Zeichen des Verfalls: Semantische Studien zur Entstehung der Kulturkritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert 9783666367175, 9783525367179, 9783647367170


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Zeichen des Verfalls: Semantische Studien zur Entstehung der Kulturkritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert
 9783666367175, 9783525367179, 9783647367170

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© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

Historische Semantik Herausgegeben von Bernhard Jussen, Christian Kiening, Klaus Krüger und Willibald Steinmetz

Band 18

Vandenhoeck & Ruprecht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

Theo Jung

Zeichen des Verfalls Semantische Studien zur Entstehung der Kulturkritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert

Vandenhoeck & Ruprecht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-36717-9 ISBN 978-3-647-36717-0 (E-Book) Umschlagabbildung: Thomas Couture 1815–1879. »Die Römer in der Verfallszeit«, um 1847, Entwurfskizze. Öl auf Leinwand. akg-images Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein sowie der FAZIT-Stiftung in Frankfurt am Main © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

Handlung, und Wort sind getrent, als trenten sie Berge; und die sind   dem unersteiglich, deß Geist reif bis zum Ernste nicht ist. Friedrich Klopstock1

1 Klopstock, Die Epoken, S. 132. Später erschien die Elegie unter dem Titel ›Die Denkzeiten‹. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Standortbestimmung und Interpretationsrahmen . . . . . . . . . . 13 Der lange Schatten der Kulturkritik . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Kritik und Geschichtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Heuristische Begriffsbestimmung und formale Charakteristik . 21 2. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Die Gipfelwanderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Kulturkritik, Gegenaufklärung, Anti-Modernität . . . . . . . . 30 3. Analytische und methodische Dimensionen . . . . . . . . . . . . . 37 Das Wechselspiel von Kultur und Kritik . . . . . . . . . . . . . . 37 Quellenanalytische Leitfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Historische Diskursanalyse, Quellenkorpus und Gliederung . . 48 I. Kulturkritik als Modus kulturgeschichtlichen Denkens . . . . . . . . 55 1. Verzeitlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Das Neue der Neuzeit ist ihre Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Kritik am Verzeitlichungsmodell der Moderne . . . . . . . . . . 62 Verzeitlichung und Kulturkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2. Semantiken der Kulturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Zeit in Zyklen und Linien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Das gespaltene Ganze der Kulturkritik . . . . . . . . . . . . . . 83 Der Begriff Zeitgeist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3. Außenwahrnehmung und Selbstinszenierung . . . . . . . . . . . . . 113

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Inhalt

II. Wirtschaftliche Mobilisierung und ihre Kritik . . . . . . . . . . . . . 123 1. Traditionen der Luxuskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Luxus zu Beginn des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . 127 Die Wirtschaftskrise von 1720: Politische und kulturelle Deutungen . . . . . . . . . . . . . . . . 132 2. Neue Konstellationen und semantischer Wandel . . . . . . . . . . . 140 Die querelle du luxe: Apologetik und Kritik im Widerstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Die soziale Dimension des Luxusbegriffs und seine Generalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Die problematische Verzeitlichung des Luxus . . . . . . . . . . . 159 3. Kommerzialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Die Debatte um die noblesse commerçante . . . . . . . . . . . . . 170 Die Kritik des kommerziellen Zeitalters . . . . . . . . . . . . . . 182 III. Wahrheit und Schein in der geselligen Gesellschaft . . . . . . . . . . . 189 1. Geselligkeit und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Lexikometrie und Begriffsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Dimensionen der geselligen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . 197 Kulturreflexion im Modus des Geschlechts . . . . . . . . . . . . 203 2. Schein als Prinzip des geselligen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . 214 Das Problem der Formalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Die Generalisierung des Scheins . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 3. Die Kritiker und die gesellige Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Die mondäne Satire und der kritische Tonwechsel . . . . . . . . 234 Misanthropie und das Selbstbild des Kritikers . . . . . . . . . . 244 IV. Sprachverfall und Widerrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 1. Grenzen der Sprachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Das Paradox des Ursprungs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Natur und ihr Gegenteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

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Inhalt

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2. Die Parallelentwicklung von Sprache und Kultur . . . . . . . . . . 279 Sprachliche Weltaneignung und die Aufgabe der Sprachaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Qualitative Sprachkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 3. Kulturkritik der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Sprachaufklärung als Sprachverfall . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Die historische Semantik der Metapher . . . . . . . . . . . . . . 300 Dichtung und Kulturkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 V. Das neue Denken und die kritische Besinnung . . . . . . . . . . . . . 315 1. Aufklärung und Gegenaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Eine Epoche im Zeichen des Lichts . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Gestalten der Gegenaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 2. Dimensionen der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Erkenntnismodus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Wissensordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 3. Die Alternative der Kulturkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467

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Vorwort

Diese Studie wurde ermöglicht durch ein Stipendium der Bielefeld Interna­ tional Graduate School in History, die 2008 in die im Rahmen des Exzellenz­ programms des Bundes geförderte Bielefeld Graduate School in History and Sociology übergegangen ist. Hinzu kam ein dreimonatiges Marie Curie Fellowship an der École Normale Supérieure zu Paris, ein so genanntes Early Stage Research Training im Rahmen des European Doctorate in the Social History of Europe and the Mediterranean Programms »Building on the Past«, gefördert durch die Europäische Union. Schließlich erhielt ich ein sechsmonatiges Abschlussstipendium zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses aus Rektoratsmitteln der Universität Bielefeld sowie eine Studienabschlusshilfe für internationale Graduierte aus Mitteln des Deutschen Akademischen Austausch Dienstes. Die Drucklegung dieser Arbeit wurde durch Zuschüsse der Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und der ­FAZIT-Stiftung ermöglicht. Allen diesen Institutionen sei an dieser Stelle für ihre finanzielle Unterstützung gedankt. Mein besonderer Dank gilt aber allererst meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Willibald Steinmetz, der diese Arbeit betreut und mich in allem stets unterstützt hat. Herrn Prof. Dr. Pim den Boer danke ich für die freundliche Übernahme des Zweitgutachtens. Im Laufe des Projektes hatte ich außerdem mehrfach die Ge­legenheit, mit Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fachgebieten über verschiedene Aspekte des Themas und seine Bearbeitung zu diskutieren. Ihre Denkanstöße und kritischen Bemerkungen haben wesentlich zu dieser Arbeit beigetragen. An dieser Stelle seien insbesondere Prof. Dr. Joachim Scharloth, Dr. Antoine Lilti, Prof. Dr. Dominique Margairaz, und PD Dr. Dominik Schrage Dank gesagt. Freiburg i. Br., im Juni 2012 Theo Jung

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Einleitung Alles ist nur noch Diskurs. Botho Strauß1

1. Standortbestimmung und Interpretationsrahmen Der lange Schatten der Kulturkritik Die Kulturkritik befindet sich heute in einer ambivalenten Lage. Einerseits scheint sie allgegenwärtig. Aus den Bereichen der Kunst und den Feuilletons der Presse ist ihre Stimme nicht mehr wegzudenken. Kulturkritisch orientierte Strömungen wie der Antiglobalismus, die Umwelt- sowie die verschiedenen Emanzipationsbewegungen prägen unsere politische Öffentlichkeit. Bis zum Überdruß begegnen wir ihren altbekannten Sprachmustern. Die Vertrautheit mit dem kulturkritischen Diskurs hat einige dazu veranlasst, ihn als »anthropologisches Phänomen« oder zumindest als notwendigen Aspekt jeder (reflexiven) Kultur überhaupt aufzufassen.2 »Das Jammern über die Dekadenz der Gegenwart ist ein zeitübergreifendes Phänomen, seinerseits merkwürdig immun gegen den Niedergang, den es konstatiert.«3 Ein solcher systematischer Blickpunkt bekommt aber eine zusätzliche, historische Dimension, wenn man sich vergegenwärtigt, dass trotz der Allgegenwart der Kulturkritik – vielleicht sogar wegen ihr – ihre frühere Kraft irgendwie nachzulassen scheint. Wie immer wieder festgestellt wird, wirken ihre Topoi überholt und automatisiert; sie erwecken den Eindruck, nur noch der intellektuellen Hochstapelei zu dienen; ihr überschwängliches Pathos scheint bei uns fehl am Platze; in ihrem Ton sind »Züge des Quengeligen und Säuerlichen, der Vornehmtuerei« hörbar.4 1 Strauß, Der Erste, S. 52. 2 Wie es der Philosoph Georges Gusdorf formuliert hat: »la critique de la civilisation est aussi ancienne que la civilisation elle-même.« Gusdorf, Luxe, S.  460. Siehe auch: Bollnow, Kritik an der Kulturkritik; Schnädelbach, Kultur und Kulturkritik, S.  166–167; Demandt, U­nbehagen; ders., Dekadenz als Mythos; Fischer, Dekadenz als Exportschlager. 3 Müller, Niedergang, S. 730. 4 Vgl. Seibt, Kulturkritik? Allerdings!, S. 29. Nach Ralf Konersmann ist die »Krise der Kritik« selbst ein Topos der Kulturkritik. Konersmann, Das kulturkritische Paradox, S. 16; ders., Kulturkritik, S. 7, 19. Siehe auch: Aerts und Van Berkel, Woord vooraf, S. 7–8; Figal, Kulturkritik, S. 83; W. Klein, Dekadenz, S. 203–205; Gumbrecht, Sprachanalytische ›Kultur­ kritik‹, S. 472; Mayer, So ging Kulturkritik; Werber, Einleitung. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Einleitung

Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch die Tatsache, dass sich die neuere Kulturkritik häufig als ›Wiederbelebung‹ der kulturkritischen Tradition versteht. Auch diejenigen, die eine zeitgenössische Kulturkritik, die über eine bloße dekorative Mechanik im Dienste der Unterhaltungsindustrie und Werbung hinausgeht, für möglich oder gar unvermeidbar halten, verspüren offenbar die Notwendigkeit, über die herkömmlichen Sprach- und Denkmuster hinauszuschreiten und neue Wege einzuschlagen. Auch sie können sich offenbar nicht dem Eindruck entziehen, dass – der Allgegenwart der kulturkritischen Sprache ungeachtet – diese Möglichkeit nicht ohne Weiteres gegeben ist.5 Es wird eine neuartige, auf ›zeitgemäße‹ Weise unzeitgemäße Kulturkritik gesucht, welche die »traditionelle[n] europäische[n] Dekadenztheorien« hinter sich lässt und »ent­ hysterisiert, abgekühlt und analytisch« auftritt.6 Welche Entwicklungen liegen diesem ambivalenten Resonanzverlust des kulturkritischen Diskurses zugrunde? Es sind verschiedene Möglichkeiten genannt worden. Der Germanist Georg Bollenbeck hat die veränderten Bedingungen der Kulturkritik mit dem Schwinden der »kulturellen Hegemonie des Bildungsbürgertums« in Verbindung gebracht.7 Über solche sozial-kulturellen Ursachen hinaus werden aber vor allem diskursive Entwicklungen erwähnt. In einem 1999 erschienenen Sonderheft der »Neuen Rundschau« über das Thema wiesen die Herausgeber darauf hin, dass viele der Beiträge auf den Ton eines Nachrufs gestimmt waren.8 Zur Erklärung führten sie den ›differenzierten‹ Charakter der gegenwärtigen Kultur an, der in ihren Augen die Wirkung der traditionellen Kulturkritik auf zweierlei Weise beeinträchtigt habe. Zunächst sind, so die Autoren, die unterschiedlichen Felder der (post-)modernen Gesellschaft nicht länger in ein allumfassendes Wertesystem integriert. Die mannigfaltigen Bereiche funktionieren parallel, nach ihren eigenen Kriterien und Dynamiken. Kein Einzelsystem sei den anderen überlegen, was die Identifizierung eines generel-

5 Korsten, The Wisdom Brokers; Heidbrink, Vorwort; ders., Kompensatorische Kulturkritik, S. 212–220, erneut als: ders., Kultur als Kompensation; Konersmann, Das kulturkritische Paradox, S. 35–37; Rohbeck und Nagl-Docekal, Geschichtsphilosophie und Kulturkritik; Henscheid, Die Nackten und die Doofen; Schmid Noerr, Durchs Labyrinth der Kultur, S. 35– 49; Kopperschmidt, Wozu Kulturkritik?, S. 75; Groscurth, Geschichtsphilosophie als Basis für Kulturkritik?; Bollenbeck, Geschichte der Kulturkritik, S. 275; Früchtl, Ist Kulturkritik heute noch möglich? Erwähnenswert ist auch die von Wolfram Pfreundschuh herausgegebene Webseite kulturkritik.net, die unter anderem ein kulturkritisches Lexikon bereitstellt. Vgl. Pfreundschuh, Kulturkritik. 6 Bohrer und Scheel, Kein Wille zur Macht, S. 658. 7 Bollenbeck, Geschichte der Kulturkritik, S. 271. Siehe auch: Van der Pot, Bewertung des technischen Fortschritts, Bd. 1, S. 210. 8 Vgl. Bauer, Mayer und Wittstock, Editorial. Siehe auch: Ullrich, Zentrifugalangst und Autonomiestolz; Seibt, Kulturkritik? Allerdings!; zu einem ähnlichen Ergebnis kommen: Konersmann, Krois und Westerkamp, Editorial. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

Standortbestimmung und Interpretationsrahmen

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len Charakters oder Geistes der Gesamtkultur – wie sie in Kulturkritik vorgenommen wird – ihre Überzeugungskraft nehme.9 Analog dazu seien auch die Kategorien, welche der Kritiker zu Zwecken der Kritik auf gesellschaftliche Phänomene anwendet, problematisch geworden. Typischerweise identifiziert der Kulturkritiker spezifische Phänomene als Ausdruck eines generellen Geistes, einer Epoche oder Kultur, die er in irgendeiner Weise als schädlich für das menschliche Leben betrachtet. Die Stimmigkeit dieser Zuordnung sei aber – so seine Behauptung – nicht jedem und immer unmittelbar offensichtlich. Der kritische Identifikationsakt werde erst durch eine Neufokussierung des observierenden Blickes möglich. Somit konstruiert der Kulturkritiker eine Spannung zwischen der Oberfläche der Dinge und ihrer eigentlichen Bedeutung. Dieser Aspekt der Wirklichkeit sei zunächst nur dem geschulten Blick des Kritikers zugänglich, der ihn seinem Publikum mit großem Pathos und Autorität zu vermitteln versucht.10 Derzeit wird es, so die Diagnose der Herausgeber der »Neuen Rundschau«, allerdings immer schwieriger, den Anspruch auf einen archimedischen Punkt – und die damit einhergehende Autorität zur wertenden Beurteilung des Ganzen – rhetorisch aufrecht zu erhalten. Die konzeptuellen Unterscheidungen, die das diagnostische Instrumentarium des Kulturkritikers ausmachen, entstammen notwendigerweise einem spezifischen kulturellen Feld. Die Tatsache, dass der Geist der Zeit beispielsweise als ›tot‹ oder ›krank‹ statt ›lebendig‹ und ›gesund‹ herausgestellt wird, setzt einen impliziten biologisch-medizinischen Referenzrahmen voraus. Alternativ verweisen Klagen über seine ›Verunstaltung‹, ›Falschheit‹, ›Verweichlichung‹, ›Disharmonie‹ oder ›Fragmentierung‹ jeweils auf einen bestimmten Interpretationsrahmen, der auf die Kultur im Ganzen angewendet wird. Wenn aber im Kontext kultureller Differenzierung die Kriterien des einen Systems für das andere inadäquat oder irrelevant erscheinen, ist eine solche Generalisierung dann noch legitim? Sieht die Kritik sich in dieser Situation nicht vielmehr gezwungen, sich ihrer Immanenz zu stellen und sich auf Partikularkritik, auf praktische Problemlösung im Kleinen zu beschränken?11 Während Kulturkritik in ihrer modernen Bedeutung viel von ihrer Anziehungskraft verloren hat, taucht das Wort in einem anderen Kontext neuerdings wieder auf. Das Hervortreten der Kulturwissenschaft als akademische Disziplin sowie der cultural turn in den Geisteswissenschaften haben ein Verständnis von Kulturkritik hervorgerufen, das lebhaft und aktuell ist, sich aber von dem herkömmlichen Begriff fundamental unterscheidet.12 Seit einigen Jahren bietet die 9 Vgl. Sieferle, Fortschrittsfeinde?, S. 22–29. 10 Siehe auch: Kopperschmidt, Wozu Kulturkritik?, S. 71–72. 11 Gunn, The Culture of Criticism, S.  3–7; Bollenbeck, Geschichte der Kulturkritik, S. 273–274; Konersmann, Kulturkritik, S. 14–17; Werber, Einleitung, S. 10–11. 12 Für einen Vergleich der beiden Begriffe von Kulturkritik, vgl. Mulhern, Culture /  Metaculture, S.  xiii–xxi, 77–79, 155–174. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Einleitung

Münchener Hochschule für Fernsehen und Film in Zusammenarbeit mit der Bayerischen Theaterakademie einen zweijährigen Aufbaustudiengang ›Kulturkritik‹ an.13 In Bezug auf die traditionelle Kulturkritik würde diese Art von Institutionalisierung befremdlich wirken. Das Pathos des Außenseiters bildet seit jeher einen konstitutiven Teil dieser Tradition. Der Versuch, die Vision der Kulturkritik institutionell zu vermitteln und aus den vereinzelten Denker eine professionalisierte Gruppe zu bilden, wäre dem zentralen Anliegen der Kulturkritik, der Konstruktion kritischer Distanz zur eigenen Kultur, zuwidergelaufen.14 Was in München unterrichtet wird, ist denn auch keine Kulturkritik im traditionellen Sinne. Kritik wird hier im Sinne der Beurteilung von Kunstwerken verwendet, nicht als die abwertende Diagnose des gesellschaftlichen Ganzen; Kultur bezeichnet eine Produktgruppe von besonderem ästhetischen Wert, vielmehr als den generellen Charakter einer historischen Lebensform. Das Programm bietet eine Ausbildung zum Kulturjournalisten, zugeschnitten auf Theater, Film und Fernsehen. Im deutschen Sprachgebrauch ist eine solche Verwendung des Kulturkritikbegriffs immer noch ungewöhnlich. Das Wort evoziert weiterhin an erster Stelle eine bestimmte philosophisch-literarische Tradition, die – selbst wenn sie mittlerweile vorwiegend in die Vergangenheit projiziert wird – als Teil des kulturellen Erbes ernst genommen wird. In den Vereinigten Staaten dagegen, wo der Terminus cultural criticism bzw. cultural critique zu keiner Zeit stark eingebürgert war und die Disziplin der cultural studies stärker als in Deutschland in der akademischen Landschaft verwurzelt ist, hat die neuere Verwendungsweise des Begriffs mittlerweile die Oberhand gewonnen.15 Anstelle der Tradition der Verfallsdiagnosen verweist das Wort primär auf die Disziplin der Kulturwissenschaften auf der einen, auf einen Teilbereich des Journalismus auf der anderen Seite. Auch im Sprachgebrauch macht sich somit eine schleichende Verschiebung in der diskursiven Konstellation bemerkbar, mit der sich die Kulturkritik heutzutage konfrontiert sieht. Das ›postmoderne‹ Denken – nicht zuletzt durch die Befürworter der Kulturwissenschaften vorangetrieben  – hat den übergreifenden Metaerzählungen, auf die sich auch die Kulturkritik stützte, den Kampf angesagt. Interpretationen kultureller Phänomene, die ihre Vielfalt auf den Ausdruck eines singulären Geistes reduzieren, erscheinen uns, die wir gelernt

13 Sucher, Kulturkritik Studium. 14 Eine nennenswerte Ausnahme ist der erste  – und bis heute einzige  – Internationale Kulturkritikerkongress, der 1958 in München abgehalten wurde. Aus Anlass des 800. Jahrestags der Stadt waren Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Hannah Arendt und andere eingeladen, über das Thema ›Untergang oder Übergang‹ zu diskutieren. Siehe das Ergebnis in: Freudenfeld, Untergang oder Übergang. 15 Siehe beispielsweise: Leitch, Cultural Criticism; Ebert, The Task of Cultural Critique. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

Standortbestimmung und Interpretationsrahmen

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haben, Differenz und Pluralität zu zelebrieren und die politischen Implikationen der Integration des ›Anderen‹ in einen monolithischen Referenzrahmen mit Argwohn zu betrachten, allzu holistisch. Wir stehen im Schatten der Kulturkritik. Einerseits ist sie ein selbstverständlicher Teil  unseres alltäglichen Sprachschatzes, andererseits ist sie uns in ihrem Pathos fremd geworden und hat sie viel von ihrem früheren Widerhall eingebüßt. Das Abklingen ihrer Resonanz weist darauf hin, dass Kulturkritik zu einer historischen Situation gehörte, die nicht mehr ganz die unsere ist. Gleichwohl ist sie uns – bei aller Entfernung – auch nicht völlig fremd. Allzu oft wird das Ende der Kulturkritik ausgerufen. Wie bei solcher Rhetorik üblich, geht es dabei eher um den Versuch, ihr normativ ein Ende zu setzten, als um die nüchterne Feststellung ihres Ablebens, für die sie sich ausgibt. Letztendlich greifen solche Pauschalurteile zu kurz. Nicht, dass die Präsenz der Kulturkritik heute noch dieselbe sei, wie vorher. Die Zeiten, in denen der Diskurs der Dekadenz völlig überzeugen konnte, sind vorbei. Ihre Echos aber sind geradezu allgegenwärtig. Weder cultural studies noch der Kulturjournalismus erfüllen genau dieselbe gesellschaftliche Funktion, welche die Kulturkritik einmal für sich beanspruchte. Dennoch sind sie offenkundig deren Nachkommen und auf ihre eigene Weise fruchtbar. Des Weiteren ist die Sprache der Kulturkritik, auch wo sie ›nur‹ zu Zwecken der Unterhaltung und des Kommerzes eingesetzt wird, ein ernst zu nehmender Faktor in unserer Gesellschaft. Im Zusammenhang dieser Studie ist aber entscheidend, dass uns die Transformation kultureller Selbstbesinnungsformen auf einen grundsätzlichen Wandel im Charakter unserer eigenen Kultur hinweist. Es stellt sich die Frage, wie wir uns auf diese Wende besinnen können. Sie als Verfall zu beklagen, wäre zweifellos unzeitgemäß. Das zeigt schon unsere vorsichtige Skizze der gegenwärtigen Lage der Kulturkritik. Die Feststellung des Faktums, dass sich ihr Klangboden merklich geändert hat, und die provisorische Skizze seiner Gründe, sind nicht von ungefähr etwas zögerlich, bewegen sie sich doch in Kategorien, die selbst dem Vokabular und dem konzeptuellen Rahmen der Kulturkritik entstammen. Die Behauptung, die Kulturkritik komme zu ihrem Ende, weil sich der Geist der heutigen Kultur nicht mehr mit ihr vertrüge, ist sicher gewagt. Ihr Tonfall ist für einen wissenschaftlichen Kontext jedenfalls zu schrill. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie den Wiedereintritt in die Kategorien und Sprachmuster der Universalhistorie bedeutet. Ob man dem Verlust des Sinns für Universalhistorie nachtrauert, oder ihn als Befreiung feiert: Das ›Ende der Kritik‹ ist – wie das ›Ende der Geschichte‹ – ein Plot in einer metanarrativen Erzählung.16 Die Berufung auf sie bedeutet die Rückkehr einer Metaperspektive, die wir längst hinter uns gelassen zu haben meinten. So schleicht sich das his 16 Vgl. Schödlbauer und Vahland, Das Ende der Kritik; W. Klein, Dekadenz, S.  218. Siehe auch: ders., Dekadent, S. 1–2. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Einleitung

torische Denken, während wir uns von ihm verabschieden, hinterrücks wieder an uns heran. Unsere Lebensweise hat ihre eigenen Formen der Selbstreflexion hervorgebracht. Diese sind zweifellos weniger verwegen und eklatant, als es die Kulturkritik war. Im Vergleich erscheint ihr Ton gedämpft, sogar leise. Gerade als solche aber sind sie auf den Charakter unserer Kultur abgestimmt. Diesen eindeutig zu bestimmen, ist in Zeiten fortgeschrittener Differenzierung aber nicht mehr ohne Weiteres möglich. Die umgreifende Charakterisierung der Gesamtkultur, wie sie in der Kulturkritik geschah, ist angesichts der fragmentierten Wirklichkeit unzureichend. Sie erfordert einen Umweg. Nur auf der Grundlage eines kontrastierenden Vergleichs zu einem Anderen – selbst wenn dieser nur als Schatten präsent ist – kann es gelingen, die Eigenart unserer Lebensform zur Sprache zu bringen. In diesem Sinne zeugt das Schwinden der Kulturkritik vom Charakter unserer Kultur; auf eine mittelbare Weise, die in der scheinbar endlosen Menge an Perspektiven unserer Reflexionsformen nicht ganz aufzugehen scheint. Sich auf diese Situation zu besinnen, ist Sache der Philosophie. In der Geschichtswissenschaft stellt sich die Frage nach der Kulturkritik als historisches Phänomen. Was war ihre Eigenart? In welchen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Konstellationen konnte sie sich entfalten? Welche Erfahrungen lagen ihr zugrunde? Welche kognitive, soziale und psychologische Funktionen erfüllte sie und wie konnte sie sich im diskursiven Raum behaupten? In dieser Studie wird versucht, diesen Fragen nachzugehen, um so den geschichtlichen Ursprüngen der Kulturkritik auf die Spur zu kommen.

Kritik und Geschichtlichkeit Schon in der Antike wurden immer wieder Klagen über Sittenverfall laut.17 Homers Klage, die Zeit der wahren Heroen sei vorbei, spiegelte sich in der immer kürzer werdenden Lebensspanne biblischer Genealogien. In der pastoralen Dichtung wurde die Lebensform des goldenen Zeitalters, in Moralistik und Geschichtsschreibung die mos maiorum dem zeitgenössischen Leben als Kontrast vorgehalten. O tempora, o mores! Das Wort Ciceros steht für eine lange Tradition moralistischer Kulturreflexionen.18 Kosmologische Verfallstheorien boten eine naturphilosophische Erklärung der physischen und moralischen Korruption der Welt. Schon damals war die Redensart der laudatores temporis acti standardisiert und bekannt genug, dass Horaz sie mit satirischem Gewinn als Nörgelgreise abstempeln konnte. 17 Vgl. Aerts, Prometheus en Pandora, S. 12–17; Demandt, Unbehagen. 18 In Catilinam, 1. Rede. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Auch im Mittelalter waren unterschiedliche Formen der Zeit- und Sittenkritik verbreitet. Der Gedanke des Sündenfalls, der im Kern der mittelalterlichen Anthropologie stand, kann in gewisser Hinsicht als die Verfallsgeschichte schlechthin gelten. Die aus ihm herrührende Haltung des contemptus mundi hat das Mittelalter tief geprägt. In der Armutsbewegung sowie der Apokalyptik erreichte dieses Pathos seinen Höhepunkt. Auch im Humanismus und vor allem bei den französischen Moralisten liegen unverkennbar bedeutsame Quellen des kulturkritischen Diskurses. Es wird im Laufe der Untersuchung immer wieder auf solche Traditionen zurückzugreifen sein. Dennoch scheint eine analytische Unterscheidung zwischen diesen älteren Kritikformen und der Kulturkritik im modernen Sinne notwendig. Die Kritik an den eigenen Lebensformen nahm – so die Ausgangshypothese dieser Studie – in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine dermaßen neuartige Form an, dass sinnvoll von der Emergenz eines neuen Phänomens gesprochen werden kann. Der entscheidende Hintergrund dieser Entwicklung ist die Entstehung eines geschichtlichen Kulturverständnisses, die ›Verzeitlichung der Kulturreflexion‹. Kulturkritik ist eine Antwort auf den grundsätzlichen Wandel des abendländischen Erfahrungsraums in der Neuzeit. Seit ihrem Anfang hat sich in Europa eine sich ständig beschleunigende Dynamik der Rationalisierung breitgemacht. Nicht nur im Bereich der Technik und Wissenschaften, sondern auch in der Wirtschaft, der Politik, der Verwaltung, dem sozialen Leben, kurz, in allen Lebensbereichen wurden die althergebrachten Lebensformen neu reflektiert und umgestaltet. Im 18. Jahrhundert fand nicht nur eine Intensivierung und Beschleunigung dieser Prozesse statt, sondern kam es auch zu einer zunehmenden Bewusstwerdung ihrer weltbewegenden Konsequenzen. Erfahrung und Erwartung traten auseinander.19 Die menschliche Lebenswelt erschien den Zeitgenossen immer weniger als eine unveränderliche Konstellation. Stattdessen wurde sie zur Domäne menschlicher Arbeit zum Zweck der progressiven Verbesserung seiner Umstände. Die Ratio der Welt war ihre Rationalisierung. Menschliche Tätigkeit war nicht länger die Erfüllung einer ewigen Ordnung. Sie wurde zur unendlichen Aufgabe der kreativen Selbst- und Weltgestaltung und der Eröffnung neuer Möglichkeiten.20 Einige begannen sich als Vorreiter einer neuen Welt zu verstehen. Der Neugestaltung der Welt entsprach ein praxisorientiertes Denken, das sich als unendlicher Prozess im Dienste der Verbesserung der Menschheit verstand: die aufklärerische Kritik. Der menschlichen Arbeit entsprechend und in deren Dienst stehend, hatte das Denken selbst von nun an Arbeitscharakter. Die philosophes nahmen Abstand von dem systematischen Intellektua-

19 Für eine eingehende Diskussion dieser Thesen siehe Kapitel I. 20 Conze, Arbeit; Rohbeck, Fortschrittstheorie, S.  23–27, 110–181. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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lismus der Philosophen, die sich eine andere Welt erträumten, statt diese zu verbessern.21 Wie viele Studien zur Ideen- und Sprachgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts dargelegt haben, traten in dieser Periode verschiedene neue Formen kulturgeschichtlicher Reflexion hervor. Kulturgeschichtlich, weil die menschliche Lebenswelt nunmehr als eigenständige Domäne erschien, als Ganzes einer Lebensform und Feld menschlicher Tätigkeit, das, unabhängig von jeder trans­ zendenten Legitimation, einer progressiven Verbesserung offen stand. Kulturgeschichtlich, weil sie gleichzeitig eine historische Dimension erhielt. Nicht länger galten nur die ›irdischen‹ Phänomene als veränderlich. Auch das Wesen der Dinge selbst sowie der maßgebende Horizont, innerhalb dessen sie ihre Bedeutung erhielten, wurden nunmehr als historisch wandelbar aufgefasst. Die Geschichten der Menschen, die das Kriterium des imago dei mehr oder weniger erreichten, flossen jetzt in eine einheitlich gedachte Menschheitsgeschichte ein, in der sich das Wesen des Menschen allmählich erst herausbildete (zum Guten oder Bösen). Geschichte war, von nun an, die Geschichte fortschreitender Zivilisation. In diesem Kontext der Verzeitlichung liegen die Wurzeln der Kulturkritik.22 Schon in seiner Enstehung war der moderne Kulturbegriff auch ein Mangel­ begriff: etwas, das es im eigentlichen Sinne nicht mehr gab.23 Die Erfahrung, dass die doppelte Rationalisierung der Welt und des Denkens den Verlust einer ursprünglichen Unmittelbarkeit, Authentizität und Ganzheit mit sich führte, wurde in der Kulturkritik artikuliert. Dieser Diskurs ist demnach in zweifacher Hinsicht modern. Einerseits als Antwort auf die sich beschleunigenden Rationalisierungsprozesse, die die Moderne seit ihrem Anfang charakterisierten, und als Ausdruck der Verunsicherung und Beunruhigung, welche der damit einhergehende Wandel des kulturellen Erfahrungsraums hervorrief. Andererseits sind auch seine Deutungs- und Artikulationsformen spezifisch modern. Etwas zugespitzt lässt sich festhalten, dass sich die traditionelle Gesellschaftskritik vom Standpunkt eines selbst nicht zur Diskussion stehenden Wertesystems mit zeitgenössischen Individuen, Institutionen und Praktiken auseinandersetzte. Die zentrale Differenz ihrer Kritik war also die zwischen einem überhistorischen, metaphysischen Wertesystem und dem tatsächlichen Verhalten der Menschen. Die moderne Kulturkritik dagegen ging und geht aufs Ganze: Sie kritisiert die Entwicklung des kulturellen Wertesystems selbst als eine Verfallsgeschichte. Um mit Adorno zu sprechen: »Das Ganze ist das Unwahre.«24 21 Röttgers, Kritik. 22 Vgl. Konersmann, Das kulturkritische Paradox, S. 20–22, 33; Bollenbeck, Geschichte der Kulturkritik, S. 22–28. 23 Vgl. für eine analoge Beobachtung zum Zivilisationsbegriff: Rose, Civilité Moderne. 24 Adorno, Minima Moralia, S. 55. Siehe auch die Erläuterung in: ders., Erfahrungsgehalt, S. 104. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Die vorliegende Studie beschreibt die Geburt dieses Diskurses. Ausgehend von der Situation am Anfang des 18. Jahrhunderts liegt der Fokus hauptsächlich auf der Periode zwischen den kulturellen Debatten in den fünfziger und sechziger Jahren und der Verarbeitung der Französischen Revolution bis etwa 1830. In dieser Zeit fanden – in den jeweiligen Ländern zeitlich etwas verschoben – die wichtigsten diskursiven Entwicklungen statt, welche die Geburt der Kulturkritik ermöglichten. Mit dem Kristallisations- bzw. Wendepunkt der Revolutionsverarbeitung endet die Entstehungsphase des Diskurses, die hier beschrieben werden soll. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts bricht angesichts der Entstehung der industriellen Massengesellschaften eine neue Phase seiner Entwicklung an. Obgleich die spätere Kulturkritik die etablierte Semantik in großen Teilen übernahm, wandte sie sich neuen Themen zu. Dass die Entwicklung in der vorliegenden Untersuchung nicht weiter verfolgt wird, ist nicht nur aus praktischen Gründen notwendig, sondern erscheint auch dadurch gerechtfertigt, dass die späteren Phasen der Kulturkritik anderenorts schon ausführlich erforscht worden sind.25

Heuristische Begriffsbestimmung und formale Charakteristik Das Wort Kulturkritik ist – um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert tauchte es zum ersten Mal auf – deutlich jünger als das Phänomen, das es bezeichnet.26 Das deutsche Wort hat Äquivalente im Englischen und Französischen (cultural criticism bzw. critique, critique culturel bzw. de la civilisation), aber diese bleiben großenteils als Übersetzungen des deutschen Ausdrucks erkennbar und werden nicht selten mit Bezug auf ihn erläutert. Wie seine Sache, war dieser Begriff immer umstritten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen wird er eher als Feind­ bestimmung denn als Selbstbeschreibung verwendet. Die Einordnung bestimmter Autoren oder Texte als kulturkritisch ist grundsätzlich kontrovers, scheint sie doch stets eine – positive oder negative – Wertung zu implizieren. Auch der Begriff selbst wird nicht selten zur Diskussion gestellt. Es wird zwischen dogmati 25 Über die genannten Übersichtswerke hinaus sollten erwähnt werden: Lieber, Kulturkritik und Lebensphilosophie; Rüegg, Kulturkritik und Jugendkult; Dorowin, Retter des Abendlands; Rohkrämer, Eine andere Moderne?; Beßlich, Wege in den »Kulturkrieg«; Kamp­ hausen, Die Erfindung Amerikas; Heinßen, Historismus und Kulturkritik; Bollenbeck und Köster, Kulturelle Enteignung; Andres, »Nichts als die Schönheit«. 26 Die früheste Verwendung, die im Rahmen dieser Studie ausfindig gemacht werden konnte, findet sich in einer 1897 erschienenen Monographie über Rousseau des dänischen Philosophen Harald Høffding. (Dies im Gegensatz zu Georg Bollenbeck, der behauptet, Max Weber habe den Begriff 1905 geprägt, und Thomas Rohkrämer, der Ernst Troeltsch als Wortschöpfer anweist.) Høffding, Rousseau, S. 13; Bollenbeck, Geschichte der Kulturkritik, S. 278; Rohkrämer, Kulturkritik in internationaler Perspektive, S. 306. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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scher und philosophischer, rationalistischer und irrationalistischer, normativer und deskriptiver, weißer und schwarzer, linker und rechter, progressiver und konservativer, ironischer und emphatischer Kulturkritik unterschieden.27 Zuweilen wird sie terminologisch von ihren semantischen Halbschwestern der Zivilisations-, Zeit- und Gesellschaftskritik abgegrenzt.28 Was also ist Kulturkritik? Ist sie eine Gattung oder ein Genre? Eine Strömung oder eine Tradition? Eine Theorie oder ein System? Im Negativen lässt sich feststellen, dass Kulturkritik nicht an bestimmte Medien, Sprachen oder Nationen gebunden ist. Es mangelt ihr zudem der Institutionalisierung oder einer festen Methode.29 Das wirkt sich auf die vorliegende Studie insofern aus, als sie nicht von einem vorgegebenen Quellenkorpus ausgehen kann. Die heuristische Bestimmung ihres Themas bestimmt vielmehr die Auswahl und Lektüre der Quellen. Es bedarf also eines hermeneutischen Vorgriffs. Statt sich in das scheinbar endlose Netz unterschiedlicher Definitionsversuche zu begeben, scheint es zweckmäßiger, selbst eine Bestimmung vorzunehmen. Nicht um den Streit ein für allemal zu schlichten, sondern lediglich zum Zwecke der klaren Begriffsbestimmung. Die Definition kann bei unserem alltäglichen Verständnis ansetzen. Es wird in der Forschung und in der Öffentlichkeit viel über Kulturkritik geredet, vielleicht noch mehr gestritten. Selbst wenn ihre Bestimmung keineswegs eindeutig ist, heißt das dennoch, dass sich ein dunkles Vorverständnis des Begriffs herausgebildet hat, über das Kommunikation zustande kommt und von dem begriffliche Streitigkeiten ihren Ausgangspunkt nehmen. Offensichtlich gibt es sprachliche Hinweise, die – nicht immer eindeutig, aber dennoch erkennbar – auf den kulturkritischen Charakter bestimmter Texte hinweisen. Diese Zeichen – gemeinsam bilden sie die Sprache der Kulturkritik – gilt es in dieser Studie in ihrer historischen Entwicklung herauszuarbeiten. Moderne Kulturkritik ist geschichtlich orientierte Kritik der eigenen Kultur im Ganzen. Obwohl die begründete Herausarbeitung dieser Definition erst im Verlauf dieser Arbeit erfolgen kann, seien die fünf Kernelemente dieser analytischen Bestimmung hier kurz erläutert. Kulturkritik ist Kritik: Sie ist normative Unterscheidung und negative Beurteilung gesellschaftlicher Phänomene. Kulturkritik bezieht sich auf die Kultur, auf die menschliche Lebensform im weitesten Sinne, und zwar im Ganzen. Sie macht nicht halt bei der Partikularkritik an einzelnen Praktiken, Institutionen und Werten, Gruppen oder Personen, sondern stellt den alle diese Einzelphänomene durchdringenden ›Geist‹ auf den 27 Perpeet, Kulturphilosophie, S. 48; Konersmann, Das kulturkritische Paradox, S. 18– 19, 36–37; Brunkhorst, Romantik und Kulturkritik, S. 484–485; Merlio und Raulet, Linke und rechte Kulturkritik; Kopperschmidt, Wozu Kulturkritik?, S. 79–80. 28 Aerts, Prometheus en Pandora, S. 11, 16. 29 Bollenbeck, Geschichte der Kulturkritik, S. 8; Konersmann, Kulturkritik, S. 18. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Prüfstand.30 Die Kultur, auf die sie sich bezieht, ist immer die je eigene. Erst aus der Zugehörigkeit zur in Verfall begriffenen Lebensform und der persönlichen Anteilnahme an ihr entsteht die besondere Betroffenheit, die das eigentümliche Pathos der Kulturkritik ausmacht. Was im Einzelfall als die eigene Kultur angesehen wird – eine regionale, nationale, abendländische Lebensform oder gar die weltumspannende Zivilisation  – kann dabei jeweils unterschiedlich sein. Schließlich ist moderne Kulturkritik geschichtlich orientiert. Sie zeichnet sich anderen Kritikformen gegenüber dadurch aus, dass ihre Diagnose in einer umfassenden Verfallsgeschichte eingebettet ist. In einem zweiten Schritt kann die vorgreifende Bestimmung der Kulturkritik um die Dimension ihrer semantischen Grundstruktur erweitert werden. Auf der Artikulationsebene zeichnet sich der Diskurs durch vier Grundmuster aus. Zuallererst ist Kulturkritik holistisch. Sie lässt die partikularistische Kritik an Einzelpersonen und Institutionen hinter sich und kümmert sich um den Verfall der Kultur im Ganzen. Aus diesem Grund bilden geschichtlich-kulturelle Ganzheitsbegriffe ein zentrales Element der kulturkritischen Semantik.31 Es lassen sich dabei drei Hauptgruppen unterscheiden. Eine erste Gruppe bilden diejenigen Begiffe, welche die Lebensform selbst direkt andeuten (Kultur, Zivilisation, Gesellschaft). Obwohl diese in unserem Untersuchungszeitraum allmählich an Boden gewannen, dominierte weiterhin eine zweite Gruppe, die das Ganze in irgendeiner Weise als Zeitabschnitt (Zeitalter, Epoche, Jahrhundert) artikulierte. Die Kennzeichnung solcher Epochen nahm dabei am häufigsten die Form von Adjektiv- (egoistisches Zeitalter) oder Genitivkonstruktionen (Zeitalter des Egoismus) an, die nicht selten zu festen Wendungen wurden. Neben den explizit negativen Kennzeichnungen, welche das Zeitalter in irgendeiner Weise als Privation eines positiven Wertes (un-lebendig, un-wahr, un-schön) bezeichneten und denjenigen, die von den negativ besetzten Gegenbegriffen (tot, scheinhaft, hässlich) ihren Ausgangspunkt nahmen, spielten Strategien der Parodie dabei eine wichtige Rolle. Positiven Diskursen entlehnte Ausdrücke wurden übernommen, aber durch tonale Differenz oder kontextuelle Einordnung abgewertet.32 Häufig mündeten solche Strategien in Wort­ abwandlungen, die zentrale Ausdrücke in leicht abgewandelter Form und auf verkehrte Wirkung zielend neu aufnahmen. Dieselben Charakterisierungs­ 30 Sie nimmt, um einen Ausdruck Georg Bollenbecks aufzugreifen, dem Zeitalter gegenüber eine »Schlüsselattitüde« ein. Bollenbeck, Geschichte der Kulturkritik, S. 12. 31 Einen einführenden Überblick über einige solcher Bezeichnungen gibt: Brendecke, Die Jahrhundertwenden, S. 286–289. Für eine Definition, vgl. Lichtblau, Sprachwandel und Gesellschaftswandel, S. 79. 32 Die im gegenwärtigen Sprachgebrauch populäre Signalisierung von Ironie durch die Setzung von Anführungszeichen findet sich im Quellenmaterial nur sporadisch. Andere Arten ironischer Hervorhebung (kursiv, Sperrschrift, Antiqua statt Frakturschrift) kommen häufiger vor. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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strategien konnten auch auf eine letzte Gruppe von Ausdrücken angewendet werden, in denen das Ganze als ›geistige‹ Macht zur Sprache gebracht wurde, die in einer Gruppe von symptomatischen Einzelphänomenen zum Vorschein kommt und diese beherrscht. Das Konkrete erscheint in seiner Beziehung zu einem vergeistigten Ganzen. Der Zeitgeist bildet die abstrakteste Form dieses Wortfeldes, aber ihm steht eine fast endlose Reihe von Partikulargeistern zur Seite (Geist der Philosophie, Geist der Mode, Geist des Luxus). Zweitens ist Kulturkritik komparativ. Die Charakterisierung des eigenen Kulturganzen entlehnt ihre Schärfe nicht zuletzt der Kontrastwirkung einer maßgeblichen, oft stark idealisierten Alternative. Ob explizit oder implizit, bei der Abwertung der eigenen Lebensform werden andere als vorbildlich inszeniert. Die einfachste Form dieser Kontrastierung ist der Vergleich zwischen eigener Vergangenheit und Gegenwart, aber auch nicht-eigene Vorbilder werden genutzt, um ein anderes Licht auf die eigene Lebensform zu werfen. Man kann dabei, wie es der Germanist Thomas Lange vorgeschlagen hat, zwischen räumlichen und zeitlichen Kontrastfolien – zwischen Exotismus und Primitivismus  – unterscheiden.33 Dennoch sollte auch das, was die beiden Orientierungsrichtungen der Sehnsucht verbindet, nicht aus dem Blick geraten. Exotismus und Primitivismus sind auf funktionaler Ebene insofern identisch, als sie beide der Gegenwart eine geschichtlich ›frühere‹ Gesellschaftsform als Vorbild empfehlen – sei es auch, dass diese zum Teil in chronologisch ›gleichzeitigen‹, aber dennoch geschichtlich ›ungleichzeitigen‹, da primitiveren Gesellschaften verortet wird. In diesem Sinne ist Kulturkritik immer rückwärtsgewandt und ist der Kulturkritiker, mehr noch als der Historiker, ein »rückwärtsgewandter Prophet«.34 In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich grundsätzlich von der Utopie, mit der sie andererseits aber auch starke Berührungspunkte hat. Ähnlich wie im utopischen Diskurs steht auch in der Kulturkritik die Beschreibung der Kontrastfolie völlig im Dienste der Analyse der eigenen Gesellschaft. Aus diesem Grund sind ausdrücklich fiktionale Vorbilder und solche, die einen – beispielsweise durch Reiseberichte oder Historiographie verbürgten  – Anspruch auf objektive Realität erheben, aus funktionalem Gesichtspunkt identisch. Ob nun antike Vorbilder wie Sparta, Athen oder Rom im Vordergrund stehen, die edlen Wilden in Amerika oder auf den Südseeinseln, die Schweizer Hirten oder ein völlig fiktives Naturvolk im Wolckenkuckucksheim  – wo immer das goldene Zeitalter verortet wird, übernehmen solche Phantasien stets die Funktion eines archimedischen Punktes für die Diagnose der eigenen Kultur.35 Die kulturkritische Abkehr von der Gegenwart ist denn auch nicht – wie es oft geschieht – als Weltflucht zu interpretieren. Die erforschten oder erträumten Al 33 Th. Lange, Idyllische und exotische Sehnsucht. 34 F. Schlegel, Fragmente, S. 20. 35 Vgl. Kohl, Entzauberter Blick, S. 18–19. Jacobs, Aporien der Aufklärung, S. 46–81. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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ternativen werden immer wieder auf die eigene Gegenwart bezogen und erhalten nur aus ihr ihren Wert und Sinn.36 Ebenso wenig wie die Frage nach der Realität des Kontrastbildes ist die nach seiner Realisierbarkeit für die Funktions- und Artikulationsweise des Diskurses entscheidend. Ob die normierende Vergangenheitsprojektion als durch einen kulturellen Schritt zurück erreichbar dargestellt wird; ob ihre Wiederkehr  – oder gar jede mögliche Verbesserung – kategorisch ausgeschlossen wird; ob sie im Gegenteil als Ausgangspunkt für die praktische Herbeiführung einer alternativen Zukunft genommen wird – die Folgerungen, welche auf der Basis der kulturkritischen Analyse gezogen werden, beeinflussen die Art und Weise, wie diese selbst formuliert wird nur wenig. Atavismus, Pessimismus und Reformismus florieren gleichermaßen auf dem fruchtbaren Boden des kulturkritischen Diskurses. Kulturkritik orientiert sich, das ist ihr drittes Grundmuster, an asymme­ trisch-diagnostischen Gegenbegriffen. So unterschiedlich die jeweiligen Kontrastfolien auch sind, so sind sie doch immer wieder durch eine relativ kleine Gruppe von begrifflichen Gegensatzpaaren strukturiert. Prinzipiell konstituiert sich jeder Diskurs durch eine begrenzte Zahl von Alternativen, welche die gemachten Aussagen vorstrukturieren. In dieser Hinsicht zeichnet sich die Kulturkritik nur insofern aus, als sie ihre konstituierenden Begriffspaare besonders prominent in den Vordergrund stellt. Sie bilden nicht nur die Grundmuster ihrer Kulturanalyse, sondern spielen auch rhetorisch eine Hauptrolle. Ihre spezifische Eigenart erhalten die kulturkritischen Begriffspaare aber dadurch, dass sie asymmetrisch und diagnostisch sind.37 Asymmetrisch, weil die beiden Seiten der Opposition keine bloßen Alternativen, sondern gegensätzliche Prinzipien sind, deren Gegenüberstellung stark normativ aufgeladen ist. Diagnostisch, weil den Begriffen außerdem eine entlarvende Funktion zukommt. Die beiden Seiten des Begriffspaares bezeichnen keine streng logischen Gegensätze. Das zeigt sich schon darin, dass sie verwechselt werden können. Der rhetorische Gestus des Kulturkritikers geht sogar davon aus, dass diese Verwechslung in dem von ihm postulierten ›Alltag‹ den Normalfall darstellt. Es muss – so seine Selbstinszenierung – dem Laien nicht direkt einsichtig sein, wieso ein bestimmtes Phänomen als ›künstlich‹ oder ›natürlich‹, ›gesund‹ oder ›krank‹, ›wahr‹ oder ›falsch‹ eingestuft werden sollte. Nur dem geschulten Blick des Kritikers verrät sich das Eine 36 Eine populäre Literaturgattung, in der die retrospektive Funktion der exotischen Kontrastfolien ausdrücklich zum Tragen kommt, sind die fiktiven Berichte außereuropäischer Reisender, in denen aus der Perspektive des Fremden der Zustand der europäischen Kultur beschrieben wird. Vgl. dazu: Weißhaupt, Europa sieht sich mit fremdem Blick; Charlier, Jargon des Fremdlings; ders., Montesquieus ›Lettres Persanes‹; Funke, Das interkulturelle Streitgespräch; Rose, Civilité Moderne, S. 43–45. Und die beiden Quellensammlungen: Stein, Exoten durchschauen Europa; ders., Europamüdigkeit. 37 Vgl. Koselleck, Gegenbegriffe; Ullrich, Zentrifugalangst und Autonomiestolz. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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als Defizienzform des Anderen, das Andere als normativer Ursprung des Einen. Es ist die Auszeichnung dieses Blicks, dass er im Stande ist, den Schein der Phänomene von ihrer Wahrheit zu trennen.38 Das führt uns zum letzten Grundmuster der Kulturkritik: sie ist hermeneutisch. Das Phänomen, auf das Kulturkritik sich bezieht, die Ganzheit einer Lebensform, ist keine einfache Gegebenheit, sondern konstituiert sich erst durch die spezifische Fokussierung ihres Blicks. Aus diesem Grund hat es die Kulturkritik in mehrfacher Weise mit Bedeutung zu tun. Allererst stützt sich die Diagnose des Ganzen notwendigerweise auf die gezielte Deutung von Einzelphänomenen, die als Zeichen der Zeit interpretiert werden. Diese unterstellt neben der gezielten Auswahl der ›relevanten‹ Einzelphänomene auch ihre ›richtige‹ Auslegung. Das Ganze zeigt sich erst im Einzelnen, während das Einzelne nur im Horizont des Ganzen seine wahre Bedeutung erhält. Der Blick über die Einzelphänomene hinaus erfordert daher in einem zweiten Schritt auch eine neue Perspektive auf diese selbst. Nicht nur weil sie jetzt als Repräsentanten des Ganzen aufgefasst werden, sondern auch weil sie nur insofern zum Symptom einer Verfallsgeschichte werden können, als sich ihre Bedeutung als geschichtlich wandelbar erweist. Der kulturkritische Blick ereignet sich in der Entlarvung der augenscheinlichen Bedeutung eines alltäglichen Phänomens als bloßer Schein und seine Reduktion auf eine Wahrheit, die gleichzeitig als Verfall von einem normativen Ursprung gedeutet wird. Daher rührt auch der besondere Fokus der Kulturkritik auf – sprachliche sowohl wie nicht-sprachliche – Zeichen und ihre Deutung. Dass eine bestimmte Praktik, eine Institution oder eine Figur weiterhin denselben Namen trägt wie ihre frühere Gestalt, ist ein Schleier, der vom Kulturkritiker zerrissen werden muss, um die nackte Wahrheit seiner gewandelten Bedeutung zu enthüllen. Die Feststellung, dass die gegenwärtige ›Freundschaft‹ beispielsweise keine eigentliche Freundschaft mehr ist, das ›Wissen‹ kein Wissen und das ›Leben‹ kein Leben, bildet deshalb den Kern der kulturkritischen Aussage. Neben der Auseinandersetzung mit dem Bedeutungshorizont der Gesamtkultur und mit dem Bedeutungswandel von Einzelphänomenen spielt der hermeneutische Moment noch auf einer dritten, reflexiven Ebene eine Rolle in der Kulturkritik. Dass ein Phänomen nicht länger ist, was es war und immer noch zu sein scheint, ist eine Sache, die mit einem diagnostischen Blick durchschaut und entlarvt werden kann. Wenn aber die Bedeutung der Dinge, der Praktiken und der Wörter eine Eigendynamik entwickelt, die sie prinzipiell von ihrer sachlichen Basis ablöst, steht das Verhältnis von Schein und Wahrheit selbst auf dem Spiel. Dies ist insofern eine potenzierte Gefahr, als der Schein der Phänomene nun nicht mehr auf ihr Sein reduziert werden kann, sondern systemisch und damit unbeherrschbar geworden ist. Diese Blickrichtung der Kulturkritik 38 Vgl. Starn, Historical Decline, S. 12. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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stellt einen weiteren Reflexionsschritt dar, weil sie nicht länger den Ursprung oder die Gegenwart, sondern die Dynamik des Wandels selbst in den Blick nimmt. In den unterschiedlichsten Zusammenhängen wird eigendynamische Erneuerung als Problem erfahren und zur Sprache gebracht. Das Paradebeispiel solcher Phänomene und ein Kernbegriff ihrer kritischen Analyse ist die Mode.

2. Forschungsstand Die Gipfelwanderung Natürlich ist das Thema Kulturkritik nicht neu. Vor allem aus philosophie- und literaturgeschichtlicher Perspektive besteht eine breit gestreute Forschungs­ literatur. Besonders die neueren Monographien von Georg Bollenbeck und Ralf Konersmann verdienen spezielle Beachtung. Sie werden im Laufe dieser Studie immer wieder als Gesprächspartner herangezogen werden.39 Gleichwohl scheint die Annahme gerechtfertigt, dass der methodische Ansatz der historischen Semantik neues Licht auf dieses alte Thema werfen kann. Bisher wurde Kulturkritik zumeist als theoretisches Aussagegeflecht oder philosophisches System interpretiert, das anhand einer Reihe berühmter Dichter und Denker skizziert wurde. Viele Arbeiten haben die Form einer Abstammungslinie, die von einem ›Vater der Kulturkritik‹ (zumeist Rousseau) bis zu seinen gegenwärtigen Nachkommen reicht.40 Dabei werden immer wieder unterschiedliche Personen und Gruppen in den Blick genommen. Was aber bleibt, ist die Herangehensweise einer Genealogie der Gegenmoderne.41 In diesem Sinne nimmt Georg Bollenbeck – dessen »Geschichte der Kulturkritik« (2007) 39 Bollenbeck, Geschichte der Kulturkritik; Konersmann, Kulturkritik. Noch 2005 hieß es in einem Lexikon unter dem Lemma ›Kulturkritik‹: »Außer Darlegungen, die Programme der K. paraphrasieren oder sammeln, gibt es keine grundlegende Darstellung.« A. Nünning, Grundbegriffe der Kulturtheorie, Art. ›Kulturkritik‹, S. 116. 40 Bloom, Rousseau; Melzer, Counter-Enlightenment; Velkley, Being after Rousseau. 41 Paradigmatisch für diesen Ansatz sind Textsammlungen, wie: Niebel, Kulturkritik; B.-P. Lange, Britain; Heuermann, USA; ders., Contemporaries in Cultural Criticism; Konersmann, Kulturkritik. Reflexionen in der veränderten Welt. Zu den ›kanonischen‹ Autoren der Kulturkritik gehören – zu Recht oder zu Unrecht – auf jeden Fall Vico, Rousseau, Herder, Hamann, Schiller, Maistre, die deutschen Romantiker, Carlyle, der frühe Marx, Nietzsche, Freud, Simmel, Spengler, Heidegger, die Frankfurter Schule, manchmal auch der gesamte Postmodernismus oder Gegenwartsschriftsteller wie Elfriede Jelinek oder Botho Strauß. Nach dieser Art: Schoeps, Vorläufer Spenglers; Carroll, Crystal Palace; Heller, Probleme der Zivilisation; Johnson, The Cultural Critics; Hansen, Die retrospektive Mentalität; Baecker, Fortschrittseuphorie; Wyss, Trauer der Vollendung; Pippin, Modernism, S. xiii–xix, 4–6; Wolin, Terms of Cultural Criticism; Vajda und Rajczy, Krise der Kulturkritik; Herman, Idea of Decline; Fischer, »Verwilderte Selbsterhaltung«; Jedlicki, Die entartete Welt; Compagnon, Les antimodernes; Fetz, Das unmögliche Ganze; Henschel, Menetekel. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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schon jetzt als Standardwerk gilt – ausdrücklich eine analytische Trennung zwischen »Vordenkern« (namentlich Rousseau und Schiller) und deren »Fortdenkern« vor. Unter dem Hinweis, es gehe ihm um den Geltungs- und Wahrheitsanspruch des Gedachten, nicht um dessen kommunikativen Erfolg, weist er die Herangehensweise der historischen Diskursanalyse ausdrücklich von sich. Aus einer diskursgeschichtlichen Perspektive könnte die Wiederaufbereitung der einzelnen Pathologiebefunde, ihre Kontinuität und Kombinatorik in unterschiedlichen (ästhetischen, philosophischen, sozialwissenschaftlichen oder publizistischen) Verwendungszusammenhängen untersucht werden. Aber ein »Vordenker« ist kein »Diskursivitätsbegründer«.42

Wenngleich Bollenbeck seinen Forschungsansatz also von der historischen Semantik abgrenzt, räumt er gleichzeitig ein, dass die Kulturkritik auch als »diskursive Formation in ihrer inhaltlich-thematischen und formalen Seite, in ihrer Regularität hinter dem Rücken der Sprecher« untersucht werden kann.43 Er bezeichnet diese Perspektive auf die Kulturkritik sogar explizit als Forschungslücke: »Diese Geschichte wäre noch in Bezug auf die unterschiedlichen Theorieund Methodenangebote einer historischen Semantik zu schreiben.«44 In der Tat spricht einiges dafür, dass eine Diskursgeschichte der Kulturkritik ein fruchtbares Komplement zur bollenbeckschen Perspektive darstellt. Aus diesem Blickwinkel stellt sich die Frage, ob Vordenker  – anders betrachtet  – nicht auch Mit- und Nachdenker sind. So original ihre Gedanken sein mögen, sie befinden sich unweigerlich in einer überlieferten diskursiven Landschaft. Deren semantische Traditionen bestimmen die Weise, in der sie die Welt erfahren und ihre Möglichkeiten, diese Erfahrung zu artikulieren. Sie bestimmen die Selbstverständlichkeiten, mit denen sie sich auseinandersetzen. Sie prägen die Rezeption und Wirkung ihrer Schriften. »Die Menschen machen«, schrieb Marx, »ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.« Zu diesen gehört nicht zuletzt auch, führte er fort, die »erborgte« Sprache.45 Diese Studie trägt dieser Einsicht Rechnung, indem sie die Entwicklung der Kulturkritik aus der Perspektive der historischen Semantik nachgeht.

42 Bollenbeck, Geschichte der Kulturkritik, S. 111, 16. Siehe auch: ders., Kulturkritik – ein Reflexionsmodus. 43 Ders., Kulturkritik: ein unterschätzter Reflexionsmodus, S. 93. 44 Ebd., S. 93, Anm. 27. Und er fügte hinzu: »Leider operieren Germanisten (im Unterschied zu Historikern) unter Berufung auf Foucault häufig mit einem Diskursbegriff, der die Macht der Sprache mystifiziert.« Zu dem in dieser Studie verwendeten Diskursbegriff siehe unten. 45 Marx, Der 18te Brumaire, S. 115. Vgl. Sarasin, Vorwort, S. 7–9. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Zunächst ist damit nicht viel mehr getan, als sich ein Thema der Literaturund Philosophiegeschichte für die Geschichtswissenschaft vorzunehmen. Unter Historikern haben Ahnengalerien, wie sie das Bild der Geschichte der Kulturkritik bisher bestimmten, mindestens seit der so genannten Cambridge School an Popularität eingebüßt.46 Statt der Gipfelwanderung über den Höhenkamm großer Namen wendet sich die Geschichtswissenschaft eher den medialen, institutionellen und kulturellen Kontexten zu, innerhalb deren sich die kanonischen Autoren bewegten und ihre Äußerungen erst ihren Sinn erhielten. Aus dieser Perspektive erscheint Kulturkritik nicht länger als ein bestimmter Set von Aussagen, die auf ihre Wahrheit zu prüfen sind, sondern als Diskurs – als ein charakteristischer Sprachmodus, der bestimmte Begriffe, Metaphern, geschichtliche und räumliche Deutungsmodelle, Narrative, Stile, Stereotypen und Gemeinplätze einschließt und eine viel weitere Verbreitung hat. Es verschiebt sich der Fokus von der etablierten ›Familie‹ der Kulturkritiker zu den Familienähnlichkeiten ihrer Sprache.47 Daraus folgt zunächst, dass die Arbeit auf eine breitere empirische Basis gestellt werden soll, als bisher geschehen: von den Klassikern des Diskurses zu seiner alltäglichen Verbreitung in Zeitschriften und Pamphleten. Neben der erweiterten Kontextualisierung der kanonischen Autoren und Texte hat dieser Methodenwechsel aber noch einen weiteren Vorteil. Die Fokussierung auf eine sehr beschränkte Auswahl an Mustertexten brachte es mit sich, dass Kulturkritik hauptsächlich in seiner reflektierten Gestalt in theoretischen Textsorten in den Blick kam. Tatsächlich machen die Argumentationen und Aussagen zweiter Ordnung, welche solche Texte charakterisieren, einen wesentlichen Teil des kulturkritischen Diskurses aus. Doch es gibt auch andere, weniger reflektierte kommunikative Zusammenhänge, innerhalb deren seine Sprachformen verwendet, aktualisiert und verwandelt werden. Auch die alltäglichen Verwendungen kulturkritischer Redemuster in der Presse, im Theater, in der Literatur oder der Politik  – Bollenbeck spricht von der »ausbuchstabierbare[n] Entrüstungsrhetorik zeitgeistverhafteter Vereinfacher«  – gehören zum Diskurs.48 Es ist sogar denkbar, dass sich in solchen unreflektierten Verwendungen seine konventionalisierte Sprachformen  – deren sich auch die kanonischen Auto 46 Das Bild stammt von Nietzsche, wurde aber von Friedrich Meinecke in die Geschichtswissenschaft eingeführt. Nietzsche, Nutzen und Nachteil, S. 255; Meinecke, Entstehung des Historismus, Bd. 1, S. 6. Vgl. Kelley, History of Ideas, S. 17. Siehe auch: Schrader, Semantik der Revolution, S. 12–16. 47 Dass sie sich ausschließlich auf die sprachlichen Artikulationsformen von Kulturkritik bezieht, stellt die wichtigste Einschränkung dieser Studie dar. Kulturkritik artikuliert sich primär, aber keineswegs ausschließlich in sprachlicher Form. Es wäre möglich und wünschenswert, ihre Entstehensgeschichte auch im Rahmen anderer symbolischer Systeme – wie Bild oder Musik –, sowie der von ihr motivierten Praktiken und Institutionen zu untersuchen. Die eingehende Berücksichtigung dieser Aspekte würde aber eine eigene Arbeit erfordern. 48 Bollenbeck, Geschichte der Kulturkritik, S. 21. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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ren bedienen – besser nachzeichnen lassen. Außerdem können nur auf dieser Ebene das Funktionieren und die Wirkung kulturkritischer Redeweisen in konkreten soziopolitischen Debatten der Zeit, innerhalb deren Kulturkritik nicht Thema, sondern rhetorische Waffe in einem konkreten Streitfall war, beobachtet werden. Schließlich eröffnet der Fokus auf die sprachlichen Strukturen ihrer Artikulation die Möglichkeit einer transkulturellen – genauer: translingualen – Analyse, indem semantische Strukturen in drei zentralen europäischen Sprachen (Französisch, Deutsch, Englisch) einander vergleichend zur Seite gestellt werden.

Kulturkritik, Gegenaufklärung, Anti-Modernität Ein zweites Kennzeichen eines Großteils der bestehenden Forschung zum Thema Kulturkritik, das durch die Herangehensweise der historischen Diskursanalyse überwunden oder doch zumindest in ein anderes Licht gestellt werden kann, ist ihre binäre Prägung. Eine Großzahl der älteren und neueren Studien in diesem Feld bewegt sich zwischen den Polen einer Vielfalt isomorpher Gegensätze: Aufklärung und Romantik, Rationalismus und Irrationalismus, Vernunft und Gefühl, Theorie und Geschichte, Fortschritt und Reaktion, Optimismus und Pessimismus, Immanenz und Transzendenz, Atheismus und Religion, Kosmopolitismus und Nationalismus.49 Der Begriff Gegenaufklärung spielt in dieser Hinsicht eine zentrale Rolle.50 Nicht selten wird die Epoche der Aufklärung als Beginn der Moderne begriffen, so dass der Aufklärungsbegriff nicht nur rückblickend, sondern auch in Debatten über ihre ›Aktualität‹ und im weiteren Sinne über die geschichtliche Standortbestimmung der Gegenwart Verwendung findet. Aus demselben Grund hat sich die Auseinandersetzung über den Charakter und die Bewertung der Moderne häufig am begrifflichen Gegensatz Aufklärung / Gegen­ aufklärung orientiert. Dieses binäre Deutungsschema beherrscht nicht nur einen wesentlichen Teil der gegenwärtigen Polemik über das Verhältnis zwischen Aufklärung und Gegenwart, sondern prägt auch einen Großteil der bestehenden Forschung zum Thema Kulturkritik. Der paradigmatische ›Anfang‹ dieses dualistischen Deutungsansatzes liegt im einflussreichen Werk des britisch-jüdischen Philosophen und Ideenhistorikers Isaiah Berlin.51 Unter dem Leitbegriff der Counter-Enlightenment beschrieb 49 McGann, The Romantic Ideology; Brunkhorst, Romantik und Kulturkritik; Arnason, Das Andere der Aufklärung; Wokler, The Enlightenment Project. 50 Vgl. ausführlicher: Jung, Gegenaufklärung. 51 Vgl. Berlin, Counter-Enlightenment [b]; ders., Three Critics. Zu seiner Rezeption vgl. Ullmann-Margalit und Margalit, Isaiah Berlin; Mali und Wokler, Berlin’s Counter-Enlightenment; Crowder und Hardy, The One and the Many. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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dieser eine Reihe von Denkern, die sich aus unterschiedlichen Gründen und Motiven gegen die Aufklärung als Gestalt der Modernität kehrten. Dem angeblichen Rationalismus und Universalismus der Aufklärung hätten sie einen historischen, partikularistischen, irrationalistischen und in seinen Konsequenzen kulturrelativistischen Denkstil gegenübergestellt. Von ihren Anfängen bei Vico, Rousseau, Herder und Hamann über die deutsche Romantik und Revolutionsgegner wie Maistre und Bonald bis hin zum Postmodernismus habe sich so eine ideengeschichtliche Tradition von Außenseitern gebildet, die das Denken über die Moderne nachhaltig geprägt habe. Als Berlin einmal gefragt wurde  – so wird berichtet  – wer den Begriff ­Counter-Enlightenment geprägt habe, gab er zur Antwort, er wisse es nicht. »Could it be myself?« fragte er sich. Dem war nicht so. Der Ausdruck war, als er ihn zum ersten Mal 1973 in einem Artikel im »Dictionary of the History of Ideas« verwendete, schon länger im Umlauf.52 Das französische Wort anti-­ lumières kursierte spätestens seit dem Ende der sechziger Jahre.53 In seiner englischen Form war das Wort sogar noch deutlich älter. Spätestens 1908 tauchte es in einer populären religionsphilosophischen Schrift des New Yorker Ethikprofessors Charles Gray Shaw auf.54 Dass dieser die counter-Enlightenment mit Vico, aber auch mit Voltaire, Hume und Lessing in Verbindung brachte, mag uns heute etwas befremdlich anmuten. Im Großen und Ganzen war sein Begriffsgebrauch als Bezeichnung einer Epoche, in der das false ideal der Ratio­ nalisten negiert und so ein neues Konzept von Religion vorbereitet wurde, durchaus im Sinne Berlins. Im Deutschen war es, wie es scheint, Nietzsche, der den Ausdruck – in einer Nachlassnotiz aus dem Jahr 1877 – in die Sprache einführte.55 Wie die Geschichte dieses Begriffs indiziert, reichen die Wurzeln des dualistischen Deutungsparadigmas, dessen Kristallisationspunkt er bildet, weiter zurück als zunächst angenommen. Der Germanist Robert E. Norton hat Berlin und seine Nachfolger vor einigen Jahren einer scharfen Kritik unterzogen.56 Abgesehen von Einwänden gegen die philologische Untermauerung ihrer Thesen (»shoddy scholarship«) konzentrierte er sich dabei vor allem auf die Herkunft und Motivation des zugrundeliegenden Forschungsmodells. Wie er darlegte, 52 Berlin, Counter-Enlightenment [a]; Mali und Wokler, Editors’ Preface, S. vii. 53 Für seine Verbreitung war wichtig: Deprun, Les Anti-Lumières. 54 Shaw, Precinct of Religion, S. 9–10. Also nicht, wie Graeme Garrard behauptet, erst 1949. Garrard, Enlightenment and Its Enemies, S. 668. Um dies herauszufinden, muss man im Übrigen auch kein »computer hack« sein, wie Robert Wokler meinte. Eine kurze Recherche in den einschlägigen Digitalisierungsprojekten genügt, um festzustellen, dass der Ausdruck spätestens seit dem Ende der zwanziger Jahre in geisteswissenschaftlichen Kreisen geläufig war. Wokler, Isaiah Berlin’s Enlightenment, S. 13–14. 55 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, S. 478, No. 22 [17]. 56 Norton, The Myth of the Counter-Enlightenment. Und die Antwort: Lestition, ­Countering, Transposing. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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war der Gedanke einer einheitlichen, gegen die Aufklärung gerichteten Tradition schon lange vor Berlins Popularisierung fest etabliert gewesen. Selbst die hochgradig standardisierte Reihe von Dichtern und Denkern, die mit dem Begriff Gegenaufklärung in Verbindung gebracht wurden, hätten zu diesem Zeitpunkt schon längst kanonischen Status erlangt.57 Der Ursprung des »Mythos« Counter-Enlightenment lag, so Norton, im Kontext der Deutschen Bewegung um 1900 und deren wissenschaftlichen Pendants: der Geistesgeschichte.58 In diesem Umfeld habe sich – motiviert durch ein politisches und nationalistisches vielmehr denn ein wissenschaftliches Programm  – ein Geschichtsentwurf etabliert, in dem ›Aufklärung‹ für die Verkommenheit der west-europäischen Zivilisation und ›Gegenaufklärung‹ für die ursprüngliche Kraft der deutschen Kultur stand. Während die primär in Frankreich und England verortete Aufklärung sich durch Oberflächlichkeit, Egoismus und Abstraktion auszeichne, sei das deutsche Denken wesentlich gegenaufklärerisch und folglich tiefsinnig, ganzheitlich und geschichtlich. Das Paradebeispiel dieses Deutungsmusters, das in der Propaganda des Ersten Weltkriegs eine zentrale Rolle spielte, ist Max Schelers berühmte »Kategorientafel des englischen Denkens« (1915).59 Die Forschung zur Counter-EnlightenmentTradition habe, so Norton, das Schema nach dem Krieg übernommen – und lediglich seine Wertung umgedreht. Auch Isaiah Berlin brachte Aufklärung und Gegenaufklärung ausdrücklich mit dem kulturellen Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland in Verbindung. Die deutschen Denker des Sturm und Drang und der Romantik »rebelled,« wie er schrieb, »against the dead hand of France in the realms of culture, art and philosophy, and avenged themselves by launching the great counterattack against the Enlightenment.«60 Nach dem zweiten Weltkrieg hatte diese Gegenüberstellung aber einen grundsätzlich anderen Tonfall, als noch um 1900. Die Tradition der Gegenaufklärung galt nun als Vorgeschichte des deutschen 57 Außer Vico, bei dessen ›Neuentdeckung‹ Berlin eine wichtige Rolle spielte. 58 Dazu: Gretz, Die deutsche Bewegung. Noch 1941 soll der Philosoph Max Wundt die Aufklärung als »Prügelknabe der deutschen Geistesgeschichte« gekennzeichnet haben. Zit. n. Fillafer, The Enlightenment on Trial, S. 334. 59 Die Tafel stellte die Verfehlungen des englischen Denkens schematisch dar, indem sie die ›eigentlichen‹ Begriffe denen zur Seite stellte, welche die Engländer mit ihnen ›verwechselten‹. So wurde aus Kultur Komfort, aus Denken Rechnen, aus Begriff Wahrnehmungs­ ersparnis und aus menschlicher Natur Engländer. Nicht zu Unrecht hat Wolfgang Ullrich die Tafel als »Kategorientafel der Kulturkritik« bezeichnet. Scheler, Zur Psychologie des englischen Ethos, S. 442–443; Ullrich, Zentrifugalangst und Autonomiestolz, S. 9–10. Für eine analoge Tafel, bezogen auf Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen, vgl. Mulhern, Culture / Metaculture, S. 3–7. Siehe auch: Kluckhohn, Das Ideengut der deutschen Romantik, S. 12. 60 Selbst wenn er paradoxerweise auch Franzosen, wie Rousseau, Maistre und De Bonald zu dieser deutschen Tradition rechnete. Berlin, European Unity, S. 196. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Untergangs. Die teleologische Tendenz in Berlins Deutung war nicht zu überhören, als er schrieb, dass die »gloomy doctrines« der Gegenaufklärung »in­ spired nationalism, imperialism, and finally, in their most violent and pathological form, Fascist and totalitarian doctrines in the twentieth century«.61 Dies war in der Nachkriegszeit eine verbreitete Ansicht, die nicht zuletzt durch Fritz Sterns »Politics of Cultural Despair« (1961), in dem er die Kulturkritik von Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Arthur Moeller van den Bruck unter dem Gesichtspunkt des Aufstiegs der ›germanischen Ideologie‹ gedeutet hatte, popularisiert worden war.62 Die von Berlin inspirierte Forschungstradition hat ihren polemischen Charakter bis heute nicht verloren.63 Neuere Varianten haben die gegenaufklärerische Genealogie in erster Linie für eine Abrechnung mit dem ›Postmodernismus‹ genutzt.64 Dessen Irrationalismus sei als Widerstand gegen die Aufklärung gleichzeitig ein Kampf gegen Freiheit und Demokratie, gegen Menschenrechte und Toleranz. Die Konstruktion einer Abstammungslinie bietet solchen Autoren die Gelegenheit, ihre Abwertung zeitgenössischer Phänomene dadurch zu verstärken, dass sie mit einer negativ gewerteten Tradition in Verbindung gebracht werden. Diese Figur des guilt by association hat in unterschiedlichen Kontexten in ganz unterschiedlichen Richtungen funktioniert. Jüngst wurde ihre prinzipielle Vielseitigkeit noch einmal markant unterstrichen. Das Buch »Les Anti-Lumières: Du XVIIIe siècle à la guerre froide« (2006) des israelischen Ideenhistorikers Zeev Sternhell bietet auf dem ersten Blick eine durchaus typische Tirade gegen die Gegenaufklärung. Auch für Sternhell bildet Auschwitz wiederum den Tiefpunkt einer gegenaufklärerischen Tradition, die bis in die Gegenwart reicht. Verbildlicht wird diese Grundvorstellung auf dem Umschlag der englischen Übersetzung, auf dem die Wörter The, Enlightenment und Tradition in einer modernen, weißen Schriftart gesetzt sind, das Präfix Anti aber in schwarzen, gotischen Lettern.65 Im letzten Kapitel überrascht Sternhell den Leser dann aber doch noch, wenn er die Verdächtigungsstrategie gegen Isaiah Berlin selbst richtet. Dieser habe, so schreibt er, die Gegenaufklärer nicht 61 Ders., Counter-Enlightenment [b], S. 24. Siehe auch: ders., Joseph de Maistre; Wolin, The Seduction of Unreason, S. 1–2. 62 Stern, The Politics of Cultural Despair. Siehe auch: Lukács, Die Zerstörung der Vernunft; Mosse, The Crisis of German Ideology; Herf, Reactionary Modernism. Dagegen: Rohkrämer, Kulturkritik in internationaler Perspektive, S. 306–307. 63 Als Hauptvertreter der Berlin-›Schule‹ gilt heute der britische Politikwissenschaftler Graeme Garrard. Vgl. Garrard, Counter-Enlightenments; ders., Enlightenment and Its Enemies; ders., Strange Reversals. Für analoge Konzeptionen, vgl. Seidman, Liberalism; J. Gray, Enlightenment’s Wake, S.  154, 165; Boeve u. a., Faith in the Enlightenment?; J. Bernard, Les anti-Lumières. 64 Vgl. Lübbe, Aufklärung und Gegenaufklärung, S.  11–27; Tallis, Enemies of Hope; ­Wolin, The Seduction of Unreason. 65 Sternhell, Les anti-Lumières; ders., The Anti-Enlightenment Tradition. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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nur verstehen wollen, sondern sei von ihren Ideen geradezu ›infiziert‹ worden, so dass Berlin – der als prototypischer Verfechter des Nachkriegs-Liberalismus gilt – de facto ein Bauchredner für antiliberales Denken gewesen sei. Das Beispiel zeigt, wie sich dieses Deutungsmodell in seinen immer wieder unterschiedlich ausgerichteten, aber strukturell isomorphen Varianten schließlich selbst ad absurdum führt. Sein Schematismus verengt die Debatte über die Standortbestimmung der Gegenwart mit Bezug auf die Aktualität der Aufklärung auf ein verkürzendes Schwarz-Weiß-Denken und fordert implizit auch vom Leser eine uneingeschränkte Parteinahme nach dem Motto ›wer nicht für uns ist, ist gegen uns‹.66 Gegen eine solche »chantage« mit der Aufklärung hat sich schon Michel Foucault ausdrücklich gewehrt. Nach seinem Dafürhalten bedeute der Aufklärung und ihrer Aktualität in der Gegenwart gerecht zu werden, »qu’il faut refuser tout ce qui se presenterait sous la forme d’une alter­ native simpliste et autoritaire. […] Il faut essayer de faire l’analyse de nousmêmes en tant qu’êtres historiquement déterminés, pour une certaine part, par l’Aufklärung.«67 Zu diesem Zweck bedarf es, so Foucault, vor allem der historischen Forschung – und zwar solcher, die über einen essentialistischen Begriff der Aufklärung und ihrer Gegner hinausgeht. Während die Aufforderung Foucaults den meisten Historikern heutzutage selbstverständlich, ja banal vorkommen wird, ist sie in der Forschung zum Thema Kulturkritik bisher nur unzulänglich umgesetzt worden. Es begegnen uns eine Fülle an Entwürfen, die ein sehr weites, zeitlich ausgedehntes und grundsätzlich philosophisch konzipiertes Verständnis der Aufklärung und deren Gegner voraussetzen. Dabei gehen Berlin und seine zahlreichen Nachfolger nicht so weit wie diejenigen, die dafür plädieren, die beiden Begriffe als anthropologische Größen aufzufassen, die ein analytisches Gegensatzpaar für die gesamte Weltgeschichte liefern.68 Ebenso wenig geht es freilich um eine konkrete Auseinandersetzung innerhalb eines klar umgrenzten Zeitraums.69 Aufklärung und Gegenaufklärung erscheinen vielmehr als zwei einheitliche, intellektuelle Positionen. Während sich die Aufklärung durchgesetzt und die Gestalt der abendländischen Moderne geprägt habe, habe sich an ihren Rändern eine Gegentradition von Außenseitern, die Gegenaufklärung, gebildet. Die Geschichte der Modernität erscheint somit im Bild einer Doppelhelix zweier geistiger Kräfte, die in ihrer abwechselnden Konjunktur das Denken über die Moderne in der Moderne bestimmt haben.70 66 James Schmidt, What Enlightenment was, S. 659–660. 67 Foucault, Qu’est-ce que les Lumières?, S. 571–572. 68 Jochen Schmidt, Einleitung; Lilla, What is Counter-Enlightenment? 69 Zu einem alternativen Verständnis dieses Begriffs siehe Kapitel V. 70 Gerade im angelsächsischen Sprachraum werden Aufklärung und Modernität weit­ gehend synonym verwendet. Siehe: Pippin, Modernism, S. 4–5. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Eine solche dualistische Modellierung ist zu schematisch, als dass sie eine wirklich fruchtbare Perspektive für die historische Forschung darstellte.71 Im Allgemeinen ist die Geschichtswissenschaft in ihrem Umgang mit essentialistischen Begrifflichkeiten dieser Art inzwischen eher vorsichtig geworden. Gerade auch in der Aufklärungsforschung geht die Tendenz immer mehr dahin, die traditionellen analytischen Kategorien aufzubrechen und zu differenzieren. In diesem Sinne schrieb Michel Delon vor einigen Jahren: L’esprit de simplification et d’amalgame des polémistes mais aussi parfois des pédagogues a abusé des catégories binaires Lumières-Antilumières, rationalité-sentimentalité, classicisme-romantisme. La recherche peut commencer à partir du moment où l’on discute ces étiquettes, où l’on bouscule les catégories.72

Das Bild, das in vielen Studien zur Kulturkritik evoziert wird, gleicht dem eines kontinuierlichen Parteienstreits der Moderne. Zwei Lager, die jeweils durch ihre eigenen ›üblichen Verdächtigen‹ vertreten werden, treten auf dem Platz der intellektuellen Geschichte des Abendlandes gegeneinander an und bestimmen so deren Angesicht. Eine solche spiegelbildhafte Vorstellung wird der Komplexität der diskursiven Landschaft der Moderne aber nicht gerecht. Sie zwingt die Interpretation einzelner Autoren oder Texte in die Zwangsjacke einer uneingeschränkten Zuordnung zu einer der beiden ›Seiten‹ und nimmt so eine Kom­ plexitätsreduktion in Kauf, die wissenschaftlich nicht zu rechtfertigen ist. Darüber hinaus führt sie zu fruchtlosen Diskussionen, ob bestimmte Autoren eher der Aufklärung oder der Gegenaufklärung zuzurechnen sind.73 Auch ›Lösungen‹ solcher Fragen, bei denen ein Autor, dessen Status nicht direkt eindeutig ist, als Befürworter einer Aufklärung über die Aufklärung, Aufklärung der Auf­ klärung, dialektischen Selbstüberwindung der Aufklärung, Autokritik der Aufklärung oder ähnliches dargestellt wird, um ihn vor dem angeblichen ›Vorwurf‹, der Gegenaufklärung zuzugehören, zu retten, sind eher als Verlegenheitsgeste denn als Erkenntnisgewinn zu betrachten. Sie beantworten mit ausgeklügelter Spitzfindigkeit eine falsch gestellte Frage.74 71 Vgl. Kondylis, Die Aufklärung, S. 541–543. 72 Delon, Crise ou tournant, S. 87–88. Vgl. zu dieser Frage auch: Masseau, Les ennemis, S. 9–12, 26, 377. 73 Vgl. Seidel, Rousseau  – Repräsentant oder Kritiker der Aufklärung?; Norton, The Myth of the Counter-Enlightenment, S. 640–647. 74 Einige Beispiele: Mederer, Romantik als Aufklärung der Aufklärung?; Kurz, ­Höhere Aufklärung; Gaier, Gegenaufklärung; Brummack, Herders Polemik; Hulliung, The Auto­ critique of Enlightenment; Melzer, Counter-Enlightenment; Pross, Naturalism, S. 218–222; Gröbl-Steinbach, Aufklärung der Aufklärung. Umgekehrt unterscheidet Charles Taylor »what we usually call the counter-Enlightenment, the reaction from outside«, von einer legitimen, immanenten Variante. Taylor, The Immanent Counter-Enlightenment, S. 386. Vgl. zu dieser Kritik: Foucault, Qu’est-ce que les Lumières?, S. 572. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Neben seinem stumpfen Manichäismus hat der gegenaufklärerische Forschungsansatz noch einen weiteren Nachteil. Wenn Aufklärung Modernität bedeutet, befinden sich die Gegenaufklärer logischerweise außerhalb der Moderne. Diese Sichtweise führt unausweichlich zu Anachronismen in ihrer Deutung. Da sie nun als Fremdkörper in der Moderne erscheinen, muss ihre Interpretation entweder auf die Vergangenheit zurück- oder in die Zukunft hinausgreifen. Und tatsächlich, beide Varianten lassen sich in der bestehenden Forschung auffinden. Einerseits wird Kulturkritik als irrationaler Überrest der Vormoderne betrachtet, den es im fortschreitenden Projekt der Aufklärung noch zu beseitigen gilt. Andererseits wird sie – wie oben erläutert – in die Vorgeschichte unterschied­ licher Phänomene eingereiht, um so als polemische Waffe gegen diese zu dienen. Gerade die toposhafte Einordnung der Kulturkritik in den deutschen Sonderweg und das damit einhergehende Vorurteil, dieser Diskurs sei ein deutsches ›Spezifikum‹, spielt in der bestehenden Forschungslandschaft weiterhin eine große Rolle. Eine Variante dieses Interpretationsmusters findet sich auch noch bei Georg Bollenbeck. Freilich betrachtet dieser die Kulturkritik einerseits als »internationales Phänomen mit nationalen Ausprägungen« und betont, dass ihre Geschichte sich nicht auf »eine reaktionäre Linie mit dem Tiefpunkt 1933 festschreiben« lässt. Andererseits bezieht sich seine Interpretation doch wiederum explizit auf zwei »nationale Zentren«: Deutschland und England.75 Wie schon in einem früheren Buch zum ›deutschen‹ Deutungsmuster Bildung und Kultur grenzt Bollenbeck sich somit einerseits von einer teleologischen Interpretation der Geschichte ab, besteht aber gleichzeitig auf die Einzigartigkeit der deutschen Modernisierungskrise des 19. Jahrhunderts. Aus dem deutschen Sonderweg wird so ein etwas absonderlicher »Eigenweg«. Wenn es um das von ihm untersuchte Deutungsmuster geht, zögert Bollenbeck in der Folge aber nicht, von einem »semantischen Sonderweg« zu sprechen, dessen Geschichte, wie er an dieser Stelle betont, »nur von 1933 her« zu erklären sei.76 Für seine Deutung der Kulturkritik hat dies zur Folge, dass er neben der analytischen Grenzziehung zwischen vormoderner Gesellschaftskritik und moderner Kulturkritik (Kulturkritik in weiterem und in engerem Sinne), drittens noch eine »spezifisch deutsche« Variante unterscheidet, als deren Vordenker er Nietzsche identifiziert. Ihre besondere »Schärfe und Resonanz« entlehne die deutsche Kulturkritik ihrer dezidierten Ablehnung der Aufklärung, die sie als von Idealismus und deutscher Klassik überwunden interpretiert einerseits, dem spezifisch deutschen Gegensatz zwischen Kultur und Zivilisation andererseits.77 75 Bollenbeck, Geschichte der Kulturkritik, S.  10, 15.  Vgl. auch: Brunkhorst, Romantik und Kulturkritik, S. 485–486. 76 Bollenbeck, Bildung und Kultur, S. 20–30. Siehe auch: Lepenies, Kultur und Politik. 77 Bollenbeck, Geschichte der Kulturkritik, S. 13–15. Siehe auch: Beßlich, »Von deutscher Art und Kunst«. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Ob die Geschichte der Kulturkritik nach Nietzsche auf die Machtergreifung und schließlich die Konzentrationslager hin geschrieben werden kann, erscheint fraglich, fällt aber außerhalb des Untersuchungszeitraums dieser Studie. Gerade deswegen aber ist es wichtig, nicht schon vorgreifend ihre Entstehungsgeschichte in diesem Lichte zu schreiben. Unter dem Titel der Kulturkritik wird in dieser Studie der Versuch unternommen, die Dualismen, welche ihre Geschichte unter dem Begriff der Gegenaufklärung bestimmt haben, zu überwinden. Der Ansatz der historischen Diskursanalyse bietet eine Methode, die Frage zu erörtern, wie Kulturkritik zur Moderne gehört. Darüber hinaus eröffnet sie, wo sie um einen translingualen Vergleich erweitert wird, die Möglichkeit, die hartnäckige These von der Kulturkritik als typisch deutsches Phänomen neu auf den Prüfstand zu stellen.78

3. Analytische und methodische Dimensionen Das Wechselspiel von Kultur und Kritik Paradoxerweise ist die Historiographie der Kulturkritik in denselben Dualismen, die den kulturkritischen Diskurs selbst prägten, verstrickt geblieben. Die Vorstellung von der Kulturkritik als Außenseiter, außerhalb der Moderne, geht nicht zuletzt auf ihre Selbstinszenierung zurück. Der Kritiker stellt sich als externer Beobachter seiner eigenen Kultur dar, eine Position, die es ihm ermöglicht, ihren Charakter zu analysieren und zu bewerten, ohne selbst von ihr betroffen zu sein. Natürlich kann eine solche Position nie wirklich realisiert werden. Die Kritik des Ganzen bleibt diesem verhaftet. In seiner Kritik benutzt der Kritiker die Sprache und die Kategorien der kritisierten Kultur, in der er lebt. Er ist ein »Fisch, der gegen das Wasser predigt«.79 Auf das »kulturkritische Paradox« ist oft hingewiesen worden. Es gilt als ultimatives Gegenargument gegen einen kognitiv unzulänglichen und politisch reaktionären Diskurs.80 Kulturkritik zu widerlegen ist aber nicht Sache des Historikers.81 Dieser sieht sich, was das Verhältnis zwischen der modernen Kultur 78 Siehe: Kapitel I. 79 Stein, Vorwort, S. 11. Adorno hat die »Komplizität der Kulturkritik mit der Kultur« maßgeblich auf den Punkt gebracht: »Dem Kulturkritiker paßt die Kultur nicht, der einzig er das Unbehagen an ihr verdankt. Er redet, als verträte er sei’s ungeschmälerte Natur, sei’s einen höheren geschichtlichen Zustand, und ist doch notwendig vom gleichen Wesen wie das, worüber er erhaben sich dünkt.« Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, S. 11. Vgl. auch: Heidbrink, Kompensatorische Kulturkritik, S. 200–202. 80 Konersmann, Das kulturkritische Paradox. Siehe auch: Heumakers, De schaduw, S. ­10–11. 81 Für eine ausführliche Kritik der Kulturkritik, vgl. Tallis, Enemies of Hope, S.  180–217. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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und ihrer Kritik angeht, vor eine andere Aufgabe gestellt: die Zugehörigkeit der Kulturkritik zur Kultur, aus der sie hervorgeht, historisch zu bestimmen.82 Diese Beziehung ist keineswegs monolitisch, so dass eine historische Verortung der Kulturkritik in unterschiedliche Richtungen ausgreifen muss. Allererst sind Eigenart und Entwicklung der Kultur Gegenstände von Kulturkritik. Das Ganze, das sie in den Blick nimmt, ist aber kein Abstraktes, das losgelöst von den konkreten kulturellen Phänomenen betrachtet werden könnte. Als ihr kultureller Horizont, innerhalb dessen sich ihre Bedeutung erst kon­ stituiert, bleibt es in doppeltem Sinne an sie gebunden. Zum einen lässt sich der Charakter der Kultur und die Richtung ihres Wandels nur anhand ihrer konkreten ›Artikulationen‹ bestimmen. Individuen, Ereignisse, Strukturen und Entwicklungen erhalten in der kritischen Deutung den Status eines Symptoms. Ohne solche Ansatzpunkte kann Kulturkritik nicht funktionieren. Zum anderen zeigen diese ausgewählten Einzelphänomene – so suggeriert es dieselbe kulturkritische Rhetorik – nur im Lichte ihres kulturellen Horizonts ihre eigentliche Bedeutung. Zwischen diesen beiden Polen, im kontinuierlichen Hin und Her zwischen Einzelnem und Ganzem ereignen sich die Deutungen der Kulturkritik. Ihre Grundfigur ist eine spezifische Gestalt des hermeneutischen Zirkels. Aus diesem Grund stellt sich diese Studie zunächst die Frage nach der Art und Weise, wie symptomatische Referenzphänomene zu kulturkritischen Deu­ tungen Anlass gaben und wie sie in ihnen verarbeitet wurden. Zum Zweiten ist Kulturkritik nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Nur eine Gesellschaft, die es sich leisten kann, einige von der Arbeit im Rahmen des unmittelbaren Kampfs ums Überleben zu befreien, kann Kulturkritik produzieren. So selbstverständlich diese Feststellung klingen mag, in der Kritik selbst wird dieser Ursprung in der ›Arbeit‹  – oder in unserer Begrifflichkeit gesprochen: in den sozio-ökonomischen Strukturen der Gesellschaft, welche sie hervorbringt  – durchweg vergessen oder ausgeblendet. Sie steht in der antiken Tradition, die das Denken über das Ganze ausdrücklich als NichtArbeit (scholê) interpretierte. Nichtsdestoweniger gehören auch solche Kritiker, insofern sie sich überhaupt in dieser Weise generalisierend behandeln lassen, einer sozialen Gruppe an. Dabei fällt zunächst auf: So sehr sie sich auch als solche stilisieren, wirkliche Außenseiter sind Kulturkritiker im Durchschnitt nicht. Wenn auch nicht immer zur eigentlichen sozioökonomischen Elite, gehören die meisten Kritiker doch zumindest der Bildungselite an. Demzufolge wird in dieser Hinsicht speziell auf die diskursive und soziale Konstitution des öffentlichen Intellektuellen, die sich im Laufe des 18. Jahrhundert herausbildete, einzugehen sein. Der – zumindest ihrer Rhetorik nach – ausdrücklich elitäre Charakter der Kulturkritik hat in der Vergangenheit vielfach zu Interpretationen geführt, 82 Vgl. Werber, Einleitung, S. 6. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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die sie als Ideologie einer bestimmten sozialen ›Gruppe‹ oder gar ›Klasse‹ verstand. Sie wurde als ideologische Strategie im Interesse einer bedrohten Elite verstanden. Die Kritik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts galt als adelige, die des späten 19.  und frühen 20.  als bürgerliche Dekadenzerscheinung.83 Solche pauschale Reduktionen der Kulturkritik auf eine ideologische Funktion greifen aus diskursgeschichtlichem Blickwinckel aber zu kurz. Kulturkritik ist ein Diskurs, eine sprachliche Form, die von verschiedenen Gruppen und Individuen zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt wird. Sie lässt sich nicht – wie andere analytischen Konstrukte, wie beispielsweise die Sprache der Mediziner oder der Sozialdemokraten  – als Äußerungsregister einer spezifischen sozialen Gruppe verstehen, die das Alleinrecht auf sie hätte. Das gilt ebenso für pauschale Gleichsetzungen der Kulturkritik mit politischen Strömungen wie dem Konservatismus. Genauso wie ›Konservative‹ auch andere Sprachformen als die der Kulturkritik zum Einsatz bringen, werden diese umgekehrt auch von anderen politischen Richtungen verwendet. Überlappungen zwischen beiden Forschungsgegenständen sollten nicht über ihre Differenz hinwegtäuschen. Es bedarf also eines differenzierten Verständnisses vom Verhältnis der kulturkritischen Semantik zu ihrem politischen und sozialen Umfeld. Zu diesem Zweck soll hier vorgreifend zwischen einer pragmatischen und einer semantischen Deutungsweise des Sprachgebrauchs unterschieden werden, die einander im Laufe dieser Untersuchung immer wieder ergänzend zur Seite gestellt werden.84 Aus pragmatischer Sicht ist Sprache ein Instrument und Sprachgebrauch ein – um einen Ausdruck J. L. Austins aufzugreifen – »way to do things with words«.85 In Bezug auf die Kulturkritik bedeutet dies, dass ihre Sprachmuster von unterschiedlichen Gruppen zu ihren jeweiligen Zwecken eingesetzt werden. Selbst wenn es nicht sinnvoll ist, Kulturkritiker als homogene Gruppe mit einheitlichem Programm zu konstruieren, werden politisch-soziale Instrumentalisierungen des kritischen Diskurses in konkreten historischen Kommunika­ tionszusammenhängen immer wieder zum Thema werden.86 Sprachliche Mittel kommen in solchen Auseinandersetzungen auf zwei miteinander verbundenen, aber dennoch zu trennenden Ebenen zum Einsatz. Erstens als rhetorisches Instrument, das jeweilige Publikum von einem gewissen Standpunkt zu über 83 Beispielsweise: Schenk, Die Kulturkritik der europäischen Romantik. Vgl. zu dieser Inter­pretationsfolie im Kontext der Spätantike auch: Demandt, Denkbilder, S. 27. 84 Für theoretische Überlegungen zu einem solchen »integrierten Semantik-PragmatikModell« aus sprachwissenschaftlicher Sicht vgl. A. Burkhardt, Vom Nutzen und Nachteil der Pragmatik. 85 Besonders in von der Cambridge School inspirierten Studien sind die sprachphilo­ sophischen Überlegungen von J. L. Austin und John Searle weiterhin wirkmächtig. Austin, How to do Things with Words; Searle, Speech Acts. Aus einer anderen Forschungstradition stammend, aber mindestens ebenso wichtig für diese Perspektive ist: Bourdieu, Ce que parler veut dire. 86 Vgl. Kondylis, Die Aufklärung, S. 32. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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zeugen. Zweitens im Rahmen eines so genannten ›semantischen Kampfs‹, in dem die Sprache selbst zum Gegenstand des Gestaltungswillens wird.87 Dieser letzten Strategie liegt die Einsicht zugrunde, dass die verwendete Sprache – abgesehen von den in ihr ›transportierten‹ Inhalten – strukturell die Ergebnisse von Entscheidungsprozessen beeinflussen kann. Die Bedeutung von Kernbegriffen, beispielsweise, kann  – indem sie implizite Annahmen in die jeweilige Debatte hineinschmuggelt – die Möglichkeiten bestimmter Gruppen, Sprache zu ihrem Vorteil einzusetzen, entscheidend bedingen. Sie beeinflusst die Art und Weise, in der unterschiedliche Gruppen im Stande sind, ihre Ansichten Kund zu tun, ihre Argumente zu formulieren und ihr Publikum zu überzeugen. Semantische Wiederholungsmuster bestimmen so die Konturen einer Debatte, bevor auch nur ein einziges Argument geäußert wurde.88 Neben dem geschickten rhetorischen Gebrauch der bestehenden Sprache sind für den Historiker demnach speziell auch Versuche, die Sprache einer bestimmten Gemeinschaft zu ändern, um ihr ein bestimmtes Selbst- und Weltbild oder einen Argumentationsrahmen aufzunötigen, von besonderem Interesse. Es ist in sprachgeschichtlichen Studien oft die Rede davon, dass Sprache nicht nur als Indikator, sondern darüber hinaus als Faktor sozialen Wandels begriffen werden sollte.89 Was es mit diesem letzten Aspekt genau auf sich hat, wird aber weniger oft erläutert. Aus pragmatischer Sicht lassen sich die zwei genannten Instrumentalisierungsstrategien unterscheiden: rhetorischer Streit und semantischer Deutungskampf. Diese letzte Strategie aber deutet auf einen weiteren Aspekt der Sprache hin, der beim Fokus auf soziopolitische Pragmatik allzu leicht aus dem Blickfeld gerät: ihre Semantik.90 Sprachhandlungen, die darauf ausgerichtet sind, die Struktur der Sprache selbst zu verändern (das ge­ läufigste Beispiel sind wohl Definitionen), beziehen sich in pragmatischer Absicht auf ihren wirklichkeitskonstruierenden Charakter. Die Akteure sind bemüht, die Sprache auf ihre Seite zu ziehen, um sie effektiver für sich in Anspruch nehmen zu können. Aber auch da, wo Sprecher sich bewusst mit ihr auseinandersetzen, sind sie immer schon auf die überlieferte Sprache eingelassen. Ihre Welt, ihr Selbstbild und die Orientierung ihrer Handlungen sind schon von der Sprache vorgeformt. Individuen – in gewisser Weise auch Gruppen – benutzen Sprache für ihre Zwecke. Gleichzeitig spielt sie bei der Konstruktion individueller und kollek­tiver Identität eine wesentliche Rolle. Das Selbstbild der Akteure und die Gruppen­ zugehörigkeit, welche ihre Handlungen führt, werden zu einem beträchtlichen 87 Vgl. Koselleck, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, S. 113. 88 Zu den symbolischen Strategien, die zur Konstruktion bestimmter ›Repräsentationen‹ von Identität eingesetzt werden, vgl. Chartier, Le monde comme représentation. 89 Koselleck, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, S. 120. 90 Vgl. Koselleck, Narr und Palonen, Zeit, Zeitlichkeit und Geschichte, S. 14. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Teil  mittels sprachlicher Markierungen konstruiert, artikuliert und reproduziert. Begriffe der Identifikation und Differenzierung, aber auch Personalpronomina übernehmen diese Funktion, stehen aber nur sehr bedingt unter der Kontrolle individueller Sprachanwender. Dasselbe Argument gilt auch bezüglich der Gegenstände, auf die die Akteure sich beziehen, und der Ziele, welche sie verfolgen. Dieser Akt der Identifikation von Möglichkeiten ist – namentlich im Falle von relativ abstrakten Zielen, wie es die meisten soziopolitischen sind – zu einem beträchtlichen Teil  das Ergebnis des jeweiligen Weltverständnisses. Dieses wiederum wird durch die Sprache strukturiert und vermittelt. Die Beispiele zeigen: Während Sprache einerseits ein Mittel ist, Ziele zu er­ reichen, vermittelt sie andererseits auch ein bestimmtes Welt- und Selbstbild und orientiert in dieser Weise das Handeln.91 Sie hat, um eine Formulierung Ludwig Jägers aufzugreifen, einen medialen Eigensinn.92 Auch für sprachliche Handlungen – ja auch für solche reflexiver Art, die sich mit der Sprache selbst auseinandersetzen – gilt, dass sie sich an dem in der vorhandenen Sprache vermittelten Weltwissen orientieren. Auch in dieser Hinsicht ist die Sprache also Faktor im soziopolitischen Geschehen. Es ist der Ansicht Reinhart Kosellecks zuzustimmen: [D]ie politisch-soziale Semantik ist ohne Sprechergruppen und Sprecherinteressen nicht erklärbar, aber sie läßt sich nicht zur Gänze aus den aktuellen und jeweiligen Sprecherkonstellationen ableiten. Sprachwandel und Begriffswandel initiieren zugleich mehr und anderes, als die Sprecher selbst unmittelbar wahrnehmen und wahrhaben können. […] Die Verwendung der Begriffe […] entspringt also nicht nur gesteuerter Sprachtaktik, sondern es handelt sich um Prozesse, um schleichende Vorgänge, die zeitgenössisch nur partiell zu Bewußtsein kamen, und das oft nur zufällig.93

Im Falle der Kulturkritik folgt daraus, dass ihre Zugehörigkeit zur Kultur, aus der sie hervorgeht, neben dem inhaltlichen Aspekt der kritischen Verarbeitung kultureller Phänomene und dem pragmatischen der Instrumentalisierung kulturkritischer Diskursformen im soziopolitischen Kampfgetümmel noch einen dritten und letzten Aspekt hat: Kultur und Kritik gehören auch auf semantischer Ebene zusammen. Wie eingangs angedeutet muss Kulturkritik als Reflexions 91 Wie es Jay Smith in einem wichtigen Aufsatz zum Thema formuliert: »What gets repeatedly overlooked, as a result of this emphasis on stragic intent and the tactical functions of language, is that both words and the people who vocalize them are inevitably embedded in a culture where a dominant set of beliefs and values holds sway.« J. M. Smith, No More Language Games, S. 1426. 92 Vgl. L. Jäger, Vom Eigensinn des Mediums Sprache. 93 Allerdings ist dies eher als strukturelles Merkmal von Zeichengebrauch insgesamt anzusehen denn als Folge davon, dass viele Sprecher ihre Sprache »oft sehr naiv und spontan« benutzen und nicht alle »reflektierte Definitionskünstler« sind. Koselleck, Begriffliche Innovationen, S. 315–316. Siehe auch die Kritik in: Sawilla, »Geschichte«, S. 417. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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modus der Moderne auch und vor allem im Rahmen der semantischen Landschaft der Moderne interpretiert werden. Aus diesem Grund sollen ihre Artikulationsformen in dieser Studie nicht nur im Hinblick auf ihre soziopolitische Funktion, sondern auch hinsichtlich des kulturellen Selbst- und Weltverständnisses, das in ihnen zum Ausdruck gebracht, vermittelt und verarbeitet wird, befragt werden. Gerade jetzt, da die diskursive Macht der überlieferten Dualismen, welche den Diskurs der Kulturkritik ebenso wie ihre historische Erforschung lange Zeit leiteten, allmählich nachlässt, werden wir auf die semantische Gegend verwiesen, zu der sie gehörten. Die historische Diskursanalyse eröffnet die Möglichkeit, die Gegensätze der Kulturkritik als historisches Phänomen ernst zu nehmen, ohne sie unmittelbar für die eigene Forschungsperspektive zu beanspruchen. In seinem Buch »Le concentrique et l’excentrique« (1980) hat sich Georges Benrekassa gegen die Tendenz der traditionellen ideengeschicht­lichen Forschung ausgesprochen, die Geschichte »à travers des finalités successives« zu denken. So lange die Entwicklung der Sprache und des Denkens als Auf­ einanderfolge geschlossener Epochen geschrieben wird, bleibe die Rolle des Nega­tiven notwendigerweise auf die Figuren der Antithese oder Abweichung beschränkt.94 In der vorliegenden Studie wird Benrekassas Herausforderung angenommen, und mit den Mitteln der Diskursanalyse versucht, die Negativität der Kultur­k ritik anders zu denken. Kulturkritik ist eine Antwort auf die Moderne, nicht aber eine Alternative zu ihr. Die historische Semantik stellt das ana­ lytische Instrumentarium bereit, die Selbstinszenierung der Kritiker, die binären Gegensätze ihrer Deutungen und die Artikulationsmuster ihrer Sprache als Grundfiguren des kritischen Diskurses aufzufassen und sie in einem weiteren semantischen Kontext zu verorten. Die Antimodernität der Kulturkritik ist eine Antwort. Sie ist nicht unmodern, sondern bezieht sich mit spezifisch modernen semantischen Mitteln auf den Umbruch des abendländischen Erfahrungsraums in der Moderne. Obwohl sie sich rhetorisch an der Peripherie des öffentlichen Raums situiert, ertönt – so wird in dieser Studie dargelegt – die Stimme der Kulturkritik aus dem Herzen der Moderne. Die semantische Kontextualisierung der Kulturkritik, die im Zentrum dieser Studie steht, lässt sich wiederum in drei Komponenten gliedern. Zunächst übernimmt der kulturkritische Diskurs aus diachroner Sicht viele Elemente älterer kritischer Traditionen. Semantische Analysen zeigen, wie diese Traditionen im Lichte des neu entstehenden kulturhistorischen Denkens transformiert und weiterentwickelt wurden. Gleichzeitig bildeten solche etablierten ­Semantiken oftmals aber auch ein Hindernis für die Verbreitung der neuen, kulturkritischen 94 Benrekassa, Le concentrique et l’excentrique, S. 17. Siehe auch: Aerts, Prometheus en Pandora, S.  53. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Artikulationsmuster. So können über längere Zeiträume hinweg Kontinuitäten und Brüche in der Verwendung kulturkritischer Bedeutungsstrukturen nachgezeichnet werden und wird es möglich, die neu entstehende Kulturkritik historisch zu verorten, ohne ihre besondere, spezifisch moderne Eigenart aus dem Auge zu verlieren. Zweitens entnimmt Kulturkritik ihre Artikulationsformen zumindest teilweise der synchronen, interdiskursiven Auseinandersetzung mit anderen, zeitgenössischen Diskursen. In dieser Hinsicht ist die Sprache der Kulturkritik eine Gegensprache. Die Abgrenzung von Sprachformen, die einerseits als kulturell dominant, andererseits als symptomatisch für eine Kultur im Verfall wahrgenommen werden, spielt eine zentrale Rolle im kulturkritischen Diskurs. Auf formaler Ebene folgt daraus, dass viele kulturell bedeutsame Metaphern, Begriffe, Redewendungen, Stile, Werthaltungen und Narrative in der Kulturkritik in verkehrter oder parodierter Form auftauchen. Ein Beispiel ist die Licht­metapher, die für die epistemologischen und soziopolitischen Debatten des späten 18.  Jahrhunderts von eminenter Bedeutung war. Wenn ›Licht‹ eine Charakteristik der modernen Kultur ist, so öffnet sich für ihre Kritiker die Möglichkeit, ihre negativen oder gefährlichen Konnotationen zu aktualisieren (Blendung, Feuer) oder für die Vorzüge bzw. Notwendigkeit ihrer Gegensätze (Finsternis, Nacht) zu argumentieren.95 Daraus folgt: Nur im Rahmen des weiteren argumentativen und semantischen Kontexts lassen sich die Form und Entwicklung der kulturkritischen Diskursformen hinlänglich erklären. Schließlich bildet die Semantik der Kulturkritik als Wiederholungsmuster auch ihren eigenen Kontext und sollte ihre Funktionsweise auch in Hinblick auf ihre eigene Reproduktion interpretiert werden. In dieser Hinsicht erscheint es sinnvoll, die paradoxe Zirkularität der Kulturkritik nicht länger als logisch mangelhaft, sondern als semantisch produktiv zu betrachten. Damit würde das abstrakte Argument gegen die prinzipielle ›Möglichkeit‹ jeder Kulturkritik der sorgfaltigen Analyse ihrer konkreten historischen Realität Platz machen – eine Lesart, welche auch die selbstreferentiellen Aspekte des Dis­kurses mit einschließt. Jeder Diskurs kann Strukturelemente oder Logiken enthalten, die einander nicht gegenseitig verstärken oder zuweilen gar in offenbarem Widerspruch zueinander stehen. Im Falle der Kulturkritik ist klar, dass der Kritiker nicht um die Kategorien und Sprache der von ihm kritisierten Kultur herumkommt. Seine sorgfältig gepflegte rhetorische Außenseiterposition und die analytischen und sprachlichen Mittel seiner Kulturdeutung sind unvermeidlich miteinander in Konflikt. Diese Zirkularität verhindert aber keineswegs die Artikulation neuer Kritik. Im Gegenteil, oftmals zieht sie sogar neue Artikula 95 Siehe: Kapitel V. Ob, wie Gert Ueding schreibt, die Sprache der ›Gegenaufklärung‹ de facto die Sprache der Aufklärung »mit umgekehrten Vorzeichen« ist, so dass der Gegner die Waffen bestimmt, bleibt im Einzelfall zu klären. Vgl. Ueding, Universalsprache. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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tionsversuche und semantische Innovationen nach sich: Wenn alle Kritik notwendigerweise durch die sie umgebende Kultur ›verunreinigt‹ ist, wird Kulturkritik zu einer unendlichen Aufgabe, die schon aus ihrer eigenen Struktur heraus die ständige Aktualisierung und Verfeinerung ihrer semantischen Mittel erfordert. Die Zirkularität der Kulturkritik ist kein bloßer Teufelskreis und ihre Dissonanzen sind keine bedauerlichen Unstimmigkeiten. Sie entfalten vielmehr eine ernst zu nehmende Dynamik, welche die Funktionsweise des Diskurses maßgeblich mitbestimmt. Die vielfältige Beziehung der Semantik der Kulturkritik zur semantischen Landschaft der Moderne verleiht ihr eine weitere historische Relevanz, die über ihre unmittelbare historische Wirkung noch hinausweist. Das heißt selbstverständlich nicht, dass die Aussagen der Kulturkritik hier als Beschreibung der historischen Realität für bare Münze genommen werden sollen.96 Es ist überhaupt wenig sinnvoll, die Deutungen der Kulturkritik auf ihre ›Richtigkeit‹ zu prüfen. Kulturkritik ist keine Beschreibung der Totalität einer Lebensform, die empirisch getestet werden könnte. Nur unter diesem Aspekt aber erscheinen die verwickelten Bezüge zwischen der Kultur und ihrer Kritik als logischer Widerspruch. Aus historischer Sicht zeigt sich aber, dass das Scheitern der Kulturkritik keineswegs ihr Ende bedeutete. Die strukturelle Unmöglichkeit der Kulturkritik weist eine spezifische historische Form auf, die nicht nur eine breite gesellschaftliche Wirkung hatte (und hat), sondern darüber hinaus einen mittelbaren, aber signifikanten Hinweis gibt auf die Beschaffenheit des semantischen Horizonts, in dem sie sich entfaltete.

Quellenanalytische Leitfragen Nicht selten wird in der Forschung wie in der breiten Öffentlichkeit die Frage diskutiert, ob ein bestimmter Autor oder Text als kulturkritisch anzusehen ist oder nicht. Trotz ihres geringen wissenschaftlichen Werts geben solche Diskussionen einen bedeutsamen Hinweis auf die Art und Weise, wie der Begriff Kulturkritik in unserem alltäglichen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch verwendet wird. Einerseits zeigen sie, dass seine Bestimmung nicht immer eindeutig und manchmal unumstritten ist. Andererseits aber auch, dass man der Meinung ist, es lasse sich über sie sinnvoll diskutieren. Daraus folgt – und unsere alltägliche Erfahrung bestätigt dies –, dass es bestimmte sprachliche Merkmale gibt, welche zwar nicht immer eindeutig, aber immerhin erkennbar auf den kulturkritischen Charakter individueller Texte hinweisen.97 Diese  – die 96 Es gilt der von Hans-Georg Gadamer geprägte Satz: »Was sie bezeugen, ist jedoch nicht, was sie verkünden.« Gadamer, Über die Planung der Zukunft, S. 159. 97 Vgl. Busse und Teubert, Diskurs, S. 16–17. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Zeichen der Kulturkritik – gilt es in dieser Studie herauszuarbeiten. Vorgreifend können dabei fünf Leitfragen unterschieden werden, an denen sich die Quellenanalyse orientieren wird.98 In welchen Medien wird Kulturkritik geäußert? Wie unten weiter aus­geführt werden soll, ist Kulturkritik nicht an ein bestimmtes Medium gebunden. Der Diskurs taucht in unterschiedlichen Textarten und Zusammenhängen auf. Daraus folgt aber nicht, dass seine mediale Form irrelevant wäre. Die Rezeption, Vermittlung und Verbreitung kulturkritischer Semantiken wird von den formalen und materiellen Eigenschaften des jeweils gewählten Mediums maßgeblich beeinflusst. Wie es Philipp Sarasin einprägsam ausgedrückt hat: »Der Geist weht eben nicht, wo er will«.99 Aus diesem Grund sind diese Eigenschaften, ebenso wie die Einbettung dieser Artikulationsmedien in weiteren gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen bei der Analyse des kulturkritischen Diskurses stets in Betracht zu ziehen. Darüber hinaus wird die Wahl für ein bestimmtes Medium – gerade weil sie bis zu einem gewissen Grade ›frei‹ ist – von Vorstellungen über seine Funktionalität, aber vor allem auch über die kulturellen Konnotationen, die mit ihm verknüpft werden, geleitet. Nicht selten rücken Medien und Sprache selbst ins Zentrum der kritischen Kulturdeutung. Zu denken ist in dieser Hinsicht an die Präferenz für bestimmte Arten von ›natürlichen‹ oder ›poetischen‹ im Vergleich zu ›artifiziellen‹ oder ›prosaischen‹ Sprachmodi, aber auch an die Auseinandersetzung mit neu entstehenden medialen Zusammenhängen, wie man sie in der Forschung unter dem Titel der Öffentlichkeit zusammenzufassen pflegt. Es werden bestimmte Kommunikationsformen als Gefahr für den sozialen Zusammenhalt, für überkommene Autoritätsstrukturen, für Tugend, Religion und das Leben schlechthin angesehen, sowie als Symptome für deren Verfall. Wo sich die Aussage der Kulturkritik in dieser Weise auf die Kommunikations­ zusammenhänge und -mittel, innerhalb deren sie hervorgebracht wird, bezieht, sind die reflexiven Effekte solcher Überlegungen auf ihren eigenen Medien­ gebrauch stets zu bedenken. Welche zentralen Lexeme, Begriffe und Metaphern strukturieren die kulturkritische Sprache? Die Erforschung ihrer zentralen Wortfelder unter Berücksichtigung derer grundsätzlichen Polysemie bildet einen sinnvollen Eingang in die Sprache der Kulturkritik. Onomasiologische (von der Bedeutung ausgehende) und semasiologische (von den Bezeichnungen ausgehende) Perspektiven sollen einander dabei ebenso ergänzend zur Seite gestellt werden, wie Aufmerksamkeit für buchstäbliche und metaphorische Verwendungswei-

98 Für eine zum Teil analoge Unterscheidung sechs verschiedener Analysebenen, siehe: Lüsebrink, Begriffsgeschichte. 99 Sarasin, Geschichtswissenschaft, S. 37. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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sen.100 Hier kann an eine besonders reichhaltige Forschungsliteratur angeknüpft werden. Wie schon im Hinblick auf die zentrale Stellung starker binärer Oppositionen im Diskurs deutlich wurde, soll der Fokus dabei weniger auf den einzelnen Zeichen als auf ihren jeweiligen Verhältnissen untereinander liegen. Es gehört inzwischen zu den Gemeinplätzen der theoretischen Reflexion über die historische Semantik, dass die Bedeutung einzelner Zeichen sowie die strukturellen Eigenschaften eines Bedeutungssystems sich nicht aus Elementarzeichen aufbauen bzw. herleiten lassen, sondern erst aus den funktionellen Differenzen und Überschneidungen unterschiedlicher Zeichenketten hervorgehen.101 In der konkreten Forschungspraxis wird dieser Einsicht aber immer noch zu wenig Rechnung getragen. In dieser Studie sollen syntagmatische (Kollokationen, lexikalische Felder) und paradigmatische Relationen (Identität, Opposition, Konnotation, Implikation, Subsumtion) ausdrücklich im Fokus stehen. Welche raumzeitlichen Deutungsmuster strukturieren die kritische Perspektive auf die geschichtliche Entwicklung der Kultur und ihre räumliche Verortung? Die Deutung der Kulturkritik setzt eine narrative Struktur voraus, welche die zerstreuten Erfahrungen in einen geschichtlichen Sinnzusammenhang einordnet. Ihre Verfallsgeschichte als bloße Umkehrung des sprichwörtlichen Fortschrittsglaubens der Aufklärung zu deuten, greift zu kurz. Die Kultur­ reflexion des Untersuchungszeitraums kann durch die Reduktion auf zwei einander entgegengestellte, monolitische Narrative nur unzureichend beschrieben werden. Vielmehr zeichnet sie sich durch eine Vielfalt unterschiedlicher Verknüpfungen von linearen (Fortschritt, Dekadenz) mit zyklischen (Ursprung, Wachstum, Verfall, Wiedergewinnung) Zeitvorstellungen aus. Solche komplexen, universalgeschichtlichen Mustererzählungen, welche die zeitgenössische Kulturreflexion strukturieren, stellen weder eine bloße dekorative Hülle ihres argumentativen Kerns dar noch sind sie als Hindernisse für ihre rationale Validität zu betrachten. Sie bestimmen vielmehr schon im Voraus maßgeblich, was innerhalb ihres jeweiligen Rahmens als rational gelten kann. Sie stecken das Feld ab, auf dem die ausformulierten Argumente erst zum Tragen kommen können.102 Darüber hinaus ist es wichtig festzuhalten, dass jede kulturgeschichtliche Vorstellung gleichzeitig eine räumliche 100 Diese Unterscheidung setzt keine sprachontologische These über den Status von Begriffen und Metaphern voraus, sondern wird aus sprachpragmatischer Sicht vielmehr selbst zum Gegenstand der Untersuchung. Siehe dazu: Kapitel IV. 101 Besonders die Ideengeschichte nach Arthur O. Lovejoy ging von »component elements«, den sogenannten »unit-ideas« aus, welche in immer unterschiedlichen Konstellationen immer dieselben blieben. Neben der Analogie mit der Chemie tauchten in diesem Zusammenhang oft Metaphern von Spielkarten, Bausteinen oder Buchstaben auf. Vgl. Lovejoy, Great Chain of Being, S. 3–21. Dagegen: Busse, Begriffsgeschichte, S. 18, 21. 102 Vgl. Korsten, The Wisdom Brokers. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Dimension eröffnet. Die Geschichte bewegt sich in der Landschaft von Morgenland zu Abendland, von Süden nach Norden. Es bilden sich Zentren und Peripherien sowohl innerhalb Europas als auch darüber hinaus. Gewisse Regionen erscheinen als weiter fortgeschritten, andere als zurückgeblieben.103 Nicht nur an regionalen, sondern auch an sozialgeographischen Unterscheidungen – zwischen Land und Stadt, Stadt und Hof, Zentrum und Provinz – orientieren sich die kultur­k ritische Abkehr ebenso wie die ihr entsprechende Sehnsucht.104 Welche Figuren spielen in der Artikulation von Kulturkritik eine Rolle? Eine spezielle Kategorie der semantischen Wiederholungsstrukturen des Diskurses sind negative und positive Stereotypen. Gerade in literarischen Medien – und insbesondere auf der Bühne – wird Kulturkritik nicht selten in personifizierter Form zur Sprache gebracht. Sei es, dass bestimmte, dem Publikum durch wiederholtes Auftreten bekannte Personen als Sprachrohr auftreten, sei es, dass die Figuren selbst in ihrem Handeln als Projektionsfläche für negative Kultur­ deutungen oder als positive Kontrastfolien inszeniert werden.105 Die wichtigste Figur des kulturkritischen Diskurses ist aber stets der Kritiker selbst. Daher stellt sich zum Schluss die Frage: Mit welcher Stimme spricht er? Das überschwängliche Pathos und die starke persönliche Färbung der kulturkritischen Sprache machen, dass sie uns heute manchmal pathetisch vorkommt. Diese charakteristische Stilistik soll hier nicht so sehr als Ausdruck der Persönlichkeit des jeweiligen Kritikers, sondern vielmehr als Form seiner Selbststilisierung im Hinblick auf die diskursiven Muster, in die er sich einschreibt, aufgefasst werden.106 Die Inszenierung der kritischen Außenseiterposition erfordert ihre stilistische Abhebung von alternativen, mit dem vorherrschenden Zeitgeist identifizierten Denk- und Sprachmuster. Nicht zuletzt gilt dies für die Abgrenzung der Kulturkritik von der schon unter Zeitgenossen sprichwörtlich gewordenen kritischen Denkart der Aufklärung. Während deren Allgemeingültigkeitsanspruch prinzipiell keine privilegierten Orte des Sprechens zuließ, bezog sich die Kulturkritik ausdrücklich auf die Einsicht des Einzelnen. Diese Selbstinszenierung als Prophet, Visionär oder Genie wurde nicht zuletzt mithilfe eines markanten Stils zum Ausdruck gebracht, durch den sich der Kritiker von anderen, geläufigen Tonarten abgrenzte. Den semantischen Merkma 103 Vgl. Hühn, Entgegensetzung. 104 Vgl. einführend: Bergmann, Agrarromantik; R. Williams, The Country and the City. 105 Einen historischen und theoretischen Überblick über die »Imagologie« in der Literaturwissenschaft, Sozialpsychologie, Linguistik und Geschichtswissenschaft bietet: Florack, Bekannte Fremde, S. 7–58. Siehe auch die theoretischen Beiträge in: Hahn, Historische Stereotypenforschung; ders., Stereotyp, Identität und Geschichte; Czarnecka, Borgstedt, und Jablecki, Frühneuzeitliche Stereotype. Und zu einigen Beispielen aus dem Untersuchungszeitraum: McGirr, Eighteenth-Century Characters. 106 Vgl. Sarasin, Geschichtswissenschaft, S. 59; Linke, Begriffsgeschichte, S. 42–44. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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len und Funktionen dieses »Wechsels der Töne« auf die Spur zu kommen, ist ein wichtiges Ziel dieser Arbeit.

