflut war äußerst wüst […], sodaß ohne Zweifel die Pflege der guten Künste und Wissenschaften im ganzen Erdkreis unter den wilden und in Lüsten versunkenen Menschen verschwand. Darum, denke ich, wird es niemand mißbilligen, wenn von diesen Schulen in unseren Dissertationen nichts gesagt wurde. Zumindest bis heute nämlich besitzen wir nichts, was wir darüber mitteilen könnten«.68 Allerdings bezweifelt Conring nicht, daß »Schulen der In sieben Dissertationen, die auf Universitätsreden zurückgehen. Conring trug sie anläßlich von Feierlichkeiten und Stiftungsjubiläen an der 1576 eröffneten Helmstedter Academia Iulia zwischen 1637 und 1640 vor. 1651 wurden sie erstmals unter dem Titel De antiquitatibus academicis gedruckt. Die 2. Auflage erschien (wie die erste in Helmstedt) 1674; benutzt wird die von Christoph August Heumann herausgegebene, eingeleitete und um eine Bibliographie von Texten zur Universitätsgeschichte erweiterte 3. Auflage, die auch Conrings Vorworte zur 1. und 2. Auflage enthält: Hermann Conring, De antiquitatibus academicis dissertationes septem una cum eius supplementis. Recognovit Christopherus Augustus Heumannus adiecitque bibliothecam historicam academicam, Göttingen 1739. 65 Vgl. ebd., 1–55. 66 Ebd., 3 ff. Am Beginn des Abschnitts steht die generelle Feststellung: »Agide, ergo, loquamur initio breuiter de AEgyptiorum, Chaldaeorum, & Persarum scholis: vt pote apud quas gentes regnum diu omnis eruditionis fuit, & quidem multis ante saeculis, quam ad Graecos doctrinae cura peruenit. AEgyptiis vero primum tribuemus locum, siue quod reapse primis illis eruditionis propagatio fuerit animo, siue quod sibi primis hanc gloriam vindicent«. Was den ägyptischen Ursprung der Wissenschaften betrifft, argumentiert Conring an dieser Stelle eher vorsichtig zurückhaltend, jedoch im Supplementum (ebd. 207) heißt es über die Schulen der Ägypter: »DE AEGYPTIORVM scholis statim p. 3 fecimus Dissertationis initium: idque merito, quoniam hae maxime olim celebres, & laudem ad postera etiam saecula eximiam transmiserunt«. 67 Vgl. ebd., Supplementa, 199–206. Der Eingangssatz lautet: »Non attigi scholas antediluuianas, idque studio & de industria«. 68 Ebd., 206: »Certe fugit nos omnis illa scholae ratio. Ea porro tandem belluina fuit vniuersi humani generis ante diluuium vita […] vt indubie bonarum artium scientiarumque per omnem terrarum orbem cultura auanuerit inter homines feros & voluptatibus immersos. Eapropter in Dissertationibus nostris de scholis istis nihil esse dictum, nemo, arbitror, improbabit. Nec vero vel nunc habemus, quod de iis afferre in medium queamus«. 64

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Wissenschaften und bestimmter freier Künste« in vorsintflutlicher Zeit existierten.69 Die Aussagen des biblischen Berichts sowie Vernunftgründe sprechen für diese Auffassung.70 Soweit schließt sich Conring der (in Teil I skizzierten) theologischen Exegesetradition an. Doch die Belege, die der durch den Bibeltext ja nicht wörtlich abzusichernden Überzeugung philologische Evidenz verliehen, hält Conring für unglaubwürdig,71 so vor allem die durch Flavius Josephus überlieferten SchriftSäulen. Denn der Beleg wird durch kein weiteres antikes Zeugnis bestätigt, wie überhaupt, so Conring, die ganze Darstellung des Josephus zweifelhaft ist, weil er aus Fabeln seiner Zeit schöpfte und sich auf unglaubwürdige Zeugnisse stützte.72 Es läßt sich also zwar mit hypothetischer Gewißheit erschließen, daß es vor der Sintflut Schulen gegeben haben muß, und dies mag dem Theologen genügen. Doch der an Aussagen über ihre konkrete Verfassung und Praxis interessierte Jurist und Historiker Conring benötigt die dokumentarische Evidenz.73 Die jedoch ist weder über die heilige Geschichte noch über außerbiblische Quellenbelege, unterwirft man sie den Maßstäben historisch-kritischer Philologie, zu gewinnen. In dieser Hinsicht läßt sich nur Zweifelhaftes über vorsintflutliche Schulen aussagen.74 Conring interessierte sich wie Thomasius für die sozialen Formen und Praktiken des Wissens und damit für die Anfänge des von Menschen errungenen Wissens. Die

Ebd., 199: »Equidem haud dubito, ne tum quidem defuisse scientiarum & liberalium quarumuis artium scholas«. 70 Vgl. ebd., 199 f. Im einzelnen führt Conring u. a. die längere Lebensdauer der damaligen Menschen und die (mit Aristoteles belegte) natürliche Sehnsucht zu Wissen an. 71 Vgl. ebd., 201 ff. Ausführlich zu Hermann Conrings Kritik unglaubwürdiger Überlieferungen dessen chronologische Studie De Asiae et Aegypti antiquissimis dynastiis adversaria chronologica (Helmstedt 1648, hier benutzt in der Ausgabe: Syntagma variorum dissertationum rariorum, quas doctissimi superiore seculo elucubrarunt […] Ex Musaeo Joannis Georgii Graevii, Utrecht 1702, 138–204). 72 Vgl. De antiquitatibus academicis, 201 f., u. a.: »Quin imo ne Iosepho quidem secure credi potest: quoniam omne hoc hausit ex fabulis sui aeui; infidis sane rerum testimoniis«; die Schlußfolgerung lautet: »Sunt tamen omnia etiam haec incerta, eoque nihil nos iuuant ad id, vt de scholis antediluvianis aliquid indubitati affirmemus«. 73 Zu Conrings Politikbegriff und seinen historischen Arbeiten vgl. die einschlägigen Aufsätze in: Hermann Conring (1606–1681). Beiträge zu Leben und Werk, hg. v. Michael Stolleis, Berlin 1983. Zum Zusammenhang Jurisprudenz und historisch-philologische Kritik an deutschen Universitäten Hammerstein, Jus und Historie; zu Conrings methodischer Skepsis Völkel, »Pyrrhonismus historicus«, 110 ff. 74 Die Antiquitates Academicae blieben für das ganze 18. Jahrhundert mustergültig. Vgl. zur Wirkung das Urteil Heumanns im Vorwort seiner Edition der Antiquitates Academicae, IIIf.: »Inter tot Historiae literariae partes haud esse illam postremam, quae ipsos Helicones & Parnassos, hoc est, officinas literatae sapientiae, diligenter describit, cum facile intelligatur, magni semper habita fuit CONRINGII opera, singulari libro persecuti Antiquitates Acadamicas, & quidem more suo persecuti, id est, doctissime elegantissimeque. Merita igitur liber ille viri inter sui saeculi pri69

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Anfänge des Wissens erscheinen im nüchternen Licht der Gegenwart, zeigen sich als Beginn dieser Gegenwart und ihrer Praxis. Die Auffassung eines Zusammenhangs des menschlichen Wissensstrebens zeigt sich in der Suche nach Kontinuitäten, aber auch in der Aufmerksamkeit für Differenzen zur Gegenwart.75 Sowohl Christian Thomasius wie auch Hermann Conring haben die traditionellen Belege für einen Transfer des vorsintflutlichen perfekten Wissens entweder marginalisiert oder historisch-philologisch zu zerstören versucht. Die Heilige Geschichte selbst läßt sich dann, von außerbiblischen Belegen befreit, mit den nüchternen Augen der Gegenwart lesen und vernünftig als Beginn der Unvernunft auslegen, wie dies Thomasius auch explizit getan hat. Bei beiden, nicht an der heiligen Weisheit, sondern an der Pragmatik des Wissens interessierten Gelehrten zeigen sich heilige und profane Texte, die bei der Suche nach perfekten Ursprüngen des Wissens auf vielfältige Weise miteinander in Beziehung gesetzt wurden, als zwei voneinander unabhängige Bezugsgrößen, die es im problematischen Bezirk des Anfangs der Geschichte sorgfältig zu unterscheiden gilt.

marios viros summo relati iure iamdudum praeconia tulit a Morhofio & Reimmanno, viris & ipsis historiae literariae consultissimis«. Conring zerstörte die noch für viele Gelehrte des 18. Jahrhunderts gültige Konstruktion des heilsgeschichtlichen Ursprungs der abendländischen Schulen und Universitäten, den Jakob Middendorp (Academiarum orbis Christiani libri duo: quibus praeter earum institutionem, et progressiones, tam falsae quam verae religionis, atque sapientiae origo, Noachique post diluvium, et SS. Apostolorum Iesu Christi in Europam adventus, et coloniae describuntur, Köln 1572 u. ö.) einflußreich mit dem »Ursprung der wahren Religion und Weisheit« verbunden hatte. Zu Conring als Begründer der kritischen Schul- und Universitätsgeschichtsforschung Verf., Zur Geschichte der Georg-August-Universität Göttingen. Wissenschaftsgeschichtliche Erträge des Göttinger Universitätsjubiläums, in: Das achtzehnte Jahrhundert 13,1 (1989) 9–17, hier 9 f. 75 Vgl. Conring, De antiquitatibus academicis, Praefatio zur 2. Edition, XXIII: Nicht »singulae Academicae prisci aeui« gelte es zu untersuchen, »sed duntaxat antiquum Academiarum statum: idque in id solum, vt rectius intelligi possit, quid rerum nostrarum vetus, quid nouum, atque adeo qua origine & quando saltim potissima quaeque nostra inceperint«; vgl. auch zu den ägyptischen Schulen (ebd., 6): »Constat autem ex ante dictis, scholas illas AEgyptiacas nonnihil cum nostris habuisse quidem commune, in multis tamen fuisse nostris dissimillimas. Primo enim non patuerunt sine discrimine omnibus, vt nostrae, sed paucis tantum, & quidem vix aliis, quam sacerdotalis familiae hominibus. Deinde ipsorummet doctorum longe lautissima fuit conditio, prae vt est nostra: vtpote quorum & liberis & vxoribus de omnibus vitae subsidiis abunde fuerit prospectum. Porro obseruare nihil est de honoribus & gradibus discentium, nihil de regiminis aliqua forma reipublicae aemula, apud illos obtinuisse: quod apud nos valet maxime«.

Die Hebräer unter den Barbaren

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2. Die Hebräer unter den Barbaren: Nikolaus Hieronymus Gundling Als Christoph August Heumann jene Gelehrten würdigte, die vor ihm das Vorurteil, es habe eine vorsintflutliche Philosophie existiert, bekämpft hatten, mußte er die Rolle, die dabei Christian Thomasius zukam, einschränken. Denn Thomasius, so Heumann, sei früher, d. h. vor seiner Abhandlung über vorsintflutliche Schulen, ebenfalls ein Anhänger der »gemeinen Meynung« gewesen, daß die ersten Menschen Philosophen waren.76 In der (zuerst 1688 publizierten) Introductio ad philosophiam aulicam hatte Thomasius nämlich unter den »Sectae Philosophorum«, die vor Christus herrschten, als die frühesten die »Antediluvianae« bezeichnet und diese folgendermaßen charakterisiert: »Vor der Sintflut unterrichtete Adam nach dem Fall seinen Kindern eine unverdorbene und vernünftige Philosophie, die dann Kain verdarb, weshalb sogleich eine Spaltung der Philosophie in die Anhänger Seths bzw. die Söhne Gottes und die Anhänger Kains entstand«.77 Und Thomasius zog diese Genealogie über die Sintflut hinaus, indem er den Vorrang der reinen jüdischen Philosophie betonte.78 Thomasius faßte mit diesen Ausführungen nur zusammen, was er in Georg Horns Historia philosophica aus dem Jahr 1655 gefunden hatte. Daß er z.T. wörtlich aus Horn zitiert hatte, ohne die darin enthaltenen »Theses zu examiniren und zu prüfen«, wollte Heumann zwar nicht als Plagiat (»plagium litterarum«) seines Lehrers verstanden wissen, denn dieser habe nur ein Kompendium für Studenten verfaßt, und hier bestehe das Recht, die »allegata« wegzulassen, die bei den mündlichen Erklärungen ergänzt würden.79 Doch das Vorurteil (»praejudicium«) einer unkritischen Fortführung der traditionellen Auffassung zur vorsintflutlichen Philosophie sei bestehen geblieben. Erst Nikolaus Hieronymus Gundling, so Heumann, habe es »fahren« gelassen. Gundling war wie Heumann Schüler des Thomasius und lehrte wie sein Lehrer als Professor in Halle.80 Heumann bezieht sich in seinem Urteil auf das siebte Kapitel [Heumann], Acta Philosophorum, Bd. 1, Fünftes Stück, 763 / Anm. p. Christian Thomasius, Introductio ad philosophiam aulicam, Leipzig 1688 (hier benutzt in dem von Werner Schneiders hg. u. eingel. Nachdruck, Hildesheim u.a. 1993, Bd. 1 der von Schneiders hg. Ausgewählten Werke), 6: »Ante diluvium ADAMUS post lapsum sanam ac sobriam Philosophiam docuit liberos suos, quam mox corrupit CAINUS, unde statim duplex Secta fuit orta, Sethianorum seu filiorum DEI & Cainitarum.« 78 Vgl. ebd., 7: »Uti igitur tum temporis penes Judaeos fuit pura Philosophia & summum fastigium attigit in SALOMONE, quamvis & ipsa saepius a falsa Philosophia fuerit adulterata; ita Gentilium Philosophia non incommode dividi potest, in Barbaricam & Graecanicam, etsi de alterutrius prae altera antiquitate litem nostram non faciamus«. 79 [Heumann], Acta Philosophorum, Bd. 1, Sechstes Stück, 1045 f. (in der Rezension von Horns Philosophiegeschichte). 80 Zur Biographie Rolf Lieberwirth, Gundling, Nikolaus Hieronymus, in: NDB (1966) 318 f., Hammerstein, Jus und Historie, 205 ff., und (für die folgenden Ausführungen einschlägig) Mulsow, Gundling versus Buddeus bzw. Moderne aus dem Untergrund, Kap. VI u. VII. 76 77

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Teil III · Das Anfangsproblem in der Philosophiegeschichte

von Gundlings 1706 in Halle gedruckter Historiae philosophiae moralis pars prima (weitere Teile bzw. Bände sind nicht erschienen), das De Hebraeorvm philosophia morali 81 überschrieben ist. Es wird sich zeigen, daß Gundling mit diesem Kapitel seine Vorgänger in mehrfacher Hinsicht übertrumpft hat. Das Besondere und Neue seiner Auffassung der hebräischen Moralphilosophie zeigt sich jedoch erst im Kontext von gelehrten Praktiken und Traditionen, die seinen Text prägen und orientieren. Deshalb sind zunächst zwei Merkmale der formalen Struktur des Textes sowie der Gattungstradition, in die er sich einschreibt, zu skizzieren.

A. Kritik der gelehrten Philosophiegeschichte Pierre Bayle, den Heumann ebenfalls in seiner Genealogie von Vorläufern nennt,82 hatte im Dictionnaire nur wenige biblische Gestalten, aus der vorsintflutlichen Zeit nur Abel, Adam, Kain und Eva, behandelt. Die knappen Artikel selbst kennzeichnet der Rückzug auf den biblischen Bericht, während die Fußnoten ausführliche Referate darüber bieten, wie die gelehrte Neugierde diesen Bericht mit Wissen aufgeladen hatte. Im Artikel Kain heißt es etwa nach der kurzen Zusammenfassung des biblischen Textes: »Dieß ist alles, was man gewisses von ihm sagen kann, weil in dem 1 B. Mosis weiter nichts von ihm steht, als dieses. Die andern Dinge, die im Ueberflusse von ihm gesaget werden, sind nur Muthmaßungen, oder Träume des menschlichen Witzes, oder sehr ungewisse Traditionen«.83 Bayles Dictionnaire wird durch die Abhandlung De Hebraeorvm philosophia morali des jungen Hallenser Philosophieprofessors Gundling schon allein im äußeren Verhältnis von Text und kritischem Apparat übertrumpft. Wenn bei dem französischen Skeptiker die kritischen Noten, die auf die Quellen verweisen, vor allem aber die vorliegende Literatur beurteilen, den Text oft um ein Vielfaches übertreffen,84 treibt Gundling, von Zeitgenossen der »Teutsche Bayle«85 genannt, dieses Unverhältnis zum Extrem: Von dem 37 Seiten umfassenden Kapitel über die Ethik der Hebräer Nicolaus Hieronymus Gundling, Historiae philosophiae moralis pars prima, Halle 1706, 59–97. [Heumann], Acta Philosophorum, Bd. 1, Fünftes Stück, 763/Anm. q. 83 Bayle, Historisches und Critisches Wörterbuch, hg. v. Gottsched, Bd. 2, 4–6, hier 4. 84 Vgl. Anthony Grafton, Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote, Berlin 1995, zu Bayle 189 ff.; Gundling fehlt allerdings in dieser Genealogie tragischer Ursprünge; vgl. Verf., Fußnotengeschichte(n) und andere Marginalien. Anthony Grafton über die Ursprünge der modernen Historiographie aus dem Geist der Fußnote, in: Storia della Storiografia 30 (1996) 151–159. 85 So die (als Kritik zu verstehende) Charakterisierung Gundlings in: Monatliche CURIEUSE Natur- Kunst- Staats- und Sitten-Praesenten aus dem Jahr 1708 (zitiert nach Gerhard Sauder, Bayle-Rezeption in der deutschen Aufklärung, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 49 [1975] 83–104, hier 93). 81 82

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werden dem Lauftext nicht einmal eineinhalb Seiten eingeräumt, hervorgehoben durch besonders große Buchstaben, während die Anmerkungen (sowie: die Anmerkungen zu den Anmerkungen) in winzigem Petit gesetzt sind. Was sich über den Gegenstand aussagen läßt, wird so schon im Druckbild von seiner Problematisierung aufgesogen, und der in den kritischen Apparat verstrickte Leser ist der Gefahr ausgesetzt, den Kontakt zu den Aussagen des Textes zu verlieren. Die Quellen selbst will Gundling sprechen lassen und kritisch prüfen. Deshalb habe er oft ausführlich die einschlägigen Stellen zitiert, um seinen Lesern ein selbständiges Überprüfen und Vergleichen zu ermöglichen.86 Mit drei in seiner Zeit geläufigen gelehrten Praktiken will Gundling seine Technik des Allegierens und Zitierens ausdrücklich nicht verwechselt wissen: mit der rhetorischen Zwecken dienenden Florilegiensammlung, der dogmatischen Zwecken dienenden Herrschaft von Autoritätsaussagen sowie der zum Selbstzweck gewordenen Repräsentation gelehrter Wissensapparate.87 Als Zeugen und Zeugnisse sind die Quellenbelege vor die gelehrte Öffentlichkeit zu zitieren, sie stehen zur Disposition, müssen in einem gerichtlichen Verfahren kritisch befragt werden.88 Die Vergangenheit liegt nicht schon – einfach und unproblematisch – in Form von gelehrtem Wissen vor, sie ist aber auch nicht ohne

Und zwar sowohl für diejenigen, die die Bücher entbehren, als auch für diejenigen, denen sie vorliegen; vgl. Gundling, Historia philosophiae moralis, Praefatio ad lectorem (unpag.): »Quamobrem ab initio exorsus, & ab ouo rem omnem repetens, eo incubui, vt non tantum obiter indicarem, quae de Barbarorum Philosophia morali in libellis cuiuis obuiis consignata sunt; sed ex ipsis fontibus annotarem vtilia, & quae dicta sunt probarem. Idcirco integra saepe auctorum loca adscripsi, tum vt illi, qui libros non habent, restinguere sitim possent, tum etiam, vt illis essem auxilio, qui etsi habent, vix tantum tamen otii sibi relictum credunt, vt ipsi legant aut seligant, quod est in rem suam«. 87 Vgl. im Anschluß an die Anm. 86 zitierte Stelle: »Quod iis potissimum dictum velim, qui non nisi flores orationis expetunt, nec allegationes ferre possunt nec citationes. Cogitent illi, si velint, me aliorum retulisse opiniones & scripta, iudicasse etiam de aliorum factis; quod sine testibus fieri non potest. Testes autem citamus, in medium producimus, eorumque verba curiose annotamus. Quo ipso tamen iis patrocinari nollem, qui vt aliquid videantur dixisse, Hippocratem citant, Aristotelem, Platonem in re nauci, nulliusque momenti. Quid enim? an est aliquis qui nesciat, vinum calefacere, aut inebriare, & saepe tamen Stagirita in subsidium vocatur. Virtus per se amabilis est […] Est ille mos Theologis familiaris, & ICtis quoque, qui Tribonianum imitati ex Homero probant, sues inter pecora quae gregatim pascuntur esse referendos, vix sine lege loquentes, sine auctore ac teste, etiamsi ex Hispania aut longinqua regione nomen peregrinum sit petendum«. Zur Infragestellung der gelehrten Wissensrepräsentation vgl. im Abschnitt »De philosophia morali Aegyptiorvm« die Rezension der beiden englischen Aegyptologen John Marsham und John Spencer (ebd. 7): »Nec dubium multa ab illis congesta esse, quae reconditam contineant eruditionem, multamque iucunditatem & vtilitatem; sed dubito tamen an solida omnia sint, nec potius ad ostentandum immensae eruditionis apparatum excogitata«. 88 Vgl. die Anm. 87 zitierte Stelle und im Anschluß daran: »Aliter nos versati sumus; produximus, vbi opus fuit testimonia, ne ex cerebro nostro confinxisse videamur historiam«. 86

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Anerkennung dieses Wissens bloß »auszudenken«.89 In der von juristischen Evidenzen geprägten Hallischen Frühaufklärung erscheint sie als stets prekäres und vorläufiges Urteil eines methodisch geführten Gerichtsprozesses, in dem Quellen und Literatur nicht nur Zeugen, sondern auch Angeklagte sind und die gelehrte Öffentlichkeit nicht nur als (methodischer) Verteidiger, sondern auch als (vernünftiger) Ankläger auftritt.90 In diesem Prozeß finden die Zeugnisse als Mittel einer durch Kritik und Vernunft regierten Wahrheitsfindung Anerkennung, und die Geschichte, so das häufig angeführte Argument, ist nicht mehr bloßes »studium memoriae«, sondern kritische Rekonstruktion, zu der ein »scharffes Nachsinnen erfordert wird«.91 Die Zeugnisse sind notwendig, »daß es nicht scheint, wir hätten die Geschichte aus unserem Kopf gebildet«,92 doch für sich selbst können sie nicht sprechen. Sie werden von der kritischen Vernunft in einen Dialog gezwungen, durch den die im Text herrschenden Vorstellungen der Gefahr ausgesetzt sind, den Boden unter den Füßen zu verlieren, wenn ihnen von der Flut der von der Kritik aufgeweckten Fußnoten der Prozeß gemacht wird. Daß wissenschaftliche Wahrheit nur im freien Diskurs selbständig urteilender Gelehrter zu finden ist, hat Gundling wie kein anderer deutscher Universitätsprofessor seiner Zeit immer wieder betont. In einer 1711, anläßlich des Geburtstages von Friedrich I., vorgetragenen akademischen Oratio de libertate Fridericiana hat er die Denkfreiheit nachdrücklich verteidigt. Dem Denken, auch wenn es Irrtümer hervorbringt, dürfe man nicht wie dem Wollen Gesetze aufzwingen, auftretende Meinungsverschiedenheiten und Irrtümer gelte es als nützliche und notwendige Bestandteile der Wahrheitsfindung zu akzeptieren, da Wahrheit nur Schritt für Schritt zu gewinnen ist.93 Vgl., neben der Anm. 87 zitierten Stelle, Historia philosophiae moralis, 47f./Anm. y: »Maxima enim de nihilo nasceretur historia« (hier bezogen auf die als nutzloses Unterfangen charakterisierte Debatte über den Sprachursprung: »Referas huc licet immensam librorum struem, & ineptae diligentiae, ac vanae interdum Philautiae semina obserues«). 90 Ebd., Praefatio ad lectorem (unpag.): »Nam cum libere enunciauerimus sententiam nostram, qui impedire quaeso possumus, vt eadem libertate id faciant alii, discedant a nobis, & etiam si volupe est, operam omnem quam suscepimus faciant flocci? Non ea nobis audacia est, vt existimemus ab omni errore nos esse liberos […] Omni tempore aliquid discendum est; nec dedecori ducendum, mutare animum, & quod verius est sectari, & quod aequius ac certius est amplecti«. Zum Zusammenhang von Historie und Jurisprudenz in der deutschen Frühaufklärung Hammerstein, Jus und Historie; zum methodologischen Aspekt Völkel, »Pyrrhonismus historicus«, 99 ff. 91 So Heumann in seiner Rezension von Gundlings Historia philosophiae moralis (vgl. Acta Philosophorum, Bd. 1, Sechstes Stück, Halle 1716, 1032–1039, hier 1032). 92 Gundling, Historia philosophiae moralis, Praefatio ad lectorem (unpag.) (der lateinische Beleg in Anm. 88); gefordert ist kritisches Lesen: »Cave, credas, omnia quae legis fuisse adeo stupenda. Habent hoc eruditi, vt ex musca elephantem, ex nihilo historiam conficiant« (ebd. 41, recte: 14). 93 De libertate Fridericiana (Halle 1711), ed. Richard Meister, in: Anzeiger der philologisch89

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Während das erste Merkmal von Gundlings Originalität in seiner prozessural-indizienhaften Textstrategie gefunden werden kann, ist ein zweites eher inhaltlich in seinem Neuansatz bei einer traditionellen philosophiehistorischen Fragestellung auffällig. Was auch immer die gelehrten Philosophiegeschichten der Frühen Neuzeit an vergangener Philosophie gefunden und dargestellt haben,94 ihre Suche war trotz (oder eben gerade wegen) ihres Universalitätsanspruches doppelt begrenzt: einmal durch antike Vorbilder, insbesondere durch die Leben und Meinungen berühmter Philosophen des Diogenes Laertius, der dieser Suche ein bestimmtes Ordnungsraster und Erklärungsmuster vorgegeben hatte,95 zum anderen durch das Gewicht der historia sacra und der mit ihrer Auslegung (und Verteidigung) verbundenen Vorstellung einer dem heidnischen, profanen Philosophieren überlegenen heiligen und ursprünglichen Wahrheit. Zwar wurde die antike philosophiegeschichtliche Tradition wieder aufgenommen und von den humanistischen Kommentatoren hochgeschätzt, deren historiographische Weiterführung jedoch modifizierte, ja konterkarierte die antiken Modelle. Dies zeigt sich vor allem im Blick auf den Ursprung der Philosophie. Hier wurde die Selbstverständlichkeit, mit der ihn Diogenes Laertius den Griechen zugesprochen hatte,96 in der Konfrontation mit der Macht biblischer Wahrheit zum Problem, sowohl wenn die heidnische Philosophie auf einen biblischen Ursprung zurückgeführt wurde, etwa als Depravation einer heiligen Tradition,97 als auch wenn die Auffassunhistorischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 96, Nr. 3 (1959), 53–72, hier 63 ff., sowie das Urteil Gawlicks (Thomasius und die Denkfreiheit, 273). 94 Dazu Braun, Geschichte der Philosophiegeschichte, 53 ff. (bzw. Histoire de l’histoire de la philosophie, 49 ff.), sowie die beiden ersten Bände von: Storia delle storie generali della filosofia (hg. v. Giovanni Santinello, Brescia 1981 u. 1979). 95 Vgl. Braun, Geschichte der Philosophiegeschichte, 36 ff. u. 56 ff. (bzw. Histoire de l’histoire de la philosophie, 33 ff. u. 51 ff.); Ilario Tolomio, Il genere »historia philosophica« tra cinquecento e seicento, in: Dalle origini rinascimentali alla »historia philosophica« (= Storia delle storie generali della filosofia, hg. v. Santinello, Bd. 1), 63–163, hier 156 ff. (zu den Editionen des Diogenes Laertius vom 15.–17. Jahrhundert). 96 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Buch I–X, aus dem Griechischen übers. v. Otto Apelt, neu hg. v. Klaus Reich, Hamburg 1967, Prooemium, 3 ff.: »Die Entwicklung der Philosophie hat, wie manche behaupten, ihren Anfang bei den Barbaren genommen […] Indes man täuscht sich und legt fälschlich den Barbaren die Leistungen der Griechen bei; denn die Griechen waren es, die nicht nur mit der Philosophie, sondern mit der Bildung des Menschengeschlechtes überhaupt den Anfang gemacht haben […] So hat denn die Philosophie ihren Ursprung bei den Griechen, und auch ihr Name schon weist jede Gemeinschaft mit den Barbaren entschieden von sich ab«; vgl. zu diesem philologischen Argument die von Gundling zitierte Kritik des Philologen Isaac Casaubon (vorliegende Arbeit, S. 95 f. / Anm. 156). 97 So etwa bei Theophilus Gale, und diese Perspektive ist, bei allen Unterschieden in der Ausführung, ganz generell für die im Umkreis des Cambridger Neuplatonismus entstandenen Philosophiegeschichten zentral (vgl. Braun, Geschichte der Philosophiegeschichte, 79 ff., sowie Malusa, Le prime storie, 301ff.).

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gen der Heiden über den Ursprung der Philosophie, dieses »erbärmliche Gefasel«,98 ihrem wahren, heilsgeschichtlich verankerten Ursprung bloß konfrontiert wurden. Die orientalischen Völker, die Diogenes Laertius als Barbaren ausgesperrt hatte, waren in den gelehrten Philosophiegeschichten der Frühen Neuzeit, ging es um den Gesamtzusammenhang der philosophischen Tradition,99 in besonderer Weise präsent. Die Verfasser konnten die Darstellung der »barbarischen« Philosophie nicht nur mit der Autorität der Kirchenväter, sondern auch mit heidnisch-antiken Belegen rechtfertigen, auf die Diogenes Laertius sich in seiner Einleitung kritisch bezogen hatte.100 Diese Präsenz gilt vor allem für jenes Volk, welches die Auslegung der Heiligen Geschichte als ältestes, mit einer ursprünglichen – »unverdorbenen und vernünftigen«101 – Philosophie begabtes Volk profiliert hatte: die Hebräer. Die Spannung zwischen antiken Auffassungen der Philosophiegeschichte und der heilsgeschichtlichen Auslegung des Ursprungs und der Tradierung des biblischen Offenbarungswissens beeinflußte die Konstruktion der frühneuzeitlichen Philosophiegeschichte auf nachhaltige Weise. Sie zeigt sich in einer gelehrten, der Evidenz von schriftlich fixiertem Wissen vertrauenden Vorstellung von Philosophie, die dann So, in Aufnahme des Arguments von Augustinus, Georg Horn, Historiae philosophicae libri septem. Quibus de origine, successione, sectis et vita philosophorum ab orbe condito ad nostram aetatem agitur, Leiden 1655, 14: »Haec vera de origine Philosophiae ex ipsis Sacris petita sententia est. Priusquam ad alia, quae multa sunt, accedamus, subjungendum est, de toto hoc negotio, quid senserint gentiles. Qui cum veram omnium rerum originem ignorarent, neque sibi neque aliis satisfecerunt, et misere alucinati sunt. Hinc illae, cum de rebus aliquantum ab aetate sua remotis agunt, tenebrae: hinc illae fabulae et mendacia, que non nisi Graeco stomacho concoquere possumus«. Horn war nach Heumann trotz aller kritisierter Mängel »der erste in den jüngern Zeiten, der die Historiam philosophiam in ein rechtes Systema zu bringen sich vorgenommen hat« (Acta Philosophorum, Bd. 1, Sechstes Stück, Halle 1716, 1039–1061, hier 1054). Im Abschnitt über die griechische Philosophie (135 ff.) wird zwar die Auffassung der Griechen, die ersten Philosophen gewesen zu sein, als Anmaßung kritisiert (die Philosophie kam aus dem Osten nach Griechenland, die Griechen schöpften viel aus Moses), jedoch die Griechen bildeten das, was sie empfangen hatten, so aus, daß »sola Graecia jure meritoque mater Philosophiae« genannt werden könne (ebd.,135). 99 Das Problem des Zusammenhangs zwischen Heiliger Geschichte und profaner (antiker) Philosophie hinsichtlich des Ursprungs der Philosophie stellte sich in der Philosophiegeschichte dann in besonderer Schärfe, wenn es, wie bei Horn oder Thomas Stanley, um die Gesamtdarstellung der Philosophiegeschichte ging. Vor dem Aufkommen der Gesamtgeschichte der Philosophie (und danach bis ins 18. Jahrhundert parallel zu ihr) waren barbarische und hebräische Philosophie (letztere meist als Weisheit moduliert) gesonderte Arbeitsgebiete und Textgattungen. Zwei Beispiele für diese Differenz: Christian Korthold, Tractatus de origine et progressu et antiquitate philosophiae barbaricae hoc est Chaldaicae, Persicae, Aegyptiacae, Indicae, Gallicae, deque ipsorum philosophorum barbarorum dogmatibus et moribus, Jena 1660; dagegen: Ehrengott Daniel Colberg, Sapientia veterum Hebraeorum per universum terrarum orbem dispersa, Greifswald 1694. 100 Vgl. das Zitat Anm. 96. 101 So noch die Charakterisierung des jungen Christian Thomasius (vgl. den Beleg Anm. 77). 98

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Heumann seiner Kritik aussetzt. Ausgehend von einem Philosophiebegriff, der die Philosophie als eine besondere, von Menschen unternommene Anstrengung anerkennt, die über die bloße Reproduktion und Auslegung gelehrter Wissensbestände hinausgeht, vermißt er die philosophische Tradition neu und zieht neue Grenzen.102 Im Mittelpunkt steht dabei das Anliegen einer Entkopplung von Philosophiegeschichte und Heilsgeschichte. Dadurch aber stellte sich die Frage nach den Ursprüngen der Philosophie und das damit verbundene Problem der barbarischen und vor allem hebräischen Philosophie mit neuer Schärfe. Heumann ist ihr deshalb ausgiebig nachgegangen und hat in diesem Zusammenhang Gundlings philosophiehistorisches Vorläuferprojekt, das »unter die vornehmsten in der Historia philosophica zu rechnen sey«,103 in höchsten Tönen gelobt. Der »Herr Rath Gundling belehret uns / daß die philosophia moralis bey den so genannten Barbarischen Völckern ein non-ens, oder doch ein elendes ens, gewesen sey«,104 heißt es in Heumanns Rezension von Gundlings Historia philosophiae moralis. Doch darüber hätten Heumann, wenngleich vielleicht nicht in solcher Schärfe, auch schon frühere Philosophiehistoriker (in Form der Konfrontation der heidnisch-barbarischen Philosophie mit ihren heiligen Ursprüngen bei den Hebräern) belehren können. Die Frage aber war, ob auch die Hebräer unter die »so genannten Barbarischen Völcker« zu zählen sind. Denn das heilige Volk hatte die gelehrte Philosophiegeschichte streng von den barbarischen Völkern unterschieden.105

B. Die Errungenschaften menschlicher Vernunft Gundling, der 1706, also im selben Jahr, in dem seine Historia philosophiae moralis erschien, zum ordentlichen Professor der Hallenser philosophischen Fakultät aufgestiegen war, hat sich in seiner Philosophiegeschichte auf die praktische Philosophie

Dazu Braun, Histoire de l’histoire de la philosophie, 100 ff., bzw. Geschichte der Philosophiegeschichte, 109 ff. Braun hat jedoch die für vorliegende Arbeit wichtige Konsequenz, also das für Heumann zentrale Problem des Anfangs der Philosophie und die Frage nach der Stellung der Hebräer und Barbaren in der Philosophiegeschichte, nicht näher untersucht. Constance Blackwell (Thales Philosophus: The Beginning of Philosophy as a Discipline, in: History and the Disciplines: The Reclassification of Knowledge in Early Modern Europe, hg. v. Donald R. Kelley, Rochester, NY 1997, 61–82) erkennt zwar die Bedeutung dieses für die Neukonstituierung der Philosophiegeschichte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zentralen Problems, doch beschränkt sich ihre Analyse auf den philosophiegeschichtlichen Rezeptionszusammenhang und vernachlässigt für diesen den Einfluß Heumanns. 103 [Heumann], Acta Philosophorum, Bd. 1, Sechstes Stück, 1032–1039, hier 1033. 104 Ebd. 105 Vgl. dazu Anm. 98. 102

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und auch hier nur auf ein Teilgebiet, die Ethik, beschränkt. Überhaupt sollte die Historia philosophiae moralis nur Vorarbeit für eine systematische Ethik sein, die dann 1713 tatsächlich erschien.106 Und auch von dieser Vorarbeit hat Gundling nur einen Teil bearbeitet. Die Arbeit, heißt es im Vorwort an den Leser, wuchs unter seiner Hand immer mehr an. Um sie veröffentlichen zu können, mußte er sich beschränken. Ursprünglich nämlich sollten auch die moralischen Hypothesen der griechischen, ja sogar der lateinischen Dichter und Philosophen zu Wort kommen. Doch Gundling kam über die Barbaren nicht hinaus und konnte so das »Heil der Griechen« nur »umsäumen«, also jene Ethik, »welche doch alle, die mit Gewinn die Quellen der Weisheit kosten wollen, gründlich erforschen müssen«.107 Blickt also Gundling mit den Augen der Griechen, aus der Perspektive des Diogenes Laertius auf die Philosophiegeschichte? Und: Sind auch die Hebräer Barbaren auf einem Gebiet der Philosophie, d. h. der Ethik, die doch die Religion unmittelbar berührt? Man muß die von Anmerkungen überflutete Textlandschaft Gundlings genau erforschen, um diese Fragen schärfer stellen zu können. Gundling begibt sich mit seiner auf die Barbaren verkürzten Historia philosophiae moralis, ähnlich wie Johann Gottfried Herder später mit seinem Reisejournal,108 auf eine Art Entdeckungsreise. Seine Geschichte ist nicht chronologisch, am Leitfaden der heiligen Geschichte mit dem heiligen Volk der Hebräer an der Spitze, geordnet. Auch die gelegentlich anklingende Topik der Translatio artium, nach der die Wissenschaften und Künste von einem Volk zum anderen gereicht werden, ist nur mehr ein gelehrtes Zitat.109 Gundling beginnt die Darstellung mit den Ägyptern und beendet

Als 2. Teil von Gundlings philosophischem Hauptwerk, der Via ad veritatem (Halle 1713–1715): Philosophia moralis, Halle 1713 (2. Aufl. 1726 unter dem Titel Ethica seu philosophia moralis). Der 1. Teil der Via ad veritatem thematisiert die Logik (Ars recte ratiocinandi, 1713), der 3. Teil das Naturrecht (Iurisprudentia naturalis, 1715); auch diese Teile erlebten unter selbständigen Titeln weitere Auflagen, vgl. Max Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, Hildesheim 1964 (ND der Ausg. Tübingen 1945), 61 f. 107 Gundling, Historia philosophiae moralis, Praefatio (unpag.): »Non possumus autem non fateri, nos voluisse primum, praeter ea quae vides, Graecorum Poetarum ac Philosophorum, immo Latinorum omnium hypotheses delineare morales; quae necessario ab iis pernosci debent, qui non sine fructu degustare sapientiae fontes intendunt. Sed excreuit sub manu labor, nosque eo sumus redacti, ut in barbaris subsisteremus […] Non irascemur certe, vel Graeciae salutem praetexentes inanes tumultus agitabimus«. 108 Johann Gottfried Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769, in: Ders., Werke, hg. v. Wolfgang Pross, Bd. 1 (Herder und der Sturm und Drang 1764–1774), München u. Wien 1984, 355–473 (der zu Herders Lebzeiten ungedruckt gebliebene Text wurde erstmals 1846 durch Emil Gottfried Herder vollständig publiziert). 109 Zur Aufnahme der Translationstopik vgl. den Übergang von den Persern zu den Arabern: »CHaldaeorum disciplinae per Mesopotamiam, Assyriam Syriamque late peruagatae, inde ad vicinos Persas, hinc ad Arabes pertigerunt« (ebd., 25); vgl. auch das Referat der geläufigen Vorstel106

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sie mit den Phöniziern, dazwischen macht er – in der folgenden Ordnung – Station bei den Chaldäern, Persern, Arabern, Indern (inklusive der Chinesen), Galliern und Germanen sowie bei den Hebräern.110 Die Abfolge einzelner Kulturräume wird von ihm nicht näher begründet. Für den Beginn bei den Ägyptern verweist Gundling auf eine in den Fußnoten heftig konterkarierte gelehrte Konvention (»Unter den Barbaren begegnen zuerst die Ägypter, denen nicht wenige unter den Gelehrten die Erfindung aller Wissenschaften zuteilten«),111 die Übergänge von einem Volk zum anderen zeichnet er in Metaphern der Schiffahrt.112 Einzig der Übergang von den Hebräern zu den Phöniziern wird sachlich erläutert: »Den Hebräern werden mit Recht die Phönizier verbunden, die beinahe dieselbe Sprache sprechen; dieses Nachbarvolk, an der untersten Küste des Mittelmeeres ansässig, war ein gelehrtes Volk, von dem die Griechen die Buchstaben und verschiedene Künste empfingen, das die Arithmetik, Nautik, Astronomie und Sternkunde ausbaute, neue Wege durch den Ozean erkundete, die Welt mit Kolonien versorgte und auf das außerdem die meisten Personen der griechischen Mythologie zurückgehen«.113 Mit den seefahrenden Phöniziern öffnet sich der Blick für die Überwindung begrenzter Kulturräume, zugleich erscheinen mit ihnen die im Text ausgesparten Griechen am Horizont. Doch auch die kulturelle Nähe von Hebräern und Phöniziern bleibt von der differenzierenden Kritik der Fußnoten nicht unberührt.114 Gundling diskutiert hier ausführlich die gelehrte Forschung zur Verwandtschaft der phönizilungen beim Übergang von den Ägyptern zu den Chaldäern: »AEgyptios insequntur Chaldaei […] An vero scientiam suam hauserint ex AEgypto, quae complurium opinio est: An a Nimrodi posteris, quod probabilius, aliis disquirendum relinquimus« (ebd. 16). Zur Tradition dieser »kulturhistorischen Theorie« Worstbrock, »Translatio artium«; Ralph Häfner, Die Weisheit des Ursprungs. Zur Überlieferung des Wissens in Herders Geschichtsphilosophie, in: Herder Jahrbuch (1994) 77–101. 110 Die einzelnen von Gundling behandelten Völker waren, in jeweils verschiedener Zusammenstellung und mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, auch in den gelehrten Philosophiegeschichten präsent, vgl. etwa das zweite Buch bei Horn, Historia philosophica, 60–134. 111 Gundling, Historia philosophiae moralis, 7: »INter Barbaros primum occurrunt Aegyptii, quibus non pauci inter eruditos scientiarum omnium inuentionem tribuunt«. Die konterkarierenden Fußnoten 7 ff.; Gundling setzt sich hier kritisch mit den beiden Engländern John Marsham und John Spencer auseinander, vor allem aber mit Athanasius Kircher, der, so eine der sarkastischen Charakterisierungen, »manibus pedibusque obnixe omnia egit, vt quae aliis absurda videntur, in sapientiam & orthodoxiam mirabilem transformaret« (9). 112 Vgl. etwa den Übergang von den Arabern zu den Indern: »Aethiopum Gymnosophistis praetermissis nauigamus bonis auibus, plenisque velis ad Indos« (ebd., 32). 113 Ebd., 97 f.: »HEbraeis iunguntur iure Phoenices eodem fere idiomate vtentes, populus vicinus, ad imam oram maris mediterranei situs: populus litteratus, a quo Graeci litteras variasque artes acceperunt, a quo Arithmetica, Nautica, Astronomia & sideralis scientia exculta; noua per Oceanum itinera instituta; orbis coloniis repletus, & denique Graecanicae Mythologiae pleraque capita procusa«. 114 Vgl. ebd., 98–105 (auch zum Folgenden).

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schen und hebräischen Sprache und bestätigt die philologischen Untersuchungen Samuel Bocharts, Jean Le Clercs und Richard Simons. Weitere Themen sind der phönizische Ursprung der griechischen Schrift, die Frage, ob schon die Phönizier Amerika entdeckten, was, hier gegen Bochart, abgelehnt wird, sowie die Herkunft der griechischen Mythologie.115 Genauer hätten sich mit diesem Problem Bochart, der englische Mediziner und Alchemist Edmund Dickinson und Le Clerc beschäftigt.116 Gundling schließt sich den Auslegungen Le Clercs an, auf dessen historisch-philologische Kompetenz er sich, im Unterschied zu Bochart und Dickinson, die an anderen Stellen wegen ihrer Rückführung profanen antiken Wissens auf die heilige Geschichte scharf kritisiert werden, immer wieder beruft. Die Signifikanz von Gundlings philosophiehistorischer Erkundungsreise zeigt sich im »beliebigen«117 Nebeneinanderstellen der behandelten Völker, im Gestus der selbstgewählten Reiseroute, die in die Vergangenheit der gelehrten Geschichte führt und deren Grenzen, die Grenzen der Geltung gelehrter Ordnungsmodelle und Erklärungsmuster, genau vermißt. Die ausführlichste Darstellung widmet Gundling den Hebräern, das Heilige Land erzwingt wegen der Fülle der dazu einschlägigen gelehrten Forschungen den längsten Aufenthalt.118 Über ein Drittel des Textes handelt über die Moralphilosophie der Hebräer (»De Hebraeorvm philosophia morali«),119 wobei Gundling unter Moral hier das gesamte Feld des Wissens faßt. Die Einordnung der Hebräer mitten »unter die Barbaren« ist prekär, müßte ihnen doch, werden sie schon in einen Zusammenhang mit Barbaren gestellt, auf Grund ihrer heilsgeschichtlichen Dignität zumindest der erste Rang zugestanden werden.120

Kritisiert wird ihre Auslegung als »vestigia historiae sacrae«, aber auch ihre Verteufelung »more Patrum, qui valde inania hic tradiderunt«. 116 »[…] vt ostenderent, plerasque fabulas Graecorum a Phoenicibus prouenisse, qui res communes per hyperbolas describentes lingua sua, hoc est, Hebraea, quam Graeci aut non intelligebant, aut male exponebant, ansam dederunt, vt populus alias superstitiosus insignem Deorum & fabularum cumulum confingeret, & posteritati difficultates fere inextricabiles relinqueret«. 117 Vgl. die Bemerkung im Vorwort an den Leser: »Si displiceat ordo, verte, necte, dispone vti vis, & vti libet: Non repugno, dummodo exacte capias, quae scripsi vt caperentur« (Gundling, Historia philosophiae moralis, Praefatio ad lectorem, unpag.). Voran geht dieser Stelle eine ironische Spitze wider den Methodenstreit: Jede »methodum« sei »arbitrariam«, und die zanken »perperam« »de regulis bonae methodi, qui interim obscura loquuntur & aenigmata«. 118 Dazu wiederum das Vorwort an den Leser, am Schluß auch hier ironisch verbrämt (angespielt wird auf die Orientalisten mit ihren mächtigen Folianten): »Illud etiam Tibi affirmo, me Haebreorum Philosophiam magis prolixe, quam aliorum descripsisse, non tam quod existimeam, eam esse longe vtilissimam; quam quod fuerim expertus in Aegyptiorum ac Chaldaeorum inueniri perpauca, quae clare a nobis concipi possint, ac distincte, licet magno conatu aliqui illa referare adyta sint moliti« (Gundling, Historia philosophiae moralis, Praefatio ad lectorem, unpag.). 119 Vgl. ebd., 59–97. 120 Horn, dem es auf die historische Entfaltung und Abfolge der Philosophie ankam, stellt des115

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Gundling rechtfertigt sein Vorgehen mit dem Zweifel an der Figur einer frühen Vollkommenheit hebräischer Wissenschaft, die in der Frühen Neuzeit den Vorrang des heiligen gegenüber dem profanen Wissen bezeichnete: »Ich hätte auch schon am Anfang des Ganzen die Philosophie der Hebräer untersuchen können, da ja nicht wenige die Hebräer als die Gelehrtesten und als Erfinder aller Disziplinen und Künste betrachten: doch davon konnte ich mich nicht überzeugen, denn weder nach der schriftlichen Überlieferung der Griechen muß ihnen unter den Barbaren ein Rang eingeräumt werden, noch liegt außerhalb allen Zweifels, daß dieselben eine so große Gelehrsamkeit besaßen, wie gewöhnlich behauptet wird«.121 Die Zweifel daran, daß »weder Adam und die Patriarchen, noch Moses jenes Wissen nötig hatten, das ihnen ohne Urteil zugeschrieben wird«,122 werden in zwölf – siebzehn Textseiten umfassenden – Fußnoten ausgebreitet (das ist beinahe ein Sechstel des Gesamttextes).123 Gundling referiert hier auf die philologische Kritik an den Textbelegen für das perfekte Wissen der Hebräer. Doch wie schon bei Thomasius124 steht auch bei Gundling die Frage im Zentrum, wie es zu erklären ist, daß die Vorstellung eines perfekten Ursprungs Geltung und Erklärungskraft beanspruchen kann, unter welchen Bedingungen sich schriftfixierte und »leichtgläubige Magistri« mit großer Anstrengung an Gelehrsamkeit solche »Mißgeburten« ausdenken können.125 In unserer Zeit, so Gundling, ist der Fehler beinahe allgemein, die Alten nach unserem Maßstab zu beurteilen, halb die hebräische Philosophie an den Anfang (Historia philosophica, 6 ff. u. 60 ff.). Dagegen klammert der Engländer Thomas Stanley in seiner Philosophiegeschichte, deren erster Teil im selben Jahr wie das Werk Horns erstmals erschien (The history of philosophy, London 1655–1662), bei der Frage nach dem Ursprung der Philosophie die Hebräer aus, da Stanley die vorliegenden Forschungen nicht befriedigten (er behandelte in diesem Zusammenhang nur Chaldäer, Perser und Araber; vgl. Braun, Geschichte der Philosophiegeschichte, 77 f.). 121 Gundling, Historia philosophiae moralis, 59: »POtuissem omnium primo de Hebraeorum Philosophia aliquid commentari, quippe quos non pauci vt doctissimos, omniumque disciplinarum ac artium inuentores intuentur: nisi existimassem, inter barbaros eis secundum Graecorum stilum locum concedendum esse, nec extra omne dubium positum videri, tanta eruditione, quanta communiter iactatur, eosdem polluisse«. Beim »stilus Graecorum« verweist Gundling einzig auf ein Dictum des Apollonios, das die Juden als die unfähigsten unter den Barbaren bezeichnet (ebd. 60/Anm. a). Gundling belegt das Dictum nicht. Bezugspunkt könnte eine (die jüdische Religionspraxis betreffende) Scholie zu dem Argonautenepiker Apollonios sein (vgl. etwa: Apollonius Rhodius, Argonauticorum libri IV ab Jeremia Hoelzlino in Latinum conversi, commentario et notis illustrati, emaculati scholiis, Leiden 1641, 27). 122 Gundling, Historia philosophiae moralis, 59: »Neque enim Adamus neque Patriarchae, neque Moses ea scientia opus habuere, quam iis sine iudicio videas adscribi«. 123 Vgl. ebd., 60–77 (Anm. a–m). 124 Auf dessen Beitrag in den Observationes selectae sich Gundling ausdrücklich bezieht (ebd., 60/Anm. c). 125 Ebd., 60/Anm. c: »[…] qui hic magno nisu eruditionis suae abortus edidere« (hier bezogen auf die Gelehrten, die von Adams perfektem Wissen überzeugt sind). Von den »creduli Magistri«

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der Irrtum weit verbreitet, Weisheit (sapientia) mit ausgebildeten Wissenschaften (doctrina) zu vermischen. Aus dem biblischen Bericht über Adams Bezeichnung der Tiere werde auf dessen Kenntnis der physikalischen Wissenschaften geschlossen, unsichere Konjekturen werden für Gewißheiten ausgegeben.126 Sogar gelehrte Kritiker, die angebliche Textbelege für die frühe Wissensvollkommenheit der Hebräer in das Reich der Fabeln verweisen, gehen trotz der Schärfe ihrer philologischen Kritik mit größter Selbstverständlichkeit von der durch Vernunftschlüsse begründeten Annahme aus, daß Schrift und sogar Bücher schon vor der Sintflut in Gebrauch gewesen sein müssen. Dabei hätten ihnen doch die Berichte über amerikanische Völker zeigen können, daß es möglich ist, lange Jahrhunderte diese Werkzeuge und Instrumente der Wissenschaften vollständig zu entbehren.127 Es ist die Differenz Weisheit versus Wissenschaft, die Gundlings Analyse der gelehrten Forschungen De Hebraeorvm philosophia morali beherrscht. Der Überzeugung, daß Wissenschaft und Philosophie Errungenschaften der menschlichen Vernunft sind, verleiht Gundling ein scharfes Profil. Die Vorstellung eines den Hebräern zugeschriebenen perfekten Wissens versteht Gundling als besonderen Ausdruck eines

(62/Anm. d) spricht Gundling im Zusammenhang der Gelehrten, die glauben, daß Adam die Schrift erfunden habe. 126 Ebd., 60/Anm. b: »Est hoc nostrae aetatis hominibus vitium fere commune, vt eodem pede antiquos metiantur, quo nostros. Creuit eruditio per temporum spiramenta: nec veluti Noachi columba vno actu in orbem est emissa. Vnde tot fabulas videas propagatas, tot defensa deliria, vt risum vix teneant amici tui. Erroris initium fuit confusio sapientiae & doctrinae. Quos enim sapientes crediderunt, eos etiam Syllogisticam, Chemiam, Mathesin, omnemque scientiam cognouisse crediderunt«. Zur Auslegung von Adams perfekten naturwissenschaftlichen Kenntnissen: »Adamus, inquiunt, animalibus quibuscumque nomina sua imposuit: imposuit secundum eorum naturam: Ergo physicas disciplinas calluit«. Die unsicheren Konjekturen beziehen sich auf Samuel Bocharts Auslegung der (hebräischen) Ursprache: »[…] sed vt verum fatear, coniecturis nititur leuissimis, eaque pro certis ponit, quae prolixae disceptationi adhuc forent obnoxia« (ebd., 60 f./Anm. c). Zur Frage nach Adams Sprache und physikalischen Kenntnissen hatte der Helmstedter Theologe und Orientalist Hermann von der Hardt eine unorthodoxe Auslegung vorgelegt, die ihm den Verdacht der Häresie einbrachte und eine gelehrte Kontroverse ausgelöste. Gundling ist unschlüssig, ob er den Thesen von der Hardts folgen soll, verteidigt ihn aber ausdrücklich gegen den Häresieverdacht (vgl. 61 f./Anm. c). 127 Gundling wendet sich (vgl. ebd., 62/Anm. d) speziell gegen Daniel Georg Morhofs entsprechende Schlußfolgerungen (zu ihnen Verf., Aporien frühaufgeklärter Gelehrsamkeit, 120) und stellt, wie schon Thomasius, das Beispiel der schriftlosen Amerikaner dagegen: »Opponimus enim ei Americanas gentes per tot saeculorum decursum illum apparatum, eaque scientiarum instrumenta non habentes«. Daß Gundling (und auch Thomasius) trotz übereinstimmender Argumente Ludewig nicht anführt, mag mit den Spannungen und Differenzen zusammenhängen, die zwischen Gundling und Ludewig, die in Halle Fakultätskollegen waren, hinsichtlich unterschiedlicher Auslegungen des Naturrechts und des Jus Publicum bestanden (dazu die Abschnitte über Ludewig und Gundling bei Hammerstein, Jus und Historie).

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generellen Problems: nämlich das der fehlenden Einsicht sowohl in die Leistungen der menschlichen Vernunft als auch in die Aussagekraft der biblischen Offenbarung und ihrer Grenzen. »Jämmerlich getäuscht« werden diejenigen, die die »Phänomene der Natur nach den Buchstaben der Heiligen Schrift erklären wollen«, jedoch auch diejenigen, die, wie René Descartes,128 vorgeben, ihre eigenen Auffassungen in der Heiligen Schrift wiederzufinden.129 Beiden Vorstellungsweisen liegen Mängel und Defizite der Erklärungen sowie der Erklärer zugrunde,130 die durch Autorität überdeckt und legitimiert werden. »Die Ehre der Schriften und die Würde des Heiligen Geistes«, so Gundlings Kommentar, »bleibt davon unberührt, jedoch in gleicher Weise die Ehre der theoretischen Philosophie, die sich den Sinnen, der Erfahrung und der Vernunft verdankt und nicht im geoffenbarten Wort gefunden, sondern aus diesem dem widerstreitenden Buchstaben abgerungen wird«.131 Offenbarung und menschliche Vernunft haben für Gundling ihre je eigene Dignität. Es besteht deshalb keine Notwendigkeit gegenseitiger Legitimierung. Es sind die Spärlichkeit der historischen Aussagen des mosaischen Berichts sowie die zeitliche Ferne des Dargestellten, die es einer »eigensinnigen«132 Auslegung leicht gemacht haben, in die heilige Geschichte jene einflußreichen Figuren ursprünglicher Weisheit einzuzeichnen, die Ausdruck »phantastischer Träumereien« sind: »Weil sie keine Mosaische Philosophie finden, fingieren sie eine Vgl. ebd., 67/Anm. f (im Kontext einer kritischen Erörterung der »Mosaica Philosophia«; vgl. die Anm. 130 u. 133 zitierten Stellen): »Cartesius eodem modo vortices suos in Mose inueniret«. 129 Ebd., 64/Anm. f: »Ego vero existimo Spiritum S. Iudaeis agenda & credenda voluisse proponere, non Physicorum effectuum caussas, non humanarum & quandoque inutilium scientiarum fundamenta. Vnde etiam misere decipiuntur qui quaecumque naturae Phaenomena secundum stilum scripturae sacrae volunt explicare. Maneat suus scripturis honos, & sua Sacro Spiritui dignitas; sed maneat etiam suus Philosophiae Theoreticae, quae sensibus, experientia, & ratione constat, quaeque in verbo reuelato non inuenitur, sed ex eo inuita saepe littera exsculpitur«. 130 Vgl. hinsichtlich der Erklärung von Naturphänomenen durch die Heilige Schrift Gundlings Kritik an Johann Amos Comenius, Johann Heinrich Alsted und Edmund Dickinson (ebd., 64 ff./ Anm. f ). Mit Blick auf die philosophische Verbrämung der Heiligen Schrift heißt es: »Certent nunc inter se Philosophi, an Moses Aristotelicus fuerit, an Platonicus, Stoicus, an Cartesianus denique, aut Gassendista. Quae incommoda necessario propullulant, dum primos homines, Patriarchas, Israelitas eadem decempeda, qua se metiuntur: Dum opera DEI secundum suos inanissimos conceptus diiudicant, eiusque potentiam secundum motus leges a se inuentas ac excogitatas« (67/Anm. f). 131 Vgl. den lateinischen Beleg in Anm. 129. 132 Gundling verbindet damit eine nicht literarhistorisch fundierte, in gegenwärtige (Fach-) Interessen gefangene Wissenschaftsauffassung, die kein Verhältnis zu ihrer Vergangenheit besitzt. Zu seiner Auffassung von Bedeutung und Funktion der historia literaria vgl. Kurtzer Entwurff eines Collegii über die Historiam Literariam vor die Studiosos Juris, samt einer Vorrede, darinnen er sein Vorhaben deutlicher entdecket, Halle 1703; zur historia literaria im frühen 18. Jahrhundert Verf., »Historia literaria«. Über den epistemologischen Ort des gelehrten Wissens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 22 (1998) 11–21. 128

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solche, weil sie diese fingieren, fabulieren sie und stehen dabei den phantastischen Träumereien der Dichter in nichts nach«.133 Im Vergleich zur skeptischen Anthropologie des Thomasius zeigt sich Gundlings Kritik ursprünglicher Wissensvollkommenheit radikalisiert.134 Die Vernunft steht der biblischen Offenbarung unabhängig und selbstbewußt gegenüber, unterwirft ihr nicht die eigenen Fähigkeiten und Leistungen, spielt aber auch nicht die Antinomien der Vernunft gegen den Glauben aus. Sie legt die Bibel kraft ihrer eigenen Gesetze aus. Gundlings Kritik orientiert sich an der rationalen Theologie und historischen Textkritik Jean Le Clercs, dessen Bibelauslegung er in ausführlichen Zitaten den »haltlosen« Konstruktionen der »Mosaischen Philosophen« entgegenstellt.135 Gegen die Tradition gelehrter Überschreibungen und fabelhafter Ausmalungen des mosaischen Berichts steht bei Gundling die nüchterne Feststellung: »Bei Moses darüber kein Wort«.136

C. Die Besonderheit der hebräischen Kultur Was bleibt von Moses Worten, setzt man sie der durch Vernunft geschärften philologischen Textkritik aus? Im Blick auf sein engeres Thema, die Moralphilosophie der Hebräer, hat Gundling das Ergebnis seiner Überprüfung in die folgenden Worte Gundling, Historia philosophiae moralis, 67/Anm. f.: »Haec est illa Mosaica Philosophia, quam quia non inueniunt, fingunt; & quia fingunt fabulantur, nec Poetarum deliriis aliquid concedunt«. 134 Vgl. Gundlings Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus sowie sein Eintreten für John Lockes erkenntnistheoretische Prämissen (Historia philosophiae moralis, Prooemivm). 135 Die Berufung auf Le Clercs Werke durchzieht den gesamten Fußnotenapparat von Gundlings Text. Vgl. etwa die Kritik der den Hebräern zugeschriebenen mathematischen Fähigkeiten, deren hoher Standard häufig mit dem Bau der Arche Noah belegt wurde (ebd., 70 f./Anm. g). In seiner Kritik zitiert Gundling den Genesis-Kommentar Le Clercs (zu 1. Mose 6,14; vgl. Johannes Clericus, Genesis sive Mosis prophetae liber primus, zuerst Amsterdam 1693, hier benutzt in der Ausgabe Tübingen 1733, 2 Bde.), der die einfache Bauweise der Arche betont (Bd. 1, 59). Gundling folgert: »Quae si rite expendantur, non opus sane est, comminisci multum eruditionem, attribuere Noacho varias demonstrationes, adfingere ei subtiles speculationes, arcanasque doctrinas, cum sine illis hoc quidquid est, fieri commode potuerit, nostrique patres familias, opificesque quotidie contrarium ostendant«. Zu den Prinzipien von Le Clercs Textkritik sowie zur dafür einschlägigen Forschung den Artikel von Le Brun in der Neuauflage des Ueberweg zum 17. Jahrhundert (Bd. 2, 1018 ff., zur Forschung 1046). Häufig zitiert Gundling auch den Bruder Jean Le Clercs, Daniel Le Clerc, der in einer Histoire de la medicine (erstmals Genf 1696) die Entstehung der Medizin aus bloßem Erfahrungswissen und ihre nur allmähliche Vervollkommnung zu einer ars herausgearbeitet und in diesem Zusammenhang die Vorstellungen einer ursprünglich perfekten Medizin kritisiert hatte; vgl. etwa Gundling, Historia philosophiae, 67 f./Anm. f (im Kontext von Gundlings Auseinandersetzung mit der »Hebraeorum Medicina«). 136 Ebd., 67/Anm. f: »Apud Mosen nullum verbum« (bezogen auf die Auslegung des Engländers Dickinson). 133

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zusammengefaßt. »Die Philosophie der Sitten war einfach, überall zeigen sich Spuren der Religion; die Zahl der Propheten war beinahe unbegrenzt: die Verbindungen mit den übrigen Völkern dagegen waren gering«.137 Daß die wissenschaftlichen Kenntnisse der alten Hebräer gering und ihre Sitten einfach waren, will Gundling nicht als Abwertung verstanden wissen. Im Gegenteil: Man kann aus der Klarheit des Moses, Salomons und des Buchs der Weisheit mehr Gutes schöpfen als aus den ausgefeilten theologischen Systemen der Gegenwart.138 Doch religiöse Klarheit ist nicht mit wissenschaftlicher Wahrheit zu verwechseln. Gundlings Kritik der gelehrten Argumente und Methoden, mit denen seit der Patristik die Überlegenheit des heiligen Wissens der Hebräer gegenüber dem profanen Wissen antiker Völker verteidigt wurde, setzt auf Differenz. Das verdeutlicht seine Auseinandersetzung mit den gelehrten Nachweisen für die Abhängigkeit der profanen Antike vom heiligen Wissen der Hebräer, die auf Etymologien und das Modell des heiligen Wissenstransfers vertrauen.139 Ebd., 59 f.: »Morum Philosophia simplex, religionis vndique vestigia; Prophetarum vix finitus numerus: rara cum aliis gentibus commercia«. Es folgt die Einschränkung: »etsi Pythagoras & Plato omnisque Graecorum Philosophorum numerus cum Iudaeis dicantur conuersati«, d. h. jene Argumente der gelehrten Tradition, mit denen die Priorität des hebräischen gegenüber dem antikheidnischen Wissens nachgewiesen wurde (und damit auch die Überlegenheit des geoffenbarten Wissens verteidigt wurde). Gundling kritisiert und relativiert diese Einschränkung dann wiederum in den entsprechenden Fußnoten (ebd. 74–77/Anm. l u. m). 138 Hinsichtlich der geringen wissenschaftlichen Kenntnisse: »Prima simplicitas, paucarum rerum indigentia, plurimarum vero, quibus hodie vtimur, vbique felix & quieta carentia, nec scholas, nec Bibliothecas, nec Grammaticam, nec Astrologiam, Medicinam, Philosophiam, Theologiam admittunt« (ebd., 62/Anm. d); es folgt die Kritik der einzelnen Belege für den vormosaischen Schriftgebrauch. Hinsichtlich der hebräischen »Philosophie der Sitten« heißt es: »Cum dico morum Philosophia simplex, non taxo aut contemno eorum instituta; sed laudo potius. Neque enim illa Philosophia aliquid gloriae meretur, quae sesquipedalibus verbis incedit, aut obscuris & Metaphysicis inuolucris conceptus suos inuoluit. Planus est Moses, planus Salomon, planus Sapientiae liber (nec etiam prouerbia obscura esse Hebraeis potuere) vnde plus boni haurire licet, quam ex plerisque Systematibus hodiernis, arte nimia laborantibus: quorum & connexio haud raro vacillat« (72/Anm. h). 139 Gundling verbindet die Kritik des Paralogismus, daß alles aus Moses oder den Propheten geschöpft wurde, mit einer prinzipiellen Kritik der autoritativen Geltung der Kirchenväter und des scholastischen Autoritätsprinzips: »In hanc Scyllam incidunt, qui Patres coeco dignantur adsensu, qui eunt, quo pes fert, atque ex tempore illorum voces, vt stridentes picae imitantur. De Aristotele non mirum ab omni antiquitate & nostris etiam temporibus fuisse creditum, eum Iudaeos studiorum socios & exploratores habuisse« (ebd., 77/Anm. m). Die Infragestellung der gelehrten Paralogismen durchzieht die ganze Schrift, neben Bochart kritisiert Gundling vor allem Huët und dessen Demonstratio evangelica; vgl. etwa 107/Anm. g: »De Huetio praecipue teneas velim, eum in Demonstratione Euangelica eruditissimo sane atque immensae lectionis thesauro omnia fere, quae apud veteres inuenit, retulisse ad Mosen, aut sacros auctores, ac proinde torsisse saepe loca hinc inde occurentia, vt cum hypothesi conspirarent sua«. 137

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Ähnlichen Aussagen, so Gundling, kann ein unterschiedliches Denken zugrunde liegen, und ein Wissenstransfer von einem Volk zum anderen erklärt nicht die Besonderheit und Bedeutung der jeweiligen Wissensanstrengungen eines Volkes. In der Fußnote zu einem geläufigen Argument für die Abhängigkeit des griechischen vom heiligen Wissen der Hebräer, nämlich daß die griechischen Philosophen und speziell Pythagoras und Platon mit den Juden verkehrt, damit also von deren Wissen profitiert haben sollen, erläutert Gundling das Prinzip seiner Kritik: »Freilich leugnete Platon nicht, daß er viel von den Barbaren empfangen hat […] Doch folgt daraus keineswegs, daß er die Hebräer oder deren Bücher konsultiert hat. Viel haben die Griechen von den Phöniziern empfangen, nicht wenig auch von den Ägyptern, das meiste jedoch haben sie selbst erfunden. Die nämlich Ähnliches mit Worten ausdrücken denken häufig Verschiedenes in der Sache«.140 Es ist die Berücksichtigung der pragmatischen Bedingungen von Aussagen, die Gundlings Blick für solche Differenzen schärft und den überlieferten Texten neue Aussagen entlockt. Charakteristisch für die hebräische Kultur ist ihre abgesonderte geographische Lage in Palästina und die sich daraus ergebenden geringen Beziehungen zu anderen Völkern. Die religiös geprägten Kenntnisse und Moralvorstellungen der Hebräer sind Ergebnis dieser provinziellen Lage im Schatten der Weltgeschichte.141 Die hebräische Kultur ist Produkt besonderer Umstände und Bedingungen, die das Wissen der Hebräer geprägt haben. Auch im Blick auf die Institutionen seiner Vermittlung zeigt sich dieses Wissen als eine von religiösen Interessen geleitete Unterweisung, die den besonderen religiösen Charakter erklärt und es deshalb vom profanen, philosophischen Wissensstreben unterscheidet. Aus diesem Grund, so Gundling, muß die Auslegung, die das Wissen der Hebräer als philosophisches Wissen auffaßt oder es in eine solche Genealogie stellt, in die Irre gehen.142 Als nämlich die Beobachtung der Natur und die Ausbildung der »Künste« bei anderen Völkern schon ein hohes Niveau erreicht hatten, konzentrierten sich die Hebräer auf das Studium Ebd., 77/Anm. m: »Plato quidem non diffitebatur multa se a Barbaris accepisse, quemadmodum Clemens Alexandrinus […] probauit. At *polla ta ton barbaron gene. Nulla consequentia est, Hebraeos aut eorum libros a Platone fuisse consultos. Multa Graeci a Phoenicibus acceperunt; ab Aegyptiis non pauca; pleraque ipsi inuenerunt; verbis saepe similia loquentes, re diuersum sentientes«. Zur Kritik der Beeinflussung des Pythagoras durch das Wissen der Hebräer ebd., 74ff./Anm. l. 141 Ebd., 73 f./Anm. k: »Ipse DEus montibus vndique clausit Palaestinam, hinc abruptis rupibus & profundis vallibus, concursu torrentum, inde altis & implexis anfractibus, sic contractis, vt per angustos colles vix pateret transitus viatori; atque sic ab orbe paene toto Physice diuisus fuit hic populus. Dein peculiaris illa Politiae, cultus, victus, vestitus, institutionis denique totius Mosaicae ratio faciebat, vt illa sancta natio a gentibus exteris, tamquam hortus a desertis discreta maneret & separata. Non poterant gentes vnius mensae communione frui cum Iudaeis«. 142 Vgl. ebd., 77f.: »Quae apud Iudaeos erant Scholae & Academiae pristinae non tam ad Encyclopaediae studia, vt solent hodie, formatae & compositae erant, quam ad religionis instituta & dona Prophetica imbibenda«. Es folgt eine Kritik der Auslegung der Propheten als »sapientiae profanae doctores«. 140

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des mosaischen Gesetzes und lebten ansonsten als ein Volk einfacher Ackerbauern. Ein eigentliches Interesse für profanes, wissenschaftliches Wissen entfaltete sich erst nach der Zerstreuung des hebräischen Volkes, als in der jüdischen Diaspora in Europa zahlreiche Rabbiner auftraten, die »nicht unkundig der Wissenschaften und Disziplinen« waren.143 Gundling spielt die Provinzialität der Hebräer nicht mit jener ironischen Verve wie später Voltaire144 gegen die Auszeichnung der Hebräer als Heiliges Volk aus; doch hat auch er die Kultur der alten Hebräer nach den Maßstäben pragmatischer Vernunft vermessen und dadurch ihre wissenschaftlichen Kenntnisse in besonderer Weise minimiert. Daß er behauptete, »die Jüden hätten nicht eher philosophiret / biß sie im eilften Seculo aus Babylon in Europam, sonderlich in Spanien / gekommen / und über die Aristotelische Philosophie gerathen wären«, geht Christoph August Heumann zu weit (der auf Philon von Alexandrien verweist).145 Gundling wollte die gelehrte Auslegungstradition desavouieren, um den Unterschied zwischen Glauben und Wissen auszuzeichnen. »Wenn das hebräische Volk etwas Besonderes hatte«, lautet sein Resümee, »dann ist es in der Heiligen Schrift zu suchen«.146 Diese Beschränkung Ebd., 82: »Id certum Iudaeos ante tempora Iudae Maccabaei & Ionathanis fratris nihil prius, nihilque antiquius habuisse legis studio; cumque gentes aliae Physicis contemplationibus aliisque artibus incumberent, illi agriculturae fere addicti & institutis suis adstricti viuebant; donec Pharisaeorum, Sadducaeorum Essenorumque sectae irrumperent, Philosophorum nouae species, & post Christum morti traditum, templumque excisum Thalmudis fabulae primas tenerent; hisque tandem tenebris superatis, & disperso per orbem terrarum populo innumerabiles Rabbini emergerent, scientiarum disciplinarumque non imperiti«. Diese Beschreibung wird in den Fußnoten b–g (ebd., 82–90) ausführlich erläutert. 144 Vgl. Voltaire, Essay sur les moeurs et l’esprit des nations et sur les principaux faits de l’histoire depuis Charlemagne jusqu’à Louis XIII, ed. René Pomeau, 2 Bde., Paris 1963, Bd. 1, Introduction (d. h. die dem Essay erstmals 1769 vorangestellte Philosophie de l'histoire), 135 ff. Dort heißt es u. a.: Bis in die Zeiten Salomos wurden die Juden von ihren Nachbarn nicht beachtet (»Les Juifs, avant de Saül, ne paraissent qu’une horde d’Arabes du désert, si peu puissants que les Phéniciens les traitaient à peu près comme les Lacédémoniens traitaient les ilotes«, 136), und nach ihrer Versklavung und Vertreibung wurden sie barbarisch und abergläubisch: »En suivant simplement le fil historique de la petite nation juive, on voit qu’elle ne pouvait avoir une autre fin. […] Elle ose étaler une haine irréconciliable contre toutes les nations; elle se révolte contre tous ses maîtres. Toujours superstitieuse, toujours avide du bien d’autrui, toujours barbare, rampante dans le malheur, et insolente dans la prospérité« (151). Dies sei, erläutert Voltaire, natürlich nur die Sicht der Griechen und Römer gewesen, die ihre Bücher lesen konnten; für die »chrétiens éclairés« sind sie Vorläufer und Boten göttlicher Providenz. 145 [Heumann], Acta Philosophorum, Bd. 1, Sechstes Stück, 1037. 146 Gundling, Historia philosophiae moralis, 94/Anm. s: »Si quid praecipui habuit gens Ebraea in sacra Scriptura oportet quaeras. Haec plana est, nec tot arcana, tot sonos, tot vocabula nihil magni significantia in sinu suo abscondita seruat. Quoties aenigmata obseruas, toties lusisse credas eos, qui talibus vsi sunt. Lusit Simson, lusit & Salomon: Ludere vero non est philosophari. Eodem nominalis & litteralis Cabala pertinet«. 143

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auf die Aussagen der Heiligen Schrift korrespondiert mit der Beschränkung der kulturellen Leistungen der Hebräer auf eine einfache, religiös geprägte Moral. Gemeinsam ist beiden Beschränkungen der Vorteil der Klarheit, von der sich die »geheimnisvolle« und »suspekte« gelehrte Auslegungstradition mit scharfen Kontrasten abheben läßt. Zugleich bieten diese Reduktionen den Vorteil, die profanen Errungenschaften der philosophischen Tradition, entkoppelt vom Zusammenhang mit dem heiligen Wissen, um so deutlicher vor Augen treten zu lassen. Doch sind diese Errungenschaften in Gundlings Text bloß Leerstellen, die Erwartung des Lesers (zumindest des modernen Lesers) wird enttäuscht. Denn Gundlings Erkundung der Philosophie und speziell der Moralphilosophie der Barbaren erbringt ganz generell keine neuen Entdeckungen. Die Figur ursprünglicher Wissensvollkommenheit ist Ausdruck einer Obsession für Geheimnisse. Oft seien sich die Gelehrten selbst nicht darüber im klaren, was ihre Auslegungen eigentlich bedeuten.147 Mit den Erwartungen und Interessen der Gegenwart überschreiben sie die Dunkelheit der frühen Zeiten. Betrachtet man die überlieferten Texte mit vernünftigen Augen, so läßt sich überhaupt wenig mit Gewißheit über die Moralphilosophie der Barbaren aussagen. Man findet entweder (wie im Fall der Ägypter) keine oder stumme Überreste, denen keine vernünftigen Aussagen zu entlocken sind,148 oder aber die Belege sind (wie im Fall der Chaldäer) Fälschungen.149 Die vorhandenen Texte sprechen von Idolatrie und Unvernunft der Barbaren,150 oder drücken, wie im Fall der Hebräer, nur einfache Wahrheiten aus.151 »Quod compluribus eruditis familiare est, vt loquantur, scribant, exprimant, quod scientes, prudentes, viui, videntesque non intelligunt« (bezogen auf die »opinio Cabalistarum«, daß »mundum hunc per emanationem a Deo conditum esse«). Näheres könne man in Bayles Continuation des Pensées diverses nachlesen (ebd., 97/Anm. s). Bayles Continuation war ein Jahr vor Gundlings Text in Rotterdam 1705 erschienen. 148 »Quae omnia cum penitius intueor consideroque, in eam opinionem inclinor, frustra sudare & laborare omnes, qui quodcuncque vetustis insculptum est adytis, tabulisque in lucem proferre annituntur. Adsunt obelisci, non diffiteor, Hieroglyphica, mystica, Mensae Smaragdinae, Isiacae, & monumenta consimilia: Sed age sodes quid docent? quid magni aut miri continet illa pomposa strues?« (ebd., 13). 149 Über deren »eruditio« sind, außer Namen und Fälschungen, keine »monumenta« bekannt (vgl. ebd., 17 ff.). 150 So, mit scharfer Kritik der Auslegungen Marshams und Kirchers, das Urteil über die Ägypter (ebd., 8 ff.), wobei sich Gundling vor allem auf die Forschungen Hermann Conrings (De hermetica medicina libri duo, Helmstedt 1667) und Hermann Wits (Aegyptiaca, Amsterdam 1696) stützt. Generell gilt für die orientalische Philosophie, was Gundling mit Verweis auf die Mémoires (Paris 1670–1671) des Mediziners François Bernier, eines Schülers Pierre Gassendis, folgendermaßen zusammenfaßt: »Neque mihi dubium haeret, quin hoc quidquid est, profluxerit ex sententia omnibus fere Orientalibus communi, qua DEum & mundum inter se confundunt« (42). 151 Dies gelte auch für dasjenige, was man gewöhnlich über die sapientia der Ägypter (vgl. ebd., 13 f.) oder die Lehren des Konfuzius (40) sage. 147

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Bestätigt also Gundling die griechische Sicht auf die Philosophiegeschichte? Dafür spricht das Ergebnis der Studie, ja schon die Verwendung des auf die Griechen zurückgehenden Sprachgebrauchs »Barbaren« legt eine solche Schlußfolgerung nahe. Gundling hat die Verwendung des Begriffs »Barbaren« damit gerechtfertigt, daß er nur der verbreiteten Konvention der Gelehrten folge.152 Jedoch trifft dies hinsichtlich der Einordnung der Hebräer neben oder genauer: zwischen die übrigen barbarischen alten Völker nicht zu. Diese Gleichordnung mußte provozieren, ließ sie sich doch als eine Sichtweise interpretieren, die von der besonderen heilsgeschichtlichen Bedeutung der Hebräer und ihres heiligen Wissens völlig unberührt ist. Gundling versuchte dem (auch tatsächlich vorgebrachten)153 Verdacht, hier atheistische Positionen zu vertreten, dadurch zuvorzukommen, daß er, am Schluß seiner Abhandlung, die Gleichordnung von Hebräern und Barbaren in einer Kritik der Sichtweise der Griechen als sachlich begründete Schlußfolgerung verteidigt und den traditionellen Gegensatz heiliger und profaner Texte historisch differenziert und relativiert:154 »Die Griechen überredeten sich auf sehr eingebildete Weise (und dies gilt auch für Laertius), daß ihnen der ganze Ruhm der Erfindung der Philosophie gebührt«.155 Doch könnten sie für diesen Anspruch nur schwache Gründe anführen.156 Mag das Wort »Philosophie« neueren (griechischen) Ursprungs sein, die Sache Ebd., Praefatio ad lectorem (unpag.): »De methodo quam tenui, pauca tibi annotabis. Nosti, Barbaros omnes fuisse appellatos, qui non erant Graeci: subdidi huic consuetudini calamum manumque; partim secutus viros doctos partim etiam arbitrium meum […]« (es folgen die Ausführungen über die Methode). 153 Zu den zeitgenössischen Vorwürfen bzw. Verdächtigungen, Gundling vertrete atheistische Positionen, Mulsow, Moderne aus dem Untergrund, 345. 154 Schon im Abschnitt »de Gallorvm et Germanorvm vetervm philosophia morali« (Historia philosophiae moralis, 44–59) kritisiert Gundling die griechische Perspektive und konstatiert mit Verweis auf die mittelalterliche Sicht (er zitiert bzw. genauer: paraphrasiert Liutprand von Cremona; vgl. Relatio de legatione constantinopolitana, ed. Georg Heinrich Pertz, in: MGH Scriptores III, Hannover 1859, 347–363, hier 350) den historischen Wandel solcher Urteile: »Graeci, & inter eos potissimum Epicurus […] solos Graecos posse Philosophari somniarunt. Nec Romanis melior mens fuit, omnia prae se spernentibus, posteaquam summa rerum ad ipsos rediit. At enim mira rerum vicissitudine factum est, vt cum Barbarae nationes primas obtinerent eodem contemptu Romanorum natio conculcaretur« (45/Anm. u). Diese historische Relativierung hat einen patriotischen Kontext: Gundling wertet in diesem Abschnitt die »Germani nostri« auf, die bislang gegenüber den Galliern vernachlässigt worden seien. 155 Ebd., 113/Anm. p: »Graeci vanissime sibi persuadebant, (quorum caussam Laertius etiam suscepit,) sibi omnem Philosophiae inuentae gloriam deberi«. 156 Ebd. (in Anschluß an die Anm. 155 zitierte Stelle): »maxime, quod ipsa Philosophiae appellatio in Graecia sit nata. Pugio vere plumbeus hic fuerit, vtor Isaaci Casauboni verbis, (not. ad Diog. Laertii Prooem.) Philosophia Graeca vox est, non Barbara: Ergo Philosophia a Graecis inuenta est, non a Barbaris. Pari iure Romanis dicere liceat, Medicinam a se inuentam, quia Medicinae appellatio sit Romana, non barbara«. Die Stelle findet sich im Prolog von Isaac Casaubon, Notae ad Diogenis Laertij libros de vitis, dictis et decretis principum philosophorum, Morsee 1583. 152

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selbst ist alt: »Auch die Alten beobachteten die göttlichen und menschlichen Dinge, jene Alten, die wir nach dem üblichen Gebrauch Barbaren nennen: Sie erforschten deren Ursachen und deren Anfänge, doch ohne Scharfsinn, ohne alchemische Experimente und ohne die gegenwärtige Menge an erfundenen Instrumenten. Heutzutage wird Weisheit immer mit philosophischen Grundsätzen vermischt. Wo man jene aufmerksam wahrnimmt, dort wird vermutet, daß auch diese damit verbunden sind. Deshalb wird so viel Unsinn geredet über die Gelehrsamkeit der Hebräer, die falsche mit der wahren Philosophie so häufig vermischt«.157 Trotz der nachgeschobenen Rechtfertigung – was immer die Wissensanstrengungen der ältesten Völker waren und wie immer sie zu erklären sind: Philosophie im strengen Sinn, d.h. für Gundling: durch Vernunft begründete Grundsätze, waren sie nicht. Mögen sie als Weisheit, als einfache, religiös bestimmte Wahrheiten Anerkennung finden. Gemessen an dem Maßstab des Urteils, mit dem Gundling das gelehrte Wissen über die frühen Völker erkundet, haben Hebräer und Barbaren keine Philosophie hervorgebracht. Den sogenannten Barbaren darf das nicht vorgeworfen werden. Über die ihnen gesetzten Schranken konnte ihr Denken nicht hinauskommen. Vorzuwerfen aber ist die Vermischung göttlicher und menschlicher Dinge den gelehrten Philologen der neueren Zeiten. Sie hätten es besser wissen müssen. Doch haben sie nicht gelernt, vergangene Weisheiten von begründeter Wissenschaft, Religion von Philosophie zu unterscheiden und die Differenz der Zeiten und pragmatischen Umstände anzuerkennen. So haben sie in der fernen Vergangenheit nur Spuren ihrer Gegenwart und ein eingebildetes perfektes Wissen gefunden.

3. Der Ursprung der Philosophie bei den Griechen: Christoph August Heumann Ludewig, Thomasius und Gundling waren Zeugen der Anklage, als Christoph August Heumann in den Acta Philosophorum die Auffassung über die Anfänge der Philosophie bei den biblischen Patriarchen vor den »Richterstuhle der Vernunfft« zog und die weit verbreitete Auffassung des »Irrthums« anklagte,158 – jene Gelehrten also, welche in Deutschland um die Wende zum 18. Jahrhundert die seit dem 16. Jahrhundert Gundling, Historia philosophiae moralis, 113f./Anm. p: »Fac igitur nomen esse recens: non diffitemur: res est antiqua. Diuinas humanasque res etiam veteres, & communi stilo barbaros appellamus, speculati sunt: in caussas earum & initia inquisiuerunt, sed sine subtilitate, & sine chemiae apparatu, sine instrumentorum recens inuentorum copia. Nostri sapientiam semper cum doctrina confundunt. Vbi illam animaduertunt, ibi hanc etiam iuxta positam suspicantur. Vnde tot de Hebraeorum eruditione ineptiae; tanta falsae cum vera Philosophia confusio« (im Text steht anstatt »Philosophia confusio« »Philosophiae origine«; die entsprechende Ersetzung folgt der CorrigendaListe im Anhang von Gundlings Text). 158 [Heumann], Von der Philosophie Der Patriarchen Erstes Capitel, 759 ff. 157

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wirkmächtige Figur einer ursprünglichen Wissensperfektion in Frage gestellt und dabei die Prinzipien naturrechtlicher Vernunft, wie sie Samuel Pufendorf entwickelt hatte, sowie die Methoden historischer Kritik, wie sie Jean Le Clerc und Pierre Bayle propagiert und praktiziert hatten, in Anschlag und zur Geltung gebracht hatten. Mit spitzer Feder hatten sie die historische Kritik gegen Theosophen, Pansophen, Kabbalisten und Synkretisten und deren Suche nach einer ursprünglichen Wissensperfektion gewendet.159 Unterschiedlich waren die Arbeitsgebiete, Interessen und Argumentationsweisen dieser Gelehrten: Ludewig, der Skeptiker und historische Kritiker, führte den gefallenen Adam als profanen, der Heiligkeit entkleideten Menschen vor, für Heumann eine »viel wahrscheinlichere Meynung« als die »allzuschwachen Muthmassungen« über die perfekte Weisheit Adams, wenngleich Heumann Ludewigs vollständige Profanisierung Adams zu weit ging.160 Thomasius, der Jurist, kleidete seine Auffassung vom profanen Ursprung der Wissenschaften in eine scharfsinnige Bibelexegese, deren Kritik traditioneller Auslegungen auch Luthers Genesis-Exegese nicht verschonte.161 Gundling, der junge Moralphilosoph mit libertären Interessen und Sympathien, der die These Bayles verteidigte, auch eine Gesellschaft aus Atheisten könne eine geordnete und moralische Gesellschaft sein,162 provozierte mit der Gleichstellung von Barbaren und Hebräern. Heumann hat Gundlings Analyse ausdrücklich gelobt, ohne Zur Kritik des Synkretismus die drei Artikel des Hallenser Professors für Moralphilosophie (ab 1705 Theologieprofessor in Jena) Johann Franz Budde im Bd. 3 (Halle 1701) der Observationes Selectae (Obs. XII–XIV: De syncretismo philosophico generatim; De conciliatione philosophorum cvm Scriptura S.; De conciliatione philosophorvm inter se; dazu Albrecht, Eklektik, 438 ff.). Im Bd. 1 (Halle 1700, Obs. I: Origines philosophiae mysticae, siue Cabbalae veterum Ebraeorum breuis delineatio; Obs. XVI: Defensio Cabbalae Ebraeorum contra auctores quosdam modernos) verteidigte Budde zwar die (alttestamentliche) jüdische Kabbala als ursprüngliche Weisheit, kritisierte aber deren spätere Auslegungen als Verfälschungen (dazu Mulsow, Gundling versus Buddeus bzw. Moderne aus dem Untergrund, Kap. VII). Mit Einschränkungen rechnet Heumann auch Budde zu den Kritikern der »Philosophie der Patriarchen«, doch erst mit seiner Historia ecclesiastica Veteris Testamenti (2 Bde., Halle 1715); in seiner Introductio ad historiam philosophiae Ebraeorum (Halle 1702) war Budde selbst noch ein Anhänger des »gemeinen Jrrthums« ([Heumann], Von der Philosophie Der Patriarchen Erstes Capitel, 762 f., Zweytes Capitel, 16 f. 160 Vgl. ebd., Zweytes Capitel, 937. 161 Heumann ging diese Luther-Kritik zu weit. Wenn Thomasius bestritten hatte, daß die Patriarchen das Volk durch Unterricht unterwiesen hätten, schließt Heumann sich der Auffassung Luthers an, der im Unterricht der Patriarchen den evangelischen Gottesdienst präformiert sah. Seine Kritik an Thomasius formuliert Heumann allerdings vorsichtig und diplomatisch: »Es ist also die sonst gelehrte Dissertation de scholis antediluvianis […] cum grano salis zu lesen« (ebd., Erstes Capitel, 793 ff., das Zitat ebd., 794/Anm. z). 162 Gundling rechtfertigt im Vorwort an den Leser die Notwendigkeit, bei seinem Thema auch Auffassungen berühren zu müssen, die denen widersprechen, »quos de Deo & vita futura habemus«, und führt aus: »Loquor de dogmatibus. Non enim ignoro, etiam eos qui vel DEum negant, 159

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allerdings seine Gleichstellung von Barbaren und Hebräern sowie die auf Destruktion der philosophiehistorischen Tradition beschränkte Perspektive mittragen zu können.163 Alle drei Gelehrten zielten mit ihrer Kritik auf die Herrschaft von Vorstellungen und Praktiken der Gegenwart über die Vergangenheit, eine Herrschaft, die durch den Nachweis, daß sich in ihr gegenwärtige Konflikte und Machtinteressen, der autoritative Zwang religiöser Orthodoxie und philosophischer Sekten oder unkontrollierte Affekte ausdrücken, den Mantel der Unschuld verlieren sollte. So ging es ihnen nicht in erster Linie um philologische Kritik der Textüberlieferungen, mit denen die Figur der ursprünglichen Wissensperfektion begründet und legitimiert wurde. Mit solcher Kritik hatten Theologen, klassische Philologen und Orientalisten des 17. Jahrhunderts bereits vor der Frühaufklärung operiert. Zur Disposition stand vielmehr das Verhältnis von profanem und heiligem Wissen, von Vernunft und Offenbarung. Im Blick auf die Anfänge des Wissens arbeitete die pragmatische historische Kritik an der Befreiung der menschlichen Wissensanstrengung von religiöser Verbrämung, zugleich

vel ita circumscribunt, vt a mundo non videatur diuersus, cum externae quietis esse peramantes, tum etiam affectibus suis non minus, quam eos duci, regique, qui de Deo eiusque operibus omnibus horis ac momentis loquuntur. Insigne sane praeiudicium est, ex ineptissimorum hominum praecipitantia proueniens, atheos non nisi pessima meditari, tumultus ciere; libidine efferri, moribus intemperantissimis viuere, vtpote qui illam ipsam praestantem, ac subtilissimmam mentem aeternam negent, aut cum corpore aliquando iisdem vinculis coniungendam. Sunt potius & illis suasiones graues ac pro illorum captu interdum dulces, & ad animi motus faciendos aptae, praesertim cum propensi natura sint hominum animi ad vitam praesentem conseruandam; nihilque sit, quod iis consolationem spemque magis afferre possit; quam haec vna viuendi ac seipsum mouendi facultas; huius coeli lux ac spiritus, quem hauriunt, gustant, ac sentiunt«. Als Position eines Universitätsprofessors ist eine solche Argumentation wohl einzigartig in der deutschen Frühaufklärung, auch wenn Gundling einschränkend hinzufügt: »Quod ipsum tamen si displiceat quibusdam contraria opinione imbutis, ii sciant credantque me non esse propositi, aut cuiusdam opinionis Philosophicae adeo tenacem, vt pro illa mori constituerim. Possum & ego captiuare rationem, immo promitto, me praebiturum statim assensum, si doceantur meliora, quam quae meae parturiunt Musae, mea ratio, meumque ingenium« (Historia philosophiae moralis, Praefatio ad lectorem, unpag.). 163 Zur Gleichordnung von Barbaren und Hebräern: »Ich will an die Historische Ordnung nicht wieder gedencken: sonst möchte vielleicht dieses Capitel mit Recht praetendiren / aus septima in primam translociret zu werden. Genug / daß dieses ein schönes und solid gelehrtes Capitel ist und bleibet / es mag stehen / an welchem Ort es wolle«. Zur destruktiven Kritik: »Also ist dieses ein recht gutes Buch. Nur möchte ich wünschen / daß der hauptgelehrte Herr Autor fortgefahren wäre / oder noch fortführe / und die Historiam philosophiae moralis in Griechenland / in Rom / und unter den Christen / ausführete. In gegenwärtigem Buche hat er nur remotive gehen / und die praejudicia von der Alten ihrer Philosophie über den Hauffen werffen müssen. Er hat also das übel gegründete Gebäude der Philosophiae Hebraicae und Barbaricae glücklich eingerissen. Zu wünschen wäre es / daß er fortgefahren / und das Gebäude der Philosophiae moralis Graecanicae, &c. aufgerichtet hätte« ([Heumann], Acta Philosophorum, Bd. 1, 1035 f. bzw. 1039).

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aber auch umgekehrt: an der Emanzipation des Offenbarungswissens von der Indienstnahme durch profane Interessen. Dieser doppelten Emanzipationsabsicht hat der Philosophiehistoriker Heumann besondere Prägnanz verliehen. In den Artikeln zur Philosophie der Patriarchen verteidigt er die Heilige Schrift gegen den Zugriff und die Autorität gelehrter, vor allem patristischer Auslegung. Vielmehr soll die autonome, von orthodoxer Bevormundung befreite Vernunft sie zum Sprechen bringen.