Historische Diskursanalyse, Quellenkorpus und Gliederung Die Zeichen der Kulturkritik sind, so zeigt schon dieser knappe Überblick, unterschiedlichster Art. Sie befinden sich auf allen Ebenen der Sprache. Der thematische Ausgangspunkt der Studie mündet somit in einen methodischen Pluralismus. Die Vielfalt der unterschiedlichen Semantiken in ihren gegenseitigen Beziehungen steht dabei im Mittelpunkt. Für diesen integrativen Ansatz steht hier der Methodenbegriff der historischen Diskursanalyse. Der Diskursbegriff gehört, spätestens seit dem sogenannten linguistic turn, zu den Schlagwörtern der neueren Kulturgeschichte. Ein entscheidender Grund für seine schnelle Verbreitung – sowie auch für die Kritik, der er immer wieder ausgesetzt gewesen ist  – sind seine unscharfe Verwendung und die Vielfalt an theoretischen Konzepten und methodischen Verfahren, die sich hinter ihm verbergen.107 Während der Begriff im Rahmen einer Theorie des kommunikativen Handelns, wie sie von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel formuliert worden ist, eine philosophisch-normative Funktion übernimmt, so dass in diesem Kontext sinnvoll von einer Diskursethik die Rede sein kann,108 kursiert in der Linguistik eine Reihe von analytischen Diskursbegriffen, die sich aber auf sehr unterschiedliche Phänomene – von ›jeder über die Satzeinheit hinaus­ gehenden sprachlichen Äußerung‹, über ›eine mündliche Interaktionsform‹, bis hin zu den ›sozialen Rahmenbedingungen von Kommunikation‹ – beziehen.109 Darüber hinaus bleibt der unterminologische Gebrauch im Sinne von Abhandlung, Unterhaltung, Diskussion, Äußerung, Redeweise oder Gerede auch in wissenschaftlichen Kontexten  – zumal im englischen und französischen Sprachraum – stets präsent. In der Geschichtswissenschaft hat vor allem die Diskurstheorie Michel Foucaults Schule gemacht. Dabei muss allerdings angemerkt werden, dass letzt­ endlich nur wenige Historiker dem Meister linientreu gefolgt sind, während eine große Mehrzahl dankbar seine Aufforderung, sich seiner Theorie als

107 Vgl. Schöttler, Historians and Discourse Analysis; Mills, Discourse, S. 1–76; Steinmetz, Diskurs; Guilhaumou, Geschichte und Sprachwissenschaft; Sarasin, Geschichtswissenschaft; Eder, Historische Diskurse; Landwehr, Historische Diskursanalyse, S. 60–99. 108 Vgl. zur Einführung: Gottschalk-Mazouz, Diskursethik; ders., Perspektiven der Diskursethik. 109 Vgl. zur Einführung Bluhm u. a., Linguistische Diskursanalyse; Jaworski und Coupland, Introduction; Schiffrin, Tannen und Hamilton, Handbook of Discourse Analysis. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Werkzeugkiste zu bedienen, Folge geleistet hat.110 Verstärkt wurde dies noch durch den Umstand, dass die zu folgende Linie nicht immer klar zu entziffern war. Foucault selbst hatte seinem theoretischen Vokabular gegenüber eine eher flexible Einstellung, so dass nur bedingt von einer einheitlichen Diskurstheorie foucaultscher Prägung die Rede sein kann.111 In »L’archéologie du savoir« (1969), in dem er seine früheren, empirischen Arbeiten nachträglich mit einer theoretischen Grundlage versah, bestimmte Foucault den Diskurs generell als »ensemble des énoncés qui relèvent d’un même système de formation«, wobei er die seriell auftretende Aussage (énoncé) terminologisch von der einmaligen Äußerung (énonciation) unterschied.112 In ihrer konventionalisierten Regularität bilden Diskurse die historisch wandelbaren Möglichkeitsbedingungen für Äußerungen. Ihre sprachlichen und nicht-sprachlichen Formationsregeln stellen eine Zwischenebene zwischen den Wörtern und den Dingen dar. Die Aussagen des Diskurses lassen sich also nicht als mehr oder weniger korrekte Repräsentation auf die in ihnen zur Sprache kommende Wirklichkeit zurückführen. Erst als Gegenstand des Diskurses wird diese überhaupt erst benennbar und beschreibbar. In diesem Sinne kommt seinen Formationsregeln ein wirklichkeitskonstruierender Charakter zu und sind Diskurse nicht nur restriktiv, sondern auch produktiv. Ebenso wenig wie an eine vordiskursive Wirklichkeit sind die diskursiven Aussagen an die Intentionen oder Interessen der sie zur Sprache bringenden Subjekte gebunden. Nicht nur weil ihre Äußerungen immer schon diskursiv vorstrukturiert sind, sondern auch weil ihre Regeln den Akteuren den Ort zuweisen, an dem sie erst zu Wort kommen können.113 110 Vgl. Foucault und Droit, Des supplices aux cellules. Auch die von den Arbeiten Quentin Skinners und John Pococks ausgehende Cambridge School hat, obwohl sie zumeist den Begriff der (political) language vorzog, ihren Gegenstand manchmal als discourse bezeichnet. Definiert hat sie ihn, in den Worten Pococks, als »a complex structure comprising a vocabulary; a grammar; a rhetoric; and a set of usages, assumptions, and implications existing together in time and employable by  a semi-specific community of language-users for purposes political interested in and extending sometimes as far as the articulation of a worldview or ideology«. Obwohl Überschneidungen mit dem hier verwendeten Diskursbegriff unverkennbar sind, erscheint die hier beiläufig eingeführte Wendung for purposes political im Rahmen dieser Studie problematisch. Siehe dazu vor allem: Kapitel II. Pocock, Concepts and Discourses, S. 47. Siehe insbesondere auch: ders., Languages and Their Implications; ders., Introduction. 111 Vgl. Kammler, Michel Foucault, S. 199; Keller, Diskurse und Dispositive, S. 73–77. 112 Foucault, L’archéologie du savoir, S. 140–141. 113 Seit seiner Antrittsvorlesung am Collège de France 1971 hat sich Foucault zunehmend mit dem Zusammenhang zwischen Wahrheit – wie sie im Rahmen der von Diskursen strukturierten Wissensordnung hervorgebracht wird  – und gesellschaftlicher Macht aus­ einandergesetzt. Die sogenannte Kritische Diskursanalyse, in Deutschland insbesondere von Siegfried Jäger vertreten, hat dieses Erbe angetreten und stellt die Analyse von Diskursen ausdrücklich in den Dienst der entlarvenden Kritik gesellschaftlicher Machtszusammenhänge. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Da der diskursanalytische Blick laut Foucault den hinter den Text liegenden Sinn auf sich beruhen lässt und ausdrücklich an seiner Oberfläche haften bleibt, wo er den formalen Möglichkeitsbedingungen seiner Aussagen auf die Spur zu kommen hofft, hat er seine Methode streng von der Hermeneutik abgegrenzt.114 Vielleicht noch im Nachhall des strukturalistischen Traums, den hermeneutischen Zirkel des Verstehens durch methodische Verfahren zu umgehen, lag dieser Abgrenzung ein eher enges Verständnis von Hermeneutik zugrunde, das sie mit Kategorien wie Tradition, Einfluss, Entwicklung, Originalität, Geist, Werk und Einfühlung in Verbindung brachte. Richtiger wäre es, historische Diskursanalyse als Hermeneutik mit einem bestimmten Erkenntnisinteresse zu beschreiben.115 Sie beschäftigt sich nicht mit Texten, Biographien, Ereignissen, Theorien oder Systemen, sondern wendet sich von dem Was des Gesagten dem Wie desselben zu und versucht die konventionalisierte Regel seiner Produktion zu ermitteln. In diesem Sinne kann sie als laterale Hermeneutik gelten: als formale Lesart, die den Diskurs als erfahrungsstrukturierende und handlungsorientierende Instanz in den Blick nimmt. Diskursanalyse ist eine genera­ lisierte Form der historischen Semantik, die es sich zum Ziel setzt, im Rückblick die semantischen Möglichkeitsräume, in denen sich die historischen Akteure – bewusst oder unbewusst  – bewegten und an denen sie sich orientierten, zu vermessen.116 Eine eingehende Auseinandersetzung mit den Theoriedebatten um den Diskursbegriff bei Foucault und darüber hinaus würde hier zu weit führen. Sinnvoller erscheint es, das oben erläuterte, vorgreifende Verständnis der Kulturkritik – als geschichtlich orientierte Kritik der eigenen Kultur im Ganzen – als Ausgangspunkt zu nehmen und die Erörterung weiterführender methodologischer und theoretischer Fragen bis dahin zurückzustellen, wo sie in unmittelbarer Auseinandersetzung mit den Quellen auftauchen. Dabei soll stets der empirische Aspekt im Vordergrund stehen, so dass solche Überlegungen nicht aus einer rein theoretischen Fragestellung heraus, sondern ausschließlich im Hinblick auf die Erschließung des Themas entwickelt werden. Obwohl die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Diskurs und Gesellschaftsordnung auch in dieser Studie an mehreren Stellen gestreift wird, unterscheidet sie sich doch in zweifacher Weise von der Kritischen Diskursanalyse. Einmal, da ihr Augenmerk stets deskriptiv ist. Zum anderen, da hier nicht die gesellschaftliche Machtverteilung und -ausübung, sondern die Analyse der Macht der Sprache im Mittelpunkt steht. ders., L’ordre du discours. Vgl. S. Jäger, Diskurs und Wissen; M. und S. Jäger, Deutungskämpfe. Für eine Kritik dieses Ansatzes siehe: Busse, Begriffsgeschichte, S. 34–36. 114 Foucault, L’archéologie du savoir, S. 31–43. 115 Siehe dazu: Keller, Diskurse, S. 79–82; Hermanns, Diskurshermeneutik. Vgl. auch die anderen Beiträge in diesem Band. 116 Vgl. einführend: Fritz, Historische Semantik. Ein analoger Ansatz, fokussiert auf den Begriff der politischen Sprache, hat Keith Michael Baker unter dem Titel intellectual history vertreten. Vgl. Baker, Ideological Origins, S. 12–18. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

Analytische und methodische Dimensionen

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Eine zentrale Aufgabe jeder diskursgeschichtlichen Studie, die an dieser Stelle wenigstens kurz angesprochen werden sollte, liegt in der kontrollierten Erstellung des Quellenkorpus.117 Kulturkritik ist ein Diskurs, keine Textgattung. Sie kann prinzipiell in jeder Textsorte vorkommen. Umgekehrt sind in fast jedem Text mehrere Diskurse präsent. Die formale Beschränkung auf eine einzelne Textsorte oder einen Kommunikationsbereich wäre somit methodisch unzulänglich. Um Verzerrungen vorzubeugen, muss es im Gegenteil Ziel der Studie sein, ein möglichst pluriformes Quellenkorpus in Betracht zu ziehen. Nur so können auch die Grenzen und Verbreitung des Diskurses zum Gegenstand der Untersuchung werden. Diese Situation wird noch dadurch kompliziert, dass Kulturkritik keinen Quellenbegriff, sondern eine analytische Kategorie darstellt. Selbst wenn die Sache der Kulturkritik den Zeitgenossen nicht unbekannt war – ihre Rezeption in der zeitgenössischen Öffentlichkeit spielte eine bedeutende Rolle in ihrer diskursiven Entfaltung –, so reicht dies doch nicht aus, sich bei der Quellenauswahl auf die Binnenperspektive der Akteure stützen zu können. Zum einen, da das Bewusstsein einer spezifisch modernen Diskursform der Kulturkritik sich erst allmählich und zeitlich verzögert herausbildete. Zum anderen, da nicht ohne Weiteres angenommen werden kann, dass die zeitgenössische Wahrnehmung des Diskurses die einzige oder fruchtbarste Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand bildet. Obwohl die zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem Diskurs einen wesentlichen Aspekt seiner Geschichte bildet, ist seine Identität hier also ausdrücklich als analytische Kategorie konzipiert.118 Somit orientiert sich die gezielte Sammlung und Gewichtung der Quellen an der vorangestellten heuristischen Bestimmung und den zugehörigen Leitfragen. Im Fokus stehen Textstellen, in denen negative Charakterisierungen der eigenen Kultur im Ganzen vorgenommen werden und dieser Darstellung eine historisch-genetische Entwicklungslogik zugrunde gelegt wird. Zum Teil kann dabei von in der bestehenden Forschungsliteratur erwähnten Quellen ausgegangen werden. In anderen Fällen sind solche Texte an ihrem Titel oder Erscheinungsort erkennbar. Mittels intertextueller Verweise können diese wiederum als Ausgangspunkt für die Erschließung weiterer Quellenbestände dienen. Obwohl es zahlreiche Texte – von Monographien und Pamphleten bis hin zu Aufsätzen in Zeitschriften und Zeitungsartikeln – gibt, in denen Kulturkritik explizit zum Thema gemacht wird, so stellt diese Gruppe quantitativ betrachtet dennoch eine Minderheit dar. Aus ersichtlichen Gründen hat sich die philo­ sophiegeschichtliche und literaturwissenschaftliche Forschung fast ausschließlich auf solche Texte konzentriert. Dennoch findet sich Kulturkritik häufiger in 117 Vgl. Busse und Teubert, Diskurs, S. 14–18. 118 Bluhm u. a., Linguistische Diskursanalyse, S. 15–17; Landwehr, Historische Diskursanalyse, S. 101–105. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Einleitung

Texten, in denen sie nicht thematisch verhandelt, sondern als Mittel oder Ergebnis der Analyse anderer Themen herangezogen wird. Solche Texte können aber nur in einem hermeneutischen Prozess fortschreitenden, zirkulären Lesens erschlossen werden.119 Im Fokus stehen dabei solche Diskussionszusammenhänge, in denen die Reflexion auf die eigene Kultur eine konstituierende Rolle spielt. Neben Texten zur Menschheits- oder Kulturgeschichte im weitesten Sinne kommen dabei vor allem Diskussionszusammenhänge in den Blick, in dem die generelle Entwicklung unterschiedlicher gesellschaftlicher Felder im Hinblick auf ihre kulturelle Bedeutung reflektiert und diskutiert wird. Für eine weitere Kontextualisierung der gesichteten Texte und zum Zwecke der Einschätzung deren Repräsentativität werden schließlich ausgewählte zeitgenössische Zeitschriften berücksichtigt. Aus diesen Überlegungen ergibt sich auch die Gliederung dieser Studie. Im ersten Kapitel wird eine generelle Charakterisierung des Diskurses vorgenommen und die Herausbildung einer modernen Kulturkritik im Kontext des sich allmählich durchsetzenden kulturgeschichtlichen Bewusstseins nachgezeichnet. Ausgehend von zentralen Begriffen wie Kultur, Zivilisation, Geschichte, Fortschritt, Dekadenz und Zeitgeist werden zentrale Merkmale der kulturkritischen ›Diagnostik‹ in ihrer historischen Entwicklung skizziert. Schließlich werden in diesem Kapitel auch die ersten Konturen der semantischen Mittel, mit denen die Kritiker ihre Außenseiterposition in Szene setzten, sichtbar gemacht. In den weiteren Kapiteln wird der Diskurs, ausgehend von diesem Analyserahmen, in vier konkreten Diskussionszusammenhängen (Wirtschaft, Gesellschaftsleben, Sprache und Wissen) verortet. Die Auswahl erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, bezieht sich aber auf Diskussionsfelder, die für die zeitgenössische Kulturreflexion entscheidend waren. Diese Situierung des Diskurses in konkreten diskursiven und soziopolitischen Kontexten der Zeit ist aus zwei Gründen notwendig. Zum einen determinierten sie die Produktion und Rezeption des Diskurses und damit seine historische Wirkung. Erst im Kontext konkreter Auseinandersetzungen lässt die Kulturkritik sich über ihre formale Analyse hinaus als historisches Phänomen beschreiben. Es zeigt sich, wie 119 Die breite Quellenbasis und der lange Untersuchungszeitraum sind für den metho­ dischen Ansatz der Studie unerlässlich, stellen aber auch relativ starke Anforderungen an den vielgerühmten ›Mut zur Lücke‹. Aus praktischen Gründen konnte nicht jeder Text, der für die Analyse bedeutsam hätte sein können, in die Quellenauswahl aufgenommen werden. Darüber hinaus konnte der Lesbarkeit der Darstellung zuliebe bei Weitem nicht jede Quelle im Haupttext zitiert werden. Viele Belegstellen finden sich ausschließlich in den Fußnoten, in denen sich dem geneigten Leser somit noch eine Fülle an weiterem Material erschließt. Hier finden sich auch Hinweise auf Sekundärliteratur, in der sich oft noch weitere ›Stellen‹ finden. Bei Zitaten, die zur Illustration eines häufig auftretenden Musters herangezogen werden, ist versucht worden, vorzugsweise solche zu berücksichtigen, die sich nicht oder nur selten in der bestehenden Literatur finden. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

Analytische und methodische Dimensionen

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sie sich in Bezug auf und Abgrenzung von anderen argumentativen Positionen, Traditionen, Schulen und Paradigmen artikulierte. Doch beschränkt sich die Zielsetzung dieser Kapitel nicht auf die Ausarbeitung historischer ›Verkörperungen‹ oder ›Beispiele‹ eines abstrakten Modells. Wie zu zeigen sein wird, erhielt der Diskurs seine Form vielmehr erst in der Konfrontation mit solchen konkreten zeitgenössischen Auseinandersetzungen. Der generelle Charakter einer Kultur, der den Gegenstand der Kulturkritik bildet, ist keine einfache Gegebenheit. Er erscheint als mächtiger, aber schwer fassbarer Geist, der in ihren konkreten Lebensformen zum Ausdruck kommt. Der Diskurs setzt also eine Perspektive voraus, die, indem sie gewisse Phänomene als signifikant für die gesamte Kultur identifiziert, ihren eigenen Gegenstand konstruiert. Diese doppelte Identifikation  – der konkreten Phänomene als Verkörperungen eines generellen Geistes und dieses Geistes als der Einheit einer Kultur – wird erst dadurch möglich, dass der Blick auf die alltäglichen Erscheinungen durch Deutungsmuster vorstrukturiert ist, welche einem weiteren diskursiven Kontext entstammen. Diese bilden die Interpretationsachsen, welche – indem sie Zentren und Peripherien, Anfänge und Enden, Ursprünge und Typologien bereitstellen – der Deutung und Artikulation des Kulturganzen die Orientierung geben. Nur so wird der Charakter der Kultur begreiflich, sagbar und – auch das – kritisierbar. Das Funktionieren der Kulturkritik setzt insofern stets den semantischen Input eines weiteren diskursiven Kontexts voraus. Sie ist eine parasitäre Sprachform.

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I. Kulturkritik als Modus kulturgeschichtlichen Denkens Wie die Römer die einzige Nation, die ganz Nation war, so ist unser Zeitalter das erste wahre Zeitalter. Friedrich Schlegel1

Eingangs ist der zentrale Entstehungskontext der Kulturkritik als die Verzeitlichung gesellschaftlicher Kulturreflexion gekennzeichnet worden. In diesem Kapitel soll diese Bestimmung auf drei Ebenen erläutert werden. Allererst wird auf das analytische Modell der Verzeitlichung eingegangen. Im Hinblick auf seine unterschiedlichen Varianten und unter Berücksichtigung der Kritik, die an ihm geübt worden ist, wird der Frage nachgegangen, inwiefern das Modell für eine Geschichte der Kulturkritik fruchtbar gemacht werden kann (§ 1). In einem zweiten Schritt wird das Phänomen der Verzeitlichung auf semantischer Ebene sichtbar gemacht. Anhand einer Reihe von Beispielen wird die Etablierung einer Gruppe von kulturgeschichtlichen Semantiken, in deren Rahmen sich der kulturkritische Diskurs entfalten konnte, nachgezeichnet. Dies erlaubt eine vorläufige Verortung der Kulturkritik in der semantischen Landschaft der Zeit, welche in den nächsten Kapiteln weiter differenziert werden soll (§ 2). Das Kapitel schließt mit einem Überblick über die Außenwahrnehmung des neu entstehenden Diskurses in der zeitgenössischen Öffentlichkeit. Es wird gezeigt, wie in der überwiegend feindlichen Metareflexion auf den Diskurs die anti­ geschichtliche Behauptung, der Diskurs sei nichts Neues, eine Hauptrolle spielte. Solche metadiskursiven Erörterungen stellten als argumentativer Kontext einen wichtigen Faktor bei der Verbreitung des Diskurses dar. Insbesondere aber wird die Frage aufzuwerfen sein, inwiefern die Artikulationsformen der Kulturkritik sich erst im Prozess der Auseinandersetzung mit solchen Fremdwahrnehmungen und -bezeichnungen bildeten (§ 3).

1 F. Schlegel, Ideen, S. 14. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Kulturkritik als Modus kulturgeschichtlichen Denkens

1. Verzeitlichung Das Neue der Neuzeit ist ihre Zeit Der Mensch hat es in vielfacher Weise mit der Zeit zu tun. Nicht nur, dass er als Seiendes in der Zeit ist und sich mit ihr verändert. Seine spezifische Seinsweise besteht vielmehr darin, auf Zeit angewiesen zu sein. Seine Gegenwart erschließt sich ihm aus der Vergangenheit heraus und in die Zukunft hinein. Im Rückgriff auf gesammelte Erfahrungen und Vorgriff auf erahnte Erwartungen bildet sich der Sinnhorizont, auf den er als Lebewesen eingelassen ist. Die spezifische Art und Weise, wie die drei Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einander im menschlichen Leben zugeordnet sind, ist allerdings keine Konstante, sondern unterliegt historischem Wandel. Im wechselnden Verhältnis zwischen Erfahrung und Erwartung konstituiert sich die wandelbare Zeitlichkeit menschlichen Lebens. Um diesen Tatbestand auf den Begriff zu bringen und für die geschichtswissenschaftliche Forschung fruchtbar zu machen, hat Reinhart Koselleck das Begriffspaar Erfahrungsraum und Erwartungshorizont vorgeschlagen.2 Als meta­ historisches Kategorienpaar artikuliert es die formalen Bestimmungen jeder möglichen Geschichte. Wie so oft ist sein Anwendungsbereich in der Forschungspraxis aber stark an seinen unmittelbaren Entstehungskontext gekoppelt geblieben. Der wandelbare Zeitbezug des Menschen erhielt seine Aktualität aus der Frage nach dem Wesen der Neuzeit.3 Unter den zahllosen Antworten auf diese Frage gibt es eine, die im Rahmen der Geschichte der Kulturkritik besondere Beachtung verdient: die These, das Wesen der Moderne liege in einem charakteristischen Modus des menschlichen Zeitverhältnisses. Freilich war Koselleck nicht der Erste, der eine solche These vertrat.4 Das Motiv der Verzeitlichung ist ein traditioneller Bestandteil der geisteswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Modernisierungsfrage. Nachdem eingangs die Verzeitlichung als entscheidender Entstehungskontext des kulturkritischen Diskurses exponiert wurde, soll an dieser Stelle genauer ausgeführt werden, was darunter zu verstehen ist. Zu diesem Zweck ist ein knapper Überblick über die unterschiedlichen Varianten des Verzeitlichungsmodells sowie über die Kritik, der es ausgesetzt gewesen ist, erforderlich. 2 Koselleck, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹. 3 »Die historische Anwendung unserer beiden metahistorischen Kategorien bot uns einen Schlüssel, geschichtliche Zeit zu erkennen, speziell die Entstehung der so genannten Neuzeit als unterscheidbar von früheren Zeiten.« Ebd., S. 374. 4 Vgl. I. Oesterle, ›Führungswechsel der Zeithorizonte‹; dies., »Es ist an der Zeit!«, S.  ­98–101; Jannidis, Das Individuum und sein Jahrhundert, S.  65–74; Rohbeck, Verzeit­ lichung; Stockhorst, Zur Einführung, S. 157–158, 163–164; dies., Novus ordo, S. 359–362. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

Verzeitlichung

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Arthur O. Lovejoy, der als Begründer der angloamerikanischen History of Ideas gilt, hat 1936 in seiner klassischen Studie »The Great Chain of Being« nachgezeichnet, wie das kosmologisch-metaphysische Deutungsschema einer ›großen Kette der Wesen‹, das das abendländliche Denken mehr als zwei Jahrtausende lang geprägt hatte, im Laufe des 18. Jahrhunderts temporalisiert wurde.5 Der vormoderne Gedanke, dass die von Gott geschaffene Wirklichkeit alle möglichen Seinsweisen zu jedem Zeitpunkt völlig ausschöpfe, wurde zugunsten einer in der Zeit ausgedehnten Konzeption der Kontinuität der Wesen aufgegeben. Das plenum formarum wurde vom Inventar der Wirklichkeit zu ihrem Programm. Erst damit wurde auch die Möglichkeit denkbar, dass etwas beispiellos Neues entstehe.6 Im selben Jahr erschien ein Werk, das als deutsches Pendant zum »Great Chain« gelten kann: Friedrich Meineckes »Die Entstehung des Historismus«. Auf den ersten Blick eine Entstehungsgeschichte der modernen Geisteswissenschaften, lag das eigentliche Thema laut seines Autors auf einer grundsätz­ licheren Ebene.7 Der Historismus, wie Meinecke ihn verstand, war keine bloße Methode oder Disziplin, sondern eine generelle »Denkweise«, die im Laufe des 18. Jahrhunderts aufgekommen und allmählich zum festen Bestandteil des »modernen Denkens« überhaupt geworden sei.8 Seine Entstehung beinhalte die »Ersetzung einer generalisierenden Betrachtung geschichtlich-mensch­licher Kräfte durch eine individualisierende Betrachtung«. Akteur dieser Geschichte sei der »deutsche Geist« gewesen. Dieser habe seine zweite Großtat neben der Reformation dadurch vollbracht, die naturrechtlich-rationalistische Denkart durch eine historisch-genetische zu ersetzen. Damit habe er »eine der größten geistigen Revolutionen, die das abendländische Denken erlebt hat« be­werkstelligt.9 Aus einer völlig unterschiedlichen Perspektive, wirkungsgeschichtlich aber nicht weniger bedeutsam, tauchte das Motiv der Verzeitlichung im Frühwerk Michel Foucaults auf.10 In seiner Studie »Les mots et les choses« (1966) skiz 5 Lovejoy, Great Chain of Being, S. 242–287. 6 Ebd., S. 244. 7 Meinecke, Entstehung des Historismus, Bd. 1, S. 1–10. 8 Vor allem in der Historiographiegeschichte haben die Denkanstöße dieses Werks ihre Aktualität bis heute nicht verloren. Vgl. beispielsweise: Bödeker, Die Entstehung, S. 295. 9 Meinecke, Entstehung des Historismus, Bd.  1, S.  1, 2.  Schon 1901 hatte Wilhelm Dilthey in einem Aufsatz, der von Meinecke als wichtige Vorarbeit anerkannt wurde, eine analoge Auffassung vertreten: »Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, welche unhistorische gescholten wird, hat eine neue Auffassung der Geschichte hervorgebracht.« Dilthey, Das achtzehnte Jahrhundert, S. 209; Meinecke, Entstehung des Historismus, Bd. 1, S.  8. Siehe auch: Cassirer, Philosophie der Aufklärung, S. 206–244. 10 Bekanntlich hat sich Foucault entschieden von der traditionellen Ideengeschichte abgegrenzt. Unter dem Titel einer Epistemologie bzw. einer Archäologie des Wissens lenkte er den Blick vom Wissen selbst, vom Aggregat von Theorien, Fakten und Ideen auf seine historischen Möglichkeitsbedingungen. Er stellte die »mode d’être des choses et de l’ordre qui © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Kulturkritik als Modus kulturgeschichtlichen Denkens

zierte dieser anhand der Entwicklungen dreier Wissensbereiche (Sprache, Naturgeschichte, Reichtum) zwei grundlegende Brüche der abendländischen Geschichte der Neuzeit. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts habe sich zunächst eine auf Repräsentation als Grundkonzeption des Wissens aufbauende, ›klassische‹ Episteme etabliert. Einen zweiten Bruchpunkt, um die Wende zum 19. Jahrhundert, beschrieb Foucault als die Ablösung der klassischen durch die ›moderne‹ Episteme, in deren Horizont wir uns heute im Wesentlichen immer noch befänden. Diese epistemische Wende kennzeichnete Foucault als die Ersetzung einer räumlich orientierten Wissensordnung (des Tableaus) durch eine zeitliche (die Serie): »une historicité profonde pénètre au cœur des choses, les isole et les définit dans leur cohérence propre, leur impose des formes d’ordre qui sont impliquées par la continuité du temps«.11 Schließlich sollte in diesem Zusammenhang der Soziologe Niklas Luhmann erwähnt werden.12 Aus dem Blickwinkel seiner Systemtheorie erschien die Schwelle zur Moderne als Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Gesellschaftsordnung. Auf der Ebene gesellschaftlicher Selbstthematisierung habe die fortschreitende Ausdifferenzierung autonomer Teilsysteme ein spezifisch modernes Zeitverhältnis hervorgebracht. Unter den Voraussetzungen der fortschreitenden Komplexität der Systemdifferenzierungen und der Inkongruenz unterschiedlicher Teilsystemen sei eine einheitliche, auf Erinnerung basierende Lebensorientierung nicht länger möglich gewesen. Die Kompatibilität der Teilsysteme ließ sich vor diesem Hintergrund nur noch als Zukunftsprojektion prognostizieren.13 Somit habe sich in der Entstehung der modernen, bürgerlichen Gesellschaft ein profunder »Führungswechsel der Zeithorizonte« en les répartissant les offre au savoir« in den Mittelpunkt und unternahm den Versuch, dem »a priori historique« des Wissens – auch Episteme genannt – in seiner historischen Entwicklung auf die Spur zu kommen. So stellte er der gängigen Geschichte einer stetigen Erweitung des Wissens durch die Auffindung neuer Fakten und die Formulierung neuer Theorien ein alternatives Modell gegenüber, in dem unabhängig von den einzelnen Akteuren sich vollziehende, bruchartige Diskontinuitäten das Bild bestimmten. Foucault, Les mots et les c­ hoses, S.  13–15. Vgl. zum Verhältnis zwischen foucaultscher Diskursanalyse und lovejoyscher Ideengeschichte: O. Müller, Unordnung der Geschichte. 11 Foucault, Les mots et les choses, S. 14. Vgl. auch: Ebd., S. 229–233. Für seine Verbreitung im deutschen Sprachraum war die Vermittlung und Weiterführung dieses Gedankens durch den Soziologen Wolf Lepenies, der von einer »Krise der Naturgeschichte« an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert sprach, von besonderer Bedeutung. Vgl. Lepenies, Ende der Naturgeschichte. Zusammengefasst in: ders., Das Ende der Naturgeschichte und der Beginn der Moderne. 12 Luhmann hat sich bei der Artikulation seiner Verzeitlichungsthese immer wieder auf Koselleck, seinen Bielefelder Kollegen, bezogen, gehört aber wirkungsgeschichtlich einem unterschiedlichen Bereich an. 13 »Nur in der Zukunft vermag die Orientierung in der Zeitdimension einen Grad an Komplexität erreichen, der der strukturellen Komplexität des gegenwärtigen Gesellschaftssystems entspricht.« Luhmann, Weltzeit und Systemgeschichte, S. 155. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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ereignet: Anstelle einer Vergangenheitsgesellschaft sei eine Zukunftsgesellschaft entstanden.14 Die jeweiligen Begründer der angloamerikanischen und deutschen Ideengeschichte, der Archäologie des Wissens und der Systemtheorie haben in ihren unterschiedlichen Theoriejargons den Gedanken zur Sprache gebracht, die Moderne zeichne sich durch ein spezifisches Zeitverhältnis aus. Die Liste der Beispiele ließe sich mühelos erweitern. Derjenige aber, dessen Auseinandersetzung mit dieser Problematik zumindest in geschichtswissenschaftlichen Kreisen bis heute am intensivsten rezipiert worden ist, ist zweifellos Reinhart Koselleck.15 Etwas vereinfachend lassen sich in seiner Auseinandersetzung mit der Thematik drei eng miteinander verbundene Interessengebiete ausmachen: eine Methodik der Begriffsgeschichte, die Sattelzeit-These und eine Theorie der Moderne aus dem Blickwinkel der Zeitlichkeit. Das letztgenannte Motiv war den ersten beiden insofern vorgeordnet, als es sie von Anfang an motivierte und orientierte.16 Die Neuzeit fängt – so lautet in aller Kürze die These Kosellecks – weder mit einem Ereignis, noch mit irgendeiner sozialen, politischen, wissenschaftlichen, künstlerischen oder technologischen Entwicklung an. Deren allmähliche Beschleunigung sei lediglich das »empirische Substrat« eines Erfahrungswandels, der die Neuzeit im eigentlichen Sinne erst einläute.17 Nur die als neu – und immer wieder neu – erfahrene Zeit sei neuzeitlich. Dieses Neue könne demzufolge kein neuer Erfahrungsinhalt oder -gegenstand sein. Der eigentliche Anfang der Neuzeit bestehe vielmehr darin, dass die Erfahrung neuer Ereignisse, Entwicklungen, Gegenstände und Strukturen im Laufe des 18. Jahrhunderts einen schleichenden Wandel der temporalen Struktur der Erfahrung selbst ausgelöst habe. Dies sei die Geburtsstunde des modernen Menschen und seiner Epoche. 14 Ebd.; ders., Selbst-Thematisierungen des Gesellschaftssystems, S.  106. Siehe auch: ders., Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, S. 997–1016. Nebenbei sei erwähnt, dass Luhmann den von Meinecke in den Mittelpunkt gestellten Historismus lediglich als sekundären Reflex der modernen Ausrichtung auf die Zukunft begriff. ders., Weltzeit und Systemgeschichte, S. 142, 155. 15 Vgl. Sawilla, »Geschichte«, S. 384–387; Nebelin, Zeit und Geschichte, S. 61–78; Stockhorst, Novus ordo, S. 362–370. 16 Vgl. Koselleck, Richtlinien, S. 81; ders., Einleitung, S. xiv–xv. Als Christof Dipper ihn in einem Interview die vorsichtig formulierte Frage stellte, ob die Begriffsgeschichte im Hinblick auf die Sattelzeit »so etwas wie ein Beitrag zur Modernisierungstheorie« sei, antwortete Koselleck entschieden positiv: »Die Begriffsgeschichte als Methode hat natürlich den Beitrag liefern sollen, wie Modernisierung erklärbar wird.« Dipper und Koselleck, Begriffsgeschichte, S. 197. Zum Zusammenhang von Modernität und Verzeitlichung vgl. Palonen, Entzauberung der Begriffe, S. 206–218, 264–285. 17 Koselleck, Fortschritt und Beschleunigung, S. 88. Eine erweiterte Fassung dieses Aufsatzes findet sich in: ders., Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte?. Siehe auch: ders., Zeitverkürzung und Beschleunigung. Zum Begriff der Erfahrung in der neueren kultur­ geschichtlichen Forschung, vgl. einführend: Daniel, Erfahren und Verfahren; Hölscher, Die Einheit der historischen Wirklichkeit, S. 70–74. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Kulturkritik als Modus kulturgeschichtlichen Denkens

Um diesen Sachverhalt zur Sprache zu bringen, griff Koselleck auf sein metahistorisches Kategorienpaar Erfahrung und Erwartung zurück: Meine These lautet, daß sich in der Neuzeit die Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung zunehmend vergrößert, genauer, daß sich die Neuzeit erst als eine neue Zeit begreifen läßt, seitdem sich die Erwartungen immer mehr von allen bis dahin gemachten Erfahrungen entfernt haben.18

Die Entstehung der Asymmetrie zwischen Erfahrung und Erwartung kann, so Koselleck, als ›Verzeitlichung‹ gekennzeichnet werden, da sie eine veränderte Erfahrung der Zeit selbst ausgelöst habe. Angesichts der beschleunigten Rationalisierungsentwicklungen der Neuzeit sei der Erwartungshorizont durch gemachte Erfahrungen immer wieder durchbrochen worden. Die Konti­nuitätsannahme zwischen Vergangenheit und Zukunft habe sich für die Lebensorientierung als unzulänglich herausgestellt: »Es wird geradezu eine Regel, daß alle bisherige Erfahrung kein Einwand gegen die Anders­ artigkeit der Zukunft sein darf.«19 Schließlich habe sich dadurch eine Erfahrung des immer wieder Neuen, der Beschleunigung selbst, ereignet. Der moderne Mensch habe sich mit dem Faktum geschichtlicher Zeit konfrontiert gesehen: Die Zeit bleibt nicht nur die Form, in der sich alle Geschichten abspielen, sie gewinnt selber eine geschichtliche Qualität. Nicht mehr in der Zeit, sondern durch die Zeit vollzieht sich dann die Geschichte. Die Zeit wird dynamisiert zu einer Kraft der Geschichte selber.20

Das Modell der Verzeitlichung als Antwort auf die Frage nach der Herkunft und Eigenart der Moderne ist an sich zu abstrakt, als dass es einer unmittel­ baren empirischen Falsifikation ausgesetzt wäre. Es handelt sich um eine Theorie der Moderne, vielmehr denn um eine Hypothese. Sie stellt eine Perspektive dar, an der sich die empirische Forschung orientiert und durch die diese motiviert wird, so dass sie auf den unterschiedlichsten empirischen Feldern, von der Wissenschaftsgeschichte zur Mentalitätsgeschichte, von der Literaturgeschichte zur Ideengeschichte, als Interpretationsmodell erprobt worden ist.21 18 Koselleck, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹, S. 359. Siehe auch: ders., Verzeitlichung der Begriffe, S. 80–81. Schon 1965 hatte der Begründer des »Historischen Wörterbuchs der Philosophie« Joachim Ritter diesen Tatbestand in der analogen Formel als »Entzweiung von Herkunft und Zukunft« auf den Begriff gebracht. Ritter, Hegel, S. 45. 19 Koselleck, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹, S. 364. 20 Ders., ›Neuzeit‹, S. 321. Erneut in: ders., Das achtzehnte Jahrhundert, S. 278. 21 In vielen Arbeiten, könnte man kritisch anmerken, wird das Modell allerdings nicht sosehr erprobt, als vielmehr als bewährtes Forschungsergebnis vorausgesetzt. Ohne weiterführende Diskussion über den Status und die Reichweite des Modells aber, ist dies, wie im Folgenden zu zeigen versucht wird, nur wenig fruchtbar. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Auch Koselleck selbst hat immer wieder unterschiedliche Phänomene und Entwicklungen, anhand deren die Verzeitlichung der Moderne exemplarisch nachzuweisen sei, in den Blick genommen.22 Im Mittelpunkt seines Schaffens standen die Studien auf dem Feld der historischen Semantik, wie sie im Rahmen des Projekts der Geschichtlichen Grundbegriffe durchgeführt wurden.23 In seiner Einleitung exponierte Koselleck die leitende Fragestellung des Lexikons, »die Auflösung der alten und die Entstehung der modernen Welt in der Geschichte ihrer begrifflichen Erfassung zu untersuchen«.24 Der heuristische Vorgriff, den er den einzelnen Artikeln zugrunde legte, bestand in der Vermutung, es habe sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ein »tiefgreifender Bedeutungswandel klassischer topoi« vollzogen, so dass sinnvoll von einer »Sattelzeit« die Rede sein könne.25 Als Gliederungskriterium, anhand dessen genuin moderne Begriffe von ihrer traditionellen Gestalt unterschieden werden konnten, nannte er an dieser Stelle erneut ihre Verzeitlichung.26

22 Als »Kriterien der Verzeitlichung« nannte Koselleck unter anderem: (1) die Veränderung der Auffassung des Jahrhunderts von rein chronologischer Zahlengröße zur sinnhaften Epoche; (2) die Verbreitung des Theorems von der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen; (3) die Lehre von der subjektiven historischen Standortbindung; (4) das Verständnis der eigenen Epoche als Übergangszeitalter; (5) die Problematisierung der Gegenwartsgeschichtsschreibung wegen mangelnder historischen Distanz. Ein Blick auf das weitere Werk zeigt aber, dass diese Liste keineswegs vollständig ist. ders., ›Neuzeit‹, S. 322–339. Siehe auch: ders., Das achtzehnte Jahrhundert, S. 278–280. 23 Brunner, Conze und Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe. 24 Koselleck, Einleitung, S.  xiv. Vorher schon in: ders., Richtlinien, S. 81. 25 Ders., Einleitung, S. xv. Siehe auch: ders., Theoriebedürftigkeit, S. 303–304. Der Ausdruck ist vielfach kritisiert worden. Vgl. Dipper, Die »Geschichtlichen Grundbegriffe«, S. 293–294. Auch Koselleck selbst hat ihn später als wenig glücklich zurückgewiesen, wobei er wiederum den Aspekt der Verzeitlichung in den Vordergund stellte: »I invented the term and used it for the first time in commercial advertisements created to promote the GG – to sell more issues. Although I am happy that succeeded in providing the lexicon with some money, I do not particularly like the term, mainly because it is very ambiguous. As you know, one of the meanings of Sattel refers to horses, to the equestrian world, and another refers to the situations experienced when one climbs to the top of a mountain and from there can contemplate a larger view. But in the end it does not allude in any specific way to the acceleration of time, which is the crucial aspect of the experience in the modern world.« Sebastián, Fuentes und Koselleck, Conceptual History, S. 120. Ähnliches in: Dipper und Koselleck, Begriffsgeschichte, S. 195; Koselleck, Narr und Palonen, Zeit, Zeitlichkeit und Geschichte, S. 30–32. Vgl. auch: Koselleck, Response, S. 69. Dies in Antwort auf: Pocock, Concepts and Discourses, S. 58. Zu dieser methodologischen Auseinandersetzung vgl. Leonhard, Grundbegriffe und Sattelzeiten, S. 82–85. 26 Koselleck, Einleitung, S.  xvi–xviii. Obwohl an dieser Stelle noch drei weitere Kriterien genannt wurden – Demokratisierung, Ideologisierbarkeit und Politisierung – kam dem Aspekt der Verzeitlichung insofern eine Hauptrolle zu, als er Voraussetzung der anderen genannten Entwicklungen war. Vgl. dazu: ders., ›Neuzeit‹, S. 344–348; ders., Verzeitlichung der Begriffe, S. 85. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Kritik am Verzeitlichungsmodell der Moderne Es würde zu weit führen, hier eine detaillierte Exegese des koselleckschen Werkes und seiner Wirkungsgeschichte zu geben.27 Um die Bedeutung des Verzeitlichungsmodells für die Geschichte der Kulturkritik richtig einordnen zu können, darf aber ein kurzer Blick auf einige Kritikpunkte, die ihr entgegengebracht worden sind, nicht ausbleiben. Abgesehen von den Diskussionen um die begriffsgeschichtliche Methodik28 hat sich die Kritik am Verzeitlichungsmodell hauptsächlich auf drei Aspekte bezogen: seine Begrifflichkeit, Chrono­logie und Reichweite. Schon 1983 hat der Münchener Wissenschaftshistoriker Arno Seifert die Kategorie der Verzeitlichung einer scharfen Kritik unterzogen.29 Sich auf die Entwicklung der Naturgeschichte im Laufe des 18.  Jahrhunderts beziehend, wies er darauf hin, dass die verstärkte Betonung geschichtlicher Prozesse, die sich in dieser Zeit bemerkbar machte, als Reaktion auf die ihr vorangehende »Stillstellung (›Entzeitlichung‹)« der Natur im 17.  Jahrhundert verstanden werden sollte.30 Im Rahmen der sogenannten Mechanisierung des Weltbildes sei die constantia naturae als Gegenentwurf gegen das von der Antike bis in die Renaissance kursierende Konzept der fortschreitenden Korruption der Erde vorgebracht worden.31 Aus diesem Blickwinkel gesehen sei die Verzeitlichung der Natur im 18. Jahrhundert also keine Entdeckung, geschweige denn eine Er­f indung der Zeit gewesen, sondern vielmehr eine Reaktionsbewegung, die erst vor dem Hintergrund der vorangegangenen Entzeitlichung ihr rechtes Profil gewinne.32 Sie habe lediglich in der »methodologischen Neubegründung und materiellen Entfaltung« eines überlieferten Paradigmas bestanden.33 Es ist auffällig, dass Seifert bei aller Polemik gegen die analytische Kategorie der Verzeitlichung das Phänomen, das sie beschreibt, durchaus anerkannte. Sein Ärgernis richtete sich hauptsächlich gegen das manchmal etwas euphorische Entdeckungsvokabular, mit dem der Terminus umgeben war, gegen die mitschwingende Implikation, dass dem vormodernen Menschen das Verständnis der Zeit überhaupt abgegangen sei. Dass es eine Verzeitlichung im Sinne einer Erfindung der Zeit nie gegeben hat, lässt sich an Beispielen aus der Frühen 27 Vgl. zur Einführung: Dipper, Die »Geschichtlichen Grundbegriffe«. 28 Zum Einstieg, siehe: Landwehr, Historische Diskursanalyse, S. 31–35. 29 Seifert bezog sich hauptsächlich auf Lovejoy und Lepenies. Kosellecks Sprachgebrauch sei, meinte er »vergleichsweise unschärfer und weit weniger anfechtbar«. Seifert, »Verzeit­ lichung«, S. 447–448. Vgl. Stockhorst, Novus ordo, S. 370–373. 30 Ebd., S. 473. 31 So der Titel der klassischen Studie: Dijksterhuis, De mechanisering van het ­wereldbeeld. 32 Vgl. Seifert, »Verzeitlichung«, S. 455–457, 473–477. 33 Ebd., S. 457. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Neuzeit leicht nachweisen. Dass sich aber das Verständnis der Zeitlichkeit im Laufe des 18.  Jahrhunderts grundlegend verändert hat, bestritt auch Seifert  – selbst wenn er den Anfang dieser Entwicklung zum Teil in das 17. Jahrhundert zurückdatierte – nicht ernsthaft.34 Eine weitere Qualifikation des Verzeitlichungstheorems ist neuerdings von Jan Marco Sawilla formuliert worden.35 Im Fokus seiner Kritik steht ein Artikel, der mit Fug und Recht als theoretischer und thematischer Schwerpunkt der »Geschichtlichen Grundbegriffe« angesehen werden kann: der von Koselleck in Zusammenarbeit mit Christian Meier, Odilo Engels und Horst Günther verfasste Eintrag »Geschichte, Historie«.36 Die Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs  – so fasste Koselleck die Ergebnisse des Artikels zusammen – habe im Wesentlichen zwei Aspekte: einmal die Verknüpfung dreier Bedeutungsebenen (Geschichte als Sachverhalt, als Darstellung und als Wissenschaft), zum anderen die Bildung eines »Kollektivsingulars« Geschichte, das die Gesamtheit der Einzelgeschichten in einen Begriff gebündelt habe.37 Im Mittelhochdeutschen hatte das Lexem ›die Geschichte‹ den Plural zu den beiden Singularformen ›das Geschichte‹ und ›die Geschicht‹ gebildet. Ab dem letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts verdichtete sich die Wortform aber allmählich zu einem Inbegriff gesamter Einzelgeschichten.38 Was ein bloß wortgeschichtlicher Befund schien, zeugte nach Koselleck von einer semantischen Entwicklung mit weltgeschichtlicher Bedeutung.39 Als die Pluralität der Geschichten zu einer einheitlich gedachten Geschichte verknüpft wurde; als diese ohne Bezugnahme auf ein zugehöriges Subjekt nunmehr selbst als »eigentätige[r] Agens« in den Blick kam, da sei die Epoche der Moderne endgültig angebrochen.40 So wurde der Geschichtsbegriff zum wichtigsten Indikator für eine im Zeitalter der Französischen Revolution überschrittene »Erfahrungsschwelle«: Der Ausdruck bezeugt die Erfassung dessen, was als neue Zeit erfahren wird, und zwar in ihrer Einmaligkeit und Andersartigkeit gegenüber allem Bisherigen. Der Be 34 Er wies auf Entwicklungen in der Theorie der Kosmogonie und der historischen Geologie hin. Ebd., S. 457–465. 35 Sawilla, »Geschichte«. Siehe auch: ders., Geschichte und Geschichten. 36 Koselleck, Meier, Engels und Günther, Geschichte, Historie. Vgl. aus philosophischer Sicht: Schmidt-Biggemann, Geschichte als absoluter Begriff, S. 9–39. 37 Koselleck, Meier, Engels und Günther, Geschichte, Historie, S. 647, 657. Siehe auch: Koselleck, Verfügbarkeit der Geschichte, S. 264–265; Dipper und Koselleck, Begriffsgeschichte, S. 197. 38 Koselleck, Historia Magistra Vitae, S. 50–51. 39 Dass Koselleck diese sprachliche Entwicklung als Folge einer »bewußte[n] Leistung« der Geschichtsphilosophie verstand, bezeugt, wie sehr er zu dieser Zeit noch dem ideen­ geschichtlichen Paradigma verhaftet war. Koselleck, Meier, Engels und Günther, Geschichte, Historie, S. 648, 658. Siehe auch: Koselleck, Das achtzehnte Jahrhundert, S. 281. 40 Koselleck, Meier, Engels und Günther, Geschichte, Historie, S. 653. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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ginn der Neuzeit ist freilich ein längerfristiger Vorgang, an dessen Ende erst die Einsicht in die Prozeßhaftigkeit der Neuzeit steht: eben die Entdeckung der ›Geschichte überhaupt‹ als Ergebnis der Aufklärung.41

Wie Sawilla feststellt, hat sich die These vom Kollektivsingular Geschichte in der heutigen Forschungslandschaft zu einer Art »modernisierungstheore­ tischen Topos« verfestigt.42 Wer sich dadurch aber berechtigt fühlt, ihn auch als zweifelsfrei empirisch belegt anzusehen, geht leer aus. Wie er zeigen kann, weist der Artikel erhebliche methodische und empirische Schwächen auf. Die Bedeutung der wortgeschichtlichen Befunde, von denen der Artikel seinen Ausgang nimmt, wird, so Sawilla, stark überbewertet. Erstens erscheine die Tatsache, dass das Wort Geschichte gegen Ende des 18. Jahrhunderts mehrere Bedeutungen umfasste vor dem Hintergrund neuerer Zeichentheorien eher banal. Diese Polysemie als Resultat einer geschichtsphilosophischen ›Leistung‹ und als Ermöglichungsgrund für die Rede über ›Geschichte überhaupt‹ zu interpretieren – wie es Koselleck ausgehend von den Sprachtheorien seiner Zeit tat – mache zuviel aus einem sprachgeschichtlichen Normalfall.43 Zweitens müsse die These von der Entstehung eines Kollektivsingulars, der die Pluralität der Geschichten allmählich ›verdrängte‹, angesichts der Quellen differenziert werden. Nicht nur existierten Singular- und Pluralformen zu jeder Zeit nebeneinander, so dass von einer ›Singularisierung‹ nur sehr bedingt die Rede sein kann. Auch konnten beide Formen stets sowohl auf die Pluralität der Geschichten ›von etwas‹ wie auch auf die singuläre Geschichte ›schlechthin‹ bezogen werden.44 »Semantischer Wandel ist mit dem Austausch der Lexeme nicht zu belegen.«45 An dieser Stelle rächt sich  – so erklärt Sawilla die Argumentationsmängel des Artikels  – die ausschließliche Fokussierung auf das deutsche Lexem. Nicht nur wurde dies der damaligen Sprachlandschaft in den deutschen Gebieten, die stark von der Koexistenz verschiedener Sprachen (namentlich Deutsch, Latein und Französisch) geprägt war, nicht gerecht.46 Der Seitenblick auf andere Sprachen hätte auch die weitreichenden Folgerungen, die aus den lexikalischen Entwicklungen gezogen wurden, in ein anderes Licht gestellt. Anhand des französischen Lexems histoire, das von den Autoren des Lexikonartikels im Wesentlichen in die Vorgeschichte des deutschen Lexems Geschichte verwiesen wird, kann Sawilla nachweisen, dass sich schon in den letzten Jahrzehnten des 41 Ebd., S. 594. 42 Sawilla, »Geschichte«, S. 386. 43 Ebd., S. 407–419. 44 Ebd., S. 387, 419–426. 45 Ders., Geschichte und Geschichten, S. 407. 46 Ders., »Geschichte«, S. 397–398. Der monolinguale Fokus der Geschichtlichen Grundbegriffe war schon häufiger kritisiert worden. Vgl. Den Boer, Vergelijkende Begripsgeschiedenis, S. 17–21. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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17.  Jahrhunderts eine Wortform ausgebildet hatte, die alle Eigenschaften des koselleckschen Kollektivsingulars in sich vereinigte.47 Freilich ohne dass damit Geschichte auch schon als Aktionsbegriff verstanden worden sei. Diese Bezugnahme auf die Geschichte als eigenmächtigen Faktor sei aber – auch da widerspricht Sawilla den Ergebnissen des Lexikonartikels  – ohnehin im 18.  Jahrhundert eine Seltenheit gewesen: »Die Lesart der meisten der von Koselleck diesbezüglich beigebrachten Belege ist zumindest streitbar.«48 Während die Entstehung des Kollektivsingulars in das 17. Jahrhundert zurückdatiert werden müsse, sei die Geschichtsphilosophie im Wesentlichen eine Sache des 19. Jahrhunderts, so dass das im Artikel vorausgesetzte kausale Beziehungsverhältnis zwischen »Ideen-, Wort- und Sozialgeschichte« durchbrochen sei.49 Selbst wenn sie nur eine einzige empirische Probe des Verzeitlichungs­ modells betrifft, beraubt die Kritik Sawillas das Modell doch zumindest seines Status als autoritatives Wissen. Dabei argumentiert er im Grunde äußerst vorsichtig. Die »Argumentation mit historischen Möglichkeitsbedingungen« (der vormoderne Mensch war ungeschichtlich, konnte keine geschichtliche Zeit denken…) solle, so schreibt er, »wenigstens solange suspendiert werden, bis größere Sicherheit über die Struktur des empirischen Felds besteht«.50 Um solche Aus­ sagen machen zu können, reiche der bloße Hinweis auf die Wortgeschichte des Lexems Geschichte jedenfalls nicht aus. Es erfordere weitere, feingliedrige Studien zu unterschiedlichen Zeiterfahrungen, »wenn im Detail geklärt werden soll, mit welcher gesellschaftlichen Durchdringungskraft und in welchen Sektoren oder Zeiträumen« sich das neuzeitlich Zeitverhältnis durchgesetzt hat.51 Die letztgenannte Bemerkung deutet eine letzte Linie der Kritik an, die dem Verzeitlichungsmodell in der neueren Literatur entgegengebracht worden ist. Angesichts Kosellecks These, das Aufeinanderprallen von Alt und Neu sei spätestens seit der Französischen Revolution »zum Erlebnis des Alltags«52 gewor-

47 Sawilla, »Geschichte«, S. 428. 48 Ders., Geschichte und Geschichte, S. 421. 49 »Die Konventionalisierung von Geschichte ist deutlich früher anzusetzen als das – vermutlich kaum vor dem fortgeschrittenen 19. Jahrhundert eine gewisse Breitenwirkung ent­ faltende  – Verständnis von Geschichte als ›eigentätigem Sinn- und Wirkungszusammenhang‹.« Ders., »Geschichte«, S. 426. Im Wesentlichen wehrt Sawilla sich weniger gegen das Verzeitlichungsmodell selbst als gegen seine Verknüpfung mit der wortgeschichtlichen Entwicklung eines einzelnen Lexems: »Das erkenntnisleitende Telos [des Artikels, Th.  J.], die grundsätzlich nicht zu bestreitende – und hier auch nicht näher zu besprechende – Tat­sache, daß sich Aspekte von Aufklärungshistorie und Idealismus mit der Entwicklung der Geschichtsreflexion des 19. Jahrhunderts in Beziehung setzen lassen können, wurde direkt, fast kausal, an das Lexem Geschichte gebunden«. Ebd., S. 413, 426. 50 Ders., Geschichte und Geschichten, S. 395–396. 51 Ebd. 52 Koselleck, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹, S. 367. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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den, hat Dieter Langewiesche die Frage aufgeworfen: »Aber in wessen Alltag?«53 Die Belege der Vertreter des Verzeitlichungstheorems ebenso wie die Einwände von Seifert, Sawilla und anderen entstammen allesamt einem gesellschaft­ lichen Milieu, das im weitesten Sinne als bildungselitär bezeichnet werden muss. Ob die Erfahrungen und Äußerungen einer solchen verschwindend kleinen Gruppe als Kriterium für die Moderne schlechthin gelten können, erscheint fraglich. Darüber hinaus ist die Frage zu stellen, ob das Modell der Verzeit­ lichung der Pluriformität menschlichen Umgangs mit und Erfahrung von der Zeit gerecht wird. Nicht nur sind unterschiedliche Individuen und Gruppen auf unterschiedliche Art mit Zeit konfrontiert, auch jeder Einzelne hat es in unterschiedlichen Situationen in jeweils verschiedener Art mit ihr zu tun. In der neueren Forschung ist in diesem Sinne von einer Vielfalt unterschiedlicher, sektorial gebundener und historisch wandelbarer »Zeitkulturen« die Rede.54 In ihrer Einleitung zu einem Sonderheft der Zeitschrift »Das achtzehnte Jahrhundert« zum Thema ›Zeitkonzepte. Zur Pluralisierung des Zeitdiskurses im langen 18. Jahrhundert‹ hat Stefanie Stockhorst dem Holismus des Verzeit­ lichungskonzepts eine Pluralisierung der Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf Zeit entgegengehalten.55 Zwar sei unverkennbar, dass nicht nur die Zahl der Thematisierungen von ›Zeit‹ im Laufe des 18. Jahrhunderts merklich anstieg, sondern diese sich auch qualitativ durch eine »Pluralisierung, Dynamisierung und Historisierung« auszeichneten.56 In vielen Wissensgebieten sei der historischen Dimension nunmehr eine entscheidende Stelle eingeräumt worden, so dass eine historische Naturkunde, Anthropologie, Sprachkunde und viele weitere ›historische‹ Disziplinen entstanden seien. Darüber hinaus sei die Zahl der Schriften, die sich exklusiv mit der Wissenschaft oder Philosophie der Geschichte auseinandersetzten, rasant angestiegen. Auch die neu entstehende Gattung der geschichtlichen Besinnung auf das eigene Zeitalter sei in diesem

53 »Der Begriffshistoriker von heute belauscht Ideenproduzenten von gestern und präsentiert uns deren historische Erfahrung vom Umbruch in eine neue Zeit, die wir Moderne nennen. Aber wie weit durchdrang diese Umbruchserfahrung die damalige Gesellschaft? Danach kann Koselleck nicht fragen, weil seine Texte darüber keinen Aufschluss geben. Denn in ihnen reflektiert eine sehr kleine Gruppe von Gebildeten die Erfahrungen dieser bildungselitären Gruppe. Über die Erfahrungen der übergroßen Mehrheit der Menschen sind wir schlechter informiert. Doch immerhin gut genug, um sagen zu können, dass die allermeisten Menschen in Europa, von der außereuropäischen Welt ganz zu schweigen, mit der neuartigen Fortschrittserfahrung, die Historiker als ein Grundelement der Moderne auffassen, noch sehr lange nicht in Berührung kamen.« Langewiesche, »Postmoderne«, S. 73. 54 Siehe beispielsweise: Brendecke, Die Autorität der Zeit; Maurer, Kulturgeschichte, S. 147–164. Auch die neuerdings florierenden Forschungsbereiche der historischen Gedächtnis- und Zukunftsforschung entstammen nicht zuletzt diesem Kontext. 55 Stockhorst, Zur Einführung. Siehe auch: dies., Novus ordo, S. 378–386. 56 Ebd., S. 158. Siehe auch: Wendorff, Zeit und Kultur, S. 253–337. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Kontext zu verorten, da in ihr der abgrenzende Vergleich zu früheren und möglichen späteren Zeitaltern immer mitgedacht gewesen sei. Diese Entwicklung sei aber, so Stockhorst, nur insofern als Verzeitlichung zu verstehen, als die Unmöglichkeit, die »höchst unterschiedlichen Strömungen im Zeitdiskurs auf einen gemeinsamen begrifflichen Nenner zu bringen« eine ausführliche und differenzierte Auseinandersetzung mit der Zeit ausgelöst habe.57 Anders gesagt: Die Erfahrung, welche im 18. Jahrhundert eine Vielfalt theoretischer und praktischer Auseinandersetzung mit der Zeit auslöste, war nicht so sehr eine einheitliche Erfahrung der Neuzeit – wie sie im Begriff der Beschleunigung oder im Motiv der Asymmetrie zwischen Erfahrung und Erwartung impliziert zu sein scheint – sondern vielmehr die Konfrontation mit der zunehmenden Inkommensurabilität unterschiedlicher Zeitkulturen.58 Es ist an der Zeit, die Konsequenzen aus der Erörterung des Verzeitlichungsmodells zu ziehen und zu fragen, inwieweit das Modell  – unter Berücksich­ tigung der an ihm geübten Kritik – einer Entstehungsgeschichte der Kulturkritik als Interpretationsrahmen dienen kann. Da der Begriff Verzeitlichung bei keinem seiner Vertreter eine ›Entdeckung‹ der Zeit nach einer wie auch immer verstandenen atemporale Epoche impliziert, werden sich unsere Überlegungen auf die Aspekte seiner Reichweite und seiner Periodisierung konzentrieren.

Verzeitlichung und Kulturkritik Ohne die prinzipielle Möglichkeit – in mancher Hinsicht gar: Notwendigkeit – der Rede über die Moderne als Epoche in Abrede stellen zu wollen, ist klar, dass das Postulat einer uniformen modernen Zeiterfahrung nur um den Preis eines radikalen Ausschlusses großer Gruppen und gesellschaftlicher Sektoren aus ›der‹ Moderne zu haben ist. Es ist ein wichtiger empirischer Befund, dass die von der Meistererzählung einer einheitlichen, linearen Geschichte ausgehenden Formen moderner Selbstreflexion ihre Protagonisten dazu veranlassten, die geschichtliche Ungleichzeitigkeit chronologisch zeitgenössischer Phänomene festzustellen und daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass bestimmte Praktiken, Institutionen und Individuen sich nicht ›auf der Höhe der Zeit‹  – oder gar ›außerhalb der Geschichte‹ – befanden. Denselben Rückschluss aber auch für die historiographische Perspektive in Anspruch zu nehmen, würde 57 Stockhorst, Zur Einführung, S. 158. Und: »So darf eben doch eine grundlegende Temporalisierung im Sinne einer historisch eigentümlichen temporalen Diversität konstatiert werden«. Ebd., S. 163. 58 In gewisser Weise, könnte man einwenden, war dieser Aspekt auch schon in Kosellecks Begriff der Verzeitlichung enthalten, wo er unter dem Titel der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ verhandelt wurde. Vgl. Koselleck und Meier, Fortschritt, S. 391–392; Koselleck, ›Neuzeit‹, S. 323–325. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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der Vielfältigkeit der menschlichen Zeiterfahrung in der Moderne nicht gerecht werden. Daraus allerdings umgekehrt zu folgern, das Verzeitlichungsmodell sei im Ganzen hinfällig, würde wiederum dieselbe Generalisierung voraussetzen, die es zu vermeiden galt. Obwohl kategorische Aussagen über die Temporalität der Moderne in diesem Zusammenhang offenbar fehl am Platze sind, ist unverkennbar, dass sich die Erfahrung und Artikulation des menschlichen Zeit­verhältnisses in unterschiedlichen Formen gesellschaftlicher Selbstreflexion im langen 18. Jahrhundert grundlegend änderten. Die von Koselleck herausgearbeiteten Momente – das Auseinandertreten von Erfahrung und Erwartung, die Öffnung einer kontingenten Zukunft, die Singularisierung der Geschichte, ihre Entkoppelung von den Vorgaben einer allwissenden Vorsehung, die ambivalente Bezugnahme auf sie als eigenmächtiges Subjekt einerseits und als machbaren Gegenstand menschlichen Handelns andererseits  – behalten somit als Parameter einer Reihe von neuartigen gesellschaftlichen Reflexionsdiskursen ihre Gültigkeit. Zu diesen gehört auch die Kulturkritik. Vor diesem Hintergrund verschiebt sich der Geltungsbereich des analytischen Begriffs der Verzeit­lichung. Statt der kategorialen Bestimmung der Neuzeit bezeichnet er die Verbreitung einer Gruppe geschichtlicher Zeitlichkeitsmodelle und -semantiken in unterschiedlichen Diskursen. Kulturkritik ist  – auch wenn sie in ihrer Selbstdarstellung oft so auftritt  – nicht die Stimme der Moderne und ihrer Grunderfahrung. Sie ist eine bestimmte sprachliche Praxis in der Moderne, die im Rahmen der von Stockhorst festgestellten Intensivierung und Pluralisierung der Zeitreflexion zu verorten ist. Dass ihr unterschiedliche Fortschritts-, Dekadenz-, Beschleunigungs- und Ungleichzeitigkeitserfahrungen zugrunde lagen, ist anzunehmen, aber immer wieder im Einzelnen zu prüfen. Entscheidend ist aber, dass und wie diese sich als Deutungsmuster diskursiv etablierten. In diesem Zusammenhang gilt die Kategorie der Verzeitlichung der abgrenzenden Kennzeichnung einer Diskursform, die sich in zweifacher Weise auf die Zeit bezieht. Einerseits indem sie sich in ihrer Kritik auf das Zeitalter im Sinne des eigenen Kulturganzen bezieht, andererseits indem sie die Deutung seines Zustands mit einer geschichtlich-genealo­ gischen Perspektive verknüpft.59 Eine zweite Qualifikation des Verzeitlichungsmodells betrifft seine Periodisierung. »[W]ie Zecken immer auf Buttersäure kommen Begriffsgeschichtler immer auf 1750«, spottete der Philosoph Odo Marquard einmal.60 Die Sattelzeithypothese, nach der sich das Phänomen der Verzeitlichung im Deut 59 Drittens ist die inhaltliche Auseinandersetzung mit bestimmten Zeitlichkeitsformen (Be- oder Entschleunigung, Zeitmangel oder -überschuss, Zeitoptimalisierung und -verschwendung) als Kennzeichen des eigenen Zeitalters und Symptome seines Verfalls zu nennen. Dies betrifft allerdings nur eine bestimmte Variante der Kulturkritik und kann nicht als ihr generelles Merkmal bezeichnet werden. 60 Marquard, Der angeklagte und der entlastete Mensch, S. 40. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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schen auf der Ebene der politisch-sozialen Begrifflichkeit im Zeitraum zwischen 1750 und 1850 bemerkbar gemacht habe, hat als hermeneutischer Vorgriff für die »Geschichtlichen Grundbegriffe« ihre Schuldigkeit getan.61 Ihre Differenzierung scheint aber aus zwei Gründen notwendig.62 Zum einen eröffnet die Berücksichtigung anderer europäischer Sprachräume die Möglichkeit und Notwendigkeit einer vergleichendenden Perspektive auf ihre jeweils unterschiedlichen ›Sattelzeiten‹.63 Zum anderen muss die monolitische Chronologie der Sattelzeit auch im Hinblick auf die unreduzierbare Vielförmigkeit der semantischen Landschaft der jeweiligen Sprachen, vor allem aber auf die spezifische Zeitlichkeit semantischer Strukturen differenziert werden. Aus der narrativen Perspektivierung dieser Studie als ›Enstehensgeschichte der Kulturkritik‹ und ihrer Einbettung in der ›Verzeitlichung kulturreflexiver Diskurse‹ im langen 18. Jahrhundert ist nicht zu schließen, dass hier eine ungebrochene Chronologie vorausgesetzt wird. Die Geschichte der Emergenz der Kulturkritik, wie sie hier geschrieben werden soll, hat ihre Gültigkeit vielmehr nur als makroskopisches Resultat eines komplexen Geflechts uneinheitlicher Bewegungen auf der semantischen Mikro- und Mesoebene, die jeweils eine eigene Dynamik ent­ falteten, einander verstärkten, manchmal aber auch widersprachen. Die Bedeutung einzelner Zeichen entsteht und entwickelt sich im Prozess ihrer andauernden und manchmal widersprüchlichen Wiederverwendung, ist also niemals beherrschbar oder eindeutig bestimmbar. Sie erstreckt sich gleichsam in Raum und Zeit. Es macht die Komplexität der Sprache aus, dass im jeweiligen Kommunikationszusammenhang ältere und neuere, relativ stabile und relativ flexible Elemente aller unterschiedlichen Sprachebenen in immer unterschiedlichen Konstellationen aufeinandertreffen. Während einige schnell und vergleichsweise folgenlos ausgewechselt oder modifiziert werden, haben andere eine immense longue durée und strukturbildende Kraft. Diese wesentliche Polychronie ist ein ernst zu nehmender Faktor in semantischen Prozessen und macht, dass die Entstehung der Kulturkritik in der Sattelzeit nur eine, stark generalisierte Perspektive auf die Phänomene darstellt, auf deren Beschreibung es ankommt. Darüber hinaus weist sie erneut auf die Frage nach dem Standort des historisch-semantischen Forschers selbst hin. Semantik unterscheidet sich von vielen 61 Vgl. Dipper, Die »Geschichtlichen Grundbegriffe«, S. 291–294. Melvin Richter hat 1996 bemängelt, dass eine systematische Analyse der Frage, ob die Sattelzeithypothese durch die Artikel der Geschichtlichen Grundbegriffe im Ganzen bestätigt oder widerlegt worden sei, immer noch ausstehe. Koselleck hat sie, laut späteren Aussagen, für weitestgehend bestätigt angesehen. Richter, Appreciating a Contemporary Classic, S. 14–16; Dipper und Koselleck, Begriffsgeschichte, S. 194–197. 62 Vgl. vor allem auch die Kritik von Ernst Wolfgang Becker: »Die von der Begriffs­ geschichte unterstellte Sattelzeit als Beginn einer ›neuen Zeit‹ verliert sich in der Komplexität der Zeit- und Revolutionserfahrungen.« E. W. Becker, Zeit der Revolution!, S. 367. Siehe auch: Ebd., S. 353–368. 63 Vgl. Leonhard, Erfahrungsgeschichten. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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anderen Strukturen durch ihr langes Gedächtnis. So lange Bedeutungsstrukturen medial vorhanden und in eine lebendige Überlieferungstradition eingebettet sind, können sie immer wieder aktualisiert werden. In diesem Sinne begegnen überlieferte Schriften  – allen voran die sogenannten Klassiker  – dem heutigen Leser als zeitgenössische und ist zwischen deren diachroner und synchroner Analyse nur bedingt zu unterscheiden. Daraus folgt einerseits, dass die historische Semantik über einen langen Atem verfügen muss. Nur eine Langzeitperspektive lässt die Eigenart und Entwicklung von Diskursen in den Blick kommen. Darüber hinaus gilt im Hinblick auf die eigene Perspektive, dass viele der semantischen Muster, die hier unter dem Gesichtspunkt eines historischen Gegenstands erscheinen, weiterhin den Boden bedingen, auf dem wir stehen. Infolgedessen gehört die Besinnung auf das Wechselspiel zwischen Gegenstand und Forschungsperspektive unausweichlich zu den Aufgaben der historischsemantischen Forschung. Aus diesem Grund ist hier schließlich noch einmal auf den geschichtlichen Standort der Fragestellung hinzuweisen. Christof Dipper hat die abebbende Konjunktur der Begriffsgeschichte in der deutschen Geschichtswissenschaft unter anderem dadurch erklärt, dass die Theorie geschichtlicher Zeiten, auf der sie aufbaute, für die »Selbstverständigung der Gegenwart über ihre Stellung zur Vergangenheit« nicht länger ausschlaggebend sei: »Nicht in der ›Neuzeit‹ verorten wir uns, sondern in der ›Moderne‹, viele meinen gar in der ›Postmoderne‹, nicht zufällig einem Wort ohne jeglichen teleologischen Gehalt.«64 Das Ende der Moderne habe, so könnte man seine These zusammenfassen, die Frage nach ihrem Ursprung im Medium der Semantik ihrer Motivationsgrundlage beraubt. Die Modernisierungstheorie, auch ihre auf die Zeitlichkeit der Erfahrung ausgerichtete Variante, verliert in der Postmoderne ihre Aktualität.65 Hans Ulrich Gumbrecht hat dieselbe Argumentationslinie noch einmal aufgenommen und weitergeführt. Angesichts der abgeschlossenen begriffsgeschicht­ lichen Lexika  – an denen er, wie auch Dipper, selbst beteiligt gewesen war  – stellte er rückblickend die Frage: […] was es genau gewesen sein mag, das in den monumentalen begriffsgeschicht­ lichen Wörterbüchern zu Ende gekommen, in den Pyramiden des Geistes gestorben ist. Oder etwas gelassener: was das plötzliche Abebben des Enthusiasmus für Begriffsgeschichte in den neunziger Jahren erklärt.66

Die Antwort liege, meinte er, in der »epistemologischen Konfiguration« der Postmoderne. Diese sei keine bloße Variation der modernen Zeitlichkeit, wie 64 Dipper, Die »Geschichtlichen Grundbegriffe«, S. 307. 65 Dass Koselleck selbst anderer Meinung war, dürfte nicht überraschen: Dipper und ­Koselleck, Begriffsgeschichte, S. 201–202. 66 Gumbrecht, Pyramiden des Geistes, S. 31. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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sie an der Basis und im Mittelpunkt des Projekts der »Geschichtlichen Grundbegriffe« gestanden hatte. Vielmehr bedeute sie das Aufkommen einer »alternativen Temporaltopik« und stelle einen fundamentalen geschichtlichen Bruch – im koselleckschen Vokabular gesprochen: einen Erfahrungswandel – dar.67 Die charakteristische Asymmetrie der Moderne zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont sei innerhalb des »Chronotops« der Postmoderne hinfällig geworden. Die Zukunft erscheine allen Prognosen und allem menschlichen Eingreifen gegenüber verschlossen, während die Vergangenheit nicht länger verschwinde bzw. überwunden werde, sondern immerzu präsent bleibe. Angesichts der Tatsache, dass sich die Gegenwart somit zu einer »Zone der Simultaneitäten« verbreitert habe, entfalle der Bedarf einer Verortung der eigenen Existenz in der Zeitlichkeit der Moderne.68 Angesichts der vielen neueren Arbeiten, die in den letzten Jahren auf dem Gebiet der Begriffsgeschichte entstanden sind, könnte man sich fragen, ob sie nicht etwas vorschnell ins Totenreich verwiesen wurde.69 Vielleicht würde Gumbrecht antworten, er habe nicht umsonst vom Abebben statt vom Verschwinden der Begriffsgeschichte gesprochen, da »in der Breite und Komplexität der neuen Gegenwart vergangene Optionen offenbar nie ganz verlorengehen«.70 Aber selbst wenn die Methode der Begriffsgeschichte noch quicklebendig ist, gilt dasselbe nicht unbedingt für die modernisierungstheoretische Motivation, auf deren Boden sie einst aufblühte. Insofern ist der Beobachtung Dippers und Gumbrechts, dass unter den Bedingungen der Postmoderne das Interesse an der spezifischen Zeitlichkeit der Moderne und ihrer geschichtlichen Entwicklung vergleichsweise nachgelassen hat, zuzustimmen. Die Verzeitlichung als Anfang der Neuzeit lässt sich nicht länger unmittelbar auf das eigene Selbst als post­ modernes Subjekt beziehen. Darüber hinaus hat – wie wir schon feststellten und auch Dipper anmerkt – die Entstehungsgeschichte des modernen epochalen Be-

67 Ebd., S. 31–33. 68 Ebd., S. 33. Eine ähnliche These war unter anderem schon von Karl Löwith vertreten worden, der die später durch Francis Fukuyama berühmt gewordene These vom Ende der Geschichte ausdrücklich mit einem semantischen Wandel in Verbindung brachte. In seinen Augen war schon 1952 unverkennbar, »daß wir uns mehr oder weniger am Ende des modernen historischen Denkens befinden. Unsere Begriffe sind zu abgegriffen und zu dünn geworden, als daß wir hoffen könnten, daß sie uns Halt gewährten. Wir haben gelernt, zu warten ohne zu hoffen«. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen [b], S. 12–13. 69 Vgl. Steinmetz, Vierzig Jahre Begriffsgeschichte; Eggers und Rothe, Die Begriffs­ geschichte ist tot. Siehe auch das neu gegründete European Conceptual History Project: Vgl. Freeden u. a., ECHP. 70 Gumbrecht, Pyramiden des Geistes, S.  35. Zu seinem Verständnis der condition ­humaine in der Postmoderne, vgl. ders., Postmoderne; ders., Die Gegenwart; ders., Unsere breite Gegenwart. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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wusstseins selbst die Form einer geschichtlichen Meistererzählung, so dass sie dem postmodern geschulten Historiker schon aus diesem Grund suspekt ist.71 Welche Folgerung lässt sich aus diesen Umständen für eine Studie ziehen, die sich dem methodischen Ansatz der historischen Semantik ebenso wie dem Interpretationsrahmen der Verzeitlichung verschrieben hat? Zu den Folgen der Postmoderne zählt Gumbrecht das Unverständlichwerden nicht nur der »neuzeitlich-geschichtlichen Zeit«, sondern auch der dazugehörigen spezifisch modernen Subjektivitätsform.72 Die »Entgrenzung« der modernen Gegenwart untergrabe deren in der Aufklärung etablierten Voraussetzungsrahmen. Eingeschlossen in eine »alle Vergangenheiten beinhaltende und die Zukunft verweigernde breite Gegenwärtigkeit«, steht dem postmodernen Menschen keine Außenperspektive mehr zur Verfügung, die es ihm ermöglichen würde, »den Anspruch auf eine überlegene Analysekompetenz  – nicht zuletzt gegenüber der als ›Geschichte‹ erfahrenen Vergangenheit  – aufrechtzuerhalten.«73 Obwohl Gumbrecht sich in diesem Zusammenhang in erster Linie auf den Typus des aufklärerischen philosophe bezieht,74 ist klar, dass auch die Figur des Kultur­k ritikers als Modus dieser Subjektivitätsform verstanden werden muss. Auch dieser ist davon überzeugt, im Stande zu sein, die Geschichte und das Zeitalter zu überschauen und darüber zu urteilen. Er ist der Außenseiter par excellence. Das Abebben der Begriffsgeschichte auf der Grundlage der Theorie geschichtlicher Zeiten und das Verhallen der Resonanz der Kulturkritik ge­hören zusammen. Insofern muss die Frage nach dem Ursprung der Kulturkritik, wie sie hier gestellt wird, in mehrfacher Weise als unzeitgemäß erscheinen. Wie aber oben ausgeführt, gilt es, diesen Schein, statt ihn unmittelbar hin-, als intellektuelle Herausforderung anzunehmen. Der Schwund der Moderne ist selbst ein Phänomen, ohne dessen ausreichendes Verständnis die Selbstbesinnung in der Postmoderne ohne Kontrast und somit unzulänglich bleiben muss. Auf der Schwelle zwischen der Moderne und dem, was auf ihr folgt, ist ein ausreichendes Verständnis der sich uns langsam entziehenden Existenzform unentbehrlich. Die Geschichte der Kulturkritik gehört dazu.

71 Dipper, Die »Geschichtlichen Grundbegriffe«, S. 306–307. Exemplarisch dafür ist auch die Kritik am ›Holismus‹ des Verzeitlichungsmodells und ihre Differenzierung unter dem Rubrum unterschiedlicher ›Zeitkulturen‹. 72 Gumbrecht, Pyramiden des Geistes, S. 32, 33. 73 Ebd., S. 33–34. 74 Namentlich in Bezug auf seinen in Zusammenarbeit mit Rolf Reichardt verfassten Artikel: Gumbrecht und Reichardt, Philosophe, Philosophie. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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2. Semantiken der Kulturgeschichte Zeit in Zyklen und Linien Die Kulturkritik entstand im Kontext einer Entwicklung, die etwas pointiert als die Geburt eines modernen, kulturgeschichtlichen Bewusstseins gekennzeichnet werden kann. Auf der Sprachebene kam dies in einer Gruppe von Semantiken, welche das Ganze einer menschlichen Lebensform und deren geschichtlichen Entwicklung thematisierten, zum Ausdruck. Die Forschung auf diesem Gebiet bildet ein breit gestreutes und – das dürfte anhand von Sawillas Kritik an den begriffsgeschichtlichen Thesen Kosellecks deutlich geworden sein – durchaus umstrittenes Feld. Eine detaillierte Bestandsaufnahme dieser Forschungslandschaft, ihrer Fragestellungen, Ergebnisse und Kontroversen würde eine eigene Studie erfordern. An dieser Stelle muss ein kurzer Überblick genügen. Dasjenige, was manchmal als semantisches Netz bezeichnet wird, bildet ein Gewebe, dessen Fäden sich immer wieder verschieben, verknoten, lösen und neu verknüpfen. Auch die Fäden selbst haben  – wenngleich sie jede einzelne Konstellation überdauern  – nur eine relative Stabilität. Darüber hinaus können sie nicht auf sich gestellt bestehen. Erst aus ihrer relativen Position im ganzen Zeichengewebe heraus entfalten sie ihre semantische Funktionalität. Die zeitgenössischen Akteure versuchten sich in diesem Netz zurechtzufinden und so auch  – rückblickend, mit allen Vorteilen und Nachteilen dieser Distanz  – der Historiker. Beide können dies nur, indem sie provisorische Reduktionen vornehmen und sich an einzelnen Fäden orientieren. Es ist demnach ebenso schwierig wie notwendig, den Wirrwarr der Zeichen auf einzelne rote Fäden hin zu entwirren. Um aber gleichzeitig den Blick auf die konkrete Sprachlandschaft nicht zu verlieren, folgt nach einem allgemeinen Umriss des Forschungsstandes auf dem Gebiet der Zeit- und Kultursemantiken eine Fallstudie über einen Einzelbegriff, der beide Aspekte in sich vereint und für die Kulturkritik von besonderer Bedeutung war. Einem berühmten Aufsatz Karl Löwiths zufolge muss die Geschichte des abendländischen Zeitbewusstseins zwischen »Athen und Jerusalem« angesiedelt werden.75 Dem antiken Zeitverständnis, nach dem der Kosmos im Kleinen wie im Großen einem zyklisch-periodischen Wechsel unterlag, habe sich mit der Verbreitung des Christentums eine lineare Alternative entgegengestellt. Seit ­Augustinus sei die Weltgeschichte als einheitliches Heilsgeschehen, welches unter der Obhut der Vorsehung bis zur definitiven Aufhebung und Erfüllung 75 Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen [a], S. 115. Siehe auch: ders., Verhängnis des Fortschritts. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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der Zeit am jüngsten Tag fortschreite, aufgefasst worden.76 Das moderne Geschichtsdenken  – »in Amerika und Rußland«, schrieb Löwith 1950  – sei, da es weiterhin auf eine geschichtliche Sinnerfüllung ausgerichtet sei, trotz seiner anti-theologischen Grundhaltung als verweltlichte und verendlichte Variante dieser christlichen Eschatologie anzusehen.77 Obgleich diese Sichtweise zu schematisch ist, als dass sie der empirischen Prüfung standhalten könnte, zeigt sie doch paradigmatisch die beiden Motive, welche die Historiographie über die Geschichte der Zeit bis heute bestimmen: Linearisierung und Anthro­ pologisierung.78 Obwohl das periodische Zeitmodell im Kontext bestimmter natürlicher Abläufe – beispielsweise des menschlichen Lebenszyklus, der Tages- oder Jahreszeitenfolge – weiterhin Aktualität besitzt, hat es deutlich an Boden verloren. Die Vorstellung von der Aufeinanderfolge von Ereignissen, Staaten, Weltreichen oder Zeitaltern im Sinne einer ewigen Wiederkehr würde unserem modernen Geschichtsverständnis zutiefst widersprechen. Dennoch sollte das Verhältnis zwischen zyklischen und linearen Zeitmodellen nicht vorschnell als (wiederum linear gedachte)  Ablösungsgeschichte verstanden werden. Wie der Romanist Jochen Schlobach gezeigt hat, stellte die Zyklentheorie, wie sie seit der Renaissance in expliziter Auseinandersetzung mit dem spätmittelalterlichen (linearen) »Korruptionsdenken« formuliert wurde, einen wichtigen Schritt in Richtung der neuzeitlichen, erneut hauptsächlich linear orientierten »Fortschrittstheorie« dar.79 Darüber hinaus blieb sie auch später, als sie durch das aufklärerische Zeitdenken überwunden schien, in vielen Bereichen wirksam. Gerade an Stellen, wo Erfahrungen geschichtlichen Verfalls artikuliert wurden, traten zyk­lische und lineare Modelle nebeneinander und miteinander verschränkt auf. Ein solcher Ort war die Kulturkritik. Im zyklischen Zeitmodell gehörte nach Aufstieg und Höhepunkt auch die Dekadenz zum natürlichen Zeitablauf. Die zentrale Ausdrucksform dieser Sichtweise bildete der metaphorische Vergleich politisch-sozialer Phänomene mit natürlichen Zyklen des Wachstums und Welkens, besonders mit den menschlichen Lebensaltern. So wurden seit der Antike immer wieder Paral­ 76 Laut Alexander Demandt liegen die Wurzeln der geläufigen Antithese von griechischzyklischem und christlich-linearem Geschichtsdenken bei Augustinus. Dieser hatte die Vorstellung einer Wiederholung des Weltprozesses polemisch mit der Einmaligkeit des Todes Christi kontrastiert. Vgl. Demandt, Metaphern für Geschichte, S. 245. 77 Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen [a], S. 113. Siehe auch: Ebd., S. 124–131, 149. Unter Berücksichtigung der neueren Forschung ist die These erneut vertreten worden in: Meumann, Zurück in die Endzeit. Siehe auch: ders., Von der Endzeit zum Säkulum, S. ­110–120. 78 »Die Annahme, das antike Geschichtsbewußtsein sei zyklisch, das christlich-euro­ päische hingegen teleologisch geprägt, ist zwar zu einfach, um ausrottbar, aber auch zu simpel, um vertretbar zu sein.« Demandt, Denkbilder, S. 22. 79 Schlobach, Zyklentheorie und Epochenmetaphorik. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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lelen zwischen der Entwicklung des einzelnen Menschen und der gesamten Menschheit gezogen.80 Der Verfall, der nach dem Höhepunkt unweigerlich eintreten musste, bildete einen wesentlichen Bestandteil dieser Vorstellung. Auch in der christlichen Eschatologie spielte die Dekadenz eine entscheidende Rolle, sei es auch nicht länger als Bestandteil eines natürlichen Zyklus, sondern einerseits in der Gestalt des einmaligen und unwiederbringlichen Sündefalls, andererseits indem alles Irdische als einem stetigen Niedergang unterworfen aufgefasst wurde, der erst mit der Auflösung des Zeitlichen im Ewigen ein Ende haben würde. Dies kam auch im Fortschrittsbegriff zum Ausdruck, der in Bezug auf die irdische Geschichte eine eher negative Konnotation hatte. Positiv war in diesem Zusammenhang nicht der weltliche progressus, sondern der profectus: der Schritt über die Welt hinaus. Wie es noch im Titel von John Bunyans (­­1628–1688) klassischem Buch hieß, lag die Betonung auf »The Pilgrim’s Progress from This World, to That which is to come« (1678/1684).81 In dieser Weise blieben die kosmo­logischen Verfallstheorien, wie sie in der Antike verbreitet gewesen waren, auch im christianisierten Europa aktuell.82 In der Sprache des Lebensaltersvergleichs hieß es, die Welt sei alt geworden (senectus mundi).83 Mit dem Glauben an die Endzeit im Rücken wurde die Zeit selbst als Verfall gekennzeichnet. Gegen solche, das gesamte Dasein umfassenden Verfallsgeschichten bildeten sich in der Frühen Neuzeit unterschiedliche Perspektiven heraus, welche auch im Irdischen die Möglichkeit einer Regeneration vorsahen. Im Bereich der Natur wurde gegen die bis ins 18.  Jahrhundert kursierenden kosmologischen Verfallstheorien auf der nie versiegenden Schöpferkraft der Natur bestanden. Reformation und Renaissance nahmen die Korruption eines anfänglichen Höhe­punkts als Ausgangspunkt, entlehnten ihr Selbstverständnis aber auch der Hoffnung auf die Möglichkeit seiner Wiedergeburt.84 Das Mittelalter war damit auf eine Zwischenzeit zwischen zwei Höhepunkten reduziert, die Dekadenz zu einem periodischen Phänomen umgedeutet. Die zyklischen Zeitvorstellungen der Frühen Neuzeit bedeuteten gegenüber der transzendenten Ausrichtung der christlichen Heilsgeschichte eine entscheidende Akzentverschiebung. Der periodische Gang der Geschichte bekam eine 80 Vgl. Häußler, Ursprung und Wandel des Lebensaltervergleichs; Demandt, Metaphern für Geschichte, S. 37–45, 63–72; ders., Dekadenz als Mythos, S. 717–719. 81 Bunyan, The Pilgrim’s Progress. Außerdem tauchte der Begriff im militärischen und astronomisch-naturwissenschaftlichen Bereich auf. Vgl. dazu: Koselleck und Meier, Fortschritt, S. 363–371; Gembicki und Reichardt, Progrès, S. 103–105. 82 Vgl. Demandt, Biologistische Dekadenztheorien, S. 67. 83 Vgl. Maier, Niedergang, S. 64–65; Schäufele, »Pessimismus«. 84 Auch der Begriff Revolution wurde zu dieser Zeit noch hauptsächlich im Sinne einer Wiederherstellung verstanden. Er hatte noch nicht die Konnotation des Unwiederbring­ lichen inne, die ihm später anhaften sollte. Vgl. P. Burke, Renaissance, Reformation, Revolution; Klinger, Modern / Moderne / Modernismus, S. 125. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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›irdische‹ Eigendynamik zugesprochen, die ohne jedes transzendente Eingreifen auskam. Das Rad der Fortuna drehte sich in einer dezidiert irdischen Geschichte. Dennoch blieb es, genauso wie die Heilsgeschichte, an eine metaphysische Bestimmung gebunden. Der Zyklus der Zeit kam dadurch zu Stande, dass jedes Phänomen das feststehende Maß der Veränderung in sich trug. Seine Entwicklung bewegte sich bis zu seiner Perfektion, über die es aber nie hinauskam, so dass jeder Höhepunkt gleichzeitig den Anfang des Verfalls einläutete. Ebenso wie im christlichen Weltbild nie etwas Neues entstehen konnte, was nicht schon vorgesehen war, blieben jetzt die irdischen Phänomene an ein vorgegebenes metaphysisches Maß gebunden. Spätestens seit dem Zeitalter der großen Entdeckungen schien dies aber (wenigstens für bestimmte Phänomenbereiche) immer weniger wahrscheinlich. Die offensichtlichen Fortschritte in den Künsten und Wissenschaften, auch über die als vorbildlich geltende Antike hinaus, ließen sich nicht länger mit dem Wiederkehrmodell in Einklang bringen.85 Der Mensch nahm, so wurde allmählich klar, seine Geschichte selbst in die Hand. Vor dem Hintergrund der Wissenschaftlichen Revolution und der großen Entdeckungsreisen entstanden erste Risse in der zyklischen Zeiterfahrung, woraus sich allmählich das Zeitverständnis entwickelte, das in der Forschung oftmals als »Fortschrittstheorie der Aufklärung« bezeichnet wird.86 Es öffnete sich die Zukunft als Raum unendlicher Möglichkeiten.87 Vor diesem Hintergrund wurde die Lebenslaufmetapher, die in der Artikulation des zyklischen Modells noch eine Hauptrolle gespielt hatte, zunehmend problematisiert.88 Obwohl Francis Bacon (1561–1626) das Gleichnis weiterhin in Anspruch nahm, drehte er ihre geläufige Bedeutung um. ›Altertum‹ sei, meinte er, als Bezeichnung der griechisch-römischen Epoche ungeeignet, da diese Epoche zwar aus unserer Perspektive älter, in Rücksicht auf die Welt selbst aber jünger sei. In eigentlichem Sinne seien also die Modernen die Alten.89 Was ein bloßes Wortspiel scheint, indiziert eine gedankliche Revolution, welche der kopernikanischen Wende in nichts nachsteht. Statt der Rückkehr zu einer modellhaften Vergangenheit rückte jetzt das allmähliche und in die Zukunft hin offene advancement of learning in den Mittelpunkt der Geschichtsvorstellung. 85 Für eine theoretische Erörterung zum ›Plausibilitätsverlust‹ als Erklärungsmodell semantischen Wandels vgl. Steinmetz, Vierzig Jahre Begriffsgeschichte, S. 188–189. 86 Die klassische Studie zu diesem Thema ist immer noch: J. B. Bury, The Idea of Progress. Vgl. auch: Nisbet, Idea of Progress, S. 118–178; Keohane, Enlightenment Idea of Progress; Rohbeck, Fortschrittstheorie; Gembicki und Reichardt, Progrès, S.  108–110. Etwas ­essayistisch, aber lesenswert ist: Loewenstein, Der Fortschrittsglaube. 87 Vgl. Hölscher, Entdeckung der Zukunft, S. 17–81. 88 Vgl. Koselleck und Meier, Fortschritt, S.372–375; K. E. Becker, Licht, S. 195–245. 89 »Mundi enim senium & grandaevitas pro Antiquitate vere habenda sunt; quae temporibus nostris tribui debent, non iuniori aetati Mundi, qualis apud Antiquos fuit. Illa enim ­aetas respectu nostri, antiqua & maior; respectu mundi ipsius, nova & minor fuit.« Bacon, Novum Organum, S. 92. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Die Menschheit sammelt, so lässt sich die neue Perspektive auf den Punkt bringen, immer mehr Erfahrung und bringt es auf dem Gebiet der Künste und Wissenschaften zu immer größerer Höhe. Damit war die Autorität der Alten zumindest auf dem Gebiet des Wissens zugunsten einer modernen Überlegenheit durchbrochen: »Recte enim Veritas, Temporis filia dicitur, non Authoritatis.«90 Ein entscheidender Moment in der Entwicklung und Verbreitung dieser neuen Perspektive war die sogenannte querelle des anciens et des modernes.91 Ausgelöst wurde sie von Charles Perrault (1628–1703), als dieser am 27. Januar 1687 – in einer Sondersitzung der Académie anlässlich der Genesung Ludwigs XIV. nach einer Fistelbehandlung – sein Gedicht »Le Siecle de Louis le Grand« vortrug.92 Darin stellte der Schriftsteller und Märchensammler den Modellcharakter der Antike nicht nur bezüglich der Wissenschaft,93 sondern auch im Bereich der Kunst in Frage.94 Im Mittelpunkt seiner Darstellung stand die ästhe­ tische Frage, ob die Imagination schöpferisch über die Nachahmung antiker Vorbilder hinausgehen dürfe. Auf der Ebene der Geschichtsvorstellung setzten modernes wie Perrault dem Gedanken, seit dem einmaligen Höhepunkt der Antike sei ein unwiederbring­ licher Verfall eingetreten, die Vision mehrerer, einander ebenbürtigen Kulturzyklen entgegen. Obwohl die Antike weiterhin als Höhepunkt betrachtet wurde, fasste man auch die eigene Zeit als einen solchen auf. Die Geschichte erschien – wie es in der Literaturgattung der parallèle exemplarisch zum Ausdruck gebracht wurde – in zweigipfliger Gestalt.95 Perrault stellte sie polemisch am Anfang seines Gedichts: 90 Ebd., S. 93. Vgl. K. E. Becker, Licht, S. 220–221. 91 Siehe die Quellensammlung: Krauss und Kortum, Antike und Moderne. Einschlägig sind weiterhin: Baron, The Querelle; Jauß, Ästhetische Normen; Krauss, Der Streit. Siehe auch: Schlobach, Zyklentheorie und Epochenmetaphorik, S. 270–303; Gembicki und Reichardt, Progrès, S. 108–114; E. Bury, Littérature et politesse, S. 156–168. 92 Perrault, Le Siecle. Schon bald verbreitete sich die querelle nach England, wo sie zunächst vom Diplomaten und Schriftsteller William Temple (1628–1699) ausgelöst wurde, ihren maßgeblichen Titel – Battle of the Books – aber von seinem Sekretär Jonathan Swift (1667–1745) erhielt. In Deutschland entbrannte sie erst nach der Jahrhundertmitte, nicht zuletzt durch die Vermittlung Johann Joachim Winckelmanns (1717–1768). Temple, Ancient and Modern Learning; Swift, »A Full and True Account; Winckelmann, Gedanken. 93 Perrault, Le Siecle, S. 2. 94 Eine ähnliche Argumentation hatte schon der berühmte libertin Saint-Evremond (1610–1703) vertreten: »Il faut convenir que la Poetique d’Aristote est un excellent Ouvrage: cependant il n’y a rien d’assez parfait pour régler toutes les Nations & tous les Siécles. Des­ cartes & Gassendi ont découvert des vérités qu’Aristote ne connoissoit pas. Corneille a trouvé des beautés pour le Théatre qui ne lui étoient pas connuës: nos Philosophes ont remarqué des Erreurs dans sa Physique: nos Poetes ont vû des Défauts dans sa Poetique pour le moins à nôtre égard; toutes choses étant aussi changées qu’elles le sont.« Saint-Evremond, De la tra­ gédie, S. 126. Siehe auch: ders., Sur les Poëmes, S. 336. 95 Vgl. Jauß, Fortschrittsidee, S. 58; Cloeren, Kulturzyklus, Kulturzyklentheorie. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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La belle Antiquité fut toujours venerable, Mais je ne crus jamais qu’elle fust adorable. Je voy les Anciens, sans plier les genoux, Ils sont grands, il est vray, mais hommes comme nous Et l’on peut comparer sans craindre d’estre injuste, Le Siecle de Louis au beau Siècle d’Auguste.96

Später wurde dieses Geschichtsbild zur Theorie der vier universalhistorischen Zeitalter – die Zeitalter Alexanders, Augustus’, der Medici und Ludwigs XIV. – erweitert, wie sie unter anderem durch Voltaire verbreitet wurde.97 Das Postulat mehrerer inkommensurabler, aber ranggleicher Zyklen war kontrovers, nicht nur im Lichte der Antikenverehrung, sondern auch in dem der christlichen Heilsgeschichte. Das Umdenken auf die neuen Zeitmodelle fiel den Teilnehmern der querelle offensichtlich nicht leicht. Es wurde versucht, zyklische und lineare Zeitvorstellungen miteinander zu verknüpfen, was zu unterschiedlichen impliziten und expliziten Aporien führte. Die Unsicherheit, welche die Ankündigung der neuen Zeit mit sich brachte, zeigte sich in den manchmal etwas verworrenen Argumentationen, welche die Auseinandersetzung an beiden Seiten auszeichnete. Vor allem aber kam sie in den vielfachen Versuchen zum Ausdruck, die überlieferten Zeitvorstellungen auf der metaphorischen Ebene neu zu denken. Als Paradebeispiel für diese Arbeit an der Metapher kann die »Digression sur les Anciens & les Modernes« (1688) vom Sekretär der Akademie, Bernard Le Bovier de Fontenelle (1657–1757) gelten, die von Schlobach als der definitive »Durchbruch zu einem neuen Geschichtsmodell« gewürdigt wird.98 Am Anfang seines Textes setzte sich Fontenelle ausdrücklich mit der vormodernen Vor­stellung des alternden Kosmos auseinander: Toute la question de la préëminence entre les Anciens & les Modernes estant une fois bien entenduë, se reduit à sçavoir si les Arbres qui estoient autrefois dans nos Campagnes estoient plus grands que ceux d’aujourd’huy.99

Waren Bäume in der Antike, wie es tatsächlich manchmal behauptet worden war, höher als heute?100 Nur wenn das zutreffe, sei auch die parallele These, die 96 Perrault, Le Siecle, S. 1. Siehe auch: Saint-Evremond, Sur les Poëmes, S. 336. 97 Voltaire, Le siècle de Louis XIV, Bd. 1, S. 1–5. 98 Schlobach, Zyklentheorie und Epochenmetaphorik, S. 301. Siehe auch: Ebd., S. ­291–304. 99 Fontenelle, Digression, S. 127. Siehe auch: Gellert, Ursachen des Vorzugs, S. 86–87. 100 Was heute eine merkwürdige Vorstellung scheint, wurde noch zur Mitte des Jahr­ hunderts als ernstzunehmende physikalische Theorie erwogen. Als Kant die Frage in einer frühen Schrift noch einmal aufnahm, unterschied er die naturwissenschaftliche Theorie der Entropie aber streng von den mit ihm verknüpften vulgären Dekadenzvorstellungen: »Wenn wir die Klagen bejahrter Leute hören, so vernehmen wir, die Natur altere merklich, und man © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Alten hätten die Standards der Künste und Wissenschaften ein für allemal festgesetzt, wahrscheinlich. Die Erkenntnisse der modernen Physik lehrten aber anderes: die Natur sei damals keineswegs jünger oder lebenskräftiger gewesen: »La Nature a entre les mains une certaine pâte qui est toûjours la même.«101 Es ist lohnend, sich etwas ausführlicher mit der metaphorischen Struktur der Argumentation Fontenelles auseinanderzusetzen. Zunächst baute er auf eine Parallele zwischen Natur und Menschen auf: Beide blieben seiner Ansicht nach unveränderlich, so dass die Möglichkeiten, die es einmal gegeben hatte, weiterhin da seien: »Les Siecles ne mettent aucune difference naturelle entre les hommes«.102 Schon auf der nächsten Seite wurde diese Parallele aber wieder aufgehoben. Auf die Enthistorisierung der Natur (auch der mensch­lichen) auf der metaphysischen Ebene folgte die Rehistorisierung der Menschheit auf der kognitiven Ebene: Selbst wenn der einzelne Mensch immer und überall mit denselben geistigen und künstlerischen Fähigkeiten ausgestattet sei, so lautete das Argument, so muss er doch nicht in jedem Moment von vorne anfangen. Nicht nur der Einzelne, auch die Menschheit als Ganzes lerne ständig dazu. Während die »égalité naturelle« der Menschen das Argument für die prinzipielle Gleichstellung der Alten mit den Modernen lieferte, bot die kumulative Erfahrung der Menschheit  – die »facilité qu’ont les Esprits à se ­former les uns sur les autres«  – eine Erklärung, warum diese progressiv über jene hinausgehen.103 So mündete die Delegitimation des Lebensaltergleichnisses im Bereich der Natur (sie altert nicht) in seine Wiedereinführung auf der Ebene der Menschheit (sie ist lernfähig). Die Geschichte der Menschheit im Ganzen konnte unter dem Aspekt der Erfahrungsansammlung nach dem Modell des Einzelmenkönne die Schritte verspüren, die sie zu ihrem Verfalle thue. Die Witterungen, sagen sie, wollen nicht mehr so gut wie vormals einschlagen. Die Kräfte der Natur sind erschöpft, ihre Schönheit und Richtigkeit nimmt ab. Die Menschen werden weder so stark noch so alt mehr als vormals. Diese Abnahme, heisst es, ist nicht allein bei der natürlichen Verfassung der Erde zu bemerken, sie erstreckt sich auch bis auf die sittliche Beschaffenheit. Die alten Tugenden sind erloschen, an deren Statt finden sich neue Laster. Falschheit und Betrug haben die Stelle der alten Redlichkeit eingenommen. Dieser Wahn, welcher nicht verdient widerlegt zu werden, ist nicht sowohl eine Folge des Irrthums als der Eigenliebe. Die ehrlichen Greise, welche so eitel sind, sich zu überreden, der Himmel habe die Sorgfalt für sie gehabt, sie in den blühendsten Zeiten an das Licht zu stellen, können sich nicht überreden, dass es nach ihrem Tode noch eben so gut in der Welt hergehen solle, als es zuging, ehe sie geboren waren. Sie möchten sich gerne einbilden, die Natur veralte zugleich mit ihnen, damit es sie nicht reuen dürfte, eine Welt zu verlassen, die schon selber ihrem Untergange nahe ist.« Kant, Die Frage: Ob die Erde veralte?, S. 16–17. Vgl. Demandt, Zum Dekadenzproblem, S. 107. 101 Fontenelle, Digression, S. 127–128. Schon 1683 hatte er sich in seinen Totengesprächen entschieden gegen die Vorurteile zugunsten der Antike gerichtet. ders., Nouveaux dialogues des morts. 102 Ders., Digression, S. 130. 103 Ebd., S. 129, 131. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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schen geschrieben werden, der von seiner Kindheit zum Erwachsenen heranwächst.104 »Il est maintenant dans l’âge de virilité, où il raisonne avec plus de force, & a plus de lumieres que jamais«, meinte Fontenelle zuversichtlich.105 Wie sich aber bald zeigte, stieß auch diese neue Parallele – der Menschheit mit dem Einzelmenschen  – bald an ihre Grenzen. Das Gleichnis musste noch im selben Text mehrmals qualifiziert und modifiziert werden, um die Ent­sprechung zwischen der Bildebene und der Wirklichkeit aufrechtzuerhalten. Das Besondere an Fontenelles Text ist, dass er diesen argumentativen Schwierigkeiten nicht aus dem Weg ging, sondern sie  – auch wo er sie nicht unbedingt überwand oder aufhob – explizit benannte. Eine erste Schwachstelle des Gleichnisses war das Mittel­a lter. Die fortschrittliche Logik der Erfahrungsansammlung schloss einen Rückfall vielleicht nicht prinzipiell aus, ließ sie aber zumindest als erklärungsbedürftig erscheinen. Und doch hatte es einen solchen Niedergang offenbar gegeben. Diese Problematik erforderte eine rhetorische Lösung, die Fontenelle bot, indem er die regressive Zwischenzeit im Sinne des Gleichnisses als vorübergehende Krankheit und episodische Vergesslichkeit deutete.106 Nach ihrer Genesung vom ›Kampfrausch‹ habe die Menschheit den Faden wieder aufgenommen, wo sie ihn liegen gelassen hatte. 104 »La comparaison que nous venons de faire des hommes de tous les siecles à un seul homme, peut s’étendre sur toute nostre question des Anciens & des Modernes. Un bon ­esprit cultivé, est, pour ainsi dire, composé de tous les esprits des siecles precedens, ce n’est qu’un même esprit qui s’est cultivé pendant tout ce temps. Ainsi cet homme qui a vêcu depuis le commencement du monde jusqu’à present, a eu son enfance, où il ne s’est occupé que des besoins les plus pressans de la vie, sa jeunesse où il a assez bien réüssie aux choses d’imagination, telles que la Poësie & l’Eloquence, & où même il a commencé à raisonner, mais avec moins de solidité que de feu.« Ebd., S. 142. Siehe auch: Herder, Briefe, Bd. 2, S. 9–10. 105 Bei all seiner Zuversicht war Fontenelle aber keineswegs blind für alternative Tendenzen, die in der Vergangenheit die Verbreitung des Lichts verhindert hätten und auch in der Gegenwart immer noch eine Gefahr für ihn darstellten: »[I]l seroit bien plus avancé si la passion de la guerre ne l’avoit occupé long-temps, & ne luy avoit donné du mépris pour les Sciences, ausquelles il est enfin revenu.« Fontenelle, Digression, S. 142–143. 106 »Si un homme qui auroit de bons commencemens des Sciences, des belles Lettres, venoit à avoir une maladie qui les luy fist oublier, seroit-ce à dire qu’il en fust devenu incapable? Non, il pourroit les reprendre quand il voudroit, en recommençant dés les premiers Elemens.« Ebd., S. 141–142. Eine alternative metaphorische Lösung fand Anne Robert Jacques Turgot (1727–1781), der den Fortschritt mit einem Fluß verglich, der auch wenn sie unsichtbar ist, unterirdisch weiterströmt: »Il ne faut pas croire que dans les tems d’affoiblissement et de décadence, ni même dans ceux de barbarie et d’obscurité qui succèdent quelquefois aux siècles les plus brillans, l’esprit humain ne fasse aucun progrès. Les arts mécaniques, le commerce, les usages de la vie civile font naître une foule de réflexions qui se répandent parmi les hommes, qui se mêlent à l’éducation, et dont la masse grossit toujours en passant de génération en génération. Ils préparent lentement, mais utilement et avec certitude, des tems plus heureux: semblables à ces rivières qui se cachent sous terre pendant une partie de leur cours, mais qui reparoissent plus loin grossies d’une grande quantité d’eaux qui se sont filtrées de toutes les parties du sol que le courant déterminé par la pente naturelle  a traversé sans se montrer.« Turgot, Ébauche, S. 323. Zit. in: Gembicki und Reichardt, Progrès, S. 123. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Diese Schwachstelle ließ sich auf metaphorischer Ebene noch einigermaßen zurechtbiegen. Gravierender war, dass die zyklische Bildlogik des Lebensaltervergleichs sich mit der Additionslogik der Wissenschaften nur bedingt in Einklang bringen ließ: Il est fâcheux de ne pouvoir pas pousser jusqu’au bout une comparaison qui est en si beau train, mais je suis obligé d’avoüer que cet homme-là n’aura point de vieillesse; il sera toûjours également capable des choses ausquelles sa jeunesse estoit propre, & il le sera toûjours de plus en plus de celles qui convienent à l’âge de virilité; c’est à dire, pour quitter l’allegorie, que les hommes ne dégenereront jamais, & que les veuës saines de tous les bons esprits qui se succederont, s’ajoûteront toûjours les unes aux autres.107

Schritt die Menschheit wirklich wie ein Individuum fort, so müssten logischerweise irgendwann auch Alter und Verfall eintreten.108 Diese Folgerung war aber inakzeptabel und so sah sich Fontenelle gezwungen, sich von seinem geliebten Bild zu verabschieden. Aber noch indem er seine ›Allegorie‹ aufgab, führte er sie de facto noch weiter – man möchte fast sagen: ad absurdum.109 Obwohl das Lebensaltergleichnis dem neuen Erfahrungskontext vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Fortschritte nicht gerecht wurde, blieb ihre über Jahrhunderte hinweg angesammelte Überzeugungskraft noch lange erhalten. So kann von einer Überwindung des Lebensaltergleichnisses durch das Fortschrittsdenken im 18. Jahrhundert – wie sie unter dem Titel einer »Denaturalisierung« der Zeiterfahrung behauptet worden ist – nicht eigentlich die Rede sein. Nicht nur tauchte sie in unterschiedlichen Kontexten immer wieder auf, auch zur Begründung fortschrittlicher Positionen wurde sie wiederholt herangezogen.110 Durch die Popularisierung des Bildes einer durch Erfahrungsansammlung fortschreitenden Menschheit gewann sie im Kontext der empiristischen 107 Fontenelle, Digression, S. 143. 108 In einer Fußnote zu seiner 1751 erschienenen Übersetzung nahm Johann Christoph Gottsched (1700–1766) dies zum Ausgangpunkt einer Kritik an Fontenelle: »Wer weis aber, ob die Welt nicht wieder einmal ganz barbarisch werden, oder daß ich gleichnißweise rede, in die Kindheit verfallen wird. Da solches in Europa fast tausend Jahre lang geschehen ist: so macht es mich furchtsam, es könne wohl wieder einmal geschehen, und vielleicht noch länger dauren.« Fontenelle, Abhandlung, S. 583, Anm. q. In Auszügen zit. in: Koselleck und Meier, Fortschritt, S. 373. Einen ähnlichen Schluss zog der Physiker und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), als er schrieb: »Mit dem Fortschreiten der Menschheit zu größerer Vollkommenheit sieht es traurig aus, wenn man die Analogie alles dessen, was lebt, zu Rate zieht.« Zit. ebd., S. 389. 109 Stockhorst hat ein ähnliches Vermeidungsverhalten bei Adelung (1732–1806) fest­ gestellt. Adelung, Geschichte der Cultur. Vgl. Stockhorst, Geschichte(n), S. 6. 110 Solche Verwendungen sind also nicht als »Rückfall in die naive Metaphorik« zu verstehen: Koselleck und Meier, Fortschritt, S. 372–375. Vgl. Demandt, Metaphern für Geschichte, S. 55–72; Rohbeck, Fortschrittstheorie, S. 34–39. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Epistemologie sogar noch an Verbreitung. Das ganze 18. Jahrhundert hindurch wurde die Menschheitsgeschichte als deren fortschreitende Bildung, Aufklärung, Kultivierung und Erziehung geschrieben.111 Mit dem Gleichnis behielten aber auch seine inneren Grenzen, wie sie von Fontenelle problematisiert worden waren, ihre Aktualität. Eine letzte Problematik des Bildes der Erfahrungsansammlung lag in der Tatsache, dass offensichtlich nicht alle Bereiche des menschlichen Lebens sich in gleicher Weise auf Erfahrung stützen. Schon im Rahmen der querelle, in der eine ästhetische Frage im Mittelpunkt stand, wurde alsbald deutlich, dass die Kategorie der Erfahrung in diesem Kontext nur eine eher beschränkte Rolle spielte. Der feste Ausdruck arts et sciences, der die Auseinandersetzung zu dieser Zeit noch prägte, verdeckte einen wesentlichen Unterschied zwischen Wissenschaften und mechanischen Künsten auf der einen und den schönen Künsten auf der anderen Seite. So musste Fontenelle sein Argument für die erfahrungsgestützte Überlegenheit der Modernen noch einmal qualifizieren. Während sich, so schrieb er, die Entwicklung von Physik, Medizin und Mathematik tatsächlich auf der Basis der Wissenszunahme – »cet amas qui croit incessament, de veuës qu’il faut suivre, de regles qu’il faut pratiquer« – entfaltet, gilt Gleiches nicht für ­Poesie und Eloquenz. Diese zeichnen sich vielmehr dadurch aus, dass sie »ne d ­ emandent qu’un certain nombre de veuës assez borné«. Die Einbildungskraft brauche weder einen breiten Erfahrungsschatz noch werde sie durch die mühsam er­ arbeitete »justesse de raisonnement« wesentlich erweitert.112 Während Fontenelle die moderne Perfektionierung der »maniere de raisonner« vor dem Hintergrund der Ausbreitung der rationalen Philosophie und empirischen Wissenschaften für ausreichend belegt ansah, beschränkte er sich in Bezug auf die schönen Künste auf die schwächere These, das Niveau der Alten sei auch für die Modernen erreichbar.113 Was bei ihm kaum mehr als eine kleine Qualifikation seines Fortschrittsglaubens war, sollte in der weiteren Debatte große Folgen haben. Die Trennung des Fortschritts nach unterschiedlichen Bereichen war eine rhetorische Schwachstelle, die von Skeptikern eifrig ausgebeutet wurde. Für Fontenelle hatte sie eine bloß formale Ungleichzeitigkeit beinhaltet: nicht mehr als die Feststellung, dass die Fortschritte der Erfahrung auf unterschiedlichen Gebieten unterschiedliche Auswirkungen hatten. Mögliche 111 Beispielsweise: Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts. 112 Fontenelle, Digression, S. 134–136, 143. Denselben Gegensatz hatte schon Perrault thematisiert: Perrault, Parallèle, Bd. 1, ›Preface‹, [o. S.]. Vgl. Gembicki und Reichardt, Progrès, S. 108–116; Schlobach, Aufklärung und Kultur. 113 Fontenelle, Digression, S. 135. Etwa fünfzig Jahre später übernahm Turgot Fontenelles Ansichten noch einmal: »Le temps fait sans cesse éclore de nouvelles découvertes dans les sciences; mais la poësie, la peinture, la musique, ont un point fixe, que le génie des langues, l’imitation de la nature, la sensibilité limitée de nos organes déterminent«. Turgot, Second Discours, S. 76. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Kosten, die mit Erfahrungserweiterung einhergingen, waren dabei noch nicht mitgedacht: Was einmal möglich war, blieb es weiterhin; was durch Erfahrung hinzukam, sammelte sich langsam an. Spätere Autoren zogen aber zusätzlich die Möglichkeit in Erwägung, dass Entwicklungen auf dem einen Gebiet die­ jenigen auf einem anderen beeinträchtigen oder gar umkehren konnten.