A. Wechselseitige Beschränkung von Philosophie und Theologie Theologie und Philosophie – so führt es der Titelkupfer, der dem ersten Stück der Acta Philosophorum vorangestellt ist, dem Leser vor Augen – sitzen sich, jede an einem eigenen Tisch, auf einer ansonsten leeren, klassizistisch nüchternen Theaterbühne einander zugewandt gegenüber. Auf den Tischen liegt jeweils ein aufgeschlagenes Buch, doch die Augen haben sich von ihm gelöst. Sich freundlich, beinahe herzlich anblickend, sprechen Theologie und Philosophie miteinander im Gestus höflicher Aufmerksamkeit. Ein heiterer, spielerischer Austausch von Argumenten: CONCORDIA CRESCIMUS lautet der das Bild kommentierende Leitspruch. Unterhalb der inszenierten Harmonie erblickt der Betrachter ein zweites Bild, das eine andere Szene vor Augen führt. Ein Lehrer auf dem Katheder, im Habitus des Geistlichen, spricht zu einer Gruppe elegant gekleideter Herren mit umgeschnallten Degen. Vor dem Katheder stehend, halten sie Bücher in Händen, auf die ihre Augen gerichtet sind, und Bücher sieht man auch aufgereiht in Regalen an den Wänden des Raums. PALLIUM ET LIBROS VIDEO: PHILOSOPHUM NON VIDEO, kommentiert hier der Text. Das Ideal eines offenen Austauschs vernünftiger Argumente dominiert im Bildaufbau des Titelkupfers die mit den Insignien der Macht ausgezeichnete gelehrte Praxis, das autoritative Diktat und bloße Ablesen vorgefertigten Wissens. Was hier im Bild vorgestellt ist, die Überlegenheit der durch Vernunft vereinten Gesprächspartner Theologie und Philosophie über eine text- und autoritätsfixierte gelehrte Praxis, manifestiert den Willen zu einer neuen Lektüre überlieferter Texte: Diese will die Gründe für die Geltung und Macht der gegenwärtigen Repräsentationsformen gelehrter Vergangenheit erforschen, das »praeiudicium auctoritatis«, das »die Menschen am meisten blendet / und von Erkäntniß der Wahrheit abhält«,164 genau analysieren. Denn erst wenn »wir anfangen / selbst die Augen aufzuthun«,165 läßt sich die gelehr[Heumann], Einleitung Zur Historia Philosophica. Das 1. Capitel / Von deren Nutzbarkeit, in: [Ders.], Acta Philosophorum, Erstes Stück, 3–63, hier 19. 165 Ebd., 22. 164

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te Vergangenheit im Licht der Wahrheit betrachten, erst beleuchtet von der »Sonne der Vernunfft«166 werden die »Wahrheit der Geschichte« sowie die »Gelegenheiten und Gründe der Lehren« evident.167 Dazu aber müssen sich die Augen des gelehrten Lesers von den Buchstaben des Textes lösen, muß sich die gelehrte mit der philosophischen Lektüre verbinden. Hier, im »gründlichen Raisoniren«168 der Vernunft, zeigt sich der Philosoph, der die durch das Diktat der Autorität erzwungene Lektüre (PALLIUM ET LIBROS VIDEO) übertrumpft und sich selbst in der »Historia philosophica« wiederfinden will. Die nicht nur angesichts der deutschen (Universitäts-)Wirklichkeit zu Heumanns Zeit utopische Vorstellung einer qua Selbständigkeit einträchtig zusammenwirkenden Theologie und Philosophie erweist sich im Text der Acta Philosophorum als ein kompliziertes Spannungsgefüge.169 Denn der Grundsatz: »wo die wahre Göttliche Offenbahrung sich befindet / da hat die Philosophie sichere Herberge«,170 kann nur mit beträchtlichem Aufwand an Begriffsdifferenzierungen aufrecht erhalten werden, welche die postulierte Konkordanz der beiden Partner in ein gegenseitiges Bestimmungsverhältnis zwingen. Die Wahrheit der christlichen Offenbarung ist für den deutschen Lutheraner Heumann noch durchaus konfessionell geprägt: »So bald auch die Christliche Religion wieder ins reine gebracht wurde«, also mit der Reformation, »fieng die Philosophie an / sich wieder zu regen / und nach und nach zu Kräfften zu kommen. Und man sehe sich nur um / wo Philosophi anzutreffen sind: so wird man in denen Ländern / die den Baal zu Rom noch anbeten / wenig Philosophie erblicken / sondern / was rechtschaffen philosophiret / das ist unter denen Protestanten«.171 Und »Philosophia« ist zwar, wie die historisch-philologische Untersuchung zeigt,172

[Heumann], Der Einleitung Zur Historia Philosphica. Vierdtes Capitel. Von denen Kennzeichen der falschen und unächten Philosophie, in: [Ders.], Acta Philosophorum, Zweytes Stück, 179–236, hier 205. 167 [Heumann], Acta Philosophorum, Vorbericht (unpag.), hier kritisch bezogen auf die Philosophiegeschichte Stanleys: »[…] so müssen wir doch gestehen / daß auch Stanlejus nicht einmal / der doch das grösseste corpus Historiae philosophicae verfertiget / uns erwünschte Genüge thut / indem er weder die Warheit der Geschichte / noch die Gelegenheiten und Gründe der Lehren / mit behöriger Sorgfalt untersuchet / sondern uns gleichsam einen mit allerhand Gerichten besetzten Tisch vorgestellet / und uns frey gelassen zu versuchen / was süsse oder sauer / warm und kalt sey«. 168 Ebd. 169 Die Forschung zu den Acta Philosophorum (Braun, Geschichte der Philosophiegeschichte, 109 ff.; Longo, Le storie generali della filosofia in Germania, 437 ff.) hat dieser besonderen, das gesamte Werk beherrschenden Spannung wenig Beachtung geschenkt. 170 [Heumann], Von denen Kennzeichen der falschen und unächten Philosophie, 204. 171 Ebd., 221. 172 Vgl. [Heumann], Der Einleitung Zur Historia Philosophica. Anderes Capitel. Von denen vielerley Bedeutungen der Wörter *Sophia und Philosophia, in: [Ders.], Acta Philosophorum, 166

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ein Wort, das »ehemahls gar vielerley Bedeutungen« unterworfen war und dem noch gegenwärtig »Vieldeutigkeit« eigen ist;173 doch die »eigentliche« und »wahre« Philosophie, an der sich Heumann in seiner Untersuchung orientieren will, ist eine Kombination von demonstrierender (»mit tieffsinnigen demonstrationibus«) Vernunfterkenntnis und praktischer (Moral-)Philosophie, die in deutlicher Analogie zur theologischen »Scientia practica« entworfen ist.174 Eine bloß theoretische Neugierde ist dagegen keine wahre Philosophie, und ein »purus putus theoreticus«, mag er auch, wenn er »aus dem Grunde« Wahrheiten erforscht, »grundgelehrt« sein, ist kein wahrer Philosoph.175 Das Zusammenspiel mit der Theologie, dies verdeutlichen nicht nur diese konventionellen, schulmäßigen Definitionen zum Begriff Philosophie, schränkt also den Partner Philosophie ein. Umgekehrt jedoch ist auch die Theologie beschränkt, denn ihrer Herrschaft über die Philosophie, in der universitären Fakultätshierarchie der Zeit verankert, wird, wenn auch nur indirekt, der Prozeß gemacht. Im Kleid der »Superstition«176 zeigt sie sich als das zentrale Hindernis der Philosophie, und die Opfer ihrer Gewalt sind, in Analogie zu den Bekennern des wahren christlichen Glaubens, Erstes Stück, 63–92. Die begriffsgeschichtliche Untersuchung (65–79) handelt Heumann bezeichnenderweise in Latein ab: »Es wird sich aber der Leser verhoffentlich nicht lassen zu wieder seyn / daß ich diese Materie in Lateinischer Sprache ausgearbeitet habe. Es ist solche pur philologisch: und also wolte sich es nicht wohl anders thun lassen«. 173 Ebd., 90 f., sowie [Heumann], Der Einleitung Zur Historia Philosophica Drittes Capitel / Von dem Wesen und Begriff der Philosophie, in: [Ders.], Acta Philosophorum, Erstes Stück, 93–103, hier 93 f. 174 Vgl. ebd., 94 ff. Schon beim Grundaxiom dieser Begriffsdifferenzierung (»Ein Philosophus heisset ein Mensch / der die Weißheit studiret hat. Was ist aber die Weißheit? Sie ist eine Wissenschafft derjenigen Dinge / die dem Menschen gut sind / und ihn also glückseelig machen«) betont Heumann, damit komme die »heilige Schrifft genau überein« (ebd., 94; die Belege sind 1.Mose 3,5, Jes 7,15, Hebr 5,14, Röm 12,9 und 1.Thess 5,21). 175 Ebd., 100. Philosoph »ist nur derjenige / welcher mit Erforschung nützlicher realWahrheiten beschäfftiget ist«. Er halte es auch »vor eine irrige Redens=Art / wenn man einem blosen Physico oder Mathematico den Titel eines Philosophi beyleget«; deshalb sind Descartes und die meisten seiner Schüler keine eigentlichen Philosophen, denn »das sind keine rechten Philosophi, die bloß zur Curiosität (scire, ut scias,) speculiren in physicis, astronomicis, Algebra, &c. ja gar in Alchemistischen und Astrologischen vanitäten« (ebd., 100 f.). 176 Vgl. [Heumann], Von denen Kennzeichen der falschen und unächten Philosophie, 205: »Aber die falsche Religion / die wir mit einem Worte die Superstition nennen wollen / fürchtet sich vor der Philosophie / als vor ihrer ärgsten Feindin und Verfolgerin. Und sie hat auch Ursach darzu. Denn wo die Philosophie ihr Reich aufbauet / da muß die Superstition ins exilium weichen. Also wer unter beyden den Meister spielet / der drücket und verfolget den andern aufs äuserste / jedoch mit unterschiedener Manier. Denn die Superstition ist grob / und weiß von keiner Discretion, sondern vertilget die Philosophos mit Feuer und Schwerdt. Hingegen die Philosophie ist höflich und politisch / und agiret nicht mit gewaffneter Hand / sondern vexiret nur die Superstition und honecket sie so lange / biß sie gutwillig abziehet / und einen andern Ort suchet / wo sie mehr Respect zu hoffen hat«.

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philosophische Märtyrer.177 So läßt das Ideal der Partnerschaft die Bestimmung darüber, welche Theologie und welche Philosophie hier zusammenwirken, nicht unberührt. Vor allem aber, wie sie agieren sollen, ist entscheidend: sich selbst nach der Maßgabe praktischer Vernunft kontrollierend, verzichten die beiden Partner auf Gewalt und wollen den herrschaftsfreien Dialog zur Geltung bringen. Während sich »die Superstition die armen Menschen unterthan« macht und, wenn einer »seinen Halß unter dieses Joch nicht beugen« und der »gesunden Vernunfft« folgen will, »zu den äusserlichen Waffen« greift, gilt für die wahre Religion und Philosophie: »Denn dieses hat die wahre Religion mit der wahren Philosophie auch gemein / daß keine von beyden das Ius Zelotarum oder das gewaltsame Compelle intrare statuiret: sondern sie suchet mit deutlicher Vorstellung die Wahrheit andern beyzubringen / und enthält sich der Gewalt gantz und gar / weil sie wohl weiß / daß es nicht nur unbillich / sondern schlechterdings unmöglich ist / auf diese Weise eines andern innerliche Meynung zu ändern«.178 Geht es um die Frage nach der »wahren« Philosophie, räumt die Philosophie der Theologie ein gewisses Mitspracherecht ein, gesteht sie ihr »articuli fundamentales der Philosophie« zu, d.h. ein schmales theologisches Fundament als Maßstab zur Beurteilung philosophischer Lehren.179 Doch ansonsten ist sie auf ihre Selbständigkeit bedacht. Um sich darüber zu vergewissern, wird sie zur »Historia philosophica«. Diese benötigt zwar einen »rechten Begriff von der Philosophie«, ohne den es weder möglich ist, die »Historiam Philosophicam sich recht zu Nutze zu machen / noch dieselbe gehöriger massen in eine Verfassung zu bringen«.180 Und nur der Phi-

Vgl. [Heumann], Entwurff eines MATYROLOGII PHILOSOPHICI, in: [Ders.], Acta Philosophorum, Bd. 3, Dreyzehendes Stück (1723), 88–124; vgl. auch [Ders.], III. Der Einleitung. Zur Historia Philosophica Fünfftes Capitel. Von dem Ursprung und Wachsthum der Philosophie, in: ebd., Bd. 1, Zweytes Stück, 246–314, hier 311: »Nemlich die Superstition hemmet alle Disciplinen in ihrem Lauff / und ist gleich fertig / einem Philosopho den Titel eines Atheisten an den Halß zu werffen«. 178 [Heumann], Von denen Kennzeichen der falschen und unächten Philosophie, 207 f. Heumann verweist in der Anmerkung auf Pierre Bayles Commentaire philosophique (3 Bde., Erstausgabe Canterbury [in Wirklichkeit: Amsterdam] 1686–1687). 179 Vgl. den Schluß von [Heumann], Von denen Kennzeichen der falschen und unächten Philosophie, 235 f.: »Bey dieser Gelegenheit muß ich nur noch mit drey Worten gedencken an die articulos fundamentales der Philosophie / deren dreye sind / welche auch der Uhrheber der Epistel an die Hebräer Cap. XI.v.6. vor Augen gehabt hat. Der erste ist: Es ist ein Gott / von dem alle Wesen ihren Ursprung haben. Der andere: GOtt regieret die Welt durch beständige Providenz. Der dritte: Die Menschliche Seele ist unsterblich / und hat nach diesem Leben noch ein anders zu gewarten. Wo diese fundamenta feste stehen / da kan ein schönes philosophisches Gebäude darauf gesetzet werden. Hingegen wo dieselben wancken / oder gar vor falsch erkläret werden / da können nichts anders / als falsche Philosophi / an den Tag kommen«. 180 [Heumann], Von dem Wesen und Begriff der Philosophie, 94. 177

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losoph selbst ist ein geeigneter Philosophiehistoriker.181 Doch in der historischen Differenzierung tritt die Philosophie aus dem Schatten der Theologie und verändert ihr Selbstverständnis. Mag die Prüfung am idealen Maßstab des »Wesens und Begriffs der Philosophie« ergeben, »daß die meisten so genannten Philosophi des rechten Weges verfehlet haben«,182 so kann sich Heumanns philosophisches Urteil nicht mit diesem negativen Ergebnis begnügen. Denn unter dem Gesichtspunkt des Nutzens der historia philosophica ist es wichtiger zu verstehen, warum die sogenannten Philosophen diesem Maßstab nicht gerecht wurden (und werden). Deshalb hat die historia philosophica ein möglichst breites Spektrum vergangener philosophischer Bemühungen anzuerkennen und zu differenzieren.183 Da sie sich hier nicht auf das Diktat der überlieferten Urteile verlassen will, muß das historische Fundament neu vermessen, von der Frage nach der »Veritas factorum« ausgegangen werden.184 Im Licht der »Wahrheit der Geschichte« aber erkennt Heumann nicht nur die Gründe für die Abweichung vom wahren Wesen und Begriff der Philosophie; es erweisen sich auch traditionelle Auffassungen über Philosophen und ihre Lehren als bloße »Praeiudicia«.

Vgl. [Heumann], Einleitung Zur Historia Philosophica. Das 1. Capitel / Von deren Nutzbarkeit, 34 f.: Niemand könne »die Historiam Philosophicam recht tractiren und dociren«, wenn er nicht »selbst ein Philosophus ist. Wie denn aus eben dieser Ursach diese Historie noch so viele Defecte hat / weil die meisten von denen / so sie bisher beschrieben haben / mehr Philologi, als Philosophi, gewesen sind / z. E. Vossius, Hornius, Stanlejus, &c. Und haben wir allerdings gute Ursach / einen Unterschied zu machen inter Historiam Philosophiae und inter Historiam Philosophicam. Denn eine rechte Historia Philosophiae muß auch Philosophica seyn / das ist / man muß alles gründlich untersuchen / so wohl die veritatem factorum, als dogmatum. Und darff man sich hierbey das gemeine Vorurtheil nicht hindern lassen / als wenn nemlich einem Historico nicht frey stunde / sein judicium beyzufügen: welche ungegründete Meinung mit Recht der kluge Clericus verworffen hat«. Heumann verweist in der Anmerkung auf Le Clercs Bibliothèque choisie pour servir de suite à la Bibliothèque universelle (26 Bde., Amsterdam 1703–1713). Le Clerc hatte sich dort im Bd. 18 (Amsterdam 1710, 14) in einer Rezension von Edward of Clarendon (The History of the Rebellion and Civil Wars in England, 3 Bde., Oxford 1705–1706) dagegen gewendet, daß der Historiker das Urteil seinen Lesern überlasse. 182 [Heumann], Von dem Wesen und Begriff der Philosophie, 102. 183 Vgl. dazu (an die Anm. 175 zitierte Stelle anschließend) ebd., 101: »Deßwegen aber darff man solche Leute in der Historica Philosophica nicht vorbey gehen / sondern muß auch ihrer Erwehnung thun / theils damit man / sonderlich bey denen letzten / sehe / wie weit die falsche Philosophie ihr Reich ausgebreitet habe; theils weil die ersten doch Philosophica tractiren / ob schon nicht Philosophice«. Zur Differenzierung der vergangenen Philosophien [Heumann], Eintheilung der Historiae Philosophicae, in: [Ders.], Acta Philosophorum, Bd. 1, Drittes Stück, Halle 1716, 462–472. 184 Vgl. Vorbericht zum Ersten Stück und: [Heumann], Der Einleitung Zur Historia Philosophica Siebendes und letztes Capitel. DE FIDE HISTORICA oder von der Glaubwürdigkeit in dieser Historie, in: [Ders.], Acta Philosophorum, Bd. 1, Drittes Stück, Halle 1716, 381–462. 181

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Teil III · Das Anfangsproblem in der Philosophiegeschichte

Es ist der Widerspruch zwischen der Wahrheit der Geschichte und den überlieferten praeiudicia, der Heumanns kritischen Geist antreibt und den er in den einzelnen Artikeln der Acta Philosophorum zur Sprache bringt.185

B. Philosophiegeschichte als Schule der Freiheit »Die Griechen haben zuerst die Flügel ihres Verstandes in die Höhe geschwungen / und zu philosophiren angefangen«.186 Heumann hat den Ursprung und die Selbständigkeit der Philosophie bei einem Volk und in einer Zeit entdeckt und beschrieben, deren Bedeutung und Leistungen auch die gelehrte Philosophiegeschichtsschreibung vor ihm anerkannt und geltend gemacht hatte.187 Jedoch stand dort die Philosophie der griechischen Heiden in einem anderen Verhältnis zu noch früheren Philosophien. Wie auch immer dieses Verhältnis bestimmt wurde, ob als Gegensatz von heidnischem Irrtum und biblischer Wahrheit oder als Abhängigkeit der griechischen Philosophie von der (letztlich auf die Hebräer zurückgehenden) Philosophie anderer Völker: Die Philosophie, die den Griechen vorausging, war keineswegs auf eine marginale Vorgeschichte zu reduzieren. Wenn dem modernen Leser die Argumente und Differenzierungen, mit denen Heumann nachzuweisen versucht, daß die vorgriechische Philosophie tatsächlich nur den Status einer Vorgeschichte beanspruchen kann, verquer bis umständlich vorkommen mögen, dann auch deshalb, weil dies im Licht der modernen Philosophiegeschichte evident erscheint. So muß der komplizierte Dialog, in den Heumann die Theologie und Philosophie zwingt, als besondere Anstrengung gelesen werden, die ungewöhnliche und theologisch prekäre Figur des griechischen Ursprungs der Philosophie zu begründen und zu legitimieren, um dadurch die Selbständigkeit der Philosophie zur Geltung zu bringen. Dieser Perspektive folgen die großen Artikel über einzelne Philosophen (wie Sokrates und Giordano Bruno), die kritischen Rezensionen der gelehrten Philosophiegeschichten und die Artikel über die vorgriechischen Philosophen. 186 [Heumann], Von dem Ursprung und Wachsthum der Philosophie, 290. 187 Vgl. etwa Horn, Historia philosophica, 135 f., 138: Die Griechen brüsten sich als erste Philosophen, doch schöpften sie viel aus Moses (»multa a Mose mutuatos esse«). Dennoch gilt: »PLura quidem dici poterant de origine et incremento Philosophiae Barbaricae: sed visum est praevertere ad cultam illam Graeciam: quae una, postquam semel exorta est et fulgorem suae famae sparsit, caeteris omnibus orbis partibus palmam praeripuit, adeo ut sola Graecia jure meritoque mater Philosophiae dici possit. Quamvis enim in Oriente et celeberrimi viri floruerint et Philosophia ipsa in summo honore semper habita fuerit: tamen intra illos terminos haesit, quod esset spinosior et obscurior, multisque mysteriis, ut ipsi vocabant, intricata. Contra vero Graecia, ut ut primitus non multum diversa methodo uteretur, paulatim tamen quasi mansuetior facta, cultores sui undique invitavit et Sapientiam ita propagavit, ut ea hodieque, prout apud Graecos erat, nobis in usu sit, et duratura ad mundi finem videatur.« 185

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In der Konfrontation mit der historia philosophica erweist sich jeder mit der Theologie erarbeitete Begriff der »wahren« Philosophie als zwiespältig. In Griechenland, so Heumann, schränkte die politische Verfassung (»Regiments-Form«) die Macht der Priester ein und ließ damit anderen die Freiheit, »ihrer Curiosität nachzuhängen / und vermittelst derselben durch die Finsternis des Heydenthums nach und nach durchzudringen«. So hat die curiositas der Philosophie »die Bahn gebrochen«, und deshalb »müssen wir die initia sapientiae eruditae oder philosophiae allerdings in Griechenland suchen / als in welchem Lande / sonderlich zu Athen, die Leute nicht nur grosse Begierde / sondern auch Freyheit hatten / neue Dinge vorzubringen und auch anzuhören«.188 Die Ermöglichung der curiositas, jener im Widerspruch zur wahren Philosophie stehende Antrieb,189 ist also die Ursache dafür, daß es überhaupt zur Philosophie kommen kann! Entscheidend für diese historische Rechtfertigung der theoretischen Neugierde ist die Aufmerksamkeit für die Bedingungen ihrer Möglichkeit.190 Der Ursprung der Philosophie ist vor allem an die Einschränkung geistlicher Herrschaft geknüpft. Während bei früheren Völkern »Sacerdos und Philosophus in einem Rocke« steckten, haben die Griechen »zu allererst a religione publica abstrahiret / und sich auf die Untersuchung der Wahrheit ernstlich geleget«.191 Dazu waren sie in der Lage, weil ein Fragen, Denken und Sprechen unabhängig von Autorität und Zwang möglich geworden war. Der Ursprung der Philosophie zeigt sich damit in der Möglichkeit ihrer Selbständigkeit. Die philosophische Freiheit war allerdings schon in ihren griechischen Ursprüngen eine prekäre Freiheit, die der Herrschaft des Aberglaubens (»Superstition«) abgerungen werden mußte und von ihr mit Neid und Gewalt verfolgt wurde. Sokrates, der »unter den Alten« vor allem »den Titul eines Philosophen« verdient,192 ist deshalb zugleich der erste Märtyrer der Philosophie: »Sokrates, der zu allererst der Superstition recht ins Gehäge gieng / und doch endlich noch seine philosophische Freyheit mit dem Leben bezahlen muste / kunte biß in das siebenzigste Jahr seines Alters die Wahrheit sagen und auch andere lehren / ungeachtet die Superstition die Zähne fletschete / und allerhand gefährliche Anschläge wieder ihn schmiedete«193 (als »Teutschen Socrates« bezeichnet Heumann übrigens Christian Thomasius).194 [Heumann], Von dem Ursprung und Wachsthum der Philosophie, 284 f. Vgl. Anm. 175. 190 Vgl. Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt a.M. 1973, 184ff. Blumenberg bezieht sich im Fall der Philosophiegeschichtsschreibung (ebd., 210 ff.) auf Johann Jacob Brucker, der Heumann als seinen Lehrer und sein philosophiehistorisches Vorbild verehrte. 191 [Heumann], Von dem Ursprung und Wachsthum der Philosophie, 289 f. 192 [Heumann], Von dem Wesen und Begriff der Philosophie, 101. 193 [Heumann], Von denen Kennzeichen der falschen und unächten Philosophie, 213. 194 Vgl. ebd., 184; Heumann bezieht sich jedoch, entsprechend seines Konzepts geistiger Unabhängigkeit, durchaus auch kritisch auf Thomasius. 188 189

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Heumann hat die beiden Gegenpole, also Freiheit (auch von materiellen Sorgen) und Muße als notwendige Bedingung einer unabhängigen Philosophie einerseits und ihre Verhinderung durch die Herrschaft des Aberglaubens andererseits, in ihrem Gegenspiel eingehend analysiert;195 und er hat unter Einbeziehung weiterer Bedingungsfaktoren ein Modell skizziert, das Ursprung und Wachstum der Philosophie als einen »natürlichen Lauff« vorführt, der die Philosophie »von der Unvollkommenheit zu einem vollkommenen Wesen Stuffenweise in die Höhe« steigen läßt.196 Dabei ist für die historische Rekonstruktion weniger die Frage von Interesse, was für eine Philosophie bzw. welche Dogmata gelehrt wurden, als vielmehr die Frage, wie die Philosophie Selbständigkeit erringen konnte (und kann) bzw. wie diese verhindert oder beschränkt wurde (und noch wird).197 Nicht die Philosophie als ein sich selbst genügendes Prinzip regiert deshalb Heumanns Philosophiegeschichte, sondern deren Nutzen für die (gegenwärtige) Philosophie.198 Nutzen aber soll die historia philosophica vor allem der Erkenntnis von Vorurteilen (praeiudicia), welche die innere Entfaltung der Philosophie am meisten hemmen. Denn die äußeren gesellschaftlichen Bedingungen, die den Ursprung der Philosophie bei den Griechen ermöglichten, sind für die freie Bewegung der Vernunft zwar notwendig, aber nicht hinreichend für ihre innere Unabhängigkeit. Die Selb-

Zur »Muße und Freyheit von Sorgen« als Bedingung selbständiger Philosophie [Heumann], Von dem Ursprung und Wachsthum der Philosophie, 298 ff. Heumann bezieht sich hier auf das 46. Kapitel des Leviathan (zur Bedeutung dieses Kapitels vorliegende Arbeit, S. 61); die »Hindernisse« werden ebd., 306 ff. thematisiert. 196 Vgl. ebd., 246–314, das Zitat ebd., 250. 197 Förderlich sind dem »studio philosophico« neben »Muße und Freyheit vor Sorgen« die »Aemulation« (die, mit Bezug auf Descartes, definiert wird als »Hitze / welche die Seele entzündet / dasjenige / was andern wohl von statten gehet / auch vorzunehmen / in der Hoffnung / es eben so weit / oder noch weiter / zu bringen«) und »der Vorrath an guten Büchern« (sowie die »Buchdruckerey-Kunst«, in der sich für Heumann die Überlegenheit der Neuzeit über die Antike manifestiert). Hinderlich sind die verschiedenen Ausprägungen der Affekte, die nach Heumanns skeptischer Anthropologie den Menschen seit dem Sündenfall beherrschen: »Denn die Menschen sind nach dem Falle gebohrne Narren / und Sclaven der unvernünfftigen Affecten / und also von der Weißheit weit entfernt« (ebd., 253 u. 298 ff.). 198 Vgl. Einleitung Zur Historia Philosophica. Von deren Nutzbarkeit, 3 ff. Nutzen hat die historia philosophica auch für die Theologie, Jurisprudenz und Kirchengeschichte (43 ff.) sowie für die Erkenntnis »Göttlicher Providenz« (53 ff.). Hier wird die heidnische (griechische) Philosophie, in Aufnahme der seit der Patristik einflußreichen Figur, zur Vorbereitung der »Evangelischen Wahrheit«: »[…] und lässet sich die Philosophie als eine mit vieler Dunckelheit vermischte Morgenröthe ansehen / welche vor dem Anbruch des Evangelischen Mittags vorhergegangen« (54). Doch betont Heumann nach dem Verweis auf die alten und neuen »Christlichen Scribenten«, die »eine ziemliche Harmonie zwischen den Christlichen Lehr=Sätzen und denen Meinungen der Philosophorum wahrgenommen« haben: »wie wohl sie zuweilen / aus Mangel genauer Prüfung / zu weit mögen gegangen seyn« (56). 195

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ständigkeit der Philosophie muß sich bei jedem Philosophen neu verwirklichen, ansonsten nämlich erweist er sich als bloßer »Affter-Philosoph«.199 Er muß selbst denken lernen, alles selbst vor den Richterstuhl der Vernunft ziehen und überprüfen, darf sich von keinem vorgefertigten Urteil abhängig machen. So ist für Heumann auch die einzige Ursache, weshalb die heidnischen Philosophen nach Christus nicht zur Erkenntnis der Wahrheit des Evangeliums gelangt sind, »ihre negligence«, diese »nicht geprüfet und examiniret / sondern die Doctores Christianismi incognita causa verdammet« zu haben. Es zeigt sich hier erneut Heumanns (an Le Clerc geschultes) Ideal des einträchtigen Zusammenwirkens von Theologie und Philosophie, die Auffassung, daß die Offenbarungswahrheit der kritischen Prüfung durch die Vernunft standhält: »Es ist ja unser Gottesdienst vernunfftig / und so wenig das Gold sich vor dem Feuer scheuet / so wenig furchtet sich unsere Religion auch vor dem schärfsten examine, sondern getrauet sich alle Proben auszuhalten / und über alle Einwurffe zu triumphiren«.200 Daß die Vernunft »in Glaubens=Sachen nicht grübeln«201 soll, ist deshalb ein nur strategischer, ihre eigenen »Einbildungen« verteidigender Einwand des Aberglaubens. In seiner Unabhängigkeit schult den Philosophen die historia philosophica. Er begegnet hier unterschiedlichen Philosophen und Philosophien, lernt im Vergleich ihre Irrtümer kennen und erkennt dadurch, daß das auf menschliche Autorität gestützte Urteil ein unsicherer Richter ist, kurzum: er lernt die Wahrheit selbst suchen. Erst als selbstdenkender, der Geschichte der Philosophie unabhängig gegenüber tretender Philosoph nämlich erweist er sich als wahrer Philosoph, d.h. für Heumann: als eklektischer Philosoph: »So finden wir denn auf solche Weise / daß die Philosophia Eclectica die beste Art der Philosophie sey / ja ich will noch mehr sagen / daß keiner den Nahmen eines Philosophi verdiene / der nicht ein Eclecticus ist«.202 [Heumann], Von denen Kennzeichen der falschen und unächten Philosophie, 182. Die Fähigkeit, selbst und dadurch innovativ zu denken, ist auch von biologischen und klimatischen Faktoren abhängig (vgl. Der Einleitung Zur Historia Philosophica Sechstes Capitel Von dem INGENIO PHILOSOPHICO, in: Acta Philosophorum, Bd. 1, Vierdtes Stück, Halle 1716, 567–670). Ausdruck höchster Begabung ist das aktive »selbst nachdenken« (ebd., 579 ff.). Das seltene »ingenium primae magnitudinis« der Philosophie (als Beispiele nennt Heumann Aristoteles und Christian Thomasius) muß »selbst aus seinem eigenen Schatze […] neue Wahrheiten hervorbringen / und sonderlich solche / welche denen überall eingerissenen und gleichsam canonisirten Meynungen entgegen gesetzet sind«. 200 [Heumann], Einleitung Zur Historia Philosophica. Von deren Nutzbarkeit, 60. 201 [Heumann], Von denen Kennzeichen der falschen und unächten Philosophie, 207. 202 [Heumann], Einleitung Zur Historia Philosophica. Von deren Nutzbarkeit, 20; zur Eklektik auch: Von denen Kennzeichen der falschen und unächten Philosophie, 190 ff. Zu Heumanns Begriff der Eklektik Albrecht, Eklektik, 493 ff. Das Problem der eklektischen Philosophie an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert wird deutlicher bei: Ulrich Johannes Schneider, Über den philosophischen Eklektizismus, in: Nach der Postmoderne, hg. v. Andreas Steffens, Düsseldorf u. 199

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Die historia philosophica schwächt in der Anerkennung und kritischen Erforschung unterschiedlicher Philosophien die Bindung an Autoritäten und wird durch ihre Entkräftung vergangener Philosophie zum Signum der Überlegenheit der neueren Philosophie: »Da nun das praejudicium auctoritatis die Menschen am meisten blendet / und von Erkäntniß der Wahrheit abhält / so wird dasselbe durch Excolirung dieser Historie gewaltig geschwächet / wo nicht gar gehoben […] Daher lehret die Erfahrung / daß seit dem nebst den so genannten litteris humanioribus auch die Historia Philosophica excoliret worden / die Philosophie selbst ein weit schöners Ansehen gewonnen / und in allen disciplinen der Zustand besser worden sey«.203 Heumann verfaßte keine historia philosophica, seine Studien wollten dafür nur Grundlagen liefern.204 Die Acta Philosophorum versammeln Gründliche Nachrichten (so der erläuternde Untertitel des Titels) über die äußeren und inneren Bedingungen der Philosophie. Und es sind die Auswirkungen dieser Bedingungen auf den Philosophiebegriff, denen Heumanns ganze Aufmerksamkeit gilt. Denn das, was als Philosophie vorgestellt wird, ist von den jeweiligen Bedingungen des menschlichen Wissensstrebens geprägt. Um diese zu erforschen, ist der Philosophiehistoriker auf die Wahrheit der Geschichte verwiesen. Die Historie, das »Licht«, »ohne welches man auf dem Wege zur Gelehrsamkeit nicht fortkommen kann«,205 ist jedoch nicht einfach zugänglich und als »vollkommene« Geschichte darstellbar: »Wenn also jemand von mir eine vollkommene Historiam philosophicam erwartet / der nehme mirs nicht übel / wenn ich ihn auslache. Denn eine vollkommene Historia philosophica gehöret nicht unter die pia, sondern unter die stulta desideria«.206 Im Licht einer skeptisch geschärften, methodischen Überprüfung erweist sich die Historie als »Stückwerck«207 und muß in einem komplizierten und aufwendigen Prozeß der Zeugenbefragung rekonstruiert werden.208 Bernsheim 1992, 201–224; im Blick auf Brucker, den einflußreichen Schüler Heumanns, Ders., Das Eklektizismus-Problem der Philosophiegeschichte, in: Jacob Brucker (1696–1770). Philosoph und Historiker der europäischen Aufklärung, hg. v. Wilhelm Schmidt-Biggemann u. Theo Stammen, Berlin 1998, 135–158. 203 [Heumann], Einleitung Zur Historia Philosophica. Von deren Nutzbarkeit, 19 u. 22 f. 204 Vgl. den Vorbericht (unpag.) zum ersten Stück der Acta Philosophorum. 205 [Heumann], DE FIDE HISTORICA, 383. 206 Ebd., 413. Heumann spielt hier auf Bacons historia-literaria-Konzept und dessen deutsche Rezeption an (dazu Verf., Cogitationes de studio litterario, Johann Lorenz Mosheims Kritik der Historia litteraria, in: Johann Lorenz Mosheim [1693–1755]. Theologie im Spannungsfeld von Philosophie, Philologie und Geschichte, hg. v. Martin Mulsow u. a., Wiesbaden 1997, 17–43). Die historia philosophica versteht Heumann, wie damals üblich, als Teilgebiet der historia literaria (vgl. DE FIDE HISTORICA, 414). 207 Für alle historischen Teilgebiete (historia civilis, ecclesiastica und literaria) gilt fettgedruckt: »Unser Wissen ist Stückwerck«, d. h. »daß es in omni historia, und also auch in der philosophica, hin und wieder hiatus gebe / die kein Mensch ausfüllen kann« (ebd., 413 bzw. 414 f.). 208 Vgl. ebd., 383 ff.

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Wie für Ludewig ist auch für Heumann, der sich hier zustimmend auf Bayle bezieht, die pyrrhonistische Skepsis kein destruktives, vielmehr ein positives methodisches Prinzip.209 Die Philosophiegeschichte läßt sich unter diesen Vorgaben nicht mehr als bloß gelehrte Sammlungs- und Ordnungsarbeit verstehen und praktizieren. Das hat Heumann in seinen Rezensionen der gelehrten Philosophiegeschichten immer wieder betont.210 Sie wird zur Kritik fraglos und ungeprüft übernommener Traditionen und Vorstellungen über die Vergangenheit der Philosophie. Auch der Philosophiehistoriker hat sich als selbstdenkender und: als selbstbewußter Philosoph zu erweisen, der sich die Geschichte seiner »Profession« nicht ungeprüft vorgeben lassen will.211 So ist Heumanns Reflexion der Grundlagen der Philosophiegeschichte ein zweifacher Prozeß: die Analyse historischer und natürlicher Bedingungen, die eine selbständige Philosophie ermöglichen oder verhindern, aber auch die Analyse der Vorstellungen über die Vergangenheit der Philosophie, welche den Blick nicht nur für die Wahrheit der Geschichte, sondern auch für die Wahrheit der Philosophie verstellen.

C. Der Richterstuhl der Vernunft Daß dem selbständigen Denken und der Kritik überlieferter Traditionen, wie er es nachdrücklich als Voraussetzung der Philosophie vertrat, in seiner Zeit Grenzen gesetzt waren, hat Heumann schon früh selbst erfahren. Nach dem Studium und ersten

Ebd., 454 ff.; zu Heumanns Konzept der fides historica und seinem Kontext Völkel, »Pyrrhonismus historicus«, 99 ff. (zu Heumann 139 f. u. 165 f.). 210 Etwa in dem »unparteyischen und wohlgegründeten Urtheil« über Stanleys Historia philosophiae (in: Acta Philosophorum, Bd. 1, Drittes Stück, 523–545, hier 539 f.): »[…] er träget mit unermüdetem Fleiß zusammen / was er nur bey denen alten Scribenten hat finden können / und bringet es in Ordnung. Aber es mangelt ihm am judicio sowohl historico, als philosophico. Er giebet dem Laertio an Leichtglaubigkeit nichts nach. Was gedruckt ist / das nimmet er als eine Wahrheit an. Er ist also kein Criticus realis gewesen […] Gleichermaßen raisonniret er auch über die Dogmata der alten Philosophorum nicht / und siehet man wohl / daß er kein Philosophus gewesen. Ich vergleiche ihn also denen Arbeitern / welche bey einem Gebäude allerhand Materialien zutragen: die aber der Meister erst betrachtet / und / was ihm nicht anstehet / wegwirffet«. 211 »Der erste General-Nutzen / den man aus der Historia philosophica ziehet / mag immerhin das Scire, ut scias seyn. Denn weil die Gelehrsamkeit gleichsam ein besonders Handwerck ist / so ist es ein Zeichen einer straffwürdigen Faulheit / wenn diejenigen / so von der Gelehrsamkeit profession machen / sich nicht um den Ursprung und Fortgang der Wissenschafften bekümmern / sondern / wenn dergleichen Fragen vorkommen / entweder aus dem Tacito antworten müssen / oder die Sache gantz falsch und irrig vortragen« ([Heumann], Einleitung Zur Historia Philosophica. Von deren Nutzbarkeit, 4). 209

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Vorlesungen als Privatgelehrter in Jena unternahm er 1705 eine Reise in die Niederlande, dem damals aufregendsten Land für Gelehrte mit freigeistigen Interessen.212 Denn die Unabhängigkeit und Selbständigkeit des Denkens faszinierten schon den jungen Heumann, der sich 1703 seine Lehrbefugnis mit einer Arbeit De philosophia Epicteti erworben hatte,213 d. h. über die Philosophie jenes Stoikers, der nicht mit festgefügtem Wissen instruieren wollte, für den vielmehr am Anfang der Philosophie die Frage stand: »Ist etwa all das wahr, was alle meinen?«214 In den Niederlanden diskutierte Heumann mit berühmten Gelehrten, u.a. mit Bayle, und er ließ sich von einem noch lebenden Bekannten Spinozas dessen Lehre erklären.215 Zurück in Jena und inspiriert von der skeptischen Kritik Bayles, veröffentlichte der 25jährige Gelehrte eine Dissertatio de fato vxoris Loti, in der er bezweifelte, daß Lots Frau tatsächlich zur Salzsäule erstarrt war.216 Heumann setzt sich kritisch mit der Überlieferung und Übersetzung der Bibelstelle auseinander, stellt die Sprachkenntnis der Kirchenväter und späterer Exegeten in Frage sowie bezweifelt die Authentizität der Stelle, u.a. betont er auch das Interesse der katholischen Kirche an der Verbreitung einer derartigen Version, die damit gleichnishaft das ungebundene Wissensstreben verdammte. Das entscheidende Argument aber ist die Vernunftwidrigkeit der Stel-

Vgl. Georg Andreas Cassius, Ausführliche Lebensbeschreibung des um die gelehrte Welt Hochverdienten D. Christoph August Heumanns, Cassel 1768. Diese Zusammenstellung ungedruckter autobiographischer Berichte ist neben einer Memoria C.A. Heumanni durch Christian Gottlob Heyne (Göttingen 1764) die beste Quelle zu Heumanns Leben und Werk. Die Eindrücke seiner Reise in die Niederlande trug Heumann in ein Reise-Journal ein, das Cassius für seine Darstellung (ebd., 32–137) auswertete. Im Conspectvs reipvblicae literariae (Erstausgabe 1718, hier benutzt in der 6. Aufl. Hannover 1753) hat Heumann die Niederlande (neben England) als Ausgangspunkt der »restituta philosophis libertas« im 17. Jahrhundert beschrieben. Von dort habe sich die »libertas philosophandi« nach Deutschland ausgebreitet, wo als erster der preußische König Friedrich I. eine »liberrima philosophandi schola«, die Universität Halle, eröffnete (§ LIX, 176 f.). 213 Christoph August Heumann (Praes.), Johann Adam Schirneck (Resp.), De philosophia Epicteti disputatio, Jena 1703. Dazu Günter Mühlpfordt, Ein kryptoradikaler Thomasianer: C. A. Heumann, der Thomasius von Göttingen, in: Christian Thomasius, hg. v. Schneiders, 305–334, hier 307. In der Bewertung von Heumanns Radikalität ist diese Darstellung von Leben und Werk Heumanns allerdings überzogen; eine präzise Analyse von Heumanns Arbeiten im Spannungsfeld von Theologie und Historie bei Walter Sparn, Philosophische Historie und dogmatische Heterodoxie. Der Fall des Exegeten Christoph August Heumann, in: Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung, hg. v. Henning Graf Reventlow u. a., Wiesbaden 1988, 171–192. 214 Epiktetos von Hierapolis, Diatriben, II 11; die Übers. v. W. Capelle, zitiert nach: Antike Geisteswelt. Eine Sammlung klassischer Texte. Auswahl und Einführung von Walter Rüegg, Frankfurt a. M. 1980, 70. 215 Vgl. Cassius, Ausführliche Lebensbeschreibung, 42 ff. (zu Bayle) u. 136 (zu Spinoza). 216 Der Text erschien Jena 1706 und wurde nachgedruckt in: Christoph August Heumann, Poecile sive epistolae miscellaneae ad literatissimos aevi nostri viros, 3 Bde., Halle 1722–1732, Bd. 2, Halle 1726–27, 256–318. 212

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le.217 Heumanns Universitätskarriere war damit zunächst einmal beendet,218 und er mußte als Gymnasiallehrer 25 Jahre – bis zur Gründung der Universität Göttingen – auf die angestrebte Universitätsprofessur warten.219 Die Geschichte von Heumanns frühen Schwierigkeiten auf Grund eines in Frage gestellten Bibelberichts kann die Brisanz verdeutlichen, die auch seine Auffassung vom heidnischen Ursprung der Philosophie als Befreiung von theologischer Bevormundung besaß. Und sie mag auch sein gelegentliches Lavieren zwischen immanenter historischer Analyse und heilsgeschichtlicher Auslegung sowie die Betonung des herrschaftsfreien Dialogs zwischen Theologie und Philosophie erklären. Heumann war klug, er war ein Politischer Philosophus 220 geworden. Die Frage, »ob und wann der Verdacht oder die opinion einer Ketzerei schädlich oder nützlich sey«, beantwortet er jetzt wie folgt: »Nemlich / wer sich noch nicht Autorität gesetzet hat / der muß sich hüten / daß man ihn ja nicht für einen Ketzer halte. Denn hierdurch verschliesset er sich selbst den Weg zur Autorität zu gelangen / wenn er weiser seyn will / als diejenigen / die man doch für gelehrter / als ihn / hält. So schadet er sich auch hiedurch an seinem Glück / indem man ketzerische Leute von öffentlichen Aemtern und Ehren= Stellen ausschliesset. Daher muß ein Gelehrter / so lange er durch Vortragung neuer / ob gleich wahrer / Meinungen sich schaden kan / andern aber keinen Nutzen bringen kan / sich nach dem Wahlspruch der Königin Elisabeth richten: Video, taceo«. Erst wenn der Gelehrte sich Autorität erworben und »einen grossen Anhang von Discipeln« hat, überdies für »einen redlichen und Christlichen Mann gehalten wird«, kann er »ungescheut die eingerissenen Jrrthümer angreiffen und mit Hoffnung eines guten Successes«.221 Hier bezieht er sich vor allem auf Jean Le Clerc, der mit folgenden Worten zitiert wird (ebd., 282): »Si hoc, inquit, unquam factum fuisset, et hodie alicubi fieret: nulla enim ratio afferri potest, qua olim id fieri potuisse; nunc non posse, constet«; die Stelle ist entnommen: Jean Le Clerc, Pneumatologia, cui subjecta est Thomae Stanleii philosophia orientalis, in: Ders., Opera philosophica. Editio quinto auctior et emendatior, 4 Bde., Amsterdam 1722, Bd. 2, hier 96. 218 Vgl. Inge Mager, Die theologische Lehrfreiheit in Göttingen und ihre Grenzen: Der Abendmahlskonflikt um Christoph August Heumann, in: Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, hg. v. Bernd Möller, Göttingen 1987, 41–57, hier 47. 219 Vgl. Mühlpfordt, Ein kryptoradikaler Thomasianer, 307 ff. 220 Christoph August Heumann, Der Politische Philosophus Das ist / Vernunfftmäßige Anweisung Zur Klugheit Jm gemeinen Leben Auffgesetzet, Frankfurt u. Leipzig 1714 (3. Aufl. ebd. 1724). Dort (130 f.) heißt es (offensichtlich auf Christian Thomasius anspielend): »Und einem gewissen grossen Philosopho unserer Zeit / oder vielmehr seiner Philosophie, schadet es nicht wenig / daß er in seiner Jugend durch satyrische Schrifften sich in eine nicht gute Opinion gesetzet hat. Denn daher kömmet es / daß viele seine Schrifften nicht einmahl lesen / weil sie ihn vor einen Mann sine religione und sine pietate halten / und deßwegen seine neue Meynungen / wenn sie auch noch so wohl gegründet sind / blindlings verwerffen«. 221 Ebd., 131; zum Kontext der von Heumann empfohlenen Strategie »politischer« Klugheit in der Frühaufklärung Ursula Geitner, Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und an217

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Zum Zeitpunkt der Abfassung der Artikel über die Philosophie der Patriarchen war Heumann im Sinne dieser Strategie noch nicht »in Autorität« gesetzt, und so hat er die seiner Auffassung widersprechende, gleichwohl weit verbreitete Vorstellung vom Anfang der Philosophie bei den biblischen Patriarchen, die eng mit der Theologie verknüpft war, zwar deutlich als »Irrtum« bezeichnet; doch geht er in der Widerlegung dieses Irrtums – im Unterschied zur scharfen Kritik des Ursprungs der Philosophie bei den orientalischen Barbaren –222 ungleich vorsichtiger vor als sein bewundertes Vorbild Gundling. Doch nicht nur eine größere Vorsicht unterscheidet die Kritik des (damaligen) Gymnasialinspektors Heumann von derjenigen des berühmten Hallenser Professors. Heumann besaß auch einen differenzierteren Begriff von Philosophie und ihres historischen Ursprungs und Wachstums sowie ein genaueres methodisches Instrumentarium zur Kritik überlieferter Vorstellungen über die Vergangenheit der Philosophie. Dadurch konnte Heumann die traditionelle Figur eines heiligen Ursprungs der Philosophie nachdrücklich und mit großer Wirkung für die nachfolgende Philosophiegeschichtsschreibung entkräften. Die alten Hebräer sind keine Barbaren, sie unterscheiden sich wesentlich von den übrigen vorgriechischen Völkern.223 Dies ist Heumanns ganz traditioneller Ausgangspunkt der Untersuchungen zur Vorgeschichte des Ursprungs der Philosophie bei den Griechen. Nur auf das heilige Volk trifft die ansonsten bestätigte griechische Sicht und die ihr korrespondierende Bezeichnung »Barbaren« nicht zu. Die Anerkennung ihrer Besonderheit hat jedoch die Ausklammerung der Hebräer bei der Erklärung des Ursprungs und Wachstums der Philosophie zur Konsequenz. Nur bei der zunächst ganz abstrakt gestellten Frage, wie es zu der frühesten »schlechten und einfältigen

thropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1992 (zu Heumann 132 ff.), und Georg Stanitzek, Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert, Tübingen 1989, 16 ff. 222 Es gehört zum Nutzen der historia philosophica, daß sie »den Appetit nach den Schrifften der alten Philosophorum in Chaldaea, Persien und Egypten« vertreibt, indem sie lehrt, »daß dieses gar keine ächten Philosophi, sondern abergläubische Pfaffen gewesen sind / welche folglich in ihren Büchern nichts als Thorheiten können ausgebrütet haben« (Einleitung Zur Historia Philosophica. Von deren Nutzbarkeit, 35). Zwar waren sie »in ihrem Aberglauben gelehrt«, jedoch auf Grund der Vermischung mit der Religion keine »ächten Philosophi« (Von denen vielerley Bedeutungen, 90). Heumann differenziert auch in einem eigenen Artikel den Begriff »Barbarey« (Von der Barbarey, in: Acta Philosophorum, Bd. 2, Achtes Stück, Halle 1717, 204–253) und kritisiert die Vorurteile über die »hohe Philosophie« einzelner barbarischer Völker (etwa: Von der Philosophie der Alten Egyptier, in: Acta Philosophorum, Bd. 2, Eilftes Stück, Halle 1720, 659–697). 223 Vgl. [Heumann], Eintheilung der Historiae Philosophicae, 463 f.: »Die Völcker / so keine Griechen waren / und den übrigen grossen Raum der Welt erfülleten / nennet man insgemein ohne Ausnahme Barbaros. Weil aber dieses kein Ehren=Nahme ist / sondern solche Leute bezeichnet / die ihren Verstand verrasen lassen: ausser Griechenland aber die klugen Hebräer auch gewohnt haben; so halten wir vor unbillig / dieses Volck unter die Barbarischen Völcker mitzurechnen«.

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Weißheit«, d. h. zu einer praktizierten (aber nicht begründeten) Moral, zum »rechten Weg zur wahren Glückseligkeit« kommen konnte,224 dient das biblische »Zeugniß der Historie« der »Demonstration« als historisches Exempel,225 belehrt der »Blick in die Historie«, »daß in denen uhralten Zeiten die schlechte und einfältige Weißheit unter denen Hebräern ihren Sitz gehabt habe«.226 Doch außer der Anerkennung einer ältesten Zeit, in der die Hebräer »einfältige Weise« waren, während »bey denen andern Völckern die Thorheit« regierte,227 wird das hebräische Volk bei der Erklärung der historischen Voraussetzungen für das menschliche Wissensstreben ausgeklammert. Auf Grund ihrer weisen Simplizität blieben die Hebräer von dem durch Not, Neugierde und Aberglauben angetriebenen Prozeß der Entstehung »gelehrter Weißheit«, d. h. begründeter Wissensformen,228 zunächst unberührt. Nachdem den Hebräern die »einfältige Weißheit« der ältesten Zeit exklusiv zugestanden wurde, setzt die Untersuchung gleichsam neu ein und beschäftigt sich mit den eigentlichen, d.h. natürlichen Ursachen des menschlichen Wissensstrebens.229 Gegen den Prozeß der Entstehung abergläubischer, Religion und gelehrte Neugierde vermischender »Weißheit« bei den Barbaren steht so die gleichsam zeitlose Exklusivität »einfältiger Weißheit« bei den Hebräern. Damit aber ist jenes Netz von Korrespondenzen zwischen dem Heiligen Volk bzw. Text und profanen Völkern bzw. Texten zerrissen, das die frühneuzeitliche Gelehrsamkeit geknüpft hatte. Heumann setzt sich nicht mehr, wie seine Vgl. [Heumann], Von dem Ursprung und Wachsthum der Philosophie, 250 f. Die »schlechte und einfältige Weißheit bestehet in wenigen Artickeln / welche ich in die heilige Siebenzahl einschließen will« (ebd., 251); Heumann faßt darunter Grundsätze der biblischen Offenbarung (ebd., 251 f.). 225 Vgl. ebd., 261. Die »Dürfftigkeit am äuserlichen Wohlergehen« ist für Heumann die »Mutter oder Säug=Amme« dieser Weisheit, was er u. a. »mit einem unvergleichlichen Exempel erläutern oder vielmehr bestätigen« wolle, »nämlich mit dem Exempel Abrahams / welcher der erste war / der nach dem gäntzlichen Verfall der Weißheit von GOtt zu einem Werckzeug gebrauchet wurde / dieselbe wieder hervor zubringen / und durch seine Nachkommen fortzupflantzen / ja endlich der gantzen Welt mitzutheilen« (ebd., 258 f.). 226 Ebd., 263. 227 Ebd., 267. 228 Vgl. ebd., 250: »Das heisset aber die gelehrte Weißheit / wenn einer nicht nur alles deutlich demonstriren / und die darwieder vorgebrachten Einwürffe gründlich heben kan / sondern auch durch definitiones die ideen klar / durch divisiones aber / sowohl nominales, als reales, distinct machet: ingleichen aus einer Wahrheit per consequentias ein hauffen andere herleitet / und endlich dieselben alle so schöne untereinander verbindet / daß eine rechte Disciplin und ein völliges Systema heraus kömmet. Es hat zwar die einfältige Weißheit auch einige demonstrationes und principia. Dieselbe aber sind gar nicht weit gesuchet / sondern lauffen uns gleichsam in die Hände / z.E. diß hat GOtt gesagt / Ergo ist es wahr: Es ist ein GOtt / denn sonst könte das so künstliche Welt=Gebäude nicht da seyn: und dergleichen andere mehr«. 229 Vgl. ebd., 267 ff. Genaueres »de Philosophia veterum Hebraeorum«, so Heumann, könne man in seiner Abhandlung über die Philosophie der Patriarchen nachlesen. 224

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Vorgänger Thomasius und Gundling, im einzelnen mit den frühneuzeitlichen Vertretern der Verschränkung von heiligen und profanen Ursprüngen auseinander. Er kritisiert diese Auffassung in Form des für sein Interesse an der Selbständigkeit der Philosophie weitaus gefährlicheren Synkretismus, wie ihn Pierre-Daniel Huët einflußreich vertreten hatte. Dessen Demonstratio evangelica und vor allem die – »gefährlichen und arglistigen«230 – Alnetanae questiones (erstmals Paris 1690) verbinden nämlich den Nachweis der (historischen) Abhängigkeit des heidnischen von dem biblischen Wissen mit dem Anliegen einer Renaissance der Herrschaft der Theologie und des Glaubens über Philosophie und Vernunft. So leugnet Huët, wie Heumann in einer der zahlreichen Kritiken des französischen Bischofs schreibt, zwar wie Gundling und Thomasius, »daß die Heiligen des alten Testaments die Philosophie studiret hätten«, allerdings aus »Verachtung dieses studii«,231 d.h. auf Grund der Auffassung von der Überlegenheit des Glaubens über die Vernunft bzw. der Schwäche der Vernunft bei der Wahrheitssuche, für die nur die Glaubensgewißheit den Weg weisen kann. Die Isolation, in die Heumann das hebräische Volk zwingt, ergibt sich aus seiner heilsgeschichtlichen Sonderrolle, also aus der Besonderheit einer Geschichte, die sich der natürlichen, immanenten Erklärung der Ursprünge des menschlichen Wissensstrebens weitgehend entzieht. Doch läßt sich die vernünftige Erklärung dann für die von der Heilsgeschichte gelösten heidnischen Völker um so nachdrücklicher und differenzierter in Anschlag bringen (wie dies dann auch Vico in seiner Neuen Wissenschaft tat). Und in der Kritik der Auffassungen über den Ursprung der Wissenschaften und der Philosophie bei den Hebräern zeigt sich die in der historischen Analyse erarbeitete und geschärfte natürliche Erklärung als ein Maßstab, mit dessen Hilfe selbst die angebliche Philosophie der Patriarchen vernünftig vermessen werden kann. Als historisches Fundament, auf das sich die kritische Vernunft bei der Frage nach der Philosophie der Patriarchen zu beziehen hat, anerkennt Heumann einzig die Bibel. Für die früheste Geschichte der Hebräer kann ausschließlich der allerdings zum »Compendiosissimum compendium historiae antediluvianae«232 gewordene Bericht des Moses Geltung beanspruchen. Überlieferten Auslegungen und insbesondere der Autorität patristischer Bibelexegese will sich Heumann nicht unterwerfen. Die Kenntnis der historia philosophica befreit »von dem praejudicio auctoritatis Patrum Ecclesiae«, indem sie zeigt, »daß insgemein die Patres Ecclesiae die Platonische Philosophie studiret / und also der Platonicorum Lehr=Sätze eingesogen haben«. Die Kirchenväter stützten sich also nicht nur auf die Heilige Schrift, ihre Auslegungen sind philosophisch infiziert. Sie stehen deshalb für die prüfende Vernunft zur Dis230 231 232

Ebd., 313. [Heumann], Von der Philosophie der Patriarchen Erstes Capitel, 763 f. Vgl. ebd., 774.

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position, so daß man sich »kein Gewissen« machen muß, sie zu untersuchen und »nach Befinden auch zu verwerfen«.233 Trotz ihrer philosophischen Prägung zeigen nämlich »die meisten Patres Ecclesiae« nur Haß gegen die heidnischen Philosophen. Dieses Urteil hat sich »in die Historiam philosophicam eingeschlichen« und »manche Historische Mißgeburt ans Tages=Licht gebracht«. Wenn deshalb die Kirchenväter von den Philosophen »odiosa erzehlen«, müssen sie als Feinde der Philosophen genau »examiniret werden«.234 Heumanns besondere Aufmerksamkeit gilt der Entlarvung herrschender Vorstellungen über den Anfang von Wissenschaft und Philosophie bei den Hebräern, dem Nachweis, daß diese Vorstellungen »ererbte«, ungeprüft überlieferte »Tradition« sind, d. h. für Heumann: Inbegriff einer auch sozial disqualifizierten Abhängigkeit von unbegründeten Überzeugungen.235 So wird der biblische Bericht, gelöst vom Diktat der Tradition, ausschließlich dem Richterstuhl der Vernunft unterstellt. An dieser unbestechlichen Urteilsinstanz, die Heumann als Inbegriff der Selbständigkeit und Freiheit der Philosophie versteht, orientiert sich seine Kritik und Analyse der herrschenden Vorstellungen über die Vergangenheit der Philosophie.

D. Philosophie der Patriarchen Daß Wissenschaft und Philosophie bei den biblischen Patriarchen ein hohes Niveau erreicht, auch die profanen Wissenschaften und Künste einen heiligen Ursprung hatten, war von Theologen, Philosophen und Philologen der Frühen Neuzeit in unter-

[Heumann], Einleitung. Zur Historia Philosophica. Von deren Nutzbarkeit, 23 f. [Heumann], DE FIDE HISTORICA, 436. So geht auf die Kirchenväter auch die »garstige« Bezeichnung »Welt=Weißheit« für Philosophie zurück, ein Wort, das »jederman gleich eine Idee von einer falschen Weißheit« vermittelt ([Heumann], Von dem Nahmen der Welt=Weißheit, in: [Ders.], Acta Philosophorum, Bd. 1, Zweytes Stück, Halle 1716, 314–321, hier 316 f.); dies ist auch eine historisch eingekleidete Polemik gegen Christian Wolffs Verwendung dieses Begriffs (zur Gegnerschaft der Thomasius-Schule zu Wolff vgl. Hans Werner Arndt, Erste Angriffe der Thomasianer auf Wolff, in: Christian Thomasius, hg. v. Schneiders, 275–286). 235 »So schwach aber die menschliche Auctorität ist / das fundament zur Philosophie abzugeben: noch weit schwächer ist die Tradition und der hergebrachte Glaube. Denn die menschliche Auctorität dependiret doch bißweilen von einem klugen und hochgelehrten Philosopho: im Gegentheil aber die Tradition beruhet auf blossen Erzehlung des Pöbels« (Von denen Kennzeichen der falschen und unächten Philosophie, 199 f.). Es ist deshalb eine zentrale Aufgabe der historia philosophica, von den »erroribus popularibus und epidemicis« zu befreien, indem sie »den Ursprung derselben entdecke«; dieser ist den Menschen unbekannt, denn »die gemeinen Meinungen« werden blind überliefert, sie »sind erblich. Was Vater und Mutter glauben / daß schwatzen sie ihren Kindern vor. Diese nehmen es ehrerbietig an / und tragen es auch ihren Jungen wieder vor« (Einleitung. Zur Historia Philosophica. Von deren Nutzbarkeit, 28 f.). 233 234

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schiedlicher Weise ausgelegt und begründet worden. Mit der heilsgeschichtlichen Auszeichnung der »Alt-Väter« hatte sich die Vorstellung von deren perfektem Wissen verbunden. Es ist diese Verknüpfung, die Heumann auflösen will, um damit die Selbständigkeit der Philosophie und ihren profanen Ursprung zur Geltung zu bringen. Am Anfang der Differenzierungsarbeit steht die traditionelle Unterscheidung der Möglichkeit, »das Licht der wahren Erkäntniß« anzuzünden, nämlich durch natürliche Vernunft (lumen rationis) oder übernatürliche Offenbarung (lumen revelationis).236 Heumann leitet daraus zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen der frühen Geschichte des hebräischen Volkes ab. Im eigentlichen Sinn könne man erst seit dem Patriarchen Heber von Hebräern sprechen, der – dies die übliche Auslegung – dem Volk Gottes einen neuen Namen gegeben habe, »so daß die gantze Welt in Hebräer und Völcker« eingeteilt wurde.237 Vor der Sintflut gab es Heilige (»deren Häupter Patriarchen pflegen genennet zu werden«), die man »Sethiten« nennt, und Unheilige, die »Cainiten« heißen.238 Wenn man allerdings, so Heumann, aus dieser üblichen Einteilung der Menschen vor der Sintflut folgere, daß alle Nachkommen Seths gut, diejenigen Kains aber schlecht gewesen seien, habe dies keinen Grund in der Heiligen Schrift.239 Einerseits gesteht Heumann den »heiligen Alt-Vätern« zu, fromme Männer gewesen zu sein, ja als Propheten waren sie »einer von GOtt unmittelbar geoffenbahrten Weißheit theilhafftig worden«; andererseits bestreitet er eben deshalb um so nachdrücklicher, daß sie »Philosophi stricte dicti« gewesen sind.240 Es ist die These, daß es zwei voneinander unabhängige, einer eigenen Logik folgende Wege zur Weisheit gibt,241 die Heumanns Analyse der »gemeinen Meynung« über die »Philosophie der Patriarchen« beherrscht.242 So hat er, trotz einiger gegenteiliger Beteuerungen,243 die Vgl. [Heumann], Von der Philosophie der Patriarchen. Erstes Capitel, 765: »Zuförderst ist zu wissen / daß ihr Verstand [d. h. derjenige der »Alt=Väter«; H. Z.] von einem zweyfachen Lichte bestrahlet und erleuchtet worden / nemlich nicht nur von dem natürlichen (lumine rationis,) sondern auch von dem (lumine revelationis) übernatürlichen«. Daß auch die »natürliche Wahrheit / als reliquiae imaginis divinae, von GOtt herstammet«, betont Heumann in seiner Auseinandersetzung mit dem Synkretismus (Von denen Kennzeichen der falschen und unächten Philosophie, 203). 237 [Heumann], Von der Philosophie der Patriarchen. Erstes Capitel, 786. 238 Ebd., 760. 239 Ebd., 783. Nach der babylonischen Gefangenschaft verliere sich der Name »Hebräer«, und derjenige der »Jüden« komme auf (ebd., Zweytes Capitel, 54). 240 So schon in seiner begriffsgeschichtlichen Analyse (Von denen vielerley Bedeutungen, 91), in der er die Schlußfolgerung positiv ausdrückt: »Daß heissen aber keine Philosophi, sondern sie verdienen noch einen höhern Titul«. 241 [Heumann], Von dem Wesen und Begriff der Philosophie, 95. 242 [Heumann], Von der Philosophie der Patriarchen. Erstes Capitel, 765. 243 Vgl. etwa die Anm. 198 zitierte Stelle. 236

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Entstehung und Entfaltung der Wissenschaft und Philosophie von heilsgeschichtlichen Bezügen gelöst und als eigenständigen, von Menschen und den durch sie geschaffenen gesellschaftlichen Verhältnissen abhängigen historischen Prozeß ausgelegt. Auf jeden Fall gilt dies für die vorchristliche Geschichte. Das Christentum markiert dann zwar eine Epochenscheide,244 die auch für die Philosophie entscheidende Auswirkungen hatte. Denn die mit der Philosophie der Griechen ausgestatteten Christen konnten nun, da sie »eine vollkommen reine Religion, und also eine göttliche Offenbahrung« besaßen, »die gelehrtesten Griechischen Philosophos an Weißheit übertreffen«.245 Doch der dadurch möglich gewordene friedliche Dialog zwischen »wahrer« Philosophie und »wahrer« Theologie, also das von Heumann propagierte Ideal, wurde historisch durch das Umschlagen der »reinen« Religion in Aberglauben nicht realisiert, d.h. auf Grund der gewaltsamen Einflußnahme auf die Philosophie.246 So berühren die heilsgeschichtlichen Wendepunkte, wie vor allem die Reformation,247 zwar die Geschichte der Philosophie, haben aber positive Auswirkungen paradoxerweise gerade dadurch, daß sie keinen Einfluß auf die Philosophie nehmen, d.h. deren freie und selbständige Entfaltung nicht einschränken. Die Grenzen, die der natürlichen Vernunft und damit der Ausbildung profaner Wissenschaften bei den Hebräern gezogen waren, hat Heumann hinsichtlich der für ihre Entfaltung notwendigen äußeren und inneren Bedingungen herausgearbeitet. Von der durch die Bibel überlieferten historischen Wahrheit ausgehend, waren die Hebräer »Hirten und Ackers=Leute«. Entsprechend beschränkt war ihr Verstand, d.h. er konnte nur soweit »cultiviret« werden, wie es die Umstände der bäuerlichen Kultur zuließen.248 Völlig abwegig sei deshalb die Auffassung, Adam habe alle Künste und Wissenschaften erfunden.249 Denn da die »Alt=Väter« nicht mehr verstehen konnten, »als sie aus der Erfahrung lerneten«, mußte ihnen der Weg zu einem systematisch und wissenschaftlich begründeten Wissen verwehrt bleiben.250 Sie kamen etwa in den

Vgl. [Heumann], Eintheilung der Historiae Philosophiae, 463 u. 467 ff. [Heumann], Von dem Ursprung und Wachsthum der Philosophie, 290. 246 Vgl. [Heumann], Von denen Kennzeichen der falschen und unächten Philosophie, 219 ff. 247 Vgl. ebd., 221: »als die Christliche Religion wieder ins reine gebracht wurde / so fieng die Philosophie an / sich wieder zu regen / und nach und nach zu Kräfften zu kommen«. 248 Vgl. [Heumann], Von der Philosophie der Patriarchen. Erstes Capitel, 765 f. 249 Was auch schon John Owen richtig gesehen habe, worauf Heumann in einer Anmerkung verweist (vgl. ebd., 766). John Owen (1616–1683), Anhänger Cromwells, war Leiter des Oxforder Christ Church College, an dem John Locke studierte; vgl. Reinhard Brandt, John Locke, in: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts (= Neubearbeitung des Ueberweg), Bd. 3, 607–713, hier 619. Heumann bezieht sich auf: John Owen, Theologumena pantodapa, sive de natura, ortu, progressu et studio verae theologiae libri sex, Oxford 1661 (u. ö.). 250 Vgl. [Heumann], Von der Philosophie der Patriarchen. Erstes Capitel, 768 f. 244 245

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»physikalischen Wissenschafften« über eine »Bauren Physic« nicht hinaus. Aus ihren Lebensumständen also läßt sich erschließen, daß sie »manchen Irrthum / sonderlich in Physicis, werden geheget haben«.251 Daß die frühen Menschen, betont Heumann, »als wie heut zu tage / in der Kindheit viel falsche Vorurtheile werden eingesogen haben / daß es auch von ihnen geheissen: Errare humanum est«,252 ist deshalb nicht ungewöhnlich. Es erklärt sich aus sozialen Umständen, von denen die Kultivierung des Verstandes abhängig ist. Doch nicht nur die einfachen Lebensverhältnisse der Hebräer verhinderten die Ausbildung der natürlichen Vernunft. Den Menschen in der Zeit vor Moses fehlte auch die Schrift, also jenes für alle Wissenschaften konstitutive Hilfsmittel, ohne das sich »schwerlich eine Disciplin systematice und scientifice, das ist / philosophice, tractiren lässet«.253 Heumann hat das bei früheren Kritikern ursprünglicher Wissensperfektion eher beiläufig eingesetzte Argument, daß sich die Schrift erst spät entwickelt hat und schon deshalb die Vorstellung einer »Philosophiae ante-Mosaicae und antediluvianae« auf kein historisch gesichertes Fundament bauen kann,254 zu einem eingehend begründeten, zentralen Beweismittel ausgebaut. Es gibt, argumentiert Heumann, kein glaubwürdiges Zeugnis, wann die Schrift (»Schreibe=Kunst«) erfunden wurde.255 Mit den üblichen Belegen für einen vormosaischen Schriftgebrauch setzt er sich nicht mehr näher auseinander.256 Daß sie vor dem Urteil der historisch-philolo-

Ebd., 770. Heumann geht die einzelnen Wissenschaften durch und beurteilt die vorliegenden Arbeiten über die Wissenschaften der Patriarchen an dem aus dem biblischen Bericht über deren Lebensumstände gewonnenen Maßstab. So stimmt er der Auffassung von Paullini über die »Bauren Physic« der »Alt-Väter« zu (767), lehnt dagegen John Seldens Auffassung über das Naturund Völkerrecht der Hebräer ab (769). Der von Heumann zitierte Text des Mediziners und Theologen Christian Franz Paullini (1643–1712) ist eine mit gelehrten Bezügen unterfütterte Sammlung von Bauernregeln. Zur Entwicklung des Ackerbaus heißt es dort: Die Grundlage »legte anfangs der subtile und Hochgelahrte« Adam; mit dem Sündenfall verlor er seine »vollkommene Wissenschaft«, wurde »zum schmutzigen Ackermann« und konnte deshalb sein Wissen nur »durchlöchert und zerbrochen« auf seine Nachkommen fortpflanzen (Physic, Frankfurt a. M. u. Leipzig 1705; hier benutzt in: Kleine Doch curieuse und vermehrte Bauren Physic, Frankfurt a. M. u. Leipzig 1711, 3). 252 [Heumann], Von der Philosophie der Patriarchen. Erstes Capitel, 770. In der Herabstufung der wissenschaftlichen Kompetenzen der »Alt=Väter« argumentiert Heumann also, vergleicht man seine Urteile mit denjenigen über die Barbaren (oder auch: mit Gundlings Urteilen über die Hebräer), äußerst vorsichtig. 253 Ebd., 796. 254 Ebd., 795 f. 255 Ebd., 799. 256 »Man beliebe nur«, so das abschätzige Urteil, »die ohne judicio zusammen geschriebene / und auf untüchtige rationes und testimonia gegründete Dissertation des Maderi hiervon nachzulesen« (ebd., 796); zu Maders Text vorliegende Arbeit Teil I, S. 13. 251

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gischen Kritik nicht bestehen können, darüber waren sich die meisten gelehrten Philologen einig. Weitgehend unbestritten war unter ihnen aber auch die Annahme, daß die Schrift dennoch vor Moses in Gebrauch gewesen sein müsse. Trotz des Fehlens überlieferter Zeugnisse ließ sich die Notwendigkeit der Schrift durch rationale Schlußfolgerungen erweisen.257 Auch Heumann kann für die Frage nach dem Ursprung der Schrift ausschließlich »vernünftige Schlüsse« anbieten.258 Doch geht er von anderen Prämissen aus und unterwirft den Bericht der Bibel, die auch er als einzig sicheres Fundament für die Frühgeschichte des Menschen anerkennt, den strengen Maßstäben der Logik. Für den Nachweis, daß die Schrift vor Moses unbekannt war, will sich Heumann nicht mit der Tatsache zufrieden geben, daß sich »in dem gantzen ersten Buche Mosis nicht die geringste Meldung« von den »verschiedenen Arten der Schriften« findet.259 Da Moses die damalige Geschichte ja nur in knappem Auszug berichtet hat, muß Heumann den Beweis erbringen, daß für den Gebrauch der Schrift, wäre er vor Moses tatsächlich schon bekannt gewesen, sich bei Moses auch ein Beleg finden müßte. Denn mit bloßen Wahrscheinlichkeiten will er sich nicht zufrieden geben: »Ich hoffe auch / auf solche Weise hiervon zu raisoniren / daß man meine Conclusion und Thesin nicht nur vor eine wahrscheinliche Meynung / sondern vor eine certitudinem moralem, ansehen soll«.260 Ein schwieriges Unterfangen, das in seiner syllogistischen Beweisführung nicht ohne scholastische Spitzfindigkeiten auskommen kann. Vorausgesetzt wird, daß ein so effizientes Instrument wie die Schrift, ist es einmal bekannt und in Gebrauch, notwendig auch zur Anwendung kommt, wenn dadurch ein bestimmter Zweck, etwa die Übermittlung von Informationen, besser erreicht werden kann: »Was aber die Brieffe / als die leichteste und nöthigste Gattung der Schrifften betrifft / so argumentire ich folgender massen: zu welcher Zeit man keine Brieffe geschrieben hat / da man doch dieser Hülffe höchst nöthig gehabt / und da man hierdurch am allerbesten und am allerleichtesten zu seinem Zwecke hätte gelangen können / zu selbiger Zeit hat man noch keine Brieffe zu schreiben gewust / folglich ist die Kunst zu schreiben noch nicht gebohren gewesen. Atqui vom Anfang der Welt an biß auf die Zeit / da die Kinder Jsrael aus Egypten gezogen sind / ec. Ergo den Vorsatz oder die Propositionem majorem wird niemand leugnen, der die menschliche Natur recht kennt / und das […] Axioma vor richtig annimmet: wo können und wollen beysammen ist / da hat man nicht Ursach / zu zweiffeln / daß es in der That

Dazu vorliegende Arbeit, Teil I, S. 16; Heumann kritisiert diesen Nachweis durch rationales Schließen an Reimmanns »syllogistischem« Beweis (vgl. Von der Philosophie der Patriarchen. Erstes Capitel, 797). 258 Vgl. ebd., 799. 259 Ebd., 800. 260 Ebd., 799 f. 257

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geschehe«.261 Die Schriftlichkeit, so könnte man Heumanns Syllogismus modern ausdrücken, zwingt die Kommunikation in eine bestimmte Form, die in vergleichbaren Fällen zu identischen Problemlösungen führt. Wenn also in der Darstellung des ersten Buchs Moses262 die Glaubwürdigkeit einer nicht durch ihren Überbringer gesicherten Information ohne das Hilfsmittel der Schrift erwiesen wird, wie dies bei Abrahams Brautwerbung für seinen Sohn Isaak der Fall ist, so verdeutlicht dies, daß im beschriebenen Zeitraum die Schrift nicht in Gebrauch war. Tobias, der biblische Protagonist einer späteren Zeit, zeigt dagegen, wie das Problem gelöst worden wäre, hätte man damals Schreiben und einen Brief aufsetzen können: durch ein »Creditiv=Schreiben«.263 Den Wahrscheinlichkeitsargumenten, mit denen frühneuzeitliche Gelehrte die Existenz einer vormosaischen Schrift rational begründet hatten, setzt Heumann ein logisches Beweisverfahren entgegen. Es gründet ebenfalls auf allgemeinen Prämissen wie die einer prinzipiell vernünftig agierenden menschlichen Natur264 (ganz abgesehen davon, daß Heumanns Bibelexegese nur Sinn macht, wenn der Bericht der Bibel als historisch wahre Darstellung angenommen wird), unterstellt aber den Text der Bibel einer selbstbewußten Vernunft. Daß die Wahrheit vernünftiger Schlußfolgerung mit der heilsgeschichtlichen Providenz Gottes übereinstimmt, ist für Heumann nur mehr ein weiteres, zusätzliches Argument, wenngleich »keineswegs zu verachten«: Denn »wenn lange vor Mose unter den Hebräern die Schreibe=Kunst gebräuchlich gewesen wäre / so würde auch Gott der Herr sein Wort schriftlich haben verfassen las-

Ebd., 801 f. Daß für Heumann Briefe die »leichteste und nöthigste Gattung der Schrifften« sind – er unterscheidet (ebd. 800) solche an eine Person »in individuo« (eben Briefe) und »scripta publica« (Bücher, Gesetze, Verträge, Münzen, Grabmale) –, verdeutlicht sein »vernünftig« beschränktes historisches Vorstellungsvermögen. 262 Vgl. ebd., 802 (in Fortsetzung der Anm. 261 zitierten Stelle): »Ich will also die Subsumtion oder Propositionem minorem beweisen / als welche nicht so gleich in die Augen fället / sondern facta supponiret / welche aus der Historie müssen dargethan werden«. 263 Ebd., 802 f.: »Man beliebe also nachzudencken / ob es müglich und glaublich sey / daß Abraham seinen Hauß=Vogt Eleazar ohne ein Creditiv-Schreiben würde an seine Freunde abgeschicket haben / um seinen Sohne Jsaac eine Braut zu holen / wenn er hätte schreiben und einen Brieff aufsetzen können. Als der junge Tobias vor seinen Vater an einem fremden Ort geschicket wurde / eine Schuld einzufordern / so war er so klug / und sprach: er kennet mich nicht / so kenne ich ihm auch nicht. Was soll ich ihm vor ein Zeichen bringen / daß er mir glauben gebe? da antwortete ihm der Vater also: seine Handschrifft habe ich bey mir: wenn du ihm dieselbe weisen wirst / so wird er dir bald das Geld geben. Mich düncket / Eleazer werde eben also / wie der junge Tobias gefraget haben. Weil ihm aber Abraham keine Brieffe zur Versicherung mit geben kunte / so gab er ihm zu dem Ende etwas anders mit / nemlich viel Cameele und kostbare Geschencke / daraus man erkennen kunte / daß Eleazers Herr ein reicher Mann seyn müste / und daß also die Rebecca nicht würde betrogen werden«. 264 Vgl. das Zitat Anm. 261. 261

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sen. Denn zu geschweigen, daß dasselbe am allerwürdigsten ist / aufgezeichnet und denen Menschen immer vor Augen geleget zu werden; so wäre auch der Providenz Gottes gemäß gewesen / durch dieses Mittel denen Verfälschungen der Religion vorzubauen: gleichwie eben dieses durch Mosen und die Propheten / und hernach auch durch die Apostel Christi geschehen ist. Da nun Moses die erste heilige Schrifft verfertiget / so kan ich meines Orts keine andere Ursach hiervon geben / als weil vor Mose die ars scribendi noch unerfunden war«.265 Dieser Gesichtspunkt ist besonders wichtig für die Absicherung einer weiteren Schlußfolgerung, mit der Heumann über die Gelehrten hinausgeht, die ebenfalls die Existenz einer vormosaischen Schriftlichkeit bestritten. Unter den Bibelexegeten, die davon ausgegangen waren, daß vor Moses die Schrift unbekannt war, nennt Heumann u. a. Jaquelot und den sich auf ihn berufenden Thomasius266 sowie den Engländer John Owen, der im vierten Buch einer zuerst 1661 publizierten Theologumena, ähnlich wie Ursinus,267 die Authentizität und Inkorruptibilität der Offenbarung gegen Häresie und Aberglauben verteidigt hatte. Da die Schrift vor Moses unbekannt war, die wahre Lehre (»doctrina«) nur mündlich (»per traditionem oralem«) bewahrt werden konnte, war das göttliche Wissen anfällig für Korruption. Vermittelt durch Moses, der also keineswegs als fehlbarer Mensch frühere Offenbarungen zusammenschrieb, hat Gott es mit Hilfe der Schrift für alle Zeiten kodifiziert.268 Das Problem der Schriftlichkeit hatte also eine eminent theologische Bedeutung, insofern damit die Überlieferung der göttlichen Offenbarung in Frage stand. Ohne Schrift keine Sicherheit der Glaubensüberlieferung. Das Argument der vormosaischen Schriftlichkeit benutzten deshalb besonders protestantische Theologen, die damit die Wahrheit einer kontinuierlichen Glaubensüberlieferung verteidigten. Auch vor der mosaischen Fixierung der Heiligen Schrift, so ihre Argumentation, mußte Gott darauf bedacht sein, »seine Kirche und die wahre Religion« zu erhalten.269 War

[Heumann], Von der Philosophie der Patriarchen. Erstes Capitel, 805 f. Ebd., 798f.; zu Jaquelot und Thomasius vorliegende Arbeit, S. 67, Anm. 33. 267 Vgl. Verf., Der Ursprung der Schrift als Problem der frühen Neuzeit; Ursinus fehlt bei Heumanns Verweis auf die Vertreter einer vormosaischen Mündlichkeit, obwohl er dessen De Zoroastre im 2. Kapitel Von der Philosophie der Patriarchen zweimal (und bestätigend) anführt (11, 28). Im Forschungsbericht zu Beginn des Abschnitts »De arte scribendi« im Conspectvs reipvblicae literariae (30/Anm. a) holt er das Versäumnis nach. Nach dem Verweis auf die Acta Philosophorum folgt: »Addatur Io. Henr. Vrsinus lib. de Zoroastre Exercit. III. Sect. 3. p. 203. sqq.«. 268 Vgl. Owen, Theologumena, De Theologia Mosaica, 282 ff. 269 [Heumann], Von der Philosophie der Patriarchen. Erstes Capitel, 773. Als Vertreter der protestantischen Theologie, die aus diesem Grund die Notwendigkeit der vormosaischen Schriftlichkeit verteidigt hatten, nennt Heumann in der Anmerkung die lutherischen Theologen Johannes Gerhard (1582–1637) und Johann Andreas Quenstedt (1617–1688). 265 266

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es deshalb nicht notwendig, eine unverfälschte Überlieferung des Wort Gottes mit Hilfe der Schrift für gewährleistet anzusehen, und mußte daher nicht von einem göttlichen Ursprung der Schrift und ihrem Gebrauch seit Beginn der Heilsgeschichte ausgegangen werden? Mit dieser Frage hatten sich nicht nur Theologen beschäftigt. Die Frage hatte in der Frühen Neuzeit eine unterschiedlich motivierte Suche nach vormosaischen Textüberlieferungen veranlaßt, deren (im doppelten Sinn) »fabelhaften« Erfolge wiederum dazu beitrugen, daß von Theologen das Argument einer vormosaischen Mündlichkeit gestärkt und ausgebaut wurde. Doch auch diejenigen, die das philologische Kritikpotential gegen angebliche vormosaische Texte und Textzeugnisse eingesetzt hatten, verteidigten wie gesagt einen göttlichen Ursprung der Schrift, auch sie nämlich, so Heumanns Kritik, »bilden sich ein«, »es sey Gott der Autor scripturae, und habe diese Kunst dem Mosi zu erst offenbahret«.270 Eine Meinung, der Heumann aus zwei Ursachen nicht beipflichten kann. Einmal ist nicht einzusehen, warum Moses eine so bedeutende, der Verbreitung von Gottes Ehre förderliche Offenbarung verschwiegen hätte. Zum anderen ist es nicht glaubhaft, daß die Weisheit Gottes eine unvollkommene Schrift wie das Hebräische, die andere Völker »perfectioniren« konnten, erfunden habe. Denn wenn Gott selbst die Schrift geoffenbart hätte, so der (zumindest aus heutiger Sicht) süffisante Schluß dieser Kritik, hätte er Moses ja gleich auch die Buchdruckerkunst offenbaren können, die doch »weit commoder ist / Gottes Wort und die alten Geschichte in alle Welt zu bringen / als die Schreibe=Kunst«. Damit ist Heumann am Ziel seiner verwickelten Beweiskette angelangt. Auch die Schrift, jenes allen Wissenschaften zugrunde liegende Hilfsmittel, ist ebenso wie der Buchdruck eine menschliche Erfindung.271 Wer die Schrift erfunden hat, ist nicht mit Gewißheit aus den überlieferten Quellen zu rekonstruieren. Mit Gewißheit kann allerdings ausgeschlossen werden, daß ihr Erfinder Moses war. Auch dieser negative Befund ergibt sich für Heumann aus einer rationalen Bibelauslegung. Da die Hebräer, als Moses ihnen die Gesetzestafeln überbrachte, diese ohne Unterweisung verstehen konnten, mußten sie bereits vorher die Lesefähigkeit erlangt haben. Und auch dafür, daß ihr Führer Moses schon vor der Übergabe der Gesetzestafeln schreiben konnte, gibt es im Text der Bibel deutliche Hinweise (»Merckmahle«).272 Wie Moses und seine Hebräer zu ihren Kenntnissen gelangten, erörtert Heumann hier nicht näher, doch »allem Ansehen nach« geschah dies durch die Ägypter, und zwar in der Zeit zwischen Joseph und Moses.273

Vgl., auch zum Folgenden, ebd., 806 f. Ebd., 807. 272 Ebd., 808. Heumann verweist auf 2. Mose 17,14 u. 24,4. 273 Ebd., 808 f. Nähere Ausführungen zum ägyptischen Ursprung der Schrift finden sich dann im Conspectvs reipvblicae literariae (Cap. III, 29 ff.). 270 271

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Im vernünftigen Blick auf die früheste Geschichte zeigen sich damit auch die materiellen Grundlagen von Wissenschaft und Philosophie als menschliche Errungenschaften, die auf einen immanenten, profanen Ursprung und Entstehungszusammenhang zurückgehen. Zwar läßt sich diese Geschichte auch als »Providenz und Direction Gottes« lesen, und mit dem ägyptischen Ursprung der Schrift, versichert Heumann, soll nicht bestritten werden, daß Moses der erste war, der die Schrift dazu verwendet hat, Bücher zu schreiben.274 Doch sichtbar wird diese Providenz Gottes eben erst durch das Mittel und die Arbeit einer kritisch vorgehenden Vernunft. Die Selbständigkeit von Wissenschaft und Philosophie sowie deren Unabhängigkeit von der übernatürlichen Offenbarung bestätigen sich für Heumann durch den Nachweis ihres eigenständigen menschlichen Ursprungs. Nicht die Offenbarungsgewißheit begründet das wissenschaftliche Wissen, weshalb Wissenschaft und Philosophie auch nicht aus der Offenbarung abgeleitet werden können, wie es die »so genannten Philosophia Mosaica, Christiana, Biblica« und die »Philosophia Enthusiastica, welche sich Theosophiam tituliret«, beanspruchen.275 Daß die Hebräer einfache Bauern und keine Philosophen waren, ja nicht einmal die Schrift, das bedeutende Instrument zur Überlieferung der Offenbarung, auf das heilige Volk zurückgeht, verleiht der Selbständigkeit von Wissenschaft und Philosophie besondere Evidenz. Doch dürfen die Philosophen, betont Heumann, deshalb nicht stolz und eingebildet auf die Hebräer herab- bzw. zurückblicken.276 Die Trennung von natürlicher Vernunft und übernatürlicher Offenbarung, die sich als roter Faden durch Heumanns Differenzierungsanstrengungen zieht, hat nicht die Herabsetzung der die religiöse Glaubenswahrheit begründenden und sichernden Offenbarung zur Konsequenz. Im Gegenteil: Befreit von der Indienstnahme durch profane Erkenntnisinteressen zeigt sie sich um so deutlicher als eine vom menschlichen Wissensstreben unabhängige, göttliche Wahrheit, deren übernatürliches Licht, von Gott als Gnade verliehen, die biblischen Patriarchen »höchst beglückte«.277 [Heumann], Von der Philosophie der Patriarchen. Erstes Capitel, 809: »Nur will ich mit wenigem noch die Providenz und Direction Gottes berühren / daß er eben zu der Zeit die artem scribendi hat erfinden lassen […] / da dieses Mittel am nöthigsten war / die Jsraeliten von der Finsterniß der Egyptischen Abgötterey zu befreyen: gleichwie er die Buchdruckerey von denen Papisten hat erfinden lassen / und durch dieses Mittel der Reformation Lutheri recht Thür und Thor geöffnet / und die Greuel des Papsthums aller Welt vor Augen geleget hat. Endlich glaube ich auch dieses noch / daß / obschon vor Mose einige Zeit die Schreibe=Kunst erfunden worden / demnach Moses der allererste sey / der auf Gottes Befehl dieselbe / Bücher zu schreiben / angewendet hat: und daß also der Anfang der Historiae litterariae bey dem Mose (nicht aber vor dessen Zeiten und Schrifften/) zu machen ist«. 275 Sie sind im Gegenteil Produkte der »Superstition«, d. h. der Herrschaft der Theologie über die Philosophie; vgl. [Heumann], Von dem Ursprung und Wachsthum der Philosophie, 312. 276 [Heumann], Von der Philosophie der Patriarchen. Erstes Capitel, 770. 277 Ebd., 771. Dagegen hat der »Mangel der Göttlichen Offenbahrung […] denen Philosophis 274

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Wenn Heumann den Beitrag der Patriarchen für die frühe Geschichte der Wissenschaften entscheidend minimierte, so hat er ihre besondere Bedeutung für den Erhalt und die Sicherung der übernatürlichen Offenbarung um so klarer herausgearbeitet. Es waren die Patriarchen, welche die Reinheit des Wort Gottes – das vor seiner Kanonisierung durch Moses ja noch »nicht in Schrifften verfasset war / und dahero sehr würde mit der Zeit verfälschet worden seyn« – erhalten und fortgepflanzt haben; dazu bedurften sie der unmittelbaren Erleuchtung durch Gott, waren deshalb »heilige Leute«, die von Adam bis Joseph »in beständiger Succession« »würckliche Propheten gewesen sind / das ist / daß sich Gott ihnen unmittelbahr geoffenbahret / und ihnen seinen willen / wie auch zukünfftige Dinge / entdecket«.278 Um die Unabhängigkeit und Selbständigkeit von Religion und Wissenschaft, von Theologie und Philosophie gegen die zu verteidigen, welche »die geoffenbahrte Weißheit mit der natürlichen und erstudirten Weißheit confundiren«,279 hat Heumann die Hebräer (und mit ihnen den Ursprung der Weisheit) in zwei gegensätzliche Typen aufgespalten: in den der Erfahrung der Welt ausgelieferten, beschränkten Bauern und den der Immanenz der Welt entrückten, heiligen Propheten.

E. Die fromme Fälschung vom perfekten Wissen rekonstruiert Ein Aufklärer kann sich nicht, wie ein Kontroverstheologe oder ein kritischer Philologe, mit dem Triumph bloßer Widerlegung von Irrtümern zufriedengeben. Er muß die Herrschaft der unabhängigen, sich selbst gewissen Vernunft in einer doppelten Strategie unter Beweis stellen. Scheinbar über den Parteien stehend, muß er erklären, wie es überhaupt zu Irrtümern gekommen ist. Es gilt den Irrtum als Gegenteil der Vernunft gleichsam an der Wurzel zu bekämpfen. Dem irrenden Menschen wird dabei keine böse Absicht unterstellt, jedoch fehlende Einsicht. Das ist die Bedingung, unter welcher der Aufklärer auf den Plan treten kann. Auch Heumann beschränkt sich nicht darauf, der Hypothese einer Philosophie der Patriarchen die Einsicht in die »wahre Beschaffenheit dieser grossen Leute / was die cultivirung ihres Verstandes anlanget«,280 entgegenzusetzen. In Frage steht ebenso der »Ursprung des im Heydenthum gar viel Kummer verursachet / von welchen die Heiligen im alten Testament befreyet waren«; gemeint ist der heidnische Zweifel über die »Fundamentalartikel«, also den Minimalkonsens zwischen »wahrer« Philosophie und »wahrer« Religion. 278 Ebd., 772 ff. Darüber, betont Heumann, habe noch kein Theologe »ex professo« gehandelt, also den Nachweis erbracht, daß es von Adam bis Joseph eine kontinuierliche Folge von unmittelbar durch Gott erleuchteten Propheten gegeben habe; bei der Begründung (774–792) verweist Heumann auf die Bestätigung seiner Exegese durch Luthers Genesis-Kommentar. 279 Ebd., 793. 280 [Heumann], Von der Philosophie der Patriarchen. Zweytes Capitel, 926.

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gemeinen Irthums / da man die Patriarchen zu Philosophis machen will«. Der Ursprung der Irrtümer aber »versteckt sich ordentlicher Weise / und ist denen Jrrenden selbst nicht clare und distincte bekannt. Denn wenn sie denselben klar und deutlich erkännten / so würden sie sich alsobald ihrer Blösse schämen / und ihrer auf einem so elenden Grunde beruhende Meynung gute Nacht geben. Kurtz zu sagen / der Ursprung dieser Meynung ist ein praeiudicium, welches man zum Grunde hat / und doch nicht weiß / auch nicht geständig ist / daß man es zum Grunde habe«.281 Praeiudicia entstehen auf Grund beschränkter Erfahrungs- und Urteilsmöglichkeiten. Sichtbar werden Vorurteile erst im Vergleich, in der Konfrontation mit unterschiedlichen Erfahrungen und Urteilen. Deren Differenzierung schärft das Urteil, und so wird es möglich, zu einem eigenen, begründeten Urteil zu kommen. Heumann hat die durch die Eröffnung von Vergleichsperspektiven veränderte Urteilsperspektive und auch: die erst dadurch mögliche Wahrnehmung des eigenen Urteils in mehrfacher Hinsicht analysiert. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Philosophien (also mit der historia philosophica) befreit davon, »seinen gantzen Verstand an die auctorität eines gewissen Philosophi« zu binden, bzw. führt zur Erkenntnis dieser Abhängigkeit als Voraussetzung für ein unabhängiges Urteil.282 Das gilt ebenso für religiöse (konfessionelle) (Vor-)Urteile: »Wer niemahls seinen Fuß aus Spanien oder Italien gesetzet hat / der bildet sich die Lutheraner nicht nur als verfluchte Ketzer und lebendige Höllen=Brändter ein / sonder er glaubet kaum / daß sie rechte Menschen seyn. Wenn er sich aber in der Welt umsiehet / und durch Reisen mit allerhand Religions=Verwandten bekandt wird / so gehen ihm die Augen auf / daß / wie er bißher geglaubet hat / daß die Lutheraner irren können / er also auch anfängt zu glauben / daß auch in der Römischen Kirche das Errare humanum est mehr als zu wahr sey«.283 Die Freiheit des Urteils, die Möglichkeit, ohne Einschränkung durch religiöse Kontrolle und sozialen Zwang selbständig zu denken, ist auch historisch der Ursprung der Philosophie. Dieses unabhängige, reflektierte Urteil will Heumann gegenüber der Historie zur Geltung bringen und mit ihm die Herrschaft bloßer Vorstellungen über die Vergangenheit entlarven. Im Blick auf die einflußreiche Hypothese einer Philosophie der Hebräer zeigt sich die Herrschaft des Vorurteils zunächst als auf die Geltung gegenwärtiger Evidenzen vertrauendes Urteilen. Statt die Vergangenheit in Distanz zur Gegenwart zu rücken und dieses Verhältnis zu differenzieren, werden gegenwärtige Erfahrungen und Erwartungen auf die Vergangenheit übertragen: »Es hat aber die Philosophie der Patriarchen keinen andern Ursprung / als das-

281 282 283

Ebd., 926 f. Vgl. [Heumann], Einleitung Zur Historia Philosophica. Von deren Nutzbarkeit, 20. Ebd., 21.

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jenige praeiudicium, da man nach unsern Zeiten die uhrältesten Zeiten abmisset / und meynet / es sey alles vom Anfange also gewesen / wie es jetzund in der Welt aussiehet«.284 Heumann hat die Evidenz und den Einfluß der von der Vorstellung der prinzipiellen Gleichförmigkeit und Unveränderlichkeit des historischen Erfahrungsraumes beherrschten Geschichtsauffassung, die schon Christian Thomasius in seiner Untersuchung über vorsintflutliche Schulen als Vorurteil kritisiert hatte, nicht nur eindringlich dokumentiert.285 Er hat ganz generell die Universalisierung kulturell spezifischer (Selbst-)Wahrnehmungsweisen sowie die lebenspraktische Funktion »zeitloser« Geschichten in ihrer Orientierungs- und Legitimationsfunktion für individuelle und soziale Erfahrungen erkannt und kritisch analysiert: »Nemlich es geschiehet ordentlich / daß man dasjenige / was man vor das Beste hält / denen zuschreibet / gegen welche man die gröste Hochachtung hat. Wir Europäer mahlen den Teuffel schwartz. Hingegen die Mohren stehen in der Einbildung / die guten Engel wären schwartz / die Teuffel aber weiß. So mercken wir auch an / daß eine jede Profession gerne einen hochgeachteten und grossen Mann zu ihrem Stiffter machet. Adam kann weder vor denen Schneidern / noch vor denen Kürschnern sicher bleiben / sondern jene behaupten / er wäre der erste Schneider / diese aber / er wäre der erste Kürschner gewesen«. Obwohl gerade Philosophen sich von gemeinen Handwerkern unterscheiden müßten, ergänzt Heumann, indem er die traditionelle Verachtung handwerklicher Kenntnisse durch Gelehrte gegen diese selbst ausspielt, stehen sie ihnen in nichts nach, wenn sie die biblischen Patriarchen zu Philosophen machen.286

[Heumann], Von der Philosophie der Patriarchen. Zweytes Capitel, 927. Vgl. ebd., 927 ff. Wie Thomasius, auf den er sich hier ausdrücklich bezieht (ebd., 931), kritisiert Heumann hier auch Luther: »Also weil wir heut zu Tage gewohnet sind / kein paar Menschen vor ehrliche und rechtschaffene Eheleute zu halten / wenn sie nicht durch einen Priester nach der Kirchen=Ordnung sind copuliret und eingeseegnet worden; so dencken wir / es könne nicht anders seyn / Abraham und Sara wären mit eben diesen Ceremonien zusammen gegeben worde / und weil zu Adams und Eva Zeiten noch keine Priester in der Welt gewesen / so habe GOTT selbsten diese Action verrichtet / und das erste Ehe=Paar solemniter copuliret. Ging es doch dem Luthero auch also / daß er sich nach diesem praeiudicio einbildete / es wäre der Gottesdienst vor der Sündfluth eben so beschaffen gewesen / wie anjetzo: Man habe einen Altar aufgerichtet / und sich dahin versammlet / GOttes Wort zu hören und zu beten« (927 f.). Nicht nur Heumanns Beispiele aus der Malerei (vgl. 929: »Und wem solten wohl nicht Gemählde von der Belagerung der Stadt Troja oder Jerusalem zu Gesichte gekommen seyn / auf welchen man auch Bomben und Canonen ansichtig wird?«) lassen sich ausgezeichnet auf Reinhart Kosellecks grundlegenden Aufsatz: Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit (in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1985, 17–37) beziehen. 286 [Heumann], Von der Philosophie der Patriarchen. Zweytes Capitel, 931 f. Diese Stelle ist auch ein Kommentar zu Polydorus Vergilius (zu dessen einflußreichem Werk vorliegende Arbeit, Teil I, S. 14/Anm. 14). 284 285

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Wenn also Gelehrte die Philosophie der Patriarchen scheinbar vernünftig begründen,287 liegen ihren Argumenten Vorstellungen zugrunde, die dazu zwingen, die Vergangenheit im Horizont beschränkter Lebenserfahrungen zu erfassen. Die Fragwürdigkeit einer solchen Methode und der Prämissen, denen sie vertraut, zeigt sich in der Konfrontation mit der »Wahrheit der Geschichte«. Heumann hat dies in der Auseinandersetzung mit einer der »general-rationes« demonstriert, mit denen die Notwendigkeit der Philosophie der Patriarchen begründet wurde. Weil die ersten Menschen ungleich länger als die Menschen nach der Sintflut gelebt hätten, hätten Adam und seine Kinder auch mehr Zeit auf Beobachtungen verwenden und deshalb ihre Studien besser begründen können, hatte der Theologe David Chytraeus in seinem Genesis-Kommentar argumentiert.288 Heumann konnte ihm die logische Stringenz der Argumentation, deren potentielle Gültigkeit, zugeben, bestritt aber, ausgehend von seiner historischen Analyse, daß die agrarische Lebensform den Verstand der Hebräer einschränkte, um so heftiger die Schlußfolgerung von der bloßen Möglichkeit auf die historische Wahrheit: »Und ich bin versichert / wenn ein solcher Oeconomus solte wieder die Gewohnheit unserer Zeiten noch dreymahl so alt als Methusalem werden / so würde er doch bey dem studio oeconomico bleiben / und in der Philosophie kein neues Licht anzünden«.289 Die Analyse der unter scheinbar vernünftigen Argumenten verborgenen gegenwärtigen Vorurteile erklärt den Ursprung des »gemeinen Jrrthum von der Philosophie der Patriarchen« jedoch nur in seiner Überzeugungskraft, nicht aber hinsichtlich seines konkreten historischen Entstehungszusammenhangs. Die Vorurteile stützen nämlich einen Irrtum, der auf eine lange und ehrwürdige Überlieferungsgeschichte zurückgeht. Daß sich erst im Rückgang auf die Entstehung der historischen Überlieferung der wahre Ursprung des Irrtums zeigt, diese Problemstellung und die sich aus ihr ergebenden Fragen und Analysen unterscheiden Heumanns Kritik der Philosophie der Patriarchen von früheren Kritiken. Heumann bezieht sich dabei auf die »Critici der neuern Zeiten«, die »die Augen besser aufgethan / und diese Tradition so deutlich vor fabelhafft erkläret«, für die Widerlegung der angeblichen Schrift-Säulen Seths nennt er u.a. Richard Simon, John Owen und den Hamburger Philologen Bezogen auf den »Ursprung des gemeinen Jrrthums / da man die Patriarchen zu Philosophis machen will«, gilt es zwischen dem »Ursprung dieser Meynung«, der auf (unbewußte) Vorurteile zurückgeht, und »denen rationibus, mit welchen man gedachte Meynung zu beweisen suchet«, zu unterscheiden (ebd., 926). 288 Vgl. ebd., 933. Die Stelle, auf die Heumann anspielt, heißt: »Addebant etiam doctrinam de natura rerum, uiribus et usibus plantarum, de legibus motuum coelestium, quas Iosephus sculptas in tabulis, scribit posteris traditas esse. Ac in tanta aetatis diuturnitate, et ordinem motuum accurate obseruare, et uniuersae sapientiae diuinae et humanae studium confirmare potuerunt« (David Chytraeus, In Genesin enarratio, Wittenberg 1561, 187). 289 [Heumann], Von der Philosophie der Patriarchen. Zweytes Capitel, 935. 287

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Johann Albert Fabricius.290 Sein eigentliches Interesse gilt aber der Frage, welchen besonderen historischen Umständen die »Fabeln« und »libri suppositii«, die der Rede von Adams »Physicalischen / Medicinischen / Astrologischen / Mathematischen / Chymischen und andern Wissenschafften« gelehrte Evidenz verliehen,291 ihre Wirkung verdanken: »Nemlich diejenigen / welche zu allererst vorgegeben haben / die Patriarchen wären Ertz-Philosophi gewesen / und hätten auch Philosophische Schrifften hinterlassen / waren gelehrte Jüden / welche zu der Zeit lebeten / da die Griechische Philosophie im höchsten Flor stund: welche selbst die Philosophie studirt hatten: welche meyneten / es gereiche denen Patriarchen zur Schande / wenn Plato und Aristoteles solten weiser gewesen seyn / als Adam, Seth, Abraham, Salomo, &c.«292 Heumann gibt sich nicht damit zufrieden, die Textbelege, mit denen die Glaubwürdigkeit der jüdischen »Erzehlung« von den Patriarchen als »Ertz-Philosophen« gestützt wurde, dadurch zu entlarven, daß sie von Geschichtsschreibern, »die am ältesten und bewährtesten sind«, nicht bestätigt werden (die »Patriarchalische Philosophie« hätte nicht »in allen Büchern des alten Testaments« mit Stillschweigen übergangen werden können, wenn die Patriarchen tatsächlich große Philosophen gewesen wären).293 Als Aufklärer über die menschlichen Irrtümer will er das »Interesse«294 verstehen, das in den »frommen Fälschungen«295 zum Ausdruck kommt. Die VorstelVgl. ebd., 942 f. Von Fabricius hebt er die Bibliotheca graeca (zuerst Hamburg 1705) und den Codex pseudepigraphus Veteris Testamenti (2 Bde., Hamburg 1713) hervor. Besonders der Codex bietet ausgezeichnete Forschungsüberblicke zu einschlägigen Fragen wie der nach Adams perfektem Wissen und dessen Schriftfähigkeit. 291 Ebd., 938 ff. u. 3 ff. (d. h. in der Fortsetzung des 2. Kapitels im Bd. 2 der Acta Philosophorum). Zu den beiden Säulen des Seth heißt es: »ungeachtet dieses von einem Jüden / den seine Person schon verdächtig machet / erzählet wird; ungeachtet in der Heil. Schrifft nicht die geringste Spur von dieser Historie zu finden ist: ungeachtet diese Historie sich selbst über den Haufen wirffet; so hat sie doch so viele Anhänger gefunden / daß Herr Prof. Stempel fast mit blosser Anführung ihrer Nahmen eine gantze Dissertation hat anfüllen können« (942). Die genannte Dissertation von Friedrich Hannibal Stempel aus dem Jahr 1706 (Ad locum Flavii Iosephi) referiert ausschließlich unterschiedliche Rezeptionen der entsprechenden Stelle vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert »ad historicum« (33); für die ursprünglich geplante »pars critica« fehlte dem Verfasser die Zeit (ebd.). 292 [Heumann], Von der Philosophie der Patriarchen. Zweytes Capitel, 5. 293 Ebd., 9. 294 Das »Interesse« ist auch das zentrale Kriterium von Heumanns Konzept der »fides historica«. Durch die Aufdeckung des Interesses »fället« die »fides historica« der Erzählungen über die mit den Patriarchen verbundene Philosophie »über den hauffen« (ebd., 5). Zum Kriterium des Interesses (»wohin ich alles rechne / warum man etwas gern haben will«) vgl. [Heumann], DE FIDE HISTORICA, 392 ff. u. 419 ff. 295 Die Juden hätten die von ihnen gefälschten, u. a. dem Abraham, Seth und Salomon unterschobenen Bücher als »dolum bonum« und »fraudem piam« verstanden. Genannt wird der 290

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lung von der Philosophie der Patriarchen, mit der Flavius Josephus »die Griechen zur Hochachtung der Jüdischen Religion bewegen« wollte,296 erweist sich in dieser Perspektive als Legitimationsanstrengung in einer besonderen historischen (Konflikt-) Konstellation. Seine Wirkungsmacht aber entfaltete das Interesse an der Philosophie der Patriarchen durch das Fortbestehen des Konflikts zwischen heidnischer Philosophie und christlicher Religion. So ließen sich auch die spätantiken Kirchenväter von jüdischen Gelehrten »eine Nase drehen«.297 Durch ihre Autorität wurde die Fabel von der Philosophie der Patriarchen zur »Tradition«:298 Jüdische Gelehrte wie Eupolemus, Flavius Josephus und andere »haben also zu singen angefangen / und das Glück gehabt / durch leichtgläubige Nachfolger ihre Fabeln bis auf unsere Zeiten fortzupflantzen«.299 Man halte es, resümiert Heumann, »fast vor einen Glaubens-Artickel«, daß Moses ein »Archiphilosophum« war. Die dieser Ansicht widersprechen, nenne man »Scepticos«.300 Als Skeptiker aber setzte man sich dem Verdacht aus, freigeistige Positionen zu vertreten. Die Auszeichnung der biblischen Patriarchen als zeitlosen Maßstab perfekten Wissens in Frage zu stellen, war in der deutschen Frühaufklärung eine prekäre Vorgehensweise, die leicht den Verdacht der Häresie und des Atheismus auf sich ziehen konnte. Wenn Heumann die Vorstellungswelt der Hebräer und ihre geringen wissenschaftlichen Kenntnisse als Ausdruck ihrer eingeschränkten Lebenswelt beschrieb und ihre Auszeichnung als perfekte Philosophie als kritiklos tradiertes Vorurteil entlarvte, dann kam dies einer Analyse verdächtig nahe, die ebenfalls die vernünftige Erklärung der Heiligen Schrift gegen »Leichtgläubigkeit« und »theologische Vorurteile« vorgebracht hatte.301

Aristeas-Brief, und mit Verweis auf den Fälscher Annius von Viterbo wird betont, »dergleichen Leute« habe »es zu allen Zeiten gegeben« (Von der Philosophie Der Patriarchen. Zweytes Capitel, 6 f.). Zur Geschichte, Methode und Psychologie der Fälschungen im Kontext der Entwicklung historischer Kritik Grafton, Fälscher und Kritiker. 296 Die Absicht des Josephus »verräth sich deutlich / indem er schreibet / die Griechen hätten ihre Philosophie von denen Egyptiern / diese aber von dem Abraham bekommen. Also will er die Griechische Philosophie zu einem Kindes-Kind des Abraham machen / und also die Griechen zur Hochachtung der Jüdischen Religion bewegen« (Von der Philosophie Der Patriarchen. Zweytes Capitel, 17 f.). 297 Ebd., 27. Die immer wieder als Beweismittel traktierte Autorität der Kirchenväter gelte »in diesem Puncte gar nichts«; Heumann kritisiert in diesem Zusammenhang besonders August Pfeiffer (Pansophia Mosaica, Leipzig 1685; 2. Aufl. Leipzig 1688). 298 Zum negativ konnotierten Begriff »Tradition« vgl. vorliegende Arbeit S. 115. 299 [Heumann], Von der Philosophie der Patriarchen. Zweytes Capitel, 6. Weitere Namen, so Demetrios (von Phalerum), referieren auf antike Fälschungen wie den Aristeas-Brief (zu ihnen Grafton, Fälscher und Kritiker, 16 ff.). 300 [Heumann], Von der Philosophie der Patriarchen. Zweytes Capitel, 24. 301 Vgl. Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, Vorrede, 3 ff.

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Schon Spinoza, der schnell als Symbolfigur atheistischen Denkens gebrandmarkte holländische Gelehrte,302 hatte die Welt der Hebräer und ihre Vorstellungen natürlichen Erklärungen unterzogen und sich in diesem Zusammenhang über die »merkwürdige Übereilung« gewundert, mit der »man sich allgemein eingeredet, die Propheten hätten alles gewußt, was dem menschlichen Verstande überhaupt zugänglich ist«.303 Wie Heumann analysierte Spinoza solche Vorurteile als Ausdruck einer Vermischung von Theologie und Philosophie und verband damit das Anliegen, »die Philosophie von der Theologie zu trennen«.304 Die Selbständigkeit der Philosophie aber begründeten beide Gelehrte auf sehr unterschiedliche Weise. Spinoza löste die Philosophie mit radikaler Logik und Konsequenz von jeder Bindung an die Theologie (»So kam ich zu der festen Überzeugung, daß die Schrift die Vernunft vollkommen unangetastet läßt und nichts mit der Philosophie gemein hat, sondern daß diese wie jene auf eignen Füßen steht«).305 Dagegen stellte sich Heumann Philosophie und Theologie als vernünftige Dialogpartner vor, die im idealen, d. h. herrschaftsfreien Raum ihr gemeinsames Fundament entdecken.306 Diese Vorstellung eines Gleichgewichts von Theologie und Philosophie ließ sich mit Spinozas Methode der Bibelkritik ebenso wenig vereinbaren wie mit dessen politischer Freiheitsidee. Für die Prämissen der Textüberlieferung, denen Heumann seine Bibelexegese unterstellt, trifft jene Charakterisierung zu, mit der Spinoza die traditionelle Position umrissen hatte, nämlich daß die meisten behaupten, »Gott habe die ganze Bibel durch seine besondere Vorsehung vor Verfälschung bewahrt«.307 Die Selbständigkeit der Philosophie hat Heumann allein über den Umweg der Vergangenheit der Philosophie behauptet. Hier zumindest ist Heumann von den politischen Folgerungen, die Spinoza hinsichtlich der Freiheit der Gedanken im berühmten Abschlußkapitel des Theologisch-politischen Traktats formuliert,308 gar nicht Zur Rezeption in der deutschen Frühaufklärung Winfried Schröder, Spinoza in der deutschen Frühaufklärung, Würzburg 1987; Martin Pott, Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik, Tübingen 1992, 164 ff. 303 Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, 38. 304 Ebd., 232 (vgl. auch 48 u. 213); zur Erläuterung dieser Stellen die Einleitung von Gawlick (XXf.). 305 Ebd., Vorrede, 10. 306 Letztlich hat »alle Philosophische Wissenschaft« den Zweck, »daß die Erkäntniß Gottes in der Welt wachsen und zunehmen / und unsers Nechsten zeitliches und ewiges Wohlseyn befördert werden möge«, und »wir bedencken / daß ein frommer Ignorant GOtt angenehmer sey / als ein hochgelehrter Philosophus, der seine Wissenschaft nicht recht brauchet und anwendet« (Von der Philosophie der Patriarchen. Zweytes Capitel, 56 f.). 307 Theologisch-politischer Traktat, 163. Zu Heumanns Kritik des Spinozismus vgl. Nachricht von einem neuen Spinozisten / Henrico Wirmarsio (in: Acta Philosophorum, Siebendes Stück, Bd. 2, Halle 1716, 115–144). 308 Vgl. Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, 299 ff. 302

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so weit entfernt, wenn er die politische Freiheit als entscheidende historische Voraussetzung für das Entstehen der Philosophie bei den Griechen bestimmt. In der Erforschung der historia philosophica entdeckt die Philosophie ihre Autonomie als Loslösung von religiösem und sozialem Zwang, hier, in der mit unabhängigem, vernünftigem Urteil rekonstruierten Historie, befreit sie sich vom Zwang gelehrter Wissensgenealogien.309 Der Anerkennung einer eigenständigen Geschichte korrespondiert eine veränderte Aufmerksamkeit (und: Rechtfertigung) der neueren Philosophie: »Dieses ist also ein Haupt=Fehler in der Historia philosophica, daß man insgemein die neuern hintansetzet / aus denen alten aber / sie mögen es nun werth seyn oder nicht / das grösseste Wesen machet«.310 Selbstbewußt und optimistisch blickt die moderne Philosophie vom privilegierten Höhepunkt der Gegenwart auf ihre Vergangenheit und gesteht der vom Bann des perfekten Ursprungswissen gelösten, vorgriechischen Philosophie nur mehr den Status einer Vorgeschichte zu.311

Die Heumann in seinen Rezensionen der gelehrten Philosophiegeschichtsschreibung kritisiert; vgl. etwa die Rezension der (ansonsten von Heumann hoch geschätzten) Archaeologiae philosophicae (erstmals London 1692) des Engländers Thomas Burnet (in: Acta Philosophorum, Bd. 3, Vierzehndes Stück, Halle 1723, 298–341). 310 [Heumann], Von der Glaubwürdigkeit in der Historia Philosophica, 435. 311 [Heumann], Nachricht von dem Streite der Philosophorum des funfzehenden Saeculi über den Platonem und Aristotelem, in: [Ders.], Acta Philosophorum, Zehendes Stück, Bd. 2, Halle 1719, 537–579, hier 578 f. »Ich mercke zum Beschluß noch dieses an, daß das studium Philosophicum recht Stuffenweiß in die Höhe gekommen sey. Anfänglich war es mera barbaries, da man den Verstand gar nicht cultivirete, und von der Philosophie gar nichts wuste. Damahls hieß es: Sie haben Augen und sehen nicht; weil nemlich das Auge der Vernunfft gar zugeschlossen war. Hierauf gerieth man über die Philosophie, aber die Philosophiam sectariam, welche zwar freylich besser war, als die vorhergehende Barbarey, aber doch von der wahren Philosophie noch so weit unterschieden war, als ein Studiosus philosophiae von einem vollkommenen Philosopho. Mit der Zeit giengen denen Leuten die Augen noch weiter auf, und erwehleten sie die Syncretistische Philosophie, welche von der Zelotischen Philosophie eben so weit unterschieden ist, als ein Klein=Städtischer erbarer Bürger von einem groben Bauer. Endlich trat die Philosophia eclectica hervor, welche allein der Vernunfft den Huldigungs=Eyd leistet, und die Apostolische Worte zum Wahl=Spruche führet: Prüfet alles / das gute behaltet«. 309

Titelblatt des ersten Bandes der Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie. Der erste Band der englischen Vorlage An Universal History war 1736 in London erschienen. Die seit 1744 publizierte deutsche Bearbeitung wurde bis ins 19. Jahrhundert weitergeführt. HAB Wolfenbüttel M: Gb 341(1)

TEIL IV Das Anfangsproblem im Prozeß historischer Forschung und Erzählung

Die meisten universalhistorischen Lehrbücher noch des 18. Jahrhunderts beginnen ihre Darstellung mit der Geschichte, die seit der Spätantike erzählt wurde: mit der Schöpfung der Welt und der Erschaffung des Menschen auf der Grundlage der Bibel, deren Auslegung auch die Epochengliederung und den chronologischen Leitfaden der Gesamtgeschichte vorgab. Für den Prozeß der Infragestellung und Marginalisierung der biblischen Ursprünge im 18. Jahrhundert, also für das Thema dieser Studie, sind die universalhistorischen Lehrbücher jedoch keine sprechenden Dokumente. Sicherlich zeigt sich in einzelnen Werken der Bericht des Moses nur noch als knappes »Compendium compendiosissimum«, und Christoph Cellarius klammerte schon Ende des 17. Jahrhunderts in seiner Historia universalis die biblische Ursprungsgeschichte aus. Doch die klassische Universalhistorie war seit ihrer Reformulierung im Zeitalter von Reformation und Gegenreformation durch Melanchthons Chronicon Carionis, Johannes Sleidans De quatuor summis imperiis und Orazio Torsellinis Historiarum ab origine mundi usque ad 1598 Epitome vor allem Lehrbuch, Instrument der Information, nicht der gelehrten Forschung. Sie repräsentierte die Gesamtsicht auf die Geschichte als Instruktion und didaktische Unterweisung, und in dieser Hinsicht hatte die Universalhistorie auch noch im 18. Jahrhundert einen biblischen Rahmen. Für die Fragen aber, die das 18. Jahrhundert mit dem Ursprung von Herrschaft, Gesellschaft und Wissenschaft verband, bot die klassische Universalhistorie kaum Anschlußmöglichkeiten. Unter Umgehung der Heiligen Geschichte entstanden so eigenständige, auf Vernunft setzende und mit Hilfe historischer Kritik rekonstruierte Ursprungsgeschichten, im juristisch-politischen Kontext als historische Auszeichnung des Naturzustandsmodells, im wissenschaftlich-philosophischen Kontext als historische Auszeichnung der Selbständigkeit von Wissenschaft und Philosophie als Errungenschaften des Menschen. Der aufklärerische Wille, Politik, Sozialität und Wissen von heilsgeschichtlichen Ursprüngen und Bezügen zu lösen, manifestierte sich aber auch in neuen Entwürfen einer Gesamtsicht der Geschichte, so in der (in den 60er Jahren einsetzenden) »Geschichte der Menschheit«, in der die frühe Geschichte mit Hilfe ethnographischer Vergleiche hypothetisch erschlossen wurde (dazu Teil VI). Das für den Prozess der Formierung der Historie als Fachdisziplin wichtigere, zukunftsträchtigere Modell der ganzen Geschichte war die pragmatische, auf schriftliche Dokumente, auf historische Forschung und Kritik gegründete Universalhistorie. Sie verzichtete, im Unterschied zur »Geschichte der Menschheit«, nicht auf die bibli-

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Teil IV · Das Anfangsproblem im Prozeß historischer Forschung

sche Ursprungsgeschichte, setzte aber den mosaischen Bericht der historischen Kritik aus. Für diesen Kontext besitzt ein historisches Unternehmen Interesse, das, in England als Universal History im Jahre 1730 initiiert, sich zu einem europäischen Forschungsprojekt entwickelte. Die Universal History repräsentierte die ganze Geschichte in einem neuen Sinn. Indem sie, losgelöst von traditionellen heilsgeschichtlichen Interpretamenten (drei Weltalter, vier Monarchien), auch asiatische und amerikanische Völker behandelte, wurde sie zu einer Weltgeschichte, deren Verfasser beanspruchten, Geschichte als Erzählung historischer Zusammenhänge und als kritische Forschung miteinander zu verknüpfen. Besonderes Interesse verdient nun, daß bei der 1744 in Form von Übersetzungen und Kommentaren einsetzenden Bearbeitung der Universal History in Deutschland zunächst Theologen eine führende Rolle spielten, bevor sie ab 1766 von Historikern abgelöst wurden. Zur Verteidigung der historia sacra sowie zur Rekonstruktion einer historisch-kritischen Kirchenhistorie benötigte die Theologie exaktes Wissen über die profanen Historien. Sie öffnet sich deshalb im 18. Jahrhundert zunehmend der historischen Forschung.1 Am Anfang steht der apologetische Impuls, doch je mehr er sich in produktive historische Arbeit verwickelt, verselbständigt sich das als Mittel eingesetzte historische Interesse und trägt dazu bei, die Grundlagen der protestantischen Theologie radikal zu verändern.2 Im Blick auf die Formen und Praktiken des historischen Interesses im 18. Jahrhundert verdient diese Entwicklung besondere Aufmerksamkeit. Bevor nämlich die Historie sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts institutionell und methodologisch als eigenständige Disziplin profiliert, ist es die Theologie, die neben der Jurisprudenz und Politik der historischen Theorie, Methodologie und Forschung ihren Stempel aufdrückt. Dieser Gesichtspunkt soll, unter besonderer Berücksichtigung der Frage des Anfangs der Geschichte, im folgenden Teil in einer Untersuchung der deutschen Bearbeitungen und Kommentierungen der englischen Welthistorie genauer herausgearbeitet werden. Ein Abschnitt zum Anfangsproblem in der Kirchengeschichte eröffnet die Darstellung.

Einen guten Überblick zur Entwicklung der protestantischen Theologie im 18. Jahrhundert gibt Walter Sparn, Vernünftiges Christentum. Über die geschichtliche Aufgabe der theologischen Aufklärung im 18. Jahrhundert in Deutschland, in: Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, hg. v. Rudolf Vierhaus, Göttingen 1985, 18–57; zur Verknüpfung von Theologie und Historie Ders., Auf dem Weg zur theologischen Aufklärung in Halle: Von Johann Franz Budde zu Siegmund Jakob Baumgarten, in: Zentren der Aufklärung I. Halle. Aufklärung und Pietismus, hg. v. Norbert Hinske, Heidelberg 1989, 71–89. 2 Vgl. Sparn, Auf dem Weg zur theologischen Aufklärung in Halle, 83 f. 1

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1. Vergebliche Rettung der biblischen Historie: Johann Jacob Rambach und Siegmund Jacob Baumgarten Wäre uns nicht durch Moses »eine gewisse Nachricht de ortu et primo statu huius mundi« überliefert worden, hätte »die gantze Historie keinen Kopf, es wäre ein corpus sine capite, und der Schade wär unersetzlich, dieweil er aus keinem andern profanen Scribenten ersetzet werden könnte«.3 Kopflos wäre nicht nur die Historie, sondern ebenso auch die Theologie, denn die mosaischen Bücher enthalten »Fons et complexus omnis theologiae«. Es gilt: »Es ist kein einiger Articulus fidei, dessen erste Lineamenten nicht in den Schrifften Mosis liegen sollten«.4 Daß an der Wahrheit und authentischen Überlieferung der biblischen Bücher nicht gezweifelt werden kann, erläutert der Theologe Johann Jacob Rambach seinen Studenten auf der Grundlage neuer historisch-philologischer Forschungen zur Frühgeschichte. Entscheidend ist dabei der Nachweis, daß der Text des Moses die älteste schriftliche Überlieferung ist. Deshalb finden sich in der 1737 gedruckten Fassung von Rambachs Vorlesung am Schluß der ersten historischen »Perioden« jeweils ausführliche synchronische Untersuchungen zum Verhältnis von heiliger und profaner Überlieferung,5 in denen er sich auf die Argumente der gelehrten Kritik (u .a. Bochart, Conring, Cellarius) über die Ungewißheit der außerbiblischen Überlieferung zu diesen Zeiten bzw. deren Abhängigkeit von der biblischen Tradition stützt. Aus der vorsintflutlichen Zeit gibt es, lautet seine Folgerung, außer Fälschungen (»foetus suppositii«) keine schriftliche Überlieferung, obwohl davon auszugehen ist, daß Schrift (»potentia scribendi«) damals schon bekannt war.6

Johann Jacob Rambach, Collegivm historiae ecclesiasticae veteris testamenti, oder Ausführlicher und gründlicher Discurs über die Kirchen=Historie des alten Testaments von Erschaffung der Welt biß auf die Geburt Christi, mit exegetischen, typischen und sonderlich Moralischen Anmerkungen / mit den Synchronismis der politischen und gelehrten Historie […] Jtzt aus dem eigenhändigen Manuscript des seligen Mannes herausgegeben, mit Anmerkungen und einer Vorrede begleitet von Ernst Friedrich Neubauer, 2 Bde., Frankfurt u. Leipzig 1737, Bd. 1, 945. 4 Ebd., 947 f. Das dogmatische Problem, ob die christliche Glaubenslehre schon seit den Anfängen des Menschen vorhanden gewesen sei (wie es etwa Philipp Melanchthon vertreten hatte), ist für die protestantische Kirchenhistorie des 17. Jahrhunderts zentral; vgl. die (gegen Georg Calixt argumentierende) Dissertation von Abraham Calov (Resp.: M. Christ. Bilefeld): Fides veterum et imprimis fidelium mundi antediluviani in Christum verum deum et hominem, ejusque passionem meritoriam adversus pestilentem novatorum, maxime D. Georgii Calixti haeresin, e scripturae testimonijs, et ecclesiae consensu asserta, Wittenberg 1660, sowie Balthasar Bebel, Ecclesiae antedilvvianae vera et falsa, ex antiquitatibus Mosaicis erutae, Straßburg 1665. 5 Vgl. Rambach, Collegivm historiae ecclesiasticae veteris testamenti, Bd. 1, 258 ff. (zur Periode von der Sintflut bis zu Abraham) u. 556ff. (zur Periode von Abraham bis zum Auszug aus Ägypten). 6 Vgl. ebd., 173 ff. Rambach schließt sich hier vor allem Reimmann an und kritisiert die gelehrten Konstruktionen über die vorsintflutlichen Wissenschaften, ein Fehler, den auch Reimmann 3

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Rambach will seine Studenten überzeugen, daß die Singularität und Gewißheit der mosaischen Überlieferung über den Ursprung der Geschichte auch die Wahrheit und Kontinuität der christlichen Lehre als einzig wahrer Religion bestätigen: »Wir haben gewißlich Ursach GOtt zu dancken pro verbo scripto certo; worauf wir unsern Glauben gründen können: denn sonst tappeten wir im dunckelen, und würden keine gewisse Tritte in rebus antiquis thun können«.7 Die Legitimation der Überlegenheit der Bibel durch das Alter ihrer Überlieferung ist sicherlich kein neues Argument. Doch Rambach muß es differenziert begründen, denn die »Dubia, welche von profanen Gemüthern aduersus historiam sacram gemacht werden«, sind in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht mehr bloß auf wenige Außenseiter beschränkt. Es ist deshalb das besondere Interesse an der Lösung jener Zweifel, »welches eine Haupt=Sache ist, darauf man zu unsrer Zeit bey Tractirung der Biblischen Historie zu sehen hat«,8 schon von der Angst um den Bestand zukünftigen Glaubens geprägt. Was nämlich »vor ein Schade daher entstehet, wenn ein Stück der Mosaischen Historie nach dem andern Mosi abgesprochen, ein Blat nach dem andern aus Mose gleichsam herausgerissen wird, das wird die Posterität erfahren«.9 Daß Rambach die biblische Historie im Rahmen von Kollegien über die Historia ecclesiastica veteris testamenti verteidigt, die er zwischen 1726 und 1732 zunächst in Halle und dann in Gießen anbot,10 ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr selbstver»nicht überall vermieden« habe. Eine Zusammenfassung der gelehrten Argumente, daß Moses der »älteste Scriptor« ist, findet sich im Abschnitt über Moses (ebd., 944 ff.), differenziert in die Abschnitte: »Ex rerum, quas describit, antiquitate«, »Ex inductione exemplorum«, »E frequenti Mosis mentione in scriptis paganorum antiquissimis«. 7 Ebd., 260; vgl. auch 567: »allein das Volck Gottes« hat die Ehre, »daß dessen origines und allerältester Status durch die Feder Mosis […] nach der Wahrheit beschrieben worden, da hingegen die origines reliquorum populorum mit einer dicken Finsterniß bedecket sind, daher man nichts gewisses davon sagen kan. Die historia sacra ist allein von Fabeln frey, da hingegen die allerälteste historia profana ein rechtes stabulum Augiae ist, daraus man gantze Fuder Fabeln ausmisten könte. Das soll denn billig in uns eine Hochachtung und Liebe gegen die historiam Sanctam et Scripturam sacram erwecken«. 8 Ebd., 260. 9 Ebd., 228 ff. Rambach bezieht sich auf eine Pentateuch-Auslegung des Helmstedter Theologieprofessors und Orientalisten Hermann von der Hardt (Historia regni babilonici per Cyrum euersi ex tabulis Mosaicis, Helmstedt 1726), der diese fettgedruckt »JVDICIO POSTERITATIS« gewidmet hatte; zu von der Hardt Ralph Häfner, Tempelritus und Textkommentar. Hermann von der Hardts Mörgenröte über der Stadt Chebron und die Eigenart des literaturkritischen Kommentars im frühen 18. Jahrhundert, in: Scientia Poetica 3 (1999) 47–71; zu von der Hardts präteritistischer Auslegung der Daniel-Prophetie Seifert, Der Rückzug der biblischen Prophetie, 140 f. 10 Dazu sowie zum Gesamtkonzept und Kontext von Rambachs posthum erschienener Kirchenhistorie Klaus Wetzel, Theologische Kirchengeschichtsschreibung im deutschen Protestantismus 1660–1760, Gießen u. Basel 1983, 266 ff.; Rambach (1693–1735) war seit 1727 ordentlicher Theologieprofessor in Halle, ab 1731 bis zu seinem Tod in gleicher Stellung in Gießen (zu Leben

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ständlich. Denn die protestantische Kirchenhistorie hatte sich damals schon weitgehend auf die neue Geschichte, d. h. die Zeit nach Christus, zurückgezogen, orientierte sich an der neuen Kirche Christi sowie an pragmatischen Erklärungszusammenhängen und historisch-kritischen Methoden.11 Die theologisch-dogmatisch beherrschte Vorstellung der Kirche als wahrer Lehrtradition, deren ununterbrochene historische Folge seit Erschaffung des Menschen die biblischen Historien und Prophetien (sowie die »Zeugen der Wahrheit«) belegten, war der Auffassung der Kirche als einer sozialen Gemeinschaft von Christenmenschen gewichen, deren historische Rekonstruktion auf profane Erkenntnismittel und Methoden angewiesen ist. Dagegen thematisiert Rambachs Kirchenhistorie den »Kampf um die wahre Kirche«12 ausgehend vom Alten Testament, um zu verdeutlichen, »wie GOtt sein Werk in der Kirche vom Anfange her geführet und unter allen Hindernissen fortgeführet habe«.13 Doch auch die Darlegung dieses Kampfes bedarf bei Rambach einer methodischen Absicherung, die über den traditionellen Begründungszusammenhang der Kirchenhistorie hinausweist. Die Geltung der biblischen Historie ist nämlich mit Hilfe historisch-philologischer Methoden und vernünftiger Auslegungen gegen neuere Philosophen und »verwegene Critici«, kurzum: »gegen die Objectiones der Antiscripturariorum« abzusichern.14 Am eindrucksvollsten und mit großer Wirkung hat diese Verteidigung Siegmund Jacob Baumgarten unternommen, einer der Nachfolger von Rambach auf dem theologischen Lehrstuhl in Halle. Baumgarten hat nicht nur eine große Zahl der Theologen ausgebildet, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die protestantische Theologie prägen (und verändern) sollten; er war zugleich einer der bedeutendsten und einflußreichsten Förderer historischer Studien, ein Mann, so Lessing, der profunde Liebhaber historischer Literatur, »welcher sich mit Recht beinahe ein diktatorisches Ansehen in der Geschichte und in der Beurteilung ihrer Schriftsteller erworben«.15 Um das öffentliche Ansehen der Geschichte stand es nach Baumgartens Einschätzung in den 40er Jahren des 18. Jahrhunderts nicht gut: unstreitig sei, so seine

und Werk: Johann Jakob Rambach. Leben – Briefe – Schriften, hg. v. Ulrich Bister u. Martin Zeim, Gießen 1993). 11 Vgl. ebd., besonders 363 ff. Den neuen (auf die Zeit nach Christus beschränkten) Typus pragmatischer Kirchenhistorie repräsentieren die Arbeiten Johann Lorenz Mosheims; zu ihnen Karl Heussi, Die Kirchengeschichtsschreibung Johann Lorenz von Mosheims, Diss. Leipzig 1903, sowie die Beiträge in: Johann Lorenz Mosheim (1693–1755), hg. v. Mulsow u. a. 12 Zu Rambachs Gestaltung dieser zentralen Figur der traditionellen protestantischen Kirchenhistorie Wetzel, Theologische Kirchengeschichtsschreibung, 482 f. 13 Rambach, Collegivm historiae ecclesiasticae veteris testamenti, Bd. 1, 6. 14 Ebd., 260 u. 945. 15 Zur Biographie Baumgartens (1706–1757) Martin Schloemann, Siegmund Jacob Baumgarten. System und Geschichte in der Theologie des Überganges zum Neuprotestantismus, Göttingen

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Lagebeschreibung, »daß heut zu Tage die Menge der Liebhaber von Geschichten nicht aller Orten so gros sey, als man von so aufgeklärten Zeiten vermuten solte, ja daß es so gar an öffentlichen Verächtern derselben nicht fele«.16 Baumgarten führt das geringe Ansehen der Historie vor allem auf die »eingerissene Zweifelsucht« zurück.17 Sie habe dazu geführt, daß entweder, indem man an der »Niederreissung des grösten Theils der bisherigen Historie und besten Geschichtbücher des Altertums« arbeitete, »ein ganz neu Gebäude der Geschichte voriger Zeiten« angestrebt oder aber das historische Interesse »durch öffentliche Bestreitung der gesamten alten Historie« auf die neueste Geschichte reduziert wurde.18 Als Vertreter der ersten Richtung nennt Baumgarten den französischen Jesuiten und Numismatiker Jean Hardouin,19 der die gesamte, auch christliche schriftliche Überlieferung der Antike mit Ausnahme der Vulgata, von Homer, Herodot, Plautus, Plinius d.Ä. sowie Teilen von Vergil und Horaz, so Baumgarten, »vor untergeschobene und unächte Misgeburten der spätesten Zeiten der Finsternis« ausgegeben und dennoch »ein volständig Gebäude der alten Geschichte und Zeitrechnung errichtet, und mit der heftigsten Zuverlässigkeit behauptet« habe.20 Beispiel für die Ablehnung der »gesamten alten Historie« ist ein Werk des Franzosen Jean-Baptiste Le Mascrier (1697–1760).21 Es ist dieser zweifache Weg, also die Ersetzung der ungewissen frühesten Geschichte durch alternative Ursprungsmodelle und der Rückzug auf die neuere Geschichte, der, wie die voranstehenden Abschnitte dieser Arbeit verdeutlichen, seit Beginn des 18. Jahrhunderts wachsenden Einfluß gewinnen konnte und zunehmend auch von

1974, 29ff., zu seinen Schülern (u.a. Johann David Michaelis, Johann Salomo Semler, Anton Friedrich Büsching, Johann August Nösselt und Johann Melchior Goeze, der Kontrahent Lessings) 19ff.; das Lessing-Zitat ebd., 173. 16 Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie die in Engeland durch eine Geselschaft von Gelehrten ausgefertigt worden. Erster Theil. Nebst den Anmerkungen der holländischen Uebersetzung auch vielen neuen Kupfern und Karten. Genau durchgesehen und mit häufigen Anmerkungen vermeret von Siegmund Jacob Baumgarten, Halle 1744, Vorrede Baumgartens, 4. 17 Ebd. Außerdem verweist Baumgarten auf die den »natürlichen Geschmack« verderbende Vorliebe für die (Roman-)Literatur (»erdichtete Liebes- und Heldengeschichte«) sowie die »übertriebene Hochachtung und Anhänglichkeit« gegenüber den »höheren« (Gesetzes-)Wissenschaften, insbesondere der Philosophie (Weltweisheit). 18 Vgl. ebd., 4 f. 19 Jean Hardouin, Chronologiae ex nummis antiquis restitutae prolusio de nummis herodiadum, Paris 1693; zu Hardouins Skeptizismus Anthony Grafton, Jean Hardouin: The Antiquary as Pariah, in: Ders., Bring out your Dead. The Past as Revelation, Cambridge Mass.-London 2001, 181–207. 20 Außerdem verweist Baumgarten auf Hermann von der Hardt (dessen »Einfälle« bestünden »aus ähnlichen Mishandlungen der alten Geschichte, sonderlich der heil. Schrift«); zu von der Hardt Anm. 9. 21 Ideé du gouvernement ancien et moderne, avec la description d’une nouvelle pyramide, et de nouvelles remarques sur les moeurs et les usages des habitants de ce pays, Paris 1743; Le Mascrier,

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der philosophischen Vernunft als Alternative propagiert wurde. Die Argumente der pyrrhonistischen Skeptiker wurden dabei als strategische Mittel eingesetzt, häufig verbunden mit der Verachtung gegenüber den komplizierten historisch-philologischen Problemen, in die sich die gelehrte Forschung zum Verhältnis von biblischer und profaner Historie verstrickt hatte. Einflußreich vertreten hatte diese Sicht Voltaire. Baumgarten kritisierte an dessen Geschichtsschreibung (wie auch spätere deutsche Historiker) mangelnde Quellenfundierung und »Anekdotensucht«.22 Vor allem aber setzte er sich mit den Schriften Henry Saint John Lord Bolingbrokes auseinander, den Hauptquellen von Voltaires Bibelkritik. Bolingbrokes (erst posthum London 1752 gedruckten) Letters on the Study and Use of History warf er methodische und philologische Unzulänglichkeiten vor.23 Provozieren mußte Baumgarten der Abschnitt »Betrachtung über den Zustand der alten Geschichte«,24 besonders Bolingbrokes Bemerkungen über die historische Überlieferung zur Frühgeschichte: »So daß also, um das Ganze zusammen zu fassen, die Bibel, weit entfernt, uns Licht für die allgemeine Geschichte zu geben, die Dunkelheit nur noch vermehrt, selbst in den Teilen vermehrt, mit denen sie in der nächsten Beziehung steht. Wir haben demnach weder in Profan= noch heiligen Schriftstellern so authentische, deutliche, bestimmte und vollständige Nachrichten vom Ursprunge der alten Völker und von den Hauptbegebenheiten der Menschenalter, die man gemeiniglich die ersten nennt, daß sie den Namen der Geschichte verdienten oder hinreichenden Stoff für Chronologie und Geschichte lieferten«.25 Die »eingerissene Zweifelsucht« und ihre Konsequenzen sind für Baumgarten in mehrfacher Hinsicht problematisch. Sie stellt nicht nur die Zuverlässigkeit der Geschichte in Frage, sondern auch die »hinlängliche Zuverläßigkeit der Bestimmungsgründe fast aller menschlichen Handlungen, darauf das Leben und die gesamte Wohlfart der Menschen ankomt«. Gesellschaften, so Baumgarten, sind in besonderem Maße von historischer Orientierung abhängig, »können ohne Andenken und Nachrichten von Begebenheiten weder bestehen, noch auch vielweniger alle ihre Ab-

kritisiert Baumgarten, gründe seine Thesen nicht auf Quellenkenntnis und erweise dadurch, daß »demnach diese ganze Verachtung der Geschichte um so viel unerheblicher wird, je begreiflicher die Veranlassung und Absicht davon aus der Unwissenheit derselben ist« (Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede Baumgartens, 5/Anm. 1). 22 Zitiert nach Schloemann, Siegmund Jacob Baumgarten, 182. 23 Dazu ebd., 160 ff. 24 Des Lords Bolingbrokes Briefe über das Studium und den Nutzen der Geschichte. Aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von C.F.R. Vetterlein, Leipzig 1794, 60–105. Die Letters wurden schon zuvor von Johann Georg Hamann auszugsweise ins Deutsche übersetzt (Lord Bolingbrokes Betrachtungen über den Zustand der alten Geschichte, Mitau 1774); zur deutschen Rezeption der Letters Völkel, »Pyrrhonismus historicus«, 261 ff. 25 Des Lords Bolingbrokes Briefe (in der Übersetzung von Vetterlein), 104.

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sichten erreichen«.26 Vor allem aber bedroht die Zweifelsucht die göttliche Offenbarung und damit das Fundament der Vergewisserung christlichen Glaubens. Die »Unwiedersprechlichkeit und Unleugbarkeit« der Offenbarung liegen in der Heiligen Schrift begründet, deren umfangreichster und wichtigster Teil »aus Begebenheiten bestehet und auf Begebenheiten beruhet, die mit andern Geschichten zusammenhangen«.27 Die biblischen Historien sind nicht ein bloßer Textzusammenhang, sie gehen auf einen historischen Geschehenszusammenhang zurück und sind dadurch mit der allgemeinen Geschichte verknüpft. Sie können deshalb nicht als isolierte Historien gelesen oder nur dogmatisch ausgelegt werden.28 Die Gewißheit der biblischen Offenbarung wie auch der Vorsehung Gottes stehen im Verbund mit der ganzen Geschichte.29 Aus diesem Grund läßt sich die Frage nach ihrer Glaubwürdigkeit nicht von der nach der Glaubwürdigkeit der gesamten historischen Überlieferungen lösen. Auch die Vernachlässigung oder gar Preisgabe der »alten Völkergeschichte« zugunsten der »neueren, besonders seines eigenen Volks und Vaterlandes« ist unter diesen Gesichtspunkten eine gefährliche Reduktion des historischen Interesses. Die Frage, »welche Art der Historie und Völkergeschichte den Vorzug der Nützlichkeit und Notwendigkeit habe, die alte, sonderlich der Israeliten, Griechen, Römer und benachbarter Völker, oder die neuere, besonders seines eigenen Volks und Vaterlandes«, ist nach Baumgarten zwar differenziert zu beantworten. Doch geht es um die Frage des Nutzens und der Notwendigkeit der Historie, »so möchte es nicht schwer fallen, eben so unstreitig darzuthun, daß die alte Völkergeschichte den Vorzug behaupten«. Die aus moderner Perspektive überraschende Bevorzugung der alten Geschichte begründet Baumgarten mit deren vielfältigen Einflüssen auf alle »gesitteten Völker«, aber auch mit der im Vergleich zu »neuern Geschichten irgend eines andern Volks und Landes« besseren Quellenüberlieferung. Baumgarten möchte seine Position ausdrücklich nicht als Kritik der Beschäftigung mit der neueren (Staaten-)Historie verstanden wissen, insbesondere wenn sie sich bemüht, die »unbekant und ungebraucht gebliebenen Quellen« zu erforschen, doch ist deren Nutzen »unstreitig auf weit weniger Menschen eingeschränkt, als der Nutzen der Geschichte alter Völker, ohne welche weder die heilige Schrift, noch die besten Bücher des Altertums verstanden und gebraucht werden können: ja deren die Geschichte neuerer Völker nicht entraten kan, indem sich die alte Historie wol ohne

Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede Baumgartens, 37 bzw. 25. Ebd., 32. 28 Vgl. ebd.: »Die natürliche Erkentnis GOttes wird viel zu enge eingeschränkt, wenn die Geschichte von den Hülfsmitteln, Erkentnisquellen und Bestimmungsgründen derselben ausgeschlossen werden, die unzälige Spiegel der götlichen Volkommenheiten, und Stimmen oder Offenbarungen seines beschliessenden sowohl als verordnenden und gebietenden Willens enthalten«. 29 Vgl. ebd., 31. 26 27

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Beihülfe der neuern, diese aber nicht ohne jene erlernen läst».30 Pufendorf, Ludewig oder auch Gundling hatten eben diese Frage entgegengesetzt beantwortet. Dies zeigt: Die auf die Historie bezogene »Querelle des Anciens et des Modernes« war im 18. Jahrhundert von der Frage der Relevanz der historia sacra beherrscht. Der Theologe muß, will er das Fundament der Offenbarungsgewißheit verstehen und sichern, zum Historiker werden: »Gottesgelerte kommen weder mit der richtigen Auslegung der heil. Schrift, ja selbst mit dem völligen Beweise und Rettung ihrer Götlichkeit gegen manche Einwürfe, noch mit der Einsicht und Vertheidigung des gottesdienstlichen Lehrbegrifs, dessen unentberliche Einschränkungen, Kunstworte und Bekentnisse auf vorgefallenen Streitigkeiten beruhen; noch auch mit richtiger und gegründeter Beobachtung nötiger Kirchenverfassungen, gottesdienstlicher Gebräuche und menschlicher Kirchengesetze, ohne Gebrauch der Geschichte unmöglich zurechte«.31 Baumgarten hat diese Einsicht eindrucksvoll in produktive Arbeit umgesetzt. Er hat, ausgehend von einer Differenzierung der historischen Wahrscheinlichkeit, dem historischen Phyrrhonismus eine Theorie historischer Gewißheit entgegengestellt, in der die Argumente der historischen Skepsis aufgenommen und dem Regelwerk einer methodisch kontrollierten Skepsis unterstellt werden. Zugleich hat Baumgarten die historische Erkenntnisleistung als offenen, prinzipiell unabschließbaren Forschungsprozeß profiliert.32 Doch die theologische Not machte Baumgarten nicht nur, wie einige Jahre später auch den Theologen Johann Martin Chladenius,33 zum Theoretiker historischer Erkenntnis. Er betrieb die »Rettung erzälter Begebenheiten gegen die neuesten Einwürfe der Freigeister«34 auch als Praktiker und übte dadurch einen kaum zu unter-

Ebd., 34 f. mit Anm. 36. Ebd., 34. Zu Baumgartens Prinzipien der Bibelauslegung im Blick auf die Entwicklung der Hermeneutik im 18. Jahrhundert Lutz Danneberg, Siegmund Jakob Baumgartens biblische Hermeneutik, in: Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung, hg. v. Axel Bühler, Frankfurt a. M. 1994, 88–157. 32 Vgl. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede Baumgartens, 9–22; dazu Schloemann, Siegmund Jacob Baumgarten, 140 ff.; Völkel, »Pyrrhonismus historicus«, 229 ff. 33 Auch für Chladenius (der sich ausdrücklich auf Baumgarten bezieht) ist die genaue Analyse der historischen Erkenntnis ein die Gewißheit der heiligen Schrift gegen den historischen Pyrrhonismus und »Freygeister« verteidigendes Unternehmen: Da »ein großer Theil der heiligen Lehren von der Art der historischen Erkenntniß« ist, habe »eine genauere Erkenntniß, was es mit der historischen Erkenntniß überhaupt vor Bewandniß habe, auch bey der Erklärung und der Vertheidigung der geoffenbarten Wahrheiten großen Nutzen« (Johann Martin Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft, worinnen der Grund zu einer neuen Einsicht in allen Arten der Gelahrheit geleget wird, Leipzig 1752, Vorrede, unpag.). Zu den unterschiedlichen Begründungsweisen der beiden Theologen Schloemann, Siegmund Jacob Baumgarten, 187 ff.; Völkel, »Pyrrhonimus historicus«, 317 ff. 34 Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede Baumgartens, 47. 30 31

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schätzenden Einfluß auf das historische Interesse im 18. Jahrhundert in Deutschland aus. Als Organisator, Bearbeiter und Herausgeber zahlreicher Editions- und Übersetzungsprojekte erschloß Baumgarten die ausländische, vor allem englische historische Literatur einem nicht nur gelehrten Publikum.35 Den meist mehrbändigen Ausgaben, deren Veröffentlichung sich oft über mehrere Jahre hinzog, stellte er ausführliche, kommentierende Vorreden voran und unterlegte die Texte mit kritischen Fußnoten, die den neuesten Forschungsstand dokumentieren und die Aussagen des Textes akribisch hinsichtlich ihrer Quellengrundlagen überprüfen und abwägen. Baumgarten wollte mit seiner kritischen Arbeit Grundlagen zur Verfügung stellen, um den »thätigen Wiederspruch der Geschichte«36 gegen Skeptiker und Freigeister ins Werk setzen zu können. Die Apologie der Offenbarung muß sich der gesamten historischen Überlieferung zuwenden, will sie die biblische Historie nicht als isolierte, gleichsam schutzlose und damit auch: wirkungslose Sondergeschichte den »feindseligsten Widersachern« der Heiligen Schrift ausliefern. Für Baumgarten stellt der »Gebrauch historischer Waffen« bei Angriffen gegen die Offenbarung eine gefährlichere Waffe dar als selbst der Gebrauch philosophischer Vernunft.37 Daß die theoretische Reflexion im Verbund mit der praktischen Erforschung der historischen Überlieferung zur Widerlegung der »feindseligen Angriffe der neuern Widersacher des Christentums«38 führen muß, davon war der Theologe Baumgarten unerschütterlich überzeugt. Die Angriffe der »Widersacher des Christentums« sind Ausdruck mangelnder Kenntnis der theoretischen und materialen Grundlagen der Historie.39 Das sahen Baumgartens theologische Kritiker anders, die gerade umgekehrt die »Gefärlichkeit der Geschichte«, d. h. ihre Verwendung als »Waffen zur Bestreitung der götlichen Offenbarung« in Anschlag brachten.40 Die weitere EntwickVgl. Schloemann, Siegmund Jacob Baumgarten, 120 ff. u. 164 f. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede Baumgartens, 32. 37 Jacob Saurin, Betrachtungen über die Wichtigsten Begebenheiten des Alten und Neuen Testaments, Erster Theil, Vorrede Baumgartens, 17/Anm. 13; zitiert nach Schloemann (Siegmund Jacob Baumgarten, 160). Der kalvinistische Prediger Jacob Saurin (1677–1730) wirkte als »ministre de nobles« in Den Haag (vgl. La Grande Encyclopédie, Bd. 29, Paris 1901, 566). Zur im 18. Jahrhundert wachsenden Bedeutung der historischen Beweismittel innerhalb der protestantischen theologischen Apologetik Schloemann, 159 ff. 38 Siegmund Jacob Baumgarten, Auszug der Kirchengeschichte, von der Geburt Jesu an, Erster Theil, Halle 1743, Vorrede (unpag.), zitiert nach Schloemann, Siegmund Jacob Baumgarten, 158. 39 »In vielen neuern Schriften der Franzosen von besondern Stücken der alten Historie, ists unleugbar, daß ihre Verfasser sich nicht nur mit lauter Uebersetzungen alter Geschichtschreiber und mangelhaften Sammlungen der Altertümer beholfen, sondern auch nicht im Stande gewesen, die eigentlichen Quellen zu gebrauchen« (Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede Baumgartens, 19 u. 13/Anm. 11; weitere Belege für diese Auffassung bei Schloemann, Siegmund Jacob Baumgarten, 162 ff. u. 184 f.). 40 Vgl. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede Baumgartens, 43 f. Zum Kontext 35 36

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lung hat deren Befürchtungen bewahrheitet, sieht man auf die durch die historische (Bibel-)Kritik41 verursachte Entgrenzung des biblischen Kanons, dessen »unverfälschte Beibehaltung« Baumgarten mit Hilfe der Historie nachweisen wollte.42 So hat Baumgarten zwar nicht die historische Gewißheit der biblischen Offenbarung gerettet, doch der Historie hat er neue Entfaltungsmöglichkeiten und Horizonte eröffnet.

2. Die Universal History und ihre deutschen Kommentatoren Das umfangreichste und zugleich erfolgreichste Projekt, das Baumgartens »hallische Übersetzungsfabrik«43 bearbeitete, war die Übersetzung der Weltgeschichte, die seit 1730 in London erschien: An Universal History from the Earliest Account of Time to the Present Compiled from Original Authors and Illustrated with Maps, Cuts, Notes, Chronological and Other Tables. Das Unternehmen begann im Februar 1730 mit monatlichen Faszikellieferungen, 1736 erschien der erste Band in Folioformat.44 Ein wahrlich monumentales Werk, dessen Veröffentlichung sich bis 1765 hinzog und das auf über sechzig Bände anwuchs.45 Seine Vollendung hat Baumgarten nicht mehr dieser Stelle und zu Baumgartens theologischen (pietistischen) Kritikern in Halle Schloemann, Siegmund Jacob Baumgarten, 122 ff. Mit ähnlichen Argumenten wie in seiner Rehabilitation der Geschichte hat Baumgarten auch die schönen Wissenschaften gegen ihre Geringschätzung und moralische Verurteilung durch den Hallenser Pietismus verteidigt (dazu Wolfgang Martens, Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung, Tübingen 1989, 160 ff.). 41 Wie sie vor allem Baumgartens Schüler Johann Salomo Semler betrieb, der in seiner Abhandlung von freier Untersuchung des Canon (1771/75) dazu aufrief, daß der »künstliche Zaun« niedergerissen werden müsse, »den man wie ein Gehege um den biblischen Kanon gelegt« habe (zitiert nach Sparn, Auf dem Weg zur theologischen Aufklärung in Halle, 84 f.); zur Bibelkritik in der deutschen Aufklärung die Beiträge in: Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung, hg. v. Henning Graf Reventlow u. a., Wiesbaden 1988 (zu Semler: Gottfried Hornig, Hermeneutik und Bibelkritik bei Johann Salomo Semler, 219–236, sowie Ders., Johann Salomo Semler. Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen, Tübingen 1996, 229 ff.) und Henning Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung Bd. IV. Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, München 2001 (zu Semler 175 ff. mit weiterer Literatur). 42 Vgl. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede Baumgartens, 32. 43 Carl Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen, 2. Aufl., 3 Bde., Leipzig 1898, Bd. 1, 159; nach Justi schob Baumgartens erfolgreiches universalhistorisches Übersetzungsprojekt die bis dahin dominierende »Reichhistorie nach und nach wieder bei Seite«. 44 Zur komplizierten Editionsgeschichte Guido Abbattista, »The Literary Mill«: per una storia editoriale della Universal History (1736–1765), in: Studi settecenteschi I,2 (1981) 91–133; Ders., The Business of Paternoster Row: Towards a Publishing History of the Universal History (1736–65), in: Publishing History 17 (1985) 5–50; zu den Bänden zur alten Geschichte Giuseppe Ricuperati, Universal History: storia di un progetto europeo. Impostori, storici ed editori nella Ancient Part, in: Studi settecenteschi I,2 (1981) 7–90. 45 Zu den weiteren Bänden und Auflagen in England neben den Arbeiten von Abbattista und

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erlebt. Er betreute die deutsche Übersetzung der ersten siebzehn Bände, die zwischen 1744 und 1758 in Halle erschienen, und verfaßte Einführungen und Kommentare, die selbst wiederum, nimmt man sie zusammen, ein mehrbändiges Werk ausmachen. Die Einführung zum ersten Band enthält Baumgartens (im vorstehenden Abschnitt thematisierte) Historik sowie Ausführungen zum Zweck und zu den Prinzipien der Übersetzung, in der Einführung zum zweiten (1746 erschienenen) Band zur jüdischen Geschichte (bis zur babylonischen Vertreibung) sowie zur frühen syrischen und phönizischen Geschichte finden sich Bemerkungen zur deutschen Rezeption des ersten Bandes über die früheste Geschichte sowie eine ausführliche Bibliographie (»historische Bibliothek«) zum Ursprungsthema.46 Außerdem gab Baumgarten eine vierbändige Samlung von Erleuterungsschriften und Zusätzen zur algemeinen Welthistorie heraus, deren Beiträge spezielle, in den einzelnen Bänden behandelte Probleme weiter ausführen.47 Die Universal History war ein europäisches Unternehmen. Neben der deutschen Ausgabe erschienen holländische, französische und italienische Übersetzungen.48 Die Bearbeiter der Universal History, eine, wie es im Titel der deutschen Übersetzung heißt, »Geselschaft von Gelehrten«, deren Mitglieder unter dem Schutz der Anonymität veröffentlichten,49 lieferten den europäischen »Liebhabern von Geschichten«, welche die einzelnen nationalen Ausgaben durch Vorschüsse finanzierten, nicht nur die bis dahin umfangreichste universalhistorische Darstellung. Sie schufen auch eine neue Weltgeschichte. Der Ausdruck »Liebhaber von Geschichten« bezeichnet ein Publikum, das sich nicht mehr auf die alte, an die lateinische Sprachkompetenz

Ricuperati auch die ausführliche Vorrede von Ludewig Albrecht Gebhardi in: Ders. u. August Ludwig Schlözer, Fortsetzung der Algemeinen Welthistorie durch eine Gesellschaft von Gelehrten in Teutschland und Engeland ausgefertiget. Fünfzigster Theil, Halle 1785; sowie: Franz BorkenauPollak, An universal history of the world from the earliest account of times etc. 1736 ff., Diss. masch. Leipzig 1925 (I. Abschnitt). 46 Die weiteren von Baumgarten bearbeiteten Bände sind dokumentiert bei Schloemann, Siegmund Jacob Baumgarten, 253. 47 Teils in Form von neuen Ausarbeitungen, die bei deutschen Gelehrten in Auftrag gegeben wurden, teils in Form von weiteren Übersetzungen einschlägiger Texte; vgl. Baumgartens Vorrede zur ersten Samlung (Halle 1747; die weiteren Bände erschienen Halle 1748, 1750 und 1756). Baumgartens Schüler Semler führte dieses Unternehmen fort und gab zwei weitere Bände heraus (der letzte erschien Halle 1765). 48 Dazu Ricuperati, Universal History (die Nachweise der Übersetzungen 8f./Anm. 4–7). Daß in Spanien und Portugal keine Übersetzungen erschienen, führt Gebhardi (Fortsetzung der Algemeinen Welthistorie, Bd. 50, Vorrede, VI) darauf zurück, daß in diesen Ländern einem solchen Projekt die »Religionsanstalten« entgegenstanden, während in den nördlichen Ländern die »Bekanntschaft mit der teutschen Übersetzung« eigene Übersetzungen überflüssig machten. 49 Zu den Verfassern der Bände zur Alten Geschichte, insbesondere zu George Sale, dem Bearbeiter der ältesten Geschichte, Ricuperati, Universal History, 13 ff.

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gebundene respublica literaria beschränkt, er steht auch für damit verbundene neue Formen und Methoden der Veröffentlichungs- und Finanzierungspraxis, »auf mehrerer Liebhaber Vorschus«,50 wie Baumgarten schreibt. Und die Algemeine Welthistorie (so der Titel der deutschen Übersetzung der Universal History) war im Unterschied zur traditionellen Universalhistorie in der Frühen Neuzeit weder als akademisches Lehrbuch konzipiert noch als solches zu gebrauchen. Dies lag nicht nur daran, daß ihr Umfang jede Kompendienform sprengte, sondern auch an ihrer thematischen Vielfalt und Textorganisation. Die Algemeine Welthistorie ist eine Art resümierende Enzyklopädie, die dem Leser den historischen Wissensbestand möglichst vollständig und kritisch, auf der Grundlage einer methodisch vorgehenden Überprüfung überlieferter Quellen und in Abwägung der einschlägigen Forschungsliteratur vorführt. Die Vergangenheit wurde, so der Kommentar Baumgartens, nach »den besten Quellen und ursprünglichen Geschichtbüchern«, oft mit »Beibehaltung der eigentlichen Ausdrücke derselben«, dargestellt, »widersprechende Nachrichten« wurden nicht übergangen, deren »Verschiedenheit nach richtigen Bestimmungsgründen der Warscheinlichkeit« geprüft. Zahlreiche Karten und Tabellen zur historischen Topographie, Geographie und Chronologie sowie »bewegliche Denkmale des Altertums«, d.h. dingliche Quellen wie Münzen, illustrieren und erläutern den Text. Auch »Nachrichten der Naturgeschichte« sowie »von den Gebräuchen, Künsten, Wissenschaften, dem Feldbau, Hauswesen, der Schiffahrt und Kaufmanschaft« wurden verarbeitet. All dies war nur in der Zusammenarbeit von mehreren Fachgelehrten möglich.51 Die Algemeine Welthistorie sollte es ermöglichen, das historische Wissen auf einen Zusammenhang zu beziehen, sie sollte die Lektüre spezieller Geschichten verarbeiten. Die Algemeine Welthistorie ist die Idee, der Inbegriff des Zusammenhangs der allgemeinen Historie, an der sich die Erforschung der besonderen Geschichte orientieren konnte.52 Doch ist das vorgestellte Ganze kein endgültiger, abgeschlossener Wissensbestand. Der Zusammenhang von Ganzem und Teil wird als offenes, bewegliches Verhältnis sichtbar, die Weltgeschichte ist auch durch ihre Erforschung in permanenter Bewegung: Zukünftige Revisionen sind durch die gegenwärtige Revision der Vergangenheit des historischen Wissens bereits angelegt. Der Wunsch nach »unfelbaren Geschichtbüchern« wird offensichtlich zum illusionären Anliegen.53 Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede Baumgartens, 3 f.; dazu Abbattista, »The Literary Mill«. 51 Vgl. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede Baumgartens, 46 f. 52 Vgl. ebd., 35 f. 53 Vgl. ebd., 52. Jene Eitelkeit besaßen sie nicht, so eine ironische Bemerkung in der Vorrede der Verfasser (ebd., 59–108), »eine ganz volkommen volständige Geschichte zu schreiben«; diese nämlich könne erst dann erscheinen, »wenn man die unaufhörliche Bewegung und den Stein der Weisen entdecken wird« (108). 50

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A. Die methodische Einheit der Historie als Forschungsarbeit Die Idee der allgemeinen Historie als Forschungsmodell hat Konsequenzen für die Form der Verarbeitung und Repräsentation des historischen Wissens. Diese muß offen für kritische Anknüpfungsmöglichkeiten sein und deshalb die Art und Weise, wie die dargestellten Begebenheiten rekonstruiert wurden, durchsichtig machen. Zugleich darf sie sich nicht im Nachweis der historischen Kritik erschöpfen, d.h. das historische Material bloß in Form eines Bayleschen Dictionnaires repräsentieren. Denn erst in der Form einer »pragmatischen« historischen Erzählung, führt Baumgarten aus, zeigen sich die Begebenheiten als ein »Triebwerk« von »Veranlassungen, Ursachen, Absichten und Folgen«, die der Leser selbst ohne »Betrachtungen und eingeschärfte Lehren« nachvollziehen kann.54 Diese Erkenntnis ist nicht nur für den Nutzen der Historie von zentraler Bedeutung,55 sondern leitet und treibt auch ihre methodische Erforschung an. Im Blick auf den Gesamtzusammenhang, so Baumgarten, zeigen die Begebenheiten, deren Umfang prinzipiell »unzälig« ist, ihre »Erheblichkeit«, d.h. ihre Relevanz und Bedeutung.56 Wie aber läßt sich in einem Text die Dokumentation von Forschungsmethoden und -ergebnissen mit den Erfordernissen einer pragmatischen Erzählung der Begebenheiten verknüpfen?57 Wie können fehlende Übereinstimmungen der Quellen, welche die Kritik entdeckt,58 und Erläuterungen zu komplizierten sozialen und kulturellen Lebensformen präsentiert werden, ohne den »Faden der schönsten Geschichte« zu zerreißen, wie kann die »Menge von Streitigkeiten« in der gelehrten Forschung dargestellt werden, wenn »der Zusammenhang der Geschichte nur eine Art der Erzälung der Begenheiten« erlaubt?59 Die Verfasser der Algemeinen Welthistorie lösten das Problem, indem sie Fußnoten benutzten. Das war damals keine selbstverständliche Lösung, zumindest nicht innerhalb der Historiographie: »Es ist nicht gebräuchlich«, heißt es in der Vorrede der Verfasser, »Geschichte mit Anmerkungen ans Licht zu stelVgl. ebd., Vorrede Baumgartens, 9 mit Anm. 5. Die »Vorstellung einzelner Begebenheiten« wird dadurch »nicht nur begreiflicher, sondern auch zur Einsicht und Herleitung algemeiner Warheiten, Vorschriften und Ratschläge, brauchbarer« (ebd., 9). 56 Vgl. ebd., 7 f. u. Anm. 3; dazu die Interpretation von Baumgartens Konzept und Methode eines »pragmatischen Zusammenhangs« bei Völkel, »Pyrrhonismus historicus«, 230 ff. 57 Die »pragmatische« Erzählung soll zwar ausdrücklich nicht an den Regeln und Zwecken der rhetorischen Tradition orientiert werden, dennoch aber einen einheitlichen chronologischen Zusammenhang veranschaulichen: Die »Erzählungen der Begebenheiten« müssen deren »natürlichen Zusammenhang und Ordnung« wiedergeben, welche nicht durch »untermengte Betrachtungen, oder gar Rednerkünste« zu ersetzen sind (Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede Baumgartens, 8). 58 Ebd., Vorrede der Verfasser, 81. 59 Ebd., 83. 54 55

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len, wenigstens nicht, dieselben mit einer so grossen Menge davon anzufüllen«.60 Nur das »Wahrscheinlichste« wurde in die »Geschichte selbst einverleibet«, alles andere in den erläuternden Fußnoten behandelt.61 Für den Leser, den die Verfasser nicht in ihre Meinungen einschränken wollten,62 sollte so die Historie in der »Erweislichkeit ihrer Erzälungen« transparent werden, wie der Leser Baumgarten, welcher von der dadurch eröffneten kritischen Bewegung reichlich Gebrauch machte, zustimmend – in einer Fußnote – kommentiert.63 Es ist die Idee der ganzen Geschichte als eines Zusammenhangs von Begebenheiten, der methodisch rekonstruiert und als Erzählzusammenhang repräsentiert werden muß, der die Verfasser der Algemeinen Welthistorie und ihr Kommentator Baumgarten besondere Prägnanz verleihen. Von Interesse sind nicht die Begebenheiten als solche, Aufmerksamkeit verdienen sie vielmehr als »Triebwerk der Begebenheiten«,64 d. h. in ihrer Wechselwirkung mit je unterschiedlichen politischen, religiösen, sozialen und kulturellen Lebensverhältnissen und im Kontext besonderer historischer Umstände. Die Anführung der Umstände dient der »begreiflichen und lebhaften Vorstellung« der Begebenheiten.65 Es genüge nicht, so Baumgarten, die Begebenheiten in Form annalistischer Jahrbücher auf ein chronologisches Gerüst zu beziehen:66 Ihr mit »Merkmalen und Bestimmungsgründen der Zuverläßigkeit« versehener Vortrag muß einen Zusammenhang ergeben, der dem »natürlichen Zusammenhang« sowie der Ordnung der Begebenheiten korrespondiert.67 Konfrontiert mit der frühesten Geschichte, erweist sich das Ideal des pragmatischen Erzählzusammenhangs allerdings als problematisch. Die Darstellung der Ge-

Ebd. Zur Bedeutung der Fußnote (sowie zu ihrem Spannungsverhältnis zur Geschichtserzählung) im Kontext der Entwicklung historischer Kritik Grafton, Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote. 61 Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede der Verfasser, 83. 62 Vgl. ebd., 81. 63 »Nachdem die Ausfertigung critischer Geschichtbücher aufgekommen, und Geschichtschreiber sich genötiget gesehen, die Erweislichkeit ihrer Erzälungen Lesern darzuthun: sind Anmerkungen bey Geschichten unentberlicher worden; die ohne dies bey alten Geschichten selbst zur Verständlichkeit derselben erfordert werden« (ebd., 83/Anm. B.28; die Sigle »B« bezeichnet die Fußnoten Baumgartens, vgl. Vorrede Baumgartens, 55). 64 Ebd., Vorrede Baumgartens, 9. 65 Ebd., 8. Außerdem sind die »Umstände« ein wichtiges Kriterium, die »innere Wahrscheinlichkeit« einer Begebenheit zu überprüfen sowie die der gegenwärtigen Erfahrung oft unglaublich erscheinenden Begebenheiten der alten Geschichte zu bestätigen: »Daher gar begreiflich ist, daß manche Begebenheit jemanden unwarscheinlich, ja wol gar unglaublich vorkommen könne, aus blosser Unwissenheit, oder aus Absonderung derselben von ihren Umständen und Versetzung in einen ganz andern Zusammenhang derselben« (ebd., 10 mit Anm. 6). 66 Vgl. ebd., 46. 67 Ebd., 8 f. 60

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schichte löst sich hier beinahe vollständig in erläuternde Kommentare und Exkurse auf, das Verhältnis von erzählendem Text und kritischen Fußnoten erscheint »pervertiert«: Der Text erschöpft sich oft in Referaten über verschiedene Auffassungen und Auslegungen, während sich die Historie in den Fußnoten verbirgt. So gleicht die Darstellung der Frühgeschichte in der Algemeinen Welthistorie eher einem resümierenden Bericht zu unterschiedlichen Problemen als einer Erzählung von Begebenheiten. Die »besonderen Schwierigkeiten« und die »Noth« mit der »Geschichte alter Zeiten« werden mit einem Argument markiert, das in der Ursprungsdebatte von Ludewig bis Heumann eine zentrale Rolle spielte, nämlich daß »keine einige Historie derselben alten Völker, welche die Griechen Barbaren genennet, die von ihren eigenen Landesleuten geschrieben, oder aus ihren eigenen Urkunden unmittelbar genommen worden, auf uns gekommen«.68 Zwar gilt auch für die Verfasser der Algemeinen Welthistorie, daß die Juden die große Ausnahme von dieser Regel darstellen: die mosaische Erzählung besitze im Unterschied zu profanen Überlieferungen »alle Kennzeichen der Richtigkeit und Wahrscheinlichkeit«, was auch dann Geltung beanspruchen kann, wenn man »das götliche Ansehen beiseite setzt, und sie nur als eine menschliche Schrift betrachtet«.69 Doch obwohl die Schriften des Moses die einzigen sind, denen man in den ersten Zeiten folgen kann, mochte sich George Sale, der Verfasser der ersten Abschnitte der Algemeinen Welthistorie,70 nicht auf »die Geschichte der Erzväter vor der Sündflut« beschränken.71 Um den Anfang der Geschichte als ein offenes Diskussionsforum vorzuführen, in das der kritische Leser der Algemeinen Welthistorie einbezogen werden konnte und sollte, erörtert er verschiedene Auslegungen des Pentateuch sowie auch »heidnische Geschichten vor der Sündflut«,72 deren größter Teil zwar keinen Glauben verdiene, doch wie »alles, was nur den geringsten Anspruch auf ein hohes Altertum macht, nicht anders als reizend und merkwürdig seyn kann«.73 »Reizend und merkwürdig«, d.h. im Wortverständnis der Zeit: das Nachdenken anregend und wichtig, ist für die Verfasser der Algemeinen Welthistorie nicht nur der Ursprung des Menschen. Da die Erde der »Schauplatz ist, worauf die Auftritte der folgenden Geschichte vorgestellet werden sollen«, werden auch Fragen der KosmoUebersetzung der Algemeinen Welthistorie, 4. Ebd., Vorrede der Verfasser, 60. 70 Vgl. zu Sale und seinem Konzept der Frühgeschichte Ricuperati, Universal History, 13 ff. u. 62 ff. Ricuperatis Interpretation, insbesondere des Verhältnisses von heiliger und profaner Überlieferung (die biblische Geschichte sei für Sale ebenso obskur wie profane Überlieferungen, 64), weicht allerdings von der hier vorgeschlagenen Lesart ab. 71 Vgl. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede der Verfasser, 61. 72 So der Titel des entsprechenden Abschnitts (Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, 178–194). 73 Ebd., Vorrede der Verfasser, 61. 68 69

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gonie und Geogonie berücksichtigt.74 Sale beschränkt sich auch bei diesem Thema nicht auf den mosaischen Bericht (die einzige »ächte und urkundliche Nachricht von der Schöpfung«).75 Neben antiken (»heidnischen«) Meinungen werden vor allem moderne Hypothesen erörtert. Da nämlich die Genesis »sehr kurz« abgefaßt, für das Fassungsvermögen des Volkes, das sie unterrichten sollte, eingerichtet worden sei, »ist dadurch zu mancherley Erklärungen und zur Anerkennung höchst verschiedener Hypothesen Gelegenheit gelassen worden«.76 Die Anfänge der Geschichte zeigen sich so dem Leser der Algemeinen Welthistorie als ein kompliziertes Geflecht unterschiedlicher Auffassungen, die biblischen Historien verwickelt in ein Netz naturphilosophischer Theorien und philologischer Auslegungen. Der einleitende Abschnitt zur Algemeinen Welthistorie ist ein Spiegel der Auseinandersetzungen, die in England im Spannungsfeld von neuer Wissenschaft, vernünftigem Christentum und biblischer Apologie geführt wurden.77 Sale löst dieses Netz nicht auf, bietet seinen Lesern keine neue Gesamterklärung an.78 Die unterschiedlichen Überlieferungen zur frühesten Geschichte sowie die darauf sich beziehenden Meinungen und Hypothesen werden am Maßstab historischer Kritik gemessen. In diesem methodisch geführten Prozeß historischer Wahrheitsfindung aber spielen die biblischen Erzählungen über den Anfang der Geschichte eine ambivalente Rolle. Sie sind zwar die sicherste historische Überlieferung, doch sind auch sie, betrachtet als »Nachrichten«, die Aufschluß geben über vergangene »Begebenheiten«, historische Quellen und als solche durch Ort, Zeit und Umstände ihrer Entstehung geprägt. So heißt es beispielsweise bei der Frage nach der geographischen Lage des Paradieses bzw. bei der Erläuterung der verschiedenen Meinungen zu diesem Thema, man dürfe hier wegen der »Unvolkommenheit der mosaischen Beschreibung« keine gewisse Lösung erwarten. Die Beschreibung Mosis komme nämlich »mit dem Zustande derselben Gegenden nicht überein«, wo sich das Paradies »aller Warscheinlichkeit nach« befand, Vgl. ebd., 59. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, 77. 76 Ebd., Vorrede der Verfasser, 78; Sale ist also Anhänger der Akkomodationstheorie. Drei Abschnitte solcher Hypothesen werden vorgestellt: »Von der Meinung derer, welche die Welt in Ansehung der Materie und Form vor ewig gehalten« (7–22); »Von der Meinung derer, welche dafür halten, daß zwar die Materie, aber nicht die Form der Welt ewig sey« (22–68); »Darin die Meinung derer vorgetragen wird, welche nicht nur glauben, daß die Welt einen Anfang genommen, sondern daß sie auch einmal ein Ende haben werde« (68–116). 77 Dazu: The Uses of Antiquity. The Scientific Revolution and the Classical Tradition, hg. v. Stephan Gaukroger, Dordrecht-Boston-London 1991, darin besonders John Gascoigne, »The Wisdom of the Egyptians« and the Secularisation of History in the Age of Newton, 171–212. Sales Referenzautoren sind vor allem Edward Stillingfleet und Ralph Cudworth, auch Pierre Bayle. Den beiden letzten sei er, kritisiert Baumgarten in der Fußnote, »manchmal zu viel gefolgt« (Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, 4, Anm. 1.B.). 78 Vgl. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede der Verfasser, 63. 74 75

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»weder mit dem gegenwärtigen, noch mit dem vormaligen«. Die Darstellung sei »nach Mosis Begrif von diesen Gegenden, und nach der unvolkommenen Erkentnis, so man in diesen alten Zeiten von der Welt gehabt«, konzipiert; auch die Berufung auf Veränderungen durch die Sintflut sei kein schlagendes Argument, »indem Moses die Gegend so beschreibet, wie dieselbe zu seiner Zeit beschaffen gewesen«.79 Was die biblischen Erzählungen überliefern, ist damit zwar sicher und gewiß, aber es handelt sich nur um historische Nachrichten von beschränkter Aussagekraft. So kann die biblische Überlieferung der frühesten Geschichte auch nicht als philosophische Theorie über die Entstehung der Welt gelesen werden, ebenso nicht entsprechende philosophische Hypothesen stützen. Eine Auslegung der mosaischen »Urkunde«, die das buchstäbliche (historische) Verständnis allegorisch überschreitet,80 erscheint deshalb »gar zu verwegen und wilkürlich«. Dies gilt besonders für die Hypothesen über die Entstehung der Erde, die (mit unterschiedlichen Akzenten) Thomas Burnet und William Whiston aufgestellt hatten. Sale behandelt die Werke der einflußreichen englischen Erdhistoriker (»Theoristen«), »deren einer sich durch die Schönheit seiner Einbildungen und Schreibart; der andere aber durch die Stärke der Vorstellung und des Zusammenhangs sich hervorgethan«, ausführlich und detailliert, kritisiert aber vor allem Burnets große Freiheit in der Auslegung der Schrift, »indem er vorausgesetzt, daß die götlichen Schriften nicht allezeit so buchstäblich und eigentlich verstanden werden müsten, wie man gemeiniglich geglaubet«.81 Die biblische Überlieferung bleibt ein absoluter Maßstab, der der methodischen Bestimmung der Wahrscheinlichkeitsgrade historischer Überlieferung nicht unterworfen wird, doch ihre Geltung ist auf die berichteten Begebenheiten eingeschränkt. Damit werden Auslegungen problematisch, die die gesamte Frühgeschichte im Spiegel der mosaischen Urkunde interpretieren, ebenso aber auch Versuche, die profanen Erzählungen der Frühgeschichte als durch Überlieferung verdorbene Schwundstufen des biblischen Berichts zu lesen. Sanchuniathon, Manetho und Berosus, die nur fragmentarisch überlieferten orientalischen Darstellungen der Ursprünge und Frühzeit der Menschen, deren Auslegung in der Frühen Neuzeit großen Einfluß hatte, zeigen sich so als relativ unabhängige Überlieferungsstränge. Sale behandelt sie deshalb als selbständige, von den biblischen Historien getrennte Erzählstränge.82 Ihr historischer Wahrheitsgehalt läßt sich nicht einfach im Verhältnis zur Bibel bestimmen, um sie

Auch Baumgarten bestätigt im Prinzip in seiner Fußnote diese Einschätzung, hält es aber für unerweislich, daß die Nachrichten des Moses unrichtig waren; ebd., 124 f. u. Anm. 108.B. 80 Wie die »alegorischen Auslegungen« des Sündenfalls (ebd., 127 ff.). 81 Vgl. ebd., 80 ff. 82 Im Abschnitt »Von den heidnischen Geschichten vor der Sündflut« (ebd., 178 ff.) des Ersten Hauptstücks (Die algemeine Welthistorie bis auf die Sündflut, 117 ff.). Die einzig »zuverlässigen Nachrichten von diesen ältesten Zeiten« überliefere zwar Moses, doch haben auch einige andere 79

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entweder als davon abhängig oder als unglaubwürdig zu qualifizieren.83 Ihre Glaubwürdigkeit muß als methodische Untersuchung, unter Anwendung der Kriterien historischer Wahrscheinlichkeit, differenziert erörtert werden.84 Moses ist damit nicht der einzige Lichtstrahl, der die Dunkelheit der frühesten Zeiten durchdringt. Doch besitzen Nachrichten, die im Unterschied zur Erzählung des Moses die damaligen Zeiten nicht »unmittelbar« repräsentieren, sondern sich nur als zerstreute »Ueberbleibsel« bei späteren Schriftstellern finden, überhaupt irgendeinen Grad an Glaubwürdigkeit? Und mit welchem Recht darf aus ihnen ein »neuer Zusammenhang«, eine historische Erzählung rekonstruiert werden?85 Die Beantwortung dieser Fragen sah sich mit dem geläufigen, etwa von Ludewig besonders prägnant ausgearbeiteten Argument konfrontiert, daß die weltlichen Schriftsteller, die »von den ursprünglichen und ersten Altertümern der Völker gehandelt haben«, Dichter waren, die »ihre Berichte gemeiniglich mit tausend Fabeln vermenget haben«. Die Vorrede der Verfasser der Algemeinen Welthistorie setzt sich ausführlich mit diesem Argument auseinander, und zwar in Form einer methodischen Relativierung der daraus abgeleiteten abstrakten Entgegensetzung von Gewißheit und Fabel. Eine gewisse »Nachricht von den ersten Zeiten« kann von weltlichen Schriftstellern nicht erwartet werden. Die Rekonstruktion der Frühzeit, soweit sie auf weltliche Überlieferungen angewiesen ist, muß mit einer Abstufung der Glaubwürdigkeit der Nachrichten rechnen. Die Verfasser der Algemeinen Welthistorie orientieren sich bei dieser Differenzierung an dem antiken, auf Varro, den Prototyp des antiquarischen Gelehrten, zurückgehenden dreigliedrigen Epochenmodell, nach dem die Frühgeschichte teilweise schon in der Frühen Neuzeit hinsichtlich der Gewißheit der über sie überlieferten Berichte in eine »unbekannte«, »fabelhafte« und »historische« Zeit unterschieden wurde. Der Rechtfertigung weltlicher Schriftsteller als historische Quellen zur Rekonstruktion der Frühzeit dient dieses Modell als Rahmen, in den weitere Differenzierungen eingezogen werden. Die unbekannte Zeit reicht in der Algemeinen Welthistorie vom Beginn der Zeit bis zur Sintflut, die fabelhafte Zeit von der Sintflut bis zur ersten Olympiade, die historische Zeit von der ersten Olympiade bis zu Gegenwart. Über die unbekannte, »vorsintflutliche« Zeit finde man bei weltlichen Schriftstellern nichts, heißt es in der Vor-

»alten Geschichtschreiber« »ziemliche Merkmale der Glaubwürdigkeit«, jedenfalls gilt auch hier: »alles, was den geringsten Anspruch auf ein so grosses Altertum machen kann«, muß »notwendig reizend und merkwürdig seyn« (ebd., 178). 83 Vgl. Rossi, The Dark Abyss of Time, 152. 84 Eine solche methodische Rechtfertigung der Einbeziehung von Sanchuniathon, Manetho und Berosus findet sich schon in der Vorrede der Verfasser (vgl. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede der Verfasser, 64 ff.). 85 Vgl. ebd., 79 (dort auch die folgenden Zitate).

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rede, »das einigen Schein der Wahrheit haben sollte«. Sale stellt zwar in der Darstellung dieser Epoche die Nachrichten aus Sanchuniathon, Manetho und Berosus zur Diskussion, doch mit den durch die Sintflut verursachten Umwälzungen beginne eine vollständig »neue Welt«.86 Ihr korresponiert in der Algemeinen Welthistorie eine neue Zeitrechnung nach »Jahren der Sündflut«. Zur Rechtfertigung dieses Einschnitts heißt es: »1) Weil der Zeitbegriff zwischen Schöpfung und der Sündfluth, ausser dem Alter und Tode eines jeden Erzvaters, wenig merkwürdiges enthält. 2) Weil es ein besonderer von der übrigen Zeit gleichsam abgeschnittener Zeitbegriff ist, der mit den Zeiten nach der Sündflut wenig oder gar keinen Zusammenhang hat. 3) Weil die alte Welt in der Sündflut zerstört worden, und zu der Zeit ein neuer Ursprung der Menschen angefangen, in deren Handel die Begebenheiten der Menschen vor der Sündflut wenig oder gar keinen Einflus haben. 4) Weil es dienlich seyn wird, dem Leser einen deutlichern Begrif von der Entfernung der Zeit zu machen, wenn dieselbe von einem Zeitbegrif hergeleitet wird, der uns unmittelbar angehet, und über welchen keine ächte Geschichte irgend eines Volks hinaus reicht. 5) Weil die verschiedenen Rechnungen der Schrift dadurch näher zu einer Uebereinstimmung gebracht werden, indem die grosse Verschiedenheit derselben hauptsächlich aus dem Unterschiede herrüret, den dieser Zeitbegriff verursachet«.87 Die erste Epoche der nachsintflutlichen, neuen Welt ist die fabelhafte Zeit.88 Die Rechtfertigung weltlicher Schriftsteller bezieht sich vor allem auf diese Epoche. Im Zentrum steht dabei die Auslegung der Fabeln als historische Dokumente, deren Glaubwürdigkeit durch Kriterien historischer Quellenkritik abgesichert werden kann. Nicht alles, was Dichter wie Homer geschrieben haben, bestehe »aus lauter Fabeln«, lautet das leitende Argument, denn ihre Grundlage war »sehr oft Wahrheit«, auch wenn diese »mit mancherley Erdichtungen verzieret worden«. So sei Homers Werk ein »Gedicht und eine Geschichte zugleich«, entdecke als »älteste Geschichte von Griechenland« auch den damaligen Zustand von Griechenland.89 Plausibilität gewinnt das Argument, daß Fabeln einen wahren historischen Kern besitzen, über die Art und Weise, wie die Bedingungen der Herstellung von früher Dichtung und Geschichtsschreibung als eine an Schrift gebundene Praxis vorgestellt werden. Nachdem Vgl. (in Anlehnung an Burnet): »Da entstand die Welt von neuem, und von dem kleinen Ueberrest, der in dem Kasten erhalten worden, ward das gegenwärtige Geschlecht der Menschen und Thiere in den bekanten Theilen der Erde fortgepflanzt. So gieng die alte Welt zu grunde, und aus ihren Trümmern und Ueberbleibseln entsprang die gegenwärtige« (Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, 196). 87 Ebd., Vorrede der Verfasser, 105 f. 88 Sie reiche nach Varro bis zur ersten Olympiade, nach Diodor bis zum Trojanischen Krieg (vgl. ebd., 79 f.); dazu Diodor, Bibliotheca Historica, I,4. 89 Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede der Verfasser, 80. Zu den Prinzipien frühneuzeitlicher Mythenauslegung vgl. den Überblick bei Petri (Die Urvolkhypothese, 46 ff.). 86

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nämlich der Gebrauch der Buchstaben eingeführt worden war, so das quellenkritische Argument, hätten die Menschen »Denkmale« für ihre Nachkommen hinterlassen.90 Daß es aber zum Zweck der Verzeichnung solcher Denkmale »Register« und »Archive« gegeben haben muß, bestätigten die alten Geschichtsschreiber selbst, indem sie sich vielfältig darauf berufen.91 Aus diesem Grund ist es »vernünftig anzunehmen, daß die Geschichtschreiber sowol hieraus als aus den Dichtern ihre Geschichte genommen haben, und folglich eben den Glauben verdienen; ja die Dichter selbst arbeiteten öfters mit schon zubereiteten Materialien, und verfasten nur in Versen, was sie in den Jahrbüchern ihres Landes verzeichnet fanden«.92 Die Vorstellung, daß die überlieferten Nachrichten aus der fabelhaften Zeit auf ein durch Schrift gesichertes historisches Fundament zurückgeführt werden können, macht sie der Differenzierung nach den Kriterien historischer Wahrscheinlichkeit zugänglich. Gelöst aus dem Verhältnis zur absoluten Gewißheit der biblischen Historien, ist die Glaubwürdigkeit der weltlichen Schriftsteller abhängig von methodischen Maßstäben, denen auch die Nachrichten aus der Neueren Geschichte unterworfen sind. Daß Begebenheiten verfälscht werden können, wie durch Priester, »die bey den meisten Völkern die Verfasser der ersten Jahrbücher gewesen«, betrifft auch die Neuere Geschichte. Doch welches Interesse könnte Anlaß gegeben haben, auch die »Hauptbegebenheiten« zu verfälschen? Außerdem sei der »Mangel von Uebereinstimmung der Verfasser« nicht auf eine bestimmte Phase der Geschichte beschränkt, vielmehr konstitutiv für die von je besonderen Perspektiven beherrschte Auffassung der Wirklichkeit und insofern auch ihrer Erzählung. Soweit dieser Mangel nicht geklärt werden kann, lautet die methodische Schlußfolgerung, ist er in den Fußnoten zu dokumentieren.93 Die hier angedeutete perspektivische Verfaßtheit der Historien wird Johann Martin Chladenius in seiner Allgemeinen Geschichtswissenschaft zu einer Theorie des »Sehepuncktes« ausbauen.94 Es sind zwar »die meisten Denkmale des Altertums verloren gegangen«, doch waren sie »grossen Theils zu der Zeit noch vorhanden, als die Geschichtschreiber, deren Werke auf uns gekommen sind, geschrieben haben«. Die wenigen Begebenheiten, die sie überliefern, geben so »einen Vorrat von Materialien« Vgl. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede der Verfasser, 80: »die Väter nemlich von ihren häuslichen Angelegenheiten: die Fürsten aber und obrigkeitlichen Personen von Dingen, so das gemeine Wesen betroffen. Das sind die ersten Geschichte der Menschen gewesen, und die ältesten Geschichtschreiber haben nichts anders gethan, als daß sie dieselben in eine bessere Gestalt gebracht haben«. 91 Zur Funktion dieser Belege bei antiken Antiquaren und Geschichtsschreibern Grafton, Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote, 164 ff. u. 175 ff. 92 Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede der Verfasser, 81. 93 Vgl. ebd. 94 Allgemeine Geschichtswissenschaft, 91 ff. 90

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an die Hand, »die man mit Hülfe der Richtkunst, deren Amt es ist, Warheit und Erdichtung von einander zu entscheiden, ohne Gefar in Jrtum verleitet zu werden«, gebrauchen kann: »Die Ueberbleibsel dieser ehrwürdigen Geschichtschreiber, so hin und wieder bey andern Schriftstellern aufbehalten worden, sind gleichsam so viel Stralen, die da mitten in der Dunkelheit, welche die ersten Zeiten umzogen, dienen, einen Weg durch den zerfalnen Steinhaufen zu finden«.95

B. Probleme der Chronologie und Kontinuität Die Argumente und Methoden, welche die Verfasser der Algemeinen Welthistorie zur Verteidigung der Möglichkeit in Anschlag brachten, die »Dunkelheit« der Frühgeschichte zu erforschen, mögen aus der Perspektive moderner historischer Quellenkritik beschränkt erscheinen. Sie sind es allein deshalb, weil sie sich auf erzählende Quellen konzentrieren. In dieser Hinsicht, also in der Beschränkung auf überlieferte Historiographie als Quellengrundlage ihrer Darstellung, schreibt die Algemeine Welthistorie die traditionelle Praxis universalhistorischer Kompendien fort, indem sie sich wie diese am Leitfaden überlieferter Geschichtsschreibung orientiert. Gesichtspunkte der Auswahl glaubwürdiger Historiker und ihre richtige chronologische Ordnung sind auch in den Traktaten zur Ars historica vom 16. bis zum 18. Jahrhundert das beherrschende Thema. Dokumentarische Quellen wie Münzen dienen den Verfassern der Algemeinen Welthistorie nur als »hilfswissenschaftliche« Erläuterungen der erzählenden Quellen.96 Doch im Kontext der noch nicht fachlich spezialisierten Wissensordnung, in der die Frage des Anfangs der Geschichte im 18. Jahrhundert erörtert wurde, besitzt die Rechtfertigung profaner historischer Quellen besondere Signifikanz. Sie formuliert den Willen, die Frühgeschichte als ein historisches Forschungsprojekt auszuzeichnen, das über die abstrakte Entgegensetzung von biblischer Wahrheit und profanen Fabeln hinausgeht. Die Integration unterschiedlicher Überlieferungen in einen methodisch zu kontrollierenden Forschungsprozeß, der die Grenzen historischer Erkenntnismöglichkeit ständig reflektiert und differenziert, wird dadurch zu einem kritischen Korrektiv von Auffassungen und Meinungen, die mit dem Anspruch auftreten, vollständige und endgültige Erklärungen geben zu können.97

Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede der Verfasser, 81. Vgl. ebd., 83 ff. 97 In Form des universalen Zweifels, der einzelne Kriterien der skeptischen Kritik verabsolutiert (dazu Völkel, »Pyrrhonismus historicus«, 229 ff.), und in Form absoluter Gewißheit, die den prinzipiell lückenhaften historischen Überlieferungszusammenhang mißachtet, der die Historie »in sehr enge Gränzen eingeschlossen« hat (Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, 3); zum Einfluß 95 96

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An diesem Prozeß historischer Differenzierung, den die Verfasser der Algemeinen Welthistorie intendierten und praktizierten, beteiligte sich auch der Theologe Siegmund Jacob Baumgarten. Möglichkeiten und Grenzen historischer Erkenntnis reflektiert seine einleitende Historik,98 der Überprüfung des historischen Wissens widmet er eine Fülle ausführlicher Fußnoten, die den Text der Algemeinen Welthistorie kritisch kommentieren. Neben den Fußnoten Baumgartens enthält die Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie noch Anmerkungen des Übersetzers Friedrich Eberhard Rambach,99 der englischen Verfasser und der holländischen Übersetzer. In der ersten Auflage der deutschen Übersetzung von 1744 wurden sogar offensichtliche Fehler der englischen Ausgabe übernommen und in den Fußnoten korrigiert, da der Verleger Gebauer mit den Subskribenten vertraglich eine kostengünstige und schnelle Übersetzung vereinbart hatte. In der Auflage der Übersetzung von 1747 (schon 1745 und 1746 waren Neuauflagen erschienen) rückten dann einige der Fußnoten Baumgartens in den Text.100 Baumgartens Fußnoten verweisen auf weiterführende Literatur und nicht ausgewiesene Belege, etwa wenn im englischen Original Teile ohne Angabe des Belegs anderen Texten entnommen sind,101 ergänzen die Ausführungen um weitere Gesichtspunkte und kritisieren einzelne Schlußfolgerungen der Verfasser. Dabei ist jeweils der Gesichtspunkt leitend, ob und wie die Schlußfolgerungen sich auf kritisch überprüfbare Quellen stützen können. Eine nur durch vernünftige Hypothesen erschlossene Aussage wird als problematisch markiert, etwa die, daß es vor der Sintflut »offenbar« keine Schiffe gegeben zu haben scheint: für Baumgarten eine Frage, die »sich nicht leicht entscheiden« läßt.102 Auch wendet er sich gegen die von Sale auf der Grundlage der samaritanischen Bibelversion erstellte Chronologie des Alters der Welt und zur Entwicklung der historischen Skepsis im gesamteuropäischen (philosophiegeschichtlichen) Kontext vgl. das Standardwerk von Carlo Borghero, La certezza e la storia. Cartesianesimo, pirronismo e conoscenza storica, Milano 1983. 98 Zu Recht wurde sie deshalb in die von Horst Walter Blanke u. Dirk Fleischer hg. Sammlung Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie (2 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1990) aufgenommen (Bd. 1, 174–205), allerdings nur in einem Auszug ohne die erläuternden Fußnoten; da es sich bei Baumgartens Fußnoten keineswegs um nebensächliche »gelehrte Exkurse« handelt, erschwert dies das Verständnis des Textes. 99 Friedrich Eberhard Rambach (1708–1775) – nicht zu verwechseln mit dem Verfasser der oben behandelten Kirchenhistorie Johann Jacob Rambach – war damals Diakon in Halle, ab 1751 dort Oberdomprediger, ab 1766 Oberkonsistorialrat des Fürstentums Breslau (nach DBA). 100 Vgl. Fortsetzung der Algemeinen Welthistorie, Bd. 50, Vorrede Gebhardis, X. 101 Wie etwa die kritische Erläuterung der Auffassungen, daß »Adam beiderley Geschlechts gewesen«; diese nämlich, zeigt Baumgarten, basiert ganz auf einer entsprechenden Fußnote zum Artikel »Adam« in Bayles Dictionnaire historique et critique (Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Anm. 88.B.). 102 Ebd., 360.