Das gespaltene Ganze der Kulturkritik Die trennende und vergleichende Betrachtung unterschiedlicher Kultur­bereiche würde die Debatte um die Wertung der Kulturentwicklung im Ganzen maßgeblich prägen.114 Fortschrittsgläubige und Verfallsprediger setzten eine Bilanzrechnung voraus, in der sektorial gebundene Fort- und Rückschritte gegeneinander verrechnet wurden. Während die einen für die Parallelentwicklung unterschiedlicher Kulturbereiche argumentierten oder die Fortschritte in einem Bereich als grundlegend für die Entwicklung aller darstellten, räumten die anderen vereinzelte Fortschritte ein, gewichteten jedoch die aus ihnen hervor­ gehenden Negativentwicklungen auf anderen Feldern stärker. Die Frage, ob sich die Menschheit oder eine Kultur im Ganzen zum Besseren oder Schlechteren entwickele, wurde somit vor dem Hintergrund offensichtlicher Partikularfortschritte verhandelt. Daraus folgte einerseits, dass sich die unterschiedlichen Positionen im Kontext eines Deutungsrahmens gestalteten, in dem geschichtliche Entwicklung – zumindest in vereinzelten Bereichen – vorausgesetzt wurde. Andererseits bezogen sich die Positionen auf eine phänomenale Ebene, die als Ganzes gleichzeitig den Charakter eines Aggregats innehatte. Dekadenz und Fortschritt, auf die eigene Kultur im Ganzen bezogen, zielten auf ein Optimum, dessen Identität sich als Fazit einer komplexen Vielfalt individueller Partikularentwicklungen gestaltete. In der begriffsgeschichtlichen Forschung ist dieser Vorgang, dem Sprachgebrauch Kosellecks folgend, vielfach als die Bildung verschiedener ›Kollektivsingulare‹ beschrieben worden: Ausdrücke, »wie sie gegen Ende des 18.  Jahrhunderts rasant zunahmen, um die immer komplexer werdende Erfahrung auf einem höheren Abstraktionsniveau zusammenzufassen«.115 Drei Merkmale unterscheiden laut Koselleck Begriffe wie Geschichte, Fortschritt, Kultur, Dekadenz und andere als Kollektivsingular von ihren weiteren, meist schon früher ausgebildeten Verwendungsweisen. Erstens erfährt ihr Subjekt eine Universa 114 Vgl. Koselleck und Meier, Fortschritt, S. 390–403. 115 »Sprachgeschichtlich handelt es sich um einen Vorgang, dem im Politischen die Französische Revolution und im Wirtschaftlichen der Welthandel und die industrielle Revolution auf eine Weise entsprechen, die noch zu untersuchen ist.« Koselleck, »Fortschritt« und »Niedergang«, S. 224. Siehe auch: ders., Einleitung, S. xvii. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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lisierung. So werden beispielsweise nicht länger nur einzelne Phänomene oder Bereiche als fortschrittlich oder dekadent beschrieben, sondern stattdessen ein abstrakter »Agens von höchster Allgemeinheit« wie die Menschheit. Zweitens wird ein Begriff zum Kollektivsingular, wenn er an der Subjektstelle des Satzes auftaucht und so »in die Funktion des Handlungsträgers« einrückt. Schließlich ist entscheidend, dass der Begriff sich verselbständigt, so dass er ohne Genitivattribut auftreten kann. Der Fortschritt, die Kultur, die Geschichte und auch der Verfall müssen nicht weiter qualifiziert werden, um verständlich zu sein. Sie nehmen selbst die Rolle einer geschichtlichen Macht an, auf die diskursiv Bezug genommen werden kann.116 Wie Sawilla gezeigt hat, ist es wenig fruchtbar, die Entwicklung kultur­ geschichtlicher Begriffe im 18.  Jahrhundert pauschal als ›Singularisierungs­ geschichte‹ zu schreiben, als ob die Verwendung als Kollektivsingular alle übrige Verwendungsweisen allmählich verdrängt hätte. Die Entstehung der kulturgeschichtlichen Kollektivsingulare stellte eher eine Erweiterung des Sagbarkeitsraums als seine Einengung dar.117 Für das Gegensatzpaar Fortschritt und Dekadenz folgt daraus, dass im Laufe des 18. Jahrhunderts neben der Vielfalt der Partikularentwicklungen zunehmend auch die Entwicklung eines Ganzen – ob als Menschheit, Zeitalter, Geschichte Kultur, Zivilisation oder Nation konzipiert – zur Diskussion stand. Kulturkritik ist ein Modus dieser Redeweise. Ihre Diagnostik setzt die semantische Überbrückung der Kluft zwischen partikularen Ereignissen und Entwicklungen einerseits und dem generalisierten Verfall andererseits voraus. Generelle Aussagen über den Verfall der Kultur bildeten somit von Anfang an ein Kernstück der Kulturkritik. Sie bezog sich auf ein Ganzes, das als eigenständige, allen Partikularphänomenen vorgeordnete, geschichtliche Macht artikuliert wurde. Dennoch ist darüber auch die Rolle der Diagnose und Interpretation partikularer Ereignisse und Entwicklungen nicht zu vernachlässigen. Erstens blieb der semantische Generalisierungsschritt immer anfechtbar. Wie unten exemplarisch zu zeigen sein wird, waren die genannten Kollektivsingulare von Anfang an heftiger Kritik an ihrem metaphysischen Status und kogni 116 Koselleck und Meier, Fortschritt, S.  388–389; Koselleck, »Fortschritt« und »Niedergang«, S. 224–225. 117 Im Allgemeinen kann hinzugefügt werden, dass Bedeutungsmöglichkeiten, wenn sie einmal gegeben sind, äußerst zäh sind. Das völlige Verschwinden einer etablierten Möglichkeit etwas zu sagen – oder gar: zu denken – ist ein höchst seltenes Phänomen, das nur über sehr lange Zeiträume hinweg festgestellt werden kann. Zumeist bleiben sie unter bestimmten Sprechergruppen, welche aus irgendeinem Grund eine größere Resistenz gegen semantische Erneuerung haben als andere, erhalten. Darüber hinaus gibt es gesellschaftliche Sektoren, welche sich ausdrücklich der Überlieferung vergangener Bedeutungen widmen. Zu diesen gehört auch die historische Semantik selbst, deren Aufgabe darin besteht, die Semantiken vergangener Zeiten lebendig zu halten und verschüttete Bedeutungsmöglichkeiten wieder frei zu legen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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tiven Wert ausgesetzt. Aber auch – und das ist an dieser Stelle von Bedeutung –, weil Ganzheit im kulturkritischen Diskurs an unterschiedlichen Stellen auf unterschiedlicher Weise zur Sprache gebracht wurde. Die Generalisierungsstrategie, welche die Kollektivsingulare ermöglichte, stellte eine fundamentale semantische Struktur des Diskurses dar. Aber es gab noch eine zweite, welche diesem in gewisser Weise entgegengesetzt war. Dem holistischen Bezug auf die Ganzheit als eine die Einzelphänomene übersteigende Ebene stand eine ebenso wichtige Gruppe von Semantiken zur Seite, in denen sie ausdrücklich als summierende Totalität begriffen und auf die Rückbindung an die ihr zugrunde liegende Vielfalt bestanden wurde. So oft auch von dem Fortschritt der Kultur und ihrem Verfall die Rede war, so stellte sich die Frage der Kulturkritik, wenn sie argumentativ erörtert wurde, ebenso sehr in der Form einer differenzierten Bewertung individueller positiver und negativer Entwicklungen: wie sie gegeneinander zu gewichten waren; welchen Einfluss sie aufeinander hatten; wie ihre Entwicklungsgeschwindigkeiten sich zueinander verhielten. Somit war Kulturkritik nicht nur die Sprache des Verfalls, sondern auch die der Bestandsaufnahme einer Pluralität von Verfalls- und Fortschrittsentwicklungen.118 Erst aufgrund der Einsicht in diese Gespaltenheit des Diskurses wird ein hinlängliches Verständnis vom Verhältnis zwischen den Begriffen Fortschritt und Verfall möglich. Henry Vyverbergs Historical Pessimism in the French Enlightenment (1958) war eins der ersten Werke, in denen das Klischee vom wirklichkeitsfremden Optimismus der Aufklärung differenziert wurde. Obgleich der Fortschrittsglaube im 18. und 19. Jahrhundert tatsächlich den »wave of the future« dargestellt habe, so schrieb er, habe es gleichzeitig einen pessimistischen »undercurrent of thought« gegeben, »of  a depth and force seldom appreciated«.119 Das Buch baute auf der paradoxen Beobachtung auf, dass es im ›Zeitalter des Fortschrittsglaubens‹ auch Verfallsdiagnosen gegeben hatte. Das Bild zweier in gegensätzlicher Richtung fließender Strömungen, ein stärkerer an der Oberfläche und ein schwächerer Unterstrom, deutet an, wie sehr Vyverberg den Gegensatz rhetorisch als Entweder / Oder aufbaute: Fortschritt und Verfall erschienen als einander ausschließende Kategorien. 118 Wie es der Bonner Romanist Paul Geyer ausgedruckt hat: »Eigentlich beginnt sich ja schon mit Rousseau die Einsicht abzuzeichnen, daß der Begriff der Kulturen zum unsynthetisierbaren plurale tantum wird. Dieser Einsicht stellt sich in letzter Konsequenz aber erst die Postmoderne. Die Moderne zwischen der Romantik und der Mitte des 20. Jahrhunderts sucht, wenn auch mit schlechtem Gewissen, diese Einsicht durch die Aufrichtung der Kollektivsingulare ›Geschichte‹ und ›Kultur‹ zu verdrängen.« Geyer, Kritische Kulturtheorie, S. ­12–16. 119 Vyverberg, Historical Pessimism, S. 6. »Historical pessimism was by no means an obscure and irrelevant reaction against the ideals of the Enlightenment; it was firmly rooted in the thought of the age.« Ebd., S. 231. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Aus der Perspektive der historischen Semantik aber, der es um konkrete Begriffsverwendungen in historischen Kommunikationszusammenhängen geht, stößt eine solche Herangehensweise bald an ihre Grenzen. Nicht nur weil die spiegelbildliche Symmetrie des Kategorienpaars ein zu unscharfes Analyse­ instrument ist, um den komplexen argumentativen Positionierungen gerecht zu werden. Sondern vor allem, da Fortschritt und Verfall in der semantischen Praxis des Untersuchungszeitraums nur selten als einander ausschließende Gegenbegriffe verwendet wurden.120 Auf der Ebene der Kollektivsingulare erschienen diese Begriffe oftmals tatsächlich als strenger Gegensatz, aber solche Kategorial­ aussagen (›die Kultur ist im Verfall / Fortschritt begriffen‹) bildeten nur eine Seite des kulturgeschichtlichen Diskurses. Auf der Ebene konkreter Argumentation schlossen die Begriffe einander keineswegs aus. Hier wurden sie im Hinblick auf ihre Pluralität und Ungleichzeitigkeit in unterschiedlicher Weise aufeinander bezogen, so dass sie nicht selten in einem Implikations- (Fortschritt führt zu Verfall), manchmal gar in einem Identifikationsverhältnis (Fortschritt ist Verfall) auftraten. Schon in der querelle kam diese innere Spannung zwischen der holistischen und der summierenden Art, Ganzheit zur Sprache zu bringen, zum Tragen. Während einerseits die Frage gestellt wurde, wie die eigene Zeit sich im Ganzen zum augusteischen Zeitalter verhielt, wurde andererseits stets die prinzipielle Ungleichzeitigkeit unterschiedlicher Kulturbereiche mitreflektiert. Der Kontrast, der in diesem Zusammenhang zunächst im Mittelpunkt stand, war der zwischen Wissenschaften und schönen Künsten. Die Debatte bildete eine wichtige Etappe in der Auflösung der Einheit der arts et sciences und der Aus­ differenzierung der Kunst als eigenständiger Kulturbereich.121 Das ganze 18. Jahrhundert hindurch sollte die Diskussion um das Verhältnis zwischen antiker und moderner Kunstproduktion mit der grundsätzlichen Frage nach der Möglichkeit des Fortschritts im Bereich der Kunst verknüpft werden. Vor dem Hintergrund des unverkennbaren Siegeszugs der Wissenschaften und der Technik konnte die Frage nicht ausbleiben, ob auch die Kunst zu einem solchen Fortschreiten im Stande sei. Dafür war aber eine Neubesinnung auf ihr eigenes Wesen und die ihr zugrunde liegenden geistigen Fakultäten notwendig. Erst als die Kunst sich allmählich vom Imitationsmodell löste, konnte sie als progressiv gedacht werden.122 So lange sie aber vom Leitbegriff

120 Vgl. zur Geschichte des Dekadenzbegriffs: Swart, The Sense of Decadence, S.  1–46; Starn, Historical Decline; P. Burke, Tradition and Experience; Bauer, »Décadence«; Gilman, Reflections on Decadence; Widmer, Die unbequeme Realität, S. 17–44; Gembicki, ­Corruption, Décadence; W. Klein, Dekadent; Nolte, ›Dekadenz‹. 121 Vgl. Kristeller, Modern System of the Arts [I], S.  525–526; Klinger, Modern / Moderne / Modernismus, S. 125–129. 122 Vgl. Blumenberg, »Nachahmung der Natur«. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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der Perfektion her gedacht wurde, folgte auf jede Annäherung an diesen Höhepunkt logischerweise der Verfall. Die Position der anciens war von Anfang an darauf angelegt, die Geschichte der Kunst seit der vorbildhaften Antike als Serie von Annäherungsversuchen und Verfallsentwicklungen zu beschrieben. Eine neue Phase der querelle wurde entfacht, als Antoine Houdar de La Motte (1672–1731) im Jahr 1714 seine Übertragung von Homers Ilias ins Französische vorlegte. Diese war gegenüber dem Original nicht nur stark gekürzt, sondern der Übersetzer hatte  – mit modernem Selbstbewusstsein  – auch erhebliche stilistische ›Verbesserungen‹ vor­ genommen. Im der Übersetzung vorangestellten »Discours sur Homère« rechtfertigte er seine Arbeitsweise dadurch, dass er lediglich die Fehler Homers nach den neuesten Einsichten der Ästhetik berichtigt habe.123 Eine solche Äußerung stellte für die anciens eine regelrechte Herausforderung dar. Noch im selben Jahr reagierte die Philologin Anne Dacier (1654–1720) mit ihrem »Des causes de la corruption du goust«, in dem sie die Unantastbarkeit Homers verteidigte und die Nachahmung der Antiken als einzige Quelle des guten Geschmacks herausstellte.124 Von solchen Positionen aus gesehen erschien Fortschritt in den Künsten von vornherein ausgeschlossen. Der Akzent lag vielmehr auf unterschied­ lichen Erklärungen für den unvermeidlichen Rückgang des Geschmacks. Aber die Gruppe derer, die im Bereich der Künste am zyklischen Modell festhielten war viel weiter als nur die anciens. Sie umfasste alle, welche die Kunst in irgendeiner Weise auf eine erreichte oder noch zu erreichende Vollkommenheit hin definierten und ihre Geschichte auf einen Höhepunkt angelegt konzipierten. Jeder Bezug auf eine maßgebliche Kunstperiode oder einen idealen Künstler enthielt implizit die Annahme, seitdem sei der Verfall eingetreten. Solche Arten ›klassizistischer‹ Ästhetik waren weit verbreitet, gerade auch unter solchen Autoren, die heute zu den eminenten ›Fortschrittstheoretikern‹ ge­rechnet werden. So sah Voltaire keinen Widerspruch darin, gleichzeitig den Fortschritt der philosophie und den Rückfall der Kunst seit dem Grand Siècle zu proklamieren: »La lumière, il est vrai, commence à se répandre; / […] Mais le goût s’est perdu, l’esprit s’est égaré.«125 Unterschiedliche Gründe wurden für die vielbeklagte décadence du bon goût angeführt: die epigonische Entmutigung angesichts scheinbar unübertrefflicher Modelle; hemmende Effekte der literarischen Kritik und der Regelästhetik; Affektiertheit und falsche Brillanz; Luxus und Verweich­lichung; eine über das rechte Maß hinausgehende Erneuerungs 123 La Motte, Discours sur Homére. 124 Diese Phase der Auseinandersetzung ist in der Literaturgeschichte unter dem Namen querelle d’Homère bekannt. Dacier, Corruption du goust. 125 Voltaire, À Mademoiselle Clairon, S. 401–402. Siehe für weitere Stellen: Mortier, L’idée de décadence littéraire, S.  1026–1028; Gembicki, Corruption, Décandence, S.  31–35. Eine gegen­sätzliche Meinung wurde vertreten in: La Dixmerie, Les deux âges. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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sucht; oder – wie es Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (1717–1783) in seiner Einleitung zur Encyclo­pédie formulierte – »la manie du bel Esprit & […] l’abus de la Philosophie«.126 Im Bereich der Ästhetik waren solche Feststellungen eines Niedergangs künstlerischen Geschmacks weit verbreitet.127 Sie stellten über lange Strecken die dominante Position dar.128 Aber auch auf anderen Gebieten wurden immer wieder zyklische Zeitvorstellungen vertreten, in denen hinter jedem Aufstieg die Voraussicht eines kommenden Verfalls stand.129 Grundlage dieser Ansicht war vor allem die allen Fortschrittsoptimismus durchkreuzende Vorstellung eines unveränderlichen menschlichen Wesens.130 Besonders kontrovers war ihre Anwendung auf die Politik.131 Die vier ›universalen Zeitalter‹ waren, selbst wenn sie in erster Linie als kunstgeschichtliche Epochen verhandelt wurden, eponymisch nach ihren jeweiligen Herrschern benannt worden. In diesem Sinne trug das Vorbild des augusteischen Zeitalters stets die Frage nach dem darauf folgenden Untergang des Römischen Reichs in sich. Der wiederum diente als Folie für die Besinnung auf die eigene soziopolitische Situation. Als ­Montesquieu (1689–1755) in seinen »Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence« (1734) den Aufstieg und Niedergang der Römer skizzierte, stand dabei die Frage nach Frankreichs Aussichten nach dem Siècle de Louis le Grand im Hintergrund.132 Gerade in politischen Krisen bot der Hinweis auf den natürlichen Lebenszyklus politischer Systeme somit eine Er­ klärungsgrundlage für die Interpretation staatlichen Verfalls.133 Der dritte Bereich, der neben Kunst und Politik als Kontrastbereich zu den Fortschritten des Wissens diskutiert wurde, war der der Sitten und Moral. Im 126 D’Alembert, Discours préliminaire, S. xxxiv. Siehe auch: Saint-Mard, Reflexions; Gellert, Ursachen des Vorzugs; Herder, Ursachen des gesunkenen Geschmacks. 127 Hume beispielsweise vertrat die Ansicht, dass »when the arts and sciences come to ­perfection in any state, from that moment they naturally, or rather necessarily decline, and seldom or never revive in that nation, where they formerly flourished.« Hume, Rise and Progress, S. 225. Siehe auch: Priestley, Lectures, S. 381; anon., [Rezension zu:] Madoc, S. 2. Vgl. Scheffer, Idea of Decline, S. 155–178; Mortier, L’idée de décadence littéraire; W. Klein, Dekadent, S. 7–9. 128 Eine Ausnahme war: Kames, Sketches, Bd. 1, S. 106–167. 129 Vgl. Schlobach, Pessimisme. 130 Vgl. Wuthenow, Kulturgeschichte, S. 37. 131 Vgl. Gembicki, Corruption, Décadence, S. 15–21, 25–29. 132 Montesquieu, Considérations. In einer Privatnotiz schrieb er: »Presque toutes les nations du monde roulent dans ce cercle: d’abord, elles sont barbares; elles conquièrent, & elles deviennent des nations policées; cette police les agrandit, & elles deviennent des nations polies; la politesse les affoiblit, elles sont conquises & redeviennent barbares: témoin les Grecs & les Romains.« Zit. in: Schlobach, Pessimisme, S. 1979. Auch Gibbon beschäftigte sich in seinem magnum opus mit dieser Parallele, verneinte aber letztendlich, dass eine Wiederholung des Zusammenbruchs zu befürchten sei. Gibbon, Decline and Fall. 133 Siehe auch: Kapitel II. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Laufe des Jahrhunderts wurde die Frage, ob die Fortschritte im Bereich des Erkenntnisses auch eine Verbesserung der Sitten bewirkten, immer drängender. Vereinzelte Autoren vertraten die sokratische Lehre, dass die schlechten Taten der Menschen immer nur aus einer falschen Einschätzung ihrer wahren Interessen erfolgten.134 Auf dieser Grundlage meinte William Jackson (1730–1803) beispielsweise, die Verbreitung des Wissens habe die Gesellschaft auch moralisch verbessert. Er erläuterte seine These anhand des berühmten Bildes aus Ovids Metamorphosen, in dem nach dem ursprünglichen goldenen Zeitalter das silberne eingetreten sei, dann das eherne und schließlich, in der Gegenwart, das eiserne.135 Jackson drehte die Folgeordnung um und kam so zu der paradoxen – aber durchaus populären – These, das goldene Zeitalter müsse nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft gesucht werden.136 Der Autor, selbst Landschaftsmaler, Komponist und Organist in der Kathedrale in Exeter, konstatierte mit Zufriedenheit, dass sich mit den Wissenschaften auch der künstlerische Geschmack merklich verbessert habe.137 Und nicht nur das, auch auf moralischer Ebene sei die moderne Welt der alten weit voraus: To suppose, with the ancients, that a state of virtue and happiness could subsist in the early and ignorant ages of society, is contrary to all observation; but that the world may grow better as it grows wiser, may be inferred from the property of knowledge to purify the heart while it enriches the mind.138

Während sich der ›eiserne‹ Anfang der Geschichte durch Rohheit ausgezeichnet habe, sei in der ›ehernen‹ Zwischenzeit und der ›silbernen‹ Gegenwart eine stetige Verfeinerung festzustellen. Die goldene Zukunft, auf die die Menschheit

134 Ein früheres Beispiel findet sich in: anon., The Present Times. Parodiert wurde diese Ansicht in: [H. M.], Thursday. 135 Metamorphosen, I, 89–150. Das Bild war schon bei Hesiod aufgetaucht. Anfangend im späten 16., war die Ansicht, die Gegenwart sei ein eisernes Zeitalter, besonders im 17. Jahrhundert populär. Siehe beispielsweise: Parival, Abregé de l’histoire de ce Siècle de Fer. Vgl. dazu: Meumann, Endzeit zum Säkulum, S. 117–120. 136 »But, in direct contradiction to the opinion of the ancients, and perhaps of the ­moderns, I shall, in treating this subject, invert the order, and endeavour to prove, that the first was the Iron-Age, and the last, when it shall please Heaven to send it, will be that of Gold – no Golden-Age having yet existed, except in the imagination of poets.« Jackson, The Four Ages, S. 2–3. Siehe auch: Ebd., S. 94; Hemsterhuis, Alexis, S. 147–153; Bentham, Defence of Usury, S. 171; F. Schlegel, Fragmente, S. 66; Saint-Simon, Introduction, S. 15. 137 »By  a comparison of the works of art produced in  a barbarous age with those of ­enlightened times, it must appear that the former are defective in truth and elegance, and many other subordinate properties.« Jackson, The Four Ages, S. 65. Dagegen: Brandes, Ueber den Einfluß, Bd. 2, S. 210–216. 138 Jackson, The Four Ages, S. 83. Und: »When great knowledge and good principles are separated, it may be considered as contrary to the nature of things, and an exception to a rule founded on experience.« Ebd., S. 84. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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hinarbeite, stelle den höchsten Grad des wissenschaftlichen, sittlichen und moralischen refinement dar.139 Solche Jubeltöne blieben in der zeitgenössischen Öffentlichkeit aber nicht unwidersprochen. An dieser Stelle ist zwischen zwei Argumentationslinien zu unter­scheiden, die, selbst wenn sie zuweilen nebeneinander verwendet wurden, doch eine sehr unterschiedliche Perspektive auf die Fragestellung voraussetzten. Auf der einen Seite fanden sich Erörterungen, in denen das ungeschichtliche Wesen des Menschen mit seinen Erkenntnisfortschritten kontrastiert wurde. Diese setzten ein festes anthropologisches Maß voraus und konzipierten die Geschichte als zyklisches Auf und Ab innerhalb der festen Grenzen menschlicher Möglichkeiten. Gerade auch im Rahmen der Fragestellungen nach dem Höhepunkt der Kunst und der Stabilität politischer Systeme war diese Argumentationsrichtung verbreitet. Aber auch wo es um die Moral ging, kam sie zur Anwendung. So erklärte Carl Wilhelm Friedrich Breyer (1771–1818) in seiner Antrittsvorlesung als Geschichtsprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität zu Landshut, dass nur das, was »transplantabel« ist, in die Sphäre des »Fortschreitens« gehöre.140 Die Moral aber, als »Act freyer Spontaneität« nur dem zeitlosen Gewissen unterworfen, gehöre definitiv nicht dazu. Sie sei keiner Erfahrung fähig und könne nicht über die Generationen hinweg »vererbt« werden. »Eben darum aber, weil sie nicht transplantabel ist, ist sie auch keines unmittelbaren Fortschreitens in der Menschheit, mithin keiner eigentlichen Geschichte fähig.«141 Dennoch war Breyer sich darüber im Klaren, dass dies zu dieser Zeit nicht länger die einzige Art war, diese Frage zu behandeln. Dies zeigte sich darin, dass er seine Behauptung ausdrücklich von einem alternativen, weit verbreiteten Deutungsrahmen abgrenzte: »Widersinnisch ist es also, wenn der Historiker auch nur die Frage aufwerfen wollte, ist die Menschheit moralisch besser geworden?«142 Doch war gerade diese Frage in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts heiß diskutiert worden. Es gab eine lebendige Debatte um die Geschichte der Moral. Ihr bekanntester Ausdruck war wohl die 1750 ausgeschriebene Preisfrage der Dijoner Akademie: ob die Wiederherstellung der Künste und Wissenschaften dazu beigetragen habe, die Sitten zu verfeinern (épurer). Die preisgekrönte Antwort Rousseaus sollte den weiteren Verlauf der Debatte stark prägen, entstand aber selbst schon vor dem Hintergrund einer etablierten 139 Ebd., S. 94. 140 Breyer, Universalgeschichte, S. 31. 141 Ebd., S. 55–56. Im Übrigen hielt Breyer eine Universalgeschichte der Sitten für möglich und sinnvoll, wies aber darauf hin, dass diese sich lediglich auf die »Legalität und Decenz« menschlicher Handlungen, nicht auf ihre Moral beziehe. Ebd., S. 56. 142 Ebd. Breyers Analyse wurde stark von der kantschen Ethikauffassung, in der jeder Bezug auf den historischen Kontext als heteronome Beeinträchtigung des autonomen Willens erscheint, beeinflusst. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Problemstellung. Davon zeugte nicht nur die Formulierung der Preisfrage, sondern vor allem die Tatsache, dass die Akademie sich dazu entschloss, gerade ihm den Preis zuzuerkennen.143 Die Unterscheidung der beiden Argumentationslinien ist wichtig, weil sie eine entscheidende Weichenstellung in der Entstehungsgeschichte der Kulturkritik markiert. Auf der einen Seite stand eine Kritikform, welche den geschichtlichen Entwicklungen in einzelnen Lebensbereichen eine wesentliche Ungeschichtlichkeit in anderen gegenüberstellte.144 Auf der anderen stand eine, welche in ihrer Kritik am Fortschrittsparadigma selbst geschichtlich argumentierte. Sie bezog sich nicht, wie es im Rahmen der zyklischen Geschichtsvorstellungen die Regel war, auf ein un- oder übergeschichtliches Maß, sondern akzeptierte die Geschichtlichkeit des menschlichen Lebens, verknüpfte sie aber mit einer negativen Wertung. Etwas vereinfacht können in solcher geschichtlich orientierten Kritik an den zeitgenössischen Fortschrittsdiskursen drei zentrale Argumentationsmuster – in denen jeweils die Diversität unterschiedlicher Kulturbereiche zum Ausgangspunkt einer geschichtlichen Kritik am Gesamtzustand der Kultur gemacht wurde – unterschieden werden: die Verzögerungsthese, die Ungleichgewichtsthese und die These der negativen Folgen. Wie in den nächsten Kapiteln im Detail zu zeigen sein wird, handelt es sich dabei nicht um drei Schulen oder Phasen der Kulturkritik, sondern um ein Register mehrerer nebeneinander kursierender Argumentationsweisen und Semantiken, die in unterschiedlichen Zusammenhängen in jeweils unterschiedlichen Zusammensetzungen und Konstellationen Verwendung fanden. Das erste Argumentationsmuster beschränkte sich auf den Hinweis, dass der Fortschritt noch nicht in alle Lebensbereichen gleich weit durchgedrungen sei. An sich wurde so die prinzipielle Möglichkeit einer positiven Entwicklung offen gehalten, nur dass es angesichts des gegenwärtigen Zustandes der Menschheit zu früh für Lobeshymnen sei. Ein wichtiger Vertreter dieser These war Kant. Obgleich er die Geschichtlichkeit der Moral in seiner Ethik terminologisch ausgeschlossen hatte, machte er sie anderenorts vielfach zum Thema. In seinen Vorlesungen zur Pädagogik unterschied er demnach vier Stufen menschlicher Bildung. Zunächst müsse der Mensch disciplinirt werden, was eine bloße »Bezähmung seiner Wildheit« beinhalte. Der zweite Schritt zur menschlichen Bildung sei seine Cultur: die »Verschaffung der Geschicklichkeit«, welche zu allen möglichen Zwecken eingesetzt werden könne. Drittens sei die Civilisirung 143 Rousseau, Discours sur les Sciences & les Arts. Vgl. Gembicki, Corruption, Décadence, S. 41–44. 144 So meinte Goethe, die Entwicklung der Menschheit würde immer nur eine beschränkte Reichweite haben: »Klüger und einsichtiger wird sie werden, aber besser, glück­ licher und thatkräftiger nicht, oder doch nur auf Epochen.« Eckermann, Gespräche mit Goethe, Bd. 3, S. 180, Gespräch am 23. Oktober 1828. Zit. in: Van der Pot, Sinndeutung, S. 543. Siehe auch: Goethe, Farbenlehre, Bd. 2, S. vi. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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an der Reihe. Dazu seien »Manieren, Artigkeit, und eine gewisse Klugheit« erforderlich, welche den Menschen in gesellschaftlichen Kontexten in den Stand versetzen, andere für seine Zwecke zu gebrauchen. Zum Schluss komme die Moralisirung hinzu, welche darin bestehe, dass der Mensch aus den vielen mög­ lichen Zwecken nur noch die guten wähle.145 Dem Lebensaltergleichnis folgend wendete Kant die Bildungsphasen nicht nur auf den Einzelnen, sondern auch auf die Menschheit im Ganzen an: Erst auf der höchsten Stufe würde der Entwicklungsgang des Menschen auch die Moral mit einbeziehen. Seine Einschätzung des eigenen Zeitalters formulierte er im Rahmen dieser terminologischen Unterscheidungen: »Wir leben im Zeitpuncte der Disciplinirung, Cultur und Civilisirung, aber noch lange nicht in dem Zeitpuncte der Moralisierung.« Dementsprechend sei auch die alte Frage, »ob wir im rohen Zustande, da alle diese Cultur bei uns nicht statt fände, nicht glück­ licher, als in unserm jetzigen Zustande seyn würden?« noch nicht endgültig geklärt. »Denn wie kann man Menschen glücklich machen, wenn man sie nicht sittlich und weise macht?«146 Das zweite Muster lief auf die Feststellung hinaus, dass die Ungleichzeitigkeit verschiedener Bereiche eine Ungleichmäßigkeit in die menschliche Lebensform hineingebracht habe. Einer der kompromisslosesten und eloquentesten Lobredner des Fortschritts war zweifellos der Marquis de Condorcet (1743–1793). In seinem »Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain« (1793) – das er in einem Versteck auf der Flucht vor dem revolutionären Terror verfasste – beschrieb er die fortschreitende Vervollkommnung der Menschheit als unaufhaltbaren Prozess. In seiner Argumentation nahm die strenge Parallelisierung der Fortschritte unterschiedlicher kultureller Bereiche eine zentrale Stellung ein. Die moralische Güte des Menschen sei nicht nur prinzipiell »susceptible d’un perfectionnement indéfini«, ihr Fortschritt sei auch direkt an den anderer Bereiche gekoppelt: »la nature lie, par une chaîne indissoluble, la vérité, le bonheur et la vertu.«147 145 Kant, Über Pädagogik, S.  379–380. Vgl. M. Pflaum, Die Kultur-Zivilisations-Antithese, S. 301–304. Für ähnliche Unterscheidungen, siehe: Bowles, Political and Moral State; Ehrenberg, Veredlung des Menschen, Bd. 1, S. 1–130; Carus, Ideen, S. 58–61; Brandes, Über den Zeitgeist, S.  211–217; Pestalozzi, An die Unschuld, S.  5–6, 144–145; Coleridge, On the Constitution, S. 50. Vgl. Fisch, Zivilisation, Kultur, S. 724–730. 146 Kant, Über Pädagogik, S.  381. Einige Jahre vorher hatte er geschrieben: »Rousseau hatte so unrecht nicht, wenn er den Zustand der Wilden vorzog, so bald man nemlich diese letzte Stufe, die unserer Gattung noch zu ersteigen hat, wegläßt. Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft kultivirt. Wir sind civilisirt, bis zum Ueberlästigen, zu allerley gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber, uns für schon moralisirt zu halten, daran fehlt noch sehr viel.« Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, S. 149. Siehe auch: Tetens, Philosophische Versuche, Bd. 2, S. 767–790; Ch. M. Wieland, Geheimniß des Kosmopolitenordens [II], S. 132. 147 Condorcet, Esquisse, S. 358–359. Siehe auch: Ebd., S. 39–40. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Viele seiner Zeitgenossen dagegen waren der Ansicht, diese Kette sei im Laufe der Geschichte gerissen und das natürliche Gleichgewicht der Kräfte sei durch die Einseitigkeit der Fortschritte gefährdet. In seiner Rezension der »Esquisse« nannte Friedrich Schlegel (1772–1829) die »Ungleichheit der Fortschritte in den verschiedenen Bestandtheilen der gesamten menschlichen Bildung« gar das »eigentliche Problem der Geschichte«. Insbesondere dachte er dabei an die »große Divergenz in dem Grade der intellectuellen und der moralischen Bildung«.148 Die dritte und letzte Argumentationsfigur, welche gegen das Motiv des allseitigen Fortschritts ins Feld geführt wurde, bestand in der These, Fortschritte auf dem einen Gebiet hätten Rückschritte auf dem anderen zur Folge. ­Rousseau hatte in seiner ersten Preisschrift den Luxus, die »corruption du goût« und der »qualités guerrières«, allen voran aber die »corruption des mœurs de notre siécle« unmittelbar auf die Fortschritte der Künste und Wissenschaften zurückgeführt: »nos âmes se sont corrompues à mesure que nos sciences et nos arts se sont avancés à la perfection.«149 Im »Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes« (1755) bezog er dieselbe These stärker auf die historische Anthropologie. Die Philosophie sei, so kritisierte sie Rousseau, bisher immer davon ausgegangen, der Mensch sei immer und überall wesentlich derselbe: »la Philosophie ne voyage point«.150 Damit habe sie sich von vornherein die Sicht auf die Diversität menschlicher Lebensformen und ihrer geschichtlichen Genese verstellt: »Quand on veut étudier les hommes, il faut regarder près de soi; mais pour étudier l’homme il faut apprendre à porter sa vue au loin«.151 Rousseaus Anthropologie setzte bei der Perfektibilität an. Der Mensch zeichne sich dem Tier gegenüber durch seine »faculté de se perfectionner« aus: 148 F. Schlegel, [Rezension zu:] Esquisse, S.  168. Vgl. Koselleck und Meier, Fortschritt, S. 391–392. Siehe auch: Tetens, Philosophische Versuche, Bd. 2, S. 622–632; Vauvenargues, Discours, S.  265–266; Brandes, Über den Zeitgeist, S.  80–81; anon., [Rezension zu:] Ueber den Geist der Verbesserung, S. 872; [K.], Ueber die rückgängige Bewegung, S. 325–326; Southey, Sir Thomas More, Bd. 1, S. 206–207; Carlyle, Signs of the Times, S.  452. Siehe auch: Kapitel V. Dieselbe Argumentationsfigur konnte nicht nur gegen die Fortschritts-, sondern auch gegen die Verfallsthese gewendet werden, wie bei François-Augustin de Paradis de Moncrif ­(1687–1770), der dem Glauben an die Dekadenz des Zeitalters entgegenhielt, dass »ce qu’on appelle décadence à cet égard, ne regarde que quelques branches qui ont décru, à la vérité, mais dont le siécle est dédommagé par d’autres qui se sont étendues.« Moncrif, Essais, S. 110. 149 Rousseau, Discours sur les Sciences & les Arts, S. 13, 37, 43, 49, 60–61. Siehe auch: ders., Dernière réponse, S. 74–75. 150 Ders., Discours sur l’inégalité, S. 232. Sie richte sich gewöhnlich nach dem »bel adage de morale, si rebatu par la tourbe Philosophesque, que les hommes sont par tout les mêmes, qu’ayant par tout les mêmes passions & les mêmes vices, il est assés inutile de chercher à caractériser les différens Peuples; ce qui est à peu près aussi bien raisonné que si l’on d ­ isoit qu’on ne sairout distinguer Pierre d’avec Jacques, parce qu’ils ont tous deux un nés, une ­bouche & des yeux.« Ebd., S. 233. 151 Ders., L’origine des langues, S. 253. Siehe auch: Dunbar, Essays, S. 153. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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durch die Fähigkeit, immer neue Fähigkeiten zu entwickeln.152 Er sei also ein wesentlich geschichtliches Wesen.153 Diese augenscheinlich harmlose Behauptung lief, das war auch Rousseau bewusst, auf einen fundamentalen Perspektivwechsel hinaus. In der Argumentation früherer Moralisten war jede Entwicklung als Abfall von einem vorgegebenen Maß beschrieben worden. Aus Veränderungen in der Gestalt des Menschen konnte auf dieser Grundlage nur gefolgert werden, dass es überhaupt keine Menschen mehr gab: »la raison pourquoi Diogéne ne trouvoit point d’homme, c’est qu’il cherchoit parmi ses contemporains l’homme d’un tems qui n’étoit plus«.154 Rousseau dagegen machte die geschichtliche Entwicklung der Menschheit selbst  – das heißt dessen, was es überhaupt heißt, ein Mensch zu sein  – zum zentralen Gegenstand seiner Anthropologie. Darüber hinaus verstand er sie als Schlüssel zur modernen Gesellschaft. Erst aus dem genealogischen Verständnis der »lente succession des choses« in der Geschichte der Menschheit zwischen Naturzustand und Gegenwart könne, meinte er, eine sinnvolle Deutung ihres gegenwärtigen Zustandes hervorgehen.155 Ausgehend vom analytischen Gegensatz zwischen dem homme sauvage und dem homme en société analysierte er die Diskrepanz zwischen der ursprünglichen Güte des Menschen und seiner aktuellen Verkommenheit.156 Die Bedeutung der genannten geschichtlichen Argumentationsmuster für die Artikulation der Kulturkritik fiel hinter der der Kollektivsingulare keineswegs zurück. Indem diese eine holistische Perspektive heraufbeschworen, jene ihren Ausgangspunkt aber gerade in der wesentlichen Pluralität unterschiedlicher Kulturbereiche hatten, zeichnete sich im Diskurs eine fundamentale Bruchlinie ab. Die innere Spannung zwischen der einheitlichen Deutung des Kulturganzen und ihrer auf die vergleichende Interpretation unterschiedlicher Partikularphänomene aufbauenden argumentativen Untermauerung erforderte eine stetige rhetorische Überbrückungsleistung. Um solchen Effekten auf die Spur zu kommen soll jetzt die Problematik der kulturkritischen Kollektivsingulare an einem Beispiel nachgezeichnet werden.

152 Rousseau, Discours sur l’inégalité, S. 32–33. Siehe auch: Tetens, Philosophische Ver­ suche, Bd. 2, S. 368–378. 153 Zum Perfektibilitätsbegriff vgl. Koselleck und Meier, Fortschritt, S. 375–384; Rohbeck, Fortschrittstheorie, S. 61–64, 165–167. 154 Rousseau, Discours sur l’inégalité, S. 178. 155 Ebd. 156 »Les hommes sont méchans; une triste & continuelle experience dispense la preuve; cependant l’homme est naturellement bon, je crois l’avoir demontré; qu’est-ce donc qui peut l’avoir dépravé à ce point sinon les changemens survenus dans sa constitution, les progrès qu’il a faits, & les connoissances qu’il a acquises?« Ebd., S. 205. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Der Begriff Zeitgeist Einer Formulierung Georg Bollenbecks zufolge ist Kulturkritik »ein osmo­ tisches Denken mit Weltdeutungsanspruch, das vom Zeitgeist lebt, wenngleich es sich gegen die eigene Zeit wendet«.157 Der Satz bezieht sich auf das ver­ wickelte Verhältnis zwischen dem Diskurs der Kulturkritik und der Kultur, die sein Thema ist und aus der er hervorgeht. Gleichzeitig weist er auf einen Begriff hin, der für seine Artikulation seit seiner Entstehung von zentraler Bedeutung war.158 In Ausdrücken wie spirit of the age, esprit du siècle und Geist der Zeit wurde die kulturelle Lebensform in seiner historischen Wandelbarkeit auf den Begriff gebracht. Der Begriff spielte eine Schlüsselrolle bei der historisch-kulturellen Charakterisierung der eigenen ebenso wie fremder Epochen  – und bei ihrem wertenden Vergleich. Insofern war auch die Kulturkritik auf ihn angewiesen. Darüber hinaus ist er für die Geschichte dieses Diskurses auch deswegen bedeutsam, weil er das verwickelte Verhältnis zwischen Kultur und Kritik paradigmatisch zum Ausdruck bringt. Wie im kulturkritischen Diskurs im Ganzen zeichnet sich im Zeitgeistbegriff eine Spannung zwischen hohem Anspruch und defizitärer Legitimation ab, die ihn immer wieder zum Thema von Meta­ reflexionen werden ließ. Am Anfang einer Reihe von Zeitungsartikeln unter dem Titel »The Spirit of the Age« schrieb der junge John Stuart Mill (1806–1873) im Januar 1831: The ›spirit of the age‹ is in some measure a novel expression. I do not believe that it is to be met with in any work exceeding fifty years in antiquity. The idea of comparing one’s age with former ages, or with our notion of those which are yet to come, had occured to philosophers; but it never before was itself the dominant idea of any age.159

Mill konstatierte – und darin war er nicht allein – in den frühen dreißiger Jahren eine schnelle Verbreitung des Zeitgeistbegriffs.160 Der Grund für sein Gedeihen lag, meinte er, im Zeitgeist selbst: »It is an idea essentially belonging to 157 Bollenbeck, Geschichte der Kulturkritik, S. 12. 158 Vgl. im Folgenden: Rothenstreich, Zeitgeist; Van der Pot, Sinndeutung, S.  60–61; ­Konersmann, Zeitgeist; ders., Der Hüter des Konsenses. 159 [Mill], Spirit of the Age [I], S. 20. Mill reagierte auf einen Aufsatz von David Robinson (1787–1849), in dem dieser geklagt hatte: »That which, in the slang of faction, is called the ­Spirit of the Age, absorbs, at present, the attention of the world.« [Robinson], Letter to Christopher North, S. 900. Vgl. Chandler, England in 1819, S. 105–107. 160 So meinte zur gleichen Zeit der Satiriker Carl Julius Weber (1767–1832) »Unser drittes Wort ist fast immer der Zeitgeist«. [Weber], Geist der Zeit, S. 293. Vgl. Kempter, Herder, Hölderin, S. 73. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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an age of change.«161 Damit hatte Mill den Kontext, in dessen Rahmen sich der Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch hatte durchsetzen können, treffend erfasst. Weniger präzise war allerdings die Periodisierung seines Aufstiegs. Der Begriff hatte zu dieser Zeit schon eine sehr viel längere Geschichte hinter sich als das halbe Jahrhundert, das Mill ihm einräumte. Die Grundlagen für den Begriff waren schon in der Antike gelegt worden. Im Lateinischen war saeculum in mehrfacher Weise als Bezeichnung epo­chaler Einheiten verwendet worden: zunächst in kultischen Zusammenhängen, in denen es die natürliche Lebenszeit eines Menschen oder Geschlechts bezeichnete; seit der Regierung Augustus dann auch als Regierungszeit und als Äquivalent des griechischen Äon; schließlich in Zusammenhang mit den vielfältigen Lehren vom goldenen Zeitalter und seinen silbernen, ehernen und eisernen Nachkommen.162 Es fehlte zu dieser Zeit aber noch der Bezug auf die Zeitrechnung. Das änderte sich auch im Mittelalter nicht, als die Einteilung der Zeitalter nach der Analogie der Metalle in seiner Bedeutung allmählich durch die biblische Vier-Reiche-Lehre des Buches Daniel verdrängt wurde.163 Immer wichtiger wurde in diesem Zusammenhang eine Gebrauchsweise, in der saeculum als Gegen­satz zum Jenseits verwendet wurde. Der irdischen Zeitlichkeit, die im Hinblick auf seine Ganzheit in die feste Formel per omia saecula saeculorum am Schluss des liturgischen Gebets einging, kam als Diesseits eine untergeordnete Stellung zu. Der Bezug des saeculum auf das Jahrhundert als chronologische Einheit entstand im Spätmittelalter. Bei Gelegenheit der Jahrhundertwende um 1300 rief Papst Bonifaz VIII. das Jubeljahr aus und markierte diese Gelegenheit damit zum ersten Mal als bedeutsame Zeitwende. Durch die Verbreitung der arabischen Ziffern erhielt die Hundertzahl auch optisch eine prominentere Stellung. Erst in der humanistischen Geschichtsschreibung aber setzte sich das Jahrhundert auch in der historiographischen Chronologie durch. In den »Magdeburger Zenturien«, einer sechzehnbändigen protestantischen Kirchengeschichte, 161 [Mill], Spirit of the Age [I], S. 20. Auf derselben Seite hieß es: »The first of the leading peculiarities of the present age is, that it is an age of transition. […] [M]ankind are now conscious of their new position. The conviction is already not far from being universal, that the times are pregnant with change; and that the nineteenth century will be known to posterity as the era of one of the greatest revolutions of which history has preserved the remembrance, in the human mind, and in the whole constitution of human society.« Ähnlich hatte schon Hegel in der Vorrede zu seiner »Phänomenologie des Geistes« (1807) geschrieben: »Es ist übrigens nicht schwer, zu sehen, dass unsre Zeit eine Zeit der Geburt und des Uebergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseyns und Vorstellens gebrochen, und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zuversenken, und in der Arbeit seiner Umgestaltung.« Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. xiii. Vgl. zur Vorstellung eines Übergangszeitalters: Lauster, Wild West Wind; Blix, Transitional Period. 162 Vgl. Stadtmüller, Saeculum; Brendecke, Die Jahrhundertwenden, S. 21–49. 163 Buch Daniel, 2, 31–45; 7, 1–28. Vgl. J. Fetscher, Zeitalter / Epoche, S. 776–779. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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wurde die Einteilung nach Jahrhunderten von der Kompilatorengruppe um Matthias Flacius (1520–1575) erstmals konsequent durchgeführt. Das Gliederungsprinzip, das für viele Werke der Folgezeit paradigmatisch wurde, brachte die Frage mit sich, wie sich die Identität eines Jahrhunderts konstituierte und wie seine jeweilige Eigenart zu charakterisieren sei. Weitere Brisanz erhielt diese Problematik im Rahmen der mnemonischen Techniken der barocken Geschichtsdidaktik, die den Schulunterricht noch bis ins 18. Jahrhundert hinein prägen sollten.164 Im Allgemeinen blieb die semantische Kopplung des Begriffs genius saeculi an die hundertjährige Zeitspanne aber schwach. Ändern sollte sich das erst um die Wende zum 19. Jahrhundert. Erst zu dieser Zeit wurde die Auseinandersetzung mit der genauen Datierung und Deutung der Jahrhundertwende, die vorher eine rein akademische Angelegenheit gewesen war, in weiteren Kreisen rezipiert. Rückblickende Bestandsaufnahmen des 18.  Jahrhunderts, gekoppelt mit prophezeienden Ausblicken in das 19.  bildeten eine populäre Schriftgattung. In solchen Zusammenhängen ging die – im Lateinischen und Französischen Wortlaut angelegte – Überlappung des Zeitalters mit dem hundertjährigen Zeitabschnitt allmählich stärker in die Verwendung ein.165 Nicht nur, dass der Wandel des Zeitgeistes nunmehr explizit an die Jahrhundertwende gekoppelt wurde, umgekehrt konnte nun auch der deutsche Ausdruck Jahrhundert einen un­spezifischen Zeitabschnitt bezeichnen.166 Bis zu dieser Zeit hatten zeitlich diffuse Epochenbegriffe aber deutlich die Oberhand. An erster Stelle galt das für feste Ausdrücke wie das ›goldene Zeitalter‹, der neben seiner pastoralisch-mythischen Konnotationen auch generell als Bezeichnung positiv bewerteter Zeitabschnitte verwendet wurde.167 Sodann häuften sich nach dem Siècle de Louis le Grand panegyrische Formeln, in denen das Zeitalter nach einer zentralen Persönlichkeit – zunächst primär Fürsten, später auch Wissenschaftler, Schriftsteller und andere Prominente  – benannt wurde.168 Schließlich gab es zunehmend Verwendungsweisen, welche die 164 [Flacius u. a.], Ecclesiastica Historia. Vgl. J. Burkhardt, Jahrhundertrechnung; Bren­ decke, Die Jahrhundertwenden, S. 75–81. 165 Siehe beispielsweise: Jenisch, Geist und Charakter; anon., Das achtzehente Jahrhundert; Miller, A Brief Retrospect; L. P. de Ségur, L’esprit du siècle. 1799 erschien eine Zeitschrift unter dem Titel »Lebenslauf des achtzehnten Jahrhunderts«, dessen Herausgeber unter dem Pseudonym ›Benedix‹ auftrat. Sie wurde aber schon nach einem Jahr wieder eingestellt. 166 Vgl. Brendecke, Die Jahrhundertwenden, S. 171–173. 167 In einer satirischen Rede in der Form eines Dialogs zwischen Eruditio und dem Genius Seculi griff Christian Gryphius (1649–1706) erneut Ovids Metall-Analogie auf: »Jezt achtet man das Gold, / Bald wird man Bley und Eisen hold, / Bald nimmt man Heller vor Ducaten, /  Bald läst man sich mit Meßing rathen, / Und wählet Stroh vor Gold.« Gryphius, Bey dem Actu solenni de Semidoctis, S. 379. Vgl. zum Thema: Schalk, Das goldene Zeitalter; Delaporte, Idée d’égalité. 168 Vgl. Schlobach, Du siècle de Louis; Schröder, »Siècle de Frédéric II«. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Epoche von einer prägenden Eigenschaft, Tendenz oder Phänomen her definierten. Gerade diese letzte Gruppe sollte – wie in den folgenden Kapiteln anhand unterschiedlicher Beispiele gezeigt werden soll – im Laufe des 18. Jahrhundert stark an Bedeutung gewinnen. Entscheidend für die Entwicklung solcher chronologisch diffusen Verwendungsweisen war erneut die Debatte um das Verhältnis zwischen anciens und modernes. In ihrem Kontext wurde die seit der Antike immer wieder diskutierte Frage nach der Identität literarischer Höhepunkte erneut aufgenommen. In seinem »De dignitate et augmentis scientiarum« (1623) erklärte Bacon, dass es in der historia literarum nicht unbedingt erforderlich sei, die gesamte Fülle der Schriften, die eine bestimmte Periode hervorgebracht hatte, zur Kenntnis zu nehmen: »sed degustatione, & obseruatione Argumenti, Stili, Methodi, Genius illius temporis Literarius, veluti Incantatione quâdam, à Mortius euocetur.«169 Die verschiedenen Schriftsteller eines Zeitalters seien verbunden durch einen gemeinsamen Geist, der durch den Historiker mit Geschmack und Scharfsinn ›heraufbeschworen‹ werden könne.170 Die Einheit einer Epoche als deren Geist zur Sprache zu bringen, war eine sprachliche Neuerung, die schnell Anschluss fand. Einerseits konnte sie an den Sprachgebrauch der christlichen Metaphysik anknüpfen, in dem der Geist als konstituierendes Prinzip über die Materie herrschte, diese durchdrang und ihre wesentliche Einheit bildete.171 Anderer­ seits brachte das spirituelle Vokabular das Ungreifbare des Phänomens und das Tentative seiner Identifizierung zum Ausdruck. Wie sehr solche Verwendungen zu dieser Zeit noch als metaphorisch empfunden wurden, kam in der Kritik, welcher sie ausgesetzt waren, ebenso zum Ausdruck wie in den metasprachlichen Erläuterungen, die sie von Anfang an begleiteten. In seinem Saeculi Genius (1653) stellte ›Petrus Firmianus‹ – hinter dem Pseudonym verbarg sich der französische Kapuzinermönch Zacharie de Lisieux (1596–1661) – den Begriff des Zeitgeistes nicht nur in den Mittelpunkt seiner satirischen Gesellschaftsdeutung, er machte ihn ausdrücklich zum Thema begrifflicher Reflexion.172 Einer der im Text aufgeführten Dialogpartner versucht den Begriff mehrfach zu problematisieren. Er zieht die Jahrhundertgrenze als Epochenbegrenzung ins Lächerliche und fragte, ob sich die gesamte Konstitution der Welt nach hundert Jahren etwa stehenden Fußes ändere. Ein weiteres Problem sieht er im Verhältnis zwischen der Identität des herrschenden 169 Bacon, De dignitate, S.  89. Es handelt sich um eine übersetzte und erweiterte Fassung von: Bacon, Of the proficience. Siehe auch die Paraphrase in: [Meister], Beyträge, Bd. 1, S. ­iii–v. Vgl., mit Hinweisen auf weitere Stellen: Kamerbeek, »Tijdgeest«, S. 191–197; Hassinger, Historismus, S. 139–147; Kempter, Herder, Hölderlin, S. 59–60. 170 Siehe auch: Saint-Evremond, Lettre à Madame la duchesse Mazarin, S. 112; Hume, Refinement in the Arts, S. 28–29. 171 Oeing-Hanhoff u. a., Geist, Sp. 169–180. 172 [Lisieux], Sæculi genius. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Zeitgeistes und der offensichtlichen Pluriformität seiner Untertanen. Schließlich stellt er den metaphysischen Status des Geistes in Frage, indem er auf die gespenstischen Konnotationen des Begriffs anspielt. Vielsagend ist die Antwort des Gesprächspartners: Er bietet an, statt des missverständlichen genii das Wort ingenia zu verwenden, um so den Verdacht auf Gespensterglaube zu umgehen: »quos eo sensu admitti aequum non est, quo olim delusa antiquitas, inferum orbem geniorum potestate regi ineptissime existimavit«.173 Solche metasprachlichen Reflexionen sollten den Gebrauch des Begriffs Zeitgeist stets begleiten. Während der Begriff in literarisch-historischen Zusammenhängen in der Regel neutral, oft auch positiv verwendet wurde, bildete sich gleichzeitig eine Verwendungsweise, die ausschließlich pejorativ konnotiert war. Grund hierfür durfte die mittelalterliche Verknüpfung des saeculum mit dem irdischen Leben gewesen sein. Gerade in religiösen Zusammenhängen wurde genius saeculi weiterhin im Sinne des zeitlichen Lebens gebraucht. Als der Bischof Jacques Bénigne Bossuet (1627–1704) am vierten Sonntag der Fastenzeit 1662 am Hofe ­Ludwigs XIV. eine Predigt über den Ehrgeiz abhielt, setzte er den Ausdruck esprit du siècle ausdrücklich mit dem amour du monde ineins.174 In solchen Zusammenhängen galt der Begriff weniger der Identifikation und Charakterisierung eines Zeitabschnitts als der Abwertung bestimmter Verhaltensmuster als ›dem Geist der Zeitlichkeit verfallene‹. Gerade aber die erstgenannte Tendenz, den Zeitgeist als Identität einer Epoche aufzufassen, sollte sich um die Mitte des 18.  Jahrhunderts immer stärker durchsetzen. Entscheidend dafür war die schnelle Verbreitung eines neuen Typus kulturgeschichtlicher Abhandlungen.175 Der unvergleichliche Erfolg von Montesquieus »De l’esprit des loix« (1748) verhalf Geist als analytischem Begriff zu neuem Ansehen.176 Anliegen dieses Werks war es, der hinter der positiven Rechtsordnung liegenden Identität politischer Systeme  – die er als den ›Geist der Gesetze‹ bezeichnete – auf die Spur zu kommen. In einem zweiten Schritt brachte er die Eigenart dieser Identiät mit dem esprit général der jeweiligen Nation in Verbindung. Diese wiederum ließ sich anhand einer Vielfalt geographischer und historischer Entstehungskontexte situieren.177 Montesquieus ›geisteswissenschaftliche‹ Perspektive ließ sich auch auf anderen Gebieten fruchtbar anwenden. Neben der engeren Geschichte der l­itterae fand der Geistbegriff jetzt zunehmend in universal- und nationalgeschichtlichen Zusammenhängen Verwendung. Paradigmatisch für diese Tendenz war 173 Zit. n. Kamerbeek, »Tijdgeest«, S. 213. 174 Bossuet, Sermon, S. 362. 175 Vgl. zur Einführung: Perinetti, Philosophical Reflections on History. 176 Montesquieu, Esprit des Loix. Vgl. Spector, Science des mœurs; Koschorke, Geist der Gesetze. Siehe auch: Romani, National Character, S. 19–62. In seinen Privatnotizen verwendete er den Begriff auch bezüglich zeitlicher Einheiten. Siehe dazu: Kapitel II. 177 Montesquieu, Esprit des Loix, Bd. 1, S. 14; Bd. 2, S. 311. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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ein Werk Voltaires, das unter dem Titel »Essai sur les mœurs« (1756) in die Geschichte eingegangen ist. In seiner Einleitung setzte sich Voltaire mit der Gewohnheit, Geschichte als Aneinanderreihung von Fürsten, Schlachten und anderen Katastrophen zu schreiben, auseinander: »Le but de ce travail n’est pas de savoir en quelle année un Prince indigne d’être connu succéda à un Prince barbare chez une nation grossiére.«178 Seine Perspektive, dagegen, sei eine holistische und widme sich dem esprit, den mœurs und usages der Völker in ihrer historischen Entwicklung. In diesem Zusammenhang benutzte er auch den Begriff des Zeitgeistes: »Mon but est toûjours d’observer l’esprit du tems; c’est lui qui dirige les grands évenements du monde.«179 Wie die pluriforme Terminologie Voltaires bezeugt, war die neue Verwendungsweise des Zeitgeistbegriffs Teil  eines weiteren semantischen Feldes. Begriffe wie société, nation, peuple, patrie und mœurs gehörten dazu ebenso wie culture und civilisation. Wie es der Historiker David A. Bell formuliert hat, ereignete sich um die Mitte des Jahrhunderts eine fundamentale Transformation in »what might be called the vocabulary of human relations«.180 Dieser semantische Wandel entsprach einer grundsätzlichen Wende in der Art, die mensch­ liche Lebensform in ihrer Ganzheit zu denken. Von einem irdischen, einer transzendenten Ordnung unterworfenen Bereich kam der Akzent nunmehr stärker auf der Welt als autonomer und eigendynamischer Sphäre menschlichen Lebens zu liegen. Die geographische und historische Vielfalt unterschiedlicher Lebensformen geriet damit ebenso in den Blick wie ihre geschichtliche Entwicklung. Es konstituierte sich im zeitgenössischen Blickfeld eine neue phänomenale Ebene, für die es noch keine festen Bezeichnungen gab.181 In begriffsgeschicht 178 Voltaire, Essay sur l’histoire générale, Bd.  1, S.  2. Am Ende seiner Darstellung de­ finierte er seinen Gegenstand auch als das veränderliche und pluriforme »Empire de la Coutume«, das er, mit Hinweis auf den Kulturbegriff von der unwandelbaren Natur des Menschen abgrenzte: »Il résulte de ce tableau, que tout ce qui tient intimement à la Nature humaine, se ressemble d’un bout de l’Univers à l’autre; que tout ce qui peut dépendre de la coutume est différent, & que c’est un hazard s’il se ressemble. L’Empire de la Coutume est bien plus vaste que celui de la Nature; il s’etend sur les mœurs, sur tous les usages; il répand la variété sur la scène de l’Univers; la Nature y répand l’unité; elle établit partout un petit nombre de principes invariables: ainsi le fonds est partout le même; & la culture produit des fruits divers.« Ebd., Bd. 7, S. 151. 179 Ebd., Bd. 2, S. 162. In einer früheren Fassung hieß es noch: »Ma principale idée est de connoître autant que je pourrai, les mœurs des Peuples, & d’étudier l’Esprit humain.« ders., Abregé de l’histoire universelle, Bd. 1, Introduction [o. S.]. Siehe auch: Diderot, Eclectisme, S. 285; Bernis, Sur les mœurs, S. 18; Gibbon, L’étude de la littérature, S. 84; Rétif de la Bretonne, Les nuits de Paris, Bd. 6, S. 1266–1267. 180 Vgl. Bell, The Cult of the Nation, S.  25–26. Siehe auch: ders., Nation et patrie, S. ­112–114. 181 Aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive ist diese Periode dementsprechend als die Geburtsstunde der Soziologie, der Ethnologie, der Kulturgeschichte usw. gekennzeichnet worden. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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lichen Studien zu diesem Wortfeld ist nicht selten auf die mit diesem Prozess einhergehende semantische Unsicherheit hingewiesen worden. So bemerkte Lucien Febvre 1930 in seiner Studie zum Zivilisationsbegriff, die Autoren um die Jahrhundertmitte seien offensichtlich auf der Suche gewesen nach einem Wort, »qui désigne  – disons, en termes qu’ils auraient pas répudiés, le ­triomphe et l’épanouissement de la raison, non seulement dans le domaine constitutionnel, politique et administratif, mais dans le domaine moral, religieux et intellectuel«.182 Luhmann sprach in diesem Zusammenhang von einem semantischen »Leerraum«, der als »Attraktor« für das, was schließlich Kultur genannt wurde, gewirkt habe.183 Das ahnende Vortasten in einen unbekannten Bereich machte sich in zeitgenössischen Texten durch die Vielfalt des verwendeten Vokabulars sowie durch fehlende terminologische Stringenz bemerkbar. Es fehlten nicht sosehr die Wörter, die neuen Phänomene zu benennen, als dass es ihrer zu viele gab. Das Feld zeichnete sich durch vage Andeutungen und Umschreibungen ebenso wie durch umständliche und immer wieder scheiternde Definitionsversuche aus. Was aus der Perspektive einer semasiologisch geleiteten Begriffsgeschichte als semantische Leere erscheint, stellte im diskursiven Kontext eher eine semantische Überfülle dar. Begriffsgeschichtliche Studien zu den einzelnen Begriffen dieses Wortfeldes gibt es zuhauf.184 Besonders die Begriffe Kultur und Zivilisation sind seit den Anfängen des 20. Jahrhunderts immer wieder Gegenstand wort- und begriffsgeschichtlicher Forschung gewesen. Anfangs war diese besonders durch die Frage nach der deutschen, französischen oder englischen Primogenitur des modernen Kulturbegriffs motiviert.185 Dabei orientierte man sich an der Antithese zwischen Kultur und Zivilisation, die in der Propaganda des Ersten Weltkriegs auf beiden Seiten eine Hauptrolle gespielt hatte.186 Die leitende These, dass sich dieser Gegensatz schon im späten 18. Jahrhundert im Rahmen eines deutschen 182 Zit. n. Febvre, Civilisation, S. 496. Siehe auch: Rose, Civilité Moderne, S. 46. 183 Luhmann, Kultur als historischer Begriff, S. 33. Und: »Überhaupt war die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Zeit, in der viele gesellschaftliche Bereiche auf eine Beobachtung zweiter Ordnung umgestellt wurden und die dafür erforderlichen Begriffe, was immer ihre Vorgeschichte, erstrangige Prominenz erhalten.« Ebd., S. 34. 184 Hier können nur die wichtigsten Arbeiten genannt werden: Hilgers-Schell und Pust, Culture und civilisation im Französischen; Hilgers-Schell und Karuth, Culture und civilization im Englischen; Bénéton, Histoire des mots; Williams, Culture; Perpeet, Kulturphilo­ sophie; Vierhaus, Kultur und Gesellschaft; Starobinski, Le mot civilisation; Michel, Barbarie, Civilisation, Vandalisme, S. 15–22, 44–49; Fisch, Zivilisation, Kultur; Markus, Culture; Benrekassa, Mœurs; Irmscher, Der Begriff der Kultur; Benrekassa, Civilisation, civilité; Baecker, Kultur; Binoche, Civilisation; Den Boer, Civilization; Monnier, Civilisation. Zum Gesellschaftsbegriff, vgl. Kapitel III. 185 Benveniste, Civilisation. 186 Vgl. Den Boer, Vergelijkende begripsgeschiedenis. Siehe auch: Swenson, A Small Change, S. 332–336; Sartori, Resonance of »Culture«, S. 678–683. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Sonderwegs ausgebildet habe,187 ist in der neueren Forschung größtenteils widerlegt worden.188 Stattdessen liegt der Akzent inzwischen mehr auf dem gesamteuropäischen Phänomen, dass sich in der Periode zwischen etwa 1750 und 1780 eine Gruppe von neuen Semantiken zur Bezeichnung kulturgeschicht­ licher Phänomene herausbildete. Auf verschiedene Aspekte dieser Entwicklung wird in den nächsten Kapiteln ausführlich einzugehen sein. Vorläufig aber bleiben wir beim gewählten Beispiel des Zeitgeistes, anhand dessen sich die Verwendungskontexte sowie die semantischen und pragmatischen Dimensionen dieses Wortfelds nachzeichnen lassen. Im Zeitgeist wurde der sich neu konstituierende historisch-genetische Blick auf die eigene Existenzform paradigmatisch auf den Begriff gebracht.189 Neben seiner rückblickenden Verwendungen wurde er zunehmend auch auf das eigene Zeitalter angewendet. Eine Vielzahl von Schriften widmete sich unter seinem Titel der spirituellen Bestandsaufnahme der Gegenwart. Nicht wenige solcher Schriften hatten einen ausgesprochen kritischen Charakter. Sie konnten an der etablierten Tradition moralistischer Kritik anschließen. Wie diese stell-

187 Maßgebend für diese Interpretation war: Elias, Über den Prozeß, Bd.  1, S.  89–98, ­132–139. Siehe noch: M. Pflaum, Die Kultur-Zivilisations-Antithese. Außerhalb der engeren Disziplin der historischen Semantik kursieren solche Narrative weiterhin. Siehe beispielsweise: Vogt, Civilisation and Kultur. Zu diesem Thema auch: Kapitel III. 188 Vor allem von Jörg Fisch, der in seinem Artikel zum Thema in den Geschichtlichen Grundbegriffen schrieb: »Weitreichende Vermutungen, wonach sich in ›Kultur‹ eine spezifisch deutsche, in ›Zivilisation‹ hingegen eine spezifisch französische (bzw. britische oder amerikanische?) Geisteshaltung oder spezifische soziale Verhältnisse niedergeschlagen hätten, haben in der Empirie keine Grundlage und stehen im Widerspruch zur anfänglich weitgehenden inhaltlichen Übereinstimmung der beiden Begriffe.« Fisch, Zivilisation, Kultur, S. 722. Siehe auch: Ebd., S. 719–730. 189 Zumeist gilt Herder als derjenige, der den deutschen Ausdruck Zeitgeist geprägt hat. Doch wird dabei ausgelassen, dass seine Verwendung des Begriffs an dieser Stelle genau das Gegenteil von dem, was später darunter verstanden werden sollte, bezeichnete. In einer kritischen Rezension der »Beiträge zur Geschichte des Geschmacks und der Kunst aus Münzen« (1767) des Philologen Christian Adolph Klotz (1738–1771) stellte Herder dessen metho­dischen Ausgangspunkt, dass die Entwicklung des Geschmacks einer Nation an der Geschichte der Gestaltung von Münzen abgelesen werden könne, in Frage. Ein kardinaler Einwand gegen die vorausgesetzte Korrelation war nach Herder, dass etablierte Traditionen die Gestaltung der Münzen zu sehr beeinflussten. Als Beispiel nannte er die »­Reformation der Wissenschaften«. Wie die »Kennern der mitlern Zeit« ausreichend bewiesen hätten, sei diese lange Zeit vor ihrem endgültigen Durchbruch »im Stillen genähret, gewachsen, gereift«. Wie konnte aber ein solcher Vorgang sich auf Münzen bemerkbar machen? Herrsche in diesem Bereich nicht vielmehr das »Joch des Jahrhunderts«? Auf ihnen kämen die wesentlichen Entwicklungen der Zeit – also genau das, was später hauptsächlich mit dem Ausdruck Zeitgeist bezeichnet werden sollte – erst sehr verzögert zum Ausdruck, bis dahin beherrsche sie, mit den Worten Herders, »Herkommen, National­ geschmack, der bleierne Druck des Zeitgeistes«. Klotz, Beytrag; Herder, Kritische Wälder, Bd. 3, S. 96. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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ten sie die Gegenwart in schematischer Gestalt dar. Sie skizzierten eine Welt, die von einer Reihe stereotypischer Figuren – die modische Dame, der sentimentale Jüngling, der Gentleman vom Lande, der ehrgeizige Skribent – bevölkert war, anhand deren sich zeitgenössische Tendenzen und Phänomene ideal­typisch nachzeichnen ließen. Teils leicht satirisch, teils genuin entrüstet kommentierte man die aktuellen Sitten, die (mit festen Formeln wie … d’aujourd’hui, … of the times, … von heute und vor allem … à la mode versehen) mit den Vorbildern einer eher diffus evozierten Vorwelt kontrastiert wurden. Ein charakteristisches Merkmal solcher Schriften war, dass sie die Kultur als Kampfplatz spiritueller Mächte beschrieben. Solche Deutungsmuster hatte es schon früher gegeben. Nach der Jahrhundertmitte fanden sie aber schnell weitere Verbreitung. Die philosophes bekämpften mithilfe des esprit de doute den metaphysischen esprit de système.190 Rousseau machte die esprit du société für den Rückfall des Menschen aus seinem Naturzustande verantwortlich. Überall in Europa warnte man vor den politischen Folgen des Parteigeists in Bezug auf den Geist nationaler Einheit. In den Augen vieler ruinierte der spirit of calculation den Geist der Poesie. Diese vielfältigen Spiritualisierungen, in denen Alltagsphänomene als Symptome einer höheren Macht aufgefasst wurden, die man in in ihrer historischen Entwicklung zu erfassen versuchte, bildeten einen fruchtbaren Nährboden für den Zeitgeistbegriff.191 Dass die zerstreuten Phänomene auf einen einheitlichen »chronisch-krankhaften Geist der Zeit« bezogen wurden, stellte indessen einen entscheidenden Reflexionsschritt gegenüber der überlieferten Moralistik dar.192 Die verschiedenen Aspekte sittlicher Verkommenheit konnten nunmehr als pluriformer Ausdruck eines einheitlichen, in Wandel begriffenen Geistes aufgefasst werden. Der Zeitgeist bildete den Mittelpunkt eines geschichtlichen Erklärungsmodus, der die phänomenale Vielfalt auf ein einheitliches Prinzip reduzierte. Der definitive Durchbruch des Begriffs in den öffentlichen Sprachgebrauch erfolgte mit der Französischen Revolution und den napoleonischen Kriegen. In einer Zeit schnellen historischen Wandels machten viele die – oftmals in Metaphern von Sturm, Überschwemmung und anderen Naturkatastrophen fest­ 190 [Petiot], De l’opinion, S. 72. 191 Im Französischen komplizierte sich die Semantik dadurch, dass der Ausdruck ­esprit du siècle in die Debatten um den esprit als kognitive Fakultät und witzigen Tonfall und seine Personifizierung, den homme d’esprit, verwickelt wurde. Als Claude Adrien Helvétius ­(1715–1771) dem esprit du siècle ein Kapitel seines Bestellers »De l’Esprit« (1758) widmete, meinte er den typischen homme d’esprit der Gegenwart vielmehr denn den Geist des Zeitalters im Ganzen. Es handelte sich um den bel-esprit, eine redegewandte und in den geselligen Umgangsformen geschulte Figur, die in le monde zu Hause war und den Helvétius dafür kritisierte, dass er keinerlei Beitrag für den Fortschritt der Künste und Wissenschaften leistete. Helvétius, De l’Esprit, Bd. 3, S. 97–111. Siehe auch: Alletz, Manuel de l’homme du monde, Art. ›Esprit du siècle‹, S. 212. 192 Görres, Die teutschen Volksbücher, S. 25. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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gehaltene  – Erfahrung, dass eine neuartige und unaufhaltbare Macht über Europa zog.193 Das Gefühl der Ohnmacht angesichts der Geschichte wurde nicht zuletzt auch mittels des Zeitgeistbegriffs versprachlicht.194 Spätestens seit der Revolution hielt der Begriff, der bis dahin hauptsächlich im Kontext der vergleichenden Geschichte der Literatur, der Künste und der Wissenschaften einerseits, der Kritik zeitgenössischer Sitten und Moral andererseits verwendet worden war, zunehmend auch in die politische Sprache Einzug. Der Zusammenbruch des Ancien Régime stellte für die Zeitgenossen neben einem sozialpolitischen, vor allem ein spirituelles Ereignis dar. Franz Josias von Hendrich (1752–1819), geheimer Regierungsrat in Meiningen, war einer von vielen, die den Zeitgeist für die Krise verantwortlich machten. In der Vorbemerkung zu seinem »Ueber den Geist des Zeitalters und die Gewalt der öffent­ lichen Meynung« (1797) warnte er ausdrücklich davor, die Ursachen und Folgen der Revolutionen auf der materiellen Ebene anzusiedeln.195 Eine richtige Erklärung müsse vielmehr bei der »Veränderung der Menschen in ihren Begriffen und Ideen« ansetzen und den »dadurch erzeugten Geist des Zeitalters« berücksichtigen.196 So machte sich die zeitgenössische Öffentlichkeit auf die Suche nach den spirituellen Ursachen der Revolution. Dies verlieh der moralisch-sittlichen Literatur neue Impulse.197 Die Zeit selbst wurde als verfallen diagnostiziert und für die Ereignisse seit 1789 verantwortlich gemacht. Auf diese Weise wurden Argumente über den moralischen Zustand der Kultur mit politischen und historischen Narrativen verknüpft. Eine zentrale Fragestellung, die mit solchen Deutungsmustern einherging, war die nach dem richtigen Verhalten des Staatsmannes angesichts der wandelnden spirituellen Konstitution seiner Zeit. Nach von Hendrichs Ansichten war es nicht zuletzt die geschichts-politische Un­ geschicktheit der Politiker gewesen, die den Zeitgeist zur Rebellion gereizt hatte. Sicherlich solle man, räumte er ein, nicht jeder Neuerung direkt nachgeben. 193 Vgl. zu diesem Thema: Koselleck und Reichardt, Die Französische Revolution; Jüttner, Die Revolution in Europa. 194 Vgl. Stadler, Zeitgeisterbeschwörung, S. 266. 195 »Man irret wirklich, wenn man glaubt, daß die Hauptquelle der französischen Revolution das allgemeine Elend gewesen sey. […] Was hat also zunächst die Revolution veranlaßt? Ich antworte: der Genius des Zeitalters, den man zur Widersetzung reizte, anstatt ihn vorsichtig zu leiten und nicht auf Abwege gerathen zu laßen.« [Von Hendrich], Geist des Zeit­ alters, S. 92. 196 Ebd., Vorbemerkung [o. S.]. Und weiter: »Mitten unter diesem politischen Labyrinthe liegt aber ein größerer und allgemeiner Feind verborgen, der unsichtbar einher schleicht, die Grundvesten der jetzigen Verfassungen allmählich untergräbt und allen ein gemeinschaftliches Grab bereitet. Das Feld welches die neuen Ideen einnehmen, dehnt sich immer weiter aus, und der Geist der Zeit bleibt nicht mehr leeres Phantom, er wird zur Realität, die keineswegs zu verachten ist.« Ebd., S. 187. 197 Siehe beispielsweise: Bowles, Political and Moral State, S. 36–37, 43, 52, 129. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Ideen, die einmal Wurzel geschlagen hatten, zu unterdrücken, sei aber ebenso sinnlos wie gefährlich: Der Sachen ihren Lauf laßen, mit vester Hand jede gefährliche Neuerung unter­ drücken, aber auch dem Geiste des Zeitalters folgen und den Gesetzen eine zweckmäßige Reform geben, und dadurch allen gegründeten Klagen abhelfen, ist das einzige Mittel, die Gemüther in ihr voriges Gleichgewicht wieder zurückzubringen.198

Solche Argumente waren weit verbreitet. Speziell solche Autoren, welche beschränkte und graduelle Reformen für notwendig hielten, bezogen sich zur Begründung ihrer Unausweichlichkeit auf den eigengesetzlichen Fortschritt der Geschichte.199 Zwei Merkmale komplizierten die Semantik des Zeitgeistbegriffs in solchen Zusammenhängen. Erstens wurde er selbst mit einem politischen Vokabular beschrieben. Sein Verhältnis zu den Ereignissen eines bestimmten Zeit­abschnitts wurde als Herrschaft, Regierung, Machtausübung beschrieben. Semantisch stellte er demnach nicht nur einen ernstzunehmenden Situationsfaktor für politisches Handeln dar, er trat selbst als politischer Akteur in Erscheinung. Verstärkt wurde diese Tendenz noch dadurch, dass der Zeitgeist syntaktisch immer öfter als Subjekt von Verbalkonstruktionen verwendet wurde. Eine solche Personifizierung implizierte, dass der Geist selbst als aktive Kraft in die Geschichte eingriff. Die Ambivalenzen des politischen Vokabulars kom­plizierten die Frage nach dem Verhältnis zwischen Politik und ihrer geschichtlich-spirituellen Situation noch weiter. Vor allem der hypostasierende Schritt des Zeitgeistbegriffs von der Charakterisierung eines Zeitabschnitts zur Evokation einer quasi-persönlichen Entität rief scharfe Kritik hervor. Der Glaube an spirituelle Mächte war von Anfang an ein zentraler Zielpunkt aufklärerischer Vorurteilskritik gewesen. Jetzt, da die 198 [Von Hendrich], Geist des Zeitalters, S. 175–176. Der preußische Staatsmann, Philo­soph und Erzieher des späteren Friedrich Wilhelm IV., Jean Pierre Frédéric Ancillon ­(1767–1837), war diesbezüglich anderer Meinung. Seines Erachtens lag der Fehler der französischen Regierung gerade darin, dass sie sich in die »Knechtschaft des sogenannten Zeitgeistes« begeben hatte, »anstatt sie zu beherrschen«. So auch der Dichter Johann Wilhelm Ludwig – genannt ›Vater‹ – Gleim (1719–1803), der in seinem Gedicht ›Der Geist der Zeit‹ schrieb: »Kennst du den Geist der Zeit, so stürm’ auf ihn, und tobe / So lange bis er stirbt!« Ancillon, Über Souveränität, S. 75–76; Gleim, Der Geist der Zeit. 199 Ein anonymer Autor schrieb 1813 in Minerva: »Hätte man also das Wehen des Zeitgeistes benutzt, so würde alle die Uebel verhütet worden seyn, welche Fürsten und Völker so lange unglücklich gemacht haben.« Die Monatsschrift Minerva war zuerst 1792 erschienen. Sein Herausgeber Johann Wilhelm von Archenholz (1741–1812) brachte die Zielsetzung der Zeitschrift auf dem Titelblatt in einem Motto aus Shakespeares Hamlet (Akt III, Szene 2) zum Ausdruck: »To shew / the very age and body of the time, / its form and pressure.« Dementsprechend füllte eine lebendige Auseinandersetzung über den Zeitgeist bis in die zwanziger Jahre des 19.  Jahrhunderts hinein ihre Seiten. Anon., Ansichten der gegenwärtigen Zeit, S. 320. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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gerade verjagten Phantome zumindest sprachlich ihre Rückkehr anzukündigen schienen, wurde heftig gegengesteuert. In Parodien wurde der Zeitgeist als »Gespenst der Zeit«,200 Dämon oder Poltergeist dargestellt, um ihm seine kognitive Legitimität zu nehmen.201 Aber solche Verkehrungsstrategien konnten den Aufstieg des Begriffs letztendlich nicht aufhalten. Spätestens um die Jahrhundertwende stieg er zum Schlüsselbegriff politischer Auseinandersetzungen auf. Als Hegel (1770–1831) den Begriff des Geistes in das Zentrum seines philosophischen Projektes – seine Zeit in Gedanken zu erfassen – stellte und so den Weg für seinen nachhaltigen Erfolg im 19. Jahrhundert freimachte, hatte sich der Begriff als Mittel, der veränderlichen Umwelt einen Sinn abzugewinnen, schon längst etabliert.202 Seine politische Nutzbarkeit spielte dabei eine Hauptrolle. Die historische Macht des Zeitgeistes wurde als praktisch unaufhaltbar dargestellt. Demnach war es – so die Logik dieses Argumentationsmusters – im Interesse der Politiker, von schädlichen und letztendlich zwecklosen Widerstandsversuchen abzusehen. Anpassung war, so meinte auch Schriftsteller und Philosoph Johann Jakob Engel (1741–1802) in seinem »Fürstenspiegel« (1798), die einzige praktikable Option. Könige! ruft so laut die Geschichte, wagt es nicht, gegen den herrschenden Geist e­ urer Zeit anzukämpfen; er ist durch eine Folge von Jahrhunderten eben so unwidertreiblich herbeigeführt, als es durch die periodischen Umwälzungen des Himmels die Jahreszeiten sind: es ist gleich thöricht, diese oder jenen zurückhalten zu wollen.203

Während der Zeitgeist einerseits als Argument für einen bestimmten politischen Kurs herangezogen werden konnte, bot seine Unabwendbarkeit andererseits rückblickend einen Legitimationsgrund für gemachte politische Entschei 200 Schiller, An den Herausgeber, S. 177. 201 In einer Kurzgeschichte von August Ernst Friedrich Langbein (1757–1793) reitet ein junger Aristokrat aus, um den Zeitgeist zu bekämpfen. Er wird von einer Gruppe Jugend­ licher, die er als den bösen Zeitgeist identifiziert, verprügelt und findet schließlich die Liebe in den Armen des guten Zeitgeistes, einer tugendhaften Hirtin. Langbein, Junker Fritz. Vgl. Weder, Auf der Flucht. Siehe auch: Forster, Parisische Umrisse, S. 351–365; Chateau­briand, Génie du christianisme, Bd. 3, S. 162; Kotzebue, Politische Gegenstände, S. 34; Börne, Gespenst; T. Walker, Defence, S. 122–123; Raupach, Der Zeitgeist, S. 4–5, 78–79, 88–89, 130–131. Durchaus nicht satirisch war: Harral, The Demon of the Age. Vgl. F. S. Clark, Zeitgeist und Zerrbild. 202 Hegel, Grundlinien, S. xxi–xxii: »Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philo­ sophie, denn das was ist, ist die Vernunft. Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie, ihre Zeit in Gedanken erfaßt.« 203 Engel, Fürstenspiegel, S.  172–173. Siehe auch: A. Young, Travels, Bd.  2, S.  258; Von Cölln, Ueber den Zeitgeist, S.  98–99; Chateaubriand, Réflexions politiques, S.  86, 89, 106; Carlyle, Sartor Resartus, S. 162; [Weber], Geist der Zeit, S. 294; Etzler, Paradise, Bd. 2, S. 42. Kritisch dagegen: [Robinson], Letter to Christopher North, S. 900. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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dungen. Eine ›zeitgemäße‹ Politik sei notwendigerweise vorteilhaft; stelle sie sich dem Geist der Zeit entgegen, so könne sie auf Dauer nur schädliche Folgen nach sich ziehen. Die Überzeugungskraft dieses Topos war so groß, dass sie auf allen Seiten des politischen Spektrums zur Anwendung kam. In März 1814, kurz nach Napoleons erstem Sturz veröffentlichte der Diplomat und Schriftsteller François-René de Chateaubriand (1768–1848) ein Pamphlet, in dem er die Franzosen zur Unterstützung der wiederhergestellten Monarchie aufrief. »Buonaparte«, wie er den einstmaligen Kaiser jetzt wieder nannte, sei »un aventurier extraordinaire« gewesen, »enfantant sans cesse de nouveaux plans, imaginant de nouvelles lois, ne croyant régner que quand il travaille à troubler les peuples, à changer, à détruire le soir ce qu’il a créé le ­matin.« Ein solcher Mensch sei in dieser Situation für Frankreich nicht der Richtige. Ludwig XVIII. dagegen, so meinte er, bekannt wegen seiner umsichtigen und gemäßigten Politik, »convient le mieux à notre position et à l’esprit du siècle.«204 An solche Wendungen hatte man sich inzwischen gewöhnt. Wegen ihrer weiten Verbreitung war ihr rhetorisches Gewicht sogar einer gewissen Inflation unterworfen, so dass die Rede vom Zeitgeist oftmals einen etwas formelhaften, beiläufigen Charakter hatte. Wo er als positive Macht dargestellt wurde, wurde er nicht selten mit anderen spirituellen Kräften kontrastiert. So beispielsweise etwa ein Jahr später, als die Vertreter des deutschen Reichsadels auf dem ­Wiener Kongress eine Petition für ihre Erhaltung als politische und juridische Kategorie in der post-revolutionären Ordnung vorlegten. In ihren Augen hatte die Revolution in erster Linie einen Kampf zwischen Parteigeist und Zeitgeist dargestellt. Da bestimmte Gruppen den Letzteren als Deckmantel für ihre eigenen Interessen benutzten, müsse zwischen beiden geistigen Kräften klar unterschieden werden. Der Parteigeist, so erklärte man, zeichne sich hauptsächlich durch »Eigennutz, Verblendung, Unterdrückungssucht« aus. In der Revolution habe er »ein ganzes Meer von Blut vergossen, Tyrannei und Willkühr auf den Thron gesetzt«.205 Der echte Zeitgeist dagegen, sei an seiner Allgemeinheit erkennbar. Er sei nichts denn gerecht und edel und könne mit dem Finger Gottes identifiziert werden. Selbstverständlich, so folgerten die Vertreter, ver 204 Chateaubriand, De Buonaparte, S.  58–59. Rückblickend würde er die Situation später ganz anders einschätzen: »Retomber de Bonaparte et de l’Empire à ce qui les a suivis, c’est tomber de la réalité dans le néant, du sommet d’une montagne dans un gouffre. Tout n’est-il pas terminé avec Napoleon?« ders., Mémoires d’outre-tombe, Bd. 4, S. 115. Zit. in: Swart, The Sense of Decadence, S. 72. 205 [Die Bevollmächtigten des ehemaligen unmittelbaren teutschen Reichsadels], Memoire, S.  126–127. Siehe auch: Von Hardenberg, Über die Reorganisation des Preußischen Staats, S.  305, 313; Madison, President’s Message, S.  17; Von Dalberg, Betrachtungen [I], S.  251; [II], S.  241; anon., Rückblicke auf die Vergangenheit, S.  102; [No Politician], Spirit of the Age. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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langte er »die Unterdrückung des Erbadels eben so wenig, als eine Gleichstellung aller Stände«.206 Nur zwei Monate später kehrte Napoleon für weitere hundert Tage auf die europäische Bühne zurück. Auch er war davon überzeugt, dass seine Regierung mit dem Zeitgeist in Einklang war. In der in unterschiedlichen Zeitungen abgedruckten Präambel zur Verfassung des neu gegründeten Kaiserreichs, war zu lesen: »Nous avions alors pour but d’organiser un grand système fédératif européen, que nous avions, adopté comme conforme à l’esprit du siècle, et favorable aux progrès de la civilisation«.207 Aber der Zeitgeist sah das anders und Europa sollte noch 150 Jahre auf ihre Föderation warten. Die außerordentliche Popularität des Begriffs rief indessen eine weitere Welle begrifflicher Metareflexionen hervor. Man suchte eine passende, allgemein­ gültige Definition und setzte sich mit seinen konzeptionellen Problemstellen auseinander. Dabei standen ontologische, kognitive und pragmatische Fragestellungen im Mittelpunkt: Was war der metaphysische Status des Zeitgeistes? Wie konnte man ihn erkennen? Inwieweit ließ er sich von Individuen oder Gruppen lenken? Solche Debatten begleiteten den Begriffsgebrauch und bildeten dadurch gleichzeitig seinen wichtigsten Verwendungskontext. Darüber hinaus sind sie im Rahmen unserer Thematik bedeutsam, da dieselben metaphyischen, kognitiven und pragmatischen Bedenken, die in Bezug auf den Zeitgeistbegriff formuliert wurden, auch die Metareflexion auf den kulturkritischen Diskurs im Ganzen maßgeblich bestimmten. Als Ausdruck für das geschichtlich-kulturelle Ganze  – ›hinter‹ den kon­ kreten Phänomenen liegend oder ›über sie hinaus‹ – war der ontologische Status des Zeitgeists umstritten. Zwei Vokabulare steuerten seine Artikulation. Zum einen wurde eine Reihe von Ausdrücken, die ursprünglich auf Individuen an­gewendet worden waren, metaphorisch auf ›die Zeit‹ im Ganzen bezogen. Derart wurde dem Zeitgeist Charakter, Denkart, Disposition, Meinung, Gesinnung, Haltung, Stimmung, Stil, Kostüm, Manier, Bedürfnisse und Physiognomie zugesprochen.208 Alternativ nutzte man ein sensorisches Vokabular – Ton, Kolorit, Geschmack –, um den schwer fassbaren Charakter einer Zeitspanne auf den Begriff zu bringen.209 Der unsichere Status des Zeitgeistes rief Fragen nach seinen chrono­logischen, geographischen und sozialen Grenzen hervor. Wie lange währte seine Herr-

206 [Die Bevollmächtigten des ehemaligen unmittelbaren teutschen Reichsadels], Memoire, S. 125. 207 Bonaparte, Acte additionel. 208 Siehe beispielsweise: Von Cölln, Ueber den Zeitgeist, S. 96–97; [Dr. H.], Einige Bemerkungen, S. 421–423; Von Dalberg, Betrachtungen [I], S. 247. 209 Möser, Osnabrückische Geschichte, Vorrede [o. S.]; Herder, Ideen zur Geschichte und Kritik der Poesie, S. 311. Vgl. Kamerbeek, »Tijdgeest«, S. 199–200. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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schaft? 100 Jahre  – wie es vor allem der französische Ausdruck nahelegte  – oder musste er zwischen bestimmten weltgeschichtlichen Ereignissen angesiedelt werden?210 Und selbst wenn es möglich sei, die Herrschaft eines bestimmten Geistes zeitlich einigermaßen präzise zu bestimmen, berührte er dann alle seine Untertanen gleichermaßen? Die Rede vom Zeitgeist rief eine Spannung zwischen der geschichtlichen und der chronologischen Zeit hervor. Unter der Perspektive seines Wandels erschienen formal zeitgenössische Völker als zurückgeblieben – oder ihrer Zeit voraus. Dadurch öffnete sich eine differenzierte geographische Perspektive auf die Geschichte: Menschen, die sich anderswo befanden, konnten geschichtlich früher oder später sein, sich gleichsam in einer anderen Zeit befinden. Daraus konnte man, wie es beispielsweise Herder tat, kritisch folgern: »Auf unsrer runden Erde existieren auf einmal alle Zeiten, alle Stunden des Tages und Jahres, vielleicht auch alle Zustände des menschlichen Geschlechts«.211 Analoge Folgerungen ließen sich aber, schien es, auch innerhalb einzelner Kulturen ziehen, da offensichtlich nicht alle Individuen gleichermaßen vom Geist der Zeit betroffen waren.212 Es stellte sich die Frage, wo und bei wem der eigentliche Zeitgeist aufge­ funden werden konnte. Welche Gruppe oder welches Individuum konnte Anspruch darauf erheben, als »Groß-Siegelbewahrer der Ideen der Zeit«213 gelten zu können? Oder musste man, wie Jean Paul vermutete, folgern, dass »dieselbe unausmeßbare Jetzo-Zeit Millionen verschiedene Zeit-Geister haben muß«?214 Eine populäre semantische Strategie, die Ungreifbarkeit des Zeitgeistes zu stabilisieren, war, ihn von kulturellen Tendenzen ohne gesamtkulturelle Signifikanz abzugrenzen. Vor allem sollte der Zeitgeist von der Mode – seine »unächte Schwester«, wie Herder sie nannte215  – unterschieden werden. Die Verwen-

210 Jean Paul, Levana, Bd. 1, S. 101–123; L. P. de Ségur, L’esprit du siècle, S. 380. Es sollte in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, dass der Begriff Epoche noch bis Ende des 18. Jahrhunderts vor allem den Einschnitt zwischen zwei Zeiträumen bezeichnete und erst später auch den Zeitraum selbst. Vgl. Koselleck, Das achtzehnte Jahrhundert, S. 269. In dem Sinne kann die Moderne mit Cornelia Klinger »die Epoche des Epochenbegriffs« genannt werden. Klinger, Modern / Moderne / Modernismus, S. 130. 211 Herder, Briefe, Bd. 2, S. 15. 212 »Es kann einer hinter seinem Zeitalter zurück sein, weil er während seiner Bildung nie mit einer sattsamen Masse der allgemeinen Individualität in Berührung gekommen, der enge Cirkel aber, in welchem er sich gebildet, noch ein Ueberrest der alten Zeit ist. Es kann ein anderer seinem Zeitalter vorgeeilt seyn, und in seiner Brust schon den Anfang der neuen Zeit tragen, indess rund um ihn her die führ ihn alte, in der Wahrheit aber wirkliche, dermalige und gegenwärtige herrscht.« Fichte, Grundzüge, S.  13. Siehe auch: Reinhold, Geist unsres Zeitalters, S.  225–227; Herder, Briefe, Bd.  2, S.  5–18; Ancillon, Über Souveränität, S. 70–71. 213 Kotzebue, Politik, S. 214. 214 Jean Paul, Levana, Bd. 1, S. 103. 215 Herder, Briefe, Bd. 2, S. 8. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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dungsweisen beider Begriffe überschnitten sich offensichtlich stark. Die Mode aber brachte Konnotationen flüchtiger Oberflächlichkeit und Belanglosigkeit mit sich, welche die Deuter des Zeitgeistes nicht gebrauchen konnten. Eine zweite offene Flanke des Begriffs war seine kognitive Legitimität. Der Geist selbst war als eine Macht konzipiert, die nur insofern er in Gegenständen, Institutionen, Praktiken und Ereignissen zum Ausdruck kam, zur Sichtbarkeit gelangte. Dieser Übergang wurde dem Sprachgebrauch der meta­physischen Tradition gemäß mit der Materialisierung eines Geistes, der Prägung einer Münze oder der Artikulierung einer Stimme in Verbindung gebracht.216 Aber gerade solches Vokabular stieß in einer Zeit, die fest davon überzeugt war, die metaphysischen Erklärungsmodi hinter sich gelassen zu haben, auf Skepsis. Welche Phänomene konnten als Zeichen der Zeit gelten? Wie konnte man sie von anderen zeitgenössischen Phänomenen, deren Existenz keine Signifikanz für den spirituellen Zustand der Zeit hatte, unterscheiden? Wenn mehrere Personen unterschiedliche Zeichen wahrnahmen oder sie unterschiedlich deuteten, gab es dann eine verlässliche Methode, zwischen widersprüchlichen Behauptungen zu entscheiden?217 Und wenn nicht, musste man dann nicht vermuten, das dasjenige, was als Zeitgeist präsentiert wurde, de facto nur ein kognitives testimonium paupertatis war, eine irreleitende Bezeichnung für noch nicht erklärte phänomenale Zusammenhänge?218 Oder noch schlimmer: ein bloßer Vorwand für die Interessen einer bestimmten Gruppe?219 Wie die metaphysischen so hinderten auch die epistemischen Einwände gegen den Zeitgeistbegriff seine weitere Verwendung nur wenig. Stärker noch: In diesem Fall bewirkte die Kritik das genaue Gegenteil von dem, was sie beabsichtigte. Sie führte nicht zur Entwertung des Begriffs, sondern wurde vielmehr zum Anlass für eine Infragestellung des herkömmlichen Erkenntnisbegriffs, 216 Siehe beispielsweise: [Von Hendrich], Geist des Zeitalters, S. 187; Von Cölln, Ueber den Zeitgeist, S. 99, 104. 217 Anon., [Rezension zu:] Manuel de l’homme du monde, S.  209–210; [v.K.], Geist der Völker [I], S. 13–14; [K.], Über die rückgängige Bewegung, S. 325–326; Carlyle, Signs of the Times, S. 441; anon., Effects of Machinery, S. 223; Von Wessenberg, Beurtheilung des Zeitgeists, S. 387. Die Rede von den »Zeichen der Zeit« entstammte ursprünglich dem Sprach­ gebrauch der Apokalyptik und tauchte in religiösen Zusammenhängen auch weiterhin in diesem Sinne auf. Vgl. beispielsweise: H. Müller, Vorrede; Linn, Discourses. 218 So sah der englische Historiker William Roscoe (1753–1831) im Zeitgeist nichts weiter denn: »another phrase for causes and circumstances which have not hitherto been sufficiently explained«. Roscoe, Leo the Tenth, Bd.  1, S.  xxxviii. Zit. in: Kamerbeek, »Tijdgeest«, S. 209. 219 »L’esprit du siècle devrait être facile à connaître, puisque c’est l’esprit de tout le monde; mais il est souvent étrangement défiguré par l’esprit de parti, de secte, de classe, de société, de coterie, qui tous le représentent à leur manière; chacun le voit avec ses lunettes, le mesure à sa taille, le juge avec son opinion, et lui prête sa couleur.« L. P. de Ségur, L’esprit du siècle, S. 382. Siehe auch: Reinhold, Geist unsres Zeitalters, S.  225; Brandes, Über den Zeitgeist, S.  251; ­Southey, Sir Thomas More, Bd. 1, S. 30–31; Saphir, Unser Zeitgeist, S. 27. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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aus dessen Sicht die kognitive Legitimität des Zeitgeistes angezweifelt worden war. Die Einsicht in die spirituelle Konstitution der Kultur war offensichtlich kein gewöhnlicher Erkenntnismodus. Daraus aber zu folgern, dass es gar keine wirkliche Erkenntnis sei, dazu waren die Deuter des Zeitgeistes nicht bereit. Vielmehr müsse man, so die Entgegnung, zwischen den geläufigen Erkenntnisweisen und der Einsicht in die Verfassung der Zeit unterscheiden. Dies bot den Befürwortern des Zeitgeistbegriffs die Gelegenheit, ihren überlegenen Status noch einmal zu unterstreichen. In diesem Sinne räumte Friedrich von Cölln (1766?–1820), preußischer Staatsmann und Herausgeber einer populären politischen Zeitschrift, in einem Aufsatz über den Zeitgeist ein, man könne ihn nicht mit »mathematischer Gewißheit« berechnen. Die »Meßkunst« beziehe sich eben nur auf leblosen Körper. Um den Zeitgeist zu erkennen, reiche solche gewöhnliche Geometrie nicht aus, sondern sei Vernunft erforderlich.220 Alternativ wurde der Einblick in die Verfassung der Zeit auch Inspiration, Intuition, Divination oder Ahnung genannt.221 Entscheidend für seine definitorische Bestimmung war aber stets, dass es sich um eine dezidiert esoterische Erkenntisart handelte: Nicht jeder sei im Stande, die Zeichen der Zeit zu deuten und nicht jeder könne diese Fähigkeit erlernen. Den Wenigen – natürlich rechnete sich der jeweilige Autor selbst dazu –, die es konnten, kam dementsprechend ein spezieller Status zu. Sie wurden im Vokabular überlieferter Stereotypen als weise Außenseiter charakterisiert. Von Cölln bezeichnete die Auserwählten, die den Geist der Zeit zu er­kennen vermochten, selbst wiederum als »Geister«.222 Es handele sich um Individuen, die  – wie beispielsweise Jesus  – einen solch hohen Grad moralischer Größe besaßen, dass sie über die irdischen Phänomene hinwegschauend deren geschichtlichen Sinn erkennen konnten.223 Andere nannten solche Exzen­triker Weise, Priester, Dichter, Philosophen, Genies oder Visionäre. Ihr kontemplatives Dasein außerhalb der Gesellschaft befähige sie, weiter als andere zu blicken. Ihre Stimme sei nicht länger ihre eigene: Sie verlautbaren die Stimme der Zeit selbst.224 Während die diskursive Einordnung in die etablierte Tradition der vita contemplativa die Deuter des Zeitgeistes einerseits legitimierte, öffnete 220 Von Cölln, Ueber den Zeitgeist, S. 103–104. Vgl. Hermann, Reformpublizistik, S. 263. 221 Fichte, Grundzüge, S. 534–535; Von Eichendorff, Bedeutung der neueren romantischen Poesie, S. 2. 222 »Der Mensch also, welcher den Keim seines Geistes, der er von der Natur empfing, in sich zum geistigen Wesen entwickelt – der Mensch, welcher dem ihm einwohnenden Geiste eine moralische Größe angebildet hat, der wird den Zeitgeist empfinden – er wird ihn durch das geistige Gefühl erkennen, noch ehe er sich in seinen Schöpfungen den körperlichen Sinnen erkennbar macht.« Von Cölln, Ueber den Zeitgeist, S. 99. 223 Ebd., S. 99–100. Siehe auch: Brown, Estimate, S. 11–12. 224 Beispielsweise: Hölderlin, Der Zeitgeist; Görres, Teutschland, S.  4–5; Carlyle, Sartor Resartus, S. 160–161. Vgl. Kamerbeek, »Tijdgeest«, S. 203; Kempter, Herder, Hölderlin, S. 66– 72. Zu diesem Thema ausführlicher: Kapitel III bis V. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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sie umgekehrt auch neue Möglichkeiten ihrer Kritik. Klang das Pathos dieser Visionäre nicht etwas bekannt? »[D]ie vormaligen Traumdeutereien und Anschauungen der Gegenwart,« so Jean Paul, »lehren uns Misstrauen in unserer jetzigen.«225 Die Entlarvung der spirituellen Interpreten des Zeitalters als eine weitere Folge in der langen Reihe falscher Propheten wurde zu einem zentralen Topos der kritischen und satirischen Auseinandersetzung mit ihnen. Darauf wird im Folgenden weiter einzugehen sein. Schließlich wurde immer wieder die Frage nach dem Verhältnis des Zeitgeistes zum Menschen aufgeworfen.226 In solchen Auseinandersetzungen erhielt die alte Frage nach der menschlichen Freiheit angesichts determinierender Umstände eine neue Dimension. Aus der Praxis, Zeitabschnitte nach den sie prägenden Personen zu benennen, ging jetzt die Frage hervor, wie das Verhältnis zwischen solchen Ausnahmemenschen und ihrem Zeitalter genau zu bestimmen sei. Als beispielhafte »Helden des Zeitalters«227 galten neben Jesus vor allem Mohammed, Caesar, Luther, Newton, Ludwig XIV., Voltaire, Friedrich II. und Napoleon.228 Die Art und Weise, wie sie auf ihre Zeit gewirkt hatten, war allerdings umstritten. Waren sie tatsächlich im Stande gewesen, den Geist ihrer Zeit zu lenken, oder beschränkte sich ihre besondere Fähigkeit darauf, seine Tendenzen zu erkennen und dieses Wissen für ihre eigenen Zwecke einzusetzen? Waren sie bloße Repräsentanten des Zeitgeistes oder hatten sie Macht über ihn?229 Nicht weniger drängend, auch für die Geisterseher selbst, war die Frage, ob es überhaupt möglich sei, sich von seiner Zeit zu lösen und zu einem unbefangenen Überblick über sie zu gelangen. »Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sey nicht sein Geschöpf«, riet Schiller.230 Das war aber leichter gesagt als getan. 225 Jean Paul, Levana, Bd. 1, S. 104. 226 Analoge Fragen wurden bezüglich der Revolution diskutiert. So fragte sich Georg Forster (1754–1794) in seinen Berichten aus Paris »ob die Revolution mehr für die Menschen, als die Menschen für die Revolution gemacht sind?« Der Exilant Joseph de Maistre hielt die Frage für längst beantwortet: »ce ne sont point les hommes qui mènent la Révolution, c’est la Révolution qui emploie les hommes.« Forster, Parisische Umrisse, S. 356; Maistre, Considérations, S. 15. 227 Fichte, Grundzüge, S. 85. 228 Mercier, Jean Hennuyer, S.  10; [W.r.r], Ein Wort, S.  386–387; Arndt, Geist der Zeit, S. 21, 309, 428–429; [v.K.], Geist der Völker [IV], S. 81–82; [Weber], Geist der Zeit, S. 295–296. Nach derselben Logik enthielt »The Spirit of the Age« (1825) des englischen Essayisten William Hazlitt (1778–1830) eine Reihe von biographischen Skizzen eminenter Persönlichkeiten. Hazlitt, The Spirit of the Age. Vgl. Gembicki, Siècle, S. 250. 229 Herder, Briefe, Bd. 2, S. 10–11; Neeb, Über den allgemein herrschenden Geist, S. 5–6; Jackson, The Four Ages, S. 40; Carus, Anaxagoras, S. 165–168; [v.K.], Geist der Völker [IV], S. 81–82; L. P. de Ségur, L’esprit du siècle, S. 382–383; Shelley, Promotheus Unbound, S. xiii; Th. B. Macaulay, [Rezension zu:] Dryden, S. 2. 230 Schiller, Ästhetische Erziehung, S. 47. Siehe auch: Rousseau, Discours sur les Sciences & les Arts, Préface [o. S.], S. 43; Villemaire, L’andrometrie, S. 1–2; Schiller, An Friedrich Heinrich Jacobi, S. 196–197; Fichte, Grundzüge, S. 49, 528–529, 532. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Kann man sein Zeitalter und seine eigene geschichtliche Identität hinter sich lassen und wirklich ›unzeitgemäß‹ sein?231 Fragen wie diese begleiteten den Zeitgeistbegriff im Einzelnen ebenso wie den Diskurs der Kulturkritik im Ganzen. Es gehört zu den Paradoxen der Diskursgeschichte, dass in beiden Fällen letztendlich weder die satirischen Infragestellungen ihrer Glaubwürdigkeit noch die Argumente gegen ihre metaphysische, kognitive und pragmatische Legitimität im Stande waren, ihre Verbreitung aufzuhalten. Daraus folgt aber nicht, dass sie folgenlos blieben. Die Auseinandersetzungen mit dem Diskurs der Kulturkritik stellten eine ernst zu nehmende Situationsbedingung seiner Verbreitung dar. Jede Kritik an seinen Aussagen wiederholte ihre semantischen Artikulationsmuster und verhalf diesen  – unbewusst und gegen die Interessen der gegnerischen Autoren  – zu breiterer Erkennbarkeit und diskursiver Akzeptanz. Auf solche negativen und positiven Effekten der feindlichen Außendarstellungen auf den Diskurs ist im nächsten Abschnitt weiter einzugehen. Es werden die Formen skizziert, in denen Kulturkritik in zeitgenössischen Meta-Diskursen reflektiert wurde. Dabei wird eine Frage aufzuwerfen sein, die in den nächsten Kapiteln eine wichtige Rolle spielen wird: Beschränkte sich die Rolle der feindlichen Außendarstellungen darauf, als Kontextfaktor den diskursiven Erfolg der Kulturkritik zu bedingen, oder reichten sie weiter – bis in den Diskurs selbst hinein – und bedingten sie von vornherein ihre semantische Form?

3. Außenwahrnehmung und Selbstinszenierung Die Herausbildung der modernen  – geschichtlich orientierten  – Formen der Kulturreflexion im 18.  Jahrhundert wurde in der zeitgenössischen Öffentlichkeit schon früh wahrgenommen und diskutiert. Spätestens ab der Mitte des Jahrhunderts, als die Auseinandersetzungen um den ersten Diskurs ­Rousseaus232 ein breites Publikum mit dem Thema vertraut gemacht hatten, 231 Auch Wilhelm Nienstädt (1784–1862), Schriftsteller und Erzieher des preußischen Prinzen Albrecht, Sohns Friedrich Wilhelms III., hielt die Fähigkeit, »den Blick, nie zerstreut durch das Einzelne, stets auf das große Leben des Ganzen gerichtet zu erhalten«, für eine seltene Gabe. Ihre größte Schwierigkeit schien ihm darin zu bestehen, dass der Mensch, »wie hoch er sich auch stellen und wie weithin sein Blick die Gebiete des Wissens durcheilen möge, nirgend die Schranken seines eigenthümlichen Daseins zu verläugnen vermag, sondern unwillkührlich allem, was er vornimmt, das Gepräge seiner Erfahrungen und Umgebungen, der Sprache wie der Sitten in welchen er gewöhnt worden, und unzählicher andrer Unstände mittheilen wird, die ihn im Leben, hemmend oder fördernd, überall umlagern.« [Nienstädt], Darstellung unsrer Zeit, Bd. 1, S. 8. Siehe auch: [Jenyns], Some Doubts, S. 43–44; Brown, An Explanatory Defence, S. 13; Goethe, Faust, S. 39; Hegel, Grundlinien, S. xxii; [Mill], Spirit of the Age [I]; [Weber], Geist der Zeit, S. 302. 232 Vgl. (mit Quellen): Tente, Die Polemik um den ersten Discours. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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gehörten Metareflexionen über die Bedeutung und die kognitiven Grund­lagen solcher kulturreflexiven Diskurse zu den festen Bestandteilen ihres rhetorischen Umfeldes. Die Identität und die Grenzen des Diskurses wurden in solchen Auseinandersetzungen nicht nur wahrgenommen und reproduziert, sondern in einem ständigen Verhandlungsprozess in eigentlichem Sinne erst hervorgebracht. Die Rezeption der Kulturkritik in ihrer Entstehungsphase zeichnete sich dabei durch drei zentrale Argumentationsmuster aus, die das Reden über Kulturkritik bis heute bestimmen: Parallelisierung, Traditionalisierung und Entlarvung. Spätestens ab den siebziger Jahren des 18.  Jahrhunderts gehörte die kon­ trastierende Parallelisierung der Kulturkritik mit den zeitgleich kursierenden Fortschrittsdiskursen zu den zentralen Gemeinplätzen ihrer öffentlichen Verhandlung. Im Rahmen solcher Meta-Diskurse wurden Fortschritt und De­ kadenz als spiegelbildliches Gegensatzpaar gedacht, das metonymisch zwei einander diametral entgegengesetzte Denkarten bezeichnete.233 In seiner »Du gouvernement des mœurs« (1784) stellte der Bürgermeister von Lausanne, Antoine Pollier de Saint-Germain (1705–1797), »les prôneurs & les détracteurs du temps passé« einander gegenüber und identifizierte sie chiastisch mit »les panégyristes & les frondeurs du temps présent«. Er verstand die beiden Gruppen als Verkörperungen zweier kontradiktorischer Antworten auf die uralte Frage »s’il est vrai que le genre humain marche & s’avance naturellement à grands pas vers le plus haut degré de perfection, ou s’il tend invinciblement à une dégénération totale«?234 Während die einen sich der physischen und moralischen Fortschritte erfreuten, die der Menschheit durch die zunehmende Verbreitung des Handels, der höflichen Umgangsformen, der Wissenschaften und Künste, der Philo­ sophie und der aufgeklärten Politik zugefallen waren, und voller Hoffnung in die Zukunft blickten, malten die anderen mit schwarzen Pinselstrichen eine Gegenwart, in der lediglich die Mittel zur Befriedigung der Laster und Unter­ drückung der Mitmenschen sich vervielfältigt hätten und eine falsch verstandene Philosophie die gewachsenen gesellschaftlichen Institutionen unter dem Vorwand, Vorurteile zu beseitigen, vernichte. Saint-Germain nutzte die idealtypische Gegenüberstellung von Fortschrittsgläubigen und Verfallsprediger, um seine Position in der gemäßigten Mitte zu verorten. Die Frage habe so viele Facetten, meinte er, dass jedes generelle Urteil eine Verkürzung beinhalten würde.235 Auf die sicherlich etwas verklärte, aber geläufige Vorstellung zurückgreifend, die Lobredner und Verächter des Zeitalters hätten ihre Auffassung auf eine 233 Siehe beispielsweise: [C.], Tuesday; Lenz, Der neue Menoza, S. 22–24, 44–50; Laboulinière, De l’influence, S. 11–12; Mill, Coleridge, S. 141–142. 234 Saint-Germain, Du gouvernement des mœurs, S. 39. 235 Ebd., S. 37–38, 47. Siehe auch: Chamfort, Maximes, S. 10. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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nüchterne Bilanzrechnung des Guten und Bösen in der Gegenwart gegründet, schrieb er belehrend: […] la somme totale du bien & du mal en différens temps & en différens lieux donnés, est trop difficile à supporter pour pouvoir en établir la juste balance, & quoiqu’en puissent dire les calculateurs de félicité du genre humain & les estimateurs de ses perfections, il n’est point encore décidé, si en avançant en âge il a gagné, ou s’il a perdu.236

Während manche die Parallelisierung von Fortschritts- und Dekadenznarra­ tiven in dieser Weise in Anspruch nahmen, um beide Positionen als verzerrte Extreme darzustellen und sie auf einen juste milieu zu beziehen, verwendeten sie andere, um die Vorzüge von einer der beiden Optionen auf Kosten der anderen hervorzuheben.237 Auch Kant wendete die Parallelisierungsstrategie in diesem Sinne an. In seiner »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« (1793) stellte er der »heroische[n] Meinung«, dass der moralische Gesamtzustand der Welt immer besser werde – oder zumindest die Anlage dazu im Wesen des Menschen angelegt sei –, die Klage über die fortschreitende Dekadenz gegenüber. Die optimistische Position sei »sicherlich nicht aus der Erfahrung geschöpft […] denn da spricht die Geschichte aller Zeiten gar zu mächtig gegen sie«. Es handele sich um eine sympathische, aber kognitiv nicht eigentlich legitimierbare Annahme, eine »gutmüthige Voraussetzung« seitens bestimmter »­Pädagogen« im Dienste der moralischen Bildung.238 Während der pädagogische Wert des Fortschrittsoptimismus seine mangelhafte kognitive Legitimität ausgleichen konnte, konnte der Dekadenzgedanke eine solche Kompensation nicht für sich beanspruchen, so dass die scheinbar spiegelbildliche Parallele sich letztendlich doch als asymmetrische Kontrastfigur herausstellte. Auf der pessimistischen Seite des Gegensatzes stellte Kant 236 Saint-Germain, Du gouvernement des mœurs, S. 38. Siehe auch: Ebd., S. 47. 237 So schrieb Johann Carl Wezel (1747–1819) in seinem »Belphegor« (1776): »Wer die Erde zum Garten, zur Heimath der Glückseligkeit macht, ist ein Schwärmer oder ein Unwissender; wer sie als eine Wüste, ein Jammerthal schildert, ist ein Milzsüchtiger oder ein Bösewicht. Sie ist ein Mittel zwischen beiden, ein what d’ye call it.« Zit. n. Jacobs, Aporien der Aufklärung, S. 164. Vgl. Ebd., S. 156–166. Siehe auch: [Nienstädt], Darstellung unserer Zeit, Bd. 1, S. 6. 238 Kant, Die Religion, S. 4–5. Bekanntlich übernahm Kant diese Annahme als Hypothese der praktischen Vernunft: »Daß die Welt im Ganzen immer zum Bessern fortschreite, dies anzunehmen berechtiget ihn [den Menschen, Th. J.] keine Theorie, aber wohl die reine praktische Vernunft, welche nach einer solchen Hypothese zu handeln dogmatisch gebietet, und so nach diesem Prinzip sich eine Theorie macht, der er zwar in dieser Absicht nichts weiter, als die Denkbarkeit unterlegen kann, welches in theoretischer Rücksicht, die objective Rea­ lität dieses Ideales darzuthun, bey weitem nicht hinreichend ist, in moralisch-praktischer aber der Vernunft völlig Gnüge thut.« ders., Fortschritte in der Metaphysik, S. 140. Kurz vor seinem Tod ging er sogar noch weiter: die These sei ein »nicht bloß gutgemeinter und in praktischer Absicht empfehlungswürdiger, sondern allen Ungläubigen zum Trotz auch für die strengste Theorie haltbarer Satz«. ders., Erneuerte Frage, S. 446. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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die Frage nach der hinter der Aussage liegenden Intention gar nicht erst. Stattdessen lag sein Fokus ausschließlich auf einem anderen Aspekt: seiner langen Tradition. »Daß die Welt im Argen liege: ist eine Klage, die so alt ist, als die Geschichte,« schrieb er und evozierte zur Begründung eine Reihe von Belege aus dem weitest möglichen zeitlichen und räumlichen Kreis. Von den ältesten Quellen der Menschheitsgeschichte überhaupt (die Dichtungen der »Priesterreligion«) bis hin zu den Berichten aus »Hindostan« habe es immer wieder Menschen gegeben, welche am Anfang der Gesichte ein goldenes Zeitalter wahrzunehmen meinten und ihren seitherigen Verlauf als einen sich immer mehr beschleunigenden Verfall beschrieben, so dass jetzt – »(dieses Jetzt ist aber so alt, als die Geschichte)« – die Apokalypse bevorstehe.239 Damit sind wir beim zweiten Argumentationsmuster angelangt: Die Ein­ bindung der gegenwärtigen Kritik am kulturellen Verfall in eine lange Tradition der Gegenwartsklagen war ein fester Bestandteil ihrer zeitgenössischen Verhandlung. Sie wurde mit einer Reihe von Zitaten belegt, die als topische Eckpunkte einer postulierten Tradition galten. Immer wieder wurden die gleichen Stellen wiederholt: die Rede Nestors in der Ilias, in der er Achilles und Agamemnon die Heroen seiner Jugend vor Augen führt;240 die Warnung aus dem Bibelbuch Prediger: »Sprich nicht: Was ist’s, daß die vorigen Tage besser waren als diese? denn du fragst solches nicht weislich.«;241 die dreizehnte Satire Juvenals (58?-138?), in dem er das alte Motiv der Aufeinanderfolge des goldenen, des silbernen und des eisernen Zeitalters ad absurdum führte und die Gegenwart als neuntes Zeitalter ausrief, so schlimm, dass kein Metall wertlos genug sei zu seiner Bezeichnung.242 Das wichtigste Zitat in diesem Zusammenhang, gleichsam die Achse, um die sich die Debatte um die Legitimität der Kritik am eigenen Zeitalter drehte, stammte aus einer Ode von Horaz (65–9 v.Chr.) und lautete in einer zeitgenössischen Übersetzung Friedrich von Hagedorns (1708–1754): Was mindert nicht die Zeit? Verarten wir nicht immer? Die Römer sind nicht mehr was sie gewesen sind: Die Ahnen waren arg, die Väter wurden schlimmer, Und ärger, als wir selbst, wird Kind und Kindes-Kind.243 239 Ders., Die Religion, S. 3–4. 240 Ilias α, V. 260–274. 241 Prediger 7, 10.  Siehe zur zeitgenössischen Interpretation: Wesley, Of Former Times, S. 430. 242 »Nona aetas agitur peioraque saecula ferri / temporibus, quorum sceleri non inuenit ipsa / nomen et a nullo posuit natura metallo.« Juvenal, Satire XIII, 28–30. 243 Von Hagedorn, Oden und Lieder, S. 12. Im Original lautete es: »Damnosa quid non ­imminuit dies? / Ætas parentum, pejor avis, tullit / Nos nequiores, mox daturos / Progeniem vitiosiorem.« Horaz, Ode, Buch III, 6.  Diderot setzte sich ausführlich mit dieser Ode auseinander: Diderot, Lettre à M. l’abbé Galiani, S. 148–169. Für eine zeitgenössische englische Übersetzung, siehe: Roscomon, The VI. Ode, S. 114. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Das Zitat übernahm im Rahmen der Diskussion um die Gegenwartskritik je nach Ausgangspunkt des jeweiligen Autors unterschiedliche Funktionen. Manche nutzten Horaz als Autorität, um ihrer eigenen Gegenwartskritik Kraft zu verleihen. Sie lasen die Stelle als Beleg einer alten Wahrheit.244 Andere, darunter Voltaire, nahmen sie als Ausgangspunkt für die Evokation einer durch die moderne Philosophie hervorzubringenden geschichtlichen Revolution. Während die alte Welt durch einen kontinuierlichen Verfall gekennzeichnet gewesen sei, sei diese negative Tendenz im heutigen Zeitalter durchbrochen. C’est à la philosophie, qui fait aujourd’hui tant de progrès, d’adoucir les mœurs des hommes; c’est à notre siécle de réparer les crimes des siécles passés. Il est certain que quand l’esprit de tolérance sera établi, on ne poura plus dire Ætas parentum pejor avis tulit Nos nequiores, mox daturos Progeniem vitiosiorem. On dira plutôt, mais en meilleurs vers que ceux-ci : Nos ayeux ont été des monstres exécrables,   Nos pères ont été méchans ;   On voit aujourd’hui leurs enfans, Etant plus éclairés devenir plus traitables.245

Am häufigsten aber galt das Zitat als Beleg, dass die Kritiker des Zeitalters nichts wesentlich Neues zu sagen hatten.246 Die bloße Tatsache, dass in jedem Zeitalter dieselbe Klage über den Verfall der Sitten laut geworden war, galt als 244 [A. Z.], To the Author; Formey, Principes de morale, Bd.  1, S.  14; [Poplicola], Essay, S.  25; W. Williams, Primitive History, S.  61; anon., Of Public Executions, S.  349; Bowles, ­Political and Moral State, [Motto]. Auch Rousseau spielte auf die Stelle an, als er seinem Leser vorhielt: »Mécontent de ton état present, par des raisons qui annoncent à ta Postérité malheureuse de plus grands mécontentemens encore, peut-être voudrois tu pouvoir rétrogader; Et ce sentiment doit faire l’Eloge de tes premiers ayeux, la critique de tes contemporains, & l’effroi de ceux, qui auront le malheur de vivre après toi.« Rousseau, Discours sur l’inégalité, S. 8–9. 245 Voltaire, Conspirations, S. 110–111. Siehe auch: [Grimm], Paris, août 1787, S. 434–435. Siehe auch: Tetens, Philosophische Versuche, Bd. 2, S. 768. 246 Saint-Germain, Du gouvernement des mœurs, S.  48; Kant, Die Religion, S.  4. Siehe auch: [Mercator], On Frugality, S.  3; Duclos, Considérations, S. 94–95; [Jenyns], Some Doubts, S. 73; Hume, Refinement in the Arts, S. 38; Rétif de la Bretonne, Les nuits de Paris, Bd. 3, S. 1267; [H.], Saturday, March 27, 1790, S. 7–10; Nachtigal, Ueber den Wunsch, S. 147; [Von Hendrich], Geist des Zeitalters, S. 72; anon., The Reformer, S. 295; L. P. de Ségur, L’esprit du siècle, S. 383. In der von Robert Dodsley herausgegebene literarische Zeitschrift »The World« (1753–1756) war der ewige Wiederkehr der Klage ein immer wiederkehrendes Thema: anon., Thursday, June the 6th, 1754, S.  449; Fitz-Adam, Thursday, October the 7th, 1756; anon., Thursday, February the 26th, 1756. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Gegenargument gegen ihre Bedeutung im eigenen.247 So wurde das Alter des Horazschen Zitats gegen seinen Inhalt gerichtet. Auch die Kritiker selbst wussten um diese Problematik und mussten mit ihr rechnen. Der Marquis de Vauvenargues (1715–1747), der die Tradition des französischen Moralismus weiterführte und dabei entscheidende Schritte in Richtung der Kulturkritik machte, fasst ihre rhetorische Situation wie folgt zu­sammen: Ce qu’il y a de plus difficile lorsqu’on écrit contre les mœurs, c’est de bien convaincre les hommes de la vérité de leurs déréglemens. Comme ils n’ont jamais manqué de censeurs à cet égard, ils sont persuadés que les désordres qu’on attaque ont été de tout temps les mêmes; que ce sont des vices attachés à la nature, et par cette raison inévitables; des vices, s’ils osaient le dire, nécessaires et presque innocens.248

Der Verdacht der ewigen Wiederkehr bildete ein Kardinalmotiv in den Fremddarstellungen der Kulturkritik. Er traf sie mitten ins Herz. Einerseits, da er der geschichtlichen Dimension des Verfalls, der sie konstituierte, eine unveränder­ liche condition humaine gegenüberstellte. Andererseits, da er das Pathos der Einmaligkeit, von der ihre Überzeugungskraft im Wesentlichen abhängig war, als Alarmismus bloßstellte. In ihrer Wiederholung wurde die Diagnose ad absurdum geführt und als kulturelle Hypochondrie diagnostiziert. Von einer ernstzunehmenden Reaktion auf den kritischen Zustand und die General­ entwicklung der Kultur wurde sie nun selbst zu einem Symptom herabgewertet, das einer irgendwie anders gearteten Erklärung bedurfte. So bildete die Iden­ tifikation kulturkritischer Äußerungen als Teil  einer altbekannten Diskurs­ tradition die Grundlage für eine Reihe von Entlarvungsstrategien, die gegen sie ins Feld geführt wurden. 247 In einem Aufsatz in der »Neuen Berlinischen Monatsschrift« setzte Friedrich Nicolai (1733–1811) diese Konstellation in der Form eines Dialogs in Szene. Die Ich-Figur trifft sich mit einem jungen Mann, der durch den Niedergang Preußens nach dem »philosophischen« Zeitalter Friedrichs II. so enttäuscht ist, dass er am Zeitalter im Ganzen verzweifelt. »Mein kummervoller Philosoph besuchte mich kürzlich, und fand mich in einem Buche lesend. Er wiederholte seine gewöhnliche Klage über das entsetzliche Verderben des Zeitalters.« ›Nicolai‹ liest ihm eine Passage aus dem Buch vor, das er gerade las und in dem die Epoche ebenfalls in den heftigsten Tönen kritisiert wird. »Wie wahr! wie richtig! Das ist die rechte Schilderung des Zeitalters!« ruft der Jüngling aus. Dann aber stellt sich heraus, dass es sich um einen Reise­bericht aus dem 14.  Jahrhundert handelt und er muss einsehen, dass sich die Klage über die Gesamtkultur durch seine Dauerwiederholung selbst delegitimiert. Der Dialog schließt mit einer auf »Candide« anspielenden Moral: »durch Murren und Schimpfen aufs Zeitalter wird es auch nicht besser, wenn man dabei die Hände in den Schooß legt. Wissen Sie was? Wir wollen die Welt im Großen gehen lassen, wie sie will oder kann. Wir wollen beide nur suchen, uns selbst zu bessern, womit wir genug werden zu thun haben.« Nicolai, Über das itzige verderbte Zeitalter, S. 100, 113, 116. 248 Vauvenargues, Discours, S. 258. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Es entstanden ausführliche Abhandlungen über die Psycho- und Sozio­ diagnostik des zum Typus erhobenen »Hrn. von Sorgenreich« und seiner »Sprache der Unzufriedenheit«.249 Wilhelm Leonhard Kriege (1761–1834), der Amtsvorgänger Schleiermachers als Prediger der Charité in Berlin, widmete 1790 den »schreyenden Klagelieder[n]« der Kulturkritiker einen Aufsatz unter dem Titel »Ueber die Klage: daß die Welt immer schlechter werde«.250 Er wies wiederholt darauf hin, dass der in der Revolutionszeit erneut aufgeflammte Jammer über den Sittenverfall nichts Neues sei. Die Idee von der zunehmenden Verschlimmerung der Menschen und dem Laufe der Dinge, läßt sich sehr wohl als ein allgemein naturalisirter Volksglaube gedenken, dessen Existenz sich in’s Dunkel der entferntesten Vorzeit verliert. Ihr hohes Alterthum möcht fast beweisen, daß sie ein nothwendiges Produkt der allmähligen Geistes­ entwickelung, mithin schon in den Anlagen der menschlichen Natur gegründet sey.251

Die lange Vorgeschichte der Weltklage ließ nach Krieges Ansichten eher auf eine allgemein-anthropologische als auf eine spezifisch im Zeitalter gründende Erklärung schließen. Ihr Pathos führte er auf eine vierfache Pathologie zurück: (1.) die ständige Unzufriedenheit des Menschen mit seiner Lage; (2.) seinen mangelhaften Begriff vom Glück; (3.) seine Neigung, die Welt nicht so zu nehmen, wie sie ist, sondern sie nach dem Kriterium, wie sie sein sollte, zu beurteilen, und schließlich (4.) seine Tendenz, in unzulässiger Weise vom »Einzelnen aufs Ganze« zu schließen.252 Zusammen hatten diese Faktoren, so Kriege, das literarische Genre der Dauerklage hervorgerufen. Sie solle nicht sosehr in ihren Aussagen ernst genommen, als vielmehr als Symptom eines mangelhaften Verständnisses der Welt und des Lebens enttarnt werden. Es scheint daher das ominöse Geschrey von der Sitten- und Zeitenverderbniß ein wahres Erbgut zu seyn, welches die jedesmalige Vorwelt der Nachkommenschaft treu und unverfälscht hinterlassen hat. Vor uns war’s wenigstens so, nach uns wird’s nicht anders seyn. Die Zeiten, die wir verachten, werden unsere Nachkommen loben; und so wird ein Jeder in seinem Zeitalter den Verlust des goldnen finden.253

Derart ausführliche, quasi-wissenschaftlichen Abhandlungen über die Kultur­ kritik blieben selbstverständlich die Ausnahme. Weiter verbreitet waren p ­ auschale Abrechnungen und Diffamierungen. Indem die kritische Verfallsdiagnose auf 249 So beispielsweise in: Scholvin, Die ungegründete Klage. Siehe auch: De Jouy, Quelques vices, S. 141–142. 250 Kriege, Ueber die Klage. Anlass für seine Überlegungen war laut einer Fußnote der unten ausführlicher zu behandelnden Aufsatz: Volkmann, Vergleichung. 251 Kriege, Ueber die Klage, S. 71. Auch er bezog sich wiederum auf die genannte Ode von Horaz. Ebd., S. 72. 252 Ebd., S. 75–78. 253 Ebd., S. 73. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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einen ihr zugrundeliegenden Faktor zurückgeführt wurde, wurde ihrem kognitiven Anspruch der Wind aus den Segeln genommen. Am effektivsten, oder zumindest am verbreitetsten war ihre Reduktion auf die sprichwörtliche Klage alter Leute, früher sei alles besser gewesen.254 In diesem Sinne wurde ein weiteres Wort Horaz’ als Antwort auf die Nörgelgreise herangeführt: laudator temporis acti se puero, censor, castigatorque minorum.255 Eine analoge Wirkung hatte die Reduktion kulturkritischer Aussagen auf psychische Faktoren. Noch heute wird die Kulturkritik nicht selten in einem psychologischen Vokabular zur Sprache gebracht.256 Unter Bezug auf zeitgenössische Fremddarstellungen, vor allem aber im Hinblick auf das ausgeprägte ­Pathos und die betont individuelle Tonart der Kulturkritik, wird sie als Sprache der Verzweiflung, der Melancholie, der Nostalgie, des Pessimismus oder des Ressentiments gekennzeichnet. In dieser Weise wird ein zentrales Moment zeitgenössischer Metadiskurse unbewusst und vorschnell in die Forschungsperspektive integriert. Zweifellos ist Kulturkritik in gewissem Sinne als Antwort auf eine spezifische, gesellschaftlich geteilte Grundstimmung bzw. -erfahrung zu verstehen. Ob ihre Interpretation als Symptom bzw. Verarbeitungsform einer individuellen Befindlichkeit oder gar einer Psychopathologie ihr gerecht wird, ist allerdings fraglich. Es erscheint fruchtbarer, die Pathologisierung der Kulturkritik als diskursive Strategie ihrer feindlichen Meta-Diskurse und als bedeutender Faktor in ihrer Rezeption zu beschreiben. Nicht weniger als für ihre psychologische gilt dies für die politische Deutungstradition der Kulturkritik bzw. ihre Entlarvung als Strategie im Dienste politisch-sozialer Interessen. Die Subsumierung des kulturkritischen Diskurses unter das Thema des politischen Konservatismus  – wie es manchmal geschieht257 – stellt eine Verkürzung der Thematik dar, sei es auch nur, weil sie die sogenannte linke Kulturkritik aus dem Blickfeld verliert. Subtiler ist die Frage, ob der Diskurs als sprachliches Gebilde notwendigerweise auf pragmatische Interessen der Akteure zurückgeführt werden muss. Offensichtlich kommt die Analyse eines Diskurses nicht um solche pragmatisch-strategischen Aspekte – um die Beschreibung der Sprache als Sprachgebrauch – herum. Ob dieser Gesichtpunkt aber an sich schon ausreicht, um die Merkmale und den Wandel 254 [An Old Soldier], To the Man of Pleasure, S. 424. 255 Horaz, Ars poetica III, 173; Boileau, L’art poëtique, S. 258; Montesquieu, Lettres persanes, Bd.  1, S.  240–243; anon., Thursday, December the 6th, 1753, S.  293; Coyer, Le siécle ­présent, S. 1; Kidgell, La Reformation; Caraccioli, L’Europe Françoise, S. 323; Wesley, Of Former Times, S. 433; Fothergill, Natural History, S. 69; Weishaupt, Ueber Wahrheit, Bd. 3, S. 142–151; ders., Die Leuchte des Diogenes, S. 13; Nicolai, Über das itzige verderbte Zeitalter, S. 108, 111. Im Englischen bildete sich für diesen Typus der Ausdruck croaker. Siehe: S. Johnson, 9 October, 1750; Garrick, Bon Ton, S. i; anon., Effects of Machinery, S. 221. 256 Vgl. Th. Lange, Idyllische und exotische Sehnsucht; Heidbrink, Melancholie und Moderne; ders., Entzauberte Zeit; Fritzsche, Specters of History; Pauen, Pessimismus, S. 15–18. 257 Vgl. Kondylis, Konservativismus; Hirschman, The Rhetoric of Reaction. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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eines Diskurses hinreichend zu beschreiben und erklären oder ob sie nicht vielmehr um eine semantische Perspektive ergänzt werden muss, ist, wie oben erläutert, weniger leicht zu entscheiden. Diese Frage stellt den theoretischen Leitfaden dieser Studie dar und wird an unterschiedlichen Stellen unter konkreter Bezugnahme auf die Quellenergebnisse zu diskutieren sein. An dieser Stelle ist lediglich darauf hinzuweisen, dass die Deutung der Kulturkritik als Instrument in den Händen politischer Interessengruppen von Anfang an ein bedeutender Faktor ihrer Rezeption war. Der Kulturkritiker brachte seine Aussagen nicht im luftleeren Raum vor, sondern war immerzu in einem rhetorischen Kampf zwischen Fremddarstellung und Selbstinszenierung verwickelt. Der Erfolg des Diskurses hing wesentlich davon ab, ob sich Leser von ihrer Legitimität überzeugen ließen. Die in der zeitgenössischen Öffentlichkeit kursierenden negativen Fremddarstellungen bildeten dafür die wichtigste Hürde. Die genannten Kernmuster der Außen­ wahrnehmung des kulturkritischen Diskurses – seine spiegelbildliche Parallelisierung mit zeitgenössischen Fortschrittsdiskursen, seine Identifikation als altbekannte Diskurstradition und seine Entlarvung als altersbedingter Jammer, psychologische Sentimentsverarbeitung oder interessendienliches Instrument – bildeten im Kampf der Kulturkritiker um die öffentliche Meinung die Position des Gegners. Die Auseinandersetzung zwischen den Kulturkritikern und ihren Gegnern kann als Kampf um die öffentliche Meinung beschrieben werden. Das Bild hat aber – insofern es ein Gegeneinander zweier in der Zeit unveränderlichen Entitäten vorauszusetzen scheint  – seine Grenzen. Die Eigenart eines diskursiven Kampfs lässt sich erst erschließen, wenn neben den direkten Erfolgen und Misserfolgen auch die Rückkoppelungseffekte, die im Laufe der Zeit auftreten, in Betracht gezogen werden. Ein Diskurs ist kein unveränderliches Quasi-Ding, sondern existiert als serielle Handlungswiederholung. Seine Konfrontation mit dem diskursiven Umfeld ist somit kein dauerhafter Zustand, sondern der serialisierte Kampf um eine knappe Ressource: die Aufmerksamkeit, Denk- und Handlungsmuster des Publikums. Aus diesem Grund ist das Akteurswissen um die Form und Wirkung vorhergegangener Instanzen der eigenen und der gegnerischen Semantik ein entscheidender Faktor in seiner Entwicklung. Das Verständnis der gegnerischen Position ist Ausgangspunkt für die Artikulation der eigenen. Jeder einzelner Akteur orientiert sich in seiner Artikula­ tionsstrategie auf die ihm zur Verfügung stehenden Information über den Komplex vergangener Äußerungen. Sich auf diese Erfahrung stützend, antizipiert er die zukünftige Situation, in der sich seine Äußerung behaupten soll – und stellt die Form seiner Äußerung darauf ein. Diese Dynamik bewirkt in ihrer seriellen Wiederholung die Entwicklung des Diskurses. Das Verhältnis zwischen der Selbst- und Fremdbeschreibung der Kulturkritik, zwischen ihrer Außenund Innenwahrnehmung ist somit streng genommen nicht als gegensätzliches, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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sondern vielmehr als dialogisches aufzufassen. Offensichtlich wird dies, wo sich das Dementi einer negativen Fremdbezeichnung oder die vorgreifende Wider­legung eines Gegenarguments zu einem festen Bestandteil des Diskurses heraus­bildet.258 Aber auch wenn sich die Akteure nicht explizit auf das Gegenüber beziehen, ist die gegnerische Position in jeder Äußerung mitgedacht und bedingt von vornherein deren Form. Diese zweite Reflexionsebene wird in den weiteren Kapiteln dieser Studie, welche den Diskurs in vier konkreten Diskussionszusammenhängen der Zeit verorten, stets besonders zu beachten sein, da sich nur mit Blick auf sie Form und Entwicklung des kulturkritischen Diskurses hinreichend verstehen lassen.

258 Wie wenn Herder beispielsweise einräumte: »Ohne Zweifel wird man, nach dem, was ich geschrieben, den Allgemeinsatz anbringen, daß man immer die Ferne lobe und über die Gegenwart klage; daß es Kinder sind, die sich in die Ferne des Goldschaums verlieben, und den Apfel, den sie in der Hand haben, dafür hingeben, weil sie jenes nicht kennen  – aber vielleicht bin ich dies Kind nicht. Ich sehe alles Grosse, Schöne und Einzige unsres Jahrhunderts ein, und habe es bei allem Tadel immer zum Grunde behalten ›Philosophie! ausgebreitete Helle! Mechanische Fertigkeit und Leichtigkeit zum Erstaunen! Mildheit!‹ […] – ich glaube Bemerkungen darüber gegeben zu haben, statt der übertriebenen Lobesdeklamationen, die man in allen, zumal Französischen Modebüchern findet.« Herder, Auch eine Philosophie, S. ­545–546. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

II. Wirtschaftliche Mobilisierung und ihre Kritik Und die Sterne sind am Himmel verschwunden, und der Äther ist leer, die innere Welt ist aus­gestorben, die Ideen sind verbleicht, und die Begriffe führen die Ökonomie, und gehen aus auf die Arbeit und nach Broterwerb. Joseph Görres1

Kritische Auseinandersetzungen vormoderner Kulturen mit ihrer eigenen Lebens­form bewegten sich nicht selten im Rahmen eines semantischen Registers, das man heutzutage mit ›Wirtschaft‹ verknüpfen würde. Luxus war über Jahrhunderte hinweg der Grundbegriff einer Kritikform, die um Fragen des Konsums, der Bedürfnisse und Begierden kreiste. Im weiteren Sinne wurde er zu einer bedeutsamen Kategorie kultureller Reflexion.2 Im 18. Jahrhundert, als sich langsam aber sicher der ökonomische Strukturwandel bemerkbar zu ­machen begann, der zu einer allmählichen Kommerzialisierung und schließlich Industrialisierung der europäischen Wirtschaft führen würde, erhielten solche Traditionen neue Brisanz. Sie bildeten einen semantischen Horizont, in dem sich die Erfahrungen und Erwartungen einer heraufkommenden neuen Welt verarbeiten und artikulieren ließen. Die Geschichte des kritischen Vokabulars von Luxus und Kommerz, Habsucht und maßloser Lustbefriedigung eignet sich wegen ihrer langfristigen Tradition als Testfall für unsere Ausgangshypothese, dass sich die Semantik der kritischen Kulturreflexion im 18.  Jahrhundert dermaßen stark änderte, dass von der Emergenz moderner Kulturkritik gesprochen werden kann. Lassen sich im altbekannten Vokabular der wirtschaftsorientierten Kritik wesentliche Neuerungen ausmachen, oder ist vielmehr eine semantische Stagnation fest­stellbar, eine Weiterführung traditioneller Muster über den Untersuchungszeitraum hinweg? Die Frage ist nicht aus der Luft gegriffen. Zunächst springen dem Histo­riker bei den wirtschaftlich orientierten Kritikformen im 18. Jahrhundert vor allem lange Kontinuitäten ins Auge. Viele der Begriffe, Metaphern, Stereotype und 1 Zit. n. Mederer, Romantik als Aufklärung der Aufklärung?, S. 77. Siehe auch: Görres, Die künftige teutsche Verfassung [IV], S. 1. 2 Margairaz, La querelle du luxe, S. 25. Siehe auch: dies., Luxe. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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narrativen Deutungsmuster, die ihre Äußerungen zu Beginn des Jahrhunderts strukturierten, blieben über das ganze Jahrhundert hinweg erhalten und finden auch am Anfang des 19. – in völlig veränderten Konstellationen – weiterhin Verwendung. Verschiedene einschlägige Studien zur Geschichte wirtschaft­licher Kulturreflexion beschreiben eine im Wesentlichen stagnierende semantische Landschaft, in der Neuerungen ausschließlich von den wenigen Akteuren ausgingen, die den wirtschaftlichen Entwicklungen dieser Zeit positiv gegenüberstanden und es aus diesem Grund zu ihrer Aufgabe machten, sich aus dem überlieferten Rahmen der Moralistik zu befreien. Von Mandeville über Voltaire, Melon, Hume und Smith, so heißt es, seien es stets die Verteidiger von Luxus und Kommerz gewesen, die semantische Innovationen in die Debatte introduzierten. Sie hätten den Luxusbegriff entmoralisiert und mittels neuer Metaphern die negativen Konnotationen des Handels und der Geldwirtschaft umgangen. Sie hätten ihr Publikum dazu eingeladen, den Bereich der Wirtschaft neu zu denken und gegen die christliche Askese den individuellen und gemeinschaftlichen Nutzen der mobilisierten Wirtschaft behauptet. Sie hätten die heraufkommende neue Welt begrüßt.3 Auf der anderen Seite des Spektrums dagegen, unter denen, die den neueren Wirtschaftsformen und ihren Folgen abweisend gegenüberstanden, habe – so die These – semantische Erstarrung geherrscht. In einer hartnäckigen und manchmal ermüdet wirkenden Abwehrreaktion hätte man die herkömmlichen Topoi fortwährend wiederholt, dadurch jedoch weder der neuen wirtschaft­ lichen Realität noch den neuen Argumenten ihrer Gegner gerecht werdend. In seinem einschlägigen, bis heute immer wieder zitierten Buch zum Luxusbegriff schrieb John Sekora: […] nothing new or significant was added to the classical attack during the [eighteenth, Th.J.] century, not even by Rousseau. Instead, the traditional arguments were culled for their collective and economic implications. […] What original thinking about luxury did occur during the century was carried out by men who rejected some part of the classical attack.4

Es kann dieser Perspektive auf die Diskursgeschichte des 18. Jahrhunderts eine gewisse unmittelbare Überzeugungskraft nicht abgesprochen werden: Seman­ tische Innovationen seien von denen eingeführt worden, die sich generell für Innovationen im wirtschaftlichen Bereich stark machten. Und tatsächlich, dass 3 Hirschman, The Passions and the Interests, S. 56–63; Berry, Idea of Luxury, S. ­101–125. Wie Jeremy Bentham (1748–1832) schrieb, sahen sich bestimmte Moralisten (er nannte La Rochefoucauld, Mandeville und Helvétius) – »travelling out of the beaten tract of speculation«  – gezwungen, sich aus den »schackles of ordinary language« zu lösen. Bentham, An Intro­duction, Bd. 1, S. 173. Vgl. Hundert, Mandeville, S. 37. 4 Sekora, Luxury, S.  74. Für einen Überblick über die Vor- und Nachteile des seko­ raschen Ansatzes siehe: M. L. Berg und Eger, The Rise and Fall, S. 15–18. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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die Argumentationen für ein neues Wirtschaftsverständnis mit wichtigen semantischen Neuerungen einhergingen, ist – es wird darauf noch ausführ­licher einzugehen sein – unbestritten. Daraus folgt aber nicht zwangsläufig, dass die Gegner der neuen Welt nur zu einem verzweifelten Rückzugsgefecht verurteilt und – schon aus diesem Grund – auch semantisch konservativ waren. Im Laufe des 18. Jahrhunderts änderte sich die Situation, in der sie ihre Argumente vorbrachten, erheblich. Einerseits ließ sich der wirtschaftliche Strukturwandel auch von Seiten seiner Kritiker nicht ignorieren. Andererseits änderte sich mit der Verbreitung neuer Argumente für die neue Wirtschaftsordnung der diskursiv-argumentative Kontext, in dem die Kritiker operierten. Ihre beiden Bezugspunkte  – die neue Wirtschaftsordnung und die Äußerungen ihrer Für­ sprecher – hatten sich gewandelt. Dass die Semantik der wirtschaftsorientierten Kritik von diesen Entwicklungen völlig unbehelligt geblieben wäre, erscheint unwahrscheinlich. Sekoras These ist umso bemerkenswerter, da er einige Seiten zuvor dem Luxus­begriff die Rolle eines zentralen Indikators für den Modernisierungs­ prozess zusprach: [T]he changes in meaning of the concept of luxury represent nothing less than the movement from the classical world to the modern. For the concept of luxury is one of the oldest, most important, and most pervasive negative principles for organizing society Western history has known.5

Offenbar hatte sich der Luxusbegriff nach Sekora im Untersuchungszeitraum grundlegend gewandelt. Ist es möglich, dass eine Seite der Auseinandersetzung um das Wesen des Luxus und seine gesellschaftlichen Folgen von diesem Begriffswandel völlig unbetroffen war? Und wenn dieser Wandel nichts weniger war als die Schwelle zur Moderne: Folgt daraus, dass die Kritiker den Weg in die Moderne gar nicht fanden? Ein Teil der Antwort liegt in Sekoras Verständnis von Begriffsgeschichte. Der entscheidende Wandel in der Begriffsbedeutung (meaning of the concept) müsse sich, meint er, nicht unbedingt auf der Ebene des Gebrauchs (usage)  bemerkbar machen. Selbst heute, stellt er fest, werde der Luxusbegriff im alltäglichen Sprachgebrauch zumeist in der traditionellen, vormodernen Weise verwendet. Das solle aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich seine Bedeutung ge­ ändert habe. Most perplexing for modern students is the additional complication that luxury ­represents a lost system of discourse, the loss disguised by a superficial resemblance between the classical and the modern usage of the term. On the lower level of modern usage, our ordinary language is of course something of a churchyard of ancient philosophies, and present-day references to luxury are to the original as a gravemarker is 5 Sekora, Luxury, S. 1–2. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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to an ebullient human life. On the higher level of doctrine, although the vocabulary and social vehemence are often the same, there is as little similarity between a classical opponent of luxury like Augustine and a modern one like Marx as between patristic theology and messianic socialism.6

An der Oberfläche des alltäglichen Sprachgebrauchs (lower level of modern usage) seien die Verwendungsweisen nach Sekora bis heute erstaunlich stabil geblieben. Das sei aber nur die Außenseite der Sprache, eine letztendlich unwichtige Hülle. Im Inneren verwiesen solche Verwendungen nur noch als Grabsteine auf eine verstorbene Bedeutung. Deren Tod aber sei nur auf der theoretischen Ebene (higher level of doctrine) wahrnehmbar. Sekoras Thesen werfen auf methodologischer Ebene viele Fragen auf. Entfernen sich die Theoretiker auf ihrem Höhenkamm tatsächlich so weit von der Alltagssprache, wie Sekora meint? Was heißt es, dass eine Bedeutung ›ver­storben‹ ist, während der Sprachgebrauch noch quicklebendig ist? Ist es überhaupt sinnvoll, die Bedeutung eines Wortes von seinen Verwendungen zu unterscheiden? Oder sollte man nicht vielmehr Ludwig Wittgenstein zustimmen, dass die Bedeutung eines Wortes nichts anderes ist als »sein Gebrauch in der Sprache«?7 Nun ist es nicht notwendig, sich ausführlich mit Sekoras theoretischen Annahmen auseinanderzusetzen. Dass sie sich  – so fruchtbar und einflussreich sie sich auch erwiesen haben8 – vom methodischen Ansatz dieses Projektes erheblich unterscheiden, sollte inzwischen klar geworden sein. Auch geht es nicht speziell um die Widerlegung seiner Thesen. Entscheidend ist vielmehr, dass sich an dieser Stelle exemplarisch zeigt, dass solche methodischen Überlegungen keine graue Theorie sind, sondern dass sie die Auswahl, Beschreibung und Deutung der zu untersuchenden historischen Phänomene auf bestimmende Weise beeinflussen. Ein weiteres Beispiel unterstreicht dies. John Shovlin, der im Gegensatz zu Sekora um die Mitte des 18.  Jahrhunderts eine grundsätzliche Verschiebung im »antiluxury discourse« feststellt – auch darauf wird noch einzugehen sein –, warnt, dass die neue Stoßrichtung der Texte nicht immer an ihrer Oberfläche zum Ausdruck kommt. The novelty of this new perspective is obfuscated, in many instances, by the fact that critics of aristocratic consumption appropriated and deployed the very traditional sounding tropes and imagery of the early modern discourse.9 6 Ebd., S. 4. 7 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 43. Siehe auch: Skinner, A Reply, S. 283. 8 Noch 2001 wurden Ausschnitte seines Buchs – zusammen mit Texten von u. a. Marx, Bourdieu, Veblen, Simmel und Baudrillard – in eine Sammlung einschlägiger Texte über den Konsum aufgenommen: Sekora, Necessity and Hierarchy. 9 Shovlin, Cultural Politics of Luxury, S. 578, 587. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

Traditionen der Luxuskritik

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Während Shovlin und Sekora bezüglich der Frage nach der Entwicklung der Luxuskritik zu entgegengesetzten Ergebnissen kommen, sind sie sich doch darin einig, dass sich an der Oberfläche des Sprachgebrauchs nicht viel änderte. Beide schlagen auf je unterschiedliche Weise eine Hermeneutik vor, die darauf zielt, durch die formale Sprachebene der Texte hindurch zu ihrer tiefer liegenden Bedeutung vorzustoßen. Auffällig ist dabei, dass die These, auf der sprach­ lichen Ebene ändere sich nichts Wesentliches, nicht weiter ausgeführt oder belegt wird. Sie dient lediglich als Ausgangspunkt und Anlass für weitere Überlegungen und Argumente. Könnte eine historisch-semantische Analyse im Sinne der in der Einleitung ausgeführten lateralen Hermeneutik hier zu anderen Ergebnissen kommen? Und wenn ja, welche Konsequenzen hätte dies für die Deutung der Kulturkritik im Kontext der zeitgenössischen Wirtschaftsdebatten? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt dieses Kapitels. Zunächst werden die wichtigsten Dimensionen der Luxuskritik skizziert, wie sie sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts etabliert hatten (§ 1). In einem zweiten Schritt werden die zentralen semantischen Entwicklungen nachgezeichnet, die sich auf diesem Feld im Laufe des Jahrhunderts ereigneten. Neben der langjährigen querelle über das Wesen des Luxus steht dabei vor allem die Herausbildung von kulturkritischen, generalisierten und geschichtlichen Verwendungsweisen im Mittelpunkt (§ 2). Wie sich herausstellt, wurde dieser Prozess aber gehindert durch langfristig etablierte semantische Eigenschaften des Begriffs, so dass auf Dauer nicht Luxus, sondern Kommerz die zentrale Stelle in der wirtschaftlich orientierten Kulturkritik einnehmen würde. Der dritte Abschnitt ist diesem Begriff gewidmet (§ 3).