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und, wegen der damit verbundenen Marginalisierung der vorsintflutlichen hebräischen Geschichte, gegen die Zeitrechnung nach Jahren der Sintflut.103 Im Fall der frühesten Geschichte profiliert Baumgarten ganz generell stärker die Überlegenheit der biblischen Historien gegenüber profanen Überlieferungen. Vor allem kritisiert er die Auslegung des Sanchuniathon (ein durch Eusebius überliefertes Fragment) als Quelle für die Frühgeschichte, bei der die Verfasser der Algemeinen Welthistorie sich auf eine Abhandlung des englischen Bischofs Richard Cumberland gestützt hatten.104 Baumgartens Kritik stellt die historische Wahrheit (»ächte Richtigkeit«) von Sanchuniathons Ursprungsgeschichte in Frage und verwirft die Mutmaßungen, auf denen Cumberlands Auslegung basiert (»daß Sanchuniathons Absicht gewesen, die Abgötterey mit historischen Gründen zu vertheidigen; ferner daß er Mosis Schriften gehabt, und bey Verfertigung seiner Geschichten gebraucht; und endlich, daß er lieber Cains Geschlecht als die eigentlichen Vorfaren Noah solle zu Stiftern seines Gottesdienst erwälet haben«) als »sehr unwarscheinlich«. Die apologetische Schlußfolgerung seiner historisch-kritischen Analyse lautet: »Der beste Gebrauch dieses ganzen unächten, und wo nicht ganz untergeschobenen, doch wenigstens höchst verfälschten Ueberbleibsels, besteht in einer doppelten Entdeckung und Vermehrung des Werts der Schriften Mosis: indem daraus erhellet, theils wie elend es um die ältesten Geschichte aussehen würde, und was uns vor Quellen derselben übrig bleiben würden, wenn wir dieser Urkunden ermangeln solten; theils wie wenig ächte und richtige Urkunden und Ueberlieferungen des ersten Altertums andere Völker gehabt haben müssen, indem sie genötiget worden, durch Entlenung einiger Begebenheiten aus den Nachrichten des jüdischen Volks ihren ungereimten Geschichten einigen Schein der Glaubwürdigkeit zu ertheilen«.105 Auch wenn Moses die ältesten und glaubwürdigsten Nachrichten von den frühesten Zeiten überliefert, so sind diese doch auch für Baumgarten historische Erzählungen, aus denen nicht die gesamte Frühgeschichte abgeleitet werden kann. Die Offenbarung als eine historische Wahrheit verteidigt Baumgarten zwar, schärfer als Sale, gegen ihre naturphilosophische, hypothetische Auslegung, etwa durch Burnet und Vgl. ebd., Vorrede der Verfasser, 38.B.; die Kritik der samaritanischen Chronologie ist auf mehrere Fußnoten des gesamten ersten Bandes verteilt (vgl. schon die kritischen Kommentare zur Begründung dieser Entscheidung in der Vorrede der Verfasser, ebd., 98 ff.). 104 Vgl. ebd., 65 f., im Text 179 ff. 105 Ebd., 153.B. bzw. 208.B. Cumberlands viel diskutierte Übersetzung und ausführliche Kommentierung des Sanchuniathons wurde später auch ins Deutsche übersetzt: Phoenicische Historie des Sanchoniathons, aus dem 1sten Buche des Eusebius de Praeparatione Evangelica übersezzet […]. Aus dem Engländischen übersezzet, und mit Anmerkungen vermehret von Johann Philip Cassel, Magdeburg 1755 (die Vorrede des Übersetzers dokumentiert die gelehrte Debatte über Sanchuniathon, auch die Fußnoten »des grundgelehrten Herrn D. Baumgartens« im ersten Band der Algemeinen Welthistorie). 103

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Whiston,106 aber auch gegen theologisch-philosophische Spekulationen wie die »übertriebenen Meinungen von Adams Gemütskräften und Wissenschaften« (die schon von Reimmann sowie Heumann widerlegt worden seien).107 Doch weil das, was die biblischen Historien offen gelassen haben, nicht dem skeptischen Zweifel und den philosophischen Hypothesen der »Freigeister« überlassen werden darf, kann die historische Darstellung der ältesten Geschichte sich auch bei Baumgarten nicht auf den Bericht des Moses beschränken. Die profane Geschichtsüberlieferung muß ergänzend herangezogen und kritisch überprüft werden. So kommentiert Baumgarten die Forschungskontroversen zur Glaubwürdigkeit des Manetho, der umstrittenen Quelle zur ägyptischen Frühgeschichte und Chronologie, wie folgt: »gänzliche Verwerfung seiner Nachrichten scheint zwar der leichteste und kürzeste Weg zu seyn, aus manchen Schwierigkeiten zu kommen: ist aber zugleich höchst unsicher, und gereicht nicht nur zur grossen Verminderung der Nachrichten des Altertums, davon wir ohnedis arm genug sind; sondern auch zur Entkräftung der Glaubwürdigkeit aller übrigen änlichen Urkunden, deren keine von Schwierigkeiten frey ist, die sich noch wol auf andere Art theils heben, theils vermindern lassen.«108 Daß profane Texte zur Frühgeschichte oft Ungewißes, Zweifelhaftes, ja Unwahrscheinliches berichten, ist kein prinzipieller Einwand gegen ihre Auswertung als historische Quellen: »Ein ansenlicher Theil von Hauptbegebenheiten der Geschichte kan zur Gewisheit, und ein noch grösserer zur überwiegenden Warscheinlichkeit gebracht werden. Viele Begebenheiten, und noch mehr Umstände derselben, sind ungewis oder zweifelhaft, ja unwarscheinlich; manche Nachrichten aber ungegründet, ja erweislich falsch. Indessen gehört die Einsicht der Unrichtigkeit dieser letztern, sowol als die Richtigkeit der erstern, zur volständigen Geschichtkunde«.109 Es muß also berücksichtigt werden, »daß die Erweislichkeit der Begebenheiten ihre verschiedenen Stufen und Grenzen habe«110 und die darauf sich gründenden Schlußfolgerungen diese »Erweislichkeit« nicht überschreiten dürfen. Daß historische Rekonstruktionen nur zu wahrscheinlichen Erkenntnissen führen, nur innerhalb der Grenzen der zu ihrer Erforschung angewandten kritischen Methode Gewißheit beanspruchen können, ist für die moderne historische Praxis und Vgl. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, 74.B. ff. Vgl. ebd., 87.B. Zu Heumanns Kritik vorliegende Arbeit, Teil III, S. 115 ff. Außerdem verweist Baumgarten auf zwei wenig später erschienene Dissertationen des Altdorfer Philosophie- und Philologieprofessors Jacob Wilhelm Feuerlin (1689–1766), der ebenfalls Adams perfektes Wissen in Frage gestellt hatte: Dissertatio philosophica de philosophia Adami pvtatitia (Resp.: Vitvs Hieronymus Regenfvs), Altdorf 1715; Dissertatio inauguralis de Adami logica, metaphysica, mathesi, philosophia practica, et libris (Resp. war wiederum Regenfvs), Altdorf 1717. 108 Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, 353.B. 109 Ebd., Vorrede Baumgartens, 20 f. 110 Ebd., 20. 106 107

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ihre Reflexion nichts Beunruhigendes. Von einer solchen Sicherheit konnte noch das 18. Jahrhundert nicht ausgehen. Mutmaßliche, wahrscheinliche Erkenntnisse erschienen im Kontext von rationalen, logischen und metaphysischen Wahrheitskonzepten als Erkenntnisse minderen Rangs und bedurften eines besonderen Aufwandes an Rechtfertigung.111 Als problematisch zeigte sich die eingeschränkte historische Gewißheit besonders im Blick auf das Fundament der Universalhistorie, die am Leitfaden biblischer Chronologie nach Jahren seit Erschaffung der Welt berechnete absolute Chronologie. Die Frage, wie die profanen Historien auf das Gerüst biblischer Generationenfolge zu beziehen sind, war schon für die Anfänge christlicher Universalhistorie wichtig. Aus ihrer in der Frühen Neuzeit auf erweiterter (antiker) Textgrundlage mit neuen Methoden betriebenen Differenzierung entwickelte sich die historische Chronologie als hoch komplexe, vor allem von Philologen bearbeitete Spezialdisziplin.112 Ohne die richtige Ordnung der Zeit, heißt es in der Vorrede zur Algemeinen Welthistorie, ist die Geschichte »blos ein Chaos von zusammen gehäuften Begebenheiten«, erst die Gewißheit in der Chronologie entzündet das »Licht der Geschichte«.113 Doch war die Erstellung eines absoluten Leitfadens der Chronologie, auf den die Begebenheiten der verschiedenen Völker bezogen werden konnten, dem »Faden der Ariadne gleich, der unsre Schritte durch alle Krümmen des Labyrinths leitet«, ein schwieriges Unterfangen. Umstritten war, welche Textüberlieferung der Bibel als Grundlage dienen sollte, vor allem aber die ungewisse Zeitrechnung der antiken Völker und ihre Verrechnung mit der biblischen Chronologie.114 Den »gewaltigen Unterschied« unter den damaligen Chronologen dokumentiert eine Tabelle in der Algemeinen Welthistorie mit über hundert unterschiedlichen Berechnungen.115 Wenn Ausführungen zur Chronologie in den Bänden der Algemeinen Welthistorie zur Frühgeschichte viel Raum einnehmen, ist dies also nicht Ausdruck eines speziellen Interesses. Es dokumentiert die Bedeutung, die die absolute Chronologie für die Vgl. Völkel, »Pyrrhonismus historicus«, 205 ff., 335 ff. Vgl. Anthony Grafton, Joseph Scaliger. A Study in the History of Classical Scholarship, 2 Bde., Bd. 2: Historical Chronology, Oxford 1993; als Überblick: Ders., Joseph Scaliger and Historical Chronology: The Rise and Fall of a Discipline, in: History and Theory 14 (1975) 156–185. 113 Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede der Verfasser, 82 (dort auch das nächste Zitat). 114 Vgl. den Kommentar im Anschluß an die Dokumentation der verschiedenen Berechnungen zur frühen ägyptischen Chronologie: »Mishelligkeiten dieser verschiedenen Folgen der egyptischen Könige, beides in Ansehung ihrer Namen und der Jahre ihrer Regirung, ist so groß, und es giebt darin solche Lücken und so offenbar verdorbene Stellen und Versehen, daß es eine vergebliche Arbeit zu seyn scheinen möchte, wenn man sich bemühen wolte, sie in eine solche zusammenhängende Zeitrechnung zu bringen, daß sie untereinander, oder gar mit der heiligen Schrift und mit den chronologischen Anmerkungen andrer Geschichtschreiber übereinstimmen sollten« (Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, 489). 115 Vgl. ebd., Vorrede der Verfasser, 100 ff. 111 112

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Konstitution der Universalhistorie damals besaß, sowie: die große Zahl von Arbeiten, die zu dieser verwickelten Materie vorlagen und erörtert werden mußten. Die Chronologie war in der Frühen Neuzeit ein umkämpftes Feld, ein »Zankapfel der Gelerten«,116 der immer neue Lehrgebäude und als »endgültig« angepriesene Lösungen hervortrieb. Die »Zeitrechner«, so Baumgartens kritischer Kommentar, bauen »oft auf sehr wilkürlichen Gründen und Mutmassungen ein Gebäude der bestimmtesten und aufs genaueste ausgerechneten Geschichte«, indem sie alles das, »was sich in dasselbe nicht schicken will«, übergehen und verwerfen.117 Die umstrittene Chronologie der alten Geschichte mit ihren willkürlichen (»verwegenen«) Lösungen trug wesentlich dazu bei, die Historie dem Zweifel auszusetzen, provozierte die »Klage über die äusserste Ungewisheit der Geschichte«.118 Deshalb sind die von Baumgarten herausgegebenen Erleuterungschriften zu den ersten Bänden der Algemeinen Welthistorie vor allem dem Thema Chronologie gewidmet.119 Zwar kommen auch die Verfasser dieser Schriften zu unterschiedlichen Ergebnissen, doch »daß mehrere Meinungen und Lehrgebäude gegen einander gehalten werden, sonderlich in Sachen, die keiner eigentlichen Wissenschaft fähig sind, sondern nach überwiegender Wahrscheinlichkeit beurtheilt werden müssen«, diente, so Baumgarten, der »Erweiterung und Verbesserung der Einsichten«.120 Daß das prekäre Problem der antiken Chronologie mit ihren widerstreitenden Lehrgebäuden in den Griff zu bekommen ist, die »Erweiterung und Verbesserung der Einsichten« durch ein Regelwerk methodischer Kritik abgesichert werden kann, hat Baumgartens Schüler Johann Salomo Semler in einer kurzen Abhandlung zur ägyptischen Chronologie scharfsinnig vorgeführt.121 Semlers Untersuchung fügt sich nicht dem gewöhnlichen Schema chronologischer Spezialuntersuchungen. Sie läßt sich nicht näher auf die inhaltliche Analyse und So Christoph Wilhelm Beyer im ersten Band der von Baumgarten herausgegebenen Samlung von Erleuterungschriften und Zusätzen zur algemeinen Welthistorie (Grundsätze der egyptischen Zeitrechnung, 1–114, hier 1). 117 Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, 358.B. 118 Ebd., Vorrede Baumgartens, 37 (sowie 41). 119 Die »Abhandlungen der schwerern und ungewissern Zeitrechnung«, so Baumgarten, werden erst »mit der alten Geschichte aufhören« (Samlung von Erleuterungschriften und Zusätzen zur algemeinen Welthistorie, Bd. 1, Vorrede Baumgartens, 10). 120 Ebd., 5. Außerdem, so die apologetische Schlußfolgerung, erweisen diese Unterschiede »die Unzulänglichkeit alles aus so ungewissen Zeitrechnungen hergeleiteten Widerspruchs gegen die Nachrichten der heiligen Schrift« (ebd.; die Abhandlungen betreffen die ägyptische Zeitrechnung). 121 Johann Salomon Semler, Anmerkungen zur egyptischen Geschichte im ersten Theil der algemeinen Welthistorie, in: ebd., 403–442. Zu Semler gibt es eine reiche Forschungsliteratur, vgl. Gottfried Hornig, Über Semlers theologische Hermeneutik, in: Unzeitgemäße Hermeneutik, Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung, hg. v. Axel Bühler, Frankfurt a. M. 1994, 192–222, Ders., Johann Salomo Semler, 302 ff. 116

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Widerlegung der verschiedenen Systeme ägyptischer Zeitrechnung ein und entwirft auch keine »unumstöslichen und notwendig richtigen Grundsätze dieser Zeitrechnung«. Gegenüber solch hohen Ansprüchen gibt sich sein Erkenntnisinteresse bescheiden: »Wir wollen nur zu mehrerer Untersuchung und Prüfung der bekantesten Meinungen Gelegenheit geben«.122 Semler interessiert sich für die Struktur der Argumente, die Prämissen und Schlußverfahren, ihr Quellenfundament und die darauf aufbauende Auslegung. Das nüchterne Ergebnis seiner kritischen Bestandsaufnahme lautet: Die vorliegende Forschung ist, gemessen an ihrem Anspruch »unumstöslicher und notwendig richtiger Grundsätze«, defizitär. Ohne das Hilfsmittel von »Mutmassungen«, die den »Mangel wirklicher historischer Nachrichten ersetzen müssen«, läßt sich beispielsweise die Frage nach der Verbindung der ägyptischen Zeitrechnung mit derjenigen anderer früher Völker nicht erörtern.123 Es ist dieses mutmaßliche Schlußfolgern, das Semler der Kontrolle der historischen Kritik unterstellen will. Zwar darf von Mutmaßungen kein Beweis der notwendigen Wahrheit erwartet werden, dennoch »müssen und können doch auch Mutmassungen ihren Grund und vorzügliche Wahrscheinlichkeit« haben: »Wo also dergleichen felet, oder zu den daraus hergeleiteten Folgerungen nicht hinreichend ist, wird die ganze darauf gebaute Zeitrechnung ungewis, unerweislich und willkürlich seyn«.124 Auch wenn Semler die Kriterien zur Beurteilung historischer Mutmaßungen am Problem der ägyptischen Chronologie entwickelt und erläutert, kommt den abschließend in Form eines Katalogs zusammengestellten methodischen Regeln allgemeine Geltung zu. Schon Baumgarten hatte in seiner Rechtfertigung der Historie gegen die »eingerissene Zweifelsucht« herausgearbeitet, daß die historische Rekonstruktion meist nur zu wahrscheinlichem Wissen führt, die Relativität historischer Erkenntnis aber dennoch ebenso »scharfsinnig seyn kan, als die Vorstellung algemeiner Warheiten«.125 Semlers Kriterienkatalog zur methodischen Überprüfung historischer Mutmaßungen ist eng mit den von Baumgarten entwickelten Kriterien der Quellenkritik verknüpft. Mutmaßliches Schlußfolgern hat von der möglichst umfassenden Bestandsaufnahme und kritischen Analyse der historischen Überlieferung auszugehen. Die historischen Nachrichten sind Kontrollinstanzen bei der Beurteilung der Schlußfolgerungen. Zentraler Gesichtspunkt historischer Kritik ist die Untersuchung der Entstehungszeit der Nachrichten, d.h. die Bestimmung des zeitlichen Abstands zu

Semler, Anmerkungen zur egyptischen Geschichte, 405 f. »Da dergleichen Untersuchungen zum Endzweck haben, diese Zeitrechnung und Geschichte mit der biblischen und anderer Völker Geschichten zu verbinden: so ist um so viel mehr Behutsamkeit dabey nötig, je mehr oft Mutmassungen den Mangel wirklicher historischer Nachrichten ersetzen müssen« (ebd., 439). 124 Ebd. 125 Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede Baumgartens, 36 bzw. 4. 122 123

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den Ereignissen, von denen berichtet wird.126 Historische Mutmaßungen müssen die »erweisliche Glaubwürdigkeit« historischer Nachrichten anerkennen, die in der Beweisführung nicht willkürlich ausgeschlossen werden dürfen. Denn wenn »jede noch so entfernte Mutmassung einen berechtigen könte, alte Berichte für unrichtig auszugeben: würde die ganze alte Geschichte den unverantwortlichsten Mishandlungen unterworfen werden«.127 Von besonderem Gewicht ist dabei der historische Zusammenhang der Nachrichten, deren jeweils zeitspezifischen »Umstände« müssen zur Geltung gebracht werden.128 Es ist vor allem die Regel, daß ein historischer Bericht nur »nach dem jedesmaligen ganzen Zusammenhange« beurteilt werden kann, die für Semler zum kritischen Korrektiv willkürlicher Auslegungen und darauf sich gründender Mutmaßungen wird. In der Isolierung wird die historische Nachricht einer Beweisabsicht unterstellt und dient damit bloß dem Zweck, »angenommene Meinungen« zu bestätigen.129 Die Beispiele, die Semler zur Verdeutlichung dieses Verfahrens anführt, verweisen auf gängige Interpretationen der Frühgeschichte, die unter dem Zwang stehen, im Vergleich von »ältesten« Überlieferungen verschiedener Völker Analogien auffinden zu müssen und dadurch die Differenzen der Geschichte (sowie: die Möglichkeit ihrer Differenzierung) einzuebnen. Man könne nicht um anscheinender Ähnlichkeiten willen sich die Freiheit eines unkontrollierten, d.h. einer nicht kontextbezogenen Auslegung nehmen: »Wenn man nun die Zeit, Ort, und andern Umstände«, wodurch Begebenheiten allein unterschieden werden könnten, »für nichts achtet, und zu fabelhaften Vorstellungen rechnet: so kan man mit dem Gerard Crusius die Gedichte des Homers für eine Geschichte der Patriarchen und alten Juden, oder mit dem Franc. Bianchini, der Aethiopier; Egyptier und Assyrer halten, und bey den Vergleichungen, die Plutarch mit einigen Stücken der römischen und griechischen Geschichte versucht hat, allezeit die eine für erdichtet, und nur nachgeamet ausgeben«.130 Zur Disposition steht damit auch das Modell, das für die Auslegung der Frühgeschichte in der Frühen Neuzeit maßgeblich war, nämlich die Herrschaft der biblischen über die profanen Historien. Wie auch immer die Nachrichten profaner (heidnischer) Schriftsteller im Spiegel der biblischen Offenbarung ausgelegt wurden, damit die Texte aufeinander bezogen werden konnten, mußten sie aus ihrem historischen Zusammenhang gelöst werden. Insofern ergeben sich aus einer solchen Vergleichs-

Vgl. Semler, Anmerkungen zur egyptischen Geschichte, 439 f. Ebd., 440. 128 Vgl. ebd. 129 »Es gehet vielen Zeitrechnern so, daß sie die Berichte der alten Schriftsteller mehr nach ihren angenommenen Meinungen auslegen und erklären, als nach dem jedesmaligen ganzen Zusammenhange beurtheilen« (ebd.). 130 Ebd. 126 127

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beziehung, ausgehend von Semlers methodischem Regelwerk, nur »zufällige sehr entfernte Aenlichkeiten«.131 Semlers Nachweis, daß »auch Mutmassungen ihren Grund und vorzügliche Wahrscheinlichkeit haben« können,132 ist mit einer Disziplinierung historischer Auslegung erkauft.133 Mutmaßungen müssen sich vor dem Potential historischer Kritik rechtfertigen, die Historiker haben darauf Rücksicht zu nehmen, daß historische Texte eingebunden sind in Zeit, Ort und historische Umstände und dadurch nur beschränkte Aussagekraft besitzen. Davon aber ist auch die Bibel als historische Quelle für die Frühgeschichte betroffen.134 Die Methodisierung der historischen Forschung bedrohte so die Eignung dieser Forschung zur Apologie biblischer Offenbarung, die Semlers Lehrer Baumgarten sich von einer methodisch betriebenen Erforschung der Historien erhofft hatte. Die Darstellung der zusammenhängenden Folge von Jahren seit der Erschaffung der Welt bis zur Gegenwart verdeutlichte in der Frühen Neuzeit nicht nur die Überlegenheit der christlichen Universalhistorie gegenüber der antiken Historiographie. Der Zusammenhang der Zeiten versinnbildlichte die Einheit der Universalhistorie, verknüpfte die Gegenwart mit dem Anfang der Geschichte. Deshalb hatte die ratio temporum so großes Gewicht. Diese Frage beschäftigte auch Semler. Doch für seine wie auch für Baumgartens Vorstellung des Zusammenhangs der Universalhistorie ist die lineare Ordnung und Geschlossenheit der Chronologie nicht konstitutiv.135 Kontinuität und Einheit erhält die Historie durch ihre Repräsentation in Form einer pragmatischen Erzählung des wechselseitigen Zusammenspiels von Begebenheiten, welche auf der methodischen Rekonstruktion überlieferter Nachrichten gründet. Chronologie ist für den Prozeß der Herstellung historischer Zusammenhänge ein

Dazu die Regeln 4–6 (ebd., 440–442), die der speziellen Kritik willkürlicher Mutmaßungen gewidmet sind. 132 Deutliche Bezüge hat die methodische Rechtfertigung der historischen Wahrscheinlichkeit durch Baumgarten und Semler zur französischen, von der Académie des Inscriptions et Belles Lettres initiierten Auseinandersetzung um die römische Frühgeschichte. Baumgarten verweist insbesondere auf Nicolas Freret. Zu dieser Auseinandersetzung und Freret Grell, L’histoire entre érudition et philosophie, 81 ff., und die Beiträge in: Dies. u. Catharine Volpilhac-Auger (Hg.), Nicolas Fréret, légende et vérité, Oxford u. Paris 1994; zur deutschen Rezeption Völkel, »Pyrrhonismus historicus«, 292 ff. 133 Dazu, im Blick auf Semlers historisch-kritische Bibelexegese, Hornig, Über Semlers theologische Hermeneutik. 134 Eine nähere Untersuchung des Verhältnisses von historischer und biblischer Hermeneutik im 18. Jahrhundert wäre lohnenswert, besonders hinsichtlich der Frage nach dem Zusammenhang des Problems historischer Wahrscheinlichkeit mit der Differenzierung der »probabilitas hermeneutica«, die Baumgarten hinsichtlich der Gewißheitsgrade der Bibelauslegung vornimmt (dazu Danneberg, Siegmund Jacob Baumgartens biblische Hermeneutik, 143 ff.). 135 Zu Baumgartens Chronologiekonzept Schloemann, Siegmund Jacob Baumgarten, 175 ff.; Völkel, »Pyrrhonismus historicus«, 239 f. 131

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notwendiges Hilfsmittel (und deshalb hinsichtlich ihrer Gewißheit nach methodischen Regeln genau zu überprüfen), doch evident wird die Einheit der Historie nicht über die Zuordnung der Begebenheiten auf ein vorgefertigtes chronologisches Gerüst, sondern in der Entfaltung eines Erzählzusammenhangs. Für die als bloß technisches Hilfsmittel begriffene Chronologie ist die Zeitachse inmitten der Geschichte (Christi Geburt) mit ihren in die Vergangenheit und Zukunft offenen Skalen flexibler als die absolute Chronologie nach der biblischen Weltära. Zu den »Jahren der Sündflut«, so die Verfasser der Algemeinen Welthistorie, wurde immer »das Jahr vor Christi Geburt gesetzt«. Dies sei notwendig, denn die Angaben seien ansonsten immer nur auf die Lehrbegriffe des Verfassers eingeschränkt. Die Verknüpfung beider Zeitrechnungen, heben die Verfasser hervor, ist »eine von den grösten Verbesserungen in der Zeitrechnung« und für eine exakte Chronologie ebenso notwendig wie es für die Geographie die Angabe von Länge und Breite ist, um »die eigentliche Lage eines Orts« zu bestimmen.136 Dennoch setzte sich diese Praxis im 18. Jahrhundert nicht als ausschließliche Methode der Zeitrechnung durch. Solange nämlich die biblische Chronologie, sieht man von wenigen Ausnahmen ab,137 weiterhin als Leitfaden der Universalhistorie fungierte, war auch die Frage nach der absoluten Chronologie, speziell die Datierung des Anfangs der Geschichte, nicht obsolet.

3. Die General History und ihre deutschen Kommentatoren Die Algemeine Welthistorie erweist sich auch hinsichtlich ihrer eigenen Fortschreibung als jener unabgeschlossene, also revisionsbedürftige und Kritik verarbeitende Forschungsprozeß, den die Verfasser und ihr kritischer Kommentator Baumgarten methodisch vorantreiben wollten. So berücksichtigten die Bearbeiter der seit 1747, also drei Jahre nach der 1744 begonnenen Erstauflage der deutschen Übersetzung publizierten zweiten Londoner Auflage der Universal History viele der kritischen AnmerUebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede der Verfasser, 107 f. Zu den frühen Belegen der Zeitrechnung »ante Christum natum« Klempt, Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung, 81 ff. Eine nähere Untersuchung darüber, welche genaue Funktion der frühneuzeitliche Datierungsform ante Christum natum zukommt (die ja die traditionelle Form keineswegs ersetzt, sondern nur ergänzt), steht aus. 137 Schon Christoph Cellarius will sich auf die biblische Zeitrechnung als chronologisches Gerüst der gesamten Universalhistorie nicht mehr verlassen. Er spart sie in seiner Darstellung der Alten Geschichte ausdrücklich aus und dokumentiert die verschiedenen Meinungen der Chronologen nur mehr kommentarlos in einem tabellarischen Anhang: »Nihil in tam dubiis rebus, & ipsa antiquitate obscuris, definimus, praecipuas chronologorum sententias in Tabulis nostris distincte definiteque proposituri, vt quisque eligere possit, quam sacrae scripturae historiis, hoc est veritati conuenientem putabit« (Historia vniversalis, Bd. 1, 13; die angesprochenen »tabvlae synopticae« ebd., 149 ff.). 136

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kungen Baumgartens. Ein von der Vollkommenheit des englischen Originals überzeugter Rezensent der Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, der diese als pedantisches Machwerk eines deutschen Professors verurteilt hatte, wurde dadurch widerlegt.138 Auch das chronologische Gerüst der Alten Geschichte unterzogen die Bearbeiter der zweiten Auflage einer Revision, und sie orientierten sich dabei ebenfalls an den Vorschlägen Baumgartens.139 Schließlich wurde zur »Vervollkommnung« der Universal History die von Baumgarten herausgegebene Samlung von Erleuterungsschriften und Zusätzen zur algemeinen Welthistorie in Auszügen ins Englische übersetzt.140 Doch genügte die Darstellung des monumentalen Unternehmens selten den Ansprüchen eines Publikums, das weniger an kritischer Gelehrsamkeit als am literarischen »Geschmack« interessiert war. Gotthold Ephraim Lessings Beantwortung der Frage, »warum wir so wenige, oder auch wohl gar keinen vortrefflichen Geschichtschreiber aufzuweisen haben«, verdeutlicht das Dilemma der Produktion von Geschichtsschreibung: »Unsere schönen Geister sind selten Gelehrte, und unsere Gelehrte selten schöne Geister. Jene wollen gar nicht lesen, gar nicht nachschlagen, gar nicht sammeln; kurz, gar nicht arbeiten; und diese wollen nichts, als das. Jenen mangelt es am Stoffe, und diesen an der Geschicklichkeit, ihrem Stoffe eine Gestalt zu erteilen«.141 Ein ganz ähnliches Urteil fällte der Herausgeber von Thomas Abbts Fragment der Aeltesten Begebenheiten des menschlichen Geschlechts: »Der Erfolg von diesem widrigen Schicksale der kritischen und der gefälligen Geschichte ist, daß man beynahe nun verzweifelt, ob es möglich sey, in einem und eben demselben Werke, eine zuverläßige und zugleich eine angenehm unterrichtende Geschichte zu liefern«.142 Vgl. zu dieser Kritik in den von Johann Jakob Bodmer herausgegebenen Züricher Freymüthigen Nachrichten Baumgartens Antikritik in der Vorrede zu: Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie die in England durch eine Gesellschaft von Gelehrten ausgefertigt worden […] Genau durchgesehen und mit häufigen Anmerkungen vermeret von Siegmund Jacob Baumgarten, Bd. 7, Halle 1748 (= Geschichte der anderen griechischen Inseln), 6 ff. Im Kontext einer Apologie seiner Anmerkungen (sie könnten bei mangelndem Interesse ja ungelesen bleiben, durchgestrichen oder überklebt werden) verweist Baumgarten darauf, daß die englischen Verfasser der geänderten Neuausgabe eine Danksagung an ihn wegen seiner Anmerkungen annonciert hätten (ebd., 9). 139 Zur (auch durch »ideologische« Konflikte der Herausgeber veranlaßten) Revision der zweiten Auflage der Universal History Ricuperati, Universal History, 86 ff. 140 Vgl. Schloemann, Siegmund Jacob Baumgarten, 186, Anm. 77; der Titel lautet: A supplement to the English Universal History […] designed as an improvement and illustration of that work […] The whole carefully translated from the original German of the eminent Dr. Baumgarten, 2 Bde., London 1760. 141 Gotthold Ephraim Lessing, Briefe, die neueste Litteratur betreffend, 3. Theil, Berlin 1759, 113 f.: den 23 August. 1759. Zwey und funfzigster Brief (vgl. Friedrich Nicolai, Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Briefe die neueste Literatur betreffend, 24 Theile in vier Bänden, ND der Ausgabe Berlin 1759–1765, Hildesheim-New York 1974). 142 Thomas Abbt, Fragment der Aeltesten Begebenheiten des menschlichen Geschlechts, Halle 1767 (posthum, Erstausgabe 1766), Vorwort des Herausgebers Johann Peter Miller, 20. 138

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A. Marginalisierung der Frühgeschichte Als eine Geschichte der Welt, geeignet »mehr zum Lesen, als zum Nachschlagen«, empfiehlt Oliver Goldsmith in der Einleitung eine General History of the World,143 die seit 1764 William Guthrie und John Gray herausgaben und deren erster Band schon ein Jahr später in deutscher Übersetzung vorlag.144 Nachdem das Projekt einer Universal History schon auf 54 Bände angewachsen, seine Vollendung aber nicht abzusehen war, ja »unter der Last seiner eigenen Größe zu sinken« drohte,145 schufen die Bearbeiter der General History einen ausdrücklich »für das Publicum« gearbeiteten Abriß der Universal History, billiger im Preis und in einer »leichten und geläufigen Schreibart«.146 Der Leipziger Theologieprofessor Johann August Ernesti, Herausgeber der deutschen Übersetzung, berichtet in seiner Vorrede, daß Guthrie und Gray mit ihrer Ausgabe einem entsprechenden deutschen Projekt zuvorgekommen waren: Da die Universal History bzw. ihre deutsche Übersetzung eher als »eine Bibliothek der allgemeinen Historie, als eine allgemeine Historie« zu gebrauchen war, sei der Wunsch entstanden, einen Auszug zu erstellen, der keinem »ägyptischen Labyrinthe« gleichsehe, sondern den man überblicken könne. Christian Gottlob Heyne sollte dieses Projekt übernehmen. Als dann aber in England ein solches Werk publiziert wurde, beschränkte sich der (später berühmt gewordene, damals noch junge) Philologe Heyne auf die deutsche Übersetzung und kritische Revision der englischen Ausgabe.147 Obwohl Guthrie und Gray weitgehend auf das Textmaterial der Universal History vertrauten148 – der Unterschied zwischen beiden Werken liegt keineswegs nur im Umfang und in der Schreibart. Die Bearbeiter der General History orientierte ein

A General History of the World: from the creation to the present time: including all the empires, kingdoms and states, their revolutions, forms of government, laws, religions, costums and manners […] by William Guthrie, John Gray and others, 12 Bde., London 1764–1767. Die (zunächst anonym erschienene) Einleitung von Goldsmith zum ersten Band findet sich auch in: Collected Works of Oliver Goldsmith, hg. v. Arthur Friedman, Oxford 1966, Bd. 5, 277 ff. 144 Allgemeine Weltgeschichte von der Schöpfung an bis auf die gegenwärtige Zeit […] ausgefertigt von Wilhelm Guthrie, Johann Gray, und anderen in diesen Theilen der Wissenschaften berühmten Gelehrten. Aus dem Englischen übersetzt. Aus den Originalschriftstellern berichtigt, und mit einer fortlaufenden Zeitrechnung und verschiednen Anmerkungen versehen, 49 Bde., Leipzig 1765–1772. Im folgenden benutzt Bd. 1 (übers. u. mit Anmerkungen versehen v. Christian Gottlob Heyne, Vorrede v. Johann August Ernesti), das Zitat aus der Einleitung von Goldsmith nach der Übersetzung von Heyne ebd., Vorrede der englischen Verfasser, 21. 145 Ebd., 12. 146 Ebd., 21. 147 Vgl. Allgemeine Weltgeschichte (Guthrie/Gray), Vorrede Ernesti, X–XIV. Weitere Informationen zum Entstehungszusammenhang und zu den Mitarbeitern dieses Übersetzungsprojekts finden sich in: Fortsetzung der Algemeinen Welthistorie, Bd. 50, Vorrede Gebhardis, XXIIf. 148 Vgl. dazu Allgemeine Weltgeschichte (Guthrie/Gray), Vorrede Ernesti, XIIIf. 143

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anderes historisches Interesse, dem Goldsmith in einer ausführlichen Einleitung ein programmatisches Profil verlieh; »nach dem neuen und itzo so sehr herrschenden Geschmacke«, kommentiert kritisch der Herausgeber der deutschen Übersetzung Ernesti, »mehr witzig als richtig und gründlich«.149 Aus der (Publikums-)Perspektive eines Goldsmith fehlte dem gelehrten Forschungsprojekt Universal History nicht nur literarischer Geschmack, ihm fehlte vor allem die Geschlossenheit der Darstellung, die sie einer zusammenhängenden Lektüre zugänglich machte. Weil in der gelehrten Differenzierung der historischen Überlieferung das »Ganze der Geschichte« verloren gegangen sei, zeige sich die Geschichte dem Leser als ein unzusammenhängender Komplex von Spezialgeschichten. Die Verfasser der Universal History, darin ist sich auch Ernesti mit Goldsmith einig, verirrten sich »in ihre Materialien«, ließen sich »in Muthmaßungen« ein, »daß es uns zuweilen vorgekommen ist, als hätten sie vergessen, daß sie eine Geschichte, nicht Geographie oder Chronologie, oder Philologie schrieben«.150 Für das Anliegen, das »Ganze der Geschichte auf einmal« zu überblicken, war die Universal History zu komplex.151 Den Leser über das Ganze der Geschichte zu orientieren, war die traditionelle Aufgabe des universalhistorischen Lehrbuchs. Dieses Lehrbuch erhält in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine »aufgeklärte« Gestalt. Das Ganze der Geschichte zeigt sich in ihm nicht als seit Anbeginn der Welt gesicherte Kontinuität überlieferter Historien, vielmehr als Zusammenhang der »Handlungen des ganzen menschlichen Geschlechts«.152 Die Vorstellung, daß das menschliche Geschlecht eine Einheit ist, konstituiert die Geschichte als Zusammenhang. Erst in Bezug auf diese Einheit läßt sich die historische Überlieferung sinnvoll auswählen, ordnen und als Universalgeschichte darstellen. Das neue Ganze der Geschichte hat wenige Jahre später August Ludwig Schlözer als »systematische Weltgeschichte« ausgezeichnet. Schon für Goldsmith ist unter den Historien diejenige »die nutzbarste und anmuthigste«, die sich nicht »auf besondre Reiche oder Länder einschränkt, sondern über die Handlungen des ganzen menschlichen Geschlechts sich ausbreitet«. Zuerst müsse man deshalb »mit dem Ganzen bekannt« werden, denn es gebe eine »fortlaufende, obwohl zuweilen verborgene, Verkettung der Begebenheiten, vermöge deren die eine aus der andern folgt, und ohne deren Kenntniß sie sich einzeln nicht wohl verstehen lassen. Das Wachsthum des einen Reichs muß oft aus den politischen Mängeln in einem andern hergeleitet werden. Die Künste und Wissenschaften der spätern Staaten erhalten einen gewissen Anstrich aus denen Ländern, woher sie zuerst entsprungen waren«. Überblicke man 149 150 151 152

Ebd., XIV. Ebd., IX. Vgl. ebd., Vorrede Goldsmith, 2. Ebd., 1.

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das »Ganze der Geschichte«, könne man »iede Ursache bis zu ihrer entfernten Quelle zurückleiten«.153 Mit zwei Schwierigkeiten sieht sich der Geschichtsschreiber nach Goldsmith konfrontiert, der sein Publikum über das Ganze der Geschichte aufklären will: »Die Unfruchtbarkeit an Begebenheiten in den frühern Perioden der Geschichte, und ihre Fruchtbarkeit in den neuern Zeiten setzen ihn beyde gleich in Verlegenheiten«.154 Kompensiert wurden diese Schwierigkeiten, so die Erläuterungen von Goldsmith, auf unterschiedliche Weise. Im Fall des »entfernten Alterthums« veranlaßten der Mangel an Stoff und die Lücken der Überlieferung »Lügen« und »Muthmaßungen«,155 dagegen führte im Fall der »neuern Zeiten« der Überfluß an Überlieferung zur Verstrickung in das historische Material.156 Von der Fixierung auf ein Ganzes der Geschichte, dem die Vorstellung einer möglichst lückenlosen und vollständigen Repräsentation der Überlieferung (inklusive ihrer historiographischen Auslegungen) zugrunde liegt, befreite sich der aufgeklärte Universalhistoriker, indem er die souveräne Herrschaft über den Stoff der Geschichte in Form selbständiger Auswahl und Verarbeitung geltend macht. Problematisch ist nicht das historische Material. Der in der General History verarbeitete Stoff, versichert Goldsmith, sei derselbe, von dem »bereits andre Geschichtschreiber vor uns, seit verschiednen Jahrhunderten, Gebrauch gemacht haben, und welcher seit der Erneuerung der Wissenschaften den Gelehrten wohl bekannt gewesen ist«.157 Nachdem alles, was »zur Aufklärung der Geschichte dienen kann, erörtert, und unter iederley Gesichtpunct gestellt worden« sei, könne es jetzt nur mehr darum gehen, »geschickt auszulesen«.158 So ist die General History weder ein Produkt gelehrter Kritik noch ein Projekt zukünftiger Forschung. Es wäre »unbillig«, den Anspruch »auf neue Entdeckungen« geltend machen zu wollen, da »weder wir, noch unsre Vorgänger in der allgemeinen Geschichte, irgendeinen verborgnen Schatz von Wahrheiten, nach dem man noch nicht geforscht hätte, entdeckt haben, um daraus die alte Geschichte zusammenzutragen. Weder jene noch wir haben einen Weg in die Büchersäle zu Fetz, oder Amara ausfindig gemacht«.159 Ebd., 2. Bei Schlözer kehrt diese Auffassung zum Teil in wörtlicher Übereinstimmung wieder. Daß Schlözer auch Formulierungen des Übersetzers, Kommentators und Verfassers des Vorberichts zum zweiten Band der Allgemeinen Weltgeschichte Heyne fast wörtlich übernahm, weist Ralph Häfner nach (Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre. Studien zu den Quellen und zur Methode seines Geschichtsdenkens, Hamburg 1995, 193, Anm. 104). 154 Allgemeine Weltgeschichte (Guthrie/Gray), Vorrede Goldsmith, 3. 155 Vgl. ebd., 3f. 156 Vgl. ebd., 11. 157 Ebd., 6. 158 Vgl. ebd., 10. 159 Ebd., 6. 153

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Die Marginalisierung historischer Kritik und Forschung korrespondiert in der General History mit dem Ausschluß von unsicherem, bloß mutmaßlichem Wissen. Und dies betrifft besonders die früheste Geschichte, jenes, so Goldsmith, zwar weitläufig bearbeitete, doch nüchtern betrachtet mit »ausgekramten Kenntnissen« angefüllte Feld, gründend auf »Erdichtungen und Muthmaßungen, die eine Frucht von Müßiggang, Betrug, oder Aberglauben waren«.160 Auf all dies muß der auf Reduktion bedachte Universalhistoriker verzichten. Goldsmith legitimiert die pauschale Verurteilung der profanen historischen Quellen zur frühesten Geschichte mit einem ganz traditionellen Grundsatz: »Es sind demnach alle andre Urkunden des entfernten Alterthums, bloß diejenigen ausgenommen, welche die heilige Schrift in sich enthält, dunkel, verstümmelt und nichtsbedeutend«.161 Diese konventionelle Lösung der Frage nach der Gewißheit der historischen Überlieferung zur menschlichen Frühzeit ist aber nicht Ausdruck eines besonderen Interesses für die biblischen Historien. Der Rückzug auf die heilige Geschichte steht im Kontext der veränderten Wahrnehmung der ganzen Geschichte. Geschichte zeigt sich Goldsmith als ein Handlungszusammenhang, den der Geschichtsschreiber von seinem (vorläufigen) Endpunkt aus betrachtet. Der Standpunkt des Historikers ist seine Gegenwart. Aus dieser Zentralperspektive »überblickt« er die ganze Geschichte: »Je weiter wir in jene abgelegnen Zeiten zurückschauen, desto mehr scheinen sich alle Gegenstände zu verdunkeln, oder gar, durch eine Art perspectivische Verminderung, zu verlieren«.162 Dunkel ist die Frühzeit des Menschen nicht oder zumindest nicht in erster Linie deshalb, weil die historische Überlieferung spärlich und deshalb problematisch ist. Als dunkel zeigt sie sich einer Interessensperspektive, in der die Relevanz der Geschichte mit ihrer Nähe zur Gegenwart zunimmt: Je »näher die Geschichte unsern gegenwärtigen Zeiten kömmt«, desto mehr müssen wir »mit ihr bekannt« sein.163 Die Dunkelheit der Geschichte des »entfernten Alterthums« ist deshalb auch nicht ein beklagenswerter Mangel. Es ist vielmehr für die »gegenwärtige Welt kein großer Verlust, daß solche unbrauchbare Nachrichten durch die allgemeine Verwüstung der Zeit untergegangen sind«. Da nämlich die »Erzählungen aus alten Jahrhunderten« nur insofern nützlich seien, »als sie Einleitungen zu unserm eignen abgeben«, ist es geradezu ein Glück, daß die »Theile, von welchen wir am wenigsten wissen, gerade diejenigen sind, die wir am wenigsten zu wissen nöthig haben«.164 Die ganze Geschichte steht dem Universalhistoriker, den Goldsmith als Agenten der »aufgeklärten« Öffentlichkeit zeichnet, nicht als ein prinzipiell gleichgültiger

160 161 162 163 164

Vgl. ebd., 4 f. Ebd., 9. Ebd., 4. Vgl. ebd., 9. Ebd.

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gelehrter Überlieferungszusammenhang gegenüber, den es möglichst differenziert zu erforschen gilt. Die historische Überlieferung ist das bereits festgestellte Material, dem der Historiker aus der Perspektive der Gegenwart Bedeutung verleiht. Bedeutung aber besitzt die Geschichte als Inbegriff der »Handlungen des ganzen menschlichen Geschlechts«, in denen sich die Gegenwart wiederfinden kann und soll. Geschichte ist in dieser Aufklärungsperspektive ein Mittel, das dem »Publicum« den Abstand vor Augen führt, der die differenzierte Vielfalt gegenwärtiger Zivilisation und Kultur von ihren wilden und einförmigen Anfängen trennt: »Der Mensch, solange er noch nicht durch Gesetze eingeschränkt war, und noch mit den Thieren des Waldes um die Theilung der Herrschaft stritt, solange er noch wild und einsam lebte, war schwerlich ein Gegenstand, dessen Handlungen es verdienten, der Nachwelt überliefert zu werden. Der Werth der Geschichte entsteht aus der nothwendigen Verschiedenheit der Gesetze, Künste und Gebräuche der Menschen, welche den Verstand unterrichtet, und eine angenehme Mannichfaltigkeit hervorbringt; der Stand der Wilden hingegen ist in ieder Gegend und zu ieder Zeit ebenderselbe; er hält dem Beobachter bloß ein einförmiges Gemälde, ein Leben voll Mißtrauen, Trägheit, Gedankenlosigkeit und Raubsucht, vor«.165 Die Einleitung zur General History verknüpft so verschiedene Versatzstücke des historischen Interesses, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gegen die Macht gelehrter Historiographie zur Geltung gebracht wurde, zu einem eingängigen Aufklärungsprogramm »für das Publicum«, d.h. »für jenes vermischte Geschöpf, das, vermöge des verschiedentlichen Einflusses von Stolz, Vorurtheil oder Unwissenheit, mit sich selbst im Widerspruche steht«:166 Geschichte als historia magistra vitae,167 als pragmatischer, vom Licht der Gegenwart beleuchteter Handlungszusammenhang, als naturrechtlich ausgelegter Zivilisationsprozeß. Für die historiographische Praxis, der sich die General History verdankt, spielten die programmatischen Vorgaben allerdings eine eher geringe Rolle. Die Bearbeiter hielten sich an die »Auslesung« des durch die Universal History aufbereiteten Materials, und sie veränderten auch nicht deren konzeptionellen Rahmen. Doch das Anliegen, Geschichte durch die »Verbindung« der gelehrten Materialien als einen einheitlichen Erzählzusammenhang zu repräsentieren,168 hatte die Auflösung des problem- und forschungsorientierten Netzes gelehrter Exkurse, Kommentare und Verweise zur Konsequenz, als das der Text der Universal History organisiert war.

Ebd. Ebd., 20. 167 Vgl. ebd., 1: Die Einsicht in die Geschichte ist leichter als in andere Wissenschaften, denn »wir nutzen die Erfahrung andrer, ohne mit ihnen gleiche Beschwerlichkeiten und Unfälle auszustehen«. 168 Vgl. ebd., 16. 165 166

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Davon betroffen war insbesondere die Frühgeschichte, die in der General History weitgehend auf die Nacherzählung des biblischen Berichts beschränkt wurde. Ausdrücklich verzichtet wurde etwa auf die einleitenden Abschnitte der Universal History zur Kosmogonie und Geogonie: Die »mancherley Meynungen der heydnischen Weltweisen von der Schöpfung« gehören »eigentlicher für den Gottesgelehrten, als den Geschichtschreiber«.169 Der Leser solle »nicht mit den mancherley ungereimten Meynungen der alten Weltweisen, oder den verschiednen Hypothesen der Neuern, wegen der Hervorbringung der Erde« aufgehalten werden, ihm sei »bloß die authentische Nachricht von der Schöpfung« beizubringen, »die uns von dem ältesten Geschichtschreiber Moses ertheilt wird«.170 Der biblische Bericht über den Sündenfall habe zwar »auf den ersten Anblick einige Unwahrscheinlichkeiten in sich«, weshalb ihn gelehrte und fromme Männer »in einem verblümten und allegorischen Sinne« genommen hätten. Doch Moses scheine eine solche »Absicht« nicht gehabt zu haben. Die Geschichte des Sündenfalls müsse deshalb wie die übrigen mosaischen Schriften »im buchstäblichen Sinne genommen werden«.171 Zwar referieren die Bearbeiter auch »Muthmaßungen« und »Meynungen«, doch nur knapp und mit skeptischem Resümee.172 Auch die Hypothese eines primitiven Anfangs menschlicher Geschichte, auf die Goldsmith in der Einleitung anspielt, wird abgelehnt: Heiden (vor allem Horaz, Diodor, Vitruv), denen die »mosaischen Schriften nicht bekannt waren, haben sich eingebildet, die Menschen hätten zuerst, gleich den Thieren, in Wäldern und Hölen gelebt, bloß verwirrte Töne ohne Bedeutung hervorgebracht, oder ihre Gedanken durch stumme Zeichen oder Gebärdungen ausgedrückt«. Diese Mutmaßung sei zwar »natürlich und wahrscheinlich«, Moses aber mache sicher, »daß es mit dem Anfange des menschlichen Geschlechts und Gesprächs in der That ganz anders bewandt gewesen sey«.173 Daß der »Ursprung des bürgerlichen Regiments«174 davon unabhängig im Szenarium naturrechtlicher Erklärung entfaltet wird, darin sehen die Bearbeiter der General History wie schon Ludewig keinen Widerspruch zum biblischen Bericht. Mit der Beschränkung der Frühgeschichte auf den biblischen Bericht befreiten sich die Bearbeiter der General History auch von der komplizierten Frage nach dem chronologischen Zusammenhang von heiligen und profanen Historien. Die Zeitrechnung folge den anerkanntesten »Methoden der Neuern«, jeder könne aber die »Abweichungen« nach eigenem »Muster« berichtigen: »Wenn man nur den Handlungen und Ebd., 5 f. Ebd., Buch I, 23 f. 171 Ebd., 30. 172 »[…] doch was Moses so sorgfältig verborgen hat, das ist niemanden zu entdecken möglich« (ebd., 33 f.). 173 Ebd., 95 f. 174 Vgl. ebd., 117 ff. 169 170

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Begebenheiten, in Ansehung ihres Verhältnisses gegen einander, den gehörigen Abstand von Zeit und Ort einräumt, so liegt wenig an ihrer aller Dauer, im Vergleich gegen die Ewigkeit, oder an ihrer Lage, im Vergleich gegen die ganze Welt«.175 Der Einsicht in die Relativität der Chronologie korrespondiert für die Frühzeit die nicht weiter problematisierte Orientierung an der hebräischen Zeitrechnung.176 Weil die heidnischen Schriftsteller zur Frühgeschichte (Berosus, Sanchuniathon und Manetho), auf die sich die verschiedenen Berechnungen zur Korrespondenz von heiliger und profaner Chronologie stützten, als »unglaubwürdig« gelten, es deshalb für die Chronologie der Frühzeit »keinen Beystand von der weltlichen Geschichte« gibt,177 ist die Frage, auf welche der verschiedenen »Abschriften der mosaischen Bücher« man sich verlassen soll, kein prekäres Thema und kann in das Belieben des Lesers gestellt werden. Die Reduktion gelehrter Dokumentation und kritischer Problematisierung zugunsten geschlossener, einheitlicher Erzählblöcke läßt sich auch als Reaktion auf das Leseverhalten eines historisch interessierten Publikums deuten, dessen (»vermischte«) Erwartungen nicht durch die eingespielten Regeln gelehrten Lesens zu befriedigen waren, das vielmehr nach intensiver, instruktiver Lektüre verlangte, ein Buch »durchlesen«, nicht mehrere Bücher »nachsehen« wollte.178 Im Text der General History finden sich deshalb, im Unterschied zur Universal History, kaum Annotationen, also jene gelehrte Technik, die es dem Spezialisten ermöglichte, die Aussagen des Textes kritisch zu überprüfen. Goldsmith hat für den beinahe völligen Verzicht auf »dergleichen Ausschweifungen« eine bezeichnende Begründung gegeben. Anmerkungen, »jene neuerliche, und, wie wir hinzusetzen müssen, gothische Gewohnheit«, »den alten Geschichtschreibern in elendem Grade unbekannt, als in den neuern ekelhaft«, unterbrechen den Erzählzusammenhang, verhindern die konzentrierte, fortlaufende Lektüre. Dies behält seine Gültigkeit auch dann, wenn dieser »Kram des Alterthums« nicht »in das Buch selbst eingerückt«, sondern an das Seitenende (d.h. als Fußnoten) gesetzt wird. Denn der Leser, »dessen Auge herunter zu den Anmerkungen am Ende der Seite eingeladen wird«, sei doch in seiner Lektüre nicht weniger gestört, »als er durch eine gehörige Einschaltung ebenderselben Sache in das Werk selbst gestört werden würde«.179

Ebd., Vorrede Goldsmith, 20. Vgl. ebd., Buch I, 58 f. 177 Vgl. ebd., 50 ff. (dazu auch die Vorrede Goldsmith, 7 f.) u. 115. 178 Vgl. ebd., Vorrede Goldsmith, 5; zum Verhältnis von gelehrtem und aufgeklärtem Lektüreideal vgl. Verf., Lesetechniken. Die Praktiken der Lektüre in der Neuzeit, in: Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, hg. v. Helmut Zedelmaier u. Martin Mulsow, Tübingen 2001, 11–30, hier 19 ff. 179 Allgemeine Weltgeschichte (Guthrie/Gray), Vorrede Goldsmith, 16 f. 175 176

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Gelehrte Anmerkungen sind schon hinsichtlich ihrer Entstehung mit der philologischen Rekonstruktion antiker Texte und damit mit einer gelehrten Praxis verknüpft, die in besonderer Weise auf Konjekturen, d.h. also Mutmaßungen, und zur Evidenz ihrer Schlußfolgerungen auf ein Netz gelehrter Belege angewiesen ist.180 Goldsmith anerkennt den Nutzen der philologischen Arbeit »bey der Erneuerung der Wissenschaften, da der ganze Vorrath des Alterthums unerforscht war«. Doch wie gesagt: die Arbeit ist getan, das antike »Gedächtniß« bereits erobert.181 Ein mit Urteilskraft begabter Geschichtsschreiber soll den »ganzen Vorrath« nun für ein nicht spezialisiertes Publikum »in aller möglichen Kürze«182 verarbeiten, dabei alle Spuren tilgen, die Baumgarten als »dauerhafte Arbeitsamkeit« und »unverdrossenen Fleis« zur unverzichtbaren »Geschicklichkeit« des Geschichtsschreibers und zu den sichtbaren Gütezeichen historiographischer Werke rechnete.183 Diejenigen Schriftsteller, heißt es dagegen bei Goldsmith, »verdienen keine Verzeihung, die unser Vergnügen in Arbeit verwandeln, und die Wissenschaft einen ihrer anzüglichsten Reize rauben. Die Alten haben die Geschichte unter der Gestalt eines schönen, ungezwungenen und gefälligen Frauenzimmers abgebildet; wir aber haben sie in unsern Tagen, so wie dort die Jungfrau des Nabis, in eine Folterbank verwandelt gesehen«.184 Das Projekt einer neuen Algemeinen Weltgeschichte, das Goldsmith propagiert, orientiert sich am Modell der schönen Literatur. Die Historie kommt hier als Problem der Darstellung in den Blick, erfordert die – nach Lessing bei Gelehrten selten anzutreffende – Geschicklichkeit, dem »Stoffe eine Gestalt zu erteilen«. Geschichtsschreibung, wie Goldsmith sie versteht, hat sich von der »Folterbank« gelehrter Antikeaneignung und ihren pedantischen Werkzeugen zu emanzipieren,185 sie ist eine

Zur frühneuzeitlichen Theorie und Praxis der Textkritik Herbert Jaumann, Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius, Leiden u. a. 1995; zur Geschichte der Fußnote Grafton, Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote. 181 Vgl. Allgemeine Weltgeschichte (Guthrie/Gray), Vorrede Goldsmith, 10. Goldsmith historisiert die Bedeutung der mit dem Gedächtnis identifizierten Philologie ganz analog wie Jean Lerond d’Alembert 1751 die »érudition« in der Einleitung zur französischen Encyclopédie (vgl. Discours préliminaire de l’Encyclopédie, franz. u. dt., übers. v. Annemarie Heins, hg. u. eingel. v. Erich Köhler, 2. Aufl. Hamburg 1975, 110 ff.). 182 Von dem Gebot der Kürze ist vor allem die Alte Geschichte betroffen; vgl. Allgemeine Weltgeschichte (Guthrie/Gray), Vorrede Goldsmith, 9. 183 Vgl. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede Baumgartens, 13. 184 Allgemeine Weltgeschichte (Guthrie/Gray), Vorrede Goldsmith, 12. Das verwendete Bild geht, worauf hier eine der seltenen Anmerkungen verweist, auf Polybios zurück (Hist. 13,7). 185 »Aber eine kritische Philologie von dieser Art wird in unsern Zeiten gar sehr, und mit gutem Rechte, verlacht« (ebd., 10). Ironisch kommentiert Goldsmith, aus dem Blickwinkel eines (chinesischen) Philosophen, die pedantische »Torheit der Gelehrten« in seinem Weltbürger (Oliver Goldsmith, The Citizen of the World or Letters from a Chinese Philosopher, residing in London, to his Friends in the East, London 1762). 180

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davon unabhängige Praxis. Die »wahre Ehrfurcht für die Werke der Alten« erweise man »nicht durch Sammlung ihrer Meynungen, sondern durch Nachahmung ihrer zierlichen Einfalt«.186 Geschichtsschreibung ist ein Akt der Verlebendigung und Versinnlichung, der Vergegenwärtigung von Vergangenheit, bei dem das Abschweifen der Augen vom Text nur »die Geschwindigkeit im Erzählen unterbrechen würde«.187

B. Historische Kunst versus gelehrte Forschung Historiographie als eine an antiken Vorbildern orientierte Kunst der Darstellung ist keine Erfindung des 18. Jahrhunderts.188 Doch besitzen die Überlegungen zur Narrativität und Literarizität der Historie im Kontext der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts für den »Weltbürger«, den »Mensch überhaupt« entworfenen Weltgeschichte einen besonderen Sinn. Sie verdeutlichen den Willen des aufgeklärten Geschichtsschreibers, die Historien seinen eigenen Maßstäben zu unterstellen, sie selbständig zu verarbeiten und zu beherrschen. Seine Aufgabe erkennt er in der retrospektiven Konstruktion der Geschichte als eines Zusammenhangs menschlicher Handlungen. Indem er den pragmatischen Zusammenhang von der engen Verknüpfung mit gelehrter Kritik und Dokumentation löst, die etwa für Baumgarten unverzichtbar war, will der Historiker der Weltgeschichte Goldsmith ebenso wie auch der Historiker der Kulturgeschichte Voltaire vom »hohen« Standort der Gegenwart aus die ganze Weltgeschichte als »Handlungen des ganzen menschlichen Geschlechts« souverän überblicken.189

Allgemeine Weltgeschichte (Guthrie/Gray), Vorrede Goldsmith, 10. Vgl. ebd., 16. 188 Vgl. Eckhard Kessler, Das rhetorische Modell der Historiographie, in: Formen der Geschichtsschreibung (Beiträge zur Historik, Bd. 4), hg. v. Reinhart Koselleck u. a., München 1982, 37–85. Die Reflexion über die Narrativität der Historie im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts analysiert unter Gesichtspunkten der Wissensvermittlung Hans-Jürgen Pandel, Historik und Didaktik. Das Problem der Distribution historiographisch erzeugten Wissens in der deutschen Geschichtswissenschaft von der Spätaufklärung zum Frühhistorismus (1765–1830), Stuttgart-Bad Cannstatt 1990. Pandel mißt allerdings die »vormodernen Formen der Geschichtsschreibung« unkritisch an den »kritischen« Maßstäben der Aufklärungshistoriographie und leitet daraus folgende Schlußfolgerung ab: Die Einsicht, daß der historische Zusammenhang »allein durch die Erzählstruktur geleistet werden kann, ist das bleibende Verdienst der Aufklärungshistorie« (46, vgl. auch 48). Diese Einsicht ist keineswegs erst eine der Aufklärungshistorie. Differenzierter ist der Ansatz von Daniel Fulda (Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860, Berlin-New York 1996), der allerdings auf das »vormoderne« historische Erzählen nicht weiter eingeht. 189 Zum »hohen« Standort und Gesichtspunkt der Aufklärungshistorie Völkel, »Pyrrhonismus historicus«, 226f. 186 187

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Das Schreiben der Geschichte ist auch für Ernesti, den Herausgeber der deutschen Übersetzung der General History, die eigentliche »Schwierigkeit«.190 Die deutsche Rezeption veränderte aber wie im Fall der Universal History die englische Vorlage. Zwar teilte Ernesti das Anliegen von Goldsmith und den Herausgebern Guthrie und Gray nach einer Verkürzung der Universal History.191 Deren kritikloses Vertrauen in die (durch die Universal History vermittelten) Ergebnisse gelehrter Quellenforschung teilte er aber ebenso wenig wie die allgemeine Schlußfolgerung einer Emanzipation der Historiographie von der gelehrten Auseinandersetzung über ihre Quellengrundlagen. Die kritische Revision der General History übernahm ihr Übersetzer, der junge Göttinger Philologe Christian Gottlob Heyne.192 Auch er dokumentierte die Ergebnisse seiner Überprüfung in Form von Fußnoten, zwar nicht in der Fülle und gelehrten Akribie wie Baumgarten im Fall der Universal History, doch derselben Idee eines offenen, unabschließbaren Fortschreitens der historischen Kritik und Forschung verpflichtet. Die knappen Erläuterungen, häufig an »unsre jungen Leser« gerichtet,193 kritisieren »übereilte Aussprüche« und »witzige Übertreibungen«, vor allem aber die Festlegung auf angeblich sichere Wissensbestände und den Mangel an historischphilologischen Differenzierungen. So heißt es zur Ablehnung der profanen Überlieferungen zur Frühgeschichte (Berosus, Sanchuniathon und Manetho) durch die Bearbeiter der General History in Heynes Anmerkung: Diese »wenigen Ueberbleibsel« haben »in der Zeitrechnung viel Dienste gethan«; auch wenn sie ansonsten keinen Nutzen hätten, würden sie doch »lehren, was und wie und mit welchen Augen andre Nationen gesehen haben«.194 Hier kommt schon eine kulturhistorisch interessierte Hermeneutik zur Geltung, die das geläufige Schema wahre Geschichte versus Fabel sprengt. Heyne korrigiert in seinen Fußnoten auch Relikte hermetischer Ursprungskonzepte, die von den Bearbeitern der General History kommentarlos referiert werden, etwa die Meinung, Schem habe die Astronomie erfunden und eine Abhandlung über die Arzneikunst geschrieben, die »noch itzt in der Bibliothek des Kürfürsten von Bayern vorhanden seyn soll«. Dazu Heyne: »Diese seltsame Nachricht verdiente wohl nicht angeführt zu werden«.195 Und wenn die Bearbeiter der General History ihre Entscheidung für die hebräische Zeitrechnung damit begründen, daß »zwischen allen hebräischen Abschriften eine beständige Uebereinstimmung herrscht«, steht in Heynes Fußnote: »Dieß dürfte sich erst bey einer genauern kritischen Vergleichung

190 191 192 193 194 195

Vgl. Allgemeine Weltgeschichte (Guthrie/Gray), Vorrede Ernesti, III (vgl. auch XII). Vgl. ebd., IX ff. Dazu die Erläuterungen ebd., XIIIf. Vgl. ebd., Vorrede Goldsmith, Anmerkungen zu 7, 13. Ebd., 7 u. entsprechende Anm. Ebd., 111 u. entsprechende Anm.

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der Handschriften künftig zeigen«.196 Lakonisch kommentiert der Philologe Heyne auch die generelle Feststellung des Literaten Goldsmith, daß heutzutage schon der »ganze Vorrath des Alterthums« erforscht sei: »Wenigstens hätten sie sagen können: ›das Meiste‹«.197 Narrative Darstellung und gelehrte Forschung waren für Heyne auch und gerade im Fall einer verkürzten Weltgeschichte, die sich an ein nicht spezialisiertes Publikum wandte, aufeinander bezogene Komponenten der Repräsentation von Vergangenheit. Gegen eine der Herrschaft des Geschichtsschreibers unterstellte, nicht überprüfbare Gestaltung der Geschichte oder auch: gegen eine auf das »bloße Vergnügen« spezialisierte Historiographie stellte er die differente Befriedigung unterschiedlicher Erwartungen und Interessen in Form eines Werks. In der Verteidigung der gelehrten Annotationspraxis gegenüber ihrem Verächter Goldsmith hat Heyne dieses Modell folgendermaßen erläutert: »Ein Verfasser kann für mehrere Classen von Lesern schreiben«, die auf unterschiedliche Weise unterrichtet sein wollen. Darauf müsse die Darstellung der Geschichte Rücksicht nehmen. So sind zwar manche Nachforschungen »im Verhältnis zu einer allgemeinen Geschichte entbehrlicher«, jedoch können sie in anderer Hinsicht interessant sein. Dem Leser jedenfalls muß prinzipiell die Möglichkeit eingeräumt werden, selbst zu entscheiden und nachzuprüfen: »Oft fallen critische, oft chronologische Untersuchungen vor, von welchen, so zu sagen, die heraus gebrachte Summe der Wahrheit allein in die Folge der Erzählung gehört, von allen Lesern aber nicht verlangt werden kann, daß sie in Dingen, wo ohne Beweis nichts gilt, sich blindlings des Schriftstellers Einsicht und Genauigkeit auf Treu und Glauben überlassen sollen«.198 Bezeichnend ist diese Apologie gelehrter Fußnoten in mehrfacher Hinsicht. Heynes Programm, unterschiedliche Leserinteressen in einen Text zu integrieren, läßt sich als Symptom dafür deuten, daß, als Ergebnis einer unterschiedlichen politischen Kultur,199 gelehrte und öffentliche (bürgerliche) Lesererwartung in Deutschland noch nicht in dem Maß wie in England auseinandergetreten waren. Im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung ist der folgende Gesichtspunkt wesentlich. Das stärker gelehrte Profil, das Ernesti und Heyne der Allgemeinen Weltgeschichte gaben, ist mit einer differenzierenden Wahrnehmung der spezifischen Modernität der neu-

Ebd., 59 u. entsprechende Anm. Ebd., Vorrede Goldsmith, 10 u. entsprechende Anm. (Heyne spricht immer nur allgemein von den Verfassern der Einleitung zur General History. Daß Goldsmith ihr Verfasser ist, war ihm nicht bekannt). 198 Ebd., Anm. (von Heyne) zu 13 u. 17. 199 Dazu Eckhart Hellmuth, Towards a Comparative Study of Political Culture. The Cases of Late Eighteenth-Century England and Germany, in: Ders. (Hg.), The Transformation of Political Culture. England and Germany in the Late Eighteenth Century, Oxford 1990, 1–36. 196 197

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zeitlichen Universalhistorie verknüpft, die jene Nachahmung antiker Vorbilder, die Goldsmith propagierte, schon als eine anachronistische Vorstellung sichtbar werden läßt. Die Frage, »ob und wie weit es in unsern Tagen rathsam sey, die besten Geschichtschreiber der Griechen und Römer nachzuahmen«, hatte vier Jahre zuvor Johann Christoph Gatterer zwar hinsichtlich der »historischen Composition« bejaht, hinsichtlich der Gesichtspunkte aber, unter denen die Begebenheiten auszuwählen und darzustellen sind, verneint. Diese, von Gatterer als »Geist der Begebenheiten« bezeichneten Gesichtspunkte nämlich sind historisch individuell: »Es hat also ein jedes Zeitalter und eine jede Nation ihren eigenen Geist der Begebenheiten«; wolle man deshalb »den Geist der Begebenheiten nach der Vorschrift der Alten« bestimmen, »würde man gewiß eben so lächerlich handeln, als wenn man ein, auf die Art der Alten ausgerüstetes Kriegsheer gegen eine Preussische Armee stellen wollte«.200 Von solchen Grundsätzen ausgehend, hat Ernesti in einer knappen Skizze die Geschichte der Universalhistorie seit der Antike in eine Perspektive gestellt, die, sieht man von seinem Vorurteil gegenüber der mittelalterlichen Historiographie ab, noch gegenwärtig Evidenz beanspruchen kann.201 Das Altertum, »sonst so reich an Mustern«, habe keine »allgemeine Geschichte« hervorgebracht, die »Universalität« und »Unterscheidung des gewissen oder wahrscheinlichen, und ungewissen und unwahrscheinlichen« miteinander verknüpft hätte. Universalhistorien gab es, führt Ernesti weiter aus, in den Zeiten, »in welchen die Gelehrsamkeit in so großen Verfall gerathen« (d. h. im Mittelalter), in großer Zahl, doch »man weiß und siehet gar zu leicht, wie schlecht sie gerathen sind«.202 Im 16. und 17. Jahrhundert, nachdem die »wahre Gelehrsamkeit, und der gute Geschmack durch die genaue und richtige Erkenntnis der alten Sprachen und der Schriftsteller, aus dem griechischen und lateinischen Alterthum«, wiederhergestellt worden war, hätte es zwar wieder »einige gute Geschichtschreiber« gegeben, doch »an eine allgemeine Geschichte hat sich kein großer Gelehrter gemacht, der die dazu nöthige Geschicklichkeit gehabt hätte«.203 All-

Johann Christoph Gatterer, Handbuch der Universalhistorie nach ihrem gesamten Umfange von Erschaffung der Welt bis zum Ursprunge der meisten heutigen Reiche und Staaten, Bd. 1, Göttingen 1761, hier benutzt in der 2. Auflage, Göttingen 1765, Einleitung, 3 f. Für Gatterer, der sich in seinem Handbuch auf die Algemeine Welthistorie (sowie auf die von 1731–1738 erschienene Histoire ancienne von Charles Rollin) stützt (Vorrede), ist die »angemessene Methode, die Begebenheiten auszuwählen«, überhaupt das zentrale Problem »historischer Kunst«, d. h. der »Wissenschaft von den Regeln, lesenswürdige Geschichtbücher zu verfertigen« (Einleitung, 1 ff.). 201 Zum Folgenden Allgemeine Weltgeschichte (Guthrie/Gray), Vorrede Ernesti, V–VIII. 202 Ebd., VII: »In der Historie wurde alles mit Historien und Chronicken, vom Anfange der Welt bis auf jedes Schriftstellers Zeiten, überschwemmet«. 203 Damals war »die wahre und scharfe Critick, von Vorurtheilen« noch nicht so »ins Licht gesetzet gewesen, daß ein rechter Kenner sich an ein solches Werk hätte wagen mögen«. Als bedeutendster Gelehrter seiner Zeit wird Joseph Scaliger gewürdigt (ebd., VII). 200

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gemeine Geschichten wären damals bloße »Compendia« zur Instruktion von »Anfängern« gewesen,204 deren Verfasser oft selbst Anfänger waren, die nur aus »andern Compendiis, das ihre zusammenschrieben«, ja noch die »neuesten Schriften aus diesem Fache, welche man den Vorlesungen für die Jugend bestimmet hat, sind von dieser Art«. Erst nachdem durch den »unermüdeten Eifer so vieler großen und braven Gelehrten« des vorigen und jetzigen Jahrhunderts das Quellenfundament verbessert, Methoden für ihre Kritik erarbeitet und auch die Darstellung der Geschichte nach methodischen Regeln erörtert worden waren,205 konnte nach Ernesti die Universalhistorie so dargestellt werden, daß sie die ganze Geschichte in Form eines Zusammenhangs repräsentiert, der von den Grundsätzen methodisch betriebener Erforschung der historischen Überlieferung regiert wird. Diese »Vorzüge unserer Zeiten«, resümiert Ernesti, wurden erstmals von der englischen »Gesellschaft von Gelehrten« (die Verfasser der Universal History) in eine neue »Geschichte der Welt« umgesetzt. Was ihr abging – Übersicht und Zugänglichkeit für die zusammenhängende Lektüre – sollte der Auszug ermöglichen, den Ernesti herausgab. Daß aber dieser Auszug nicht, wie im Fall der englischen Vorlage, auf Kosten der Kritik ging, dafür sorgte Heyne mit seinen Fußnoten.

4. Reduzierung der Frühgeschichte zur Vorgeschichte: August Ludwig Schlözer Nach Baumgartens Tod setzte sein Schüler Johann Salomo Semler das Übersetzungsprojekt der Universal History bis zum 30. Band fort, der 1766 gedruckt wurde. Unternehmerisch angetrieben wurde die deutsche Ausgabe von dem Verleger Johann Justinus Gebauer. Er investierte in die »Vollkommachung« des Werks und »errichtete gleichsam eine kleine gelehrte Gesellschaft zu der Ausfertigung der Welthistorie«.206 Ab dem 31. Band ging das Projekt aus den Händen des Theologen Semler in die des

Ebd.: »Daher ist auch nichts als elende, bald grössere, bald kleinere Compendia, zum Vorschein gekommen; welche zwar nur Anfängern oder halbgelehrten bestimmt gewesen, aber vielleicht mehr Schaden als Nutzen gestiftet haben«. 205 Die wahre Methode, so Ernesti zum Problem der Darstellung der Geschichte, wurde von »Bossuet und andern« erklärt (ebd., VIII). Jacques-Bénigne Bossuet, dessen Discours sur l’histoire universelle (erstmals 1681) heute gerne als letztes Projekt der traditionellen Heilsgeschichte gilt, wird im 18. Jahrhundert in Deutschland häufig gerade umgekehrt als fortschrittlicher Universalhistoriker gerühmt. Bossuet ist auch in der Liste der Universalhistoriker präsent, die als Gegenpol zur umfangreichen Universal History nach Goldsmith den Umfang der Darstellung zu sehr »eingeschränkt« hätten (außerdem nennt Goldsmith den katholischen Universalhistoriker Orazio Torsellini, Pufendorf sowie Ludvig Holberg, den von Pufendorf beeinflußten bedeutenden skandinavischen Historiker des 18. Jahrhunderts). 206 Vgl. Fortsetzung der Algemeinen Welthistorie, Bd. 50, Vorrede Gebhardi, VIIf. 204

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Göttinger Historikers Johann Christoph Gatterer über, der mit Gebauer vereinbarte, diesem Bearbeiter für die einzelnen Bände vorzuschlagen.207 Die deutsche Bearbeitung der englischen Welthistorie wurde bis ins 19. Jahrhundert weitergeführt, doch die nach 1766 publizierten Bände entstanden unabhängig vom englischen Vorbild.208 Gatterer setzte das Projekt als ein Unternehmen des königlich-kurfürstlichen Instituts der historischen Wissenschaften zu Göttingen fort, dessen Direktor er war. Als Bearbeiter der Fortsetzung wählte er geeignete Gelehrte aus, die die einzelnen Bände selbständig und unabhängig von der englischen Vorlage verfaßten. Bearbeiter des ersten Bandes nach der Neuorganisation war August Ludwig Schlözer. Die Publikation verzögerte sich aber wegen Schlözers Rußlandaufenthalt, so daß der von ihm verfaßte 31. Band der Fortsetzung der Algemeinen Welthistorie erst (nach den Bänden 32 und 33) 1771 erschien. Sein Thema sind »Prolegomena zur gesamten Nordischen Geschichte«. Sie enthalten u.a. methodische Ausführungen zur nordischen Frühgeschichte, in denen sich Schlözer kritisch mit der »patriotischen Leichtglaubigkeit alter Nordischer Antiquare« auseinandersetzt.209 Die letzten, zwischen 1803 und 1814 publizierten Bände bearbeitete der Historiker Friedrich Rühs, der 1810 als erster Professor der Geschichte an die neugegründete Universität Berlin berufen und 1817 zum Historiographen des preußischen Staates ernannt wurde.210 Zum überwiegenden Teil waren es nun Fachhistoriker, die den »Liebhabern der Geschichten« die Algemeine Welthistorie vermittelten. Neben Schlözer, Gebhardi und dann Rühs waren u.a. der Erlanger Historiker Johann Georg Meusel und der Hallenser Historiker Matthias Christian Sprengel an der Fortsetzung des Unternehmens mit eigenen Bänden beteiligt. Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etablierte sich die historische Forschung, die zuvor vor allem eine Domäne der Juristen und Theologen gewesen war, an einigen Universitäten in Deutschland innerhalb historischer Fachlekturen, so an der neu gegründeten Universität Göttingen.211 Die Vgl. ebd., XVI; über die wachsende Kritik an Semlers Herausgeberschaft und die Hintergründe dieses Wechsels, der auch damit zu tun hatte, daß Subskribenten ihren Vertrag kündigten, ebd., XIIff. 208 Vgl. ebd., XVf. 209 Fortsetzung der Algemeinen Welthistorie, 31. Bd., Halle 1771, Vorrede, 2. 210 Neben Barthold Georg Niebuhr als Professor der alten Geschichte (vgl. Pandel, Historik und Didaktik, 228, 238 f.). Rühs bearbeitete die Geschichte Schwedens: Fortsetzung der Algemeinen Welthistorie durch eine Gesellschaft von Gelehrten in Teutschland und England, Theil 63–66, Halle 1803, 1805, 1810 u. 1814 (das letzte der insgesamt 18 Bücher der vier Teile hat die Geschichte Schwedens unter Carl XII. von 1697 bis 1718 zum Gegenstand). 211 Dazu der Überblick von Rudolf Vierhaus, Die Universität Göttingen und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, in: Geschichtswissenschaft in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, hg. v. Hartmut Boockmann u. Hermann Wellenreuther, Göttingen 1987, 9–29. Zum übergreifenden Zusammenhang vgl. Andreas Kraus, Vernunft und Geschichte. Die Be207

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akademische, gelehrte Historie sah sich zudem mit veränderten gesellschaftlichen Ansprüchen und Erwartungen an die Repräsentation vergangener Geschichten konfrontiert.212 Die Idee einer »wahren Erzälung wirklicher Begebenheiten«, die Baumgarten 1744 gegenüber den »erdichteten Liebes- und Heldengeschichten« abgegrenzt hatte,213 orientierte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht nur die Fachhistorie. Als zumindest potentiell wahre Erzählungen wurden auch literarische (Bildungs-)Romane profiliert, die einem bürgerlichen Publikum Identifikationsmodelle für ihre prosaischen Lebensläufe anboten.214 An dieser »Bildung« eines »weltbürgerlichen« Publikums wirkte die professionelle Historie mit, indem sie neue historische Themenfelder erschloß und für die Universalhistorie neue Orientierungsmodelle propagierte und entwarf. Der »Weltbürger« wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum Synonym für das »ideale« Publikum universalhistorischer Projekte und Synthesen. Dafür ist August Ludwig Schlözers Universal-Historie ein aussagekräftiges Dokument. Das Ganze der Geschichte war sowohl in der Universal History als auch in der General History sowie in ihren deutschen Übersetzungen »von der Schöpfung an«215 in seiner ganzen zeitlichen Ausdehnung präsent. Es war die fortschreitende Kritik, aber auch die Verschärfung des Problems, auf welche Einheit der universalhistorische Zusammenhang zu beziehen ist, welche diesen Rest an Tradition innerhalb der Historie allmählich auflösten und damit die Anfänge der Geschichte in jene ungewisse Vorgeschichte verbannte, als die sie seitdem in der Moderne verharrt. Auch dafür ist das 1772 erstmals publizierte Projekt einer Universal-Historie von Schlözer aufschlußreich. »Wir wollen die Revolutionen des Erdbodens, den wir bewonen, und des Menschengeschlechts, dem wir angehören, im Ganzen übersehen, um den heutigen Zudeutung der deutschen Akademien für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft im späten 18. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 1963; Horst Dreitzel, Die Entwicklung der Historie zur Wissenschaft, in: ZHF 8 (1981) 257–284; Wolfgang Hardtwig, Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung und die Ästhetisierung der Darstellung, in: Formen der Geschichtsschreibung, hg. v. Reinhart Koselleck u.a., München 1982, 147–191; sowie auch die Beiträge in: Geschichtsdiskurs Band 2: Anfänge modernen historischen Denkens, hg. v. Wolfgang Küttler u. a., Frankfurt a. M. 1994. 212 Dazu der Überblick von Otto Dann, Das historische Interesse in der deutschen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Geschichte und historische Forschung in den zeitgenössischen Zeitschriften, in: Historische Forschung im 18. Jahrhundert, Organisation, Zielsetzung und Ergebnisse, hg. v. Karl Hammer u. Jürgen Voss, Bonn 1976, 386–415. 213 Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie, Vorrede Baumgartens, 4. 214 Vgl. Christoph Martin Wielands historische Rechtfertigung seines Bildungsromans über die Geschichte des Agathon: Über das Historische im Agathon (zuerst 1773), in: Ders., Werke in zwölf Bänden, Bd. 3, hg. v. Klaus Manger, Frankfurt a. M. 1986, 573–585. 215 So steht es in der Überschrift zum ersten Buch der Allgemeinen Weltgeschichte (Guthrie/Gray), 23.

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stand von beiden aus Gründen zu erkennen«, heißt es in Schlözers Vorstellung der Universal-Historie.216 Dazu muß die Historie als »Aggregat« (als ein bloßes Nebeneinander von Spezialhistorien) in ein »System« überführt werden, »in welchem Welt und Menschheit die Einheit ist, und aus allen Theilen des Aggregats einige, in Beziehung auf diesen Gegenstand, vorzüglich ausgewählt, und zweckmäßig geordnet werden«.217 Die als kontinuierlicher Handlungszusammenhang vorgestellte »Einheit« erfordert aber auch die zeitliche Beschränkung der (Universal-)Geschichte. Zwar stehe die Welt, wie Schlözer im Einklang mit der traditionellen, biblisch verankerten Universalgeschichtsschreibung ausdrücklich betont,218 »etwa 6000 Jar«, doch dieser Zeitraum, für Schlözer ein »langer, unüberdenklich langer Zeitraum«, ist nicht in seiner ganzen zeitlichen Ausdehnung Gegenstand der »systematischen Weltgeschichte«: »Die Geschichte überhaupt fängt nicht mit der erschaffenen, sondern mit der beschriebenen Welt, oder der Verzeichnung der Begebenheiten, an«; im Fall von Schlözer heißt das: mit der Gründung Roms. Das methodische Kriterium Schriftlichkeit wird von Schlözer nicht näher begründet. Entscheidend ist, daß »das Menschengeschlecht in merere Verbindung und Bekanntschaft unter sich« kommt, und dieser Vorgang ist für Schlözer mit Rom und Kyros verbunden. Die Darlegung der Gründe für diesen epochalen Einschnitt referiert deutlich auf die Tradition universalhistorischer Ordnungsstrukturen. Denn die Gründung Roms in Parallelisierung mit dem Aufstieg des persischen Großreiches unter Kyros ist auch für die an Monarchien von weltgeschichtlicher Bedeutung orientierte Universalhistorie ein Einschnitt. Während aber in der heilsgeschichtlichen Version Rom bzw. (in Vertretung bis zu dessen Machtentfaltung) das persische Reich das babylonische Reich ablöste, faßt Schlözer die Zeit vor der Gründung Roms als »Urwelt« und »Vorwelt«, welche die systematische Universalgeschichte »bloß in der Ferne« zeigen wolle, um möglichst schnell »in bekanntere Gegenden« zu eilen.219 Nicht nur die schriftlose Frühgeschichte fällt aus Schlözers systematischer Weltgeschichte heraus. Auch gegenwärtigen Völkern, die von der neuen, zukunftsweisenden Einheit des Menschengeschlechts nicht erfaßt sind, wird keine Geschichte zugeAugust Ludwig Schlözer, Vorstellung der Universal-Historie, Göttingen 1775, 218. Der Text erschien zuerst 1772 unter dem Titel Vorstellung seiner Universal-Historie; die hier benutzte zweite Ausgabe ist in einigen Teilen verändert. 217 Ebd., 230. 218 Zum Konzept des Anfangs der menschlichen Geschichte in deutschen Universalhistorien der zweiten Hälfte des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts (insbesondere dasjenige Johann Christoph Gatterers und Schlözers) Gérard Laudin, Changements de paradigmes dans l’historiographie allemande: les origines de l’humanité dans les ›histoires universelles‹ des années 1760–1820, in: Pratiques et concepts de l’histoire en Europe XVIe–XVIIIe siècles, hg. v. Chantal Grell u. JeanMichel Dufays, Paris 1990, 249–275. 219 Vgl. Schlözer, Vorstellung der Universal-Historie, 268 ff. 216

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standen. Sie zeigen sich in dieser Perspektive als »geschichtslose« Völker.220 Der von der »Pragmatik« der Göttinger Historiker beeinflußte Kant221 hat sich später auf einem Notizzettel in einer bezeichnenden Abbreviatur die Konsequenzen der europäischen »Idee« überlieferter »Aufklärungen« für diejenigen Völker notiert, welche sich in diesen Aufklärungsprozeß nicht integrieren lassen: »Viele Völker schreiten vor sich selbst nicht weiter fort. Grönländer, Asiater. Aus Europa muß es kommen. Amerikaner ausgerottet. Fortschritt von Griechen an«.222 In dieser Hinsicht zumindest folgt die neue »Weltgeschichte« ebenso wie die neue Philosophiegeschichte sowie die Kultur- und Zivilisationsgeschichte und Geschichtsphilosophie durchaus der jüdisch-christlichen Tradition der »ganzen« Geschichte als Geschichte »auserwählter« Völker. Der aufgeklärte Weltbürger, der sich als »Mensch überhaupt« expliziert und dessen Anspruch auf eine neue politisch-soziale Ordnung die neue allgemeine Geschichte zum Ausdruck verhilft,223 tritt der Vergangenheit als »Souverän« gegenüber. Als »pragmatischer« oder auch »philosophischer«224 Historiker wählt er die historischen Fakten nach leitenden Gesichtspunkten aus, konzentriert sich auf Begebenheiten, die »den Grund erheblicher Revolutionen des menschlichen Geschlechts enthalten«.225 Zur Versicherung seiner Identität begrenzt er die Vergangenheit, jedoch erweitert er sie zugleich, indem er gegen eine auf Schlachten und Herrschergenealogien beschränkte Historie die Geschichte von Kultur und Zivilisation zur Geltung bringt.226 »Die Zeiten sind vergangen«, hatte schon Anfang der 60er Jahre des 18. Jahrhunderts Johann Christoph Gatterer geschrieben, »in welchen man das Wesentliche

Zur Differenzierung dieser bis in die Gegenwart einflußreichen Perspektive im Blick auf das Mittelalter Hanna Vollrath, Das Mittelalter in der Typik oraler Gesellschaften, in: HZ 233 (1981) 571–594. 221 Dazu vorliegende Arbeit Teil VI, Kapitel 3. 222 Vgl. Immanuel Kant, Ausgewählte Reflexionen aus dem Nachlaß zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Historiographie, in: Ders., Schriften zur Geschichtsphilosophie, hg. v. Manfred Riedel, Stuttgart 1974, 201–255, hier 219. Diese »Ausgrenzung«, die Jürgen Osterhammel in seinem ansonsten instruktiven Überblick erst dem 19. Jahrhundert zuschreibt (vgl. Neue Welten in der europäischen Geschichtsschreibung [ca. 1500–1800], in: Geschichtsdiskurs Band 2, hg. v. Küttler u. a., 202–215, hier 202, 211 f.), erweist sich, zumindest im Kontext »fortschrittlicher« historischer Methodisierung, schon in der Aufklärung als wirksam. 223 Vgl. Schlözer, Vorstellung der Universal-Historie, 244 f. 224 Beide Begriffe wurden häufig synonym verwendet; vgl. Verf., Zur Idee einer Geschichte der Menschheit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Eine Skizze, in: Universität und Bildung. FS Laetitia Boehm zum 60. Geburtstag, hg. v. Winfried Müller u. a., München 1991, 277–299, hier 280 f. 225 Schlözer, Vorstellung der Universal-Historie, 243. 226 Dazu ebd., 243 ff. 220

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der Historie in einer umständlichen Erzälung der Kriege, Schlachten, Mordgeschichten, fabelhaften Histörchen, und dergleichen sezte. Man hält jezo nur dasjenige für merkwürdig, was uns einen wirklichen Vortheil bey unsern Haubtwissenschaften, oder sonst nach unsern Absichten gewähret«.227 Der einzig legitime Souverän der Geschichte aber, darauf legen Johann Christoph Gatterer und August Ludwig Schlözer Wert, ist der Historiker. Die von Schlözer projektierte systematische Weltgeschichte nämlich »wird im Grunde eine Geschichte der Menschheit: eine neue Art von Geschichte, die bisher meist von Philosophen bearbeitet worden, da sie ein Eigentum des Historikers ist«.228 Der damit markierte Gegensatz von Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie ist Gegenstand des abschließenden sechsten Teils dieser Arbeit. Vollständig konnte allerdings auch ein »aufgeklärter« Universalhistoriker wie Schlözer nicht auf die biblischen Historien verzichten. Denn obwohl für die »Vorstellung« der systematischen Weltgeschichte die Zeit vor der Gründung Roms »nur Fragment und Relique, nur Finsterniß und Ungewißheit«229 ist, bleibt auch für ihn Moses der »älteste noch vorhandene Annalist der Welt«, dessen »Nachrichten von den Vorfällen der ersten Welt« in den »Augen jedes Kritikers, nicht bloß des Juden und Christen, historische Glaubwürdigkeit« besitzen.230 Für Schlözers »Ideal der Weltgeschichte« allerdings ist der Bericht des Moses wenig aussagekräftig. Von diesem Ideal ausgehend, beginnt die »systematische Weltgeschichte« wie gesagt erst dann, wenn »das Menschengeschlecht in merere Verbindung und Bekanntschaft unter sich« gekommen ist und mit Hilfe kontinuierlicher schriftlicher Quellenüberlieferung als eine durchgängige Gattungsgeschichte rekonstruiert werden kann. So wurde die heilige Geschichte, das Fundament der jüdisch-christlichen Tradition universaler GeJohann Christoph Gatterer, Handbuch der Universalhistorie, Bd. 1, Einleitung, 69. Die vielfältigen Formen der Zivilisations- und Kulturgeschichtsschreibung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts harren immer noch einer zusammenhängenden Erforschung; vgl. als Überblick: Ernst Schaumkell, Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Romantik, Leipzig 1905 (ND Leipzig 1970), zu Gatterer und Schlözer 49 ff., sowie Jörn Garber, Von der Menschheitsgeschichte zur Kulturgeschichte. Zum geschichtstheoretischen Kulturbegriff der deutschen Spätaufklärung, in: Kultur zwischen Bürgertum und Volk, hg. v. Jutta Held, Berlin 1983, 76–97. Der (weite) Kulturbegriff ist in Deutschland bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts nahezu bedeutungsgleich mit »Zivilisation« (vgl. Bollenbeck, Bildung und Kultur, 93 ff.). Zur Begriffsgeschichte von »Zivilisation« vgl. Starobinski, Das Wort Zivilisation, in: Ders., Das Rettende in der Gefahr, Kunstgriffe der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1990, 9–64. 228 Schlözer, Vorstellung der Universal-Historie, 244. 229 Ebd., 270. Daß Schlözer sich an der Zeitrechnung »ante Christum natum« orientiert, erklärt sich dann zumindest auch durch seine Vorstellung einer dunklen Frühgeschichte, die er als »Vorgeschichte« von der »Geschichte überhaupt« abtrennt. 230 Ebd., 14 bzw. 7. 227

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schichtsschreibung, zu einer marginalen Geschichte. Dieser Prozeß zeigt sich deutlicher als in der »pragmatischen« Weltgeschichte Schlözers in der neuen Kultur- und Zivilisationsgeschichte des 18. Jahrhunderts, dem Gegenstand des folgenden Teils dieser Arbeit.

Titelkupfer der Erstausgabe Paris 1724 von Joseph-François Lafitaus Moeurs des sauvages ameriquains, comparées aux moeurs des premiers temps. HAB Wolfenbüttel M: Gx 4° 16

TEIL V Das Anfangsproblem in der Kulturgeschichte

»Heute, da der Handel, die Reisen und die Eroberungen die verschiedenen Völker zusammenbringen und ihre Lebensweisen sich durch die häufigere Verbindung unablässig annähern, wird man gewahr, daß sich bestimmte nationale Unterschiede verringert haben«.1 Dem Prozeß der Vereinheitlichung menschlicher Lebensverhältnisse, wie ihn Jean-Jacques Rousseau in einer Anmerkung des Discours sur l'inégalité (1755) beschreibt,2 korrespondierte eine wachsende Aufmerksamkeit für unterschiedliche Lebenswelten und die Differenzen zwischen der europäischen Kultur und jenen Lebensformen, von denen die Reiseberichte aus Neuen Welten berichteten. Reiseberichte gehörten zu den erfolgreichsten und einflußreichsten Lektüren in der Frühen Neuzeit,3 sie eröffneten, resümiert Johann Gottfried Herder in der Adrastea, den Europäern »in der alltäglichen eine neue Welt«,4 und veränderten dadurch die Wahrnehmung der eigenen Lebensverhältnisse.

Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l’inégalité, zuerst 1755, hier zitiert nach: Diskurs über die Ungleichheit/Discours sur l’inégalité. Kritische Ausgabe des integralen Textes. Mit sämtlichen Fragmenten und ergänzenden Materialien nach den Originalausgaben und den Handschriften neu ediert, übers. u. komment. v. Heinrich Meier, 3. durchgesehene Aufl. Paderborn 1993 (zuerst 1984), 325. 2 Es handelt sich um die berühmte Anmerkung über den »wilden Menschen« des Naturzustands (vgl. ebd., 323–349). 3 Reiseberichte wurden in den letzten Jahren besonders intensiv untersucht (vgl. den Forschungsbericht von Peter J. Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte, Tübingen 1990). Verstärkt interessieren die Aneignungsweisen des Fremden im europäischen Horizont, dazu besonders Stephen Greenblatt (Wunderbare Besitztümer); vgl. auch: Der europäische Beobachter außereuropäischer Kulturen. Zur Problematik der Wirklichkeitswahrnehmung, hg. v. Hans-Joachim König u. a., Berlin 1989 (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 7); Wolfgang Neuber, Fremde Welt im europäischen Horizont. Zur Topik der deutschen Amerika-Reiseberichte der Frühen Neuzeit, Berlin 1991; Michael Harbsmeier, Wilde Völkerkunde. Andere Welten in deutschen Reiseberichten der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. u. a. 1994; Hinrich Fink-Eitel, Die Philosophie und die Wilden. Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte, Hamburg 1994; Horst Walter Blanke, Politische Herrschaft und soziale Ungleichheit im Spiegel des Anderen. Untersuchungen zu den deutschsprachigen Reisebeschreibungen vornehmlich im Zeitalter der Aufklärung, 2 Bde., Waltrop 1997. 4 Zitiert nach: Felix Günther, Die Wissenschaft vom Menschen. Ein Beitrag zum deutschen Geistesleben im Zeitalter des Rationalismus mit besonderer Rücksicht auf die Entwicklung der deutschen Geschichtsphilosophie im 18. Jahrhundert, Gotha 1906, 17. 1

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Teil V · Das Anfangsproblem in der Kulturgeschichte

Allerdings sagte die Beobachtung der Neuen Welt vor allem etwas über die Wahrnehmung der europäischen Welt aus. Das erkannte man schon im 18. Jahrhundert. Rousseau war auch in dieser Hinsicht ein kluger Beobachter, der den europäisch beschränkten Erfahrungshorizont der Reiseberichte scharfsinnig bloßstellte: »Seit dreioder vierhundert Jahren überfluten die Einwohner Europas die anderen Teile der Welt und veröffentlichen sie unablässig neue Sammlungen von Reisebeschreibungen und Berichten – dennoch bin ich überzeugt, daß wir keine anderen Menschen als allein die Europäer kennen […] Man schlägt kein Buch mit Reisebeschreibungen auf, in dem man nicht Schilderungen von Charakteren und Sitten findet; aber man ist ganz erstaunt zu sehen, daß diese Leute, die so viele Dinge beschrieben haben, nur gesagt haben, was jeder schon wußte; daß sie am Ende der Welt nur wahrzunehmen gewußt haben, was sie hätten bemerken können, ohne ihre Straße zu verlassen, und daß jene wahren Charakterzüge, welche die Nationen unterscheiden und welche den Augen, die zum Sehen geschaffen sind, auffallen, den ihren fast immer entgangen sind«.5 Die »Sitten« der »Wilden« und »Barbaren«, wie sie in den Reiseberichten vorgeführt werden, spielen auch in den Kulturgeschichten, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wachsender Beliebtheit erfreuten, eine prominente Rolle. Auf unterschiedliche Weise dienten sie als Kontrastbilder europäischer Lebensformen, mit deren Hilfe sich das christliche Abendland über sich selbst zu vergewissern suchte. Mit ihrer Hilfe wurden die europäische Kultur, deren ökonomische, soziale, wissenschaftliche und religiöse Errungenschaften reflektiert und ausgezeichnet. Der Abstand zwischen den Wilden und Zivilisierten hieß (und heißt bis heute) Fortschritt. Im historischen Ausmessen dieses Abstands kommt der Wille der Aufklärung zum Ausdruck, die Besonderheit des europäischen Zivilisationsprozesses vernünftig zu erklären und dessen gesetzmäßigen Verlauf zu verdeutlichen. Es geht um Sicherung des »Fortschreitens«, dessen historische Begründung als unumkehrbarer Prozeß, der optimistische Zukunftsaussichten eröffnet. Dies war vor allem das Programm der »Geschichte der Menschheit«, Gegenstand des letzten Teils vorliegender Arbeit. Was die Werke der Kulturgeschichtsschreibung von der »Geschichte der Menschheit« unterscheidet, ist das Interesse an der historischen Differenzierung und die damit verbundene intensive Arbeit am historischen (Quellen-)Material. Für die Frage nach dem Ursprung der Kultur und Zivilisation – beide Ausdrücke werden im 18. Jahrhundert weitgehend synonym gebraucht – hatte das zur Folge, daß neben ethnographischen Dokumenten antike Quellen verschiedener Provenienz, gelehrte Forschungen und auch: die biblischen Historien berücksichtigt wurden. Die Geschichtsschreibung zum Ursprung der Kultur umgreift in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein breites Spektrum vielfältiger Untersuchungen. In ihnen 5

Rousseau, Discours sur l’inégalité, 339 ff.

Das Interesse an den Wilden

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wurden die naturrechtlichen und historisch-philologischen Interessen und Methoden, welche Gegenstand der voranstehenden Abschnitte dieser Arbeit waren, aufgegriffen und verarbeitet. Die Auseinandersetzung um die Frage des Anfangs der Geschichte, die bei Ludewig, Thomasius, Gundling und Heumann in Form kleiner, für gelehrte Spezialisten verfaßter Abhandlungen geführt wurde und die in der neuen Weltgeschichte als gelehrte Problematisierung oder auch souveräne Marginalisierung präsent war, entfaltete sich bei der Frage nach dem Ursprung der Kultur in Form großer, umfangreicher Monographien für ein nicht nur gelehrtes Publikum. Fragen nach der Geltung und Erklärungskraft der heiligen Anfänge rückten dabei in den Hintergrund oder blieben ausgespart. Das Ursprungsthema erhielt mit der neuen Kulturgeschichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen von heiligen Ursprüngen emanzipierten Bezirk eigenen Rechts, in dem natürliche und gesellschaftliche Bedingungen der Kulturentstehung, keine »heiligen« Männer verhandelt wurden. Gleichgültig, ob naturgeschichtliche, soziale, ökonomische oder religiöse Ursprungsmotive zur Geltung gebracht wurden, die Kulturgeschichte wurde als ein Prozeß vorgestellt, der, unberührt von sakralen Ursprüngen, selbständig in Gang kommt. Nur in Form einzelner Quellenbelege, die den profanen und »wilden« (ethnographischen) Belegen gleichgestellt werden, darf die heilige Geschichte den selbständig gewordenen Prozeß der Zivilisation verdeutlichen. Zwei frühe Vertreter des kulturhistorisch geprägten Ursprungsinteresses aus Frankreich verdienen für den geschilderten Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit. Sie verdeutlichen unterschiedliche Entwürfe und Methoden bei der Rekonstruktion des Kulturursprungs. Außerdem hatten sie auf die deutsche Kulturgeschichtsschreibung, u. a. auf Johann Gottfried Herder, großen Einfluß. Sie stehen im Zentrum der folgenden Ausführungen zum Anfangsproblem in der Kulturgeschichte. Eröffnet wird dieser Abschnitt mit einer Skizze zur Tradition des kulturhistorischen Interesses an »wilden« Völkern.

1. Das Interesse an den Wilden: Joseph-François Lafitau und Jens Kraft Die Beschreibung der Lebensformen und besonders der Religionspraktiken von »Wilden« und »Barbaren« als »Schwundstufen« christlicher Zivilisation war schon im 17. Jahrhundert ein beliebtes Genre. Zu den erfolgreichsten Werken dieses Typs gehörte die erstmals 1653 gedruckte Pansebeia, or a View of All Religions in the World 6 des Engländers Alexander Ross. Wenigstens 36 Auflagen erschienen im 17. und 18. Jahr-

Alexander Ross, Pansebeia, or a View of All Religions in the World, Erstausgabe: London 1653; erste deutsche Übersetzung: Amsterdam 1667. 6

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hundert in englischer, holländischer, französischer und deutscher Sprache.7 Die apologetische Absicht ist für das Genre charakteristisch. So ging es Ross, dem Kritiker von Thomas Hobbes, um den Nachweis, daß Religion der »Pfeiler« ist, »worauf jede Republic erbauet«, und »kein Volck dermassen greulich gewest / daß es eine Gottheit geläugnet«. Dies widerlege den Irrtum der »Atheisten und Libertiner«, die glaubten, sie könnten ohne Vertrauen auf Gott allein auf sich selbst vertrauen.8 Ein weiterer Schwerpunkt des kulturhistorischen Interesses in der Frühen Neuzeit war die durch die Entdeckung Neuer Welten provozierte Frage nach der Herkunft der »amerikanischen Wilden«. Die erste systematische Untersuchung der einzelnen dazu vertretenen Thesen (»variae de originibus Americanis opiniones«) verfaßte der schon im Abschnitt über die Philosophiegeschichte behandelte Georg Horn.9 Die Frage wurde in der Frühen Neuzeit kontrovers diskutiert, doch beherrscht von der Vorstellung, daß ursprünglich zwischen den »Wilden« und den Völkern der alten Geschichte ein Zusammenhang bestand, der durch den Vergleich gegenwärtiger Berichte über »wilde« Völker mit antiken Überlieferungen rekonstruiert werden kann. Auch Joseph-François Lafitau suchte nach Analogien zwischen den »Sitten der antiken Welt« und denjenigen »amerikanischer Wilder«. Er beschränkte sich nicht auf die Beschreibung der »Gemütsbeschaffenheiten der Wilden«, sondern wollte es sich »insbesondere angelegen seyn lassen, hierinnen Fustapfen des entfernten Altertums anzutreffen«.10 Sein 1724 erstmals publiziertes Werk wurde 1752 ins Deutsche übersetzt, und zwar, wie so viele englische und französische kulturhistorische Texte der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die Übersetzungswerkstatt Siegmund Jacob Baumgartens, der es mit einer Vorrede versah.11 Im Unterschied zu früheren Vergleichen zwischen den »Sitten der Wilden« und denen antiker Völker konnte Lafitau die komparative Methode auf Autopsie gründen, denn er war über fünf Jahre in einer Missionsstation tätig gewesen. Lafitau benutzte seine Erfahrungen zur »wechselseitiVgl. das Verzeichnis in: A critical edition of Alexander Ross’s 1647 Mystagogus poeticus, or The muses interpreter, ed. John R. Glenn, New York u. London 1987, 626–628. 8 Alexander Rossen unterschiedliche Gottesdienste in der gantzen Welt. Das ist: Beschreibung aller bewusten Religionen / Secten und Ketzereyen / So in Asia / Africa / America / und Europa / von Anfang der Welt / bis auf diese gegenwärtige Zeit / theils befindlich / theils annoch gebräuchlich, Heidelberg 1674, unpag. Vorrede, 856, 937. 9 Horn, De originibvs Americanis, 5–21. 10 Joseph-François Lafitau, Moeurs des sauvages ameriquains, comparées aux moeurs des premiers temps, zuerst Paris 1724, zitiert nach der deutschen Übersetzung in: Algemeine Geschichte der Länder und Völker von America, Bd. 1, Halle 1752, Erster Theil, 1–504, hier 2. 11 Von dieser Ausgabe (vgl. Anm. 10) liegt ein Neudruck vor: Joseph-François Lafitau, Die Sitten der amerikanischen Wilden im Vergleich zu den Sitten der Frühzeit, hg. v. Helmut Reim, Leipzig 1987. Vgl. zum im folgenden verhandelten Problem auch Friedrich Vollhardt, Christliche und profane Anthropologie im 18. Jahrhundert: Beschreibung einer Problemkonstellation im Ausgang von Siegmund Jacob Baumgarten, in: »Vernünftige Ärzte«: Hallesche Psychomediziner 7

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gen Vergleichung«12 und typologisierte die Ergebnisse nach ethnologischen Gesichtspunkten. So konnte er etwa die These von der Abstammung der »Jroquoisen und Huronen« von den Türken, die Horn auf die Namensbezeichnung dieser Völker gestützt hatte, widerlegen. Horn, so Lafitau, sei nur von den Benennungen ausgegangen, die die Franzosen den »Jroquoisen« beigelegt hätten.13 Doch auch für Lafitau, den französischen Jesuitenmissionar, bestätigten seine Untersuchungen die durch Gottes Schöpfung begründete Einheit des Menschengeschlechts sowie die Wahrheit der biblischen Offenbarung. Die dem »Ursprunge nach reine und einfältige Religion« kann noch in gegenwärtigen Praktiken der »Wilden« in zwar verdorbenen, jedoch erkennbaren Resten aufgefunden werden. Wie für Ross dient für Lafitau der Nachweis der »Uebereinstimmung aller Völker, in Ansehung der Erkentnis eines höchsten Wesens, und desselben Verehrung«, als ein Beweis der »Notwendigkeit und Wirklichkeit« von Religion und damit als ein Mittel der Widerlegung von »Gottesleugnern«, welche Religion als »blosses Menschenwerk« erklären.14 Daß die wilde und heidnische (d.h. antike) Religion trotz »Abgötterey und Abscheulichkeit der Zauberey« mit der (biblischen) Religion der ersten Zeiten »einerley Grundsätze und einerley Anlage« hat, ist nach Lafitau darauf zurückzuführen, daß »beinahe alles Wesentliche aus einerley Vorrat hervorgeholet worden«. Bereits seit der Schöpfung habe es »eine Religion und einen öffentlichen und regelmäßig eingerichteten Gottesdienst« gegeben, »welcher in vielen Ueberlieferungen, Grundsätzen der Tugend, gesetzlichen Beobachtungen und Gebräuchen« bestand. Nachdem nämlich die Religion »unsern ersten Eltern gegeben worden«, sei sie »von Geschlecht zu Geschlecht, gleichsam als eine Art einer algemeinen Erbschaft« kontinuierlich ausgebreitet worden. Die dem Ursprunge nach reine und einfältige Religion verdarb aber bei einzelnen Völkern durch die Folge der Zeit: »Ein wirkliches Exempel treffen wir gegenwärtig bey den Religionen der Indianer an«. Die Abstammung aller Menschen von einem Menschenpaar war auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die vorherrschende Auffassung.15 Und die Auslegung

und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, hg. v. Carsten Zelle, Tübingen 2001, 68–90. 12 Karl Heinz Kohl, Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation, Berlin 1981, 100. 13 Lafitau, Die Sitten der amerikanischen Wilden, 33. Zu Lafitaus komparativer Methode Wilfried Nippel, Griechen, Barbaren und »Wilde«. Alte Geschichte und Sozialanthropologie, Frankfurt a. M. 1990, 53 ff.; Alfonso M. Iacono, The American Indians and the Ancients of Europe: The Idea of Comparison and the Construction of Historical Time in the 18th Century, in: The Classical Tradition and the Americas, Bd. I, 1, hg. v. Wolfgang Haase u. Reinhold Meyer, Berlin-New York 1994, 658–681, 664 ff. 14 Vgl. (auch zum Folgenden) Lafitau, Die Sitten der amerikanischen Wilden, 3 ff. 15 Der Polygenetismus, den etwa Voltaire vertrat, »befand sich nicht auf der Höhe des wissen-

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»wilder Sitten« als »Fustapfen des entfernten Altertums« inspirierte die Forschung zur Frühgeschichte des Menschen in zunehmendem Maße. Was man »in den alten Nachrichten, wie durch einen Nebel, siehet«, heißt es in einem (zuerst 1760 in dänischer Sprache erschienenen) Text,16 »das siehet man mit klaren Augen in der Geschichte der wilden Völker. Man findet darin ein neues und lebendiges Bild unserer alten und vorlängst erblaßten Vorfahren«.17 Der »sehr gelehrte Lafitau« ist für den Philosophen Jens Kraft, Verfasser der Untersuchung über Die Sitten der Wilden, zur Aufklärung des Ursprungs und Aufnahme der Menschheit, eine wichtige Quelle. Im Vorwort wird er als wichtigster »Vorarbeiter« bezeichnet, der wie kein anderer die Fähigkeiten gehabt hätte, »diese Materien vollkommen auszuarbeiten«. Doch habe Lafitau den »Ursprung der Meinungen, der Sitten und Gebräuche« der »Wilden« nicht, wie es nötig gewesen wäre, »in den Wilden selbst, in der Natur des Menschen überhaupt«, sondern »in fremden Quellen« gesucht.18 Den – schon von Rousseau beeinflußten –19 Kraft interessierte die Kultur der »Wilden« nicht mehr wie Lafitau als »Schwundstufe« einer ursprünglichen Einheit der Menschen und ihrer sozialen und religiösen Praktiken. »Um der Menschheit Schritt vor Schritt zu folgen, um sie in ihrem ganzen Zusammenhange einzusehen, um zu verstehen, wie die Einrichtungen und selbsterdachten Meinungen aus ihrer Natur abstammen«,20 liest er die »Sitten der Wilden« als »lebendige« Dokumente der frühesten Geschichte menschlicher Zivilisation, die »nur mit langsamen Schritten ihrer Vollkommenheit« entgegen geht.21 Die »Geschichte der Wilden«, die Untersuchung ihrer »Lebensart« und »Denkungsart«,22 verdeutlicht Kraft, »wie der Mensch von Natur ist, ehe er durch die Kunst verändert ward«.23 schaftlichen Kenntnisstandes, der den biblischen Monogenetismus klar begünstigte« (Seifert, Von der heiligen zur philosophischen Geschichte, 92 f.). 16 Das dänische Original: Kort Fortoelning af de Vilde Folks fornemmeste Jndretninger, Stikke og Meninger, til Oplysning af det menneskeliges Oprindelse og Fremgang i Almindelighed. Ved Jens Kraft, Professor i Mathematik og Philosophie ved Ridder-Academiet, Soroe 1760. 17 Jens Kraft, Die Sitten der Wilden, zur Aufklärung des Ursprungs und Aufnahme der Menschheit, Wien u. Innsbruck 1787, 17. Die erste deutsche Übersetzung erschien Kopenhagen 1766. Kraft (1720–1765) war Professor der Philosophie und Mathematik an der dänischen Ritterakademie Soroe (zu Leben und Werk Carl Henrik Koch, Jens Kraft som filosof, Copenhagen 1992). 18 Kraft, Die Sitten der Wilden, Vorrede, 6 f. 19 Kraft paraphrasiert mehrfach Stellen von Rousseaus (fünf Jahre zuvor erschienenem) Discours sur l’inégalité und verweist auch auf diesen Text (ebd., 37 f.). 20 Ebd., Vorrede, 8. 21 Ebd., 138. 22 In dieser Hinsicht meint »Geschichte« beschreibende (empirisch orientierte) Naturkunde, ein Konzept, das noch Christoph Meiners Grundriß der Geschichte der Menschheit (Lemgo 1785) zugrunde liegt. Zur frühneuzeitlichen Ambivalenz des Geschichtsbegriffs Arno Seifert, Cognitio historica. Die Geschichte als Namengeberin der frühneuzeitlichen Empirie, Berlin 1976. 23 Kraft, Die Sitten der Wilden, 225.

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Der Mensch der »ältesten Welt« zeigt sich Kraft nicht im Bild der biblischen Offenbarung und ihrer Auslegung, sondern als »sich selbst überlassener« Mensch, dessen Meinungen von natürlichen Bedingungen und Umständen geprägt sind (wenngleich Kraft die Vereinbarkeit der »heiligen Nachrichten« mit seinen »Annahmen« ausdrücklich betont).24 Man habe, lautet Krafts Kritik der gelehrten und theologischen Auslegungen »wilder Sitten«, »insgemein etwas höheres in der menschlichen Denkungsart gesucht, als was die Natur des Menschen erläubet, und nicht genug darauf gesehen, den Menschen aus dem Menschen selbst zu erklären«.25 Kraft wendet sich entschieden gegen die Annahme, »es wären die Meynungen in der heidnischen Welt höchst verderbte Ueberbleibsel der großen Wahrheiten, die dem Menschen so gleich nach der Sündflut bekannt waren, und sie fänden alle darin ihren gemeinschaftlichen Ursprung«. Dagegen spreche der große Unterschied zwischen den »wahren und den heidnischen Lehrsätzen«, und überhaupt verliere die Kirche wenig, »wenn sie sich solcher aus der Art geschlagenen Schüler entsaget«. Statt davon auszugehen, argumentiert Kraft gegen Lafitau, daß ein einziges oder wenige Völker allen übrigen Völkern mitgeteilt haben, »was sie denken und glauben«, sind Analogien als Produkt vergleichbarer Entwicklungsstufen des menschlichen Verstandes zu erklären: »Es scheinet vielmehr, es habe die ganze Welt eben dieselben Sitten, Gebräuche und Meynungen gehabt, weil der Verstand sich überall ungefähr auf eine und eben dieselbe Art entwickeln mußte«.26 Das ist das große Thema der kulturhistorischen Untersuchungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

2. Die Ursprünge der Zivilisation in vernünftiger Erklärung: Antoine Yves Goguet Vergleicht man Antoine Yves Goguets De l’origine des loix, des arts, et des sciences; et de leurs progrès chez les anciens peuples 27 mit den Zivilisationstheorien von Vico bis Condorcet, so mag das erstmals 1758, 14 Jahre nach Vicos endgültiger Fassung der

Vgl. ebd., 14, 225 u. 19: »Der Ursprung des Menschen ist uns allzuwohl bekannt; die hohen Vollkommenheiten, womit er aus der Hand des Schöpfers kam, sind allzu unwidersprechlich wahr, als daß jemand, den heiligen Nachrichten entgegen, darauf fallen sollte, zu glauben, der Mensch wäre vom Anfange an in einem solchen Zustande gewesen, den wir hier annehmen, nähmlich wie ein bloß sinnliches Thier, das seine Vermögenheiten oder Kräfte erst in der Länge der Zeit entwikkelt hat«. Daß jedoch der Mensch in diesen Zustand herabsinken konnte, dies scheine sogar die Bibel (durch die Darstellung der Zerstreuung der Menschen nach der babylonischen Sprachverwirrung) zu bestätigen (38 f.). Ansonsten kommen die biblischen »Nachrichten« bei Kraft nicht vor. 25 Ebd., 225. 26 Ebd., 226 ff. 27 Zuerst 1758 (im Todesjahr ihres Verfassers) in drei Bänden anonym in Paris sowie in Den Haag gedruckt. Weitere (ebenfalls in Paris gedruckte) Ausgaben: 1759, 1778, 1809, 1820. Der 24

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Scienza nuova publizierte Werk des Pariser Parlamentsrates eher konventionell erscheinen. So verzichtete Goguet – wie Vico – keineswegs auf den biblischen Rahmen der Universalgeschichte. Und er vertraute – auch dies eine Parallele zu Vico – auf das historisch-philologische Fundament, das die Menschheitshistoriker der Aufklärung weitgehend durch anthropologische, vor allem ethnographische Empirie ersetzten. Allerdings gründet auch Goguets Werk zumindest für das »erste Zeitalter«, als er sich »beinahe von allen Nachrichten und historischen Denkmalen entblösset« sah, auf Erkenntnissen, die «uns so wohl alte, als neue Schriftsteller von den Sitten der wilden Völker lehren«.28 De l’origine des loix wurde 1760/1762 ins Deutsche übersetzt, auch italienische und englische Übersetzungen wurden publiziert.29 Goguets Forschungen regiert das theoretische Interesse, Grundlagen für eine umfassende Geschichte der menschlichen Zivilisation zu liefern, die einen genauen Begriff »von dem Gange des menschlichen Verstandes bei seinen Entdekkungen und seinem Fortrükken« ermöglichen sollten.30 Es ist die Spannung zwischen Gelehrsamkeit und vernünftiger, d.h. »durch Philosophie versuchten ältesten Menschengeschichte«,31 die Goguets – trotz seines im Unterschied zu Vico großen Einflusses auf die Kulturgeschichtsschreibung der Aufklärung von der modernen Forschung bislang wenig beachtetes –32 Werk zu einem idealen Studienobjekt macht. Bd. 3 der deutschen Übersetzung (vgl. Anm. 28) enthält eine biographische Skizze zu Goguet: »Nachricht von dem Leben des Verfassers, aus dem Nouvelliste oeconomique & literaire. To. 29. p. 62« (283–286); vgl auch: Louis Lacour, Artikel Goguet, in: Nouvelle Biographie Générale, Bd. XXI–XXII, Sp. 75 f. 28 Antoine Yves Goguet, Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, Künste und Wissenschaften wie auch ihrem Wachsthum bei den alten Völkern, 3 Bde., Lemgo 1760–1762, Bd. 1, Vorrede, X. 29 Die deutsche Übersetzung verfaßte der Göttinger Professor und Lexikograph Georg Christoph Hamberger. Ende des Jahrhunderts gab der Nürnberger Gymnasiallehrer Johann Paul Sattler einen Auszug heraus: Ueber den Ursprung der Gesetze, Künste und Wissenschaften, im Auszuge nach dem Französischen des Herrn Goguet, zum gemeinnüzigen Gebrauch für studierende Jünglinge und andere Leser bearbeitet, Nürnberg 1796. Die italienische Übersetzung (Della Origine delle Leggi, delle arti e delle scienze e dei loro progressi presso gli antichi popoli) erschien 1761 in drei Bänden in Lucca (zu dieser Ausgabe Spieß, Anm. 32, 210 ff.), die englische Übersetzung (The Origin of Laws, Arts, and Sciences, and their Progress among the most Ancient Nations) ebenfalls 1761 in drei Bänden in Edinburgh (Reprint New York 1976), eine weitere Ausgabe erschien London 1775. Goguet wurde von Edward Gibbon hoch geschätzt (vgl. Nippel, Griechen, Barbaren und »Wilde«, 163, Anm. 74b). 30 Goguet, Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, VII. 31 Immanuel Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), zitiert nach: Ders., Schriften zur Geschichtsphilosohie, 67–84, hier 84; beim »Abgang des Lichts der Geschichte«, heißt es entsprechend schon bei Goguet, muß man »das Licht der Vernunft zu Rathe« ziehen (Goguet, Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, Bd. 1, 225). 32 Die Forschung zu Goguet ist spärlich: Emil Spieß, Der früheste Versuch einer allgemeinen Kulturgeschichte auf evolutionistischer Grundlage, in: Studien aus dem Gebiete von Kirche und

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Goguet verfaßte die erste umfassende Synthese zur Kultur- und Zivilisationsgeschichte antiker Völker. Er verarbeitete dazu eine große Fülle frühneuzeitlicher Forschungen, besonders jene kleinen und kleinsten gelehrten Spezialstudien, die in gelehrten Zeitschriften wie dem Journal des Savants, dem Journal de Trévoux oder der Bibliothèque universelle et historique seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erschienen waren.33 Außerdem wertete er Sammelbände mit Publikationen französischer Akademien aus.34 Universalhistorische Synthesen benutzte Goguet dagegen kaum. Eine Ausnahme ist nur Francesco Bianchinis (»einer der scharfsinnigsten Kunstrichter unsers Jahrhunderts«)35 Storia universale.36 Goguet legt großen Wert darauf, daß seine Darstellung ein historisch-philologisches Fundament besitzt. Die bereits vorliegenden Werke zu seinem Thema, heißt es in der Vorrede, hätten ihren Gegenstand, dem »nichts an Grösse und Wichtigkeit« gleich komme, nicht »getreulich« behandelt und sich »zu sehr den Mutmassungen« überlassen: »Das Licht der Geschichte hat diejenigen nicht allezeit genug erleuchtet, welche sich bisher in dieses weite Feld begeben haben; der grösseste Theil hat sich darin verirret, indem er dasjenige aus den Augen gesezzet, was würklich geschehen, um sich gänzlich seiner Einbildung zu überlassen«.37 Kultur. Festschrift Gustav Schnürer, Paderborn 1930, 208–265; Jean Dagen, L’histoire de l’esprit humain dans la pensée française de Fontenelle à Condorcet, Paris 1977, 508 f.; Ronald L. Meek, Social science and the ignoble savage, Cambridge u.a. 1976, 94 ff.; Johannes Rohbeck, Die Fortschrittstheorie der Aufklärung. Französische und englische Geschichtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. u. New York 1987, 162 ff. u. 225 ff. Den großen Einfluß Goguets auf Herder dokumentiert der Kommentar zum ersten und dritten Band der HerderAusgabe von Wolfgang Pross (vgl. Registerangaben), dessen (unveröffentlichte) Habilitationsschrift Herders Goguet-Lektüre näher analysiert (vgl. den Verweis im Nachwort zum Bd. 2: Herder und die Anthropologie der Aufklärung, München u. Wien 1987, 1210/Anm. 81). Daß Goguets Werk auch von deutschen Historikern der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts breit rezipiert wurde, belegt die von Blanke und Fleischer herausgegebene Edition Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie (vgl. Verweise auf Goguet im Register). 33 Das Journal des Savants erschien seit 1665, das Journal de Trévoux, die Zeitschrift der Jesuiten, wurde 1701 unter dem Titel Mémoire pour l’histoire des sciences et des beaux-arts gegründet. Die Bibliothèque universelle et historique wurde seit 1686 von Jean le Clerc in Amsterdam herausgegeben (zu ihr vgl. De »Bibliothèque universelle et historique« [1686–1693]. Een Periodiek als Trefpunt van geletterd Europa, hg. v. H. Bots u. a., Amsterdam 1981). 34 Vor allem die Mémoires de l’Académie Royale des Sciences (11 Bde., Paris 1729–1734; sie enthalten die Texte von 1666 bis 1699) und die seit 1717 veröffentlichten Mémoires der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres. Zur historischen Forschung an den französischen Akademien vgl. den Bd. 3 (Les Académies de l’histoire) von Blandine Barret-Kriegels vorzüglicher Studie Les historiens et la monarchie (4 Bde., Paris 1988) sowie auch die einschlägigen Abschnitte bei Grell, L’histoire entre érudition et philosophie. 35 Goguet, Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, Bd. 1, Drittes Buch, 227. 36 Zuerst Rom 1697; Goguet belegt die Ausgabe Rom 1747. 37 Goguet, Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, Bd. 1, Vorrede, IIIf.

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Goguet möchte sein Thema »auf eine genauere, und der Geschichte mehr gemässe Art« entwickeln.38 Die notwendige Kontrolle der »Einbildungen« durch historische Dokumente, besonders die Kontrolle der Vorstellungen über die früheste Geschichte, betont er immer wieder. Um »seine Einbildung der Würklichkeit« der Dokumente möglichst umfassend »unterwerfen« zu können,39 machte Goguet die Quellengrundlage stärker, als sie nach den Maßstäben der zeitgenössischen historischen Kritik war. Er unterstreicht in der Vorrede die Notwendigkeit genauer und kritischer Fußnotenbelege, in denen Schwierigkeiten und Widersprüche untersucht werden, die »sich oftmahls in der Geschichte der alten Völker ereignen«.40 Die Belege zur eigenen Darstellung problematisieren allerdings selten die Quellen- und Forschungsgrundlage der Argumentation. Meist finden sich nur summarische Verweise auf Forschungen und Quellen unterschiedlicher Art und Provenienz (vor allem antike Geschichtsschreibung, häufig Hesiod, Herodot und Diodor, Bibelbelege und Reiseberichte), ohne daß ihr Kontext und Zusammenhang näher erörtert wird. Eine systematische Differenzierung der Quellen nach methodischen Kriterien, wie sie etwa Baumgarten propagierte und praktizierte, findet nicht statt. Die historische Skepsis forderte also Goguet kaum zur historischen Kritik heraus. Die Aufnahme von skeptischen Argumenten in Form rhetorischer Fragen41 mündet in eine bloß apologetische Abwehr des historischen Pyrrhonismus, der als »argwöhnische Eitelkeit« und »Blendwerk« moralisch verurteilt wird: »Der Mensch ist nicht zu der betrübten Nothwendigkeit verdammt, beständig in der Ungewisheit in Ansehung der Hauptbegebenheiten zu schweben, welche die Geschichte und Tradition uns überliefert haben«; die wichtigsten historischen Sachverhalte, auch der Ursprung und das Entstehen der Völker, seien bekannt. Deshalb gilt: »Es ist nicht alles, was man davon erzehlet, wilkürlich, problematisch und ungewiß. Etwas Aufrichtigkeit mit einem guten Willen und Verstand vergeselschaftet, sind hinreichend, uns von dieser kostbaren Warheit zu überzeugen«. Die Apologie historischer Wahrheit verleitet so Goguet häufig zur Berücksichtigung auch solcher Überlieferungen, deren Authentizität als Quellen für die früheste Geschichte umstritten war. Zum Beispiel rechnet er Sanchuniathon (ein »ächtes Werk«, das »zum guten Glük dem Unfal der Zeit entgangen« ist) zu den ältesten der nach Moses entstandenen historischen Überlieferungen. Ausdrücklich wendet er sich geEbd., IV. Ebd., X. 40 Ebd., IX; vgl. auch XI. 41 »Hat man bei einer Sache, von der man die Unwahrscheinlichkeit dargethan hat, deswegen bewiesen, daß sie falsch sey? Zeiget uns die Erfahrung nicht, daß oftmals eine wahre Sache nicht wahrscheinlich gewesen? Ist es ein zureichender Grund, eine Sache zu leugnen, weil sie uns einen Saz vernichtiget, den wir angenommen haben? Kan ein metaphysicalischer Schluß einen historischen Beweiß umstossen?« (ebd., X; dort auch die folgenden Zitate). 38 39

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gen Johann Heinrich Ursinus und Richard Simon, die die Authentizität des Sanchuniathon bestritten hatten. Allerdings geht Goguet nicht, wie die meisten Verteidiger des Sanchuniathon (Samuel Bochart, Athanasius Kircher, Pierre-Daniel Huët, Richard Cumberland), davon aus, daß dieser die Heilige Schrift gekannt habe, sondern versteht das Fragment mit Antoine Banier, auf dessen Arbeiten zur Mythenauslegung42 er sich auch sonst häufig stützt, als verfälschte »Tradition von der Schöpfung der Welt«.43 Und Goguet ist kritisch genug einzugestehen, daß seine Untersuchungen nicht ohne Mutmaßungen auskommen. Dies gilt besonders im Fall der frühesten Geschichte, über die »nur sehr wenig umständliche Nachrichten« überliefert seien.44 Der Grundsatz, ausschließlich »der Geschichte und dem Faden der Begebenheiten« zu folgen, kann nur methodisch eingelöst werden, der Mangel an »Nachrichten und historischen Denkmalen« des ersten Zeitalters muß im Vergleich mit den »Sitten der wilden Völker« erschlossen werden.45 Erst durch retrospektive Rekonstruktion kann sich die Kontinuität der Geschichte, die von Goguet immer wieder beschworene »Kette einer ununterbrochenen Ueberlieferung«46 ergeben. Das liegt keineswegs nur im Mangel an Quellen begründet. Die durch historische Dokumente zu kontrollierende »Einbildung« ist ganz generell konstitutiv für eine Darstellung der Vergangenheit, die sich nicht auf die (chronologische) Ordnung und Verzeichnung von überlieferten Historien einschränken will.47 Denn eben die Vorstellung der Vergangenheit als eines zusammenhängenden Ganzen, das sich kontinuierlich auf die Gegenwart zu bewegt, ist eine solche »Einbildung«, eine Vergegenwärtigung des Ganzen der Geschichte durch die rekonstruierende Vernunft. Eigentlich, präzisiert Goguet den Gegenstand seiner Untersuchungen, sei die »Geschichte der Gesezze, der Künste und der Wissenschaften« die »Geschichte des menschlichen Verstandes« (im französischen Original: »l’Histoire de l’Esprit Antoine Banier, Explication historique des fables, 2 Bde., Paris 1711; Ders., La mythologie et les fables expliquées par l’histoire, 3 Bde., Paris 1738–40. 43 Vgl. die Abhandlung Von Sanchoniaton in: Goguet, Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, Bd. 1, 374–384. Spieß (Der früheste Versuch, 239 ff.), für den diese Abhandlung Goguets einen »Beweis seiner quellenkritischen Begabung« liefert (ebd. 239), übersieht ihre apologetische Tendenz sowie den Kontext von Goguets Beweisführung. 44 Goguet, Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, Bd. 1, Vorrede, IV. 45 Vgl. ebd., X. Zu Goguets methodischer Begründung dieses Interesses das Urteil von Meek (Social science, 97): »For its time, this methodological statement was quite outstanding. No one before Goguet had so clearly and carefully defined the nature of the assistance which it was then believed that reports on primitive peoples – in particular the Americans – might provide in the construction of socioeconomic histories of mankind’s development«. 46 Vgl. etwa Goguet, Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, Bd. 1, Vorrede, V. 47 Vgl. Ulrich Johannes Schneider, Die Vergangenheit des Geistes. Eine Archäologie der Philosophiegeschichte, Frankfurt a. M. 1990, 91ff., besonders den Abschnitt »Kultur-, Aufklärungs- und Wissenschaftsgeschichte« (132 ff.). 42

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humain«).48 Goguet versteht darunter die Geschichte der menschlichen Kultur und Zivilisation in einem umfassenden Sinn: eine Geschichte der politischen, sozialen und ökonomischen Ordnungen, Lebensformen und -praktiken sowie der Kunst, Technik und Wissenschaft. In der Auffassung der Zivilisationsgeschichte des Menschen als Geschichte des menschlichen Verstandes manifestiert sich die Vorstellung einer von tätiger Vernunft beherrschten Vergangenheit, in der sich der Mensch als Produzent seiner Lebenswelt zeigt. Entsprechend müssen Kultur und Zivilisation als dessen Produkte verstanden werden. Im Blick auf das Problem des Anfangs der Geschichte stellen sich bei dieser Ansicht zwei Fragen: 1. Wie erklärt Goguet Ursprung und Wachstum der Zivilisation? 2. In welchem Verhältnis steht seine vernünftige Erklärung zur heiligen Geschichte und ihrer Auslegung?

A. Ursprung und Wachstum der Zivilisation Die Vorstellung, daß Geschichte ein Zusammenhang von Begebenheiten ist, war für die pragmatische Aufklärungshistorie ein leitender Gesichtspunkt. Das zeigen die historischen Arbeiten von Baumgarten bis Schlözer. Für Goguet verdeutlicht sich der historische Zusammenhang als wechselseitige Beziehung zwischen verschiedenen Ausdrucksformen menschlicher Zivilisation. Es ist sein besonderes Interesse, »die Verbindung dieser verschiedenen Gegenstände, und ihren Einflus in einander« herauszuarbeiten: »Denn, bei allen Völkern war der Zustand der Künste und Wissenschaften jederzeit mit der Verfassung und dem würklichen Zustande der Regierungsform auf das genaueste verbunden. Diese Dinge haben zum wenigsten eben so grosse Verwandschaft mit den Sitten und Gebräuchen. Die Künste insbesondere tragen das Bild des Charakters der Nationen, die sich damit beschäftiget haben«.49 Es ist das Erfassen des Gesamtzusammenhangs der »Erkenntnisse, welche sich in jedem Alter bei jedem Volke verbreitet« haben, der es ermöglicht, zu vergleichen und dadurch Differenzen wahrzunehmen, die »zu gleicher Zeit, von einem Volk zum andern« und vor allem »von einer Epoche zur andern, bei einem Volke, in Ansehung der verschiedenen Arten der Erkenntnisse«, bestehen.50 Goguet hat sich diesen Gesamtzusammenhang der Zivilisationsgeschichte nicht als einsinnigen Prozeß ausgemalt, sondern als eine Bewegung, die ungleichzeitig verläuft

Vgl. Goguet, Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, Bd. 1, Vorrede, III; De l’origine des loix (Ausgabe Paris 1758), Préface, V: »L’Histoire des Loix, des Arts & des Sciences est, à proprement parler, l’Histoire de l’Esprit humain«. Zur Idee der Histoire de l’esprit humain in der französischen Aufklärung Dagen, L’histoire de l’esprit humain. 49 Goguet, Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, Bd. 1, Vorrede, IV. 50 Ebd., VIf. 48

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und bei einzelnen Völkern von besonderen Bedingungen abhängig ist. Daß aber Zivilisation überhaupt in Gang kommt und der komplizierte Zusammenhang zwischen politischen, sozialen und kulturellen Lebensformen und -praktiken sich entfalten kann, dafür gibt es generelle Bedingungen. Erst dann, wenn Menschen in geregelten Gesellschaften leben, kann es zur Erfindung von »Künsten« (d.h. technischer Fertigkeiten im umfassenden Sinn) und »Wissenschaften« (d. h. methodisch erworbener Erkenntnisse) kommen.51 Künste und Wissenschaften wurden »nur in festgesezten und mit Policei versehenen Geselschaften erzeuget, und zur Vollkommenheit gebracht».52 Erst auf einer durch »bürgerliche Gesezze« regulierten Stufe der Vergesellschaftung können sie sich entwickeln. Bürgerliche Gesetze kennzeichnen die zweite, mit Seßhaftigkeit und Besitzaufteilung (»Theilung der Ländereien«) verknüpfte Stufe der Entwicklung politischer (»positiver«) Verfassungen: »So lange die Völker keine andere Mittel ihrer Unterhaltung kanten, als die Jagd, den Fischfang, und die Sorge ihrer Heerden, machten sie in den Künsten keinen grossen Fortgang«.53 Die Erfindung des Ackerbaus ist damit Voraussetzung dafür, daß jene Stufe der Herrschaft bürgerlicher Gesetze sich ausbildet, auf der sich die Künste vervollkommnen können. Deshalb kam es zur Herrschaft der bürgerlichen Gesetze nur bei Völkern, »die den Feldbau trieben«.54 Was die frühneuzeitliche Naturrechtstheorie zum Ursprung der Gesellschaft ausgeführt hatte, beeinflußte Goguets Erklärung der Entstehung von Politik und Gesellschaft thematisch und inhaltlich. Doch das methodische Verfahren des Naturrechts (auf das die zitierte Stelle über Gelehrte, die sich ihrer »Einbildung« überlassen, um nicht zu sehen, »was würklich geschehen«, anspielt) wird abgelehnt. Ebenso verhält es sich mit der Vorstellung, daß politische und soziale Organisationen komplexe Zusammenhänge sind, die sich erst in vergleichender Perspektive erschließen. Sie verdankt viel der Lektüre von Montesquieus zehn Jahre zuvor erschienenem Esprit des Lois.55 Goguet will jedoch den Ursprung der Gesetze, Künste und Wissenschaften im »Licht der Geschichte« betrachten, sein Interesse gilt der historischen Bewegung,

»Künste« und »Wissenschaften« sind für Goguet ursprünglich nicht zu unterscheidende Fertigkeiten. Zunächst waren auch die Wissenschaften nur Kenntnisse bzw. »Handgriffe ohne Grundsaz und Methode«; diese »grobe Uebungen wurden nach und nach volkommener, und es kam damit so weit, daß man sie unter gewisse Regeln brachte. Fleis und Nachdenken erhoben sie endlich zu der Stuffe des Ansehens, welche die Wissenschaften von den Künsten unterscheidet, deren Ausübung mehr in der Beschäftigung der Hände, als des Geistes bestehet« (ebd., Drittes Buch, 193). 52 Ebd., Vorrede, VIII; speziell zu den Künsten auch ebd., Zweites Buch, 70: »Die Erfindung und Volkommenheit der Künste ist eine der ersten und vornehmsten Früchte der Errichtung beständiger und in bürgerlicher Verfassung stehender Geselschaften«. 53 Ebd., Erstes Buch, 10 ff., u. Zweites Buch, 84. 54 Ebd., Erstes Buch, 26. 55 Auf den Esprit des Lois verweist Goguet öfters; er prägte auch in methodischer und begriff51

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»ihrem Wachsthum bei den alten Völkern«. Auf das Problem des Übergangs aus dem Naturzustand anspielend, meint er, es wäre interessant zu wissen, auf welche Art die ersten »Vereinigungen« (von Familien) entstanden seien, doch gebe es davon »keine gewisse Nachrichten«. Da man »dabei gar viele Muthmassungen und wilkührliche Gedanken haben kan, so werde ich mich nicht in die Untersuchung des Ursprungs der ersten Geselschaften einlassen«.56 Die Idee des natürlichen Rechts verblaßt so bei Goguet zu einem gelehrten Relikt. Aufmerksamkeit dagegen beanspruchen die »positiven« Gesetze und ihre von technischen und gesellschaftlichen Bedingungen abhängige »Entwikkelung« bei frühen Völkern.57 Zwar ist das natürliche Recht der Grund der positiven Gesetze, historisch interessant aber sind eben nur die jeweils besonderen Formen des positiven Rechts bzw. die Entwicklung von dessen erster (mit einer noch nicht seßhaften Gesellschaft verbundenen) Ordnung zur zweiten (»bürgerlichen«, mit dem Feldbau verbundenen) Ordnung.58 Goguets Aussagen darüber haben nicht den Status rationaler Hypothesen. Seine theoretischen Annahmen über das Entstehen politischer und sozialer Herrschaftsformen bedürfen der Kontrolle durch die empirische Evidenz historischer Dokumente und ethnographischer Berichte. Wenn diese Methode im Fall der frühesten Geschichte wegen der mangelhaften (bzw. problematischen) historischen Überlieferung zu nur mutmaßlichen Aussagen führt, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß seine Beschreibung beansprucht, die wahre historische Entwicklung wenigstens annäherungsweise, also zumindest wahrscheinlich zu beschreiben. Als Goguet zu Beginn des zweiten Bandes seine bisherige Darstellung resümiert, zeigt er sich geradezu erleichtert, den wegen des Mangels an Quellen »unangenehmsten Theil« der Untersuchung hinter sich gebracht zu haben. Eine »völlig richtige Idee von dem Zustande des menschlichen Geschlechts in den ersten Jahrhunderten« sei nämlich nicht möglich, erklärt er hier, und man dürfe sich »nicht mehr von der Kindheit der Welt versprechen; ja es ist so gar mehr, als man sich unter stand, von so entfernten Zeiten zu hoffen. Ohngeachtet des Mangels der Nachrichten kan man doch allemal die Stufen dazwischen durchsehen, auf denen die Völker nach und nach zu ihrer Volkommenheit gegangen sind. Wir werden in den Jahrhunderten, davon ich nun Rechenschaft geben wil, dergleichen Unbequemlichkeiten nicht ausgesetzt seyn«.59

licher Hinsicht seine Analyse. Zum Einfluß von Montesquieu auf die Idee einer »Geschichte des menschlichen Verstandes« Dagen, L’histoire de l’esprit humain, 203 ff. 56 Goguet, Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, Bd. 1, Einleitung, XXII. 57 Vgl. das Kapitel »Von der Einführung der positiv Gesezze« (ebd., Bd. 1, 10 ff.). 58 Ebd., 12 f. Nach Rohbeck (Die Fortschrittstheorie der Aufklärung, 200 f.) war Goguet der erste, der den Begriff »positives Recht« verwendet hat. 59 Goguet, Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, Bd. 2, Einleitung, 2.

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»Die Noth, die Mutter der Künste«60: Goguet hat diesen Grundsatz, einer der Axiome antiker Kulturentstehungstheorie,61 zu einem feingesponnenen Netz »natürlicher« Erklärungen des Ursprungs und Wachstums von Kultur und Zivilisation ausgearbeitet. Als die ersten Menschen im Zustand »äusserster Not« lebten,62 war es die Kombination von blindem Zufall und Mangel, die die ersten »groben« Erfindungen veranlaßte: »Die Nothdurft war der Lehrmeister des Menschen«, sie »lehrte ihn die Hände, die er von der Vorsehung erhalten hatte, und die Gabe der Sprache gebrauchen, womit er von derselben vorzüglich vor allen andern Creaturen begabet war«. Als erste Erfindung behandelt Goguet das Feuer. Daß es eine Zeit gab, »wo ein grosser Theil des menschlichen Geschlechts nichts vom Feuer wuste«, bestätigen ihm »die ältesten und einstimmigsten Nachrichten« (d.h. u.a. Hesiod, Diodor, Plinius) sowie die neuentdeckten Völker in Amerika und Afrika. Zur Erfindung des Feuers leitete die Natur an (auch dies belegten viele Schriftsteller und die Erfahrung), aber man wußte nicht, sich der Kunst zu bedienen, also das Feuer »wieder hervor zu bringen, wenn es verloschen war«. Wie man sich die Entstehung dieser Kunst vorzustellen hat, lehren Goguet alte Überlieferungen und die gegenwärtige Praxis wilder Völker: »Die alten Traditionen und das Beispiel der »wilden« Völker können uns gute Mutmassungen in Ansehung der Mittel an die Hand geben, deren sich die ersten Menschen bedienet, das Feuer hervor zu bringen, wenn sie es nöthig hatten«.63 Als die Vereinigung der Menschen zu »grossen Geselschaften» anwuchs, wurde der Ackerbau erfunden, ohne den die Subsistenz größerer Personengruppen nicht gewährleistet werden kann.64 Goguet beschränkt sich nicht auf die Darlegung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten. Er will die Entwicklung der Zivilisation bis in ihre historischen Einzelheiten verstehen. Der Ackerbau hängt von einer »grossen Anzahl Kenntnisse« ab. Es ist aus diesem Grund, folgert Goguet, nicht verwunderlich, »wenn eine so zusammengesezte Kunst lange Zeit dem grösten Theil des menschlichen Geschlechts unbekannt geblieben ist«.65 Auch nach ihrer Erfindung waren die Art und Weise, wie diese Kunst zusammengesetzt ist, sowie die Entwicklung ihres technischen Niveaus von vielfältigen Faktoren abhängig,66 etwa davon, ob und gegebenenfalls welche Arten der Metallbearbeitung bekannt waren, ohne die »der Akkerbau nimmermehr Ebd., Bd. 1, Zweites Buch, 74. Dazu Nippel, Griechen, Barbaren und »Wilde«, 11 ff. 62 Goguet, Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, Bd. 1, Zweites Buch, 78. 63 Ebd., 70 ff. 64 Vgl. ebd., 82. 65 Ebd., 84. 66 Den Ackerbau »kanten nicht alle gesittete Geselschaften«, d. h. »in gleichem Grade; der Fortgang der Künste war in den verschiedenen Ländern und bei den verschiedenen Völkern verschieden« (ebd., 83; die entsprechende Differenzierung im Kapitel »Vom Feldbau«, ebd. 84–121). Abbildungen zur historischen Entwicklung des Pfluges finden sich im Anhang zum ersten Band. 60 61

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einen Fortgang gehabt haben« würde. Daß nicht nur in diesem Fall auch der Umkehrschluß Gültigkeit besitzt, d.h. sich auch in der Technik der Metallbearbeitung ohne die Notdurft und den »Fleis der Völker, die sich dem Landbau ergeben haben«, keine Fortschritte ergeben hätten, verdeutlicht Goguets Bestreben, die Zivilisationsgeschichte als einen sich wechselseitig beeinflussenden Wirkungszusammenhang zu begreifen.67 Unter den Bedingungen des Ackerbaus und der dieser Technik korrespondierenden sozialen und politischen Ordnung konnten sich die Künste zu immer größerer »Vollkomenheit« entwickeln. Die Erfindung der Schrift verursachte eine Beschleunigung dieses Prozesses. Für die Frage nach der Entstehung und Frühgeschichte der Schrift konnte Goguet auf neuere Forschungen zurückgreifen, die sich von dem theologischen Kontext, der noch Christoph August Heumanns »vernünftige« Schlußfolgerungen über die Schriftentstehung beherrschte, schon weitgehend gelöst hatten. Der Ursprung der Schrift (»Schreibekunst«), so Goguets Kommentar, sei eine »Frage, welche bis auf diese Stunde so wol alte, als neue Kunstrichter vielmals beschäftiget hat. Die Prüfung ihrer verschiedenen Meinungen würde viel Untersuchungen nach sich ziehen. Ich wil nur in wenig Worten die Meinung, welche mir am wahrscheinlichsten scheinet, vortragen«.68 Goguet stützt sich dabei vor allem auf den Essai sur les Hiéroglyphes des Egyptiens William Warburtons, den ins Französische übersetzten vierten Band von Warburtons The Divine Legation of Moses (1738–1741).69 Daß der Ursprung der Schrift natürlich zu erklären ist, hat für Goguet eine unbestrittene Evidenz. Der Übergang zur Schriftlichkeit fand historisch spät und nur in Gesellschaften statt, die ein schon differenziertes soziales und kulturelles Niveau besaßen. Sie waren deshalb auf »bequemere und gewissere Mittel« der Wissensverarbeitung angewiesen,70 als sie schriftlosen Gesellschaften (und noch den gegenwärtigen schriftlosen »wilden« Völkern) zur Ver-

Ebd., 141; im Kapitel »Von der Erfindung und Bearbeitung der Metalle« (ebd., 140–163) geht Goguet davon aus, daß die Bearbeitung von Steinen zu Waffen und Werkzeugen der Metallbearbeitung historisch voranging und das Eisen »ohne Widerspruch unter allen Metallen das lezte« war, »welches bekant wurde, und auch das lezte, welches man zu bearbeiten wuste« (ebd., 155). 68 Ebd., 175. 69 William Warburton, Essai sur les Hiéroglyphes des Egyptiens, Paris 1744; Ders., The Divine Legation of Moses, 4 Bde., London 1738–1741; die erste deutsche Übersetzung erschien unter dem Titel: Wilhelm Warburtons Göttliche Sendung Mosis, Aus den Grundsätzen der Deisten erwiesen, übersetzt von Johann Christian Schmidt, 3 Bde., Frankfurt a. M. u. Leipzig 1751–1753. Zu Warburton Rossi (The Dark Abyss of Time, 236 ff.), Jan Assmann (Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998, 138 ff.) und Nicholas Hudson (Writing and European Thought 1600–1830, Cambridge 1994, 55 ff.), der auch Warburtons (englische und französische) Rezeption untersucht und dabei kurz auf Goguet eingeht (ebd., 141). 70 Goguet, Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, Bd. 1, Zweites Buch, 171, 174. 67

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fügung standen und stehen. Zu allen Zeiten haben die Völker nach Mitteln gesucht, der Nachwelt »das Andenken der Begebenheiten und Entdekkungen zu erhalten« (u. a. durch »Säulen«, »Denkmäler», »Feste«). Das verbreitetste Mittel sei die »Verfertigung einer Art Lieder oder Gesänge« gewesen. Solche Gebräuche hätten in den ersten Zeiten genügt, denn die Bevölkerung war gering und ihr standen nur wenig Künste zur Verfügung; kurzum: »es war wenig Handlung: und folglich waren die Ideen und Sprachen wenig reich«.71 Entstehung und frühe Entwicklung der Schrift können nach Goguet zwar nicht historisch exakt, d.h. durch überlieferte Quellen, bestimmt, doch zumindest wahrscheinlich hinsichtlich »verschiedener Schritte» und »Epochen» nachvollzogen werden.72 Das »bequemste und gewisseste Mittel», das anwachsende Wissen sich differenzierender Gesellschaften zu verarbeiten, war die alphabetische Schrift. Auf Grund ihrer Einfachheit kann mit Hilfe alphabetischer Buchstaben die Vielzahl der »Handlungen und Dinge, womit sich die bürgerliche Gesellschaft beschäftiget«, am effizientesten organisiert und tradiert werden: »Das große Verdienst dieser Erfindung bestehet in dem Einfachen«.73 Doch gerade das einfache Instrument Alphabetschrift ist für Goguet Produkt einer langwierigen historischen Entwicklung und die »Erfindung der alphabetischen Charactere« das »verwunderns würdigste Unternehmen des menschlichen Verstandes«.74 Goguet stellt sich die Entwicklung der Schrift als einen Erfahrungsprozeß vor, in dem der menschliche Verstand, angetrieben durch »Natur und Noth«, erst nach einer Reihe von Versuchen an sein Ziel gelangte. Mit dieser Sicht wendet er sich, im Anschluß an Warburton, gegen die Auffassung, daß die Hieroglyphen Erfindungen von Priestern waren, die dadurch die Wissenschaft vor dem gemeinen Volk verbergen wollten. Sie dienten im Gegenteil dazu, Gesetze, Gebräuche und die Geschichte zu tradieren: »Natur und Noth, nicht aber Wahl und Kunst sind es, wodurch die verschiedenen Arten der hieroglyphischen Schriften hervorgebracht worden«. Wie Warburton versteht Goguet die Hieroglyphen als noch mangelhafte Erfindung, als eine

Ebd., 171 f., 174; zu den schriftlosen »wilden« Völkern ebd., 192. Um sich eine klare »Idee« zu machen, »wie man auf die Erfindung der Schrift gekommen«, muß man »dieser Kunst in ihren verschiedenen Schritten« nachgehen: »Man unterscheidet darin leichtlich mehrere Epochen, und einen deutlichen nach und nach geschehenen Anwachs« (ebd., 175). 73 Ebd., 181. Zum Zusammenhang von alphabetischer Schrift und »bürgerlicher Geselschaft« ebd., 184; »Bürgerliche Geselschaft« meint bei Goguet natürlich nicht die neuzeitliche Gesellschaft des Bürgertums, hat aber auch nicht die (politisch-moralische) Bedeutung in der Tradition des »civic humanism« wie bei Adam Ferguson (zu dessen Begriffsverständnis Medicks Einleitung zu Adam Fergusons Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, hg. v. Zwi Batscha u. Hans Medick, Frankfurt a. M. 1986, 28 ff.). 74 Goguet, Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, Bd. 1, Zweites Buch, 183. 71 72

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Art Hilfsmittel aus »Mangel der Kentnis der Buchstaben». Erst nach der Erfindung der Buchstaben wurden die Hieroglyphen in Ägypten zur »geheimen Schrift«.75 Formen der Schriftlichkeit wie die ägyptischen Hieroglyphen sind für Goguet frühe, noch unzulängliche Versuche einer vernünftigen Problemlösung und zugleich frühe historische Stufen der Zivilisationsentwicklung.76 Der erste Versuch der Suche nach Aufzeichnungsformen fand durch Abbildungen von körperlichen Gegenständen statt: »Man kan aus demjenigen, was noch von Denkmälern des Alterhums vorhanden ist, versichern, daß die Schreibekunst ursprünglich in einer ungeschickten und ungestalteten Vorstellung der körperlichen Gegenstände bestanden habe. Diese uneigentliche so genante Schrift war die erste, davon die Egyptier Gebrauch machten. Sie fiengen an mit Zeichnen«. Goguet verweist hier auch auf vergleichbare Praktiken bei Chinesen und Mexikanern. Erst die gesellschaftliche Notwendigkeit, Wissen in größerem Maßstab und genauer zu erinnern, veranlaßte weitere Versuche und neue Lösungen. Nachdem die hieroglyphische Schrift »auf den höchsten Grad der Vollkommenheit» getrieben worden war, folgte die Erfindung der »Sylbenschrift« und schließlich die Erfindung der Alphabetschrift. Der Übergang zu dieser letzten Stufe, räumt Goguet ein, sei nicht leicht zu begreifen, denn die Alphabetschrift habe mit den früheren Formen keine Ähnlichkeit. Vergeblich suche man bei Schriftstellern des Altertums nach Aufklärung über die konkreten historischen Ursachen und Umstände ihrer Entstehung: »sie berichten uns nicht, auf welche Art dieser besondere Uebergang hat geschehen können«. Hier wie auch bei der nicht genau zu bestimmenden Frage nach der Epoche, in der die »alphabetischen Charactere« erfunden wurden, ist Goguet deshalb auf Mutmaßungen angewiesen. Als Erfinder der Alphabetschrift kommen für ihn allerdings nur zwei Völker in Frage: Assyrer (bzw. Phönizier) und Ägypter. Welchem der beiden Völker der Vorrang gebührt, könne man »aus dem wenigen, das uns von der Schrift dieser alten Völker übrig ist«, nicht entscheiden. Wichtig ist Goguet der Gesichtspunkt, daß Schrift sich nur allmählich bei einzelnen Völkern ausbildete. Deshalb war im Altertum »das algemeine Wachsthum der Künste und Wissenschaften in vielerlei Absicht so langsam«.77 Erst mit der Durchsetzung der Alphabetschrift beschleunigte sich der Fortschritt der Künste und Wissenschaften. Die Möglichkeit sicherer und effektiver Tradierung ist aber nicht nur für die Entwicklung der Künste und Wissenschaften konstitutiv. Das Instrument der Schrift ermöglicht es auch dem retrospektiven Blick des Historikers, die Gesetze, Künste und Wissenschaften als eine »ununterbrochene Kette» zu rekonstruieren, welVgl. ebd., 179/Anm. Vgl. (auch zum Folgenden) Goguet, Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, Bd. 1, Zweites Buch, 175 ff. 77 Ebd., 191. 75 76

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che die (europäische) Zivilisation der Gegenwart mit ihren Ursprüngen verbindet, die Geschichte als »ordentlichen Gange des menschlichen Verstandes« zu begreifen, der zu immer komplexeren »Zusammensetzungen«78 des Wissens und der sozialen Ordnung führt. Sich »ausbreiten« und »vollkommener werden« können die Gesetze, Künste und Wissenschaften also nur dann, wenn entsprechende technische Mittel vorhanden sind, »Entdekkungen auf eine eben so sichere, als deutliche und leichte Weise, auf die Nachkommenschaft fortzupflanzen«. Am Anfang dieser »ununterbrochenen Kette« stehen für Goguet die Ägypter, weil »die gesittesten Völker in Europa« von ihnen »die ersten Gründe« der Gesetze, Künste und Wissenschaften erhielten. Dagegen sind die Chinesen – mögen sie auch »nach der gemeinen Meinung« ebenso alt wie die Ägypter (und die Babylonier, Assyrer, Lydier und Phönizier als »die ältesten und berühmtesten Monarchien, welche das Alterthum kennet«) sein – in dieser eurozentrischen Perspektive bedeutungslos. Von den Chinesen nämlich, erklärt Goguet, haben wir »fast nichts gelernet«. Deshalb bleiben sie in seinen Untersuchungen ausgespart.79 Was Geltung für das technische und wissenschaftliche Wissen beansprucht, betrifft auch die Zivilisierung der Lebensformen des Menschen und ihre Entwicklung. So hat der Mangel an Schriftlichkeit auch »Einflus auf die Sitten«. Denn sollen sich »verkehrte Neigungen« mildern und verbessern, bedarf es der »Anweisung«: »Allein wie kan man ohne Hülfe der Schrift ein Volk unterweisen und aufklären?«80 Schrift ist das Medium der Aufklärung, über deren Ursprünge und Frühgeschichte Goguet aufklären will. Schrift ist aber auch das Instrument einer disziplinierenden Aufklärung, das in der Perspektive der »Aufklärung der Aufklärung», die Rousseau mit großer Wirkung betrieb, den Menschen von seinen natürlichen Ursprüngen entfernt.81 Daß es einen solchen unschuldigen Zustand historisch nicht gegeben hat, dies nachzuweisen ist Goguets besonderes Anliegen: »Lasset uns also aufhören, den ersten Zeiten eingebildete Tugenden beizulegen«.82 Mit der Geschichte als »einziger Wegleiter«83 findet Goguet in vergangenen Zeiten keine wesentlichen Differenzen der menschlichen Natur, dagegen von jeweils besonderen Umständen geprägte Unterschiede der Denkund Handlungsweisen sowie diesen korrespondierende Mittel, die »Neigung« des Ebd., Drittes Buch, 224 (hier bezogen auf die Entstehung und die Frühgeschichte der Arithmetik). 79 Vgl. ebd., Vorrede, VII/Anm.; Erstes Buch, 44. 80 Ebd., Bd. 1, Zweites Buch, 191. 81 Vgl. Geitner (Die Sprache der Verstellung, 209 ff. u. 239 ff.), die die zentrale Bedeutung der Unterscheidung »Vor der Schrift und nach der Schrift« (231) für Rousseau herausarbeitet. 82 Goguet, Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, Bd. 1, Sechstes Buch, 370 (im resümierenden Kapitel »Critische Betrachtungen über die Jahrhunderte, die den Gegenstand dieses ersten Theils ausmachen« (ebd., 367–373). 83 Ebd., 367. 78

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Menschen zu »einer verdorbenen Natur« zu befriedigen.84 Ein effektives Instrument, diese Neigung zu disziplinieren, ist Schrift, ja vielleicht, vermutet Goguet, hat niemals irgend eine Entdeckung mehr dazu beigetragen, »die Menschen aus ihrer ursprünglichen Barbarei zu ziehen, als der erleichterte Gebrauch des Schreibens«. Wenn noch in der Gegenwart »wilde Völker die Menschlichkeit durch ihre Grobheit, Unwissenheit und Barbarei« erniedrigen, dann deshalb, »weil sie der Schrift beraubt sind«. Wie die Frühgeschichte, auf deren Entwicklungsstufe die »wilden« Völker verharren, lassen auch sie sich aufklären: Man führe nur Schrift bei »wilden Nationen« ein und gewöhne sie daran, »so werden sie bald menschlicher werden«.85 Goguet interessieren vor allem Entdeckungen, »wo die Fertigkeit, die man darin besizzet, verhindert, daß man nicht alle Aufmerksamkeit für sie hat, welche sie verdienen. Inzwischen ist nichts geschikter, uns den Zustand fühlen zu lassen, darin sich eine lange Zeit der grösseste Theil des menschlichen Geschlechtes befand«.86 Daß die Vergangenheit als eine besondere Welt sichtbar wird, wenn die Selbstverständlichkeit der Gegenwart hinterfragt wird, ist ein hermeneutischer Grundsatz von Goguets »vernünftiger« Auffassung der Frühgeschichte: »Die Fertigkeit, welche wir heutiges Tages haben, ohne Mühe Oel zu haben, ist Ursache, daß wir die Vorzüglichkeit dieser Erfindung nicht genug fühlen«.87 Weil es an einer solchen Aufmerksamkeit mangelt, kann die Vorstellung Geltung beanspruchen, der Frühzeit ähnliche Einsichten wie der Gegenwart beizulegen.88 Dagegen profiliert Goguet sein Erstaunen über die Alterität der frühesten Vergangenheit sowie die Anerkennung der Schwierigkeit, die Frühgeschichte zu verstehen.89 Eine Hermeneutik der Alterität hatten auch die deutschen Frühaufklärer Thomasius, Gundling und Heumann propagiert und praktiziert, ebenso auch GianEbd., 370 f.: »Lasset uns aus diesen Dingen [d. h. daß zu allen Zeiten »Untreue, Has, Neid, Mord, Gewaltsamkeit und Unordnung in den Sitten« herrschten; H. Z.] schließen, daß die Menschen zu allen Zeiten ihrem Wesen nach einerlei gewesen. Da sie von ihrer Geburt her der Neigung einer verdorbenen Natur unterworfen waren, so suchten sie zu allen Zeiten ihre Leidenschaften zu befriedigen«, versetzt »mit mehr oder weniger Kunst und Annehmlichkeit« und »nach dem Maas des Geschmacks und der Kentnisse, die einem Jahrhundert zu Theil wurde. Die Art zu denken und zu handeln stand allezeit in Verhältnis mit den Umständen«. 85 Ebd., Zweites Buch, 192. 86 Ebd., Vorrede, IV. 87 Ebd., Zweites Buch, 112; vgl. auch im Abschnitt über die Anatomie, nach der Festellung, daß ohne »Wissenschaft« es unmöglich ist, »die Ursachen und den Siz vieler Krankheiten einzusehen«: Es wäre also »natürlich zu glauben, daß die Anatomie wenigstens eben so alt seyn müste, als die Arzneikunst und die Chirurgie: allein die Geschichte lehret das Gegentheil« (ebd., 203). 88 Vgl. ebd., Drittes Buch, 204. 89 Daß die genauen historischen Umstände der Entstehung einzelner Künste und Wissenschaften »sehr schwer zu begreifen, und noch schwerer zu erklären« sind (hier bezogen auf die Metallbearbeitung; vgl. ebd., Zweites Buch, 144), betont Goguet öfters. 84

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battista Vico. Es ist eine »Eigenschaft des menschlichen Geistes«, heißt es in den Prinzipien einer neuen Wissenschaft, »daß die Menschen dort, wo sie sich von den entfernten und unbekannten Dingen keine Vorstellung machen können, diese nach den bekannten und gegenwärtigen Dingen zu beurteilen. Dieser Grundsatz zeigt die unerschöpfliche Quelle all der Irrtümer an, die von ganzen Völkern und allen Gelehrten bezüglich der Anfänge der Humanität begangen worden sind«.90 Die Fähigkeit, die eigene Gegenwart in ihrer Differenz zur Vergangenheit wahrzunehmen, ist bei Goguet aber nur Bedingung dafür, daß die Verstehensarbeit in Gang kommt. Ihr Ziel ist die Auflösung der Differenz mittels vernünftiger Erklärungen, durch die der Zusammenhang der Vergangenheit mit der Gegenwart als ein Entstehungsprozeß sichtbar wird. Die Vorstellung, daß der menschliche Verstand sich langsam und »in Stufen« entwickelte, zieht sich wie ein roter Faden durch Goguets Text. Sie zeigt ihre Kraft dort am sinnfälligsten, wo die Überlieferung Goguets Neugierde beinahe völlig im Stich läßt und seine Rekonstruktionsarbeit vor allem auf Mutmaßungen und Vernunftschlüsse angewiesen ist. Angesichts von Goguets Programm, die Geschichte des menschlichen Verstandes im »Licht der Geschichte« und nicht mittels bloßer »Mutmassungen« zu untersuchen, ist das ein paradoxer Befund, zumindest für die moderne Erwartungshaltung. Deren Auffassung, daß die Entwicklung einzelner Kulturen primär als ein Prozeß innerer (struktureller) Differenzierung, weniger als ein Diffusionsprozeß zu verstehen ist, bestätigt Goguet durch seine vernünftigen Schlußfolgerungen zur Entstehung der Gesetze, Künste und Wissenschaften als eines von besonderen gesellschaftlichen Bedingungen und Umständen abhängigen Zusammenhangs. In dieser Hinsicht kritisiert Goguet die antike Heurematographie, also die Rückführung von Erfindungen auf einzelne Erfinder bzw. Völker.91 Andererseits belegt er die Entwicklung und Ausbreitung von Kultur und Zivilisation mit Überlieferungen, die in einer modernen Perspektive keine Aufschlüsse über die frühe Geschichte zulassen. So rekonstruiert er die früheste Geschichte der politisch-sozialen Ordnung Ägyptens ganz traditionell entsprechend des Berichts der Bibel und griechischer Historiker (vor allem Diodor), obwohl auch hier eingeräumt wird, daß die Frühgeschichte Ägyptens »mit Finsternis und Dunkelheit bedekt» sei, und es über die bürgerlichen Gesetze heißt, daß die Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft, 88. Es ist nicht möglich, »Schrit vor Schrit« zu verfolgen, wie die Völker etwa zur Erkenntnis der »höchsten und abstractesten Wissenschaften« gelangten: »Die alten Schriftsteller geben uns in diesem Stükke nicht genug Licht. Ihre Untersuchungen erstrekken sich nicht weiter, als auf die Anzeige der Namen von denjenigen, welche man in dem Alterthum für Erfinder der Wissenschaften hielte. Sie geben uns keine Nachrichten von den Mitteln, welche man nach und nach anwendete, um sie in Form zu bringen. Dieses ihr Stilschweigen lässet sich nicht anders, als mit Mutmassungen ersezzen« (Goguet, Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, Bd. 1, Drittes Buch, 194 f.; vgl. auch ebd., 249). 90 91

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heute zugänglichen Dokumente erst in Zeiten enstanden, »die lang nach diesen gefolget sind, welche wir untersuchen«.92 Doch besaßen solche Überlieferungen für Goguet, entsprechend den Regeln einer vernünftigen Auslegung von Fabeln,93 einen historischen Kern, der Rückschlüsse auf konkrete historische Entwicklungen zuließ. Zum Ursprung der Schrift bei den Griechen heißt es etwa: »Nach dem Bericht der besten Geschichtschreiber des Alterthums ist Cadmus der erste, welcher diese hohe Kentnis den Griechen mitgetheilt hat«. Als Belege nennt Goguet Herodot, Clemens, Diodor, Plinius, Tacitus und Eusebius, abgelehnt wird die Meinung anderer antiker Schriftsteller, die den Ursprung auf Cecrops zurückführen, sowie diejenige »neuerer Kunstrichter«. Cadmus, so Goguet, brachte das phönizische Alphabet nach Griechenland.94 Auch an der historischen Wahrheit des biblischen Berichts über die früheste Geschichte hielt Goguet fest, die Naturrechtstheoretiker durch Politogonien hypothetisch ersetzten, Deisten wie Bolingbroke skeptisch in Frage stellten und Vico mit Hilfe einer von der Philosophie »auf die Form der Wissenschaft zurückgeführten« Philologie marginalisierte.95 Gerade Goguets Insistieren auf »historische Denkmale» und das »Licht der Geschichte» ermöglichte es ihm nicht, die heilige Geschichte einfach zu umgehen. Doch hat auch er (wie Heumann oder Vico) die biblische Frühzeit als eine Sondergeschichte ausgelegt und sich dadurch »Spielräume« geschaffen, um seine vernünftige Auffassung der Frühgeschichte zur Geltung bringen zu können. Ebd., Erstes Buch, 44–58 (Von den Gesezzen und der Regierungsart der Egyptier) u. 30 f.; vgl. auch Bd. 2, Drittes Buch, 229. 93 Vor allem für die früheste griechische Geschichte läßt sich trotz der »Verunstaltung« der »ersten Nachrichten« durch Fabeln »mit Aufmerksamkeit und Hülfe der Critik die Wahrheit von einer grossen Menge Begebenheiten ausmachen«: Man erkennt »eine gewisse Verbindung, eine gewisse Ordnung, die nicht erlauben, sie unter die Traditionen zu sezzen, die von allem historischen Grunde entblösset wären. Vermittelst der Zusammensezzung und Vergleichung mehrerer Nachrichten und Umstände wird man in den Stand gesezzet, sich einen ziemlich richtigen Begrif von dem Ursprunge und Wachsthum der Künste in Griechenland zu machen« (ebd., Bd. 2, Zweites Buch, 153). 94 Vgl. ebd., 202 f. Allerdings bevorzugt Goguet ansonsten zur Rekonstruktion der frühen griechischen Kulturgeschichte den indirekten Beleg und verwendet zu diesem Zweck vor allem Homer: »Allein diese Schriftsteller waren den Zeiten, wovon die Rede ist, zu weit entfernt, als daß ihr Zeugnis dem Ansehen des Homerus die Wage halten könte, dem man als dem einzigen Wegweiser bei den Gebräuchen und Sitten der heroischen Zeiten folgen mus« (ebd., 196). 95 Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft, 8. In »solch dichter Nacht voller Finsternis, mit der die erste von uns so weit entfernte Urzeit bedeckt ist«, müssen Philosophie und Philologie zusammenwirken, und da dies bislang nicht geschah, »so muß man für diese Untersuchung so tun, als ob es keine Bücher auf der Welt gebe« (ebd., 142); die »philosophische Kritik« hat »das Wahre über die Gründer der Völker« zu ermitteln, »bei denen weit mehr als tausend Jahre vergehen müssen, bevor bei ihnen die Schriftsteller auftreten können, die der Gegenstand dieser philologischen Kritik sind« (ebd., 183). 92

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B. Vernünftige Erklärung der heiligen Geschichte Will man sich »eine richtige und ordentliche Idee von der algemeinen Geschichte machen«, muß »eine besondere Geschichte gewählt werden«, die »zu einer gemeinschaftlichen Regel dienen kan, um damit alle übrige zu vergleichen«. Zu »diesem Gebrauch geschickt» ist nur die Geschichte des jüdischen Volkes: Sie »gehet von Anfang der Welt ohne Lükken, und ohne Unterbrechung unaufhörlich fort; ein Vortheil, der gänzlich allen weltlichen Geschichten abgehet«.96 Das sagt Goguet in der Vorrede der Untersuchungen. Die heilige Geschichte orientiert auch seine Epochengliederung der Frühgeschichte und dient als Maßstab der Chronologie, auf den die profanen Historien zu beziehen sind. Zwar gebe es bei der Geschichte des jüdischen Volkes, räumt Goguet ein, »einige chronologische Schwierigkeiten», doch sei die auf die Bibel gestützte Chronologie nicht in dem Maß »dunkel und ungewiß« wie die Zeitrechnung »aller andern Völker«.97 Im Text selbst entfalten sich allerdings Goguets Geschichten und vernünftige Schlußfolgerungen ohne näheren Bezug zum biblischen Epochenkonzept und zur am hebräischen Bibeltext orientierten Chronologie. Dem biblischen Rahmen und den sich daraus ergebenden Problemen bleibt der Zugriff auf den Text weitgehend versperrt. Zwar datiert Goguet einzelne Ereignisse und Herrscher nach der biblischen Chronologie, und er erstellt synchronistische Tabellen zur Konkordanz der biblischen mit der ägyptischen, babylonischen, assyrischen, medischen und griechischen Frühgeschichte.98 Auf die »tausend Schwierigkeiten« aber, die sich aus der Datierung der frühen Dynastien antiker Völker ergeben, mag er sich nicht einlassen. Die Zeit und die Dauer der Regierungen zu bestimmen, heißt es beispielsweise im Blick auf die ägyptische Frühgeschichte, »ist in der That von keiner grossen Wichtigkeit«, dagegen sei es ein »wesentliches Stük«, die Gesetze, Künste, Wissenschaften und Gebräuche einer Nation zu kennen, »welche das ganze Alterthum für ein Muster der

Goguet, Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, Bd. 1, Vorrede, VI. Ebd. Im Abschnitt zur Frühgeschichte der Astronomie heißt es (Drittes Buch, 236/Anm.): »Es fehlete den ersten Menschen an geschikten Mitteln, uns die Begebenheiten mit Richtigkeit zu überliefern. Sie hatten nur sehr verwirrete Begriffe von der Chronologie«. Als man deshalb »in aufgeklärten Jahrhunderten« sich anschickte, »die Geschichte der ersten Zeiten zu schreiben«, waren die »alten Traditionen« so verdorben, »daß nothwendig viele Fehler daraus entstehen musten. Dieses ist die Quelle von allen Schwierigkeiten, welche man in der Chronologie der alten Völker antrift […] Es gibt nur das jüdische Volk, welches uns in diesem Stükke ein deutliches und gründliches Licht geben konte: dieses ist ein augenscheinlicher Vorzug, welchen seine Geschichte vor der Geschichte aller andern Völker hat. Die Familie des Sems hatte Einsichten erhalten, deren die heidnischen Völker einige Jahrhunderte hindurch beraubet waren«. 98 Sie befinden sich jeweils im Anhang zu den drei Bänden. Goguet datiert hier sowohl nach »Jahren der Welt« als auch nach »Jahren vor J.Ch.«. 96 97

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Weisheit und Tugend gehalten«.99 Die Entstehung und Entwicklung der frühen Zivilisationen aber läßt sich weder in ein exaktes chronologisches System bringen, noch ist ein solches System besonders hilfreich, um diesen Prozeß zu verstehen. Goguet unterscheidet drei »Epochen« der Frühgeschichte: von der Sintflut bis zum Tod Jacobs, vom Tod Jacobs bis zur Errichtung der jüdischen Monarchie, von der jüdischen Monarchie bis zur Rückkehr der Juden aus dem babylonischen Exil.100 Daß die vorsintflutliche Zeit ausgespart bleibt, begründet Goguet mit der materialen Unergiebigkeit dieser Epoche für sein Thema. Moses habe »nur die grossen Begebenheiten» erzählt. Mag der »Zustand des menschlichen Geschlechts damals beschaffen gewesen seyn, wie er wil, so kan er uns wenig bewegen, Antheil davon zu nehmen«.101 Die Sintflut, führt Goguet aus, verwüstete die Erde derart, daß sie »ein ganz neues Ansehen« erhielt. Dadurch aber sei auch das »Andenken« an sie »äusserst verdorben, und verdunkelt« worden. Man müsse sich deshalb die ersten Jahrhunderte nach der Sintflut »fast eben so vorstellen, als man sich ohngefehr von den ersten Jahrhunderten der Kindheit der Welt ein Bild machet»: Das »menschliche Geschlecht befand sich damals beinahe wieder in eben dem Zustande«. Der im folgenden Abschnitt behandelte Nicolas Boulanger wird daran anknüpfend die Sintflut als den absoluten Nullpunkt der historischen Entwicklung auszeichnen. Die Absonderung der vorsintflutlichen Epoche als ein unbekannter, »dunkler« Sonderbezirk der Universalhistorie war zur Zeit, als Goguet seine Untersuchungen vorlegte, kein gewöhnliches Verfahren. Goguet greift, wie schon einige Jahre zuvor Turgot in seinem 1751/52 entstandenen (allerdings erst posthum veröffentlichten) Plan de deux discours sur l’histoire universelle,102 das »natürliche« Argument der Erd-

Goguet, Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, Bd. 1, Erstes Buch, 45. Das Urteil, Goguet folge »mit allzu großer Ängstlichkeit« der Chronologie der Heiligen Schrift (Spieß, Der früheste Versuch einer allgemeinen Kulturgeschichte, 227), kann also nur mit Blick auf Goguets prinzipieller Orientierung an der biblischen Chronologie Geltung beanspruchen, nicht aber hinsichtlich der Bedeutung, die er der Chronologie beimißt bzw. die sie tatsächlich in seinen Untersuchungen hat. 100 Vgl. Goguet, Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, Bd. 1, Vorrede, V f. Jede »Epoche« wird in einem Band dargestellt; die »heilige« Grenze der Darstellung entspricht der Zeit kurz nach der Thronbesteigung des Kyros, d. h. dem Beginn der persischen Monarchie. Goguet begründet diese Grenze damit, daß der ausgewählte Zeitraum ein »Gemälde der Welt« vorstelle, das es ermögliche, »sich einen genauen Begriff von dem Gange des menschlichen Verstandes bei seinen Entdekkungen und seinem Fortrükken« zu machen (ebd., VIIf.; auch Bd. 3, Einleitung, 2). Daß die Unterscheidung in drei Epochen »nicht auf ein Gerathewohl gewählet« wurde, er jeweils »eine gewisse Anzahl von Jahrhunderten« vereinigt habe, »worin man nicht eine ausserordentlich merkwürdige Veränderung in der Verfassung der Völker wahrnahm« (Bd. 1, Vorrede, VI), bleibt auch hinsichtlich von Goguets eigener historischer Differenzierungsarbeit ein nicht eingelöstes Postulat. 101 Vgl. (auch zum Folgenden) ebd., VII. 102 Eine Ausarbeitung des »Tableau philosophique des progrès successifs de l’esprit humain«, 99

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theoretiker auf, die die Sintflut als eine umfassende geologische Revolution und Katastrophe deuteten.103 Trotz der im Vorwort betonten »lükkenlosen« Überlieferung jüdischer Geschichte: Konfrontiert mit der Idee historischer Kontinuität, die sich Goguet als einen mit der Gegenwart verknüpften Wirkungszusammenhang vorstellte, zeigt sich die vorsintflutliche Zeit als eine isolierte Epoche ohne historische Wirkung, unzugänglich dem Regelwerk der vergleichenden Methode, das Goguet seiner Rekonstruktion der Zivilisationsentwicklung zugrunde legte. Aber nicht nur die vorsintflutliche Epoche ist für Goguets Untersuchungen ein unergiebiges Feld. Auch im nachsintflutlichen Zeitraum bleibt die jüdische Geschichte trotz der Auszeichnung der Epochengrenzen durch Begebenheiten der heiligen Geschichte weitgehend unberücksichtigt.104 Da sich Goguet die Entwicklung der Zivilisation nicht wie Vico als gleichsam autonomen Prozeß vorstellt, der dennoch, obwohl sich die Völker gegenseitig unbekannt bleiben, »gleichförmige Ideen« hervorbringt,105 ist diese Ausgrenzung mit einem besonderen Aufwand an Rechtfertigung verbunden. Daß die ersten Menschen, deren langwierige Zivilisierung Goguet mit konstruktiver Vernunft nachvollziehen will, ein Leben führten, »das wenig von dem Leben der Thiere verschieden war«,106 ist im Licht der biblischen Geschichte und der mit ihr verknüpften Auslegungstradition zur Frühgeschichte der Menschheit eine problematische Figur. Goguet weist im abschließenden Resümee zur Darstellung der ersten Epoche ausdrücklich darauf hin, daß mit den so beschriebenen ersten Menschen die Völker nach der Sintflut zu verstehen sind: »Da ich hier nur von den Völkern handele, die nach der Sündfluth existiret haben, so könte der Ausdruk, erste Menschen, dessen ich mich öfters in diesem Capitel bediene, ohne Zweifel uneigentlich schei-

das Turgot im Jahr 1750 öffentlich in der Sorbonne einem Publikum kirchlicher Würdenträger vorgetragen hatte (hier benutzt in der von Johannes Rohbeck und Lieselotte Steinbrügge herausgegebenen Übersetzung: Grundriß für zwei Abhandlungen über die Universalgeschichte, in: Turgot, Über die Fortschritte des menschlichen Geistes, Frankfurt a. M. 1990, 168–220, hier 170 f.): Mit Ausnahme des Buchs der Offenbarung gehe keine »Geschichte viel weiter zurück als bis zur Erfindung der Schrift«; doch skizziere die Offenbarung nur knapp die Ereignisse »bis zu dem Zeitpunkt, an dem die menschliche Gattung fast gänzlich durch eine allgemeine Sintflut verschlungen und wiederum auf eine einzige Familie reduziert wurde – und folglich gezwungen war, von neuem zu beginnen«. 103 Ohne allerdings darauf näher einzugehen. Auch Vico erklärt den nachsintflutlichen Neubeginn der Geschichte mit Hilfe der durch die Sintflut hervorgerufenen Veränderungen der Erdoberfläche (vgl. Prinzipien einer neuen Wissenschaft, 106 f.). 104 Goguet, Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, Bd. 1, Vorrede, VI. 105 Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft, 5 u. 93. 106 »Man sahe damals die Menschen zerstreuet in den Wäldern und Feldern, ohne Gesezze, ohne bürgerliche Verfassung und ohne Haupt, herum irren. Ihr wildes Wesen wurde so groß, daß sie es bis dahin trieben, einander aufzufressen« (Goguet belegt diesen Zustand mit antiken Darstellungen und neuen Reiseberichten; Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, Bd. 1, Einleitung, XX).

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nen. Aber ich glaubte, daß ich, um nicht zu weitläufig zu werden, diejenigen Völker erste Menschen nennen könte, welche sich zuerst nach der Sündflut formiret haben. Mus man nicht in der That die Erde nach dieser Begebenheit für neu ansehen?«107 Vor allem, betont Goguet, wolle er mit seiner Darstellung nicht die biblische Wahrheit vom Stand der Unschuld schwächen. Diese Wahrheit bestätige, unabhängig von der »Gewißheit des Moses«, die bei allen alten Völkern nachweisbare »Tradition« eines »ursprünglichen Zustandes» der Glückseligkeit. Unzweifelhaft sei aber auch, daß diese Tradition auf die Epoche vor der Sintflut zu beziehen ist.108 Goguet will die der vernünftigen Vorstellung einer (vorzivilisatorischen) »äussersten Barbarei«109 widersprechende Vorstellung ursprünglicher Unschuld und »glüklicher Einfalt«110 in die Isolation der vorsintflutlichen Zeit zwingen. Deshalb geht er in diesem Fall sogar von einer bei allen Völkern »durchgängig und einförmig« belegten gemeinsamen Erinnerung an den paradiesischen Anfang der Welt aus, d. h. einer Gewißheit der Überlieferung, die ansonsten auf die heilige Geschichte beschränkt bleibt.111 Zwar wertet Goguet die biblische Historie als eine Quelle aus, die Auskünfte über die Frühgeschichte der Zivilisation ermöglicht, so bei der Darstellung der ersten Epoche im Kapitel »Von den Gesezzen und der Regierungsart der Egyptier«.112 Auch für die Frühgeschichte Griechenlands ist Moses der »einzige Führer«, d.h. die Völkertafel nach 1.Mose 10/11 »breitet über diesen Punkt mehr Licht, als alle Denkmale des weltlichen Alterthums darreichen können, worin nichts als Unordnung, Ungewisheit und Widerspruch herschet« (Jawan »ist gewislich der Stammbaum aller Völker, die unter dem Namen der Griechen bekant sind«). Allerdings sanken auch die Griechen auf den Stand von »Wilden» herab, denn die lange Überfahrt von Asien nach Europa sowie die ungewohnten Umstände in ihrem neuen Siedlungsgebiet hätten veranlaßt, Ebd., Sechstes Buch, 368/Anm. Goguet erläutert dies mit einer verwickelten Beweiskette: Die Menschen können zwar unabhängig voneinander »unter verschiedenen Himmelsstrichen und zu verschiedenen Zeiten« in einem »Punkte der Moral« einig sein oder dieselben Entdeckungen in den Künsten und Wissenschaften machen. Doch gelte dies nicht für einen bestimmten »historischen Punkte«. Wenn man einen solchen »historischen Punkte« (d. h. also die Paradiesgeschichte) »bei allen Völkern angenommen siehet, so mus man nicht nur seine Richtigkeit erkennen, sondern auch zugestehen, daß er von einer gemeinschaftlichen Quelle komme. Die Tradition von dem Stande der Unschuld des menschlichen Geschlechts in dem ersten Zeitalter ist daher unzweifelhaft. Allein es ist vergebens, wenn man diese Tradition auf die Zeiten ziehen wil, die wir durchgegangen sind. Das Gegentheil ist durch alles, was wir von alten Denkmalen übrig haben, satsam bewiesen« (ebd., 372 f.). 109 Ebd., Einleitung, XX. 110 Ebd., Sechstes Buch, 367 u. 372. 111 Ebenso gibt es »von dem Daseyn Gottes« eine »ursprüngliche Tradition«, die sich etwa auch bei den Griechen »niemals verloren« habe (ebd., Bd. 2, Erstes Buch, 73). 112 Vgl. ebd., Bd. 1, Erstes Buch, 44–58, u. a.: »Es ist durch die heilige Schrift gewis, daß die Anordnung des Gottesdienstes in Egypten sehr alt seyn muste« (49; mit Verweis auf 1.Mose 47,26). 107 108

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»daß der meiste Theil der Abkömlinge des Javan das Andenken der Kenntnisse verlohr, die sich nach der Sündflut konten erhalten haben«.113 Auch für die Frühgeschichte der »Sitten» gibt es nach Goguet außer dem »Denkmal« der Bibel nur »absolute Unwissenheit«.114 Doch die nachsintflutliche Geschichte des jüdischen Volkes selbst zeigt sich in Goguets Darstellung nur ganz vereinzelt, ist eine nicht näher interessante Sondergeschichte, die den vernünftig erklärten Entstehungszusammenhang der Zivilisation nicht berührt. Von dem durch die Sintflut veranlaßten Rückfall in »tiefe Unwissenheit« waren die Familien, die weiterhin die Gegenden bewohnten, »wo sich das menschliche Geschlecht anfangs wieder versamlet hatte« (die »Ebene Sinear und ihre Nachbarschaft«), nicht betroffen.115 Die dort lebenden Menschen profitierten, so Goguet, von der adamitisch-noachidischen Kulturtradition, besaßen Reste der »Menge von Künsten«, die zweifellos vor der Sintflut »bekant und in Uebung gewesen«;116 so waren sie nicht gezwungen, den Ackerbau und die Metallverarbeitung neu zu erfinden.117 Auf die Entstehung und Entwicklung der Zivilisation, den von Goguet durch natürliche Faktoren erklärten, fortschreitenden Wirkungszusammenhang, hatte das heilige Volk allerdings keinen Einfluß. Darüber können auch die einleitenden Bemerkungen nicht hinweg täuschen, daß es dem ursprünglichen Wissen, das sich bei den in Sinai ansässigen Familien erhalten hatte, zu danken sei, »daß sich die verschiedenen Arten der menschlichen Kenntnisse unvermerkt ausgebreitet und volkommen gemacht haben«.118 Sie werden konterkariert durch die Ausführungen des folgenden, sich über tausend Seiten hinziehenden Textes.

Vgl. ebd., Erstes Buch, 60 ff. Die Aussagen dieses »Denkmals« klären allerdings nur über »Völker von Palästina« und die nähere Umgebung auf. Zu den »Sitten und Gebräuchen« (also nicht zu den Künsten oder Wissenschaften) gehört für Goguet auch die Dichtkunst; deren ältestes überliefertes Denkmal ist »der Gesang Moses, den er nach dem Durchgange durch das rothe Meer verfertigte« (Untersuchungen von dem Ursprunge der Gesezze, Bd. 1, Sechstes Buch, 337 f., 347 ff., 350). 115 Vgl. ebd., Vorrede, XI, u. Einleitung, XX ff. 116 Ebd., Zweites Buch, 70 u. 73. 117 Vgl. ebd., 85 u. 141. Bei Künsten wie der Schrift, deren vorsintflutlicher Gebrauch nicht durch die Genesis belegt ist, sind solche Einschränkungen der Erklärung durch natürliche Bedingungen und vernünftige Ursachen nicht notwendig. So spielt im Abschnitt über die Entstehung der Schriftlichkeit die hebräische Schrift kaum eine Rolle. Daß sie eine Entlehnung war, legt die Schlußfolgerung zur Frage der Epoche nahe, in der die »alphabetischen Charactere« erfunden wurden: Die alphabetische Schrift war zur Zeit Hiobs in Arabien bekannt, und man »könte so gar vermuthen, daß Moses die Kunst der alphabetischen Schrift in diesen Ländern lernte, wo er vor seiner Sendung viele Jahre zugebracht hatte«; jedenfalls belege Moses, »daß diese Erfindung zu seiner Zeit nicht völlig neu gewesen«, und es sei unzweifelhaft, »daß die Kentnis der Buchstaben bei den Canaitern nicht sehr alt gewesen« (ebd., 182). 118 Ebd., Einleitung, XXII. 113 114

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Goguet gibt der jüdischen Geschichte eine Gestalt, die im Horizont abendländischer, christlich orientierter Moderne evident geworden ist, zu seiner Zeit aber keineswegs selbstverständlich war. Die Geschichte des jüdischen Volkes ist eine gleichsam »heilige« Nebenlinie der Geschichte, die im Windschatten eines profanen historischen Fortschrittsprozesses verläuft, der von »wilden« und »barbarischen« Anfängen seinen Ausgang nimmt und bis zu den hochentwickelten Gesellschaften der Gegenwart führt. Den Juden galt die besondere Vorsorge Gottes. Doch als sie sich aufmachten, in den Zusammenhang der profanen Geschichte einzugreifen, als sie es müde wurden, »GOtt zum Haupt und unmittelbaren Monarchen zu haben«, und wie die übrigen Völker eine weltliche Monarchie errichteten, ereigneten sich »fast nichts als entsezliche Schauspiele, blutige Tragedien, und die unerhörtesten Uebelthaten«. So erwiesen sich die Juden als ein der göttlichen Güte unwürdiges Volk, das durch Nebukadnezar, dem »Werkzeug des Almächtigen», dem »gänzlichen Ruin» ausgeliefert wurde.119 Gegen die mit drastischen Bildern skizzierte, heilsgeschichtlich profilierte Szenerie steht Fortschritt, steht bei Goguet die Analyse der Frühgeschichte profaner Zivilisation als Errungenschaft in Not geratener Völker, die gezwungen waren, sich ohne göttlichen Beistand selbst zu helfen. Sie erreichten in dem von Goguet untersuchten Zeitraum nur ein bescheidenes Zivilisationsniveau und waren im Blick auf die weitere Entwicklung noch »wenig aufgeklärt«. Man erkennt, so Goguet in seinem Resümee, »wie unvollkommen und enge eingeschrenkt die menschliche Kentnis ehedem war«, »die Grundsäzze und Arten zu denken, welche zur Erhaltung und Glükseligkeit der Geselschaft die wesentlichsten und nothwendigsten sind«, waren zur Zeit des Cyrus, also am Endpunkt von Goguets Untersuchung, »nur erst entworfen«. Auch die Griechen waren damals noch sehr unwissend. Erst zweihundert Jahre später entstanden die Entdeckungen, »die ihnen den Ruhm und die billige Hochachtung erworben, deren sie noch heutiges Tags genießen, und die ihnen nichts jemals entziehen kann«.120 Man findet also nach Goguet in der orientalischen Frühzeit der Zivilisation »wenig Licht in Ansehung des Wachsthums der Künste«: »Es ist nicht leicht, die verschiedenen Stufen darin zu entdekken, das unmerkliche Wachstum, welches alles, was Entdekkungen und Erfindungen heisset, nothwendig hat haben müssen. Man kan daher in der Geschichte der orientalischen Völker die Bahn, welche der menschliche Verstand gegangen ist, nicht lernen« (»die Stufen sind, aus Mangel historischer Denkmäler und Nachrichten, nicht genug merklich«). Erst für die spätere griechische Kultur gilt: »Wir sind von dem Zustande, worin sich die Ebd., Bd. 3, Erstes Buch, 3 f. Zu seinem eigentlichen Thema nämlich, betont Goguet hier, gehöre der »Zustand der Ebräer« nicht, denn seine Absicht sei niemals gewesen, »von der Geschichte dieses Volks umständlich zu handeln«. 120 Ebd., 213–216. 119

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Künste in den verschiedenen Jahrhunderten, welche die Geschichte dieser Nation ausmachen, befanden, ziemlich unterrichtet. Von dem Augenblik an, darin diese Völker aus der Barbarei zu gehen angefangen haben, bis in die Zeiten, wo ihre Geschichte endiget, kan man ihre Bahn betrachten, und die Reihe und den Faden ihrer Einsichten verfolgen«.121 Die griechische Kultur ist für Goguet (ähnlich wie für Heumann) der Ausgangspunkt einer Entwicklung, die mit der Geburt Christi ihren vorläufigen Höhepunkt findet. Je näher die Geburt Christi rückt, »desto mehr entwikkelt sich die alte Geschichte und wird heller«.122 Doch steht nicht das heilige Volk, vielmehr stehen profane Völker am Beginn der »ununterbrochenen Kette« zivilisatorischer Leistungen des Menschen, als deren letztes Glied sich die fortschrittliche Gegenwart wiederfinden kann: »Die menschliche Kentnis hat seit hundert Jahren ein grösseres Wachsthum gehabt, als sie in dem ganzen Alterthum nicht hatten, und man kan es beinahe nichts anders zuschreiben, als dem Vortheil, dessen wir heutiges Tages geniessen, alle unsere Entdekkungen geschwind und leicht mitzutheilen«.123 Es ist dieser zweifache Nachweis, der Goguets Untersuchungen antrieb: Daß in den Epochen der Frühgeschichte kein Zustand verlorengegangener Perfektion liegt,124 den nur eine an der Gegenwart verzweifelnde »Einbildung« den »dunklen« Zeiträumen einschreibt. Zugleich aber auch, daß die von der aufgeklärten Vernunft beherrschte »dunkle« Zeit der Vergangenheit den Blick in eine aufgeklärte Zukunft öffnet.

3. Urwelten und Urängste: Nicolas Antoine Boulanger »Vielleicht ist das letzte Viertel unsers Jahrhunderts für Frankreich, was den Wechsel des Geschmacks im Forschen und Bearbeiten der alten Geschichte betrifft, eine der merkwürdigsten Epochen, die es durchgegangen ist. Man untersucht nicht mehr, wie Freret, Goguet, Montesquieu untersuchten. Man liest oder man kauft doch wenigstens die Histoire générale de la Chine des Tonkiankannuo, den Monde primitif des Court de Gébelin, die Lettre sur l’Atlantide des Bailly, und die Archives MythoHermetiques des du Plessis. Man spricht in Paris von Uriern und von Atlanten, von

Ebd., Bd. 2, Zweites Buch, 152. Die Griechen sind unübertroffen, so Goguets Position in der Querelle des Anciens et des Modernes, wenn es um »Poesie, Beredsamkeit und Kunst die Geschichte zu beschreiben« geht, doch bei den »strengen Wissenschaften« und den meisten anderen »Künsten« ist die Moderne überlegen (ebd., Bd. 3, 216). 122 Ebd., Bd. 3, Einleitung, 2. 123 Ebd., Bd. 1, Drittes Buch, 284. 124 In diesem Zusammenhang wendet sich Goguet gegen die Vorstellung, daß es im Verlauf der Geschichte zu großen Verlusten an Texten und Kenntnissen gekommen sei, wie sie Guido Panciroli 121

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Universalmedicin und vom Stein der Weisen, von Riesen und Zwergen, mit eben der Glaubenstheilnehmung, mit welcher man ehemals vom Priester-Johannisland und von Senegambien, und noch jetzt in den Kinderstuben vom Schlaraffenland spricht, ohne zu bedenken, daß die Quellen zur Geschichte der Urier und der Atlanten ohngefähr gleichen Werth mit den Nachrichten von den Wunderländern haben.«125 Mit nüchterner Kritik umreißt hier der deutsche Philosophiehistoriker Michael Hißmann einen neuen Typ von Ursprungsforschung, der ab den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts in Frankreich aufkam. Aus der Verbindung von Mythologie und Naturgeschichte, von Kultur- und Erdgeschichte (in der deutschsprachigen Terminologie der Zeit: »Theorie der Erde«) entstanden neue Ursprungsgeschichten, häufig in religionskritischer Absicht verfaßt oder zumindest mit entsprechenden Implikationen verknüpft. Schon für die Verfasser der Universal History und für Antoine Yves Goguet gaben gewaltige Naturumwälzungen während der Sintflut der Erde ein vollständig neues Aussehen. Sie eröffneten eine neue Epoche der Geschichte, der in der Universal History ein neues Datierungssystem (nach Jahren der Sintflut) Signifikanz verleiht. Erst nach der Sintflut begann die wahre, d.h. quellengestützte und kontinuierliche Geschichte menschlicher Vernunft. Die Zeit davor war für kulturgeschichtliche, auf Vergleiche unterschiedlicher Kulturen angewiesene Fragestellungen, wie sie Goguet interessierten, eine unergiebige, da ausschließlich mit der heiligen Geschichte belegbare Zeit. Goguet diente die Sintflut als quellenkritisches Argument zur Ausklammerung der vorsintflutlichen Zeiten. Dagegen waren die Revolutionen der frühen Erdgeschichte für (den von Hißmann angeführten) Antoine Court de Gébelin oder für Delisle de Sales, dessen Histoire nouvelle de tous les peuples du monde Michael Hißmann in deutscher Übersetzung mit ausführlichen Kommentaren herausgab, Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen: »Die Welt, die wir bewohnen, ist in gewissem Betracht der

(Rerum memorabilium jam olim deperditarum, et contra recens atque ingeniose inventarum libri duo, Amberg 1599–1602) einflußreich vertreten hatte. Was Panciroli über den Verlust der Künste erkläre, so Goguet, seien »Kindereien«. Wenn es scheint, »daß wir einige Kunststükke der Alten verlohren haben«, so komme das daher, »daß sie durch nüzlichere Entdekkungen, und bequemere Processe sind ersezzet worden«; als Exempel verweist er auf die Erfindung des Schießpulvers (ebd., Bd. 1, Vorrede, V u. die Anm. dazu). Vor allem kritisiert wird die hermetische Figur vergangener Wissensperfektion bei den Ägyptern; Goguet schließt sich hier Daniel le Clerc und Hermann Conring an (vgl. ebd., Drittes Buch, 204 ff.; Bd. 2, Drittes Buch, 216). 125 Neue Welt- und Menschengeschichte. Aus dem Französischen. Mit Zusätzen und Anmerkungen versehen von Michael Hißmann. Alte Geschichte. Erster Band. Mit Landcharten, Münster und Leipzig 1781, 174 f. (Kommentar des Herausgebers Hißmann). Es handelt sich um die Übersetzung der Histoire nouvelle de tous les peuples du monde […] ou Histoire des hommes, die seit 1779 heftweise in Paris anonym erschien; deren Verfasser war Delisle de Sales (Jean Baptiste Claude Izouard).

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Leichnam eines Riesen, der in einer wüsten Einöde ermordet worden; wir können seine Geschichte blos in seinen Wunden lesen. Laßt uns sehen, ob die Untersuchung der Wunden des Erdbodens in Asien uns zu einer Geschichte der Urwelt leiten wird«.126 Die französische Frühgeschichtsforschung seit den 1760er Jahren verdankt sich einem veränderten intellektuellen Milieu, aus dem heraus und für das ein Court de Gébelin oder Delisle de Sales schrieben. Wie der Übergang von der Universal History zur General History ist auch der Übergang von Goguets De l’origine des loix, des arts, et des sciences (1758) zu Court de Gébelins Monde primitif analysé et comparé avec le monde moderne (1773–1782) verknüpft mit einer Veränderung des Publikums und seinen Erwartungen. Das Pariser intellektuelle Milieu der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde vom »philosophe« beherrscht, der neue Medien und die Diskussionszirkel der Salons und Kaffees mit Diskussionsstoff versorgte. Nicht historisch-philologische Akribie und mächtige gelehrte Apparate interessierten diese Leser, sondern elegant geschriebene, fesselnde Geschichten. Das gilt auch für die Leser der seit 1764 publizierten General History. Im Pariser Milieu kam etwas hinzu. Wollte der Philosoph das auf Neuheiten begierige und sensationshungrige Publikum auf sich aufmerksam machen, benötigte er die raffinierte Hypothese zur »vernünftigen« Aufklärung der geheimnisvollen Frühzeit des Menschen. Die »Finsternisse der Urwelt« wurden »mit der Fackel der philosophischen Analyse« beleuchtet.127 Der Philosoph trat als Pionier der Urgeschichtsforschung auf, der seine gelehrten Vorgänger übertrumpft: »Wenn jemals Kühnheit ein Unternehmen auszeichnete, so war es das unsrige; da unser ungeduldiger Blick in die Vergangenheit zurückschaute, und in weiter Ferne die Zeit stillschweigend alle alten Denkmäler, worauf die Welt stolz ist, zerstören sah, wagten wir es, hie und da einige halb erloschenen Zeilen dieser ehrwürdigen Inschriften zu entziffern, ihnen einen zusammenhängenden Sinn zu geben, und sie zum Fundament der Geschichte des Urmenschen zu machen«.128 Welche alten Denkmäler wie und mit welchen Strategien ausgelegt wurden, ist Thema des folgenden Abschnitts. Der Philosoph suchte den »zusammenhängenden Sinn« nicht mehr in chronologisch geordneten Reihen von Herrschern und politischen Ereignissen. Sein Interesse galt den Menschen und ihrem Denken, ihren Mythen, religiösen Vorstellungen und Gebräuchen, ihren sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen: »Dies Werk soll weniger Geschichte der Staaten, als Geschichte der Menschen seyn. Diese Geschichte soll von allen Details der Feldzüge und Schlachten, von allen ungereimten Mährchen und allen kindischen Reflexionen frey seyn, womit bisher die mikrologische Genauigkeit der Sammler sie überladen hat. Sie 126 127 128

[Delisle de Sales], Neue Welt- und Menschengeschichte, 280. Ebd., 711. Ebd., 709.

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wird sich also blos auf diejenigen Facta einschränken, die den menschlichen Geist aufklären, oder seine Neugier reizen können«.129 Zu den interessantesten Vertretern aus der Gruppe französischer »philosophes«, die die Ursprünge menschlicher Kultur auf naturgeschichtlicher Grundlage erforschten, gehört Nicolas Antoine Boulanger. Er verdient deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil der auch von ihm selbstbewußt vertretene Anspruch eines Pioniers der Urgeschichte sich nicht in Rhetorik erschöpft. Boulanger erzählt in vielem tatsächlich eine neue Geschichte: am Anfang der Geschichte steht eine »Urerfahrung«, steht der Eindruck von Angst und Schrecken, der im Laufe der Zeit verdrängt wurde und den Boulanger als eine Gedächtnisgeschichte, wie man sie im Sinne Jan Assmanns verstehen kann, rekonstruiert.

A. Die Sintflut als Anfang der Geschichte »Das Wort Hydrophorie gehet auf den bey den Atheniensern üblichen Brauch [zurück], am Tage dieses Festes bey einem feyerlichen Aufzug Wasser in Krügen und Geschirren zu tragen. Zum Andenken der Sündfluth gossen sie alle Jahre dies Wasser in eine Oeffnung oder tiefen Abgrund, nahe beym Tempel des Jupiter Olympius; und bei dieser Gelegenheit erneureten sie unter sich das traurige Andenken, daß ihre Voreltern im Wasser vertilget waren«.130 Mit diesen Worten beginnt Nicolas Antoine Boulangers L’Antiquité dévoilée par ses usages, ou Examen critique des principales opinions, cérémonies et institutions religieuses et politiques des différens Peuples de la terre, zuerst 1766 in Amsterdam publiziert und schon ein Jahr später von dem Greifswalder Bibliothekar und Professor für Geschichte und schwedisches Recht Johann Carl Dähnert ins Deutsche übertragen.131 Boulanger arbeitete als Straßen- und Brückenbauer. Auslöser seiner Forschungen zur Frühgeschichte des Menschen, heißt es in einer biographischen Skizze, die Diderot verfaßte, waren durch seine praktische Arbeit veranEbd., 115. Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum. Oder kritische Untersuchung der vornehmsten Meinungen, Ceremonien und Einrichtungen der verschiedenen Völker des Erdbodens in Religions- und bürgerlichen Sachen. Aus dem Französischen des Herrn Nicolas Antoine Boulanger übersetzet, und mit Anmerkungen von Johann Carl Dähnert, Greifswald 1767, 19. 131 Das französische Original von 1766 erschien in zwei Ausgaben bei dem Amsterdamer Verleger Marc Michel Rey. Zu weiteren Auflagen und zur Editionsgeschichte Paul Sadrin, NicolasAntoine Boulanger (1722–1759) ou avant nous le déluge, Oxford 1986 (= Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, 240), 131 ff.; Sadrin widerlegt die Zweifel, die an der Autorschaft Boulangers geäußert wurden (136 ff.), und gab einen Nachdruck der Duodezausgabe zusammen mit einem Kommentarband heraus: L’Antiquité dévoilée par ses usages, édition établie et annotée par Paul Sadrin, 2 Tle., Paris 1978. Zu Boulangers Werk im Kontext der frühneuzeitlichen Debatte über die Sintflut Seguin, Science et Religion, 414 ff. Vgl. auch Sonja Asal, Eine neue Art, die 129 130

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laßte Erfahrungen. Er habe die »mannigfaltigen Substanzen, welche die Erde in ihrem Schoos verschließt, und welche von ihrem hohen Alter und von den unzählbaren Wirkungen der Revolutionen unter ihrem Gestirn Zeugen sind«, Versteinerungen beispielsweise, selbst in Augenschein genommen.132 Boulanger starb 1759, erst 36 Jahre alt. Seine beiden Hauptwerke erschienen posthum, vor der Antiquité dévoilée die 1761 gedruckten Recherches sur l’origine du despotisme oriental et des superstitions, die ursprünglich die Antiquité dévoilée abschließen sollten.133 Wie Goguet behandelt Boulanger das Ursprungsthema als Frage nach dem historischen Ausgangspunkt gegenwärtiger Kultur und Zivilisation. Mit der Antiquité dévoilée wolle er sich den »Aussichten vieler grosser Leute unserer Zeiten» anschließen, »die sehr wohl erkannt haben, wie viel zum Glück der Völker daran gelegen sey, auf die ersten Gründe der Dinge zurückzugehen«.134 Im Unterschied zu Goguet und dem ein Jahr später (1767) publizierten Essay on the History of Civil Society von Adam Ferguson stehen bei Boulanger aber nicht die materiellen Kulturleistungen, die Entwicklung der ökonomischen Subsistenzweisen und die damit verbundenen technischen, wissenschaftlichen und rechtlich-politischen Errungenschaften des Menschen im Zentrum des Interesses. Boulangers Ursprungsgeschichte ist primär Religionsgeschichte: »Der Mensch ist so gemacht, seiner Religion zu folgen und sie zu lieben, daß sein ganzer Sinn und Charakter sich in alle die Falten leget, die sie haben will: er wird heiter mit einer heitern Religion, er wird dürster mit einer dürstern seyn: er unterwirft ihr sein ganzes Heil, und überläßt sich ihr in dem, was ihm das allerwichtigste ist.«135 Menschengeschichte zu schreiben. Nicolas-Antoine Boulangers Theorie der Sintflut zwischen Mythos und Naturgeschichte, in: Innovation und Transfer – Naturwissenschaften, Anthropologie, Literatur und schöne Künste im 18. Jahrhundert, hg. v. Walter Schmitz u. Carsten Zelle, Dresden 2003, 109–131. Zum Übersetzer: Thomas Numrich, Johann David von Reichenbach und Johann Carl Dähnert. Zwei Aufklärer in Pommern, in: Pommern in der Frühen Neuzeit. Literatur und Kultur in Stadt und Region, hg. v. Wilhelm Kühlmann u. Horst Langer, Tübingen 1994, 419–434. 132 Die Skizze erschien anonym unter dem Titel Extrait d’une Lettre écrite à l’Editeur sur la vie & les Ouvrages de Mr. Boulanger im Vorspann des ersten Bandes der französischen Ausgabe 1766 (L’Antiquité dévoilée, édition Sadrin, T. 1, III–XIV) und ist auch Bestandteil der deutschen Übersetzung (VII–XVI, hier XIf.); zur Autorschaft von Diderot Sadrin, Nicolas-Antoine Boulanger, 138ff. Im folgenden wird nach der deutschen Übersetzung von Boulangers Text, bei einzelnen Stellen und Begriffen zusätzlich die französische Erstausgabe zitiert. 133 Zu den zu Lebzeiten publizierten Werken, u. a. Artikel für die französische Encyclopédie, so den für Boulangers frühgeschichtliche Untersuchungen einschlägigen Artikel »Déluge (Hist. Sacrée, profane, & natur.)«, Sadrin, Nicolas-Antoine Boulanger. 134 Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, 545. 135 Ebd., 479; L’Antiquité dévoilée, édition Sadrin, T. 1, Bd. 3 (Liv. V, Ch. II, VII): »L’homme est tellement fait pour suivre sa religion & pour l’aimer qu’il plie son humeur & son caractere à tout ce qu’elle ordonne; il sera gai avec une religion gaie, il sera triste avec une religion triste; il lui subordonne son bonheur & s’en rapporte à elle sur ce qui l’intéresse le plus.«

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Religion ist für Boulanger Ausgangspunkt und Basis des Zivilisationsprozesses. Sie prägt das Denken des Menschen und seine Kulturleistungen. Zivilisation entsteht in Abhängigkeit zur Religion. Das meint aber gerade nicht: Rückkehr zur heiligen Geschichte, also zur Bibel und zu Gott als dem Urheber und Ursprung menschlicher Zivilisation. Das Gegenteil ist der Fall. Boulanger schreibt Religionsgeschichte in kritischer Absicht. Die Aufdeckung des »wahren« Ursprungs der Religion dient dem Zweck, der Gesellschaft eine von religiösen Vorgaben emanzipierte Zukunft zu eröffnen. Das ist, wie sich zeigen wird, das »geheime« Zentrum von Boulangers Forschungen zum Ursprung von Kultur und Zivilisation. Fügt man den verwickelten, mit einer immensen Zahl historischer und ethnographischer Materialien illustrierten Beweisgang von Boulangers Darstellung (in der deutschen Übersetzung umfaßt sie über 600 Seiten) zu einer historischen Figur zusammen, ergibt sich folgende Geschichte. Eine mit gewaltigen Naturkatastrophen und Verwüstungen verbundene Wasserflut gab der gesamten Erdoberfläche ein neues Gesicht. Wann genau dies geschah, darauf geht Boulanger nicht ein. Sein Interesse gilt den »moralischen Folgen dieser Revolutionen«, den Eindrücken, »welche dieselben in sinnliche und denkende Wesen haben machen können«.136 Diese waren nicht weniger einschneidend und nachhaltiger als die Revolutionen der Natur. Angst und Schrecken haben sich unauslöschlich ins Gedächtnis der wenigen Menschen, die die zerstörerische Flut überlebten, eingebrannt. Rituelle Gedächtnisfeiern – Ausdruck der durch die Katastrophe entstandenen tief religiösen, auf der Furcht vor einem allmächtigen Gott gegründeten »Denkungsart« (»esprit«) – verankerten die Schreckenserfahrung sowie die apokalyptische Angst vor einer wiederkehrenden, endgültig vernichtenden Naturkatastrophe im kollektiven Gedächtnis. Die Menschen erinnerten mit Schrecken die Vergangenheit und erwarteten voller Angst ihren bevorstehenden Untergang, sie waren »friedlich« und »sanft«, doch ohne irgendeinen zivilisatorischen Antrieb. Ihr zutiefst melancholischer Charakter lähmte jede Vorsorge für die Welt. Die Menschen waren unfähig, »sich wieder in Gemeinschaft zu setzen, auf die Folge=Zeit zu denken, die Societät auf sicheren Gründen zu bauen, und für die Nachkommenschaft zu arbeiten«. Die Folge waren eine »Vergessenheit der Künste und eine gänzliche Vernachlässigung des Ackerbaues und aller nützlichen Hanthierungen«.137 Lange Zeit verharrten die Menschen in dem von Angst beherrschten religiösen »übernatürlichen« Zustand. Erst die Bevölkerungsvermehrung brachte Bewegung in das erstarrte Schreckensszenario. Zwei Typen von Menschen entwickelten sich: »die einen in kleiner Anzahl waren die, welche sich am längsten in ihren ersten Wohnstäten aufhielten, und da stetigere und ansehnlichere Societäten errichteten: die ande136 137

Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, 3. Ebd., 572 ff. (dort auch die folgenden Zitate).