1. Traditionen der Luxuskritik Luxus zu Beginn des 18. Jahrhunderts Sekora zufolge fängt die Geschichte des Luxusbegriffs im Garten Eden an. Andere, wie Christopher Berry, wählen als Anfang ihrer Begriffsgeschichte die platonische Republik. Fest steht, dass der Begriff in der anthropologischen, moralistischen und gesellschaftlichen Kritik der Vormoderne eine zentrale Stelle einnahm. Dabei war er zunächst deutlich weiter gefasst als heute. Keineswegs auf den wirtschaftlichen Bereich beschränkt, tauchte er überall auf, wo das natürliche Maß einer Lebensform überschritten wurde. Ob diese Norm als durch einen göttlichen Gesetzgeber, oder durch ein natürlich-rationales telos vorgegeben gedacht wurde: In den Augen der vormodernen Kulturreflexion hatte alles seine Grenzen. Wo die Endpunkte der ›Notwendigkeiten‹ einer Lebensform überschritten wurden, trete Korruption ein. Der Gegensatz zwischen natür­ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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lichen Bedürfnissen und maßlosen Begierden, der den Diskurs um den menschlichen Konsum Jahrhunderte lang bestimmen würde, stellte anfangs also nur eine Seite dieses weiten Luxusbegriffs dar.10 Viele semantische Elemente der um den Luxus kreisenden, kosmisch-teleologisch ausgerichteten Verfallsnarration blieben bis ins 18.  Jahrhundert präsent und konnten immer wieder neu aktualisiert werden, wobei sich ihre Verwendungsweisen mit dem veränderten Gebrauchskontext oftmals erheblich wandelten. Für die dauerhafte Verwendbarkeit des Begriffs war entscheidend, dass er sich auf jede Art der Überschreitung einer natürlichen Ordnung anwenden ließ. Neben Verwendungen als abwertende Bezeichnung für die Lebensform eines Individuums oder einer Gruppe konnte luxuria in der christlichen Tradition, wo sie den sieben Todsünden zugerechnet wurde, auch im Sinne einer anthropologischen Kategorie Verwendung finden. In dieser Gestalt wurde sie zum Mittel, das menschliche Leben insgesamt als sündhaftes zu interpretieren. Schon früh schob sich neben solche auf das Individuum ausgerichteten Bedeutungsebenen eine weitere, die den Begriff auf Kollektive jeder Art bezog. Entscheidend für die späteren Debatten über die gesellschaftlichen Effekte des Luxus waren die Überlegungen von Autoren wie Augustinus, Seneca, Horaz, ­Tacitus und Sallust über die kausalen Zusammenhänge zwischen materiellem Überfluss, moralischem Verfall und politischem Untergang des (west-)römischen Reiches. Luxus, Korruption, Verweichlichung und mangelnder Patriotismus bildeten ein semantisches Netz, das zur Interpretation, Erklärung und Artikulation seines Verfalls genutzt wurde. Gleichzeitig wurden dabei Kon­ trastfolien – wie die freien, biederen Germanen und die frugalen, tugendhaften Römer der frühen Republik – etabliert, die der Gesellschaft der spätrömischen Kaiserzeit als Vergleich und Vorbild dienten. Solche Narrative stellten den Autoren des 18. Jahrhunderts, die den Klassikern in solchen Fragen immer sehr nahe standen, Interpretationsfolien bereit, mit denen sich Aufstieg, Blüte und Verfall ihrer eigenen Kulturen deuten ließen.11 Im Mittelalter fungierte luxuria als allgemeiner Gegenbegriff zur christ­ lichen Askese. Der Begriff hatte dabei weniger den wirtschaftlichen Bereich – der eher unter die Kategorie der avaritia gefasst wurde  – im Blick, sondern 10 Luxuria wurde ursprünglich auch nicht ausschließlich wertend verwendet, sondern bezeichnete jede Art der Abweichung, auch wenn sie, beispielsweise im vegetativen Bereich, wertfrei konstatiert wurde. Rey, Luxe, S. 17–18. Zur Begriffsgeschichte vgl. ­Baudrillart, ­Histoire du luxe; Görland, Begriff des Luxus; Mühlmann, Luxus und Komfort, S.  22–29; ­Sekora, Luxury, S. 23–51; [Redaktion], Luxus; Jack, Corruption and Progress, S. 3–4; Berry, Idea of Luxury, S.  43–98; Goulemot, Luxe; Grugel-Pannier, Luxus, S.  17–63; Vogl, Luxus, S. ­694–696. 11 Beispielsweise: La Rochefoucauld, Reflexions, S. 95–96; d’Holbach, La politique naturelle, Bd. 2, S. 262–264; Sibbit, A Dissertation, S. 12 ff. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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bezog sich vielmehr auf alle Formen körperlicher Genusssucht und Ausschweifung. Dabei spielte sexuelle Unzucht eine Hauptrolle, was sich sprachlich in der festen Gegenüberstellung von Luxus und Keuschheit, ikonographisch in der typischen Verbildlichung des Luxusbegriffs in der Gestalt einer sexuell begehrlichen, ebenso verführerischen wie bedrohlichen Frauenfigur niederschlug.12 Ab dem 17. Jahrhundert erfuhr der Begriff dann allmählich die Zuspitzung auf den wirtschaftlichen Bereich, die uns heute geläufig ist. Geschlechtliche Konnotationen verschwanden nie ganz, traten aber mehr in den Hintergrund. Statt der Ausschweifung im Allgemeinen bezeichnete er immer häufiger nur noch die wirtschaftliche Verschwendungssucht.13 Damit trat er zunehmend in die Nähe zu Fragen des Konsums, der Finanzwirtschaft und des Handels, die ab dem Ende des Jahrhunderts intensiv diskutiert wurden. Luxus wurde zum Leitbegriff einer im Wirtschaftsvokabular argumentierenden, letztendlich aber auf die gesamte Gesellschaft zielenden Kritikform.14 Die spezifische Form und Geschwindigkeit dieses semantischen Wandels hing im Einzelnen stark vom nationalen Kontext ab, in dem der Begriff ver­ wendet wurde. Im Frankreich Ludwigs XIV. war der Hof in den Augen vieler zum Zentrum einer unheiligen Allianz von Luxus und Kommerz geworden. Die merkantilistische Politik des Finanzministers Jean-Baptiste Colbert (1619–1683) hatte unter dem Aspekt der Staatsräson für die Verknüpfung von Kommerz und Krieg und für den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und militärischer Staatsmacht plädiert. Gleichzeitig war der Hof selbst zur Ikone verschwenderischer Prunksucht geworden, dessen Luxus nur schwerlich mit den mora-

12 Mühlmann, Luxus und Komfort, S.  30 ff.; Berry, Idea of Luxury, S.  87–98; Blöcker, Ikono­graphie der sieben Todsünden, S. 115–126. 13 Albert Hirschman hat behauptet, ähnliche Zuspitzungsprozesse ließen sich auch bei den Begriffen Interesse, Korruption und fortune feststellen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Jay M. Smith in seiner Studie über den Wandel des Begriffs crédit im Französischen. Ob diese Entwicklung tatsächlich, wie er vermutet, ein Indiz für einen allgemeinen, zwischen 1500 und 1750 stattfindenden »process whereby an abstract or ›material‹ frame of reference gradually supplanted the ›personal / subjective‹ frame as the primary context for ­assessing social and political relationships« darstellt, wäre die Mühe einer ausführlichen Studie wert. Hirschman, The Passions and the Interests, S. 41–48; J. M. Smith, No More Language Games, S. 1430. 14 Auf der Wortebene gilt im deutschen Sprachraum, dass das Lexem ›Luxus‹ und seine abgeleiteten Formen mindestens bis zur Mitte des 18.  Jahrhunderts zwar zur Erklärung oder Übersetzung seiner deutschsprachigen ›Äquivalente‹ (Wollust, Übermaß, Verschwendung, Pracht, Prahlerei, Üppigkeit, Ausschweifung, Kostbarkeit, Putz, Aufwand)  herangezogen wurden, in ihrer schriftlichen (Antiquadruck, Kleinschreibung) und grammatischen Form (lateinische Flexion) aber als Fremdwort gekennzeichnet blieben. Erst ab den siebziger Jahren war die Entlehnung in die deutsche Sprache formal abgeschlossen. Vgl. Mühlmann, Luxus und Komfort, S.  44–46, 55. Siehe beispielsweise: Süßmilch, Die göttliche Ordnung, Bd. 2, S. 72. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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lischen Anforderungen eines ›sehr christlichen‹ Fürsten in Einklang gebracht werden konnte.15 Gegen diese Entwicklungen richtete sich beispielsweise der Erzbischof von Cambrai, François de Salignac de La Mothe Fénelon (1651–1715) in seinem einflussreichen »Les Aventures de Télémaque, fils d’Ulysse« (1699). In einer zentralen Passage hilft Mentor  – der Erzieher des Titelhelden und die Stimme ­Fénelons – dem König Kretas Idoménée (ein kaum verschleiertes Portrait Ludwigs XIV.), sich von der kriegerischen und pompösen Politik seiner falschen Ratgeber zu lösen. Der Staat ist, argumentiert er, im Wesentlichen zwei Gefahren ausgesetzt: dem übertriebenen Machthunger des Fürsten und dem Luxus. Während Ersterer vor allem von der Persönlichkeit und Erziehung des Fürsten abhinge, habe die zweite Gefahr eine weiterreichende Bedeutung: »Comme la trop grande autorité empoisonne les rois, le luxe empoisonne toute une nation.«16 In seiner Ausführung nahm Fénelon viele zentrale Dimensionen der Luxusdebatte, wie sie im 18. Jahrhundert geführt werden würde, vorweg: […] on dit que le luxe sert à nourrir les pauvres aux dépens des riches, comme si les pauvres ne pouvoient pas gagner leur vie plus utilement en multipliant les fruits de la terre, sans amolir les riches par des rafinemens de volupté. Toute une nation s’accoutûme à regarder comme des necessitez de la vie, les choses les plus superfluës: Ce sont tous les jours de nouvelles necessitez qu’on invente, & on ne peut plus se ­passer des choses qu’on ne connoissoit pas trente ans auparavant. Ce luxe s’appelle bon goût, perfection des Arts, & politesse de la Nation. Ce vice qui en attire tant d’autres est loüé comme une vertu […].17

Schon hier nahm die Verdammung des Luxus die Form einer Widerlegung seiner Apologeten an. Formal kreiste sie um die Gegensätze zwischen Bedürfnis und Überfluss einerseits, Tugend und Laster andererseits. 15 Nach dem Tode Ludwigs sollte sein Hofprediger Jean-Baptiste Massillon (1663–1742) dies in seiner Grabrede noch einmal sehr kritisch betrachten: »La Cour, à l’exemple du ­Souverain, plus brillante & plus magnifique que jamais, se piqua d’effacer l’éclat des Cours étrangères. La ville, l’imitatrice éternelle de la Cour, en copia le faste. Les Provinces à l’envi marchèrent de loin sur les traces de la ville. La simplicité des anciennes mœurs changea: il ne resta plus de vestiges de la modestie de nos pères, que dans leurs vieux & respectables portraits, qui en ornant les murs de nos Palais, nous en reprochoient tout bas la magnificence. Le luxe, toujours le précurseur de l’indigence, en corrompant les mœurs, tarit la source de nos biens: la misère même, qu’il avoit enfantée, ne put le modérer: la perpétuelle inconstance des ornemens fut un des attributs de la nation: la bizarrerie devint un goût: nos voisins mêmes à qui notre faste nous rendoit si odieux, ne l’aissèrent pas d’en venir chercher chés nous le ­modèle; & après les avoir épuisés par nos victoires, nous sûmes encore les corrompre par nos exemples.« Massillon, Oraison funébre, S. 198–199. 16 Fénelon, Télémaque, Bd. 2, S. 279. 17 Ebd. Noch am Ende des 18. Jahrhunderts galt Fénelons in diesen Fragen als Autorität. Vgl. Sénac de Meilhan, Considérations sur les richesses, S. 174–175. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Die von Fénelon vorgeschlagene Politik des Friedens und der wirtschaft­ lichen Reformen – Förderung der Landwirtschaft statt der Produktion von und des Handels mit Luxusgütern – wurde von den Machthabern aber als zu radikal empfunden. Der »Télémaque« wurde verboten und Fénelon des Hofes verwiesen.18 Im zeitgenössischen England, wo die Publikationsfreiheit etwas größer und eine ›politische Öffentlichkeit‹ zumindest in Ansätzen gegeben war, spielten die Begriffe Luxus und Kommerz in den politischen Debatten eine ebenso zentrale Rolle. Wie John Pocock festgestellt hat, war die politische Rhetorik in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert nachhaltig von der ›politischen Sprache‹ des civic humanism geprägt. In deren Kern stand eine Vorstellung von politischer Tugend und Staatsbürgerschaft, die an der Figur des freeholder oder cives orientiert war. Dessen finanzielle Unabhängigkeit ermögliche es ihm, in seiner politischen Tätigkeit seine Privatinteressen dem common good unterzuordnen. Im Ernstfall könne er seinem publick spirit außerdem durch militärische Wehrhaftigkeit Kraft verleihen. Den Kontrast zu diesem sich gegenseitig bedingenden Komplex aus Tugend und Freiheit bildeten Korruption und Despotismus. Diese würden eintreten, wenn der auf Gemeinwohl ausgerichtete Bereich der Politik durch den von Privatinteressen beherrschten Bereich des Geldes, des Kommerzes und des Luxus verunreinigt würde.19 Pocock und seine Nachfolger haben die sprachlichen Register des civic ­humanism in politischen Debatten von der Antike bis zur Amerikanischen Revolution verfolgt. Sie zeigten die erstaunliche Langlebigkeit und Flexibilität seiner Topoi und die Art und Weise, wie diese in unterschiedlichen politischen Kontexten Verwendung fanden. Am Anfang des 18.  Jahrhunderts waren insbesondere die Auseinandersetzungen um den Nutzen und Nachteil eines stehenden Heeres, um das Verhältnis zwischen Court und Country und um die Handels- und Finanzpolitik nachhaltig vom Sprachschatz des civic humanism geprägt. In manchen Perioden ging seine Dominanz sogar so weit, dass sich beide Seiten eines Konflikts gleichermaßen seines Vokabulars bedienten.20 Während der Luxusbegriff in Frankreich und England zunehmend auf handels- und finanzpolitische Fragen bezogen wurde, blieb er im deutschen Sprachraum vorerst größtenteils auf seine traditionelle, religiös-moralische Dimension beschränkt. Die Differenz lässt sich anhand der unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Konstellation erklären. Die neueren Verwendungen entstanden vor dem Hintergrund tiefgreifender wirtschaftlicher Entwicklungen und der Etablierung einer neuartigen Finanzpolitik in großem Stil. Zwischen etwa 1690 und 1720 wurden mit der Gründung verschiedener Nationalbanken und 18 Gusdorf, Luxe, S. 446–448; Shovlin, Political Economy of Virtue, S. 18–23. 19 Siehe: Dennis, Publick Spirit, S. iv–vii, 12–14. 20 Pocock, Machiavelli, Harrington, S. 122–129; ders., Machiavellian Moment, S. ­462–505; M. M. Goldsmith, Liberty, Luxury, S. 225–235; Jack, Corruption and Progress, S. 13–18, 37. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Aktienbörsen die institutionellen Voraussetzungen für eine ungekannte Flexibilität der Finanzmärkte und ihre verstärkte Verschränkung mit dem Staatshaushalt geschaffen. Angesichts ihrer chronischen Finanzierungsschwierigkeiten suchten die französischen und englischen Regierungen neue Möglichkeiten der Kapitalversorgung. Neben Steuern und Ämterverkauf wurde dabei zunehmend auch auf Aktienmärkte zurückgegriffen und mit Papiergeldsystemen experimentiert. In den deutschen Kleinstaaten war eine solche Politik aufgrund ihrer politischen Zersplitterung und dürftigen finanziellen Lage nur in beschränktem Maße möglich. Die neuartige Finanzwirtschaft und -politik wurde allenthalben mit Misstrauen betrachtet. Die unfassbare, scheinbar grenzenlose Natur der Spekulationen ließ sie in den Augen vieler als Luft- oder Windhandel erscheinen, als nichtiges Geschäft, das der konkreten Realwirtschaft gegenüber eine Scheinwirklichkeit darstellte. Auch in solchen Zusammenhängen kam der Luxus­ begriff vielfach zur Anwendung. Er bezeichnete den sinn- und gehaltlosen Charakter dieser Finanzökonomie ebenso wie ihre Maßlosigkeit. Darüber hinaus bezog er sich auf die soziale Mobilität, die mit ihr verbunden war. Die im Ak­ tiengeschäft zu Geld gekommenen Neureichen stellten aus der zeitgenössischen Perspektive einen sozialen Affront dar. Die Titel und Stammbäume, welche die Aufsteiger sich gleichzeitig mit den dazugehörigen Statussymbolen verschafften, konnten ihren Ursprung im bloßen Geldgeschäft nicht verdecken. Der Name für diesen Skandal war ›Luxus‹.

Die Wirtschaftskrise von 1720: Politische und kulturelle Deutungen Ihren Höhepunkt erreichte diese neue Phase der Luxuskritik im Jahr 1720. Waren die Versuche, die Staatsfinanzen auf eine neue Grundlage zu stellen anfangs erfolgreich gewesen, so lösten sie in London und Paris allmählich Spekulationsblasen aus, die durch ihr Platzen die europäische Wirtschaft in eine Krise ungekannten Ausmaßes stürzten. Die englische South Sea Bubble und der gleichzeitige Zusammenbruch des französischen, nach dem schottisch-stämmigen Finanzminister benannten système de Law in der Folge der Pariser MississippiSpekulationen hatten  – auch wenn sie, am Gesamtvolumen der immer noch agrarisch geprägten Wirtschaft gemessen, eine eher beschränkte Rolle spielten – eine enorme öffentliche Resonanz. Sie lösten eine Welle kritischer Reflexionen aus, in der sich allmählich zwei unterschiedliche Stoßrichtungen aus­ differenzierten. Einerseits bot die Krise Anlass zu Kritik an der Regierungspolitik und an einzelnen Politikern. In ihrer Folge hatte die Krise eingreifende personal­ politische Auswirkungen. John Law (1671–1729) hinterließ bei seiner Flucht ins © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Exil einen ruinierten Staatshaushalt und einen politisch nachhaltig geschwächten Regenten. In England wurden die mächtigen Direktoren der South Sea Company sowie verschiedene Kabinettsmitglieder wegen Korruption verklagt. Dies führte in der Folge dazu, dass Robert Walpole (1676–1745) die Regierungsmacht für längere Zeit an sich ziehen konnte. Andererseits aber wurden die Ereignisse nicht nur als politisches Versagen oder Verbrechen, sondern auch als Symptome einer generellen moralisch-kulturellen Katastrophe verhandelt. In diesem Sinne wurden Handel, Staatsfinanzen, Spekulation und Luxus als Vorboten einer neuen Zeit aufgefasst, die nicht nur den Einzelnen oder eine Elite, sondern den Charakter und das Schicksal einer ganzen Lebensform betrafen. In der historischen Skandalforschung wird bisweilen zwischen zwei Arten von Skandal unterschieden.21 Der ›politische‹ Skandal verstärkt bestehende Normen, indem der individuelle Regelverstoß bestraft und der Täter sym­ bolisch aus der Gesellschaftsordnung ausgeschlossen wird. Die Regeln wer den angewandt und nach der Bestrafung kehrt die Gesellschaft zur Normalität zurück. Bei einem ›moralischen‹ Skandal dagegen werden unterschwellige gesellschaftliche Bruchlinien zur Sprache gebracht und so eine öffentliche Debatte über die Kernwerte einer Gesellschaft ausgelöst. Der Skandal wird nicht länger als individueller Normbruch, sondern als Symbol gesamtkulturellen Verfalls gedeutet. Während der politische Skandal dazu tendiert, mit dem Ausschluss des Einzelnen die Bande einer Gesellschaft zu stärken, neigt der moralische Skandal eher dazu, sie in unterschiedliche Wertegemeinschaften zu zersplittern. Für die Zwecke der historischen Semantik ist es fruchtbarer, statt von zwei unterschiedlichen Skandaltypen von zwei konkurrierenden Modellen der Skandaldeutung zu sprechen, die jeweils ihre eigenen rhetorischen und kognitiven Funktionen erfüllen. So betrachtet enthält die Unterscheidung zwischen politischer und moralischer Skandaldeutung einen weiteren Hinweis auf das Verhältnis zwischen Kulturkritik und Politik. Der Zusammenbruch der Finanzwirtschaft im Jahr 1720 wurde einerseits als politisch-ethisches Verbrechen, andererseits als Folge einer breiteren geistig-kulturellen Krise – deren Signifikanz weit über die einzelnen Akteure hinausging  – gedeutet. Beide Deutungen fanden Fürsprecher und wurden mit jeweils unterschiedlichen semantischen Mitteln artikuliert. Auf der einen Seite standen Ausdrücke, welche die persönliche Verkommenheit und Schuld einzelner Politiker oder der poli­ tischen Elite als Kollektiv betonten.22 Auf der anderen solche, welche allgemein 21 Vgl. Domeier, Im Reich der Skandale. Siehe auch: ders., Der Eulenburg-Skandal, S. 18, 51–53. 22 In einem 1731 im London Journal erschienenen Aufsatz (neu abgedruckt im Gentle­ man’s Magazine) blickte ein anonymer Autor zurück auf »the matchless Wickedness of the South Sea Scheme, when thousands of Families were cover’d with Destruction by the Con­ trivance or Artifices of Men in Power.« Anon., On Corruption. Siehe auch: Montesquieu, Lettres persanes, Bd. 2, S. 233–237, 261, 287–298. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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kulturelle Ursachen für die Katastrophe verantwortlich achteten. Auf die semantischen Dimensionen dieses argumentativen Generalisierungsschritts soll hier anhand einiger ausgewählter Quellen eingegangen werden. In seinem Pamphlet »An Essay Towards Preventing the Ruin of Great ­Britain« (1721) schrieb der irische Philosoph George Berkeley (1685–1753): »The Southsea affair, how sensible soever, is not the original evil, or the great source of our misfortunes; it is but the natural effect of these principles which for many years have been propagated with great industry.« Die Krise war in seinen Augen kein rein politisches oder wirtschaftliches Ereignis, sondern die logische Folge eines prinzipiellen Wertewandels, den er in der Maxime zusammenfasste: »as industry produces wealth, so wealth should produce vice, and vice ruin.«23 Auf diese Weise verschob Berkeley das Problem von der politischen auf eine kulturelle Ebene. Nicht nur der Staat, die britische Lebensform im Ganzen sei vom Untergang bedroht: […] little can be hoped if we consider the corrupt degenerate age we live in. I know it is an old folly to make peevish complaints of the times, and charge the common failures of human nature on a particular age. One may nevertheless venture to affirm, that the present hath brought forth new and portentous villanies, not to be paralleled in our own or any other history. We have been long preparing for some great catastrophe. […] The old English modesty is quite worn off, and instead of blushing for our crimes, we are ashamed only of piety and virtue. In short, other nations have been wicked, but we are the first who have been wicked upon principle.24

Nach Berkeleys Ansicht waren die Ereignisse des vorangegangenen Jahres keine bloßen Regelverstöße gewesen. Natürlich, die menschliche Natur hatte ihre Schwächen, hatte sie immer gehabt und würde sie immer haben. Die Korruption des gegenwärtigen Zeitalters aber gehe einen entscheidenden Schritt darüber hinaus: Es sei eine qualitativ neue Art von Sünden entstanden; die Grenze zwischen Verbrechen und richtigem Verhalten hätte sich verschoben; es sei eine prinzipielle und generelle Boshaftigkeit eingetreten. Nun ist es zweifellos möglich, solche kulturellen Deutungsmuster erneut unter dem Aspekt politischer Rhetorik zu betrachten. Den politischen Gegner moralisch zu verdächtigen, dürfte eine der ältesten politischen Strategien überhaupt sein. Der Hinweis auf den moralischen Verfall der Kultur im Ganzen kann dementsprechend als eine Variante dieser bewährten Strategie auf­gefasst werden. Die Forschung der ›politischen Sprachen‹ im Sinne Pococks zeichnet im Detail nach, wie Semantiken der Kulturreflexion politisch nutzbar gemacht wurden. Die Entlarvung augenscheinlich nicht-politischer Äußerungen als doch politische ist in manchen Fällen sehr erhellend. Dass jeder Text – auch 23 Berkeley, An Essay, S. 82, 84. 24 Ebd., S. 83. Siehe auch: ders., The Querist, Bd. 1, S. 41. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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wenn er keine offensichtliche politische Stoßrichtung hat  – intendierte oder nichtintendierte politische Effekte haben kann, steht außer Frage. Dennoch sei die Frage erlaubt, ob die Perspektive der politischen Pragmatik, wie es oft vorausgesetzt wird, den einzig sinnvollen Deutungsrahmen für diese Zeichenkomplexe darstellt. Der Gesichtspunkt der politischen Sprachen stellt die politisch-strategische Funktion kulturreflexiver Semantiken in den Mittelpunkt. Begriffe, Metaphern, geschichtliche und geographische Deutungsmuster werden als Instrumente in einem Kampf um politische Deutungshoheit interpretiert, der als Weiterführung des politischen Machtkampfes mit sprachlichen Mitteln verstanden wird. Infolgedessen bleiben andere Aspekte des Sprachgebrauchs im Hintergrund. Sprache ist nicht nur eine Waffe im politischen Kampf, sie ist auch eine Lebensform, in der – bewusst oder unbewusst – ein kulturelles Selbstverständnis zum Ausdruck gebracht, reproduziert und vermittelt wird. So lassen sich sprachliche Äußerungen stets auf drei unterschiedliche Fragerichtungen hin interpretieren. Erstens auf der inhaltlichen Ebene: welche Information vermitteln sie? Zweitens aus sprachpragmatischer Sicht: was tun sie, welche Sprachhandlung wird mit ihnen vollzogen? Drittens aus semantischer Perspektive, welche Schlüsse lassen sich anhand des Sprachgebrauchs auf das Selbst- und Weltverständnis der Akteure ziehen?25 Erst unter Berücksichtigung aller drei genannten Ebenen ergibt sich ein ausgewogener Blick auf die historische Rolle der Sprache. Aus dieser Sicht etablierte sich in den Debatten der zwanziger Jahre neben den bekannten Varianten politischer Rhetorik eine neue, kulturreflexive Semantik, die ihre politische Wirkung gerade aus ihrem Anspruch schöpfte, aus unpolitischer Perspektive die überpolitischen Rahmenbedingungen politischer Handlung zu ermitteln. Sie beschrieb die Krise nicht als Folge individuellen oder kollektiven Fehlverhaltens, sondern als »Bruch des gesellschaftlichen Bewußtseins«.26 Das lässt sich am Beispiel des genannten Pamphlets Berkeleys nachzeichnen. Im letzten Absatz blickte der Autor voller Sorge in die Zukunft und beschrieb den bevorstehenden Verfall Großbritanniens aus der Perspektive eines zukünftigen Historikers. God grant the time be not near, when men shall say, ›this island was once inhabited by a religious, brave, sincere people, of plain uncorrupt manners, respecting inbred worth rather than titles and appearances, assertors of liberty, lovers of their country, jealous of their own rights, and unwilling to infringe the rights of others; improvers of learning and useful arts, enemies to luxury, tender of other men’s lives, and prodigal of their own; inferior in nothing to the old Greeks or Romans, and superior to each of those people in the perfections of the other. Such were our ancestors during their rise 25 Vgl. J. M. Smith, No More Language Games. 26 Vgl. zu diesem Begriff: Koselleck und Reichardt, Die Französische Revolution. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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and greatness; but they degenerated, grew servile flatterers of men in power, adopted Epicurean notions, became venal, corrupt, injurious, which drew upon them the hatred of God and man, and occasioned their final ruin.‹27

Diese kurze Stelle ermöglicht einen Einblick in die wichtigsten Dimensionen der Luxuskritik am Anfang des 18.  Jahrhunderts. Eine Reihe von asym­ metrischen Gegensätzen strukturierte den Kontrast zwischen der alten und der neuen Welt.28 In moralischer Hinsicht verglich Berkeley die Einfalt und Aufrichtigkeit der alten Briten mit der ausschweifenden Sinnlichkeit (der Zeitgenosse sagte: ›Epikureanismus‹ oder ›Libertinismus‹), Äußerlichkeit und Verstellung der neueren. Im Politischen kontrastierte er Freiheitsliebe, Patriotismus, Rechtschaffenheit und Mut mit sklavischer Unterwürfigkeit, Machtmissbrauch und Bestechlichkeit. Besonders die ausgeprägte Religiosität der Alten war dem späteren Bischof von Cloyne verständlicherweise sympathisch.29 Darüber hinaus kreiste die Diskussion um das alte Dilemma von Tugend und Reichtum.30 Auch Gender-Aspekte spielten weiterhin eine Rolle.31 Luxus und Kommerz wurden mit Weiblichkeit assoziiert, so dass ihre prägende Macht in der modernen Gesellschaft nicht zuletzt auch als militärpolitisches Problem galt.32 Dieser weiblichen Konnotation von Luxus und Kommerz lagen viele unterschiedliche Faktoren zugrunde. Erstens wurde der Bereich des Geldes immer noch als Spielplatz der Triebe par excellence begriffen, was ihn traditionellerweise dem Herrschaftsgebiet des Weiblichen zuordnete. Zudem konnte auf die libidinalen Konnotationen des mittelalterlichen Gebrauchs zurückgegriffen werden. Schließlich spielten Frauen in den Praktiken des Luxuskonsums tatsächlich eine zentrale Rolle, da sie als Herrinnen des Haushalts in vielen Fällen über die Auswahl der Güter zu bestimmen hatten. Im Englischen wurde luxury and effeminacy gar zu einer festen Wendung.33 Im Falle des Kommerzbegriffs 27 Berkeley, An Essay, S. 84. 28 Siehe auch: [Worldly], Luxury of the Times; anon., Saturday, November 23, 1776. 29 Siehe auch: Berkeley, A Discourse. 30 Paradigmatisch wurde dies in Montesquieus Parabel der Troglodyten verhandelt. Montesquieu, Lettres persanes, Bd. 1, S. 42–64. Vgl. H. C. Clark, Compass of Society, S. ­82–89. Siehe auch: Heynes, A Sermon. 31 »Il  a paru avec raison que c’étoit dans les femmes que résidoit le principe du luxe«. ­Sénac de Meilhan, Considérations sur les richesses, S. 144–146. Siehe auch: Dennis, Publick Spirit, S. 22; L. Hübner, Abhandlung von dem Luxus, S. 22–23; Rigoley de Juvigny, De la dé­ cadence, S. 482. Vgl. Carter, An ›effeminate‹ or ›efficient‹ nation?; M. L. Berg und Eger, The Rise and Fall, S. 18–19; Clery, Feminization Debate, S. 55–63; Shovlin, Political Economy of Virtue, S. 26–30. 32 Er mache, so der Politiker und Publizist Friedrich Karl von Moser (1723–1798), »Helden zu Weichlingen, Männer zu zärtlichen Kindern und ein ganzes Volck so kraftlos […], daß es sich endlich selbst in Ketten legt.« Von Moser, Beherzigungen, S. 398. 33 Siehe beispielsweise: anon., Friday, April 1, 1726, S. 146; [D.], Saturday, July 29, 1727, S. 73; anon., Dissertation on Gloves; [To.], Saturday, February 14; Villemaire, L’andrometrie, S. 77–78. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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bestand auf der Wortebene wiederum eine Polysemie zwischen dem  – weiblich konnotierten – menschlichen Austausch und dem Gütertausch.34 Lady Luxury, Dame Commerce und Lady Credit verkörperten solche semantischen Ver­ knüpfungen.35 Zu jeder der genannten Vergleichsebenen gehörte ein eigenes Vokabular. Was sie, neben der Grundform des Kontrastes, untereinander verband, war eine gemeinsame temporale Struktur. Der gegenwärtigen Gestalt des eigenen Volkes – in diesem Fall der Briten – wurden ihre unkorrumpierten Ahnen als Kontrast gegenübergestellt.36 So entstand eine binäre Chronologie (früher – heute), in der eine diffus skizzierte Vergangenheit die Vorbildrolle übernahm. Ihre Wirkung verstärkte sich dadurch, dass die geschichtliche Differenz innerhalb des eigenen Volkes mit dem etablierten Gegensatz zwischen anciens und modernes verknüpft werden konnte. Die Parallelisierung des eigenen kulturellen Zustandes mit dem Schicksal der Griechen und Römer stellte eine etablierte Form frühmoderner Kulturreflexion dar. Solche Projektionen konnten zwei entgegen­ gesetzte Funktionen übernehmen. Einerseits boten ausgewählte Völker vorbildliche Kontrastfolien der Frugalität, Sittlichkeit und Tugend, an denen sich die Kritik der modernen Gesellschaften orientieren konnte.37 Neben den eigenen Vorfahren galten in dieser Hinsicht vor allem die Athener vor den per­ sischen Kriegen, die Spartaner und die republikanischen Römer als Idealbilder kultureller Blüte. Andererseits funktionierte die Geschichte ihrer Entwicklung, von Aufstieg und Blüte zum Verfall und endlichem Untergang, auch als 34 Siehe Kapitel III. Vgl. J. Brewer, »The most polite age«, S. 356–358; H. C. Clark, Compass of Society, S. 95–96. 35 Von ›Lady Allurea Luxury‹, die in einer englischen Satire aus dem Jahr 1757 vor Gericht gestellt wurde, sagte ein Zeuge, Lord Good-Mind: »her smooth beguiling Tongue would soften and bend the most rugged Virtue to her Designs.« John Trenchard (1662–1723) identifizierte schon 1721 Kommerz mit einer Frau: »she is a coy and humorous dame, who must be won by flattery and allurements, and always flies force and power […]. But if you give her gentle and kind entertainment, she is a grateful and beneficent mistress«. Im 19. Jahrhundert wurde »Dame Commerce« durch eine Rede von Henry Clay (1777–1852) im USSenat (»She is  a flirting, flippant, noisy jade«) zu einem geflügelten Wort. anon., Tryal of the Lady Allurea Luxury, S. 16; Trenchard, Trade and Naval Power; Clay, On Manufactures, S.  3. Vgl. Backscheider, Defoe’s Lady Credit. Siehe auch: Dreghorn, Thoughts on ­Divorces, S.  47. Vgl. zur verwandten Figur der ›Queen of Fashion‹: Purdy, Tyranny of Elegance, S. 74–90. 36 In den Worten von Swifts Gulliver: »I descended so low, as to desire some English ­yeoman of the old stamp, might be summoned to appear; once so famous for the simplicity of their manners, diet, and dress; for justice in their dealings, for their true spirit of liberty; for their valour and love of their country. Neither could I be wholly unmoved, after comparing the living with the dead, when I considered how all these pure native virtues were prostituted for a piece of money by their grand-children […].« Swift, Travels, Bd. 2, S. 28–29. Siehe auch: anon., Pictures, Bd. 1, S. 93–95; Kosegarten, Das Hünengrab, S. 386–387. 37 [J. D.], Saturday, January 27, 1739; anon., Saturday, December 15, 1739. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Menetekel.38 Sie war eine magistra vitae, welche die Gründe und Umstände kultureller Dekadenz empirisch vorzeichnete.39 Auch Berkeley bezog sich auf diese doppelte Funktion, fügte aber resigniert hinzu, die beharrliche Wiederholung solcher geschichtlichen Lehren zeuge letztendlich von ihrer Unwirksamkeit. Frugality of manners is the nourishment and strength of bodies politic. It is that by which they grow and subsist, until they are corrupted by luxury; the natural cause of their decay and ruin. Of this we have examples in the Persians, Lacedemonians, and Romans: not to mention many later governments which have sprung up, continued awhile, and then perished by the same natural causes. But these are, it seems, of no use to us; and, in spite of them, we are in a fair way of becoming ourselves, another useless example to future ages.40

Luxus spielte in solchen Überlegungen  – von den Selbstreflexionen der spät­ römischen Moralisten und Geschichtsschreiber vorgezeichnet41 – eine zentrale Rolle. Der Begriff war Kernstück eines geschichtlichen Deutungsmusters, in dem sich zwei Zeitschichten überlagerten. Einerseits deuteten organische Meta­ phern auf einen natürlichen Zyklus der Kulturentwicklung hin: von Wachstum und Blüte zum Verfall. Gleichzeitig wurde diese Entwicklung aber auch in der Form des genannten dualen Zeitmodells (früher – heute) interpretiert, das anhand zweier kontrastierender Wertetafeln artikuliert wurde. Die Verschränkung von zyklischen und dualen Zeitstrukturen hatte unter anderem zur Folge, dass der Luxusbegriff in solchen Verfallsgeschichten stets an zwei funktional unterschiedlichen Stellen auftauchte. Er war gleichzeitig Ursache und Folge, Prinzip und Ergebnis, Oberbegriff und Teil einer dichotomen Gegensatzstruktur. Ein weiteres Beispiel kann dies verdeutlichen. Im »Country Gentleman« vom 21.  März 1726 wurde die Hierarchie der Werte, um die der Luxusbegriff kreiste, in der Form einer Moralität anschaulich gemacht.42 Der Erzähler berichtet von einem Traum, den er – bezeichnender­ 38 Anon., Monday, May 18, 1719; Steele, The Ladies Library, Art.  ›The Wife‹, S.  64; L. Hübner, Abhandlung von dem Luxus, S. 22–24; anon., Pictures, Bd. 2, S. 78–99; Marat, Les ­chaines, S. 82. 39 Sibbit, A Dissertation, S.  4–10. Verzeinzelt wurden solche Parallelen auch in der Form systematischer Abhandlungen dargestellt. Vgl. anon., The Parallel; Montagu, Reflections; J. Gordon, A New Estimate. Gegen solche Vergleiche wehrte sich der Abbé de Mably ­(1709–1785) in: Mably, Parallele. Vgl. Rehm, Der Untergang Roms, S. 93–130; Sekora, Luxury, S. 64–100; Demandt, Der Fall Roms, S. 122–169; ders., Der Untergang Roms als Menetekel. 40 Berkeley, An Essay, S. 71. Siehe auch: Ebd., S. 77, 78. 41 Noch 1742 fühlte Hume sich genötigt, sich in seiner Argumentation für die positiven Effekte des Luxus mit der Autorität Sallusts auseinanderzusetzen. Hume, Refinement in the Arts, S. 35. 42 Anon., Monday, March 21, 1726, S. 129–134. Siehe auch: [C. G.], Monday, May 23, 1726; anon., Monday, December 26, 1726; anon., Friday, July 8, 1726. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

Traditionen der Luxuskritik

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weise – nach der Lektüre einer Geschichte über die sozialen Unruhen zu Zeiten Caesars hatte: Er befindet sich in einem sehr wohlhabenden Land, dessen üppiger Reichtum ausführlich beschrieben wird. Von dort wird er zu einem Palast transportiert, der Spuren eines Wertewandels trägt, der hier offensichtlich stattgefunden hat: »the Structure indeed was old, and seem’d to be design’d rather for Convenience than Magnificence; but the Furniture was admirable.« In seiner Beschreibung der Einrichtung buchstabiert er ihren Luxus breit aus: italienische Seide, Samt, Gemälde, Statuen und prunkvolle Wandtapeten aus China und Persien. Inmitten dieser Pracht sitzt der Herrscher dieses Landes, der Prince of Liberty. Der Ton der Schilderung ändert sich merklich, als der Schlafende in ein Vorzimmer geführt wird, in dem sich mehrere Personen befinden, die den Fürsten umwerben. Auf der einen Seite stehen die alten Minister Valour, Frugality, Trade und sein Gefährte Plenty. Sie waren es, die bisher die Politik bestimmten. Aber »there has been great Interest made against them«. In einer anderen Ecke stehen die Herausforderer: Ambition mit ihren mächtigen Freunden Luxury und Effeminacy. Der coup d’état von Seiten dieses Triumvirats ist, so erklärt der Erzähler, schon seit längerem vorbereitet worden. Ihr vornehmstes Instrument besteht in der Verbreitung von Luxusgütern – »a thousand Fashions and Extra­ vagancies«  – im Volk. Dies hat dazu geführt, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung nur noch damit beschäftigt ist, die »supernumerary Follies«, welche die Mode vorschreibt, zu ergattern. »Justice, Honour, Virtue, the Publick Good, every Thing is given for these Baubles.« Ob es dem noblen Außenseiter Integrity mit seinen warnenden Reden gelingen wird, den drohenden Verfall abzuwenden, wird offen gelassen. Die Geschichte führt die binäre Wertetafel, anhand derer kultureller ­Wandel interpretiert wurde, in Gestalt der unterschiedlichen Ratgeber und Minister in sinnbildlicher Form vor Augen. Darüber hinaus gibt sie einen Hinweis auf die ambivalente Funktionsweise des Luxusbegriffs in diesem Kontext. Während Luxus einerseits als Wert dargestellt wird, der infolge des kulturellen Verfalls die Herrschaft an sich ziehen wird, so ist er andererseits auch der Motor dieses Verfalls. Damit Luxus zur kulturellen Herrschaft gelangt, wird Luxus angewendet. Diese Unstimmigkeit ist kein individueller Fehler von Seiten des Autors, sondern weist vielmehr auf einen wesentlichen Aspekt der Semantik des Luxusbegriffs in diesem Kontext hin. Der Begriff setzte stets einen binären, normativ aufgeladenen Blick auf die Phänomene voraus und bezog sich – implizit oder explizit – auf die Grenzziehung zwischen Maß und Übermaß. Während sich diese binäre Logik mit der dualen Zeitstruktur des geschichtlichen Kontrasts leicht in Einklang bringen ließ, galt dies nicht, wo es um die Beschreibung einer kontinuierlichen Entwicklung ging. Aufgrund seiner binären Grundstruktur schwang der Begriff an Stellen, wo er zur Beschreibung einer prozessualen Entwicklung herangezogen wurde, ständig zwischen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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den Funktionen der Ursache und Folge, des explanans und explanandum, hin und her. Diese Zweideutigkeit war aber, das sollte an dieser Stelle betont werden, vorerst kein Hemmnis für seinen Gebrauchswert. Im Gegenteil, sie muss als wesentlicher Bestandteil seines diskursiven Erfolgs betrachtet werden. Seine reiche Polysemie machte Luxus vielseitig verwendbar und ermöglichte erst seine diskursive Dominanz. Erst später würde das Spannungsverhältnis zwischen der binären Logik des Luxusbegriffs und der progressiven Entwicklungslogik geschichtlicher Narrative als Problem in den Vordergrund treten. Da hatte sich sein Verwendungskontext aber schon grundlegend geändert.

2. Neue Konstellationen und semantischer Wandel Die querelle du luxe: Apologetik und Kritik im Widerstreit Obwohl der Luxusbegriff auf eine lange und vielfältige Wirkungsgeschichte zurückblicken konnte, war das 18. Jahrhundert insofern eine entscheidende Periode in seiner Geschichte, als sich zu dieser Zeit eine querelle du luxe entspann.43 War der Begriff vorher hauptsächlich als Prinzip der Erklärung und Beschreibung gesellschaftlicher Ereignisse und Prozesse verwendet worden, so rückte er jetzt selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit und wurde zum Thema kontinuierlicher Auseinandersetzungen. Speziell in der Periode zwischen 1730 und 1780 wurde überall in Europa über sein Wesen sowie über seinen Nutzen und Nachteil diskutiert.44 Es ist verlockend, die Frage nach der Priorität zu stellen. Offensichtlich konnte es eine Streitfrage um die Bestimmung und Eigenschaften des Luxus erst geben, als der Luxusbegriff schon in sich gebrochen war: als er nicht mehr nur negativ, sondern auch positiv verwendet werden konnte. Umgekehrt war diese Möglichkeit nicht von alleine gegeben. Generationen von Schriftstellern sahen sich mit dem rhetorisch-semantischen Problem konfrontiert, die negativen Konnotationen des Begriffs abstreifen zu müssen, bevor ihre Argumente für die positive Effekte von Luxuskonsum und -produktion überzeugend wirken konnten. Erst in einem langen und mühsamen Umdeutungsprozess änderte sich allmählich das Spektrum seiner Verwendungsweisen. Die vielfältigen 43 Vgl. Margairaz, La querelle du luxe; M. L. Berg und Eger, The Rise and Fall; Trousson, Art et luxe; Jennings, Debate about Luxury; Castarède, Histoire du luxe, S. 187–220. 44 In Deutschland setzte die »Luxus-Kontroverse« nach der Einschätzung Mühlmanns erst ab den siebziger Jahren ein, als die Rezeption der englischen und französischen Luxusapologien zu einer »Abschwächung des negativen Wertakzents« führte. Mühlmann, Luxus und Komfort, S. 53–78. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Versuche, einen Wandel in der Semantik des Begriffs zu bewirken, bildeten somit einen wichtigen Teil seiner Geschichte. Wie Dominique Margairaz betont hat, war die Streitfrage um den Luxus­ begriff weniger ein andauerndes Gespräch als eine Serie polemischer Aus­ brüche, ausgelöst von skandalösen politischen und wirtschaftlichen Ereignissen einerseits und der Publikation kontroverser Schriften andererseits. Den Startschuss gab Bernard Mandevilles (1670–1733) kommentiertes Lehrgedicht »The Fable of the Bees«, die erste systematische Verteidigung des Luxus, die eine breite Öffentlichkeit erreichte.45 Das Gedicht setzte sich satirisch mit den sogenannten Societies for the Reformation of Manners auseinander, die sich um die Jahrhundertwende für eine moralische Reform der Gesellschaft stark machten.46 Deren Grundthese, dass gesellschaftliche Wohlfahrt nur unter den Bedingungen strenger Tugend entstehen könne, wurde von Mandeville polemisch verkehrt, indem er die paradoxe Behauptung aufstellte, dass aus »private vices« nicht selten »publick benefits« entstehen.47 Auch der Luxus erschien unter diesem Gesichtspunkt in einem anderen Licht.48 Mandeville stand am Anfang einer Reihe von Schriftstellern, die sich für eine Umdeutung des Luxusbegriffs stark machten. Es wurde versucht, den L ­ uxus nicht mehr nur im Rahmen einer moralischen oder sozialen Grundordnung, sondern entweder unter dem Gesichtspunkt seiner politisch-­sozialen Utilität oder unter dem Aspekt des persönlichen Komforts zu fassen.49 Zu diesem Zweck wurden unterschiedliche Strategien angewendet. Teilweise setzte man sich explizit mit den traditionellen Argumentsmustern (jetzt: ›Vorurteilen‹) gegen den 45 1705 erschien das Lehrgedicht »The Grumbling Hive«. Unter dem Titel »The Fable of the Bees« erschienen 1714, 1723 und 1728 kommentierte Versionen, in jeweils stark er­ weiterten Auflagen. Mandeville, Fable of the Bees. Vgl. M. M. Goldsmith, Liberty, Luxury, S. 236–240; Grugel-Pannier, Luxus, S. 198 ff.; Schrage, Verfügbarkeit der Dinge, S. 83–88. 46 Die Titel ihrer Veröffentlichungen sprechen für sich: Woodward, An Account of the Societies for Reformation of Manners… With  a Persuasive to Persons of all Ranks, to be ­Zealous and Diligent in Promoting the Execution of the Laws against Prophaneness and Debauchery, For the Effecting A National Reformation; ders., An Account of the Progress of the Reformation of Manners… To which is added, The Special Obligations of Magistrates, to be diligent in the Execution of the Penal Laws against Prophaneneß and Debauchery, for the ­Effecting of a National Reformation. Siehe auch: Heynes, A Sermon, S. 7–8. Vgl. A. Hunt, Governing Morals, S. 28–56. Und zur späteren Entwicklung: Innes, Politics and Morals. 47 Adam Smith nannte sie Mandevilles »favourite conclusion«. Smith, Moral Sentiments, S. 341. 48 In »The Moral« hieß es da: »Fraud, Luxury and Pride must live, / Whilst we the Benefits receive«. Mandeville, Fable of the Bees, S. 23. Die These löste das ganze Jahrhundert hindurch Widerspruch aus. Siehe z. B.: anon., On Luxury; anon., Thursday, June the 17th; Pluquet, De la sociabilité, Bd. 1, S. 279–280; L. Hübner, Abhandlung von dem Luxus, S. 4; ­Boswell, Samuel Johnson, Bd. 3, S. 294–296. 49 »[T]hough moralists inveigh against it, wise statesmen have encouraged it.« Trusler, Luxury no political evil, S. 2. Siehe auch: Butel-Dumont, Théorie du luxe. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Luxus auseinander. Voltaires Lehrgedicht »Le Mondain« (1736) beispielsweise, ein Jahr später erweitert um eine »Défense du mondain, ou L’Apologie du luxe«, benutzte die von Jean-François Melon (1675–1738) in seinem »Essai politique sur le commerce« (1734) vorgebrachten Argumente zu einer ausführlichen Widerlegung von Fénelons Luxuskritik im »Télémache«.50 Vor allem der Topos, dass Luxus den martialischen Geist eines Volkes antaste, wurde angesichts der Realität moderner Kriegsführung als überholt und kurzsichtig abgetan.51 Aber der offene Austausch von Argumenten stellte nur eine Seite dieser Auseinandersetzung dar. Eine mindestens ebenso wirksame und beliebte Strategie war es, die Glaubwürdigkeit der Luxuskritiker in Zweifel zu ziehen, indem man auf den Widerspruch zwischen ihren Worten und Taten hinwies. Der Luxus betraf als Faktum der modernen Gesellschaft notwendigerweise auch die Lebensform der Kritiker selbst. Das Bild des Schriftstellers, der seine Bücher gegen den Luxus »sur des tables d’un bois plus précieux que l’or« verfasste, ließ Satirikern den Vergleich zu Seneca, »assis sur des trésors, qui crie, contre les richesses« in den Sinn kommen.52 Eine dritte Strategie bestand darin, begriffliche Differenzierungen vorzunehmen, um so bestimmte Formen des Luxuskonsums als ungefährlich oder gar nützlich darstellen zu können. Indem man zwischen zwei Seiten des Luxus unterschied, konnte man die negativen Konnotationen auf eine Seite der Gliederung auslagern, um so auf der anderen semantisch die Hände frei zu haben, die positiven Effekte des Luxus für Wohlfahrt und Zivilisierung zur Sprache zu bringen. In diesem Sinne unterschied David Hume in einem Aufsatz, der in seiner ursprünglichen Version ›Of Luxury‹ hieß, zwischen vicious und innocent luxury. Luxury is a word of uncertain signification, and may be taken in a good as well as in a bad sense. In general, it means great refinement in the gratification of the senses; and any degree of it may be innocent or blameable, according to the age, or country, or condition of the person.53 50 Melon, Sur le commerce; Voltaire, Le Mondain; ders., Défense du Mondain. Melon war eine zeitlang der persönliche Sekretär von John Law und später des Regenten Philippe d’Orléans. Vgl. Morize, L’apologie du luxe; Perrotta, Preclassical Theory of Development. 51 Hume, Refinement in the Arts. S. 33; Borde, Discours, S. 52–54; anon., [Rezension zu:] A Descriptive Catalogue, S. 330. 52 Linguet, Fanatisme, S. 18; Caraccioli, L’Europe Françoise, S. 12–13. Für die Leser galt dasselbe: »On a beaucoup écrit sur les maux qu’entraîne le luxe, on y a proposé beaucoup de remedes. Quelques-uns des livres où l’on agite ces matieres sont assez bien faits pour amuser le loisir de quelques lecteurs, qui trouveront qu’il y a du bon dans ces écrits, & qui en interrompront la lecture pour ordonner de nouveaux ornemens à leur sallon, ou pour commander à leur sellier le plus leste équipage.« Levesque, L’homme moral, S. 193. Siehe auch: Ebd., S. ­192–198. 53 Und: »No gratification, however sensual, can of itself be esteemed vicious. A gratification is only vicious, when it engrosses all a man’s expence, and leaves no ability for such acts of duty and generosity as are required by his situation and fortune.« Hume, Refinement in the © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Nachdem man sich so den Rücken freigemacht hatte, konnten die positiven Effekte des Luxuskonsums aufgezählt werden. Dass der faule Genuss und die Verschwendungssucht der Reichen bei gleichzeitiger Armut großer Teile der Bevölkerung moralische Entrüstung wachriefen, sei verständlich, träfe aber nicht den Kern der Sache. Letztendlich sei es gerade deren prunkvoller Aufwand, der den arbeitenden Klassen ihren Erwerb ermögliche: »Le travail du pauvre est payé du superflu du riche.«54 Doch nicht nur das. In den Augen vieler war Luxuskonsum ein unerlässlicher Motor für die Entwicklung der Künste und Wissenschaften, der Literatur, des Geschmacks, der Philosophie, des Gesellschaftslebens, des Handels, kurz: aller Errungenschaften der modernen Zivilisation.55 Die semantische Verknüpfung zwischen Luxus und den zentralen Aspekten der Modernisierung wurde allmählich so stark, dass sie auch auf der anderen Seite der Kontroverse vorausgesetzt wurde. Luxuskritiker konnten der These, dass die Verbreitung des Luxus weitreichende gesellschaftliche Folgen hatte, durchaus zustimmen. Selbst die aufgezählten Phänomene spielten in ihren ­Narrativen eine mindestens ebenso große Rolle, nur dass sie diese nicht als Erfolge, sondern im besten Falle als »inutilités«, im schlimmsten als Plagen der modernen Welt ansahen. In ihren Händen verwandelte sich dieselbe doppel­ seitige semantische Implikation von Luxus und Modernität, die von ihren Gegnern zur Legitimation des Luxuskonsums verwendet wurde, zu einem zweischneidigen Schwert gegen den Luxus einerseits und den Geist des Zeitalters andererseits.56 Aber auch die Luxus-Befürworter verstanden sich darauf, die semantischen Waffen des Feindes gegen ihn zu wenden. Die Aktualisierung der t­ raditionellen negativen, sinnlichen Konnotationen des Luxusbegriffs konnte  – im Rahmen Arts, S. 25, 39–40. Siehe für ähnliche Unterscheidungen: Ferguson, An Essay, S. 371; ­Steuart, Inquiry, Bd. 1, S. 307, 310; Delille, Sur le luxe, S. 107; Condillac, Le commerce, S. 299. Vgl. ­Perrot, Le luxe, S. 91–125. 54 Borde, Discours, S.  51. Saint-Germain trieb die Verharmlosung sozialer Gegensätze noch weiter: »cette inégalité forme un nouveau lien entre le riche qui fournit au pauvre les moyens de pouvoir à sa subsistance, & le pauvre qui fournit au riche les moyens de satisfaire ses goûts, elle établit cette dépendance réciproque, qui, en assurant leur bien-être mutuel, les rend chers les uns aux autres.« Saint-Germain, Du gouvernement des mœurs, S. 42. Siehe auch: Wolff, Vernünfftige Gedancken, S.  158–159; Voltaire, Le monde comme il va, S.  16; Boswell, Samuel Johnson, Bd. 3, S. 294–295; Erskine, Armata, S. 103–104; Roscoe, Origins and Vicissitudes, S. 71. 55 De Lambert, Avis d’une mère à son fils, S.  196–197; Saint-Mard, Reflexions, S.  295; Borde, Discours, S. 12–14, 26–27; Gregory, A Comparative View, S. xiv–xv; Levesque, L’homme moral, S.  487–489; Caraccioli, L’Europe Françoise, S.  126; Priestley, Lectures, S.  258–259; [C. Macaulay], Letters, S. 239–240. Gegen solche Argumente wehrte sich: d’Holbach, La politique naturelle, Bd. 2, S. 256–257. 56 Fénelon, Télémaque, Bd.  2, S.  279; Rousseau, Discours sur les Sciences & les Arts, S. ­37–43; ders., Discours sur l’inégalité, S. 214–215; Ch. M. Wieland, Agathon, Bd. 2, S. 206; Von Storch, Skizzen, S. 404; Ehrenberg, Veredlung des Menschen, Bd. 1, S. 20. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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der aufklärerischen »Rehabilitation der Sinnlichkeit« umgepolt57  – dazu verwendet werden, auf die »pleasures of luxury« aufmerksam zu machen.58 Dadurch, dass der Luxusbegriff in ein Netz positiv konnotierter Wörter wie Genuss, Behaglichkeit, Komfort und Bequemlichkeit eingebettet wurde, erhielt er eine neue Legitimation. Im Artikel der »Encyclopédie« aus der Feder des Marquis Jean François de Saint-Lambert (1716–1803) galt Luxus dann nur noch ganz neutral als »l’usage qu’on fait des richesses et de l’industrie pour se procurer une existence agréable«.59 Trotz dieser Umdeutungsarbeit würde es aber noch lange dauern, bis diese Bedeutungskomponente die Oberhand erhielt. Erst im 20. Jahrhundert sollte sie den alltäglichen Gebrauch stärker bestimmen, so dass eine Gebrauchsweise möglich wurde, die uns heutzutage wahrscheinlich am geläufigsten ist: die Werbestrategie, Produkte nicht trotz, sondern wegen ihres luxuriösen Charakters anzupreisen.60 Mandeville, Voltaire, Hume, Melon, die »Encyclopédie«  – es waren bestimmt nicht die Mindesten, die sich für ein Umdenken in Sachen Luxus stark machten.61 In diesem Sinne ist es verlockend, die Geschichte des Luxusbegriffs im 18.  Jahrhundert als eine doppelte Modernisierungsgeschichte zu beschreiben: vom pejorativen zum positiven, vom moralistischen zum sozialpolitischen bzw. auf den persönlichen Komfort bezogenen Gebrauch.62 Ob sich die Befürworter eines neuen Luxusverständnisses tatsächlich in dieser Weise ›durchsetzen‹ konnten, ist im Lichte der neueren Forschung allerdings fraglich. Auch die entgegengesetzte These wird vertreten. So schreibt Sarah Maza: »critics of luxury vastly outnumbered and decisively out-argued defenders of the concept in the decades before the Revolution.« John Shovlin stimmt ihr zu. Zwischen 57 Kondylis, Die Aufklärung, S.  42–59. In seinem Synonymenwörterbuch definierte John Trusler (1735–1820) Luxus weiterhin als »a giving one’s self up to pleasure«. Trusler, The Difference, Bd. 2, S. 26–27. 58 Siehe: Hume, Of Commerce, S. 18; Caraccioli, L’Europe Françoise, S. 120. Vgl. Perrot, Le luxe, S. 52; M. Berg, Luxury and Pleasure, S. 33. 59 Saint-Lambert, Luxe. Im vorangegangenen Jahr war der Artikel als eigenständiges, anonymes Essay erschienen. Später wurde er in der panckouckeschen »Encyclopédie métho­ dique« vollständig übernommen. Er fasste die geläufigen Argumente für und wider den ­Luxus zusammen. Wie Christopher Berry feststellt, zeigt dies, wie sehr die Argumente zu dieser Zeit schon standardisiert waren. Saint-Lambert, Essai sur le luxe; Mühlmann, Luxus und Komfort, S. 52; Berry, Idea of Luxury, S. 137. Vgl. Perrot, De l’apparat au bien-être; Crowley, Invention of Comfort; Jennings, Debate about Luxury, S. 87–88. 60 Rey, Luxe, S. 21–23. Ein frühes Beispiel dieser Vewendung war gegeben als Friedrich Justin Bertuch (1747–1822) und Georg Melchior Kraus (1737–1806) in ihrer Zeitschrift »Journal der Moden« den Luxus als »Hauptzweige des Wohllebens, und der angenehmen Sinnlichkeiten« auffassten. Bertuch und Kraus, Einleitung, S.  3. Ein Jahr später würden sie die Zeitschrift gar zum »Journal des Luxus und der Moden« umtaufen. Vgl. Purdy, Tyranny of Elegance; Vogl, Luxus, S. 703. 61 Vgl. Jack, Corruption and Progress, S. 18–40; Perrot, Le luxe, S. 65–68. 62 Vgl. Vogl, Luxus, S. 699; Wyrwa, Luxus und Konsum, S. 48–50. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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den siebziger und neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts hatten, meint er, die Kritiker die Oberhand; erst in den späten neunziger Jahren konnten die Apo­ logeten den Impetus, den sie um die Jahrhundertmitte entwickelt hatten, zurückgewinnen.63 Solche generellen Aussagen zu prüfen ist nicht weniger schwierig, als sie überzeugend zu belegen. Solange nicht eindeutig geklärt ist, was es heißt, ›die Oberhand zu gewinnen‹, bleiben solche Fragen ohnehin fruchtlos. Darüber hinaus ist hinreichend klar, dass der Streit um den Luxusbegriff auch am Ende des 18. Jahrhunderts nicht zugunsten der einen oder anderen Fraktion entschieden worden war. Im Gegenteil. Je artikulierter die Gegensätze wurden, umso heftiger wütete er.64 Viele zeigten sich über die nunmehr als ›modisch‹ erfahrenen Luxusapologien irritiert. So schrieb Oliver Goldsmith (1728–1774) in der Widmung seiner Pastorale »The Deserted Village« (1770) an seinen Freund, den Maler Sir Joshua Reynolds (1723–1792): For twenty or thirty years past, it has been the fashion to consider luxury as one of the greatest national advantages; and all the wisdom of antiquity in that particular as erroneous. Still, however, I must remain a professed ancient on that head, and continue to think those luxuries prejudicial to states by which so many vices are introduced, and so many kingdoms have been undone. Indeed, so much has been poured out of late on the other side of the question, that merely for the sake of novelty and variety, one would sometimes wish to be in the right.65

Obwohl sich Goldsmith den modernen Luxusapologeten gegenüber als »professed ancient« inszenierte, war seine Position doch nicht ganz so traditionell, wie er sie darstellte. Seine gattungsbedingte Bezugnahme auf den »wisdom of antiquity« verschleierte, inwiefern seine Luxuskritik sich von der noch am Anfang des Jahrhunderts kursierenden unterschied. Grund dafür war einerseits die veränderte wirtschaftliche Realität, auf die sie sich bezog, andererseits aber auch der Wandel ihres argumentativen und semantischen Bezugsrahmens. Erst angesichts der neueren Apologien wurde die Luxuskritik zu einer mehr oder weniger abgrenzbaren Position in einer Debatte, mit entsprechenden Folgen für ihre Artikulationsformen. Von ›Bedeutungswandel‹ im Sinne einer uniformen Verschiebung eines einheitlichen Begriffs zu reden, kann als abkürzende Redeweise berechtigt sein. Dasselbe gilt für die Beschreibung einer Debatte unter dem Aspekt der Fragestellung, welche der beiden Seiten sich am Ende ›durchsetzen‹ konnte. Beide 63 Maza, Myth of the French Bourgeoisie, S.  55; Shovlin, Political Economy of Virtue, S. 26. 64 Vgl. M. L. Berg und Eger, The Rise and Fall, S. 7. 65 O. Goldsmith, Deserted Village, S. vii. Siehe auch: Fougeret de Monbron, La capitale des Gaules, Bd. 1, S. 19–21; Von Moser, Beherzigungen, S. 93; Süßmilch, Die göttliche Ordnung, Bd. 2, S. 73–79; Linguet, Fanatisme, S. 32–33. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Modelle haben ihre Berechtigung, verschleiern aber vieles vom konkreten rhetorischen Kampf um Deutungshoheit, der die Verschiebungen im Verwendungsspektrum eines Begriffs im Wesentlichen erst vorantreibt. Nur unter Berücksichtigung solcher Interaktionsmomente kann die Eigendynamik einer querelle hinlänglich in den Blick genommen werden. Dabei ist insbesondere die Rolle expliziter und impliziter Rücksichtnahmen auf alternative Bedeutungsmöglichkeiten für die konkreten Begriffsverwendungen nicht zu unterschätzen. Gerade im Kontext einer querelle, in dem ein umstrittener Begriff ausdrücklich zum Thema gemacht wird, ist jeder Begriffsgebrauch von der vorgreifenden Auseinandersetzung mit alternativen semantischen Mustern geprägt. Nicht nur die Argumente der Gegenseite, sondern auch die eingeschliffenen semantischen Muster ihrer Sprache und schließlich die Form der Debatte selbst werden zum Thema expliziter Auseinandersetzungen sowie zur Zielscheibe im­pliziter semantischer Strategien. Das prägnanteste Beispiel solcher Sprachstrategien ist wohl die Definition. Vor dem Hintergrund des vielfältig differenzierten Verwendungsspektrums des Luxusbegriffs zeigten sich viele Schriftsteller verunsichert über seine Bedeutung. Immer wieder wurden allgemeingültige Definitionen gefordert, damit endlich klargestellt werde, worüber man sich eigentlich stritt. So stellte James Steuart (1712–1780) im Kapitel ›Of Luxury‹ seiner »Enquiry into the Princi­ples of Political Economy« (1767) den Versuch an, »to reconcile the sentiments of those who appear to combat one another, on a subject wherein all must agree, when terms are fully understood«.66 Nach einer ausführlichen Bestandsaufnahme der terminologischen Streitpunkte bot er seine eigene Definition an: »my definition of luxury describes at least the most essential requisite towards determininig it: the providing of superfluity with a view to consumption.«67 Solche Forderungen und die entsprechenden Definitionsvorschläge stilisierten die Auseinandersetzung um den Luxus erst zu einer querelle in eigentlichem Sinne. Allerdings ist die Rolle solcher Äußerungen erst richtig zu verorten, wenn sie über die unterschiedlichen inhaltlichen Definitionen hinaus funktional als sich auf den Argumentationsrahmen beziehende Sprachhandlungen verstanden werden. Die Definitionsrhetorik inszenierte die querelle als saubere und rationale Debatte, in der ausschlaggebende Argumente über vorher geklärte Begrifflichkeiten das Ergebnis bestimmen würden. In Wahrheit ging es dabei eher um normierende Strategien innerhalb der Auseinandersetzung, als um die objektive Beschreibung ihres tatsächlichen Ablaufs. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass solche Definitionsversuche – wenn sie nicht, wie in Wörterbüchern, Gesetzestexten oder akademischen Preis­fragen, 66 Steuart, Inquiry, Bd. 1, S. 307. 67 Ebd., Bd. 1, S. 310. Siehe auch: Ebd., Bd. 1, S. 306–311. Für Belege aus den französischen Wörterbüchern, siehe: Pallach, Luxe, S. 93. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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ex officio gefordert waren  – sich fast ausschließlich bei Autoren, die eine zumindest partielle Apologie des Luxus anstrebten, finden ließen.68 Klare Definitionen, differenzierte Argumentationen und eine betont kompromissbereite Haltung gehörten also formal zu einer bestimmten Position in der Auseinandersetzung. Was zunächst befremdlich wirkt, lässt sich aus sprachpragmatischer Perspektive leicht erklären. Für diejenigen, die das Luxusvokabular für eine pauschale Denunziation des Zeitalters verwendeten, wären solche Strategien kontraproduktiv gewesen. Sie hätten die synthetische und rhetorische Kraft des Schlagwortes mit der analytischen Genauigkeit der Definition nur geschwächt. Ulrich-Christian Pallach hat diese Art von ›diffusen‹ Verwendungsweisen im Hinblick auf ihre politisch-sozialen Effekte folgendermaßen charakterisiert. Seit jeher ist ›Luxus‹ ein Schlagwort, ein Kampfbegriff gewesen. […] Somit werden luxe und beliebige »vices, abus, mœurs corrompus« in der Sprache austauschbar. Eine wirtschaftspolitische Analyse liegt dem selten zugrunde, eher schon die Flucht des analytischen Verstandes in eine Welt aus polarisierten Begriffspaaren, deren Evokation magischen Stellenwert hat und die verbale Lösung sämtlicher Probleme ermöglicht. Das Reden von Luxus hat kaum Erklärungswert, sondern vor allem eine Denunziationsfunktion, die bei einem schon traditionell gegebenen Publikum eine vage Kritikhaltung erzeugt. Zirkelschlüssige Definitionen und Wertungen perpetuieren diese Einstellung, die letztlich mit wenigen Ausnahmen  – auf einem umfassenden Dekadenzgefühl basiert.69

Was Pallach in einem etwas abschätzigen Tonfall zu den Gründen für das Fehlen einer »unmittelbare[n] Wirksamkeit« der Luxusdebatte zählt, ist im Hinblick auf die Entstehung des kulturkritischen Diskurses zentral.70 Selbst wenn im Luxusvokabular auch konkrete politische Probleme diskutiert wurden, barg der Begriff immer das Potenzial in sich, die Diskussion auf eine generelle, hochgradig abstrakte Ebene auszurichten. Pallach verknüpft diese ›magische‹ Qualität des Begriffs vor allem mit seiner Unverbindlichkeit. Während er die Gründe seiner geringen soziopolitischen Wirksamkeit darlegt, beschreibt er aber gleichzeitig die Art und Weise, wie Luxus im kulturkritischen Diskurs zu einer Schlüsselstellung gelangen konnte. Die unmittelbare Wirksamkeit des Begriffs war gering, so Pallach: […] wegen seiner Globalanschuldigungen, der oft zirkelschlüssigen Definitionen, die keine Diskussion erlaubten, und des Fehlens praktikabler Gegenvorschläge. Gleichzeitig ermöglichte dies aber auch die Formierung einer in ihrer Bedeutung schwer erfaßbaren Kritikhaltung, die vorerst noch diffus und ungerichtet, über das Schlüsselwort ›Luxus‹ abrufbar war.71 68 Vgl. Ebd., S. 91, 112. 69  Ebd., S. 112. 70 Ebd., S. 98. 71 Ebd. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Nur unter Berücksichtigung der Dimension semantischer Interaktion ist es möglich, einen Schritt über die von Sekora und Shovlin vorausgesetzte semantische Starre auf Seiten der Luxuskritiker hinauszugehen. Begriffsgeschichtliche Darstellungen, welche die Entstehung positiver Verwendungen als einzige semantische Innovation und die daraufhin entbrennende querelle als ihre allmähliche Durchsetzung beschreiben, müssen ob ihrer modernisierungsfreudigen Perspektive einen wesentlichen Teil des Austausches, der den zeitgenössischen Begriffsgebrauch in concreto erst ausmacht, übersehen. In der diskursiven Praxis waren die pejorativen Bedeutungsebenen des Luxusbegriffs keineswegs nur tote Hülsen eines verstorbenen Sinns. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein bildeten sie den primären Bezugskontext und Ausgangspunkt jeder positiven Verwendung. Umgekehrt kann auch die Weiterverwendung und -entwicklung der negativen Bedeutungskomponenten nur unter Berücksichtigung des diskursiven Kontextes verstanden werden. Im nächsten Abschnitt ist deswegen nachzuzeichnen, wie vorgreifende und reaktive Rücksichtnahmen unter den Bedingungen der querelle die Form der Luxuskritik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer stärker bestimmten. Dies wird besonders deutlich in Bezug auf die soziale Dimension des Luxusbegriffs, der ihm von Anfang an anhaftete, aber in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu neuer Aktualität gelangte.

Die soziale Dimension des Luxusbegriffs und seine Generalisierung In seiner traditionellen Gestalt funktionierte Luxus als Bezeichnung jeder Art des über ein vorgegebenes Maß hinausgehenden Exzesses. Im Hinblick auf die Sozialordnung betraf er demnach in erster Linie die Problematik des illegitimen Konsums im Rahmen unerlaubter sozialer Mobilität. Dabei stand also weniger die Überschreitung des anthropologisch Notwendigen als des gebührenden Konsumverhaltens, das einer Person gemäß seiner gesellschaftlichen Stellung zukam, im Mittelpunkt.72 Im Rahmen der querelle bildeten sich in diesem Zusammenhang im Laufe des 18.  Jahrhunderts zwei neuartige Verwendungs­ zusammenhänge heraus. Gleichermaßen pejorativ und sich auf die Veränderungen der Sozialordnung beziehend, unterschieden sie sich ihrer Stoßrichtung nach nicht nur untereinander, sondern auch grundlegend von den etablierten Traditionen der Luxuskritik. Zur Erläuterung der Entstehung und Eigenart dieser neuen Formen der Luxuskritik ist es hilfreich, analytisch zwischen verschiedenen Arten des Luxus zu unterscheiden. Zu diesem Zwecke kann an die soziologische Luxusforschung angeknüpft werden. 72 Vgl. Schrage, Verfügbarkeit der Dinge, S. 79–81. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Im Hinblick auf seine soziale Dimension kreiste die Luxusdebatte um die Frage nach den Grenzen legitimen Konsums. Zum Teil ging es dabei um konkrete, quantitativ ausgerichtete Streitfälle. Während manche den Besitz einer Kalesche an sich schon für Luxus erklärten, gab es andere, für die das Maß erst da überschritten wurde, wo sie mit Samt und Seide bezogen war und von sechs Pferden gezogen wurde. Über solche ›quantitativen‹ Detailfragen hinaus stand aber speziell auch die Grundsatzfrage, was Legitimität im Bereich des Konsums überhaupt hieß, zur Diskussion. Mehr noch als die konkrete Verortung der Grenzen des Konsums bildete das Kriterium der Grenzziehung selbst den Mittelpunkt der Luxusdebatte. Im Gegensatz zur elementaren Bedürfnisbefriedigung konnte der Luxuskonsum offensichtlich nicht ausschließlich unter Berücksichtigung einer biologisch begründeten Notwendigkeit erklärt oder legitimiert werden. Die Frage war also, was die eigene Rationalität und Legitimität dieser Art des Konsums ausmachte. Welcher Logik sollte er gehorchen? Der belgische Soziologe Dimitri Mortelmans hat vier Logiken unterschieden, welche im Konsum von Luxusgütern eine Rolle spielen.73 Neben (1.) einem Gebrauchswert und (2.) Tauschwert haben Luxusobjekte (3.) eine symbo­lische Funktion als Verkörperung von sozialen Verhältnissen und schließlich (4.) – unter bestimmten Bedingungen – eine über die bestehende Sozialordnung hinausgehende Zeichenfunktion (sign value). Mithilfe dieser terminologischen Unterscheidung wird es möglich, die Entwicklung der Luxusdebatte in der zweiten Hälfte des 18.  Jahrhunderts genauer zu beschreiben. Das frühmoderne Verständnis von Luxuskonsum war grundsätzlich an seiner symbolischen Funktion – der dritten aus dem mortelmanschen Schema – orientiert. Konsum sollte die Sozialordnung zum Ausdruck bringen und reproduzieren. Welche Produkte es sich zu kaufen, zu besitzen und gebrauchen gebührte – und welche nicht – war abhängig von der gesellschaftlichen Stellung des ›Konsumenten‹. Luxus als abwertender Begriff bezog sich also nicht auf den Gebrauchs- oder Geldwert (Tauschwert) eines Gegenstands. Das Tragen eines edlen Schmuckstücks oder der Verzehr einer ebenso kostbaren wie köstlichen Speise konnte für bestimmte Personen und in bestimmten Situationen durchaus angebracht sein. Luxus war erst dann gegeben, wenn das Angemessene überschritten und die Ordnung des Standesgemäßen gefährdet war. Es galt der alte Spruch: quod licet Iovi, non licet bovi.74 In der »Abhandlung von dem Luxus« (1776) des Münchner Gymnasial­ professors Lorenz Hübner (1751–1807), schrieb dieser die traditionelle Tren 73 Er greift auf die grundsätzlichen Überlegungen von Veblen, Sombart, Baudrillard und Bourdieu zurück, bietet aber für unsere Zwecke ein relativ simples, klares Modell. Mortelmans, Sign values, S. 507–510. Siehe auch: M. Berg, Luxury and Pleasure, S. 30. 74 So lässt sich auch die Entrüstung Ludwigs XIV. verstehen, dass bestimmte »gens d’affaires« am Hofe einen »luxe insolet et audacieux« zur Schau stellten. »Mémoires pour l’instruction du dauphin« (1661), zit. in: Perrot, Le luxe, S. 43. Siehe auch: Ebd., S. 45–46, 63. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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nung zwischen gebührendem Aufwand und schändlichem Luxus noch einmal definitorisch fest. Das, was wir überhaupt Luxus nennen, ist nicht ein standgemäßer Aufwand wohl bemittelter, und glücklicher Landesbürger, denen ihr Reichthum, und der Segen einer wohlthätigen Regierung das Recht zu gemäßigtem Prachte einzuräumen scheint; sondern es ist der Mißbrauch ihrer Güter, welcher Weichlichkeit, und Unordnung gebährt, das ist, Verschwendung, Verzärtelung, Schwelgerey, und dergleichen Laster mehr, welche alle Gränzen vom Stande, Gebühre, und Reichthume überschreiten.75

Die moralische Vorstellung, dass Konsum repräsentativ für die sozialen Verhältnisse sein sollte, nahm in zahllosen lois somptuaires oder ›Aufwandsgesetzen‹ juristische Gestalt an: Luxusgesetzgebung, die das Konsumverhalten der Bürger regulieren sollte. Vor allem Kleidung war in der Frühen Neuzeit Thema detaillierter staatlicher Regulierung. Doch trat deren Bedeutung nach dem Anfang des 18. Jahrhunderts schnell zurück. Während diese Art von Gesetzgebung im 15. und 16. Jahrhundert noch gang und gäbe war, war sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts aus den europäischen Gesetzbüchern so gut wie verschwunden.76 Insofern eine Begrenzung des Luxuskonsums weiterhin für sinnvoll erachtet wurde – vor allem im Hinblick auf die Handelsbilanzen –, wurde statt auf Verbote zunehmend auf die Besteuerung von Luxusgütern gesetzt. Im Hintergrund dieses juridischen Strategiewechsels stand ein wirtschaft­ licher Umwandlungsprozess, der in der Historiographie manchmal als Konsum­ 75 L. Hübner, Abhandlung von dem Luxus, S. 5. Gottsched schrieb in seinen »Beobachtungen über den Gebrauch und Misbrauch vieler deutscher Wörter und Redensarten« (1758): »Der Pracht endlich ist dasjenige Laster, welches man Luxus nennet. Es ist ein Uebermuth, eine Verschwendung über seine Kräfte, über seinen Stand, womit es einer dem andern zuvorzuthun suchet.« Zit. n. Mühlmann, Luxus und Komfort, S. 39. Allerdings stellte Adelung unter dem Stichwort ›Pracht‹ seines Wörterbuchs fest, dass »Gottsched selbst im Schreiben und Sprechen seine eigenen Regeln am meisten selbst übertrat«. Adelung, Grammatischkritisches Wörterbuch, Bd.  3, S.  819–820. Siehe auch: Süßmilch, Die göttliche Ordnung, Bd. 1, S. 72. 76 Zu Sinn und Unsinn solcher Gesetzgebung, vgl. beispielsweise: Legendre, Les mœurs, S.  158; Montesquieu, Esprit des Loix, Bd.  1, S.  197–204; Steele, The Ladies Library, Art.  ›Dress‹, S. 47; Rousseau, Discours sur les Sciences & les Arts, S. 37–38; Coyer, Noblesse commerçante, S. 65–66; d’Holbach, La politique naturelle, Bd. 2, S. 252–253; Levesque, L’homme moral, S. 195; anon., Etwas über Uniformen; anon., Noch etwas über Uniformen; Saint-Germain, Du gouvernement des mœurs, S. 253–255; Franklin, Observations on Luxury; R ­ össig, Versuch über den Luxus; O’Cahill, Blick über die jetzige Zeit, S.  17–23. Für eine vergleichende, quantitative und qualitative Analyse der Luxusgesetzgebung in Frankreich, England, Italien, Spanien, der Schweiz, Schottland, Deutschland und Nordamerika, sowie zur Erklärung ihres Niedergangs, vgl. A. Hunt, Governance of the Consuming Passions, ins­besondere S.  29–33, 357–391. Vgl. auch: Roche, La culture des apparences, S.  54–59; Muchembled, La société policée, S. 200–201; Purdy, Tyranny of Elegance, S. 91–118; Bulst, Vom Luxusverbot zur Luxussteuer. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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revolution oder Geburt der Konsumgesellschaft beschrieben wird.77 Immer weitere Kreise konnten sich – und sei es auch nur in beschränktem Maße – über das Existenzminimum hinaus bestimmte Luxusgüter leisten. Zucker, Kaffee, Tee und Schokolade kamen in immer mehr Haushalten auf den Tisch. Die Einrichtung wurde üppiger, und wer sich die feinen, vergoldeten Möbel aus Mahagoniholz, die Wandtapeten aus chinesischer Seide oder das prächtige Wedgwood-Porzellan nicht leisten konnte, hatte oft die Möglichkeit, sich mit den massenweise produzierten, preiswerteren Kopien zufrieden zu stellen.78 Im Kontext dieser Entwicklungen waren die Bemühungen, den Luxuskonsum in seinen beschleunigten Modewellen gesetzlich zu unterbinden, zunehmend praktischen Schwierigkeiten ausgesetzt. Selbst wenn Luxusproduktion und -konsum am gesamten Wirtschafts­ volumen nur einen geringen Anteil hatten, bot ihre schnelle Ausweitung den Zeitgenossen doch viel Stoff zum Nachdenken, zuweilen auch zur Sorge. Angesichts des beschleunigten Wandels gesellschaftlichen Konsumverhaltens und des Fehlens gesetzlicher Normen wurde die gefühlte Notwendigkeit, ihn durch sittliche Regulierung in den Griff zu bekommen umso dringender. Traditionell war der Hang zum Luxus in erster Linie als ausschweifende Genusssucht verhandelt worden. In dieser Weise waren Luxusprodukte unter dem Aspekt ihres individuellen Gebrauchswerts erschienen. Bezeichnenderweise wurde die Verbreitung des Luxuskonsums aber vor allem unter dem Gesichtspunkt seiner sozialen Rolle betrachtet und durch den Wunsch nach sozialer Mobilität begründet. Die Sucht nach Luxusgütern wurde als Folge des Nachahmungstriebs interpretiert. Schon Bernard Mandeville hatte diesen psychologischen Mecha­nismus in seinem »Fable« beschrieben: »We all look above our selves, and, as fast as we can, strive to imitate those, that some way or other are superior to us.«79 Zwei negative Folgen dieser Dynamik wurden in ihrer kritischen Betrachtung besonders beachtet. Zum einen stürze, so meinte man, die Spannung zwi 77 Besonders von der englischen Historiographie gehen starke Impulse aus, die Rolle des Konsums für die wirtschaftlichen Wandlungsprozesse des 18. Jahrhunderts mehr zu be­ tonen. Vgl. McKendrick, Brewer und Plumb, Consumer Society; Clifford und M. L. Berg, Consumers and Luxury; Eger und M. L. Berg, Luxury; Prinz, »Konsum« und »Konsumgesellschaft«; ders., Aufbruch in den Überfluss? 78 Terminologisch konnten diese Produkte unter der Kategorie der Annehmlichkeiten (decencies) gefasst werden, die zwischen das Notwendige und den Luxus geschoben wurde. Vgl. J. Brewer, Was können wir, S. 61–64. Siehe auch: Camporesi, Der feine Geschmack. 79 Mandeville, Fable of the Bees, S.  132. Seine Vorlage war offensichtlich der Fabel La Fontaines (1621–1695) »La grenouille qui se veut faire aussi grosse que le boeuf«. La Fontaine, Fables, S. 9–10. Siehe auch: Butel-Dumont, Théorie du luxe, Bd. 2, S. 144–145; L. Hübner, Abhandlung von dem Luxus, S. 5–6; Saint-Germain, Du gouvernement des mœurs, S. 247; JungStilling, Das Heimweh, Bd.  4, S.  366, 368. Vgl. M. Goldsmith, Liberty, Luxury, S.  242–251; J. Brewer, Was können wir, S. 69–72. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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schen aufwärts gerichteter Imitation und abwärts gerichteten Differenzierungsversuchen am Ende alle über jedes Maß in die Kosten.80 Die Eliten bedürften immer exklusiverer Mittel, um ihre gesellschaftliche Stellung zu wahren. Die Figur des an den Bettelstab geratenen provinziellen Adeligen, der nicht länger im Stande ist, seinen reichen, bürgerlichen Nachbarn gegenüber seine Würde zu markieren, symbolisierte dieses Problem in der zeitgenössischen Literatur.81 Umgekehrt stürze der Wunsch der niederen Klassen, den Lebensstil der Höhergestellten nachzuahmen, auch sie in den finanziellen Ruin.82 Schließlich meinte man – und das war im Hinblick auf kulturelle Deutungen dieses Phänomens bedeutsam – die Eigendynamik der fortschreitenden Differenzierungsund Imitationsversuche gefährde die Lesbarkeit des sozialen Raums. Im Kontext des um sich greifenden Luxus ließ das Konsumverhalten einer Person keine Rückschlüsse auf ihren gesellschaftlichen Status mehr zu. Wo ein Kammer­ diener wie ein Fürst aussehen konnte, stand die symbolische Ordnung, innerhalb derer die Praktiken des Kaufs und des Verbrauchs die eigene Identität markierten, unter Druck. Das Problem der confusion des rangs war nicht neu. Die ständische Gesellschaftsordnung sah sich prinzipiell vor die Herausforderung gestellt, die Spannung zwischen ihrer Grundkategorie der Geburt und der nivellierenden Dynamik des Geldes zu überwinden.83 Dass die Würde einer Person nicht immer in ihrer Kaufkraft zum Ausdruck kam und umgekehrt nicht jeder Person, die über die finanziellen Mittel verfügte, sich einen bestimmten Lebensstil zu leisten, dieser auch zustand, ist ein konstitutives Problem einer solchen Gesellschaftsform. Seit dem Ende des 17.  Jahrhunderts hatte sich die Auseinandersetzung um diese Problematik auf die Figuren des bürgerlichen Parvenüs, speziell des

80 Garve, Ueber die Moden, S. 134. 81 Unter dem Stichwort ›Luxe‹ in Cléments Petit dictonnaire hieß es: »Voyez B ­ anqueroute.« Clément, Petit dictionnaire, Bd. 2, S. 12. 82 »The same Emulation is continued through the several degrees of Quality to an in­ credible Expence, till at last the Prince’s great Favourites and those of the first Rank of all, have nothing else left to outstrip some of their Inferiors, are forc’d to lay out vast ­Estates in pompous Equipages, magnificent Furniture, sumptuous Gardens and princely ­Palaces.« Mandeville, Fable of the Bees, S. 133. Siehe auch: anon., On Corruption; [H. Oldfashion], City Politeness; Montesquieu, Esprit des Loix, Bd.  1, S.  196; Saint-Lambert, ­Essai sur le luxe, S.  ­38–39; Du Coudray, Le Noble, et le Bourgeois; Condillac, Le commerce, S. 520. 83 In der 1760 erstmals auf die Bühne gebrachte Komödie »Les Mœurs du temps« von Bernard-Joseph Saurin (1706–1781) sagte eine Hauptfigur: »L’argent, morbleu! l’argent; voilà ce que j’appelle du mérite, moi. Je veux un mérite qui rapporte: dites-moi ce qu’un homme a, je vous dirai ce qu’il vaut. Il n’y a que cela de réel. Esprit, naissance, qu’est-ce que cela produit par an?« Saurin, Les mœurs du temps, S. 33. Siehe auch: Béliard, Lettres critiques, S. 104, 113; Saint-Germain, Du gouvernement des mœurs, S. 58; Brandes, Über den Zeitgeist, S. 32–33; [Weber], Geist der Zeit, S. 303. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Financiers und des Händlers, zugespitzt. Die wichtiger werdende Rolle NichtAdeliger in der Finanzierung und Verwaltung des wachsenden Staatsapparates sowie die zugenommene Möglichkeiten, sich durch Handel oder Geldgeschäfte ein Vermögen zu erwirtschaften, brachten einen sozialen Verarbeitungs­prozess in Gang, der über Generationen hinweg verhandelt wurde.84 Der Sozialtypus des Emporkömmlings wurde dabei langfristig von der Gestalt des bourgeois gentilhomme der gleichnamigen Komödie Molières aus dem Jahr 1670 geprägt, die ihre Komik aus genau dieser Spannung schöpfte.85 Auch im 18. Jahrhundert verlor diese Problematik nicht ihre Aktualität. Sati­ riker wurden nicht müde, das komische Potenzial, das aus der Inkommen­ surabilität von Geburt und Kaufkraft resultierte, auszunutzen.86 Bei allem Gelächter wurde die Problematik, auf der ihre Komik beruhte, aber durchaus ernst genommen. In August Wilhelm Ifflands (1759–1814) Theaterstück »Alte Zeit und neue Zeit« von 1799 stand das Problem, dass die »Standeswände […] eingeschlagen und aufgehoben« worden waren, weiterhin im Mittelpunkt. Auch hier galt das Dienstmädchen, das in Seide gekleidet ist, als Sinnbild sozialer Unordnung. »Leute, die bald waschen, bald den Boden aufputzen in Seide? Ach die seidne Welt kann länger keinen Bestand haben.«87 Obwohl sich die im Luxus­ vokabular verhandelte soziale Grundproblematik seit dem 17. Jahrhundert also nicht wesentlich geändert hatte, verschärfte sich die Debatte im Laufe des 18. Jahrhunderts erheblich. Vor dem Hintergrund der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen der Zeit, aber auch im Kontext der querelle, verschob sich ihre Stoßrichtung tendenziell auf eine abstraktere Ebene. In diesem Gefüge bildeten sich zwei neue Verwendungsweisen des Luxusbegriffs heraus, die beide eine generalisierte Sicht auf die Gesellschaftsentwicklung implizierten. Brisanter­weise waren die soziopolitischen Zusammenhänge, aus denen diese neuen Gebrauchsweisen stammten, aber völlig konträr. In gewisser Weise können die beiden neuen Verwendungsweisen des Luxusbegriffs als unterschiedliche Generalisierungen seiner sozialen Dimension ver-

84 Der Abbé Sabatier de Castres (1742–1814) schrieb über die Eheschließungen zwischen Bürgerlichen und Adeligen: »L’Amour qu’ont nos Gens de Qualité pour le Luxe & la mollesse a rendu ces mesalliances si communes, qu’il n’y a presque Maison à la Cour qui ne tienne par les femmes au Commerce ou à la Finance: Nos Seigneurs appellent cela prendre du fumier pour engraisser leurs Terres.« Sabatier de Castres, Lettre XV, S. 89. 85 Molière, Le bourgeois gentilhomme. Einer Studie von Jean-François Solnon zufolge wurde diese Figur in den Komödien des 18. Jahrhunderts nicht weniger als zweihundertfünfzehn Mal auf die Bühne gebracht. Solnon, 215 bourgeois gentilhommes. Vgl. Gerhardi, Geld und Gesellschaft, S. 13–27, 354. 86 Siehe beispielsweise: Du Coudray, Le luxe, S. 42. 87 Iffland, Alte Zeit und neue Zeit, S. 79, 88. Siehe auch: Schubart, Von der Mode, S. 286; De Jouy, Révolutions des modes, S. 280. Vgl. Starobinski, Invention of Liberty, S. 14–16, 22; Maza, Luxury, morality, S. 217–221; Shovlin, Cultural Politics of Luxury, S. 577–586, 596. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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standen werden.88 Im Hintergrund stand in beiden Fällen die verschärfte Pro­ blematisierung der symbolischen Logik des Luxuskonsums. In Mortelmans’ Terminologie könnte man sagen, dass er stärker der Logik des Zeichenwerts (sign value) zugeordnet wurde. Diese zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass der Bedeutungsinhalt der Zeichen nicht von vornherein feststeht. Die vierte Logik, so Mortelmans, löst die feste Verbindung zwischen Zeichen und Bezeichnetem auf und »adds indeterminacy to the logic of signification«.89 Luxusobjekte können, abgesehen von ihrem Gebrauchs- und Tauschwert und ihrem Nutzen zum Zwecke sozialer Stabilisierung, unterschiedliche weitere Funktionen erfüllen. Sie können einen Lebensstil konstruieren, Gruppenzugehörigkeit inszenieren, Genuss maximieren oder Status erhöhen. Im Unterschied aber zu den anderen Logiken – und insbesondere auch zu ihrem symbolischen Wert – haben solche Funktionen keine vorgegebene, denotierte Bedeutung, an die sie gebunden sind. Erst im Vollzug des Konsums selbst und in dessen Interaktion mit dem Konsum anderer entsteht ihr Zeichenwert. Was für den heutigen, durch die Schule der Postmoderne gegangenen Betrachter ein freudiges Spiel von sich in ihrer Eigenlogik wirbelnden Zeichen darstellt, wurde von den Zeitgenossen weniger positiv betrachtet.90 Die Lösung des Luxuskonsums aus seiner symbolischen Logik stand im Mittelpunkt der zeitgenössischen Auseinandersetzung um die Sozialordnung. Aus diesem Grund bildete der Luxusbegriff auf beiden Seiten dieser Kontroverse, auf je unterschiedliche Weise, eine Grundkategorie der Artikulation gesellschaftlichen Wandels. Unter Befürwortern gesellschaftlicher Reformen galt die Auflösung des sozialen Repräsentationscharakters von Konsum als seine Befreiung aus den Fesseln einer überholten Sozialordnung. Shovlin hat diesen Verwendungszusammenhang des Luxusbegriffs im Hinblick auf den französischen Kontext als ›Krise der Repräsentation‹ gedeutet.91 Wurde in der ersten Hälfte des Jahrhunderts die Luxusfrage noch vor allem unter dem Gesichtspunkt der confusion – das heißt: der misslungenen Repräsentation – diskutiert, so wurde ab der Jahrhundertmitte der generelle Anspruch des Konsums auf Repräsentativität immer mehr in Frage gestellt. Der Luxusbegriff wurde nicht länger auf die Abweichungen von der ständischen Konsumordnung, sondern auf diese symbolische Ord 88 Der Marquis de Saint-Lambert brachte die Problematik auf den Punkt: »un des effets du besoin qu’on a des hommes riches, de l’autorité qu’ils prennent, des agrémens de leur société, c’est la confusion des rangs […]. Alors se perdent le ton, la décence, les distinctions de chaque état, qui servent plus qu’on ne le pense, à conserver l’esprit de chaque état. Quand on ne tient plus aux marques de son rang, on n’est plus attaché à l’ordre général«. Saint-Lambert, Essai sur le luxe, S. 41–42. Siehe auch: Ebd., S. 46. 89 Mortelmans, Sign values, S. 501–502, 509–510. 90 Vgl. J. Brewer, Was können wir, S. 68–69. 91 Vgl. Shovlin, Cultural Politics of Luxury. Siehe auch: Perrot, Le luxe, S. 78–81; Saisselin, Enlightenment Against the Baroque, S. 27–28, 66–70; Pallach, Luxe, S. 103. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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nung selbst bezogen. Als luxuriös galt in diesem Sinne jeder Konsum, der nicht direkt dem persönlichen oder gesellschaftlichen Nutzen, sondern der Repräsentation und Reproduktion sozialer Verhältnisse diente. Statt des Verstoßes gegen die dritte Logik betraf der Begriff nunmehr diese Logik selbst. Anstelle der sozialen Aufsteiger wurden in diesem Zusammenhang die grands selber zur primären Zielscheibe der Kritik. Von den Physiokraten bis zu den sansculottes wurde eine Moral der Sparsamkeit, Einfalt und Produktivität dem verschwenderischen Lebensstil des Adels und der financiers gegenübergestellt.92 Im Namen einer zukünftigen Gesellschaftsordnung, in der Tugend und Leistung statt Geburt und Ehre die herrschenden Werte darstellen würden, wurden die Praktiken des demonstrativen Konsums angegriffen. Die Produktion von und der Handel mit Luxusgütern wurde als steriler Wirtschaftszweig betrachtet, der die eigentlich produktive Landwirtschaft um ihre Ressourcen brachte. Am Kriterium der Produktivität gemessen erschienen sie als Auswuchs einer müßigen und entarteten Klasse und als symptomatisch für die Mängel der ständischen Gesellschaftsordnung.93 Besonders der überlieferte Gemeinplatz, dass der Luxus der Reichen die Armen unterstütze, löste in diesem Kontext heftigen Widerspruch aus. Die Verelendung der Landbevölkerung und die entsprechende Entvölkerung des Landes zugunsten der überbevölkerten Städte wurden als typische Folgen der frivolen Konsumgewohnheiten der Reichen angesehen. Deren Überfluss, so argumentierte man, wurde von denen bezahlt, die noch nicht einmal das Allernotwendigste besaßen.94 Nur der Konsum des fleißigen Bürgers, der keinerlei 92 Pallach weist darauf hin, dass Ludwig XVI. selbst bei seinem Regierungsantritt 1774 den höfischen Aufwand anprangerte. Diese Selbstkritik dokumentiere, »daß der Monarch, nicht ohne Nachhilfeunterricht durch das Pariser Parlement und seinen Minister de Males­ herbes, sich zumindest verbal die gängigen Auffassungen über Luxus zueigen gemacht hat und diese Einstellung als Mittel zur Stabilisierung der Monarchie einsetzt. Die Ablehnung von ›faste obscur et dispendieux‹ und ›splendeur‹ apparente kam der öffentlichen Meinung entgegen […]«. Ebd., S. 99. 93 In diesem Kontext entstand ab den sechziger Jahren auch eine – auf lange Sicht folgenreiche – Verknüpfung von Luxus und Despotismus. Siehe beispielsweise: Beccaria, Traité des délits, S. 85–86; Marat, Les chaines, S. 78–83. 94 »Surtout ne protégéz pas le luxe! c’est un monstre, qui, sous l’apparence de faire du bien à quelques Travailleurs, devore l’Etat! C’est une plante parasite, qui profite aux depens de l’Arbre, qu’elle paraît orner, mais qu’elle épuise du suc nourricier: Comme elle, luxe est un bouquet verdoyant; mais sa racine est dans les emplois utiles de la Société, aulieu d’être dans les fonds; […] Je ne connais pas les Economistes: Je suis même tenté de les regarder comme des Systematiques dangereux: Mais ils ont un excellent principe; c’est que la culture, la campagne, ét la pâture des Bestiaux sont le seul fond reel, ét que tout le reste n’est que luxe. Or qu’est-ce que le luxe? C’est l’aqui d’une chose inutile ét de pure ostentation, qui emploie des bras que des choses utiles pourraient occuper.« Rétif de la Bretonne, Les nuits de Paris, Bd. 5, S. 2043–2045. Siehe auch: Rousseau, Dernière réponse, S. 83–84; ders., Discours sur l’inégalité, S. 183–184, 214–215; Villemaire, L’andrometrie, S. 80; O. Goldsmith, Deserted Village, S. 16–17, 21–22; Thelwall, The Rights of Nature, Bd. 2, S. 92–93. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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soziale Konstruktionsleistung darstellte, sondern einzig zu seinem individuellen und kollektiven Nutzen erfolgte, sei ›tugendhaft‹. Alles andere wurde als Luxus bezeichnet.95 Nicht nur weil er mit Geburt und Ehre nichtige Kategorien repräsentiere, sondern aufgrund seines Repräsentationscharakters selbst, könne ein solcher Konsum nur Verstellung sein.96 Die von Shovlin und anderen skizzierte, im weitesten Sinne anti-aristokratische Luxuskritik fand ihre politische Umsetzung in der Revolution. In einem Zeitungsartikel aus dem Jahr 1794, in dem für die Notwendigkeit eines neuen, republikanisch-nationalen Kleidungsstils argumentiert wurde, hieß es zur Begründung: […] à mesure que la Société vieillit et se corrompt, des idées accessoires viennent se joindre aux idées primitives et les alterent; l’habillement cesse d’être un pur objet d’utilité, il devient un objet de représentation; la fantaisie le dirige, l’orgueil s’en empare; il sert à distinguer la fortune et les rangs. Ce sont là des abus à reformer: il entre dans l’esprit de la régénération française de ramener le costume à son but originel et aux mœurs de l’égalité.97

Während die Luxuskritik sich traditionell auf den Normbruch in der sym­ bolischen Gesellschaftsordnung bezogen hatte, betraf sie in ihren neueren Verwendungen diese Ordnung selbst. Dass unter den Bedingungen des Ancien Régime die Gesellschaftsform im Ganzen einen luxuriösen Charakter hatte  – insofern sie sich nicht auf reelle individuelle und kollektive Bedürfnisse und ihre Befriedigung stützte, sondern auf eine scheinhafte Ordnung von Ehre und Würde – war ein wichtiges Argument für ihre Obsoletheit und die Notwendigkeit bedeutender Reformen. So folgenreich diese Verwendungsweise des Luxusbegriffs auch wurde, sie schöpfte sein neues Verwendungsspektrum keineswegs aus. Maxine Berg und Elizabeth Eger haben darauf hingewiesen, dass der Luxusbegriff zur gleichen Zeit auch im entgegengesetzten politischen Lager Verwendung fand: »the nobility took on the moral language of the critique of luxury as a resistance to the power of commerce and finance.«98 War Luxus für die ›proto-republikanischen‹ Reformer Charakteristikum einer überholten Gesellschaftsordnung, so war er für andere umgekehrt die Ursache des Zusammenbruchs dieser – und das bedeutete aus ihrer Sicht: der – Sozialordnung. 95 »Un riche propriétaire détourne des eaux qui fertilisaient une prairie; il les porte à grands frais sur une haute montagne, pour y former des jets d’eau. Voilà le luxe!« Sénac de Meilhan, Considérations sur les richesses, S. 112. Siehe auch: Genlis, Discours sur le luxe, S. 258. 96 Siehe dazu: Kapitel III. 97 [Société populaire et républicaine des arts], Costume national, S.  7. Zit. in Perrot, Le luxe, S. 78. 98 M. L. Berg und Eger, The Rise and Fall, S.  20. Siehe auch: Jennings, Debate about ­Luxury, S. 83. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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In der Ode ›La corruption de l’esprit et des mœurs‹ schilderte der Kardinal de Bernis (1715–1794) eine breit angelegte Verfallsgeschichte der französischen Sitten. Der Zusammenbruch des lawschen Systems in den zwanziger Jahren hatte in dieser Geschichte einen zentralen Stellenwert: »Pour rendre nos mœurs la ruine totale, / Law ouvrit le trésor de sa banque fatale.«99 Die Spekulationsblase und die neue Bedeutung des Geldes im sozialen System hätten den zunehmenden Verfall der Gesellschaftsordnung hervorgerufen. Alle Grenzen seien fließend geworden und jeder Halt sei abhanden gekommen. Um diesen neuen Zustand zu beschreiben, griff der Kardinal auf das Bild des puren Chaos zurück. Tel qu’Ovide a dépeint ce chaos monstrueux, Des divers éléments mélange infructueux, […] Tels on vit à Paris l’ivresse et le délire Changer, bouleverser les ordres de l’empire, Avilir les états et rapprochant les rangs, Ennoblir la bassesse, et dégrader les grands.100

Wie es Sarah Maza – sich auf Lovejoy beziehend – ausgedrückt hat, stellte der Luxusbegriff in diesem Zusammenhang das »negative image of the Great Chain of Being« dar.101 Er war der Erklärungsbegriff einer confusion des rangs, die nicht länger eine vorübergehende Ausnahmesituation, sondern einen prin­ zipiellen Systembruch darstellte. Dem Schein der Lebensform lag aus dieser Sicht nicht länger das Sein eines sozialen Kosmos zugrunde. Der bourgeois gentilhomme war noch der soziale Verbrecher gewesen, an dem die Grenzen der Sozialordnung sichtbar gemacht wurden. Seine Übertretung setzte die bestehenden Grenzen nicht außer Kraft, sondern bestätigte sie. Das Verbrechen selbst erhielt seinen Sinn als status­ erhöhender Akt erst dadurch, dass die prinzipielle Standesordnung nach dem sozialen Aufstieg erhalten blieb.102 Auch seine reflexive Darstellung war darauf ausgerichtet, anhand der lasterhaften und lächerlichen Folgen der Überschreitung die prinzipielle Gültigkeit der Sozialordnung nachzuweisen. Jetzt aber wurde diese Ordnung zunehmend selbst als bedroht empfunden. Die Gefahr ging weniger vom individuellen Regelverstoß als vom schleichenden Einfluss einer abstrakten Macht aus, die der taxonomischen Logik des Systems entgegenwirkte. Diese Macht war der luxuriöse Geist der Moderne.

99 De Bernis, La corruption, S. 160. Und auf der nächsten Seite: »La banque, dont la cour régloit le balancier / Utile au débiteur, funeste au créancier, / Du luxe et de l’orgueil exaltant l’arrogance, / Acheva de corrompre et d’énerver la France.« Siehe auch: Ebd., S. 163–164; ders., Sur les mœurs, S. 26–27; ders., L’hiver, S. 58. 100 Ders., La corruption, S. 160. 101 Maza, Luxury, morality, S. 219. 102 Vgl. Arlinghaus, Mittelalterliche Rituale, S. 130–131. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Im Französischen konnten solche Perspektiven mit dem terminologischen Gegensatz zwischen repräsentativer faste und maßlosem luxe verknüpft werden. Schon in der Luxusapologie hatte diese Unterscheidung eine bedeutende Rolle gespielt. In deren Rahmen wurde die öffentliche Prachtentfaltung zum Zwecke der Machtinszenierung als »luxe d’apparence« negativ von der privaten »luxe de commodité« unterschieden.103 In der neueren, ›aristokratisch‹-generalisierten Luxuskritik aber wurde die Wertung umgedreht. »Le luxe s’est établi sur les débris du faste, qui a cessé avec le pouvoir de la noblesse«, schrieb der Politiker und Schriftsteller Gabriel Sénac de Meilhan (1736–1803).104 Anstelle des standesgemäßen Aufwands – »qui caractérisoit leur supériorité réelle« – habe sich der auf pure Kaufkraft gründende Luxus breitgemacht: »L’élégance a succédé à la magnificence, le luxe a remplacé le faste.«105 So habe das Geld sich als höchste Macht etabliert und alle Grenzen eingeebnet. C’est ainsi que par sa nature la richesse tend à mettre tout au même niveau, subjugue toutes les opinions. Il ne peut y avoir en quelque sorte ni rang ni prérogatives qui balancent son pouvoir souverain. Elle doit tout avilir, à commencer par la vertu, son plus dangereux ennemi […].106

Während die beiden neueren Verwendungsweisen sich gleichermaßen auf die generalisierte phänomenale Ebene des Gesellschaftsganzen bezogen, trennte sie ihre unterschiedliche temporale Ausrichtung. Die anti-aristokratische Luxuskritik bezog den Begriff auf eine soziale Gegenwart, die als real, aber geschichtlich überholt dargestellt wurde. Der luxuriöse Konsum gehöre eigentlich einer vergangenen Epoche an und sei in der modernen Gesellschaft fehl am Platz. Er basiere auf ›Vorurteilen‹, die im Namen des Fortschritts zunächst diskursiv, dann auch politisch beseitigt werden sollten. Auch in seinem sozialkonservativen Gebrauch war der Luxusbegriff auf die Gegenwart im Ganzen bezogen. Diesmal aber bezeichnete er nicht die bestehende Sozialordnung selbst, sondern die geschichtliche Macht, die ihn bedrohte. In den Augen solcher Luxuskritiker mündete der Bruch mit der symbolischen Logik des Konsums notwendigerweise in die völlige Entgrenzung des sozialen Raums. Der damit einhergehende Orientierungsverlust bot reichlich Anlass zur Klage über die Dekadenz der Kultur. Die Ordnung sei zerstört, nur Chaos und Verwirrung blieben übrig.107 103 Voltaire, Faste; Saint-Lambert, Faste; ders., Principes des mœurs, Bd.  1, S.  127–128; Beccaria, Traité des délits, S. 186–187. Vgl. Perrot, Le luxe, S. 86–87. 104 Sénac de Meilhan, Considérations sur les richesses, S. 99. 105 Ebd., S. 97. Und: »La noblesse est descendue de son rang pour combattre de richesses à richesses avec des hommes obscurs, dont l’argent formoit seul l’existence; elle a éprouvé dans cette lutte le désavantage le plus marqué.« Ebd. 106 Ebd., S. 98. 107 »Aujourd’hui que le luxe est considérable et que l’argent fait tout, tout est confondu à Paris,« schrieb der Pariser Parlamentarier Edmond Jean François Babier (1689–1771) am 23. Februar 1745 in seinem Tagebuch. Zit. n. Perrot, Le luxe, S. 56. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Lange bevor die Revolution der alten Ordnung politisch ein Ende setzte, wurde der Übergang vom Ancien zum Nouvel Régime als Frage nach den herrschenden kulturellen Werten diskutiert. Beide Seiten dieser Auseinander­ setzung artikulierten ihre Position unter anderem auch im Vokabular der Luxuskritik. Die eine Seite skizzierte den geschichtlichen Wandel von einer einfältigen und frugalen Vergangenheit bis zur gegenwärtigen, ständischen Gesellschaft als ihren fortschreitenden Verfall in die scheinhafte Repräsentativität. Die andere beschrieb die Auflösung der repräsentativen Ordnung des Konsums als verhängnisvolle Folge der nivellierenden Macht des Geldes. Der Name für das beschriebene Phänomen war jedoch zweimal derselbe: Luxus. Die beiden Seiten der Debatte waren divided by a common language.108

Die problematische Verzeitlichung des Luxus Die Etablierung der beiden neuen Verwendungsweisen des Luxusbegriffs  – einer ›republikanischen‹ und einer ›aristokratischen‹ – leitete eine neue Phase der Luxuskritik ein. In jeweils unterschiedlicher Weise und im Hinblick auf diametral entgegengesetzte soziopolitische Ziele formulierten beide Seiten eine Perspektive auf die gegenwärtige Gesellschaft, die bezüglich ihrer Semantik als kulturkritisch bezeichnet werden muss. Obwohl die älteren Verwendungsweisen nie ganz verloren gingen, begleitete sie nunmehr eine Gruppe von Verwendungen, die sich durch eine höherstufige Generalisierung und eine geschichtliche Perspektivierung auszeichneten. Sie waren gekennzeichnet durch die holistische Deutung der Gesamtkultur und beschrieben deren Entwicklung als die fortschreitende Einwirkung genereller, geistig-geschichtlicher Mächte. Es war eine Kulturkritik des Luxus entstanden. Damit erhielt auch die q­ uerelle neue Dimensionen. Anfangs hatte sie sich hauptsächlich um den Gegensatz ­zwischen negativen und positiven Verwendungsweisen des Luxusbegriffs konstituiert. Jetzt kamen zwei neue Trennlinien hinzu. Zum einen schoben sich neben die Verwendungen als Kriterium innerhalb eines vorher geklärten Wertesystems nunmehr generalisierte Verwendungen, welche die Logik dieses Systems selbst in Betracht zogen. Zum anderen wurde der Begriff, was seine politische Stoßrichtung anging, in diametral entgegengesetzten Lagern verwendet. Vor dem Hintergrund dieses extrem differenzierten Verwendungsspektrums erreichte die querelle in den Dezennien vor der Revolution ihren Höhepunkt. Aus langer Sicht war dies aber zugleich der Anfang von ihrem Ende. Während sich im Luxusbegriff zum Ausgang des 18.  Jahrhunderts allmählich auch ty 108 Der Ausdruck stammt von George Bernard Shaw (1856–1950) und bezog sich in seinem Entstehungskontext auf das Verhältnis zwischen England und den Vereinigten Staaten. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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pisch kulturkritische Verwendungsweisen herausbildeten, sollte er im kulturkritischen Diskurs des 19. Jahrhunderts auf Dauer keine zentrale Rolle spielen. Und auch mit der querelle würde es nun bald zu Ende gehen. Ellen Ross hat die These vertreten, die Revolution habe der Debatte um den Luxusbegriff ein Ende gesetzt. Sie nannte dafür zwei Gründe. Erstens hätten die politischen Reformen der Revolution gezeigt, dass Luxus kein moralisches, sondern ein konkret politisches Problem sei. Zweitens sei die Kritik an der symbolischen Entsprechung von Konsum und gesellschaftlicher Stellung im Sinne des Ancien Régime mit ihrer politischen Realisierung obsolet geworden.109 Eine dritte Erklärung hat Jennifer Jones hinzugefügt. In ihren Augen sei am Ende des 18. Jahrhunderts ein grundsätzlich neues Verständnis von Frauen, Mode und Geschmack aufgekommen, in dessen Rahmen sich die Problematik des luxuriösen Konsums gleichsam aufgelöst habe. Modischer Konsum sei nicht länger als moralisch sündhaft oder gefährlich für die soziale Hierarchie, sondern als natürlicher Teil der weiblichen Aufgabe, für eheliche Harmonie und häusliches Glück zu sorgen, angesehen worden.110 Doch sind diese Thesen nicht ohne Widerspruch geblieben. Der Londoner Politikwissenschaftler Jeremy Jennings hat vor kurzem das exakte Gegenteil behauptet. Aus seiner Sicht hätten sich die Konturen der Debatte nach der Mitte des 18. Jahrhunderts bis weit in das 19. hinein nicht mehr wesentlich geändert: »luxury can be described as a relatively stable concept that was regularly deployed in the political thought of a relatively unstable society.«111 Die Argumente von Ross, Jones und anderen hätten ihn nicht überzeugt. Schon vor der Revolution habe es, so meinte er, Schriftsteller gegeben, die den Luxus als politisches Problem behandelten. Außerdem waren – auch wir haben darauf hingewiesen – nicht alle, die sich in der Luxusfrage äußerten, Kritiker des Ancien Régime. Im Gegenteil, gerade auch die Befürworter der alten Ordnung griffen häufig auf das Vokabular der Luxuskritik zurück. Drittens sei Jones’ These zwar für einen kleinen Aspekt der querelle – »the issue of women and fashion« – gültig, aber nicht für alle. Nebst solchen Einwänden aber bestand sein wichtigstes Beweismittel in der Auflistung einer Reihe von »leading political thinkers and political economists«, welche den Streit um die Vor- und Nachteile des Luxus im 19. Jahrhundert weiterführten. 109 Ross, The Debate on Luxury. 110 J. M. Jones, Sexing la mode, S. 199. 111 Jennings, Debate about Luxury, S. 105. Er deutete die querelle klassischerweise als Auseinandersetzung zweier konkurrierender Traditionen. Auf der einen Seite befänden sich die Befürworter des klassischen Republikanismus, die »from Rousseau to Renouvier« immer wieder dieselben Argumente gegen den Luxus wiederholten. Auf der anderen ständen »from Melon to Feydeau« die Apologeten des Luxus, die aber ebenso wenig eine wesentliche Neuerung durchsetzen konnten. Ebd., S. 83–84. Gemeint sind: Renouvier, Manuel Républicain; Feydeau, Du Luxe. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Luxus ist bis heute nicht unumstritten. Die Beantwortung der Frage, ob die Debatte um den Luxus am Ende des 18. Jahrhunderts zu Ende ging, hängt in erster Linie davon ab, was man unter dem Ende einer Debatte versteht. Gelten nur moralische Argumente als Luxuskritik in eigentlichem Sinne, wirtschaft­ liche und politische aber nicht – wie bei Ross –, so ist die Debatte nach der Revolution tatsächlich mehr oder weniger zu Ende. Ebenso wenn man – wie Jones – Luxus ausschließlich hinsichtlich der Frage nach dem Genderaspekt der Mode betrachtet. Schaut man stattdessen – wie Jennings – auf wirtschaftspolitische Auseinandersetzungen, so bleibt sie bis weit ins 19. Jahrhundert hinein lebendig. Statt sich weiter über die Frage nach dem Endpunkt der querelle zu streiten, scheint es sinnvoller, von einer Akzentverlagerung an der Wende zum 19. Jahrhundert auszugehen. In gewisser Hinsicht weist auch Jennings selbst darauf hin. Die Autoren seiner Beispiele, vom Revolutionär Emmanuel Joseph Sieyès (1748–1836) über Jean-Baptiste Say (1767–1832), die idéologues und Benjamin Constant (1767–1830) bis hin zu den politischen Ökonomen der 1848er-Revolution, ­ ­brachten die Problematik des Luxus in erster Linie als staatswirtschaftliches Problem zur Sprache. Selbst wenn in ihren Erörterungen weiterhin soziale, psychologische, politische und moralische Aspekte berücksichtigt wurden, ist unverkennbar, dass der Akzent ihrer Argumentation auf dem ökonomischen Aspekt lag.112 Hier setzte sich eine Tendenz durch, die schon seit längerer Zeit vorbereitet worden war. Schon Jean-François Melon hatte die Frage nach dem Luxus als Kapitel unter der übergreifenden Thematik des Kommerzes gefasst.113 Er verwendete den Begriff als wirtschaftstheoretischen Terminus und ordnete ihn in einen Argumentationskontext ein, in dem staatswirtschaftliche Kriterien entscheidend waren. In seiner Folge meldeten sich immer wieder Schriftsteller zu Wort, welche die Frage des Luxus in diesem Kontext verortet sehen wollten. Auch diejenigen von ihnen, die sich gegen den Luxuskonsum richteten, taten dies nun immer stärker unter Heranziehung wirtschaftlicher Argumente und im Hinblick auf die rationale Kalkulation des Gemeinnutzens. Dieser Zweig der Luxusdebatte wurde im 19.  Jahrhundert deutlich stärker. Sparsamer dagegen wurden Verwendungsweisen des Begriffs im Sinne der moralischen Abwertung bestimmter Praktiken oder gar der Gesamtdeutung kultureller Wandlungsprozesse. Die Hochphase der querelle war gleichzeitig die Periode, in der der Luxusbegriff seine Brauchbarkeit als Instrument gesamtkultureller Deutung allmählich verlor. Natürlich spielte die Revolution dabei eine Rolle. Die soziopolitisch ausgerichtete Luxuskritik bekam im ver­ änderten politischen Kontext einen anderen Stellenwert. Für ihre reformistische 112 Vgl. auch: M. L. Berg und Eger, Introduction, S. 5. 113 Kapitel IX: ›Du Luxe‹: Melon, Sur le commerce, S. 129–157. Vgl. M. L. Berg und Eger, The Rise and Fall, S. 11. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Variante galt, dass das Problem des repräsentativen Konsums, mit dem sie sich aus­einandergesetzt hatte, in der Revolution vorerst ›gelöst‹ worden war. Die konservative Kritik an der nivellierenden Macht des Geldes blieb gültig, trat aber gegenüber anderen Motiven deutlich zurück. Nicht, dass die politische Luxuskritik damit völlig verschwand. In der Deutung der Ursachen und Folgen der Revolution blieben dieselben semantischen Muster, die in ihrem Vorfeld zum Einsatz gekommen waren, auch post factum verwendbar. Dennoch ist unverkennbar, dass sie etwas von ihrer vorrevolutionären Aktualität eingebüßt hatten. Das geschichtliche Ereignis der Revolution veränderte den Verwendungskontext des Luxusbegriffs und hatte so einen erheblichen Einfluss auf seine Geschichte. Mindestens ebenso wichtig wie solche ereignisgeschichtlichen Gründe waren aber solche, die sich auf der semantischen Ebene befanden. Zuallererst war da die von Jennings und anderen festgestellte Tendenz, dass der Begriff zunehmend einem wirtschaftlichen Zusammenhang zugeordnet wurde. Nun ist es keineswegs so, dass Kernbegriffe aus dem ›wirtschaftlichen‹ Vokabular prinzipiell nicht für die Bezeichnung und Deutung der Gesamtkultur geeignet wären. Der Luxusbegriff selbst hatte im Laufe des 18. Jahrhunderts das beste Beispiel für die Möglichkeit dieses semantischen Generalisierungsschritts dargestellt. Voraussetzung dafür war aber gewesen, dass Luxus als Charakterisierung des Wirtschaftssystems im Ganzen – sei es als ›repräsentatives‹ oder als ›nivellierendes‹  – vertretbar war. Dies aber war gegen Ende des 18.  Jahrhunderts immer weniger der Fall. Als Melon und andere den Begriff Luxus als wirtschaftspolitischen Terminus verwendeten, bezeichnete er lediglich einen Teilbereich des Konsums. In diesem Zusammenhang war – spätestens seit der Jahrhundertmitte – die Leitkategorie nicht länger Luxus, sondern Kommerz.114 Dieser Begriff setzte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Grundkategorie kultureller Deutung immer mehr durch, bis er im 19. die Frage nach dem Luxus mehr und mehr vereinnahmte. Der Kommerzbegriff hatte, wenn es um Fragen wirtschaftlicher Entwicklung ging, den Vorrang. Seine wichtigsten Konnotationen – Geld, Marktwirtschaft, Güteraustausch, Interaktion – waren besser geeignet, den spezifischen Charakter der neuen wirtschaftlichen Entwicklungen zu beschreiben. Darüber hinaus – und das ist im Zusammenhang unserer Studie von besonderem Interesse  – war er hinsichtlich seiner konzeptuellen Grundlogik besser ausgestattet, die kulturgeschichtliche Dimension der Zeitkritik zur Sprache zu bringen. Die Verzeitlichung und Kulturalisierung der Gesellschaftskritik hatten also nicht nur einen erheblichen Einfluss auf das Verwendungsspektrum des Luxus­begriffs selbst. Sie bildeten auch einen entscheidenden Faktor im

114 Vgl. Pallach, Luxe, S. 111; Vogl, Luxus, S. 704; Mortelmans, Sign values, S. 501–502. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Wechsel von Luxus zu Kommerz als Kernbegriff der wirtschaftlich orientierten Kulturkritik. Wie schon mehrmals festgestellt werden konnte, hatten sich die zeitlichen Deutungsmodelle der kulturellen Reflexion im Vergleich zum Anfang des Jahrhunderts merklich verändert. Damals war  – wie am Beispiel Berkeleys nachgezeichnet wurde  – die geschichtliche Interpretation der Gegenwart vorwiegend nach einem binären Schema geordnet worden. Das Zeitalter wurde mit einer  – reellen oder eingebildeten  – Vorzeit kontrastiert, gewogen und für zu leicht befunden. Solche dualen Chronologien blieben weiterhin bestehen, waren aber zunehmend der Konkurrenz von Deutungsschemata ausgesetzt, die eine langfristige, genetische Perspektive entfalteten und weniger mit der Kontrast­ wirkung von vorher und nachher als mit einer graduellen Entwicklungslogik argumentierten. Für Georg Bollenbeck liegt im Übergang zwischen beiden Zeitlichkeits­ modellen die Geburtsstunde der Kulturkritik.115 Er verortet deren Beginn ›prototypisch‹ in Rousseaus zweitem Diskurs. Schon 1750, im ersten Diskurs, sei es dem Genfer »ums Ganze« gegangen. Anhand einer Reihe von traditionellen ­Topoi – darunter der Luxus – habe er den Sittenverfall seiner Zeit analysiert und sie mit der tugendhaften Einfalt einer quasi-mythischen Vorzeit kontrastiert.116 Dennoch sei diese Schrift Bollenbecks Ansicht nach noch »begründungs­ defizitär« gewesen. Die Phänomene wurden zwar im Lichte einer allgemeinen Korruption dargestellt, aber deren Entfaltung lag noch keine allgemeingültige Logik zugrunde. Die Schlüsselattitüde gegenüber dem Zeitalter blieb somit ohne historische Erklärung. Dieses Manko habe Rousseau 1755 behoben, als er in seiner Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Ungleichheit eine neuartige »historische Tiefendimension« eröffnet und anstatt der »Antithetik von guter Vergangenheit und schlechter Gegenwart« eine »anthropologisch fundierte geschichtstheoretische Verlaufsform« konstruiert habe.117 Was Bollenbeck als denkerische Leistung Rousseaus würdigt, erscheint aus der Perspektive der historischen Semantik als Registerwechsel im Rahmen eines grundsätzlichen semantischen Wandels. Der argumentative Schritt R ­ ousseaus erhielt seinen Sinn aus der diskursiven Landschaft, in der er sich bewegte. Auch diese hat ihre eigene Geschichte, die, wenngleich sie nicht ohne die einzelnen speech acts der Akteure besteht, diese in ihrer Konzeption und Wirkung bedingt. Das spricht nicht gegen die herausragende Wirkung einzelner Autoren, 115 Vgl. Bollenbeck, Geschichte der Kulturkritik, S. 38–76. 116 »On ne peut réfléchir sur les mœurs, qu’on ne se plaise à se rappeler l’image de la simplicité des premiers temps. C’est un beau rivage, paré des seules mains de la nature, vers lequel on tourne incessamment les yeux, et dont on se sent éloigner à regret.« Rousseau, Discours sur les Sciences & les Arts, S. 44. 117 Bollenbeck, Geschichte der Kulturkritik, S. 42, 46–48. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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ermöglicht aber eine kontextuelle Verortung, die über die Anerkennung ihrer genialen Originalität hinausgeht. Die Entwicklung des Luxusbegriffs gibt dafür ein signifikantes Beispiel. Wie im ersten Kapitel dargelegt, änderte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts das Denken über die eigene Kultur und deren Geschichte grundsätzlich. Im Bereich des Wirtschaftsvokabulars lässt sich dieser Prozess am prägnantesten anhand des Begriffs der Bedürfnisse nachzeichnen.118 In der frühneuzeitlichen Luxuskritik war es stets auf die normative Grenze zwischen Maß und Übermaß angekommen. Bei der Grenzziehung zwischen dem Bereich legitimer Bedürfnisse – im Deutschen sagte man zu dieser Zeit noch ›Notdurft‹ – und dem Luxus spielten zwei unterschiedlichen Kriterien eine Rolle. Einerseits war die Grenze, wie oben ausgeführt, sozial bestimmt. Bedürfnisse betrafen nicht das bio­ logische Existenzminimum, sondern beinhalteten alles, was zur Wahrung eines der gesellschaftlichen Stellung gebührenden Lebensstils benötigt wurde. Darüber hinaus waren seine Grenzen durch die Wirtschaftsform, in deren Rahmen sich die Bedürfnisse entfalteten, gesetzt. Das standesgemäße Auskommen betraf nur Güter, die von einem Haushalt zur eigenen Versorgung produziert wurden. Waren, die auf dem Markt erworben wurden, waren davon ausgeschlossen. Nicht nur in den Diskursen über den Konsum spielten solche Trennungen eine Rolle, sie gingen auch in die Rechtspraxis ein. Die necessitas domestica konnte gegen ungerechte Preise, unangemessene Frondienste und andere Ansprüche eingeklagt werden. Als frühneuzeitlicher Rechtsbegriff war ›Notdurft‹ darauf ausgerichtet, der oeconomia des Haushalts eine existenzielle Schutzzone jenseits der Marktwirtschaft zu bieten.119 Der Luxus bildete die Kehrseite des so bestimmten Bereichs der Bedürfnisse. Als Bezeichnung illegitimen Konsums war er auf die prinzipielle Trennbarkeit des Notwendigen oder Gebührenden vom bloß Angenehmen oder Überflüs­ sigen angewiesen. Vor dem Hintergrund der progressiv wachsenden Bedeutung der Markt- und Geldwirtschaft, des Wachstums der Städte – die für ihre Versorgung auf den Markt angewiesen waren –, der wandelnden Konsumpraktiken und der wachsenden sozialen Mobilität gerieten solche Grenzziehungen im Laufe des 18. Jahrhunderts aber zunehmend unter Druck. Im Lichte zeitgenössischer Konsumpraktiken wurde alsbald deutlich, dass eine Perücke, eine Kutsche oder eine Tasse Kakao für viele inzwischen durchaus zum ›Bedürfnis‹ geworden waren. Diese Erfahrung wurde in der Reflexion über den Luxus unter dem Titel ›neuer Bedürfnisse‹ verhandelt. Die teleologische Logik des Luxus­ begriffs ließ alles, was über das gesetzte Maß hinausging, in einem negativen Licht erscheinen. Neue Bedürfnisse seien dementsprechend als solche unnatür 118 Vgl. Kim-Wawrzinek und Müller, Bedürfnis; Szöllösi-Janze, Notdurft  – Bedürfnis; Schrage, Verfügbarkeit der Dinge, S. 93–100. 119 Vgl. Szöllösi-Janze, Notdurft – Bedürfnis, S. 153–161. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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lich, falsch und künstlich. Sie wurden als skandalös empfunden und fungierten als Anlass für immer neue Wellen der Luxuskritik.120 Im Hinblick auf die Konsumenten selbst wurden sie als Folge der um sich greifenden Sinnlichkeit und Frivolität gedeutet.121 Zudem wurden sie mit der Verbreitung des Handels – die, wie man schon bei Plato nachlesen konnte, immer neue Bedürfnisse hervorruft – in Verbindung gebracht.122 Aus der Perspektive der Luxusapologeten dagegen stellte die geschicht­liche Dynamik der Bedürfnisse eine semantische Achillesferse der Luxuskritik dar. Für sie war die Erweiterung der Bedürfnisse in der zeitgenössischen Gesellschaft kein soziales Verbrechen, sondern ein Hinweis auf ihre grundsätzliche Relativität. Diese wurde als ausschlaggebendes Argument gegen den Gebrauch des Luxusbegriffs als moralisches Kriterium gewendet.123 Das beliebte Para­ doxon, das Unnütze habe sich auf Kosten des Notwendigen ausgebreitet, stützte sich immer noch auf das Bild zweier Bereiche, die zumindest prinzipiell trennbar waren.124 Was aber, wenn im Laufe der Zivilisierungsgeschichte das Unnötige selbst zum Bedürfnis wurde? Wenn »le superflu«, wie es in einem immer wieder aufgegriffenen Wort Voltaires hieß, sich als »chose très nécessaire« herausstellte?125 Schon Mandeville hatte die Unbestimmtheit  – oder genauer: Unbestimmbarkeit  – des Luxusbegriffs gegen seine rhetorische Kraft ausgespielt. In seiner engsten Bedeutung könne Luxus, schrieb er, alles betreffen, »that is not 120 Am Anfang von »L’homme aux quarante écus« (1768) führte Voltaire erneut den Stereo­typ eines Greises auf, »qui toujours plaint le présent & vante le passé«. Diesmal verlieh diese Figur auch den Standardargumenten der Luxuskritik eine Stimme. Frankreich sei im Vergleich zum Zeitalter Heinrichs IV. erheblich verarmt. Ein wichtiger Grund dieser Entwicklung sei die Anhäufung unzähliger »besoins nouveaux«: »Il faut payer à nos voisins ­quatre millions d’un article, & cinq ou six d’un autre, pour mettre dans nôtre nez une poudre puante, venue de l’Amerique: le caffé, le thé, le chocolat, la cochenille, l’indigo, les épiceries, nous coutent plus de soixante millions par an.« Voltaire, L’homme aux quarante écus, S. 1–2. Siehe auch: [Saint-Cyr], Tableau du siècle, S. 50. 121 Smollett, Plan of the Present State, S. iii; Caraccioli, L’agriculture, S. iii; Béliard, Lettres critiques, S. 102; Sabatier de Castres, Les trois siècles, Bd. 4, S. 142; [Von Hendrich], Geist des Zeitalters, S. 57; Vauvenargues, Discours, S. 269. 122 »Je ne puis m’empêcher de penser à Platon qui pour assurer le bonheur d’une ré­ publique, vouloit qu’elle ne s’établît point sur les rivages de la mer, ou sur les bords d’une grande riviere. Cette position, dit-il, l’exposeroit aux dangers du commerce. Les Etrangers qui ne manqueroient pas d’y apporter leurs superfluités, l’accoutumeroient à des besoins nouveaux.« Mably, Observations, S. 147. 123 Vgl. Kwass, Ordering the World of Goods, S. 92–101. 124 [H. Oldfashion], City Politeness, S. 20; [Soret], Essai sur les mœurs, S. 158; Friedrich II., Sur la gloire, S. 82; Caraccioli, L’Europe Françoise, S. 124; Choderlos de Laclos, Les liaisons, Bd. 3, S. 81; Kellner, Das zweifüssige Menschthier, S. 224–225, 230. 125 Voltaire, Le Mondain, S.  123. Siehe auch: Butel-Dumont, Théorie du luxe, Bd.  1, [Motto]; De Bernis, La corruption, S. 165. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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immediately necessary to make Man subsist as he is  a living Creature«.126 In dem Fall aber sei letztendlich fast alles Luxus und verschwammen seine Grenzen alsbald ins Uferlose. Hatten nicht selbst die »naked Savages« im Laufe der Zeit ihre Lebensweise nach und nach verbessert?127 Was man konkret unter den notwendigen »Comforts of Life« verstand, konnte nach Mandeville nicht un­ abhängig von der kulturell bedingten Lebensform eines Volkes betrachtet werden. Wolle man Seinesgleichen nicht nachstehen, so habe man sich dem gesellschaftlich akzeptierten Konsumniveau anzupassen.128 Neben der sozialen, fügte er hinzu, war aber vor allem auch die zeitliche Relativität der Bedürfnisse zu beachten. If we trace the most flourishing Nations in their Origin, we shall find that in the remote Beginnings of every Society, the richest and most considerable Men among them were  a great while destitute of  a great Many Comforts of Life that are now enjoy’d by the meanest and most humble Wretches: So that many things which were once look’d upon as the Invention of Luxury, are now allow’d even to those that are so miserably poor as to become the Objects of publick Charity, nay counted so necessary, that we think no Human Creature ought to want them.129

Das Paradox dieser kulturgeschichtlichen Relativierung lag in ihrer temporalen Umkehrung: Wie war es möglich, dass Bedürfnisse, die der begrifflichen Logik nach der Konsumhandlung vorausgingen, sich erst im Prozess des Konsums selbst einstellten? Mehr als ein Jahrhundert später würde Hegel die selbstverstärkende Eigenlogik neuer Bedürfnisse in seinen »Grundlinien zur Philosophie des Rechts« (1821) philosophisch zu erfassen versuchen.130 Sein »System der Bedürfnisse« gab eine wirkungsreiche Antwort auf die im Kontext der Luxusdebatte diskutierte Streitfrage, wie sich Bedürfnisse in der gesellschaft­ lichen Interaktion zwischen Individuen allmählich steigerten. Bis dahin hatte die Frage nach den neuen Bedürfnissen die Semantik des Begriffs aber schon erheblich beeinflusst. In einem Prozess, der mit einigem Recht als ›Verzeitlichung‹ beschrieben werden kann, wurde die Funktion des Bedürfnisbegriffs als zeitloses Kriterium legitimen Konsums allmählich schwächer, während er zuneh 126 Mandeville, Fable of the Bees, S.  108–109. Vgl. Grugel-Pannier, Luxus, S.  198–205; Schrage, Verfügbarkeit der Dinge, S. 89–91. 127 Schon Shakespeares König Lear (1605) hatte (Akt II, Szene IV, V. 291–292) ausgerufen: »O, reason not the need: our basest beggars / Are in the poorest thing superfluous«. Siehe auch: Von Justi, Die Grundfeste, Bd. 2, S. 332; [Grimm], Paris, le 15 mars 1764, S. 425; ButelDumont, Théorie du luxe, Bd. 1, S. 50; Ferguson, Principles, Bd. 1, S. 243, 247–249; Ferrier, Du Gouvernement, S. 230. 128 Siehe auch: Brown, Estimate, S. 196; Lessing, Dialogen, S. 336; Robertson, History of America, Bd. 2, S. 51. 129 Mandeville, Fable of the Bees, S. 181–182. Siehe auch: Ferguson, An Essay, S. 366–369. 130 Hegel, Grundlinien, S.  194–196 (§ 189–192). Vgl. Schrage, Verfügbarkeit der Dinge, S. 100. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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mend als konstitutives Element einer fortschreitenden Zivilisationsgeschichte gedacht wurde.131 Sobald man sich aber auf den Gedanken einließ, dass das menschliche Bedürfnis keine feste Größe sei, die dem Konsum als Maßstab gesetzt werden könne, sondern sich mit der Zeit wandle, dann erübrigte sich auch der moralistische Gebrauch des Luxusbegriffs.132 Positiv gewendet wurde die Erweiterung der Bedürfnisse nunmehr als Ausbruch aus dem engen Kreis des »triste nécessaire« gedeutet.133 Seine Auflockerung habe dem modernen Menschen eine Menge Bequemlichkeiten gebracht. Umgekehrt wurde die Idealisierung der tugendhaften Frugalität alter Völker ins Lächerliche gezogen, indem ihre an­ gebliche Einfalt auf die reelle Knappheit ihrer Mittel zurückgeführt wurde. »Depend upon it, Sir, every state of society is as luxurious as it can be. Men always take the best they can get.«134 In diesem Zusammenhang wurde auch auf das Wechselverhältnis zwischen Begierden und Erkenntnis hingewiesen. Ebenso wie neue Erkenntnisse neue Bedürfnisse hervorriefen, konnten umgekehrt neue Bedürfnisse auch neue Erkenntnisse erzeugen. Das alte Thema des Wissensdurstes wurde aktualisiert, um die positive Rolle der maßlosen Bedürfnisse zu betonen. In diesem Sinne konnten sie als Grundlage des Fortschritts jener gesellschaftlichen Phänomene – der Künste, Wissenschaften, der höflichen Geselligkeit – gedeutet werden, welche die moderne Zivilisation auszeichneten.135 Kant, beispielsweise, verknüpfte die »Fortschritten des menschlichen Geschlechts, die Kultur der Talente, der Geschicklichkeit des Geschmacks« ausdrücklich mit der stetigen Vermehrung der Bedürfnisse. Nicht von ungefähr fügte er hinzu: »(mit ihrer Folge, 131 Im Deutschen ging diese Entwicklung auf Dauer mit einem Wortwechsel einher. Während ›Bedürfnis‹ in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch selten vorkam, wurde es zwischen 1740 und 1760 immer häufiger verwendet, bis es den Begriff Notdurft in den siebziger Jahren im allgemeinen Sprachgebrauch ersetzte. Vgl. Kim-Wawrzinek und Müller, Bedürfnis, S. 442. 132 Melon, Sur le commerce, S. 130–132; Hume, Refinement in the Arts, S. 25; [Grimm], Paris, le 15 mars 1764, S.  425–427; Sturz, Erinnerungen, S.  141; Rössig, Versuch über den ­Luxus, S. 135; A. Smith, Wealth of Nations, Bd. 3, S. 331–332; Say, Traité d’économie politique, Bd. 2, S. 250. 133 Saint-Lambert, L’hiver, S.  119; Butel-Dumont, Théorie du luxe, Bd.  2, S.  6–9; [Von ­Hendrich], Geist des Zeitalters, S. 72–73. 134 Samuel Johnson, zit. n. Boswell, Samuel Johnson, Bd. 3, S. 284. Siehe auch: Berkeley, A Discourse, S. 14; Genlis, Discours sur le luxe, S. 249–250. 135 Der Arzt Jean Marc Gaspard Itard (1774–1838) empfahl in seinem Rapport über die Erziehung des Wolfskinds von Aveyron die Erweiterung der Bedürfnisse als »grand ­moyen de développement de l’esprit humain«. Itard, De l’éducation d’un homme sauvage, S.  98. Siehe auch: Barbon, Discourse of Trade, S. 15; Flögel, Geschichte des menschlichen Verstandes, S. 231; Tetens, Philosophische Versuche, Bd. 2, S. 703–704; Hölderlin, Fragment von Hyperion, S. 181; [Von Hendrich], Geist des Zeitalters, S. 73; [v.K.], Geist der Völker [I], S. 24–25; Laboulinière, De l’influence, S. 21. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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der Ueppigkeit[)]«. Wie die Klammern signalisieren, spielte der Luxus in dieser Geschichte der zivilisierenden Bedürfniserweiterung aber nicht länger die Hauptrolle. Stattdessen war er zu einem Übergangsstadium in einer weiterführenden Geschichtsnarration heruntergestuft worden. Zwar würde, so warnte Kant, die Bedürfniserweiterung, da die Moralisierung ihren Fortschritten immer etwas »nachhinkt«, vorerst einen in sittlicher und physischer Hinsicht nicht ungefährlichen Zustand herbeiführen. Letztendlich aber, meinte er zuversichtlich, würde die Moral sie, »die in ihrem eilfertigen Lauf sich selbst verfängt und oft stolpert«, sicherlich überholen.136 Dieselbe Semantik trat nunmehr auch in Texten, die ein weniger optimistisches Bild des kulturellen Fortschritts malten, zutage. So hatte auch Rousseau das gegenseitige Bedingungsverhältnis von Erkenntnisgewinn und neuen Bedürfnissen thematisiert. In seinen Augen stellte sich dies aber als verhängnisvolle Verstrickung in einer selbstdynamischen Entwicklungslogik dar, in der neue Erkenntnisse, Vermögen, Triebe und Bedürfnisse sich gegenseitig bis zur Maßlosigkeit anstachelten. Die ›wahren‹ Bedürfnisse des homme originel seien demzufolge im Laufe seiner Zivilisierung immer weiter unter einer »multitude de nouveaux besoins« verschüttet worden, deren Sklave der moderne Mensch nun unumkehrbar geworden sei.137 Das Beispiel weist auf eine weitere Folge der Dynamisierung des Bedürfnisbegriffs hin. Im Laufe des Jahrhunderts wurden die definitorischen Trennungen, die von ihm ausgingen, immer öfter nicht mehr zwischen den elementaren Bedürfnissen und etwas Anderem (dem Überflüssigen, Luxuriösen, Sündigen), sondern innerhalb des Bedürfnisbegriffs selbst gezogen. Es wurde zwischen wahren und unwahren, natürlichen und künstlichen, vernünftigen und widersinnigen, reellen und eingebildeten, alten und neuen Bedürfnissen unterschieden.138 Für die Luxusapologetik hatten solche Unterscheidungen klare Vorteile. Die Kategorie des ›Überflüssigen‹ ins Positive umzudeuten, wäre in Anbetracht ihrer unzweideutig negativen Konnotation rhetorisch heikel gewesen. Wo aber die maßgebliche Differenz nur noch im Sinne zweier Teil­bereiche des Gesamtreviers der Bedürfnisse vorgenommen wurde, war die Möglichkeit einer positiven Würdigung der mit dem Fortschritt der Zivilisation neu entstandenen Begierden durchaus gegeben. Dass aber auch die Luxusfeinde 136 Kant, Das Ende aller Dinge, S. 503. 137 Rousseau, Dernière réponse, S.  127; ders., Discours sur l’inégalité, S.  lxvii, 36–37; ders., Lettres de deux amans, Bd.  5, S.  128–129. Vgl. Spaemann, Von der Polis zur Natur, S. 585. 138 Saint-Mard, Reflexions, S.  296; Diderot, Besoin, S.  213; ders., Supplément, S.  204– 205; Hume, Refinement in the Arts, S. 28; Rétif de la Bretonne, Le pornographe, S. 302–303; Von Sonnenfels, Grundsätze der Polizey, Bd. 2, S. 9–10; Flögel, Geschichte des menschlichen Verstandes, S. 219–220; Volkmann, Vergleichung, S. 272–273, 279; Rössig, Versuch über den ­Luxus, S. 133–134. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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sich zugunsten der Differenzierung der Bedürfnisse von der strengen, ungeschichtlichen Trennung zwischen Bedürfnissen und Überfluss verabschiedeten, kann weniger leicht auf solche rhetorisch-strategischen Überlegungen zurückgeführt werden. Dies zeugt vielmehr davon, wie sehr die zunehmende Dynamisierung des Bedürfnisbegriffs sich auch auf ihre sprachlichen Strategien auswirkte. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Entwicklungen der Zeit verlor die Vorstellung eines unwandelbaren Bereichs der Notdurft zunehmend an Plausi­ bilität. Der Bedürfnisbegriff wurde immer weiter qualifiziert, differenziert und dynamisiert, die Grenze zwischen ihm und dem Luxus immer diffuser. Auf Dauer stellte dies den Luxusbegriff selbst in Frage, mit zwei ihrer Wirkung nach gegensätzlichen Folgen für seine Verwendungsgeschichte. Einerseits öffnete  – wie am Beispiel der beiden ›sozial-politischen‹ Verwendungsweisen nachgezeichnet werden konnte – die Lösung des Begriffs von seiner binären Grundlogik einer Generalisierung den Weg. Da sich die begründete Einordnung konkreter gesellschaftlicher Phänomene als notwendig oder luxuriös, legitim oder illegitim immer schwieriger gestaltete, büßte er seine Verwendbarkeit als Kriterium zunehmend ein. An deren Stelle traten diffuse, schlagwortartige Verwendungen als Bezeichnung einer generellen Kulturtendenz sowie pauschale Charakterisierungen der Kultur im Ganzen. Auf Dauer erwiesen sich solche Verwendungsweisen aber als nur beschränkt tragfähig. Der Gebrauch des Luxusbegriffs als Beschreibung der Kultur im Ganzen würde nach dem Jahrhundertwechsel so gut wie verschwinden. An ihre Stelle trat der Begriff des Kommerzes. Dieser würde im kulturkritischen Diskurs in wirtschaftlichen Kommunikationszusammenhängen von nun an die Hauptrolle spielen. Um einen solchen Vokabularwechsel zu erklären, reicht der pauschale Hinweis auf wirtschaftliche und soziale Prozesse allein nicht aus. Es muss auch die unterschiedliche Semantik der beiden Begriffe berücksichtigt werden. Zwei Aspekte spielten in dieser Geschichte eine ausschlaggebende Rolle. Wie erwähnt war der Kommerzbegriff in wirtschaftlichen Kommunikationszusammenhängen allmählich zum allgemeineren Begriff geworden, der den Luxusbegriff unter sich subsumierte. Dementsprechend bezog sich auch die generalisierende Anwendung des Wirtschaftsvokabulars auf die Gesamtkultur zunehmend auf ihren kommerziellen, statt auf ihren luxuriösen Charakter. Zweitens unterschied sich der Kommerz- vom Luxusbegriff in der Art und Weise, wie er die neuen Formen kulturgeschichtlicher Reflexion zu artikulieren vermochte. Obwohl kulturgeschichtliche, entwicklungslogische Verwendungen des Luxusbegriffs prinzipiell möglich waren, war er für solche Verwendungsweisen wegen seiner etablierten binären Grundlogik letztendlich nicht sehr geeignet. Wie diese Umstellung zum kulturgeschichtlichen Gebrauch im Kommerzbegriff vollzogen wurde, ist Thema des nächsten Abschnitts. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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3. Kommerzialisierung Die Debatte um die noblesse commerçante Vor dem Hintergrund der weitreichenden wirtschaftlichen Entwicklungen der Zeit nahm im Laufe des 18.  Jahrhunderts die Bedeutung wirtschaftlicher Aspekte in der Deutung der Gesamtkultur weiter zu. Speziell der Kommerzbegriff schlug zwischen dem Bereich der Wirtschaftsanalyse und dem der holistischen Deutung des Kulturganzen eine Brücke. Neben seiner Bedeutung im Sinne des Austausches von Geld und Gütern wurde er zunehmend als generelle Bezeichnung des ›Geistes‹ der Kultur benutzt. Stärker noch als beim Luxusbegriff ging damit die Verbreitung eines historischen Deutungsmusters einher, das Kommerz als kulturelles Prinzip am Ende einer Entwicklung (der Kommerzialisierung) situierte. Als Einstieg in diese Thematik eignet sich die Kontroverse, die durch die Streitschrift »La noblesse commerçante« (1756) des Abbé Gabriel-François ­Coyer (1707–1782) ausgelöst wurde.139 Sie stellt eine entscheidende Etappe in den langfristigen Debatten über die soziale und politische Ordnung des A ­ ncien Régime dar, in denen Klagen über den sozialen Orientierungsverlust und moralischen Verfall eine wichtige Rolle spielten. Darüber hinaus gibt sie einen weiteren Hinweis auf das Verhältnis zwischen konkreten politisch-rechtlichen Fragen und gesamtkulturellen Deutungsmustern. Einerseits bildeten Interpretationen des Zustands und der Entwicklung der Kultur ein rhetorisches Instrument, das zu politischen Zwecken eingesetzt werden konnte. Umgekehrt aber etablierten solche Debatten auch einen Sprachschatz der Kulturreflexion, der das kulturgeschichtliche Selbstverständnis späterer Generationen nachhaltig beeinflusste. Coyer war ein einstiger Jesuit, der sich in den vierziger Jahren mit Satiren einen Namen gemacht hatte. In den Fünfzigern kam er in Kontakt mit dem Physio­k raten und Handelsintendanten Vincent de Gournay (1712–1759), der sein Interesse auf Fragen der politischen Ökonomie lenkte. In dem genannten Pamphlet griff Coyer eine Problematik auf, die schon seit dem 17. Jahrhundert diskutiert worden war.140 Konkreter Streitpunkt war die Frage, ob die Beschränkungen, die für Personen adeliger Geburt im Hinblick auf ihre Erwerbs 139 Vgl. J. M. Smith, Social Categories; ders., Nobility Reimagined, S. 104–131; Greenfeld, Spirit of Capitalism, S.  132–139; H. C. Clark, Compass of Society, S.  135–143; Sonenscher, Sans-Culottes, S. 288–291. 140 Direkter Anlass war ein 1720 verfasster, aber erst in Dezember 1754 postum im »­Mercure de France« veröffentlichter Aufsatz des Marquis de Lassay (1652–1738), in dem er die martialischen Tugenden des Adels betont hatte. De Lassay, Réflexions. Vgl. J. M. Smith, Nobility Reimagined, S. 107; Gerhardi, Geld und Gesellschaft, S. 287–296. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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tätigkeit galten, erhalten oder aufgehoben werden sollten. Laut der sogenannten dérogeance-Gesetze war ihnen bis dahin nur der überseeische und Großhandel gestattet, nicht aber der Einzelhandel. In Anbetracht der Tatsache aber, dass ein erheblicher Teil des Adelsstandes ein verarmtes Dasein in den Provinzen führte, trug eine solche Beschränkung – so argumentierten Coyer und seine Verbündeten – nur weiter zu ihren finanziellen Schwierigkeiten bei.141 Solche finanziellpragmatischen Argumente dürften heutzutage einleuchten, damals hatten sie mit einer langen semantisch-kulturellen Tradition zu kämpfen, welche die personae des Adeligen und des Händlers als Gegensätze begriff. Ihre Verbindung in einer Person war in vieler Augen möglich, aber unpassend. Die Figur des Händlers hatte in der sozialen Vorstellungswelt der Früh­ moderne grundsätzlich mit zwei Problemen zu kämpfen. Erstens hatte er – bei allem Nutzen für Staat und Gesellschaft, der ihm immer wieder eingeräumt wurde – keine eigentliche dignité in der bestehenden gesellschaftlichen Taxonomie. Zumindest in der Theorie konnte ihm all sein Geld diese nicht erkaufen. Sein Platz im sozialen Ordnungssystem blieb somit schattenhaft. Umgekehrt folgte daraus auch, dass sich das kaufmännische Geschäft für Personen, denen wegen ihrer Abstammung Ehre zukam, nicht geziemte. Mit seiner Lobeshymne auf den Handel und seine Vorteile für die Wohlfahrt der patrie richtete sich der Abbé gegen genau solche ›Vorurteile‹. Dabei setzte er sich wiederholt explizit mit den traditionellen Hauptargumenten der Kommerzgegner auseinander, dass Handel keine ehrenvolle Beschäftigung sei und den Kriegerstand verweichlichen und folglich für ihre militärischen Aufgaben ungeeignet machen würde. Solchen ›überholten‹ Ansichten stellte er einen fortschrittlichen, kommerziellen Patriotismus entgegen, der sich wesentlich auf utilitaristische Argumente stützte. Der Adel würde, meinte er, durch den Einstieg in die Geschäftswelt nichts von seiner Würde verlieren. Im Gegenteil, er würde sich von einer nutzlosen, arbeitsscheuen Klasse zu einer classe active verwandeln und so zu einer positiven Kraft für das Gemeinwohl werden.142 Solche Argumente waren nicht unbedingt neu. Schon aus dem Colbertismus, aber vor allem aus England und den Niederlanden143 waren Argumente für den gesellschaftlichen Nutzen des Handels längst bekannt.144 Charles-François-­ Nicolas Le Maître de Claville (1670–1748), ein populärer Autor von Erziehungs-

141 Coyer, Noblesse commerçante, S. 10. 142 Ebd., S. 9, 41. 143 Große Wirkung hatten die Schriften von Pieter de la Court und Josiah Child. 144 In Edward Youngs (1683–1765) Ode »The Merchant« wurde die Frage »Is ›merchant‹ and inglorious name?« dezidiert verneint und die Vorteile des Handels für den Reichtum des Gemeinwesens, aber auch für die Entwicklung der Künste, der Bildung und gar der Tugend ausführlich besungen. E. Young, The Merchant, S. 186. Weitere Belege in: Plaisant, La muse et l’éloge du commerce. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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literatur, hatte in seinem »Traité du vrai mérite« (1737) darauf hingewiesen, dass sich in England auch die »familles les plus distingués« am Handel beteiligten. Je ne sai pas pourquoi le commerce est moins en honneur parmi nous? Trouve-t’on moins de probité, moins de sincerité, moins de franchise, & moins d’esprit chez un bon Marchand que chez la plûpart des gens de qualité?145

Trotzdem löste das Pamphlet Coyers ein gewaltiges Für und Wider aus, das auch über Frankreich hinaus mit größter Aufmerksamkeit verfolgt wurde.146 Dass der Text einen solchen Wirbel verursachte, hatte unterschiedliche Gründe. Der Ausbruch des Siebenjährigen Kriegs hatte der Frage nach der militä­rischen Rolle des Adels erneute Dringlichkeit verliehen. Gleichzeitig rückte der Machtstreit zwischen dem Hof und den Parlamenten über die Rechte der ›Nation‹ und die ›despotischen‹ Tendenzen Ludwigs XV. seine politische Funktion ins Rampen­licht. Drittens stellte die fortschreitende systematische Vermarktung von Ämtern, die eine Aufnahme in den Adel mit sich brachten, die Legitimität der Titel in Frage. Außerdem wurde die Tatsache, dass die Schrift sich explizit auf Frankreich bezog, ein Land, das sich laut montesquieuscher Logik aufgrund seiner monarchischen Staatsform nur sehr bedingt des Kommerzes bedienen sollte, als skandalös erfahren.147 Darauf wird weiter unten noch einzugehen sein. Entscheidend war letztendlich, dass der Abbé die Fragestellung auf eine neue Ebene hob. Die dérogeance-Gesetze, die dem Adel die meisten Arten des Handels verboten, hatten sich seit dem 17. Jahrhundert kaum geändert. Sie waren immer wieder Thema politischer Auseinandersetzungen gewesen, ohne dass diese je eine solch breite Öffentlichkeit erreicht hätten. Dass dies jetzt der Fall war, war der Tatsache geschuldet, dass Coyer das Thema nicht länger nur als ­politisch-rechtlichen Streitpunkt, sondern als Frage nach den Grundsätzen der sozialen Ontologie zur Diskussion stellte. In der bestehenden Gesellschafts­ ordnung des Ancien Régime, so Coyer, galt der Kaufmann, so lange er seinen 145 Le Maître de Claville, Traité du vrai mérite, Bd. 2, S. 118. Und: »Je crois que le commerce & la guerre concourent également à la gloire d’un Etat, & qu’il est aussi convenable aux interêts d’un grand Roi d’enrichier ses sujets que de reculer ses frontieres.« Siehe: Pluche, Le commerce, S. 444–445; Coyer, Noblesse commerçante, S. 143. Vgl. H. C. Clark, Compass of Society, S. 100. 146 In Frankreich erschienen mindestens dreißig individuelle Beiträge. Noch im selben Jahr kam eine deutsche Übersetzung der Texte von Coyer und d’Arc, einschließlich einer Einleitung aus der Feder des Staatsökonomen Johann Heinrich Gottlob von Justi (1717–1771), heraus. In England tauchte die Debatte unter anderem in John Browns »Estimate« und in Boswells Leben von Samuel Johnson (1709–1784) auf. Von Justi, Der handelnde Adel; Brown, Estimate, S. 207–208; Boswell, Samuel Johnson, Bd. 1, S. 438–439; Bd. 2, S. 116. Zur weiteren Rezeption in Frankreich, Deutschland, der Schweiz und Spanien, vgl. Adam, Nobility and Modern Monarchy, S. 142–143. Zur russischen Rezeption, vgl. Offord, Denis Fonvizin. 147 J. M. Smith, Nobility Reimagined, S. 109, 129–131. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Beruf ausübte, nichts. Wollte er »parvenir à ce qu’on appelle en France être ­quelque chose«, so sähe er sich gezwungen, seinen Beruf aufzugeben. Genau das war seiner Meinung nach das Grundproblem der französischen Gesellschaft: »Ce mot mal entendu fait de grands ravages. Pour être quelque chose, une grande partie de la Noblesse reste dans le rien.«148 Das Wortspiel wies auf die prinzi­pielle Frage hin, was es hieß, ›etwas‹ zu sein. Der Autor unterschied zwei mögliche Antworten, die er nicht nur als eine aristokratische und eine kommerzielle, sondern vor allem als eine veraltete und eine moderne Alternative darstellte. Damit war die Streitfrage um eine geschichtliche Dimension bereichert. Die Idee eines Handel treibenden Adels sei, räumte Coyer ein, in den »tems barbares du gouvernement féodal«, vollkommen absurd gewesen.149 Aber die Zeiten, in denen das Schwert entschied, seien vorbei. Seine Herrschaft sei von der des Geldes abgelöst worden. ›Kommerz‹ sei in der modernen Welt also nicht länger bloß ein Teilbereich der Kultur. Er sei zu ihrem wesentlichen Charakteristikum ausgewachsen. Coyer nannte das Geld den »tiran du monde«. Sogar über seinen traditionellen Kontrastbereich, die Kriegsführung, habe es mit der Erfindung des Schießpulvers und der Feuerwaffen seine Herrschaft ausgebreitet.150 Kommerz sei nicht nur »nerf de l’Etat«, sondern im aktuellen politischen System Europas auch »l’ame des interêts politiques & de l’équilibre des Puissances.«151 So konstruierte Coyer eine Geschichtsnarration, die am Adel in seiner traditionellen Gestalt längst vorbeigeschritten war. Der Schritt von der alten zur neuen Welt, zu dem Coyer den Adel und seine Leser aufforderte, fand auf dem Titelblatt auch seine bildliche Darstellung. Wie Friedrich Melchior Grimm (1723–1807) in seiner Rezension feststellte, nahm das Titelbild den ganzen Inhalt der Abhandlung vorweg: »Le frontispice de cet ouvrage vous mettra tout d’un coup au fait du système de l’auteur.«152 In der Erklärung zum Bilde hieß es: On y voit un gentilhomme qui, las de vivre dans l’inutilité, montre ses marques de noblesse, un écusson, un timbre, un casque d’armoiries et un parchemin qui renferme ses titres, présens de la nature, dont il n’a tiré aucun fruit. Il s’en détache, et va s’embarquer pour servir la patrie, en s’enrichissant par le commerce.153

Aus der Fülle von Erwiderungen blieb die noch im selben Jahr erschienene Antwortschrift »La noblesse militaire« des Chevalier Philippe-Auguste de Sainte 148 Coyer, Noblesse commerçante, S. 144. 149 Ebd., S. 11. Siehe auch: Ebd., S. 42. 150 Ebd., S. 107. 151 Ebd., S. 112. 152 [Grimm], Paris, 15 février 1756, S. 426. 153 Unter dem Bild war ein Satz aus Boileaus fünfter Satire zitiert: »Que sert ce vain amas d’une inutile gloire?« Coyer, Noblesse commerçante, S. 5. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Foix d’Arc (1721–1795) die wirkungsreichste.154 Wie schon bei Coyer war auch hier der Titel Programm. Der Adel sei als Kriegerstand für das Wohler­gehen der patrie unersetzbar.155 Obwohl d’Arc an sich am Handel nichts auszusetzen hatte, würde die Beteiligung des Adels an ihm unweigerlich zu Luxus und Verweichlichung führen und so die Sicherheit der Gemeinschaft gefährden.156 Die »inégalité harmonique des rangs«, das Grundprinzip der monarchischen Staatsform, wurde somit als funktionale Differenzierung der Gesellschaft legitimiert.157 Wie Jay M. Smith  – entgegen einer häufig vertretenen Interpretation158  – betont hat, kann diese Debatte nicht anhand des einfachen Gegensatzes zwischen Aufklärung und Konservatismus, Bürger und Adel, Fortschrittsdrang und ­Nostalgie, Zukunft und Vergangenheit interpretiert werden.159 Die Auseinandersetzung so zu lesen, hieße ihrer Rhetorik anheimzufallen. Selbst wenn die vorgeschlagenen Lösungen sehr unterschiedlich ausfielen, konzipierten die beiden Kontrahenten das Problem, vor das sie sich gestellt sahen, in prinzipiell ähnlichen Kategorien. Auch d’Arc war von der Notwendigkeit einer Reform des Adels überzeugt. Auch er sprach mit Abscheu von einer in Luxus schwelgenden, untätigen Klasse. Auch er goss seine Argumente in ein Vokabular, das letztendlich mehr auf Produktivität und Patriotismus160 denn auf Geburt und 154 [D’Arc], La noblesse militaire. Im nächsten Jahr veröffentlichte Coyer eine zwei­bändige Antwortschrift, in der er seine Argumente in verschärfter Form wiederholte. Von seinen Gegnern herausgefordert, ließ er sich diesmal zu der durchaus revolutionären Äußerung verführen, die Gesellschaft in zwei Gruppen zu gliedern: »L’une active qui produit sans cesse: tels sont les laboureurs, les ouvriers, les artisans, les matelots & les commerçants. L’autre classe comprend le clergé seculier & regulier, les gens de guerre, de justice, de finances, les rentiers, les laquais, les mendians, les fainéans & grands seigneurs. Cette seconde classe […] fait uniquement pour user, ne produit aucune richesse.« Coyer, Développement, Bd. 1, S. ­37–38. Vgl. Maza, Luxury, morality, S. 204–206; J. M. Smith, Social Categories, S. 348; ders., Nobility Reimagined, S. 112. 155 Als Samuel Johnson 1770 gefragt wurde, was aus der »gallantry and military spirit« des alten englischen Adels geworden sei, antwortete er: »Why, my Lord, I’ll tell you what is become of it: it is gone to the city to look for a fortune.« Boswell, Samuel Johnson, Bd. 2, S. 116. 156 Siehe auch: De Bernis, La corruption, S.165. Helvétius nannte die Frage, ob und wie der esprit de commerce mit dem esprit militaire zu vereinbaren sei, eines der großen ungelösten Probleme der Moralphilosophie. Helvétius, De l’Esprit, Bd. 3, S. 105. 157 [D’Arc], La noblesse militaire, S. 40. 158 Er nannte als Beispiel: Serna, Le noble; J. M. Smith, Nobility Reimagined, S. 110. Weitere Beispiele in: H. C. Clark, Compass of Society, S. 150. 159 Vgl. J. M. Smith, Nobility Reimagined, S. 110–111. 160 Speziell der Anspruch auf Patriotismus verband die beiden Seiten. Coyer hatte 1755 einen Aufsatz mit dem Titel »Dissertation sur le vieux mot patrie« veröffentlicht. Darauf erwiderte d’Arc: »Aussi bon citoyen que lui, je connois com-lui le mot Patrie, & je vais attaquer ses principes avec tout le zèle d’un Patriote & la naïveté d’un Militaire qui dit ce qu’il pense, & qui le dit sans art«. Coyer, Dissertation; [d’Arc], La noblesse militaire, S. 5–6. Vgl. J. M. Smith, Nobility Reimagined, S. 122. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Ehre ausgerichtet war: »Le citoyen oisif, par conséquent inutile, est criminel envers sa patrie, & lui dérobe tout ce qu’il consomme. Le Gentilhomme est ­citoyen avant d’être Noble«.161 Auf solche Sätze hätten sich Coyer und d’Arc einigen können. Einerseits spielten auch für Coyer Begriffe wie honneur und gloire eine – wenn auch anders definierte – Rolle. Andererseits wollte auch d’Arc die strenge Kopplung des Adelstitels an den Stammbaum auflockern. Bürgerlichen, die sich im militä­ rischen Einsatz als verdienstvoll erwiesen hatten, sollte der Zugang zum Adelsstand nicht verweigert werden. Coyer wie d’Arc verabscheuten den Luxus des Hofadels und wollten ihn auf seinen Nutzen für die patrie festlegen. Aber die semantischen Gemeinsamkeiten sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die heftige Polemik der Debatte auf einer durchaus ernsten Streitfrage gründete. Die Parameter dieses »struggle for classification«, wie Smith sie nennt, waren durch die Kategorien des »De l’esprit des loix« vorgegeben.162 Dass beide Seiten der Auseinandersetzung sich gleichermaßen auf dieses Werk stützten, war ein Kennzeichen seiner unangefochtenen Autorität in Fragen politischer Syste­ matik. Dass sich dennoch, trotz dieser gemeinsamen Ausgangsbasis, eine dermaßen heftige und langfristige Kontroverse entfaltete, rührte aus einer Ambivalenz her, die das montesquieusche Werk im Inneren durchzog. Wie es die Logik des Buchs erforderte, hatte Montesquieu den Kommerz in »De l’esprit des loix« zunächst synchron nach den unterschiedlichen poli­ tischen Systemen differenziert.163 Während die Monarchie aufgrund ihrer Vorliebe für »grands objets« dazu neige, sich auf den Luxushandel zu konzentrieren, widme die »gouvernement de plusieurs« sich ihrem Wesen nach eher dem klein­karierten »commerce d’économie«, der auf kleine, aber stetige Gewinne ausgerichtet sei. Der Prototyp der letzteren Kategorie und die kommerzielle Nation par excellence sei England: im Namen eine Monarchie, im Geiste eine Republik.164 Selbst wenn die Darstellung der auf den Handel versessenen Briten in »De l’esprit des loix« fast durchgehend positiv war, sollte daraus, so betonte Montesquieu immer wieder, nicht gefolgert werden, dass ihrem Beispiel von Frankreich ohne Weiteres zu folgen sei.165 Besonders deutlich kam diese Differenzierung zum Ausdruck, wo sich der Autor mit der Frage der noblesse commerçante auseinandersetzte. Für den englischen Adel gab es, bemerkte er, im Bereich des 161 [D’Arc], La noblesse militaire, S. 188. Siehe auch: Ebd., S. 149. 162 J. M. Smith, Nobility Reimagined, S. 111; H. C. Clark, Compass of Society, S. 136. 163 Montesquieu, Esprit des Loix, Bd. 3, S. 5–8. Siehe auch: Dunbar, Essays, S. 284. 164 Montesquieu, Esprit des Loix, Bd. 3, S. 10: »D’autres nations ont fait ceder des interêtt [sic] du commerce à des interêts politiques: celle-ci a toujours fait céder ses interêts politiques aux interêts de son commerce.« Für eine ähnliche Gliederung unterschiedlicher Herrschaftstypen (commerçantes, agricoles, conquérantes), siehe: Soulavie, Des mœurs, S. 11. 165 Vgl. Baker, Public Opinion, S. 173–178. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Handels keine Beschränkungen. Daraus aber zu folgern, dass sie auch in Frankreich aufgehoben werden sollten, wäre falsch.166 Dies würde dem Grundsatz widersprechen, dass sich die Gesetzgebung dem Geist des politischen Systems anpassen sollte. England sei eine kommerzielle Republik im leicht durchschau­ baren Gewand einer Monarchie. Gerade die Tatsache, dass auch der Adel Handel trieb, habe dazu beigetragen, die monarchische Staatsform auf der Insel zu schwächen. Im Falle der französischen Monarchie würde eine solche Politik also ihre Grundordnung gefährden, denn: »Il est contre l’esprit de la monarchie que la noblesse y fasse le commerce.« Und umgekehrt: »Il est contre l’esprit du commerce que la noblesse le fasse dans la monarchie.«167 Im Rahmen seiner Fragestellung nach dem Geist der Gesetze in unter­ schiedlichen Regierungsformen gliederte Montesquieu Handel und Luxus nach den Prinzipien der Tugend und Ehre, der Gleichheit und der Hierarchie. Ebenso wie zwischen Luxushandel und commerce d’économie zu unterscheiden sei, sei auch der Luxus selbst in seiner Wirkung nicht uniform. Während er in Re­ publiken eine grundlegende Gefahr für die Gesamtordnung der Gesellschaft darstelle, sei er in einer Monarchie wegen ihrer konstitutiven Einkommens­ ungleichheiten gerade notwendig: »Si les riches n’y dépensent pas beaucoup, les pauvres mourront de faim.«168 Darüber hinaus sei der Luxuskonsum Englands von einer anderen Art als der in Frankreich. Er sei »un luxe solide, fondé, non pas sur le rafinement de la vanité, mais sur celui des besoins réels«.169 In der Vielfalt solcher Unterscheidungen verwendete Montesquieu den Geistbegriff zunächst synchron, um verschiedene gesellschaftliche Bereiche von­ einander zu trennen. An anderer Stelle jedoch klang eine alternative Bedeutungsdimension an, die sich mit der allgemeinen Architektur des Werks nur schwer in Einklang bringen ließ, aber nichtsdestotrotz immer wieder hervortrat.170 Grundprinzip dieser alternativen Logik war weniger die synchrone Gegenüberstellung unterschiedlicher Herrschaftstypen als vielmehr die diachrone Entwicklung eines generellen Geistes der gesamteuropäischen Kultur. Nach dieser Logik war der esprit de commerce also nicht länger das Kennzeichen des republikanischen Herrschaftssystems oder eines bestimmten gesellschaftlichen Sektors, sondern der Geist der Moderne überhaupt. In seinem privaten Notizbuch hatte Montesquieu in diesem Sinne geschrieben: Chaque siècle  a son génie particulier: un esprit de désordre et d’indépendance se forma en Europe avec le gouvernement gothique; l’esprit monacal infecta les temps des 166 Montesquieu, Esprit des Loix, Bd. 1, S. 139–146. 167 Ebd., Bd. 3, S. 23–26. 168 Ebd., Bd. 1, S. 200. Siehe auch: Ebd., Bd. 1, S. 197–198, 200–203. 169 Ebd., Bd. 2, S. 356. 170 Beispielsweise da, wo Montesquieu die Kirchenpolitik Ludwigs des Frommen (788– 840) auf den »esprit général de son temps« zurückführte. Ebd., Bd. 4, S. 321. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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successeurs de Charlemagne; ensuite régna celui de la chevalerie; celui de conquête parut avec les troupes réglées; et c’est l’esprit de commerce qui domine aujourd’hui.171

Der entscheidende Gegensatz in diesem Deutungsmodell  – das im Ausdruck g­ énie du siècle auf den Begriff gebracht wurde – lag nicht mehr zwischen der französischen Monarchie und der englischen ›Republik‹, sondern zwischen dem modernen Europa und dem Imperium Romanum. Selbst wenn auch damals Handel getrieben wurde, so sei dieser doch stets dem »esprit de conquête« des Zeitalters untergeordnet gewesen. Seitdem aber habe sich das geistige Ansehen Europas geändert. Die Entwicklung der Technologie moderner Kriegsführung, die Steigerung des Lebensstandards, die Angleichung nationaler Wohlfahrts­ niveaus und die (wesentlich aus dem Handel entstehende)  Intensivierung des Informationsaustausches hätten dazu geführt, dass Europa nunmehr ein eng verknüpftes System sei, in dem die Nationalstaaten und ihre Eigenart zugunsten einer höheren – kommerziell geprägten – Einheit in den Hintergrund träten.172 Die widersprüchlichen Verwendungslogiken des montesquieuschen Geistes­ vokabulars sind in der Forschung kontrovers diskutiert worden. Stellten die Hinweise auf das geschichtliche Entwicklungsschema in »De l’esprit des loix« und im Notizbuch eine unwesentliche und vorübergehende Abweichung von der Systematik seines Denkens dar?173 Oder enthielten solche Äußerungen umgekehrt – wie es Henry C. Clark vor kurzem behauptet hat174 – seine eigentliche Meinung und ist die ganze Struktur des Werks nichts weiter als eine Ablenkung der Zensoren? Benutzte Montesquieu die rhetorische Strategie eines doppelten Vergleichs, um mit der Betonung der Vorteile der Monarchie dem Despotismus gegenüber von der Tatsache abzulenken, dass sie im Vergleich zu der englischen ›Republik‹ nicht so gut abschnitt? In der Tat enthielt die Logik des geschicht­ lichen Deutungsmusters eine politisch kontroverse und somit nicht ungefähr 171 Montesquieu, Cahiers, S.  50–51. Die Notiz bezog sich allem Anschein nach auf ein Wort Saint-Évremonds: »tous les Tems ont un Caractére qui leur est propre, ils ont leur ­Politique, leur Interêt, leurs Affaires: ils ont leur Morale, en quelque façon, ayant leurs Défauts & leurs Vertus.« Saint-Evremond, Lettre à Madame la duchesse Mazarin, S. 112. Die abgeleitete Kritik an den modernen Politikern, die nicht, wie ihre Vorfahren, auf die Tugend orientiert seien, sondern »ne nous parlent que de Manufactures, de Commerce, de Finances, de Richesses & de luxe meme« wurde später von Rousseau und Burke aufgegriffen. M ­ ontesquieu, Esprit des Loix, Bd. 1, S. 42; Rousseau, Discours sur les Sciences & les Arts, S. 38; E. Burke, Reflections, S. 117. 172 Montesquieu, Esprit des Loix, Bd.  3, S.  83–89. Vgl. H. C. Clark, Compass of Society, S. 90–92. 173 So beispielsweise Joachim Moras, auch wenn er dabei einräumt, dass Montesquieus »Gedanke des ›esprit général‹ nicht überall dem logischen Zwang seiner Ableitung unterliegt und dass es Stellen gibt, an denen er, allerdings in begrifflicher Verschwommenheit, Aus­ blicke in Weiten tun lässt, die erst Spätere begangen haben.« Moras, Zivilisation, S. 17. 174 Vgl. H. C. Clark, Compass of Society, S. 123–125. Siehe auch die Quellensammlung: ders., Commerce, Culture and Liberty. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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liche Botschaft. Wenn Europa im Geiste tatsächlich eine föderale Republik des Kommerzes war, dann folgte daraus, dass eine zentralistische Monarchie wie die französische nicht der Motor der Modernität, für den ihn viele hielten, sondern im Gegenteil ein Anachronismus war. Dann war sie Repräsentant eines überholten Geistes, ein Überrest, der nur noch darauf wartete, dass die Geschichte ihn beseitigte. Es gab gute Gründe, eine solche Kritik unter einer scheinbar unparteiischen Systematik zu verdecken. Andererseits ist eine Lektüre Montesquieus, bei der der Interpret gezwungen ist, einen Großteil dessen expliziter Aussagen außer Acht zu lassen, nicht unproblematisch.175 Wichtiger aber als die  – schließlich biographische – Frage nach den Ansichten Montesquieus ist die nach der Wirkungsgeschichte seiner Schriften. Die zeitgenössische Resonanz der Terminologie von »De l’esprit des loix« – vor allem des Begriffs esprit selber – kann kaum überschätzt werden. Sie war aber keineswegs einheitlich, so dass sich Coyer und d’Arc beide mit Fug und Recht auf den Meister berufen konnten. D’Arc nutzte die republikanischen Konnotationen des Kommerzbegriffs, um ihn als Gefahr für die monarchische Ordnung darzustellen. Das monarchische Prinzip der hierarchisch geordneten Ungleichheit war sein Hauptargument gegen die noblesse commerçante. Dabei konnte er dankbar auf die von ­Montesquieu vorgebrachten Argumente zurückgreifen: Jeder gesellschaft­lichen Klasse lag ein unterschiedliches Wertesystem zugrunde, nach dem sie sich konstituierte. Ehre (honneur), Ansehen (considération) und Ruhm (gloire)  als Grundwerte des militärischen Standes passten demnach prinzipiell nicht mit Werten wie Interesse (intérêt) und Eigennutz (amour propre) zusammen, welche den Bereich des Kommerzes konstituierten. D’Arc beschrieb die beiden Wertetafeln als alternative, parallel ablaufende Ökonomien: »L’honneur se paye par l’honneur; […] L’intérêt se paye par l’intérêt«.176 Die Mischung beider Bereiche würde die hierarchisch geordnete funktionale Differenzierung der Gesellschaft 175 Clark sieht sich gezwungen, einige Äußerungen Montesquieus explizit aus seiner Interpretation auszuschließen. Wo es um die erwähnte These geht, die Tatsache, dass es dem englischen Adel erlaubt war, Handel zu treiben, habe die Monarchie ebendort erheblich geschwächt, schreibt er: »It is simply not possible, given all that we know from elsewhere, to take this apparent preference of France seriously.« H. C. Clark, Compass of Society, S. 128. Genau diese »Hermeneutik des Verdachts« (Gadamer) wirft Jay Smith auch Serna vor, wenn dieser die Äußerungen des chevalier d’Arc als »disingenuously appropriating new language to ›mask‹ traditional claims« interpretiert. J. M. Smith, Nobility Reimagined, S. 110. 176 [D’Arc], La noblesse militaire, S. 141, 60–61, 105. Der schillernde Charakter des Textes rührte nicht zuletzt daher, dass die Trennung des militärischen vom wirtschaftlichen Bereich selbst erneut in einem wirtschaftlich geprägten Vokabular vorgenommen wurde. Übrigens nutzte Johnson 1773 ein sehr ähnliches Vokabular: »I admit that the great increase of commerce and manufactures hurts the military spirit of a people; because it produces a competition for something else than martial honours, – a competition for riches.« Boswell, Samuel Johnson, Bd. 2, S. 206. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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und damit das monarchische System im Ganzen gefährden.177 Coyer stellte dieser funktionalen Differenzierung eine geschichtliche entgegen. Die Vorstellung, dass sich eine Kriegerklasse auf die Aufgabe der Grenzverteidigung konzentriert, während der Rest des Volkes für das Beleben (vivifier) der Nation zuständig ist, schien ihm im Kontext der modernen Gesellschaft absurd.178 Die Auseinandersetzung entfaltete sich im Rahmen des spirituellen Vokabulars. D’Arc stellte der »esprit de combinaison« des Adels und der »esprit de conquête« der Monarchie den »esprit de calcul« des Händlers gegenüber.179 Auch für Coyer war der Händler im Wesentlichen ein Rechner: »La vie d’un commerçant est un calcul continuel«.180 Gerade das aber machte ihn in seinen Augen zum modernen Menschen, zur Gestalt des kommerziellen Zeitalters. Männer wie Sully, Colbert und Thomas Gresham verkörperten seiner Meinung nach den neuen Typus eines kalkulierenden Staatsmannes, der die divergierenden Interessen in einer Gemeinschaft gegeneinander aufwog, berechnete und optima­ lisierte.181 Kommerz und Kalkül seien die Werte der Zukunft und ihr Geist: »Il paroît que ce double esprit fait chaque jour de nouveaux progrès chez les ­Nations les plus réfléchies & qu’il se prépare à fixer le sort de notre Conti­ nent.«182 Ein neues Zeitalter habe angefangen. Hoffnung prägte den Schluss des ­Pamphlets: »Le regne de Louis le Grand fut le siécle du génie & des conquêtes. Que le regne de Lois le Bien-aimé soit celui de la Philosophie, du Commerce & du bonheur.«183 Der geschichtliche Gegensatz zwischen dem kommerziellen Geist der Moderne und dem in die Vergangenheit projizierten martialischen ›Geist der Eroberung‹ würde sich in der Folge stark durchsetzen.184 Dabei wurde diese Entwicklung gelegentlich positiv, manchmal aber auch negativ gedeutet. In einer Zeit, in der Europa immer wieder von gewaltsamen Konflikten heimgesucht wurde, konnte der Handel positiv als zukunftsträchtige Form zwischenstaat 177 »Chaque classe principale ou dérivée, a ses fonctions séparées, & forme des membres qui la composent une espece de corps qui se meut sous l’autorité des loix & sous le pouvoir du Prince. Les fonctions de chacun de ces corps ont toutes pour objet l’intérêt général, & cet intérêt est le point central où ces trois classes se réunissent.« [D’Arc], La noblesse militaire, S. 32–33. 178 Coyer, Développement, Bd. 2, S. 187–189. 179 [D’Arc], La noblesse militaire, S. 13–14, 58, 61–62. 180 Ebd., S. 49; Coyer, Développement, Bd. 2, S. 153. 181 Maximilian de Béthune, der Herzog von Sully (1560–1641), Jean-Baptiste Colbert und Sir Thomas Gresham (1519–1579) waren Staatsmänner, deren staatswirtschaftliche Reformen in physiokratischen Kreisen als vorbildlich galten. 182 Ebd., Bd. 2, S. 153–154. 183 Coyer, Noblesse commerçante, S. 151. 184 Bekannt ist der Ausruf Burkes: »But the age of chivalry is gone. – That of sophisters, oeconomists, and calculators, has succeeded; and the glory of Europe is extinguished for ever.« E. Burke, Reflections, S. 113. Siehe auch: S. Johnson, No. 38. Saturday, January 6, S. 212. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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licher Kommunikation gelten. Auch Montesquieu war in seinem Kapitel über den esprit du commerce von der schon damals toposhaften Maxime ausgegangen: »L’effet naturel du commerce est de porter à la paix.«185 Aus wohlverstandenem Eigeninteresse, aber auch aufgrund des mildernden Einflusses der mit dem Handel einhergehenden Kommunikationsintensivierung würde eine Welt, in der Händler statt Soldaten die internationalen Kontakte pflegen, eine friedlichere Gestalt haben.186 Doux commerce war ein fester Ausdruck für diese mildernden Einflüsse des Handels auf die Sitten.187 Bis ins 19. Jahrhundert würde die Gegenüberstellung von Wirtschaft und Krieg in diesem Sinne einen festen Bestandteil des diskursiven Arsenals der politischen Ökonomie bilden.188 Auch in unmittelbar politischen Fragen entfaltete der Gegensatz seine rhetorische Kraft. Ausgehend von der Vorstellung des kommerziellen Charakters der modernen Gesellschaft und ihrer pazifistischen Implikation war die Rea­ lität des Krieges erklärungsbedürftig. Aus diesem Grunde wurde der begriffliche Gegensatz zwischen dem Geist des Krieges und dem Handelsgeist gerade vor dem Hintergrund unterschiedlicher Kriege immer wieder aktuell. Als ­Benjamin Constant (1767–1830) im Jahr 1814 eine Schrift mit dem Titel »De l’esprit de conquête et de l’usurpation, dans leurs rapports avec la civilisation européenne« veröffentlichte, war jedem klar, wer damit implizit gemeint war. Auch die generelle Richtung der Argumentation ließ sich, im Lichte der etablierten Semantik, aus dem Titel herleiten. Im zweiten Abschnitt – ›Du caractère des nations modernes relativement à la guerre‹ – beschwor er den in­zwischen sprichwörtlich gewordenen Gegensatz zwischen den peuples guerriers der Antike und den friedlich gesinnten Völkern der Moderne. Die kriegerische Realität Europas war in seinen Augen eine vorübergehende Abweichung von dem »­esprit des nations et celui de l’époque«, vom »esprit général« und dem »esprit du siècle«, von den »progrès de l’espèce humaine«, seinem »état présent« und der »civilisation actuelle«.189 Solche Ausdrücke entwarfen eine – zwischen den Polen des Krieges und des Kommerzes ablaufende – geschichtliche Entwicklung, nach der sich die Politik zu richten habe. 185 Montesquieu, Esprit des Loix, Bd. 3, S. 3. Siehe auch: Saint-Germain, Du gouvernement des mœurs, S. 41; Sénac de Meilhan, Considérations sur l’esprit, S. 102. 186 Siehe: Tennyson, Locksley Hall, S. 44. 187 Montesquieu hatte geschrieben: »[C]’est presque une règle générale, que partout où il y a des mœurs douces, il y a du commerce; et que partout où il y a du commerce, il y a des mœurs douces.« Montesquieu, Esprit des Loix, Bd. 3, S. 2. Siehe auch: Robertson, Progress of Society, S. 41. Vgl. Hirschman, The Passions and the Interests, S. 56–63; Larrère, Mirabeau, S. 88–90; Schrage, Verfügbarkeit der Dinge, S. 103–105. 188 Vor allem in der Gestalt des Gegensatzes Krieg / Industrie. Siehe: Saint-Simon, De la sûreté nationale, S. 48; Dunoyer, Considérations, S. 69–71; Enfantin, Considérations, S. 67; Comte, Cours de philosophie positive, Bd. 4, S. 504. 189 Constant, De l’esprit de conquête, S. 1–2, 6–10. Vgl. Moras, Zivilisation, S. 68–70. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Nous sommes arrivés à l’époque du commerce, époque qui doit nécessairement remplacer celle de la guerre, comme celle de la guerre a du nécessairement la précéder. […] L’une est l’impulsion sauvage, l’autre le calcul civilisé.190

Dasselbe Deutungsschema konnte aber auch negativ interpretiert werden. In diesem Sinne tauchte es an den Stellen auf, an denen gegen die kommerzielle Verweichlichung und für die Notwendigkeit einer spirituellen Remilitarisierung argumentiert wurde.191 Zu Beginn der napoleonischen Kriege forderte William Cobbett (1763–1835) von den Briten einen geistigen Umschwung. Für den Geist des »shop-keeping herd«, wie er das englische Volk nach dem Vorbild seines französischen Erzfeindes geringschätzig bezeichnete, hatte er kein gutes Wort übrig. Es sei eine Lebensnotwendigkeit, sich klarzumachen: […] that the age of commerce, of corruption, of effeminacy, of luxury, and of cowardice, are passing away; and that the military age is again coming. It has, indeed, already begun. […] Our choice is a very simple one; very clearly marked out: either we become a military people, or we become the slaves of France.192

Es wäre zur Debatte um die »Noblesse commerçante« noch viel zu sagen. Hier kann es aber nicht darum gehen, die komplizierten Auseinandersetzungen, die bis zum Ende der siebziger Jahre andauerten, im Detail nachzuzeichnen. Unsere Skizze ist präzise genug, um an ihr einige diskursive Tendenzen nachzuweisen, die mit Blick auf die Geschichte der Kulturkritik von Bedeutung sind. Zunächst zeigt die Debatte, welche Rolle kulturelle Deutungsmuster in einer konkreten politischen Auseinandersetzung spielen konnten. Im Mittelpunkt stand dabei der Begriff des Geistes. Die zur Diskussion stehenden Phänomene wurden ›­vergeistigt‹, indem sie als Symbol und Ausdruck einer höheren Macht dargestellt wurden. Diese wiederum bestimmte ihre Deutung und Wertung. Dabei machte es einen entscheidenden Unterschied, ob der Geist einerseits als spezielle Charakteristik eines gesellschaftlichen Bereichs, einer Gruppe oder eines bestimmten Herrschaftssystems oder andererseits als sich geschichtlich wandelndes Prinzip einer ganzen Kultur aufgefasst wurde. Während die eine Verwendungsweise ein synchrones Modell funktionaler Differenzierung implizierte (sei es auf der ständischen oder auf der internationalen Ebene), entfaltete die andere eine geschichtliche Entwicklungsnarration, so dass der als 190 Ebd., S.  7–8. Vergleichsgegenstand war auch hier die Römische Republik. Ihre Imitation unter den Voraussetzungen der Moderne aber  – Constant spielt auf die ästhetische Selbstdarstellung der Revolution wie des napoleonischen Kaiserreichs an – sei zum Scheitern verurteilt. Ebd., S. 9. 191 »[A]ttribuer aux richesses l’honneur & la considération, c’est diminuer les fonds d’un Etat, & l’apauvrir en réduisant tout au prix pécuniaire«. Villemaire, L’andrometrie, S.  89. Siehe auch: Brown, Estimate, S. 170–171. 192 Cobbett, Contintental Coalition, S. 371. Siehe auch: [v.K.], Geist der Völker [III], S. 469. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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notwendig dargestellte Gang des Geistes zu einem Argument für oder gegen bestimmte gesellschaftliche Phänomene oder politische Handlungsoptionen ausreifen konnte.

Die Kritik des kommerziellen Zeitalters Die Debatte um die noblesse commerçante zeigt exemplarisch, wie der Kommerzbegriff von einem spezifischen Sektor zum generellen Charakter der Kultur generalisiert und in einem zweiten Schritt mit einem geschichtlichen Entwicklungsmodell verknüpft werden konnte. Im Gegensatz zum Luxusbegriff konnte der Kommerzbegriff solche verzeitlichten Verwendungen mühelos annehmen, so dass diese in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer häufiger auftraten. Es wurde der Geist des Zeitalters im Ganzen als kommerzieller, ökonomischer, kalkulierender oder geschäftlicher bezeichnet und ausführlich über die spezifische Eigenart einer solchen Kultur diskutiert.193 Ein Werk, das die Bedeutung des Kommerzes für die Geschichte der Menschheit beispielhaft zum Thema machte, war die »Histoire philosophique et politique des établissemens et du commerce des Européens dans les deux Indes« des Abbé Guillaume-Thomas Raynal (1713–1796). Zwischen 1770 und 1787 erschien es in dreißig Auflagen, zahllosen Nachdrucken und Übersetzungen; es landete auf dem päpstlichen Index, wurde vom Pariser Parlement verdammt und am 29. Mai 1781 öffentlich vom Henker verbrannt. Sein Autor floh aus Frankreich, revanchierte sich aber mit immer erweiterten und zunehmend polemisch zugespitzten Auflagen.194 In der Einleitung zur dritten Auflage schilderte Raynal die Perspektive, aus der er das Werk geschrieben hatte. Über alle gesellschaftlichen Interessen erhoben, habe er immer nur die Wahrheit im Auge gehabt: »Elevé au-dessus de toutes les considérations humaines, c’est alors qu’on plane audessus de l’atmosphere, & qu’on voit le globe au dessous de soi«.195 Das Bild, das 193 Siehe: Diderot, Fragments politiques, S.  488; S.  Johnson, A Journey, S.  29; Dunbar, ­Essays, S. 293; Schiller, Ästhetische Erziehung, S. 11; L. P. de Ségur, Histoire des principaux événemens, Bd. 2, S. 72; Miller, A Brief Retrospect, Bd. 3, S. 306; Priestley, Mutual Exhortation, S. 7; Cobbett, London, Saturday, November 21, 1807, S. 824; [v.K.], Geist der Völker [I], S. 30–31. Vgl. Connell, Romanticism, S. 63–64. 194 Neuere Forschungen haben ergeben, dass beträchtliche Teile des Textes nicht von ­Raynal, sondern von Diderot geschrieben wurden. Für unsere Zwecke in diesem Zusammenhang ist die Frage nach der Autorschaft aber nicht entscheidend. 195 Raynal, Histoire philosophique, Bd. 1, S. 3. Ohne Rücksicht formulierte er die sozialrevolutionären Konsequenzen dieser Perspektive: »C’est delà qu’on laisse tomber des larmes sur le génie persécuté, sur le talent oublié, sur la vertu malheureuse. C’est delà qu’on verse l’implication & l’ignominie sur ceux qui trompent les hommes, & sur ceux qui les oppriment. C’est delà qu’on voit la tête orgueilleuse du tyran s’abaisser & se couvrir de fange, tandis que le front modeste du juste touche la voûte des cieux.« Ebd., Bd. 1, S. 3–4. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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sich diesem überweltlichen, fast übermenschlichen Betrachter darbot, war ein kommerzielles. C’est-là […] que, voyant à mes pieds ces belles contrées où fleurissent les sciences & les arts, & que les ténebres de la barbarie avoient si long-temps occupées, je me suis ­demandé: qui est-ce qui a creusé ces canaux? qui est-ce qui a desséché ces plaines? qui est-ce qui a fondé ces villes? qui est-ce qui a rassemblé, vêtu, civilisé ces peuples? & qu’alors toutes les voix des hommes éclairés qui sont parmi elles m’ont répondu: c’est le commerce, c’est le commerce.196

Festes Thema in Kulturdeutungen dieser Art war die veränderte Rolle des Geldes. Schon 1733 hatte Lord Bolingbroke (1678–1751) zu seinem Leidwesen feststellen müssen: »that the power of money, as the world is now constituted, is real power, and that all power without this, is imaginary«.197 In solchen Formulierungen erschien Geld nicht länger als Zeichen für reelle Werte, sondern – nach der Konstitution des Zeitalters  – als Kriterium ihrer Realität. Seine Beschreibung als bloßes Instrument erwies sich als nicht länger adäquat. Seine Anwesenheit ändere vielmehr den Charakter der Bereiche, in die es eingeführt würde. Eine kommerzielle Dienstleistung, so stellte man wiederholt fest, war nicht dasselbe wie ein Gefallen,198 ein Berufssoldat nicht dasselbe wie ein Patriot, der für sein Vaterland in den Krieg zieht.199 Selbst wenn prinzipiell dieselben Handlungen vorlagen, hatten sie im Kontext der Geldökonomie ihre Bedeutung ge­ ändert. In der kommerziellen Gesellschaft sei, wie es immer wieder hieß, Mammon Gott, der Händler sein Priester und Selbstsucht sein Kultus.200 Obgleich es zumeist bei pauschalen Charakterisierungen blieb, wurde das Verständnis des eigenen Zeitalters als kommerzielles an anderer Stelle zum Ausgangspunkt ausführlicher theoretischer Überlegungen. Zum einen wurden Handel und Geld selbst zum Thema einer immer differenzierteren theo­ 196 Ebd., Bd. 1, S. 4. 197 Bolingbroke, Dissertation upon Parties, S. 300. Das hieß aber nicht, dass er diese Macht so einfach hinnehmen wollte: »The landed men are the true owners of our political vessel: the moneyed men, as such, are no more than passengers in it.« Ders., Some Reflections, S. 388. Vgl. Pocock, Machiavelli, Harrington, S.140. 198 Bei Rousseau hieß es: »C’est le tracas du commerce & des arts, c’est l’avide intérêt du gain, c’est la molesse & l’amour des commodités, qui changent les services personnels en argent. On cede un partie de son profit pour l’augmenter à son aise. Donnez de l’argent, & bientôt vous aurez des fers. Ce mot de finance est un mot d’esclave; il est inconnu dans la Cité.« Rousseau, Du contract social, S. 133. 199 Siehe: d’Holbach, La politique naturelle, Bd. 2, S. 249–250; Price, Sermon, S. 30; Lichtenberg, Die Aphorismen-Bücher, S. 832, Aph. L 281. 200 Siehe beispielsweise: Boncerf, Le vrai philosophe, S.  10–11; d’Holbach, La politique ­naturelle, Bd.  2, S.  248; Möser, Trostgründe, S.  167; [Heathcote], Love of Money; Clément, Réflexions, S.  188  ; Görres, Europa und die Revolution, S.  224; Shelley, Queen Mab, S.  40; ders., Defence of Poetry, S. 293; Southey, Sir Thomas More, Bd. 1, S. 158, 169; Bd. 2, S. 245. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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retischen Reflexion. Die Theorie des Merkantilismus hatte den Handel als Nullsummenspiel interpretiert, in dem die Vorteile eines Landes stets auf Kosten eines anderen gingen. Die neueren Wirtschaftstheorien aber verließen diesen Ausgangspunkt immer mehr und beschrieben stattdessen, wie im Prozess des Austausches selbst – durch die effizientere Zuteilung von Ressourcen, Differenzierung und Spezialisierung – neuer Reichtum entstehen konnte. Auch die Rolle des Geldes wurde nun anders eingeschätzt. Waren ältere Theorien davon ausgegangen, dass der Wert eines Geldstücks an den Wert seines Materials ge­koppelt sei, so erörterte man jetzt, wie es  – solange das Vertrauen der Teilnehmer stimmte – seinen Wert erst im wirtschaftlichen Austauschprozess selbst erhielt. In beiden Fällen verschob sich das Blickfeld also von den reellen Phänomenen des Wirtschaftsprozesses auf den interaktiven Charakter dieses Prozesses selbst. Nach derselben Logik konnte nun auch das gesamte Wirtschaftssystem und in seiner Folge die ganze Gesellschaft unter dem Aspekt des Austausches, also des ›Kommerzes‹ in weiterem Sinne erscheinen. Es wurde beschrieben, wie aus der zunehmenden Ausdifferenzierung von Sektoren, Institutionen und Rollen und ihrer gegenseitigen Interaktion eine fortschrittliche Dynamik entstanden war. Das Gesamtbild, das sich daraus für die Gegenwart ergab, war wiederum das des kommerziellen Zeitalters. Eine theoretische Form bekam diese Konzeption in den Stadientheorien der Kulturentwicklung, wie sie von unterschiedlichen Autoren vertreten wurden.201 In ihrer bekanntesten, durch Adam Smith (1723–1790) berühmt gewordenen Variante skizzierte dieses Narrativ eine vierstufige Geschichte der mensch­ lichen Gesellschaft anhand ihrer sukzessiven Subsistenzformen.202 Auf das Zeitalter des Jägers folgte das des Hirten, darauf das des Landbaus. In diesem Stadium sei der Prozess entstanden, der in seiner letzten Konsequenz die moderne Gesellschaftsform hervorgebracht habe: die Arbeitsteilung. As society was farther improved, the severall arts, which at first would be exercised by each individual as far as was necessary for his welfare, would be seperated […]. They would exchange with one an other what they produced more than was necessary for their support, and get in exchange for them the commodities they stood in need of and did not produce themselves. […] Thus at last the age of commerce arises.203

Die Bedeutung des geschilderten Prozesses der Arbeitsteilung gehe, so Smith, über die Grenzen der Wirtschaft weit hinaus. Er bedinge die gesamte Lebensform des Zeitalters und seinen zugehörigen Menschentypus. »Every man thus 201 Siehe beispielsweise: Turgot, Esquisse, S.  174; Rousseau, L’origine des langues, S.  ­258–266; Blair, Critical Dissertation, S.  16–17. Vgl. Meek, Social Science; Rohbeck, Fortschrittstheorie, S.  189–192; L. Hunt, Measuring Time, S.  52–64. 202 A. Smith, Lectures on Jurisprudence, S. 14–16. 203 Ebd., S.  15–16. Siehe auch: Turgot, Ébauche, S.  266; ders., Second Discours, S.  223; A. Smith, Wealth of Nations, Bd. 1, S. 6–25. Vgl. Rohbeck, Fortschrittstheorie, S.  91–97. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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lives by exchanging, or becomes in some measure a merchant, and the society itself grows to be what is properly a commercial society.«204 Eine solche Aussage betraf, wie Istvan Hont betont hat, nicht länger nur den quantitativen Aufstieg des Handels als Wirtschaftssektor, sondern die Natur der Moderne als auf Austausch basierendes Zeitalter. Nur so ist verständlich, warum in Smiths Augen in der Moderne jeder ein Händler sei.205 Bei solchen allgemeinen Charakteristika setzten auch die kulturkritischen Auseinandersetzungen mit der kommerziellen Epoche an. Ihre Artikulationsformen bildeten sich in direkter Konfrontation mit dem diskursiven Gegenüber heraus. So wurde das Motiv der Arbeitsteilung unter dem Aspekt der Fragmentierung zum Ausgangspunkt der Kritik an der kommerziellen Gesellschaft. Schon 1767 hatte Smiths Freund Adam Ferguson (1723–1816) in seinem »­Essay on the History of Civil Society« ihre negativen Konsequenzen geschildert. »­Nations of tradesmen,« schrieb er, »come to consist of members who beyond their own particular trade, are ignorant of all human affairs«.206 Völlig in ihrer partikularen Funktion aufgehend, hätten sie keinen Bezug mehr zum Ganzen. »They are made, like the parts of an engine, to concur to a purpose, without any concert of their own«.207 Das Bild des Menschen als Rädchen, das in der gewaltigen Maschine der Gesellschaft seine Kreise dreht, bis es von dieser schließlich zerdrückt wird, wurde in der Folge immer wieder aufgegriffen.208 Es stand für die Gestalt eines Menschen, der den Kräften eines übermächtigen Systems ausgesetzt ist. Es stand für seine Entfremdung und für den Verlust des Überblicks über eine Gesellschaft, die immer komplizierter wurde.209 Es stand für die einseitige Bildung 204 A. Smith, Wealth of Nations, Bd. 1, S. 33. 205 Hont, Commercial Society, S. 69. 206 Ferguson, An Essay, S. 270. Auch Smith selbst wies auf die Gefahr hin, fortschreitende Arbeitsteilung könne negative Effekte nach sich ziehen. Insbesondere hatte er dabei die intellektuellen Fähigkeiten der Arbeiter im Blick. Dessen Spezialisierung auf einzelne, monotone Handlungen münde, so befürchtete er, in »that drowsy stupidity, which, in a civilized ­society, seems to benumb the understanding of almost all the inferior ranks of people«. A. Smith, Wealth of Nations, Bd. 3, S. 182–185. Siehe auch: Owen, Observations, S. 5, 10; Roscoe, Origins and Vicissitudes, S. 43–44. 207 Ferguson, An Essay, S. 271. Siehe auch: Ebd., S. 270–274. 208 So Schrieb Percy Shelley (1792–1822) in ›A Philosophical View of Reform‹ (1820): »­Modern society is thus a[n] engine assumed to be for useful purposes, whose force is by a system of subtle mechanism augmented to the highest pitch, but which, in stead of grinding corn or raising water[,] acts against itself and is perpetually wearing away or breaking to ­pieces the wheels of which it is composed.« Zit. n. Connell, Romanticism, S. 219. 209 »Einen unter tausenden kann Schiksal und Natur bestimmt haben an der Spize zu stehen, und mit Adlerblik das Ganze zu fassen und zu halten. Aber tausend andre, welche durch ihre Kräfte zu gleichen Ansprüchen mit diesem berechtigt waren, sind in die tausend kleinen Räder der Maschine vertheilt, und müssen ihr Leben durch, ieder an dem seinigen, treiben, ohne iemals zur Perspektive des Ganzen zu gelangen.« Huber, Ueber moderne Größe, S. 13. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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des ­Menschen in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft.210 Schließlich stand es für die restlose Unterwerfung des menschlichen Lebens unter das Gesetz der Utilität. Diese Kritiklinie sollte sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts stark durchsetzen. Vielfach wurde die Erfahrung artikuliert, der Mensch werde im Dienste der Maschine einer kommerziellen Gesellschaft selbst zur Maschine.211 Im Sturm und Drang und der Romantik wurde solche Kritik an der Figur des Philisters festgemacht, der sein regelmäßiges, pedantisches Leben in der bürgerlichen Gesellschaft friste.212 Da sein einziger Bezug zur Wirklichkeit in der umsichtigen Wahrung seines wohlverstandenen Eigeninteresses bestehe, sei er zwar ein vernünftiger Bürger, aber ein beschränkter, engstirniger Mensch. Ihm fehle Liebe, Genie und Kunst: das »wahre Gefühl von Natur und de[r] wahre[] Ausdruck derselben«.213 Wo die fortschreitende Erweiterung der Bedürfnisse und das rationale Kalkül des Eigeninteresses in Bezug auf ihre Befriedigung das Bild des kommerziellen Zeitalters bestimmten, wurde die Kunst als Bereich des Nutz­losen – oder positiv gewendet: des vom Zwang der Utilität Befreiten – zu seinem Gegenbild. Sie verkörperte die Hoffnung auf dessen Überwindung. Dafür aber sei, wie Schiller schrieb, zunächst ein Schritt über die kommerzielle Gegenwart hinaus notwendig. Jetzt aber herrscht das Bedürfniß, und beugt die gesunkene Menschheit unter sein tyrannisches Joch. Der Nutzen ist das grosse Idol der Zeit, dem alle Kräfte frohnen und alle Talente huldigen sollen. Auf dieser groben Waage hat das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht, und, aller Aufmunterung beraubt, verschwindet sie von dem lermenden Markt des Jahrhunderts.214

Solche Kritik ist uns bis heute vertraut. Sie soll hier nicht vertieft werden. Stattdessen wollen wir noch einmal auf die eingangs gestellte Frage zurückkommen. Die etablierte Forschungsthese, die Veränderungen in der wirtschaftlich orientierten Kulturreflexion seien ausschließlich von Seiten der Fürsprecher neuer Wirtschaftsformen hervorgebracht worden, hat sich als nicht tragfähig erwiesen. Anhand des in den negativen Deutungen der eigenen Gegenwart zu Beginn des 18. Jahrhunderts zentralen Begriffs des Luxus konnte nachgezeichnet wer 210 Siehe beispielsweise: Schiller, Ästhetische Erziehung, S. 27; Müller, Theilung der Arbeit, S. 124. 211 Herder, Auch eine Philosophie, S. 538–539; Diderot, Supplément, S. 199; Brandes, Über den Zeitgeist, S. 63; ders., Ueber den Einfluß, Bd. 2, S. 136; Carlyle, Signs of the Times, S. 447, 454. 212 Siehe exemplarisch: [Brentano], Der Philister. Vgl. auch die Quellensammlung: Stein, Philister. 213 Goethe, Leiden des jungen Werthers, S. 19–20. Siehe auch: ders., Andenken Wielands, S. 242. 214 Schiller, Ästhetische Erziehung, S. 11. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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den, wie sich seine Verwendungsweisen vor dem Hintergrund der wirtschaft­ lichen, sozialen und diskursiven Entwicklungen der Zeit änderten. Erstens wurden die traditionellen Kritikformen im Kontext der querelle zunehmend auf ihr diskursives Gegenüber bezogen, was ihre Artikulationsformen erheblich beeinflusste. Zweitens etablierten sich in der zweiten Jahrhunderthälfte im Luxusbegriff mehrere – ihrer politischen Zielrichtung nach sehr unterschiedliche – kulturkritische Verwendungsweisen, die sich durch eine Generalisierung und Verzeitlichung ihrer phänomenalen Bezugsebene auszeichneten. Letztendlich aber zeigte sich die Verknüpfung des Luxusbegriffs mit geschichtlichen Entwicklungslogiken wegen ihrer langfristig etablierten, binären Grundlogik als nicht zukunftsfähig. Aus diesem Grund konnte das jähe ›Ende‹ der Luxusdebatte im Ausgang des 18.  Jahrhunderts und der parallele Aufstieg des Kommerzbegriffs in kultur­ kritischen Zusammenhängen mit den semantischen Unterschieden zwischen beiden Begriffen in Verbindung gebracht werden. Dass der Luxusbegriff stets auf die Grenze zwischen Bedürfnis und Überfluss bezogen blieb und so immer eine binäre, grenzziehende Logik implizierte, machte ihn für die Beschreibung geschichtlicher Entwicklungen nur bedingt brauchbar. Der Kommerzbegriff dagegen eignete sich, wie anhand der Debatte um die noblesse commerçante nachgewiesen werden konnte, vorzüglich für die Umstellung von der synchronhierarchischen zur diachron-geschichtlichen Logik. So wurde er allmählich zum Kernbegriff eines Kulturverständnisses, das von fortschreitenden Entwicklungen der Differenzierung und des Austausches ausging – wohl auch, weil dieser Begriff nicht ausschließlich auf den wirtschaftlichen Bereich beschränkt war. In allen drei untersuchten Sprachräumen bezeichnete ›Kommerz‹ nicht nur den Handel als Wirtschaftssektor, sondern jede Art von Austausch.215 Und so spielte er auch in einem anderen Bereich, in dem die Folgen der zugenommenen Interaktion und Kommunikation für die moderne Lebensform verhandelt wurden, eine wichtige Rolle: im Feld menschlicher Umgangsformen.

215 Die metaphorische Kopplung dieser beiden Bereiche funktionierte in beide Richtungen, wie beispielsweise als der Schauspieler und Intendant West Digges (1725–1786) Konversation als »the traffic of the mind« bezeichnete. Boswell, London Journal, S. 76. Vgl. Bryson, Courtesy to Civility, S. 124. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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III. Wahrheit und Schein in der geselligen Gesellschaft Sie waren die Acteurs der großen Weltbühne, die nicht den Zeitgeist machten, sondern den Zeitgeist spielten; das Decorationswesen der Repräsentation war daher ihr eigentliches Fach und Studium und bühnengerecht zu sein ihr Stolz. […] Allein der an sich löbliche Anstand ist doch nur der Schein dessen, was er eigentlich bedeuten soll, und so ging ihnen denn auch ihr Dasein lediglich in einer traditionellen Aesthetik des ­Lebens auf. Joseph von Eichendorff1

Als im 18. Jahrhundert die Gesamtheit des menschlichen Lebens zunehmend unter geschichtlicher Perspektive gedacht wurde, geschah dies nicht unter dem Titel der Kultur oder Zivilisation, sondern auch als Gesellschaft (society, société).2 Zu einem einheitlichen Objekt der Kulturkritik wurde dieser Begriff erst mit der Verbreitung des modernen, abstrakten Gesellschaftsbegriffs im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Von diesem Zeitpunkt an lässt sich sinnvoll von ›Gesellschaftskritik‹ als Modus der Kulturkritik sprechen. Schon früher aber hatte die ältere, partikularistisch-konkrete Bedeutungsebene der Gesellschaftssemantik die Artikulationsformen der Kulturkritik nachhaltig geprägt. Im ›geselligen Jahrhundert‹ war Kulturkritik nicht selten auch ›Geselligkeitskritik‹. In diesem Kapitel wird der Frage nachgegangen, wie Konnotationen des Geselligkeitsregisters die Artikulation der Kulturkritik in ihrer Frühphase prägten. Nach einem Überblick über das Wortfeld wird zunächst erörtert, welche räumlichen, sozialen und geschlechtsspezifischen Deutungsmuster aus den Debatten über Geselligkeit in die Kulturkritik übernommen wurden und welche Rolle sie da spielten (§ 1). Der nächste Abschnitt dreht sich um den für die Geselligkeitsreflexion konstitutiven Gegensatz zwischen Sein und Schein. Es wird nachgezeichnet, wie der Schein semantisch von einem Problem in der Gesellschaft zu ihrer Gesamtcharakteristik generalisiert wurde und wie sich demzufolge auch 1 Von Eichendorff, Deutsches Adelsleben, S. 274–275. 2 Die begriffsgeschichtlichen Überlegungen beziehen sich im Folgenden durchgehend auf: Riedel, Gesellschaft, Gemeinschaft; ders., Gesellschaft, bürgerliche; [Redaktion], Sozial, das Soziale; Hinrichs, Geselligkeit, gesellig; Williams, Society; Dean, Society. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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das Verhältnis zu seinem Gegenteil, der Wahrheit des Seins, wandelte (§ 2). Im letzten Abschnitt steht das Verhältnis zwischen dem Kulturkritiker und der geselligen Welt im Mittelpunkt. Es wird untersucht, wie sich seine Selbstinzenierung in Abgrenzung zu den typischen, mondänen Sprachformen der guten Gesellschaft einerseits und zu den aus ihr stammenden Fremd­beschreibungen der Kritiker andererseits gestalteten (§ 3).

1. Geselligkeit und Gesellschaft Lexikometrie und Begriffsgeschichte Lexikometrische Forschung zum französischen Sprachraum hat nachgewiesen, dass das Wortfeld société  – social  – sociabilité  – sociable gegen Ende des 17.  Jahrhunderts erstmals an Bedeutung gewann und sein Gebrauch ab der Mitte des 18.  sehr stark zunahm. Gleichzeitig fand, so haben begriffshistorische Forschungen nachgewiesen, eine semantische Verschiebung im Wortgebrauch statt.3 Das Wortfeld um ›Gesellschaft‹ war im 18.  Jahrhundert in eine partikularistische und eine generalistische Bedeutungsebene gespalten. Seit der Antike hatte der Begriff sich in erster Linie auf konkrete Verbindungen menschlichen Zusammenlebens bezogen. Adjektive wie gesellig oder social wurden als Bezeichnung spezifischer Umgangspraktiken oder als Eigenschaft bestimmter Menschentypen verstanden. Die dominante Bedeutungsebene ging von einem Modell konkreten zwischenmenschlichen Umgangs aus, von  – um einen von Rudolf Schlögel geprägten Begriff aufzugreifen  – »Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden«.4 Zum Ausdruck kam dies unter anderem in der engen lexikalische Beziehung zwischen société und liens. Doux liens de la 3 Vgl. Gordon, Citizens, S.  51–55. Gordons Analyse anhand der ARTFL-Datenbank (American Research on the Treasury of the French Language, http://humanities.uchicago. edu/orgs/ARTFL/) ist zwar, wie er zugibt, nicht statistisch repräsentativ, aber sie zeigt eine deutliche Tendenz. Die Verwendungshäufigkeit des Wortfeldes pro tausend Wörter im Korpus steigt von 12–93 für die Periode zwischen 1600 und 1670, zu 74–553 zwischen 1671 und 1750, bis hin zu 1047–1811 zwischen 1751 und 1800. Siehe auch: Baker, Enlightenment, S. ­95–101; Mintzker, »A Word«. 4 So der Titel eines neueren Forschungsansatzes zu den kommunikativen Funktionsweisen frühneuzeitlicher Gesellschaftsformen. Vgl. Schlögl, Kommunikation und Vergesellschaftung. Der Soziologe André Kieserling spricht in diesem Zusammenhang von einem »Gesprächsmodell der Gesellschaft« Kieserling, Das Ende, S. 183, 186. Die zentrale Bedeutung des konkreten Umgangs zeigte sich auch in den Wörterbüchern. So schrieb Furetière: »Societé. s.f. Assemblée de plusieurs hommes en un lieu pour s’entrecourir dans les besoins. Les sauvages vivent avec peu de societé. Les hommes se sont mis en societé pour vivre plus commodément & plus poliment«. Furetière, Dictionnaire, Art. ›Société‹. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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société war in diesem Zusammenhang eine feste Wortverbindung. Zusammen bildeten diese Bände ein Gewebe: den fabric of society.5 Schon früh hatte sich neben dieser partikularistischen auch eine generalisierende, abstrakte Bedeutungsebene etabliert. Sie fand ihren Niederschlag in festen Wortverbindungen wie koinòs nómos (Stoa) und societas humana (Augustinus). Solche Verwendungen blieben aber äußerst selten und wurden zumeist noch von konkreten Gruppen ausgehend als metaphorische Erweiterung empfunden, weshalb sie eines präzisierenden Adjektivs bedurften. Gesellschaft blieb bis in das 17. Jahrhundert hinein primär eine Form zwischenmenschlichen Austausches, entweder als Verband einer organisierten Gruppe oder als der Zustand dieses Verbundenseins selbst. Vom Ende des 17.  Jahrhunderts an aber und verstärkt seit der Mitte des 18.  Jahrhunderts setzte sich parallel dazu die generalisierende Bedeutungsebene allmählich stärker durch.6 Es wurde häufiger über die Gesellschaft als allgemeines Feld menschlichen Handelns gesprochen, über das man aus anthro­ pologischer oder kulturgeschichtlicher Perspektive Fragestellungen anregte.7 War ein solcher Gebrauch im 17. Jahrhundert noch eine Seltenheit, im 18. Jahrhundert wurde er immer wichtiger, bis er die Bedeutung des Gesellschafts­ begriffs im 19. Jahrhundert zu beherrschen begann.8 Aus langer Sicht zeichnete sich im Wortfeld Gesellschaft also ein Paradigmenwechsel von der Pluralität konkreter Gesellschaften zur abstrakten Lebensform des Menschen, von Geselligkeit zu Gesellschaft ab. Entscheidend für diese Entwicklung war die klassische Naturrechts­tradition des 17. Jahrhunderts. Sie etablierte eine Problemkonstellation, welche die Auseinandersetzungen um Gesellschaft im 18. Jahrhundert beherrschen sollte. Ihr argumentativer Kontrapunkt lag dabei nicht zuletzt in Hobbes’ Konzeption der ursprünglichen Unsozialität des Menschen.9 Seiner Ansicht nach seien die Menschen im gesetzlosen Naturzustand durch ihre Leidenschaften eher aus- als zueinander getrieben worden. Demzufolge sei ihr Leben nicht nur »nasty, brutish, and short« gewesen, sondern auch »solitary«, ohne »Society«.10 Erst nach der Gründung einer souveränen Macht mit Gewaltmonopol sei eine Situation ent 5 Im Deutschen übersetzte man »Bände der Gesellschaft«, im Englischen »ties of ­society«. Brown, On the natural duty, S.  211; Boncerf, Le vrai philosophe, S.  12; Friedrich II., Dialogue de morale, S. 30; E. Burke, Reflections, S. 29, 141, 188; ders., Letter to William Smith, S. 404; Girtanner, Historische Nachrichten, Bd. 1, S. 396; Bowles, Political and Moral State, S. 37; Southey, Sir Thomas More, Bd. 1, S. 93. Vgl. Baker, Enlightenment, S. 100. 6 Ebd., S. 108. 7 Vgl. C. Albrecht, Zivilisation, S. 109 ff. 8 Dies gilt hauptsächlich dann, wenn man vom Substantiv ausgeht. Bei den Adjektiven, Adverbien usw. der Wortgruppe blieb die ältere Bedeutungskomponente länger – zum Teil bis heute – führend. 9 Vgl. Kondylis, Die Aufklärung, S. 147–169. 10 Hobbes, Leviathan, S. 89. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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standen, in der Individuen in den Stand gesetzt wurden, ihre Eigeninteressen dem Gemeinwohl unterzuordnen und die Angst, die sie voneinander trennte, zu überwinden. Die Sprengkraft von Hobbes’ Anthropologie lag darin, dass sie einen scharfen Bruch mit der seit Aristoteles vorherrschenden Definition des Menschen als soziales Wesen (zôion politikón, animal sociale) bedeutete.11 Hobbes’ Konzeption des Menschen erforderte ein völlig anderes Verständnis der Gesellschaft und deren Legitimation. Seine Vorstellung des unsozialen Menschen wirkte als Herausforderung und initiierte eine Fülle von Debatten über das Wesen des Menschen sowie über die Entstehung und Entwicklung der Gesellschaft. Wo Befürworter eines gottgewollten Absolutismus mit naturrechtlichen Vertragstheoretikern aufeinander prallten, stand die Skandalvorstellung des unsozialen Menschen stets im Mittelpunkt. Die eine Seite suchte das Problem durch die Setzung einer unbeschränkten monarchischen Macht zu beseitigen. Andere bestanden gegen Hobbes auf der natürlichen Soziabilität des Menschen. Ob wegen seines angeborenen appetitus societatis (Grotius) oder seiner imbecillitas – seiner Unfähigkeit, alleine zu überleben (Pufendorf) –, der Mensch lebe als solcher in Gesellschaft und nur innerhalb dieser entwickle er die ihm natürlichen Fähigkeiten der Sprache, der Kognition und der Moral.12 Der homme social stand bis in das 18. Jahrhundert hinein im Zentrum der Debatten um Soziabilität und Gesellschaft.13 Wenn aber Soziabilität ein Wesensmerkmal des Menschen war, dann – folgerte man – war das tugendhafte Leben auch ein geselliges. Der Akzent in den Debatten über menschliche Lebensführung verlagerte sich immer mehr auf die sogenannten sozialen Tugenden.14 In der christlichen Tradition waren unsoziale Lebensformen generell als moralisch höherwertig eingestuft worden. Auch in der frühneuzeitlichen Debatte über die relativen Vorzüge der vita contemplativa der vita activa gegenüber waren noch Argumente für die Einsamkeit als Ort geistiger und mora­lischer Reinheit vorgebracht worden. In der Aufklärung wurde diese Frage erneut aufgenommen, jedoch mit dem Unterschied, dass der Akzent nunmehr weniger 11 Vgl. Riedel, Gesellschaft, Gemeinschaft, S. 809–810. Riedel nennt auch Spinoza, dessen politische Philosophie aber bei weitem nicht die selbe Resonanz hatte wie die hobbessche. Vgl. Hont, Commercial Society, S. 62–65; Sonenscher, Sans-Culottes, S. 85–90. 12 Gordon, Citizens, S. 54–64; Lehmann-Brauns, Neuvermessung, S. 171–176. Siehe beispielsweise: Duclos, Considérations, S. 10–11. 13 Der Abbé Pluquet (1716–1790) ging dieser Frage sehr ausführlich nach in: Pluquet, De la sociabilité. Siehe auch: Fielding, Conversation, S. 117–118. 14 So wurden im erfolgreichen Moralbuch »Les mœurs« (1748) von François-Vincent Toussaint (1715–1772) nach der piété und sagesse unter dem Titel vertus sociales solche Tugenden wie amour, amitié und humanité (die selbst wiederum in bonté, politesse, civilité, complaisance und égards untergliedert war) behandelt. Toussaint, Les mœurs. Siehe auch: [­Richard], Réflexions critiques; Toussaint, Éclaircissement. Vgl. Benrekassa, Mœurs, S. ­62–72; E. Bury, Littérature et politesse, S. 195–203. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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auf dem politischen als auf dem geselligen Leben lag. Die christlich-asketische Moralvorstellung, nach der sich der Heilige aus der Gesellschaft zurückzog, verlor vom Ende des 17. Jahrhunderts an zunehmend an Bedeutung. In moralischen Schriften und Erziehungsratgebern wurde die Relevanz des geselligen Umgangs für die Ausbildung und Ausübung der Tugend hervorgehoben. Der Hinweis auf die ursprüngliche Sozialität des Menschen blieb in diesem Zusammenhang zentral.15 Zwei Entwicklungen im frühmodernen Gesellschaftsvokabular hatten auf die Geschichte der Kulturkritik einen besonderen Einfluss. Zuallererst prägte die Skandalvorstellung des ungeselligen Menschen sowohl die Selbstinszenierung als auch die Fremddarstellung des Kulturkritikers. Ab den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts stand dabei nicht länger Hobbes, sondern die »produktive Provokation« Rousseaus im Mittelpunkt.16 Obwohl dessen Anthropologie in expliziter Abgrenzung von Hobbes’ Leviathan formuliert worden war, waren sich beide doch darin einig, dass der Mensch in seinem Naturzustand unsozial gewesen war. Rousseau ging sogar so weit, dies als positiven Aspekt dieser Epoche herauszustellen: »Ces tems de barbarie étoient le siècle d’or, non parce que les hommes étoient unis, mais parce qu’ils étaient séparés.«17 In den Ausein­andersetzungen zwischen ihm und seinen Gegnern, zwischen seinen Nachfolgern und seinen Kritikern erhielt die Frage nach der Soziabilität erneute Aktualität. Der homme social und sein ungeselliges Pendant, der homme insociable, bildeten eine diskursive Differenz, die von Kulturkritikern selbst, aber auch von ihren Gegnern, genutzt wurde, die Eigenart der kulturkritischen Außenseiterpostion zu artikulieren. Einerseits konnte die selbst gewählte, ausdrücklich zur Schau getragenene Einsamkeit des Kritikers als Bürge seiner Unabhängigkeit und Bedingung seines überlegenen Überblicks gedeutet werden. Umgekehrt konnte sie auch negativ als Austritt aus der Gesellschaft überhaupt gewertet werden, was im ›geselligen‹ Jahrhundert einer Verfehlung der Menschlichkeit gleichzukommen schien.18 15 Im Artikel ›Société‹ der »Encyclopédie« hieß es paradigmatisch: »Société, s.f. (Morale) les hommes sont faits pour vivre en société; si l’intention de Dieu eût été que chaque homme vécut seul, & séparé des autres, il auroit donné à chacun d’eux des qualités propres & suffisantes pour ce genre de vie solitaire; s’il n’a pas suivi cette route, c’est apparemment parce qu’il a voulu que les liens du sang & de la naissance commençassent à former entre les hommes cette union plus étendue qu’il vouloit établir entr’eux […] Telle est en effet la nature & la constitution de l’homme, que hors de la société, il ne sauroit ni conserver sa vie, ni développer & perfectionner ses facultés & ses talens, ni se procurer un vrai & solide bonheur.« Anon., Société. Siehe auch: [Philarete], »On Solitude. Vgl. Gordon, Citizens, S. 64–65; Assmann, Höflichkeit, S. 194–198; Sonenscher, Sans-Culottes, S. 170. 16 Vgl. Peter, Geselligkeiten, S. 116–129. 17 Rousseau, L’origine des langues, S. 258. 18 Wie Diderot in seiner Übersetzung von Shaftesbury’s »Inquiry concerning virtue« (1699) schrieb: »L’homme insociable, ou celui qui s’exile volontairement du monde, et qui, rompant tout commerce avec la société, en abjure entièrement les devoirs, doit être sombre, triste, chagrin, et mal constitué.« Diderot, Essai sur le mérite, S. 155–156. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Auf diese Konstellation wird am Ende dieses Kapitels näher einzugehen sein. Zunächst aber sei ein anderer Aspekt der Gesellschaftssemantik angesprochen, der ebenfalls für die Entwicklung der Kulturkritik bedeutsam wurde. Mit den Debatten über Naturzustand und Gesellschaftszustand, über Entstehung, Entwicklung und Legitimation unterschiedlicher Gesellschaftsformen fand ein generalistischer Gebrauch des Gesellschaftsbegriffs Verbreitung, der im Laufe des 18.  Jahrhunderts immer wichtiger wurde. Die Gesellschaft als eigenständige Sphäre, unabhängig von aller transzendenten Legitimation, wurde zunehmend zum Thema gemacht.19 Mit dem Einbruch des historischen Denkens während des 18.  Jahrhunderts änderten sich die Rahmenbedingungen solcher generellen Verwendungsweisen noch einmal erheblich. In den älteren Naturrechtstheorien hatten Natur- und Gesellschaftszustand hauptsächlich Gedankenkonstrukte dargestellt, die der Interpretation oder Legitimation bestehender Gesellschaftsordnungen dienten. Sie waren aber keineswegs als Beschreibung eines realen Vorgangs gedacht. In der Anthropologie der Aufklärung dagegen erhielten solche Vorstellungen zunehmend den Status einer empirisch zu prüfenden historisch-anthropologischen Hypothese. Der Eintritt des Menschen in die Gesellschaft wurde als realhistorischer Vorgang gedacht, den es anhand von analogen empirischen Befunden bei Naturvölkern, Tieren oder so genannten ›Wolfskindern‹ nach­ zuweisen galt.20 Ungeachtet solcher tiefgreifenden Kontextverschiebungen setzte sich der Aufstieg der generalistischen Bedeutungsebene allmählich durch. Es entstand ein Komplex von Fragestellungen, Argumenten, Gemeinplätzen und Deutungsmodellen, der sich um die Gesellschaft als Ganze drehte. In der Historiographie des Gesellschaftsbegriffs wird diese Entwicklung als der Aufstieg des ›modernen‹ Gesellschaftsbegriffs gedeutet und in die Vorgeschichte der Soziologie eingereiht.21 Diese Sichtweise hat ihre Richtigkeit und ist für die Diskurs­ geschichte der Kulturkritik insofern von Bedeutung, als diese Entwicklung ihre Artikulation als Gesellschaftskritik ermöglichte. Seit dem späten 18., zunehmend aber ab dem 19. Jahrhundert wurde das Ganze auch als Gesellschaft gefasst und gelegentlich als solches kritisiert. 19 Im Artikel ›Philosophe‹ der »Encyclopédie« hieß es gar: »[L]a société civile est, pour ainsi dire, une divinité pour lui sur la terre.« Anon., Philosophe. Vgl. Baker, Enlightenment, S. 95–96; Gordon, Citizens, S. 81–85. Der Text basierte größtenteils auf dem anonymen, wahrscheinlich vom Grammatiker César Chesneau Dumarsais (1676–1756) verfassten Text: anon., Le Philosophe, S. 188, 194. 20 Vgl. Seifert, »Verzeitlichung«, S. 449–452; Hont, The language of sociability; Cartier, Licht ins Dunkel. 21 Zu einem analogen Befund kommt Aleida Assmann, die anhand von Quellen aus der Höflichkeitsliteratur auf einen Paradigmenwechsel vom »Modell persönlicher Interaktion« (in der Stadt oder am Hofe) zum »Modell generalisierter Kommunikation« als selbstregulierendes System schließt. Vgl. Assmann, Höflichkeit, S. 199–203. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Der Aufstieg des modernen Gesellschaftsbegriffs sollte aber nicht über die bleibende Bedeutung der partikularistischen Ebene hinwegtäuschen. Wo es um die Interpretation von und Kritik an konkret bestehenden Gesellschaftsformen ging, blieb diese während des ganzen 18. Jahrhunderts dominant. Dies war nicht nur eine Zeit, in der die Soziabilität des Menschen auf einer abstrakten Ebene besprochen wurde. Auch und vor allem war es eine, in der die Umgangsformen konkreter Geselligkeit gelobt und kritisiert, analysiert und parodiert wurden.22 Im Lichte dieser Ambivalenz erscheint es sinnvoll, stärker auf die Interdependenzen zwischen der generalistischen und der partikularistischen Bedeutungsebene innerhalb des Gesellschaftsbegriffs zu achten.23 Die anfangs erwähnten lexikometrischen Untersuchungen lassen keine unmittelbaren semantischen Schlussfolgerungen zu. So suggestiv die zeitliche Korrelation zwischen dem Aufstieg des modernen Gesellschaftsbegriffs und dem generellen Anstieg der Verwendungshäufigkeit des Gesellschaftsvokabulars überhaupt sein mag, sie impliziert keinen kausalen Zusammenhang. Wenn der Anstieg der Verwendungshäufigkeit des Wortfeldes um société, wie es immer wieder geschieht, mit der Entstehung der generalisierenden Bedeutungsebene in Verbindung gebracht wird, bleibt das eine Vermutung. Auch in diesem Rahmen können – schon aufgrund der Quellenlage – die lexikometrischen Ergebnisse nicht um eine statistisch gesicherte semantische Analyse erweitert werden. Trotzdem sei es erlaubt, aufgrund der für diese Untersuchung gesichteten Quellen eine alternative Vermutung zu formulieren. Es spricht einiges dafür, dass der quantitative Anstieg des Wortgebrauchs weniger mit der Etablierung der generalistischen als mit der verstärkten Relevanz der um die Begriffe civilité – politesse – Höflichkeit kreisenden, partikularistischen Bedeutungsebene des Geselligkeitsvokabulars zusammenhängt.24 Diese, wie es in der Forschung zum Gesellschaftsbegriff oft passiert, als einen zu vernachlässigenden Überrest aus der Vormoderne zu betrachten, muss aus diesem Grund als Irrweg betrachtet werden. Ganz im Gegenteil: Die diskursive Landschaft des 18. Jahrhunderts und das kulturelle Selbstverständnis der Zeitgenossen waren wesentlich von Debatten über Geselligkeit und ihre Formen geprägt. 22 Vgl. Gordon, Dématérialisation, S. 79–80. 23 Ernst Cassirer meinte im Hinblick auf die Gesellschaftstheoretiker der Aufklärung, dass »der Begriff der Gemeinschaft, nach dem sie suchen, und um dessen Begründung und Rechtfertigung sie sich bemühen, nicht nur mit dem Begriff der Gesellschaft, sondern ge­ radezu mit dem Begriff der Geselligkeit zusammenfällt.« Cassirer, Philosophie der Auf­ klärung, S. 281. 24 Dies würde auch die plötzliche Zunahme des Gebrauchs in den letzten Jahrzehnten des 17.  Jahrhunderts erklären, in denen die Zahl der sogenannten Honnêteté-Traktate sprunghaft anstieg. Vgl. Höfer und Reichardt, Honnête homme, S. 14. Siehe auch die Sta­tistik zur Verwendungshäufigkeit des Verbs civiliser im Französischen in: Monnier, Civilisation, S. 109. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Das Zeitalter der Aufklärung war – wie es Ulrich im Hof formuliert hat – ein »geselliges Jahrhundert«.25 Auch wenn es mit Bezug auf die Lexikometrie hier bei einer Vermutung bleiben muss, ist die partikularistische Bedeutungsebene für die Geschichte der Kulturkritik noch in einem weiteren Sinne bedeutsam. Kulturkritik geht aufs Ganze und kann dies auch als Gesellschaft bezeichnen. Insofern gehört sie in den Kontext der Gesellschaftstheorie, der Gesellschaftsgeschichte und der Anthropologie. Als normativer Diskurs aber, der die eigene Gesellschaft einer Fundamentalkritik unterzieht, zielt sie zunächst auf konkrete Gesellschaftsformen, auf Praktiken und Diskurse, Institutionen und Werthaltungen, kurz: auf das konkrete Gesellschaftsleben einer Zeit. Gesellschaftskritik in diesem Sinne geht fast nie mit einer Absage an die menschliche Soziabilität als solche einher. Daraus folgt, dass der Gesellschaftsbegriff im 18.  Jahrhundert auch  – ja im nicht-theoretischen Sprachgebrauch sogar hauptsächlich  – ein äußerst kon­k reter Begriff war, der mit sozialen, geographischen, geschlechtsspezifischen, nationalen und historischen Konnotationen gefüllt war und keineswegs den abstrakten Charakter eines ›puren‹ Ganzheitsbegriffs besaß.26 Wer ›die Gesellschaft‹ kritisierte, hatte fast nie die allgemeine Form menschlichen Zusammenlebens im Sinn. Diese Gesellschaft umfasste keineswegs die gesamte Bevölkerung eines bestimmten Territoriums; sie war eine Elite: die ›gute‹ Gesellschaft.27 Nun könnte man einwenden, dass wir damit unser Themenfeld verlassen hätten. Kulturkritik, wie wir sie eingangs definierten, hat die Ganzheit einer Kulturform im Blick und macht keinen Halt bei den Praktiken, Institutionen und Werthaltungen einzelner Gruppen oder gar Individuen. Kritik an der guten Gesellschaft könnte man sicherlich, wie es oft getan worden ist, als soziopolitische Adels-, Hof- oder Elitenkritik verbuchen und sie so aus unserer Definition 25 Im Hof, Das gesellige Jahrhundert. Siehe auch: Mauser, Geselligkeit. 26 In der Quelleninterpretation ist hier manchmal etwas hermeneutisches Feingefühl gefragt. Mitunter lassen sich die beiden Bedeutungsebenen deutlich voneinander trennen, z. B. wenn der Begriff im Plural benutzt wird (les sociétés qui donnent le ton), mit einem unbestimmten Artikel oder mit Adjektivergänzung (une société de gens de lettres). Manchmal erschließt es sich auch aus dem Kontext. Aber nicht immer. Es wäre ein Fehler, zu meinen, dass es sich wo das Wort im Singular und mit bestimmtem Artikel, ohne Ergänzung benutzt wird, immer um die generalisierende Ebene handeln würde. 27 Vgl. Kieserling, Das Ende, S.  181–184. Als z. B. Schiller sich über die »künstliche[n] Verhältnisse der Sozietät« beklagte und bemerkte: »Mitten im Schoße der raffiniertesten Ge­selligkeit hat der Egoism sein System gegründet, und ohne ein geselliges Herz mit heraus­zubringen, erfahren wir alle Ansteckungen und alle Drangsale der Gesellschaft«, so grenzte er diesen Gesellschaftsbegriff nicht nur von dem »einfachen Hirtenstand«, sondern auch als Bezeichnung der »zivilisierten Klassen« von den »niedern und zahlreichern Klassen« ab. Schiller, Ästhetische Erziehung, S. 22–24. Siehe auch: [Soret], Essai sur les mœurs, S. 91. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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von Kulturkritik ausschließen. Damit wäre aber implizit erneut eine semantische Trennung zwischen dem modernen, generalisierenden und dem traditionellen, partikularistischen Gesellschaftsbegriff vorausgesetzt, die so im Untersuchungszeitraum nicht gegeben war. Zeichengebrauch ist eine verwickelte Sache. Selbst wenn schreibende Akteure mit aller Macht versuchen, ›ungemeinte‹ Konnotationen eines Wortes fernzuhalten, bleibt die ›falsche‹ Interpretation immer möglich. Wenn nicht bereits beim Schreiben unbeabsichtigte Bedeutungsüberschüsse und Konnota­ tionen mitschwingen, so können sie beim Leser – dessen Situation vom Schreibenden weder vorhergesagt noch vollständig beherrscht werden kann – doch in einem Sinn verstanden werden, die den Intentionen des Schreibenden keineswegs entspricht. Daraus folgt, dass ältere Bedeutungsspuren – auch wo man sie mit definitorischen Gesten oder ausführlichen theoretischen Aussagengeflechten fernzuhalten bemüht ist – oftmals den Gebrauch und das Verständnis, und das heißt: die diskursive Funktionalität von Zeichen, weiterhin prägen. Dies war der Fall beim Denken und Reden über Gesellschaft in der Aufklärung. Auch an den Stellen, wo ein neuer generalisierender Gebrauch von Gesellschaft geprägt wurde, schwangen die aus der etablierten Alltagssprache geschöpften Konno­ tationen, Leitbilder und -fragen, Typologien und raumzeitlichen Deutungs­ muster stets mit.

Dimensionen der geselligen Gesellschaft Die starken Wechselbeziehungen zwischen dem partikularistischen und dem generalistischen Gesellschaftsbegriff kamen nicht zuletzt in einer Gruppe von Ausdrücken zur Geltung, welche die Gesellschaft als Ganze im Medium des Geselligkeitsvokabulars charakterisierten. Auch die Historiographie bedient sich zuweilen dieser Strategie. So hat Lawrence Klein vorgeschlagen, den Ausdruck polite society (in Anlehnung an Elias’ höfische Gesellschaft) in einem doppelten Sinne zu gebrauchen. Einerseits sei der Begriff auf eine beschränkte Elite aus Adel und höherem Bürgertum zu beziehen. Neben diesem exklusiven Gebrauch sei aber auch ein genereller Gebrauch sinnvoll. Selbst wenn die gute Gesellschaft nur einen kleinen Teil  der Bevölkerung ausmachte, hatte sie, so Klein, eine unverhältnismäßig starke kulturelle Ausstrahlung. Die Praktiken, Redeweisen und das Konsumverhalten der ganzen Gesellschaft seien von ihrem kulturellen Zentrum aus geprägt worden. In diesem Sinne sei also auch die ganze Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, auch über die engen Kreise der Elite hinaus, ihrem Charakter nach polite gewesen.28

28 Vgl. L. E. Klein, Politeness, S. 896–898. Siehe auch: ders., Shaftesbury. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Ob eine solche ambivalente Begrifflichkeit historiographisch tragfähig ist oder ob sie nicht doch zu sehr von einem hierarchisch zentrierten, elitären Gesellschaftsmodell ausgeht, kann und muss hier nicht entschieden werden.29 Wichtiger ist, dass sie genau die Ambivalenz des Gesellschaftsvokabulars im 18. Jahrhundert zur Schau stellt, die uns hier interessiert. Das diskursive Selbstverständnis des 18. Jahrhunderts war durch eine schillernde Synthese der generalistischen und partikularistischen Ebene des Gesellschaftsbegriffs charakterisiert. Die Interpretationsmuster und das Vokabular, das den Beschreibungen einer Elite entstammte, wurden metonymisch für die Charakterisierung der ganzen Gesellschaft benutzt. So wurde mit dem Vokabular der elitären Gesellig­ keit die Gesellschaft als Ganze in ihrer historischen Entwicklung interpretiert. Ab dem Ende des 17. Jahrhunderts tauchten zunehmend Ausdrücke auf, die das Vokabular der geselligen Umgangsformen im Sinne einer gesamtkulturellen Charakterisierung verwendeten. Das Zeitalter sei ein höfliches (siècle poli, polite age) und unterscheide sich darin von früheren Epochen (siècles barbares, temps grossiers). Das eigene Volk sei zivilisiert (nations polies, polished nations) und ließe sich als solches abgrenzen von anderen Völkern (peuples sauvages, peuples grossiers, barbarians).30 Ab der Jahrhundertmitte wurden solche Dichotomien zunehmend mit einer kulturgeschichtlichen Dimension verknüpft. Turgot wies in seinem zweiten Discours an der Sorbonne im Jahr 1750 darauf hin, dass die außereuropäischen Völker zwar formal zeitgenössisch, unter der Perspektive der Zivilisationsgeschichte aber gleichzeitig ›früher‹ seien. Dem geschichtsphilosophisch geschulten Blick erscheinen sie, führte er aus, als konkrete und empirisch erforschbare Beispiele der Schritte (pas) oder Grade (degrés) der Menschheitsgeschichte, die als beständige Zunahme an Höflichkeit und Soziabilität verstanden werden solle. Ihre Stadien stellten »toutes les nuances de la barbarie et de la politesse« dar.31 Zu dieser Gruppe von Ausdrücken gehörte neben Verfeinerung, Polizierung, Versittlichung und Milderung auch der Begriff Zivilisation, der als Ab 29 Zu dieser Frage: Langford, The Uses of Eighteenth-Century Politeness. 30 Siehe beispielsweise: Morvan de Bellegarde, Reflexions, S. 53; De Lambert, Avis d’une mère à son fils, S.  197–207; Swift, Dedication; ders., A Tale of  a Tub, S.  120. Vgl. Van der Pot, Bewertung des technischen Fortschritts, Bd.  1, S.  99, 109; Gordon, Dématérialisation, S. ­82–83. 31 Turgot, Second Discours, S. 56. Siehe auch: Ebd., S. 53–54; ders., Esquisse, S. 176. Vgl. Monnier, Usages, S. 534. Das Motiv findet sich bei mehreren späteren Autoren. So schrieb Schiller: »Die Entdeckungen, welche unsre europäischen Seefahrer in fernen Meeren und auf entlegenen Küsten gemacht haben, geben uns ein eben so lehrreiches als unterhaltendes Schauspiel. Sie zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannigfaltigsten Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiednen Alters um einen Erwachsenen herum stehen, und durch ihr Beispiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen und wovon er ausgegangen ist.« Schiller, Universalgeschichte, S. 114. Siehe auch: Goldsmith, Citizen of the World, Bd. 1, S. xx; Herder, Briefe, Bd. 10, S. 177–178. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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wandlung des civilité-Begriffs gebildet wurde.32 Ein Wort, das ursprünglich als Bezeichnung persönlicher Bildung verwendet wurde, wurde allmählich zum Charakterisierungs- und Entwicklungsbegriff der Gesamtkultur generalisiert.33 Seine semantische Nähe zum Geselligkeitsvokabular blieb dabei erhalten. Die Stelle, die allgemein als erster Beleg des modernen Zivilisationsbegriffs verstanden wird, befindet sich im »Ami des femmes, ou Traité de la civilisation« des älteren Mirabeaus (1715–1789): Si je demandais à la plupart en quoi faites-vous consister la civilisation, on me répondrait, la civilisation d’un peuple est l’adoucissement de ses mœurs, l’urbanité, la ­politesse et les connaissances répandues de manière que les bienséances y soient observées et y tiennent lieu de lois de détail […].34

Zivilisation war für den Marquis mit bestimmten Formen der Verhaltensregulierung verknüpft. Sie war fortschreitende adoucissement und entstammte dem Referenzrahmen von politesse, urbanité und bienséances. Die semantische Kraft dieses Deutungsmusters lag nicht zuletzt darin, dass es sowohl positiv als negativ verwendet werden konnte. So freute sich Raynal in seiner »Histoire des deux Indes« über »cet esprit social qui distingue si heureusement notre âge des siecles qui l’ont précédé«.35 Solche Äußerungen fanden sich immer wieder, so dass Zeitgenossen sie allmählich als den typischen Sprachschatz einer stereotypen Figur zu identifizieren lernten. Herder entdeckte in Voltaire, Hume, Robertson und Iselin Beispiele eines Idealtypus des »klaßischen Schöndenkers«, der – in seinen Worten – die »Policirung unsres Jahrhunderts fürs non plus ultra der Menschheit« halte und in allen anderen Zeitaltern nur Barbarei, Aberglauben, Dummheit, Sittenlosigkeit und Geschmacklosigkeit wahrnehme. Im Vergleich zu solchen Gegenwartsschmeichlern hielt sich Herders Optimismus eher in Grenzen. Er fragte sich, ob das »[L]objauchzen« über 32 Vgl. Benrekassa, Civilisation, civilité, S.  222–223. Michael Pflaum nennt als sinn­ verwandt in der deutschen Sprache: Polizierung, Politur, allgemeine Aufklärung, Bildung, Sittenmilderung, Milderung, Verfeinerung, Entbarbarung, Sittigung, Gesittigung, Gesittung, Sittigkeit und Versittlichung. M. Pflaum, Die Kultur-Zivilisations-Antithese, S. 295. 33 Paradigmatisch hat dies François Guizot (1787–1874) ausgedruckt: »L’idée du pro­grès, du développement, me paraît être l’idée fondamentale contenue sous le mot civilisation.« Guizot, Histoire générale, S. 15. 34 Zit. n. Starobinski, Le mot civilisation, S. 20. Der Text ist ein unveröffentlichtes Manuskript, das als Erweiterung seines »Ami des hommes« konzipiert worden war. Mirabeau, L’ami des hommes. Dementsprechend hieß es 1771 in der 6.  Auflage der »Dictionnaire de Trévoux«, die erste, in der sich das Lemma fand: »L’ami des hommes a employé ce mot pour sociabilité.« Dictionnaire de Trévoux, Bd. 2, S. 617, Art. ›Civilisation‹. Vgl. Monnier, Civilisation, S. 113–116. 35 Raynal, Histoire philosophique, Bd.  2, S.  249. Siehe auch: Lucian, Die entlaufnen ­Sclaven, S. 122; Ch. M. Wieland, Gespräche, S. 159; Virey, L’influence des femmes, S. 42. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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das »Licht unsres Jahrhunderts« vor seinen Ambivalenzen nicht vorschnell die Augen verschloss.36 Zivilisation war ein umstrittenes Gut. Mitunter zogen die etwas schwärmerischen Lobpreisungen die negative oder ironische Kritik an ihr gleichsam nach sich. Es häuften sich die parodierenden Kontrastierungen des polierten Äuße­ren des Zeitalters mit seiner inneren Verkommenheit. Schon 1710 hatte der »­Spectator« gewarnt, »that the most polite age is in danger of being the most vicious«.37 Diese Ambivalenz wurde nun immer wieder aufgegriffen. In einem Essay fragte sich Vauvenargues, was es mit der »politesse dont nous nous vantons« eigentlich auf sich habe, wenn sich die Gegenwart der Antike gegenüber doch vor allem durch moralische, ästhetische und sittliche Korruption ­auszeichnete.38 Solche Fragen zeugen von der fortdauernden Bedeutung des partikularistischen Gesellschaftsvokabulars für das zeitgenössische Kulturverständnis. Aber der Einfluss des Geselligkeitsregisters auf die Interpretation der Gesellschaft und ihre Kritik ging über solche generelle Charakterisierungen weit hinaus. Die ›Gesellschaft der Geselligkeit‹ war ein Ganzes, aber sie war – im Gegensatz zum abstrakten Gesellschaftsverständnis der Naturrechts- und Vertrags­theorien  – im zeitgenössischen Verständnis stets räumlich, zeitlich und politisch-sozial orientiert. Sie befand sich irgendwo im Raum und irgendwann in der Zeit, hatte Zentren und Peripherien, Ursprünge, Höhepunkte und Krisen. Sie wurde diskursiv von typischen Praktiken und Sprachformen, Artefakten und Institutionen vertreten. Das heißt: ihr Charakter wurde sichtbar – und angreifbar – in einer Formensprache, deren Elemente als Symptome eines herrschenden Zeitgeistes verstanden wurden. Diese Konnotationsfülle brachte den Gesellschaftsbegriff in die Nähe eines weiteren Begriffs, der ebenfalls zwischen einer generellen und einer partikularistischen Bedeutung gespalten war: Welt. Die »Encyclopédie« erklärte beide Ausdrücke sogar zu Synonymen: »Ils désignent l’un & l’autre la même collection d’hommes; ainsi ceux qui crient contre le monde, crient aussi contre la société.«39 Wie aber société zumeist nicht die ganze Gesellschaft bezeichnete, war le monde keineswegs tout le monde. Der Ausdruck umzirkelte vielmehr das 36 Herder, Auch eine Philosophie, S.  524; Voltaire, Zaïre, S.  19; ders., Miracles, S.  104; Hume, Refinement in the Arts, S. 29; Robertson, History of America, Bd. 2, S. 31; Iselin, Geschichte der Menschheit, Bd. 2, S. 250–251. 37 Steele, No. 6, Wednesday, March 7, 1710–11, S. 26. Vgl. J. Brewer, »The most polite age«. 38 Vauvenargues, Fragment, S. 247. Siehe auch: Brown, Estimate, S. 20–21; La Harpe, Correspondence littéraire, Bd. 5, S. 270. 39 Anon., Mondain. Ebenso: Helvétius, De l’Esprit, Bd. 1, S. 165–168. Vgl. C. Albrecht, Zivilisation, S. 104. Siehe auch: Brandes, Ueber den Einfluß, Bd. 1, S. 101: »Diese Klasse ist die Welt. Die andern Klassen sind so gut wie nicht vorhanden. Diese Klasse heißt die Societät, das große höchste Wort, für das, wie für Salamonis Siegel, sich alle Geister bücken müssen.« © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Feld, auf dem eine bestimmte soziale Gruppe (gens du monde, mondains) sich selbst als solche in Szene setzte. Er betraf ihren spezifischen Habitus (usage du monde) und die zugehörigen Praktiken und Werthaltungen.40 Dieser Habitus wollte gelernt sein, so dass das benötigte Wissen (science du monde) zum Thema einer Fülle von Ratgeber- und Erziehungsliteratur wurde.41 Letztendlich aber konnten solche Schriften – wie sie selbst immer wieder betonten – den prak­ tischen Umgang mit der feinen Gesellschaft (commerce du monde) nicht ersetzen. Die Sozialisierung in der école du monde blieb unerlässlich.42 Die Welt, an der sich die Kritik an der geselligen Gesellschaft orientierte, hatte eine komplexe und umstrittene Geographie, deren Zentren, Peripherien und Grenzziehungen in den jeweiligen nationalen Kontexten unterschiedlich ausgefüllt wurden. Grundsätzlich kreiste sie aber immer wieder um vier paradigmatische Orte: den Hof, die Stadt, die Provinz, das Land. Während in Frankreich der politische Gegensatz zwischen Hof und Stadt seine Brisanz behielt, so lange der Machtkampf zwischen Versailles und den Parlements wütete, hatte die Bedeutung des Hofes in Bezug auf das Gesellschaftsleben schon gegen Ende des 17. Jahrhundert stark abgenommen. War der Hof bis zum Ende des 17. Jahrhunderts noch meistens synonym mit le monde, oder zumindest doch sein Zentrum, so wird er im Laufe des 18. Jahrhunderts mehr und mehr zu seinem Gegen­begriff.43 In der Régence, einer in vieler Hinsicht städtisch orientierten Regierungsperiode, wurde dieser Prozess noch intensiviert. Obwohl die kulturelle ›Herrschaft‹ der Madame de Pompadour den Hof für kurze Zeit noch einmal als Zentrum des guten Geschmacks etablierte, verlor er nach ihrem Tode 1764 endgültig seinen Platz im Zentrum der geselligen Welt. In England, wo der Hof nach der Glorious Revolution stets eine relativ beschränkte Rolle innehatte, wurde der traditionelle Gegensatz zwischen court und country, der die Herausbildung der Tory und Whig-Faktionen im 17. Jahrhundert maßgeblich bestimmt hatte, alsbald durch den zwischen town und country ersetzt. Unter town war hier, obwohl auch andere Städte wie Bath oder York bestrebt waren, mondänen Status zu erreichen, in erster Linie London, noch präziser: ihr West End, zu verstehen. Die ästhetische Komponente dieses 40 Vgl. Lilti, Sociabilité; ders., Le monde des salons. 41 In Henry Fieldings (1707–1754) ›Modern Glossary‹ hieß es sarkastisch: »Knowledge. In general, means Knowledge of the Town; as this is, indeed, the only Kind of Knowledge ever spoken of in the polite World.« Fielding, A modern Glossary, S. 14. Siehe auch: anon., ­Tablettes; J.-F. Bernard, Réflexions morales, S.  194–915; De Moncrif, Essais; Trublet, De l’usage du monde; ders., Sur l’esprit de société. 42 Das Paradox, dass sich diese Gattung in schriftlich-theoretischer Form auf eine Praxis bezog, die nach eigener Aussage nicht theoretisch oder schriftlich vermittelt werden konnte, sondern in Umgang und Austausch mit der Welt eingeübt werden musste, wurde literarisch ›umgangen‹, indem die Dialogform gewählt wurde, so dass eine fiktive Mündlichkeit herstellt wurde. Vgl. Assmann, Höflichkeit, S. 197. 43 Vgl. Gordon, Citizens, S. 101–102. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Begriffs zeigte sich in seinem rhetorischen Antitypus, dem commercial town: eine Bezeichnung welche die sprichwörtliche Hässlichkeit kommerzieller und industrieller Zentren wie Bristol und Manchester andeutete.44 In der deutschen Situation, charakterisiert durch eine große Zahl von Höfen mit beschränktem Territorium und die Abwesenheit von größeren städtischen Zentren, die ein Gesellschaftsleben in großem Stil ermöglicht hätten, blieb der Gegensatz zwischen Hof und Land länger führend. Neben solchen regionalen Zentren und Peripherien gab es eine internationale Topographie der Höflichkeit, deren Zentrum sich nach dem zeitgenössischen Verständnis schon im 17. Jahrhundert von Italien nach Frankreich verlagert hatte. Dass Paris, und in weiterem Sinne Frankreich, das Zentrum der geselligen Welt bildete, stand außer Zweifel. Europa war, wie es Louis-Antoine Caraccioli (1719–1803) im Titel einer populären Satire formulierte, ein »Europe française« und Paris »le modèle des nations étrangères«.45 Grund dafür war, wie es immer wieder hieß, die besondere Geselligkeit des Franzosen. »On dit que l’homme est un Animal sociable«, meinte Montesquieus Perser Rica und fügte ironisch hinzu: »Sur ce pied-là il me paroît que le François est plus homme qu’un autre; c’est l’homme par excellence; car il semble être fait uniquement pour la Société.«46 Solche sozialräumlichen Modelle spielten in der negativen Deutung kultureller Entwicklungen eine wichtige Rolle. Unter sozialer Perspektive erschien die kulturprägende Wirkung des beau monde als Prozess der Ansteckung, in der immer größere Teile der Bevölkerung ihre vernünftige, standesgemäße und frugale Lebensweise der Imitation mondäner Frivolität opferten. In ›peripheren‹ Regionen – in der Provinz, in England oder Deutschland – konnte die Aufnahme modischer Gesellschaftsformen darüber hinaus als Überfremdung gedeutet werden. Der französische Einfluss begrabe, so klagte man, die regionale Eigenheit unter einem heimatlosen Kosmopolitismus. Sinnvolle Traditionen wichen dem Druck der Pariser Mode.47 Das Denken über die Kultur und ihre Geschichte im 18. Jahrhundert, so ist zusammenfassend festzuhalten, fand im doppelten Sinne im Medium des Gesellschaftsvokabulars statt. Erstens wurde das Ganze der menschlichen Lebenswelt zunehmend als Gesellschaft angesprochen und in ihrer Geschichtlichkeit

44 L. E. Klein, Liberty, S.  583, 585; Muchembled, La société policée, S.  193–199; Sweet, ­Topographies. 45 Caraccioli, L’Europe Françoise. Vgl. Schlobach, Der Universalitätsanspruch. 46 Montesquieu, Lettres persanes, Bd. 2, S. 56. Siehe auch: Voltaire, Le siècle de Louis XIV, Bd.  1, S.  5; Saint-Pierre, Études de la nature, Bd.  3, S.  221–222; Kant, Anthropologie, S. ­299–300; Jenisch, Geist und Charakter, Bd. 1, S. 375. Vgl. Fumaroli, La conversation. 47 Siehe beispielsweise: Schubart, Franzosenwitz. Vgl. Ehlich, The Historicity of Politeness, S. 100–103. Siehe auch: Kapitel IV. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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interpretiert.48 Diese generalisierte Ebene des Begriffs evozierte eine Debatte, in der Gesellschafts- und Naturzustand, Soziabilität und Unsoziabilität die Hauptachsen bildeten. Zweitens wurde der Charakter des Zeitalters aber auch mit dem Vokabular der Geselligkeit interpretiert und als solches kritisiert. Debatten über Höflichkeit, Zivilität und Soziabilität waren nicht nur unter dem Gesichtspunkt einer Kritik bestimmter sozialer Formen bedeutsam. Sie wurden, wo diese Formen als symptomatisch für die eigene Gesellschaft im Ganzen und ihre Entwicklung standen, zu Fokuspunkten einer generellen Kulturkritik.