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ren waren die, welche von den Societäten ausgiengen und allmälig sich gänzlich davon los machten. Die ersten sind die, bey welchen man die bürgerlichen Einrichtungen, die Regierungen und öffentliche Arten des Gottesdienstes wieder aufleben gesehen: die andern haben die herumschweifenden und wilden Nationen erzeuget, die sich fast über alle Theile des Erdbodens ausgebreitet haben, und die wir noch in vielen Gegenden finden.« Wie entstanden beim seßhaften Menschentyp »bürgerliche Einrichtungen« (»Législations«), wie konnten sich Kultur und Zivilisation entwickeln? Dies war die Tat der Gesetzgeber und geschah unter dem Einfluß der Mysterien. Der Ausgangsund Bezugspunkt der Gedächtnisfeste und Gebräuche, also die Schrecken der Naturkatastrophe und die Ängste vor dem zukünftigen Untergang der Welt, wurden vor dem gemeinen Volk verborgen und zum Wissen der Wenigen, die in die Mysterien eingeweiht waren. Das Motiv der Verschleierung war das Verdrängen der durch die Sintflut hervorgerufenen melancholischen Denkungsart, die Inversion apokalyptischer Zukunftsangst in innerweltliche Zukunftsvorsorge: »Es war nöthig, da man dem Menschen seine fürchterlichen Chimären und traurigen Idees aus dem Kopf bringen wollte, ihn wieder zur Unwissenheit zu bringen. Vielleicht war dies das einzige Mittel, ihn umzuändern, und ein neues Ding aus ihm zu machen. Und in der That sehen wir, daß alle Völker, die keine Mysterien gehabt, die einzigen gewesen, die in einem herumschweifenden und unstätigen Leben beharret, und noch bis jetzt Wilde und Barbaren geblieben sind«.138 Soweit der Abriß zur Frühgeschichte des Menschen, wie er sich aus Boulangers Untersuchungen ergibt. Boulanger versteht seine Arbeit als »Einleitung in die Geschichte der in Gesellschaften vereinigten Menschen«.139 Die auch terminologisch am Modell des Naturrechts orientierte Frage nach dem Anfang der Geschichte zielt jedoch nicht auf einen hypothetischen Naturzustand, sondern wie bei Goguet auf historische Gewißheit, die auf der Grundlage von Quellen mit Hilfe historisch-philologischer Kritik zu rekonstruieren ist. Die Historie aber läßt den Erforscher des Ursprungs der menschlichen Geschichte im Stich, so das Argument der Quellenkritik (die verschiedenen Facetten des Arguments behandeln die vorstehenden Abschnitte dieser Arbeit). Die heilige Geschichte war zwar von dieser Kritik nicht betroffen, doch

Ebd., 216; L’Antiquité dévoilée, édition Sadrin, T. 1, Bd. 2 (Liv. III, Ch. II, II): »Il falloit pour faire oublier à l’homme ses effrayantes chimeres & les objets lugubres qui l’occupoient, le ramener à l’ignorance; c’étoit peut-être le seul moyen de le changer & d’en faire un être nouveau. En effet nous voyons que tous les peuples qui n’ont point eu de mysteres ont été les seuls qui aient persévéré dans une vie errante, farouche, & qui soient restés sauvages & barbares jusque’à nous.« 139 Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, Einleitung, 2; L’Antiquité dévoilée, édition Sadrin, T. 1, Bd. 1 (Avant-propos, 3): »introduction à l’histoire de l’homme en société«. 138

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eben ihre Sonderstellung machte sie zu einer isolierten Geschichte, die außerhalb des Netzes historisch-philologischer Differenzierung lag, das Gelehrte wie Vico oder Goguet für ihre Untersuchungen benötigten. Dennoch ist der jüdisch-christliche Ursprung in Vicos oder Goguets Werken zumindest als Sondergeschichte präsent. Bei Boulanger dagegen ist er verschwunden. Als bloßes Dokument einer »universalen Mythologie« ist die Bibel den profanen Quellen gleichgeordnet. Nur eine Begebenheit erinnert an die alte, biblisch fundierte Universalhistorie: die Sintflut. Boulanger zeichnet sie aber nicht als Ereignis der heiligen Geschichte, sondern als ein physikalisches Phänomen der Erdgeschichte, für das nicht Textzeugen, sondern Denkmäler der Natur sprechen: »Das Auge des Naturkundigen hat die unstreitigen Denkmale dieser alten Erdveränderungen entdecket: er hat sie in unauslöschlichen Merkzeichen aufbehalten gesehen: wenn er in der Erde gegraben, hat er gehäufte Trümmer von Schiffen an unrechten Orten gesehen: er hat ungeheure Mengen von Muscheln und Schaalfischen auf den Gipfeln der jetzt von dem Meer entferntsten Berge gefunden: er hat in den Tiefen der Erde ungezweifelte Ueberbleibsel von Fischen getroffen: er hat eben da Gewächse bemerket, deren Ursprung ihm nicht zweifelhaft geschienen: ja er hat in den Tiefen des Erdbodens, den er bewohnet, Knochen und Ueberbleibsel von Thieren gefunden, die heut zu Tage nur auf der Erdfläche oder im Wasser leben.«140 Für die Geschichte der Zivilisation stellt die Naturkatastrophe Sintflut einen naturgeschichtlich identifizierbaren Nullpunkt dar: »Der Zeitpunkt dieser alten Revolutionen ist unstreitig der bestimmte Punkt, von dem man den Ursprung unserer jetzigen Societäten herleiten muß.«141 Von ihm ausgehend, kann der Historiker, der sich nicht auf die Bibel (und die aus ihr abgeleitete Chronologie) verlassen will, sozusagen naturgeschichtlich abgesichert rechnen. Die Zeit vor der Sintflut dagegen ist für Boulanger nicht mehr nur eine unergiebige Epoche (das war sie auch für Goguet); sie ist ein vollständig leerer, ein geschichtsloser Raum: »Die physikalischen Revolutionen des Erdbodens haben zwischen dem alten und dem neueren Menschen=Geschlecht eine undurchdringliche Mauer gesetzet. Der Mensch vor diesen Revolutionen, er sey gewesen, wie er wolle, ist für uns kein historisches Ding mehr, dessen Fassung uns bekannt seyn könnte; er ist ein abstractes, ein so metaphysisches Ding, als wenn er niemals existiret hätte.«142 Erst seit der Sintflut gibt es Geschichte im eigentlichen Sinn, d.h. vor allem: kulturelle Kontinuität, denn alle seitdem entstandenen Vereini-

Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, 4 f. Ebd., 6 (dort auch die folgenden Zitate). 142 L’Antiquité dévoilée, édition Sadrin, T. 1, Bd. 1 (Avant-propos, 12): »les révolutions physiques de la terre ont mis entre l’ancien & le nouveau genre humain un mur impénétrable; l’homme qui a précédé ces révolutions, tel qu’il ait été, n’est plus pour nous en être historique dont la position puisse nous être connue; c’est un être abstrait & aussi métaphysique que s’il n’eût jamais existé.« 140 141

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gungen (»sociétés«) gehen auf die kleine Zahl unglücklicher Menschen zurück, die den »traurigen Vorteil« hatten, das alte Menschengeschlecht und die großen Revolutionen der Natur zu überleben: »Hier siehet man also den Menschen, den man über den Ursprung der gegenwärtigen Societäten fragen muß: diesen dem Unglück der übrigen Welt entronnenen Menschen.« Zwar ist der Beginn der Geschichte durch naturgeschichtliche Evidenz gesichert, und der gewaltige Schrecken, den das »Bild des zerstörten Erdbodens auf sinnliche und denkende Wesen« machen mußte, steht außer Zweifel (weil Sinnlichkeit und Vernunft zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen gehören). Doch von naturrechtlichen, anthropologischen oder geschichtsphilosophischen Axiomen abgeleitete, nur »wahrscheinliche und mögliche« Ursprünge der Zivilisation genügen Boulanger nicht. Das unterscheidet ihn von Naturrechtstheoretikern und Geschichtsphilosophen des 18. Jahrhunderts: »Der Philosoph, der Metaphysiker, der Rechtsgelehrte hat geglaubt, daß wo die Geschichte schweiget, man die Vernunft fragen müsse, und daß durch eine genaue Betrachtung des Charakters und der Natur des Menschen seine ersten Schritte ausgemacht werden könnten.«143 Eine solch »abstracte und ungewisse« Behandlung des Problems verleite, so Boulanger, zu »falschen Speculationen über den Ursprung der Societäten« (»fausses spéculations sur l’origine des sociétés«). Boulanger will seiner Erforschung des Ursprungs menschlicher Zivilisation dokumentarische Evidenz verleihen. Er will »etwas wirkliches haben« und erweist sich in dieser Hinsicht als Historiker, der seine Darstellung auf Quellen gründen muß. Die dafür übliche historische Instanz der Vergewisserung ist im 18. Jahrhundert Historiographie.144 Auf überlieferte Historiographie aber kann der Historiker der Frühgeschichte, der sich am Maßstab historischer Kritik orientiert, nicht bauen, denn Geschichtsbücher, auch die »allerältesten«, überliefern nicht die »Historie der ersten Menschen«.145 In dieser Hinsicht schließt sich Boulanger der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts profilierten kritischen Sicht auf die Geschichtsschreibung zur Frühgeschichte an. Während davon allerdings Moses, der »erste« Geschichtsschreiber, gewöhnlich ausgenommen blieb, stellt für Boulanger auch die biblische Geschichte keine sichere Überlieferungsinstanz mehr dar.

Ebd. (Avant-propos, 21 f.): »des philosophes, des méthaphysiciens, des jurisconsultes ont cru qu’au défaut de l’histoire on devoit consulter les lumieres de la raison, & qu’après avoir bien médité sur le caractere & sur la nature de l’homme, on pouvait pervenir à deviner ses premieres démarches«; deutsche Übersetzung: Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, 11 (dort auch die folgenden Zitate). 144 Dazu Teil IV vorliegender Arbeit. 145 Vgl. Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, 14 (Einleitung), 99, 540 ff. 143

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Die Zeit nach der Sintflut teilt sich nach Boulanger in zwei völlig unterschiedliche Epochen. Es gibt eine »dunkle« und eine »historische« Zeit. Die historische Zeit ist die durch Historiographie beschriebene und überlieferte Zeit. Sie beginnt mit der persischen Monarchie: »Die Monarchie der Perser, die Cyrus 538 Jahr vor unserer Christlichen Zeitrechnung stiftete, und Alexander 330 Jahr vor derselben zu Grunde richtete, ist die erste unter den Monarchien, deren Anfang und Ende die Geschichte erreichen kann«.146 Für das assyrische oder ägyptische Reich trifft diese Bedingung nicht zu, da ihre Anfänge sich in »dunkler« Zeit verlieren. Boulangers Zweiteilung der nachsintflutlichen Geschichte erinnert an die Unterscheidung August Ludwig Schlözers in »Vorwelt« und »beschriebene Zeit«. Auch in der sechs Jahre nach der Antiquité dévoilée 1772 publizierten Vorstellung seiner Universal-Historie beginnt die historische Zeit mit dem persischen Großreich. Schlözers Vorwelt umgreift allerdings den gesamten Zeitraum von der Weltentstehung bis zur historischen Zeit, und Schlözer rechnet auf der Grundlage der biblischen Chronologie: die Welt existiert seit »etwa 6000 Jahr«.147 Dagegen besitzen für Boulanger weder die »geschichtslose« vorsintflutliche Zeit noch die nachsintflutliche Zeitspanne bis zum Beginn der historischen Zeit einen chronologischen Index. Die Zeit zwischen der Sintflut und den ersten Geschichtsschreibern ist eine »in der Nacht der Zeiten« verhüllte »mächtige Zwischenzeit«, ein »unermeßlicher Zeitraum«, wie wiederholt betont wird.148 Boulangers Rede verdeutlicht, wie der Verzicht auf den biblischen Maßstab zur Datierung der frühesten Geschichte im 18. Jahrhundert zum Verzicht auf exakte chronologische Datierungen der Frühzeit zwingt. Die Rede über unermeßliche Zeiträume ist nur mehr eine metaphorische Rede ohne chronologisches Bezugssystem.149 Der Vergleich mit Schlözers »Vorwelt« bzw. »Vorgeschichte« ist noch in anderer Hinsicht bezeichnend für Boulangers historisches Interesse. Für Schlözers »systematische Universalgeschichte« ist die Vorwelt ein zu vernachlässigender Bezirk, den er »bloß in der Ferne« zeigen will, für Boulanger dagegen ist gerade die »dunkle Leere der finstren Zeiten, die vor den historischen Zeiten vorgehen«, also die Zeit zwischen Sintflut und Beginn der historiographischen Überlieferung, der »lehrreichste und wichtigste« Teil der Geschichte; er allein enthält »die Gründe und Ursachen von allem«.150 Die großen Reiche der historischen Zeit haben sich nach Gesetzen ausgebildet, über deren Besonderheit nur die Kenntnis der »allerersten und allerältesten» Geschichte aufklären kann, sie besitzen gleichsam festgelegte Muster, deren Webstuhl Ebd., Einleitung, 9. Vgl. vorliegende Arbeit Teil IV, Kapitel 4. 148 Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, 8 (Einleitung), 542, 565. 149 Dazu Edoardo Tortarolo, Die Angst des Aufklärers vor der Tiefenzeit. Oder: Die Euthanasie der biblischen Chronologie, in: Universalgeschichte und Nationalgeschichte, hg. v. Gangolf Hübinger u. a., Freiburg i. Br. 1994, 31–50. 150 Vgl. Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, 8 (Einleitung), 99. 146 147

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in finstren Zeiten verborgen liegt. Die historische Zeit ist eine gleichförmige Zeit, im Prinzip geschieht nichts Neues in der Welt: »In der That sind die Erzählungen, wovon die Geschichte voll sind, nichts als wiederholte oder umgewechselte Auftritte. Einige Nationen sind freylich umgeändert, aber der Zustand des menschlichen Geschlechts ist zu allen Zeiten beynahe derselbe. Was man demnach Historie nennet, ist blos von der wahren Historie der fruchtloseste, der einförmigste, und der unnützeste Theil, ob er gleich der bekannteste ist. Die wahre Historie ist hinter dem Vorhang der Zeiten verstecket.«151 Deutlicher könnte der Kontrast nicht sein: hier der pragmatische, an der Dynamik staatlicher politischer Herrschaft interessierte deutsche Historiker Schlözer,152 für den die Zeit vor den klassischen politischen Systemen der antiken Welt kein Interesse verdient, dort der (vor-)revolutionäre französische Historiker Boulanger, für den, im Blick auf die Menschheit, die Politik der historischen Epoche nur Wiederholungen der immer gleichen Herrschaftsmechanik darstellt, die sich in »vorhistorischer« Zeit ausgebildet hat. Boulangers historisches Interesse geht von der naturrechtlichen Fragestellung aus, d. h. der Anfang der Geschichte wird als Naturzustand vorgestellt, als Ausgangspunkt menschlicher Kultur und Zivilisation. Das ist auch die Perspektive Rousseaus. Boulanger aber will den Naturzustand nicht abstrakt, durch vernünftige Schlußfolgerung, sondern als Historiker, abgesichert durch »wirkliche Begebenheiten« und diese dokumentierende historische Quellen, rekonstruieren. Das unterscheidet ihn von Rousseau, dessen Discours sur l’inégalité (von 1755) als Gegenposition markiert und kritisiert wird.153

B. Fabeln als Schlüssel zur Frühgeschichte Welche Quellen können für die vorhistorische Zeit zum Sprechen gebracht werden, wie kann, wenn die Historie nicht als Zeuge auftreten kann, der Ursprung der Zivilisation dennoch historisch rekonstruiert, die wahre, hinter dem »Vorhang der Zeiten« versteckte Geschichte aufgedeckt werden? Boulanger macht aus der Not, daß über die dunkle Epoche nur »Fabeln« existieren, eine Tugend. Fabeln sind aussagekräftige Quellen für die Zeit zwischen der alles vernichtenden Naturkatastrophe Ebd., 9; L’Antiquité dévoilée, édition Sadrin, T. 1, Bd. 1 (Avant-propos, 18 f.): »En effet les détails dont l’histoire s’est remplie ne font que des répétitions ou des transports de scene: quelques nations ont changé, à la vérité, mais l’état du genre humain est toujours à peu près le même; ainsi ce qu’on appelle l’histoire n’en est que la partie la plus ingrate, la plus uniforme & la plus inutile, quoiqu’elle foit la plus connue. La véritable histoire est couverte par le voile des temps.« 152 Dazu Merio Scattola, La nascità delle scienze dello stato: August Ludwig Schlözer (1735–1809) e le discipline politiche del Settecento tedesco, Milano 1994. 153 Vgl. Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, 191 f. 151

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Sintflut und der historischen Zeit: »Die Fabel ist besser hierin versehen und lehrreicher in diesem Stück, als die Historie«.154 Man muß die Fabeln nur zu lesen wissen. Das ist das große Thema der Antiquité dévoilée. Das Buch ist eine Mythologie der Frühgeschichte, steht in der Tradition der großen Mythendeutungen der Frühen Neuzeit, in der Tradition von Samuel Bocharts Geographia sacra, Pierre-Daniel Huëts Demonstratio evangelica und Antoine Baniers La Mythologie et les fables expliquées par l’histoire.155 Unterschiedliche Texte aus unterschiedlichen historischen Epochen und Kulturräumen dienen Boulanger als Materialien für seine Analyse religiöser Praktiken und Vorstellungen der Frühzeit.156 Neben der Bibel verweist er am häufigsten auf Texte der griechisch-römischen Antike, vor allem auf Plutarch, Pausanias, Diodor und Ovid, oft auch (geordnet nach der Häufigkeit der zitierten Belege) auf Strabon, Macrobius, Herodot, Eusebius, Dionysios von Halikarnassos, Flavius Josephus, Cicero und Platon. Die Völker Asiens, Afrikas und der Neuen Welt dokumentieren Reiseberichte, besonders oft genannt werden die Histoire générale des Voyages, Engelbert Kaempfers Histoire naturelle, civile et ecclésiastique de l’empire du Japon 157 und die Lettres édifiantes et curieuses, écrites des missions étrangères par quelques missionnaires de la Compagnie de Jésus. Hinzu kommt eine große Zahl gelehrter Spezialstudien von Philologen, Orientalisten und Hebraisten des 17. und 18. Jahrhunderts. Oft wird (wie bei Goguet) auf einschlägige Artikel der Mémoires de l'Académie Royale des Sciences sowie auf die illustrierte Histoire générale des cérémonies, moeurs et coutumes religieuse de tous les peuples du monde verwiesen. Häufig genannte Einzelstudien sind Jacques Basnages L’Histoire des Juifs, Barthélemy d’Herbelots Bibliothèque orientale, Thomas Hydes Veterum Persarum et Parthorum et Medorum religionis historia und Baniers Mythologie. Das sind, wie gesagt, nur diejenigen Gelehrten bzw. Texte, die Boulanger häufiger zitiert, daneben finden sich zahlreiche weitere Belege, u.a. auch mittelalterliche Quellen (wie die Edda) oder Texte jüdischer Gelehrter (wie Maimonides und Leon Modena). Boulanger benutzte diese Texte als Materialsammlung, d.h. er entnahm ihnen die Beschreibungen von religiösen Praktiken und Mythen der antiken Welt und »wilder« Völker. Mit den Thesen und Erklärungen der Verfasser setzt er sich nicht bzw. nur selten und indirekt auseinander. Seine »Historie der Gebräuche und Denkungsarten» (»L’histoire des usages & de leur esprit«) versteht Boulanger als »neue Art einer

Ebd., 541. L’Antiquité dévoilée, édition Sadrin, T. 1, Bd. 3 (Liv. VI, Ch. I, VIII): »La fable est plus instruite & plus instructive à cet égard que l’histoire«. 155 Alles Autoren, die Boulanger benutzt und zitiert. 156 Vgl. die detaillierte Auflistung und Analyse bei Sadrin, Nicolas-Antoine Boulanger, 142 ff. (dort die genauen Nachweise der im folgenden genannten Titel). 157 La Haye 1729, Übersetzung des Erstdrucks (The History of Japan, London 1727). 154

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Historie der Menschen« (»une nouvelle maniere de faire l’histoire des hommes«). Als neu wird die Auslegung von religiösen Praktiken und Mythen im Licht der Naturgeschichte profiliert. Die Sintflut, also der naturgeschichtlich abgesicherte Nullpunkt der Geschichte, hat sich in den Gebräuchen und Denkweisen aller Völker niedergeschlagen. Die »Natur selbst« bestätigt dem »Naturkundigen« (»physicien») die alten Überlieferungen über die Sintflut: »Es ist der Naturlehre Werk, die Revolutionen des Erdbodens, von denen sie an allen Orten die Spuren findet, zu bemerken, und ihre Anmerkungen in den Archiven der Wissenschaften zu verzeichnen. Sie kann sich der natürlichen Denkmale bedienen, die historischen Traditionen zu bestätigen und zu verbessern: und sie wird zuweilen diese Traditionen brauchen, die Denkmale der Natur aufzuklären«. Erdgeschichte und Mythologie bestätigen sich wechselseitig; dadurch wird es möglich, die Frühgeschichte des Menschen auf ein naturgeschichtlich gesichertes Fundament zu stellen: »Kurz, die Sündfluth scheinet mir die wahre Epoche der Geschichte der Völker zu seyn. Die Tradition, durch welche diese Begebenheit auf uns gekommen, ist nicht nur die älteste unter allen, sondern ist auch klar und verständlich. Sie stellet eine Begebenheit auf, die sich rechtfertigen und bewähren kann«.158 Als Quellen verwendet Boulanger, wie gesagt, Texte unterschiedlicher Art, vor allem Berichte über religiöse Gebräuche und Mythen. Unter seiner Lektüre werden sie zu historischen Dokumenten, die Bezüge zu den »wirklichen« Begebenheiten am erschließbaren Anfang der Geschichte enthalten, also zur Naturkatastrophe Sintflut und ihrer Wirkung auf die damaligen Menschen. Das ist Boulangers große These, der Schlüssel seiner Auslegungskunst: Mythen (»Traditionen«, »Fabeln«) können als eine »Natur-Historie der Welt« gelesen werden. Boulanger entdeckt, schreibt der Übersetzer Dähnert in seinem Kommentar zur Antiquité dévoilée, »in der Mythologie allenthalben eine allegorische Physik von Natur=Veränderungen und den Unglücksfällen des Erdbodens durch die Sündfluth, eine verwirrende Naturlehre mit moralischen Zeichnungen und mystischen Vermengungen versteckt«.159 Alle Völker besitzen nach Boulanger Mythen. Sie erzählen »fremde und seltsame Dinge«, sind »fabelhaft«, »kurz Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, Einleitung, 2 u. 4. L’Antiquité dévoilée, édition Sadrin, T. 1, Bd. 1 (Avant-propos, 4 u. 8): »Il est réservé à la physique de faire le tableau des révolutions de la terre, dont elle trouve des vestiges en tous lieux, & de consigner ses observations dans les archives des sciences; elle pourra se servir des monumens naturels pour vérifier & pour corriger les traditions historiques; & quelquefois elle emploiera ces traditions pour éclaircir les monumens naturels«; »en un mot le déluge me paroît la véritable époque de l’histoire des nations? Non-seulement la tradition qui nous a transmis ce fait est la plus ancienne de toutes, mais encore elle est claire & intelligible; elle nous présente un fait qui peut se justifier & se confirmer«. 159 Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, 105 f., 120 u. 614 (Anmerkungen des Übersetzers). 158

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und verwirrt«, durch die »Entfernung der Zeiten« dunkel geworden. Dem Historiker aber, der sie zu lesen weiß, ermöglichen sie es, »die Lücken der Geschichte auszufüllen, und Licht über die dicken Finsternisse zu bringen, welche den Ursprung und die Kindheit der ersten Societäten bedecken«.160 Mit Hilfe des Lichts, das die dunklen Ursprünge erhellt, will Boulanger die Gegenwart aufklären. Denn die Schrecken der Sintflut beherrschen verborgen, d.h. verdrängt und unbewußt, noch die gegenwärtige Religion und Mentalität: »Wir zittern noch jetzt über die Folgen der Sündfluth«.161 Vor allem diesen Nachweis will Boulanger erbringen: daß uralte religiöse »Gebräuche und Denkungsarten« bis in die Gegenwart fortwirken, ihre Entschlüsselung die zivilisationshemmende Wirkung von Religionen vernünftig erklärt. Die »Entzifferung einer Gedächtnisspur«162 ist ein therapeutisches Unternehmen, das der Aufklärung der Gegenwart dient: »Kurz: die Sündflut ist der Grund von allem dem, was in verschiedenen Jahrhunderten der Nationen Schande und Unglück gewesen«. Die Sintflut, »Grab so vieler Nationen«, wurde auch »das Grab der Vernunft und der Philosophie, das Grab der Künste, der Wissenschaften, der Gesetze«.163 Wie setzt Boulanger diesen kritischen Impuls ins Werk, wie bringt er seine Materialien zum Sprechen? Welches methodische Regelwerk dient dem Nachweis der These über den wahren Ursprung von Religion und Zivilisation in der »vorhistorischen« Naturkatastrophe, die über historische (historiographische) Überlieferungen nicht zu fassen ist? Die Antiquité dévoilée ist in sechs Teile (Bücher) gegliedert. Im ersten Buch findet Boulanger in der Analyse von religiösen Praktiken der Antike und »wilder« Völker Hinweise auf deren ursprüngliche Funktion, die Sintflut dem Gedächtnis einzuprägen. Das zweite Buch entwickelt die These, daß sich in Gedächtnisfesten Spuren von Trauer auffinden lassen, die auf die melancholische Mentalität der Menschen nach der Sintflut verweisen. Thema des dritten Buchs ist die Verschiebung des ursprünglichen auf die Erinnerung an die Sintflut bezogenen Sinns der religiösen Praktiken durch die Einführung der Mysterien. Das vierte und fünfte Buch analysieren die in religiösen Lehren und Gebräuchen zum Ausdruck kommende Zeitstruktur der Gedächtnisfeste. Ein »Abriß der Physischen und Moralischen Wirkungen der Sündfluth« (»Tableau des effets physiques & moraux du Déluge«) überschriebenes sechstes Buch erörtert die Konsequenzen der Analysen für Religion und Politik der Gegenwart. Von traditionellen Mythenauslegungen unterscheidet sich Boulangers Analyse vor allem dadurch, daß keine Differenz zwischen wahren (jüdisch-christlichen) und falschen (heidnischen) religiösen Vorstellungen und Praktiken vorausgesetzt wird. Bou160 161 162 163

Ebd., Einleitung, 1 f., 9 f. Ebd., 565. So der Untertitel von Jan Assmanns Moses-Buch (Moses der Ägypter). Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, Einleitung, 8.

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langer behandelt, kommentiert sein Übersetzer Dähnert, »die biblischen und Profan=Gebräuche auf einem Schlag«.164 Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen zwischen der heidnischen und jüdisch-christlichen Religion zu erklären, war der Ausgangspunkt der vergleichenden Religionsgeschichte und Mythendeutung in der Frühen Neuzeit.165 Man kann diesen Wissensdrang mit Dähnert als Kompensation einer Provokation lesen. Die Entdeckung von Analogien zwischen profanen und heiligen Religionspraktiken stellten die Exklusivität der jüdisch-christlichen Religion und ihrer Kulte in Frage. Zwei Strategien, wie solche Übereinstimmungen erklärt werden, sind nach Dähnert zu unterscheiden. Der bis zum 18. Jahrhundert verbreitetste Erklärungsansatz verstand heidnische Zeremonien, Fabeln und Gesetze als »Nachäffung des Jüdischen Gottesdienstes, der Jüdischen Geschichte und der Mosaischen Verfassungen«. Davon ging etwa Huët aus. Der zweite Erklärungsansatz kehrte diesen Grundsatz um. Dazu Dähnert: »Die Gesetze und Gebräuche der Ebräer wären eine Nachahmung von den Gebräuchen der Egypter und anderer benachbarter Völker«. Für John Spencer, John Marsham und William Warburton, die Vertreter dieses Ansatzes, war es widersinnig, daß ein »so unbekanntes, von anderen Völkern abgesondertes und denselben so verhaßtes Volk «wie die Hebräer zum Muster der Nachahmung von Vorstellungen und Gebräuchen hätte werden können, die »weit älter als Moses und die Bibel« wären.166 Jan Assmann bezeichnet diese Umkehrung des traditionellen Erklärungsansatzes der Mythendeutung durch die genannten Gelehrten als »normative Inversion«.167 Boulanger dagegen geht es nicht um die Rückführung der religiösen Praktiken und Mythen auf dieses oder jenes Volk. Er ersetzt die den beiden Erklärungen zugrunde liegende Prämisse einer prinzipiellen Differenz zwischen wahrer und falscher Religion und damit den auf die heilige Geschichte bezogenen Maßstab der Argumentation durch seinen naturgeschichtlichen Referenzpunkt, also die Sintflut als Nullpunkt der Geschichte. Kulturelle Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen verschiedener Völker beruhen nicht auf Nachahmung. Sie erklären sich vielmehr durch die allen Völkern gemeinsame, auf die katastrophalen Umwälzungen der Erdoberfläche zurückzuführende »Urerfahrung«.168 Nicht die geoffenbarte heilige Schrift ist Muster und BezugsEbd., 603 (Anmerkungen des Übersetzers). Dazu Jan Assmann, Das Geheimnis der Wahrheit. Das Konzept der »doppelten Religion« und die Erfindung der Religionsgeschichte, in: Archiv für Religionsgeschichte 3 (2000) 108–134, und die übrigen Beiträge dieses dem Thema »Das 17. Jahrhundert und die Ursprünge der Religionsgeschichte« gewidmeten Bandes. 166 Ebd., 601 f. (Anmerkungen des Übersetzers). 167 Assmann, Moses der Ägypter, 85 ff. 168 Ähnlich hatte schon Noël-Antoine Pluche (Histoire du Ciel, 2 Bde., La Haye 1738) argumentiert, den Boulanger öfters zitiert (und ausführlich kommentiert). Pluche verbindet allerdings die These von der Naturkatastrophe Sintflut als der gemeinsamen Erfahrungsgrundlage aller Völker 164 165

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punkt religiöser Vorstellungen und ihrer Auslegung, sondern (Natur-)Erfahrung. Mythen sind für Boulanger »Verkörperungen« von Ereignissen der Naturgeschichte. Sie besitzen ein gemeinsames »Muster«, nach dem die Völker ihre Legenden und Helden strickten: »Die Kenntniß dieses Musters und der Grundtheile, woraus es zusammengesetzet ist, muß uns die Gleichförmigkeit erklären, die wir in den fabelhaften Anecdoten fast aller Völker in der Welt wahrnehmen«.169 Natur als Vorlage für religiöse Vorstellungen und Praktiken ist eine antike Figur, die besonders Plutarch, den Boulanger gerne zitiert (»Plutarchus saget, die Religion sey eine allegorische Historie der Natur«),170 und Strabon (und daran anknüpfend Freidenker wie John Toland) ausgezeichnet hatten.171 Bei Boulanger entsteht daraus eine komplexe Auslegungskunst, eine »allgemeine Mythologie« (»mythologie universelle«)172 auf naturgeschichtlicher Grundlage. Ihr geht es aber nicht primär um die Auslegung überlieferter Schöpfungs- und Ursprungsmythen, vielmehr, darauf verweist der Titel Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, um die Auslegung religiöser Gebräuche der Antike sowie »wilder« Völker. Sogenannte »Hydrophorien« (oder »Wasser-Feste«) verschiedener Völker und Zeiten bilden den Ausgangspunkt der Untersuchungen. Daß Boulanger gerade sie auswählt,173 ergibt sich aus ihrem Bezug zur Sintflut. Die Hydrophorien sind für Boulanger Gedächtnisgebräuche, die zur Erinnerung an die Sintflut eingeführt wurden. Mag die Unterstellung einer nachweisbaren Relation von naturgeschichtlichem und kulturgeschichtlichem Ursprung aus moderner, historisch kritischer Sicht naiv und willkürlich erscheinen, die sich auf dieser Annahme entfaltende Auslegungsarbeit ist es keineswegs. Denn Boulanger versteht die überlieferten Beschreibungen der Gedächtnisgebräuche nicht als einfache historische Dokumente, als gleichsam festgestellte, invariante Abdrucke der Begebenheit Sintflut, welche unmittelbar Auskunft über die dadurch ausgelösten religiösen Praktiken geben können. Der Zusammenhang zwischen Sintflut und religiösen Gebräuchen hat sich im Lauf der Zeiten verdunkelt. Der Prozeß der Tradierung verschlüsselte den ursprünglich klaren Sinn der

nicht wie Boulanger mit der Aufhebung von wahrer und falscher Religion, d.h. es ist sein Anliegen, die Vereinbarkeit dieser These mit der heiligen Geschichte nachzuweisen. 169 Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, 457; L’Antiquité dévoilée, édition Sadrin, T. 1, Bd. 3 (Liv. V, Ch. I, VIII): »C’est la connaissance de cette formule & des élémens qui la composent qui doit nous expliquer cette monotonie qu’on apperçoit dans les anecdotes fabuleuses de tous les peuples du monde«. 170 Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, 219. 171 Zu ihnen und ihrer Rezeption in der frühen Neuzeit Assmann, Moses der Ägypter. 172 Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, 456; L’Antiquité dévoilée, édition Sadrin, T. 1, Bd. 3 (Liv. V, Ch. I, VIII). 173 Wo doch, wie Boulanger einräumt, die Gebräuche »unzählbar« sind (Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, Einleitung, 13).

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Gebräuche. In den »Canälen der Traditionen« (»canaux traditionels«),174 so Boulanger, erhielt die religiöse Praxis neue Sinnhorizonte, die ihren ursprünglichen Anlaß überlagerten und unkenntlich machten, etwa dadurch, daß spätere Zeiten den allegorischen Stil und die symbolische und hieroglyphische Schrift der ersten Zeiten (»le style allégorique & l’écriture symbolique & hiéroglyphique des premiers temps«) nicht mehr verstanden,175 vor allem aber durch die Einführung der Mysterien. Die Verformung des ursprünglichen Sinns religiöser Gebräuche durch fremde Motive verbindet Boulanger mit dem Begriff der Fabel. Fabeln sind Verkleidungen der historischen Wahrheit. Sie verändern die wahren Beweggründe der Gebräuche, die allmählich ganz in Vergessenheit geraten. So haben alle Völker nur »mythologische und verwirrte« Begriffe über Ursprung und Anlaß ihrer religiösen Praktiken.176 Die Einsicht, daß religiöse Gebräuche ursprünglich Ausdruck der durch die Sintflut veranlaßten (Schreckens-)Erfahrungen waren, wird aber nicht nur durch komplexe Überlagerungen des Sinnhorizonts als Folge ihrer Tradierung erschwert, sondern auch durch Modifikationen der Gebräuche selbst: »Sie sind fast bis ins unendliche mannigfaltig geworden, da nach dem wandelbaren Genie der Zeiten und nach dem Eigensinn der Völker die Ceremonien geändert, und nach Gründen, die man aus tausenderley Vorurtheilen genommen, eingerichtet sind. Ja sehr oft sind diese Gebräuche dergestalt verfälschet und verdorben, daß sie lächerlich und unbegreiflich geworden.«177 Wie kann angesichts dieser Schwierigkeiten der ursprüngliche Sinnhorizont der religiösen Praktiken erschlossen werden? Boulanger bringt für diese Rekonstruktionsarbeit ein ganzes Ensemble hermeneutischer Regeln in Anschlag.178 Ihr Grundsatz lautet: »Man muß […] nicht sowohl in den Bewegungsgründen, welche die Leute zu ihren Gebräuchen angeben, als in der Natur dieser Gebräuche ihren wahren Ursprung suchen. Die Fabel und die Zeit haben immer die Bewegungsgründe verändert, dahingegen die Gebräuche sich immer erhalten haben. Diese sind eine Art von Schrift, die sich nimmer verändert hat, ob man sie gleich übel gelesen, oder verschieden gelesen hat.«179 Den überlieferten Motiven, der expliziten Ideologie religiöser Handlungen ist mit Mißtrauen zu begegnen. Die invariante innere Struktur der GeEbd., 52; L’Antiquité dévoilée, édition Sadrin, T. 1, Bd. 1 (Liv. I, Ch. III, IX). Ebd., 100 bzw. Ch. VI, I. 176 Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, 50. 177 Ebd., Einleitung, 13. 178 Der Übersetzer Dähnert listet in seinen Anmerkungen 26 solcher Regeln Boulangers auf (ebd., Anmerkungen des Übersetzers, 603–606). 179 Ebd., 74; L’Antiquité dévoilée, édition Sadrin, T. 1, Bd. 1 (Liv. I, Ch. V, III): »C’est […] moins dans les motifs que les hommes donnent de leurs usages que dans l’esprit de ces usages qu‘il faut chercher leur véritable origine; les fables & le temps ont toujours corrumpu les motifs tandis que les usages se sont toujours conservés; c’est une forte d’écriture qui n’a jamais changé, quoiqu’on l’ait souvent mal lue, ou lue diversement.« 174 175

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bräuche, verweist dagegen auf die sie verursachende Begebenheit. Sie kann nur über ein kompliziertes, methodisch geführtes Verfahren vergleichender Interpretation der Quellen rekonstruiert werden. Man muß vorsichtig vorgehen, offensichtlichen Analogien können Differenzen zugrunde liegen, offensichtliche Differenzen auf gemeinsame Ursachen verweisen. Die Schwierigkeit liegt »mehr in der Methode, als in der Sache selbst«: »Es ist nicht genug, über eine jede dieser Traditionen weitläuftige Commentarien zu machen«, kritisiert Boulanger die traditionelle Mythenauslegung, man muß herausfinden, »was ihre Verbindung, ihre Ordnung und das Ganze in ihnen sey«.180 Es gilt »Traditionen mit Traditionen, Fabeln mit Fabeln« zu vergleichen, um aus ihren gegenseitigen Aussagen gleichsam »wider ihren Willen ihr Geheimniß« herauszubringen.181

C. Gedächtnisgeschichte als Instrument der Aufklärung Bei aller methodischen Raffinesse von Boulangers Auslegungskunst – auch hier wird der moderne Leser die Prämisse, also die unterstellte strukturelle Invarianz religiöser Handlungen seit der Sintflut, als naiv beurteilen. Doch liest man Boulangers Fragestellung und die Methoden ihrer Bearbeitung im Kontext der modernen Gedächtnisgeschichte, erhalten sie geradezu aktuelle Bezüge. Boulanger interessiert nicht so sehr die Vergangenheit als solche, vielmehr ihr »Gedächtniß-Plan«, die Art und Weise, »wie sie erinnert wird«.182 Sein Interesse gilt der verschlungenen Überlieferung des kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses, den dabei wirksamen mythischen Imaginationen mit ihren Übertragungen, Verdrängungen, Verformungen und Umkehrungen der Erinnerungen. Und wie in Jan Assmanns Moses-Buch ist in Boulangers Antiquité dévoilée par ses usages ein Trauma (bei Assmann: Echnatons Revolution, bei Boulanger: die Sintflut) der »ursprüngliche Impuls« der erzählten Geschichte, eine historische Begebenheit von einschneidender und nachhaltiger Wirkung für das kollektive Gedächtnis, die nicht im »historischen Gedächtnis», sondern »in Form einer traumatischen Erinnerung fortlebte«.183 Solche Erinnerungen können nach Assmann »falsch, verzerrt, erfunden oder künstlich implantiert« (nach Boulanger also: Fabeln) sein; insofern sind sie – verglichen mit »objektiven ›Fakten‹«, nach Boulanger: gemessen am Maßstab naturgeschichtlicher »Wahrheit« – keine verläßlichen historischen Quellen.184

180 181 182 183 184

Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, Einleitung, 10 f. Ebd., 15. Vgl. ebd., 314, und Assmann, Moses der Ägypter, 26 f. Ebd., 49. Ebd., 27 f.

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Sieht man vom Unterschied der Vergewisserungsweisen ab, so verbindet beide Gelehrte, Jan Assmann und Nicolas Antoine Boulanger, ein gemeinsames Interesse für die Produktion kollektiver Erinnerung. Allerdings arbeitet Boulangers Gedächtnisgeschichte, das ist der entscheidende Unterschied zu Assmanns Modell, in dem produktive Lektüren im Zentrum stehen, mit der Unterscheidung von Gedächtnispraxis und Gedächtnisüberlieferung, von »Gedächtniß-Gebrauch«, dem die Erinnerung an die Sintflut als wahrer Kern eingeschrieben ist, und überlieferter Fabel, die den ursprünglichen Sinn der Erinnerungshandlung verbirgt. Religiöse Gebräuche sind gleichsam zwanghaft auf die traumatische Begebenheit Sintflut fixiert, die in religiösen Ritualen erinnert und verarbeitet wird. Boulanger hat sich diese Fixierung, in Vorwegnahme Freudscher Denkfiguren, mit geradezu psychoanalytisch geschulter Phantasie vorgestellt. Veränderungen des Erfahrungshorizonts oder Verschleierungen des Ursprungs der religiösen Gebräuche, etwa in den Mysterien, verformen und verdrängen zwar deren ursprünglichen Sinn, so daß er den Akteuren nicht mehr bewußt ist; doch in den religiösen Handlungen selbst und damit sozusagen im kollektiven Unterbewußtsein lebt die Erinnerung an die traumatische Erfahrung der Sintflut weiter und zeigt sich ihrem Analytiker Boulanger als jene »Schrift, die sich nimmer verändert«. Indem Boulanger alle religiösen Feste, Zeremonien und Rituale, auch jüdische und christliche, als Gedächtnisgebräuche liest, denen das Trauma der Sintfluterfahrung zugrunde liegt, sind für ihn Gebräuche »fast niemals ein Werk neuer Einrichtungen«.185 Die von Gesetzgebern angetriebene Zivilisierung der Menschen konnte die Macht der (Kindheits-)Erinnerungen der Menschheit zwar disziplinieren und die melancholische Denkungsart der Frühzeit in eine fröhliche verwandeln, um die Menschen an innerweltliche Daseins- und Zukunftsvorsorge zu gewöhnen. Die Saturnalien sind für Boulanger Beispiel für eine solche Umkehrung.186 Doch die »eingewurzelte Furcht«187, das Trauma selbst wurde durch die fortschreitende Vergesellschaftung und Kultur nur verdeckt, nicht ausgelöscht, die Gebräuche und mit ihnen die traumatischen Erinnerungen waren resistent gegen »neue Systeme«.188 Es ist die von der Sintfluterfahrung beherrschte Denkungsart, die aller Zivilisierung widersteht und sich in religiöse Gebräuche (bis in die Gegenwart) gleichsam zwanghaft einprägt. Die Denkungsart ist für Boulanger die Schrift, »die sich nimmer verändert«, der Schlüssel seiner Auslegungskunst. Die Gebräuche sind »Denkmale der Eindrücke«, die die Revolutionen der Sintflut »in die Gemüther der Menschen gemacht haben«.189 Sie 185 186 187 188 189

Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, 412. Vgl. ebd., 74 ff. Ebd., 566. Ebd., 86. Ebd., Einleitung, 14.

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müssen nach der »allgemeinen ersten Denkungsart« (»esprit universel & primitif«)190 beurteilt werden, damit das Muster, der wahre, ursprüngliche Plan der Gedächtnishandlung zu erkennen ist: »Dieser Plan war den frommen Ideen derer den Unfällen der Welt entronnenen Menschen gemäß; aber der Misbrauch desselben auf der guten und schlimmen Seite hat ihn bey allen Völkern unter einer ungeheuren Menge Fabeln und Chimären verhüllet, und unerachtet aller Maaßregeln der Gesetzgeber, unerachtet der Verschwiegenheit der Mysterien, giebt sich diese durch die Gebräuche fortgepflanzte Denkungsart allezeit zu erkennen«.191 Am aufschlußreichsten für die Rekonstruktion ursprünglicher Denkungsart und damit für die noch nicht von Zivilisation überlagerte religiöse Erinnerungskultur sind für Boulanger Feste und Zeremonien jener Völker, »welche die Reisen der neuesten Jahrhunderte uns in Afrika, America und in dem äussersten Asien bekannt gemacht haben«. Der besondere »gottesdienstliche Eifer«, den solche Völker den »alten Gebräuchen ihrer Vorfahren« gegenüber zeigen, macht sie zu »lebenden« Zeugen eines »unveränderten Alterthums«. Berichte über »wilde« Völker sind für Boulanger, wie schon für Lafitau, Rousseau und Kraft, »ein schönes Supplement zu den Gebräuchen unsers Alterthums«.192 Für das Interesse an der Aufdeckung des traumatischen Kerns von Religiosität stellen die »geschichtslosen« Völker wegen der unverfälschten Simplizität ihrer religiösen Feste und Handlungen aussagekräftige Quellen dar. »Gebräuche, in welchen das Andenken der Sündfluth auf eine simple und natürliche Weise lieget, sind sehr selten«.193 Um so wichtiger sind sie für Boulangers vergleichende Religionsgeschichte. Mit ihrer Hilfe kommt das Vergleichsverfahren in Gang, in dem »bekannte Dinge gegen unbekannte« gehalten werden, um »jene zu bestätigen, diesen Licht zu schaffen«.194 Mit besonderer Raffinesse hat sich Boulanger dieses Verfahrens im vierten Buch über die Zeitstruktur der Gedächtnisfeste bedient. Boulanger geht es beim Thema Zeit nicht mehr um »philologisch-antiquarisch« gestützte Berechnungen, wie sein Übersetzer Dähnert verwundert feststellt,195 sondern schon um so etwas wie eine Kulturgeschichte der Zeit. Zeitvorstellungen sind Produkte religiöser Einstellungen (»Denkungsarten«).196 Nicht die Frage nach der Wahrheit antiker Ebd., 420; L’Antiquité dévoilée, édition Sadrin, T. 1, Bd. 3 (Liv. IV, Ch. IV, X). Ebd., 478 bzw. Liv. V, Ch. II, VII: »Ce plan étoit conforme aux idées religieuses des hommes échappés aux malheurs de la terre; mais l’abus qu’on en fit tant en bien qu’en mal l’avoit enseveli chez tous les peuples sous un amas monstrueux de fables & de chimeres; malgré les précautions des Législateurs, malgré le secret des mysteres cet esprit conservé par les usages se décela toujours.« 192 Ebd., Einleitung, 15 f. bzw. Avant-Propos, 32: »Les usages de ces peuples sont un excellent supplément à ceux de notre antiquité«. 193 Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, 101. 194 Ebd., 103. 195 Ebd., 632 (Anmerkungen des Übersetzers). 196 Vgl. ebd., 311 f. 190 191

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Zeitrechnungen interessiert Boulanger (sie sind »fabelhaft«), vielmehr die darin zum Ausdruck kommenden »Züge des Zustandes der ersten Alter der Welt«.197 Seine Absicht, alles natürlich, d.h. als Wirkung von Naturprozessen auf den Menschen zu erklären, verdeutlicht das Bemühen, den ursprünglichen Zeitpunkt religiöser Feste auf den natürlichen Zyklus der Mond- und Sonnenphasen zurückzuführen.198 Die natürliche Ordnung der Zeit, also der Wechsel von Tag und Nacht, die Folge der Jahreszeiten und der Lauf der Gestirne, prägt den ursprünglichen Zyklus religiöser Feste und Gebräuche, welche unter dem Eindruck der Naturkatastrophe Sintflut entstanden. Die Einschnitte erinnerten die Menschen an die vergangene Katastrophe und sie provozierten zugleich Angst und Schrecken vor der künftigen, die Welt endgültig vernichtenden Naturkatastrophe. Das »apokalyptische und zyklische Wesen«,199 so Boulanger, bestimmte die als Folge der Sintflut entstandene Denkungsart, es lag (und es liegt nach Boulanger bis in die Gegenwart) aller Religion zugrunde. Im sechsten, die Untersuchung resümierenden Buch heißt es dazu: »Daß die cyclischen und apokalyptischen Ideen der Wilden und die sich darauf beziehenden Gebräuche, nicht zu denselben von irgend einer in der Historie bekannten Nationen gekommen, sondern daß diese Ideen ihre eigenen, und die Ideen aller der kleinen Societäten gewesen sind, die den Verwüstungen der Sündfluth entronnen waren«.200 Bei den Zivilisierten wurden diese Ideen im Laufe des Zivilisationsprozesses verdeckt und in Mysterien eingeschlossen – denn losgelöst von allen Zusätzen, also im Kern, ist das Mysterium »eine apokalyptische Wissenschaft von der Dauer der Welt, von ihren ehemaligen Revolutionen, und von den Veränderungen, denen sie dereinst noch wird untergehen müssen«.201 Bei den »Wilden« zeigen sich die natürlichen und apokalyptischen Ursprünge von Religion weitgehend unverfälscht. Denkungsart und Gebräuche der »Wilden« können deshalb als Dokumente ursprünglicher Religion gelesen werden, die über die verborgenen Ursprünge und das Wesen zivilisierter Religion aufklären. So erläutern (im vierten Buch über die Zeitstruktur der Gedächtnisfeste) nicht Ägypter, Griechen oder Römer (und eben auch nicht Hebräer) den ursprünglichen Sinn religiöser Handlungen, sondern diese werden darüber von Mexikanern aufgeklärt.202 Ebd., 347. Vgl. etwa ebd., 321. 199 Ebd., 439. 200 Ebd., 577; L’Antiquité dévoilée, édition Sadrin, T. 1, Bd. 3 (Liv. VI, Ch. II, XI): »que les idées cycliques & apocalyptiques des sauvages & les usages qui y ont rapport n’ont point été apportés chez eux par aucune des nations que l’histoire nous fait connoître, mais que ces notions leur sont propres & qu’elles ont été celles de toutes les petites sociétés qui échapperent aux ravages du déluge.« 201 Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, 232. 202 Vgl. ebd., 392 f.; auch Wieland wird dann Mexikaner zur Aufklärung der Ursprungsfrage heranziehen (dazu vorliegende Arbeit Teil VI, Kapitel 2). 197 198

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Boulanger hat dies in seinem Text regelrecht inszeniert.203 Da treten die »wilden« Mexikaner als Exegeten zivilisierter Völker auf, erzählen ihnen als kundige Beobachter die wahre Bedeutung religiöser Rituale, die den Zivilisierten verborgen ist. Wie und auf welcher Quellengrundlage Boulanger seine Mexikaner sprechen läßt,204 ist hier nicht näher von Interesse. Es geht ihm nicht um den Nachweis, daß wilde und zivilisierte religiöse Rituale eine ähnliche Zeitstruktur besitzen, auch nicht um Ähnlichkeiten einzelner Gebräuche. Beim Vergleich des mexikanischen »Secular=Festes« und des hebräischen »Jubel=Jahres« drückt Boulanger seine Vergleichsabsicht folgendermaßen aus: »Man hat schon gerne das Secular=Fest der Mexicaner zu einem grossen Ebräischen Jubel=Jahr machen wollen, weil beider Völker Perioden beynahe gleich waren. Aber dies ist der Punkt nicht, worin sie übereinstimmen können, weil der Grund der Rechnung des Cyclus von 49 oder 50 Jahren durchaus von dem Grunde der Rechnung von 52 Jahre unterschieden ist. Der eine ist astronomisch, der andere nicht. Wo eine Ähnlichkeit ist, so ist sie auch nicht in den Gebräuchen, sondern in dem wesentlichen der Denkungsart bey denselben zu suchen.«205 Es ist die gemeinsame religiöse Denkungsart, der Boulangers Interesse gilt. Sie zeigt sich in den religiösen Gebräuchen der Mexikaner in ihrer ursprünglichen Verfassung, unverzerrt durch Mysterien und später unterschobene Motive. Die religiösen Gebräuche der Mexikaner repräsentieren das Wesen religiöser Vorstellungen, sie verdeutlichen gleichsam das aller Religion zugrunde liegende Muster. Mit Hilfe des Musters erschließt sich auch die wahre Bedeutung der religiösen Gebräuche der Zivilisierten. In dieser Hinsicht, kommentiert der Übersetzer Dähnert, »müssen sich alle übrigen Völker, welche diese oder ähnliche Gebräuche unterhalten, und selbst die Ebräer und die jetzige Christcatholische Kirche von den Amerikanischen Heiden belehren lassen, was das uralte und wesentliche in den Gebräuchen sey, welche der Aberglaube verstellet, oder die Religion unter Vorstellung neuerer Gründe geheiliget hat«.206 Dähnert, der deutsche Professor, ist ein kluger Exeget der L’Antiquité dévoilée par ses usages. Er sorgt sich um den Leser (auch um seine eigene Reputation). Behutsam leitet er den Leser durch den Text und erweist sich als lavierender Kommentator. Einerseits markiert er die freigeistigen und religionskritischen Grundlagen von Boulangers Untersuchung, andererseits versucht er, diese durch den Aufweis von Boulangers großer Belesenheit und analytischer Überzeugungskraft zu minimalisieren. Andere zeitgenössische deutsche Kommentatoren verdammten Boulanger mit drastischen Urteilen. Das Buch enthalte Gedanken, heißt es 1766 im Altonaischen Gelehr-

Vgl. Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, 392–436. Er benutzte u. a. die Histoire de la Conquete du Mexique von Antonio de Solis (Erstausgabe Madrid 1684). 205 Vgl. Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, 402. 206 Ebd., 635 (Anmerkungen des Übersetzers). 203 204

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ten Mercurius, »welche kaum ein gesundes Gehirn hervorbringen könne«. Das Buch, so ein weiteres Urteil, »enthält in der That ein Gift, welches aber so eingewickelt ist, daß es nicht sonderlichen Schaden anrichten wird.«207 Die Bezeichnung »Gift« verweist auf die Radikalität, mit der Boulanger den heiligen Text profanisiert. Dähnert stellt die Antiquité dévoilée in die Reihe der »Systeme eines Spinoza, Tolands, Tindals, Woolstons, Whistons«.208 Die Bibel ist für Boulanger ein interessantes und informatives Buch, doch nur ein Mythos unter anderen heidnischen Mythen. Das steht so nicht in der Antiquité dévoilée, sondern in den zuerst 1761, also fünf Jahre zuvor gedruckten Recherches sur l’origine du despotisme oriental et des superstitions.209 Gegenüber den Recherches mit ihren scharfen Angriffen auf die christliche Religion ist das »Gift» der Religionskritik und die Gleichsetzung von »Heidenthum, Judenthum und Christenthum«210 in der Tat »eingewickelt«, d. h. eingebunden in gelehrte Quellenanalysen und historische Argumente. Die Entprivilegierung biblischer Ursprünge geschieht gleichsam stillschweigend, weil sie nicht eigentlich der Motor der Antiquité dévoilée ist. Nur selten, so bei der Feststellung, die Menschen hätten in verschiedenen Gegenden die Sintflut überlebt, die verschiedenen Arten von »weissen, schwarzen, röthlichen, gelben« Menschen könnten deshalb nicht vom »alleinigen Stammvater» Noah abstammen, wird der Gegensatz zum biblischen Geschichtsbild markiert, um gleich wieder minimalisiert zu werden: Noah als Stammvater aller Menschen sei »kein so wichtiger Satz der Religion«.211 Trotz der gelehrten Einkleidung – die Ursprungsfrage ist für Boulanger kein gelehrtes Thema. »Man hat lange critisiret und commentiret: endlich hat man angefangen, selbst zu denken«.212 Boulanger sieht sich auf der Höhe der Zeit, an der Spitze einer sich stetig beschleunigenden Fortschritts- und Aufklärungsbewegung, die stolz auf die Errungenschaften der neuen Zeit, die mit der »Erfindung der Buchdruckerey« ermöglichte »Wiederherstellung der Wissenschaften«, zurückblickt: »die Schriften der Gelehrten haben Geist und Leben annehmen müssen, die man ehemals nicht kannte. Alles spricht aus dem Ton der Philosophie, und die mit den grossen Geistern ihrer Zeit nicht haben fortkommen können, die haben mit Verdruß sich als Auf diese Urteile verweist Dähnert in seinen Anmerkungen (ebd., 596). Ebd., 597; vgl. dazu Winfried Schröder, Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998 (Boulanger ist in diesem Buch nur eine beiläufig erwähnte Randfigur: 95, 99). 209 Vgl. [Boulanger], Recherches sur l’origine du despotisme oriental et des superstitions, s. l. 1762, 90. 210 So Dähnert in seinen Anmerkungen (Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, 597). 211 Ebd., 533f. 212 Ebd., 546; L’Antiquité dévoilée, édition Sadrin, T. 1, Bd. 3 (Liv. VI, Ch. I, IX): »On a longtemps critiqué & commenté, & enfin on a commencé à penser d’après soi-même.« 207 208

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Fremde in ihrem Lande, dessen Sprache sie nicht verstehen, oder als alte Kinder ansehen müssen, die mit ihren langsamen Schritten ihren Zeitverwandten nicht haben folgen können«.213 Der »philosophische Enthusiasmus«, wie Dähnert diese Sicht charakterisiert,214 erkennt in der religiösen Praxis sein Gegenteil: lähmende Gewohnheit und gedankenloses Ritual, Angst und Entmündigung. Die historische Erklärung und Auslegung dieses Gegenteils, die Aufdeckung der wahren Ursprünge religiöser Herrschaft, dient der Selbstvergewisserung der Aufklärung sowie der Widerlegung ihres Kritikers Rousseau.215 Boulanger hat zu diesem Zweck die Geschichte einer traumatischen Erfahrung erzählt. Am Anfang der Geschichte steht eine Naturkatastrophe, die bei den Menschen Angst und Schrecken auslöste. Religion ist aus dem Geist der Katastrophe geboren. Sie entstand als Kompensation von Angst, ihre Herrschaft lähmte die innerweltliche Daseinsvorsorge. Gesetzgebung und Mysterien brachen zwar die absolute Herrschaft der Religion und führten zur Zivilisation. Doch die Angst übt über die religiösen Gebräuche weiter ihre Macht aus. Die traumatische Erfahrung der Menschen wurde verschoben und überdeckt, prägt aber weiterhin ihre Denkungsart. Die »eingewurzelte Furcht« pflanzte sich »von Geschlecht zu Geschlecht fort«216 und hinderte die Völker, »sich ordentlich auf dem Erdboden festzusetzen, und sich so zu betragen, als wenn der Erdboden ihre bestimmte Wohnstäte sey«.217 Die ersten Gesetzgeber verschleierten Anlaß und Grund der religiösen Gebräuche und verwirrten dadurch die Menschen. Sie hätten die religiösen Gebräuche abschaffen müssen, um die Menschen von ihrem Trauma zu lösen, meint Boulanger an einer Stelle. Doch dazu fehlte den Gesetzgebern der Mut.218 Unter den Vorzeichen der fortschreitenden Aufklärung ist Mut ein Erfordernis der Zeit. Die Verschleierung des wahren Ursprungs der Religion, die in früheren Zeiten eine »heilsame Decke« gewesen sein mag, muß in der Gegenwart dazu bewegen, »diese Decke wegzunehmen, um den Blicken derer von jener alten Furcht befreyeten Menschen die Dinge so vorzustellen, wie sie sind, und wie sie gewesen sind«.219 So endet Boulangers Nachweis, daß

Ebd., 547 bzw. IX: »les écrits ont été forcés de prendre une énergie & une vigueur inconnues autrefois. Tout a pris le ton de la philosophie, & ceux qui n’ont point été capables de suivre la marche des esprits de leur siecle, ont eu le déplaisir de voir qu’ils étoient des étrangers dans leur pays, qui n’en parloient plus la langue, ou de vieux enfans dont les pas tardifs n’ont pu atteindre leurs contemporains.« 214 Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, 642 (Anm. des Übersetzers). 215 Vgl. dazu neben der Auseinandersetzung mit Rousseau (ebd., 191 f.) auch die Kritik am Goldenen Zeitalter (ebd., 565 ff.) und am Stand der Natur (576 ff.). 216 Ebd., 565 f. 217 Ebd., 374. 218 Vgl. ebd. 219 Ebd., 543. 213

Das Urvolk als Kulturvolk

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die Irrtümer der Menschen »mittelst einer langen Kette» bis auf das »erste Alter» zurückgehen, »welches bisher durch die Dunkelheit der Zeit verdeckt geblieben ist«,220 mit einem Appell an gegenwärtige Gesetzgeber: »Möchten doch die Souverains der Menschen der traurigen Ehre entsagen, eben solche Verwüster und Verheerer zu seyn, als die tobenden Elemente zur Zeit der Sündfluth waren! Möchten doch die Gesetzgeber ihren Bürgern lehren, sich zu lieben, einander zu Hülfe zu kommen, und einander in der Societät glücklich zu machen, die dem menschlichen Geschlecht nur in so weit nützlich ist, als sie seine Sorgen lindert.«221 Auf die Ausübung von Religion, so darf man hinzufügen, kann die aufgeklärte Gesellschaft verzichten.

4. Das Urvolk als Kulturvolk: Delisle de Sales und Michael Hißmann Für Boulanger waren die biblischen Historien bloße Quellen, die keinen privilegierten Status als autoritative, heilige Geschichten beanspruchen können. Eine Herabsetzung der Hebräer zu einem beschränkten, wenig zivilisierten Volk im Schatten der Weltgeschichte, also die Sicht Gundlings oder Voltaires, war damit nicht verbunden. Voltaire hatte mit dem in der Bibel berichteten Anfang der Geschichte das Ursprungsthema überhaupt als uninteressantes Untersuchungsfeld verworfen, über das sich nichts Gewisses sagen läßt.222 Boulanger, Court de Gébelin oder Delisle de Sales rückten es in den Mittelpunkt ihres historischen Interesses. Quellen ihrer Erzählungen sind überlieferte Textzeugnisse, vor allem antike Mythen, deren Auslegung nicht auf die biblische Wahrheit referiert, sondern auf »natürliches«, vor allem »naturgeschichtliches« Wissen. Indem sie die Frühgeschichte nicht auf der Grundlage des biblischen Berichts, sondern mit Hilfe von profanem Wissen und philosophischer Vernunft rekonstruierten, schrieben Boulanger, Court de Gébelin oder Delisle de Sales »philosophische« Geschichten. Von den Menschheitsphilosophien der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unterscheiden sie sich dadurch, daß die Auslegung antiker Textzeugen im Mittelpunkt steht, nicht wie bei den Menschheitsgeschichten (von denen im folgenden Teil der Arbeit die Rede ist) »Wilde« und »Barbaren« aus Reiseberichten und ihre Deutung als Repräsentanten früher Entwicklungsstufen der Menschheit. Ebd., 583. Ebd., 545; L’Antiquité dévoilée, édition Sadrin, T. 1, Bd. 3 (Liv. VI, Ch. I, VIII, recte: IX): »Que les Souverains des hommes renoncent an triste avantage d’être aussi destructeurs que les élémens déchaînés au temps du déluge. Que les Législateurs apprennent aux citoyens à s’aimer, à se secourir, à se rendre mutuellement heureux dans la société qui n’est avantageuse au genre humain qu’autant qu’elle adoucit ses peines.« 222 Vgl. dazu vorliegende Arbeit Teil 3, Kapitel 2, S. 93, und den Vorspann zum folgenden Teil, S. 246. 220 221

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Ab den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts kursierten speziell in Frankreich viele und vielfältige »philosophische« Ursprungsgeschichten, deren Verfasser sich mit spektakulären Hypothesen gegenseitig übertrumpften. Das Gegenmodell war Rousseaus im zweiten Discours von 1755 entwickelte Ursprungsgeschichte und mit ihr die Naturzustandshypothese der Naturrechtstradition. Boulanger, Court de Gébelin oder Delisle de Sales stellten, nach ihrem eigenen Selbstverständnis, keine Hypothesen ohne historische Geltung auf. Sie beanspruchten, die Ursprünge der Kultur und Zivilisation des Menschen historisch, nicht bloß hypothetisch rekonstruiert zu haben, zwar nicht im Detail (das galt ihnen wie Voltaire als gelehrter »Anekdotenkram«), so doch in den für die »Menschheit« und »Cultur« wesentlichen Grundzügen.223 Während sich Hobbes, Helvétius und Rousseau, schreibt Jean-Baptiste-Claude Izouard, der sich Delisle de Sales nannte, »einen Stand der Natur nach ihrer Imagination« bloß ausdenken, gründe seine Ursprungsgeschichte »auf Facta«.224 Die »Urwelt« und »Vorwelt« ist zwar in Dunkelheit gehüllt, »die Fackel der Kritik erlischt in einer Entfernung von treytausend Jahren«,225 lautet seine analog zu Boulanger methodisch mit dem Argument fehlender Schriftüberlieferung begründete Ausgangsthese. Rückschlüsse auf die »Vorwelt« ermöglichen aber »Fabeln«, unter die, zunehmend mehr oder weniger offen, auch die biblischen Historien gerechnet wurden. »Daß der Verfasser an unser 6000jähriges chronologisches Reich nicht glaubt, daß er seine Weltgeschichte nicht mit den sechs Schöpfungstagen, und seine Menschengeschichte nicht mit dem mosaischen Adam beginnt, daß er nichts von der Bildung der Eva aus der Ribbe, nichts vom Paradies, vom Apfelbiß, vom Cherub, von Noah’s Fahrzeug, den Patriarchen, den hebräischen Ziegelstreichern u.s.w. weiß, – dafür werden ihm alle Leser Dank wissen, die diese jüdische Vorstellungsart über Kosmogonie und Cultur der Menschheit aus den mosaischen Nachrichten selbst kennen lernten.«226 Das schreibt Hißmann in seiner Einführung zur Übersetzung von Delisle de Sales’ Histoire nouvelle de tous les peuples du monde, die seit 1779 in Paris in separaten Heftlieferungen anonym publiziert wurde. Die »mosaischen Nachrichten« wurden als Ausdruck jüdischer »Vorstellungsart« gelesen, nicht als durch göttlich Inspiration gesicherte und dadurch wahre Geschichte. Sie galten als Produkte der antiken Mythologie und waren wie diese »zerstreute Fragmente«,227 deren historische Wahrheit mit Hilfe philosophischer Vernunft rekonstruiert werden mußte. Die Deutung von Mythen im Licht der »Denkmäler der Natur« und von anthropologischen »Thatsachen« erschloß den Verfassern »philosophischer« Ursprungsge[Delisle de Sales], Neue Welt- und Menschengeschichte, Zusatz des Herausgebers (Michael Hißmann), 21–23. 224 Ebd., 714. 225 Ebd., 24. 226 Ebd., Vorbericht des Herausgebers (Michael Hißmann), VIIIf. 227 Ebd., 123. 223

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schichten das »Muster« der Menschheitsgeschichte. Aus ihm wurde das Regelwerk der Zivilisationsentwicklung, unter Absehung von theologischen Vorgaben, abgeleitet. Für Boulanger war dieses Muster eine »allgemeine Mythologie«, die als »vorgestellte Historie der Natur das erste Modell aller Fabeln«228 präfigurierte. Die »allgemeine Mythologie« erklärte ihm die einheitliche religiöse Denkungsart aller Völker, deren wahre Ursache im Laufe des Zivilisationsprozesses verdeckt worden war. Court de Gébelin, Verfasser der Monde primitif analysé et comparé avec le monde moderne (1773–1782) und einer der wenigen Gelehrten, der sich schon damals von Vicos Neuer Wissenschaft inspirieren ließ, arbeitete an einer universalen Grammatik der Sprachen und der Ideen, an einem Wörterbuch der »langue primitive«. Das »dictionnaire comparatif« sollte das »allegorische Denken« der Frühzeit erschließen und es so ermöglichen, die in Rätseln verborgenen Ursprünge der Kultur- und Zivilisationsgeschichte zu rekonstruieren.229 Sicherlich waren die Auslegungsmethoden der Verfasser solcher Ursprungsgeschichten reduktionistisch. Sie standen in dieser Hinsicht der traditionellen, am Maßstab biblischer Wahrheit orientierten Mythenexegese in nichts nach. Das wurde schon zeitgenössisch kritisiert.230 Doch ist der Wille, die Ursprünge der Zivilisation ohne theologische Vorgaben »natürlich« zu erklären und sie zugleich historisch nachzuweisen und auszuzeichnen, Ausdruck einer besonderen Aufmerksamkeit für die Geschichte des Menschen. Dessen Zivilisierung wurde als Produkt »natürlicher« Bedingungen und dadurch erklärbarer Einstellungen und Denkweisen vorgestellt. Es ging wie bei Rousseau um »Aufklärung der Aufklärung«, um die Frage, was den Menschen zur Zivilisation befähigt, unter welchen Bedingungen und wie der Prozeß der Zivilisation historisch in Gang gekommen ist, auch darum, welche Folgen und Folgekosten er für den Menschen hatte und noch in der Gegenwart hat. Rousseau verband mit seiner Ursprungsgeschichte, zumindest explizit, keinen historischen Wahrheitsanspruch, Boulanger und Delisle de Sales dagegen taten eben dies. Beide versprechen ihren Lesern, die historisch wahren Ursprünge aufgedeckt zu haben. Bei Boulanger entstehen Kultur und Zivilisation aus der Bewältigung einer Naturkatastrophe, bei Delisle de Sales ist es ein weises »Urvolk«, »ein Volk von Gesetzgebern, welches nach und nach den größten Theil unsrer Halbkugel mit seiner wohlthätigen Philosophie aufgeklärt hat«.231

Boulanger, Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum, 457; vgl. auch ebd., 123 f. Court de Gébelin, Monde primitif analysé et comparé avec le monde moderne, Bd. 1, Paris 1777 (zu Vico: 3. Lieferung, 64). 230 Vgl. etwa die kritischen Bemerkungen Christoph Meiners (Grundriß der Geschichte der Menschheit, Anhang) zu Boulangers Recherches sur l’origine du despotisme oriental et des superstitions und zur Antiquité dévoilée par ses usàges. 231 [Delisle de Sales], Neue Welt- und Menschengeschichte, 131. 228 229

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Teil V · Das Anfangsproblem in der Kulturgeschichte

Delisle de Sales’ Histoire nouvelle erschien als Einleitungsband (Alte Geschichte) zu einer mehrbändigen Neuen Welt- und Menschengeschichte (so der Titel der von Hißmann herausgegebenen deutschen Übersetzung), die wie die General History die umständliche und »mikrologische« Universal History für neue Leserschichten, für »Leute mit Geschmack«, ersetzen sollte.232 Im Unterschied zu den beiden englischen Vorläuferprojekten verzichtete Delisle de Sales aber vollständig auf den biblischen Rahmen der Universalgeschichte. Auch deshalb hieß die Histoire nouvelle nicht nur (wie Schlözers Projekt) Weltgeschichte (Histoire de tous les peuples du monde), sondern zugleich Menschengeschichte (Histoire des Hommes). Und sie besitzt wie Boulangers Antiquité dévoilée ein naturhistorisches Fundament. Im Zentrum steht die Auslegung von Platons Atlantis-Erzählung. Indem der Mythos in Beziehung zu den »Revolutionen« der frühen Erdgeschichte gesetzt wird, wird er zu einem historisch lesbaren Dokument.233 Die Einzelheiten dieser Auslegung – die Lokalisierung des ursprünglichen Aufenthaltsortes des Urvolks im Kaukasus, dessen durch den Rückgang der Wassermassen, die die Erde ursprünglich vollständig bedeckten, ermöglichte Wanderungsbewegungen und der Untergang des Urvolks – sind hier nicht weiter von Interesse, auch deshalb nicht, weil Delisle de Sales im Unterschied zu Boulanger wenig originell ist. Sein Text ist, entgegen des wiederholt betonten Anspruchs, völlig neue Erkenntnisse zu liefern, Kompilation. Im Fall der methodischen Ausführungen zur Frühgeschichte stützte er sich unter anderem auf Boulanger; seine Geschichte des Urvolks bezog er vor allem aus Texten des Astronomen Jean-Sylvain Bailly. Bailly hatte, zuerst in der 1775 erschienenen Histoire de l’Astronomie ancienne und dann in Briefbänden von 1777 und 1779, die Figur des perfekten Ursprungswissens von seiner Verknüpfung mit der heiligen Geschichte gelöst und sie mit antiken Mythen und neuen naturwissenschaftlichen, besonders astronomischen Erkenntnissen begründet.234 Delisle de Sales eröffnete mit dieser Figur seine universal angelegte Welt- und Menschengeschichte. Das profane kaukasische Urvolk erscheint so in vielem als Säkularisationsprodukt des heiligen Urvolks der Hebräer, etwa im Blick auf Gestalt und Lebensalter des Urvolks, die, analog zu den biblischen Patriarchen, eine überlegene Wissenskultur begründen: »Riesen, welche mehrere Jahrhunderte leben, müssen auch einen viel höhern Verstand haben«.235 Auch zu Delisle de Sales astronoEbd., Vorrede, XIIf., XXV f., u. 594 f. Ebd., 276–366 (»Ueber die Urwelt«). In der nach der Revolution erschienenen 4. Auflage (Histoire philosophique du monde primitif, Bd. 1, Paris 1795) bezeichnet Delisle de Sales seine Auslegung des Antlantis-Mythos als ein Zugeständnis an damalige Modeströmungen; außerdem habe er sich, aus Furcht vor der Zensur, einer enigmatischen Sprache bedienen müssen; zu Leben und Werk von Delisle de Sales Pierre Malandain, Delisle des Sales, philosophe de la nature: 1741–1816, Oxford 1982. 234 Dazu Petri, Die Urvolkhypothese, 121–150 (zu Bailly), 164–171 (zu Delisle de Sales). 235 [Delisle de Sales], Neue Welt- und Menschengeschichte, 431. 232 233

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misch begründeter Auffassung, daß sich die Kräfte der Natur im Laufe der Geschichte erschöpfen, gibt es Analogien in der Auslegung der heiligen Geschichte.236 Überhaupt haben sich in die philosophische Geschichte Konstellationen und Interpretamente eingeschrieben, die wie die Aufspaltung der Menschheit in »Wilde« und »Zivilisierte« auf heilige Vorbilder verweisen (in diesem Fall also auf: heidnische Völker versus heiliges Volk). Zur Erklärung der Analogien zwischen heiliger und philosophischer Geschichte müssen aber nicht Säkularisierungstheorien bemüht werden. Solche Parallelen erklären sich einfacher durch die fortdauernde Präsenz der heiligen Geschichte, deren geläufige Figuren das Nachdenken über Geschichte auch dort anleitete und prägte, wo dieses sich als philosophische Geschichte von ihrem heiligen Vorbild emanzipierte. Für ein genaueres Verständnis des Willens, sich den Ursprung von Kultur und Zivilisation vernünftig vorzustellen und zugleich historisch festzustellen, ist ein anderer Gesichtspunkt interessanter. Wie läßt sich das Entstehen von Kultur »natürlich« erklären und historisch darstellen, ohne auf die heilige Geschichte zurückzugreifen, ohne einen göttlichen Vermittlungsakt vorauszusetzen? An diesem Problem arbeitete die »philosophische« Ursprungsgeschichte. Delisle de Sales benennt das Problem so: »Ein Wilder policirt keine andre Wilden«.237 Wenn Zivilisation einen »wilden« Ursprung hat, wie es die Kontrastierung »wilder« und »zivilisierter« Völker im Naturzustandsmodell voraussetzte, dann stellte sich für die Verfasser »philosophischer« Ursprungsgeschichten, die dieses Modell historisch auszeichneten, die Frage, wie der Zivilisationsprozeß in Gang kam und welchen Gesetzen er folgt. Schottische Zivilisationshistoriker wie Adam Ferguson gingen, angestoßen von Montesquieu und Rousseau (und hinsichtlich des verarbeiteten historischen Materials von Ursprungsforschern wie Goguet), von Veränderungen der materiellen Reproduktion (der Abfolge Jäger, Sammler, Ackerbauern) und der Rechtsverhältnisse (Entstehung von Eigentum, soziale Differenzierung) aus. Dagegen orientierten sich französische Ursprungshistoriker wie Boulanger oder Delisle de Sales am Modell der Tradition. Das Anfangsproblem war für sie eine Suche nach der ersten »aufweckenden Tradition«, wie dies Johann Gottfried Herder in den (eher von französischen als schottischen Vorbildern geprägten) Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit nannte: »Wo hangt der erste Ring der Kette unsres Geschlechts und seiner geistigmoralischen Bildung?«238 Und Boulanger und Delisle de Sales (wie auch Herder) erkannten einen engen Zusammenhang zwischen dem Entstehen der Zivilisation und den »Revolutionen« der Erdgeschichte. Dazu Petri, Die Urvolkhypothese, 169. [Delisle de Sales], Neue Welt- und Menschengeschichte, 130. 238 Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, hg. v. Wolfgang Pross (= Werke in 3 Bdn., hg. v. Wolfgang Pross, München u. Wien 1984–2002, Bd. 3,1), 347. 236 237

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Teil V · Das Anfangsproblem in der Kulturgeschichte

Wenn Delisle de Sales ein profanes Urvolk an den Anfang des Zivilisationsprozesses setzte, dann unterstrich er damit die Unabhängigkeit der Kultur von einer göttlichen Vermittlung und beanspruchte zugleich, das Problem der ersten »aufweckenden Tradition«, die Herder mit der »Mosaischen« – »das älteste Buch«, »das unser junges Menschengeschlecht aufweiset« – identifizierte,239 vernünftig, also ohne Rückgriff auf die biblische Offenbarung, gelöst zu haben. Zur Stützung der Urvolkhypothese verarbeitete er eine Reihe von Argumenten, die damals in der Debatte über den Kulturursprung zirkulierten, so das auch von Boulanger eingesetzte Argument der Bevölkerungsvermehrung als Katalysator der Kulturentwicklung.240 Zum philosophischen Interesse am historischen Ursprung der Kultur schreibt Delisle de Sales: »Eine werdende Welt hat für den Philosophen einen geheimen Reiz«. Die »Finsternisse dieser Urwelt« galten als Epoche revolutionärer naturgeschichtlicher und menschheitsgeschichtlicher Umwälzungen. Sie wurden zum Paradigma für historische Veränderung und Entwicklung.241 Es ist das Nachdenken über Gesetzmäßigkeiten der Menschheitsgeschichte jenseits historischer Faktizität, für die das Ursprungsproblem zu einer Art Experimentierfeld wurde. Im 19. Jahrhundert ausgearbeitete Begriffe wie »Cultursystem« und »Volkscultur« oder die Idee, daß der Geschichte eine »eigenthümliche Dialektik« zugrunde liegt, erhielten in der Auseinandersetzung über die Ursprünge von Kultur und Zivilisation in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert ihre modernen Signaturen.242 »Culturgeschichte der Menschheit« – der Herausgeber der deutschen Übersetzung der Histoire des Hommes Michael Hißmann verband damit eine Geschichte, die auf dem »Weg einer sorgfältigen Vergleichung der Eigenschaften, Kräfte und der ganzen Lage des cultivirten, mit den Kräften und der Lage des uncultivirten Menschen« zu bearbeiten ist. »Cultur« ist »Vielseitigkeit, in der Summe der Activität des Menschen«.243 Die Verfasser philosophischer Geschichten legten den abstrakten Gegensatz »Wilde« versus »Zivilisierte« der Naturrechtstradition in ein differenziertes Spektrum von »Nuancen«244 auseinander. Kulturgeschichte der Menschheit heißt dann: vernünftige Erklärung dieser »Nuancen«. Die Besonderheit des kulturhistorischen Interesses zeigt sich in der Abgrenzung zur Universal- und Weltgeschichte der Historiker. Hißmann, der die Histoire des Hommes mit ausführlichen Kommentaren versah, äußert sich dazu in einem seiner

Vgl. ebd., 363 f. u. 369 f.; dazu der Kommentar von Pross (Bd. 3,2, 553 ff.) und Verf., Zur Idee einer Geschichte der Menschheit, 285 f. 240 Vgl. etwa [Delisle de Sales], Neue Welt- und Menschengeschichte, 420, 712. 241 Ebd., 711. 242 Ebd., 24, 153 f. (Zusätze des Herausgebers Hißmann), 110. 243 Ebd., 141 f. (Zusatz des Herausgebers Hißmann). 244 Ebd., 144 (Zusatz des Herausgebers Hißmann). 239

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»Zusätze«. Mit den Hypothesen von Delisle de Sales, besonders mit seiner Rückführung der Kultur auf ein Urvolk, konnte er wenig anfangen. Das meiste erschien ihm historisch haltlos. Doch wenn Delisle de Sales auch »bisweilen taubes Stroh gedroschen« habe,245 so gilt dieses Urteil nach Hißmann eben nur, wenn man ihn als Universalhistoriker liest, der sich auf historische »Wirksamkeit« beschränken muß.246 Als »Geschichte der Menschheit« allerdings verdiene die Histoire des Hommes besondere »Aufmerksamkeit«. Während nämlich der Universalhistoriker fragt, »ob ein Volk durch Großthaten glänzt«, interessiert sich der Menschheitshistoriker für den Menschen, »dieses so mancherley Modificationen fähige Wesen«. Für dieses Interesse aber sind, so Hißmann, »Spekulationen« besonders »schätzbar«, die »sich so tief ins Alterthum« verlieren, daß sich nicht ein »einziger Umstand von ihnen mit Gewißheit angeben läßt«;247 d. h. also: über die der Universalhistoriker nichts zu sagen weiß. Hißmann nennt Delisle de Sales’ Histoire des Hommes eine »Geschichte der Menschheit«. Vor welchem besonderen Hintergrund er dies 1781, dem Erscheinungsjahr seiner Übersetzung, tat, ist Gegenstand des abschließenden Teils dieser Arbeit. Hißmanns Ausführungen machen deutlich, daß die kulturgeschichtliche und menschheitsgeschichtliche Urgeschichtsforschung einen gemeinsamen Nenner besitzen. Ihr Gegenstand ist nicht die Geschichte einzelner Völker, sondern die Gattungsgeschichte des Menschen, ihre Aufmerksamkeit gilt nicht den durch historische Überlieferung identifizierbaren Anfängen der Völkergeschichte, sondern der Rekonstruktion des gemeinsamen Ursprungs der Gattung Mensch. Wie immer dieser Ursprung erschlossen und bestimmt wurde: die Aufdeckung der durch »dickste Schleyer«248 verborgenen Ursprünge der Menschheit benötigte einen philosophischen »Schlüssel der ganzen alten Geschichte«.249

245 246 247 248 249

Ebd., Vorbericht des Herausgebers Hißmann, VII. Ebd., 16 (Zusatz des Herausgebers Hißmann). Ebd., 22 f. (Zusatz des Herausgebers Hißmann). Ebd., 133. Ebd., 125.

Titelblatt von Jean-Jacques Rousseaus Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les HAB Wolfenbüttel M: Se 268 hommes, der erstmals 1755 gedruckt wurde.

TEIL VI Das Anfangsproblem in der Geschichtsphilosophie

Der Naturzustand des Naturrechtsdenkens war eine vernünftige Hypothese zur Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde das Modell fortschreitend historisiert.1 Dies verdeutlichen die im vorstehenden Teil untersuchten Kulturgeschichten. Der »natürliche« Ursprung des Menschen ist in ihnen nicht mehr eine vernünftige Fiktion, er wird als historischer Ausgangspunkt menschlicher Kultur und Zivilisation ausgelegt, zumindest annähernd und mutmaßlich mit Hilfe der Analyse antiker Mythen oder der Sitten und Gebräuche »wilder« Völker rekonstruiert. Damit kann die Frage nach dem Ursprung und Ausgangspunkt menschlicher Kultur, dem »Uebergang aus dem mehr sinnlichen und thierischen Zustande in enger verschlungene Verbindungen des gesellschaftlichen Lebens«,2 auf einem empirischen, gleichsam sinnlich wahrnehmbaren Fundament erörtert werden. »Die nützlichste und die am wenigstens fortgeschrittene von allen menschlichen Kenntnissen scheint mir die Kenntnis des Menschen zu sein«.3 Mit diesem Satz eröffnete Rousseau seinen Discours sur l’inégalité. 4 Die Stelle wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Texten zur Anthropologie und Geschichte häufig als Motto vorangestellt, oft verbunden mit den berühmten Zeilen aus Alexander Popes Essay on Man: »Know then thyself, presume not God to scan, / The proper study of mankind is Man«.5 Als sich deutsche Philosophen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufmachten, die historische Entwicklung des Menschen als einen umfassenden Zivilisationsprozeß, als eine »Geschichte der Menschheit« zu bearbeiten, waren ihre Ideen vor allem von Rousseaus »Suche nach den Ursprüngen«6 beherrscht. Die Frage nach

Vgl. Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft; Hans Erich Bödeker u. Istvan Hont: Naturrecht, Politische Ökonomie und Geschichte der Menschheit. Der Diskurs über Politik und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, in: Naturrecht – Spätaufklärung – Revolution, hg. v. Otto Dann u. Diethelm Klippel, Hamburg 1995, 80–89. 2 So die Definition von »Cultur« in Johann Christoph Adelungs (anonym erschienenem) Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts (Leipzig 1782, unpag. Vorrede). 3 Rousseau, Discours sur l’inégalité, Vorwort, 43. 4 Rousseau bezieht sich hier auf Buffon (vgl. ebd., Anm. II* zum Vorwort, 276 ff.). 5 Alexander Pope, Essay on Man, Epistel II, 1 f., zitiert nach der Ausgabe der Philosophischen Bibliothek, hg. v. Wolfgang Breidert, Hamburg 1993, 38. 6 Vgl. den so überschriebenen Abschnitt in Jean Starobinski, Jean-Jacques Rousseau: La transparence et l’obstacle, Paris 1971; hier benutzt in der deutschen Übersetzung v. Ulrich Raulff: Rousseau. Eine Welt von Widerständen, München u. Wien 1988, 403 ff. 1

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Teil VI · Das Anfangsproblem in der Geschichtsphilosophie

dem Ursprung der Menschheit, bei der es nach Voltaire nur »absurde und verrückte« Antworten geben kann,7 wurde zum bewegenden Motiv einer »Philosophie der Geschichte«, die mit Voltaires »Philosophie de l’histoire« nur wenig gemein hat und auch im Vergleich zur französischen und schottischen Kultur- und Zivilisationsgeschichte ein eigenständiges Profil besitzt. Alle »Philosophien der Geschichte, und Geschichte der Philosophie«, kann man 1774 in Johann Gottfried Herders Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit lesen, sind jetzt bekanntlich voll von »dieser philosophischen Kritik der ältesten Zeiten«.8 Um welche »Kritik der ältesten Zeiten«, die Herder mit seinem »Auch« konterkariert, es im Blick auf die deutsche Menschheitsgeschichte geht, ist Thema der folgenden Ausführungen.

1. Die Perfektibilität der Menschheit: Isaak Iselin und Jean-Jacques Rousseau Der »ursprüngliche Zustand des Menschen« ist »ein der Offenbarung vorbehaltenes Geheimnis« – so steht es in Isaak Iselins Menschheitsgeschichte.9 Als ein solches Geheimnis wurde der mosaische Bericht über die Ursprünge der Menschheit nicht erst seit Herder auch einer neuen »poetischen« Allegorese unterzogen, die ihn weniger als Dokument historischen Geschehens, vielmehr als ein »Denkbild« und »poetisches Fragment« ursprünglicher Vorstellungswelten auslegte.10 Einflußreich für die poetische Allegorese des Alten Testaments war Robert Lowth, dessen De sacra poesi hebraeorum praelectiones (zuerst 1753) von dem Göttinger Theologen und Orientalisten Johann David Michaelis neu herausgegeben sowie mit Anmerkungen und Zusätzen versehen wurde.11 Doch das »heilige Dunkel« solcher Auslegungen lag Iselin fern, bei der Vgl. Grell, L’histoire entre érudition et philosophie, 100; zu Voltaires Ursprungskonzept: Jacques Sole, Voltaire et les mythes des origines dans la Philosophie de l’histoire; Bertram Schwarzbach, Voltaire et ses inversions des »mythes des origines« juives par une haute critique biblique (beide Aufsätze in: Primitivisme et Mythes des Origines, hg. v. Chantal Grell u. Christian Michel, Paris 1989, 129–134 bzw. 135–151). 8 Johann Gottfried Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, in: Ders., Werke, hg. v. Pross, Bd. 1, 591–683 (sowie handschriftlichen Ergänzungen 684–689 u. Kommentar 849–863), hier 599. 9 Isaak Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 217 (zur benutzten Ausgabe vgl. Anm. 19). 10 Häfner, Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre, 216 ff. 11 Robert Lowth, De sacra poesi hebraeorum praelectiones, Oxford 1753; die Neuausgabe von Johann David Michaelis: 2 Bde., Göttingen 1758–1762 (2. Aufl. 1769–1770). Zur »Poetik des Erhabenen« Lowths und zu Herders »Leidenschaft für die Ursprünge« Olender, Die Sprachen des Paradieses, 38 ff.; vgl. auch Christoph Bultmann, Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes, Tübingen 1999 (zu Lowth 75 ff.). 7

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Lektüre von Herders Aeltester Urkunde des Menschengeschlechts (1774/76), berichtet er dem Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai, verlor er »all sein Latein«.12 Iselin baute auf das Licht der Vernunft, vertraute auf die Evidenz überzeugender, aufklärender Argumente, die dazu beitragen konnten, eine zukünftige Gesellschaft aufgeklärter und glückseliger Menschen herbeizuführen.13 Für die Teleologie vernünftiger Transparenz, die Iselin in der »natürlichen Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten selbst« verankern und historisch rekonstruieren wollte,14 bot ihm die historisch verstandene Offenbarung keinen Anknüpfungspunkt. Ein besonderes, wenngleich nur indirektes, in eine andere, d. h. philosophische Sprache übersetztes Verhältnis zur Offenbarung ist dagegen Rousseaus Utopie ursprünglicher Transparenz eigen.15 Rousseau orientierte sich bei seiner Rekonstruktion der ursprünglichen Natur des Menschen, folgt man dem »Exorde« zum Discours sur l’inégalité, methodisch an der hypothetischen Erklärung der Naturrechtstheorie und Kosmogonie: »Beginnen wir also damit, daß wir alle Tatsachen beiseite lassen, denn sie berühren die Frage nicht. Man darf die Untersuchungen […] nicht für historische Wahrheiten nehmen, sondern nur für hypothetische und bedingungsweise geltende Schlußfolgerungen, mehr dazu geeignet, die Natur der Dinge zu erhellen, als deren wahrhaften Ursprung zu zeigen, und jenen vergleichbar, welche unsere Naturwissenschaftler alle Tage über die Entstehung der Welt machen«.16 Doch »verliert die ›historische‹ Fiktion in dem Maße, wie Rousseau sie entwickelt, ihren hypothetischen Charakter«.17 Sie wird zu einer »philosophischen Genesis«, zur Rekonstruktion des Anfangs der Geschichte als Zerstörung des natürlich ausgewogenen, paradiesischen Ursprungs, die durchaus historische Wahrheit beansprucht.18

Vgl. Ulrich Im Hof, Isaak Iselin und die Spätaufklärung, Bern u. München 1967, 97. Dazu ebd., 208 ff. 14 Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 149. 15 Vgl. Starobinski, Rousseau, 429, Geitner, Die Sprache der Verstellung, 209 ff.; zu Rousseaus Ursprungsmodell auch: Yves Touchefeu, Le sauvage et le citoyen – le mythe des origines dans le système de Rousseau; Giuliano Gliozzi, Rousseau: mythe du bon sauvage ou critique du mythe des origines? (beide in: Primitivisme et Mythes des Origines, hg. v. Grell u. Michel, 177–192 bzw. 193–203). 16 Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Exordium, 71. Diese berühmte methodische Absicherung steht im Text, gleichsam eingeklammert vom Kontext, nach bzw. vor Verweisen auf den historischen Bericht der Heiligen Schrift, ähnlich wie dann auch bei Iselin (Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 217). Zum Problem des Verhältnisses von hypothetischer Schlußfolgerung, Heiliger Schrift und »Tatsachen« in Rousseaus zweitem Discours die Anmerkungskommentare und der Einführungsessay des Herausgebers Meier. 17 Starobinski, Rousseau, 27. 18 Ebd., 27 f., 409 ff. u. 429. 12 13

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A. Der Anfang der Menschheitsgeschichtsschreibung Isaak Iselins Philosophische Muthmaßungen. Ueber die Geschichte der Menschheit, 1764 erstmals veröffentlicht,19 eröffnen in mehrfacher Hinsicht eine »neue« Welt. Von der zeitgenössischen Universalhistorie und der Kultur- und Zivilisationsgeschichte, die Goguet sechs Jahre zuvor vorgelegt hatte,20 unterscheiden sich Iselins Philosophische Muthmaßungen schon im Blick auf die formale Textgestalt: ein kleinteilig gegliedertes, populäres21 Buch in handlichem Format, nach Art von Voltaires Dictionnaire philosophique portatif, im Jahr der Erstausgabe der Philosophischen Muthmaßungen erschienen, in dem sich kaum gelehrte Anmerkungen und verhältnismäßig wenig Literaturverweise finden, dessen Fußnoten vor allem von Nachrichten über »Wilde« und »Barbaren« bevölkert sind.22 Die Themen und Probleme, welche die historisch-philologische Forschung und Darstellung der Geschichte beherrschten, das Problem der Gewißheit historischer Überlieferung, Fragen der Chronologie sowie der Rekonstruktion und Erklärung historischer (Handlungs-)Zusammenhänge, all das spielt in Iselins Text keine Rolle, zumindest wird es nicht zum Problem. Historische Nachrichten sind für Iselin ebenso wie die Berichte über »wilde« und» barbarische« Völker »Wahrnehmungen«, zu bloßen Gegebenheiten geronnenes empirisches Material, das nicht methodisch nach Kriterien historischer Gewißheit hinterfragt, sondern der »philosophischen ErweUnd zwar anonym in zwei Bänden Frankfurt a. M. und Leipzig. 1768 erschien in Zürich eine revidierte Ausgabe unter Angabe des Verfassernamens und dem neuen Titel Über die Geschichte der Menschheit; weitere Ausgaben: Zürich 1770, Basel 1779, Carlsruhe 1784, Basel 1786 (auch als Reprint Hildesheim u. New York 1976). Zu diesen Ausgaben, zum Entstehungszusammenhang, Text, Kontext und zur zeitgenössischen Rezeption von Iselins Geschichte der Menschheit Ulrich Im Hof, Isaak Iselin. Sein Leben und die Entwicklung seines Denkens bis zur Abfassung der »Geschichte der Menschheit« von 1764, 2 Tle. (I. Teil: Isaak Iselins Leben und Bildungsgang bis 1764; II. Teil: Iselins Stellung in der Geistesgeschichte des XVIII. Jahrhunderts), Diss. Basel 1947, Tl. 2, 455 ff.; Ders., Isaak Iselin und die Spätaufklärung, 77 ff. u. 257. Im folgenden wird, falls nicht anders vermerkt, nach der Ausgabe Zürich 1770 zitiert. Die Veränderungen bzw. Erweiterungen der Ausgaben von 1768 und 1779 betreffen vor allem die Systematik der Darstellung sowie Ergänzungen um neues ethnographisches Material (Im Hof, Isaak Iselin und die Spätaufklärung, 87, 91 f.). 20 Sein Freund Jean-Rudolphe Frey wies Iselin 1759 auf Goguets Buch hin, Iselin scheint es nie gelesen zu haben (vgl. Im Hof, Isaak Iselin und die Spätaufklärung, 87). 21 Das Buch wurde, so Christoph Meiners, mit »grossem Beyfall« von der »lesenden Welt« aufgenommen; für Meiners selbst ist allerdings Goguet »viel lehrreicher«, ja überhaupt der »sicherste Führer« für das »Studium der Völkerkunde« (Grundriß der Geschichte der Menschheit, unpag. Vorrede). 22 Eine Zusammenstellung des von Iselin ausgewerteten ethnographischen Quellenmaterials, vor allem antike Texte und frühneuzeitliche Reiseberichte, findet sich im Anhang von Im Hof, Isaak Iselin und die Spätaufklärung, 247–251. 19

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gung« als »reiche Quelle« zur Verfügung steht, um den Menschen beobachten zu können.23 Solche »philosophische Ernte« im Feld der Historie hat in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts besonders in Deutschland Konjunktur. Drei Jahre nach Iselins Erstausgabe schreibt Johann Peter Miller in der Vorrede zu Thomas Abbts Fragment der Aeltesten Begebenheiten, die Schriften Abbts seien »Früchte, die in dem Garten der Historie gezogen sind«. Und die »Historie zum Gebrauche der Philosophen«, die »historischphilosophischen Observationen«, dienen auch bei Miller bzw. Abbt dem Zweck, um »aus der Historie am geschicktesten die Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens« zu erforschen und zur »Kentnis des Menschen überhaupt« beizutragen.24 Doch begnügte sich Iselin nicht mit einer bloßen (Moral-)Philosophie in Beispielen. Auch orientierte er seine Ordnung der Beobachtungen nicht am traditionellen Modell einer empirisch fundierten (zeitlosen) Moralphilosophie.25 Der Schweizer Aufklärer wollte die »Entwickelung der Menschheit« beobachten und »von der Fackel der Philosophie beleuchtet, die verschiedenen Scenen der Geschichte« überblicken:26 »Welch ein Unterschied ergiebt sich nicht zwischen dem Menschen des Philosophen, und zwischen dem Menschen des Geschichtschreibers? Wie einfach ist nicht der erstere in den meisten psychologischen Lehrgebäuden! Unter wie unendlich verschiedenen Gestalten hingegen zeiget sich nicht der andre dem aufmerksamen Beobachter!«27 Ohne Geschichte bleibt die Philosophie »schwach«, ohne das Licht der Philosophie ist aber auch die Geschichte »meistens unnütz«, ja »oft schädlich«.28 Iselin begibt sich deshalb mit der Fackel der Philosophie in die »Tiefen«29 der Geschichte, leitet seine Philosophischen Muthmaßungen mit »metaphysischen Unter-

Vgl. Iselin, Schreiben an die menschenfreundliche Gesellschaft in der Schweiz (= Vorspann der Erstausgabe von 1764), in: Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, 5–8, hier 7, sowie ebd., Einleitung, 10 f. Die Preisfragen der Berner Société des Citoyens veranlaßten Iselin zur Abfassung der Geschichte der Menschheit, vgl. Im Hof, Isaak Iselin. Sein Leben und die Entwicklung seines Denkens, Tl. 2, 467; Ders., Isaak Iselin und die Spätaufklärung, 85. 24 Abbt, Fragment der Aeltesten Begebenheiten, Vorrede, 7, 25, 40–42. 25 Von diesem Konzept war Iselin in seinen frühen Entwürfen ausgegangen (vgl. Im Hof, Isaak Iselin. Sein Leben und die Entwicklung seines Denkens, Tl. 2, 456). Bezeichnenderweise führt Friedrich August Carus in seinem Rückblick auf Texte zur »Geschichte der Menschheit« den von Iselin erstmals benutzten »neuen Titel« wortgeschichtlich auf das Vorbild einer »Moral in Beispielen« zurück; gebildet habe sich der Titel »wol zuerst in England an einer Moral in Beispielen, welche history of man hieß« (Ideen zur Geschichte der Menschheit, hg. v. Ferdinand Hand, Leipzig 1809, 17). 26 Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 170. 27 Ebd., Erstes Buch, 6 f. 28 Ebd., Zweytes Buch, 148. Dazu, unter Berufung auf Iselin, Millers Vorrede zu Abbts Fragment der Aeltesten Begebenheiten (8 u. 21 ff.). 29 Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, 7. 23

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suchungen«30 ein, die für einen »aufgeklärten« Menschenbeobachter als »Psychologische Betrachtung des Menschen« zu erörtern sind: »Der grosse Gegenstand der Geschichte ist der Mensch. Wer mit Nutzen die unermeßlichen Gefilde derselben durchwandern will, muß von der Philosophie gelernet haben, ihren Helden zu kennen«.31 Iselins Psychologie basiert auf einem Regelwerk der »Triebräder« Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Vernunft, die den Menschen in Bewegung setzen.32 »So wird der Mensch durch ein dreyfaches Gesetz beherrschet. Die Sinnlichkeit, welche die Triebe und die Begierden in einer sanften Bewegung unterhält. Die Einbildung, welche die Gemüths=Bewegungen und die Leidenschaften mit einem heftigen Feuer belebt. Die Vernunft, welche die stärksten Entschlüsse des Willens mit ihrer gütigen und glücklichen Fackel beleuchtet«.33 All das ist wenig originell. Daß der Mensch von reizbaren und empfindenden Seelenkräften, von »in der Natur der Seele« verankerten Vermögen angetrieben wird,34 die sich in Abhängigkeit von je besonderen inneren und äußeren Umständen entwickeln,35 entnahm Iselin der zeitgenössischen Literatur zur Seelenkunde, Pädagogik und Anthropologie. »Die Natur der menschlichen Empfindungen«, schreibt er, »ist in unsern Zeiten durch verschiedene grosse Philosophen in ein ausnehmendes Licht gesetzet worden«.36 Iselin beruft sich u. a. auf Johann Georg Sulzer, Moses Mendelssohn, Henry Home (Lord Kames) und Alexander Gottlieb Baumgarten.37 Originell dagegen ist die Art und Weise, wie Iselin, geleiDiesen »unpopulären« Ausgangspunkt entschuldigend, schreibt Iselin im Vorspann zum ersten Buch: »Leser, welche keine Liebhaber metaphysischer Untersuchungen sind, werden ersucht, zum wenigsten die erste Hälfte dieses Buchs zu übergehen, weil es über die Kräfte des Verfassers gewesen ist, das Licht und den Reitz über so trockene Gegenstände auszugiessen, welche er gewünschet hätte«. 31 Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Erstes Buch, 19. 32 Ebd., 20 f. 33 Ebd., 53. 34 Vgl. ebd., 19 ff. (zur Verstandestätigkeit als dem »wesentlichen Unterschied« zwischen Mensch und Tier 28 f.; dazu, daß die Kräfte des Leibes eingeschränkt sind, dagegen der »unbegränzte Fortgang zur Vollkommenheit« die »grosse Bestimmung« des Geistes ist, 42 u. 58). 35 Hinsichtlich der inneren (d.h. von der Seele abhängigen) Umstände ist das »richtige und harmonische« Mischungsverhältnis der Seelenkräfte entscheidend (ebd., 36). Hinsichtlich der äußeren Umstände sind die »Einflüsse des Himmelsstriches und der Landesart in die Sitten« (62 ff.) wichtig, vor allem aber hat »nichts einen grössern Einfluß als der Mensch selbst« (74), insbesondere die Erziehung (sie »ist die gröste Gutthat, welche der Mensch dem Menschen gewähren kann«, 96). 36 Ebd., 54. 37 Zur Beeinflußung von Iselins Psychologie durch die Autoritäten der neuen Anthropologie Im Hof (Isaak Iselin. Sein Leben und die Entwicklung seines Denkens, Tl. 2, 321 ff., 455 ff.; Isaak Iselin und die Spätaufklärung, 205 ff.). Zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext: Wolfgang Pross, Herder und die Anthropologie der Aufklärung (Nachwort zum Bd. 2 der Herderausgabe, 1128–1216); Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, hg. v. Hans30

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tet von anthropologischen Kategorien, die Universalgeschichte neu auslegte. In dieser Hinsicht hat die moderne Historiographiegeschichte seine Bedeutung noch nicht erkannt.38 Iselin etablierte ein Modell, an dem sich die Menschheitsgeschichtsschreibung in Deutschland, die nach seiner Geschichte der Menschheit in rascher Folge und großer Zahl verfaßt wurde, auch dann noch orientierte, als diese sich, wie Herders Auch eine Philosophie, kritisch von Iselins Konzept absetzte und neue Prinzipien, Bewertungen und inhaltliche Akzentuierungen in Anschlag brachte.39 Daß die gesamte Geschichte der Menschheit als eine Entwicklung aufzufassen ist, die sich analog zur Entfaltung der seelischen »Triebräder« des individuellen Menschen vollzieht, ist der »Grundsatz« von Iselins »philosophischer Erwegung«.40 Der durch Sinnlichkeit und Einbildungskraft gekennzeichneten Kindheit des Menschen entspricht dabei innerhalb der Menschheitsentwicklung die Stufe der Wildheit und Barbarei, in der die Völker unter dem Gesetz sinnlicher Begierden und erhitzter Einbildung stehen. Die Vernunft und mit ihr der »gesittete, bürgerliche« Stand der erwachsenen Menschheit entwickeln sich nur allmählich mit großer Langsamkeit bei einzelnen Völkern. Und der Prozeß des Erwachens der Vernunft, der Einschränkung von Sinnlichkeit und Einbildungskraft durch »Licht, Ordnung, und eine ausgebrei-

Jürgen Schings, Stuttgart u. Weimar 1994; zum Forschungsstand Wolfgang Riedel, Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft, in: IASL (6. Sonderheft), Tübingen 1994, 93–157. 38 Die Charakterisierung von Iselins Werk als Geschichtsphilosophie »avant la lettre« und als Versuch, »das Voltairesche Konzept der Weltgeschichte einer schulmäßigen Systematisierung zu unterwerfen« (Muhlack, Geschichtswissenschaft, 139), verkennt dessen Eigenbedeutung, auch die Problemkonstellation, die Iselins Schreiben antreibt. Mit Voltaires acht Jahre zuvor erschienenem Essai sur l’histoire générale bzw. ein Jahr später (also 1765) erscheinender Philosophie de l’histoire haben Iselins Philosophische Muthmaßungen wenig zu tun, viel aber, wie sich zeigen wird, mit Rousseaus zweitem Discours von 1755. Muhlacks Interpretation folgt hier der von Friedrich Meinecke vorgegebenen Perspektive (Die Entstehung des Historismus, zuerst 1936, hier benutzt in: Ders., Werke, Bd. 3, hg. v. Carl Hinrichs, 2. Aufl. München 1965, 241, 313). Eine knappe Charakterisierung der Eigenart von Iselins Geschichte der Menschheit und deren Beeinflussung durch Rousseau bei Reill (The German Enlightenment, 65 ff.); zum biographischen Kontext sind die beiden Arbeiten von Im Hof weiterhin grundlegend. 39 Die Interpretation von Iselins Geschichte als Text, von dem Herder sich mit seiner Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit kritisch absetzte, bestimmt die Urteile der Forschung (vgl. etwa Michael Maurer, Die Geschichtsphilosophie des jungen Herder in ihrem Verhältnis zur Aufklärung, in: Johann Gottfried Herder 1744–1803, hg. v. Gerhard Sauder, Hamburg 1987, 141–155, hier 146 f.). Dagegen wies schon Pross darauf hin, daß Herders »harte Kritik« an Hume, Voltaire und Iselin den Blick dafür nicht verstellen darf, »daß die Makrostrukturen des Geschichtsentwurfs gerade von diesen übernommen sind, daß es Herder vor allem um die Bewertung der Fakten geht, die er Winckelmann, Goguet und Iselin entnommen hat« (Herder, Werke Bd. 1, 850, vgl. auch 755). 40 Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Erstes Buch, Einleitung, 10 ff.