Kulturreflexion im Modus des Geschlechts Die Gesellschaft der Geselligkeit evozierte im zeitgenössischen Verständnis nicht nur soziale und geographische Konnotationen, sie hatte auch einen aus­ geprägten Genderaspekt. Als es im 18.  Jahrhundert üblich wurde, die Geschichte unter dem Gesichtspunkt einer Zivilisierungsperspektive zu deuten, rückte die Frau ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Schon früh im 18. Jahrhundert hatte Montesquieu die Position der Frau in unterschiedlichen Kulturen und Herrschaftssystemen zum Thema einer vergleichenden Kulturreflexion gemacht. In seinen »Lettres persanes« (1721) wies er auf die Unterdrückung der Frau bei den despotischen Persern hin, kritisierte aber ebenso den europäischen Umgang mit dem ›zweiten‹ Geschlecht. In »De l’esprit des loix« widmete er der Frage erneut ein Kapitel, in dem er die unterschiedlichen Rollen der Frau in der Monarchie, dem Despotismus und der Republik erörterte.49 Schon im frühen 18.  Jahrhundert hatten solche Fragen eine zentrale Stellung im Repertoire der Kulturreflexion inne. Im Laufe des Jahrhunderts setzte sich diese Art der genderorientierten Kulturbetrachtung immer stärker durch. Es erschien eine Fülle an Schriften über den Charakter der Frau, ihre Aufgaben und ihre kulturelle Macht, so dass die seit Jahrhunderten geführte querelle des femmes in Frankreich und England spätestens ab den siebziger, in Deutschland ab den neunziger Jahren, in eine neue Phase trat.50 Auch in diese Debatte hielt die Verzeitlichung allmählich Einzug, so dass ihre Fragen nicht mehr nur unter synchroner, sondern zunehmend auch unter diachroner Perspektive verhandelt 48 Z. B. Bowles, Political and Moral State. Siehe auch: ders., Conclusion of the War; ders., A View. 49 Montesquieu, Lettres persanes; ders., Esprit des Loix, Bd. 1, S. 210–211. Vgl. Opitz, Politik und Geselligkeit; Larrère, Women, Republicanism, S. 140–145. 50 Siehe beispielsweise: Thomas, Sur le Charactere des Femmes; Brandes, Ueber die ­Weiber; ders., Das weibliche Geschlecht; Meiners, Geschichte des weiblichen Geschlechts; [Mauvillon], Mann und Weib; Pockels, Charakteristik des weiblichen Geschlechts; A. J. de ­Ségur, Les femmes; Moreau de la Sarthe, Histoire naturelle de la femme. Vgl. Honegger, Die Ordnung der Geschlechter, S. 46–54; O’Brien, Women and Enlightenment, S. 68–109. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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wurden. In den zahlreichen neuen kulturgeschichtlichen Werken gehörte ein Abschnitt zum Wesen der Frau und den Verhältnissen zwischen den Geschlechtern dementsprechend zu den festen Bestandteilen.51 Solche geschichtlichen Narrativen über die Entwicklung der Frau und der Weiblichkeit wurden durch eine Reihe fester Deutungsmuster strukturiert. Allererst glaubte man, den rückständigen bzw. fortgeschrittenen Zustand einer Kultur an der gesellschaftlichen Stellung der Frau ablesen zu können. In barbarischen Zeitaltern habe das Recht des Stärkeren geherrscht, was sich zum Nachteil der Frau ausgewirkt habe.52 Mit der Verfeinerung und Milderung der Sitten und der Etablierung einer immer ausgefeilteren Gesetzesordnung habe sich ihre Position allmählich verbessert. Das Vertrauen in diese Korrelation war so stark, dass von der Position der Frau umgekehrt auch auf den Zivilisierungsgrad einer Gesellschaft geschlossen werden konnte. Der schottische Arzt William Alexander (1742?–1788?), beispielsweise, behauptete in seiner »History of Women« (1779): [W]e shall almost constantly find women among savages condemned to every species of servile, or rather of slavish drudgery; and shall as constantly find them emerging from this state, in the same proportion as we find the men emerging from ignorance and brutality; the rank, therefore, and condition, in which we find women in any country, mark out to us with the greatest precision, the exact point in the scale of civil society, to which the people of such country have arrived.53

Nach dieser Logik erschien die Zivilisierung der Kultur als ihre allmähliche Verweiblichung. Geschlecht wurde zu einer zentralen Kategorie der Kultur­ reflexion. Zivilisation wurde als weiblich verstanden und die Frau bekam eine zivilisierende Funktion zugesprochen. Nebst dem commerce du monde  – und manchmal als Synonym zu ihm  – galt der commerce des femmes als Ausbildungsort für zivilisiertes Benehmen. Bei Klassikern der Erziehungsliteratur wie Charles de Saint-Evremond (1610–1703) oder Jean-Baptiste Morvan de Bellegarde (1648–1734) konnte man nachlesen, dass der Umgang mit Frauen für den jungen Mann eine notwendige Phase seiner Einführung in die science du monde 51 An erster Stelle waren es die schottischen Aufklärer, die das Thema popularisierten. Kames, Sketches, S. 168–219; Robertson, History of America, Bd. 2, S. 97–98; Millar, The Distinction of Ranks. Aber auch in anderen Ländern wurde die Fragestellung aufgenommen. Siehe: [Soubeiran de Scopon], Considérations, S. 99–119; Carus, Ideen, S. 303–330. Vgl. Clery, Feminization Debate, S. 3–4, 177; Cohen, »Manners«, S. 318–319, 328–329. 52 Thomas, Sur le Charactere des Femmes, S. 2–3; Soulavie, Des mœurs, S. 1; [C. Macaulay], Letters on Education, S. 206; A. J. de Ségur, Les femmes, Bd. 1, S. 168–169; Millar, The ­Distinction of Ranks, S. 32–36. Vgl. Tomaselli, The Enlightenment Debate, S. 107, 110–112; V. Nünning, Feminisierung, S. 145–149, 152–158. 53 Alexander, History of Women, S.  151. Siehe auch: [Mauvillon], Mann und Weib, S. 499–500. Vgl. Tomaselli, The Enlightenment Debate, S. 114–120; McIntosh, The Evolution, S. 196–198. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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darstellte.54 Erstens, da Frauen von Natur aus höflicher seien als Männer. Zweitens aber auch wegen der motivierenden Kraft, die vom Streben, der weiblichen Gesellschaft zu gefallen (plaire), und vor allem von der Angst, von ihnen verlacht zu werden (ridicule), ausgehe.55 Dies rufe den amour propre des Mannes wach und zwinge ihn, sein Verhalten zu regulieren.56 Aus demselben Grund könne, wie David Hume meinte, der Umgang mit dem weiblichen Geschlecht sogar eine moralische Wirkung haben. What better school for manners, than the company of virtuous women; where the mutual endeavour to please must communicate itself to their admirers, and where the delicacy of that sex puts every one on his guard, lest he give offence by any breach of decency?57

Als während des 18. Jahrhunderts der Begriff Zivilisation nicht mehr ausschließlich auf die Bildung des Einzelnen, sondern zunehmend auf den Fortschritt der Kultur im Ganzen bezogen wurde, wurde die Bedeutung des weiblichen Umgangs folgerichtig zu einem Katalysator der Geschichte selbst aufgewertet. Es wurde die ausgeprägte Rolle, die Frauen im geselligen Leben Frankreichs spielten, als Ursache seiner kulturellen Vorherrschaft gedeutet. Die französische Nation sei, so schrieb Voltaire in einer Widmung zu seiner »Zaïre« (1736), diej­enige, »qui  a le plus connu la société«. Grund dafür sei der »commerce ­continuel, si vif et si poli, des deux sexes«.58 54 Der Erzieher Le Maître de Claville befürchtete jedoch, die Effektivität dieser Methode könne durch den Verfall der Sitten nachlassen: »J’aurois juré il y a trente ans que le commerce des femmes éterniseroit la politesse des hommes. Autrefois elles nous demandoient des sentimens & de l’esprit: Depuis, moins severes sur le mérite, elles n’exigerent de nous que de la ­politesse; aujourd’hui, assez complaisantes pour s’accomoder au malheur des tems, de la taille, une belle jambe, & un filet de voix leur suffit.« Trotzdem blieb er überzeugt von seinem prinzipiellen Nutzen. »Le renoncement au commerce des femmes fait d’un galant homme un misantrope insupportable aux autres, & sans ressource pour lui-même.« Le Maître de Claville, Traité du vrai mérite, Bd. 1, S. 153–154, 343–344. Siehe auch: Trublet, De la politesse, S. 172; [Soubeiran de Scopon], Considérations, S. 103–104; G. Walker, A Defence, S. 448–450. 55 Morvan de Bellegarde, Reflexions, S. 4; De Moncrif, Essais; Vauvenargues, Introduction, S. 348; De Lambert, Avis d’une mère à son fils, S. 55–56, 196–197; Von Rohr, Ceremoniel-Wissenschafft, S. 6; Trublet, Sur l’esprit de société, S. 179; Blanchard, L’école des mœurs, Bd. 1, S. 212–215; Alexander, History of Women, Bd. 1, S. 480–481, 487–488; Morellet, De la conversation, S. 77–78. 56 Fontenelle, Nouveaux dialogues des morts, Bd. 1, S. 245; Saint-Evremond, Reflexion sur la politesse, S.  260–261; Morvan de Bellegarde, Reflexions, S.  5. Siehe auch: Saint-Germain, Du gouvernement des mœurs, S. 81–91, Kap. VIII: »De l’influence du commerce des femmes sur les Mœurs«. 57 Hume, Rise and Progress, S.  223. Vgl. Clery, Feminization Debate, S.  176, 171 ff. Siehe auch: Virey, L’influence des femmes, S. 16–17; Ferlet, Le bien et le mal; Mongellaz, De l’influence des femmes. 58 Und: »La société dépend des femmes. Tous les peuples qui ont le malheur de les en­ fermer sont insociables.« Zit. n. Clery, Feminization Debate, S. 174. Siehe auch: Thomas, Sur les éloges, Bd. 2, S. 82; De Villers, Considérations, S. 9–10. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Solche positive Bewertungen der Frau als Zivilisierungskraft fanden sich nach der Jahrhundertmitte immer häufiger. Moralisch hochstehende und starke Frauenfiguren wie Richardsons Pamela und Clarissa, Lessings Sara Sampson oder Rousseaus Julie bevölkerten die Bestseller des Zeitalters. Solche Entwicklungen entfalteten sich aber vor dem Hintergrund eines weiterhin misogynen Klimas. Wie die Anglistin Emma Clery betont hat, behielten traditionelle Vorstellungen der Weiblichkeit als chaotische und korrumpierende Kraft das ganze 18.  Jahrhundert hindurch ihre diskursive Attraktivität. In Krisenzeiten wurden sie als Erklärung für die militärische, politische oder moralische Schwäche der Nation reaktiviert. Das neue, positive Frauenbild blieb somit stets ein Gegenentwurf. Es musste sich gegen die vorherrschenden Selbstverständlichkeiten durchsetzten und übernahm dabei oft die argumentativen und semantischen Strukturen seines dominanten Gegners.59 Misogynie gab es zu allen Zeiten. Ihre spezifische Form im 18. Jahrhundert aber hing mit den sozialen, politischen, ökonomischen und diskursiven Strukturen der Zeit zusammen. Wegen ihres Einflusses am Hofe erschien die Frau vielen als Gefahr für die Integrität der Regierung. Der alte Topos des schlechten Ratsherrn, der den gutgläubigen Fürsten zu einer falschen Politik über­ redet, bekam unter Ludwig XV. neue Aktualität, als er mit der – schein­baren oder wirklichen  – Macht der Geliebten des Königs in Verbindung gebracht ­w urde.60 Die zentrale Position von Madame de Pompadour im französischen Gesellschaftsleben forderte Kritiker heraus, die darin die Personifizierung des verderblichen Einflusses des Weiblichen sahen. Solche Vorwürfe der sittlichen und moralischen Korruption wurden noch verschärft, als zwischen 1769 und 1774 die Comtesse du Barry die Gunst des Königs erlangte und »la prostitution sembloit s’être assise sur le trône«.61 Noch Marie Antoinette hatte mit diesem Topos zu kämpfen. Am Vorabend der Revolution war die courtisane zu einem festen Feindbild der zahlreichen Streit- und Spottschriften gegen die Monarchie geworden. Neben den Frauen am Hofe zog auch die salonnière die Aufmerksamkeit der Verweiblichungskritiker auf sich. Dieselben Topoi, die von den Befürwortern des zivilisierenden Einflusses der Frau zu ihren Gunsten aufgeführt wurden, kehrten bei seinen Kritikern in umgekehrter Form wieder. Ihre Regulierung der Konversation durch die Gesetze der Höflichkeit, beispielsweise, wurde als des 59 Clery, Feminization Debate, S. 95 ff. Die Autorin verbindet die allgemeine Frauenfeindlichkeit des 18. Jahrhunderts primär mit der Vorherrschaft des civic humanism. Es gab aber viele andere Diskurstraditionen mit einem ähnlich negativen Frauenbild. Besonders christ­ liche Traditionen – allen voran der Jansenismus – hatten eine starke misogyne ­Tendenz. 60 Shovlin, Political Economy of Virtue, S. 26–38. 61 Virey, L’influence des femmes, S.  59, 51–52. Siehe auch: A. J. de Ségur, Les femmes, Bd. 2, S. 186–187. Vgl. zu den politischen Folgen solcher Schriften: Darnton, The Forbidden Best-Sellers. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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potisches Regime gedeutet, das den freien Gedankenaustausch hindere und die Ausbildung männlicher Tugend unter den falschen Formen einer verweiblichten Höflichkeit zerdrücke.62 Wichtiger noch als solche personengebundenen Feindbilder, war das generelle Gefühl, ein Geist der Weiblichkeit bemächtige sich der Gesellschaft. Gerade in Deutschland und England, wo der Hof nicht die kulturprägende Kraft hatte, die ihm in Frankreich zukam und der Salon als Institution der geselligen Welt viel weniger verbreitet war, fehlte es an Frauen, deren öffentliche Stellung so profiliert war, dass sie zum Fokuspunkt allgemeiner Kritik werden konnten. Wo solche diskursiven Zielpunkte fehlten oder wo solche Frauen zum Anlass einer breiteren Kulturreflexion wurden, rückte ›die Frau‹ oder ›das Weibliche‹ selbst in den Blickpunkt. Der Großteil der Klagen über die Verweiblichung der Kultur befasste sich denn auch nicht mit konkreten Frauen oder ihrem Einfluss. Er ging vielmehr von der allgemeinen Beobachtung aus, dass gewisse Bereiche, die als ›weiblich‹ galten, mit der Zivilisierung der Kultur eine dominantere Stellung eingenommen hatten. Das beste Beispiel dafür war zweifellos das gesellige Leben selbst, das, wie bereits angedeutet, ohnehin eine zentrale Rolle im Selbstverständnis des 18. Jahrhunderts spielte. In der société gäben – so wollte es eine Selbstverständlichkeit der Zeit – die Frauen den Ton an. Sie lenkten die »doux liens de la sociabilité« und seien, nach einem Wort Humes, die »Sovereigns of the Empire of Conversation«.63 Bei der Betrachtung solcher Überlegungen über die neue Kultur der Weiblichkeit fällt auf, dass sie geradezu von Ausdrücken wimmelten, die dem politischen Vokabular entstammten. Die Frage der Weiblichkeit war, in dieser Hinsicht, eine Machtfrage.64 Man suchte Wege, die sanfte, mittelbare, aber des 62 Nach dem Abbé Edmé Ferlet (?–1821) war es der weibliche Einfluss, der das mondäne Gespräch zu seiner nichtssagenden Oberflächlichkeit verurteilte: »De là ces entretiens où l’on voltige d’objets en objets, où l’on badine sur ce qu’il y a de plus frivole, où l’on traite profondément la nouvelle et la mode du moment, où l’on effleure légèrement la politique et la morale, où le persiflage fait faire la raison […] où l’on souffre tout excepté le bon sens.« Ferlet, Le bien et le mal, S. 59–60. Zit. in: Strosetzki, Fachsprachliche Kommunikationsformen, S. 2556. Siehe auch: Rousseau, À Mr. d’Alembert, S. 189–190. Und die Antwort von d’Alembert, in der er Rousseau folgerichtig der Misogynie bezichtigt. D’Alembert, Lettre à M. J. J. Rousseau, S. 125. Vgl. Goodman, The Republic of Letters, S. 54–56; Sonenscher, Sans-Culottes, S. ­155–160. 63 Villemaire, L’andrometrie, S.  82–83; Hume, Of Essay Writing, S.  397. Siehe auch: ­Mercier, Le tableau de Paris, Bd. 1, S. 626; Pockels, Ueber Gesellschaft, Bd. 2, S. 40. Zit. in: ­Lilti, Sociabilité, S. 441. 64 Vgl. Starobinski, Invention of Liberty, S. 55–57. Noch 1835 begann das anonyme Werk »Woman: As she is, and as she should be« mit einem Kapitel unter der Überschrift ›Female Power, Influence, and Privileges‹, in dem es hieß: »The supremacy of the weak over the strong is a very remarkable phenomenon, and is as mischievous as it is remarkable. Whatever nature or law may have denied women, art and secret sway give them all: they are influential to a degree perfectly unguessed, and men are possessed by, not possessors of them.« Anon., Woman. As she is, and as she should be, Bd. 1, S. 1–2. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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halb nicht weniger wirkliche Machtausübung der Frau zum Ausdruck zu bringen.65 So wies der französische Geograph und Naturwissenschaftler Jean-Louis Soulavie (1752–1813) im Jahr 1784 daraufhin, dass die Frau nicht zögere, in geselligen Bereichen »un empire« und »des loix« zu gründen. Ihre Gesetze aber seien »point des loix écrites, mais des loix de bienséance & de convention tacite, qu’on seroit plus coupable d’enfeindre«.66 Der ungreifbare Charakter dieses Einflusses wurde mit der unsichtbaren, schleichenden Einwirkung kultur­prägender Mächte wie Mode, Sitten, Höflichkeit, Geschmack und Ton verknüpft, die als spezifisch weiblich galten.67 Fester Topos in diesen Überlegungen war die Gegenüberstellung von weiblicher und männlicher Herrschaft, wie sie exemplarisch im Theaterstück »Le connétable de Bourbon« (1786) aus der Feder des Generals und Schriftstellers Jacques Antoine Hippolyte Guibert (1743–1790) formuliert wurde. In einem häufig zitierten Gespräch zwischen Adélaide de Foix, der Tochter eines Grafen, und dem Chevalier Bayard hieß es da: ADELAIDE

Par-tout on nous abuse, on nous dit souveraines, Et par-tout sans pouvoir nous sommes dans les chaînes: Les hommes font les loix:

BAYARD

Les femmes font les mœurs. Ah! croyez que c’est là le véritable empire. Quel pouvoir vaut celui qui maîtrise les cœurs, Qui s’en fait obéir parcequ’il les attire!68

Die Gegenüberstellung von männlichen Gesetzen und weiblichen Sitten erhielt sprichwörtlichen Status.69 Verbunden mit einer geschichtlichen Perspektive 65 »Les femmes, en un mot, sont les ames de l’univers. Tous les hommes sont convaincus de la foiblesse de ce sexe, et tous les hommes en sont esclaves. Jamais leur empire n’a été plus despotique qu’il l’est aujourd’hui.« [Saint-Cyr], Tableau du siècle, S. 19. Siehe auch: Ebd., S. 30–31. 66 Soulavie, Des mœurs, S. 3. Siehe auch: anon., On modern Politeness, S. 656; Sénac de Meilhan, Considérations sur les richesses, S. 143–146; Jenisch, Geist und Charakter, Bd. 2, S. 402–403. 67 J.-F. Bernard, Réflexions morales, S. 295–296; Virey, L’influence des femmes, S. 58; De Jouy, Révolutions des modes, S. 266. 68 Guibert, Le connétable de Bourbon, S. 16. 69 Siehe: A. J. de Ségur, Les femmes, [Motto]; L. P. de Ségur, De la mode, S.  37; Virey, L’influence des femmes, S. 16. Auch diejenigen, die der verborgenen Macht der Frau weniger Gewicht zuerkannten, verwendeten dasselbe Deutungsschema. In einer Rezension der französischen Übersetzung von William Alexanders History of Women, hieß es zum genannten Topos: »On a dit, dans une très-mauvaise piece, jouée à Versailles, il y a environ 15 ans: // Les hommes font les loix, les femmes font les mœurs. // Ce vers fut cité & répété, je ne sais pourquoi: il n’est pas bon, comme vers, & la pensée est très-fausse: c’est le gouvernement surtout qui fait les mœurs, & ce sont les hommes qui gouvernent.« In einer weiteren Rezension, die den Spruch fälschlicherweise Alexandre Thomas zuschrieb, wurde vorgeschlagen, den © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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wurde sie zum Brennpunkt der seit der Jahrhundertmitte wieder aufgeflammten Debatte über die kulturelle Macht des weiblichen Prinzips.70 In den Augen vieler Zeitgenossen war im Laufe des 18.  Jahrhunderts eine »neueuropäische Weiber-Cultur« entstanden.71 Während einige wenige dies als positive Entwicklung verstanden, öffnete diese Kulturdeutung auf der anderen Seite die Tür für eine Wiederbelebung unterschiedlicher misogynen Gemeinplätze, die jetzt, da das Weibliche als Gefahr für die Kultur im Ganzen betrachtet wurde, eine weitere Bedeutung zugesprochen bekamen. In diesem Prozess wurden manche Begriffe, die vorher eine vorwiegend positive Konnotation gehabt hatten, ins Negative umgedeutet. Dies geschah beispielsweise mit dem Begriff der Verfeinerung. Dass die Kulturgeschichte einen Prozess der Verfeinerung (refinement, raffine­ment) darstellte, wurde im späten 18. Jahrhundert kaum noch angezweifelt. Die Anfänge der Geschichte seien, wie man es noch bei den zeitgenössischen Wilden wahrnehmen könne, grob und roh. Allmählich sei dann ein Prozess der Milderung und Besänftigung (adoucissement) eingetreten. Dass die raffinierten Sitten der zivilisierten Völker jedoch nicht notwendigerweise auch eine verbesserte Moral gewährleisteten, wurde beispielsweise von einem Indianer in Voltaires »Ingénu« (1767) festgestellt, als dieser seine rohen Landesmänner mit den zivilisierten Franzosen verglich: »On les appelle sauvages; ce sont des gens de bien grossiers; et les hommes de ce pays-ci sont des coquins raffinés«.72 Immer öfter wurde die negative Seite der Verfeinerung betont. Das kam auch in der Verschiebung der zentralen Metaphorik zum Ausdruck. Die Wortgruppe politesse, Politur, politeness73 war auf der Bildebene mit Vorstellungen vom Abschleifen von rohen Ecken und Kanten verbunden. Sie wurde wiederholt mit Hinweisen auf Marmor oder Diamant erklärt. »L’homme, sans la politesse, est un diamant qui n’a point été taillé, & qu’on n’estime pas plus qu’un caillou.«74 Satz leicht abzuändern. Richtiger sei: »les lois sont les mœurs des hommes, et les mœurs des hommes font celles des femmes.« Anon., [Rezension zu:] Histoire des femmes, S. 7–8.; anon., [Rezension zu:] Eulalie, S. 17. 70 Der deutsch-russische Wirtschaftswissenschaftler Heinrich Friedrich von Storch (1766–1835) drückte die Verknüpfung zwischen Machtfrage und Kulturentwicklung wie folgt aus: »Einem gültigen Erfahrungssatz zufolge gewinnen die Sitten um so mehr an Herrschaft und Gewalt, je mehr die Gesetze an Ansehen und Würde verlieren und beyde Ereignisse sind Wirkungen einer Ursache, der steigenden Kultur.« Von Storch, Skizzen, S.  404. Siehe auch: d’Argens, Critique du siécle, Bd. 1, S. 86; De Villers, Considérations, S. 9. 71 Carus, Ideen, S. 326. 72 Voltaire, L’Ingénu, S.  50. Zit. in: Starobinski, Le mot civilisation, S.  25. Siehe auch: ­Diderot, Supplément, S. 267–268. 73 Ebenso das niederländische ›beschaving‹. Vgl. Den Boer, Vergelijkende begripsge­ schiedenis. 74 Caraccioli, L’Europe Françoise, S.  228. Siehe auch: La Bruyère, Les caractères, S. ­280–281; Herder, Auch eine Philosophie, S. 527; Schubart, Allegorische Masken, S. 61; Dunbar, Essays, S. 120. Vgl. Götze, Edelstein oder Stachelschwein, S. 20, 23–24. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Die Entstehung höflicher Umgangsformen wurde dementsprechend mit einem Prozess gegenseitiger Reibung verglichen: »We polish one another, and rub off our Corners and rough Sides by this amicable Collision.«75 Im Laufe des Jahrhunderts aber wurden solche Vorstellungen des Polierens immer öfter durch alternative Bilder der Verfeinerung ersetzt. Die Leitvorstellung des zivilisierten Lebens war jetzt weniger das Unanstößige, Abgeschliffene als das Feine, Raffinierte – aber auch Zerbrechliche, eine Lebensform deren Prinzipien, »like the legs of fashionable furniture, have scarce strengthe enough to support the frame that belongs to them.«76 Selbst wenn Verfeinerung weiterhin eine positive Konnotation haben konnte, sei sie doch, wie es Schiller bei den »zivilisierten Klassen« seiner Zeit wahrnahm, stets der Gefahr ausgesetzt, in »Unnatur« und »Verkehrtheit« umzuschlagen.77 Um die Jahrhundertwende tauchte dafür im Deutschen das Wort ›Überfeinerung‹ auf.78 In Ernst Brandes’ (1758–1810) Überlegungen zum Zeitgeist spielte dieser Ausdruck eine zentrale Rolle. Der Hannoveraner Jurist beschrieb die Französische Revolution als katastrophalen Umschlag in einem Kulturzyklus: Es gibt Zeiten, wo Völker, ein beträchtlicher Theil der Menschheit, aus dem Zustande der Rohheit in den der Verfeinerung übergehen; Zeiten, wo die Verfeinerung, zur Ueberfeinerung geworden, zur Oberherrschaft der eigennützigen und thierischen Treibe, zurückführt.79

Während die Überfeinerung der Kultur die bestialischen Kräfte, die in der Revolution losgebrochen waren, einerseits hervorgerufen habe, habe sie gleichzeitig dazu geführt, dass das überzivilisierte und verweichlichte Europa ihnen nichts entgegenzusetzen vermochte. 75 Shaftesbury, Sensus Communis, S.  8. Siehe auch: d’Argens, Critique du siécle, Bd.  1, S. 74; Coyer, Dissertation, S. 205; Görres, Europa und die Revolution, S. 153–154. 76 [A Blackguard], To the Author [I]. In solchen Metaphern erhielt die Rokoko-Kritik des späten 18. Jahrhunderts eine weitere, kulturelle Signifikanz. 77 Schiller, Ästhetische Erziehung, S.  22–24. Siehe auch: E. Burke, Reflections, S.  127; Coleridge, On the Constitution, S. 50. 78 Siehe beispielsweise: Jenisch, Vergleichung und Würdigung, S.  299, 302–303; ders., Geist und Charakter, Bd. 2, S. 206, 393–398; Cäsar, Pragmatische Darstellung, Bd. 1, S. 264; Bd.  2, S.  296–297. Ein englisches Äquivalent fand sich im oben genannten Kapitel aus »Woman: As she is and as she should be« (§ 7 ›Elevation of Women, Luxury, and general ­Effeminacy, are no true standard of real Civilization‹), wo die Frage gestellt wurde: »is that Effeminacy, which takes its growth from female influence, – is that supine and excessive softness of manners, which is so commonly attended with indulgence of all the natural passions, any worthy proof that we act up to a true and healthy standard of civilization? – Alas! luxurious habits, and all over-wrought and pseudo-civilization (under whatever shape) are but melancholy beacons of a nations’s corruption and decline! » Anon., Woman. As she is, and as she should be, Bd. 1, S. 20. Siehe auch: [Worldly], Luxury of the Times. 79 Brandes, Ueber den Einfluß, Bd. 1, S. 1–2. Siehe auch: Ebd., S. 44. vgl. Stadler, Zeit­ geisterbeschwörung, S. 279–284. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Was Wunder, daß ein solches Geschlecht unterliegen mußte, als es, nach dem Beschlusse des Schicksals, zu dem hartnäckigsten Kampfe zwischen den weichlichen, üppigen, verzärtelten Männerchen, ohne Gott, Vaterland, Gewissen im Herzen, ohne Kraft und Mark in den Knochen und energischer, schlauer Rohheit kam!80

Der Ausdruck Überfeinerung brachte somit die Ambivalenz der Verfeinerung auf den Punkt. Der Höhepunkt der Zivilisation kündigte nicht nur den Rückfall in die Barbarei an, er konnte sich unter seiner polierten Oberfläche selbst als barbarisch entpuppen. Zentral in solchen Erörterungen war die Vorstellung, dass die (weiblich konnotierte) Regulierung der Umgangsformen die Ausbildung männlicher Tugend und Kraft beeinträchtige. Das Aufkommen des zivilisierten Mannes (honnête homme, homme poli, polite gentleman) als Ideal höflicher Umgangsformen ist – nach dem Vorbild Norbert Elias’  – oft als Pazifikation des Adels beschrieben worden.81 Während des 18. Jahrhunderts fand das Leitbild über Hofkreise hinaus immer weitere Verbreitung, bis es als allgemeines Ideal der Oberschichten in Anspruch genommen wurde.82 Die konnotierte Gegenüberstellung des Rohen, Kriegerischen mit dem Artigen, Feinen, Höflichen blieb dabei bestehen. Auch wenn die neuen Eliten zum größten Teil keine Vorfahren hatten, die als Kriegerstand dem König gedient hatten, konnten sie sich doch eine republikanische Vorzeit einbilden, in der jeder Mann ein Schwert trug und seine eigene Ehre, aber vor allem die seiner Nation verteidigen konnte. Aber wo waren sie jetzt, diese mächtigen Krieger? Wer um 1760 in der ge­ selligen Welt um sich schaute, traf da keine stolzen, wackeren Waffenträger an, sondern nur verzärtelte, ja »lendenlahme« Weichlinge.83 So zumindest empfanden es viele, die sich im »Kastraten-Jahrhundert« nicht heimisch fühlten.84 Speziell die Jugend der Elite, die den Moden der zivilisierten Welt mit größter Leidenschaft zu folgen schien, bot ihnen einen kümmerlichen Anblick. So hieß es 1753 in einem Brief an Adam Fitz-Adam, den Herausgeber von The World: The fair youths of a less gentle deportment, aim at least at what they imagine to be manly: but these dairy maids in breeches leave their sex behind them at their first setting out, and give up the only qualities which they could possibly be admired for.85

80 Brandes, Ueber den Einfluß, Bd. 1, S. 263–264. Siehe auch: ders., Über den Zeitgeist, S. 178; Carus, Ideen, S. 326–329. 81 Vgl. Elias, Die höfische Gesellschaft. 82 Vgl. Scheffers, Höfische Konvention; Höfer und Reichardt, Honnête homme. 83 Zimmermann, Einsamkeit, Bd. 3, S. 473, 496. 84 Schiller, Die Räuber, S. 19. Siehe auch: Von Archenholz, Sittenaenderungen, S. 70; ­Sailer, Vernunftlehre, Bd. 2, S. 53. 85 [S. H.], Thursday, February the 7th, S. 351. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Der weibliche Umgang habe die Männer ihrer Männlichkeit beraubt und gefährde nun auch ihre Gesundheit.86 Rousseau hatte die Vorstellung, dass der robuste, kräftige und gesunde homme naturel im Naturzustand mit seiner Einführung in die Gesellschaft immer schwächer und kränklicher geworden sei, in seinem zweiten Diskurs popularisiert.87 Was zunächst vor allem eine geschichtsphilosophische These gewesen war, wuchs in den nächsten Jahrzehnten zu einer seriösen Hypothese für Anthropologen und Mediziner aus.88 War der moderne Mensch wirklich schwächer als seine Vorfahren, die außerhalb der Gesellschaft gelebt hatten? Historiographie und Reiseberichte schienen dies zu bestätigen.89 Dem Zeitkritiker bot sich, so meinte Saint-Germain, kein erfreulicher Anblick: »Il verra la race humaine perdant en force & en vigueur bien au delà de ce qu’elle a pu gagner en adresse & en industrie.« Vor allem die Menge an vorher unbekannten, teilweise auch modisch bedingten Krankheiten machte ihm – und vielen anderen – große Sorgen.90 Aktuell wurden solche Überlegungen, wenn das jeweilige Vaterland in einen Krieg verwickelt wurde. Am Anfang des Siebenjährigen Krieges, als die Fran­ zosen die Oberhand zu gewinnen schienen, erschien aus der Feder des englischen Geistlichen John Brown (1715–1766) »An Estimate of the Manners and Principles of the Times« (1757). Bis zum Überdruss wiederholte er seine zentrale These: »that the ruling Character of the present Times is that of ›a vain, luxurious and selfish effeminacy.‹« Dieser verweiblichte Charakter sei in erster Linie durch eine unpassende Imitation französischer Sitten verursacht und gefährde nun die »national spirit of defence« sowie die typisch englische »spirit of liberty«.91 86 Umgekehrt seien die Frauen durch ihre Einführung in die ›Gesellschaft‹ immer männlicher geworden. Nach seiner Auseinandersetzung mit den verweiblichten Männern seines Zeitalters stellte »S. H.« pseudo-erleichtert fest: »the eye of a philosopher can still trace out ­something to counterbalance this amazing degeneracy. […] However delicate our men are become, we may still hope that the rising generation will not be totally enervated. The assured look, the exalted voice, and theatrical step of our modern females, pretty sufficiently convince us that there is something manly still left amongst us.« Ebd., S. 351–352. Siehe auch: Dennis, Publick Spirit, S. 15. 87 Rousseau, Discours sur l’inégalité, S. 19–26. Dagegen: [Mauvillon], Mann und Weib, S. 500–501. 88 Porter, Commerce and Disease. 89 Vgl. beispielsweise: E. C. Wieland, Versuch über das Genie, S.  149; Diderot, Supplément, S. 205–206. 90 Saint-Germain, Du gouvernement des mœurs, S. 44; Caraccioli, L’Europe Françoise, S. 331; Von Archenholz, Sittenaenderungen, S. 71; Nachtigal, Ueber den Wunsch, S. 147, 162; McKittrick, Fashionable Diseases; Jung-Stilling, Das Heimweh, Bd.  4, S.  366. Vgl. Roelcke, Krankheit und Kulturkritik, S. 30–44; Quinlan, The Great Nation in Decline. 91 Brown, Estimate, S.  17–18, 29, 65–66, 88, 158. Im nächsten Jahr erschien eine Antwort von der Hand des Parlamentsabgeordneten Soame Jenyns (1704–1787). [Jenyns], Some Doubts, S.  17–18. Noch im selben Jahr erschien dann wieder eine Antwort von Brown an © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Als die Revolution kam und etwas später die napoleonischen Heere durch Europa zogen, waren es die Deutschen, die ihre Niederlagen der Entmännlichung ihres Volkes zuschrieben. Wie die Engländer den Unterschied ihrer Jugend mit dem Ancient Briton beklagt hatten, so versuchten jetzt die Deutschen den Unterschied zwischen ihren wackeren Vorfahren und deren erschlafften Nachkommen zu erklären. Der Arnstädter Regierungs- und Hofrat Johann Friedrich Ludwig Volkmann (1758–1815) musste 1793 in einem Artikel im »Neuen Teutschen Merkur« mit dem sprechenden Titel ›Vergleichung der alten Teutschen mit den Neuern und Ursachen ihres Unterschieds‹ enttäuscht feststellen: [D]a, wo sonst der alte Teutsche in majestätischer Größe einhergieng, oder an der Mähne des Rosses dem Reuter gleich lief, dessen Feuerblick Männer anderer Nazionen nicht aushalten konnten, treiben sich Kleinherrchen herum, deren erschlaffte Nerven jede Anstrengung scheuten, die ohne Parasol sich nicht in die Sonne wagten, und die so zärtlich waren, daß sie ein bellender Hund erschrecken konnte.92

Als 1806 das preußische Heer bei Jena von Napoleon besiegt und das Römische Reich Deutscher Nation aufgelöst wurde, entbrannte die Debatte über die tiefer liegenden Gründe dieser Katastrophe erneut. Kulturelle Ursachen wurden für den »entflohenen männlichen Geist«, die »National-Abspannung« und »gänzlichen Erschlaffung« verantwortlich gemacht und als Erklärung für den deutschen Untergang herangezogen.93 In Frankreich dagegen wurde der Problematik der Verweiblichung mit der Revolution zumindest vorläufig ein Ende gesetzt. Sie galt  – auch unter ihren Gegnern  – als eminent männlich. Die Republikaner begriffen sich als Wie­Jenyns: Brown, An Explanatory Defence, S. 12. Siehe auch: J. Gordon, A New Estimate; Hume, Refinement in the Arts, S. 33–34. Vgl. L. E. Klein, Liberty; Brunstrom, »Be Male and Female Still », S.  37–46; Hampsher-Monk, From Virtue to Politeness; Clery, Feminization Debate, S. 171–172; Sonenscher, Sans-Culottes, S. 179–181. 92 Volkmann, Vergleichung, S.  271–272. Es handelte sich um eine Vorpublikation aus: ders., Auguste. Im nächsten Jahr erschienen zwei Antworten. Wie im ersten Kapitel erwähnt, nahm Wilhelm Leonhard Kriege den Artikel als Ausgangspunkt seiner systematischen Widerlegung der Kulturkritik. Friedrich David Gräter (1768–1830), Rektor im Schwäbischen Hall, beschränkte sich auf die pseudo-chauvinistische Bemerkung: »In einigen Gegenden Teutschlands vielleicht, wo große Residenzen sind, wo sich die ausschweifende Lebensart einiger Höfe auch auf die mittlere und niedre Volksklasse verbreitet hat, vielleicht in dem Vaterlande des Verfassers, mag seine Schilderung halb wahr seyn; aber nicht so in meinem glücklichen Vaterlande, in Westfalen«. Gräter, Vertheidigung meiner Landsleute, S. 214–215; Kriege, Ueber die Klage. Siehe auch: [Wigand], Fragment eines Gespräches; Ewald, Wie nützt man am besten, S. 83–86. 93 Die Zitate entstammen einer unter dem Kürzel v. K. (wahrscheinlich: der Histo­ riker Friedrich von Kerz (1763–1849)) erschienenen Aufsatzserie: [v.K.], Geist der Völker [I], S. ­11–12; ders., Geist der Völker [II], S. 249. Siehe auch: Brandes, Über den Zeitgeist, S. 144, 178; ders., Ueber den Einfluß, Bd. 1, S. 263–264. Dagegen: Von Archenholz, Ist der Charakter der Deutschen ausgeartet? © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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derhersteller der ursprünglichen, virilen Kraft politischer Repräsentation und Vernichter des verweiblichten Maskenspiels des Ancien Régime.94 Der Anthro­ pologe Julien Joseph Virey (1775–1846) beendete seine 1810 veröffentlichte Geschichte des weiblichen Einflusses auf den literarischen und künstlichen Geschmack denn auch mit der Revolution, da er meinte: »dans ces bouleversemens, l’influence des femmes a été absorbée par celle des hommes.« Die neue Zeit habe alle Kennzeichen eines männlichen Regimes: ein strenges Kostüm, herbe Umgangsformen, eine grobe Ungehobeltheit, kurz: »une rudesse soldatesque substituée aux raffinemens de la politesse«.95

2. Schein als Prinzip des geselligen Lebens Das Problem der Formalität Die Gesellschaft der Geselligkeit gründete auf einer zum größten Teil  im­ pliziten, aber deswegen nicht weniger strengen Regulierung des sozialen Umgangs. Ihre Umgangsformen bildeten die Struktur der mondänen Welt. Sie regelten die Formen ihrer In- und Exklusion und brachten ihre Selbst- und Fremdwahrnehmungen performativ zum Ausdruck. In ihren Sprachformen, in Kostüm und Kosmetik, in Körpersprache, Konsum und Praktiken stellt sich eine Welt, le grand monde, dar. Nach der berühmten Formel Elias’ kann die Entstehung dieser höflich-städtischen Gesellschaftsform als »Prozeß der Zivilisation« beschrieben werden. Er betonte den formalisierten Charakter der Verhaltenskodizes der modernen Gesellschaftsform und sah darin einen wesentlichen Unterschied zu ihrem vor­ modernen Pendant. Gegen eine solche Unterscheidung ist der Einwand erhoben worden, dass letztendlich jedes soziale Gefüge eine formalisierte Struktur aufweise.96 Ohne reproduzierbare Verhaltensmuster könne keine Gesellschaft bestehen. Der Einwand ist berechtigt. Dennoch kann die Frage gestellt werden, ob die Gesellschaft der Geselligkeit nicht noch in einem weiteren Sinne eine ›formalisierte‹ Gesellschaftsform genannt werden kann. Das gesellige Leben des 17. und 18. Jahrhunderts zeichnete sich durch einen hohen Reflexivitätsgrad aus. Die Auseinandersetzungen um Zivilität und 94 Siehe beispielsweise: Chemin-Dupontès, Civilité républicaine. Vgl. Outram, Le langage mâle de la vertu, S.  124–133; Baxmann, Civilité républicaine, S.  223; Gurtwirth, Citoyens, ­Citoyennes. 95 Virey, L’influence des femmes, S.  65–66. Siehe auch: Von Bonstetten, L’homme du midi, S. 204–205. 96 Diese Kritik an Elias’ Zivilisierungstheorie hat monumentale Form angenommen in: Duerr, Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Vgl. zur Einführung: Linklater und Mennell, Norbert Elias. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Höflichkeit brachten einen Wissenskomplex zum Ausdruck, der sich auf die Formen menschlichen Umgangs bezog. Die Allgegenwart solcher ›Aussagen zweiter Ordnung‹ in der Öffentlichkeit des Ancien Régime prägten auch die beschriebenen Praktiken selbst. Im Bewusstsein ihres formalen Charakters wurden alltägliche Handlungen zu Kommunikationsformen.97 Sie wurden zu bewussten, performativen Zeichensetzungen und erfolgten von vornherein unter Berücksichtigung ihrer Rezeption. Dieses Bewusstsein des kommunikativen Gehalts sozialer Formen löste wiederum weitere diskursive Metareflexionen aus. Im ständigen Hin und Her zwischen Praktiken und Diskursen bildete sich so eine Gesellschaft, die sich ihrer eigenen Formsprache und deren Wandels sehr bewusst war. In diesem Kontext entstand im 17. Jahrhundert eine Debatte um das Problem der Formalität, welche die gesellige Gesellschaft stets begleiten würde. Wie Maurice Magendie 1925 in einer einflussreichen Monographie nachgezeichnet hat, orientierte sie sich primär an der Opposition zwischen Ästhetik und Moral, äußerlicher Form und innerlicher Gesinnung.98 Das Leitbild der honnêteté schrieb eine eher ästhetische als moralische Verhaltensregulierung vor. Damit war – so begriff es schon die zeitgenössische Reflexion – eine Kultur ent­standen, in der die Form die Oberhand über den Inhalt gewonnen habe. Diese Erfahrung wurde zum Anlass moralistischer Verdächtigungen und kritischer Entlarvungen.99 Es ist auffällig, dass die kritische Besinnung auf das Verhältnis zwischen Moral und Form weniger in einem moralischen als in einem epistemologischen Vokabular artikuliert wurde. Die unaufrichtige Höflichkeit war, wenn man die Sprache ihrer Kritiker ernst nimmt, nicht als solche moralisch verwerflich. Sie wurde dies erst, wo sie vorgab, eine wahrhafte Repräsentation der Seele zu sein. Wo Praktiken als kommunikative Formen – das heißt: als Zeichen – aufgefasst wurden, konnte die Frage nach dem Verhältnis zwischen Signi­f ikat und ­Signifikant nicht ausbleiben. Die Höflichkeitskritik im Ancien Régime war dementsprechend von einem Vokabular der Repräsentation geprägt. »La politesse est une imitation de l’honnêteté & qui présente l’homme au dehors, tel qu’il devroit être au dedans«, schrieb die Marquise de Lambert (1647–1733).100 Wie 97 Charles Duclos verknüpfte die fortschreitende Reflexivität des Handelns unmittelbar mit dem Verfall der Sitten: »L’Etat le plus heureux serait celui où la vertu ne seroit pas un mérite. Quand elle commence à se faire remarquer, les mœurs sont déjà altérées; & si elle devient ridicule, c’est le dernier degré de la corruption.« Duclos, Considérations, S. 13. Vgl. Starobinski, Le mot civilisation, S. 28–29. 98 Magendie, La politesse mondaine. 99 Bryson, Courtesy to Civility, S. 193–242. 100 De Lambert, Avis d’une mère à son fils, S. 55. Siehe auch: Alletz, Manuel de l’homme du monde, Art. ›Politesse‹, S. 502. Oft wurde auch der voltairschen Vierzeiler zitiert: »La politesse est à l’esprit / Ce que la grâce est au visage; / De la bonté du cœur elle est la douce image; /  Et c’est la bonté qu’on chérit.« Voltaire, Stances ou Quatrains, S. 230. Vgl. Mah, Epistemology of the Sentence, S. 69–72; E. Bury, Littérature et politesse, S. 129–142. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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im Konditional ausgedrückt, sei die Entsprechung von Außen und Innen ihrer Ansicht nach nicht ohne Weiteres gesichert. Mit dem Zeichencharakter der Handlung eröffne sich auch die Möglichkeit der Ver­stellung. Höflichkeit sei also »l’art de mettre en œuvre les manières extérieures qui n’assurent rien pour le fond«.101 Die Debatte im 17.  und frühen 18.  Jahrhundert kreiste um die problema­ tische Korrespondenz zwischen Gesittung und Gesinnung. Das Ideal war die ge­lungene Repräsentation, das Schreckensbild eine Handlung, die nur noch äußerlicher Schein war.102 Zum Ausdruck kam diese Problemkonstellation im charakteristischen Satztypus der moralistischen Literatur. Immer wieder wurde enttäuscht festgestellt, dass irgendein X ›eigentlich‹ nur Y war (n’est que, is nothing but). Paradigmatisch für solche Sätze war das Motto, das François de La Rochefoucauld (1613–1680) seiner berühmten Aphorismensammlung voranstellte: »Nos vertus ne sont le plus souvent que des vices déguisez.«103 Die Kritik richtete sich auf die Tatsache, dass angeblich tugendhafte Handlungen sich nur allzu oft als bloße Imitation erwiesen. Die Repräsentation verweise nicht länger auf eine Realität, sondern trete an deren Stelle. Leit­vokabel solcher Kritik war ›Hypokrisie‹.104 Der historiographe de France Charles ­Pinot Duclos (1704–1772) sollte dieselbe Problematik fast 100 Jahre nach La Rochefoucauld noch einmal auf den Punkt bringen: »La politesse est l’expression ou l’imitation des vertus sociales; c’en est l’expression, si elle est vraie, et l’imitation, si elle est fausse«.105 Zentrale Metaphern in diesem Zusammenhang 101 De Lambert, Avis d’une mère à son fils, S. 55. 102 Rousseau, Dernière réponse, S.  68–69; Trublet, De l’usage du monde, S.  211; Bernis, Sur les mœurs, S. 28; Mendelssohn, Was heißt aufklären?, S. 195; Garve, Ueber die Moden, S. ­161–163. 103 Und: »Ce que le monde nomme vertus, n’est d’ordinaire qu’une fantosme formé par nos passions, à qui on donne un nom honneste pour faire impunement ce qu’on veut.« La ­Rochefoucauld, Reflexions, S.  1, 64. Vgl. Roth, Gesellschaft der Honnêtes gens. Siehe für weitere Beispiele: [Mr. Bavius], Of true politeness, S.  191; anon., [Rezension zu:] Essai sur l’Education de la Noblesse; S. Johnson, 23 February, 1751; Brown, Estimate, S. 20. 104 Morvan de Bellegarde, Reflexions, S. 6–7; Godwin, Enquiry, Bd. 1, S. 270; Carmontelle, Le médecin gourmand, S. xcviij: »Il n’est ni commerce ni société dans le monde, qui puisse subsister longtemps sans la bonté, ou du moins sans quelque chose qui lui ressemble, et qui en tienne lieu. Cela est si vrai, que les hommes ont été obligés d’inventer une espèce de bonté artificielle qu’ils ont appelé politesse, et de la réduire en art; mais sans un fond de bonté réelle, la politesse n’est qu’une hypocrisie de convention.« Vgl. zu diesem Begriff: Bos, Reading the Soul, S. 172–183. 105 Duclos, Considérations, S.  52–53, 65. Die bedeutsamste theatralische Inszenierung dieser Problematik war zweifellos Molières »Tartuffe ou L’Imposteur« (1664). Die Thematik blieb im ganzen 18.  Jahrhundert und darüber hinaus fester Bestandteil der Spielpläne. Im Vorwort seines am 8. April 1820 auf die Bühne gebrachten »L’homme poli, ou La fausse bienveillance« zitierte Pierre-François Camus Merville (1785–1853) die inzwischen berühmt gewordene Stelle Duclos’ und erklärte seine Absicht, »de regarder la politesse comme un masque«. Merville, L’homme poli, S. ix–x. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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waren dementsprechend die Maske und der Schleier.106 An sich ein harm­loses Spiel, sei die Maskerade verwerflich, wenn sie das wahre Gesicht des Lasters verhüllte.107 Dann sei der Moralist gefragt, seine entschleiernde oder demaskierende Kunst einzusetzen.108 Der bal masqué wurde allmählich zum Sinnbild der geselligen Gesellschaft.109 In seinem Theaterstück »Der Neue Menoza« (1774) ließ Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792) den ›cumbanischen‹ Prinzen Tandi im Gespräch mit seinem Gastgeber, ›Herrn von Biederling‹, das Problem noch einmal artikulieren: »[W]as ihr Tugend nennt, ist Schminke, womit ihr Brutalität bestreicht. Ihr seid wunderschöne Masken mit Lastern und Niederträchtigkeiten aus­gestopft, wie ein Fuchsbalg mit Heu.«110 Es ist bezeichnend, dass der kultivierte Mensch sich dieser Formulierung zufolge nicht mehr nur der Maske bediente; er war vielmehr selbst zu einer geworden. Die Maske erschien nicht mehr als die Verstellung des Einzelnen, sondern als Prinzip der zivilisierten Kultur im Ganzen, wovon sich der Cumbaner immer mehr enttäuscht zeigte. Bevor wir diesen Schritt weiterverfolgen, bedarf es, um die historischen Parameter dieser Pro­ blematik zu verstehen, zunächst eines Schritts zurück. Das Kernproblem der geselligen Gesellschaft war semiotisch. Die Umgangsformen, welche die moralische Seelenverfassung zum Ausdruck bringen sollten, täten dies nicht (oder genauer: nicht mehr).111 Die offenherzige Kommunikation sei dadurch chronisch gestört, und es bedürfe einer ständigen Entzifferungsleistung, um sie auf ihren Gehalt zu prüfen. Diese Problematik wurde im Vokabular von Repräsentation und Imitation, Sein und Schein, Wahrheit und Verstellung, Inhalt und Form zur Sprache gebracht.112 Um diese auf den ersten Blick befremdliche Tatsache, dass eine im Ansatz moralische Debatte als episte­ 106 Auf dem Titelbild der Erstauflage von La Rochefoucaulds »Maximes« (1665) war eine spöttische Engelsgestalt abgebildet – »l’Amour de la vérité« genannt – die eine Büste Senecas demaskierte. Hinter seiner äußerlichen Gleichmut verbarg sich eine traurige, betrübte Wahrheit. Das Bild ist abgedruckt in: La Rochefoucauld, Maximes. Vgl. Chariatte, Le frontispice des Réflexions. 107 Anon., Letters of  a Frenchman, S.  151; Villemaire, L’andrometrie, S.  26; Schubart, Allego­rische Masken; Heinzmann, Die Pest der deutschen Literatur, S. 8. In religiösen Kontexten wurde stets auf den Unterschied zwischen Politesse und christlicher Tugend bestanden. Siehe: Du Préaux, Le Chrétien parfait honnête homme; Roissard, La consolation, S. 148. 108 In »Tartuffe« war die Forderung formuliert: »Démêlez la vertu d’avec ses apparances«. Zit. in: anon., Préoccupation. Siehe auch: Béliard, Lettres critiques, S. 41; Levesque, L’homme moral, S. 251–252; Marmontel, Éléments de littérature, S. 497. Vgl. Chartier, Civilité, S. 21–25. 109 Vauvenargues, Introduction, S. 348. 110 Lenz, Der neue Menoza, S. 36. Siehe auch: Clément, Petit dictionnaire, Bd. 2, S. 79–80. 111 Morvan de Bellegarde, Reflexions, S. 1–2, 7–8. 112 In der Entwicklung der Gesellschaft, schrieb Rousseau: »[ê]tre et paraître devinrent deux choses tout à fait différentes; et de cette distinction sortirent le faste imposant, la ruse trompeuse, et tous les vices qui en sont le cortége.« Rousseau, Discours sur l’inégalité, S. 127. Vgl. Spaemann, Von der Polis zur Natur, S. 586. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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mologische geführt wurde, zu verstehen, ist es notwendig, sie weiter zurückzuverfolgen. Die Fundamente dieser Debatte waren schon im 16. Jahrhundert gelegt worden. 1528 und 1530 erschienen zwei Werke, die beide eine enorme Verbreitung fanden und für die Höflichkeitsdebatten im 17. und 18. Jahrhundert para­ digmatisch wurden. Zuletzt wurde Erasmus’ (1465?–1536) »De civilitate morum puerilium libellus« publiziert.113 Das kleine Traktat enthielt Verhaltensregeln für Körper, Kleidung und vieles andere und entstammte der aus der Antike stammenden Tradition der Benimmbücher.114 Neu war, dass sein Zivilitäts­ konzept sich nicht auf das Verhalten am Hofe beschränkte. Es grenzte sich von den speziellen Verhaltenskodizes einzelner Gruppen gerade ab und zielte auf eine all­gemeingültige Soziabilität. Erasmus’ Ziel war die allgemeine Verbreitung transparenter Umgangsformen und die Ermöglichung offenherziger Kommunikation in der ganzen Gesellschaft. Verhaltensregulierung bedeutete für ihn an erster Stelle die Sicherstellung der Repräsentation: Das Handeln solle die Moral zum Ausdruck bringen. Dass die Schrift bis weit in das 19. Jahrhundert hinein einen festen Platz im Schulunterricht einnahm, wo sie neben dem Benimm- auch dem Schreibunterricht als Vorlage diente, sicherte die dauernde Anwesenheit solcher Vorstellungen von Zivilität als transparenter Zeichensprache des Herzens.115 Zwei Jahre vorher war ein Werk erschienen, das fast ebenso erfolgreich war, aber eine völlig konträre These vertrat. Baldassare Castigliones (1478–1529) »Il Libro del Cortegiano« war ausdrücklich keine pädagogische Lehrschrift. Das Buch war in einem betont lässigen und eleganten Stil geschrieben und hatte die Form eines Dialogs zwischen zwei adeligen Freunden. Es handelte sich um eine Inszenierung vielmehr denn eine Anleitung. Grund dafür war Castigliones Ansicht über die Art des zu vermittelnden Wissens. Die Verhaltensmuster, die er zu artikulieren versuche, seien kein erwerbbares Regelwissen, sondern die natürliche Ausdrucksweise einer geborenen Elite. Dass es sich nicht, wie in den Zivilitäts-Traktaten, um erlernbares Können handelte, bestimmte nicht nur die Form seiner Schrift, sondern solle auch in der Praxis selbst zum Ausdruck kommen. Sie solle sich durch eine ungezwungene Leichtigkeit des Ausdrucks, die er als lässige Anmut (sprezzatura) bezeichnete, auszeichnen.116 113 Erasmus, De civilitate. Vgl. Chartier, Civilité, S. 13–18. 114 Vgl. Bryson, Courtesy to Civility, S. 26–42; Und aus begriffsgeschichtlicher Perspektive: Ebd., S. 43–74; Pons, »civilité«, S. 19–32. 115 Seit der französischen Übersetzung von Jean Louveau (Lyon 1558) wurde die Schrift immer wieder in einer vom Buchdrucker Robert Granjon entworfenen Schriftart gesetzt. Diese wurde für die (auch als Schreibvorlage dienenden) Benimmbücher maßgebend und hieß entsprechend caractères de civilité. Revel, Usages de la civilité, S. 171ff; Wesseling, Erasmus, S. 120–127. 116 Revel, Usages de la civilité, S. 192–197; Casale, Ethik der Konversation, S. 472–477. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Was Norbert Elias als fortschreitende Formalisierung des Hofes beschrieben hat, wurde in den Selbstdarstellungen der zeitgenössischen Elite also um­gekehrt als Deformalisierung, Natürlichkeit und Freiheit gedeutet.117 Die dignité des Adeligen solle sich in seinem air naturel zeigen, den der eifrig nachahmende Aufsteiger nie erreichen könne. Diese unformale Form fungiert als Prinzip sozialer Differenzierung. Beschrieben wurde sie im Vokabular des Unsag­baren, als undefinierbare Qualität des »je ne sçai quoi de libre ou d’aisé«.118 Insofern es sich überhaupt noch um eine Kunst handele, solle sie sich verbergen. »Le vrai art est celui qui ne semble être art, et doit-on surtout employer tout soin à le cacher, parce que, s’il est une fois découvert, il ôte entièrement le crédit et fait que l’homme est peu estimé.«119 Nach dieser Logik sei es die Entlarvung (découverte) mehr als alles andere, die der Hofmann zu befürchten habe. Sie bedeute nicht nur die Entdeckung seiner wirklichen Absichten unter der Verstellung, sondern vor allem das Misslingen seiner Selbstinszenierung. Der Existenz des Höflings sei wesentlich im Scheinen – oder genauer: im Aufscheinen – als eine Person mit crédit gelegen. Der Zusammenbruch dieser Performativität  – wenn seine ›natürliche‹ Ausdrucksweise als gelernte Kunst bloßgestellt wurde – sei also mehr als nur ein taktischer Verlust. Er beeinträchtige seine soziale Realität.120 Die genannten Werke können als idealtypische Parameter der frühneuzeit­ lichen Debatte um die Formalität der Geselligkeit gelten.121 Im Grunde stehen sie für zwei konkurrierende Zeichenmodelle. Das Zeichen als Verweisendes muss in dieser Funktion selbst verschwinden. Insofern es die Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist dies als Beeinträchtigung seiner kommunikativen Funktion zu betrachten: Das Zeichen wird zum Schein, der die Wahrheit verhüllt. Im konkurrierenden Modell ist die Zeichensetzung keine Repräsentation oder Kommunikation einer schon bestehenden Wirklichkeit, sondern die originäre Schöpfung einer neuen Realität. Ihr Schein ist somit keine Verstellung, sondern das Aufscheinen einer neuen Wahrheit, die ohne die Zeichensetzung als performative Präsentierung gar nicht gegeben wäre. 117 Entsprechend wurde eine übertriebene, allzu förmliche Höflichkeit oft als typisch für den ›despotisme orientale‹ angesehen. Morvan de Bellegarde, Reflexions, S. 12, 58–59. Dazu: L. E. Klein, Politeness, S. 878–880; P. Burke, Langages de la politesse. 118 De Méré, Conversations, S.  188. Siehe auch: [Courtin], Nouveau traité, S.  2–3. Und: [Mr. Bavius], Of true politeness, S. 191: »For this Behaviour comprehends not only a Faculty of discoursing readily and properly among all Sorts of Persons; but likewise a graceful and easy Carriage, not to be learn’d by Rules of Art, but to be formed on the best Models in a great Variety of Company. ’Tis this Gracefulness which distinguishes the Air of a Gentleman from that of a Dancing-Master.« Zur Begriffsgeschichte des Unsagbaren: Köhler, ›Je ne sais quoi‹, S. 233, 259–261. 119 Zit. nach der französischen Übersetzung in: Revel, Usages de la civilité, S. 194. 120 Vgl. Lethen und Sommerfeld, Schein zivilisiert, S. 155–157; Asch, Der Höfling, S. ­186–190. 121 Vgl. zu den mittelalterlichen Wurzeln dieser Debatte: Schnell, Curialitas, S. 104–137. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Die Germanistin Ursula Geitner hat nachgewiesen, dass die Hochphase der von Castiglione inspirierten ›privatpolitischen Klugheitslehren‹ im frühen 18. Jahrhundert allmählich zu Ende ging. Der Cortegiano und seine Nach­ fahren hatten die Kunst, sich selbst geschickt zur Schau zu stellen und gleichzeitig den Schein anderer zu durchschauen, als unabdingbare politische Technik gewertet. Von den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts an gewann die mora­ listische Tradition jedoch die Oberhand. In den moralischen Wochenschriften der Zeit und zahllosen Traktaten wurden die Tugenden der Offenherzigkeit und Aufrichtigkeit stark aufgewertet. Aus dieser Perspektive erschienen die pragmatisch-politischen Argumente der höfischen Verstellkunst als Laster und Falschheit.122 Dadurch rückte die Aufgabe, die Formen der Gesellschaft mit der Moral in Einklang zu bringen, erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dazu bedurfte es zunächst einer Trennung von tugendhaften und lasterhaften Ver­ haltensmustern, so dass die Differenzierung zwischen ›wahrer‹ und ›falscher‹ Höflichkeit ein fester Bestandteil dieser Literatur bildete.123 Nicht selten beinhalteten solche Differenzierungen auch eine historische Komponente. Die wahre Höflichkeit wurde in die Vergangenheit projiziert und von den modischen Umgangsformen der Gegenwart abgegrenzt. In einem Aufsatz im »Universal Museum« aus dem Jahre 1763 wurde die »modern politeness« mit der »politeness of our fathers« kontrastiert. Zu Anfang fasste der Autor das Problem noch einmal zusammen: »The same words have been understood, at different periods of time, very variously; what our fathers took in one sense, we, being more polish’d take in another. What did they understand by politeness?« Er betrachtete es als selbstverständlich, die Entwicklung seiner Kultur im Sinne einer Zivilisierung (polishing) zu interpretieren, wies aber auch auf den semantischen Wandel hin, der sie begleitet habe. Daraus folgte die paradoxe Schlussfolgerung, dass gerade im polierten Zeitalter die wahre Politesse nicht mehr vorhanden sei. Der Autor assoziierte die Politesse der Väter mit einer ge­ wissen Ungezwungenheit (ease) und Gefälligkeit (complaisance). Entscheidend sei aber ihre moralische Signifikanz gewesen, ihre untrennbare Verknüpfung mit Aufrichtigkeit (sincerity) und Tugend (virtue). Was sich ›heutzutage‹ mit dem Namen Politesse schmückte, entnehme ihre maßgebliche Orientierung dagegen nicht der Moral, sondern der Mode. Das Urteil des Autors fiel hart aus »What then is this ornament so much sought for and priz’d, but an universal depravity«?124 122 Vgl. Geitner, Sprache der Verstellung, S. 1–2, 10–12, 32; Gordon, Citizens, S. 116–126. 123 Siehe: Rousseau, Discours sur les Sciences & les Arts, S. 8; d’Holbach, La morale uni­ verselle, Bd. 1, S. 267–268; Godwin, Enquiry, Bd. 2, S. 394; Bowdler, On Politeness, S. 92, 98, 106. 124 Anon., On modern Politeness, S. 656. Siehe auch: anon., Modern Good Breeding, S. 81; Von Moser, Beherzigungen, S. 380; G. Walker, A Defence, S. 447. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Roger Chartier hat in seiner Studie zum civilité-Begriff darauf hingewiesen, dass der oft beschriebene Leitwortwandel von civilité zu politesse als Resultat des Spannungsverhältnisses zwischen Popularisierung und sozialer Distinktion verstanden werden kann. Als im 18. Jahrhundert Anstandsbreviere, Zivilitätstraktate und Sittenspiegelheftchen eine massenhafte Verbreitung fanden, drang das Idealbild der civilité in immer weiteren Bevölkerungskreisen durch. Diese Tendenz, die oft als Imitation des Hofes beschrieben wurde, war durch den Wunsch nach sozialer Mobilität motiviert. Die Beherrschung der Codes der guten Gesellschaft war der Schlüssel zu ihr. Für die Eliten bedeutete dies aber umgekehrt, dass die Verhaltensmuster, die traditionell soziale Erkennungszeichen ihrer gesellschaftlichen Position dargestellt hatten, diese Funktion verloren. Sie erlitten – so könnte man pointiert sagen – eine funktionale Inflation. Die strategische Reaktion der Eliten bestand nun darin, Zivilität als Leitbild abzu­ werten und stattdessen auf Politesse zu setzen. Die oben beschriebene Kritik an der Formalität nicht-adeliger Verhaltensregulierung wurde immer mehr speziell mit dem Begriff der civilité verbunden. Ihr natürlich-anmutiges und dadurch dezidiert aristokratisches Gegenbild war die politesse.125 Tatsächlich wurden im frühen 18.  Jahrhundert  – nicht nur im Franzö­ sischen – politesse und civilité häufig als Gegenbegriffe im Rahmen einer antiformalistischen Argumentation verwendet. Nicht immer erhielt dabei die Erstere den Vorrang, aber vielleicht waren – wie Chartier meinte – die Beispiele, bei denen das Verhältnis umgekehrt wurde, tatsächlich nichts weiter als Ausnahmen und geschickte rhetorische Umkehrungen einer etablierten Regel.126 Gleichwohl könnte es zu denken geben, dass ein solches Verständnis durch die methodischen Eingrenzungen, die Chartier am Anfang seines Artikels vornahm, gleichermaßen schon nahegelegt wurde. Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, kurz etwas näher auf seine Methodik einzugehen.127 Erstens bezog sich Chartier – seiner Aufgabe im Rahmen des »Handbuchs politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich« gemäß  – semasiologisch auf einen Einzelbegriff, den er mit drei Gegenbegriffen (honnêteté, bienséance, politesse) kontrastierte. Damit war, wie er zugab, bei Weitem nicht das ganze Wortfeld abgesteckt. Andere bedeutungsverwandte Wörter, wie im Französischen courtoisie und affabilité, im Englischen good und fine breeding, (soft) manners, propriety und grace, im Deutschen Anstand, Ehrlichkeit, Policierung, Bildung 125 Chartier, Civilité, S. 29–35. Siehe beispielsweise: Trublet, Sur l’esprit de société, S. 172. 126 Er zitierte Stellen von Montesquieu und aus Panckouckes »Encyclopédie méthodique«. Chartier, Civilité, S. 38, 41. 127 Chartiers Artikel fungiert hier nur als Beispiel für eine ganze Fülle begriffsgeschichtlicher Arbeiten. Er hat den Vorteil, dass Chartier die Grenzen und methodischen Annahmen seiner Perspektive explizit thematisiert. Ebd., S. 7–12. Vgl. Rose, Civilité Moderne, S. 50–52. Eine ähnliche Begründung der Politesse als Distinktionsstrategie (ebenfalls in Anlehnung an Bourdieu) findet sich in: P. Burke, Langages de la politesse. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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und Kultur blieben unbeachtet. Vor allen Dingen aber blendete er das ethische Vokabular (morale, vertu, honneur) in seiner Darstellung explizit aus. Diese Wahl war keineswegs willkürlich, sondern hing mit seinem Sprachverständnis zusammen, das als zweite einschränkende Voraussetzung seiner Darstellung gelten kann. In Anlehnung an Pierre Bourdieu verstand Chartier Sprachgebrauch als strategische Handlung im sozialen Raum: »Jeder Gebrauch des Wortes, jede Definition des Begriffes verweist auf eine zugrundeliegende Aussagestrategie, die auch eine Abbildung sozialer Beziehungen ist.«128 Die dritte und letzte Einschränkung, die Chartiers Interpretation beeinflusste, war, dass er sich – wie er schrieb, »notgedrungen« – fast ausschließlich auf normative Begriffsverwendungen bezog. Seine Quellenbasis setzte sich bevorzugt aus Wörterbüchern und Synonymlexika sowie Zivilitätstraktaten zusammen. Diese aber zielten, ihrer Eigenart gemäß, weniger auf die Beschreibung einer bestehenden Praxis als vielmehr auf normierende Sprach- und Verhaltensregulierung. Was würde passieren, wenn man die Einschränkungen die Chartier sich selbst auferlegt hat, wegnähme? Zuallererst würde man entdecken, dass die Entgegensetzung von civilité und politesse keineswegs die einzige oder selbst die wichtigste Opposition in diesem Wortfeld darstellt. Es wurde zwischen good breeding und civility, zwischen politesse und charité, zwischen äußerlicher und innerlicher Policierung unterschieden.129 Vor allem aber wurde, wie bereits erwähnt, der bestehende Wortschatz verdoppelt, indem innerhalb jedes Einzelbegriffs zwischen einer wahren und einer falschen Variante unterschieden wurde. Es war die Figur der Differenzierung selbst, vielmehr als irgendeine Wortwahl, charakteristisch für den Diskurs. Die Kriterien solcher Differenzierung wurden, wie oben erwähnt, gerade in dem von Chartier ausgeblendeten moralisch-epistemologischen Vokabular zur Sprache gebracht. In der Fülle an unterschiedlichen Artikulationen blieb die Grunddifferenz zwischen tugendhaften und lasterhaften, innerlich gefühlten und nur äußerlich dargestellten, wahren und scheinbaren Umgangsformen erhalten. Aus dieser Sicht wird die Fülle an normativen Aussagen nun selbst erklärungsbedürftig. Die quasi endlosen metasprachlichen Differenzierungsversuche können insofern als gescheitert angesehen werden, als sich im alltäglichen Sprachgebrauch offensichtlich nicht viel änderte. Nicht nur die heutige Forschung, auch schon die Zeitgenossen mussten immer wieder feststellen, dass die so sorgfältig getrennten Wörter im alltäglichen Sprachgebrauch weiterhin synonym verwendet wurden.130 Trotzdem fehlte in Synonymlexika die ganze 128 Chartier, Civilité, S.  10; Bourdieu, Ce que parler veut dire. Für eine Kritik dieses Sprachverständnises, siehe: J. M. Smith, No More Language Games; Sarasin, Geschichtswissenschaft, S. 17–20. 129 Helvétius, De l’Esprit, Bd.  1, S.  166–167; Iselin, Geschichte der Menschheit, Bd.  2, S. 375–377. 130 Vgl. Starobinski, Le mot civilisation, S. 23; Monnier, Usages, S. 526. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Untersuchungsperiode hindurch das Lemma ›civilité – politesse‹ nicht.131 Solche Definitions- und Differenzierungsarbeit fing – wie zu dieser Zeit üblich – fast ausnahmslos mit einer Klage über das semantische Chaos an, in dem jede aufgeklärte Diskussion notgedrungen stecken bleibe. Sie war also keine Beobachtung bestehender Sprachpraxis, sondern stellte den Versuch normativer Sprachregelung dar. Wenn das aber so ist, stellt sich die Frage, warum gegen alle Praxis – und immer wieder vergeblich – so beständig auf den Trennungs­ versuchen beharrt wurde? Auf eine solche Frage bietet der sprachpragmatisch inspirierte Ansatz Chartiers nur eine Teilantwort. Die beiden sozialen Strategien – aufwärtsgerichtete Imitation und nach unten gerichtete Distinktion – die den Kern seiner Interpretation ausmachen, bilden nur eine Seite dieser Geschichte. Mindestens so wichtig ist ein Phänomen, das weniger als Produkt gegenläufiger sozialen Strategien denn als Ausdruck der semantischen Grundproblematik einer Gesellschaftsform zu verstehen ist. Die Selbstreflexion der geselligen Gesellschaft wurde maßgeblich im Rahmen des Gegensatzes zwischen moralischer und sozialer Verhaltensregulierung zur Sprache gebracht. Die sich ständig wandelnden Definitions- und Unterscheidungsversuche brachten eine Problemkonstellation zum Ausdruck, die relativ stabil blieb. Aus formaler Perspektive ist dabei immer wieder dieselbe Sprachhandlung zu beobachten. Gute und wahre Umgangsformen wurden von lasterhaften und falschen getrennt, um so die repräsentative Funktion geselligen Handelns wiederherzustellen. Die ständig wechselnde Wortwahl steht dazu nur scheinbar im Widerspruch. Im Gegenteil, sie bringt eher den Versuch zum Ausdruck, immer neue Lösungen für ein altes, ungelöstes, in gewisser Weise unlösbares Problem zu finden.132

Die Generalisierung des Scheins Der strukturelle Gegensatz zwischen moralischer und formaler Verhaltens­ regulierung war im Vergleich mit seinen spezifischen Artikulationsformen erstaunlich stabil. Dennoch unterlag auch er schließlich einem schleichenden 131 Zwei Beispiele: Beauzée, Synonymes françois, Art. ›Civilité, Politese‹, S. 137; Guizot, Dictionnaire universel des synonymes, Bd. 1, Art. ›Civilité, politesse‹, S. 190. Der Encyclopédie-Artikel vom chevalier de Jaucourt verstand civilité, politesse und affabilité als Synonyme. De Jaucourt, Civilité, politesse, affabilité. 132 Auch das oben angeführte Zitat Mirabeaus über civilisation entstammte diesem Zusammenhang. Im nächsten Satz heißt es: »[…] tout cela ne me présente que la masque de la vertu et non son visage, et la civilisation ne fait rien pour la société, si elle ne lui donne le fond et la forme de la vertu; c’est du sein des sociétés adoucies par tous les ingrédients qu’on vient de citer qu’est née la corruption de l’humanité.« Zit. n. Monnier, Usages, S. 532. Siehe auch: Godwin, Enquiry, Bd. 1, S. 268–270. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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historischen Wandel. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erhielt die Kritik an den Umgangsformen der großen Welt durch die Entstehung einer »Kultur der Aufrichtigkeit« neue Impulse.133 Vor allem in der Literatur, aber auch in Malerei, Plastik, Kleidung und vielen anderen Bereichen wurde eine Auf­ wertung von Gefühlen und Aufrichtigkeit, Empfindsamkeit und Sentiment bemerkbar. Obwohl diese Tendenz auf Dauer die mondänen Umgangsformen nachhaltig beeinflussen würde, grenzte sie sich  – zumindest auf der rheto­ rischen Ebene – strukturell von ihnen ab.134 Ein Teil der Forschung hat diese Entwicklung als spezifisch deutsches Phä­ nomen betrachtet. Es ließe sich aus der untypischen Situation des deutschen Bürgertums erklären, das in Vergleich zu anderen Ländern nur beschränkten Einfluss auf den politischen Prozess nehmen konnte. Die verstärkte Betonung von Bildung, Kultur und Tugend als kulturellen Leitwerten sei dementsprechend als kompensatorische Selbstlegitimationsstrategie des Bürgertums zu verstehen. Aus ihrer eigenen Sphäre heraus habe sie zwar keine direkte politische, dafür aber umso mehr kulturelle Macht entfalten können. In Abgrenzung von der Oberflächlichkeit, Äußerlichkeit und Kälte des Hofes sei in der bürgerlich-literarischen Welt die wahre, warme und aufrichtige Menschlichkeit betont worden. In Anbetracht der Tatsache dass die deutschen Höfe stark »franzö­sisiert« waren, habe eine solche Kritik zudem der Stiftung einer nationalen Identität den Weg geebnet.135 In der Tat unterschied sich die Position des deutschen ›Bürgertums‹ wesentlich von der in anderen Ländern. Auch sind die Eigenart und kulturgeschichtliche Bedeutung der deutschen Literatur und Philosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht zu leugnen. Aus vergleichender, diskursanalytischer Perspektive aber springen vor allem die Kontinuitäten mit älteren und anderssprachigen Diskurstraditionen ins Auge. Die semantischen Oppositionen zwischen innerlich und äußerlich, kalt und warm, künstlich und natürlich, die Betonung des Herzens als Organ des Gefühls und die Abkehr von Scheinheiligkeit und Verstellung hatten alle eine lange Tradition und fanden sich in ganz Europa. Die humanistische Kritik am scholastischen Formalismus, die pietis­ tische Kritik an der Cortegiano-Literatur, die moralistische Kritik an der inhalt 133 Vgl. Trilling, Sincerity, S. 1–25; P. Burke, Langages de la politesse; Geisenhanslüke, Masken des Selbst, S. 61–98. 134 Paradigmatisch ist die Episode in einer anonymen Schrift von 1779, in der beschrieben wird, was passiert, wenn der »man of nature is invited to dine with the man of fashion«. Anon., Pictures, Bd. 2, S. 22–56. Siehe auch: Trublet, De l’usage du monde, S. 212. 135 Vgl. Bollenbeck, Bildung und Kultur, S.  52–55, 93–102; Lepenies, Kultur und Politik, S.  21–22, 28, 46–47, 64–65. In diesem Sinne hieß es in Goethes »Wilhelm Meister«: »Wenn der Edelmann durch die Darstellung seiner Person alles giebt, so giebt der Bürger durch seine Persönlichkeit nichts und soll nichts geben. Jener darf und soll scheinen; dieser soll nur seyn, und was er scheinen will ist lächerlich und abgeschmackt.« Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, Bd. 3, S. 31–32. Vgl. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 67–69. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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lichen Leere des Hofes Ludwigs XIV., die adelige Kritik an der Förmlichkeit ihrer Nachahmer – um nur einige Traditionen zu nennen – prägten auch in der zweiten Jahrhunderthälfte die Artikulationsformen der Höflichkeitskritik.136 In dieser Hinsicht ist die Neuorientierung der Höflichkeitskritik im Rahmen des Sturm und Drang, beispielsweise, keineswegs als deutsches Spezifikum oder als Vorgeschichte eines nationalen Sonderwegs, sondern als Aspekt einer all­ gemeineuropäischen Entwicklung zu deuten, die als ›Generalisierung der Problematik des Scheins‹ und Etablierung einer ›Kulturkritik der Höflichkeit‹ zu betrachten ist.137 Bis dahin war die Kritik am verstellenden Schein tendenziell als moralische Verfehlung verstanden worden. Eine Person habe, so lautete die typische Kritik, mithilfe betrügerischer Verstellungskunst versucht, seine individuellen Interessen durchzusetzen und habe so gegen die Regel der Moral verstoßen. Am Ende des Jahrhunderts dagegen wurde der Schein nicht länger nur als Verstellung einer moralischen Wahrheit, sondern außerdem als Prinzip eines eigendynamischen Systems, als Axiom einer Gesellschaftsform im Ganzen beschrieben. Im Rahmen solcher generalisierten Verwendungsweisen des Scheinbegriffs ver­ änderte sich auch die entsprechende Aufgabe des Kritikers. Nicht länger stand die Entlarvung des Scheins im Einzelnen im Mittelpunkt. Der Akzent lag vielmehr auf der Konzeption alternativer Gesellschaftsformen.138 136 Hans Joachim Dethlefs hat in einer Studie zur Höflichkeitskritik des Sturm und Drang festgestellt, dass viele der antiformalistischen Argumente gegen die (französi­sierten) Umgangs­ formen des Hofes selbst aus der höfischen Tradition stammten. Dethlefs, Höflichkeit und ihre Gegner, S. 188–189. Siehe auch: Lethen und Sommerfeld, Schein zivilisiert, S. ­160–162. 137 Falsch, aber bezeichnend für diese Forschungstradition ist auch die These Pflaums, dass der Gegensatz zwischen äußerlichem Schein und innerlicher Gesinnung ein Spezifikum der deutschen Sprache, Denkart und Psyche sei: »Es ist ein erstaunliches Phänomen der deutschen Sprache, daß sie trotz der Vielzahl der rivalisierenden Synonyme von Anfang an zu einem antithetischen Begriffspaar neigte, um die ›innerliche‹ und ›äußerliche‹ Seite des kulturellen Seins zu bezeichnen. Da diese Entwicklung bei den übrigen bedeutenden euro­ päischen Völkern nicht in dem Ausmaß eingetreten ist, kann die Aufspaltung in ›innerlich‹ und ›äußerlich‹ nur durch die besondere Denkart und Psyche des deutschen Menschen begründet sein.« M. Pflaum, Die Kultur-Zivilisations-Antithese, S. 295. Vgl. dazu: Den Boer, Vergelijkende begripsgeschiedenis, S. 24–29. 138 Wiederum lieferten die guten Vorfahren den Kontrast. So hieß es in einem Aufsatz Schubarts zynisch: »Die alten Teutschen müssen doch rechte Barbaren gewesen seyn; so, wie sie aus der Hand der Natur sprangen, blieben sie – roh, wild, ungestümm, wie der losgelassene Starm [sic]. Da kannte man die feinern Künste der Verstellung nicht, das Herz scham [sic] im Auge, die Seele brannt’ im Gesichte, und ein rauher Handschlag galt an Eidesstatt. Aber Dank sey’s dem Geschick! Ein kleiner goldhaarichter Genius mit Schmetterlings Flügelchen kam über’n Rhein zu uns, und befeilte und polirte alle Seiten des rohen teutschen Karakters so lange, bis man sich d’rinn spiegeln konnte. Was wir jezt für Kerls sind! Nun haben wir Haarbeutel, Tappon, Luftkleiderchen, Eaudelevantfläschgen, Etuis, Lyonerroth, unsern Weiberchen die bleichen Wangen zu übertünchen, und – herrliche Erfindung! Larven, Masken, Frazengesichter und Narrenkappen von allerley Art und Schnitt. Nun kann sich der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Um diesen Wandel zu verstehen, ist es sinnvoll, zunächst auf die gegnerische Seite der Höflichkeitskontroverse zu schauen. Die Apologie des Scheins als notwendiger Bestandteil der Personalpolitik am Hofe war ein fester Topos der Höflingsliteratur gewesen. Nach den zwanziger Jahren des 18.  Jahrhunderts waren solche Stimmen allerdings größtenteils verstummt. Einen letzten Ausläufer dieser Tradition stellten die zwischen 1738 und 1768 geschriebenen, aber erst 1774 postum veröffentlichten Briefe des Lord Chesterfield (1694–1773) an seinen außerehelichen Sohn dar.139 Obwohl die Briefe durchaus noch die Sprengkraft zu einem kleinen literarischen Skandal besaßen – »they teach the morals of a whore, and the manners of a dancing-master«, schimpfte Samuel Johnson – passten sie nicht mehr in ein Klima, das der Aufrichtigkeit als Kardinaltugend verschrieben war.140 Rechtfertigungsversuche des Scheins waren nun viel seltener geworden. Die negativen Konnotationen des Begriffs wurden mit der Aufwertung der Aufrichtigkeit weiter verstärkt, so dass die Argumente zu seinem Vorteil stärker noch als bisher die Form eines ›aber trotzdem…‹ oder ›nichtsdestoweniger…‹ hatten. Ganz verschwunden waren solche Apologien des Scheins dennoch auch jetzt nicht. Manch ein Autor trieb seine Verteidigung mondäner Umgangsformen so weit, dass er letztendlich neben Leittugenden wie Bescheidenheit, Selbst­beherrschung und Takt – als ob aus Versehen – auch traditionell negativ be­wertete Verhaltensmuster wie Heuchelei zu legitimieren schien, sei es auch meistens unter einem alternativen Namen.141 Auch pragmatische Argumente für den Gebrauch des Scheins im geselligen Leben spielten weiterhin eine Rolle. Diese zielten jedoch meistens nicht länger auf den individuellen, sondern in utilitaristischer Weise auf den kollektiven gesellschaftlichen Nutzen. In diesem Zusammenhang wurde oft der Satz La Rochefoucaulds, dass »[l]’hypocrisie est un hommage que le vice rend à la vertu«, zitiert.142 Das ­Laster Spizbub zum ehrlichen Mann, der Narr zum Weisen und die Hure zur Betschwester lügen, ohne eben deßwegen von einem finstern Moralisten angegrinßt zu werden, denn – ’s ist Maskenfreyheit.« Schubart, Allegorische Masken, S. 61–62. Vgl. Scharloth, Sprach­normen, S. 440. 139 Chesterfield, Letters. Vgl. Cohen, Fashioning Masculinity, S. 43–46. 140 Boswell, Samuel Johnson, Bd. 1, S. 225. Siehe auch: anon., Tuesday, March 23; Geitner, Sprache der Verstellung, S. 48–49. 141 Vgl. Davidson, Hypocrisy and the Politics of Politeness. 142 La Rochefoucauld, Reflexions, S. 80. Fast ebenso berühmt wurde der Einwand Rousseaus: »Oui, comme celui des assassins de César, qui se prosternoit à ses pieds pour l’égorger plus sûrement. Cette pensée a beau être brillante, elle a beau être autorisée du nom célebre de son auteur; elle n’en est pas plus juste. Dira-ton jamais d’un filou qui prend la livrée d’une maison pour faire son coup plus commodément, qu’il rend hommage au maître de la maison qu’il vole? Non: couvrir sa méchanceté du dangereux manteau de l’hypocrisie, ce n’est point honorer la vertu, c’est l’outrager en profanant ses enseignes; c’est ajouter la lâcheté & la fourberie à tous les autres vices; c’est se fermer pour jamais tout retour vers la probité.« Rousseau, Observations, S. 115. Siehe auch: De Lambert, Avis d’une mère à son fils, S. 42; Bowdler, On Politeness, S. 88. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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huldige der Tugend indem es ihre Form annimmt. War aber manchmal die bloße Form einer guten Tat nicht ebenso nützlich wie ihre Vorlage? Der Pariser Theologe Claude-Joseph Boncerf (1724–1811) wies darauf hin, dass, wo die eigentliche Tugend fehlte, ihr Surrogat bienséance eine positive Rolle für die gesellschaftliche Harmonie spielen konnte. Erstens sorge sie dafür, dass das Laster sich nicht unverschleiert in der Gesellschaft zeigen könne. Aus pragma­tischer Sicht könne, zweitens, auch eine Höflichkeit, die nicht »la vive expression & le langage naturel des cœurs« war, durchaus im allgemeinen Interesse sein. »En imitant les vertus sociales, on est censé les pratiquer. Ici l’illusion vaut en ­quelque sorte la réalité.«143 Andere fühlten sich berufen, den fiktiven Schein der Kunst vor moralischen Vorwürfen zu schützen. Friedrich Schiller setzte sich in seinen Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« (1795) mit gewissen »trivialen Kritikern des Zeitalters« auseinander, die meinten »daß alle Solidität aus der Welt verschwunden sei und das Wesen über dem Schein vernachlässigt werde«.144 Zum Teil hätten sie dabei durchaus Recht: »Die Falschheit der Sitten beleidigt mit Recht ihr strenges Wahrheitsgefühl; nur schade, daß sie zu dieser Falschheit auch schon die Höflichkeit rechnen.«145 Um eine solche Verwirrung zu vermeiden, solle man zwischen zwei Arten von Schein unterscheiden. Der logische Schein sei eine »betrügerische Schminke«, welche die Wahrheit verbirgt. Da­ neben gebe es aber auch noch einen ästhetischen Schein, der »Leerheit ausfüllt«, »Armseligkeit zudeckt« und »eine gemeine Wirklichkeit veredelt«.146 Dieser sei nicht nur moralisch unbedenklich, sondern als Ausdruck des Spieltriebs ein wesentlicher Teil menschlicher Bildung.147 Auch solche Apologien des Scheins zeugten aber, indem sie auf eine Be­ gründung mit Blick auf privaten Nutzen ausdrücklich verzichteten, von der veränderten diskursiven Konstellation. Schein stellte in der neueren Debatte nicht länger eine Defizienzform der Wahrheit dar, sondern hatte eine eigenständige Bedeutung im Funktionsgefüge der geselligen Gesellschaft. Nicht, dass er jetzt auf einmal unproblematisch war, aber seine Problematik erhielt ein anderes Gesicht. Laut Niklas Luhmann wurden mit dem Übergang zum modernen, kulturgeschichtlichen Denken viele traditionelle, asymmetrische Gegenbegriffe (Sein  – Schein, Wahrheit  – Irrtum) hinfällig.148 Seien die alten gesellschaft­ lichen Reflexionskategorien noch überwiegend hierarchisch konzipiert gewesen – Schein wurde als defizitäre Form des Seins aufgefasst und blieb als solche 143 Boncerf, Le vrai philosophe, S. 6–12. Siehe auch: Borde, Discours, S. 29–31; d’Argens, Critique du siécle, Bd. 1, S. 70. 144 Schiller, Die schmelzende Schönheit, S. 110. 145 Ebd. 146 Ebd. Siehe auch: Ebd., S. 102–111. 147 Vgl. (mit Bezug auf Heinrich Heine): Kimmich und Matzat, Einleitung, S. 11. 148 Luhmann, Kultur als historischer Begriff, S. 40, 47–49. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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von ihm abhängig –, so sei in der Moderne ein Verständnis für das Aufkommen neuer Kommunikationsformen, die eine eigenständige Dynamik entfalteten und nicht von einem archimedischen Punkt aus kritisiert werden konnten, entstanden. Im Hinblick auf unser Thema wird diese allgemeine These im Großen und Ganzen bestätigt. Selbst wenn mit dem Begriff des aufscheinenden, originären Scheins der Höflingstradition schon früher eine Alternative zum Defizienzbegriff gegeben gewesen war, kann die Entwicklung des Scheinbegriffs in der Spätaufklärung doch tendenziell als seine ›Enthierarchisierung‹ oder ›Generalisierung‹ verstanden werden.149 Ursula Geitner hat diesen Begriffswandel als eine neue Phase der mora­ lischen Höflichkeitskritik beschrieben. Ihrer Meinung nach bestand die entscheidende Entwicklung darin, dass Klugheit und Aufrichtigkeit nicht länger als Verhaltensmodi einzelner Personen, sondern als Ausdruck zweier Personenkreise, der ›Tugendhaften‹ und der ›Lasterhaften‹, aufgefasst wurden. Diese semantische Strategie habe es den sich als ›aufgeklärt‹ verstehenden Akteuren ermöglicht, wenn es die Situation erforderte, von der Verstellung Gebrauch zu machen. Solange einem das eigene Gewissen zu erkennen gab, dass eine fragwürdige Handlung ›nur der Aufklärung zuliebe‹ erfolgt sei, habe man sich trotzdem weiterhin zur Gruppe der Tugendhaften rechnen können.150 Obwohl solche psychologisch-rhetorische Strategien in dieser Debatte zweifellos eine gewisse Rolle spielten, ist es fraglich, ob der Hinweis auf seinen strategischen Nutzen für eine bestimmte Gruppe der Reichweite dieser seman­tischen Entwicklung vollständig gerecht wird. Die Generalisierung des Scheins ging einen Schritt weiter, als Geitner aus ihrer Perspektive zu sehen vermag. Dass der Begriff nicht nur auf individuelle Handlungen, sondern auch auf abstrakte Gruppen bezogen werden konnte, ist richtig. Doch war das nicht unbedingt neu. Solche Generalisierungen gehörten vielmehr zur traditionellen Semantik der moralistischen Scheinkritik. Eine wirklich neuartige Verwendungsweise entstand erst, als der Schein zum allgemeinen Prinzip der gesel­ligen Gesellschaft uminterpretiert wurde. Als systemisches Prinzip war er nicht nur von den einzelnen Akteuren losgekoppelt, er wurde nun soweit generalisiert dass es innerhalb der bestehenden Kultur keine wirkliche Alternative mehr gab. Sein und Schein waren in dieser Perspektive nicht länger Handlungsalterna­tiven, sondern Kulturstadien. Diese neue, kulturkritische, Verwendungsweise wurde paradigmatisch von Ernst Brandes auf den Punkt gebracht. In seinen Überlegungen zum Wesen der Geselligkeit schrieb er: »Das Seyn schwindet am Ende zum Schaden des Charakters und des Geistes, besonders des Ersteren; das Scheinen wird 149 Vgl. im Hinblick auf Montesquieu und Rousseau: Benrekassa, Parcours idéologique; Saisselin, Enlightenment Against the Baroque, S. 27–29, 125, 130. 150 Geitner, Sprache der Verstellung, S. 38–39. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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allmächtig.«151 Ein solcher Schein wie Brandes sie im Herzen der Gesellschaft anzutreffen meinte, ließ sich nicht länger auf Sein oder Wahrheit reduzieren, sondern beherrschte die gesellige Lebensform im Ganzen.152 Im Gegensatz zu seiner früheren Gestalt täusche er – so folgerte man – niemanden mehr, und niemand nehme Anstoß an ihm.153 Mit der Generalisierung des Scheins rückten zwei Problemfelder ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die, wenn sie auch nicht völlig neu waren, in der neueren Höflichkeitskritik eine deutlich wichtigere Stellung einnahmen. Allererst gehe die auf Schein gegründete Gesellschaftsform auf Kosten des individuellen Charakters. Die alten Deutschen seien, so meinte Brandes, »noch nicht auf Kosten der Originalität der Charaktere der Einzelnen vervollkommnet und verfeinert« gewesen. »Ein Jeder zeigte sich ungleich mehr wie er war.«154 In der Gegenwart dagegen sei für eine solche Individualität kein Platz mehr. Die moderne Gesellschaft zeichne sich durch eine Grundlegende »Einförmigkeit« aus.155 Der Grund für diese Tendenz wurde im reflexiven Charakter der geselligen Handlung verortet. Sie sei kein unmittelbarer Ausdruck der Persönlichkeit, sondern von vornherein auf ein Publikum gerichtet. Wer sich nach den (projizierten) Forderungen der Gesellschaft richte, unterwerfe sich demnach dem Urteil der Gruppe und den Launen der Mode.156 Seine Handlungen seien kein Ausdruck seines individuellen Charakters, sondern bezögen sich auf ein eigen­dynamisches Zeichensystem, das seinen eigenen Gesetzen folge. Am deutlichsten sei diese Tendenz in Frankreich, im Epizentrum der Geselligkeit, wahrnehmbar. Brandes zitierte zustimmend eine Bemerkung Benjamin Constants, der behauptet hatte: »in Paris denke, fühle, handle, existire man nicht für sich, sondern allein für den Eindruck, den man auf Andere hervorzubringen gedenke.«157 Es wäre aber 151 Brandes, Ueber den Einfluß, Bd. 1, S. 51. 152 Immer wieder wurde in diesem Zusammenhang eine Predigt des Bischofs Valentin ­Esprit Fléchier (1632–1719) zitiert: »La société n’est proprement qu’un commerce de men­ songes officieux et de fausses louanges, où les hommes se flattent pour être flattés; où l’on s’entête mutuellement de l’encens qu’on se donne les uns aux autres; où l’on traite souvent de vertus les vices d’autrui, pour mettre les siens à couvert, et où l’on se fait une politesse de tromper, et un plaisir d’être trompé. C’est là l’honnêteté et la délicatesse du monde.« Fléchier, Troisième sermon, S. 182–183. Vgl. France, Politeness and its Discontents, S. 59. Siehe auch: Rousseau, À Mr. d’Alembert, S. 70–72. 153 »Cette espéce de Charlatanisme qui montre les hommes au-dehors tels qu’ils dé­v roient être au-dedans, est devenue, si générale, que personne n’en a plus été la dupe.« Villemaire, L’andrometrie, S. 26. Siehe auch: Levesque, L’homme moral, S. 253; J. Moore, View of ­Society, Bd. 1, S. 69–72; Schiller, Die schmelzende Schönheit, S. 109; Roubaud, Nouveaux synonymes, Bd.  3, Art.  ›Mensonge, Menterie‹, S.  178; Kant, Anthropologie, S.  42–44; Boswell, London Journal, S. 88. 154 Brandes, Das weibliche Geschlecht, Bd. 1, S. 331. 155 Ebd. Siehe auch: ders., Ueber den Einfluß, Bd. 1, S. 58–59. 156 Villemaire, L’andrometrie, S. 38. 157 Brandes, Ueber den Einfluß, Bd. 1, S. 53; Constant, Quelques réflexions, S. xviii. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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ein Fehler, erläuterte Brandes, zu glauben, diese Äußerlichkeit sei ausschließlich der sprichwörtlichen Geselligkeit der Franzosen geschuldet. Ungeachtet solcher nationalen Differenzen rufe das Prinzip der Geselligkeit selbst die reflexive Lebensform notwendig hervor. »Mag immerhin der Geist des einen Volks weit mehr, wie der des andern, ursprünglich auf das Vorstellen, das Scheinen, gerichtet seyn. Wo die Geselligkeit das Haupttagewerk des Lebens ausmacht, da wird unvermeidlich etwas Aehnliches bei allen Völkern entstehen.«158 In solchen Zusammenhängen wurde der Begriff des Scheins auf eine fundamental neue Weise verwendet. Er betraf nicht länger bloß die verstellende, falsche Repräsentation eines vorgegebenen Inneren, sondern vielmehr die Tatsache, dass das Äußere einer völlig anderen Logik unterlag und überhaupt nicht mehr repräsentativ auf dieses Innere bezogen war. Seine Scheinhaftigkeit bestand gerade darin, keine Repräsentation  – auch keine verstellende  – von irgendetwas zu sein, sondern der Effekt eines kommunikativen Systems. Damit war auch das Innerliche, das Sein, das dem reflexiven Schein entgegengesetzt wurde, nicht mehr dasselbe. Es war weniger ein allgemein menschlicher, moralischer Kern als die unverwechselbare Eigenart des Individuums, die als bedroht empfunden wurde.159 Nicht die Möglichkeit der Verstellung, sondern die Unmöglichkeit, unter den Bedingungen der geselligen Welt Individualität zum Ausdruck zu bringen, erschien jetzt als zentrales Problem. Entsprechend veränderte sich auch die Sprache, in der die Problematik artikuliert wurde. Identität, Authentizität, Echtheit, Originalität wurden zu ihren zentralen Kategorien.160 Deren negativer Kontrastbegriff hieß ›Uniformität‹. Rousseau wies in seinem ersten Discours darauf hin, dass die art de plaire eine ungeheure Einförmigkeit in die Gesellschaft hineingebracht hatte: »il règne dans nos mœurs une vile et trompeuse uniformité, et tous les esprits semblent avoir été jetés dans un même moule«.161 Die Gussform war eine gängige Metapher für die Zwänge der Gesellschaft.162 Alternativ wurde die Einordnung in die Formen der Gesellschaft als das Abstimmen auf einen herrschenden Ton, ein bis zum Überdruss andauerndes uni sono, dargestellt. Dieses Vokabular mündete in die Klage über die Schreckensgespenster des geselligen Lebens: Monotonie und Langeweile.163 Schließlich wurde das überlieferte Bild des Polierens ad ab 158 Brandes, Ueber den Einfluß, S. 53. 159 Im Sinne von Charles Taylors »subjective turn of modern culture«. Taylor, The Ethics of Authenticity, S. 25–26. 160 Luhmann, Kultur als historischer Begriff, S. 50. 161 Rousseau, Discours sur les Sciences & les Arts, S. 11. Siehe auch: Montesquieu, Lettres persanes, Bd. 1, S. 257–258. Vgl. Fetscher, Kulturbegriff und Fortschrittskritik, S. 46–49. 162 Anon., Saturday, April 9, S. 78. 163 Boureau-Deslandes, L’art de ne point s’ennuyer; Duclos, Considérations, S.  203–208; [Soret], Essai sur les mœurs, S. 88; Clément, Petit dictionnaire, Bd. 1, S. 102; Jenisch, Vergleichung und Würdigung, S. 301; ders., Geist und Charakter, Bd. 1, S. 398, Bd. 2, S. 404–406. Zur Semantik der Langeweile: Kessel, Langeweile, S. 19–29. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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surdum geführt und – auf Münzen übertragen – als das allmähliche Abschleifen von Charaktermerkmalen gedeutet. In einer immer wieder aufgegriffenen Passage in Laurence Sternes »Sentimental Journey« (1768) verglich er die Franzosen mit »King William’s shillings«, die durch das viele Reiben jede individuelle Prägung verloren hatten. Die Engländer dagegen hätten ihren ursprünglichen »variety and originality of character« noch nicht ganz verloren: »they are not so pleasant to feel – but in return, the legend is so visible, that at the first look you see whose image and superscription they bear.«164 Wie hier die Engländer im Vergleich zur »polish’d nation« der Franzosen als grob, aber original erscheinen, gab es jetzt verschiedenartige Kulturvergleiche, in denen die Verfeinerung der Gesellschaft als ihre Uniformierung dargestellt wurde.165 Diese Semantik lief der etablierten Rhetorik der Geselligkeitskritik aber in paradoxer Weise entgegen. Während die Uniformität der Gesellschaft einerseits als schädliche Folge der Modernisierung beschrieben wurde, gab es gleichzeitig Stimmen, die sie umgekehrt gerade als charakteristisches Merkmal vormoderner Lebensformen ansahen. Sofern Modernisierung im Sinne von Arbeitsteilung und gesellschaftlicher Ausdifferenzierung beschrieben wurde, musste das Leben im Naturzustand im Kontrast als eintönig und einförmig erscheinen.166 Zuweilen fanden sich solche widersprüchlichen Verwendungen gar bei einzelnen Autoren. Im Jahr 1767 hatte Adam Ferguson noch geschrieben: »Mankind, when in their rude state, have a great uniformity of manners; but when civilized, they are engaged in a variety of pursuits«.167 In einem späteren Werk dagegen nahm er die Gussformmetapher auf, um die fort 164 Sterne, A Sentimental Journey, Bd.  1, S.  85–88. Siehe auch: [Grimm], Paris, Ier août 1753, S. 39–41; Herder, Journal meiner Reise, S. 289; Sturz, Klopstock, S. 239; Von La Roche, Journal einer Reise, S. 561; Ewald, Wie nützt man am besten, S. 86–87; Virey, L’influence des femmes, S. 12; De Staël, De l’Allemagne, Bd. 1, S. 105; Arndt, Und wieder vom Haß, S. 200. Vgl. Götze, Edelstein oder Stachelschwein, S. 23–24; Dethlefs, Höflichkeit und ihre Gegner, S. 175–176. Solche Motive artikulierte auch Brandes: »Der gute Ton der feinen Welt hat auch die höchste Stuffe seiner Ausbildung seit lange erreicht. […] Die ganze Wissenschaft des guten Tons besteht im Negativen: nichts zu thun oder zu sagen, was im mindesten auffallen könnte, – daß der Eine so sey wie der Andere, und das eigenthümliche Gepräge, das die Natur jedem Einzelnen stärker oder schwächer aufdrückte, verwischt, und die Menschen, nach dem oft gebrauchten, aber sehr wahren Gleichnisse, gleich den abgegriffenen englischen Schillingen, sich völlig ähnlich werden, ohne Wärme, ohne Theilnahme, kalt und spröde wie Metall.« Brandes, Das weibliche Geschlecht, Bd. 1, S. 318–320. 165 »In advanced society, the characters of men are more uniform and disguised. The human passions lie in some degree concealed behind forms and artificial manners; and the ­powers of the soul, without an opportunity of exerting them, lose their vigor.« Macpherson, A Dissertation, S. 236. Siehe auch: Jenisch, Vergleichung und Würdigung, S. 302. Vgl. Dieckmann, Ästhetische Theorie, S. 48–58; Jacobs, Aporien der Aufklärung, S.  101–103. 166 Siehe beispielsweise: Ogilvie, Essay, S.  xxx–xxxi; Garve, Ueber die Moden, S.  107; [­Weber], Geist der Zeit, S. 298. 167 Ferguson, An Essay, S. 281. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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schreitende Kulturentwicklung der Römer als ihre allmähliche Nivellierung zu beschreiben.168 Auch Rousseau wurde zwischen beiden Gebrauchsweisen hin- und her­ gerissen. Während er im ersten Diskurs die politesse der geselligen Welt noch als »voile uniforme et perfide«169 angeprangert hatte, kontrastierte er im zweiten »la simplicité & l’uniformité« des Naturzustands positiv mit der »diversité prodigieuse« der modernen Gesellschaft.170 Im »Nouvelle Héloïse« (1761) schließlich nahm er die widersprüchlichen Verwendungen des Uniformitätsbegriffs zum Anlass einer Reflexion über den Gegensatz zwischen natürlicher Gesellschaft und geselliger Welt. Augenscheinlich sei das ländliche Leben auf einem kleinen Weingut am Fuß der Alpen, wie es Julie und ihr Kreis führten, »trop simple & trop uniforme«, um attraktiv zu sein.171 In Wahrheit aber sei die Uniformität nicht auf dem Lande, sondern in der Stadt zu Hause. Der genaue Beobachter »trouve dans la naiveté villageoise des caracteres plus ­marqués […] que sous le masque uniforme des habitans des villes, où chacun se montre comme sont les autres, plutôt que comme il est lui-même.«172 Die Handlungen der Landbevölkerung seien nicht Teil eines künstlichen, reflexiven und selbstregulierenden Zeichensystems, sondern brächten ihre eigene Natur unmittelbar zum Ausdruck. »Leur cœur ni leur esprit ne sont point façonnés par l’art; ils n’ont point appris à se former sur nos modèles, & l’on n’a pas peur de trouver en eux l’homme de l’homme au lieu de celui de la nature.«173 Aus diesem Grund bedürften sie gar nicht, wie die gelangweilten mondains, der ständigen Abwechslung.174 Deren fieberhafte, letztendlich aber stets oberflächlich bleibende, Erneuerungssucht sei de facto nur eine andere Art der Erstarrung, so dass Vielfalt und Uniformität in diesem Falle nur zwei Seiten derselben Medaille darstellten.175 Neben dem Problem des Eigenheitsverlustes brachte der generalisierte Schein der geselligen Welt noch ein zweites Grundproblem mit sich: die Störung wahrhafter Kommunikation. Die Formen der mondänen Gesellschaft ließen sich, so bemerkte man kritisch, nur bis zu einem gewissen Grad mit dem Modell zwischenmenschlicher Kommunikation verstehen. Der Sprecher rede zwar zu 168 Ders., History of the Progress and Termination, S. 480, Anm. 2. 169 Rousseau, Discours sur les Sciences & les Arts, S. 12. 170 Ders., Discours sur l’inégalité, S. 87. Siehe auch: Ebd., S. 22. 171 Ders., Lettres de deux amans, Bd. 5, S. 81–82. Siehe auch: Ebd., Bd. 5, S. 66. Vgl. die Anmerkung von Kurt Weigand in: Rousseau, Schriften zur Kulturkritik, S. 320, Anm. 17. 172 Rousseau, Lettres de deux amans, Bd. 5, S. 84. 173 Ebd., Bd. 5, S. 84–85. 174 Ebd., Bd. 5, S. 89. 175 Byron dichtete im »Don Juan«: »Society is smooth’d to that excess, That manners hardly differ more than dress.« Und ein Paar Zeilen weiter: »Society is now one polish’d horde / Formed of two mighty tribes, the bores and the bored.« Byron, Don Juan, Canto XIII, Nr. XCIV, XCV, S. 164. Siehe auch: Von Muralt, Lettres sur les Anglois, S. 159. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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diesem oder jenem, aber auf die angesprochene Person komme es eigentlich nicht an. Diese sei nur der zufällige Platzhalter eines weiteren Publikums, das von den geschickt platzierten bon mots sicherlich erfahren würde. Auch der Inhalt des Gesagten stehe letztendlich nicht zentral. Die Aussage als die eigent­ liche Ansicht des Sprechers aufzufassen, wäre einem Fauxpas gleichgekommen. Das einzig Wichtige sei die Brillanz des Gesagten.176 So stellte sich die gesellige Konversation in ihrer zeitgenössischen Re­f lexion als eine Kommunikationsform dar, in der weder der jeweilige Sprecher sich wirklich zu erkennen gab, noch der Adressat wirklich angesprochen war. In einem Aufsatz in »The Gentleman« von 1775 schrieb ein »Blackguard«177: »›Speak, that I may know thee‹ said the wise man of old; but according to the prescribed use of speech in polite company, it is impossible for us to come at the least knowledge of each other.«178 Der Grund dafür sei aber nicht sosehr die gewollte Verstellung (dissimulation) als die Tatsache, dass solche Äußerungen nicht zum guten Ton passten. »Every thing relative to a man’s peculiar concerns, in which he might suppose his friends and acquaintance to take some little interest, is deemed impertinent«.179 In dieser Kritik der geselligen Konversation kamen die alten Motive der antiformalistischen Rhetorik aufs Neue zum Tragen. Gleichzeitig aber änderte sich ihre Stoßrichtung. Auch die Kontrastvorstellungen, welche den überregulierten Verhaltensmodi entgegengesetzt wurden, änderten sich. War das gezwungene Formale zu Beginn des Jahrhunderts noch vor allem mit der freien, natürlichen und gekonnt verspielten Anmut des Adels kontrastiert worden, so war es jetzt in erster Linie die Aufrichtigkeit, die ihr Gegenstück bildete. Das Verhaltensideal der Natürlichkeit wurde nicht länger in der vollendeten Kunst gesucht, sondern 176 Sénac de Meilhan, Considérations sur l’esprit, S.  34: »Il faut donc que l’homme du monde se fasse un art de parler sans rien dire. Le ton, la manière, la légéreté sont ses ­succès: il lui est permis d’avoir la finesse, jamais de profondeur.« Siehe auch: [Soret], Essai sur les mœurs, S. 75, 95. Vgl. Casale, Ethik der Konversation. 177 Der Blackguard war 1775 mit einer Reihe von Aufsätzen vertreten. Er verstand sich als Antipode zum modernen Gentleman: »But is this a time, Sir, for a writer who means to amend the morals, or correct the behaviour, of the idle things, and puppies of the present age, to usher a work into the world under the title of the Gentleman? Do not false refinements, affected politeness, and in a word, Gentility (as they term it) threaten to undermine our morals, pervert our good sense, and infect our behaviour? […] At present we begin to refine, and file, and polish, ’till our manners, as Sterne said of those of our neighbours, are growing as smooth and undistinguishable as an old King William’s halfpenny, and fashionable principles, like the legs of fashionable furniture, have scarce strengthe enough to support the frame that belongs to them. […] In opposition to the contemptible animal, the new-fangled being, that now commonly distinguishes itself by the appelation of The Gentleman, I am proud to stile myself A Blackguard«. [A Blackguard], To the Author [I]. Siehe auch: ders., To The Gentleman. 178 Ders., To the Author [II], S. 188. 179 Ebd. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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in der völligen Kunstlosigkeit. Kunst als solche wurde als Verstellung und als Hindernis für den Austausch zwischen (empfindsamen) Seelen und den freien Audruck individueller Persönlichkeit verstanden. Wo Regeln herrschten, sichtbare oder unsichtbare, müsse das Herz weichen und fehle zwischenmensch­liche Wärme. Schutzlosigkeit und grenzenlose Aufrichtigkeit wurden zu zentralen Tugenden aufgewertet.180 Damit verschob sich schließlich auch die räumliche Orientierung der Kritik. Die Abgrenzung des vollendeten honnête homme gegen den nachäffenden Emporkömmling hatte ihren Platz innerhalb der Grenzen der geselligen Welt. Jetzt aber, da die überlieferte Kritik an der weltmännischen Lebensform auf die Gesamtkultur generalisiert wurde, mussten die Zeitgenossen weiter ausgreifen, um eine tragfähige Alternative zu finden. Die Grenzen der mondänen Welt wurden gesprengt und es kamen neue Welten in den Blick. Bei den Bauern der Vor­a lpen, den eigenen Vorfahren oder den im Naturzustand lebenden Wilden, in alle Richtungen suchte man das »verstellungslose Zeit­ alter«, in dem sich der Einzelne in freier, offenherziger Kommunikation äußern konnte.181

3. Die Kritiker und die gesellige Welt Die mondäne Satire und der kritische Tonwechsel Die Abkehr von der Förmlichkeit der geselligen Gesellschaft prägte die Kulturkritik im Ancien Régime nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch und – tonal. Der Kritiker, der den grand monde auf Distanz halten mochte, sah sich gezwungen, sich von ihren Formen loszusagen. Seine Selbstinszenierung war durch diese Abgrenzung  – bewusst oder unbewusst  – negativ bestimmt. Ein wichtiger Ausgangspunkt bildete dabei die Figur des mondänen Autors.182 Im Laufe des 18.  Jahrhunderts war ein Zweckbündnis zwischen der litera­ rischen und der mondänen Welt entstanden. Literatur spielte im Gesellschaftsleben eine zunehmend wichtige Rolle. Der negative Blick auf Bücherwissen, der die Eliten bis dahin oft gekennzeichnet hatte, machte einem regen Interesse an Literatur und – in ihrer Folge – an den Literaten selbst Platz. Die gens du monde ließen die gens de lettres zu ihrer Welt zu, und die Verbindung kam, so meinte Charles Duclos, beiden Seiten zugute. 180 Clément, Petit dictionnaire, Bd. 1, S. 30. Vgl. Dethlefs, Höflichkeit und ihre Gegner, S. 175, 188. 181 Weiße, [Rezension zu:] The Works of Ossian, S. 247. 182 Auf ein anderes Feindbild, das des Brot- oder Vielschreibers, wird in Kapitel V einzugehen sein. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Les gens du monde ont cultivé leur esprit, formé leur goût, et acquis de nouveaux plaisirs. Les gens de Lettres n’en ont pas retiré moins d’avantages. Ils ont trouvé de la protection & de la considération; ils ont perfectionné leur goût, poli leur esprit, adouci leurs mœurs, et acquis sur plusieurs articles des lumiéres qu’ils n’auroient pas puisées dans les Livres.183