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tete Liebe«41 ist auch in der Gegenwart noch keineswegs beendet: »Unsre Ahnen«, heißt es schon in der Einleitung, »waren vor wenigen Jahrhunderten noch vollkommene Barbaren. Wir können uns schmeicheln, die Hälfte von ihrer Barbarey abgelegt zu haben. Warum sollten unsre Nachkömmlinge sich nicht von allen Ueberbleibseln derselben befreyen können«.42 Iselin zeichnet diese pädagogisch-psychologisch verankerte, für sich genommen wenig spektakuläre Aufklärungsfigur in drei gesonderten Themensträngen aus. Das auf die »Psychologische Betrachtung des Menschen« folgende zweite Buch »Von dem Stande der Natur« erörtert das Problem des Ursprungs der menschlichen Entwicklung, geht also der Frage nach dem Zustand einer auf die Sinnlichkeit eingeschränkten Phase der Menschheitsentwicklung nach. Dem Zustand der sich entwickelnden Einbildungskraft ist das Buch »Von dem Stande der Wildheit« gewidmet.43 Die Anfänge und Fortgänge des »gesitteten« Standes, dem die Entfaltung der Vernunft korrespondiert, thematisieren die fünf übrigen Bücher: »Von den Anfängen des gesitteten Standes bis zur Vestsetzung der häuslichen Gesellschaft«; »Von den Fortgängen der Geselligkeit zu dem bürgerlichen Stande«; »Von den Fortgängen des gesitteten Standes bey den orientalischen Völkern«; »Von den Fortgängen des gesitteten Standes, bey den Griechen und bey den Römern«; »Von den Fortgängen des gesitteten Standes bey den heutigen europäischen Nationen«.44 Historisch zu identifizieren sind nach Iselin nur der Zustand der Wildheit und die Entwicklung des gesitteten Standes,45 nämlich die Wildheit mit Hilfe von Analogieschlüssen auf der Basis ethnographischer Empirie, während die Anfänge und Fortgänge des gesitteten Standes die »uns bekannten Zeiten« betreffen,46 d.h. die (profane) historische Überlieferung seit dem Entstehen der ersten »morgenländischen Reiche« der Antike. Der Stand der Wildheit und der gesittete Stand sind für Iselin aber nicht bloß verschiedene Phasen der Menschheitsentwicklung. Beide Stufen werden zugleich als zwei kategorial unterschiedliche »Classen des menschlichen Geschlechts« vorgeführt. Schon nach dem Stand der Natur nämlich »scheinet sich das ganze menschliche Geschlecht, durch ganz natürliche Gründe, in zwo Classen zu vertheilen«. So gibt es eine »unentwickelt« bleibende Klasse, mit der man nur auf »rohe und unwegsame GeEbd., Viertes Buch, 337. Ebd., Einleitung, 16. 43 Ebd., Drittes Buch, 221–334. 44 Ebd., Bd. 1, 337–379; Bd. 2, 5–437. 45 »Die Revolutionen der Menschheit«, heißt es am Ende des Buchs Von dem Stande der Natur, »welche wir in diesem Buche abgeschildert haben, sind indessen mehr wie philosophische Hypothesen als wie historische Wahrheiten anzusehen […] Der Stand der Wildheit und der Barbarey ist uns dagegen nur allzubekannt. Wenn der Stand der Natur nur problematisch ist, so ist dieser gewiß« (ebd., Bd. 1, Zweytes Buch, 218). 46 Ebd., Viertes Buch, 338. 41 42

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genden« trifft, und eine zweite, zur Entwicklung fähige Klasse, mit der man eine »lieblichere Bahn« betritt.47 Zwar beschreibt Iselin die Anfänge des gesitteten Standes in Analogie zum Stand der Wildheit als einen »rohen« und »wilden«, unter dem Gesetz der Einbildungskraft stehenden Zustand. Denn die Hoffnung auf die lieblichere Bahn wird, zunächst jedenfalls, enttäuscht: »Auch diejenigen Menschen, deren Kindheit uns mit den schönsten Hoffnungen schmeichelte, sind wild und roh geworden«. Doch der Blick auf die gesamte Menschheitsgeschichte zeigt den Stand der Wildheit und die Anfänge des gesitteten Standes als zwei differente historische Verlaufsstränge. Während die erste Klasse bis hin zu den gegenwärtigen »Wilden« im Stand der Wildheit verblieb, begann in der zweiten Klasse der Prozeß der »Policierung«,48 dessen »Fortgänge« bis zu den gegenwärtigen (europäischen) Nationen führten. Nur die europäischen Nationen bewegen sich damit auf den Zustand der Freiheit zu, den Iselin als Inkarnation von Vernunft und Aufklärung versteht.49 Dagegen verharren die orientalischen Völker, mit Ausnahme nur von China, im Despotismus: »Noch seufzet der schönste Theil des Erdkreises, ganz Asien entvölkert und machtlos, unter diesem abscheulichen Joche, und da ist, ohne Wunderwerk, vor vielen Jahrhunderten weder eine Erhöhung der Geister, noch eine Verbesserung der Denkungsart zu hoffen«.50 Iselin markiert die auch von anderen philosophischen Geschichtsforschern des 18. Jahrhunderts, etwa von Boulanger, profilierte Zwei-Klassen-Gesellschaft als einen drastischen Gegensatz. Der Stand der Wildheit ist ihm ein »abscheuliches Ganzes«,51 die »herrlichen Sachen«, die von »Wilden« und »Barbaren« von europäischen Schriftstellern erzählt werden, sind nichts als »Vorurtheile« und »Chimären«.52 Dagegen ist der Fortgang aus der Wildheit zwar mit »großen Unordnungen« verbunden,53 doch eröffnet er einen Entwicklungsgang, der die »goldenen Zeiten« einer zukünftigen, unbeschränkten Aufklärung in Aussicht stellt.54 Wildheit und gesitteter Stand sind gleichsam ideale Gegenpole. Sie bestehen bis in die Gegenwart nicht nur im Gegensatz außereuropäischer »Wilder« und europäischer »Policierter«, sondern auch inner-

Vgl. ebd., Zweytes Buch, 215 f., Viertes Buch, 338. Ebd., Viertes Buch, 342. 49 Zu Iselins politischen Idealen Im Hof, Isaak Iselin und die Spätaufklärung, 125 ff. 50 Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 2, Sechstes Buch, 116 f. 51 Ebd., Bd. 1, Drittes Buch, 324. 52 Vgl. ebd., 263 f. u. 319 ff. Diese Kritik geht speziell gegen Rousseau, mit dem sich Iselin im Buch über den Naturzustand auseinandersetzt (vgl. dazu Abschnitt C dieses Kapitels). 53 Ebd., Zweytes Buch, 216. Deshalb, argumentiert Iselin, übertreffe vielleicht im Zustand der Wildheit »die Menge der angenehmen Empfindungen die von den unangenehmen« mehr »als in den niedrigsten Graden der bürgerlichen Gesellschaft« (ebd., Drittes Buch, 326). Auch dieses Argument ist eine implizite Auseinandersetzung mit Rousseau. 54 Vgl. ebd., Bd. 2, Achtes Buch, 428. 47 48

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halb zivilisierter Gesellschaften in Form sozialer und intellektueller Gegensätze fort. Auch die »niedersten Classen der gesitteten Nationen« dienen deshalb zur Verdeutlichung des »niedrigsten Grades der Menschheit«.55

B. Menschheit als Objekt und Subjekt der Geschichte Der Prozeß der Zivilisation wird von Iselin nicht als eine homogene, einsinnige Geschichte vorgeführt, sondern als eine von Ungleichzeitigkeiten und Widerständen geprägte Entwicklung. Iselin nennt sie »Geschichte der Menschheit«. Daß er damit eine Begriffsverbindung etablierte, die in seiner Zeit als spektakuläre Neuerung aufgefaßt wurde,56 bleibt einer von der modernen Bedeutung des Begriffs »Menschheit« ausgehenden Lektüre verborgen. Darauf ist zurückzuführen, daß Iselins Geschichte der Menschheit von der modernen Forschung nicht als neuer philosophischer Typ einer universalhistorischen Synopse wahrgenommen und statt dessen immer wieder mit Voltaires ganz anders konstruierter »philosophischer Geschichte» verglichen wurde. Mit »Menschheit« verbindet Iselin nicht den modernen Kollektivbegriff. Geht es um die Gesamtheit aller Menschen, steht bei ihm »Menschengeschlecht«.57 »Menschheit« dagegen bezeichnet den Gegenbegriff zu »Tierheit«, und diese Opposition ist mit normativen Konnotationen besetzt. Menschheit ist auch ein Synonym von »Menschlichkeit« (bzw. dem lateinischen »humanitas«), also Inbegriff dessen, was den Menschen nicht nur biologisch, sondern auch hinsichtlich seiner »zweiten Natur«, der Fähigkeit zur Vervollkommnung, vom Tier unterscheidet. Daß diesen Anlagen, die den Menschen als Naturbestimmung vorgegeben sind und sich in Abhängigkeit zu besonderen Umständen entfalten, analoge Anlagen der Gattung Menschheit korrespondieren, die sich ebenso naturwüchsig wie beim Individuum entwickeln, eben diese Vorstellung beherrscht Iselins Geschichte der Menschheit. »Es scheinet also gleichsam ein Gesetz der Natur zu seyn«, lautet Iselins Grundaxiom, angewendet auf den Stand der Wildheit, »daß der Mensch, den nicht eine höhere Vorsicht unmittelbar in den Stand der Vernunft versetzet hat, oder den nicht besonders glückliche Umstände Ebd., Bd. 1, Zweytes Buch, 181; zu den verschiedenen Formen von »Ueberbleibseln der Barbarey« bei den gegenwärtigen europäischen Nationen Bd. 2, Achtes Buch, 393 ff. 56 Vgl. (auch zum Folgenden) Seifert, Von der heiligen zur philosophischen Geschichte, 115; Verf., Zur Idee einer Geschichte der Menschheit, 281 ff. 57 Zur Begriffsgeschichte von »Menschheit« Hans Erich Bödecker, Menschheit, Humanität, Humanismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1982, 1063–1128. Einen Überblick zum politisch-sozialen Kontext des Begriffs, zu einschlägigen europäischen Quellentexten sowie zur Forschung ermöglicht die Bibliographie von Günther Birtsch, Michael Trauth u. Immo Meenken: Grundfreiheiten – Menschenrechte 1500–1850. Eine internationale Bibliographie, 5 Bde., Stuttgart 1991–1992. 55

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begünstigen, für eine gewisse Zeit in die Wildheit gerathen müsse. Es scheinet unausweichlich, daß die meisten Völker diese öden und düstern Stellen durchwandern müssen, um zu der Vollkommenheit zu gelangen, zu welcher das menschliche Geschlecht bestimmet ist«.58 Dieser abstrakt begründeten philosophischen Einsicht will Iselin historische Evidenz verleihen,59 mit Hilfe der Geschichte den Nachweis führen, daß das »menschliche Geschlecht« – übersieht man die »Scenen« der Geschichte »mit philosophischen Blicken«60 – trotz aller Widerstände dem Telos gerecht wird, das ihm »gleichsam naturgesetzlich« als Menschheit aufgegeben ist. Iselin erzählt die Geschichte der Menschheit als eine Art Bildungsroman, dessen literarischer Prototyp, Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon, im Jahre 1766, also zwei Jahre nach der Erstausgabe von Iselins Buch, erschien.61 Schon Herder verstand Iselins Mutmaßungen und Wielands Agathon als »aufeinender bezogene Modelle«.62 Iselins Held bzw. sein Protagonist ist die Menschheit, deren seelische Triebräder sich im Wechselspiel mit äußeren Bedingungen und Umständen entwickeln und vervollkommnen. Dabei referiert Iselin auf Montesquieus im Esprit des lois ausgearbeitete Gesetze des Zusammenhangs natürlicher, politischer und sozialer Bedingungen, bestreitet aber, daß diese Gesetze ursächliche Triebfedern der historischen Entwicklung sind. Diese liegen vielmehr in der »menschlichen Natur selbst«. Um diesen selbstläufigen Entwicklungsprozeß sprachlich zu simulieren, benutzt Iselin inflationär das Vokabular der neuen Anthropologie, besonders der Biologie. Nicht nur die natürlichen (seelischen) »Triebräder« der Menschheit keimen, wachsen, reifen, auch ihre Produkte, die verschiedenen sozialen und kulturellen Formen und Errungenschaften der menschlichen Zivilisation, sind in einem permanenten Entwicklungsprozeß begriffen, wachsen auseinander hervor und durchdringen sich gegenseitig. Um diesen Prozeß sachlich zu illustrieren, setzt Iselin historische Materialien aus unterschiedlichen Texten und Epochen je nach Bedarf und Gebrauch ein. Die Darstellung des Buches »Von den Fortgängen des gesitteten Standes bey den heutigen europäischen Nationen« basiert etwa wesentlich auf solch unterschiedlichen

Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Drittes Buch, 329 f. Vgl. ebd., Zweytes Buch, 147 f. 60 Ebd., Viertes Buch, 339. 61 Die erste zweibändige Fassung von Wielands Agathon (der zweite Band erschien 1767) wurde wie Iselins Erstausgabe anonym mit dem (fingierten) Druckort Frankfurt und Leipzig publiziert (vgl. den Kommentar der Ausgabe Mangers 797 ff.). 62 So der Kommentar von Pross zu einer Stelle aus Herders Journal meiner Reise (Herder, Werke, Bd. 1, 375 bzw. 813). Wieland hat von Iselins Buch nicht viel gehalten (vgl. vorliegende Arbeit S. 273), auch Iselin nicht von Wielands Agathon. In einer Rezension für Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek kritisiert er das dem Roman zugrunde gelegte ethische Konzept, zeigt sich aber beeindruckt von der psychologischen Konstruktion (vgl. Im Hof, Isaak Iselin und die Spätaufklärung, 218 u. 349). 58 59

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Werken wie Sebastian Münsters Cosmographia und David Humes The History of England.63 Da Iselin in den historischen Teilen seiner Darstellung jeweils mit neuen (d. h. von Wildheit und Barbarei ausgehenden) Entwicklungslinien einsetzt, spielt die Frage nach ihrem Zusammenhang nur eine marginale Rolle. In universalhistorischer Perspektive ergibt sich aber eine Fortschrittsfigur. Die gesitteten Stände der orientalischen Völker sowie der Griechen und Römer verfallen, doch erreichen letztere in der Entfaltung der Vernunft ein höheres Niveau, das wiederum von der europäischen Neuzeit (die »mittlern Zeiten« werden als Zustand der Wildheit und Barbarei gefaßt) übertrumpft wird. Erst die Entwicklung der Neuzeit eröffnet, trotz aller »Ueberbleibsel der Barbarey«, die Aussichten in die »goldenen Zeiten« zukünftiger Vollkommenheit. Geschichte wird in Iselins Geschichte der Menschheit nicht als Historie, am chronologischen Leitfaden einer nach methodischen Kriterien rekonstruierten Überlieferung erzählt, auch nicht als Erklärungszusammenhang, der die historischen Begebenheiten und ihre Umstände, wie bei Baumgarten und den Göttingern Gatterer und Schlözer, als systematische Einheit vorstellt. Iselin führt vielmehr die Geschichte als Bewegung eines autonomen, sensiblen (Seelen-)Körpers Menschheit vor, dessen Lauf durch die Zeiten in einer suggestiven, bilderreichen Sprache in seinen verschiedenen Entwicklungsstufen beschrieben wird. So treten etwa in der Frühen Neuzeit große Geister als Lichtgestalten auf, gleichsam Inkarnationen der Menschheit, die diese antreiben, in denen sich zugleich Epochen, aber auch Brüche und (vorläufige) Grenzen der Menschheitsentwicklung spiegeln können, beispielsweise wenn der »große« Galilei in einer Zeit agiert, in der noch »dichte Finsternisse« herrschten.64 Die Menschheit in ihrer entwickelten Gestalt, d.h. als vernünftige Humanität und »wahre Menschlichkeit«, die dem »geheiligten Rechte der Menschheit« Geltung verschafft,65 dient besonders in den Zwischenresümees, wenn Iselin als der Berichterstatter über die Geschichte der Menschheit mit philosophischer Fackel die Szenen der Geschichte überblickt, als Maßstab des Urteils. Menschheit ist damit beides: sowohl Gegenstand und Agent der Geschichte als auch ihr Beurteilungsmaßstab. Da sich die Geschichte als ein Gegenstand konstituiert, dessen Bewegungsgesetze gleichsam »natürlich« beobachtet werden können, läßt sich auch ohne große Probleme entSebastian Münsters Cosmographia erschien zuerst Basel 1544, David Humes The History of England zuerst in 6 Bänden London 1754–1762; vgl. zu Iselins Vorarbeiten zur Geschichte der Menschheit Im Hof, Isaak Iselin. Leben und Entwicklung seines Denkens, Tl. 2, 455 ff. (zur Auswertung der Werke Münsters und Humes 468 f.). 64 Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 2, Achtes Buch, 356. 65 Vgl. ebd., 407 ff.; die Begriffe sind in dem Bedeutungsspektrum angesiedelt, das auch den Verfassungsdiskurs im 18. Jahrhundert (vgl. Wolfgang Schmale, Entchristianisierung, Revolution und Verfassung. Zur Mentalitätsgeschichte der Verfassung in Frankreich, 1715–1794, Berlin 1988) prägte. Zu Iselins politischen und ethischen Humanitätsidealen Im Hof, Isaac Iselin und die Spätaufklärung, 125 ff. u. 199 ff. 63

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scheiden, was von der historischen Überlieferung wesentlich, was unwesentlich ist. Geschichte als Quellenüberlieferung, von Iselin eher gering geschätzt,66 wird so zum Beispielreservoir einer neuen historia magistra vitae. Diese illustriert nicht mehr natürliche Gesetze der Moral und Ethik, sondern natürliche Gesetze der philosophischen Geschichte, die zum Maßstab einer neuen Ethik der Humanität aufsteigt. In dieser besonderen Hinsicht hatte das Modell der historia magistra vitae, dessen allmähliche »Auflösung im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte« Reinhart Koselleck analysierte,67 eine einflußreiche Nachgeschichte. Iselin erzählt in mehrfacher Hinsicht eine neue Geschichte. Die Geschichte der Menschheit zeigt das Ganze der Geschichte als einen naturwüchsigen, notwendigen Entwicklungsgang, dessen Einsicht Gesichtspunkte und Auswahlkriterien vermittelt, mit deren Hilfe jene durch die gelehrte Forschung entstandene »Last von Geschichte« bewältigt werden kann, die Kant zwei Jahrzehnte später beklagte und veranlaßte, eine »philosophische Geschichte« zu versuchen.68 Damit wurde es möglich, Geschichte einem aufgeklärten, weltbürgerlichen Publikum zu erzählen, das weniger an historischer Forschung und Kritik interessiert war, vielmehr die in Bewegung geratene Gesellschaft als einen vernünftigen, gesetzmäßigen Verlauf übersehen wollte. Diesem Publikum hat der Schweizer Popularphilosoph eine Geschichte erzählt, aus der sich optimistische Zukunftsaussichten ergaben, die das gegenwärtige Handeln motivieren und orientieren, ihm sozusagen eine naturgesetzliche Grundlage geben konnten. »Wie groß, wie edel ist nicht eure Bestimmung! Habet nur diese vor Augen; fliehet die schlüpfrige Bahn derer, welche nur dem Schimmer eines eiteln Ruhmes und einer falschen Größe nachjagen. Die Glückseligkeit der Nachwelt sey euch mehr angelegen, als die Bewunderung euerer Zeitgenossen«.69 Iselins Geschichte ist in das Licht Vgl. die Belege bei Im Hof, Isaac Iselin. Sein Leben und die Entwicklung seines Denkens, Tl. 2, 471 ff.; Iselin unterscheidet drei Methoden der Geschichtsschreibung (»epigrammatische«, »rhetorische« und »ethische« (ebd., 476). Erstere (repräsentiert u. a. durch Voltaire) lehnt Iselin ab, die zweite hält er für historisch überwunden, Beispiele für die dritte (die »wahre Geschichtsschreibung«) sind u. a. die antiken Historiker Plutarch, Xenophon und Polybios. Im Hof tut sich in der Bewertung schwer. Einerseits kritisiert er Iselins Ablehnung der historischen Detailforschung, andererseits stehe seine Geschichte der Menschheit »an der Schwelle zum neuen Geschichtsdenken« (494). Für das von »historistischen« Erwartungen geprägte Urteil muß Iselins Geschichtsphilosophie stets ein problematischer Fall bleiben. 67 Reinhart Koselleck, Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1985, 38–66. 68 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (zuerst 1784), in: Ders., Schriften zur Geschichtsphilosophie, hg. v. Riedel, 21–39, hier 38. 69 Iselin im letzten Abschnitt der Geschichte der Menschheit (»Allgemeine Betrachtungen über die gegenwärtigen Zeiten. Aussichten«, Bd. 2, Achtes Buch, 422ff.), der in diesem Aufruf (ebd., 436) an »bescheidne und standhafte Verehrer und Lieblinge der Wahrheit« gipfelt, »Werkzeuge einer so 66

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zukünftiger Erwartung getaucht. Das Telos der Geschichte beherrscht die Erzählung der Vergangenheit, es bestimmt auch Iselins Erörterung des Ursprungsproblems, die das Thema des folgenden Abschnitts ist.

C. Transparenz des Naturzustands »Wie der ursprüngliche Zustand des Menschen ein der Philosophie unergründliches, ein der Offenbarung vorbehaltenes Geheimnis ist; so ist es wahrscheinlich, daß von den durch ein besonderes Schicksal auf der Erde zerstreuten, und in eine unbegreifliche Erniedrigung gefallenen Menschen=Geschlechtern ein Theil sich frühe wieder zu der Milderung, zu der Erleuchtung und zu der Geselligkeit erhoben habe; indem der andere noch tiefer in die Barbarey, und in die Wildheit versunken ist«. 70 Dieser Satz ist der einzige ausführlichere Verweis Iselins auf die heilige Geschichte,71 jenen Bericht über die frühe Geschichte der Menschheit, an dem sich die universalhistorischen Kompendien der Zeit, aber auch Forschungssynthesen wie die Universal History in ihrer Darstellung der Frühgeschichte orientierten. Der Status der biblischen Offenbarung als sicherste historische Überlieferung war seit der christlichen Spätantike bis zum aufgeklärten 18. Jahrhundert, sieht man von wenigen, nicht nur aus theologischen Gründen überwiegend abgelehnten Ausnahmen ab, über jeden Zweifel erhaben. Von der historischen Wahrheit der Bibel ist in Iselins Text keine Rede. Nur blaße Reminiszenzen und verwischte Spuren verweisen in der zitierten Stelle auf die nachsintflutliche Zweiteilung der Menschheit, also auf den zweiten (profanen) Ausgangspunkt der Geschichte,72 der noch für Vicos oder Goguets Frühgeschichte konstitutiv war. glücklichen Revolution zu werden«. Zum Zusammenhang von Popularphilosophie und »Geschichte der Menschheit« Johan van der Zande, Popular Philosophy and the History of Mankind in Eighteenth-Century Germany, in: Storia della Storiografia 22 (1992) 37–56 (zu Iselin 48f.). 70 Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 217. 71 In der ersten Ausgabe von 1764 formuliert Iselin vorsichtiger. Der zitierte Absatz von 1768 (bzw. 1770) ersetzt folgende (auf den Kontext der vorangegangenen philosophischen Erörterung des Naturzustands bezogene) Stelle: »Es ist wahrscheinlich, daß sich die menschlichen Vermögen allmählig also geäussert haben würden, wenn nicht die unmittelbare Hand der Vorsehung die ersten Menschen sogleich in einen vollkommnen Stand versetzet hätte« (Philosophische Muthmaßungen, Bd. 1, Zweytes Buch, 161). Auch hier handelt es sich um einen bloßen Einschub, der folgenlos für die weitere Argumentation bleibt. In der Auseinandersetzung mit Rousseaus Naturzustand referiert Iselin ebenfalls knapp auf die biblische Offenbarung (»Die Heil. Schrift lehret uns, daß die ersten Menschen mit weit grössern Fähigkeiten begabet, aus den Händen des Schöpfers hervorgekommen sind«, Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 161; ebenso in der Ausgabe von 1764, Bd. 1, Zweytes Buch, 92). Auch dieses Argument hat den Status einer bloßen Referenz an die heilige Geschichte. 72 Vgl. auch den kurzen Abschnitt unter der Überschrift »Vertheilung der Völker« (Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 215–217).

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Im Fall von Jean-Jacques Rousseaus »philosophischer Genesis« ist das Verhältnis zur biblischen Offenbarung schwieriger zu bestimmen. Daß Rousseau sich schon seinen Zeitgenossen früh als eine »Welt von Widerständen« zeigte, bestätigt auch Iselin. Anläßlich einer Frankreichreise (1752) hatte der junge Schweizer Gelehrte Rousseau in Paris persönlich kennengelernt und seine Erfahrungen in jenes Bild gefügt, das die Rezeption Rousseaus bis heute beherrscht.73 Da gab es den »guten Rousseau«, der »mit all seiner Filosofie« dennoch im Theater wie jeder andere Tränen vergoß; Rousseau war aber auch »le malheureux Rousseau«, der sich in seinen Texten den Konventionen eines »gesunden Verstandes« nicht fügte.74 Dies galt besonders für den Text über die Ungleichheit, der Iselin im Licht vernünftiger Transparenz paradox erschien und sich in dieser Hinsicht nicht von Herders Aeltester Urkunde unterschied, die ihn an Rousseaus »Unklarheiten« erinnerte.75 Es ist besonders der Widerstreit zwischen einem Naturzustand, »der nicht mehr existiert, der vielleicht nie existiert hat, der wahrscheinlich niemals existieren wird«,76 dessen »Vortrefflichkeit«77 aber derselbe Rousseau, im Gestus der Erinnerung an »fern entrückte Zeiten«,78 in eindringlichen Bildern beschreibt. Es sind diese »Rousseauschen Paradoxe«, die nicht nur Iselin irritierten und antrieben, Rousseaus Naturzustand einer näheren Prüfung zu unterziehen.79 Bei Iselin ergab sich daraus eine Geschichte der Menschheit, in der dem Leser eine revidierte Ursprungsszenerie und neue Frühgeschichte entgegentritt, ein Auftritt, so Iselins eigener Kommentar, »der uns lehren wird, in wie weit wir mit unserm Zustande zufrieden Zur Rousseau-Rezeption in Deutschland: Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption, hg. v. Herbert Jaumann, Berlin-New York 1995. 74 Vgl. Im Hof, Isaak Iselin. Sein Leben und die Entwicklung seines Denkens, Tl. 1, 113 f. In Tl. 2 (332 ff.) behandelt Im Hof Iselins frühe Auseinandersetzung mit Rousseaus Texten (sowie auch ein Gespräch, das er 1752 mit Rousseau führte). 75 Vgl. Im Hof, Isaak Iselin und die Spätaufklärung, 97; weitere Belege für Iselins RousseauRezeption (so das Urteil, Rousseaus System sei ein »glänzendes Chaos von Widersprüchen«, ein »schönes optisches Blendwerk«, dem eine grobe Unkenntnis der bisherigen philosophischen Denker zugrunde liege) ebd., 219 f., sowie in Ders., Isaak Iselin. Leben und Entwicklung seines Denkens, Tl. 2, 332 ff. 76 Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Vorwort, 47; Iselins Übersetzung der Stelle (Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 157: »der nicht mehr wirklich ist, der es niemals gewesen ist, der es niemals seyn wird«) unterschlägt bezeichnenderweise Rousseaus Einschränkungen »vielleicht« (»peutêtre«) und »wahrscheinlich« (»probablement«). 77 Vgl. Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 166 f. 78 Starobinski, Rousseau, 28. 79 Zur frühen französischen Kritik an Rousseaus Naturzustand die Dokumente und Kommentare in der Edition Meier. Der »im 18. Jahrhundert geläufige, von Anfang an eingespielte Vorwurf, Rousseau sei ein Autor von Paradoxen«, wird von Jaumann in einen weitausgreifenden ideengeschichtlichen Zusammenhang gestellt: Rousseau in Deutschland. Forschungsgeschichte und Perspektiven, in: Ders. (Hg.), Rousseau in Deutschland, 1–22, hier 15 ff. 73

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seyn sollen, und ob wir denselben durch Zurückgehen, oder durch Fortgang verbessern können«.80 In seiner (ab 1776 publizierten) Zeitschrift Ephemeriden der Menschheit oder Bibliothek der Sittenlehre und der Politik äußert sich Iselin rückblickend über den Entstehungszusammenhang der Geschichte der Menschheit.81 Sein »Entwurf« habe zunächst »hauptsächlich der Prüfung der Rousseauschen Paradoxen» gegolten, »die damals ein grosses Aufsehen machten«. Ein Brief Henry Homes (Lord Kames) an den Berner Juristen Daniel Fellenberg führte zur Erweiterung des Projektes. Home, der später selbst ein Werk zur Geschichte der Menschheit veröffentlichte,82 hatte darin die These vertreten, »daß die menschliche Natur selbst einen grösern Einfluß in die Einführung von Gesetzen und von Gewohnheiten habe, als alle andern Ursachen, welche Montesquieu ausführet«. Diese These veranlaßte Iselin, seine Auseinandersetzung mit Rousseau »auch auf die Untersuchung zu richten, ob Montesquieu die Staaten getreuer geschildert und ihre Triebfedern richtiger zergliedert habe, als Rousseau den einzelnen Menschen; oder ob beyde an statt wahrer Nachbilder uns nur die Geburten ihrer Phantasie dargestellt haben«. Iselin wollte sich also in der Geschichte der Menschheit nicht mehr nur auf die Erörterung der »Rousseauschen Paradoxe« beschränken, sondern den Einfluß der »menschlichen Natur selbst« auf den Geschichtsprozeß auch hinsichtlich der weiteren Entwicklung bis zur Gegenwart untersuchen. Am Anfang des Unternehmens Geschichte der Menschheit stand jedoch Rousseaus »paradoxer« Naturzustand. Der »ursprüngliche Zustand des Menschen« ist »ein der Philosophie unergründliches, ein der Offenbarung vorbehaltenes Geheimnis«. Geltung besitzt dieser negative Bescheid für den Anspruch, mit Hilfe philosophischer Methoden die historische Wahrheit des »ursprünglichen Zustandes des Menschen« erschließen zu wollen. Mit dieser Schlußfolgerung allein war jedoch der paradoxe Rousseau nicht zu widerlegen. Der Autor des Discours sur l’inégalité hatte sie selbst zur methodischen Prämisse erhoben. Um den Nachweis zu führen, daß »die Vorzüge des unangebauten Menschen«, die Rousseau »mit den vollkommensten Reitzen« schilderte,83 nur seiner Phantasie entsprungen waren, war es Iselins Anliegen, Rousseaus »Gewebe von Widersprüchen«84 aufzulösen. Er verfolgte dabei die Strategie, Rousseau mit dessen eigenen methodischen Waffen zu schlagen. Nachgewiesen werden sollte, daß auch ein hypoIselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 218. Ephemeriden 1778, XI. Stück; im folgenden zitiert nach dem Abdruck in der Ausgabe der Geschichte der Menschheit von 1784, Bd. 1, Vorbericht, XI–XIV. 82 Henry Home, Sketches on the History of Man, 2 Bde., Edinburgh 1774, u. ö.; noch im selben Jahr erschien in Leipzig die Erstausgabe mehrerer deutscher Übersetzungen. 83 Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 157. 84 So urteilte Iselin schon über Rousseaus ersten Discours sur les sciences et les arts von 1750, vgl. Im Hof, Isaak Iselin. Leben und Entwicklung seines Denkens, Tl. 2, 336. 80 81

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thetischer Naturzustand, wie ihn Rousseau, ausgehend von der Natur des Menschen, nach den Regeln vernünftiger Mutmaßungen rekonstruiert hatte, nicht die Bewertung rechtfertigte, die Rousseau mit dem »natürlichen Zustand des Menschen« verknüpft hatte. Vor allem aber zog Iselin aus diesem Stand andere Konsequenzen für die Entwicklung der Menschheit, als sie sich für Rousseau ergeben hatten. Iselins Auseinandersetzung mit dem »erhabenen« Rousseau ist Thema des zweiten, an die »Psychologische Betrachtung des Menschen« anschließenden Buches der Geschichte der Menschheit. Sein Titel lautet: »Von dem Stande der Natur«.85 Die Frage nach der Natur des Menschen ist das zentrale Problem des Discours sur l’inégalité. Sie auf eine neue Art und Weise gelöst zu haben, der Anspruch des Verfassers. Rousseau wollte »über die ersten und einfachsten Operationen der menschlichen Seele« nachdenken, aus dem Menschen nicht wie die kritisierte Naturrechtstheorie »einen Philosophen machen, ehe man einen Menschen aus ihm macht«.86 Ohne die inkriminierte Projektion von Zuständen, die erst Ergebnis des vergesellschafteten Menschen seien, sollte der Mensch aller gesellschaftlichen Verhältnisse entkleidet87 in seiner ursprünglichen, jeder »bürgerlichen Gesellschaft« vorausliegenden anthropologischen Verfaßtheit und mit seinen »wahren Bedürfnissen« sichtbar werden.88 Auch Iselins Ausgangspunkt ist die Frage nach der Natur des Menschen,89 auch ihm erscheint das Naturzustandstheorem der Naturrechtstheoretiker als ein fragwürdiges Theorem: »Die Weltweisheit unterscheidet gewöhnlich den natürlichen Menschen von dem policierten, den Stand der Natur von dem Stande der Sitten. Wenn wir sie aber fragen, worinn der erstere dieser Stände bestehe, wodurch er von dem andern sich unterscheide; wo er anfange, etwas wirkliches, oder ob er nur eine Erdichtung sey? so stürzet sie uns in einen Labyrinth von Zweifeln, aus welchen sich herauszuwickeln, es mehr als einen ariadnischen Faden brauchet«.90 Und wenn Rousseau, um den »wahrhaften Naturzustand« zu entdecken, sich gezwungen sieht, »bis an die Wurzel« zu graben,91 so will auch Iselin, »um den Menschen in dem Stande der Natur zu suchen«, »bis auf die ersten Elemente der Menschheit zurückgehen«, »denjenigen

Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 147–218. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Vorwort, 57. 87 Vgl. zur Kritik derjenigen, «die beim Nachdenken über den Naturzustand auf diesen die der Gesellschaft entnommenen Vorstellungen übertragen«, die ausführliche Problematisierung des Sprachursprungs (Diskurs über die Ungleichheit, Erster Teil, 117 ff.). 88 Vgl. ebd., Vorwort, 57 ff.; Rousseaus Begriff »bürgerliche Gesellschaft« (société civile) ist Inbegriff der »politisch-verfaßten Gesellschaft«, die diesseits des »Naturzustands« (état de nature) liegt, aber »keiner bestimmten historischen Epoche oder besonderen Gesellschaftsformation zugeordnet« ist (Kommentar des Herausgebers Meier, Zweiter Teil, 172, Anm. 214). 89 Vgl. Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 147 f. 90 Vgl. (auch zum Folgenden) ebd., 149 ff. 91 Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Erster Teil, 161. 85 86

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Weg einschlagen, welchen uns die natürliche Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten selbst vorzuschreiben scheinet«. Iselins Beschreibung eines von sinnlichen Trieben beherrschten »thierischen Standes« orientiert sich an den leitenden Kategorien und »empirischen« Schlußfolgerungen Rousseaus, und er verknüpft sie mit der für seinen Text konstitutiven Analogie zur individuellen Entwicklungspsychologie.92 Im Unterschied zu Rousseau weist aber Iselin seine Beschreibung auch im Gestus der Sprache als eine konditionale, nur hypothetische Geltung beanspruchende Konstruktion aus.93 Und er unterstreicht im abschließenden Resümee, daß die Geschichte, mit der Rousseau »indessen nichts zu schaffen haben will«, »uns hier nicht genug Licht« geben könne.94 Licht in das Dunkel des natürlichen Ursprungs bringt aber auch nicht die ethnographische Empirie, da alle gegenwärtigen »wilden« Menschen, auch dies hatte schon Rousseau herausgearbeitet,95 »einen schon weitern Schritt in der Menschlichkeit gethan« haben. Man muß Iselins Text schon aufmerksam lesen, um bereits auf dieser Argumentationsstufe den eher beiläufig eingestreuten Widerspruch gegen Rousseau zu entdecken, etwa wenn Iselin feststellt, daß Rückschlüsse auf einen »thierischen Stand« mit Hilfe ethnographischer Beispiele fragwürdig sind. Trotz seiner Vorbehalte hatte nämlich Rousseau diese Methode praktiziert. Eine auf solch zweifelhafte Beispiele gegründete Schlußfolgerung aber, so Iselins Einwand, berechtige keineswegs zu behaupten, daß die Natur den »bloß thierischen Menschen« dazu bestimmt habe, »beständig in diesem Stande zu verbleiben, und in denselben diejenige Glückseligkeit einzuschränken, nach welcher ein jedes einzelne denkende Wesen mit einer so feurigen Unruhe ringet«. Ausgehend von der »gesunden Philosophie« Buffons, auf den sich auch Rousseau als Autorität bezieht,96 sowie der »Natur der Seele selbst«,97 gibt Iselin Rousseau die Vgl. Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 150 ff. Beinahe jeder Satz der Beschreibung enthält mehrfach die Konditionalform, vgl. etwa ebd., 153: »Mit irgend einem Wesen seiner Art insbesondere würde dieser thierische Mensch keine andere Gemeinschaft verlangen, als in so fern es die flüchtige Vergnügung eines unbestimmten Triebes zur Fortpflanzung erheischen würde. Das Andenken und die Kenntniß der Gutthäterin, welche ihm das lebhafteste Vergnügen gewähret haben würde, dessen er fähig ist, würde bey ihm kaum länger dauern, als der Augenblick des Genusses«. 94 Vgl. (auch zum Folgenden) ebd., 157 ff. 95 Vgl. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Zweiter Teil, 191. 96 Vgl. ebd., Anm. II zum Vorwort, 277. Allerdings folgt Rousseau in seiner anthropologischen Grundposition gerade nicht Buffon (vgl. den Kommentar von Meier, ebd. 276 f., Anm. 343). 97 Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 161. Auf Buffons De la nature de l’homme (Paris 1752), den sechsten Band der Histoire naturelle (1749 ff.), beruft sich Iselin auch bei seinen ethnographischen Belegen häufig. Er hatte Buffon anläßlich seiner Parisreise 1752 persönlich kennengelernt (vgl. Im Hof, Isaak Iselin, Sein Leben und die Entwicklung seines Denkens, Tl. 1, 114 f., zu Iselins Buffon-Lektüre ebd., Tl. 2, 330 f.). 92 93

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»unbedingte Möglichkeit« eines »thierischen Standes« zu.98 Er bestreitet aber entschieden, es sei empirisch belegbar oder auch nur möglich, daß der Mensch »eine lange Zeit in so enge Gränzen« eingeschränkt gewesen ist. Gerade das aber hatte Rousseau immer wieder betont.99 Rousseaus natürlicher Mensch besitzt die Perfektibilität, jene »Fähigkeit, sich zu vervollkommnen«, die den Menschen vom Tier unterscheidet, nur der »Möglichkeit nach«. Die Perfektibilität, auf die alle Tugenden und Fähigkeiten der »bürgerlichen Gesellschaft« zurückgehen, konnte »sich niemals von selbst entwickeln«; es bedurfte dazu des »zufälligen Zusammentreffens mehrerer äußerer Ursachen«, »die auch niemals hätten entstehen können« und ohne die der natürliche Mensch »ewig in seinem anfänglichen Zustand geblieben wäre«.100 Die Auszeichnung von Rousseaus »Perfektibilität«101 als ein »Trieb zur Vollkommenheit«, dessen Entfaltung nicht von zufälligen Bedingungen abhängig ist, der vielmehr ein von der »Natur dem Menschen eingeflößter«, durch göttliche Providenz vorgeschriebener Naturtrieb ist,102 beherrscht nicht nur Iselins Konstruktion der Geschichte der Menschheit.103 Die Perfektibilität treibt den Menschen von Anfang an, gleichsam »naturwüchsig«, zur Vervollkommnung seiner Fähigkeiten. Statt ein »unseliges Werkzeug«104 zu sein, das nach Rousseau den Verfall der menschlichen Art verursacht,105 ist die Perfektibilität nach Iselin gerade umgekehrt die Bedingung der Möglichkeit für die Glückseligkeit des Menschen. Aus ihrer Unterdrückung kann nur Unglück erwachsen. So müßte der ausgewogene, glückliche Naturzustand Rousseaus, wäre er denn Wirklichkeit,106 geradezu der unglücklichste Zustand der Menschheit Vgl. (auch zum Folgenden) Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 162 ff., Drittes Buch, 327 f. 99 Vgl. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Erster Teil, 131 ff. 100 Ebd., 103 u. 167. 101 Rousseau entwickelt den Neologismus »perfectibilité« in Analogie zu »sociabilité«, d. h. zur Soziabilität als dem konstitutiven Naturzustandstheorem der Naturrechtstheorie (vgl. den Kommentar von Meier in: ebd., 103 f., Anm. 128). Zur Rezeptionsgeschichte des Neologismus in Deutschland Wilhelm Voßkamp, Perfectibilité und Bildung. Zu den Besonderheiten des deutschen Bildungskonzepts im Kontext der europäischen Utopie- und Fortschrittsdiskussion, in: Europäische Aufklärung(en). Einheit und nationale Vielfalt, hg. v. Siegfried Jüttner u. Jochen Schlobach, Hamburg 1992, 117–126. Zur Begriffsgeschichte Gottfried Hornig, Perfektibilität. Eine Untersuchung zur Geschichte und Bedeutung dieses Begriffs in der deutschsprachigen Literatur, in: Archiv für Begriffsgeschichte 24 (1980) 221–273. 102 Vgl. Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 166. 103 Dazu Verf., Zur Idee einer Geschichte der Menschheit, 283 f. 104 Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 165. 105 Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Zweiter Teil, 195. 106 Gäbe es einen solchen Zustand wirklich, so Iselin, müßte unter der wahrscheinlichen Voraussetzung, »daß neben einem solchen Volke ein anders wohne, welches seine Fähigkeit nur um einen geringen Grad höher gebracht hätte«, »aus unserm Glückseligen« das werden, »was Herr Rousseau für den Menschen so sehr fürchtet; Sclaven oder Lastthiere. Sie würden sich gegen andre Menschen 98

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sein. Wenn der Mensch »also nur durch die Unterdrückung einer ihm wesentlichen Neigung ein Mensch bleiben kann; wenn seine Glückseligkeit darinn besteht, diesen Trieb nicht zu empfinden; so hängt dieser kostbare Vorzug von einer unmöglichen Bedingnis ab; so bleibt dem elenden Sterblichen so bald er zu sich selbst kömmt, nichts weiter übrig, als die Verzweiflung«. Und: »Wenn also der Mensch des Herrn Rousseau ein wirkliches Ding wäre; so würde dennoch seine Glückseligkeit nichts weniger als wünschenswert seyn. Sie würde den Namen der Glückseligkeit nicht verdienen, welche nur eine späte und kostbare Frucht der Tugend und der Weisheit seyn kann«.107 D. Naturzustand und bürgerliche Gesellschaft »Wenn die Natur uns dazu bestimmt hat, gesund zu sein, so wage ich beinahe zu versichern, daß der Zustand der Reflexion ein Zustand wider die Natur ist und daß der Mensch, der nachsinnt, ein depraviertes Tier ist«.108 Diese radikale Konsequenz, die Rousseau aus seiner Problematisierung der reflexiven Aufklärung gezogen hatte, zitiert Iselin, und zwar den vollen Wortlaut des französischen Originals, erst am Ende der Auseinandersetzung mit Rousseaus »thierischem Stand«.109 Von der extremsten Zuspitzung der Kritik ausgehend, die Rousseau an den Folgelasten der Perfektibilität geübt hatte,110 stellt Iselin, Rousseaus zur Verzweiflung führende Position einem Spiel ironischer »Tröstungen« aussetzend, seinen Lesern die optimistische Perspektive in Aussicht, die sich aus seiner Geschichte der Menschheit ergeben wird. »Wir wollen uns deshalben über das Unglück, welches uns in den Stand des verdorbenen und denkenden Menschen gestürzet hat, trösten. Wir wollen uns geduldig einem unveränderlichen Gesetze der Natur unterwerfen. Wir wollen es unsern Voreltern verzeihen, daß sie uns die unserer Sehnsucht so würdige Tummheit verscherzt haben«.111 Erst im Rückblick werde sich vollends erweisen, daß es nicht unsere »Voreltern« waren, die – als sie den »seligen« Naturzustand Rousseaus verlassen haben – einem Irrtum verfallen sind. Der Irrtum liege vielmehr bei Rousseau und seiner Konstruktion eines weder wehren können, noch wollen, oder sie müßten auch aus ihrem beneidungswürdigen Stande treten« (Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 167 f.). Iselin mißachtet hier bezeichnenderweise Rousseaus Prämisse, daß die (solitären) Menschen des Naturzustandes gerade nicht in Gemeinschaft leben. 107 Ebd., 166 u. 168 f. 108 Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Erster Teil, 89. 109 Vgl. Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 169. 110 Die Stelle, so Meier, »gehört zu den am meisten zitierten, kommentierten und attackierten Passagen des Discours« (Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Erster Teil, 90, Anm. 110). 111 Vgl. (auch zum Folgenden) Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 169 ff.

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tierischen Standes des Menschen, der »ein Unding« ist, »welches die Natur nicht kennet«. Um den aufgeklärten Optimismus von allen Zweifeln zu befreien, mit denen der Citoyen de Genève nicht nur die »menschenfreundliche Gesellschaft in der Schweiz« irritiert und provoziert hatte,112 setzt sich Iselin mit einem weiteren Paradox Rousseaus auseinander. Dieser hatte einerseits den Menschen des »anfänglichen Zustandes« – »von der Natur in gleicher Entfernung zur Stupidität des Viehs wie zur unheilvollen Einsicht und Aufgeklärtheit des bürgerlichen Menschen plaziert« – als ein »sanftmütiges«, durch »natürliches Mitleid« ausgezeichnetes Wesen geschildert.113 Andererseits jedoch war gerade nicht dieser Zustand die glücklichste und dauerhafteste Epoche, sondern die Zeit, als die Perfektibilität (sowie die mit ihr verbundenen negativen Eigenschaften) sich schon zu entwickeln begann, also die Menschen bereits auf der Schwelle zur bürgerlichen Gesellschaft standen; eine »Periode der Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten«, so die engere Fassung der Figur harmonischer Ausgewogenheit, welche »die rechte Mitte zwischen der Indolenz des anfänglichen Zustandes und der ungestümen Aktivität unserer Eigenliebe hielt«. An diesem Punkt hatten sich nach Rousseau »beinahe alle Wilden« vor der europäischen Eroberung befunden, und ihr Beispiel »scheint zu bestätigen, daß das Menschengeschlecht dazu geschaffen war, für immer in ihm zu verbleiben«. Deshalb hätten die Europäer, wie Rousseau in einer langen Anmerkung ausführt, auch keinen einzigen »Wilden« für die Zivilisation gewinnen können.114 Iselins Auslegung dieser gegensätzlichen Charakterisierungen ist Thema eines zweiten Argumentationsstrangs des Buchs über den Naturzustand.115 Eröffnet wird er wie folgt: »Wir müssen also eine Stuffe höher steigen, um den Menschen in dem Stande der Natur zu suchen«.116 Iselin läßt sich auch hier zunächst auf Rousseaus Hypothesen ein. Erneut setzt er den »thierischen Stand« als wirklichen Ausgangspunkt der Entwicklung des Menschen voraus (»Wir wollen den Grad der Menschheit, den

Von den Personen, die auf das Ansuchen der Société Citoyens, korrespondierende Mitglieder zu werden, antworteten, war Rousseau der einzige, der das Unternehmen nicht begrüßte und eine Mitarbeit ablehnte; vgl. Ulrich Im Hof (unter Mitarbeit von Adrian Hadorn u. Cristine Weber-Hug), Die Entstehung einer politischen Öffentlichkeit in der Schweiz. Struktur und Tätigkeit der Helvetischen Gesellschaft, Frauenfeld 1983, 35. 113 Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Zweiter Teil, 191. 114 Vgl. ebd., 193, 195 u. Anm. XVI, 373 ff. 115 Vgl. Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 171–218. Im folgenden interessiert nur Iselins Auslegung dieser gegensätzlichen Kontrastierungen, nicht aber, welche Bedeutung ihnen in einer modernen Interpretation von Rousseaus Text zugesprochen wird (dazu der Kommentar von Meier in: Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Zweiter Teil, 194, Anm. 239). 116 Vgl. Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 171 f. 112

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wir erst betrachtet haben, als eine Wirklichkeit annehmen«) und skizziert im folgenden, die Schlußfolgerungen Rousseaus aufgreifend, die allmähliche, sukzessive Entfaltung der Perfektibilität, die dieser der »Epoche einer ersten Revolution« zugeordnet hatte. Es entwickeln sich die Geselligkeit und die Selbstliebe mit den ihnen korrespondierenden Fähigkeiten, es entstehen erste Formen von Eigentum und sozialer Ordnung (»woraus vielleicht schon viele Streitereien und Kämpfe entstanden«).117 Und Iselin illustriert diese Entwicklung wie Rousseau mit Hilfe von »Beyspielen ungesitteter Völker«.118 »Wir können ohne Bedenken«, heißt es in einem ersten Resümee, »als eine Hypothese, vielleicht gar als eine Wirklichkeit annehmen, daß, wie ein jeder einzelner Mensch nur durch das kindische Alter zu dem höhern Verstande gelangen kann; auch jedes Volk seinen kindischen Zeitpunct habe, durch den es sich zu einem vollkommnern Zustande hindurch arbeiten müsse«. Ohne Bedenken könne man aber auch daraus folgern, daß den Menschen des entwickelten Standes »weit mehrere Quellen von angenehmen Empfindungen offen stehen als demjenigen, der in dem bloß thierischen Stande des Herrn Rousseau leben würde«.119 Daß auch Rousseau diese Schlußfolgerung gezogen hatte, deutet Iselin als Eingeständnis der eigenen Widersprüchlichkeit: »Dieser berühmte Bürger von Genf selbst hat sich genöthigt gesehen, seinen Menschen über die niedre Sphäre empor zu heben, in welche er ihn nach seinen ersten Grundsätzen verbannet hat. Es scheinet, er habe empfunden, wie unwürdig er den Adel der menschlichen Natur heruntergesetzt habe«. Zur Kontrastierung der widersprüchlichen Charakterisierungen Rousseaus heißt es unmittelbar zuvor: »In diesem Stande der Einfalt würde also der Mensch bey wenigen Mißvergnügen weit mehrere und lebhaftere Vergnügen geniessen als in den engen Schranken, in welche er sich, nach Herrn Rousseau, so sehnlich zurückwünschen sollte«.120 Selbst Rousseau beantwortet damit die Frage, ob der tierische Stand oder aber die auf ihn folgende Epoche einer ersten Revolution glücklicher ist, zugunsten der sich entwickelnden Perfektibilität. An diesem Punkt der Argumentation, im Szenarium einer mit Hilfe rhetorischer Strategien verschärften Konfrontation von Rousseaus paradoxen Urteilen, formuliert

Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Zweiter Teil, 181. Allerdings gilt auch hier die Einschränkung: »Selten aber sind dieselben ganz ohne Vermischung solcher Fähigkeiten gefunden worden, welche grössre Fortgänge der Menschheit anzeigen« (Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 182). Und wie ebenfalls schon bei der Auseinandersetzung mit Rousseaus »thierischem Stand« vertraut Iselin auch hier auf die durch Analogien zur individuellen Kindheit entworfene Empirie (vgl. ebd., 171, 182) sowie zusätzlich auf das Beispiel der »niedersten Classen der gesitteten Nationen« (181). 119 Ebd., 186 f. 120 Ebd., 191. 117 118

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Iselin den entscheidenden Widerspruch zu Rousseaus »Lehrgebäude«.121 Was Rousseau für den ursprünglichen Menschen des Naturzustands als Grundtrieb vorausgesetzt hatte, das »Befördere dein Wol mit so wenig Nachtheil deines Nächsten, als es möglich ist«,122 zeigt sich Iselin als eine Projektion späterer gesellschaftlicher Zustände auf den Naturzustand; d.h. als ein Konstrukt, das mit den Übertragungen der traditionellen Naturrechtstheorie, die Rousseau kritisiert hatte, durchaus vergleichbar ist. Das Empfinden eines solchen Grundtriebes, so Iselin, erfordere »nicht nur Ueberlegung, sondern so gar eine mathematische Berechnung«.123 Diese rationalistische Auslegung von Rousseaus Mitleidsmaxime steht in bezeichnendem Kontrast zur Definition, die Iselin an die Stelle von Rousseaus »Grundtrieb der menschlichen Seele» setzt. Auch sie geht vom Mitleiden aus. Indem Iselin aber im Mitleiden die »Quelle aller geselligen Empfindungen« erkennt und »in der ersten Anlage der menschlichen Fähigkeiten die Keime der geselligen Empfindungen bereits wirksam« sieht, wendet er sich gegen Rousseaus Ablehnung des traditionellen Prinzips der Soziabilität als Grundlage des Naturrechts.124 Im Kontrast zu Rousseaus statisch inszeniertem Naturzustand profiliert Iselin den »niedrigsten Grade der Menschheit« als eine Entwicklungsphase, die sich in zweifacher Weise von Rousseaus tierischem Stand unterscheidet. Der Mensch ist »gänzlich der Sclave der Sinne«, der jenes Niveau moralischer Empfindungen, das nach Rousseau als natürliches Gefühl zu seiner anthropologischen Grundausstattung gehört, noch nicht erreicht hat.125 Zugleich aber sind die Begierden dieses Menschen keineswegs, wie sich dies Rousseau in jenen, die »tugendhafte« Aufklärung beunruhigenden Bildern ausgemalt hatte, »auf die Nahrung, auf die Ruhe, und auf ein Weibgen eingeschränkt«.126 Charakteristisch für den folgenden »zweyten Grad der Menschheit« sind für Iselin die »Erhöhung der geselligen Gefühle«, die schnelle Entfaltung der Einbildungskraft und die allmähliche Ausbildung höherer Seelenkräfte mit den ihnen korrespondierenden moralischen und sozialen Ordnungsformen wie der Familie.127 Iselins Beschreibung dieses zweiten Grades der Menschheit ist auch dort, wo sie sich der Ebd., 191–195: «Fernere Betrachtung über des Herrn Rousseau Lehrgebäude«. So Iselins Übersetzung (ebd., 192) der berühmten, das »natürliche Gefühl« des Mitleids ausdrückenden Maxime, die Rousseau an die Stelle der »erhabenen Maxime der durch Vernunft erschlossenen Gerechtigkeit«, d. h. eines der zentralen Gebote der Naturrechtslehre, setzt (Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Erster Teil, 151, sowie die Kommentare von Meier, Anm. 184, 187). 123 Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 191 f. 124 Vgl. ebd., 194 f. 125 Vgl. ebd., 171 ff. u. 191 ff. 126 Ebd., 191 (nach Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Erster Teil, 107; bei Iselin findet sich hier kein Stellennachweis) u. 187 ff. (Konfrontation mit Rousseaus »thierischem Menschen«). 127 Vgl. Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 195 ff. 121 122

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Grundkategorien der Individualpsychologie bedient, deutlich von Rousseaus Darstellung der Schwellenzeit vor der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft geprägt. Der zweite Grad der Menschheit entwickelt sich am Ende des Naturzustandes.128 Er entspricht der revolutionären Inkubationszeit, die Rousseaus zweiter »großer« Revolution,129 dem Übertritt in die bürgerliche Gesellschaft, vorangeht. Doch eröffnet eben dieser Übertritt für Iselin die Aussicht auf eine glückliche Zukunft. Unter diesem optimistischen Gesichtspunkt betrachtet, zeigt sich deshalb auch der Geist der Menschen, die dieser Epoche (noch) verhaftet sind, »in einer tiefen Schlafsucht«, ihr »Gemüth in einer abscheulichen Rohigkeit«.130 Es ist die Schwellenzeit vor Beginn der bürgerlichen Gesellschaft, die die beiden Naturzustandsforscher Rousseau und Iselin aus entgegengesetzten Blickwinkeln wahrnehmen und beurteilen. Rousseau zeichnet sie als Kontrastfigur zur folgenden Katastrophe, als ein lang dauerndes, auch rhetorisch verzögertes Innehalten vor dem Sturm, in dem das Glück des Menschen unwiederbringlich verlorengeht (»Die Metallurgie und der Ackerbau waren die beiden Künste, deren Erfindung diese große Revolution hervorbrachte«).131 Dagegen gestaltet sie Iselin als eine Art unruhiger Pubertätsphase voll widersprüchlicher, nervöser Spannungen, die nach einer Lösung und ausgleichenden Harmonie drängen, welche die »Fortgänge« des bürgerlichen, des »gesitteten« Standes bringen werden. Mit sittlicher Disziplinierung hatte sich der von Rousseaus Lehrgebäude affizierte Iselin der Paradoxe entledigt, die sein Nachdenken über die Geschichte der Menschheit angetrieben hatten.132

»Hier scheinet der eigentliche Stand der Natur, der Stand, in welchem das blosse Gesetz des Triebes den Menschen beherrschet, aufzuhören« (ebd., 215). 129 Vgl. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Zweiter Teil, 197. 130 Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Zweytes Buch, 216 f. (bezogen auf die Völker, bei denen die »Samen der grossen Fähigkeiten, welche in der Seele liegen«, nach dem Ausgang aus dem Naturzustand »zernichtet, oder vergiftet« wurden). 131 Vgl. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, 193 ff. (dazu der Kommentar von Meier, 196, Anm. 242). 132 Zu Iselins intensiver, zwischen Ablehnung und Verteidigung schwankender Auseinandersetzung mit Rousseaus Schriften in den Jahren vor Abfassung der Geschichte der Menschheit Im Hof, Isaak Iselin. Sein Leben und die Entwicklung seines Denkens. Tl. 2, 332 ff. Obwohl Im Hof dazu tendiert, Rousseaus Einfluß auf Iselin zu marginalisieren (Rousseau ist »ein Thema, das irgendwo außerhalb der normalen Linie von Iselins Denken liegt«, 332), räumt er doch ein, daß die Ablehnung Rousseaus für Iselin ein »Problem« war: »denn in vielen Punkten fühlte er sich ihm recht nahe« (343). 128

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2. Geschichtsphilosophische Komplizierung: Christoph Martin Wieland und Jean-Jacques Rousseau In der 1779 publizierten Ausgabe von Iselins Geschichte der Menschheit, der letzten, die zu seinen Lebzeiten – Iselin starb 1782 – erschien und von ihm nochmals überarbeitet worden war, kann man folgenden neu eingefügten Fußnotenkommentar zu Iselins Rousseau-Kritik lesen: »Vielleicht ist mehr als die Hälfte von demjenigen dermals überflüssig, was hier über das bald vergessene System des Hr. Rousseau gesagt wird. Allein bey der ersten Auflage der G. d. M. (1764) war dieses System noch neu«.133 Iselins Erwartung, daß Rousseaus System bald vergessen sein wird, hat sich nicht erfüllt. Seit Lessings schon 1755,134 also im selben Jahr des Erstdrucks, erschienener Rezension ist speziell der Diskurs über die Ungleichheit ein Grundlagentext, der in Deutschland bis zu den großen Systemen der Meisterdenker des 19. Jahrhunderts das geschichtsphilosophische Denken und Schreiben antrieb. Moses Mendelssohn übersetzte den Text 1756 ins Deutsche, erläutert durch ein kritisches Sendschreiben an den Herrn Magister Lessing.135 Iselin korrespondierte mit Mendelssohn und bewunderte dessen Schriften, im ersten Buch der Geschichte der Menschheit bezog er sich auf ihn öfters als philosophische Autorität. Daß er für seine Rousseau-Kritik auch Mendelssohns Sendschreiben auswertete, legen zahlreiche Parallelen in den Argumentationen nahe. Mendelssohn wiederum verfaßte in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek über Iselins Geschichte der Menschheit eine glänzende Würdigung und bezeichnete dessen Rousseau-Kritik als »die gründlichste Widerlegung der Rousseauschen Meynungen«.136 Ebenfalls auf Mendelssohns Sendschreiben bezog sich Thomas Abbt, als er aus dem »reichen Stof«, den die Algemeine Welthistorie (also die Universal History) zur Verfügung gestellt hatte, einen Auszug für »philosophische Menschenbeobachter« veranstaltete. Der Nachvollzug der »labyrinthischen« philosophischen Argumente zum Ursprung des Menschen unter Absehung der biblischen »Nachrichten« bestätig-

Iselin, Geschichte der Menschheit, Zweytes Buch (Abschnitt «Trost«), 175; hier zitiert nach der Ausgabe Carlsruhe 1784, d. h. dem unveränderten Nachdruck der Basel 1779 erschienenen Ausgabe letzter Hand. 134 Lessing rezensierte sowohl Rousseaus ersten als auch dessen zweiten Discours; vgl. Ulrich Kronauer, Der kühne Weltweise. Lessing als Leser Rousseaus, in: Jaumann (Hg.), Rousseau in Deutschland, 23–45, hier 30 ff. 135 Moses Mendelssohn: Johann Jacob Rousseau Bürgers zu Genf Abhandlung von dem Ursprunge der Ungleichheit unter den Menschen, und worauf sie sich gründe; ins Deutsche übersetzt mit einem Schreiben an den Herrn Magister Leßing und einem Briefe Voltairens an den Verfasser vermehret, Berlin 1756. 136 Zitiert nach Holger Jacob-Friesen, Profile der Aufklärung. Friedrich Nicolai – Isaak Iselin. Briefwechsel (1767–1782). Edition, Analyse, Kommentar, Bern u. a. 1997, 159; vgl. auch das Lob Nicolais, ebd., 169 (u. ö.). 133

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te Abbt im Abschnitt »Allerhand Muthmassungen über den ältesten Zustand der Menschen« die Haltlosigkeit des »blossen Philosophen« sowie die Überlegenheit eines auf die »vernunftgemäße« Auslegung der mosaischen Bücher vertrauenden Anfangs der Geschichte.137 Man kann die als Arbeit an einer Geschichte der Menschheit dokumentierbare Frühphase der deutschen Geschichtsphilosophie als ein Projekt verstehen, die bald zum Schlagwort gewordenen Rousseauschen »Paradoxe«138 zu widerlegen, zu differenzieren, weiterzuentwickeln oder auch zu kompensieren und »aufzuheben«. Insofern ist Martin Peters Urteil (»In Reaktion auf Rousseaus Abhandlungen der 50er Jahre bildet sich eine neue historiographische Form, die Geschichte der Menschheit, aus«)139 zuzustimmen, wenngleich es sehr heterogene Werke waren, die unter dem Titel Geschichte der Menschheit verfaßt wurden. So greifen etwa die von Peters untersuchten Beispiele Christoph Meiners und August Ludwig Schlözer das neue Stichwort nur auf, um ihre eigenen Modelle zu profilieren (Meiners die Völkerkunde, Schlözer die Weltgeschichte) und gegen jenes Modell bzw. Begriffsverständnis abzugrenzen, das seit Iselin und Herder mit »Geschichte der Menschheit« verknüpft war: nämlich Geschichtsphilosophie. Entgegen der heute gängigen, wortgeschichtlich begründeten Auffassung wurde die Initiationsphase der deutschen Geschichtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht von den »Räsonnements« beherrscht, mit denen Voltaire, der Schöpfer der Wortverbindung »Philosophie de l’histoire«, die Geschichte philosophisch ausleuchtete. Auch hier, wie bei vielen, für die Genealogie historischer Formen und Methoden von deutschen Gelehrten eingesetzten Interpretamenten gab Friedrich Meinecke die Orientierung vor: »Das so glücklich geprägte neue Wort wurde die Keimzelle neuer geistiger Gebilde, von denen Voltaire noch nichts ahnte, eine Aufforderung an die Zukunft, es mit Inhalten zu füllen, die er nie verstanden hätte«.140 Meineckes ausführliche Behandlung von Voltaire in einem Kapitel von Die Entstehung des Historismus prägte und prägt ganz generell die moderne deutsche Auffassung von Voltaires großem Einfluß auf die Aufklärungshistorie und frühe Geschichtsphilosophie.141 Vgl. Abbt, Fragment der Aeltesten Begebenheiten des menschlichen Geschlechts, 1ff., 36–48. Vgl. ihre »Zitierung« in Herders Montagetext Journal meiner Reise im Jahr 1769 (Werke, Bd. 1, hg. v. Pross, 355–465, hier 423, 431 f., 447). 139 Martin Peters, Möglichkeiten und Grenzen der Rezeption Rousseaus in den deutschen Historiographien. Das Beispiel der Göttinger Professoren August Ludwig von Schlözer und Christoph Meiners, in: Jaumann (Hg.), Rousseau in Deutschland, 267–289, hier 275. 140 Meinecke, Die Entstehung des Historismus, 76; ganz ähnlich sieht das noch Muhlack, Geschichtswissenschaft, 137 ff. 141 Eine besonders grobe Variante dieses Deutungsmusters findet sich bei Bollenbeck (Bildung und Kultur, 77): »Alle großen historiographischen Leistungen des 18. Jahrhunderts stehen unter dem Einfluß Voltaires«. 137 138

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In der zeitgenössischen deutschen Rezeption (der Historiker und Philosophen) war Voltaire jedoch vor allem als unkritischer, als »romanhafter» Historiker präsent.142 Rousseau dagegen räumt Meinecke nur eine Seite ein, doch ist ihm die einflußreiche deutsche Rezeption von Rousseaus »Irrtum über den Charakter des Naturmenschen« nicht entgangen. Er hat für sie eine elegante Erklärung parat: Sie gehört »zu den produktiven Irrtümern der Geistesgeschichte«.143 Entgangen ist Meinecke allerdings, daß es Rousseaus Hypothesen zum Naturzustand und die daraus gezogenen Folgerungen zur Entstehung und Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft (und nicht die Wortprägung »Philosophie de l’histoire« seines großen Gegenspielers Voltaire) waren, welche die deutsche Philosophie zur geschichtsphilosophischen Bewältigung anspornten.144 Die Geschichte dieser reichen und vielfältig verschlungenen Auseinandersetzung mit Rousseau, der in der Frühphase der deutschen Rezeption häufig nur als der »neue Philosoph« zitierte »kühne Weltweise« (so Lessing)145 oder aber: »wunderliche, dennoch hochachtungswürdige Sonderling« (so Wieland),146 kann hier nicht ausgeschöpft werden. Doch erlaubt es der besondere Charakter von Christoph Martin Wielands Menschheitsgeschichte, unterschiedliche Strategien und Methoden zu verdeutlichen, mit denen die durch Rousseaus Naturzustand aufgeworfenen Probleme des »mutmaßlichen Anfangs der Menschengeschichte« angegangen wurden. A. Geheime Geschichte der Menschheit Christoph Martin Wielands Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, erstmals 1770 publiziert,147 erzählen die Geschichte der Menschheit nicht, wie Iselin, als eine Entwicklungslinie, die von wilden Ursprüngen bis zur (zumindest überwiegend) verVon Voltaire, so etwa Miller (in der Vorrede zu Abbts Fragment der Aeltesten Begebenheiten des menschlichen Geschlechts, 20), »lernten wir die ältesten Begebenheiten eben so deutlich uns vorstellen, als wenn wir sie auf dem Theater bey Genev spielen sähen«. Weitere Belege solcher Polemiken bei Blanke u. Fleischer, Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie (vgl. Registerverweise zu Voltaire); vgl. auch die Thesen von Otto Dann, Voltaire und die Geschichtsschreibung in Deutschland (Thesen), in: Voltaire und Deutschland. Quellen und Untersuchungen zur Rezeption der Französischen Aufklärung, hg. v. Peter Brockmeier u.a., Stuttgart 1979, 463–467. 143 Meinecke, Die Entstehung des Historismus, 183, 361. 144 Dazu Günther Buck, Selbsterhaltung und Historizität, in: Geschichte – Ereignis und Erzählung, München 1973 (= Poetik und Hermeneutik V), 29–94. 145 Lessing in seiner Rezension des Diskurs über die Ungleichheit, erschienen in der Berlinischen privilegierten Zeitung (zitiert nach Kronauer, Der kühne Weltweise, 33). 146 Christoph Martin Wieland, Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit (zuerst 1770), hier benutzt im Bd. 14 der Ausgabe Sämmtliche Werke (39 Bde. u. 6 Supplementbde., Leipzig 1794–1811, ND Hamburg 1984), Leipzig 1795, 182. 147 Der Titel der Erstausgabe lautet: Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen 142

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nünftigen europäischen Gegenwart führt. Drei Beyträge erörtern aus verschiedenen Blickwinkeln Rousseaus Naturzustandstheorem und die daraus sich ergebenden Folgerungen,148 zwei (zwischen literarischer Fiktion und philosophischer Auslegung changierende) Beyträge erzählen und deuten eine »alte Mexikanische Sage«149 über die Ursprünge der Menschheit sowie die Geschichte einer Kolonisationsbewegung (»Reise des Priesters Abulfauris ins innere Afrika»),150 ein weiterer Beytrag setzt sich mit Auffassungen der Geschichte als Korruptions- und Dekadenzprozeß auseinander, u.a. als Kritik der theologischen Genesis-Auslegung, die Adam und den Patriarchen eine »ungeheure Größe« unterstellte.151 Ansonsten geht Wieland auf den biblischen Ursprung des Menschen nicht ein, zumindest nicht explizit. Für die Analogien zwischen der alten Mexikanischen Sage und der Genesis hinsichtlich der Sintflut verweist er ironisch auf Huët: »Hüet und seines gleichen würden kein Bedenken tragen, uns zu versichern, daß diese alte Mexikanische Sage nichts anders als eine durch die Länge der Zeit abgenutzte, und (nach Gewohnheit der blinden Heiden) mit Fabeln wieder unterlegte und ausgeflickte Nachricht von der Mosaischen allgemeinen Sündflut sey«.152 Man kann Wielands Geheime Geschichte der Menschheit als Problematisierung unterschiedlicher Formen und Methoden der Geschichtsauffassung und GeschichtsVerstandes und Herzens, 2 Theile, Leipzig 1770. Auch die späteren Ausgaben unterscheiden sich im Titel und in der Disposition der einzelnen Teile von der hier benutzten (von 1795); dazu Walter Erhart, »Was nützen schielende Wahrheiten?« Rousseau, Wieland und die Hermeneutik des Fremden, in: Jaumann (Hg.), Rousseau in Deutschland, 47–78, hier 48/Anm. 4. Weitere Ausgaben erschienen (anonym) unter dem Titel: Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens. Aus den Archiven der Natur gezogen, 2 Bde., Reuttlingen 1776 (auch: Carlsruhe 1776 u. ö.). Zu Wieland als Geschichtsphilosoph Susanne Wipperfürth, Wielands geschichtsphilosophische Reflexionen, Frankfurt a. M. u. a. 1995 (über die Beyträge 33–48). 148 Betrachtungen über J.J. Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen, in: Wieland, Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, 119–175; Über die von J.J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche den wahren Stand der Natur des Menschen zu entdecken nebst einem Traumgespräch mit Prometheus, in: ebd., 177–235; Über die Behauptung, daß ungehemmte Ausbildung der menschlichen Gattung nachtheilig sey, in: ebd., 237–288. 149 Koxkox und Kikequetzel, eine Mexikanische Geschichte. Ein Beytrag zur Naturgeschichte des sittlichen Menschen, in: Wieland, Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, 3-118. In der Ausgabe von 1770 ist dieser Beytrag die (in einen Einleitungs- und Schlußteil aufgegliederte) Rahmengeschichte. 150 Dieser (zweiteilige) Beytrag ist in der Ausgabe von 1770 Bestandteil der Geheimen Geschichte, wurde aber in der Edition von 1795 ausgegliedert und dem Bd. 15 (Vermischte prosaische Aufsätze, Leipzig 1795) der Sämmtlichen Werke zugeordnet: Reise des Priesters Abulfauris ins innere Afrika, 1–28; Die Bekenntnisse des Abulfauris gewesenen Priesters der Isis in ihrem Tempel zu Memfis in Nieder-Ägypten. Auf fünf Palmblättern von ihm selbst geschrieben, 29–66. 151 Über die vorgebliche Abnahme des menschlichen Geschlechts, in: Wieland, Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, 289–334 (dieser Beytrag ist nicht Bestandteil der Erstausgabe, er erschien erst 1777), hier 312 ff. (anknüpfend an Bayles Dictionnaire-Artikel zu Adam). 152 Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, 6 f.

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philosophie lesen, die in seiner Zeit kursierten und sich als ein durch Rousseaus Diskurse aufgeladenes Spannungsgefüge darstellten.153 Als Philosophieprofessor in Erfurt hat Wieland ein Jahr vor der Publikation der Geheimen Geschichte, im Sommersemester 1769, über die »Philosophie der Geschichte«154 gelesen. Die – zum Zweck einer Vorlesung damals notwendige – Textvorlage war Iselins Geschichte der Menschheit, und Wieland unterzog sie, glaubt man späteren Berichten, einer vernichtenden Kritik: »Wieland las über Iselin die Geschichte der Menschheit, widerlegte ihn vier Wochen, dann warf er ihn ganz weg; denn er hatte das Collegium in Erfurt angeschlagen, ohne Iselin selbst genau gelesen zu haben«.155 Doch mit der Geheimen Geschichte der Menschheit hat Wieland Iselins Rousseau-Lektüre bzw. Rousseau selbst nicht in Form eines neuen Konzepts zu übertrumpfen versucht. Vielmehr hat er die Begründungsweisen der Geschichtsphilosophien und insbesondere deren Auswertung von historischen und ethnographischen Materialien sowie die psychologischen und sozialen Wahrnehmungsbedingungen der Verfasser solcher Texte auf schon für seine Zeitgenossen irritierende Weise problematisiert.156 Wielands Geschichte der Menschheit im »Harlekinskleid«, wie Iselin die Geheime Geschichte in einem Brief an Salomon Hirzel nannte,157 setzt also den vorliegenden Texten nicht, wie vier Jahre später Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte entgegen. Wieland stellte die Begründungen und Wahrnehmungsweisen der neuen Geschichtsphilosophie in Frage, die in der Geheimen Geschichte als philosophische Versatzstücke und fiktionale Vexierbilder präsent sind. Die Geheime Geschichte erzählt die »ganze Geschichte« als ein reflexives Spiel mit konstitutiven geschichtsphilosophischen Figuren: dem Ursprung der Geschichte, der Entstehung von Kultur und Zivilisation, der Erfahrung fremder Neuer Welten und ihre geschichtsphilosophische Verarbeitung, die Verortung der Gegenwart im Gesamtverlauf der Geschichte. Rousseaus Naturzustandstheorem ist das geheime Zentrum von Wielands metakritischer Bestandsaufnahme. Seine Rousseau-Kritik wirkt auf den ersten Blick einfach gestrickt und konventionell.158 Erst im Verlauf der Lektüre, wenn sich die Argumente und Argumentationsebenen allmählich ineinander verschieben, zeigt sie sich als eine verwickelte, verspielte Denk- und Schreibbewegung, die sich unterschiedWalter Erhart hat dies (in »Was nützen schielende Wahrheiten?«) eindrucksvoll vorgeführt. Vgl. Blanke u. Fleischer, Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie, Bd. 1, 126, u. Bd. 2, 806; Im Hof, Isaac Iselin und die Spätaufklärung, 96 u. 297. 155 Karl August Böttiger, Literarische Zustände und Zeitgenossen, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1972 (ND der ersten Ausgabe v. 1838), Bd. 1, 211 (zitiert nach Erhart, »Was nützen schielende Wahrheiten?«, 50/Anm. 11); vgl. auch Im Hof, Isaac Iselin und die Spätaufklärung, 91, und Jacob-Friesen, Profile der Aufklärung, 210 f., 214 f. 156 Vgl. Erhart, »Was nützen schielende Wahrheiten?«, 55. 157 Vgl. Im Hof, Isaak Iselin und die Spätaufklärung, 296/Anm. 25. 158 Zur Bewertung der modernen Forschung Erhart, »Was nützen schielende Wahrheiten?«, 47 ff. 153 154

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licher strategischer und sprachlicher Mittel bedient bzw. diese aufruft: die psychologische Erklärung (Rousseau, ein »Filosof im siebenten Stockwerke« mit »gutherzigen« und »aufrichtigen« Absichten, dessen Kritik vom »Anblick der ausschweifendsten Üppigkeit und zügellosesten Verderbniß der Sitten« in Paris, »diesem modernen Babylon«, infiziert ist),159 die ironische Zuspitzung von Argumenten und das Ausmalen von Hinweisen, die bei Rousseau eher beiläufig erwähnt, von Wieland aber bis zum Absurden getrieben werden, wodurch die »ungeheuren Schwierigkeiten« Rousseaus sich in bloße »Fantome« verwandeln, schließlich die Überblendung von vernünftiger Argumentation und imaginierter Fiktion, etwa mittels der literarischen Einkleidung und Verschlüsselung philosophischer Probleme, deren überraschende Auflösung dann als die »natürlichste« Sache der Welt erscheint.160 Wieland bietet keine Lösungen an, eher verstreute Angebote an den Leser, selbst weiterzudenken. Er selbst stellt die Ergebnisse seiner Erörterung immer wieder in Frage, setzt sie neuen Perspektiven und Zusammenhängen aus. Wieland will nicht belehren, er läßt den Gedanken ihren Lauf, denn die »Freyheit zu filosofieren« ist ihm, »so lange wir nicht mit dem Rousseauschen Menschen in die Wälder« zurückkehren wollen, »eine der stärksten Stützen der menschlichen Wohlfahrt«. Sogar »der Irrthum selbst, diese nicht allezeit vermeidliche Krankheit der Seele, giebt Gelegenheit, den Mitteln besser nachzuforschen, wodurch er geheilt werden kann, und wird dadurch wohlthätig für das menschliche Geschlecht«.161 In welcher Weise Wieland von der »Freyheit zu filosofieren« Gebrauch macht, soll im folgenden im Blick auf Rousseaus Ursprungsgeschichte erläutert werden. Wie schon Iselin gibt auch Wieland Rousseau wesentliche anthropologische Grundsätze und methodische Prämissen zu. Die menschliche Natur gilt es nicht »in Systemen oder verfälschten Urkunden, sondern in der Natur selbst« zu studieren, spezifische Fähigkeiten des Menschen wie die Perfektibilität sind natürliche Anlagen.162 Doch mit Rousseaus bloß hypothetisch erschlossenem, natürlichem Menschen mag sich Wieland nicht zufriedengeben: »Wenn es erlaubt ist, über den ursprünglichen Stand des Menschen zu filosofieren, so muß sich diese Freyheit auch auf seinen Ursprung selbst erstrecken«, d.h. auf den empirisch überprüfbaren Ursprung,

Vgl. Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, 124 ff. Gegen die Figur des »gutherzigen« Misanthropen Rousseau steht bei Wieland Jonathan Swift, der sich im dritten Teil von Gulliver’s Travels (zuerst London 1726) als ein Misanthrop mit »muthwilligster Absicht« erweist (ebd. 168). Zu diesen gängigen psychologischen Stilisierungen Rousseaus Claus Süßenberger, Rousseau im Urteil der deutschen Publizistik bis zum Ende der Französischen Revolution. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte, Bern u. a. 1974. 160 Wieland, Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, 142, 230. 161 Ebd., 126. 162 Vgl. ebd., 169, 221 ff. 159

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»wo die ersten Menschen herkommen«.163 Diese Stelle und die nachfolgenden Ausführungen Wielands beziehen sich auf die berühmte Stelle in Rousseaus »Exordium«: »Es ist den meisten unserer Philosophen nicht einmal in den Sinn gekommen, daran zu zweifeln, daß der Naturzustand existiert hatte, während aus der Lektüre der Heiligen Schrift evident ist, daß der erste Mensch, da er unmittelbar von Gott Einsicht und Aufklärung und Gebote erhalten hat, selbst nicht in jenem Zustande war und daß, wenn man den Schriften Moses den Glauben schenkt, den ihnen jeder christliche Philosoph schuldet, man leugnen muß, daß die Menschen, selbst vor der Sintflut, sich jemals im reinen Naturzustand befunden haben, es sei denn, sie wären durch irgendein außerordentliches Ereignis in ihn zurückgefallen: Ein Paradoxon, das sehr schwer zu verteidigen und ganz unmöglich zu beweisen ist. Beginnen wir also damit, daß wir alle Tatsachen beiseite lassen, denn sie berühren die Frage nicht«.164 Daß Rousseau vorgibt, es komme ihm nicht auf Tatsachen an, ist für Wieland nicht nur im Blick auf die von Rousseau selbst praktizierte Methode, nämlich dessen Berufung auf ethnographische Empirie,165 problematisch. Wäre diese Frage ohne Relevanz für die philosophische Erörterung des Problems und mit dem Verweis auf die Offenbarung »ins Klare« zu setzen, dann, so Wieland, »hätte sich Rousseau seine ganze Untersuchung ersparen können«.166 Wieland löst die »verhaßtesten Paradoxe«167 Rousseaus nicht auf, stellt dessen Hypothesen keine empirische oder biblische Lösung der Frage nach dem »Ursprung selbst« entgegen. Doch will er vorführen, daß auch Rousseaus System auf empirische Evidenz angewiesen ist und diese keineswegs marginal für seine Schlußfolgerungen sowie deren große Wirkung ist. Eben deshalb muß es erlaubt sein, die Rousseauschen Hypothesen, trotz der verleugneten Relevanz der in sie eingeflossenen Erfahrungen, im Blick auf diese Erfahrungen zu hinterfragen. Wieland hat damit den Rahmen abgesteckt, in dem er die Paradoxe Rousseaus untersuchen möchte. Es geht um die Frage, ob die Hypothesen über den »ursprünglichen Zustand des Menschen« einer empirischen Überprüfung standhalten, besonders die Annahme Rousseaus, daß die Entfaltung der »verwünschten Vervollkommlichkeit«168 nicht natürlich, sondern bloß Ebd., 136 f. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Exordium, 71. 165 Wieland, Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, 135: »Ungeachtet Rousseau sich gleich Anfangs erklärt, daß es bey Untersuchung der akademischen Frage […] gar nicht auf Thatsachen ankomme: so scheint er doch in der Folge das Unschickliche davon selbst empfunden zu haben, und beruft sich daher einigemahl auf die Hottentotten, die Karaiben und die wilden Indier in Nordamerika; wiewohl in der That niemahls, wo es auf Befestigung seines Systems ankommt« (Wieland argumentiert hier also wie Iselin). 166 Ebd., 137. 167 Ebd., 125. Wieland charakterisiert hier also die »Paradoxe« hinsichtlich ihrer Rezeption. 168 Ebd., 133. 163 164

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von zufälligen Umständen abhängig ist (das war auch für Iselin der Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung). Denn mit dieser Hypothese, argumentiert Wieland, steht und fällt das ganze »Rousseausche System«: »Rousseau hätte vieler Bemühung des Geistes bey dieser Gelegenheit überhoben seyn können; denn wer in der Welt wird ihm die Folgen streitig machen, die er aus seiner Hypothese zieht? – Die Hypothese selbst ist es, was wir ihm geradezu wegläugnen«. Spreche nicht »alles, was wir seit etlichen tausend Jahren aus gemeinsamer Erfahrung von unserer Gattung wissen«, gegen eine solche Annahme?169 Die gemeinsame Erfahrung »etlicher tausend Jahre«, die Wieland gegen Rousseaus Hypothese stellt, ist die Soziabilität des Menschen, also die Eigenschaft, die Rousseau seinem »natürlichen« Menschen abgesprochen hatte.170 Wielands Frage lautet also genauer: Läßt sich mit dem von Rousseau angeführten Material, das seiner Hypothese empirische Evidenz verleiht, der Verzicht auf den »Trieb der Geselligkeit« als »ein wesentliches Stück der Menschheit«, als eine zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen gehörige Eigenschaft, rechtfertigen?171 Davon nämlich ist abhängig, ob der natürliche Mensch seine Anlage zur Perfektibilität von Anfang an entwickelte oder erst, wie Rousseau in einer Stelle des zweiten Discours schreibt, nach »Tausenden von Jahrhunderten«.172 Es ist der Verzicht auf die traditionelle naturrechtliche Prämisse von der Soziabilität des Menschen, der für Wieland alle weiteren »wunderlichen« Folgerungen von Rousseaus System nach sich zieht.173 Diesen Verzicht will Wieland in Frage stellen und das von Rousseau dafür vorgebrachte empirische Material auf seine Stichhaltigkeit hin überprüfen.

B. Der Wilde als anthropologische Grenzidee Die längste und (folgt man einer modernen Perspektive) »kühnste« Anmerkung zu Rousseaus zweitem Discours ist der empirischen Verifizierung des »wilden Menschen« gewidmet, dessen »ersten Zustand« Rousseau im Text hypothetisch erschließt.174 Ebd., 141, 147. Vgl. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Vorwort, 57; Erster Teil, 131. 171 Vgl. Wieland, Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, 147. 172 Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Erster Teil, 117. Rousseau erwägt diesen in eklatantem Widerspruch zur biblischen Chronologie stehenden (im Konjunktiv angegebenen) Zeitraum (dazu den Kommentar von Meier, 116 f./Anm. 148) im Kontext der Frage nach dem Ursprung der Sprachen. Wieland paraphrasiert diese Stelle mit polemischem Unterton (vgl. Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, 140). 173 Wieland, Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, 135. 174 Die erläuternde Anmerkung X zum »wilden Menschen«, dessen »erster Zustand« »mit den 169 170

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Verläßt man die in der bürgerlichen Gesellschaft gefangene Wahrnehmung, dann, so Rousseau, zeigt sich eine große Zahl von Varietäten der menschlichen Art, die es besonders in alten Zeiten gegeben haben muß. Dafür sprechen »Tatsachen, für die sich leicht unanfechtbare Beweise beibringen lassen«. Es sei deshalb zweifelhaft, ob verschiedene Lebewesen, die von Reiseschriftstellern »ohne lange Prüfung« als dem Menschen bloß »ähnliche« Tiere beschrieben wurden, »nicht in Wirklichkeit wahrhafte wilde Menschen waren, deren Rasse, in alten Zeiten in den Wäldern zerstreut, keine Gelegenheit gehabt hatte, irgendeine ihrer virtuellen Fähigkeiten zu entwickeln, keinerlei Grad von Vollkommenheit erlangt hatte und sich noch im anfänglichen Naturzustand befand«.175 Rousseau erörtert seinen Zweifel am Fall des Orang-Utans bzw. Pongos. OrangUtan oder Pongo war im 18. Jahrhundert eine schillernde Bezeichnung, die sowohl für asiatische als auch für afrikanische Menschenaffen (sowie auch für andere Affenarten) verwendet wurde, also nicht nur die Spezies bezeichnete, die heute OrangUtan genannt wird.176 Aufgelöst wurde die Begriffsverwirrung erst durch den holländischen Anatomen Peter Camper, der einen Orang-Utan sezierte und die Ergebnisse seiner Forschungen 1782 veröffentlichte.177 In der Vorrede des Übersetzers der deutschen Ausgabe von Campers Buch heißt es über den Orang-Utan: »Diesem bisher nicht sehr bekannten Thiere wird hier seine wahre Stelle angewiesen, und jene Märchen und ungereimte Erzählungen gutherziger Reisenden finden eine völlige Widerlegung«.178 Rousseaus Ausführungen über den Orang-Utan gründen auf zwei Reiseberichten des 17. Jahrhunderts, dem Bericht des englischen Geistlichen Samuel Purchas und dem Bericht des holländischen Arztes und Geographen Olfert Dapper. Rousseau benutzte beide Berichte nicht im Original, sondern in einer von Abbé Antoine François Prévost für die Histoire générale des voyages kompilierten Form.179 Der Text von Purchas enthält den Bericht des englischen Seefahrers Andrew Battel

rein tierischen Funktionen« beginnt (Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Erster Teil, 105; Anm. 323–349, der zitierte Kommentar von Meier 338/Anm. 409). 175 Ebd., Anmerkungen, 325–327. 176 Der in Borneo und Sumatra beheimatete Pongo pygmaeus; vgl. den Kommentar von Meier (ebd., 334 ff./Anm. 406). 177 Peter Camper, Natuurkundige Verhandelingen over den Orang Outang, en eenige andere Aap-Sorten: Over den Rhinoceros met den dubbelen horen, en over het Rendier, Amsterdam 1782; hier benutzt in der deutschen Übersetzung: Naturgeschichte des Orang=Utang und einiger anderer Affenarten, des Africanischen Nashorns und des Rennthiers. Ins Deutsche übersetzt, und mit den neuesten Beobachtungen des Verfassers herausgegeben von J. F. M. Herbell, Düsseldorf 1791 (über den Orang-Utan ebd., 109–224). 178 Ebd., 5. Camper setzt sich auch ausführlich mit der Forschungsgeschichte zum Orang-Utan auseinander. 179 Antoine François Prévost, Histoire générale des voyages, 20 Bde., Paris 1741–1791.