Der Zugang zur mondänen Geselligkeit bot dem Schriftsteller die Gelegenheit, sich ihre Formensprache anzueignen. Er wurde ›salonfähig‹, eine wichtige Voraussetzung für den literarischen Erfolg. Umgekehrt wurde die mondäne Welt aus ihrer Langeweile aufgeweckt und mit ständig neuem Konversationsstoff versehen. Was Duclos aber ausblendete, war, dass der Austausch zwischen gens du monde und gens de lettres keineswegs nur ein sozial-kultureller war. Für viele Schriftsteller waren die Beziehungen zu den mondänen Kreisen eine finan­zielle Notwendigkeit. Immer noch konnten nur wenige Ausnahmen vom Verkauf ihrer Bücher leben. Noch weniger verfügten über ein anderenorts gesichertes Einkommen, das es ihnen erlaubte, sich als sorglose Amateure der Literatur zu widmen. Für die Meisten blieb also der gesellschaftliche Erfolg lebensnotwendig. Patronagebeziehungen erhielten im Kontext der geselligen Welt eine neue Form, die mit der Ausbildung neuer Aushandlungspraktiken im geselligen Verkehr einherging. Dass sie von demokratischen Freundschaftsbanden zwischen den sozialen Schichten aufgrund gemeinsamer intellektueller Interessen ersetzt worden seien, blieb eine anziehende, aber trügerische Utopie.184 Mit dieser Entwicklung tat sich innerhalb der literarischen Welt eine Kluft auf, die von Robert Darnton als die Trennung zwischen der High Enlightenment und dem Low-Life of Literature gekennzeichnet worden ist.185 Manch einem Schriftsteller blieben die Türen zur geselligen Welt verschlossen – eine Ex­k lusion, die zumeist den Abstieg ins schriftstellerische Prekariat bedeutete. Aber auch die wenigen, denen es gelang, sich den Zugang zu erkämpfen, bezahlten dafür einen Preis. Sie sahen sich gezwungen, sich nicht nur in ihren Schriften, sondern in ihrem ganzen Habitus den mondänen Formen anzupassen. Die Zugehörigkeit des Schriftstellers zum monde blieb stets prekär: Die considération, die man ihm infolge seines Ruhmes zusprach, konnte ihm jederzeit wieder entzogen werden. Selbst wenn ihm die grands umständlich ihre Freundschaft beteuerten, durfte er sie nicht beim Wort nehmen. Es bleib stets notwendig, sich seiner untergeordneten Stellung bewusst zu bleiben und die strengen Formen 183 Duclos, Considérations, S. 242–243. Siehe auch: Gay, Present State of Wit, S. 12–13. Vgl. France, Politeness and its Discontents, S. 4. 184 Dazu das berühmte Essay: d’Alembert, Des Gens de Lettres et des Grands. Eine erste Version war 1753 erschienen. Vgl. Hulliung, The Autocritique of Enlightenment, S. 78–88; Lilti, Sociabilité, S. 419–428. 185 Darnton, The High Enlightenment. Siehe auch: McMahon, Counter-Enlightenment and the Low-Life of Literature. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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der Dankbarkeit nicht zu verletzen. Wer sich in der geselligen Welt bewegen wollte, musste sich dem herrschenden Ton anpassen. Nicht jeder war willig, sich diesen Regeln zu beugen. Vor allem Rousseau gelang es, mit geschickten Taktiken der Selbstinszenierung einen alternativen Schriftstellertypus ins Leben zu rufen, der seinen Zeitgenossen und den Generationen nach ihm die Möglichkeit bot, ihre schriftstellerische Aktivität und soziale Stellung anders zu denken. Mit einem ausgewählten, ›armenischen‹, Kleidungsstil, der schroffen Ablehnung jeglicher Patronagebeziehung, vor allem aber mit der gezielt ›unmondänen‹ Rhetorik seiner Schriften brachte er seine Distanz zur geselligen Welt zum Ausdruck. Schon auf dem Titelblatt seines ersten Discours hatte er diese im Ovid entlehnten Motto angekündigt: »­Barbarus hic ego sum quia non intelligor illis…«186 Aber seine sprichwörtliche Einsamkeit war nicht nur die Absage an die gute Gesellschaft. Sie war gleichzeitig Voraussetzung für die Bildung einer alternativen Gemeinschaft mit seinen Lesern. In einem literarisch hergestellten Raum konnte – sei es auch nur auf fiktiver Ebene – die so heiß ersehnte offenherzige Kommunikation zwischen tugendhaften Seelen stattfinden, die ihnen unter den zwanghaften Bedingungen der geselligen Welt verwehrt blieb. Das wirksamste Mittel zur Evokation dieser alternativen Welt – und das, was Rousseaus zentrale Stellung in der Wirkungsgeschichte des kulturkritischen Diskurses letztendlich ausmachte – war kein theoretisches Konstrukt, keine These oder System, auch kein Modell oder Argument, sondern der Tonwechsel, der sich in seinen Schriften vollzog. Rousseaus Texte wurden paradigmatisch für eine kritische Redeweise, die weder religiöse Moralistik noch mondäne Satire war und die eine Rede­position außerhalb der Gesellschaft evozierte.187 186 Rousseau, Discours sur les Sciences & les Arts, [Motto]. In der Einleitung führte er seine Position weiter aus: »Aussi mon parti est-il pris; je ne me soucle de plaire ni aux ­Beaux-Esprits, ni aux Gens à la mode. Il y aura dans tous les tems des hommes faits pour être subjugués par les opinions de leur siécle, de leur Pays, de leur Société […]. Il ne faut point écrire pour de tels Lecteurs, quand on veut vivre au-delà de son siécle.« Ebd., Préface [o. S.]. Vgl. Konersmann, Zeichensprache. 187 Im »Edinburgh Review« wurde 1818 rückblickend versucht, die ungeheure Wirkung des rousseauschen Stils zu erklären. Neben dem »bewitching strain of dreaming melancholy« und dem »fiery impress of burning sensibility« sei es vor allem die persönliche Präsenz ­Rousseaus in seinen Schriften, die ihre Wirkung bestimmt habe. Auch sechzig Jahre später war die eigenartige Macht seiner Worte noch spürbar. »They are not felt, while we read, as declarations published to the world, – but almost as secrets whispered to chosen ears. Who is there that feels, for a moment, that the voice which reaches the inmost recesses of his heart is speaking to the careless multitudes around him? Or, if we do so remember, the words seem to pass by others like air and to find their way to the hearts for whom they were intended, – kindred and sympathizing spirits, who discern and own that secret language, of which the privacy is not violated, though spoken in hearing of the uninitiated, – because it is not understood. There is an unobserved beauty that smiles on us alone; and the more beautiful to us, because we feel as if chosen out from a crowd of lovers.« Auch Rousseaus geschickte Selbst­ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Die gesellige Welt war keineswegs der herrschaftsfreie Raum, für die sie von manch einem Apologeten gehalten wurde. Es gab immer Kreise – auch Individuen – die in ihr für kürzere oder längere Zeit den Ton angaben. Letztendlich aber war es – wenn man die Sprache der zeitgenössischen Darstellungen ernst nimmt – dieser Ton selbst, der die eigentliche Herrschaft ausübte. Er bestimmte, was sich geziemte und was nicht, was Aufmerksamkeit erregte und was ausgeblendet wurde, was gesellschaftlichen Erfolg versprach und was den Ausschluss aus den mondänen Kreisen bedeutete. Der Ton der guten Gesellschaft hieß folgerichtig bon ton.188 Er zeichnete sich durch Leichtigkeit (légèreté), Heiterkeit (gaieté) und Witz (esprit) aus und grenzte sich im Verständnis der Zeitgenossen an drei Seiten ab:189 von der derben Grobheit der bourgeois, von der Pedantik des Gelehrten und vom Schwer­ mut und Fanatismus des Enthusiasten.190 Jede dieser Grenzziehungen war umstritten. Die gewählte Geschliffenheit des guten Tons konnte als Verlust von Authentizität und Gefühl aufgefasst werden. Sein Anspruch auf soziale Distinktion drohte den Ton der guten Gesellschaft als Jargon einer Elite bloßzustel­len. Damit wäre sein Herrschaftsanspruch als Machtstrategie entlarvt und seine Legitimität in Frage gestellt. Dass schwierige Themen und lange Argumentations­ ketten als ›Büchersprache‹ aus dem geselligen Verkehr ausgeschlossen wurden, war für die selbstbenannten aufgeklärten Geister wiederum nur schwer zu ertragen.191 Es wurde zu einem Gemeinplatz ihrer Kritik, dass die Sprache der Welt vor allem darauf ausgerichtet sei, in vollendeter Form nichts zu sagen (dire agréablement des riens).192 Und tatsächlich: Die paradigmatische Sprachform inszenierung blieb nicht unbemerkt: »his name for a long time in Europe was that of an hermit-sage, – a martyr of liberty and virtue, – a persecuted good man loving a race unworthy of him, and suffering from their injustice and from the excess of his own spirit. He made a character for himself; – and whatever he made it, it might have been believed.« Anon., [Rezension zu:] Childe Harold’s Pilgrimage, S. 89–90. Vgl. Wertheimer, Rhetorik des Anti-Dialogs; Masseau, Les ennemis, S. 8–372; Lilti, Sociabilité, S. 438. Siehe auch: Schulz, Einsamkeit – Öffent­lichkeit. 188 Ein Theaterstück David Garricks (1717–1779), das als Gegenstück zu einer erfolg­ reichen Satire über das Hauspersonal (»High Life Below Stairs«) gedacht war, hieß dementsprechend: »Bon Ton, or High Life Above Stairs«. Garrick, Bon Ton. Siehe auch: De Moncrif, Essais, S. 16–18. 189 Levesque, L’homme moral, S. 254.; Jenisch, Geist und Charakter, Bd. 2, S. 398; Brandes, Ueber den Einfluß, S. 187–188. 190 Caraccioli, L’Europe Françoise, S. 338; Westphal, Portraits, Art. ›Der feine Mann im Umgange‹, S.  177–178; Jackson, Different Uses of Reading and Conversation, S.  141–145; ­Virey, L’influence des femmes, S. 17; Von Bonstetten, L’homme du midi, S. 176–178. Vgl. Strosetzki, Fachsprachliche Kommunikationsformen; Fumaroli, La conversation . 191 Vgl. Fitzmaurice, Commerce of Language. 192 Trublet, De la conversation; Duclos, Considérations, S. 181–183; Boswell, London Journal, S.  93; Clément, Petit dictionnaire, Bd.  1, S.  66; Sénac de Meilhan, Considérations sur l’esprit, S. 31, 276, 297, 299; Carmontelle, Le persifleur, S. clv. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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der mondänen Konversation war nicht die Aussage oder Schlussfolgerung, sondern das bon mot, eine sanftironische Riposte, die eher als Performanz denn als Kommunikationsakt verstanden wurde.193 Sie diene hauptsächlich dem Zweck, den Urheber in der Gesellschaft glänzen zu lassen.194 Die Konturen der geselligen Welt zeichneten sich in den feinen Nuancen des Heiterkeitsvokabulars ab, das in ihrer Beschreibung eine Hauptrolle spielte.195 Der angeblich so leichtfüßige, heiter-ironische Ton der Konversation konnte, so wurde nicht ohne Schaudern festgestellt, blitzschnell umschlagen und seine Kehrseite zeigen. Wer einen Fauxpas beging, erwies sich als nicht weltfähig und wurde unerbittlich ausgeschlossen. Dementsprechend erforderte es eine pausenlose Anstrengung, die impliziten, aber streng überwachten Grenzen, die das cela se fait vom cela ne se fait pas trennten, nicht zu überschreiten. Jenseits von ihnen sei man, wie es Duclos formulierte, dem ›Tyrannen der Lächerlichkeit‹ ausgeliefert. Obwohl dieser ›nur‹ ein Phantom sei  – eine Macht, die nur für denjenigen da ist, der an ihn glaubt  –, mache gerade das ihn zum »fléau des gens du monde«,196 denen nichts mehr Angst einflöße als der gesellschaftliche Tod. Das Andere des guten Tons war also weder das Unwahre, noch das Lasterhafte, sondern das Lächerliche.197 Bemerkenswert ist, dass die Waffe der Ridi­ külisierung nicht nur den gens du monde in engerem Sinne, sondern auch den – in ihrer Selbstdarstellung mindestens ebenso mondänen – philosophes als 193 Seit dem 17. Jahrhundert war die Kunst des bon mot Thema ausführlicher Abhandlungen gewesen. Siehe: De Callières, Des bons mots, S. 11; Sabatier de Castres, Dictionnaire de littérature, Bd. 1, Art. ›Bon-mot‹, S. 137–141. 194 Darauf hatte schon Jean de La Bruyère (1645–1696) hingewiesen: »Dans ces lieux d’un concours general […] on ne se promene pas avec une compagne pour la necessité de la conversation; on se joint ensemble pour se rassurer sur le theatre, s’apprivoiser avec le public, & se raffermir contre la critique: c’est là précisément qu’on se parle sans se rien dire; ou plûtôt qu’on parle pour les passans, pour ceux même en faveur de qui l’on hausse sa voix, l’on gesticule & l’on badine, l’on penche negligemment la tête, l’on passe & l’on repasse.« La Bruyère, Les caractères, S. 259. 195 »[J]e dirai, sans crainte de me tromper, que la gaieté est de l’essence de la conversation; j’entends une gaieté modérée qui ne consiste pas dans des éclats de rire, mais dans un visage riant«. Caraccioli, L’Europe Françoise, S. 338. 196 Duclos, Considérations, S. 201. 197 Mehrere Beobachter wiesen darauf hin, dass unter der heiteren Oberfläche eine zaghafte Spannung herrschte, die die gens du monde in Griff hielt. So schrieb Madame de Staël (1766–1817): »Mais la société, c’est-à-dire, des rapports sans but, des égards sans subordination, un théâtre où l’on apprécioit le mérite par les données les plus étrangères à sa véritable valeur; la société, dis-je, en France, avoit créé cette puissance du ridicule que l’homme le plus supérieur n’auroit pu braver. De tous les moyens qui peuvent déconcerter l’émulation des caractères élevés, le plus puissant est l’arme de la moquerie.« De Staël, De la littérature, S. ­338–339. Siehe auch: Montesquieu, Esprit des Loix, Bd. 2, S. 341–360; Clément, Petit dic­ tionnaire, Bd. 2, S. 107. Vgl. Schalk, Das Lächerliche. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Markenzeichen zugesprochen wurde.198 Ihre Vorbilder, wie Shaftesbury oder Swift, hatten schon darauf aufmerksam gemacht, dass im Kampf mit dem infâme die beste Strategie oft nicht in der nüchternen Argumentation, sondern im Witz bestand.199 Voltaire hatte, so schrieb er 1767 in einem Brief an Etienne Damilaville (1723–1768), immer gebetet: »Mon Dieu, rendez nos ennemis bien ridicules!« Und, fügte er lakonisch hinzu, »Dieu m’a exaucé.«200 So herrschte, der gängigen Beschreibung nach, in zwei im Selbstverständnis der Zeitgenossen zentralen Kulturbereichen, der mondänen Geselligkeit und der aufklärerischen philosophie, ein heiterer Tonfall. Es wurde in der Welt viel gelacht und gelächelt, geschmunzelt und gegrinst.201 Aber nicht jeder war so heiter veranlagt. War der leichte Ton des Witzes unlösbar mit dem Namen Voltaires verbunden, so war Rousseau in zeitgenossischen Debatten stets sein ernster Gegenpol. Wie ein Herausgeber es formulierte: »Neben den lachenden Philosophen trat nicht ohne Konsequenz der weinende Philosoph.«202 Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein und zum Teil bis heute wurden diese Namen zu den gegensätzlichen Markierungen einer Epoche stilisiert.203 Der genannte Meininger Regierungsrat Von Hendrich betrachtete die beiden rückblickend als zwei Pole, um die sich die vorrevolutionäre Welt gedreht habe. Voltaire lobte er für den unerschöpflichen Witz, mit dem er gegen religiöse und politische Vorurteile gekämpft habe. »Wo kalte Vernunftgründe ohne Wirkung bleiben, weil die Menschen die Mühe des Nachdenkens scheuen, erschüttert ein witziger Einfall gleich einem elektrischen Schlage.«204 Ganz unterschiedlich, aber auf seiner Weise nicht weniger bedeutsam, sei Rousseau ge­wesen. Der Gegensatz zwischen beiden sei zuallererst in ihrem jeweiligen Umfeld zum Ausdruck gekommen. Während Voltaire in den Augen von Hendrichs ein typischer »Philosoph nach der Welt« war, sei Rousseau immer »einsam und menschenscheu« geblieben.205 Seine unbiegsame Natur und sein »aposto­lischer Ernst« hätten es ihm unmöglich gemacht, »sich in die Formen der Gesellschaft 198 Bowles, Political and Moral State, S. 126. Vgl. Wais, Das antiphilosophische Weltbild, S. 108; Ferret, La fureur de nuire, S. 340–358. 199 Oft wurden in diesem Zusammenhang die Verse Swifts zitiert: »It is well observ’d by Horace, / Ridicule has greater power / To reform the world, than sour.« Swift, To a Lady, S. 43. Gemeint ist der Vers »Ridiculum acri / Fortius & melius magnas plerumque secat res.« aus Horaz’ 10. Satire. Siehe auch: Shaftesbury, A letter concerning enthusiasm, S. 17–18, 20. Dazu kritisch: Caraccioli, Langage de la raison, S. 203; Knox, On Ridicule, S. 241–253. 200 Voltaire, Lettre CCCLXXVIII, S. 548. 201 »The very word seriousness is expelled from polite life«, meinte der Herausgeber von »The World«. Fitz-Adam, Thursday, February the 5th, S. 972. 202 Weigand, Einleitung, S. xvii. 203 Zum Namen Rousseaus als diskursive Markierung, auch in seinen eigenen Werken, vgl. J. Roussel, Le nom de Rousseau. 204 [Von Hendrich], Geist des Zeitalters, S. 26–27. 205 Ebd., S. 27–28. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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einzupassen«.206 Er entspreche daher eher dem Ernst und die Würde der »alten Weisen« als der modischen Gewandtheit der mondänen philosophes.207 Wie zu dieser Zeit üblich benutzte von Hendrich die beiden Namen nicht nur als Bezeichnungen von Individuen, sondern auch als Chiffren zweier gegensätzlichen Schriftstellertypen. Im Mittelpunkt dieses Gegensatzes stand ihr grundverschiedener Tonfall. Im Kontrast zu Voltaires heiterem Witz beschrieb von Hendrich den Stil Rousseaus mit einem quasi-religiösen Genie-Vokabular. Kennzeichnend für die Seelenstärke des Genfers seien dessen »tiefempfundene Sprache des Herzens, die starken originelle Züge seines Geistes, die das Gepräge der Erhabenheit und der eigenen Geistes-Stimmung ihres Urhebers tragen, und die aus seiner Einsamkeit wie aus einer überirdischen Region hervorstrahlten« gewesen.208 Auch der heutige Leser weiß – auch wenn er dies vielleicht anders aus­drücken würde  – um die Prägnanz des rousseauschen Stils. Der Kontrast zu Voltaire könnte fast nicht größer sein. Berühmt sind auch die öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzungen zwischen den beiden. Bedeutender aber als solche persönlichen Antipathien ist die Tatsache, dass ihre immer wieder kommentierten und nachgeahmten Stile eine tonale Differenz etablierten, welche die litera­rische Welt des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts spaltete. Diese Alternative erzeugte nicht nur die unterschiedlichsten literarischen Kämpfe und Strömungen, sondern prägte – als Differenz zwischen leichter Satire und schwerer Kulturkritik – auch den Diskurs der Kulturkritik maßgeblich. Die Gattung der Satire konnte im 18. Jahrhundert auf eine lange Tradition zurückblicken und war Thema einer Fülle von literaturtheoretischen Abhandlungen.209 Sie war, so könnte man pointiert festhalten, ein älterer Verwandter der Kulturkritik, die einerseits viel von ihm übernahm, sich aber gleichzeitig – gerade zur Stunde ihrer Geburt – auch von ihm abgrenzen musste, um ihre eigene diskursive Identität sicherzustellen. Satire ist eine kritische Diskursform, in der, wie es bei Horaz heißt, Wahrheit scherzend vorgetragen wird (­ridentem dicere verum).210 Sie beschreibt typologisierte Verhaltensweisen in einer verzerrten, übertriebenen Art und Weise, die deren Eigenart als lächerlich bloßstellt. Wenn sie auch in erster Linie auf Unterhaltung – auf den Reiz des Wiedererkennens und der Entlarvung  – abzielt, so kann sie durchaus zum Ausgangspunkt oder Mittel einer Gesellschaftskritik werden. Systematisch ist sie aber von Kulturkritik zu unterscheiden, da es ihr nicht wie dieser ums Ganze geht. Im Gegenteil, für ihre rhetorische Wirkung ist es geradezu notwendig, dass die 206 Ebd., S. 28–29. 207 Ebd., S. 28. 208 Ebd. Siehe auch: Rigoley de Juvigny, De la décadence, S. 359–360, 369–370, 418–420, 430–431. 209 Vgl. Weinbrot, Eighteenth-Century Satire. 210 Zit. n. Arntzen, Satire, S. 346. Siehe auch: Mortier, Satire. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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entlarvten Lebensformen, Verhaltensmuster und Stereotype von ihrem Umfeld getrennt werden. Das Einzelne steht nicht ›für‹ das Ganze, sondern erhält seine Konturen in Kontrast zu ihm. Während Kulturkritik das einzelne Phänomen als stellvertretendes Symptom einer sich im Verfall befindenden Lebensform (Geist, Kultur, Zeitalter) begreift, verbleibt Satire stets im Modus der Auf­ zählung. Solche analytischen Trennungen helfen dem Diskurshistoriker, seinen Blick zu schärfen. In der zeitgenössischen Praxis des Schreibens und Lesens aber waren solche Grenzen nicht immer so klar gegeben. Im Artikel ›Satire‹ von ­Johann Georg Sulzers (1720–1779) »Allgemeine Theorie der Schönen Künste« (1771/1774) wurde dieses Problem ausdrücklich behandelt. Unter Satire habe man, so Sulzer, eine Schreibweise zu verstehen: […] darin Thorheiten, Laster, Vorurtheile, Mißbräuche und andre der Gesellschaft, darin wir leben, nachtheilige, in einer verkehrten Art zu denken oder zu empfinden gegründete Dinge, auf eine ernsthafte, oder spöttische Weise, aber mit belustigendem Witz und Laune gerüget, und den Menschen zu ihrer Beschämung und in der Absicht sie zu bessern, vorgehalten werden.211

Diese zuletzt genannte Absicht habe sie gemein mit der Schreibweise eines alternativen Schriftstellertypus, den Sulzer als »Moralisten« oder »moralischen Philosophen« kennzeichnete. Das gemeinsame Ziel der beiden sei es, die »eingerissene, oder einreissende Schäden des sittlichen Menschen zu heilen«.212 Dennoch gebe es einen klaren Unterschied: die Mittel, mit denen sie dieses zu erreichen versuchten. Der »belustigende Witz und Laune« des Satirikers grenze ihn wesentlich vom ernsten Tonart des Moralisten ab. Dieser nihmt den ernsthaften lehrenden, vermahnenden, warnenden Ton an, stellt das Uebel bisweilen nach seinem Ursprung, bisweilen in seiner allgemeinen Beschaffenheit, oft in seinen schädlichen Folgen, aber allezeit unmittelbar in dem Ton des Lehrers vor. Ganz anders verfährt gemeiniglich der Satiriste. Ihn selbst hat sein Stoff entweder in verdrießliche, oder in spottende, oder blos lustig scheinende Laune gesetzt, und diese theilet er seinem Leser mit.213

So klar diese Unterscheidung auf den ersten Blick schien, in der Praxis würde es, wie Sulzer zugab, immer wieder vorkommen, dass der eine Typus in »des andern Bahne« gerate. Bei einzelnen Autoren, manchmal sogar innerhalb einzelner Texte, fänden sich der »lachende und spottende Ton« des Satirikers und der »Ton eines väterlichen Lehrers« des Moralisten nebeneinander und vermischten 211 Sulzer, Allgemeine Theorie, Bd.  2, Art.  ›Satire‹, S.  996–997. Vgl. Scharloth, Sprach­ normen, S. 94–97. 212 Sulzer, Allgemeine Theorie, Bd. 2, S. 998. 213 Ebd. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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sich. Nicht immer sei es also möglich, genau zu unterscheiden, wo der eine aufhörte und der andere begann. Gerade solche Übergänge aber brachten, so kann aus historischer Perspektive hinzugefügt werden, die Notwendigkeit expliziter Abgrenzungen mit sich, die einerseits nie endgültig gelingen konnten, andererseits dennoch – oder genauer: gerade deswegen – selbst Teil des kulturkritischen Diskurses wurden. Es gab für die entstehende Kulturkritik gute Gründe, sich von der Satire abzugrenzen.214 Erstens hatte deren mondäner Erfolg sie für die Kritiker der gesel­ ligen Welt unbrauchbar gemacht. »Satire is the Poetry of a Nation highly polished«, schrieb der englische poet laureate Thomas Warton (1728–1790) im Jahr 1781.215 Als typische Ausdrucksweise der geselligen Gesellschaft eignete sie sich aber kaum noch zu ihrer Bekämpfung. Wer sich von der Zwangsjacke der geselligen Welt zu befreien suchte, konnte ihr durch die Waffen der Satire und des bel-esprit nicht entkommen. Zweitens sprach, auf dieses Phänomen ist schon im ersten Kapitel hingewiesen worden, gerade ihre lange Tradition gegen die Brauchbarkeit der Satire. Sie war eine altbekannte Sprachform; ihre Stilistik war leicht erkennbar. In gewisser Weise gehörte dies gerade zu ihrer rhetorischen Funktionalität, da es den Lesern die richtige Rezeptionshaltung vorgab. Schon vor der Pointe erschien auf ihren Lippen ein erwartungsvolles Lächeln. Die Kulturkritik dagegen brauchte für ihre rhetorische Wirkung das Pathos der Ein­ maligkeit. Wo ihre Formen als altbekannte erschienen, wo sie selbst als längst etablierte Diskurstradition erkannt wurde, verlor sie ihre Überzeugungskraft. Unter dem juvenalschen Motto difficile est satiram non scribere erschien am 26. August 1756 in »The World« ein offener Brief an den Herausgeber, in dem die lasterhafte Gewohnheit modischer Satiriker, die Menschheit in einem »very unnatural light« darzustellen, ausführlich kritisiert wurde. Die lange Tradition der Satire spreche – wiederholte der Autor ein geläufiges Argument – gegen ihre spezifische Relevanz für die zeitgenössische Kultur. Zu jeder Zeit hätten sich »a few splenetic conceited wretches« gefunden, die aus einem »false notion of wit« heraus gemeint hätten, sich über die Korruption ihrer Gegenwart beklagen zu müssen.216 »This species of writing is by no means of modern invention, and consequently can have no essential connexion with the reigning manners of the present times.«217 Wenn es dennoch eine Verknüpfung gab, meinte der Autor – offensichtlich unbekümmert, damit seiner früheren Aussage zu wider­ 214 Und nicht nur für sie: »Tout le monde employe la Satyre,« begann Charles-Louis ­Bardou-Duhamel (1699–1759) seine Abhandlung über das Thema, »& presque personne ne veut convenir ouvertement qu’il en fait usage.« [Bardou-Duhamel], Sur la satyre, S. 1. 215 Warton, History of English Poetry, S.  500. Der Vers prägte als Motto das Titelblatt von: anon., School for Satire. Siehe auch: Mercier, Du Théâtre, S.  78. Vgl. Lilti, Sociabilité, S. ­437–438, 442. 216 Anon., Thursday, August the 26th, 1756, S. 1146, 1147. 217 Ebd., S. 1146. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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sprechen  –, so sei diese Art schmunzelnder Kritik gerade ein Markenzeichen fortgeschrittener Zivilisation. It is very remarkable that this whim of degeneracy has always been most prevalent in the most refined and enlightened ages, and that it has constantly encreased in exact proportion with the progress of arts and sciences. Every confederate person therefore, upon such a discovery, will of course be enclined to consider all invectives against the corruption of the present times, as so many convincing testimonies of our real improvement.218

Angesichts solcher Argumente war es kein Wunder, dass Autoren, die sich um eine kritische Analyse ihrer Kultur bemühten, es für notwendig hielten, sich vom Typus des Satirikers abzugrenzen. Wer bloß Satire betrieb, war selbst nicht ernst, und konnte demzufolge auch keinen Anspruch darauf erheben, ernst genommen zu werden. »He will be much mistaken, who expects to find here a Vein of undistinguishing and licentious Satire«, wehrte John Brown solche Vorwürfe von vornherein ab. Sein Ziel sei es dagegen »[to] hold up a true Mirroir to the Public«.219 Man stilisierte sich zum objektiven Beobachter, unabhängigen Richter, weisen Philosophen oder weitsichtigen Staatsmann. Zentraler Bestandteil solcher Selbststilisierungen war aber stets die Wahl eines ernsten, manchmal etwas schwerfälligen Tones, der den Lesern vermitteln sollte, dass das Vorgebrachte nicht der bloßen Unterhaltung wegen, sondern zum Zwecke einer fundamentalen Neuordnung der Kultur geschrieben worden war. Solche tonale Abgrenzungen gehörten alsbald selbst zu den Diskursformen der Kulturkritik. Aus demselben Grund wurden sie aber mit der Zeit wiederum problematisch. Der schwere Tonfall, der es den Kritikern ermöglichte, sich von der leichtsinnigen Satire abzugrenzen, war ebenso leicht erkennbar als imitierbar. Gerade sein Erfolg führte dazu, dass er sich bald als eigenes Register bemerkbar machte. Der Literaturwissenschaftler Antoine Compagnon hat in seiner Literaturgeschichte der antimodernes ihren Stil als eines ihrer charakteristischen Merkmale beschrieben. Die Schriften von Joseph de Maistre über Chateaubriand, Burke und Baudelaire bis hin zu Roland Barthes verdankten, so Compagnon, ihre literarischgeschichtliche Zusammengehörigkeit unter an­ derem der ihnen gemeinsamen Tendenz der vitupération. Compagnon brachte die Eigenart dieses Stils mit seiner véhémence und der énergie du désespoir in Verbindung und nannte ihn einen ton du prophète.220 Was Literaturhistorikern heute ermöglicht, eine Stilistik der Kulturkritik zu definieren, war auch den Zeitgenossen bekannt. Ihre Gegner beschrieben ihren Ton konsequent als Schreien, Ächzen oder Klagen, ihre Protagonisten als miss 218  Ebd., S. 1147. 219 Brown, Estimate, S. 15. Siehe auch: Forrester, The Polite Philosopher, S.  5; E. Burke, ­Reflections, S. 187. 220 Compagnon, Les antimodernes, S. 132–149. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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ratene Priester oder Propheten.221 Die ständige Gefahr, in eine durchschaubare Stilistik abzugleiten, führte die rhetorische Notwendigkeit mit sich, immer erneut die Distanz zu den bekannten literarischen Formen zu wahren. Um ihre Deutungshoheit als Avantgarde auf der Höhe der Zeit rhetorisch aufrecht zu erhalten, mussten, wie Wolfgang Ullrich gezeigt hat, die Kulturkritiker die Formensprache ihrer Selbstinszenierung ständig erneuern.222 Daher der persönlich gefärbte Stil der Kulturkritiker, ihre untypische Typik, die einerseits unwiederholbar individuell, aber gerade deswegen wiederum erkennbar ist. Daher auch die Notwendigkeit, sich mit den stereotypischen Fremdbeschreibungen der Kulturkritik auseinander zu setzen und – immer wieder, man möchte fast sagen: in musterhafter Weise – ihre Einmaligkeit zu betonen.

Misanthropie und das Selbstbild des Kritikers Das Hartnäckigste der Stereotype, mit denen sich die Kulturkritik zu dieser Zeit auseinandersetzte, war sicherlich das des Misanthropen oder, wie ihn das gesellige Jahrhundert auch nannte, des »homme insociable«.223 Als literarisches Thema war er von Lukian von Samosata, Menander und Shakespeare bearbeitet worden. Für die Diskussion im 18. Jahrhundert aber war vor allem Molières Theaterstück »Le Misanthrope ou l’Atrabilaire amoureux« (1666) bedeutsam.224 Das Stück wurde das ganze Jahrhundert lang immer wieder neu aufgeführt und inspirierte zahllose Nachahmungen und Überarbeitungen.225 Entschei 221 Levesque, L’homme moral, S. 2. Maistre, selbst gewiss kein leichtfüßiger Stilist, nannte Rousseaus Ton »hautain et apocalyptique« und redete von einem »style d’initié«. ­Maistre, Examen, S. 548. Siehe auch: Borde, Profession de foi philosophique, S. 25–27; Butel-­Dumont, Théorie du luxe, Bd. 2, S. 9; Lenz, Der neue Menoza, S. 44–50; Knox, On Modern Literature, S. 33; Godwin, Fleetwood, Bd. 1, S. 161–162; Nicolai, Über das itzige verderbte Zeitalter. 222 Vgl. Ullrich, Zentrifugalangst und Autonomiestolz, S. 11–14. 223 d’Holbach, Système social, Bd. 1, S. 105. Vgl. Huning, Misanthropie. 224 Molière, Le Misanthrope. Wenn man die Datenbank César (Calendrier électronique des spectacles sous l’ancien régime et sous la révolution, http://cesar.org.uk/cesar2/index. php) zugrunde legt, fällt auf, dass das Stück nach seinem Anfangserfolg (zwischen 1667 und 1685 wurde es mehr als 100-mal aufgeführt) während des gesamten Untersuchungszeitraums immer wieder aufgenommen wurde, mit einem erneuten Höhepunkt in den siebziger und achtziger Jahren (etwa 20-mal) und einer regelrechten Explosion in der Revolutionszeit (66 Mal zwischen Oktober 1789 und Ende 1799) (Stand: 1.04.2009). Vgl. die einschlägige Mono­graphie: Hay, Darstellung des Menschenhasses, insbes. S. 15–62. 225 Ein kleiner Griff in die vielfältigen Bearbeitungen des Stoffes für die französische Bühne: Barante, Arlequin misantrope (1697); La Drévetière, Timon le misantrope (1722); Marmontel, Le Misanthrope corrigé (1765); Fabre d’Eglantine, Le Philinte de Molière, ou, La suite du Misantrope (1790); ›Le citoyen‹ Daubian, Le misantrope travesti (1797); Demoustier, Alceste a la campagne, ou, Le misantrope corrigé (1798); Desprez-Valmont, Le véridique, ou Le misantrope au village (1802); Pinen Duval, Le misantrope du Marais, ou la jeune Bretonne (1832). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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dend war dabei, dass Molière den Typus im Kontext der Höflichkeitsproblematik in­szeniert hatte.226 Die zentralen Figuren der Komödie sind ›Menschenfeind‹ Alceste und sein mondäner Freund Philinte. Ersterer fordert auch im geselligen Leben uneingeschränkte Aufrichtigkeit. Jede höfliche Konvention ist ihm verhasst, was schließlich dazu führt, dass er sich enttäuscht aus der Gesellschaft zurückzieht. Philinte dagegen ist der Meinung, dass Alcestes Moralismus der Menschheit zuviel abverlangt. Er schließt nicht die Augen vor ihren Fehlern, meint aber gleichzeitig, sie seien unvermeidbar. Gelassen fordert er seinen Dialogpartner auf: »des mœurs du temps mettons-nous moins en peine, / et faisons un peu grâce à la nature humaine.«227 Molière inszenierte zwei einander diametral gegenüberstehenden Leitbilder des Philosophen, die auch die sprichwörtliche Opposition zwischen Voltaire und Rousseau noch prägen würden.228 Alceste verkörpert den unbeugsamen Moralisten, der sich berufen fühlt, die korrupte Menschheit nach den strengen Kriterien seiner Moral zu beurteilen. Seine Versuche, sie zu verbessern, müssen unweigerlich scheitern. Damit hat er sich selbst zu Einsamkeit verurteilt. Philintes Philosophie dagegen ist eine gesellige, sie ist pragmatisch orientiert und fühlt sich in der Welt zu Hause: »je crois qu’à la cour, de même qu’à la ville, / mon flegme est philosophe autant que votre bile.«229 Die beiden Protagonisten verkörperten aber nicht nur zwei synchron bestehende, konkurrierende Philosophiebegriffe – die Philosophie nach der Welt und in ihr und die Philosophie gegen die Welt und über sie hinaus – sondern, wie Hans Ulrich Gumbrecht und Rolf Reichardt nachgewiesen haben, auch zwei Phasen in der Entwicklung des Philosophen-Typus in der Wende vom späten 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts.230 Für Molière war der Philosoph weiterhin ein Misanthrop. Selbst wenn Phi­ lintes weltliche Lebensform der Alcestes im Endeffekt vorgezogen wurde, stand ihr philosophischer Status zu dieser Zeit noch unter Rechtfertigungsdruck. Der typische Philosoph war bis zu Beginn des 18.  Jahrhunderts weiterhin der zu 226 »Le Misantrope se récrie beaucoup contre [la politesse, Th. J.]: il lui préfere ses brusqueries choquantes & sa franchise gothique.« Toussaint, Les mœurs, S.  444. Siehe auch: ­Trublet, De la misantropie. 227 Molière, Le Misanthrope, S. 51. Vgl. Scheffers, Höfische Konvention, S. 149–201. 228 Auch wurde er mit dem ›Stoiker‹ und dem ›Zyniker‹ verknüpft. Vgl. Sonenscher, SansCulottes, S. 138–177. 229 Molière, Le Misanthrope, S. 51. Dazu schrieb Marmontel: »Molière met en opposition les mœurs corrompues de la société, et la probité farouche du Misanthrope: entre ces deux excès paraît la modération d’un homme du monde, qui hait le vice, mais qui ne croit pas devoir s’ériger en réformateur.« Marmontel, Éléments de littérature, Art.  ›Comédie‹, Bd.  12, S. ­493–494. Vgl. France, Politeness and its Discontents, S. 60–62. 230 Gumbrecht und Reichardt, Philosophe, Philosophie, S. 12–24. Siehe auch: Lüsebrink, Vom »Gelehrten«, S. 307–309. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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rückgezogen lebende, einsame Weise. Das zeigte sich zum Beispiel da, wo Molières Misanthropiebegriff kritisiert wurde. Der niederländische Schriftsteller Justus van Effen (1684–1735) gab zwischen 1711 und 1712 unter dem Titel »Le Misanthrope« eine Zeitschrift heraus, die sich stilistisch und thematisch an Addison und Steeles »Spectator« orientierte. Als er auf den ersten Seiten den Titel seiner neuen Veröffentlichung erörterte, grenzte er seinen Misanthropiebegriff von Molières Alceste ab. Dessen unbeugsame Aufrichtigkeit sei zwar – dies im Gegensatz zu Molières Deutung – der »infâme politesse« des Höflings vorzu­ ziehen, letztendlich sei er aber doch zu launisch, als dass Van Effen ihn seinen Lesern zum Exempel empfehlen könne. Sein Bild des Misanthropen war das eines typischen (früh)aufklärerischen Philosophen: Un Misantrope, tel que je voudrois être, est un Homme qui dès son enfance s’est fait une habitude de raisonner juste, & un devoir de suivre dans sa conduite l’austére exactitude de ses raisonnemens. […] Le bonheur ou il aspire, c’est la souveraine liberté de sa raison, qu’accompagnent une médiocrité aisée, & le doux commerce d’un petit nombre d’amis vertueux.231

Von den dreißiger Jahren an, änderte sich der diskursive Typus des Philosophen grundsätzlich. Von seiner Position des Außenseiters rückte er ins Zentrum der Gesellschaft. Er wurde zum ›Subjekt der Aufklärung‹ und zur Leitfigur eines Zeitalters. Der neue Philosoph war nicht länger der kontemplativ-tugendhafte Eigenbrödler, der Misanthrop, sondern arbeitete für die Welt und befand sich in ihr.232 So brüstete sich der »Spectator«, der in der Verbreitung dieses neuen ­Typus eine zentrale Rolle spielte: It was said of Socrates, that he brought philosophy down from heaven, to inhabit among men; and I shall be ambitious to have it said of me, that I have brought philosophy out of closets and libraries, schools and colleges, to dwell in clubs and assemblies, at tea-tables, and in coffee-houses.233 231 Van Effen, I. Discours. Vgl. zu dieser Zeitschrift: Graeber, Moralistik und Zeitschriftenliteratur. Siehe auch: J.-F. Bernard, Réflexions morales, S. 10–19; Duclos, Considérations, S. 17. 232 Die zentrale Bedeutung des geselligen Erfolgs wurde von Voltaire in einem Brief an Helvétius, in dem er den Adressaten als »mon cher philosophe« anredete, auf den Punkt gebracht: »Ce siècle commence à être le triomphe de la raison; les jésuites, les jansénistes, les hypocrites de robe, les hypocrites de cour auront beau crier, ils ne trouveront dans les honnêtes gens qu’horreur et mépris. […][I]ls pourront faire brûler quelques bons livres, mais nous les écraserons dans la société, nous les réduirons à être sans crédit dans la bonne compagnie; et c’est la bonne compagnie seule qui gouverne les opinions des hommes.« Voltaire, Lettre de 27 october 1760, S. 220. 233 [C.], No. 10, Monday, March 12, 1710–11, S. 38. Siehe auch: Forrester, The Polite Philosopher. Für den französischen Kontext war mindestens so bedeutsam: anon., Le Philo­ sophe. Zur Figur des Sokrates in diesem Zusammenhang: vgl. E. Bury, Littérature et politesse, S. 170–175. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Der neue Philosoph suchte die Interaktion mit der Welt. Die Form seiner Veröffentlichungen – kurze Essays, Dialoge, Briefe, philosophische Erzählungen – zielte auf eine weite Resonanz. Sein Tugendbegriff war gleichzeitig pragmatisch und sozial orientiert.234 Dieser Wandel des Philosophen-Typus war keineswegs auf Frankreich beschränkt. Auch in England, wo das Bild des Philosophen stärker an das des Privatgelehrten gebunden blieb, und in Schottland und Deutschland, wo die Philosophie ihren natürlichen Ort an den Universitäten hatte, wurde ihre Ausrichtung auf praktische Weltweisheit stärker betont.235 Auch hier rückte der Philosophiebegriff allmählich in die Nähe des Philanthropiebegriffs. Eine weitere Dimension öffnete sich, da der der französisierte philosophe auch als modische Erscheinung und umstrittenes Importprodukt in geselligen Kreisen diskutiert wurde. In einem Aufsatz Christian Friedrich Daniel Schubarts (1739–1791) in seiner »Deutschen Chronik« trafen die beiden Philosophen-Typen, der »Philosoph nach der Mode« und der »von der rauhen Klasse«, aufeinander: Da kommt ’n Bürschlein daher im ellenhohen Tappon, riecht wie ’ne Apothek, ist hohl und dürr, daß er hallt; hat nach der neusten Parisermode weder Waden noch Hirn; macht ’n Hasenmäulchen, und spricht im Falsettenton: Wohl uns, daß unsere Tage in das aufgeklärte philosophische Jahrhundert fielen! […] »Hol’ dich der Henker, du Hasenfuß, sagt ein Philosoph von der rauhen Klasse! Solche Zuckerpüppchen, wie du bist, beweisen’s gar schön, in welchen abscheulichen Zeiten wir leben. – Warum mußte doch Gott meine grauen Haare aufbewahren, um ein Jahrhundert in dieser tödtlichen Ermattung zu erblicken?«236

Im Lichte dieser semantischen Umorientierung sahen sich die aufklärerisch orientierten philosophes gezwungen, sich von ihren ›misanthropischen‹ Vorgängern abzugrenzen.237 Es galt, die ungesellige Konnotation des Philoso­ 234 Einer der vielen, die sich als philosophisch inspirierter Philanthrop verstanden und sich deswegen vom Misanthropen abgrenzten, war der »philosophe de Sans-Souci«, Friedrich II. Vgl. Butzlaff, Friedrich der Große. Voltaire nannte ihn nach seiner Rückkehr nach Frankreich spottend einen »Misanthrope et farouche avec un air humain«. Zit. in: Preuß, Friedrich der Große, S. 399–400. Vgl. Dieckmann, Themen und Struktur, S. 18–19. 235 Vgl. Schneiders, Zwischen Welt und Weisheit; ders., Concepts of Philosophy. 236 Schubart, Wunden unsers Jahrhunderts, S. 281–282. Siehe auch: Salzmann, Carl von Carlsberg, Bd. 3, S. 85. 237 In einem Aufsatz parodierte Schubart aus dem Blickwinkel der Aufklärung das Bild des misanthropischen »Nachtwandler[s] am hellen Tage«: »Unsere gute Erde, das kostbare Pläzchen der besten Welt, das uns der liebe Gott zu unserer Freuden Wohnung angewiesen hat, muß sich doch immer gar arg von allerley mißmuthigen, gallsüchtigen Leuten, die irgend ein Bruder oder Verwanter des bösen Asmodi [ein Dämon aus der jüdischen Mythologie, Th. J.] besessen hat, durchhecheln lassen. Das ist ’ne gottlose, böse, arge Welt! ächzen mit tiefem misvergnügten Gebrumme diese Misanthropen. Sie leben wie Käuzlein in finstrer Einsamkeit, und heulen wie Nachteulen über die in frölichem Genuß der Welt dahin lebende Erdbewohner.« Schubart, Die beste Welt, S. 418–419. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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phiebegriffs abzustreifen und eine gesellschaftlich wirksame Philosophie zu etablieren. In der Einleitung zu seiner Geschichte der Philosophie setzte sich AndréFrançois Boureau-Deslandes (1698–1757) ausdrücklich mit dem Bild des Philosophen auseinander, das ihn außerhalb der Gesellschaft platzierte. Zwar habe es in der Geschichte immer wieder Philosophen gegeben, die sich von den Menschen abgesondert hatten, »par des airs concertés, ou par des habits extraordinaires, ou par leurs gestes, leur ton de voix, ou par un goût continué de disputes & de crieries«.238 Das aber sei kein Ausdruck der Philosophie selbst gewesen. Ihre wahre Gestalt sei eine menschliche und auf den Nutzen für die Menschheit ausgerichtete: »La principale utilité qu’on tire de la Philosophie, c’est le bonsens, c’est l’humanité, c’est la politesse des mœurs, c’est l’amour de la société«.239 Claude-Joseph Boncerf, der der Umdeutungsarbeit des Philosophiebegriffs 1766 eine Schrift mit dem klingenden Titel »Le vrai philosophe, ou L’usage de la philosophie, relativement à la société civile, à la vérité & à la vertu« widmete, fasste den ersehnten begrifflichen Wandel in einem Abschnitt mit dem Titel ›Caractère du Philosophe sociable‹ noch einmal zusammen: Dans l’esprit de bien des gens, un Philosophe étoit, il n’y a pas encore fort longtems, un Misantrope, ou un Cynique. La Philosophie aimable qui regne à présent parmi le beau monde, a donné une autre idée du Philosophe. Non, le vrai Philosophe ne fuit point le commerce des Hommes. S’il fait vivre avec lui-même, il fait aussi vivre avec les autres. Une dureté sauvage n’est point son caractère; au contraire, ses mœurs ne respirent qu’une élégante urbanité. Il donne l’exemple de toutes les vertus sociales, & les chérit, parce qu’il connoît mieux que personne combien elles contribuent au bonheur de la Société.240

Als der mondäne philosophe allmählich zum Leitbild einer Epoche aufstieg, wurde seine Kontrastfigur, der Misanthrop, zum Problem.241 Er verfehle, so schien es jetzt, nicht nur die Aufgabe des Philosophen, sondern die menschliche Natur überhaupt. Im besten Fall sei seine Menschenfeindschaft erklärungsbedürftig oder lächerlich, im schlimmsten wurde sie, wie in der »Encyclo­ 238 Boureau-Deslandes, Histoire critique de la philosophie, Bd. 1, S. xi. 239 Ebd., Bd. 1, S. xiii. Siehe auch: Legendre, Les mœurs, S. 173–175. 240 Boncerf, Le vrai philosophe, S. 3–4. In den Worten Caracciolis: »L’homme qui vit au milieu de ses frères, pour leur répondre, pour les soulager, pour les éclairer, est le vrai Philosophe, & non l’homme qui se concentre orgueilleusement dans un triste réduit, & qui affecte de ne vivre que pour lui seul: il devoit être hibou! il a manqué son état.« Caraccioli, L’Europe Françoise, S. 92. Siehe auch: Destouches, Le philosophe marié, S. 76–77; anon., Le Philosophe, S. 187–188; Hemsterhuis, Alexis, S. 14–15. 241 Die Kontroverse gipfelte im Werk des Schweizer Arztes Johann Georg Zimmermann (1728–1795), der nach mehreren kürzeren Abhandlungen zwischen 1784 und 1785 ein vierbändiges Werk zum Thema veröffentlichte. Zimmermann, Einsamkeit. Siehe auch: Hey, Discourses on the Malevolent Sentiments, S. 26–53. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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pédie«, zu einer gefährlichen Psychopathologie erklärt.242 In Romanen und moralischen Erzählungen erschien der Misanthrop als eine Figur, die sich, von schlechten Erfahrungen enttäuscht, aus dem geselligen Leben zurückzog. Am Ende solcher Geschichten wurde er aber fast ausnahmslos wieder mit Gott und der Welt versöhnt.243 Stereotype jedoch sind zäh. Aller Umdeutungsarbeit von Seiten der philo­ sophes zum Trotz blieben die Konnotationen des älteren Philosophentypus während des gesamten 18.  Jahrhunderts lebendig. Sie ließen sich jederzeit erneut aktualisieren. Dies geschah, als Rousseau mit seinen beiden Diskursen ins Rampenlicht der literarischen Welt trat. Da entbrannte die Debatte um die Misanthropie erneut. Voltaire, der seine philanthropische Philosophiekonzeption anfangs gegen Pascal abgegrenzt hatte (»J’ose prendre le parti de l’humanité contre ce misanthrope sublime«), ging jetzt öffentlich mit Rousseau ins Gericht. Dessen selbsterwählte Einsamkeit konnte nur allzu einfach als Menschenfeindschaft ausgelegt werden. Unvergesslich ist Voltaires öffentliches Antwortschreiben auf dem zweiten Diskurs, in dem er sich für dieses »livre contre le genre humain« bedankte und grinsend lobte: »On n’a jamais employé tant d’esprit à vouloir nous rendre bêtes.«244 In seinem Reisebericht eines Russen in Paris (1760) brachte er die Kontroverse noch einmal auf den Punkt. ›Der Pariser‹, die Gestalt des zivilisierten Menschen, erklärt seinem Gast: Vous parlez de Molière: oh! son règne est passé; Le siècle est bien plus fin, notre scène épurée […] Au lieu du Misanthrope on voit Jacques Rousseau, Qui, marchant sur ses mains, et mangeant sa laitue, Donne un plaisir bien noble au public qui le hue.245 242 Aus psychopathologischer Sicht galt Misanthropie gleichzeitig als Symptom und als gefährlichste Form der Melancholie. anon., Misanthropie; Diderot, Mélancolie. Siehe auch: Shaftesbury, The Moralists, S.  197–198; Tissot, De la santé des gens de lettres, S.  95–96; ­Butel-Dumont, Théorie du luxe, Bd. 1, S. 97; Bd. 2, S. 9; Chamfort, Maximes, S. 115. Zur Tradition des pathologischen Melancholie-Verständnis vgl. Heidbrink, Melancholie und Moderne, S. 25–33. 243 Vor allem in England und Deutschland waren solche Erzählungen populär. Siehe: Smollett, Peregrine Pickle, S. 416–424; Goldsmith, Asem, an Eastern Tale, S. 353–360; Pfeffel, Der Einsiedler; Cumberland, Chaubert the Misanthrope; De Cubières, Rien de trop; Godwin, Fleetwood, Bd. 2, S. 189–197; [J. S.], The Misanthrope; anon., Memoirs of a Misanthrope. Vgl. Hay, Darstellung des Menschenhasses, S. 63–74, 115–117; Schings, Melancholie und Auf­ klärung, S. 246–255. 244 Voltaire, Lettres philosophiques, Brief xxv, S. 2; ders., Brief vom 30. August 1755 an Rousseau. Siehe auch: Herder, Briefwechsel über Ossian, S. 18. Rousseau antwortete, dass gerade die Menschen in der »société actuelle« sich als wilde Bestien verhielten. Rousseau, Dernière réponse, S. 91–92. Siehe auch: ders., Discours sur l’inégalité, S. 217–218; ders., Brief vom 10. September 1755 an Voltaire. 245 Voltaire, Le Russe à Paris, S. xxxviii–xxxix. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Die letzten Sätze spielten auf die erfolgreichen Satire »Les philosophes« an, die im selben Jahr von Charles Palissot (1730–1814) auf die Bühne gebracht worden war und in der Rousseau tatsächlich auf allen Vieren und Salat fressend dar­ gestellt worden war.246 Sein Leben lang setzt sich Rousseau mit solchen Charakterisierungen aus­ einander. Jede seiner autobiographischen Schriften enthielt erneute Rechtfertigungen seines Austritts aus der Gesellschaft. Vor allem der oft zitierte Vorwurf seines früheren Freundes Denis Diderot (1713–1784) – »que l’homme de bien est dans la societé, & qu’il n’y a que le méchant qui soit seul« – hatte ihn hart ge­ troffen.247 In seinem »Lettre à d’Alembert« (1758) über das Theater ließ er eine detaillierte Kritik von Molières Darstellung des Misanthropen mit einfließen, in der er sich ausführlich mit dem Typus auseinandersetzte.248 Das Wort Misanthrop scheine, so schrieb er, buchstäblich genommen einen Hass auf die gesamte Menschheit zu implizieren. Eine solche Misanthropie à la lettre sei tatsächlich verächtlich, komme aber in der Realität kaum vor. Die eigentliche Wesensart des Misanthropen sei eine ganz andere: »Un homme de bien qui déteste les mœurs de son siècle et la méchanceté de ses contemporains; qui, précisément parce qu’il aime ses semblables, hait en eux les maux qu’ils se font réciproquement et les vices dont ces maux sont l’ouvrage.«249 Dass Molière aus dem tugendhaften Alceste einen lächerlichen Fanatiker gemacht, Philinte dagegen zum Exempel einer besonnenen Lebensführung stilisierte habe, sei nach Rousseau kein Zufall. Dies resultiere vielmehr unmittel 246 Palissot, Les philosophes. Siehe auch: [Grimm], Paris, le 1er juin 1760. 247 Diderot, Le fils naturel, S.  76. Rousseau wurde »l’homme insociable«, »misantrope ­sublime« und »agresseur du genre humain« genannt. Borde, Profession de foi philosophique, S. 7–8, 35; De Cubières, Le défenseur de la philosophie, S. 7. Vgl. Gordon, Citizens, S. 178. Übrigens meinte Goethe, dass Diderot ebenso wie Rousseau »von dem geselligen Leben einen Ekelbegriff« verbreitet habe. Goethe, Dichtung und Wahrheit. Zweyter Theil, S. 64. 248 Rousseau, À Mr. d’Alembert, S.  54–73. Es erschienen verschiedene Antworte: Marmontel, Apologie du théatre, S.  206–232; d’Alembert, Lettre à M. J. J. Rousseau, S.  110–117; Lessing, Hamburgische Dramaturgie, Bd. 1, S. 223–224. Siehe auch: [Geoffroy], Spectacles de Paris. 249 Rousseau, À Mr. d’Alembert, S. 56. Und: »Le caractère du misantrope n’est pas à la disposition du poëte; il est déterminé par la nature de sa passion dominante. Cette passion est une violente haine du vice, née d’un amour ardent pour la vertu, et aigrie par le spectacle continuel de la méchanceté des hommes. Il n’y a donc qu’une ame grande et noble qui en soit susceptible. L’horreur et le mépris qu’y nourrit cette même passion pour tous les vices qui l’ont irritée sert encore à les écarter du cœur qu’elle agite. De plus, cette contemplation continuelle des désordres de la société le détache de lui-même pour fixer toute son attention sur le genre humain. Cette habitude élève, agrandit ses idées, détruit en lui des inclinations basses qui nourrissent et concentrent l’amour-propre; et de ce concours naît une certaine force de courage, une fierté de caractère qui ne laisse prise au fond de son âme qu’à des sentimens dignes de l’occuper.« Ebd., S.  60–61. Siehe auch: ders., Les Confessions, Bd.  1, S.  106. Vgl. Trilling, Sincerity, S. 17–18; Scheffers, Höfische Konvention, S. 154, 192–199; Hulliung, The Autocritique of Enlightenment, S. 35–36, 128, 224–225. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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bar aus Molières Wunsch, dem Publikum zu gefallen. Das Stück beschreibe, trotz seines Titels, im Grunde also gar keinen Misanthropen im eigentlichen Sinne. Unter dem Druck des Publikumsgeschmacks sei Alceste zu einer grotesken Mischfigur aus Moralist und verlogenem homme du monde ausgewachsen. Unter den Bedingungen des Theaters sei seine Tugend als lächerlich dargestellt worden. Die Logik der Charaktere hätte aber Anderes vorgeschrieben. In den Augen Rousseaus war Philinte der typische Fall eines homme du monde, der nur seine eigenen Interessen im Auge hat. Der Misanthrop – richtig verstanden – sei dagegen der tugendhafte Menschenfreund, der sich nur deswegen von der Gesellschaft abwende, weil er ihr eigentliches Wohl im Auge habe und sich mit ihrer verlogenen Realität nicht abzufinden vermöge. So rechtfertigte der promeneur solitaire seine sprichwörtliche Einsamkeit. Sie sei kein Ausdruck des Menschenhasses, sondern im Gegenteil aufrichtigster Menschenliebe.250 Obwohl die Wirkung Rousseaus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kaum überschätzt werden kann, war das Problem der Misanthropie nicht auf seine individuelle Bio- und Bibliographie beschränkt. Aus diskursgeschicht­ licher Perspektive erscheinen seine Auseinandersetzungen mit dem Begriff als ein sehr auffälliges und wirkungsvolles, in dieser Hinsicht aber wiederum un­ typisches Beispiel einer allgemeinen Problematik. Die Dominanz des philanthropischen Philosophiebegriffs ließ die kulturkritische Abkehr von der geselligen Welt als Menschenfeindschaft erscheinen. Das Selbstverständnis des Kulturkritikers aber war ein anderes. Seine Abkehr galt nicht dem Menschen überhaupt, sondern nur seiner verfallenen Gestalt in einem korrumpierten Zeitalter. Seine Klage wollte als Ausdruck wohlverstandener Philanthropie verstanden werden.251 Die Rechtfertigung der kulturkritischen Außenseiterposition erforderte demnach eine Auseinandersetzung mit der etablierten Semantik von Philan­ thropie und Misanthropie. Nicht immer wurde diese Aufgabe so explizit artiku­ 250 Auch in seinem letzten, unvollendeten Werk kam er noch einmal auf die Problematik zurück. Wie in den »Confessions« beschrieb er seinen Austritt aus der Gesellschaft als Re­ aktion auf eine Enttäuschung. Er war bemüht, seine Abneigung der geselligen Welt gegenüber von dem Menschenhass abzugrenzen. Nur in der Einsamkeit sei es ihm möglich gewesen, seine Menschenliebe aufrecht zu erhalten. »Alors pour ne les pas haïr il a bien-fallu les fuir; alors, me réfugiant chez la mere commune, j’ai cherché dans ses bras à me soustraire aux atteintes de ses enfants, je suis devenu solitaire, ou, comme ils disent, insociable et misanthrope, parce que la plus sauvage solitude me paraît préférable à la société des méchans, qui ne se nourrit que de trahisons & de haine.« Rousseau, Les rêveries, S. 204–205. Vgl. Baczko, Rousseau. Siehe auch: anon., Lines written by a Gentleman in Retirment. 251 Chamfort, Maximes, S. 70: »Pour avoir une idée juste des choses, il faut prendre les mots dans la signification opposée à celle qu’on leur donne dans le monde. Misantrope, par exemple, cela veut dire Philantrope«. Aber auch: »Tout homme qui à quarante ans n’est pas misanthrope, n’a jamais aimé les hommes.« Chamfort, Maximes, S. lii. Siehe auch: [Soret], Essai sur les mœurs, S. 94. Vgl. Aerts, Prometheus en Pandora, S. 34. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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liert wie von Rousseau. Wer sucht, findet sicherlich noch längere oder kürzere Überlegungen, wie von Lord Byron,252 Kant253 oder Chateaubriand254. Bedeutender für die Diskursgeschichte der Kulturkritik aber waren die ritualisierten Abgrenzungen, die im ›philosophischen Zeitalter‹ zu den typischen Formen des Diskurses gehörten. Kein Kritiker mochte sich selbst als »misantrope attrabilaire« oder »sermoneur fastidieux« verstanden wissen, auch wenn es ihm zumeist sehr wohl bewusst war, dass er von anderen für einen solchen gehalten wurde.255 Gerade durch solche fast reflexartig wirkenden abwehrenden Gebärden aber, bezeugten die Kritiker ihre semantische Verstrickung in der geselligen Welt, der sie entkommen wollten. Die Französische Revolution setzte, darin waren sich die Zeitgenossen weithin einig, nicht nur dem Ancien Régime, sondern auch der Gesellschaft der Geselligkeit ein Ende. Nicht, dass ihre Institutionen und Praktiken, die sich im 18. Jahrhundert etabliert hatten, auf einmal verschwanden. Abgesehen von einigen kurzen, durch die Wirren des Terrors und der Revolutionskriege bedingten Unterbrechungen blieben die vorrevolutionären Geselligkeitsformen bis weit in das 19.  Jahrhundert hinein erhalten. Mit der Rückkehr der Emigranten ging sogar ein merkliches Wiederaufleben des Gesellschaftslebens, mit seinen Salons und Bällen, gegenseitigen Visiten und Spaziergängen im Park, Operund Theaterbesuchen und gepflegten Umgangsformen – eine ›Restauration‹ der 252 In der Kritik seines »Childe Harold’s Pilgrimage« wurde Byron vorgehalten, er habe selbst die »gloomy and misanthropic colouring« seiner Hauptfigur angenommen. 1819 erschien darauf eine Persiflage unter dem Titel »Childe Albert, or the Misanthrope«. Doch da hatte Byron die Antwort schon vorweggenommen: »To fly from, need not be to hate, mankind«. Anon., [Rezension zu:] Childe Harold’s Pilgrimage, S.  467; anon., Childe Albert, or the Misanthrope; Byron, Childe Harold’s Pilgrimage, S. 177. Siehe auch: Ebd., S. 168; ders., I would I were a careless child, S. 200. 253 Kant überlegte in seiner »Kritik der Urteilkraft« (1790), ob die »Absonderung von aller Gesellschaft« unter bestimmten Bedingungen als etwas Erhabenes angesehen werden könne: »Sich selbst genug zu seyn, mithin Gesellschaft nicht zu bedürfen, ohne doch ungesellig zu seyn, d. i. sie zu fliehen, ist etwas dem Erhabenen sich Näherndes, so wie jede Überhebung von Bedürfnissen. Dagegen ist Menschen zu fliehen, aus Misanthropie, weil man sie anf­eindet, oder aus Anthropophobie (Menschenscheu), weil man sie als seine Feinde fürchtet, theils hässlich, theils verächtlich. Gleichwohl giebt es eine (sehr uneigentlich sogenannte) Mis­a nthropie, wozu die Anlage sich mit dem Alter in vieler wohldenkenden Menschen Gemüth einzufinden pflegt, welche zwar, was das Wohlwollen betrifft, philanthropisch genug ist, aber vom Wohlgefallen an Menschen durch eine lange traurige Erfahrung weit ab­ gebracht ist, wovon der Hang zur Eingezogenheit, der phantastische Wunsch, auf einem entlegenen Landsitze, oder auch (bei jungen Personen) die erträumte Glückseligkeit auf einem der übrigen Welt unbekannten Eilande, mit einer kleinen Familie, seine Lebenszeit zu­ bringen zu können, welche die Romanschreiber, oder Dichter der Robinsonaden, so gut zu nutzen wissen, Zeugnis giebt.« Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 136–137. 254 Chateaubriand, René, S. 105, 115, 138–139. 255 Villemaire, L’andrometrie, S. viii; Béliard, Lettres critiques, S. vi, 29; Schubart, Vaterländische Klagen, S. 65; Vauvenargues, Sur le caractère des différens siècles, S. 238. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Ge­selligkeit – einher. Und dennoch: Bei aller oberflächlichen Kontinuität ließ sich, so wurde in zeitgenössischen Diskursen immer wieder beobachtet, der wesentliche Wandel ihrer inneren Bedeutung nicht leugnen. Der Faden der Tradition war – so stellte man fest – unwiderruflich gerissen, so dass jede Wiederaufnahme der alten Formen wie ein mühseliges Wiederanknüpfen wirken und mit einer tiefen Nostalgie nach der heilen, ungeschundenen, vorrevolutionären Welt einhergehen musste. Im Bewusstsein ihrer Alternativen hatten die Formen des Ancien Régime ihre Selbstverständlickeit, und damit ihre eigentümliche Leichtigkeit eingebüßt. Der anmutige Konversationstonfall schien im Getobe der politischen Versammlungen untergegangen zu sein. Der revolutionäre civisme hatte mit der civilité nicht viel anfangen können.256 So war in den Augen der Zeitgenossen auf das soziale Zeitalter ein politisches und wirtschaftliches gefolgt, auf das weib­ liche ein männliches. Die Topographie der geselligen Welt wurde allmählich zu einer Landkarte der Erinnerungsorte umgedeutet. Die Höflichkeitsproblematik wurde weiterhin diskutiert, hatte aber viel von ihrer Aktualität und kulturellen Relevanz eingebüßt. Sie wurde jetzt vor allem rückblickend behandelt.257 Die Besinnung auf das eigene Zeitalter wendete sich zunehmend anderen Themen zu. So ging auch die Epoche der im Geselligkeitsvokabular formulierten Kulturkritik zu Ende. Anders als es die modernisierungstheoretische Perspektive der bestehenden Forschungsliteratur zum Gesellschaftsbegriff vermuten ließ, blieb die Artikulation der Kulturkritik in diesem Zusammenhang stark an der älteren, partikularistischen Bedeutungsebene des Begriffs orientiert. Sie entstand als Generalisierung und Verzeitlichung der frühneuzeitlichen Frage nach der Scheinhaftigkeit sozialer Umgangsformen. Sie war deshalb an die spezifische Topographie der alten Welt gekoppelt und verschwand mit ihr. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels konnte anhand zweier Beispiele gezeigt werden, wie die kulturell geteilten Semantiken der ›geselligen‹ Welt, auf die sich die Kulturkritik bezog, nicht nur deren Inhalt, sondern auch die Form ihrer Selbstinszenierung maßgeblich bestimmte. In den beiden nächsten  – den um Sprache und Wissen kreisenden Kommunikationszusammenhängen gewidmeten – Kapiteln wird diese Dynamik verstärkt in den Mittelpunkt rücken, da hier das vielschichtige semantische Verhältnis zwischen Gegenstand und Form der Kulturkritik um eine weitere Dimension bereichert ist.

256 Vgl. Gordon, Citizens, S. 233, 239–240; Fahrmeir, Höflichkeit und Revolution. 257 Siehe neben dem eingangs zitierten Abhandlung Joseph von Eichendorffs (1788–1857) beispielsweise auch: Morellet, Mémoires inédits; Roederer, Mémoire pour servir à l’histoire de la société polie. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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IV. Sprachverfall und Widerrede

[C]ar la langue n’est qu’un portrait de l’homme, une espèce de parhélie qui répète l’astre tel qu’il est. Joseph de Maistre1

Seit den Anfängen der abendländischen Geschichte galten Sprache und Wissen als zentrale Elemente des menschlichen Verhältnisses zu seiner Umwelt. Die aristotelische Wesensbestimmung des Menschen als zôion lógon echon oder animal rationale schien unbestreitbar, so dass man sich jahrhundertelang über ihre Interpretation, nicht aber über ihre prinzipielle Gültigkeit auseinandersetzte. Das änderte sich auch dann nicht, als dieses Verhältnis allmählich weniger als universal-anthropologisches und stärker als historisch und regional spezifisches, als kulturelle Lebensform interpretiert wurde. Nun wurde die eigene Lebensform nicht länger nur mit dem unvernünftigen und sprachlosen Tier, sondern auch mit ebenso menschlichen, aber grundverschiedenen Denk- und Sprachformen kontrastiert. Die Dimensionen der Frage nach der eigenen Identität änderten sich damit gravierend. Dennoch blieb auch in ihrer verzeitlichten und kulturalisierten Gestalt die Selbstdeutung des Menschen unlösbar an den Logos gebunden. Sprachliche und kognitive Strukturen hatten eine zentrale Stellung in der Deutung kultureller Eigenart. Nicht nur in wissenschaftlichen und philosophischen Kreisen, sondern weit darüber hinaus wurde die eigene Lebensform in ihrer sprachlichen und kognitiven Ausprägung thematisiert. Solche Debatten bildeten einen fruchtbaren Nährboden für zeitgenössische Kulturkritik. Über solche inhaltlich-thematische Aspekte hinaus haben Sprache und Wissen noch eine weiterführende Bedeutung für die sich herausbildende Kulturkritik. Wie eingangs dargelegt, zeichnet sich dieser Diskurs durch eine wesentliche Zirkularität aus. Die Kritik am Charakter der eigenen Kultur im Ganzen spricht aus dem Herzen der Kultur selbst. Sie bedient sich notwendigerweise der Denkund Sprachmuster ihres scheinbaren Gegenübers. Die Art und Weise, wie der zeitgenössische Mensch sich denkend zu seiner Welt verhält und dieses Verhältnis zur Sprache bringt, ist demzufolge nicht nur Thema von Kulturkritik: Sie betrifft unmittelbar die Artikulationsform sowie den Wahrheitsanspruch ihrer eigenen Aussagen. Aus diesem Grund werden in den beiden nächsten Kapiteln – stärker noch als in den vorhergehenden – neben der Verarbeitung kul 1 Maistre, Examen, S. 554. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Sprachverfall und Widerrede

tureller Prozesse auf dem Gebiet des Wissens und der Sprache in der kritischen Deutung auch die Rückkoppelungseffekte vom Gegenstand der Kritik auf das kritische Schreiben selbst in den Blick zu nehmen sein. Es gilt zu zeigen, dass die Auseinandersetzung des Diskurses mit seiner wesentlichen Zirkularität seine Artikulation keineswegs stocken ließ, sondern vielmehr produktiv war, insofern sie seine Artikulationsformen in nicht zu unterschätzendem Maße prägte. Die Frage nach der Sprache der Kulturkritik führt zur Frage nach der Sprache in der Kulturkritik und diese wieder zurück zu jener. In der kulturkritischen Thematisierung der Sprache ist dabei zunächst zwischen drei Problemfeldern zu unterscheiden: Sprache als Verblendungszusammenhang, als Indikator kulturellen Verfalls und als dessen Faktor. Zum Ersten hat es die Kulturkritik strukturell mit der Sprache zu tun. Wie im ersten Kapitel ausgeführt, ist Kulturkritik ein hermeneutischer Diskurs. Die kulturelle Dekadenz, die sie beschreibt und analysiert, betrifft nicht die Einzelphänomene selbst, sondern den Horizont, innerhalb dessen sie ihre Bedeutung entfalten. So kann ein augenscheinlich wichtiges Ereignis, wenn es den Charakter des Kulturganzen nicht betrifft, aus kulturkritischer Sicht irrelevant sein, während eine scheinbare Lapalie als epochenmachender Bruch herausgestellt wird. Ebenso kann ein Phänomen, das an sich keiner Veränderung unterliegt, seine kulturelle Bedeutung dennoch geändert haben, wenn das Licht, in dem es erscheint, sich geändert hat. Aus diesem Grund ist der kulturkritische Diskurs holistisch, aber nicht totalitär; er argumentiert qualitativ statt quantitativ; seine Aussagen beziehen sich auf den generellen Charakter einer Kultur statt auf das Agglomerat aller ihrer Elemente. Da sich die Kulturkritik auf die wandelnde Bedeutung kultureller Phänomene bezieht, findet sie immer wieder die gängige Sprache auf ihrem Weg. Ungeachtet, von welchem Einzelphänomen ihre Diagnostik ihren Ausgangspunkt nimmt, argumentiert sie immer so, dass sich seine Bedeutung – für den oberflächlichen Betrachter unmerklich – verändert habe. ›Was mal X war ist es nicht mehr.‹ Der Schein, es handele sich immer noch um dasselbe Phänomen, werde dabei nicht zuletzt dadurch verursacht, dass dasjenige, was mal X war, im gängigen Sprachgebrauch weiterhin so genannt wird. Dies sei die Ursache der allgemeinen Verblendung, über die der Kritiker sein Publikum aus seiner überlegenen Perspektive aufklären möchte. Auf der sprachlichen Ebene ergeben sich daraus zwei mögliche Strategien. Wenn das Wort X untrennbar mit der alten Vorstellungsweise – die sich als irreführend herausgestellt hat – verbunden ist, muss es aufgegeben werden. An seiner Stelle wird ein neues Wort, Y, eingeführt, welches das Phänomen in seiner neuen kulturellen Signifikanz herausstellt. Anderenfalls – hauptsächlich dann, wenn sich das Wort wegen seiner langen Vorgeschichte oder seines zentralen Stellenwerts nicht so leicht aufgeben lässt – hält die Kulturkritik am Ausdruck X fest, besteht im Hinblick auf den veränderten Bedeutungshorizont aber auf eine neue Definition. Hierher gehören auch die in der Kulturkritik so häufig auftre© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

Sprachverfall und Widerrede

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tenden Differenzierungen zwischen einem ›wahren X‹ und seiner falschen, korrumpierten Gestalt in der Gegenwart.2 Solche Auseinandersetzungen mit der Alltagssprache sind ein strukturelles Merkmal des Diskurses. Doch gibt es auch Stellen, an denen Sprache nicht im Hinblick auf ein anderes, sondern als selbstständiges Phänomen zum Thema von Kulturkritik wird. Hier spielt sie eine weitere, zweigliedrige Rolle: als Indikator und Faktor des diagnostizierten Kulturverfalls. Zum einen wurden Struktur, Charakter und Entwicklung der Sprache schon seit der Antike als Symptom für die generelle Entwicklung der Kultur aufgefasst. Seneca hatte geschrieben: »Ubicumque videris orationem corruptam placere, ibi mores quoque a recto descivisse non est dubium.«3 Dieser Spruch wurde in der Frühen Neuzeit immer wieder aufgenommen und fungierte als Verbindungsglied zwischen Sprach- und Gesellschaftskritik. Als die geschichtliche Parallelentwicklung von Sprache und Lebensform in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte, erhielt er neue Relevanz.4 Neben die traditionellen Klagen über den Verlust stilistischer und rhetorischer Gewandtheit schoben sich jetzt strukturelle und historisch vergleichende Analysen, welche die Entwicklung der Sprache als Gradmesser der allgemeinen Zivilisationsgeschichte herausstellten.5 2 Im Kontext der im letzten Kapitel behandelten Höflichkeitsproblematik hieß es beispielsweise: »For public Opinions and Manners are greatly influenced by the general Acceptance of Words; and in no Instance is this Observation more remarkably confirm’d than in the common Use of Civility and Politeness. As we now annex to them an Idea very different from that which formerly belonged to them, we have of course lost a Name for this Idea; and as we have lost the Mark or Sign, so we have too generally lost the Thing signify’d.« Anon., On Civility, S. 203. Siehe für weitere Beispiele solcher Sprachmuster: [C.], Tuesday, S. 268; [C. D.], Thursday, December the 12th, S. 613; [Soret], Essai sur les mœurs, S. 89–90; Huber, Ueber moderne Größe, S. 15; E. Burke, Reflections, S. 114; Virey, L’influence des femmes, S. 64. 3 Epistulae morales ad Lucilium, cxiv. 4 Siehe beisepielsweise: La Mothe le Vayer, Considerations sur l’eloquence, S.  158; Jonson, Timber, S. 102–103; Sheridan, British Education, S. 189–193; Schubart, Sprache; Virey, L’influence des femmes, [Motto]; Maistre, Les soirées, Bd. 1, S. 82, 173–174; Allou, Essai sur l’universalité de la langue française, S. 104; Southey, Sir Thomas More, Bd. 2, S. 389. 5 So schrieb Christoph Meiners (1747–1810), Professor der Weltweisheit in Göttingen, in seiner Einleitung zu Gibbons »Decline and Fall«: »Die Sprache ist ein nicht minder treuer Abdruck der ursprünglichen Anlagen, der höhern oder geringern Bildung, und der guten oder bösen Sitten eines Volks, als es Religion, Gesetze, und Verfassung sind. Edle, aufgeklärte, und unverdorbene Völker haben unfehlbar andere, und vollkommnere Sprachen, als verworfene, rohe, oder lasterhafte Nationen, und eben so gewiß leidet die Sprache desselbigen Volks günstige, oder ungünstige Veränderungen, je nachdem es aufgeklärt, oder verfinstert, reiner, oder unreiner von Sitten wird. Die Sprachen der Griechen und Römer wurden durch ähnliche Ursachen auf eine verwundernswürdig ähnliche Art erst gebildet, und dann verkehrt; und die Vergleichung anderer Sprachen zeigt, daß Aufklärung, gute Sitten, Freyheit, und Wohlstand, und wiederum Barbarey, Lasterhaftigkeit, Knechtschaft, Verfall von Künsten und Wissenschaften, und öffentliches Elend unter allen übrigen Völkern ähnliche Wirkungen hervorgebracht haben.« Meiners, Geschichte des Verfalls, S.  287. Vgl. Von Karstedt, Sprache und Kultur, S. 22–23. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Durch diese Verzeitlichung der kritischen Perspektive erhielt die Sprache auch als eigenständiger Faktor in kulturellen Entwicklungen mehr Aufmerksamkeit. Die Verbildung der Sprache indiziere – so hieß es – nicht nur die Verkommenheit der Kultur, sie reproduziere sie auch. Im schlimmsten Fall könne sie ihren Verfall sogar unmittelbar auslösen, indem sie bedeutsame Phänomene verdecke, Missstände verschönere oder von wichtigen Kulturentwicklungen ablenke. So bildete sich eine rege Auseinandersetzung mit den negativen Effekten sprachlicher Korruption auf die Kultur. In diesem Kapitel werden die wichtigsten semantischen Dimensionen solcher an der Sprache orientierten Kultur­k ritik nachgezeichnet. Der erste Abschnitt (§ 1) ist der Verzeitlichung der Sprachreflexion gewidmet. Es wird erörtert, warum sich eine wahrhaft geschichtliche Perspektive auf die Sprache erst entfalten konnte, als die binäre Logik der Sprachentstehungsfrage, welche die frühneuzeitliche Debatte über das Thema Sprache weitgehend beherrscht hatte, zugunsten einer graduellen Entwicklungslogik verlassen wurde. Am Beispiel des Naturbegriffs wird dargestellt, wie sich diese Verzeitlichung auf die kulturkritische Semantik auswirkte. Im zweiten Abschnitt (§ 2) werden zwei Varianten der geschichtlichen Parallelisierung von Sprach- und Kulturentwicklung unterschieden. Die dominante Form solcher geschicht­lichen Sprachreflexion im Zeitalter der Aufklärung war quantitativ ausgerichtet und fasste die Sprache primär als Instrument der technisch-kognitiven Welt­aneignung auf. Doch gab es auch andere Weisen, die Entwicklung der Sprache zur Sprache zu bringen, deren Fokus stärker auf ihrem eigentümlichen Charakter lag. Während Sprachkritik im quantitativen Paradigma als Sprachaufklärung – als ihre Optimalisierung im Hinblick auf ihre Erkenntnisleistung – erschien, wurde sie aus qualitativer Sicht in unterschiedlicher Weise mit der Eigenart des Kulturganzen in Verbindung gebracht. Diese zweite Art von Kritik an der Sprache bildete einen fruchtbaren Nährboden für Kulturkritik. In einem letzten Schritt (§ 3) wird erörtert, wie die quantitative, sprachaufklärerische Perspektive selbst wiederum zum Anlass qualitativer Sprach­k ritik wurde. Es wird gezeigt, dass die Rationalisierung der Sprache von vielen als Verlust ihrer ursprünglichen Energie wahrgenommen wurde. Das Grundmuster dieser Deutung der Sprachentwicklung bildete die Gegenüberstellung eines poetischen Ursprungs und einer prosaischen Gegenwart. Zum Schluss wird die Frage aufgeworfen, inwiefern sich dieses sprachkritische Narrativ auf die Artikulationsformen der entsprechenden Kulturkritik auswirkte. Es wird skizziert, wie die Kritiker in ausdrücklicher Abgrenzung von der prosaischen Gegenwart eine eigentümliche, quasi-poetische Prosa entwickelten, die den eigentümlichen Duktus des kulturkritischen Diskurses maßgeblich prägen würde.

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1. Grenzen der Sprachgeschichte Das Paradox des Ursprungs Wie Eugenio Coseriu in seiner klassischen »Geschichte der Sprachphilosophie« dargelegt hat, etablierte sich die Sprache seit dem 17. Jahrhundert allmählich als autonomer Gegenstandsbereich.6 Wurde sie vorher vor allem im Rahmen epistemologischer oder ontologischer Fragestellungen als Brücke zum eigentlichen Thema in den Blick genommen, so emanzipierte sich ihre philosophische und empirische Erforschung immer mehr, bis sie zu Beginn des 18. Jahrhundert endgültig den Status eines eigenständigen Themas erlangte. Die Philosophie verlor, nicht lange nachdem sie sich selbst mühsam aus ihrer Stellung als ancilla theo­ logiae befreit hatte, nun seinerseits die Sprachforschung als ihre Untergebene. Der menschliche Logos verzweigte sich: Logik und Sprache waren von nun an zwei eng verbundene, aber getrennte Bereiche. Es würde noch eine Weile dauern, bis sich die Linguistik endgültig als Disziplin institutionalisieren konnte. Nichtsdestoweniger wimmelte es schon im 18. Jahrhundert von Debatten über Wesen, Ursprung und historische Entwicklung der Sprache. Es wurden Preisfragen ausgeschrieben, Abhandlungen und Pamphlete veröffentlicht, Wörterbücher, Grammatiken und Lexika zusammengestellt und Vereine gegründet.7 Besonders beliebt waren Überlegungen über den Ursprung der Sprache.8 Auch in diesem Bereich eröffnete die zurück­ gedrängte Autorität der historia sacra ein neues Feld für philosophische Spekulationen.9 Neben der biblischen Erklärung der Sprache als Geschenk Gottes kamen jetzt anthropologisch ausgerichtete Erklärungsversuche auf, welche die Entstehung der Sprache in irgendeiner Weise aus der Beschaffenheit des Menschen herleiteten. Ausgehend von der fictio philosophica eines sprachlosen Zustandes  – im Naturzustand, nach der Sintflut oder der babylonischen Sprachverwirrung  – wurde die allmähliche Herausbildung einer immer komplizierter gebildeten Sprache beschrieben.10 Im Laufe des Jahrhunderts wurden in solchen Auseinandersetzungen neben deduktiven Gedankenexperimenten zunehmend auch 6 Der Text, der auf Vorlesungen aus den Jahren 1968/69 und 1970/71 zurückgeht, ist 2003 neu aufgelegt worden. Vgl. Coseriu, Geschichte der Sprachphilosophie, S. 221–226. 7 Vgl. Ricken, Sprache, Anthropologie, S. 77–84. 8 Vgl. Aarsleff, The Tradition of Condillac, S.  158–165; Ricken, Sprache, Anthropologie, S. 163–181; Gessinger und Von Rahden, Theorien vom Ursprung der Sprache; Borst, Der Turmbau von Babel; Heyer, Diskurse der französischen Aufklärung, Bd. 1, S. 139–158. 9 Vgl. Lehmann-Brauns, Neuvermessung. 10 Vgl. Formigari, Language and Thought; Von Karstedt, Sprache und Kultur, S. 37–42; Neis, Anthropologie im Sprachdenken, S. 9–69. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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empirische Beobachtungen hinzugezogen. Weil sich die genauen Umstände der Sprachentstehung nur schwer nachbilden ließen, suchte man nach analogen Phänomenen, die als empirisches Substitut dienen konnten. Besonders Wolfskinder, die als lebendes Beispiel einer sprachlichen tabula rasa galten, stießen auf großes Interesse. Gleichzeitig brachte die zunehmende ›Globalisierung‹, wenn auch nicht immer des praktischen, so doch des geistigen Lebens eine ganze Welt neuer Sprachen in den Blick. Es wurden viele verstorbene Sprachen neu erforscht und so das Verständnis ihrer Entwicklung sowie ihrer gegenseitigen Verwandtschaftsgrade und Abstammungslinien erweitert. Es entstanden vergleichende Studien, in denen die Vielfalt unterschiedlicher Sprachen systematisch analysiert wurde. Der Berliner Theologe Daniel Jenisch (1762–1804) konnte sich 1796 rühmen, nicht weniger als vierzehn ältere und neuere europäische Sprachen einer »philosophisch-kritischen Vergleichung und Würdigung« unterzogen zu haben. Schon bald wurde er noch überboten. 1806 brachte Adelung den ersten Band seines »Mithridates« heraus, in dem er »beynahe fünfhundert Sprachen und Mundarten« anhand des Vaterunsers analysierte.11 Nicht nur in gelehrten Kreisen, sondern weit darüber hinaus hatte man ein reges Interesse an der Sprache. Ihr Charakter und ihre Entwicklung wurden in einer breiten Skala an Schriften beschrieben, analysiert, gedeutet – und ge­ gebenenfalls auch kritisiert. Neben den poetischen und kognitiven Funktionen von Sprache wurden dabei auch andere Aspekte in den Blick genommen, wie ihre Verfeinerung in der mondänen Konversation, ihre kommunikative Funktion im Alltag, ihre Rolle in internationalen Geschäften und ihre Macht in politischen Entscheidungsprozessen. Die herkömmliche, literarische Sprachpflege wurde durch das wissenschaftlich-philosophische Bedürfnis nach einer klaren und gemeinverständlichen Kommunikationssprache um eine weitere Dimension bereichert. Ein Aspekt dieses Sprachfiebers verdient im Rahmen dieser Studie besondere Beachtung: die veränderte Rolle der Sprache in der zeitgenössischen Selbst­ deutung. Die Ansicht, dass Sprache die kennzeichnende Eigenschaft des Menschen sei, war sicherlich nichts Neues. Als die Frage nach dem Ursprung der Sprache immer mehr aus dem religiösen Rahmen gelöst wurde, erhielt sie allmählich eine geschichtliche Komponente. Was ein taxonomisches Prinzip gewesen war, erschien jetzt als historisches Ereignis: Die Sprache als Kennzeichen des Menschen sei erst mit der Zeit und unter bestimmten Umständen entstanden. Das Wesen des Menschen selbst sei also keine konstante, sondern ein historische Größe, eine Erkenntnis, die – wie im ersten Kapitel ausgeführt – im Begriff der Perfektibilität zum Ausdruck gebracht wurde.

11 Jenisch, Vergleichung und Würdigung ; Adelung, Mithridates. Das Projekt wurde nach seinem Tod vom Haller Theologen Johann Severin Vater (1771–1826) fortgeführt. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Die Thematik des Anfangs der Menschheitsgeschichte war, wie Helmut Zedelmaier betont hat, ein Lieblingsthema der Frühen Neuzeit.12 Als theo­ logische und teleologische Erklärungsweisen immer mehr unter Druck gerieten, übernahm die Ursprungsfrage zunehmend auch die Funktion normativer Legitimation: Das Ursprüngliche galt als das Wahre und Gute, als immanentes Maß für das Bestehende.13 Dennoch gerieten solche Fragen im Laufe des 18.  Jahrhunderts zunehmend unter Druck. Die spekulative Geschichtsphilosophie konnte sich vor allem in Bereichen behaupten, in die empirische Geschichtsschreibung nicht hingelangte: in der Vorgeschichte und der Prognostik. Dermaßen an die »Ränder der Geschichte« gedrückt – um eine Formulierung von Sicco Lehmann-Brauns aufzugreifen  –, blieb sie, an den methodischen Kriterien der Wissenschaft gemessen, stets problematisch. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Frage nach dem Ursprung der Geschichte deswegen immer mehr marginalisiert bevor sie  – in den Worten Zedel­maiers – »durch Aufteilung in diverse wissenschaftliche Fragestellungen diszipliniert und aus dem Bezirk der philosophischen Spekulation ausgewiesen wurde«.14 Gerade auch die Debatten um die Sprache bestätigen diese Tendenz. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verschob sich ihre Fragerichtung langsam aber sicher von der Menschwerdung des Menschen hin zu seinen unterschiedlichen kulturellen Lebensformen und von der Sprache und seiner Entstehung hin zur Vielfalt unterschiedlicher Sprachen und ihrer historischen Entwicklung.15 Augenscheinlich handelte es sich dabei lediglich um zwei komplementäre, von ihrer Legitimität her gleichrangige Fragestellungen. Erst im Lichte des argumentativen Kontextes wird verständlich, aus welchem Grund die eine die andere immer mehr verdrängen, am Ende sogar ersetzen konnte. Zum Ersten bereitete die Dürftigkeit des empirischen Materials, das ihr zugrunde gelegt werden konnte, der wissenschaftlichen Erforschung der Ursprungs­frage erhebliche Legitimationsschwierigkeiten. Die Erforschung bestehender Sprachen gab bezüglich ihrer Entstehung nicht viel her und die Heranziehung analoger Phänomene  – von Tiersprachen bis zum Spracherwerb von Kindern, Wolfskinder und Taubstumme  – blieb epistemologisch 12 Zedelmaier, Anfang der Geschichte, S. 1–2. 13 Vgl. Spaemann, Genetisches zum Naturbegriff, S. 67. 14 Zedelmaier, Anfang der Geschichte, S. 1–2. Interessanterweise verlor die ebenso spekulative Frage nach der Zukunft ihre kognitive Legitimität erst später, so dass sich die Geschichtsphilosophie im Laufe des 18. Jahrhunderts statt der Vergangenheit zunehmend der Zukunft zuwendete. Vgl. Lehmann-Brauns, Neuvermessung, S. 170, 178. 15 Dem französischen Sprachtheoretiker Henri Meschonnic zufolge wurde das Thema als ›irrationales‹ aus der Linguistik des 19. und 20. Jahrhunderts verdrängt. Meschonnic, De la langue française, S. 20–21. Siehe beispielsweise: W. von Humboldt, Über die Verschiedenheit, S. 40. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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prekär.16 Die allmähliche Herausbildung eines wissenschaftlichen Habitus, in dem die experimentelle Begründung von Aussagen immer wichtiger wurde, bewirkte somit auch eine Verschiebung ihrer Thematik. Diese Effekte wurden weiter verstärkt durch eine Problematik logischer – oder im weitesten Sinne semantischer  – Natur. Die allgemeine Tendenz der Verzeitlichung des Sprachverständnisses konnte im Rahmen der Ursprungsdebatte nur zum Teil herausgebildet werden: Die Frage nach ihrem Ursprung schrieb die Sprache auf ihre taxonomische Rolle als Schwelle zur Menschlichkeit fest. Sie markiere als Kriterium den Unterschied zwischen dem prähistorischen Proto-Menschen und seinen geschichtlichen und in eigentlichem Sinne menschlichen Nachkommen. Aus diesem Blickwinkel war sie ein Aspekt des Übergangs vom Natur- zum Gesellschaftszustand. Im »Discours préliminaire« (1751) der »Encyclopédie« brachte ihr Mitherausgeber d’Alembert diese Verknüpfung maßgeblich auf den Punkt. Der Mensch sei, erzählte er, in seinem Urzustand, auf der Suche nach Mitteln, die ihm begegnenden Gefahren zu überwinden, Wesen begegnet, die ihm nicht nur äußerlich ähnlich waren, sondern auch dieselben Bedürfnisse und Interessen zu haben schienen. Um sich mit diesen zusammenzuschließen, sei Kommunikation erforderlich gewesen. »La communication des idées est le principe et le soutien de cette union, et demande nécessairement l’invention des signes: telle est l’origine de la formation des sociétés avec laquelle les langues ont dû naitre.«17 Letztendlich aber konnte sich im Rahmen solcher binären Trennungen zwischen Naturzustand und Gesellschaftszustand, Animalität und Menschlichkeit, Sprachlosigkeit und Sprache kein eigentlich geschichtlicher Blick auf die Sprache herausbilden. Der qualitative Sprung, um den die Ursprungsfrage kreiste, implizierte eine zweigliedrige Chronologie (vorher – nachher) und schloss die progressiv-quantitative Semantik der historischen Erklärung von vornherein aus. Das Ereignis der Menschwerdung durch die Entstehung der Sprache war als einmaliges nicht in eine geschichtliche Entwicklung eingebettet, sondern ging ihr voraus und war als deren Ermöglichung selbst ungeschichtlich. Einer der Ersten, die dieses semantische Problem ausdrücklich thematisierten, war Johann Gottlieb Fichte (1762–1814). In seiner im Wintersemester 1804/1805 in Berlin abgehaltenen Vorlesungsreihe »Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters« lehnte er die Möglichkeit, Entstehungsfragen mit den 16 Jean Henri Samuel Formey (1711–1797) war ebenso skeptisch gegenüber dem Erkenntnis­ gewinn der theoretisch-spekulativen Untersuchungen wie gegenüber den »observations historiques« von Wolfskindern, Taubstummen und barbarischen Völkern, weswegen er darauf drängte, kontrollierte Experimente mit sprachlos zu erziehenden Kindern in die Wege zu leiten. Ob ihm bekannt war, dass solche Experimente tatsächlich schon mehrmals durchgeführt worden waren, ist nicht sicher. Formey, Réunion des principaux moyens, S. 216–217. Vgl. Bien, Zum Thema des Naturstands, S. 290–296; Neis, Anthropologie im Sprachdenken, S. 195–369. 17 D’Alembert, Discours préliminaire, S. iii. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Mitteln der historischen Betrachtung zu beantworten, entschieden ab.18 Kultur, Vernunft, Gesellschaftlichkeit und Sprache gehörten zum Wesen des Menschen; als Kennzeichen seines über alles »factische Daseyn« hinausgehenden »Seyns« seien sie kein Gegenstand der Geschichte, sondern »Philosophem«. Keine Geschichte unternehme daher, die Entstehung des Menschengeschlechts überhaupt, oder seines gesellschaftlichen Lebens, oder der Sprache, erklären zu wollen. – […] Vor nichts aber hüte  – sowohl die Geschichte; als eine gewisse Halb-Philosophie, – sich mehr, als vor der völlig unvernünftigen und allemal vergeblichen Mühe, die Unvernunft durch allmähliche Verringerung ihres Grades, zur Vernunft hinaufzusteigern; und, wenn man ihnen nur die hinlängliche Reihe von Jahrtausenden giebt, von einem Orang-Outang zuletzt einen Leibnitz oder Kant, abstammen zu lassen!19

Im Kontext seiner Vorlesung lässt sich Fichtes Bemerkung leicht als klassifikatorische Defensivstrategie durchschauen. Sie hatte zum Ziel, die Frage nach dem Wesen der Geschichte und dem Charakter der eigenen Epoche für die Philo­ sophie zu reservieren. Nur der Philosoph – und das hieß hier offensichtlicht: nur Fichte selbst – verfüge über die kognitive Ausstattung, sie hinlänglich zu beantworten. »Historiker«  – alle, die eine historisch-genetische Weise der Betrachtung auf die Problematik entwickelten – wurden aus diesem Bereich ausdrücklich ausgeschlossen. Fichtes beschwörender und etwas aggressiver Tonfall verrät, dass sich die ›Historiker‹ in der Praxis nicht besonders viel um seine intellektuellen Grenzziehungen kümmerten. Was sie seiner Meinung nach nicht konnten oder sollten, taten sie in der Praxis nur allzu häufig. Schriften über den Ursprung der menschlichen Gesellschaft, Vernunft und Sprache, ob als unabhängige Abhandlungen oder in der Form von Reisebeschreibungen, fanden reißenden Absatz. Dennoch wies Fichte auf ein grundsätzliches semantisches Problem hin, mit dem sich solche Texte ausnahmslos herumschlugen und das die Artikulation und Verbreitung der verzeitlichten Perspektive der Kulturkritik in ihrer Entstehensphase wesentlich beeinträchtigte: Die etablierte, sprunghafte Logik der Ursprungsfrage und die schrittweise Logik der historischen Betrachtung ließen sich nicht leicht in eine überzeugende Darstellung integrieren. Jacques Derrida hat diese Problematik in seiner »De la grammatologie« (1967) anhand von Rousseaus Sprachphilosophie nachgezeichnet.20 Die Darstellung der Vergesellschaftung, die deren Mittelpunkt bildete, zeichnete sich, so Der 18 Der Germanist Justus Fetscher bezeichnet den Zyklus als den »Moment, an dem der deutsche Idealismus demonstrativ, laut und mit exoterischer Prätention auf das Forum der Zeitdiagnostik hinaustritt«. J. Fetscher, Zeitalter / Epoche, S. 800. 19 Fichte, Grundzüge, S. 287–290. 20 Vgl. Derrida, De la grammatologie, S. 361–367. Vgl. zum Thema: Wilhelm, Sprache der Affekte. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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rida, durch eine merkwürdige rhetorische Unausgeglichenheit aus. Mehrmals betonte Rousseau, es habe im printemps perpétuel des Naturzustandes eigentlich nichts gegeben, was den in seinen Folgen so verhängnisvollen Eintritt in die Gesellschaft notwendig gemacht hätte. Das Gleiche galt bezüglich der Sprachentstehung: Nur durch die Sprache könne Gesellschaft entstehen, aber erst in der Gesellschaft bestehe überhaupt ein Bedürfnis, sich der mühsamen Arbeit der Sprachbildung zu widmen. Statt sich weiter in diesem Teufelskreis zu verstricken, begnügte sich Rousseau mit der lapidaren Bemerkung, dass der Natur offensichtlich nicht viel daran gelegen gewesen sei, die Menschen zusammenzuführen und eine Sprache entstehen zu lassen.21 Die prinzipielle Trennung zwischen Natur- und Gesellschaftszustand entsprach Rousseaus methodischem Grundsatz, dass der Naturmensch unabhängig von seinen späteren, gesellschaftlichen Errungenschaften zu betrachten sei. Er richtete sich gegen die Naturrechtstheoretiker, die »raisonnant sur l’Etat de Nature, y transportent les idées prises dans la Société«.22 Die Kluft, die er dadurch aufmachte, ließ sich aber nicht leicht wieder schließen. Der Weg, den »espace immense qui dut se trouver entre le pur état de Nature & le besoin des Langues« argumentativ zu überbrücken, schien geschlossen.23 Einerseits konnte der Eintritt in die Gesellschaft nicht aus der Beschaffenheit des Naturzustands hergeleitet werden. In ihm habe es keinerlei Bedürfnis nach Sozialität gegeben. Dieses sei erst im Kontext der Gesellschaft aufgekommen. Damit aber war wiederum vorausgesetzt, was es zu erklären galt: ihre Entstehung. So sah sich Rousseau, wie Derrida erörtert, gezwungen, auf eine philoso­ phische Notlösung zurückgreifen: Er führte einen externen Faktor ein  – eine Katastrophe –, die von außen in das System hereingebrochen sei und seine autonome Entwicklungslogik mit einem Schlag verändert habe. Celui qui voulut que l’homme fût sociable, toucha du doigt l’axe du globe & l’inclina sur l’axe de l’univers. A ce léger mouvement, je vois changer la face de la terre & décider la vocation du genre-humain: j’entends au loin les cris de joie d’une multitude insensée; je vois édifier les Palais & les Villes; je vois naître les arts, les loix, le commerce; je vois les peuples se former, s’étendre, se dissoudre, se succéder comme les flots de la mer: je vois les hommes rassemblés sur quelques points de leur demeure pour s’y dévorer mutuellement, faire un affreux désert du reste du monde, digne monument de l’union sociale & de l’utilité des arts.24 21 Rousseau, Discours sur l’inégalité, S. 60. Ein analoger Teufelskreis bilde sich zwischen der Herausbildung der Vernunft und dem Sprachvermögen: »Car si les Hommes ont eu besoin de la parole pour apprendre à penser, ils ont eu bien plus besoin encore de savoir penser pour trouver l’art da la parole«. Ebd., S. 49. Siehe auch: Formey, Réunion des principaux ­moyens, S. 225–226; Fry, Pantographia, S. iii. 22 Rousseau, Discours sur l’inégalité, S. 45–46. Siehe auch: Ebd., S. lvii–lviii. 23 Ebd., S. 49. 24 Ders., L’origine des langues, S. 267–268. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Es kam in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob derjenige, der mit seinem Finger die Dynamik der menschlichen Zivilisation in Gang gesetzt hatte, nun Gott war oder nicht.25 Wichtig war nur, dass es sich um eine Macht handele, welche die systemische Logik des Naturzustandes bruchartig verändert habe. Sie sei – in Derridas Formulierung – eine »téléologie externe«, die mit der Logik des bestehenden Systems nicht erklärt oder interpretiert werden konnte, weil sie den Anfang einer neuen Rationalitätsform einleitete.26 Aus diskursanalytischer Sicht hatte sich Rousseau in eine eigenartige Ambivalenz verstrickt. Einerseits sei das Ereignis des Ursprungs geschichtlich: Das Wesen des Menschen habe irgendwann angefangen und sei seitdem in Entwicklung begriffen. Gleichzeitig sei es aber auch ungeschichtlich, da es nicht auf eine historischen – oder selbst natürliche – Ur­ sache zurückgeführt werden könne. Das a priori der Menschheitsgeschichte sei a posteriori entstanden, gehe aber gleichzeitig jedem konkreten Ereignis voraus. Was in Fichtes Augen eine fatale methodische Vermischung von Philo­ sophie und Geschichte darstellte, betrachtete Derrida als die notwendige Folge des rousseauschen Versuchs, die Faktizität menschlicher Geschichtlichkeit zur Sprache zu bringen und seinen eigenen Ursprung zu artikulieren. Er zeigte, wie Rousseau bezüglich der Entstehung von Sprache und Gesellschaft zwischen den Kategorien der Philosophie und der Geschichte schwankte, schwanken musste, da die semantischen Möglichkeiten beider Traditionen nicht ausreichten, Geschichtlichkeit zu artikulieren. So entnahm er dem Text Rousseaus den Hinweis auf eine neue Art des philosophischen Schreibens, die sich nicht von der stumpfen Alternative zwischen Genese und Struktur, Fakt und Recht, historischer und philosophischer Vernunft einengen ließ. Ob dieser Weg philosophisch gesprochen weiter führt, steht hier nicht zur Diskussion. Was Fichte als philosophischen Widerspruch begriff und Derrida als Möglichkeit eines neuen Denkens, erscheint aus der Perspektive dieser Studie als semantische Bruchlinie, die einerseits als Hindernis für die Etablierung des kulturkritischen Diskurses, andererseits als entscheidende Schwelle auf dem Weg zu seiner Emergenz betrachtet werden muss. Rousseaus argumentative Notlösung war weder seiner mangelhaften logischen Begabung noch der spezifischen Eigenart seines philosophischen Systems geschuldet. Er reagierte vielmehr auf einen grundlegenden semantischen Widerspruch, der aus der Struktur der Ursprungsfrage selbst herrührte. 25 Die Hypothese eines göttlichen Ursprungs der Sprache lehnte er ausdrücklich ab. Selbst wenn, der Bibel zufolge, Gott Adam im Gebrauch der Sprache instruiert und auch Noach noch gesprochen hatte, hatten dessen Nachkommen die Sprache mit dem Gebrauch der Landbau wieder verloren: »la langue commune périt avec la première société«. Damit sei die Ausgangssituation wiederum die der Sprachlosigkeit: »Epars dans ce vaste désert du monde, les hommes retomberent dans la stupide barbarie où ils se seroient trouvés s’ils étoient nés de la terre.« Ebd., S. 262–263. Siehe auch: Ebd., S. 270–271; ders., Discours sur l’inégalité, S. 6–7. 26 Derrida, De la grammatologie, S. 365. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Natur und ihr Gegenteil Um die Auswirkung dieser semantischen Bruchlinie auf die Geschichte der Kulturkritik zu verstehen, ist es notwendig, etwas weiter hinauszugreifen und auf einen der Grundbegriffe des abendländischen Denkens überhaupt, den Naturbegriff, einzugehen. Selbstverständlich ist es hier nicht möglich, die gesamte Geschichte dieses ebenso zentralen wie verzweigten Begriffs nachzuzeichnen.27 Es liegen verschiedene begriffsgeschichtliche Studien vor, in denen die wichtigsten Entwicklungen  – hauptsächlich im Kontext von theologischen, philosophischen, wissenschaftlichen und ästhetischen Debatten – skizziert worden sind.28 Für die Interpretation des Sprachdenkens dieser Periode und seine Verarbeitung in der Kulturkritik genügt deshalb eine kurze Skizze einiger zentraler Aspekte. In seiner »A Free Inquiry Into the Vulgarly Received Notion of Nature« (1682) unternahm der irische Naturforscher Robert Boyle (1627–1692) den Versuch, das semantische Feld des Naturbegriffs analytisch abzustecken.29 Er bemängelte seine ungeheure Polysemie, die den wissenschaftlichen Fortschritt erheblich behindere. Während Aristoteles in seiner Metaphysik nur sechs Bedeutungen des Wortes phýsis unterschieden hatte, kannten die Römer für natura schon vierzehn oder fünfzehn. Im Englischen seien es nicht weniger. Boyle betrachtete es als seine Pflicht, dieses semantische Chaos zu beseitigen.30 Dabei konzentrierte er sich auf acht Hauptbedeutungen, und schlug für jede von ihnen ein Synonym oder eine Paraphrase vor, um ihr einen »clear and determinate sense« zuzuteilen. Seine Darstellung des Bedeutungsspektrums am Ende des 17. Jahrhunderts lässt sich also leicht schematisch zusammenfassen: Hauptbedeutung

Alternative

(1)

Natura naturans.

God.

(2)

On whose account a thing is what it is, and is so called.

Essence, quiddity.

(3)

What belongs to a living creature at its nativity, or accrues to it by its birth.

Born so, generated such, thus qualified by its original temperament and constitution.

27 »Die Geschichte des Menschengeschlechts ist auch die seines Verhältnisses zu der Natur«, schrieb der Physiker Johann Wilhelm Ritter (1776–1810): Ritter, Fragmente, Bd. 2, S. 179–180. 28 Williams, Nature; Willey, The Eighteenth Century; Nobis, Frühneuzeitliche Verständnisweisen der Natur; Schipperes, Natur; Haber u. a., Natur; Böhme, Natürlich / Natur. Siehe auch die Quellensammlung: Torrance, Encompassing Nature. 29 Boyle, A Free Inquiry Into the Vulgarly Received Notion of Nature, S. 167–169. 30 Siehe auch: Sturm, De naturae agentis superstitioso conceptu. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Hauptbedeutung

Alternative

(4)

Internal principle of local motion.

Move spontaneously upwards, downwards, &c.

(5)

Established course of things corporeal.

The established order, the settled course of things.

(6)

Aggregate of the powers belonging to a body, especially a living one.

Constitution, temperament, mechanism, complex of the essential properties or qualities, condition, structure, texture.

(7)

System of the corporeal works of God.

World, universe.

(8)

Goddess, or a kind of semi-deity.

Best not to employ it in that sense at all.

Boyles Liste bietet einen Leitfaden durch das semantische Labyrinth des Naturbegriffs. Seine Verwendungsweisen lassen sich in drei Hauptgruppen gliedern, die im Laufe seiner Geschichte immer wieder in neuen Konstellationen aufeinander bezogen wurden. Erstens wurde der Terminus reifiziert als Bezeichnung einer hinter den Erfahrungsphänomenen liegenden, sie beherrschenden Macht (1 und 8). Zweitens bezog er sich auf die Totalität der Phänomene selbst (7) und drittens wurde er – zumeist mit einem Genitivattribut versehen – im Sinne der Eigenart einzelner Phänomene (2) bzw. der Art und Weise, wie sie sich im Normalfall entwickelten oder verhielten (3 bis 6), verwendet. Eine solche vorgreifende Gliederung des Naturbegriffs sagt noch sehr wenig über seinen konkreten Gebrauch aus. Auch Boyle wusste darum und erläuterte, neben den acht Hauptbedeutungen (absolute acceptions), gebe es noch »divers others, (more relative,) as nature is wont to be set in opposition or contradiction to other things«.31 Sein Anliegen führte ihn schon bald wieder zu den Hauptbedeutungen zurück. Dennoch sind gerade die wenigen Zeilen, in denen er den Naturbegriff anhand seiner Gegenbegriffe thematisierte, aus sprachhistorischer Sicht die interessantesten. Begriffe wie Natur, die unser Selbst- und Weltverständnis im weitesten Sinne orientieren, entfalten ihre rhetorische Funktionalität zumeist erst, wenn sie von einem Anderen abgegrenzt werden.32 Vor allem anhand der zuletzt genannten Gruppe von Verwendungsweisen ließen sich leicht normative Asymmetrien bilden. Das ›Normale‹ konnte als das ›Normative‹ verstanden werden und einen negativen Schatten auf das Andere werfen. In den Beispielen Boyles wurde das Natürliche in diesem Sinne mit unterschiedlichen Begriffen kontrastiert. Allererst grenzte er es, wo es um die Entstehung und Bewegung eines Phänomens ging, vom Künstlichen (factitious, or made by art, (i. e.) by the intervention of human power or skill) ab. Das eigen 31 Boyle, A Free Inquiry Into the Vulgarly Received Notion of Nature, S. 167. 32 Vgl. Koselleck, Gegenbegriffe. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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ständige Schalten und Walten der Natur wurde dem Eingreifen des Menschen entgegengesetzt, das als Gewaltakt (violent) begriffen wurde.33 Dieser künstliche Eingriff in die Natur wurde aber – wie in der Frühen Neuzeit geläufig – durchaus positiv konnotiert und als ihre kluge Überlistung und geschickte Verbesserung verstanden.34 Diese Antithese war Teil einer langen Tradition isomorpher Gegensätze, welche die Natur vom Bereich des Menschen unterschieden. In zahllosen Gestalten (phýsis – nómos, phýsis – technê, natura – ars, Natur – Geist, Natur – Kultur) prägte er die abendländische Geschichte.35 Quer zu dieser Oppositionen aber stand zu dieser Zeit noch eine andere, ebenso zentrale Unterscheidung: zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen. Es ist bezeichnend, dass Boyle den state of nature in diesem Kontext nicht – wie beispielsweise sein Zeitgenosse Samuel von Pufendorf (1632–1694) – mit dem status civilis oder der cultura, sondern vielmehr mit dem state of grace kontrastierte, in den der Mensch nur durch Gottes Gnade eintreten könne.36 Parallel dazu hob er die natural operations von Medikamenten von den supernatural operations der durch Christus und seine Apostel vollbrachten Wunderheilungen ab.37 Der Gegensatz zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen sollte im Laufe des 17.  und 18.  Jahrhunderts zunehmend unter Druck geraten. Die Legitimität von Erklärungen, die auf übernatürliche Faktoren zurückgriffen, wurde in wissenschaftlichen Kontexten immer stärker in Frage gestellt. War die Natur als Totalität des Seins (7) traditionellerweise noch als natura naturata von Gott, der natura naturans (1), abgegrenzt worden, so verlor sie jetzt ten­denziell ihr Gegenüber. Gleichzeitig verlor die teleologische Naturbetrachtung, die Entwicklungen als auf ein natürliches Ziel hinwirkend begriff, deutlich an Gewicht. Die Naturdeutung musste somit immer stärker ohne theologischen und teleo­ logischen Rückhalt auskommen. Solche Prozesse erhöhten den Druck auf den Naturbegriff, der ohnehin schon eine Fülle von Funktionen hatte, erneut. Er war, was die Interpretation der Phänomene anging, immer mehr auf sich gestellt und wurde zusätzlich noch als normativer Bezugspunkt für deren Bewertung herangezogen. 33 Dass dieses Wort keine negative Konnotation vermitteln sollte, wurde deutlich, als ­Boyle als Beispiel eines solchen Gewaltakts die Vakuumpumpe nannte, die Wasser aus seinem natürlichen Ort (4), der Quelle, entferne. Die Maschine, die das Wasser zu einem seiner Eigenart nach unnatürlichen Ort transportierte, war nicht nur das Paradebeispiel einer nützlichen Erfindung, sondern bildete auch ein Meilenstein in Boyles eigener wissenschaftlicher Laufbahn. 34 Vgl. Kühlmann, Technischer Fortschritt. 35 Vgl. Großklaus und Oldemeyer, Einleitung; Böhme, Vom Cultus zur Kultur(wissenschaft). 36 Vgl. Rauhut, »Kultur«, S.  81–84; Bien, Zum Thema des Naturstands, S.  281–283, ­296–298. 37 Ob Boyle solchen übernatürlichen Ursachen wissenschaftliche Legitimität beimaß, ist in diesem Kontext nicht entscheidend. Er nahm den Gegensatz im Sprachgebrauch seiner Epoche wahr. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Diese Spannung machte sich in den Debatten um das Verhältnis zwischen Natur- und Gesellschaftszustand und die damit verbundene Sprachentstehungsfrage bemerkbar. Das alte duale Schema von Natur und Kultur wurde in der Kontroverse um den Übergang vom Natur- zum Gesellschaftszustand neu aufgenommen, aber auch problematisiert. Unverändert war die bipolare Organisation der mit den beiden Seiten verbundenen Konnotationen. Das Rohe und Chaotische wurde vom Gepflegten und Geordneten unterschieden, die natür­ liche Passivität von der Aktivität des Menschen, Notwendigkeit von Freiheit, die in ihrer unendlichen Vielfalt immer wiederkehrende Stabilität von der wahrhaft geschichtlichen Entwicklung. Die Natur war dem menschlichen Eingreifen gegenüber dabei immer primär. Als diese Bereiche  – als Zustände oder Stadien interpretiert  – auf die geschichtliche Entwicklung des Menschengeschlechts angewendet wurden, führte dies aber zum erläuterten semantischen Problem, dass das taxonomische Prinzip sich nicht leicht mit dem der geschichtlichen Entwicklung zusammenführen ließ. Das äußerte sich unter anderem im ambivalenten Status des Natur­ zustandes. Durch seinen Bezug auf den Menschen, der der traditionellen Semantik nach als un- bzw. gegennatürliche Kraft galt, schien der Begriff eines ›Naturzustandes der Menschheitsgeschichte‹ ebenso wie der eines ›Naturmenschen‹ in sich widersprüchlich. Dies machte ihn rhetorisch angreifbar. Rousseau war sich dieser Problematik sehr bewusst. Das kam unter anderem darin zum Ausdruck, dass er seine Konzeption des Naturzustandes vorsichtig als »un Etat qui n’existe plus, qui n’a peut-être point existé, qui probablement n’existera jamais« charakterisierte.38 Trotz ihrer prekären kognitiven Basis seien Hypothesen über diesen Zustand jedoch unentbehrlich, um zu einem richtigen Begriff von »nôtre état présent« zu gelangen. Der Begriff des Natur­ zustandes, der in der Rezeption als Kern des rousseauschen Denkens wahrgenommen worden ist, war im Ansatz also keine Beschreibung, sondern ein analy­tisches Mittel in der »entreprise de démêler ce qu’il y  a d’originaire et d’artificiel dans la nature actuelle de l’homme«.39 Rousseaus Versuch, Natur und Gesellschaft sauber voneinander zu trennen, stand im Zeichen seines kulturkritischen Vorhabens. Nur als gesonderte Kategorien waren die beiden Begriffe als Kriterien zur Interpretation und Beurteilung der zeitgenössischen Lebensform verwendbar. Gleichzeitig zeigte sein Text aber auch die Spuren davon, dass sich eine solche kategorische Unterscheidung nur schwierig durchhalten ließ. Der Naturzustand ließ sich leichter hy 38 Rousseau, Discours sur l’inégalité, S. lviii. 39 Ebd. Siehe auch: »Commençons donc par écarter tous les faits, car ils ne touchent point à la question. Il ne faut pas prendre les Recherches, dans lesquelles on peut entrer sur ce S­ ujet, pour des vérités historiques, mais seulement pour des raisonnements hypothétiques & conditionnels; plus propres à éclaircir la Nature des choses qu’à en montrer la véritable origine, & semblables à ceux que font tous les jours nos Physiciens sur la formation du Monde.« Ebd., S. 6. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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pothetisch postulieren als beschreiben. Letztendlich kam die Beschreibung genuin menschlichen Lebens, auch im Naturzustande, kaum ohne das Vokabular der Gesellschaft, Kultur oder Sprache aus. Rousseaus Versuch, diese Aspekte als spätere Errungenschaften aus dem Naturzustand auszugrenzen, wurde demnach zwischen der Scylla des Gesellschaftszustandes und der Charybdis der Ununterscheidbarkeit des Menschen vom Tier hin und her gerissen. Dies führte immer wieder zu Aporien. So tat er sich beispielsweise schwer, zu erklären, warum die natürliche Gesellschaft zwischen Mann und Frau sowie zwischen Mutter und Kind keine eigentliche Gesellschaft sei oder die Kommunikationsformen, die sie untereinander entwickelten, keine eigentliche Sprache.40 Aus derselben semantischen Bruchlinie stammt auch die Ambivalenz des rousseauschen ›Primitivismus‹, mit der sich seine Interpreten immer wieder auseinandergesetzt haben.41 Einerseits zog er den Naturzustand als Kriterium für die wertende Deutung der eigenen Gesellschaft heran.42 Andererseits war dieser – aufgrund des strikten Ausschlusses von jedem späteren ›humanen‹ Zusatz – als beschriebener Zustand in der Praxis zu animalisch, zu roh, als dass er die Funktion eines normativen Kriteriums erfüllen könnte. Das ängstliche »animal stupide & borné«,43 das alleine lebte, ohne Moral, ohne jede dauernde Beziehung, in dem die wesentliche Eigenschaft, die es von der Tierwelt unterschied, seine Perfektibilität, noch schlief, konnte kaum den Status eines attraktiven Vorbilds für sich beanspruchen. Ein ›Zurück zur Natur‹ in engerem Sinne wäre – selbst wenn Rousseau an seine Möglichkeit geglaubt hätte – offensichtlich nicht wünschenswert ge­wesen. Sofern er tatsächlich von einer rückblickenden Sehnsucht getrieben wurde, galt die Wunschvorstellung einer Zwischenzeit der gerade angefangenen Gesellschaft – »bien loin du premier age«.44 Das gelungene Leben wurde in einen primitiven Zustand projiziert, die natürlich und doch genuin menschlich war. Der Übergangscharakter dieses Zustandes machte ihn schwer fassbar, brachte aber auch den rhetorischen Vorteil mit sich, dass negative Aspekte stets als hinzugekommene, schon-nicht-mehr-natürliche aus ihm ausgegrenzt werden konnten. Fast jeder, der sich nach der Jahrhundertmitte mit der Problematik des Naturzustandes auseinandersetzte, bezog sich in irgendeiner Weise auf Rousseaus Provokation. Da der weitaus größte Teil dieser Bezugnahmen die Form einer kritischen Abgrenzung hatte, hatte die Debatte de facto oft die Gestalt 40 Neis, Anthropologie im Sprachdenken, S. 388–392. 41 Vgl. Lovejoy, Supposed Primitivism. Siehe auch: Bollnow, Kritik an der Kulturkritik. 42 »Tout est bien sortant des mains de l’Auteur des choses, tout dégénère entre les mains de l’homme.«, lautete der erste Satz des Émile. Rousseau, Émile, Bd. 1, S. 1. 43 Ders., Du contract social, S. 24. 44 Ders., L’origine des langues, S. 258, 262. Auch die oft als Naturmenschen beschriebenen Wilden befanden sich nach Rousseau in einer solchen primitiven, aber unnatürlichen Gesellschaft. Ders., Discours sur l’inégalité, S. 114, 222. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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einer Kette von Widerlegungen. Gerade auch im Kontext der Sprachursprungs­ debatte war das der Fall. Als Beispiel kann die Preisfrage der Berliner Akademie von 1771 nach dem Ursprung der Sprache gelten, aus der unter anderem Herders berühmte Abhandlung über das Thema hervorgegangen ist.45 Wie Cordula Neis in ihrer Monographie zum Thema gezeigt hat, setzte sich nicht weniger als die Hälfte aller Einsendungen kritisch mit dem zweiten Discours auseinander.46 Das ist insofern erstaunlich, als diese Schrift im Grunde nur sehr wenig Spezifisches zur Frage des Sprachursprungs enthielt. Das »Essai sur l’origine des langues«, in dem Rousseau seine Sprachphilosophie ausführlicher entfaltete, entstand zwar etwa zeitgleich, wurde aber erst 1781 postum von Rousseaus Testamentvollstrecker Pierre-Alexandre du Peyrou (1729–1794) veröffentlicht. Dass sich so viele dennoch gezwungen fühlten, sich in ihrer Argumentation zum Sprachursprung auf den Discours zu beziehen, zeugt ebenso von der Verknüpfung dieser Frage mit dem Thema des Naturzustandes wie von der Funktion des rousseauschen Namens als eines diskursiven Steins des Anstoßes. Ein auffälliger Aspekt dieser Debatte lag in der semantischen Strategie, welche die Rousseaugegner anwendeten. Es wäre denkbar gewesen, dass die Aufwertung der Natur auf Kosten der Kultur mit der umgekehrten Wertung entgegengetreten wäre. In der Praxis fand eine solche Umkehrung aber nicht statt. Regelrechte Abwertungen des Naturbegriffs, die es vorher und nachher durchaus gegeben hatte, kamen im Untersuchungszeitraum so gut wie nicht vor.47 Stattdessen verließ man sich hauptsächlich auf eine Strategie der Relativierung des Gegensatzpaares. Offensichtlich war die normative Autorität des Natur­ begriffs derart stark etabliert, dass man sich um seine Deutung, nicht aber um seine grundsätzliche Wertung stritt. Solche Relativierungsstrategien konnten unterschiedliche Gestalt haben. Zum Teil griffen sie auf ältere Topoi zurück. In der frühneuzeitlichen Natur­ betrachtung war die Natur als aktiv gestaltendes Prinzip nicht selten als ›Künstlerin‹ dargestellt worden. Speziell aber das umgekehrte Bild, der Natur komme als Schöpfung Gottes den Charakter eines ›Kunstwerks‹ zu, wurde im 18. Jahrhundert immer wieder aufgenommen.48 Im Deismus spielte er eine zentrale Rolle. In einem »Dialogue entre le philosophe et la nature« ließ Voltaire die Natur verzweifelt ausrufen: »qu’on m’a donné un nom qui ne me convient pas, on 45 Herder, Ursprung der Sprache. 46 Neis, Anthropologie im Sprachdenken, S. 370–374, 398–429. Siehe auch schon: Aarsleff, The Tradition of Condillac, S. 176–199; Veldre, Rousseau und die Preisfrage. 47 Vgl. Jauß, Ursprünge der Naturfeindschaft. 48 Im ersten Satz seines »Leviathan« brachte Hobbes die verwickelte Beziehungen beider Begriffe zum Ausdruck: »Nature (the Art whereby God hath made and governes the World) is by the Art of man, as in many other things, so in this also imitated, that it can make an Artificial Animal.« Hobbes, Leviathan, S. 9. Siehe auch: Pope, Essay on Man, S. 8. Vgl. Daston, How Nature became the Other, S. 40–44; Sweetman, Nature and Art. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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m’appelle nature & je suis tout art.«49 Hinzu kam das anthropologische Argument, die Kunst gehöre wesentlich zur menschlichen Natur. »We speak of art as distinguished from nature«, schrieb Adam Ferguson, »but art itself is natural to man.«50 Schließlich brachte auch der immer wieder auftauchende Ausdruck ›zweite Natur‹ die Verschränkung von menschlicher Natur und kultureller Erworbenheit zum Ausdruck.51 Analoge Verwischungen des Gegensatzes zwischen Natur und Kunst traten in der zeitgenössischen Ästhetik auf den Plan. In verschiedenen Ausprägungen beherrschte das alte Prinzip, die Kunst sei Imitation der Natur, weiterhin die Debatte.52 Die Nachahmung sei aber – wurde jetzt hinzugefügt – nicht willkürlich auf die ganze Natur, sondern lediglich auf ihre schönen Aspekte bezogen. In geschmackvoller Auswahl stelle die Kunst die schöne Natur dar.53 Auch in diesem Kontext wurde die kategorische Trennung zwischen Kunst und Natur aber relativiert. Im vorigen Kapitel ist schon der Topos erwähnt worden, dass die vollendete Kunst ihren Kunstcharakter so geschickt verstellt, dass sie als Natur erscheint. Dazu kam im 18. Jahrhundert das ästhetische Argument, dass auch in der Kunst selbst ›Künstlichkeit‹ die natürliche Schönheit beeinträchtige. Im Begriff des beau naturel wurde die schöne, natürliche Kunst vom falschen, affektierten Raffinement abgegrenzt.54 In der Debatte um den Naturzustand sowie in der Ästhetik war die kategorische Trennung von Natur und Kunst somit einer Vielzahl an Gegenargumenten, Einschränkungen und Relativierungen ausgesetzt. In beiden Fällen ließ die ungeheure Autorität des Naturbegriffs das Verhältnis zu seinem Gegenteil dermaßen asymmetrisch ausfallen, dass es unstabil wurde. Infolgedessen waren absolute Gebrauchsweisen des Naturbegriffs aus rhetorischer Sicht relativ schwach. Sie konnten nur allzu leicht ad absurdum geführt werden.55 Aus die 49 Der Satz findet sich erstmals in der Textfassung der »Collection complette« von 1775. Voltaire, Questions sur l’Encyclopédie, S. 203. 50 Ferguson, An Essay, S.  9. Siehe auch: Ebd., S.  12; Harris, Dialogue Concerning Art, S. 11–12; Boswell, London Journal, S. 176–177; E. Burke, An Appeal, S. 108; Herder, Ideen, Bd. 2, S. 258–259; ders., Natur und Kunst, S. 44–45. 51 Monboddo, Origin and Progress of Language, Bd. 1, S. 25. Es ist bemerkenswert, dass eine weitere mögliche Relativierungsstrategie – der Hinweis, auch die menschliche Kunst sei letztendlich Teil der Natur – in dieser Periode nicht benutzt wurde. Solche Argumente für die Naturalisierung des Menschen konnten, wie es scheint, erst im postdarwinistischen Zeitalter ihre Wirksamkeit entfalten. 52 Gottsched, Versuch einer kritischen Dichtkunst, S. 126–127; Batteux, Les beaux arts, S. viii–x, 12–14; Rigoley de Juvigny, De la décadence, S. 78–80. 53 S. Johnson, 31 March, 1750; Mengs, Gedanken über die Schönheit, S. 38–42; Gessner, Brief über die Landschaftsmalerey, S. 179. Kritisch dagegen: Lenz, Der neue Menoza, S. 128. 54 Saint-Mard, Reflexions, S. 297–298. 55 Formey schrieb dazu: »Plus j’y pense donc, plus je crois l’état de pure nature, une vraye chimère, une grossiere absurdité, une contradiction manifeste«. Formey, Réunion des principaux moyens, S. 228. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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sem Grund wurde die normative Bezugnahme auf einen ›Naturzustand‹ den kritischen Autoren viel öfter unterstellt, als dass sie sie tatsächlich vertraten. Absolute Trennungen spielten in der Sprachpraxis des späten 18.  und frühen 19. Jahrhunderts eher in parodistischen oder argumentativen Auseinandersetzungen mit der Kulturkritik eine Rolle als in der Kritik selbst. Wenn der zeitgenössischen Gesellschaft tatsächlich Kontraste gegenübergestellt wurden, handelte es sich fast ausnahmslos um natürliche Gesellschaften, um Lebensformen, die als tugendhaft, einfältig und aufrichtig dargestellt wurden, die aber mit der abstrakten Vorstellung eines status naturalis im strengen Sinne nicht viel zu tun hatten.56 Daraus folgt aber keineswegs, dass der Naturbegriff in der kulturkritischen Semantik keine Rolle spielte. Ganz im Gegenteil. Selbst wenn die Natur, der Naturzustand oder das Natürliche schlechthin rhetorisch nur bedingt brauchbar waren, so war die Kennzeichnung bestimmter Phänomene als relativ natürlichere oder künstlichere das umso mehr.57 Die abwertende Bezeichnung zeitgenössischer Phänomene als ›artifiziell‹ und ›unauthentisch‹ war gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weit verbreitet. Nicht selten wurde die eigene Kultur als künstlich oder erkünstelt dargestellt: Das Zeitalter sei raffiniert, aber ohne innere Kraft. Es ist auffällig, dass dabei das traditionelle Verständnis der Natur als das passive Prinzip, das erst durch menschliche Aktivität zu seiner wahren Gestalt gelange, verkehrt wurde. Das Natürliche war jetzt das Spontane und wurde mit Lebenskraft und Energie assoziiert. In der Folge spaltete sich das Bewegungsprinzip in eine positive und eine negative Variante. Immer wieder wurden Befürchtungen laut, die ursprüngliche Kraft der Natur würde durch die rastlose, aber letztendlich sterile Geschäftigkeit der menschlichen Kultur ›ausgelöscht‹ werden.58 »Nature’s impulse, all unchecked by art« wurde den Fesseln der Kunst gegenübergestellt.59 Auch der Ursprung wurde jetzt anders verstanden. War er einerseits der chronologische Beginnpunkt einer fortschrittlichen Entwicklung, so funk­ tionierte er darüber hinaus als die maßgebliche Quelle, auf die jede weitere Entwicklung bezogen blieb. In moralischen und soziopolitischen Fragen 56 Eine interessante Weiterführung der Naturzustandsthematik bietet die »Restauration der Staats-Wissenschaft« des Berner Staatsrechtlers und Politikers Carl Ludwig von Haller (1768–1854). In diesem sechsbändigen Werk setzte sich der Autor mit Rousseaus Theorien im »Contrat Social« (1762) unter dem Gesichtspunkt auseinander, dass der Naturzustand durch den Gesellschaftsvertrag nicht aufgehoben sei, sondern auch im Gesellschaftszustande die politischen Verhältnisse unvermindert bestimme. Von Haller, Restauration. Siehe für eine Kritik: Hegel, Grundlinien, S. 241–250, (§ 258). 57 Siehe: Von Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit, S. 9–13. 58 Béliard, Lettres critiques, S. 114–115; Herder, Briefwechsel über Ossian, S. 41–42; Virey, L’influence des femmes, S. 12; Görres, Teutschland, S. 156. 59 Anon., New Morality, S. 195. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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funktionierte er als normativer Bezugspunkt.60 Diese Figur kam in den unterschiedlichsten Kontexten zum Tragen. In der Ästhetik wurde Natur einmal mehr aufgewertet zu einem alles umfassendes Prinzip. Statt bloßer Nachahmung der äußeren Natur solle die Kunst originaler Ausdruck der ›natürlichen‹ Empfindung des Künstlers sein. Das Herz sei der Sitz der Natur im Menschen und ihr freier, ungefesselter Ausdruck die reine Quelle der Kunst.61 Diese ›Naturästhetik‹ wurde ausdrücklich als Komplement und Alternative zu einem als herrschend verstandenen, technisch-wissenschaftlichen Naturverhältnis konzipiert. Zum einen habe sich in den Wissenschaften ein Naturbild breitgemacht, das sie als mechanische Ordnung und als Gegenstand wissenschaftlicher Analyse auffasse. Dieser Bezug zur Natur wurde in der zweiten Jahrhunderthälfte immer stärker als kalt und berechnend abgewertet. Zum anderen grenzte sich die Ästhetik von der rücksichtslosen Ausbeutung der Natur als Ressource für die Wirtschaft ab. Im Gegensatz zu diesen Tendenzen wurde der antike Topos einer Sympathie der Natur verstärkt wieder aufgenommen.62 Aber nicht nur in der Ästhetik wurde die Natur noch einmal aufgewertet. In der Pädagogik wurde die »künstliche Bahn« der »freien, wartenden, langsamen Natur« gegenübergestellt.63 Im Gartenbau wurde die Disziplinierung der Natur durch ihre Einordnung in geometrische Strukturen zugunsten weniger künstlich erscheinender Formen verlassen. Die Natur solle im Garten nicht gezügelt werden, sondern lediglich die Gelegenheit erhalten, ihre Schönheit zu zeigen. Das menschliche Eingreifen solle dabei so weit wie möglich verborgen bleiben, um die Illusion einer planlosen Ordnung nicht zu verderben.64 In der Ethnologie galten ›Naturvölker‹ als Beispiele einer naturgemäßen Lebensweise, deren vorbildliche Einfalt vom homme artificiel vergessen worden sei.65 In dieser Weise wurden die Adjektive natürlich und künstlich in den unterschiedlichsten Zusammenhängen verwendet, die eigene Kultur zu deuten.66 60 [Morelly], Code de la nature, S. 10; Thelwall, The Rights of Nature, Bd. 2, S. 78–79. 61 Klopstock, Von der heiligen Poesie, [o. S.]; E. Young, Conjectures, S. 12. Und in sati­ rischer Verkehrung: Tickel, The Wreath of Fashion, S. 14. 62 Vgl. Nobis, Frühneuzeitliche Verständnisweisen der Natur; Grosse, Sympathie der ­Natur, S. 77–92; Mittelstraß, Das Wirken der Natur; Böhme, Natürlich / Natur. 63 Pestalozzi, Abendstunde eines Einsiedlers, S. 517–518. Siehe auch: ders., Meine Nachforschungen. 64 Vgl. Gebauer, Auf der Suche nach der verlorenen Natur; Tabarasi, Der Landschafts­ garten. 65 Diderot ließ eine Figur sagen: »Voulez-vous savoir l’histoire abrégée de presque toute notre misère? la voici. Il existoit un homme naturel: on a introduit au dedans de cet homme un homme artificiel, et il s’est élevé dans la caverne une guerre civile qui dure tout la vie. Tantôt l’homme naturel est le plus fort; tantôt il est terrassé par l’homme moral et artificiel; et dans l’un et l’autre cas, le triste monstre est tiraillé, tenaillé, tourmenté, étendu sur la roue, sans cesse gémissant, sans cesse malheureux«. Diderot, Supplément, S. 265–266. Vgl. Fludernik, Der »Edle Wilde«. 66 Schiller, Die schmelzende Schönheit, S. 48; ders., Ueber das Naive, S. 68–70. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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So allgegenwärtig war der Gegensatz zwischen Natur und Kunst um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, dass er im Rückblick gar als Kennzeichen dieser Zeit gelten konnte. Als William Hazlitt die Dichtung William Wordsworths (1770–1850) als »pure emanation of the Spirit of the Age« beschrieb, erläuterte er: »In a word, his poetry is founded on setting up an opposition (and pushing it to the utmost length) between the natural and the artificial; between the spirit of humanity, and the spirit of fashion and of the world!«67 Hazlitts Beobachtung unterscheidet sich von anderen vor allem darin, dass er seine eigene Zeit nicht als natürliche oder künstliche, sondern als Zeitalter der Opposition zwischen Natur und Kunst kennzeichnete. Seine Charakteristik vom Geiste des Zeitalters war semantisch orientiert. Spätere Historiker haben ihm Recht gegeben. Das sentiment de la nature, wie es in einer klassischen Arbeit von Daniel Mornet hieß, war das Markenzeichen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.68 Die Emphase, mit der die normative Autorität des Naturbegriffs in einer Fülle unterschiedlicher Kontexte vertreten wurde, war kaum zu überbieten. Nicht selten ist denn auch die These vertreten worden, der Naturbegriff habe im Laufe des 18. Jahrhunderts die Funktion des Gottbegriffs ›übernommen‹.69 Im Säkularisierungsprozess sei eine semantische Lücke freigeworden, in die der Naturbegriff gleichsam hineingeschlüpft sei. So sei die Natur vergöttert worden und es habe sich anstelle des Christentums eine säkulare Naturreligion etabliert. In der Tat fanden sich seit dem frühen 18. Jahrhunderts Verwendungen des Naturbegriffs, die in Form und Ton eindeutig auf ein sakrales Register anspielten. Der Graf von Shaftesbury (1671–1713) ließ in seiner Rhapsodie »The Moralists« (1709) einen der Protagonisten einen Song of Nature anstimmen, in dem Natur und Gott fast auswechselbar schienen. O glorious Nature! supremely Fair and sovereignly Good! All-loving and All-lovely, All-divine! Whose Looks are so becoming, and of such infinite Grace; whose Study brings such Wisdom, and whose Contemplation such Delight; whose every single Work affords an ampler Scene, and is a nobler Spectacle than all that ever Art presented! – O mighty Nature! Wise Substitute of Providence! impower’d Creatreß! Or Thou impowering Deity, Supreme Creator! Thee I invoke, and Thee alone adore.70

Es ist nicht schwierig zu verstehen, warum solche Sätze die religiöse Empfindung manch eines Zeitgenossen verletzten. Die Evokation aller formalen Merkmale des Gottesanrufs  – die Interjektionen, die Ausrufezeichen, die Heran 67 Hazlitt, Wordsworth, S. 232–233. 68 Mornet, Le sentiment de la nature. 69 So schon: Huizinga, Naturbild und Geschichtsbild, S. 168. 70 Shaftesbury, The Moralists, S.345. Vgl. Von Bar, Die Philosophie Shaftesburys, S. 105– 109. Siehe zum Vergleich auch: Thomson, Autumn, S. 247–248. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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ziehung eines religiös konnotierten Wortfeldes (All-…, Grace, Contemplation, mighty, wise, Creatreß) – unter Bezug auf einen alternativen Adressaten schien einer semantischen Vermischung des Heiligen mit dem Profanen nahezukommen.71 Obwohl also die empörte Feststellung, Gott sei durch die Natur ›ersetzt‹ worden, in der Tat ein realer Streitpunkt in zeitgenössischen Debatten darstellte, ist es eine ganz andere Frage, ob der Begriff der ›Ersetzung‹ den komplexen historisch-semantischen Entwicklungen des Naturbegriffs auch analytisch gerecht wird. Im Allgemeinen gilt, dass die Übernahme einer ›diskursiven Position‹ durch einen alternativen Begriff nie ohne Verluste und Gewinne auf der Bedeutungsebene geschieht. Selbst wenn Zeichen abstrakt-philosophisch gesehen will­ kürlich und auswechselbar sind, aus sprachhistorischer Sicht sind sie es nicht. Begriffe sind keine Variabeln, die nach Belieben ausgetauscht werden können. Sie entfalten ihre Gebrauchsmuster aus ihrer faktischen Geschichte heraus.72 Außerdem stehen sie nicht auf sich, sondern werden erst im Zusammenhang des ganzen semantischen Umfelds bedeutsam. Bei Bedeutungsstrukturen bedingt – wie das Prinzip des hermeneutischen Zirkels besagt – das Ganze das Einzelne und das Einzelne das Ganze. Es mag überflüssig erscheinen, einmal mehr an dieses alte Prinzip zu er­ innern. Doch ist es wichtig, klarzustellen, inwiefern die Ersetzungshypothese von einem fehlerhaften Verständnis von Begriffsgebrauch geleitet ist.73 Hier führt das oft verwendete Bild, Begriffe seien die Bausteine oder Elemente einer architektonisch begriffenen Bedeutungsstruktur, in die Irre. Der analytische Begriff der Säkularisierung sollte weder als die ›Entleerung‹ einer diskursiven Stelle noch als ihre ›Neubesetzung‹ durch einen alternativen Begriff verstanden werden. Wenn er im Kontext der historischen Semantik überhaupt tragfähig ist, dann nur als Bezeichnung eines äußerst komplexen Vorgangs, in dem die ganze Struktur der kulturellen Weltorientierung und alle Begriffe, die in ihr eine Rolle 71 Es gab auch positive Deutungen dieses Vorgangs. Ernst Moritz Arndt (1769–1860) begrüßte die Hinwendung zur Natur als Resakralisierung nach einer Epoche, in welcher der Europäer »fast ein übermüthiger, gottoser, und liebloser Gaukler geworden war und im vermessenen Wahn sich über jeden Gott und jede Welt hinausgesetzt hatte«. Arndt, Ueber Sitte, S. 6. Siehe auch: Stollberg, An die Natur. 72 Darum wusste auch das 18. Jahrhundert. So schrieb Condillac: »Les signes sont arbitraires la première fois qu’on les employe; c’est peut-être qui a fait croire qu’ils ne sauroient avoir de caractère. Mais je demande s’il n’est pas naturel à chaque nation de combiner ses idées selon le génie qui lui est propre; & de joindre à un certain fonds d’idées principales, différentes idées accessoires, selon qu’elle est différemment affectée? Or, ces combinaisons autorisés par un long usage, sont proprement ce qui constitute le génie d’une Langue.« Condillac, L’origine des connaissances, Bd. 2, S. 219–220. 73 Ein weiteres Beispiel einer solchen ›Ersetzungshypothese‹ ist die Auffassung Rauhuts, der Kulturbegriff sei eine ›Verweltlichung‹ des Begriffs Christentum: Rauhut, »Kultur«, S. 83. Siehe auch: Blumenberg, »Säkularisation, S. 250; Mortier, »Lumière«, S. 32. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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spielen, einem fundamentalen Wandel unterlagen: Eine Bedeutungswelt vergeht, eine neue entsteht. Selbst die Reste der alten, die in die neue Welt gerettet werden, haben ihre Bedeutung im neuen Horizont geändert. Diese allgemeine Beobachtung bestätigt sich im Falle des Naturbegriffs. Bei näherer Betrachtung sind selbst in Verwendungskontexten, die das religiöse Vokabular am eindeutigsten wieder aufnehmen, die Unterschiede nicht zu über­ sehen. Entscheidend ist dabei die neue zeitliche Dimension des Verlusts. Der normative Bezugspunkt der Natur unterschied sich vom Göttlichen darin, dass ihre Nichtverfügbarkeit eine geschichtliche Dimension hatte: Die Natur war für den zeitgenössischen Menschen nicht mehr da.74 Der Bezug zum normativen Ursprung erhielt folglich die Gestalt einer nostalgischen Sehnsucht nach einer ursprünglichen Identität und der Hoffnung auf ihre Wiedergewinnung.75 Zwei Grundfiguren bestimmten in diesem Kontext das Verhältnis zwischen Natur und Kunst: Rückkehr und Vollendung. Zum einen wurde die Hoffnung laut, die künstlichen Verhältnisse des modernen Lebens könnten mit einem entschiedenen Schritt verlassen werden. Eine geheime Gesellschaft, die 1808 in Tübingen aufgedeckt wurde, hatte laut eines Programmschreibens Vorbereitungen getroffen, dem Vaterland den Rücken zuzukehren. Europa lebt darniedergedrückt von der last tiefgewürzelter Konvenienz, falschen sittlichen Anstands, der stufenweise seine Macht bildete und sein Haupt zum Tyrannen emporwarf, indem er die Natur und die Reinheit der Sitten zerstörte […].76

Die Mitglieder machten sich dazu auf, nach einer Südseeinsel auszuwandern. Dort, »wo Natur und Kunst harmonisch einklingen«, erhofften sie sich ein freies und glückliches Leben. Insofern der geschichtliche Gegensatz zwischen Natur und Kunst nach dieser Art in exotistischer Abwandlung als geographische Dimension erschien, konnte eine ›Rückkehr zur Natur‹ in der Gestalt einer Auswanderung tatsächlich als reale Möglichkeit aufgefasst werden.77 Ansonsten aber war der Weg zurück zur Natur durch den unaufhaltsamen Fortschritt der Zivilisation versperrt. Wie Kant in einer berühmten Passage über Rousseau bemerkte, hatte dieser im zweiten Discours den »unvermeidlichen Widerstreit der Cultur mit der Natur des menschlichen Geschlechts« in exemplarischer Weise aufgezeigt.78 Auf den ersten Blick schien es, so Kant, als stehe dies mit seinem späteren Bestreben in Widerspruch, die politische Organisation (»Contrat social«) und Erzie 74 Heinse, Frauenzimmer-Bibliothek, S. 72–74. 75 Vgl. zur Genealogie dieser Erfahrung: Konersmann, Kulturkritik und Wiederherstellungserwartung. 76 [Geheime Gesellschaft (Tübingen)], Wir wollen Europa verlassen. 77 Th. Lange, Idyllische und exotische Sehnsucht, S. 177 ff. 78 Kant, Muthmaßlicher Anfang, S. 259. Vgl. Sonenscher, Sans-Culottes, S. 195–201. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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hung (»Émile«) derart zu gestalten, dass die sittliche Kultur der Bestimmung des Menschen als Naturgattung nicht mehr widerstreite. Das Paradox löse sich aber auf, sobald klar werde, dass unter Bedingungen fortgeschrittener Kultur nur deren eigene Mittel zur Natur zurückführen, »bis vollkommene Kunst wieder Natur wird«.79 Gerade in Deutschland hatte die Figur der Rückkehr zur Natur durch Vollendung der Kultur eine ungeheure Wirkung. Die Kunst sei der Ort, an dem die Kultur sich vollende. »[D]ie vollkommene Verbindung, die Übereinstimmung von Mensch und Natur, zwischen Natur und Geschichte, in der Kunst wird sie erreicht«, schrieb Schiller.80 Weniger bekannt sind zeitgenössische Versuche, die Einheit zwischen Natur und Geist auf wissenschaftlicher Basis wiederherzustellen. Die romantische Naturforschung versuchte mittels einer parallelen Spiritualisierung der Natur und Naturalisierung des Menschen den Gegensatz zwischen beiden Bereichen zu überwinden.81 Um die Jahrhundertwende fanden sich allenthalben Versuche, die seman­ tischen Widersprüche im Gegensatzpaar von Natur und ihrem Gegenteil zu lösen. Es erschienen ausführliche Abhandlungen über die Beziehung der beiden Kategorien. Zum Teil handelt es sich dabei um Texte, die seitdem einen kanonischen Status erlangt haben. Dennoch ist klar, dass solche kategoriale Verwendungsweisen von Natur und Kultur (bzw. Kunst oder Geist) aus diskursiver Sicht weiterhin eine Ausnahme darstellten. Der Kanon sollte uns nicht den Blick darauf verstellen, dass auch die kompliziertesten Lösungsversuche sich mit einem Problem herumschlugen, das im alltäglichen Sprachgebrauch überhaupt nicht erst aufkam: wie die Natur und die Kultur aufeinander bezogen werden konnten. Viel häufiger, und aus semantischer Perspektive letztendlich wichtiger für die Entwicklung der Kulturkritik, waren pauschale Abwertungen 79 Kant, Muthmaßlicher Anfang, S.  263–264. Siehe auch: Ebd., S.  272; ders., Idee zu einer allgemeinen Geschichte, S.  147–148. Tatsächlich hatte Rousseau geschrieben: »il faut employer beaucoup d’art pour empêcher l’homme social d’être tout-à-fait artificiel.« Und: »­efforçons nous de tirer du mal même le remède qui doit le guérir.« Rousseau, Émile, Bd. 3, S. 199; ders., De la société générale, S. 300. Siehe auch: ders., Brief vom 10. September 1755 an Voltaire, S. 310. 80 Zit. n. Klinger, Flucht, Trost, Revolte, S. 27–28. Siehe auch: Schiller, Ueber das Naive, S. 45; ders., Ästhetische Erziehung, S. 35; Schelling, System des transcendentalen Idealismus, S. 475–476; Novalis, Die Lehrlinge zu Sais, S. 181–182. Auch Hölderlin (1770–1843) übernahm den Gedanken: »Es giebt zwey Ideale unseres Daseyns: einen Zustand der höchsten Einfalt, wo unsere Bedürfnisse mit sich selbst, und mit unsern Kräften, und mit allem, womit wir in Verbindung stehen, durch die bloße Organisation der Natur, ohne unser Zuthun, gegen­ seitig zusammenstimmen, und einen Zustand der höchsten Bildung, wo dasselbe statt finden würde bey unendlich vervielfältigten und verstärkten Bedürfnissen und Kräften, durch die Organisation, die wir uns selbst zu geben im Stande sind.« Hölderlin, Fragment von Hyperion, S. 181. 81 Vgl. Von Engelhardt, Spiritualisierung der Natur; ders., Die Naturwissenschaft. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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gesellschaftlicher Phänomene als künstlich, erkünstelt, unnatürlich sowie ihre normative Kontrastierung zu relativ naturgemäßeren Alternativen. Auch die Debatte um die Sprache kreiste im Wesentlichen um dieses Dilemma.