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über Pongos (d. h. in diesem Fall Gorillas),180 der von Dapper, auf den sich schon Pufendorf berufen hatte, ist eine Description de l'afrique.181 Rousseau bezieht sich bei seiner Erläuterung des »wilden Menschen« vor allem auf Purchas. Die in den Reiseberichten dargestellten Beobachtungen – so der aufrechte Gang oder die Bestattungsformen der Pongos –182 verdeutlichen Rousseau die »frappierende Übereinstimmung mit der menschlichen Art« und »geringere Unterschiede als jene, die man zwischen einem Menschen und einem anderen bestimmen könnte«. Rousseau schließt daraus, daß es sich bei den Pongos um wilde Menschen handelt. Reiseschriftsteller, die sie als Affen beschrieben, zögen aus den beobachteten Tatsachen falsche Schlüsse. Rousseau unterscheidet also zwischen berichteter »Tatsache« (die dafür spricht, daß es sich bei den Pongos um wilde Menschen handelt) und »Kommentar des Beobachters« (der auf Vorurteile verweist); und ganz generell sei allen Reisebeschreibungen mit großer Skepsis zu begegnen. Gewißheit darüber, ob der Orang-Utan eine Varietät des Menschen und nicht des Affen ist, könnten nur Experimente erbringen. Rousseau deutet hier die Möglichkeit eines Kreuzungsexperiments an, das jedoch aus moralischen Gründen problematisch ist: »aber abgesehen davon, daß eine einzige Generation für dieses Experiment nicht ausreichte, muß es als undurchführbar angesehen werden, weil das, was nur eine Annahme ist, als wahr nachgewiesen sein müßte, bevor der Versuch, der die Tatsache bestätigen sollte, frei von Schuld gewagt werden könnte«.183 Solange solche »exakteren Untersuchungen« nicht durchgeführt sind bzw. vorliegen, gebe es keinen Grund, argumentiert Rousseau, dem Bericht eines »Augenzeugen», nämlich der Beobachtung des italienischen Kapuzinermönches und Missionars Girolamo Merolla, die eine Identität von Pongos und wilden Menschen nahelegt, weniger zu vertrauen als Dapper, Purchas und »anderen Kompilatoren«. Merolla hatte nach einem langjährigen Aufenthalt in Afrika 1692 einen Reisebericht verfaßt.184 Dieser Bericht (bzw. dessen Zusammenfassung durch Prévost) steht bei Rousseau am Ende des Referats von Dappers Berichten über Orang-Utans. Nach der Beschreibung

Samuel Purchas, His Pilgrimage; or Relations of the World and the Religion observed in all ages, London 1613. 181 Olfert Dapper, Description de l’afrique, Amsterdam 1668; dazu die Anmerkungen 395–399 von Meier (Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Anmerkungen, 326 ff.). 182 Vgl. (auch zum Folgenden) Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Anmerkungen, 327, 329, 333, 339–349. 183 Ebd., 335–337. Diese Überlegungen gründen auf dem Artbegriff Buffons (dazu der Kommentar Meiers, 336 f./Anm. 407). Wieland unterzieht das angesprochene Kreuzungsexperiment einer satirischen Kommentierung (Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, 153 f.). 184 Girolamo Merolla, Breve e succincta Relazione del viaggio nel regno del Congo, Neapel 1692; dazu den Kommentar von Meier (Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Anmerkungen, 330/Anm. 402). 180

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eines Exemplars, das in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nach Holland an den Hof des Prinzen Friedrich Heinrich von Oranien gebracht worden war, heißt es unvermittelt: »Merolla spricht vielleicht von niemand anderem als von diesen Tieren, wenn er erzählt, daß die Neger auf ihren Jagdzügen manchmal wilde Männer und Frauen fangen«. Dies ist Rousseaus einziger Verweis auf Merollas Text, der dann später, im Kommentar zu den Berichten über Orang-Utans, dadurch großes Gewicht erhält, daß Rousseau Merolla »einen gebildeten Mönch, einen Augenzeugen« nennt, »der bei all seiner Naivität doch ein Mann von Geist war«.185 Wie kühn auch immer Rousseaus Deutung des Orang-Utan als »wilder« Mensch aus heutiger evolutionstheoretischer Sicht erscheinen mag. Im Blick auf ihr empirisches, d.h. in diesem Fall: gelehrtes Fundament sowie im Kontext ihrer Zeit betrachtet, ist die Deutung ein krudes Produkt dürftiger Kompilationsarbeit. Wieland, der gelehrte Philosoph und historisch interessierte Literat, mußte keine besonderen Anstrengungen unternehmen, um den von Rousseau zur Stützung der Hypothese des »anfänglichen Naturzustand« eingeführten Orang-Utan, der gleichsam aus Rousseaus Anmerkung heraus in die anthropologische und geschichtsphilosophische Rede des 18. Jahrhunderts eindrang,186 in seine gelehrten Textbausteine zu zerlegen. Gäbe es wirklich jene Art von wilden Menschen, die nach Rousseau »von Alters her in die Wälder zerstreut, keine Gelegenheit ihre Fähigkeiten zu entwickeln gehabt«,187 dann »würden alle unsre Einwendungen«, also die von Wieland ins Spiel gebrachte gemeinsame Erfahrung »etlicher tausend Jahre«, nichts helfen. Damit eröffnet Wieland seine kritische Sezierarbeit. Wo hat Rousseau »wohl diese für ihn so merkwürdigen Menschen aufgetrieben«?188 In einer von ironischem Spott überlagerten Paraphrase der Rousseauschen Referate und Kommentare führt Wieland vor, wie Rousseau seine Tatsachen produziert, wie Philosophen beobachten, die die Erfindung Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Anmerkungen, 331, 339. Vgl. den Überblick von Robert Wokler, The Ape Debates in Enlightenment Anthropology, in: Transactions of the Fifth International Congress on the Enlightenment, Bd. III (= Studies on Voltaire and the Eighteenth Century Bd. 192), Oxford 1980, 1164–1175. Einen Einblick in die zeitgenössische Diskussion vermittelt Christoph Ludwig Pfeiffer (Der Orang=Outang oder Wald=Mensch, samt den übrigen doppelartigen Naturgeschöpfen als Verbindungsgliedern der großen Naturkette in den verschiedenen Naturreichen. Nach der Naturgeschichte betrachtet, Mannheim 1787). Pfeiffer dokumentiert die verschiedenen, mit Reiseberichten belegten Deutungsmuster und setzt sich in diesem Zusammenhang auch mit Rousseaus »rohen Natur= oder Thiermenschen« und dem angeblich »mit diesem Menschen ähnlichen Affen« auseinander. Zur Rezeption heißt es: »Und so ist nicht weniger auch durch andere philosophische Träumer von eben diesem eingebildeten Naturmenschen – schon würklich viel Affenmäsiges geträumet und geschrieben worden!« (30). 187 So lautet Wielands Übersetzung (Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, 148) der in Anm. 175 nach der Edition Meier zitierten Stelle Rousseaus. 188 Wieland, Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, 148. 185 186

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»einer neuen Hypothese begierig macht, Erscheinungen zu Bestätigung derselben aufzutreiben«, die deshalb »alles sehen was sie sehen wollen«.189 Erstens: Schon die Art und Weise, wie Rousseau die Berichte wiedergibt, auf die er sich beruft, ist vom Interesse angetrieben, den Orang-Utan als wilden Menschen erscheinen zu lassen. Zweitens: Rousseau hat nur die Berichte ausgewählt, die mit seiner Hypothese zu vereinbaren sind. Andere Nachrichten dagegen, besonders die neuesten und kritischsten, d. h. hinsichtlich ihrer Beobachtungsbedingungen transparentesten, hat Rousseau unterschlagen, obwohl er sie »in dem nehmlichen Buche, woraus er seine Nachrichten zog, hätte finden können«.190 Drittens: Rousseau bedient sich bei der Auswertung und Kommentierung der Berichte zur Verteidigung seiner Hypothese rhetorischer Strategien. Um zu zeigen, »was für Wunder die Liebe zu einer Hypothese thun kann«, hat Wieland den letzten Kritikpunkt mit geradezu genüßlicher Ausführlichkeit am Beispiel von Rousseaus »Augenzeugen« Merolla ausgearbeitet. Die »Schwarzen fingen zuweilen auf ihren Jagden wilde Männer und Weiber«, lautet Wielands Übersetzung von Merollas Bericht, den Rousseau zitiert hatte. »Das ist alles was ihn Rousseau sagen läßt, und das ist wenig«, kommentiert Wieland. Ergänzt man den von Rousseau gestrichenen Kontext, dann lasse sich »zur Sache dienliches« daraus nur entnehmen, »daß die Einwohner zu Borneo und die Negern eine gewisse Art von Affen wilde Männer nennen«. Ein Erkenntnisgewinn, meint Wieland, für den man auf Merollas Bericht nicht angewiesen sei: »dieß sagen zehen andere Reisebeschreiber (Batteln, Dappern und Purchassen mit eingerechnet) auch«.191 In seinem Exkurs zu rhetorischen Strategien der Datenerhebung zeigt Wieland, daß Rousseau Merollas Bericht gerade auf Grund von dessen dürftigen Aussagen als eine Nachricht profilieren kann, welche die anderen (widersprüchlichen, weil ausführlicheren) Nachrichten übertrumpft. Rousseau begründet die herausgehobene Bedeutung von Merolla als Berichterstatter damit, daß dieser ein Augenzeuge ist. Erst dadurch hat sein Bericht so großes Gewicht und kann die für die Frage nach der Identität von Orang-Utans und wilden Menschen widersprüchlichen Berichte anderer (vom Kompilator Rousseau als »Kompilatoren« denunzierten) Reiseschriftsteller aufwiegen. Wieland verdeutlicht, daß auch diese Auszeichnung von Merolla fragwürdig ist. Was von der Glaubwürdigkeit

Ebd., 152. Ebd., 159. Verfasser dieser »neuesten« (auf das Jahr 1735 zurückgehenden) Nachrichten ist Franz Moore, »Faktor der königl. Afrikanischen Gesellschaft in England«. Sein Bericht (ebd., 159 f.) verdient nach Wieland den Vorzug gegenüber anderen Berichten, weil Moore die Bedingungen, die zur Nachricht führten, thematisiert, vor allem ihre problematische Abhängigkeit von Auskünften, die wiederum auf bloßen Schlußfolgerungen beruhen. 191 Ebd., 155 (und den Anm. 185 zitierten Beleg nach der Edition Meier). 189 190

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des Augenzeugen zu halten ist, den Rousseau zusätzlich einen »gelehrten Mann« und »homme d’esprit« nennt, illustriert Wieland am Beispiel von dessen Nachrichten über Thronwirren im »Afrikanischen Königreiche Kongo«.192 Der ausführliche Bericht erweist den angeblichen Augenzeugen als einen von Aberglauben und Vorurteilen beherrschten Mann, der miterleben durfte, wie ein toter und schon lange gekochter Hahn innerhalb weniger Augenblicke wieder lebendig wurde, neue Federn bekam und nach lebhaften Bezeugungen seiner Gesundheit davonflog. Betrachtet man Wielands Technik des gelehrten Sezierens gleichsam nackt, also ohne »Harlekinskleid«, das den Text der Beyträge satirisch verkleidet, mag sie pedantisch, ja kleinkariert wirken. Doch Wielands Text ist mehr als nur die literarisch sublim ins Werk gesetzte Denunziation eines Philosophen, der begierig ist, seine Hypothesen zu bestätigen. Die von Wieland an unterschiedlichen Varianten von Rousseaus natürlichem Menschen erprobte Methode,193 angeblich authentische Tatsachen und Nachrichten in ihrer durch psychologische und kommunikative Bedingungen und strategische Auslegungen geprägten »Künstlichkeit«194 vorzuführen, betrifft prinzipielle, durch Rousseaus Zivilisationskritik aufgeworfene Probleme. Daß Rousseaus paradoxe Kritik der bürgerlichen Gesellschaft ihn nicht unberührt gelassen hat, darüber läßt Wieland die Leser seiner Beyträge nicht im Zweifel.195 In Zweifel ziehen wollte er aber die Gewißheit, mit der diese Kritik aus anthropologischen »Naturbestimmungen« und »Naturzuständen« abgeleitet oder auch: durch geschichtsphilosophische Notwendigkeiten kompensiert wurde.196 In der Analyse der methodischen Verfahren, mit denen zu diesem Zweck Tatsachen produziert wurden, war Wieland ein geradezu penibler Pedant. Wenn den neuen Menschheitshistorikern das ethnographische Material der Reiseberichte als ein Steinbruch diente, um ihre naturgesetzlichen Entwicklungen und Menschheitsträume zu belegen, dann arbeitete Wieland mit akribischer Hartnäckigkeit an dem Nachweis, daß ihre vermeintlichen Fakten im Grunde nichts anderes als Hypothesen sind. »Facta sind alles«, so der Protagonist in Wielands Roman Geschichte des Philosophen Danischmend (1775), »was man daraus machen will […]: aus jedem neuen Augenpunkte scheinen sie etwas anders; und in zehn Fällen gegen Einen ist das vermeinte Faktum, worauf man mit großer Zuversicht seine Meinung gestützt hatte, im Grunde eine bloße Hypothese«. Die Fußnote des Herausgebers kommentiert: »conf. alle die beredten, scharfsinnigen und wohlmeinenden Herren, welche Versuche über die

Vgl. ebd., 156–158. Vgl. auch den Beitrag Über die Behauptung, daß ungehemmte Ausbildung der menschlichen Gattung nachtheilig sey (ebd., 262 ff.); dazu Erhart, »Was nützen schielende Wahrheiten?«, 73 ff. 194 Vgl. Erhart, »Was nützen schielende Wahrheiten?«, 64 f. 195 Wieland, Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, 260 f. 196 Dazu Erhart, »Was nützen schielende Wahrheiten?«, 50 ff. 192 193

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Geschichte der Menschheit geschrieben haben, von Iselin bis Home inclusive«.197 Bis nämlich die »Tatsache« aus Amerika, Afrika oder Asien nach Europa gelangt, bevor sie in einem geschichtsphilosophischen Text ankommt, hat sie einen langen, verwickelten Weg hinter sich gebracht. Diesen Weg von der ursprünglichen Beobachtung in fremden Welten bis zu ihrer geschichtsphilosophischen Verarbeitung in Europa hat Wieland an einzelnen Beispielen erkundet. Er entdeckte dabei, daß Tatsachen zwar viel über ihren Weg, doch kaum etwas über ihren wahren Ursprung verraten. Dieser ist im Prozeß der Aneignung und Übersetzung des Fremden, in der Überlagerung von Vorstellungen und Auslegungen verlorengegangen. Übrig geblieben sind »verworrene Zeugnisse«,198 eben Hypothesen, die dazu zwingen, »aus fremden Augen zu sehen«.199 In den Beyträgen zur geheimen Geschichte der Menschheit reflektiert Wieland die Grenzen der anthropologischen und geschichtsphilosophischen Rede vom Menschen. Die vorgeblich authentischen ethnographischen Tatsachen zeigen sich ihm als Produkte eines labyrinthischen Deutungsprozesses, dessen Anfänge von seinen Konsequenzen längst überrollt und aufgesogen wurden. Die sich daraus ergebenden Probleme der Kontingenz von beobachtender Wahrnehmung und Geschichte hat Wieland scharfsinnig vorgeführt. Auf der Strecke blieben dabei die »Wahrheiten« der Geschichtsphilosophie ebenso wie die Möglichkeit, einen Naturzustand oder: einen Anfang und Ursprung der Geschichte des Menschen zu entdecken. Wie auch immer der ursprüngliche, der »natürliche« Zustand des Menschen ausgesehen haben mag: Seine mit Hilfe ethnographischer Belege ausgemalte historische Rekonstruktion verweist nur auf die von Vexierbildern getäuschten Interpreten, der experimentell simulierte Naturzustand nur auf die technologischen Visionen einer beherrschbaren Natur. Das hat Wieland im Beytrag Über die von J. J. Rousseau vor geschlagenen Versuche den wahren Stand der Natur des Menschen zu entdecken vorgeführt, in dem er, ausgehend von Rousseaus Prämissen, Versuchsanordnungen entwirft und durchspielt, um den Naturzustand mit Hilfe von »Kolonien« neugeborener Kinder experimentell zu simulieren. Es entsteht ein satirisch bis zur Absurdität getriebenes Szenarium.200 Was für Wieland übrig bleibt, ist die gemeinsame Erfahrung »etlicher tausend Jahre«, das historisch zugängliche »große Experiment«, welches »schon viele tausend Jahre lang gemacht wird«.201 Es zeigt einen der Kontingenz gesellschaftlicher und

Die Zitate nach ebd., 53. Wieland, Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, 161. 199 Ebd., 241. Zum Kontext dieser Stelle, mit Bezug auf die Theorie des Chladenius über den »Sehepunkt«, Erhart, »Was nützen schielende Wahrheiten?«, 72. 200 Wieland, Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, 179 ff.; dazu Erhart, »Was nützen schielende Wahrheiten?«, 66 f. 201 Wieland, Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, 203. 197 198

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historischer Bedingungen ausgelieferten Menschen, dessen Beobachtungen und Forschungen von wechselnden Gesichtspunkten, Auslegungen und Maßstäben abhängig sind, welche wiederum im Verlauf der Geschichte einem ständigen Wandel unterliegen.202 »Meine Absicht ist eben so wenig, unserm Jahrhundert Hohn zu sprechen, als ihm zu schmeicheln«. Wieland kann das »Klappern« über die »Vortheile unserer Aufklärung, unsrer Verfeinerung, unsrer Weltbürgerey« nicht mehr hören,203 ebenso wenig »mitleiern« möchte er aber den »heutigen Modeton« über »Größe, Stärke, Kühnheit und Freyheit« ursprünglicher Genies.204 Er bezieht statt dessen den Standpunkt eines Beobachters, der die »großen« Reden seines Jahrhunderts im Blick auf die Bedingungen und Techniken ihrer Produktion analysiert. Zumindest eine wirkmächtige geschichtsphilosophische Figur hat jedoch auch Wieland nicht völlig unbeteiligt gelassen, die nämlich, daß die Geschichte »Absichten der Natur« vollführt, daß »alle Triebräder der moralischen Welt« dem großen Zweck einer »allgemeinen Glückseligkeit« zuarbeiten.205 Zwar endet deren Erörterung, die im Gegensatz zum in den übrigen Beyträgen vorherrschenden Stil der satirischen Persiflage Züge eines geradezu emphatischen Enthusiasmus annimmt, abrupt mit der skeptischen Infragestellung (»Schwärme ich?«) sowie dem Verdacht, es könnte sich um eine »Schimäre« handeln (»Welches der Himmel verhüten wolle!«).206 Doch zuvor darf auf Zuversicht gebaut werden, die in Form des (von Kant später so bezeichneten) Rousseauschen »Antagonism« auf den Plan tritt, der, statt die menschliche Gattung ins Verderben zu stürzen, zum »Beförderungsmittel« des »großen Zwecks« umgedeutet wird.207 Die »anscheinenden Abweichungen und Unordnungen« von diesem Zweck, die moralischen und politischen Übel der Gegenwart, zeigen sich dann als notwendiges Durchgangsstadium zu einem erneuerten Staat: »Äußerste Verfeinerung der schönen Künste, des Geschmacks und der Lebensart sind zugleich eine Folge und eine Ursache der äußersten Üppigkeit und Ausgelassenheit der Sitten. Diese untergraben einen Staat so lange bis er endlich zusammen stürzt. Aber wenn sich dieß in einem Theile des Erdbodens und in einem Zeitpunkt ereignet, wo zugleich der ganze Inbegriff der aufklärenden und nützlichen Wissenschaften und Künste mit nicht weniger Eifer angebaut worden ist, so wird der eingesunkene Staat in kurzem neu belebt und in einer ungleich besseren Gestalt und Verfassung sich aus seinen Ruinen wieder empor heben, und, durch seine Erfahrung weise, die schwere Kunst geltend machen, die Privatglückseligkeit mit der öffentlichen dauer-

202 203 204 205 206 207

Dazu ausführlich ebd., 289 ff. Ebd., 328 f. Ebd., 333 f. Ebd., 278. Ebd., 287 f. Vgl. ebd., 278.

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haft zu vereinigen. Eine Erscheinung, von welcher, aller Wahrscheinlichkeit nach, manche die dieses lesen, noch Augenzeugen werden dürften!« In der Ausgabe von 1795 kommentiert Wieland seine Prophezeiung aus dem Jahre 1770 in einer Fußnote: »Der Anfang zu Erfüllung dieser damahls als eine Art von Ahnung niedergeschriebenen Worte ist seit 1789 in Frankreich gemacht worden. Gebe der Himmel, daß wir auch das glückliche Ende derselben erleben!«208

3. Rehabilitierung der Mutmaßung auf philosophischer Ebene: Immanuel Kant »Eine Lieblingsidee des Herrn Prof. Kant ist, daß der Endzweck des Menschengeschlechts die Erreichung der vollkommensten Staatsverfassung sei, und er wünscht, daß ein philosophischer Geschichtsschreiber es unternehmen möchte, uns in dieser Rücksicht eine Geschichte der Menschheit zu liefern und zu zeigen, wie weit die Menschheit in den verschiedenen Zeiten diesem Endzweck sich genähert oder von demselben entfernt habe, und was zur Erreichung desselben noch zu tun sei«.209 Dies berichteten die Gothaischen Gelehrten Zeitungen am 11. Februar 1784. Immanuel Kant bezog sich auf die Notiz in der Vorbemerkung zur Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, die im November-Heft der Berlinischen Monatsschrift von 1784 veröffentlicht wurde. Die im Gestus der Prophezeiung formulierte Idee, mit der Wieland 1770 gespielt hatte und deren Erfüllung er im Rückblick mit der Französischen Revolution anbrechen sah, wurde zur »Lieblingsidee« von Kants Nachdenken über Geschichtsphilosophie.210 Auch der Königsberger Philosoph und Kosmopolit hat dann 1798, drei Jahre nach Wieland, die Französische Revolution als ein »Geschichtszeichen« gedeutet, das als geschehene »Begebenheit« der – unter die Idee des »Fortrückens des Menschengeschlechts zum Besseren« gestellten – »Wahrsagenden Geschichte der Menschheit« zur Erfahrung verhilft.211 Zwar können angesichts des »mit Elend und Greueltaten« verbundenen revolutionären »Experiments« nicht die Taten der Handelnden die »moralische Tendenz des Menschengeschlechts« Ebd., 278 f. Zitiert nach: Kant, Schriften zur Geschichtsphilosophie, hg. v. Riedel, 257. 210 Zur älteren Literatur über Kants Geschichtsphilosophie die Bibliographie bei Riedel (Kant, Schriften zur Geschichtsphilosophie, 260–263). Über die zahlreich seitdem erschienenen Arbeiten informiert die Arbeit von Franco Zotta (Immanuel Kant. Legitimität und Recht. Eine Kritik seiner Eigentumslehre, Staatslehre und seiner Geschichtsphilosophie, Freiburg u. München 2000); da es in den folgenden Ausführungen nicht um eine systematische Rekonstruktion von Kants Geschichtsphilosophie geht, wird auf Verweise auf die Forschungsliteratur bzw. -kontroversen verzichtet. 211 Vgl. (auch zum Folgenden) Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten. Zweiter Abschnitt. Der Streit der philosophischen Fakultät mit der juristischen (daraus der Abschnitt: Erneute Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei), in: Ders., Schriften zur Geschichtsphilosophie, hg. v. Riedel, 183–200, hier 189 ff. 208 209

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beweisen, jedoch die »öffentliche Teilnehmung« der (in das revolutionäre »Spiel« selbst nicht verwickelten) Zuschauer. Deren »uneigennütziger Enthusiasm« nämlich biete die Gewähr dafür, daß der seitdem unumkehrbar gewordene Fortschritt zum Besseren auch »ohne Sehergeist« vorhergesagt werden kann. Diese prospektive Erwartung künftiger Besserung bestimmt schon Kants erste geschichtsphilosophische Skizze, die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht von 1784. Mit ihr wollte Kant der empirischen Historie einen philosophischen »Leitfaden a priori« vorgeben, der es ermöglichen sollte, »ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen als ein System darzustellen«,212 wie es mit Verweis auf die zeitgenössische geschichtstheoretische Diskussion (und Terminologie) Gatterers und Schlözers heißt. Dabei ging es Kant auch um die Bedenklichkeit, »wie es unsere späten Nachkommen anfangen werden, die Last der Geschichte, die wir ihnen nach einigen Jahrhunderten hinterlassen möchten, zu fassen. Ohne Zweifel werden sie die der ältesten Zeit, von der ihnen die Urkunden längst erloschen sein dürften, nur aus dem Gesichtspunkte dessen, was sie interessiert, nämlich desjenigen, was Völker und Regierungen in weltbürgerlicher Absicht geleistet oder geschadet haben, schätzen«. Sondiert man die überlieferte Geschichte in dieser Perspektive, zeigt sich der Anfang der Geschichte, schreibt Kant, als bloße »terra incognita«.213 Dennoch hat er sich mit dem Anfangsproblem – ein Jahr nach der Idee zu einer allgemeinen Geschichte – in dem Aufsatz Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte näher beschäftigt (ebenfalls publiziert in der Berlinischen Monatsschrift, im Januar-Heft 1786). Um sein Interesse für den Anfang der Menschengeschichte zu verstehen, muß man auch im Fall von Kant auf Rousseau zurückgehen.

A. Verlegung des Naturzustands in die Zukunft Die Lektüre Rousseaus hat auch das geschichtsphilosophische Denken Kants in Bewegung gesetzt, die »Moral-Tarantel Rousseau«, so formulierte es Friedrich Nietzsche zynisch im Rückblick auf das Jahrhundert des »moralischen Fanatismus«, hatte auch Kant »gebissen«.214 »Rousseau hat mich zurecht gebracht«,215 so Kants

Vgl. (auch zum Folgenden) Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, 36 ff. Ebd., 36 (Fußnote). 214 Friedrich Nietzsche, Morgenröte, in: Ders., Werke in 5 Bdn., hg. v. Karl Schlechta, 6. Aufl., Frankfurt a. M. u. a. 1969, Bd. 1, 1009–1279, hier 1013. 215 Zitiert nach Kronauer, Der kühne Weltweise, 26; zu dieser Stelle im Blick auf die Wirkung Rousseaus auf Kants Vernunftkritiken im selben Band: Richard L. Velkley, Freedom, Teleology, and Justification of Reason. On the Philosophical Importance of Kant’s Rousseauian Turn, in: Rousseau in Deutschland, hg. v. Jaumann, 181–195, hier 181 f. 212 213

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eigener Kommentar. Damit er Rousseaus Wirkung als positiven Effekt beschreiben konnte, mußte Kant ihn verarbeiten, wurde die Provokation Rousseau, um seine Selbsteinschätzung zu variieren, auch von ihm »zurecht gemacht«. Kant hat die »Paradoxe« Rousseaus nicht, wie Wieland, im Spiel mit dessen empirischen Aporien vorgeführt oder ihnen, wie Iselin, eine »eudämonische Vorstellungsart der Menschengeschichte« mit ihren »sanguinischen Hoffnungen«216 entgegengesetzt. Er hat den von Rousseau konstatierten »unvermeidlichen Widerstreit der Kultur mit der Natur des menschlichen Geschlechts« –217 so seine Formulierung der als »ganz richtig« bezeichneten Grundposition der beiden Discours – vielmehr als gleichsam dialektisches Bewegungsgesetz der Geschichte aufgefaßt. Die geschichtsphilosophische Figur, die dieses Bewegungsgesetz verdeutlicht, führt Rousseaus Kontrastierung der negativen Folgelasten der Zivilisationsentwicklung mit einem unschuldigen Naturzustand als einen »widerstreitenden« historischen Prozeß vor, der solange fortgeht, »bis vollkommene Kunst wieder Natur wird: als welches das letzte Ziel der sittlichen Bestimmung der Menschengattung ist«.218 Man kann auch sagen: Kant verlegt Rousseaus Maßstab eines hypothetischen Naturzustands in die Zukunft und verkehrt dadurch Rousseaus Verlustbilanz für die Menschheit in eine Gewinn- oder: Erwartungsbilanz. »Verkehrt« zeigt sich so auch die von Rousseau herausgearbeitete Diskrepanz, daß nämlich der Fortschritt der Zivilisation dem Individuum Vervollkommnungsmöglichkeiten bietet, dagegen für die Menschheit (als Gattung, d. h., interpretiert Kant, »als einer physischen Gattung, in welcher jedes Individuum seine Bestimmung ganz erreichen sollte«) nur Verlust bzw. »Verfall« zur Konsequenz hat.219 Denn unter der Prämisse, daß die Menschheit (bei Kant: als einer Gattung, deren Naturbestimmung Sittlichkeit und Vernunft ist) ihre Bestimmung erst »in einer langen Reihe ihrer Glieder« erreicht, ist »dieser Gang, der für die Gattung ein Fortschritt vom Schlechtern zum Bessern ist, nicht eben das Nämliche für das Individuum«. Der Übergang von der »Tierheit« zu »kultivierter Vernunft« stellt in dieser Perspektive bzw. Bestimmung der Gattung für das Individuum einen Verlust dar, weil es seine natürlichen Triebe einzuschränken hat, dagegen »für die Natur, die ihren Zweck mit dem Menschen auf die Gattung richtet, war sie Gewinn«.220 So Kants Charakterisierung des geschichtsphilosophischen Typs, dem sich Iselins Geschichte der Menschheit zuordnen läßt (Der Streit der Fakultäten, 185 f.). 217 Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, 75 f. 218 Ebd., 76 f. 219 Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Zweiter Teil, 195. 220 Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, 75 f. Das von Rousseau aufgeworfene Problem der differenten Folgekosten der Zivilisation ist eine der zentralen Fragen der Auseinandersetzung mit Rousseau in Deutschland (auch bei Wieland, vgl. Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, 235, 288 ff.). 216

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Kant beruft sich bei dieser Umdeutung ausdrücklich auf Rousseau. Auf diese Weise, so seine Argumentation, »kann man auch die so oft gemißdeuteten, dem Scheine nach einander widerstreitenden Behauptungen des berühmten J. J. Rousseau unter sich und mit der Vernunft in Einstimmung bringen«. Während nämlich der Rousseau des ersten und zweiten Discours den »unvermeidlichen Widerstreit« gezeigt habe, versuchte der Rousseau des Emile und Contrat social (beide erschienen zuerst 1762) »das schwerere Problem aufzulösen: wie die Kultur fortgehen müsse, um die Anlagen der Menschheit als einer sittlichen Gattung zu ihrer Bestimmung gehörig zu entwickeln, so daß diese jener als Naturgattung nicht mehr widerstreite«. Es sind »die wahren Prinzipien der Erziehung zum Menschen und Bürger«, die Rousseau im Emile und im Contrat social entwickelt hatte, mit denen Kant die Paradoxe Rousseaus zur geschichtsphilosophischen Vernunft bringt. Der Widerstreit zwischen »Naturanlagen« (»die auf den bloßen Naturzustand gestellt waren«) und »Kultur« wird damit als Not und zugleich als Mittel eines historischen Erziehungsprozesses der Menschheit ins Spiel gebracht, durch den sich der Mensch »aus der Rohigkeit seiner Naturanlagen selbst herausarbeiten«, jedoch, »indem er sich über sie erhebt, dennoch Acht haben« sollte, »daß er nicht wider sie verstoße; eine Geschicklichkeit, die er nur spät und nach vielen mißlingenden Versuchen erwarten kann, binnen welcher Zwischenzeit die Menschheit unter den Übeln seufzt, die sie sich aus Unerfahrenheit selbst antut«.221 Direkt und namentlich ist Rousseaus »Widerstreit« in Kants Erörterung des Mutmaßlichen Anfangs der Menschengeschichte allerdings nur in Form einer ausführlichen Anmerkung sowie einer nicht minder ausführlichen Fußnote zu dieser Anmerkung präsent.222 Der Text selbst zeichnet das Rousseausche Szenarium als »Übergang aus der Rohigkeit eines bloß tierischen Geschöpfes in die Menschheit«223 in eben jene »heilige Urkunde« ein,224 die Rousseau in der Einleitung zum zweiten Discours als unvereinbar mit seiner Untersuchung bestimmt und deshalb aus ihr ausgeklammert hatte.225 Damit der Leser Schritt für Schritt nachvollziehen könne, »ob der Weg, den Philosophie nach Begriffen nimmt, mit dem, welchen die Geschichte angibt, zusammentreffe«, benutzt Kant als »Karte« den biblischen Bericht über die vorsintflutliche Zeit (1. Mose 2–6).226 In Frage steht also die Konvergenz von Vernunft und Offenbarung. Das dadurch aufgeworfene Problem, nämlich die Diskrepanz zwischen einem natürlichen, hypothetisch erschlossenen Naturzustand, den eine »gänzliche

221 222 223 224 225 226

Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, 75–78. Vgl. ebd., 74–77 (Anmerkung), 76–78 (Fußnote zur Anmerkung). Ebd., 74. Vgl. ebd., 68. Vgl. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Exordium, 71–73. Vgl. (auch zum Folgenden) Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, 68 f.

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Rohigkeit« des Menschen charakterisiert, und dem paradiesischen Ausgangspunkt des Menschen, wie ihn die Bibel berichtet, löst Kant im souveränen Zugriff der Vernunft auf den Offenbarungstext. Ausgehen wolle er von einem Paare in einem geschützten Garten, doch: »ich betrachte es nur, nachdem es schon einen mächtigen Schritt in der Geschicklichkeit getan hat, sich seiner Kräfte zu bedienen, und fange also nicht von der gänzlichen Rohigkeit seiner Natur an«. Ausgespart bleiben soll eine »Lücke, die vermutlich einen großen Zeitraum begreift«. In diesem nicht näher zu bestimmenden Zeitraum mußte der erste Mensch die Geschicklichkeiten erwerben, die er nach dem biblischen Bericht im Paradies besaß, also insbesondere »sprechen«, ja auch »reden«, d. h. »nach zusammenhängenden Begriffen sprechen, mithin denken«. Vor allem mußte er diese Fähigkeiten »selbst«, also ohne fremde (göttliche) Hilfe erworben haben, »denn wären sie anerschaffen, so würden sie auch anerben, welches aber der Erfahrung widerstreitet«. Mit feinsinnigen, geradezu listigen Strategien präsupponiert Kant dem biblischen Bericht natürliche (anthropologische) Erklärungen, um ihn für die Arbeit und zugleich, wie sich zeigen wird, für die Genese der Vernunft zugänglich zu machen. Die Entstehung des Menschen, wie sie der Offenbarungstext überliefert, wird von Kant als ein ausgedehnter Entwicklungsprozeß ausgelegt, der den Menschen schon in der Periode des Paradieses als ein Wesen vorführt, dessen anthropologische Ausstattung sich ohne göttliche Einwirkung natürlich ausbildet. Jedoch erwarb sich der Mensch seine »Geschicklichkeiten« gleichsam bewußtlos, denn anfänglich stand er vollständig unter der Herrschaft des Instinkts, d.h. der »Stimme Gottes, der alle Tiere gehorchen«. Die erste Regung der Vernunft störte den »Ruf der Natur«, brachte die harmonische Ordnung der Sinne ins Ungleichgewicht. Sie ist der Sündenfall des Menschen, veranlaßt durch eine »Kleinigkeit«227 und zunächst von eher unbedeutendem Schaden, doch mit großen Wirkungen verbunden. Dem Menschen gingen »hierüber doch die Augen auf« (nach 1.Mose 3,7), er »entdeckte in sich ein Vermögen, sich selbst eine Lebensweise auszuwählen und nicht gleich anderen Tieren an eine einzige gebunden zu sein«. Dies erweckte »Wohlgefallen«, aber auch »Angst und Bangigkeit«. Da der Mensch mit seinem neu entdeckten Vermögen zunächst kaum umgehen konnte, stand er »gleichsam am Rande eines Abgrundes«, und dennoch war es ihm jetzt unmöglich, aus dem »einmal gekosteten Stande der Freiheit« »in den der Dienstbarkeit (unter der Herrschaft des Instinkts) wieder zurück zu kehren«. Die allmähliche Entwicklung der praktischen Vernunft skizziert Kant in vier Schritten. Ausgehend von ersten Fähigkeiten, den sinnlichen Genuß über die Schranken der Naturtriebe hinaus zu erweitern, entstehen nacheinander die beiden Vermögen, die »bloß tierischen Begierden« der Kontrolle der Vernunft zu unterstel-

227

Vgl. (auch zum Folgenden) ebd., 70–74.

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len (was wiederum Bedingung für die Ausbildung von Sittsamkeit und Kultur ist) sowie die Zukunft zu erwarten und auch zu planen. Am Ende dieser ersten Periode der Menschengeschichte steht die (allerdings noch »dunkle«) Einsicht des Menschen, sich als »eigentlichen Zweck der Natur« zu begreifen, eine Vorstellung, die den »Gedanken des Gegensatzes« einschließt, nämlich daß der Mensch den Menschen niemals »bloß als Mittel zu anderen Zwecken« gebrauchen darf. Damit aber, so Kants Resümee (mit Verweis auf 1. Mose 3,22), »war der Mensch in eine Gleichheit mit allen vernünftigen Menschen, von welchem Range sie auch sein mögen, getreten«, selbst mit höheren Wesen, von denen deshalb keines »ein Recht hat, über ihn nach bloßem Belieben zu schalten und zu walten«. In einer Art Naturrechtsprogramm bestimmt Kant damit die prinzipiellen Potenzen der praktischen Vernunft als Errungenschaften der mit dem biblischen Sündenfall verbundenen, als Übergang von der Instinktgebundenheit zur Freiheit profilierten Periode der Menschengeschichte und zeichnet dadurch den Erwartungshorizont der zukünftigen Entwicklung aus. Erst an diesem Punkt der Darstellung kommen in Form der Anmerkung die Widerstände Rousseaus ins Spiel, deren Auswirkungen in der Skizze der folgenden, nach »Epochen« unterteilten »Periode« vorgeführt werden.228 Kant folgt hier (mit Verweisen auf einzelne Stellen aus 1.Mose 4 u. 6) dem nach Subsistenzweisen gestuften Modell der Zivilisationsentwicklung und verbindet, analog zum zweiten Discours Rousseaus, das Entstehen der Ungleichheit mit der Epoche des Ackerbaus.229 Der Ursprung der Ungleichheit sowie ihre ständige Zunahme zeigen sich aber nicht wie bei Rousseau im Kontrast zur Gleichheit eines unwiederruflich verlorenen Naturzustands. Kants Kontrastmittel ist die Gleichheit, in die der Mensch durch seinen vernünftigen Sündenfall getreten ist. Von diesem Maßstab ausgehend, d.h. von den Vermögen der Vernunft, die nach der auch für Kant unumkehrbaren Entlassung des Menschen »aus dem Mutterschoße der Natur«230 zur zweiten Natur des Menschen geworden sind, zeigt sich die andauernde Epoche der Ungleichheit (sowie der Kriege) nicht nur als eine »reiche Quelle so vieles Bösen«, sondern eben »auch alles Guten«. Damit nämlich der Mensch sich seiner vernünftigen Vermögen gewiß werden kann, benötigt er »Widerstände«, muß »das menschliche Geschlecht von dem ihm durch die Natur vorgezeichneten Fortgange der Ausbildung seiner Anlagen zum Guten« abweichen.231

Vgl. ebd., 77–81 (Abschnitt Beschluß der Geschichte). Den Begriff »Periode« verwendet Kant zur Bezeichnung der gesamten Phase nach dem Sündenfall (ebd., 77), die entsprechend der Entwicklungsstufen der Subsistenzweisen in »Epochen« (oder auch »Zustände«, ebd., 78) gegliedert ist. 229 Vgl. ebd., 80. Zu Rousseaus Bearbeitung des Vierstufenschemas der Zivilisationsentwicklung Meek, Social science and the ignoble Savage, 76 ff. 230 Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, 74. 231 Ebd., 88 f. (mit Verweis auf 1. Mose 6,17). 228

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»Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte«,232 hatte Lessing – sechs Jahre vor Kants Mutmaßlichem Anfang der Menschengeschichte – in der Erziehung des Menschengeschlechts geschrieben. Was der Mensch aus sich selbst, im Blick auf seine Vermögen zur Vernunft, haben könnte, wird bei Kant in einem Erziehungsprozeß sichtbar, der erst über Widerstände in Gang kommt. Als ein Erziehungsmittel empfiehlt sich der im Text dargestellte Entwicklungsgang selbst. Er kann dem Leser von Kants vernünftiger Bibelexegese »zur Lehre und zur Besserung« dienen, besonders dem denkenden Menschen, der angesichts der Übel, »die das menschliche Geschlecht so sehr und (wie es scheint) ohne Hoffnung eines Bessern drücken«, Kummer empfindet, »der wohl gar Sittenverderbnis werden kann«. Kummer, so Kant, verursacht Unzufriedenheit mit der Vorsehung, der Mensch flüchtet sich in »das Schattenbild des von Dichtern so gepriesenen goldenen Zeitalters«, gibt sich, des zivilisierten Lebens überdrüssig, der Sehnsucht hin, »die die Robinsone und die Reisen nach den Südseeinseln so reizend macht«. Daß solche Sehnsüchte auf trügerische Hoffnungen bauen, darüber soll die Darstellung seiner Geschichte den Menschen belehren. Es zeigt sich hier der vernünftige Aufklärer als Erzieher seines durch bloße Hoffnung auf Genuß verführten Lesers. Dieser soll durch die Lektüre der Geschichte seine eigene Schuld erfahren, das Eingeständnis der eigenen Verantwortung soll zur Maxime seines Handelns werden. Der mutmaßende Blick auf den Anfang der Menschengeschichte verhilft so zur vernünftigen Einsicht: »daß er der Vorsehung wegen der Übel, die ihn drücken, keine Schuld geben müsse; daß er seine eigene Vergehung auch nicht einem ursprünglichen Verbrechen seiner Stammeltern zuzuschreiben berechtigt sei, […] er das von jenen Geschehene mit vollem Rechte als von ihm selbst getan anerkennen und sich also von allen Übeln, die aus dem Mißbrauche seiner Vernunft entspringen, die Schuld gänzlich selbst beizumessen habe«.233 Kants Mutmaßungen über den Anfang der Menschengeschichte setzen als hypothetische »bloße Lustreise«234 ein und enden mit einem Appell zu sittlichem Handeln: »Und so ist der Ausschlag einer durch Philosophie versuchten ältesten Menschengeschichte: Zufriedenheit mit der Vorsehung und dem Gange menschlicher Dinge im Ganzen, der nicht vom Guten anhebend zum Bösen fortgeht, sondern sich vom Schlechtern zum Besseren allmählich entwickelt; zu welchem Fortschritt denn ein jeder an seinem Teile, so viel in seinen Kräften steht, beizutragen durch die Natur selbst berufen ist«.235 Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts (zuerst 1780), in: Ders., Werke in 8 Bdn., Bd. 8, hg. v. Helmut Göbel, München 1979, 489–510, hier 490. 233 Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, 81 u. 83 f. 234 Ebd., 68. 235 Ebd., 84. 232

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Man kann Kants Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte als Kommentar zu dem konfliktreichen Spannungsverhältnis zwischen dem biblischen Anfang der Geschichte und dem hypothetisch erschlossenen Naturzustand der Naturrechtstradition lesen. Auf elegante Weise verschränkt Kant die beiden traditionell streng unterschiedenen Ursprungsszenarien ineinander. Mit Raffinesse macht er dabei die Dignität und Überzeugungskraft der Offenbarungsgewißheit zum Anwalt der Vernunft. Die Souveränität, mit der die Vernunft die Offenbarung in ihren Dienst stellt, zeigt die Sicherheit, die der Vernunft seit Beginn des 18. Jahrhunderts zugewachsen war. Wenn sie sich bei Heumann mit großer Vorsicht in den Offenbarungstext einschreiben mußte, so läßt sie sich bei Kant durch die Offenbarung ihre autonome Entstehung und Entwicklung bestätigen. Von der Vernunft gleichsam aufgesogen, ist der von der Mosaischen Urkunde beherrschte Anfang der Menschengeschichte an ein Ende gekommen.

B. Zum Gegensatz von Historie und Geschichtsphilosophie Der Begriff der »Mutmaßung« bezeichnet in unterschiedlicher Hinsicht die problematischen Grenzen historischer Rekonstruktion, wo im 18. Jahrhundert die Bedingungen der Möglichkeit historischen Fragens und Arbeitens zur Disposition stehen. Auf Mutmaßungen, d. h. auf hypothetisches Schließen ist die historische Arbeit angewiesen, will sie die Quellengrundlage kritisch erforschen und den pyrrhonistischen Zweifel über seine Methodisierung verarbeiten. Im Blickfeld der Aufklärungshistorie besitzt aber das Problem der Mutmaßung als Frage nach der kausalen Verknüpfung von Ereignissen ein stärkeres Profil. Denn die historische Erzählung, mit der die Geschichte als »pragmatischer« Zusammenhang sichtbar werden soll, kommt ohne Mutmaßungen nicht aus. Kant, dessen Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte mit einer Erörterung des Problems der Mutmaßungen einsetzt, formuliert diesen Grundsatz der Aufklärungshistorie wie folgt: »Im Fortgange einer Geschichte Mutmaßungen einzustreuen, um Lücken in den Nachrichten auszufüllen, ist wohl erlaubt: weil das Vorhergehende als entfernte Ursache und das Nachfolgende als Wirkung eine ziemlich sichere Leitung zur Entdeckung der Mittelursachen abgeben kann, um den Übergang begreiflich zu machen«.236 Etwas ganz anderes ist es dagegen, »eine Geschichte ganz und gar aus Mutmaßungen entstehen zu lassen«. Dies nämlich würde heißen, ohne das Fundament historischer »Nachrichten« zu arbeiten, mit dessen Hilfe die historische Mutmaßung erst methodisch ins Werk gesetzt werden kann. Ohne Nachrichten läuft diese Praxis sozusagen ins Leere. Kant kommentiert: Eine Geschichte auf diese Weise verfassen, »scheint nicht viel besser, als den Entwurf zu einem Vgl. ebd., 67; zum Problem der historischen Kausalität (und zu den dafür in Anschlag gebrachten Kategorien) in der deutschen Aufklärungshistorie Reill, The German Enlightenment, 100ff. 236

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Roman zu machen. Auch würde sie nicht den Namen einer mutmaßlichen Geschichte, sondern einer bloßen Erdichtung führen können«. Ist also auch Kants Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte nur eine Fiktion? Im Netz der Differenzierungen Kants keineswegs, denn er kennt eine weitere Unterscheidung: »Eine Geschichte der ersten Entwickelung der Freiheit aus ihrer ursprünglichen Anlage in der Natur des Menschen ist daher ganz etwas anderes, als die Geschichte der Freiheit in ihrem Fortgange, die nur auf Nachrichten gegründet werden kann«. Kant macht aus der Not eine Tugend. Da die Rekonstruktion des Anfangs der Geschichte auf keine sichere Nachrichtenlage vertrauen kann, muß es der philosophischen Vernunft erlaubt sein, zumindest den ersten Anfang der Geschichte »durch Mutmaßung« aufzuklären. Damit aber der hypothetisch erschlossene Anfang nicht zur bloßen Erdichtung wird, muß die philosophische Mutmaßung auf sichere philosophische Prämissen bauen. Nach Kant sind es die folgenden: Daß »den ersten Anfang« der Geschichte »die Natur macht« und diese menschliche Natur von Anfang an konstant ist.237 Dadurch nämlich besitzt die philosophische Mutmaßung in der Erfahrung (die »im ersten Anfang nicht besser oder schlechter gewesen, als wir sie jetzt antreffen«) ihrerseits ein Mittel, das sie, analog zur historischen Nachricht, ins Werk setzen kann: »eine Voraussetzung, die der Analogie der Natur gemäß ist und nichts Gewagtes bei sich führt«. Eben diese Voraussetzung sah Kant in Frage gestellt, als Herder im ersten Band der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, der 1784, also im selben Jahr wie Kants Idee zu einer allgemeinenen Geschichte erschien, die Idee einer »Verwandtschaft« der Lebewesen ins Spiel brachte. Denn eine solche Verwandtschaft, so Kant in seiner Rezension, »da entweder eine Gattung aus der andern und alle aus einer einzigen Originalgattung oder etwa aus einem einzigen erzeugenden Mutterschoße entsprungen wären, würde auf Ideen führen, die aber so ungeheuer sind, daß die Vernunft vor ihnen zurückbebt, dergleichen man unserm Verf., ohne ungerecht zu sein, nicht beimessen darf«.238 Geschichtsphilosophie und Historie, die sich im 19. Jahrhundert als unversöhnliche Kontrahenten gegenübertreten, profilierten sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erst allmählich als gegensätzliche Projekte. Der Begriff »philosophische Geschichte«, die gebräuchlichste Namensform für Geschichtsphilosophie im 18. Jahrhundert,239 bezeichnet damals hinsichtlich der Erkenntnisform ein breites Spektrum unterschiedlicher Formen und Methoden der Darstellung der Vergangenheit, das von

Dazu Seifert, Von der heiligen zur philosophischen Geschichte, 113. Kants Rezensionen der beiden ersten Teile der Ideen erschienen 1785 in der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung; zitiert nach Kant, Schriften zur Geschichtsphilosophie, 40–66, hier 52. 239 Daß der Begriff in einer semantischen Opposition zur revelatorischen Geschichtserkenntnis steht und in dieser Hinsicht noch bei Hegel die Darstellung der Geschichte hinsichtlich ihrer Erkenntnisform bezeichnet, zeigt Seifert (Von der heiligen zur philosophischen Geschichte, 83 f.). 237 238

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der »systematischen« Universalhistorie der Göttinger Gatterer und Schlözer über die »räsonirende« Geschichtsschreibung Voltaires und die Zivilisationstheorien Goguets und Boulangers bis hin zu Iselins Geschichte der Menschheit reicht.240 Betrachtet man dieses Spektrum mit den Augen Kants, dann ist es das Problem des Anfangs der Geschichte, das die Differenzen sichtbar werden läßt, die unterschiedlichen inhaltlichen, formalen und methodischen Profile markiert. Als Geschichte, die gleichsam im höchsten Grad philosophisch ist, erweist sich in dieser Differenzierung der Versuch, den problematisch gewordenen Anfang der Geschichte unter Verzicht auf die Offenbarung durch Mutmaßungen zu erschließen, die auf philosophischen (naturrechtlichen, naturphilosophischen, naturgeschichtlichen oder anthropologischen) Prämissen und Axiomen gründen. Eine solche Menschengeschichte setzt das in seiner Differenz zur »Tierheit« aufgefaßte Gattungswesen Menschheit, also nicht die Menschheit als kollektive Einheit (wie Herder das für seine »Philosophie der Geschichte« beanspruchte),241 dadurch in Szene, indem die Entfaltung natürlicher Anlagen der Menschheit als ein historischer Entwicklungsprozeß vorgeführt wird. Zur Beschreibung dieser Entwicklung bringt sie unterschiedliche Erfahrungen ins Spiel, mit Vorliebe solche aus Neuen Welten. Kant hat in seinem Mutmaßlichen Anfang auf dieses Illustrationsmittel verzichtet. Mit der sich widersprechenden »unermeßlichen Menge von Völkerbeschreibungen oder Reiseerzählungen und allen ihren mutmaßlich zur menschlichen Natur gehörigen Nachrichten«, so sein ironischer Kommentar, könne man, »wenn man will, beweisen, daß Amerikaner, Tibetaner und andere echte mongolische Völker keinen Bart haben, aber auch, wem es besser gefällt, daß sie insgesamt von Natur bärtig sind und sich diesen nur ausrupfen; daß Amerikaner und Neger eine in Geistesanlagen unter die übrigen Glieder der Menschengattung gesunkene Rasse sind, andererseits aber nach eben so scheinbaren Nachrichten, daß sie hierin, was ihre Naturanlage betrifft, jedem andern Weltbewohner gleich zu schätzen sind«.242 Statt dessen hat Kant auf die Offenbarung vertraut, die der philosophischen Mutmaßung allerdings als ein bloßes Erläuterungsmittel dient. Der »Leitfaden« dagegen, den Kant ein Jahr zuvor der empirischen Bearbeitung einer Allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht vorgegeben hatte, ist auf eine andere Form der philosophischen Geschichte bezogen. Diese thematisiert die Geschichte der Menschheit als eine »Geschichte menschlicher Handlungen«,243 als

Vgl. (auch zum Folgenden) Verf., Zur Idee einer Geschichte der Menschheit, 280 ff. Herder distanziert sich ausdrücklich von der Auffassung der Geschichte der Menschheit als einer im logischen Sinn verstandenen Gattungsgeschichte; vgl. dazu Kants kritischen Kommentar in der Rezension des zweiten Teils der Ideen (Schriften zur Geschichtsphilosophie, 65 f.). 242 Kant, Rezensionen von J.G. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Ders., Schriften zur Geschichtsphilosophie, 61 f. 243 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, 21. 240 241

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»Geschichte der Freiheit in ihrem Fortgange, die nur auf Nachrichten gegründet werden kann«. Weil diese Geschichte auf überlieferte Nachrichten angewiesen ist, setzt sie erst mit der Epoche ein, über die »beglaubigte« Überlieferungen vorliegen, d. h. für Kant, hierin David Hume folgend, mit der griechischen Geschichte als »derjenigen, wodurch uns jede andere ältere oder gleichzeitige aufbehalten worden, wenigstens beglaubigt werden muß«. In der erläuternden Fußnote entschärft Kant auf elegante Weise den mit einem solchen Konzept weiterhin verbundenen Konflikt mit der heiligen Geschichte: »Nur ein gelehrtes Publikum, das von seinem Anfange an bis zu uns ununterbrochen fortgedauert hat, kann die alte Geschichte beglaubigen. Über dasselbe hinaus ist alles terra incognita; und die Geschichte der Völker, die außer demselben lebten, kann nur von der Zeit angefangen werden, da sie darin eintraten. Dies geschah mit dem jüdischen Volk zur Zeit der Ptolemäer durch die griechische Bibelübersetzung, ohne welche man ihren isolierten Nachrichten wenig Glauben beimessen würde. Von da (wenn dieser Anfang vorerst gehörig ausgemittelt worden) kann man aufwärts ihren Erzählungen nachgehen. Und so mit allen übrigen Völkern. Das erste Blatt im Thukydides (sagt Hume) ist der einzige Anfang aller wahren Geschichte«.244 »Nachrichten« sind die Bedingung der Möglichkeit einer solchen Geschichte. Zur philosophischen Geschichte wird sie dadurch, daß die Vorstellung die Nachrichten gleichsam verlebendigt, ihnen Sinn und Bedeutung verleiht. Es ist die Idee eines kontinuierlichen Handlungszusammenhangs, die diese Geschichte als eine philosophische Geschichte auszeichnet, die Vorstellung »einer vielleicht unabsehbaren Reihe von Zeugungen, deren eine der andern ihre Aufklärung überliefert«.245 Von diesem Maßstab ausgehend, können ausschließlich Nachrichten Interesse beanspruchen, die den Überlieferungszusammenhang »Aufklärung« dokumentieren. Auch diese philosophische Geschichte gründet nach Kant in der menschlichen Natur, die der »Reihe der Zeugungen« bedarf, »um endlich ihre Keime in unserer Gattung zu derjenigen Stufe der Entwickelung zu treiben, welche ihrer Absicht vollständig angemessen ist«. In dieser Hinsicht also konvergieren die beiden unterschiedenen Formen philosophischer Geschichte. Doch weil die von Generation zu Generation überlieferte Aufklärung nur für den Fortgang der Gattung, nicht für ihre anfängliche Geschichte konstitutiv ist, bleibt davon der Unterschied der Rekonstruktionsweisen des Mutmaßlichen Anfangs und der Idee zu einer allgemeinen Geschichte unberührt.

Ebd., 36f.; dazu Hume, Essays moral, political and literary, London 1741, benutzt in: The Philosophical Works, hg. v. Thomas Hill Green u. Thomas Hodge Grose, 4 Bde., Bd. 3, London 1885, 414: »The first page of THUCYDIDES is, in my opinion, the commencement of real history. All preceding narrations are so intermixed with fable, that philosophers ought to abandon them, in a great measure, to the embellishment of poets and orators«. Dies steht im Kontext eines Vergleichs alter und moderner Staaten, der die Widersprüche der Überlieferung zur ältesten Geschichte thematisiert. 245 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, 23. 244

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Die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht läßt sich als ein philosophischer Kommentar zu den Idealen lesen, mit denen die pragmatische Aufklärungshistorie die Geschichte neu vermessen und bearbeitet hatte.246 Kant bezog sich mit seiner Idee vor allem auf Schlözer und dessen Konzept einer »systematischen Weltgeschichte« (als kontinuierlicher Handlungszusammenhang). Schlözer hatte dieses Geschichtsmodell der neuen »Geschichte der Menschheit« entgegengestellt, »die bisher meist von Philosophen bearbeitet worden, da sie ein Eigentum des Historikers ist«.247 Es ist kein Zufall, daß er zur Markierung des Konkurrenzverhältnisses zwischen Philosophie und Geschichte das Stichwort »Geschichte der Menschheit« aufruft, jene Begriffsverbindung also, die im Titel von Iselins acht Jahre zuvor erschienenen Philosophischen Mutmaßungen steht. Innerhalb von wenigen Jahren war »Geschichte der Menschheit« zu einem »Lieblingsbegriff« und »Lieblingsstudium der Zeit« aufgestiegen.248 Geschichte der Menschheit bezeichnete die anthropologische Geschichtsphilosophie, die »natürliche Geschichte des Menschen«, insbesondere aber Forschungen über den Menschen »in den ersten rohen Naturzuständen, oder bey den Anfängen und ersten Fortgängen der Cultur«, die der Philosophie Beobachtungsmaterial über den Menschen liefert: »was er wirklich ist, so wie ihn die Natur aus ihrer Hand frey dahin stellt, seinen Trieben und Kräften allein überlassen«.249 Das war genau das Begriffsverständnis von Jens Kraft, der in einer Anfang des 19. Jahrhunderts publizierten Retrospektive auf Texte zur »Geschichte der Menschheit« als der erste »ganz eigentliche und besondere Historiker der Menschheit« bezeichnet wird.250 Eine so verstandene »neue« Geschichte haben Historiker wie Schlözer und Kulturhistoriker wie Johann Christoph Adelung im Visier,251 deren Arbeiten auf historischer Überlieferung und nicht auf Berichten über »wilde« Völker gründen. Mochten Philosophen wie Voltaire über Geschichte »räsonnieren«. Diese philosophische Geschichte Hans-Jürgen Pandel, Pragmatisches Erzählen bei Kant. Zur Rehabilitierung einer historistisch mißverstandenen Kategorie, in: Von der Aufklärung zum Historismus. Zum Strukturwandel des historischen Denkens, hg. v. Horst Walter Blanke u. Jörn Rüsen, Paderborn u. a. 1984, 133–151. 247 Schlözer, Vorstellung der Universal-Historie, 244. 248 Johann Nicolas Tetens, Philosophische Versuche über die verschiedene Natur, 2 Bde., Leipzig 1777, Bd. 2, 370; Bibliothek der Geschichte der Menschheit, hg. v. C.C.C. Hirschfeld, Leipzig 1780–1785, 8 Bde., unpag. Vorbericht zu Bd. 1. 249 Bibliothek der Geschichte der Menschheit, unpag. Vorbericht zu Bd. 1; diese »Spuren von dem ursprünglichen Zustande der Menschheit« müsse man jetzt mit Sorgfalt sammeln, da die »neuern Beobachtungen dieser Art […] immer seltener werden«. 250 Carus, Ideen zur Geschichte der Menschheit, 17. 251 Mit dem Projekt einer »Geschichte der Cultur« hätten die »so genannten Geschichten der Menschheit« nichts gemein: »allein schon der Ausdruck zeiget, daß man von der Sache selbst nicht den gehörigen Begriff hatte. Menschheit kann der Ableitung und dem Sprachgebrauche nach nichts anders bedeuten, als die menschliche Natur, und die ist denn von der Cultur des menschlichen Geschlechts doch noch sehr verschieden« (Versuch einer Geschichte der Cultur, unpag. Vorrede). 246

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ließ sich, da sie beanspruchte, von historischen Nachrichten auszugehen, durch historische Kritik leicht übertrumpfen: »Denkmäler, Annalen, und Spezialgeschichten« lehren, so Schlözer, wie die Erde und ihre Menschen früher waren, »Fabeln, Romane, und Voltaires zeigen, wie sie hätte seyn können«.252 Eine philosophische Geschichte aber, in der wie in Iselins Geschichte der Menschheit der Anfang der Geschichte hypothetisch mit philosophischen Erkenntnismitteln erschlossen und der historische Entwicklungsgang aus einer ursprünglichen Naturbestimmung abgeleitet wurde, war allein mit historischen Instrumenten nicht aus den Angeln zu heben. Ihre Evidenz lag außerhalb des Netzes historischer Quellenkritik, aus denen der Historiker seine methodische und fachliche Legitimation bezog: »Der Mensch ist von Natur nichts«, lautet Schlözers Gegenposition, »und kann durch Conjuncturen alles werden: die Unbestimmtheit macht den zweiten Teil seines Wesens aus«.253 Es war nicht zuletzt die Zunahme der Selbständigkeit der Historie, ihre institutionelle Etablierung als autonome Wissenschaftsdisziplin, die den Konflikt zwischen Historie und Geschichtsphilosophie erheblich verschärfte. Die knapp vierzig Jahre nach Schlözers Vorstellung der Universal-Historie publizierte Historik von Friedrich Rühs, dem ersten Professor der Geschichte an der 1810 eröffneten Universität Berlin, kann dies verdeutlichen. Die Grenzen zur Geschichtsphilosophie, die Schlözer differenzierend zog, sind bei Rühs zu undurchlässigen Grenzen unterschiedlicher Disziplinen geworden. »Bei der allgemeinen Verbreitung einer höhern philosophischen Cultur«, so Rühs im ersten, der Methodologie gewidmeten Abschnitt seiner Propädeutik des historischen Studiums, »suchte der Philosoph auch in das Chaos der Geschichte ein höheres Leben zu bringen; es entstand die Geschichte der Menschheit, womit sich manche vortreffliche Männer beschäftiget haben«.254 Dieses Bemühen ist für Rühs allein im Blick auf seine heterogenen Resultate desavouiert: »aber man sieht aus den ganz verschiedenen Definitionen, die sie aufstellten, und der verschiedenen Behandlung, daß sie nur unbestimmte, schwankende Begriffe darüber hatten: bald wollen sie Philosophie auf Geschichte anwenden, bald aus anthropologischen, historischen, moralischen und politischen Fragmenten ein Ganzes zusammensetzen, und bald wieder halten sie sich auf dem Gebiet der Ethnologie«. Der Geschichte ein »allgemeines Princip« unterzuschieben, sei aber auch prinzipiell ein »grosser Fehlgriff«, d.h. für Rühs: ein Übergriff der Philosophie auf ein Gebiet, das von der historischen Forschung besetzt ist. Die Disziplin Geschichte folgt ihren eigenen methodischen Regeln und Erkenntnisinteressen, sie muß, so Rühs, »wie jede Wissenschaft, um ihrer selbst willen studirt werden«. Daraus ergebe sich ihr Nutzen, nicht aus einem Interesse, das in ihren autonomen Bezirk von außen hin252 253 254

Schlözer, Vorstellung der Universal-Historie, 221. Ebd., 223. Vgl. Friedrich Rühs, Entwurf einer Propädeutik des historischen Studiums, Berlin 1811, 12 ff.

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eingetragen wird. Geschichtsphilosophie, wie sie Kant betrieben hatte, ist für Rühs ein Projekt, das innerhalb der Philosophie legitim sein mag: »historisch ist die Geschichte der Menschheit nichts weiter, als die Universalgeschichte; philosophisch kann sie allerdings aus der Idee, abgesehen von allem Factischen und allen Bedingungen der Erscheinung, construirt werden, gehört aber als solche lediglich der Philosophie an«. Als Philosophie kann die Geschichtsphilosophie für Rühs aber keinen Einfluß auf die Geschichte (im doppelten Sinn des Wortes) geltend machen. Gerade das aber hatte Kant mit seiner Idee beansprucht. Die Historie, wendet Rühs dagegen ein, »erkennt diesen Grundsatz nicht an, und indem sie das Wirkliche möglichst rein aufzufassen und durch die Darstellung wiederzugeben sucht, ist sie ganz um das Resultat unbekümmert, das daraus hervorgehen mag«.255 Gegen den geschichtsphilosophischen Grundsatz der Naturbestimmung des Menschen steht bei Rühs, wie schon bei Schlözer, die historische Evidenz, daß der »Zustand des Menschen« keine »Absicht der Natur sey; er geht einzig und allein durch die Bestrebungen und die Thätigkeit der Menschen hervor«.256 Das Reich historischer Fakten ist ein Reich, über das die Geschichte souverän herrschen will und das sie besonders dann zur Geltung bringt, wenn ein »Factum« wie die Französische Revolution zur »empirischen Bestätigung« geschichtsphilosophischer Entwürfe herangezogen wird.257 Auf der Schwelle zum Historismus verweist Rühs die Geschichtsphilosophie in die Schranken der Philosophie, der die Geschichte als eine autonome Disziplin gegenübertritt: »Der Philosophie kommt also durchaus kein unmittelbarer Einfluß auf die Geschichte selbst zu; beide sind vielmehr einander entgegengesetzt«.258 Nur als formale Philosophie, als Mittel zur Schärfung der eigenen Methodologie,259 gesteht die zur Wissenschaft aufgestiegene Geschichte der Philosophie einigen Einfluß zu, nicht zuletzt deshalb, weil die Logik gegen mutmaßliche geschichtsphilosophische Hypothesen wie die eines »ursprünglichen Zustandes der Menschen« ins Feld geführt werden kann, besonders gegen die »von neuesten Philosophen« vertretene Hypothese eines weisen Urvolks, die, in der Nachfolge von JeanSylvain Bailly und Delisle de Sales, im frühen 19. Jahrhundert von deutschen Philosophen wie Schelling oder Fichte vertreten wurde.260

Ebd., 34. Ebd., 33. 257 Vgl. ebd., 31. 258 Ebd., 34; obgleich beide, führt Rühs aus, »wenn sie richtig verfahren auf verschiedenen Wegen häufig miteinander zusammentreffen werden«. 259 Der »historische Gebrauch der Philosophie« beschränkt sich vor allem »auf die Methode und Beurtheilung der Geschichtsforschung, wofür die Regeln von ihr gegeben werden« (ebd., 34). 260 Vgl. (auch zum Folgenden) ebd., 33 f.; zur Rolle der Urvolkhypothese in der Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus Petri, Die Urvolkhypothese, 186 ff. 255 256

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Doch trotz aller methodologischen Selbstgewißheit, die Rühs Propädeutik vorführt: Das Problem des Anfangs der Geschichte, das im 18. Jahrhundert Geister schied, Ideen in Bewegung setzte und Methoden schärfte, war für die Geschichte auch zu Anfang des 19. Jahrhunderts keineswegs ein methodisch disziplinierter Bezirk. Mochte der mutmaßliche, philosophisch erschlossene ursprüngliche Zustand des Menschen »mit der Geschichte im Widerspruch« stehen, da er historisch, also für Rühs: »in der Wirklichkeit«, nicht nachzuweisen ist, die Geschichte, die »von etwas Hypothetischem« nicht ausgehen darf, konnte ihren Widerspruch nur als Negation formulieren. Mit dem bloßen Eingeständnis des Nichtwissens aber fand sie sich auch im 19. Jahrhundert keineswegs immer ab. Denn zumindest in Form der Universalgeschichte überlebte der (biblische) Anfang der Geschichte,261 wenngleich auf eingeschränkte Weise, d. h. als »Urwelt«, »Vorwelt« oder mit dem heute geläufigen Begriff »Vorgeschichte» abgesondert von der eigentlichen Geschichte, wie dies Schlözer vorgezeichnet hatte: »Diese ganze Ur= und Vor=Geschichte, vom Anfange der Welt bis auf den Anfang des persischen Reichs, oder vielmehr die ärmlichen Ueberreste derselben, trenne ich also von der übrigen eigentlichen Weltgeschichte«.262 Der Abschied von der wirkungsmächtigen christlichen Tradition der »ganzen« Geschichte war speziell für die Geschichtswissenschaft ein langwieriger Prozeß, der deshalb bis weit ins 19. Jahrhundert fortdauerte,263 weil die Historie gerade wegen ihres methodischen Fundaments und ihrer disziplinären Abgrenzung den heiligen Text der Bibel als Quelle der frühesten Geschichte nicht mit jener Souveränität wie die Geschichtsphilosophie durch mutmaßliche Anfänge ersetzen konnte. Die Faszination, die der Anfang der Geschichte auf das 18. Jahrhundert ausgeübt hatte, wurde so an das 19. Jahrhundert weitergereicht, unter »Verlegung der Archive von einem Paradies zum anderen«.264 Der endgültige Verzicht der Geschichtswissenschaft auf den Anfang der Geschichte war abhängig von Vorgängen außerhalb der Grenzen der Geschichte: von der kritischen Arbeit der Bibelphilologie, der Entwicklung der Prähistorik, aber auch von politischen und sozialen Veränderungen, die zu einer Neuordnung der historischen Interessen führten und erst dadurch den Anfang der Geschichte auch im universalhistorischen Horizont der Historiker nur mehr als eine verlorengegangene Gewißheit erscheinen ließen.265 Vgl. Laudin, Changements de paradigmes dans l’historiographie allemande. Schlözer, Vorstellung der Universal-Historie, 271 u. 278. 263 Dazu Cartier, Licht ins Dunkel des Anfangs. 264 Olender, Die Sprachen des Paradieses, 21. 265 Vgl. Arno Seifert, Universale und nationale Tendenzen in der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, in: Akten des Symposiums Möglichkeiten und Grenzen einer nationalen Geschichtsschreibung, hg. v. Deutsch-spanischen Forschungsinstitut der Görres-Gesellschaft, o. O. 1984, 335–354. 261 262

SCHLUSS Das Buch der Geschichte als »zweite« Bibel

Sieht man auf die Gegenwart, dann ist der Anfang der Geschichte kein Problem, an dem sich der – seit den Zeiten Kants erheblich disziplinierte – »Streit der Fakultäten« entzündet. Die Erforschung der Vor- und Frühgeschichte ist Aufgabe eigener, spezialisierter Wissenschaftsdisziplinen, deren Fragestellungen und Methoden mit jener philosophischen Neugierde, die noch die Philosophie des deutschen Idealismus mit den Ursprüngen der Menschheitsentwicklung verband, nichts mehr zu tun haben. Ja die Fachphilosophie selbst ist heute zu einem guten Teil Philosophiegeschichte und hat sich den Regularitäten des historischen Wissens längst gebeugt.1 Geschichtsphilosophie, die beansprucht, die Vergangenheit in ihrer Totalität zu bezwingen, steht seit dem 18. Jahrhundert in unversöhnlichem Gegensatz zur historischen Forschung. Die ganze Geschichte auf der Grundlage von historischen Dokumenten mit den Mitteln und Instrumenten historischer Kritik »endgültig« rekonstruieren zu wollen, ist eine nicht einzulösende Utopie. Ein Text von 1803 kann abschließend verdeutlichen, wie der Versuch, die ganze Geschichte in ihrer traditionellen jüdisch-christlichen Funktion als Sinnstiftungsinstanz auf der Höhe historischer Kritik zu reetablieren, mit der Stillegung historischer Forschung erkauft werden muß. Verfasser des Textes ist der in Plauen im Vogtland geborene Privatgelehrte Johann Georg Heynig. In jener bewegten Zeit der Revolutionskriege und napoleonischen Herrschaft verdiente er sein Geld nicht als fest bestallter Universitätsprofessor, sondern als ein durch Frankreich und Deutschland wandernder, freier Schriftsteller, der eine große Zahl journalistischer, kulturgeschichtlicher und philosophischer Texte geschrieben hat.2 Darunter finden sich auch, fast möchte man sagen zwangsläufig, Ideen zu jenem Thema, das die Geister der Zeit so sehr umtrieb: nämlich zur Geschichte des großen Ganges der Cultur und der Menschheit in der Welt, eine Sammlung von Skizzen, in deren Zentrum das Projekt »Idee einer reinen kritischen Weltgeschichte« steht.3 Der Text beginnt nüchtern, denn Heynig schließt sich zunächst Vgl. Ulrich Johannes Schneider, Philosophie und Universität. Historisierung der Vernunft im 19. Jahrhundert, Hamburg 1999. 2 Heynig findet sich weder in der ADB noch NDB. Nur im DBA (nach Hamburger/Meusel und Haymann) sind einige biographische Daten sowie eine große Zahl von ihm verfaßter Texte verzeichnet. Kurz erwähnt wird Heynig bei Horst Walter Blanke, Historiographiegeschichte als Historik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, 151 u. 193 f. 3 Johann Georg Heynig, Ideen zur Geschichte des großen Ganges der Cultur und der Menschheit in der Welt, Zwickau 1803 (der Abschnitt Idee einer reinen kritischen Weltgeschichte 147 ff.). 1

Schluss

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den Argumenten der Historiker an: »Wenn des Menschen Weisheit in Gefahr geräth, zur Thorheit zu werden, so bald er sich in das Uebersinnliche verliehrt, so ist es nicht weniger der gleiche Fall, wenn er sich in das frühe Alterthum der Welt verliehrt, und ein in neuer Architektur fabrizirtes Gebäude da errichten will, wo wir nur einzelne, unkenntliche, verwitterte, verstümmelte Bruchstücke noch haben«.4 Denn ein »Geschichtsbuch, das uns mit unzweifelhafter Gewißheit erzählt, was von jeher, und bis auf unsere Zeiten in der Welt geschehen ist«, gebe es nicht und sei auch nicht zu erwarten. Geschichte nämlich, erläutert Heynig, ist nicht von Prinzipien, von »Hypothesen und Prämissen, wie fast alle andere Wissenschaften«, abhängig, »sondern blos von Factis, von Begebenheiten, und den Büchern, worin diese verzeichnet stehen«.5 Also die bekannten Argumente der Historiker, wenn man berücksichtigt, daß Heynig keineswegs einem kruden Quellenpositivismus das Wort redet, also sehr wohl weiß, daß »Facta« erst durch »causale, oder pragmatische Zusammenstellung derselben« zur Historie werden. Der methodisch begründeten Reduktion des Erkenntnisanspruches und dem damit verbundenen Verzicht auf die Totalität der Geschichte korrespondiert ein offener, prinzipiell unabgeschlossener Forschungsprozeß, welcher der modernen Geschichtswissenschaft den Zwang zu immer neuen Differenzierungen und Revisionen auferlegt. Eben diesen stets prekären Blick zurück in eine stets problematische Geschichte mag aber Heynig mit dem Rückzug auf die überlieferten Quellen nicht erkaufen, über der neuen »kritischen Geschichte« die Totalität und Geschlossenheit der Geschichte nicht verlieren. Zur Lösung des Problems schlägt der emsige Gelehrte die Abfassung eines »allgemeinen, kritischen Geschichtsbuchs« vor und entwickelt für dessen Ausarbeitung ein detailliertes Forschungsprogramm. Zunächst müßte endgültig auf die »Nacht der Vorzeit« verzichtet und genau erforscht werden, wann die Zeit anfängt, »wo ächte und reine, wo bewährte und kritische Geschichte für uns möglich wird«; sodann müßten alle verfügbaren Quellen zur Alten Geschichte erneut, und zwar von den besten Sprachkennern, kritisch geprüft werden, im Falle der Neueren Geschichte – d.h. bei denjenigen Völkern, die jetzt noch »blühen« – könnte jede Nation als ein »patriotisches Unternehmen«, geleitet von einer »historischen Commission«, die Geschichte ihres Volks unter »gewissenhafter Benutzung aller autorisirten Quellen« kritisch erforschen. Die Darstellung wiederum müßte möglichst ohne »Raisonnements und Reflexionen« auskommen, das Problem der Veränderlichkeit des historischen Standpunkts könnte man mit Hilfe von »alten Meistermännern und privilegirten Regelherren« in den Griff bekommen, die »im Namen aller andern öffentlich über die Geschichte« urteilen, so daß also alle gleichsam »aus einem einzigen Fenster heraus« in die Vergangenheit blicken.6 4 5 6

Ebd., 147. Ebd., 149. Vgl. ebd., 150, 152 f., 155 f., 159 f.

Das Buch der Geschichte als »zweite« Bibel

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Dies sind nur wenige zentrale Stichworte aus dem umfangreichen Forschungsprojekt. Ergebnis des Unternehmens wäre eine »allgemeine kritische Geschichte«, »möglichst unveränderlich« und »unwandelbar für alle Zeiten, wie Gottes Wort«, eine »historische Bibel, die kaum so dick, als unsere religiöse Bibel werden dürfte, indem unsere ganze wahre Geschichtszeit etwa 2000 Jahre beträgt«.7 Doch wenn die bisher angesprochenen Probleme, die der Kanonisierung der kritischen Historie im Wege stehen, verhältnismäßig leicht durch arbeitsteilige Effizienz und Autorität bewältigt und kontrolliert werden können und auch die in Zukunft weiter wachsende Geschichte dadurch verarbeitet werden kann, daß, so Heynig, »jede Nation alle 30, oder 50 Jahre von dazu erwählten und verpflichteten Gelehrten das öffentlich […] nachverzeichnen ließe, was binnen dieser Zeit bei ihr sich zugetragen hat« –8 ein Problem bleibt, sozusagen als Relikt dieser Bemühungen, übrig: das Problem der Quellen. Bei aller Regelungswut sind sie ja immer noch in den Archiven und Bibliotheken vorhanden und können deshalb die kanonisierte Geschichtsbibel immer wieder neu in Frage stellen. Und wenn Heynigs bisherige Vorschläge dem modernen Historiker ein anerkennendes Lächeln entlocken mögen, so zeigt er sich ihm bei seinem Vorschlag, dieses Problem zu lösen, als Schreckgespenst und Karikatur des radikalen Philosophen, dem nur lästig ist, was dem Historiker »heilig« ist. Am besten, meint Heynig, der abschließend die allmähliche Unterwanderung der Universitäten und Disziplinen durch die Geschichte beklagt, während für die Philosophie, die »weit schwerere Wissenschaft, wenig oder nichts gethan wird«, am besten also man »verbrennt« (im Original gesperrt gedruckt) die zuvor »getreulich und gewissenhaft benutzten Quellen«; dadurch werde »auf einmahl« alle »pedantische Grieskrämerei und ängstliche Supplimentensucherei«, das »grenzenlose Geschreibsel über die Geschichte« beendet und »viele edle Zeit und Kraft zum besten der Welt und der Menschheit« gerettet, »die anders und besser verwendet werden kann, als zum Herumgrübeln in alten, redlich und gewissenhaft schon benutzen Büchermassen«. Die Vorteile der Realisierung seines Projekts faßt Heynig folgendermaßen zusammen: »Alle Professuren der Geschichte auf Universitäten und Gymnasien werden durch Realisirung jener Idee völlig überflüßig gemacht«; denn: »Jeder Mensch, dem die Vergangenheit nicht gleichgültig ist, nimmt das Buch der Geschichte, oder die zweite Bibel in die Hand, lies’t und studiert darin, denkt und reflectirt über die Schicksale der Völker und der Menschen, und verschaft sich auf diese Art eine historische Kenntniß, die für sein Leben und Handeln völlig hinreicht«.9 Heute, im Rückblick, liest sich Heynigs Programm wie ein ironischer Kommentar zur Kanonisierung und Sinnstiftungsfunktion des Historismus. Eine Evidenz der mo7 8 9

Ebd., 167, 185. Ebd., 160. Ebd., 163, 178 f., 187.

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Schluss

dernen Vergangenheitsdisziplinen aber lehrt Heynigs distanzierter Blick auf die deutsche Universität gerade in seiner Vernichtungsphantasie in weiterhin gültiger Eindringlichkeit: Die stumme Herrschaft der Relikte der Vergangenheit, der sich jeder zumindest insofern willig beugt, als er durch Lektüre seine Rede über die Vergangenheit gültig macht.

DANK

Bücher haben ihre Geschichten, lautet eine viel zitierte antike Weisheit. Dieses Buch verdankt sich zu einem Gutteil kritischen Lesern, die seine Entstehung nachhaltig begleitet haben. Florian Neumann prüfte Übersetzungen aus dem Lateinischen mit philologischen Argusaugen, Robert Folger spürte mit findigem Scharfsinn entlegene Belegstellen auf und Martin Mulsow öffnete bereitwillig seinen Wissensschatz zum 18. Jahrhundert. Sie trugen zur ersten Fassung bei, die 1996 der Philosophischen Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München als Habilitationsschrift vorlag. Ohne die Förderung und Liberalität von Laetitia Boehm, an deren Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte ich von 1986 bis 1997 lehren und forschen konnte, und ohne ein großzügiges Stipendium der Görres-Gesellschaft, das 1994/95 den Freiraum zum Schreiben gab, wäre die erste Fassung nicht entstanden. Der Weg zum vorliegenden Buch war lang und verschlungen. Er führte zu einer neuen Gestalt. Auch auf diesem Weg haben Kritik und Aufmunterung von Lesern für Bewegung gesorgt. Annette Meyer und Michel Kowalewicz danke ich für intensive Lektüre, Horst D. Brandt und Marcel Simon vom Felix Meiner Verlag für aufmerksame Betreuung, Carsten Zelle für ein in kurzer Zeit verfaßtes Gutachten. Drei Menschen schrieben sich von Anfang an in dieses Buch ein. Ihnen gilt mein besonderer Dank. Arno Seifert las kurz vor seinem Tod 1987 den ersten, noch als Seminararbeit verfaßten Entwurf, Ulrich Johannes Schneider leuchtete mit hartnäckiger Kritik immer wieder die Grenzen der Arbeit aus, Gabriele Murrer setzte sich in unermüdlicher Beständigkeit mit jeder noch so unbedeutenden Veränderung auseinander, machte mir Mut und brachte das Buch in die vorliegende Gestalt. Diesen drei – dem Lehrer, dem Freund, der Lebensgefährtin – ist dieses Buch gewidmet. München im Juli 2003 Helmut Zedelmaier

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REGISTER

Das Register verzeichnet alle historischen und mythologischen Personennamen. Der Zusatz »A.« verweist auf Stellen in den Anmerkungen. Steht ein Name sowohl im Haupttext als auch in den Anmerkungen, wird nur auf den Haupttext verwiesen. Nicht verzeichnet sind Namen aus Literaturverweisen. Abbt, Thomas 164, 249, 269f. Abel 78 Abraham 113 A. 225, 120, 126 A. 285, 128, 129 A. 296, 135 A. 5 Adam 4, 8, 12–14, 16, 19f., 28, 38, 39, 40 A. 68, 42 A. 77, 47, 54 A. 131, 56 A. 140, 64–66, 68f., 77f., 87–88, 97, 117, 118 A. 251, 124, 126–128, 155 A. 101, 157, 238, 272 Adelung, Johann Christoph 245 A. 2, 295 Aemylius, Paulus 49 A. 109 Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius 45 A. 94 Alexander d. Gr. 222 Alsted, Johann Heinrich 89 A. 130 Apollonios 87 A. 121 Aristoteles 32 A.42, 60, 75 A.70, 79 A.87, 91 A. 139, 107 A. 199 Assmann, Jan 216, 227, 230f. Augustinus 11, 82 A. 98 Bacon, Francis 17f., 108 A. 206 Bailly, Jean-Sylvain 213, 240, 297 Banier, Antoine 195, 224 Basnage de Beauval, Jacques 224 Battel, Andrew 277 Baumgarten, Alexander Gottlieb 250 Baumgarten, Siegmund Jacob 135, 137–147, 149 A. 77, 150 A. 79, 155–157, 159f., 162–164, 172–174, 177, 179, 188, 194, 196, 256 Bayle, Pierre 60f., 67 A. 33, 78, 94 A. 147, 97, 102 A. 178, 109f., 149 A. 77, 272 A. 151 Becmann, Johann Christoph 33 A. 48, 34 A. 48, 54 A. 130 u. 131

Bernier, François 94 A.150 Berosus 14 A.13, 21, 150, 152, 171, 174 Beyer, Christoph Wilhelm 159 A.116 Bianchini, Francesco 161, 193 Bielke, Sten 50 A.113 Bilefeld, Christ. 135 A. 4 Bochart, Samuel 86, 88 A. 126, 135, 195, 224 Bodin, Jean 43 A.82, 45 A.94, 47 A.101 Bodmer, Johann Jakob 164 A. 138 Bolingbroke, Henry Saint John Lord 139, 206 Borst, Arno 5 Bossuet, Jacques-Bénigne 177 A.205 Boulanger, Nicolas Antoine 9, 208, 213, 216–242, 253, 293 Brucker, Johann Jacob 8, 61, 105 A.190, 108 A.202 Bruno, Giordano 104 A.185 Budde, Johann Franz 63 A.15, 97 A.159 Büsching, Anton Friedrich 138 A. 15 Buffon, Georges Louis Leclerc Comte de 262 Burnet, Thomas 131 A.309, 150, 152 A.86, 156 Cadmus 206 Calixt, Georg 135 A. 4 Calov, Abraham 15f., 135 A.4 Camper, Peter 277 Carion, Johann 32, 54 Carl XII., König von Schweden 178 A.210 Carpzov, Johann Benedikt 72 A.56 Carus, Friedrich August 249 A.25 Casaubon, Isaac 81 A.96, 95 A.156 Cassius, Georg Andreas 110 A.212 Cecrops 206

Register Cellarius, Christoph 35, 55, 133, 135, 163 A. 137 Chamus 42 A. 77 Chladenius, Johann Martin 141, 153 Christus 72 Chytraeus, David 13, 127 Cicero 224 Clarendon, Edward of 103 A. 181 Clemens Alexandrinus 92 A. 140, 206 Colberg, Ehrengott Daniel 82 A. 99 Comenius, Johann Amos 89 A. 130 Condorcet, Marie-Jean-Antoine-Nicolas de 191 Conring, Hermann 74–76, 94 A.150, 135, 214 A. 124 Cornelius Nepos 33 Court de Gébelin, Antoine 213–215, 237–239 Cromwell, Oliver 117 A. 249 Crusius, Gerard 161 Cudworth, Ralph 149 A. 77 Cumberland, Richard 156, 195 Curtius Rufus 33 Dähnert, Johann Carl 216, 225, 227, 229 A. 178, 232, 234–236 d’Alembert, Jean Lerond 172 A. 181 Dapper, Olfert 29 A. 28, 277f. Darwin, Charles 2 Delisle de Sales 214f., 237–243, 297 Demetrios (von Phalerum) 129 A. 299 Descartes, René 89, 101 A.175, 106 A.197 d’Herbelot, Barthélemy 224 Dickinson, Edmund 86, 89 A. 130, 90 A. 136 Diderot, Denis 216, 217 A. 132 Diodorus Siculus 38, 152 A. 88, 170, 194, 199, 205f., 224 Diogenes Laertius 81f., 84, 95 A. 155, 109 A. 210 Dionysios von Halikarnassos 224 Du Plessis (Clavier-Duplessis) 213 Echnaton 230 Eleazar 120 A. 263 Elisabeth I., Königin von England 111 Enochus 40 A. 68, 42 A. 77 Enosus 40 A. 68, 42 A. 77 Epictetos 110

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Epigenes 14 A.13 Ernesti, Johann August 165f., 174–177 Eupolemus 129 Eusebios von Kaisareia 156, 206, 224 Eva 78, 126 A.285, 238 Fabricius, Johann Albert 128 Fellenberg, Daniel 260 Ferguson, Adam 201 A.73, 217, 241 Feuerlin, Jacob Wilhelm 157 A.107 Fichte, Johann Gottlieb 297 Ficino, Marsilio 14 Flavius Josephus 12–16, 67, 75, 129, 224 Fontenelle, Bernard de 41 Francke, August Hermann 72 A.55 Franz I., König von Frankreich 20 Frechulf von Liseau 13 Freret, Nicolas 162 A.132, 213 Frey, Jean-Rudolphe 248 A. 20 Friedrich Heinrich von Oranien 279 Friedrich I., König von Preußen 80, 110 A. 212 Friedrich II., König von Preußen 46 Friese, Marcus Detlev 50 A.113 Gale, Theophilus 59 A.6, 60 A.6, 81 A. 97 Galilei, Galileo 256 Gassendi, Pierre 94 A.150 Gatterer, Johann Christoph 176, 178, 180 A.218, 181f., 256, 285 Gebauer, Johann Justinus 155, 177f. Gebhardi, Ludewig Albrecht 144 A.45, 144 A.48, 178 Gerhard, Johannes 121 A.269 Gibbon, Edward 192 A.29 Goeze, Johann Melchior 138 A.15 Goguet, Antoine Yves 9, 191–215, 217, 219f., 224, 241, 248, 251 A.39, 258, 293 Goldsmith, Oliver 165–168, 170–176, 177 A.205 Gonzalez, Josephus Antonius 42 A.81 Goropius Becanus, Johann 44 A.89 Gottfried von Viterbo 13 Gray, John 165, 174 Grotius, Hugo 42, 49 A.109 Gundling, Nikolaus Hieronymus 46 A.97, 48, 51 A.116, 60, 70, 77–81, 83–97, 98 A.162, 112, 114, 118 A. 252, 141, 187, 204, 237

328

Register

Guthrie, William 165, 174 Hamann, Johann Georg 139 A. 24 Hamberger, Georg Christoph 192 A. 29 Hardouin, Jean 138 Hardt, Hermann von der 88 A. 126, 136 A. 9, 138 A. 20 Heber 116 Hegel, G.W.F. 292 A. 239 Heidegger, Johann Heinrich 16 Helvétius, Claude-Adrien 238 Herberstein, Sigmund von 49 A. 109 Herder, Johann Gottfried 84, 185, 187, 193, 241f., 246f., 251, 255, 259, 270, 273, 292f. Herodot 44 A. 85, 138, 194, 206, 224 Hesiod 194, 199 Heumann, Christoph August 8, 39, 58–61, 70, 74 A. 64, 77f., 80 A. 91, 82 A. 98, 83, 93, 96f., 99–101, 102 A. 178, 103–130, 131 A. 309, 157, 187, 200, 204, 206, 213, 291 Heyne, Christian Gottlob 165, 167 A. 153, 174f., 177 Heynig, Johann Georg 299–301 Hildebrand, Friedrich 55 A. 133 Hiob 211 A. 117 Hippokrates aus Kos 79 A. 87 Hirzel, Salomon 273 Hißmann, Michael 214, 237f., 240, 242f. Hobbes, Thomas 17, 20, 61f., 69f., 73, 188, 238 Holberg, Ludvig 177 A. 205 Home, Henry (Lord Kames) 250, 260, 282 Homer 79 A. 87, 138, 152, 161, 206 A. 94 Horaz 38, 138, 170 Horn, Georg 20, 29 A. 28, 59 A. 6, 60 A. 6, 77, 82 A. 98, 82 A. 99, 86 A. 120, 87 A. 120, 103 A. 181, 188f. Huët, Pierre-Daniel 42, 91 A. 139, 114, 195, 224, 227, 272 Hume, David 251 A. 39, 256, 294 Hyde, Thomas 224 Isaak 120 Iselin, Isaak 10, 246–271, 273f., 275 A. 165, 276, 282, 286, 293, 295f. Izouard, Jean-Baptiste-Claude s. Delisle de Sales

Jacob 208 Japhetus 43 A.82 Jaquelot, Isaac 67 A.33, 121 Javan 211 Johannes Cassianus 13 Joseph 122, 124 Justi, Carl 143 A.43 Kaempfer, Engelbert 224 Kain 40 A.68, 42 A. 77, 64, 65 A. 23, 68–70, 77f., 116, 156 Kant, Immanuel 9, 257, 283–294, 297, 299 Khun, Johann Kaspar 54 A.127 Kircher, Athanasius 13, 85 A.111, 94 A.150, 195 Kirchmaier, Georg Caspar 56 A.140 Korthold, Christian 82 A.99 Koselleck, Reinhart 257 Kraft, Jens 187, 190f., 232, 295 Kritodemos 14 A.13 Kyros 180, 208 A.100 La Peyrère, Isaac 11 A.2, 19–21, 42 A.81 Lafitau, Joseph-François 184, 187–191, 232 Le Clerc, Daniel 90 A.135, 214 A.124 Le Clerc, Jean 65, 86, 90, 97, 103 A.181, 107, 111 A.217, 193 A.33 Le Mascrier, Jean-Baptiste 138 Lehmann, Christoph 49 A. 109 Leibniz, Gottfried Wilhelm 49f., 52, 53 A.122 Lessing, Gotthold Ephraim 137, 138 A.15, 164, 172, 269, 271, 290 Liutprand von Cremona 95 A.154 Livius 33 Locke, John 90 A. 134, 117 A.249 Lot 110 Lowth, Robert 246 Ludewig, Johann Peter 34–53, 56, 88 A.127, 96f., 109, 141, 187 Lukrez 38 Luther, Martin 56, 63–65, 97, 123 A.274, 124 A.278, 126 A.285 Macrobius 224 Mader, Joachim Johann 13, 14 A. 13, 59 A.6, 60 A.6, 118 A.256 Maimonides 224

Register Manetho 150, 152, 157, 171, 174 Marianus (Marineo, Lucio) 49 A. 109 Marsham, John 79 A. 87, 85 A. 111, 94 A. 150, 227 Martini, Martino 20 A. 43 Medick, Hans 25 Meinecke, Friedrich 30, 270f. Meiners, Christoph 190 A. 22, 239 A. 230, 248 A. 21, 270 Melanchthon, Philipp 32, 54, 133, 135 A.4 Mendelssohn, Moses 250, 269 Mercurius, Franz 235 Merolla, Girolamo 278–280 Meusel, Johann Georg 178 Michaelis, Johann David 138 A. 15, 246 Middendorp, Jakob 76 A. 74 Miller, Johann Peter 164 A. 142, 249, 271 A. 142 Modena, Leon 224 Möller, Melchior Eustachius 56 A. 140 Montesquieu 197, 213, 241, 255, 260 Moore, Franz 280 A. 190 Morhof, Daniel Georg 76 A. 74, 88 A. 127 Moses 15–17, 21, 39, 42–44, 67, 82 A. 98, 87, 89 A. 128, 89 A. 130, 90f., 104 A. 187, 114, 118–124, 129, 133, 135f., 148, 150f., 156f., 170, 182, 194, 208, 210, 211 A. 114, 211 A. 117, 221, 227, 275 Mosheim, Johann Lorenz 137 A. 11 Münster, Sebastian 256 Nebukadnezar 212 Neugebauer, Salomon 49 A. 109 Neumann, Johann 61 A. 9 Nicolai, Friedrich 247, 255 A. 62, 269 A. 136 Niebuhr, Barthold Georg 178 A. 210 Nierenberg, Juan Eusebio 67 A. 33 Nietzsche, Friedrich 285 Noah 42 A.77, 43 A.82, 69, 72, 88 A.126, 90 A. 135, 156, 235, 238 Nösselt, Johann August 138 A. 15 Österling, Johannes 37 A. 56 Olender, Maurice 6 Ovid 224 Owen, John 117 A. 249, 121, 127 Panciroli, Guido 213 A. 124, 214 A. 124

329

Paracelsus (Theophrastus von Hohenheim) 19 Patrizi, Francesco 46 A.96 Paullini, Christian Franz 118 A.251 Pausanias 224 Pereira, Benito 15f. Peters, Martin 270 Petrus Comestor 13 Pfanner, Tobias 36 A.54, 46 A.95 Pfeiffer, August 129 A.297 Pfeiffer, Christoph Ludwig 279 A.186 Philon von Alexandrien 93 Pico della Mirandola, Giovanni 14 Platon 15, 60, 79 A.87, 91 A.137, 92, 224, 240 Plautus 138 Plinius d. Ä. 13, 138, 199, 206 Pluche, Noël-Antoine 227 A.168 Plutarch 161, 224, 228, 257 A.66 Polybios 257 A.66 Pontanus, Johannes Isaacus 49 A.109 Pope, Alexander 245 Postel, Guillaume 13 Prévost, Antoine François 277f. Pufendorf, Samuel 8, 21f., 24–35, 36 A.54, 38, 46–53, 70, 97, 141, 177 A. 205, 278 Purchas, Samuel 277f. Pythagoras 91 A.137, 92 Quenstedt, Johann Andreas 121 A.269 Rambach, Friedrich Eberhard 155 Rambach, Johann Jacob 135–137, 155 A.99 Rebecca 120 A.263 Rechenberg, Adam 61f. Regenfus, Vitus Hieronymus 157 A.107 Reill, Peter Hanns 31 Reimmann, Jakob Friedrich 16, 61–63, 67, 69f., 73, 76 A. 74, 119 A.257, 135 A.6, 157 Rey, Marc Michel 216 A.131 Rollin, Charles 176 A.200 Ross, Alexander 187–189 Rossi, Paolo 5 Rousseau, Jean-Jacques 10, 185f., 190, 203, 223, 232, 236, 238f., 241, 244–247, 251 A.38, 253 A.52 u.53, 258 A. 71, 259–282, 285–287, 289 Rühs, Friedrich 54 A.129, 178, 296–298

330

Register

Sale, George 144 A. 49, 148–150, 152, 155f. Salomon 77 A. 78, 91, 93 A. 144, 128 Sanchuniathon 150, 152, 156, 171, 174, 194f. Sara 126 A. 285 Sattler, Johann Paul 192 A. 29 Saul 93 A. 144 Saurin, Jacob 142 A. 37 Scaliger, Joseph 176 A. 203 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 297 Schirneck, Johann Adam 110 A. 213 Schlözer, August Ludwig 166, 167 A. 153, 177–180, 182f., 196, 222f., 240, 256, 270, 285, 293, 295–298 Schmincke, Johann Hermann 37 A. 56 Schubart, Johann Christoph 12 A. 6 Selden, John 42 A. 80, 118 A. 251 Sem 207 A. 97 Semler, Johann Salomo 138 A.15, 143 A.41, 144 A. 47, 159–162, 177, 178 A. 207 Seth 13f., 40, 42 A. 77, 64, 65 A. 23, 67, 77, 116, 127f. Simmler, Josias 49 A. 109 Simon, Richard 86, 127, 195 Sleidan, Johannes 32, 54, 133 Sokrates 60, 72, 104 A. 185, 105 Solis, Antonio de 234 A. 204 Spencer, John 79 A. 87, 85 A. 111, 227 Spinoza, Baruch de 17, 20, 42, 67, 110, 130, 235 Sprengel, Matthias Christian 178 Stahl, Georg Ernst 63 A. 15 Stanley, Thomas 82 A. 99, 87 A. 120, 100 A. 167, 103 A. 181, 109 A. 210 Stempel, Friedrich Hannibal 12 A. 6, 128 A. 291 Steucho, Agostino 13 Stillingfleet, Edward 149 A. 77 Strabon 44 A. 85, 224, 228 Stryk, Samuel 35 Sulzer, Johann Georg 250 Swift, Jonathan 274 A. 159 Tacitus 68 A. 36, 206 Thomasius, Christian 29 A. 29, 39, 46 A. 96, 60–77, 82 A. 101, 87,

88 A.127, 90, 96f., 105, 107 A.199, 111 A.220, 114, 121, 126, 187, 204 Thomasius, Jacob 29 A.29 Thukydides 294 Tindal, Matthew 235 Tobias 120 Toland, John 228, 235 Tonkiankannuo (Tong-kien-kang-Mou) 213 Torsellini, Orazio 133, 177 A. 205 Tribonianus 79 A.87 Turgot, Anne Robert Jacques 208, 209 A.102 Ulcken, Andreas 46 A.98 Ursinus, Johann Heinrich 16, 40 A.70, 121, 195 van Dale, Antonius 41 van Helmont, Franz Mercurius 39 A. 67 Varrentrapp, Franz 48 A.105, 51 A.116 Varro 151 Vasconcellus (André de Resende) 49 A.109 Vergil 138 Vergilius, Polydorus 13f., 49 A.109, 126 A.286 Veyne, Paul 6 Vico, Gianbattista 1, 55f., 114, 191f., 205f., 209, 220, 258 Vitruv 38, 170 Völkel, Markus 36 Voltaire 93, 139, 173, 189 A.15, 237, 246, 248, 251 A.38 u.39, 254, 257 A.66, 270f., 293, 295f. Vossius, Isaac 20, 103 A. 181 Waechtler, Christfried 29 A.29 Warburton, William 200f., 227 Weber, Immanuel 23, 24 A.6, 51 A.116, 53 Whiston, William 150, 157, 235 Wieland, Christoph Martin 179 A.214, 233 A.202, 255, 269, 271–276, 278 A.183, 279–284, 286 Winckelmann, Johann Joachim 251 A.39 Wit, Hermann 94 A.150 Wolff, Christian 115 A.234 Woolston, Thomas 235 Xenophon 257 A.66 Zernotte, Laurentius 35 A.50 Zöckler, Otto 2–4