2. Die Parallelentwicklung von Sprache und Kultur Sprachliche Weltaneignung und die Aufgabe der Sprachaufklärung Die Verzeitlichung kulturreflexiver Diskurse im 18.  Jahrhundert konnte im Kontext der Sprachentstehungsfrage nur beschränkt zum Ausdruck kommen. Der geschichtliche Blick auf das Phänomen Sprache stieß dort, wo der Versuch unternommen wurde, das einmalige Ereignis des Ursprungs als geschichtliche Entwicklung zu artikulieren, an semantische Grenzen. Verzeitlicht wurde dieser Blick erst, als die sprunghafte Entstehungslogik zugunsten einer fortschreitenden Entwicklungslogik verlassen wurde. Dies geschah, als sich die Debatte allmählich weniger mit dem einmaligen Einzug in Sprachlichkeit und Gesellschaft, dafür aber mehr mit der geschichtlichen Entwicklung konkreter Sprachen befasste. Im Zentrum dieser Problematik stand die Vorstellung einer Parallelentwicklung von Sprache und Kultur. Im Rahmen der Ursprungsdebatte hatte die Sprache das taxonomische Kriterium der Menschlichkeit und den Anfang der Kultur dargestellt. In dieser Funktion tauchte sie auch im späten 18. Jahrhundert noch gelegentlich auf. Gerade die Vorstellung, dass das Denken von der Herausbildung der Sprache abhängig sei, wurde vielfach thematisiert.82 Dennoch änderte sich allmählich die Art und Weise, wie diese Problematik zur Diskussion gestellt wurde. Aus der Frage nach der Sprache als Voraussetzung für das Denken entstand mit der Zeit eine nach dem Zusammenhang zwischen konkreten Sprachen, ihren jeweiligen Entwicklungen und der Denkart unterschiedlicher Nationen. Spätestens ab der zweiten Jahrhunderthälfte wurde die spezifische gegenseitige Verschränkung von Sprach- und Kulturentwicklung zum Hauptthema der Sprachreflexion. Auch der Sprachforscher Johann Werner Meiner (1723–1789)  – im Alltag war er Rektor im Thüringer Langensalza – bekannte sich in der Vorrede zu seinem »Versuch einer an der menschlichen Sprache abgebildeten Vernunftlehre« (1781) zur strengen Parallelität von Sprache und Kulturentwicklung. Aus der formalen Verfassung einer Sprache, meinte er, ließen sich weitgehende Rück 82 Carus nannte die Sprache das »Weckungsmittel des schlummernden Geistes«. ­Carus, Ideen, S.  235–236. Siehe auch: Diderot, Encyclopédie, S.  637; Levesque, L’homme moral, S. 394–395; Herder, Ideen, Bd. 1, S. 237; Bd. 2, S. 290–291; Pestalozzi, Meine Nachforschungen, S. 57–58. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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schlüsse auf das Entwicklungsstadium der sie verwendenden Gemeinschaft ziehen: »Denn weil die Sprache eine sinnliche Abbildung unserer Gedanken ist, so kann man ja aus der zunehmenden Vervollkommnung der Sprache immer auf die vorausgegangene Vervollkommnung der Denkungsart eines Volkes sicher zurücke schließen.«83 Ein wichtiges Sprachmuster in solchen Überlegungen – auf der Vorstellung der gegenseitigen Parallelität gründend und diese wiederum legitimierend  – war eine Variante der Lebensaltermetaphorik. Die Entwicklung der Sprache wurde analog zu den Stadien des menschlichen Spracherwerbs verstanden. Das Kind, das sich durch stetes Üben die Sprache seiner Eltern aneignet und seine Sprachbeherrschung immer weiter perfektioniert, wurde als Sinnbild für die aufeinander folgenden Entwicklungsstufen der Sprache selbst aufgefasst. Im Umkehrschluss galten Erkenntnisse über den Spracherwerb des Kindes als Hinweis darauf, welche Elemente der bestehenden Sprache als ›älter‹ bzw. ›jünger‹ angesehen werden sollten.84 Darauf aufbauend konnten die Phasen der Sprachentwicklung mit dem Vokabular der Lebensalter interpretiert werden. So stellte für Meiner die hebräische Sprache die »Kindheit der menschlichen Sprache überhaupt« dar. Von da aus habe sie sich immer weiter entwickelt, so dass »sie sich eben so, wie die Rede eines Kindes bey immer mehr zunehmender Erleuchtung des Verstandes durch eben die Grade und Stufen zu ihrer Vollkommenheit erhoben hat, durch die die Rede des Kindes nach und nach bis zur männlichen Beredsamkeit hinauf steiget«.85 Die Logik des Lebensaltervergleichs barg aber, wie im ersten Kapitel aus­ geführt, noch andere Möglichkeiten in sich. Musste auf den Erwachsenen logischerweise nicht der Greis folgen, danach sogar der Tod? Und wer konnte verkennen, dass die Jugend im Vergleich zum Erwachsenen auch gewisse Vorzüge hat?86 So war immer die Möglichkeit gegeben, das Bild gegen den Strich zu 83 Meiner, Philosophische und allgemeine Sprachlehre, S. vii–ix, xxxvi. Ähnlich, obwohl etwas differenzierter: Dunbar, Essays, S. 109. 84 Vgl. Neis, Anthropologie im Sprachdenken, S. 231–273. 85 Meiner, Philosophische und allgemeine Sprachlehre, S.  vii–ix. Siehe auch: Ebd., S. xxxvi–xxxvii; Sulzer, Anmerckungen, S. 195. Jean Paul meinte sogar: »Jugend eines Volks, ist keine Metapher, sondern eine Wahrheit; ein Volk wiederholt, nur in größeren Verhältnissen der Zeit und der Umgebung, die Geschichte des Individuums.« Dabei hatte er die Metapher wenige Jahre vorher noch problematisiert: »So ist das Bild vom Aufblühen und Abwelken der Völker kein volles; denn jedes Volk hängt heute zu gleicher Zeit bedeckt voll Blüten, Früchten, Knospen und welk Laub und morgen wieder voll, nur von andern aber.« Jean Paul, Vorschule der Aesthetik, Bd. 1, S. 117; ders., Gott in der Geschichte [II], S. 522. 86 So meinte der Berliner Rechtsgelehrte Friedrich Karl von Savigny (1779–1861): »Die Jugendzeit der Völker ist arm an Begriffen, aber sie genießt ein klares Bewußtsein ihrer Zustände und Verhältnisse, sie fühlt und durchlebt diese ganz und vollständig, während wir, in unsrem künstlich verwickelten Daseyn, von unserm eigenen Reichthum überwältigt sind, anstatt ihn zu genießen und zu beherrschen.« Von Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit, S. 9. Siehe auch: [Grimm], Paris, août 1774, S. 382. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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lesen.87 Diese Ambivalenz kam der semantischen Kraft der Parallele zwischen Sprach- und Kulturentwicklung letztendlich aber nur zugute. Da sie diametral entgegengesetzte Wertungen zuließ, war sie vielseitig verwendbar, so dass sie die Sprachdebatten spätestens ab der Mitte des 18. Jahrhunderts immer stärker als habituelle, oftmals implizite Voraussetzung zu beherrschen begann. In diesem Kontext entstand auch eine Form der Kulturkritik, welche von der Sprache in ihrer zweifachen Funktion als Indikator und Faktor des kultu­rellen Verfalls ausging. Um deren diskursive Position herauszuarbeiten, muss an dieser Stelle zunächst zwischen zwei Deutungen der genannten Parallelität unterscheiden werden. Die Verzeitlichung der Sprachdebatte kannte zwei grundverschiedene Gestalten. Man könnte sie – mit einiger Freiheit den kuhnschen Begriff aufnehmend  – tentativ als konkurrierende Paradigmen der Sprach­ reflexion bezeichnen: zwei unterschiedliche Arten, die Sprache als Gegenstand zu konzipieren, die mit jeweils unterschiedlichen Sprach- und Deutungs­ mustern, Fragestellungen und Argumentationsmodi verbunden waren. Diese Varianten, die als quantitative und qualitative Sichtweise bezeichnet werden können, haben die Artikulationsmöglichkeiten der kritischen Verknüpfung von Sprach- und Kulturverfall nachhaltig beeinflusst. Aus quantitativer Sicht erschien die Sprache als Mittel und Register der Weltaneignung im Modus des Erkennens und Benennens. Sprachverbesserung wurde mit Erkenntniserwerb korreliert und beide wurden auf eine quantitative Erweiterungsperspektive festgelegt. Aus qualitativer Sicht dagegen erschien die Sprache primär als Form der selbsteigenen Identität. Obwohl die beiden Paradigmen äußerst unterschiedliche Sichtweisen auf das Phänomen konstituierten, kann von einer expliziten Auseinandersetzung zwischen ihnen nicht eigentlich die Rede sein. Ihre jeweilige Positionierung erfolgte weniger in Abgrenzung vom jeweils anderen Paradigma als vielmehr in der Auseinandersetzung zwi 87 In solchen Konsequenzen rächt sich der Eigensinn der Metapher an ihren vermeintlichen Benutzern. Ihre rhetorische Attraktivität ist zweiseitig. Einmal dient die Metapher dazu, komplizierte Phänomene bildlich darzulegen. Neben der reinen Illustration kann sie aber auch dazu verwendet werden, gewisse Schlussfolgerungen, die aus der Logik des Bildes hervorgehen, für das zu beschreibende Phänomen nahezulegen. Im Falle der Sprachentwicklung ging es darum, unter Hinweis auf etwas Bekanntes (den Vorgang des Sprach­ erwerbs) auf etwas Unbekanntes (die Entwicklung der menschlichen Sprache überhaupt) zu schließen. Beide Funktionen gründen auf der unterstellten Analogie zwischen Bild und Phänomen. Diese aber, und das macht das Risiko des Metaphergebrauchs aus, ist nicht von selbst gegeben, sondern setzt die wohlwollende Aufnahme des Rezipienten voraus. Nur wenn dieser bereit ist, das Bild ›als‹ Analog mit dem zur Diskussion stehenden Phänomen zu lesen, wird er die richtigen Schlüsse ziehen. Besteht diese Bereitschaft nicht  – z. B. weil Leser und Schreiber unterschiedlicher Ansicht sind –, so ist es leicht, die Logik des Bildes von dem des Phänomens abzukoppeln und beide gegeneinander auszuspielen. Vgl. für einige Beispiele: Demandt, Denkbilder, S.  29–30. Siehe auch: ders., Metaphern für Geschichte, S. 446–450. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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schen alternativen Positionen innerhalb des Selben. Somit gab es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Grunde nicht eine, sondern zwei parallel ablaufende Debatten über die Sprache, zwischen denen es eine eigenartige Funkstille gab. Für die Geschichte der Kulturkritik ist diese Beobachtung insofern von Bedeutung, als sich das quantitative Paradigma in der Praxis in starkem Maße gegen die Entwicklung kulturkritischer Perspektiven resistent zeigte. Damit Sprache nach kulturkritischer Art als Indikator eines gesamtkulturellen Verfalls interpretiert werden konnte, musste die Vorstellung von der Parallelentwicklung von Sprache und Lebensform also zunächst aus diesem äußerst wirkmächtigen Deutungsschema gelöst werden. Wie erwähnt war Sprachreflexion traditionellerweise gemeinhin als Übergang zum eigentlichen Objekt  – der Erkenntnis über die Wirklichkeit  – verstanden worden. Diese Tendenz hatte im 17. und 18. Jahrhundert zur Folge, dass die Entwicklung der Sprache maßgeblich mit dem Fortschritt des Erkenntnisstandes in Verbindung gebracht wurde. Die jeweiligen Entwicklungsverläufe von Sprache und Erkenntnis wurden korreliert und in unterschiedlicher Hinsicht kausal aufeinander bezogen. Diese Perspektive wurde im Kontext der Auf­ klärung äußerst fruchtbar, engte aber gleichzeitig den Blick auf das Phänomen der Sprache in eine bestimmte Richtung ein. Diese barg zwar viel kritisches, aber nur wenig kulturkritisches Potential in sich. Die quantitative Fragerichtung kam in einem Aufsatz des genannten Schweizer Philosophen und Mathematikers Sulzer, der in seiner deutschen Fassung den Titel ›Anmerckungen über den gegenseitigen Einfluß der Vernunft in die Sprache, und der Sprache in die Vernunft‹ erhielt, exemplarisch zum Ausdruck.88 Die entwickelten Argumente  – Ernst Cassirer nannte sie »naiv genug« – waren nicht sehr originell, bestätigen aber gerade deswegen die gängigen Denk- und Sprachmuster in dieser Variante der Sprachdebatte.89 Gleich zu Anfang erörterte Sulzer die oben erläuterte semantische Pro­ blematik, dass die Frage nach dem Ursprung der Sprache den geschichtlich argumentierenden Philosophen in eine logische Sackgasse führte. Wie Rousseau vor und Fichte nach ihm musste er feststellen: »Wenn man bey den Unter­ suchungen über den Ursprung der Sprache sehr große Schwierigkeiten antrifft, so rühret dieses daher, daß bey dieser Frage kein gewisser fester Punkt, an dem man sich halten, und von dem man weiter fortgehen könnte, statt zu 88 Der Aufsatz erschien zunächst in französischer Sprache. Die deutsche Version wurde 1773 in einer Sammlung kleinerer Schriften veröffentlicht. Sulzer, Observations; ders., Anmerckungen. Im Folgenden wird nach der deutschen Ausgabe zitiert. 89 Cassirer, Das Erkenntnisproblem, S.  351. Der Text entstand im Nachklang der für das Jahr 1759 ausgeschriebenen Preisfrage der Berliner Akademie über den »Einfluss der ­Meinungen des Volkes auf die Sprache wie auch der Sprache auf die Meinungen des Volks«. Damals hatte der Haller Orientalist Johann David Michaelis (1717–1791) den Preis erhalten: Michaelis, De l’influence. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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finden scheint.«90 Während die Herausbildung der Sprache einerseits einen gewissen Grad von Rationalität voraussetze, habe sich die Vernunft andererseits nicht ohne Hilfe der Sprache entwickeln können. Der Teufelskreis der gegenseitigen Bedingung von Sprache und Vernunft habe, so führte Sulzer aus, bestimmte Philosophen veranlasst, ihre Zuflucht zu einem »Wunderwerke« zu nehmen.91 Er aber entschloss sich zu einer anderen Lösung: Er zog sich aus der metaphysischen Problematik zurück und beschränkte sich auf konkrete empirische Beobachtungen über den gegenseitigen Einfluss beider Phänomene. Es folgten ausführliche Erläuterungen über den Einfluss der Vernunft auf die Sprachentwicklung und umgekehrt. Wie zu dieser Zeit geläufig stützte Sulzer seine Argumente auf die Parallelisierung von Sprach- und Kulturent­w icklung. Doch entscheidend war, wie er diese Korrelation auffasste. Als Axiom seiner Überlegungen postulierte er, Wörter seien der zeichenhafte Ausdruck von Ideen bzw. Begriffe. Daraus folge, schrieb er, »daß die Anzahl der Wörter einer Sprache und ihrer abgeleiteten Bedeutungen die Summe aller klaren Begriffe der Nation, welche diese Sprache spricht, ausmache«.92 Die Vermehrung der Begriffe sei demnach ein verlässlicher Indikator für den Fortschritt der Vernunft. In einem Vokabular des Sammelns, Speicherns und Erweiterns entfaltete er eine Vorstellung von einem parallelen Fortschritt der Erkenntnisse und der Wörter, welche sie repräsentieren.93 Solche Sprachmuster hatten Tradition.94 Gerade auch in der Folge der »Encyclo­pédie« fanden sie weite Verbreitung. Im programmatischen Artikel »Encyclopédie« hatte Diderot die Aufgabe der Enzyklopädisten darin gesehen, die Erkenntnisse vergangener Generationen zu sammeln und für die Nachwelt zu sichern. Ausgehend vom maßgeblich von John Locke (1632–1704) formulierten Prinzip, Wörter seien Repräsentanten von Ideen, konnte er den Wortschatz unmittelbar mit den in einer Gesellschaft vorhandenen Informationsinhalten in Verbindung bringen: »La langue d’un peuple donne son vocabulaire, & le vocabulaire est un table assez fidele de toutes les connoissances de ce peuple: sur la

90 Sulzer, Anmerckungen, S. 166. Oder: »Es ist nicht möglich, vermittelst der Geschichte bis zur Morgendämmerung der Vernunft zurückzugehen«. Ebd., S. 167. 91 Die Anspielung galt nicht Rousseau, sondern einer in derselben Akademie vorgetragenen Abhandlung des Theologen und Demographen Johann Peter Süßmilch (1707–1767). Er hatte aus demselben Teufelskreis gefolgert, dass die Entstehung der Sprache nur als Werk eines allmächtigen Schöpfers verstanden werden könne. Süßmilch, Versuch eines Beweises. 92 Sulzer, Anmerckungen, S. 174. 93 Ebd., S. 172, 178, 191, 196. Auch der Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) hielt die Sprache für das »erste Erkenntnißmittel unsers Geschlechts«. Andererseits sei sie auch ihr Register: »In der Sprache sind in der That die Resultate aller menschlichen Fortschritte niedergelegt«. Pestalozzi, Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, S. 53–56, 296. Siehe auch: Flögel, Geschichte des menschlichen Verstandes, S. 207. 94 Vgl. Ricken, Sprache, Anthropologie, S. 210–231. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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seule comparaison du vocabulaire d’une nation en différens temps, on se formeroit une idée de ses progrès.«95 Es ist lohnend, etwas näher auf diese Leitmetaphorik einzugehen. Wer sich das Vokabular der zahllosen Erörterungen der Parallelentwicklung von Sprache und Erkenntnis etwas genauer anschaut, kommt zum Ergebnis, dass sie stark von Vorstellungen des Besitzerwerbs geprägt waren. Damit war die Fragestellung auf eine quantitative Perspektive festgelegt. Das heißt natürlich nicht, dass das ganze Sprachdenken auf diesen einen Aspekt beschränkt geblieben wäre oder dass die Autoren immerzu nur sklavisch dieser einen Leitmetapher gefolgt wären, wo immer sie sie hinführte. Andererseits sollte man die suggestive Macht der Aneignungsmetapher auch wiederum nicht unterschätzen. Eine solches Bild leitet das Verständnis nicht zwingend, legt aber bestimmte Fragestellungen, Argumente und Folgerungen nahe, während sie andere tendenziell überdeckt.96 In Sulzers Text machte sich die suggestive Kraft der Aneignungsmetaphorik deutlich bemerkbar. Als er die dreifache Funktion von Wörtern für das Denken erläuterte, stellte er die Tatsache, dass »die Namen den Besitz der klaren Ideen versichern, von denen wir viele ohne diese Beihülfe ganz verlieren würden«, an die erste Stelle.97 Es ging ihm um die Erweiterung der »Anzahl« der klaren Begriffe, um den »Fortgang« des menschlichen Geistes und das »Wachsthume« der Vernunft.98 Die Metaphorik reduzierte die vielseitige Funktionalität der Sprache auf einen einzelnen Aspekt: die bezeichnende Repräsentation von Gegenständen. Ihre Geschichte erschien als die fortschreitende Aneignung der Welt.99 Wie er zugab, betrachtete Sulzer die Sprache »bloß wie ein Namenverzeichniß, wie eine bloße Wörterliste«.100 Dass damit viele weitere Aspekte ihres Wesens und Wirkens aus dem Blickfeld gerieten, war ihm durchaus bewusst.101 Dennoch mündete dieses Bewusstsein nicht in einer Auseinandersetzung mit alternativen Funktionen und Aspekten des Sprachgebrauchs. Durch die Wahl seiner Kernme 95 Diderot, Encyclopédie, S.  637–637a. Siehe auch: anon., Etymologie, S.  104; Dumarsais, Principes de la grammaire, S. 206; Turgot, Ébauche, S. 261–262. Vgl. Benrekassa, Penser l’encyclopédique. 96 Dies hat Ralf Konersmann vielleicht etwas überspitzt, aber konzis auf den Punkt gebracht: »Metaphern begrenzen den Horizont des Sagbaren, und sie öffnen ihn zugleich, indem sie herbeiführen, was ich Redekonsequenzen nenne. Die Wahl einer bestimmten Titelmetapher legt […] implizit fest, was überhaupt gesagt werden kann.« Konersmann, Vorwort, S. 16. 97 Sulzer, Anmerckungen, S. 181. 98 Ebd., S. 174, 181, 198. 99 Als weitere Funktionen hob er hervor, dass Wörter »alle Operationen des Verstandes beträchtlich abkürzen« und den »Erfindungsgeist« stärken. Ebd., S. 182–183. 100 Ebd., S. 179. 101 Als Beispiel für weitere Aspekte nannte er die kommunikative Rolle der Sprache »als Reden oder als Mittel […] wodurch wir die Veränderungen, die mit uns und andern Wesen vorgehen, und die Verhältnisse, in welchen sie und wir gegen einander stehen, ausdrücken können«. Ebd., S. 192. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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taphorik hatte Sulzer den Text schon auf eine Richtung hin festgelegt, die nicht mehr so einfach umzubiegen war. Die Sprache erschien dadurch von vornherein als Wörterliste, die parallel mit der Vermehrung der Ideen verlängert wurde. Die wichtigste Folgerung, die aus der Vorstellung der Sprache als Instrument des Erwerbs und der Verwahrung von Erkenntnissen gezogen wurde, war die Aufgabe, sie nach Möglichkeit zu verbessern. Nicht von ungefähr war es Sulzers Hauptanliegen, das »Wachsthume der Vernunft« bzw. die »Cultur des Verstandes« durch die Einführung von Neologismen und Neosemantismen voranzu­ treiben.102 Derartige Versuche, flankiert durch analoge Anstregnungen, sie »durch Verwerfung unbequemer, dunkler, zweydeutiger und sprachwidrig gebildeter« Wörter systematisch zu reinigen waren weit verbreitet.103 Dabei handelte es sich ebenso um die Berichtigung bestehender wie um die Schöpfung völlig neuer, eigens für einen bestimmten Zweck konzipierter Sprachen. Indem Sulzer sich auf Christian Wolff (1674–1754), Carl Linnaeus (1707–1778) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) bezog, schrieb er seinen Text in eine etablierte Tradition ein. Während die beiden Erstgenannten als vorbildliche Reformer ihrer jeweiligen Fachsprachen galten, konnte Letzterer Anspruch darauf erheben, mit seiner Vision einer characteristica universalis – einer nach Analogie mit der Algebra konstruierten Universalsprache – den maßgeblichen Versuch geleistet zu haben, das ›Sprachproblem‹ der Wissenschaften endgültig zu lösen.104 Solche Vorarbeiten wurden wiederholt aufgegriffen und als Anregung für die eigene Arbeit verstanden. Die Enzyklopädisten betrachteten ihre Aufgabe unter anderem auch als eine sprachliche: »la connaissance de la langue est le fondement de toutes ces grandes espérances.«105 Positiv gerichtet bedeutete das, dass sie ihre lexikalische Arbeit als Schöpfung klarer und eindeutiger Defini­ tionen sowie als Vereinheitlichung der wissenschaftlichen Terminologie auffassten. Ebenso wichtig war aber die negative Seite: die Beseitigung von »mots vides de sens«106 – eine Aufgabe, der im Kampf gegen die scholastische Meta 102 Ebd., S. 172–173, 188, 191, 198. 103 Kinderling, Über die Reinigkeit der Deutschen Sprache, S. 67. Vgl. Sperber, Die Sprache der Aufklärung. 104 Sulzer, Anmerckungen, S. 181, 183, 184. Sulzer nahm die Analogie mit der Algebra auf und entwickelt sie weiter. Ebd., S. 184–187. Siehe auch: Zöllner, Über die Verbesserung der Deutschen Sprache. 105 Diderot, Encyclopédie, S. 637. Siehe auch: Swift, Correcting, Improving and Ascertain­ ing the English Tongue, S. 6; d’Alembert, Discours préliminaire, S. x; Sheridan, British Education, S. 176; [G. P.], Ueber die Verderbung der Sitten, S. 143–144. 106 Neben Stellen aus Bacons »Novum Organum« und Hobbes’ »Leviathan« standen vor allem die Abschnitte ›Imperfection of Words‹, ›Abuse of Words‹ und ›Remedies of the Imperfection and Abuse of Words‹ aus Lockes »Essay concerning Humane Understanding« im Zentrum dieser Fragestellung. Bacon, Novum Organum, S.  53–54; Hobbes, Leviathan, S. 25–26; Locke, Essay concerning Humane Understanding, S. 402–440. Vgl. Ricken, Sprache, Anthropologie, S. 194–210; Rosenfeld, A Revolution in Language, S. 13–27. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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physik und l’infâme größte Bedeutung zugemessen wurde.107 Dass die Bestrebungen der Aufklärung ohne die Dimension der Sprachaufklärung nicht hinlänglich gedacht werden konnten, war auch die Ansicht des Physikers Georg Christoph Lichtenberg, der meinte: »Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs«.108 Die vielfältigen Dimensionen der Sprachaufklärungsversuche sind von anderen ausführlich behandelt worden.109 Hier steht die Frage im Mittelpunkt, welche Rolle sie bei der Herausbildung sprachbezogener Kulturkritik spielten. Im Rahmen der erkenntnistheoretischen Perspektive war Kritik an der bestehenden Sprache als negatives Gegenstück zu den Bemühungen, sie zu verbessern, omnipräsent. Dennoch kam es in diesem Kontext nur selten zu Erörterungen, die im eigentlichen Sinne kulturkritisch genannt werden können. Grund dafür war nicht zuletzt die Aneignungsmetaphorik, welche diese Auseinandersetzung weitgehend prägte. In ihrem Rahmen gestaltete sich der Umgang mit der Sprache als progressive Überwindung von Unzulänglichkeiten. Negative Wertungen (Unklarheit, Ungenauigkeit) spielten darin sicherlich eine Rolle, wurden aber nur selten metonymisch als allgemeine Charakteristika der gesamten Sprache, noch seltener der Kultur im Ganzen aufgefasst.110 Stattdessen richtete sich die Aufmerksamkeit primär auf mangelhafte Einzelbegriffe, die als zu behebenden Hindernisse auf dem Weg zu einer perfekte(re)n Sprache konzipiert und beschrieben wurden. Die Perspektive war dadurch weniger genealogisch als programmatisch und weniger diagnostisch als pragmatisch.111 107 Zit. n. Dieckmann, Ästhetische Theorie, S. 50. Siehe auch: Helvétius, De l’Esprit, Bd. 1, S. 56–71; De Sales, Philosophie de la nature, Bd. 3, S. 287–292. 108 Lichtenberg, Bemerkungen, S. 57 (Sudelbucheintrag H 146). In satirischer Verkehrung: Chamfort, Maximes, S. 30–31. 109 Vgl. Schalk, Wissenschaft der Sprache, S. 131–141; Ueding, Universalsprache; Ricken, Sprachtheorie als Aufklärung; Coseriu, Geschichte der Sprachphilosophie, S. 178–195; Eco, The Search for the Perfect Language. 110 Selbst wenn die Sprache im Ganzen kritisiert wurde, geschah dies im Hinblick auf ihre Erkenntnisleistung. Exemplarisch ist Adelungs Bemerkung, dass »dürftige Sprachen, welche nur die nothwendigsten Hauptbegriffe unverbunden und unverschmelzt neben einander stellen, schon im bürgerlichen Leben ein weites Feld für Dunkelheiten und Zweydeutigkeiten eröffenen, und für wissenschaftliche Begriffe ganz unbrauchbar sind«. Dies habe zur Folge, dass die »Völker, welche sie sprechen, ewig Kinder am Verstande bleiben, und es über manche gute mechanische Fertigkeiten nicht bringen. Der Sinese mag sich anstrengen, wie er will, so lange er nur bey seiner Sprache bleibt, ist er ganz unvermögend, sich die Künste und Wissenschaften des Europäers zuzueignen«. Adelung, Mithridates, Bd. 1, S. 28. 111 Vgl. Koselleck, Sprachwandel, S. 298–299. In Sulzers Text tauchte die Frage, warum die Sprache nicht vollkommen ist, gar nicht erst auf. Seine argumentative Struktur setzte voraus, dass sie seit der »Morgendämmerung der Vernunft« in einer ständig fortschreitenden Entwicklung begriffen sei. Da diese noch unvollendet sei, erschien die Gegenwart der eigenen Sprache als Station auf einer in die Zukunft weisenden Entwicklungslinie, nicht aber als das bedauernswerte Resultat einer Verfallsgeschichte. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Qualitative Sprachkritik Obwohl das quantitative Paradigma in der Sprachreflexion des 18.  Jahrhunderts eine dominante Rolle spielte, war es nicht das einzige. Neben ihm fand sich eine Reihe von qualitativ ausgerichteten Sichtweisen. Da sich das quantitative und das qualitative Paradigma auch ihrer Semantik nach stark unterschieden, konnten Zeitgenossen am benutzten Vokabular ›ablesen‹, welche Perspektive in einem bestimmten Textabschnitt entwickelt wurde. Die Wahl der zentralen Begriffe und Metaphern gab der argumentativen Erörterung eine bestimmte Richtung vor. Das hieß selbstverständlich nicht, dass sich ein Autor damit für den ganzen Text oder gar sein ganzes Oeuvre festgelegt hätte. Die Wahl blieb stets offen. Autoren bedienten sich beider Modelle der Sprachreflexion und beteiligten sich an den unterschiedlichen Debatten. Sie wechselten – manchmal innerhalb einzelner Texte  – zwischen beiden Perspektiven und Registern hin und her. Ein Beispiel dafür bilden die Sprachreflexionen Herders. In verschiedenen Schriften bediente er sich der von den Sprachaufklärern etablierten Aneignungsmetaphorik. In seinen frühen »Fragmente[n] über die neuere deutsche Literatur« (1766–1767) verglich er die Sprache mit einem »Vorrathshaus« der zu »Zeichen gewordenen Gedanken«, nannte sie »Gedankenbehältniß« und »Nationalschatz« und beschrieb ihre Entwicklung in einem ausgeprägt buchhalterischen Vokabular.112 In seiner »Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft« (1799) bezog er sich ausdrücklich auf den genannten Aufsatz Sulzers. Er nannte die Sprache ein »unentbehrliches Werkzeug« der Vernunft und folgerte: Ein großer Theil der Misverständnisse, Widersprüche und Ungereimtheiten also, die man der Vernunft zuschreibt, wird wahrscheinlich nicht an ihr, sondern an dem mangelhaften oder von ihr schlecht gebrauchten Werkzeuge der Sprache liegen, wie das Wort Widersprüche selbst saget.113

112 »Jahrhunderte und Reihen von Menschenaltern legten in dies große Behältniß ihre Schätze von Ideen, so gut oder schlecht geprägt sie seyn mochten: neue Jahrhunderte und Zeitalter prägten sie zum Theil um, wechselten damit, und vermehrten sie: jeder denkende Kopf trug seine Mitgift dazu bei: jeder Erfinder legte seine Hauptsumme von Gedanken hinein, und ließ sich dieselbe durch Wucher vermehren: ärmere liehen davon, und schafften Nutzung – falsche Münzer lieferten schlecht Geld, entweder zur Erstattung des Geborgten, oder sich ein ewiges Andenken zu prägen – Heldenmäßige Räuber wusten sich blos durch Raub und Flammen einen Namen zu machen – und so ward nach großen Revolutionen die Sprache eine Schatzkammer, die reich und arm ist, Gutes und Schlechtes in sich faßt, gewonnen und verloren hat, Zuschub braucht, und Vorschub thun kann, die aber, sie sey und habe was sie wolle, eine ungemein sehenswürdige Merkwürdigkeit bleibt.« Herder, Fragmente. Erste Sammlung, S. 7–13. Vgl. Albus, Weltbild und Metapher, S. 340–343. 113 Herder, Verstand und Erfahrung, Bd. 1, S. 9–15. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Könnte man aus solchen Äußerungen auf dem ersten Blick schließen, dass Herder wie so viele seiner Zeitgenossen der quantitativ-epistemischen Perspektive auf die Sprache verschrieben war, so enthielt die letzte Klausel schon den Keim einer ganz anderen Perspektive. Schon in den »Fragmenten« hatte er sich an anderer Stelle auf eine ganz andere Metaphorik eingelassen. In einem Abschnitt über ›Idiotismen‹ (idiomatische Redewendungen) nannte er die Sprache noch einmal einen »Schatz der Nation«, verknüpfte diese Bezeichnung diesmal aber mit einem grundverschiedenen Bedeutungsfeld.114 Die Eigentümlichkeiten einer Sprache seien, schrieb er nun: Patronymische Schönheiten […] die uns kein Nachbar durch eine Uebersetzung entwenden kann, und die der Schutzgöttin der Sprache heilig sind: Schönheiten in das Genie der Sprache verwebt, die man zerstört, wenn man sie austrennet.115

Idiotismen stellten der traditionellen Definition nach die unübersetzbaren Elemente einer Sprache dar.116 Herder kehrte die negative Definition um und interpretierte die Eigentümlichkeiten der Sprache als diejenige Züge, in denen der Charakter einer Sprache zum Ausdruck komme. Sie seien die Kennzeichen ihrer Eigenart oder, wie man zu dieser Zeit sagte: ihres Genies. Die Rede vom génie  – manchmal auch Geist (esprit, spirit)  – der Sprache hatte ihren Ursprung als Fachausdruck (genius linguae) der frühneuzeitlichen Ästhetik, in der sie als Richtlinie in Fragen des Stils herangezogen wurde. Gegen das Genie seiner Sprache zu verstoßen, wurde dem Schriftsteller als Kapitalverbrechen angerechnet. Umgekehrt galt ihn zu treffen bei Übersetzungen ebenso wie beim Lernen einer Fremdsprache als schwieriges aber erstrebenswertes Ziel. Grammatiker versuchten den Geist ihrer Sprache analytisch in den Griff zu bekommen, indem sie ihn auf formale Merkmale – beispielsweise auf Syntax oder Semantik – zurückführten. Zentral bei solchen Überlegungen war aber stets die Verknüpfung zwischen dem Genie der Sprache und dem des Volkes, das sie sprach.117

114 Herder, Fragmente. Erste Sammlung, S. 71–80. 115 Ebd., S. 72. 116 So auch: Sulzer, Allgemeine Theorie, Bd. 1, Art. ›Idiotismen‹, S. 556–557; Klopstock, Sprache der Poesie, S. 51–55. 117 Ausgehend von der These Ciceros (De oratore, II, 4), den Griechen habe ein äquivalentes Wort für das lateinische ineptum gefehlt, weil dieser Fehler bei ihnen so geläufig war, dass er ihnen gar nicht mehr aufgefallen sei, hatte schon Bacon betont, man könne anhand ihrer Sprache viel über den Geist und die Sitten verschiedener Völker erfahren. Bacon, De dignitate, S.  274. Siehe für eine ausführliche Darstellung dieser Problematik das Kapitel ›Ce qu’on entend par le génie d’une Langue‹ in: Batteux, Principes de la littérature, Bd. 5, S. ­191–202. Siehe auch: Girard, Principes de la langue françoise, S. 58; Condillac, L’origine des connaissances, Bd. 2, S. 196–223; De Jaucourt, Langue françoise; Gloucester, Extract from The Doctrine of Grace, S. 689; [Tiedemann], Erklärung des Ursprunges der Sprache, S. 249; © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Solche spirituelle Metaphorik evozierte ein ganz anderes Sprachverständnis als die oben erläuterte Aneignungsmetaphorik.118 Auch hier wurde eine Korrelation von Sprache und Kultur vorausgesetzt, diesmal aber nicht unter dem Gesichtspunkt der zu erweiternden Quantität, sondern im Hinblick auf ihre eigen­tümliche Qualität. Das Wort Genie bildete ein Verbindungsglied zwischen Kultur und Sprache, das weniger auf ihren gegenseitigen Fortschritt als auf die unzertrennliche Verbindung ihrer beiden Eigenarten ausgerichtet war.119 Aus epistemologischer Sicht stellten die Eigentümlichkeiten einer Sprache nichts weiter als eine Verschleierung der Klarheit und Universalität ihrer Begriffe dar. Sie bildeten den pejorativen Kontrapunkt zur Wunschvision einer characte­ ristica universalis. In der Sprache der empiristischen Tradition konnten sie folglich nur als idola fori – als sprachlich sedimentierte Vorurteile – erscheinen, die es zu beseitigen galt.120 Ihre Vorzüge hervorzuheben, wie es Herder tat, hieß also, die Weichen umzustellen. Umso mehr, da Herder die Idiotismen keineswegs als bloße Form oder gleichgültige Dekoration betrachtete. Ihr besonderer Wert war in seinen Augen überhaupt kein ästhetischer. Sie seien nicht immer das Schönste, zweifellos nicht das Rationalste, sondern das Eigenste einer Sprache. Wenn ihnen überhaupt eine ästhetische Bedeutung zukomme, so sei diese in dieser unübersetzbaren Eigenheit begründet. Schriftsteller, welche die patronymischen Schönheiten ihrer Muttersprache so zu nutzen wussten, dass sich ihre Sätze nur in dieser einen Sprache artikulieren ließen – Herder nannte sie folgerichtig »idiotische Schriftsteller« – seien deswegen »Nationalschriftsteller in hohem Verstande«.121 Die Schönheit ihrer Schriften speise sich aus ihrer untrennbaren Verwobenheit mit dem Geiste ihrer Sprache und ihrer Nation. In diesem Sinne konnten die Eigenheiten der Sprache auch in ästhetischer Hinsicht einen Richtwert bilden. Aber darin sei ihre Bedeutung noch lange nicht erschöpft. Schütz, Grundsätze der Logik, S. 58, 111; Mitford, Harmony of Language, S. 185–186; Flögel, Geschichte des menschlichen Verstandes, S. 194–196; [Meister], Beyträge, S. 54–56; Rivarol, L’universalité de la langue française, S. 134; Sailer, Vernunftlehre, Bd. 2, S. 97. 118 Auch dieser Ausdruck wurde von Sulzer wiederum ›quantifiziert‹. »Da die grammatikalische Vollkommenheit einer Sprache das Werk der Vernunft und des Genies ist, so kann sie zum Maßstabe dienen, um den Grad der Vernunft und des Genies eines Volkes darnach abzumessen.« Sulzer, Anmerckungen, S. 196. 119 So schrieb Jenisch: »In der Sprache enthüllt sich daher gewissermassen das ganze intellectuelle und moralische Wesen des Menschen. […] Den eben so fein denkenden, als sinnlich-schön empfindenden Griechen, – den ernsthaften, mehr praktischen als spekulierenden Römer, – den populären, gesellschaftlichen Franzosen, – so wie dem tiefsinnigen Britten, und den philosophischen Deutschen – tönt gleichsam seine Sprache.« Jenisch, Vergleichung und Würdigung, S. 2. Siehe auch: Voltaire, François, ou Français, S. 286–287; Beauzée, Idiotisme, S. 500; ders., Langue, S. 258, 262; W. von Humboldt, Über die Verschiedenheit, S. 200. 120 Vgl. Trabant, Der Gallische Herkules, S. 147–165. 121 Herder, Fragmente. Erste Sammlung, S. 72. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Und wären Idiotismen zu nichts gut: so eröfnen sie doch dem Sprachweisen die Schachten, um das Genie seiner Sprache zu erkennen, es mit dem Genie der Nation zusammen zu halten, und beide aus einander zu erklären.122

Für den Sprachaufklärer stellten Idiotismen bloße Blockaden auf dem Weg zur Sprachperfektion dar. Dem Schriftsteller biete ihr geschickter Gebrauch, meinte Herder dagegen, die Möglichkeit, zum Nationalschriftsteller zu werden. Die Aufgabe des ›Sprachweisen‹, schließlich, bestehe darin, über den Königsweg der Idiotismen zur selbsteigenen Identität der Sprache und – folglich – der sie sprechenden Nation zu gelangen. Während das quantitative Paradigma der Sprachreflexion die Heraus­bildung von Kulturkritik eher bremste, bot ihr die qualitative Alternative für sie einen äußerst fruchtbaren Boden. Die Sprache erschien unter diesem Blickwinkel weniger als Eigentum, denn als Eigentümlichkeit: als Markierung der eigenen Identität und als Hinweis auf deren Charakter und Entwicklung. Natürlich war Herder nicht der Erste oder Einzige, der eine qualitative Sichtweise auf die Sprache entwickelte. Er konnte sich auf etablierte Traditionen beziehen, die höchstens ob der prominenten Stellung und der Lautstärke des aufklärerischen Sprachverständnisses in der zeitgenössischen Öffentlichkeit etwas in den Hintergrund gedrängt worden waren. Ebenso wie Sprachpflege nur eine Art des Umgangs mit der eigenen Sprache ist, so ist Sprachaufklärung nur eine Art der Sprachpflege. In unterschied­ lichen Varianten hatte die verbessernde Arbeit an der Sprache immer einen zentralen Aspekt der Sprachreflexion dargestellt. Die vollkommene Sprache wurde immer wieder als Ergebnis der progressiven Beseitigung sprachlicher Unrein­ heiten konzipiert. Etwas schematisch lassen sich neben der epistemologisch orientierten Sprachpflege noch eine ästhetische, eine soziale und eine patriotische Variante unterscheiden. Die Renaissance hatte den Untergang der römischen Zivilisation maßgeblich mit der mittelalterlichen Verunreinigung der lateinischen Sprache verknüpft. Daraus war das Projekt hervorgegangen, die lateinische Sprache von ihren vulgären Barbarismen zu reinigen.123 Die angestrebte Klarheit war aber nicht in erster Linie eine epistemische. Sie betraf vor allem den Stil, der als Ausdruck wahrer Zivilisation galt. In der querelle des anciens et des modernes und der literarischen Ästhetik des Klassizismus wurden solche Ansätze weiterentwickelt und auf die jeweiligen Nationalsprachen angewendet.124

122 Ebd., S. 78–79. 123 Wie paradigmatisch in Lorenzo Valla’s »Elegantiarum Latinae lingua« (1449) und Erasmus’ »Antibarbari« (1520). Vgl. P. Burke, Tradition and Experience, S. 140–141; W ­ esseling, Erasmus, S. 108–114. 124 Siehe beispielsweise: Praetorius, Historische Nachricht, S. 77–85. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Zur selben Zeit bildete sich in mondänen Kreisen eine von allen groben, anstößigen und allzu gelehrten Formen gereinigte, höfliche Sprachform heraus.125 Im Kontext der höflichen Konversation beinhaltete Sprachpflege die Etablierung, Vermittlung und strenge Überwachung der Normen einer Sprachform, welche die soziale Identität einer Elite performativ zum Ausdruck bringe. Schließlich wurden seit dem 17. Jahrhundert immer wieder Stimmen laut, die dazu aufriefen, die jeweils eigene Nationalsprache von fremden Einflüssen zu reinigen. Auch hier wurde Sprachpflege als Schutz der eigenen Identität verstanden, sei es auch nicht in sozialer, sondern in kulturell-nationaler Hinsicht. Gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verstärkte sich diese Tendenz merklich, bis sie schließlich in die Sprachnationalismen des 19.  Jahr­hunderts mündete.126 Aus dieser Skizze geht hervor, inwiefern den verschiedenen Varianten der Sprachpflege jeweils ein unterschiedliches Sprachverständnis zugrunde lag. Wurde sie im Rahmen der Aneignungsmetaphorik und der Sprachaufklärung implizit als Erkenntnismittel aufgefasst, so erschien sie in anderen Kontexten als ästhetische Form oder als Markierung sozialer oder nationalkultureller Identität. Diese unterschiedlichen Grundvorstellungen prägten auch die Herausbildung von kritischen Perspektiven auf die Sprache und ihren Wandel. Wie im letzten Kapitel nachgezeichnet, konnte die Verbreitung höflicher Umgangs­ formen in vielerlei Hinsicht als kultureller Verfall gedeutet werden. Gerade auch die »feine Sprache unsers cultivirten Jahrhunderts« war  – als Kernstück der mondänen Lebensform – von solchen negativen Wertungen betroffen.127 Ihre geschliffenen Redewendungen, die als accent d’un siècle cultivé dem der s­ iècles grossiers entgegengesetzt wurden, sahen sich wegen ihrer fausse délicatesse, erkünstelter Affektiertheit und mangelnder Energie kritisiert.128 Darüber hinaus konnten sie aus moralischer Sicht als Verschleierung sittlicher Wahrheit und Wahrhaftigkeit verstanden werden. Paradigmatisch für diese Art der Sprachkritik war ein Aufsatz, der 1798 unter dem programmatischen Titel »Ueber die Verderbung der Sitten, durch die immer gewöhnlicher werdende Art der feinern Welt über sittliche Gegenstände sich auszudrücken« in der »Deutschen Monatsschrift« erschien. Der Autor 125 Siehe dazu auch: Kapitel III. 126 Vgl. P. Burke, Langage de la pureté. 127 [Wolf], Salvator, S. 65. 128 So schrieb Diderot: »je blâme cette noblesse prétendue qui nous a fait exclure de notre langue un grand nombre d’expressions énergiques. Les Grecs, les Latins qui ne connoissoient gueres cette fausse délicatesse, disoient en leur langue ce qu’ils vouloient, & comme ils le ­vouloient. Pour nous, à force de raffiner, nous avons appauvri la nôtre, & n’ayant souvent qu’un terme propre à rendre une idée, nous aimons mieux affoiblir l’idée que de ne pas ­employer un terme noble.« Diderot, Lettre sur les sourds et muets, S. 79–80. Siehe auch: Ville­ maire, L’andrometrie, S. 83; d’Alembert, Des Gens de Lettres et des Grands, S. 380–381; Virey, L’influence des femmes, S. 27–28, 64–67. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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warnte: »Wörter verführen öfter als man denkt, eine einzige mildernder Benennung einer an sich böse Sache giebt ihr nur zu oft den Anstrich des Guten«.129 Die Korruption der Sitten wurde somit auf die schleichende Verführungskraft einer sich ausbreitenden Sprachform zurückgeführt.130 Verschiedene der im letzten Kapitel erläuterten Semantiken tauchten in diesem Zusammenhang wieder auf. So auch die Ambivalenz des Gesellschaftsbegriffs. Obwohl das eigent­ liche Thema des genannten Aufsatzes die Sprache der »feinern« Welt war, wurde deren Bedeutung im Laufe des Textes so weit gefasst, dass das Thema eine Signifikanz für die Gesellschaft im Ganzen erhielt. Die Interpretationsachse verschob sich damit von der elitär-sozialen zur kulturellen Ebene: die Sprache wurde als Kennzeichen und Gestalt des »Volksgeistes« aufgefasst.131 Ursache für die sprachlich-sittliche Korruption der Deutschen war, so führte er fort, ihre Nachahmung der »Nachbarn jenseits des Rheins«.132 Deren Sprache galt allgemein als die gebildetste und als diejenige, in der der Einfluss des e­ sprit de la conversation am ausgeprägtesten war. Für die gesellige Welt galt sie deswegen auch in anderen Nationen als unumgänglich.133 Für die Franzosen selbst war die sprichwörtliche Eleganz ihrer Sprache zumeist ein Grund für Nationalstolz.134 Sie wurde zur Begründung ihrer universalité angeführt. War sie etwa 129 [G. P.], Ueber die Verderbung der Sitten, S.  144. Siehe auch: Coyer, Dissertation, S. 205; Virey, L’influence des femmes, S.  27–28, 64; [Nienstädt], Darstellung unserer Zeit, Bd.  2, S. 234. 130 Der Autor unterschied fünf negative Wirkungen der Sprache auf die Sitten: (1)  der scherzhafte Gebrauch von Lasterbegriffen (böse, sündhaft); (2) die Verwendung von »mildernden« Bezeichnungen für Laster (Albernheiten, Bequemlichkeit); (3) die Gewohnheit, doppelsinnige Wörter nur noch in »schlimmer Nebenbedeutung« zu benutzen (Gelegenheit, gefällig); (4) der Gebrauch von Tugendbegriffen als Bezeichnung für »Anstand« und »Schicklichkeit« (Weltton, feine Sitten, gute Erziehung) und (5) der Gebrauch von Tugendbegriffen für Fehler »des Herzens« oder »des Verstandes« (unschuldig, brav, gut). [G. P.], Ueber die Verderbung der Sitten, S. 147–158. 131 »Der Sprachforscher, der mehr als Sylbenstecher ist, kann daher schon aus der Sprache eines Volks allein auf seinen ganzen Geist, auf die Stufe geistiger und sittlicher Bildung, die in diesem Volke allgemein genannt werden kann, nicht unsichere Schlüsse machen.« Ebd., S. 144–145. Die Vorstellung einer Sprache, der die Wörter für bestimmte Laster abgehen, da sie dem Volk, das sie spricht unbekannt sind, war schon von Montaigne und Swift formuliert worden. Montaigne, Des Cannibales, S. 310; Swift, Travels, Bd. 2, S. 212–213. Umgekehrt meinte Nachtigal, ›Kalifornier‹ hätten keine Begriffe um »Gott, Freude, Hoffnung, Freundschaft, Sittlichkeit, Liebe, Dankbarkeit oder irgendeine Tugend zu bezeichnen, weil ihnen nie auch nur ein entfernter Gedanke an diese Dinge kam.« Nachtigal, Ueber den Wunsch, S. 151. 132 [G. P.], Ueber die Verderbung der Sitten, S. 144–145. 133 Wenn es darum ging, den polierten Charakter des Französischen mit bestimmten formalen Kennzeichen zu verknüpfen, wurden verschiedene Merkmale herausgehoben: bestimmte Ausdrücke (frivolité, fille de joie), ihre Vielfalt an Gemeinplätzen und geschmeidigen Wendungen, ihre Fülle an »Wohlstands- Höflichkeits- Umgangsausdrücken«, ihre überwiegend kurze Satzlänge, ihr leichtfüßiger Tonfall. Vgl. beispielsweise: Herder, Journal meiner Reise, S. 228, 280–282; Von Bonstetten, L’homme du midi, S. 176–178. 134 Voltaire, François, ou Français, S. 287; Caraccioli, L’Europe Françoise, S. 169–174. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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nicht in aller Munde? So sah es auch die Berliner Akademie, als sie für das Jahr 1784 – selbstverständlich auf Französisch – die Preisfrage formulierte: »Qu’estce qu’a fait de la langue Françoise la langue universelle de l’Europe? En quoi mérite-t-elle cette prérogative? Peut-on présumer qu’elle la conserve?« Der Preis ging an zwei Autoren, die für die Vorherrschaft des Französischen als l­ingua franca der Literatur, Wissenschaft, Diplomatie und des Gesellschaftslebens argumentiert hatten. Die Entstehung eines Monde Français, »comme autrefois le Monde Romain«, so einer der beiden, Antoine de Rivarol (1753–1801), sei die konkrete Realisierung des leibnizschen Projekts einer Universalsprache.135 Doch gab es in dieser Debatte durchaus auch andere, kritische Stimmen. Auf die Versicherung, dass die Sprache einen vollkommenen Höhepunkt erreicht habe, musste logischerweise die Warnung folgen, von hier an könne es nur bergab gehen. Auch den Franzosen selbst war die Gefahr übertriebener Affektiert­heit und Frivolität nicht unbekannt.136 Dieselben Argumente, die gegen die polierte Lebensform im Ganzen gewandt wurden, kamen auch in der Kritik an ihrer Sprachform zum Einsatz. So beispielsweise die Beobachtung, dass der Wunsch, der Welt zu gefallen – und immer wieder aufs Neue zu ge­ fallen – den mondain zwinge, alte Aussagen in immer neue Formen zu gießen. Für die gewöhnlichsten Mitteilungen müssten im Kontext der höflichen Konversation immer neue Artikulationsformen gefunden werden. Diese zwanghafte Erneuerungssucht könne, so räumte beispielsweise auch Rivarol ein, einen metaphorischen Wildwuchs verursachen und so ein »germe de corruption« für die Vollkommenheit der französischen Sprache  – und damit schließlich der französischen Kultur selbst – darstellen.137 Wie Harold Mah gezeigt hat, boten solche Bruchstellen in der sprichwört­ lichen Vollkommenheit der französischen Sprache anderen Europäern die Gelegenheit, ihre eigene  – in der Sprache verortete  – nationale Identität neu zu denken.138 In der englisch- und deutschsprachigen Kritik an der Nachahmung 135 Rivarol, L’universalité de la langue française, S.  2, 57–58. Er teilte den Preis mit: Schwab, Ursachen der Allgemeinheit der französischen Sprache. Anlass der Preisfrage war nicht zuletzt die Kontroverse um: Friedrich II., De la littérature allemande. Vgl. Piedmont, Beiträge zum französischen Sprachbewußtsein; Storost, Langue française – langue universelle?. Siehe insbesondere auch: Sénac de Meilhan, Du gouvernement des mœurs, S.  127; Allou, Essai sur l’universalité de la langue française. 136 Van Effen, LVIII Discours, S. 145–148; Alletz, Dictionnaire, S. viii–ix; Voltaire, François, S. 520–521, 526. 137 Rivarol, L’universalité de la langue française, S.  60–61. So auch Condillac: »Ainsi pour être original, il est obligé de préparer la ruine d’une Langue«. Condillac, L’origine des ­connaissances, Bd. 2, S. 218. Siehe auch: [Mr. Bavius], Of true politeness; Adelung, Geschichte der Deutschen Sprache, S. 70–71; Sénac de Meilhan, Considérations sur l’esprit, S. 34; Jenisch, Vergleichung und Würdigung, S. 299–303. 138 Vgl. Mah, Epistemology of the Sentence, S.  71–76; ders., Enlightenment phantasies, S. 44–70. Vgl. auch: Cohen, Fashioning Masculinity, S. 37–41, 48–50. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Frankreichs verknüpften sich – unter dem doppelten Vorzeichen eines frankreichzentrierten Europabildes und eines als fortschreitende Zivilisierung verstandenen Geschichtsnarrativs – die Kritik der französischen mit der der eigenen Kultur. In England war die Dominanz der französischen Sprache ein Dauerthema der Kulturreflexion. Immer wieder wurde die Frage aufgeworfen, ob die gesellige Welt mit der französischen Sprache nicht auch den überpolierten und fremden Volksgeist der Franzosen importiere. In einem Kommentar zur Lage der Nation schrieb ein anonymer Autor im Jahr 1777: »the present rage for the acquirement of that tongue is not dictated by necessity, but the knowledge of it is looked upon as a polite accomplishment, amongst the votaries of the fashions of the times, and consequently it is established upon the basis of our imitation of the Gallic nation in every thing.«139 Solche Tendenzen wurden äußerst kritisch aufgenommen. Stereotype Figuren des »frenchified« Engländers wie der fop (ein bis ins Lächerliche überfeinerter und eitler Mann) und der macaroni (ein affektierter Sklave der französisch-italienischen Mode) gehörten zum Grundbestand der zeitgenössischen Satire.140 In den deutschen Kleinstaaten war dasselbe Phänomen womöglich noch ausgeprägter. In einem Reisebericht des englischen Arztes und Schriftstellers John Moore (1729–1802) bemerkte dieser, dass die eigene Landessprache in der geselligen Welt Deutschlands kein hohes Ansehen genoss: »The native language of the country is treated like a vulgar and provincial dialect, while the French is cultivated as the only proper language for people of fashion.«141 Angesichts dessen bildete sich eine rege Diskussion über die relativen Qualitäten der deutschen und französischen Sprache heraus. Im Tagebuch, das Herder 1769 auf einer Reise nach Frankreich führte, setzte er sich ausführlich mit der Sprache seines Ziellandes – die zu lernen er die Reise unter anderem angetreten hatte  – auseinander. Die sprichwörtliche Galanterie der Franzosen habe sich, meinte er, auch auf ihre Sprache übertragen: »Die Hofmiene hat die Sprache von innen und außen gebildet und ihr Politur gegeben.«142 Obwohl er die »Originalsprache von Europa« einerseits für ihre Verfeinerung lobte, verkannte er dabei nicht ihre Schwächen. Als »Logik der 139 Anon., Pictures, Bd. 2, S. 128. Samuel Johnson fügte hinzu, dass auch kommerzielle Beziehungen die Sprache verderben: »Commerce, however necessary, however lucrative, as it depraves manners, corrupts the language«. S. Johnson, Dictionary, [o. S.]. 140 Siehe beispielsweise: Dell, The Frenchified Lady. Vgl. McGirr, Eighteenth-Century Characters, S. 39–51, 135–149. Siehe auch: anon., Pictures, Bd. 2, S. 129–131. 141 J. Moore, View of Society, Bd. 1, S. 427. Und Ebd.: »I have met with people who considered it as an accomplishment to be unable to express themselves in the language of their country, and who have pretended to be more ignorant, in this particular, than they were in ­reality.« 142 Herder, Journal meiner Reise, S. 281. Zum ambivalenten Verhältnis Herders zur französischen Kultur vgl. Mah, Enlightenment phantasies, S. 15–44. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Lebensart« sei sie vollständig auf den Wunsch ausgerichtet, in der mondänen Gesellschaft zu glänzen.143 Nicht die Sache stehe deswegen zentral, sondern die Beziehung zum Adressaten. Aus diesem Grund sei sie, fügte er hinzu, »nichts weniger als die Sprache des Affekts und der Zärtlichkeit, aber des Umgangs und ein Kennzeichen, daß man die Welt kenne«.144 Die Gesetze der geselligen Welt hätten der Sprache der Unmittelbarkeit und Klarheit geraubt, die mal ihre Auszeichnung gewesen sei. Sprachpflege sei zu Erneuerungssucht umgeschlagen und jetzt herrsche die Mode auch über die Sprache: »man ist der Wahrheit müde, man will was Neues«.145 Am Ende blieb für Herder aber die Frage: »Wo ist Genie? Wahrheit? Stärke? Tugend?«146 Solche Deutungsmuster wurden in der Folgezeit wiederholt zur Begründung der besonderen Qualität des Deutschen herangezogen. Diese sei zwar etwas grob, dafür aber wahrhaftig. »Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist«, sagte der Baccalaureus in Goethes »Faust«.147 Diese prinzipiellen Vorzüge der deutschen Sprache wurden aber konsequent mit ihrer faktischen Verkommenheit kontrastiert, die auf den übertriebenen Einfluss des Französischen zurückgeführt wurde. So meinte auch der genannte Autor in der »Deutschen Monatsschrift«, durch die Nachahmung der Franzosen sei deren typischer Leichtsinn, Witz und Frivolité – »(für welche Sache der Deutsche Gottlob! noch kein Wort hat)«148 – auf die Deutschen übergegangen. Da die französische 143 Ihre Wendungen seien immer gedreht: »sie sagen nie was sie wollen: sie machen immer eine Beziehungen von dem, der da spricht, auf den, mit dem man spricht: sie verschieben also immer die Hauptsache zur Nebensache, und die Relation wird Hauptsache; und ist das nicht Etiquette des Umgangs?« Herder, Journal meiner Reise, S. 284. Vgl. Dethlefs, Höflichkeit und ihre Gegner, S. 173–177. 144 Herder, Journal meiner Reise, S.  280–281. Siehe auch: Brandes, Über den Zeitgeist, S. 241–242. 145 Siehe auch: De Callières, Des mots à la mode, S. 68–70; Borde, Profession de foi philosophique, S. 28; Moritz, Soll die Mode auch über die Sprache herrschen?; Kinderling, Deutschland, S. 382; anon., Ueber die öffentliche Meynung, S. 299; Fichte, Reden an die deutsche Nation, S. 143. 146 Herder kritisierte gerade auch Rousseau dafür, die Wahrheit der schönen Wendung zu opfern: »bei Rousseau muß alles die Wendung des Paradoxen annehmen, die ihn verdirbt, die ihn verführt, die ihn gemeine Sachen neu, kleine groß, wahre unwahr, unwahre wahr machen lehrt. Nichts wird bei ihm simple Behauptung, alles neu, frappant, wunderbar: so wird das an sich Schöne doch übertrieben: das Wahre zu allgemein und hört auf Wahrheit zu sein: es muß ihm seine falsche Tour genommen, es muß in unsre Welt zurückgeführt werden, wer aber kann das?« Herder, Journal meiner Reise, S. 265. Siehe auch: Ebd., S. 278– 282. Dieselbe Beobachtung machte übrigens auch Samuel Johnson: Boswell, London Journal, S. 315, 317. 147 Goethe, Faust. Der Tragödie zweyter Theil, S. 101. 148 »Es soll nur aufmerksam gemacht werden auf eine täglich häufiger werdende Art, sich über sittliche Gegenstände auszudrücken, die eine Nachahmung der französische Sprache ist, und zwar unsere Sprache bereichert, aber unsere Sitten verschlimmert, indem sie im Allgemeinen den Abscheu gegen das Laster und die Liebe zur Tugend schwächt, und so nicht al© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Sprache in den mondänen Kreisen heimisch war, verknüpften sich in diesem Zusammenhang nationale und soziale Dimensionen. Insofern die verlogene und künstliche ›Welt‹ der Einfalt des einfachen Bürgers gegenübergestellt wurde, galt die deutsche Sprache als Form der biederen, aber aufrichtigen Kommunikation.149 Die stereotype Kontrastfigur, auf die die ganzen negativen Konnotationen der mondän-französischen Kultur projiziert wurden, war der »Deutschfran­ zose«.150 Der Deutsche, der den französischen Moden allzu sklavisch folgte, verfehle damit, so betonte man, nicht nur seine nationale Eigenart, sondern vor allem seine eigentümliche Natürlichkeit.151 Es ist ein Zeichen für das wachsende Nationalbewusstsein, dass sich im Laufe des Jahrhunderts neben den moralischen und sozialen Kritiklinien zunehmend auch solche herausbildeten, die man als nationalpatriotisch betrachten kann. Dies führte unter anderem zu dem etwas paradoxen Ergebnis, dass die Sprache in solchen Zusammenhängen nicht länger nur wegen irgendwelcher besonderen Merkmale vorgezogen, sondern aus dem einfachen Grund, dass sie die eigene Muttersprache war. Die Vorstellung, dass die Sprache den Volksgeist verkörpere, wurde von einem deskriptiven zu einem normativen Prinzip.152 Die Übernahme von fremden Wörtern und Redensarten gehe, so meinte Lenz, »auf Kosten unserer ganzen Art zu denken, zu empfinden, und zu handeln, auf Kosten unsers National-Charakters,

lein eine einzelne Blume der Sittlichkeit abnickt, sondern die ganze Blume verdorren macht.« [G. P.], Ueber die Verderbung der Sitten, S. 144–146, 156. Siehe auch: Herder, Fragmente. Erste Sammlung, S. 81; Brandes, Ueber den Einfluß, Bd. 1, S. 115. 149 In Ifflands »Alte Zeit und Neue Zeit« (1799) spricht ein Landrat namens Baron von Gärtner seinem Stand gemäß eine sehr gefeilschte und mit französischen Lehnwörtern durchsetzte Sprache. Dass er ständig lüge, sei, wie er beteuert, nicht entscheidend: »Denn alles in der Welt kommt auf die Art ›Wie‹ an. Nur die gehörige Douceur, unüberwindlich employiert, so calmiert sich jedes Orage.« Iffland, Alte Zeit und neue Zeit, S. 98. Vorläufer dieser Satiregattung war Johann Christian Trömer (1696–1756), der in der ersten Jahrhunderthälfte unter dem Pseudonym des »Deutsch-Franços« Jean Chretien Touce­ment verschiedene Schriften veröffentlichte, in denen er in einer eigenartigen deutsch-französischen Mischsprache allerhand Begebenheiten kommentierte: »Es war die erste Vers von ehne Deutschfranzos, / Die mak uf Ohkseitmahl ehn Lerm, die war viel kroß.« Siehe: Trömer, Jean Chretien Toucement des Deütsch-Franços Schrifften. Mit viel schön Küffer Stick, kansz complett, mehr besser und kanss viel vermehrt. Vgl. Scharloth, Sprachnormen, S. 362–364. 150 Vgl. ders., Der Deutschfranzose; ders., Sprachnormen, S.  303–315, 362–415; Mix, Kultur­patriotismus. 151 Siehe: anon., Gegenwärtiger Zustand der K. K. Residenz-Stadt Wien, S. 440. 152 So schrieb Adelung: »Einer der wesentlichsten Theile des Sprachgebrauches beruhet auf der Stellung und Verbindungsart der Ideen; diese athmet ganz den Geist der Nation, weil sie ganz aus ihren individuellen und eigenthümlichen Eigenheiten hergenommen ist, und kann daher ohne auffallende Barbarey nicht mit einer fremden vertauschet werden.« Adelung, Ueber den Deutschen Styl, Bd. 1, S. 113. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Geschmacks und Stolzes«.153 Folglich mahnte er seine Zuhörer, den »alten Hang zu dem mütterlichen Boden Ihres Geistes« nicht zu vernachlässigen.154

3. Kulturkritik der Sprache Sprachaufklärung als Sprachverfall Die verschiedenen Varianten qualitativer Sprachkritik hatten jeweils eine unmittelbare Wirkung auf die Artikulationsform der Kritik selbst. Um über­ zeugend zu wirken, sah sich der Sprachkritiker gezwungen, die Distanz zwischen der kritisierten Sprache und der Sprache der Kritik so groß wie möglich zu halten. Für diejenigen, die ihre Sprachkritik mit einer Kritik der Gesamtkultur verknüpften, war dies umso dringlicher. Solche Distanzierungen konnten unterschiedliche Gestalt haben. Diejenigen Autoren, denen speziell die fortschreitende Überfeinerung missfiel, kultivierten eine betont ungepflegte und schroffe Ausdrucksform.155 Wer hauptsächlich ihre Überfremdung anprangerte, tat dies in einer Sprache, aus der alle ›Fremdkörper‹ sorgfältig entfernt worden waren. Doch der stärkste Einfluss auf den kulturkritischen Diskurs ging aus von einer Form qualitativer Sprachkritik, die ihren Ausgangspunkt von der gefühlten Dominanz des quantitativen Paradigmas nahm. Im Rahmen des quantitativen Ansatzes, in dem Sprachkritik als Sprach­ aufklärung aufgefasst wurde, kam es nur selten zu kulturkritischen Generalisierungen. Doch wurde die Verbreitung dieser Art von Sprachreflexion auf Dauer selbst zu einem Phänomen, das – wiederum aus qualitativer Sicht – zum Anlass einer sprachlich orientierten Kulturkritik werden konnte. Diderot wies darauf hin, dass die Wirkung der terminologischen Verbesserungen in der Wissenschaftssprache nicht auf sie beschränkt blieb, sondern weitreichende Folgen für die Sprache überhaupt hatte. Die von den sprachaufklärern eingeführten Neologismen hätten sich allmählich in den allgemeinen Sprachgebrauch verbreitet, so dass jetzt sogar Frauen und Kinder die mots techniques der Künste und Wissenschaften geschickt anwenden konnten. »Qu’arrivera-t-il delà?«, fragte er sich, »c’est que la langue, même populaire, changera de face«.156

153 Lenz, Die Bearbeitung der deutschen Sprache, S. 321. Siehe auch: ders., Die Vorzüge der deutschen Sprache, S. 326–327. 154 Ebd, S. 318. Siehe auch: Herder, Ueber den Fleiss, S. 186; Moritz, Die Bildsamkeit der Deutschen Sprache, S. 168; Fichte, Reden an die deutsche Nation, S. 117–141; Brandes, Über den Zeitgeist, S. 241–243. 155 Wie beispielsweise der im letzten Kapitel genannte »Blackguard«. 156 Diderot, Encyclopédie, S.  636A. Siehe auch: Jenisch, Vergleichung und Würdigung, S. 298. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Die Sprache werde durch die stetige Arbeit an ihrer Verbesserung nicht nur erweitert, sondern ihr wesentlicher Charakter ändere sich. In dieser Weise konnte die Sprachaufklärungsarbeit und deren Folgen Ausgangspunkt für qualitative Erörterungen über die Entwicklung der Sprache und deren Bedeutung für die Gesamtentwicklung der Kultur werden. In diesem Zusammenhang war ›Sprachaufklärung‹ also nicht Programm, sondern Bezeichnung einer allgemeinen Richtung der Sprachentwicklung – die nicht immer positiv bewertet wurde. Mit der progressiven Ausrichtung der Sprache auf ihre erkenntnisvermittelnde Funktion, mit ihrer fortschreitenden Rationalisierung gingen, so meinten viele, tiefgreifende Verluste einher.157 Entscheidend für solche Überlegungen war die Frage, wie die fortschritt­ liche Entwicklung der Sprache konkret zu verstehen sei. Dass die Sprache sich im Laufe der Geschichte entwickelt habe, wurde allenthalben vorausgesetzt. Ebenso, dass sie sich von einem rohen zu einem gepflegten, von einem ursprünglichen zu einem fortgeschrittenen, von einem primitiven zu einem aufgeklärten Zustande ausgebildet habe. An der Frage nach den spezifischen Kriterien, welche zur Einordnung verschiedener zeitgenössischer und historischer Sprachen auf der Achse zwischen langue barbare und langue policé herangezogen werden sollten aber, trennten sich die Geister.158 Was hieß Sprachaufklärung in diesem Zusammenhang? Woran konnte sie abgelesen werden? Was verbarg sich hinter vagen Bezeichnungen wie ›sprachliche Komplexität‹? War ein bestimmter Aspekt der Grammatik oder des Syntax entscheidend? Lag das Kriterium im Abstraktionsniveau der Wörter oder darin, ob die Sprache ein- oder mehrsilbig, isolierend, agglutinierend oder flektierend sei? Je nach Frage­stellung und Diskussionszusammenhang wurden unterschiedliche Aspekte in Erwägung gezogen.159 Eines der populärsten Gliederungskriterien war das Medium. Am Anfang sei, so ein zeitgenössischer Gemeinplatz, keineswegs das Wort gewesen, sondern vielmehr der unartikulierte cri de la nature.160 Das Sprechen im eigent­lichen Sinne, die Aneinanderreihung von artikulierten Lauten, sei – wie es in solchen Zusammenhängen hieß – viel später erst entstanden. Ob vor oder nach der Gebärdensprache, war umstritten.161 Dass aber die Verschriftlichung ein spätes 157 Bielfeld, Progrès des Allemands, Bd. 1, S. 9; Flögel, Geschichte des menschlichen Verstandes, S. 214–215; Dunbar, Essays, S. 122–124, 138–139. Vgl. Gembicki und Reichardt, Progrès, S. 128–129. 158 Siehe beispielsweise: Dunbar, Essays, S. 109–139. 159 Vgl. Von Karstedt, Sprache und Kultur, S. 46–49. 160 Bzw. der cri des passions. Herder übersetzte: »Geschrei der Empfindungen«. Condillac, L’origine des connaissances, Bd. 2, S. 4–18; Rousseau, Discours sur l’inégalité, S. 50–60; ders., L’origine des langues, S. 223–225; Herder, Ursprung der Sprache, S. 24–27,90; Monboddo, Origin and Progress of Language, Bd. 1, S. 319–326. Vgl. Jurt, Lesen und Schreiben, S. 246–250; Trabant, Was ist Sprache?, S. 25–51. 161 Vgl. Rosenfeld, A Revolution in Language, S. 27–56. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Phänomen der menschlichen Kulturentwicklung war, stand nicht zur Diskussion.162 Diese Narration der Sprachentwicklung als ihre fortschreitende Kodifizierung konnte leicht als Verfallsgeschichte geschrieben werden. Unter Bezugnahme auf die alte Tradition der Schriftkritik ließ sich Verschriftlichung als Verlust der Unmittelbarkeit lebendiger Rede verstehen. Hatte doch schon Plato darauf hingewiesen, dass die Schrift verwaist und hilflos, dem Missverständnis und dem Missbrauch ausgesetzt sei.163 Gerne wurde dies mit dem paulinischen Wort verknüpft: »Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.«164 Solche alten Topoi wurden jetzt zunehmend mit einer geschichtlichen Perspektive verknüpft. Die Verschriftlichung, meinte man, habe der Sprache nicht bloß ein weiteres Medium geöffnet. Sie habe auch ihren Charakter von innen heraus verändert. »L’écriture, qui semble fixer la langue, est précisément ce qui l’altère,« schrieb Rousseau. »Elle n’en change pas les mots, mais le génie; elle substitute l’exactitude à l’expression.«165 Moderne Sprachen seien demnach – auch in ihrer gesprochenen Form – wesentlich Schriftsprachen und die moderne Kultur eine Schriftkultur im wahrsten Sinne des Wortes. Die fortschreitende Ausrichtung der Sprache auf Korrektheit und Genauigkeit, auf die Rationalisierung des Informationsaustausches und der Wissensspeicherung, wurden negativ als ihr Verfall in Richtung Kälte und Monotonie begriffen.166 Die Gliederung der Sprache nach dem Medium ließ sich weiter verfeinern. So war es möglich, zwischen unterschiedlichen Schriftarten (logographischer, phonographischer und alphabetischer Schrift) zu unterscheiden und diese mit Kulturstadien in Verbindung zu setzten.167 Solche Differenzierungen waren für sprachgeschichtliche Feinschmecker interessant, eigneten sich aber nicht mehr für die breitere Debatte über die Relevanz der Sprachentwicklung für die zeit­ genössische Kultur. Noch stärker war das der Fall, wenn der Versuch unternommen wurde, formale Sprachmerkmale in eine historische Reihenfolge zu bringen. Was war früher? Nomina oder Verben? Numerale, Konjunktionen oder Artikel? Pronomina, Präpositionen, Adjektive oder Adverbien? Tempus oder Modus? Syntax oder Flexion? Solche Fragen führten in einen spekulativen Bereich, in den sich nur noch Spezialisten hineinwagten.168 162 Levesque, L’homme moral, S. 399–405. 163 Vgl. Assmann, Schriftkritik und Schriftfaszination; Dauss und Haekel, Einleitung. 164 2 Kor. 3, 6. Siehe auch: Brandes, Über den Zeitgeist, S. 63. 165 Rousseau, L’origine des langues, S. 240–241. Siehe auch: Suard, [Rezension zu:] Fragments of Erse Poetry, S. 6; Fichte, Grundzüge, S. 187–195; Görres, Die teutschen Volksbücher, S. 17; Von Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit, S. 24. 166 Als Paradebeispiel einer Sprache, bei der die Schriftlichkeit der mündlichen Rede voraus­gegangen sei, galt Rousseau die polnische. Aus diesem Grund sei sie auch die kälteste aller Sprachen. Rousseau, L’origine des langues, S. 250–252. 167 Ebd., S. 232–234. 168 Siehe beispielsweise: Sulzer, Anmerckungen, S.  197–198; ders., Allgemeine Theorie, Bd. 2, Art. ›Sprache‹, S. 1102. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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In der breiteren Öffentlichkeit waren weniger technische Interpretationsmuster gefragt. Hier wurde pauschal vom ›Fortgang‹ der Sprache gesprochen, in dem sie von ihrem ungeformten, rohen, chaotischen Ursprung hin zu einem regelmäßigen, gepflegten, geordneten Stadium fortgeschritten sei.169 Eine Reihe isomorpher Gegensätze bildete die Eckpunkte dieses Deutungsmusters. So wurde dieses Narrativ nicht nur zwischen Oralität und Schriftlichkeit eingespannt, sondern in jeweils unterschiedlichen Kontexten auch zwischen konkreten und abstrakten, zwischen lebendigen und toten, melodischen und harmonischen, passionierten und rationalen, nationalen und universalen, symptomatischen und designativen, natürlichen und künstlichen Ausdrucksweisen. Stets wurde aufs Neue die Geschichte einer progressiven Rationalisierung geschrieben. Ein solcher Gegensatz ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben, da er für die Herausbildung der kulturkritischen Perspektive auf die Sprachgeschichte von besonderer Bedeutung war: die Gegenüberstellung von einem ›poetischen‹ Ursprung und der ›prosaischen‹ Gegenwart.

Die historische Semantik der Metapher In mindestens einer Hinsicht befinden sich die Kulturkritik und ihre historischsemantische Erforschung in einer ähnlichen Lage. Beide sehen sich vor die Aufgabe gestellt, die eigene analytische Sprache möglichst streng von der Sprache als ihrem Gegenstand zu trennen. Im Falle der Kulturkritik wurde dieses Phänomen als ihre Zirkularität beschrieben: Die Sprache, die sie kritisiert, und die, in der sie diese Kritik konzipiert und artikuliert, ist dieselbe. Nun könnte man meinen, dass historische Distanz zu ihrem sprachlichen Gegenstand die historische Semantik vor einer solchen Verstrickung bewahrt. Das ist aber nur zum Teil der Fall. Die Sprache kultureller Reflexion hat – wie es in dieser Studie gezeigt wird  – in unserem Untersuchungszeitraum einen wesentlichen Wandel durchgemacht. Unser eigener Sprachhorizont ist in starkem Maße das Ergebnis dieses Wandels. Daraus folgt, dass unsere Perspektiven, Fragestellungen und analytische Terminologie unumgänglich geprägt sind von den Sprach- und

169 So berichtete Lord Monboddo (1714–1799), die Sprache der amerikanischen Huronen sei dermaßen »imperfect and irregular«, »that it is impossible to form a grammar of it; that is, to reduce it to any rule. […] [T]hose languages can have no standard, or any thing fixed and established in the use of them, such as we see in formed languages; but must be differently spoken by the different families or tribes of which the nation is compsed, and must also be constantly changing and fluctuating: for it is art only that gives any constancy of stability to practice; which, till the art is invented, must be various and capricious.« Monboddo, Origin and Progress of Language, Bd. 1, S. 327. Siehe auch: Herder, Ursprung der Sprache, S. 91; Fry, Pantographia, S. ii–iii. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Denkmustern, deren Genealogie hier beschrieben wird. Die historische Semantik schreibt ihre eigene Geschichte. Ein Paradebeispiel für diese Verstrickung ist die Frage nach der Metapher. Wurde die Metaphorologie durch ihre frühen Vertreter  – allen voran Hans ­Blumenberg  – noch als Alternative zu den etablierten Methoden der historischen Semantik (de facto: der Begriffsgeschichte)  dargestellt, so kann sie inzwischen als völlig integriert betrachtet werden.170 Auch diese Studie versucht dieser Integration gerecht zu werden. So konnte der grundlegende Gegensatz zwischen dem quantitativen und qualitativen Paradigma der Sprachreflexion anhand ihrer zentralen Sprachbilder nachgezeichnet werden. Wenn aber jetzt auf die Sprache der zeitgenössischen Reflexion über Metaphern eingegangen werden soll, kommen neue Fragen auf. Allererst rückt in diesem Fall über den Metapherngebrauch hinaus auch der Begriff Metapher selbst, wie er von den Zeitgenossen verwendet und ver­standen wurde, ins Rampenlicht. Begriff? Ist Metapher, das ›Übertragene‹, eine eigentliche Bezeichnung? Oder hat sie nicht vielmehr selbst einen metapho­rischen Aspekt?171 In der historiographischen Praxis ist die Unterscheidung zwischen Begriff und Metapher nicht immer trennscharf.172 Aus pragmatischer Sicht könnte man sich dieser Frage entledigen und festhalten, dass ein Wort, das für das Sprachgefühl des Verwenders bzw. seines Publikums eine wörtliche Bezeichnung eines Tatbestands darstellte, begrifflich, während ein solches, dass als bildlich verstanden wurde, metaphorisch verwendet worden sei. Somit könnte dasselbe Wort in unterschiedlichen Kontexten einmal als Begriff, ein anderes Mal als Metapher verwendet worden sein. Eine solche Lösung wirft allerdings wiederum neue Fragen auf. Allen voran die, wie solche Verwendungsarten empirisch voneinander unterschieden werden können. Wenn der Gebrauchs­modus nicht gerade durch Signalwörter und -wendungen (›so wie‹, ›als ob‹) im Text signalisiert wird, ist die Frage, ob ein Ausdruck im zeitgenössischen Sprach­ gefühl eher wörtlich oder übertragen verstanden wurde, nicht immer einfach zu beantworten. 170 Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie. Vgl. Gumbrecht, Pyramiden des Geistes, S. 15–17. 171 »Das Metaphorische gibt es nur in der Metaphysik.« In der Philosophie hat dieser Satz Heideggers eine rege Debatte über den Status der Metapher ausgelöst. Heidegger, Der Satz vom Grund, S. 59. Vgl. einführend: Willer, Metapher und Begriffsstutzigkeit. 172 Neulich ist ausgehend vom abgeschlossenen Projekt des »Historischen Wörterbuchs der Philosophie« erneut zu Gunsten der prinzipiellen Trennung zwischen Begriff und Metapher argumentiert worden. Solche Argumente zeigen paradigmatisch, worin sich die sprachgeschichtliche Fragestellung der historischen Semantik, der in dieser Studie nachgegangen wird, von der quasi-systematischen Philosophiegeschichte im Sinne des Wörterbuchs unterscheidet. Vgl. Danneberg, Spoerhase und Werle, Einleitung, S. 8. Siehe auch: Haverkamp und Mende, Metaphorologie; Gabriel, Begriff – Metapher – Katachrese. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Solche philosophischen und methodischen Vorbehalte können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Metapher – auch wenn ihre Definition keineswegs clare et distincte ist – weiterhin eine grundlegende Kategorie unseres alltäglichen Sprachverständnisses darstellt. Die Argumente für oder wider ihren Wert als philosophische oder sprachanalytische Kategorie grenzen sich von einem vorreflexiven Verständnis ab, das seinen reflektierten und differenzierten Neubestimmungen vorausgeht. Die Struktur dieser Selbstverständlichkeiten  – die den Gebrauch von Metaphern ebenso bestimmen wie die Reflexion über sie – in ihrer historischen Entwicklung auf die Spur zu kommen, ist eine weitere Aufgabe der historischen Semantik. Der lange Atem solcher Denk- und Redemuster ist kürzlich von Ralf Koners­ mann hervorgehoben worden. In der Einleitung zu dem von ihm herausge­ gebenen »Wörterbuch der philosophischen Metaphern« beschreibt er das Lexikon als die verspätete Erfüllung einer Aufgabe, die der Philosophie 1767 gestellt worden war – und zwar in eben dem oben genannten Aufsatz Sulzers.173 Anders als seinerzeit üblich habe dieser die Arbeit der Sprachaufklärung nicht auf die Schöpfung neuer oder die Beseitigung ungenauer Begriffe beschränkt, sondern habe er auch die Rolle der Metaphorik für die »Cultur des Verstandes« erkannt. Aus diesem Grund habe er denn auch zur Erstellung eines »Wörterbuch[s] von den reichsten Metaphern« aufgerufen.174 Erstens, weil dies die Möglichkeit eröffnen würde, eine Art von Wahrheiten, welche »man nur halb gesehen oder von weitem erblickt hat, ohne sie entwickeln zu können«, zu erfassen. Metaphern hätten, so Sulzer, die Fähigkeit, Ideen, die dem Verstand unbegreiflich bleiben müssen, durch Einbildungskraft »sichtbar und fühlbar« zu machen. Zweitens könnten Metaphern mittels ihrer bildlichen Logik »auf wichtige Entdeckungen führen«.175 Das Lexikon, das sich die Frage »Was leisten Metaphern in Philosophie und Wissenschaft?« auf die Fahne geschrieben hat, erblickt in Sulzer einen wichtigen Vordenker.176 Wie Konersmann cum suis heute machte der Schweizer Aufklärer sich damals für die kognitive Legitimität von Metaphern stark. Damit kämpfte er – fürs Erste vergeblich – gegen die überlieferte Trennung zwischen ratio und oratio, zwischen begrifflicher und bildlicher, prosaischer und poetischer Rede. Der Philosophie galt die Metapher traditionellerweise im besten Fall als un­ wesentliche Dekoration, schlimmstenfalls als die Verhüllung wörtlicher Wahrheit. Locke nannte die Rhetorik ein »powerful Instrument of Error and Deceit«.177 Solche Grenzziehungen zwischen der Philosophie und Wissenschaft auf der 173 Konersmann, Vorwort, S. 7–10. Siehe auch: Albus, Weltbild und Metapher, S. 12–130. 174 Sulzer, Anmerckungen, S. 190. 175 Ebd., S. 188–190. 176 Konersmann, Vorwort, S. 19. Neben Sulzer wird auch Giambattista Vico (1668–1744) genannt. 177 Locke, Essay concerning Humane Understanding, S. 429. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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einen, der Rhetorik, Literatur oder Poesie auf der anderen Seite prägten die synchron-funktionale, aber auch die diachrone Besinnung auf die Sprache. In dieser Hinsicht also nicht exzeptionell, im Hinblick auf ihre Wirkung aber dennoch erwähnenswert waren die wiederholten Abgrenzungen, die Immanuel Kant in seinen Schriften vornahm. Er setzte sich mit seiner ganzen Autorität für eine scharfe Trennung zwischen dem philosophischen und dem poetischen Sprachgebrauch ein. In erster Linie ging es ihm dabei um die Beseitigung metaphorischer ›Restbestände‹ aus der philosophischen Begrifflichkeit. In einer Rezension zu Herders »Ideen« aus dem Jahr 1785 fragte er sich beispielsweise kritisch: […] ob nicht der poetische Geist, der den Ausdruck belebt, auch zuweilen in die Philosophie des Verfassers eingedrungen; ob nicht hier und da Synonyme für Erklärungen, und Allegorien für Wahrheiten gelten; ob nicht statt nachbarlicher Übergänge aus dem Gebiete der philosophischen in den Bezirk der poetischen Sprache zuweilen die Grenzen und Besitzungen von beiden völlig verrückt sind, und ob an manchen Orten das Gewebe von kühnen Metaphern, poetischen Bildern, mythologischen Anspielungen nicht eher dazu diene, den Körper der Gedanken wie unter einer ­Vertugade [einem Reifrock, Th. J.] zu verstecken, als ihn, wie unter einem durchscheinenden Gewande angenehm hervorschimmern zu lassen.178

In Konersmanns Genealogie der Reflexion auf die philosophische Legitimität von Metaphern stehen Sulzer und Kant paradigmatisch für zwei gegensätzliche Grundpositionen. Während der eine den kognitiven Wert der Metaphern hervorhob, bestand der andere auf der strengen Trennung zwischen philosophischem und poetischem Sprachgebrauch. Auf der argumentativen Ebene konnte der Gegensatz nicht größer sein. Doch ein Blick auf die verwendeten Sprachmuster zeigt, dass die beiden einander näher standen, als ihnen vielleicht selbst bewusst war. Ihre unterschiedlichen Positionen setzten denselben semantischen Gegensatz voraus. Sulzers Argument für die kognitive Funktion der Metapher gipfelte in der Aussage: Der Philosoph vermehret den Vorrath unsrer Kenntnisse durch erweisliche Vernunftschlüsse, und der schöne Geist setzet die Schranken derselben durch Erfindung glücklicher Metaphern weiter hinaus. Die Einbildungskraft ist zuweilen eben so tiefdenkend als der scharfsinnigste Verstand.179

Indem er versuchte, die Kluft zwischen Poesie und Philosophie zu überbrücken, schrieb Sulzer sie als funktionale Differenzierung erneut fest. Auch wenn er der 178 Kant, Kritik des ersten Theils von Herder’s Ideen, S. 355. Im Übrigen war, wie Konersmann ausführt, Kants Position zur Metapher nicht immer so eindeutig negativ. Konersmann, Vorwort, S. 9–10. 179 Sulzer, Anmerckungen, S. 191. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Einbildungskraft dem Verstand gegenüber und dem schönen Geist dem Philosophen gegenüber jeweils eigene Rechte einräumte, setzte er ihre wesentliche Unterschiedenheit voraus. Stärker noch, indem er die Rolle der Einbildungskraft auf die ›Vorarbeit‹ für die eigentliche Erkenntnisleistung des Verstandes beschränkte, hielt er implizit an der Vorstellung der philosophischen als der eigentlichen, reinen Sprachform fest. Dieselbe begriffliche Trennung zwischen Denken und Dichten veranlasste Kant zu seinen sprachlichen Reinigungsaktionen. Dabei gehörte seinem Verständnis nach nicht nur die Metapher zu den typischen Kennzeichen poetischer Sprache. Auch andere Sprachmerkmale sollten als ›poetische‹ aus der nüchternen Sprache der Philosophie ferngehalten werden.180 In einer weiteren Rezension, neun Jahre später, richtete er sich in diesem Sinne gegen einen »neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie«.181 Diesmal war die Gefahr nicht metaphorisch, sondern tonal. Konkret ging sie von Johann Georg Schlosser (1739–1799) aus, einem vormaligen Mitglied des Illuminatenordens und Schwager Goethes. Aus Anlass von dessen kommentierter Übersetzung der platonischen Briefe setzte sich Kant mit der modischen ›Gefühlsphilosophie‹ auseinander. Diese berief sich auf ein Geheimwissen, das auf unmittelbarer Anschauung beruhte. Solche »Geheimnißkrämerei« verdiente in Kants Augen den ehren­ vollen Titel der Philosophie nicht. Mehr noch als der überhebliche Anspruch auf ein hermetisches Geheim­ wissen aber, schien ihm die gewählte Ausdrucksform der Gefühlsphilosophie im Widerspruch zum Wesen der Philosophie zu stehen. Im Grunde ist wohl alle Philosophie prosaisch; und ein Vorschlag jetzt wiederum poetisch zu philosophiren möchte wohl so aufgenommen werden, als der für den Kaufmann: seine Handelsbücher künftig nicht in Prose, sondern in Versen zu ­schreiben.182

Kants Verstimmung über den Tonfall der Gefühlsphilosophie mündete erneut in den Gegensatz zwischen Poesie und Prosa. Mehr als eine rein formale, sprachbezogene Differenzierung stand dabei aber die kulturgeschichtliche Sig­ nifikanz der beiden Sprachformen auf dem Spiel. Die poetische Form wurde in Kants Augen nicht nur der Sache der Philosophie nicht gerecht, sie war vor allem veraltet, ja unzeitgemäß. Schlosser hatte Kants Kritik in gewisser Weise schon vorweggenommen. Er wusste, dass dasjenige, was er als neuen Weg der Philosophie propagierte, dem allgemeinen Verständnis dieser Disziplin zuwiderlief und verknüpfte diese Beobachtung mit einer Klage über das geistige Klima des Zeitalters: 180 Vgl. beispielsweise zur Hyperbel: France, Politeness and its Discontents, S. 11–26. 181 Schlosser, Plato’s Briefe; Kant, Von einem vornehmen Ton. Vgl. Spoerhase, Prosodien des Wissens. Siehe auch: Derrida, D’un ton apocalyptique. 182 Kant, Von einem vornehmen Ton, S. 425. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Doch in unsern altklugen Zeiten pflegt bald alles, was aus Gefühl gesagt und gethan wird, für Schwärmerey gehalten zu werden. Armer Plato, wenn du nicht das Siegel des Alterthums auf dir hättest […] wer würde dich in dem prosaischen Zeitalter, in welchem das die höchste Weisheit ist, nichts zu sehen, als was vor den Füssen liegt, und nichts anzunehmen, als was man mit Händen greifen kann, noch lesen wollen!183

Der Ausdruck ›prosaisches Zeitalter‹ kam relativ selten vor.184 Das Denkmuster jedoch, das er auf den Punkt brachte, war weit verbreitet. Die Entwicklungs­ geschichte der Sprache sowie der Kultur überhaupt wurden zwischen einem poetischen Ursprung und einer prosaischen Gegenwart angesiedelt.185 Auch in diesem Kontext spielten Überlegungen über die Metapher eine Schlüsselrolle. Zwei gegensätzliche Deutungsmuster rangen in ihrer geschichtlichen Deutung um Vorrang. Einerseits erschien die Metapher als Komplement, das zur einfachen Bezeichnungsart der wörtlichen Rede hinzukomme. Als rhetorische Figur, so dieser Gedankengang, sei sie ein Mittel, die gewöhnliche Sprache zu bereichern und ihre Überzeugungskraft zu vergrößern. Als solche müsse sie – geschichtlich gesprochen – später als ihr wörtliches Pendant entstanden sein. Der metaphorische Ausdruck erfordere einen weiteren Gedankenschritt und sei dementsprechend als Folge der fortgeschrittenen sprachlich-kulturellen Entwicklung zu verstehen. Auf die Gesamtheit poetischer Sprachmuster übertragen, folgte daraus, dass die poetische Sprache auf einer höheren Kulturstufe entstanden sei, als die ungebundene Rede. Solche Überlegungen standen beispielsweise an der Basis der klassizistischen Kritik an der barocken Metaphorik: Sie sei ein unnötiges Ornament, das die klare Sicht auf die Sache verstelle.186 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde diese Sichtweise allerdings zunehmend durch ihr Gegenteil verdrängt. Unter dem Einfluss der sensualistischen Sprachtheorien verbreitete sich eine Geschichtsdeutung, welche die bildliche Sprache vor der wörtlichen und folglich die poetische vor der prosaischen verortete. Ausgangspunkt dafür war die Vorstellung, dass die ersten Wörter sich unmittelbar auf Sinneseindrucke bezogen hätten. Erst im Laufe der Heraus­ 183 Schlosser, Plato’s Briefe, S. 90. 184 »We live in a reasoning and prosaic age. The forests of Fairy-land have been rooted up and destroyed; the castles and palaces of Fancy are in ruins; the magic wand of Prospero is broken and buried many fathoms in the earth.« Warton, The Life of Alexander Pope, S. lxx. Siehe auch: Bancks, Progress of Petitioning, S. 27; Diderot, Lettre à M. l’abbé Galiani, S. 162; Schütze, Die Journalisten, S. 43; Béraud, Le départ du poète, zit. in: anon., Poésie, S. 4; Körner, Nachrichten von Schillers Leben, S. xxiii. 185 Zur parallelen Gegenüberstellung von Poesie und Geometrie, vgl. Wilhelm, Sprache der Affekte, S. 163–178. 186 So nannte Remond de Saint-Mard (1682–1757) die Poesie eine »Fille de la Vanité«, da sie erst entstehe, wenn die »langage naturel qu’on a appellé Prose« sich so weit ausgebildet habe, dass sie alles richtig und klar benennen kann. Die Prosa sei folglich der »langage de la Raison«. Saint-Mard, Reflexions, S. 31, 38–41. Vgl. Windfuhr, Die barocke Bildlichkeit, S. 400–437; Mortier, L’idée de décadence littéraire, S. 1017–1021. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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bildung der Vernunft seien zunächst Bezeichnungen für Partikulargegenstände, später auch abstrakte Ausdrücke entstanden. Aus diesen Überlegungen gingen zwei Standardargumente für die Seniorität der Poesie hervor. Positiv gewendet passe die Metapher als lebhafte, gefühlvolle und energische Ausdrucksweise zur einfachen Gemütsart primitiver Völker. Die Kategorien psychischer Fakultäten wurden herangezogen, um den kulturellen Unterschied zwischen jenen und den modernen Menschen zu charakterisieren. Während damals Seele, Gefühl und Einbildungskraft die dominanten Mächte im menschlichen Geist dargestellt hätten, sei die psychische Vorherrschaft seitdem von Verstand, Vernunft, Denken und Wissen erobert worden.187 Daraus folgte auch ein negatives Argument, das den postulierten Bilderreichtum primitiver Sprachen aus ihrer ›Armut‹ herleitete.188 Bei einer völlig ausgebildeten Sprache, so hieß es, gebe es für jede Idee eine passende Bezeichnung. Bevor es aber so weit sei, müsse man in seiner Sprachnot oftmals auf Metaphern zurückgreifen. Was in der heutigen Situation eine Ausnahme darstelle – Sulzers Überlegungen über die Rolle der Metapher im Erkenntnisprozess waren in dieser Hinsicht exemplarisch – sei im barbarischen Zeitalter, als die Sprache noch roh und ungebildet gewesen sei, die Regel gewesen.189 Die widersprüchlichen Deutungen des geschichtlichen Alters der Metapher bildeten ein wichtiges Thema der zeitgenössischen Poetologie.190 Diese stellte sich die Frage, ob die Poesie als die gepflegteste, kultivierteste oder umgekehrt als die roheste, natürlichste und ursprünglichste Sprachform angesehen werden müsse.191 Wer im alten Testament, in Homer und den in Reiseberichten festgehaltenen Reden amerikanischer Indianerhäuptlinge den Höhepunkt der Dich 187 »L’homme a senti, avant de connoître; delà vient que les ouvrages des temps les plus reculés, sont remplis de métaphores & abondent en images. A mesure que les Sociétés se civilisent, que les lumiéres se répandent, le sentiment domine moins dans les écrits, parce que les hommes réfléchissent davantage […]. A mesure que les langues se perfectionnent, le nombre de mots abstraits, devient plus considérable, & il y a moins de hardiesse dans l’expression, on parle alors plus à l’esprit qu’à l’ame, on définit plus qu’on ne peint.« Sénac de Meilhan, Considérations sur l’esprit, S. 16. Siehe auch: Rousseau, L’origine des langues, S. 288–289; Suard, Du progrès des lettres, S. 383; [Von Hendrich], Geist des Zeitalters, S. 64; Görres, Die teutschen Volksbücher, S. 16. 188 Goethe, Faust, S. 104. 189 Turgot, Lettre adressée aux Auteurs, S. 6–7; ders., Remarques critiques, S. 141; ders., Ébauche, S.  272; Rousseau, L’origine des langues, S.  225–227; Levesque, L’homme moral, S.  432–433; Flögel, Geschichte des menschlichen Verstandes, S.  209–210. Vgl. Gordon, ­Citizens, S. 147–149; Berlin, Three Critics, S. 66–69; Monnier, Usages, S. 533–538. 190 Zu diesem Begriff in der deutschen Frühromantik vgl. ausführlich: Bär, Sprachreflexion der deutschen Frühromantik, S. 404–412. 191 Arnaud, [Rezension zu:] Fragments of antient Poëtry, S. 42; Sulzer, Allgemeine Theorie, Bd. 2, Art. ›Sprache‹, S. 1101; Schubart, Die alte und neue Poesie; Robertson, History of America, Bd. 2, S. 84–88; F. Schlegel, Ueber nordische Dichtkunst, S. 164–165; Stewart, On the Culture of Certain Intellectual Habits, S. 540–544. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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tung zu entdecken meinte, verstand darunter offensichtlich etwas ganz anderes als derjenige, der die scherzhaften Verse im Stile der Anakreontik, die in der mondänen Gesellschaft populär waren, vorzog. War sie der Gipfel sprachlicher Entwicklung oder, wie Hamann schrieb, die »Muttersprache des menschlichen Geschlechts«?192 So kreisten die ästhetischen Diskussionen der zweiten Hälfte des Jahrhunderts – es soll in diesem Kontext den Hinweis auf Signalwörter wie Klassizismus, Sturm und Drang, Genieästhetik, Romantik genügen  – um die richtige Charakterisierung und geschichtliche Einordnung der Poesie.

Dichtung und Kulturkritik Der kulturkritische Diskurs zeichnete sich seit seiner Entstehung durch eine gewisse Nähe zur Dichtung aus. Nicht, dass sie vollkommen deckungsgleich wären. Obwohl kulturkritische Stimmen in der Dichtung und Poetologie des Untersuchungszeitraums eine bedeutende Rolle spielten, hatten sie nicht das Alleinrecht auf die poetische Form. Diese war für leichtfüßige Satire, mystische Naturanbetung, praktische Belehrung, ja selbst für euphorische Hymnen auf den Fortschritt prinzipiell mindestens so geeignet wie für Kulturkritik. Umgekehrt war die poetische Form nur ein mögliches Medium für den Diskurs der Kulturkritik. Weitaus die meisten ihrer Äußerungen waren in Prosa abgefasst. Dennoch galt selbst für diese, dass der eigentümliche Stil der kulturkritischen Prosa von einer gewissen ›Poesie‹ lebte. Genau gesagt lebte sie von einem Sprachregister, das einem spezifischen, geschichtlichen Poesieverständnis entstammte. Sie orientierte sich an ein Geschichtsnarrativ, das die Entwicklung von Sprache und Kultur zwischen den Polen eines poetischen Ursprungs und einer prosaischen Gegenwart verortete. Die zentrale Rolle von Metaphern193 und Analogien in der kulturkritischen Redeweise sowie ihr begeisterter – das achtzehnte Jahrhundert sagte: sublimer – Tonfall, waren demnach nicht zuletzt dem Versuch geschuldet, der bis zur Sterilität und Monotonie durchrationa­ lisierten Gegenwartssprache eine ursprüngliche Alternative entgegenzusetzen. In dieser Weise signalisierte diese Stilistik die kritische Abkehr von der modernen Kultur. Umgekehrt legte dasselbe Geschichtsnarrativ dem Dichter eine kulturkritische Perspektive auf seine Gegenwart nahe. Die geschichtliche Opposition zwischen Poesie und Prosa implizierte auch einen Wechsel der epochalen Leitfigur. Im Jahr 1760, kurz bevor er in die Académie Française gewählt wurde, schrieb der Abbé Nicolas-Charles-Joseph Trublet (1697–1770): 192 Hamann, Aesthetica in nuce, S. 258. 193 Niels Werber vertritt die These, die Kulturkritik verdanke ihre Durchschlagskraft hauptsächlich der »Evidenz ihrer Metaphern«. Werber, Einleitung, S. 7. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Plus la raison se perfectionnera, plus le jugement sera préféré à l’imagination; & par conséquent moins les Poëtes seront goûtés. Les premiers Ecrivains, dit-on, ont été Poëtes. Je le crois bien; ils ne pouvoient guères être autre chose. Les derniers seront Philosophes.194

Die Wertung dieser Entwicklung hing demgemäß stark vom Selbstverständnis des jeweiligen Autors ab. Wer sich als philosophe verstand, konnte die fortschreitende Beherrschung der Sprache durch den esprit philosophique nur begrüßen. Anders stand es um den Dichter. Je stärker das semantische Band zwischen Poesie und Primitivität wurde, umso mehr drängte sich die Folgerung auf, dass der poetische Geist im prosaischen Zeitalter nichts verloren hatte. Wer noch dichtete, konnte das Gefühl bekommen, ein geschichtlicher Außenseiter, ein Anachronismus zu sein.195 Tatsächlich wurde der semantische Konnex zwischen Poesie und Ursprünglichkeit am Ende des 18. Jahrhunderts immer stärker. Dass die primitiven Völker und ihre Sprachen poetisch seien, wurde ebenso oft wiederholt wie die analoge These, dass wahre Poesie immer etwas Wildes an sich habe.196 Die Wertung solcher Beobachtungen konnte weiterhin unterschiedlich ausfallen. Während das Ursprüngliche als Synonym für ›das Natürliche‹ positiv konnotiert war, konnte es als ›das Barbarische‹ einen negativen Klang haben. In einem Aufsatz, der 1794 unter dem Titel »Warum sind die Dichter bey allen Nationen älter als die Prosaisten?« in der »Deutschen Monatsschrift« erschien, fasste der Theologe und Sagenforscher Johann Karl Christoph Nachtigal (1753–1819) die genannten Musterargumente für den poetischen Geist primitiver Völker noch einmal systematisch zusammen. Die positiven Faktoren (lebhafte Empfindung und Einbildungskraft) berücksichtigte er dabei ebenso wie die negativen (»Mangel an regelmäßig geordneten Erfahrung und an Philosophie«, eine »ungebildete« Sprache, durch »conventionelle Sitten nicht zurückgehaltene« Neigungen).197 194 Trublet, De la poësie, S. 215. Siehe auch: De Bernis, Discours sur la poesie, S. 17; Klopstock, Sprache der Poesie, S. 36; [Grimm], Paris, août 1774, S. 381; [Von Hendrich], Geist des Zeitalters, S. 66–68. Und speziell: De Chabanon, Sur le sort de la poësie dans ce siècle philosophique, S. 7. 195 Siehe: [Soret], Essai sur les mœurs, S. 56; Rousseau, L’origine des langues, S. 318; Ferlet, De l’abus de la philosophie; Fréron, [Rezension zu:] De l’abus de la Philosophie; Herder, Fragmente. Erste Sammlung, S. 66; Levesque, L’homme moral, S. 432–435; Soulavie, Des mœurs, S. 14; Jenisch, Vergleichung und Würdigung, S. 23–24, 136–137, 198. 196 Diderot, De la poésie dramatique, S.  306; Arnaud, Prospectus du nouveau Journal Étranger, S. xxviij–xxix. 197 Nachtigal, Warum sind die Dichter, S.  93–99. Und: »In eigentlicher Prosa reden die Menschen unter allen Nationen erst spät, nur dann erst, wenn ihre Empfindungen viel von ihrer Stärke verloren haben, die Phantasie nicht mehr das Uebergewicht über den Verstand hat, und sie schon auf einer höhern Stufe der Kultur stehen.« Ebd., S. 100. Siehe auch: ders., Ueber Geschichtsschreiber und Dichter, S. 14. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Als Nachtigal den Zustand der eigenen Sprache analysierte, zeigten seine sprachgeschichtlichen Beobachtungen ihre aktuelle Relevanz. Gänzlich prosaisch sei sie, trotz des hohen »Grad[s] von Politur in Denkart und Sprache«, noch nicht.198 »Nur der Mann, in den Stunden des Ernstes und der kalten besonnenen Vernunft, ist reiner Prosaist.«199 Die gemeine Sprache enthalte aber immer noch Dichterisches oder  – Nachtigal benutzte den Ausdruck synonym  – Uneigent­liches. Bezeichnend für seine aufklärerische Perspektive war, an welcher Stelle er diese Überreste dichterischer Sprache aufzufinden meinte: bei Kindern, den »unkultivierten Ständen«, Fieberkranken und fanatischen Rednern.200 Nach­tigals Überzeugung nach war das eigentlich prosaische Zeitalter noch nicht da. Es müsse erst noch hervorgebracht werden, indem Sprache von ihren letzten uneigentlichen Resten gereinigt werde. Hier ist der sprachaufklärerische Ansatz nicht zu überhören. Doch dasselbe geschichtliche Deutungsmuster bildete umgekehrt die Basis für eine an der Sprachentwicklung orientierte Kulturkritik. Auch sie war von der fortschreitenden Aufklärung der Sprache überzeugt, erfuhr diese aber nicht als Chance und Aufgabe, sondern als Verlust eines ursprünglich poetischen Zeitalters, das nicht mehr da war. Ihnen schien die gegenwärtige Sprache karg und kraftlos, ein »Wörterbuch erblasseter Metaphern«.201 Exemplarisch wurde diese Erfahrung in einer der zentralen literarischen Kontroversen der Zeit verhandelt. In Edinburgh erschien 1760 unter dem Titel »Fragments of Ancient Poetry« eine Sammlung altkeltischer Gesänge.202 Laut beigefügter Einleitung handelte es sich um Lieder, die an der Wende vom 3. zum 4. Jahrhundert von einem blinden Barden namens Ossian gesungen und von späteren Generationen dem Papier anvertraut worden waren.203 Jetzt war diese Überlieferung von einem Schotten namens James MacPherson ­(1736–1796) in den Highlands gesammelt und aus dem Gälischen ins Englische übertragen worden. In den nächsten Jahren sammelte »the Sublime Savage«,204 wie ­MacPherson von James Boswell genannt wurde, immer weitere Texte, die er 1765 als »The Works of Ossian« veröffentlichte. Die Werke lösten einen Sturm 198 Ders., Warum sind die Dichter, S. 103. 199 Ebd., S. 101. 200 Ebd., S. 103. Siehe auch: Rousseau, L’origine des langues, S. 287; Levesque, L’homme moral, S. 403. 201 Jean Paul, Vorschule der Aesthetik, Bd. 2, S. 374–375. Siehe auch: Suard, [Rezension zu:] Fragments of Erse Poetry, S. 6; Diderot, Salon de 1767, S. 211–212. 202 Anon., Fragments of Ancient Poetry. 203 Die Parallelen mit dem anderen, ebenfalls blinden Barden waren unübersehbar, so dass Ossian der »Homer des Nordens« oder »of the Highlands« genannt wurde und in vergleichenden Erörterungen über die jeweiligen Eigenschaften ›nördlicher‹ und ›südlicher‹ Poesie eine Hauptrolle spielte. Blair, Appendix, S. 450; F. Schlegel, Ueber nordische Dichtkunst, S. 194. 204 Boswell, London Journal, S. 265. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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von Beifall aus, der auch dann nicht abebbte, als ihre Authentizität immer mehr in Zweifel gezogen wurde.205 Den Schotten, deren nationales Selbstbewusstsein nach der Niederlage der Jakobiter bei Culloden 1746 ernsthaft gekränkt war, boten sie einen nationalen Ursprungsmythos. Aber auch auf dem europäischen Festland war ihre Wirkung enorm. Viele prominente Zeitgenossen  – Herder, Goethe, Madame de Staël, Napoleon und Chateaubriand, um nur einige zu nennen – lobten sie als ideale Dichtungen und setzten sich für ihre weitere Verbreitung ein. Ein wichtiger Faktor ihres Erfolgs war der eigenartige Zusammenhang zwischen dem Inhalt der Texte, ihrer Form und den Erwartungen des zeitgenössischen Lesepublikums.206 Die Gesänge handelten von einer Reihe von Schlachten, von Trauer um gefallene Helden und tragischen Liebesgeschichten. Ossian erzählte die Taten seines Geschlechts, speziell die seines Vaters, des sagenhaften Königs Fingal. Der Tonfall des Barden war elegisch und vermittelte eine nostalgische Stimmung. Das ossianische ›Seufzen‹ wurde sprichwörtlich.207 Die verschiedenen Dimensionen des Textes verstärkten einander. Die Gesänge, als Überreste einer längst vergangenen Kultur empfangen, betrafen selbst den Verlust einer heroischen Vorzeit. Sie waren  – wie Ossian in einer mehr als fünfzehnmal aufgegriffenen Formel beteuerte  – ein »Tale of the times of old«.208 Er blickte zurück und besang die Taten eines Heldengeschlechts, dessen Verschwinden er beklagte. I look unto the times of old, but they seem dim to Ossian’s eyes, like reflected moonbeams on a distant lake. Here rise the red beams of war! There, silent dwells a feeble race! They mark no years with their deeds, as slow they pass along.209

Der Text schrieb seine eigene Interpretation auf der Erzählebene vor. Das Lesepublikum wurde gleichsam dazu aufgefordert, den evozierten Gegensatz zwischen here und there, zwischen der heroischen Vorzeit und der verweichlichten Gegenwart auf sich selbst anzuwenden und das eigene Geschlecht als »ossia­

205 Beispielweise in: S.  Johnson, A Journey, S.  273–277. Dagegen: Blair, Appendix. Die ­Episode ist ein paradigmatischer Fall der sogenannten invention of tradition: vgl. Trevor-­ Roper, The Invention of Tradition, S. 17–18. Zur deutschen Rezeption: W. G. Schmidt, ›Homer des Nordens‹. 206 Vgl. Dwyer, The Melancholy Savage; Gaskill, Introduction. 207 Denis, An Ossians Geist, S. 4; Herder, Homer und Ossian, S. 96, 101–102; [Wacken­roder und Tieck], Herzensergießungen, S. 27–28. Hazlitt schrieb: »As Homer is the first vigour and lustihed [Heiterkeit, Th. J.], Ossian is the decay and old age of poetry. He lives only in the recollection and regret of the past. There is one impression which he conveys more entirely than all other poets, namely, the sense of privation, the loss of all things«. Hazlitt, Lectures on the English Poets, S. 37. 208 Macpherson, The Poems of Ossian, Bd. 1, S. 3, 35, 78, 161, 163; Bd. 2, S. 25, 145. 209 Ebd., Bd. 1, S. 29. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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nische race of little men«210, die eigene Zeit als »pygmäisches Zeitalter«211 zu betrachten. Diese Aufforderung wurde vom Publikum mit großer Begeisterung an­ genommen. Maßgeblich beeinflusst wurde diese Rezeption der Gesänge durch die »Critical Dissertation«, die der angesehene schottische Philosoph und Pro­ fessor für Rhetorick and Belles Lettres an der Universität von Edinburgh, Hugh Blair (1718–1800), ihnen 1763 beifügte. Mit ausführlichen literarischen und historischen Belegen versuchte er, ihre Authentizität philologisch zu untermauern. Auch diese Darstellung bewegte sich semantisch wiederum im Horizont des Sprachaufklärungsnarrativs. In the progress of society, the genius and manners of men undergo a change more ­favourable to accuracy than to sprightliness and sublimity. As the world advances, the understanding gains ground upon the imagination; the understanding is more exercised; the imagination, less. […] Human nature is pruned according to method and rule.212

Diese Kulturentwicklung, so Blair weiter, habe sich insbesondere auch in der Sprache niedergeschlagen: »Language advances from sterility to copiousness, and at the same time, from fervour and enthusiasm, to correctness and pre­ cision.«213 Schließlich goss er die parallele Rationalisierung von Kultur und Sprache erneut in die altbekannte Form der Lebensaltermetaphorik. The progress of the world in this respect resembles the progress of age in man. The powers of imagination are most vigorous and predominant in youth; those of the understanding ripen more slowly, and often attain not their maturity, till the imagination begin[s] to flag. Hence, poetry, which is the child of imagination, is frequently most glowing and animated in the first ages of society.214

Im Rahmen seiner Beweisführung für die Authentizität und das hohe Altertum der Gesänge betonte Blair die geschichtliche Distanz zwischen dem Barden und dem modernen Leser.215 Ihre grundsätzliche Fremdheit, so folgerte er, erkläre auch ihre Popularität: »As the ideas of our youth are remembered with a 210 Brandes, Ueber den Einfluß, Bd. 1, S. 263–264. Vgl. W. G. Schmidt, ›Homer des Nordens‹, Bd. 1, S. 159–166. 211 Karoline von Günderrode (1780–1806) in einem Brief an Kunigunde von Savigny (1780–1863) vom 21. Oktober 1801, zit. n. W. G. Schmidt, ›Homer des Nordens‹, Bd. 1, S. 321, 465. 212 Blair, Critical Dissertation, S.  3. Siehe auch: Weiße, [Rezension zu:] The Works of ­Ossian. 213 Blair, Critical Dissertation, S. 3. 214 Ebd. Siehe auch: Ebd., S.  3–4. Er bezog sich speziell auf: Blackwell, An Enquiry, S. ­38–39. 215 Blair, Appendix, S. 445. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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peculiar pleasure on account of their liveliness and vivacity; so the most ancient poems have often proved the greatest favourites of nations.«216 Doch lag die eigentliche Brisanz der Bewunderung für die jugendliche Frische der ossianischen Sangart in ihrer Kontrastwirkung zur aufgeklärten, aber spröden Gegenwartssprache. Die Verherrlichung der ursprünglichen Energie des dichterischen Zeitalters implizierte einen kritischen Blick auf die eigene, prosaische Gegenwart. Dies erklärt auch die Hartnäckigkeit, mit der auf die prinzipielle Distanz zwischen der keltischen Welt und der modernen Leserschaft bestanden wurde. Die vielfach wiederholte Beobachtung, der moderne Geschmack könne mit der Rohheit Ossians nicht viel anfangen, stand in offenem Widerspruch zu seiner außerordentlichen Popularität. Und doch wurde die Fremdheit der Gesänge immer wieder unterstrichen. So schrieb Herder: Wir sind freylich in der ganzen Denkart unsres Jahrhunderts zu weit von Oßian ab. Mehr an eine Kette raffinirter Vorstellungen, leichter Abstraktionen, angenehmer pensées und Reflexionen gewöhnt, als an den rauhen Schrey der Leidenschaft, kühner Hinwürfe einer starkgetrofnen Einbildung, und einer wüsten, starken Gestalt der Seele – haben sich bey uns in Denkart, Ausdruck und Gestalt der Sprache auch ganz andre Seelenkräfte entwickelt […] – den Kunstweg hat alles genommen.217

Wie viele andere erfuhr Herder Ossian als »Stimme voriger Zeiten«.218 Er hörte in den Gesängen den letzten Widerhall aus einer verlorenen Epoche, die im Fortschritt der Geschichte, als »die Kunst kam und die Natur auslöschte«, versunken sei.219 Mehr noch als der Begründung ihrer Authentizität diente die Betonung der Fremdheit ihrer kritischen Autorität. Nur als geschichtlicher Fremdkörper konnten sie als Kontrastfolie zur Gegenwart fungieren. Nur so boten sie »unserm verzärtelten Zeitalter einen heilsamen Wink«.220 Und nur so verlieh der Bezug auf den »Vetter Ossian«221 dem Kritiker selbst die Aura eines dichterischen Außenseiters in einer prosaischen Epoche.

216 Ders., Critical Dissertation, S. 3. 217 Herder, [Rezension zu:] Die Gedichte Ossians, S. 440. 218 Ders., Homer und Ossian, S. 100. 219 Ders., Briefwechsel über Ossian, S. 41. Siehe auch: Ebd., S. 42–43. Boswell zitierte seinen Freund und Mentor Thomas Sheridan (1719–1788), der Ossian zum »standard of feeling« erklärt habe, »like a thermometer by which they could judge of the warmth of everybody’s heart«. Doch sei es, merkte Boswell kritisch an, fraglich, ob Sheridan seinen eigenen Test selbst bestehen konnte. Bei all seiner Gelehrtheit und literarurkritischem Geschick ließ er doch ein »real feeling of poetical beauty« vermissen. Sheridan war, meinte Boswell, »a man of very great art who wants do disguise it under the appearance of nature«. Boswell, London Journal, S. 182–183. Siehe zu diesem Thema auch: Kapitel III. 220 Jacobi, Ossian fürs Frauenzimmer, S. 163. Siehe auch: Kosegarten, Das Hünengrab . 221 Claudius, Ich wüßte nicht warum?, zit. n. W. G. Schmidt, ›Homer des Nordens‹, Bd. 4, S. 277. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Die Bezugnahme auf die autoritative Stimme des keltischen Barden machte explizit, was zumeist eine implizite sprachliche Strategie des kulturkritischen Diskurses war. Das verbreitete Geschichtsnarrativ der Sprachaufklärung bildete einen Horizont, vor dem bestimmte Sprachelemente ein früheres, ursprüng­ licheres  – und in vieler Augen glücklicheres  – Zeitalter evozierten. Ihre Verwendung signalisierte dem zeitgenössischen Publikum – auch ohne dass darauf explizit hingewiesen werden musste  – eine Distanz zwischen dem Autor und seiner Epoche. Dies war die Funktion der typischen, ›poetischen‹ Prosa der Kulturkritik. Indem der Kritiker einen begeisterten Ton anschlug, indem er in weit ausgesponnener Metaphorik den Verfall der zeitgenössischen Kultur anprangerte, setzte er ein stilistisches Zeichen. Er markierte seine Rede als Widerwort gegen den korrumpierten Geist der Moderne und ihrer Sprache.

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V. Das neue Denken und die kritische Besinnung Noch hat die Aufklärung keine Selbständigkeit erhalten. Ihre Geschichte verwickelt sich ganz in den Wirbel der Zeit. Sie läßt sich vor- und rückwärts wälzen, und stimmt sich nach dem Ton des herrschenden Geistes […]. Aufklärung gegen Aufklärung. Rupert Kornmann1

Die Frage ›Was ist Aufklärung?‹ steht nicht nur im Zentrum der Aufklärungsforschung. Auch die Epoche, die wir heutzutage so bezeichnen, hat sich sie immer wieder gestellt.2 Am berühmtesten ist wohl die Antwort Kants, Aufklärung sei »der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«, und der damit verbundene Wahlspruch »Sapere aude!« Sie entstand im Rahmen einer mehrjährigen Debatte in den Blättern der »Berlinischen Monatsschrift«, an der auch Moses Mendelssohn (1729–1786) und viele andere prominente Vertreter der deutschen Aufklärung beteiligt waren.3 Weniger bekannt als diese Antwort Kants ist der Kontext, in dem die Frage aufgeworfen wurde. Ihre maßgebliche Formulierung erfolgte in einem Aufsatz Johann Friedrich Zöllners (1752–1804), der wiederum aus Anlass von einem einige Monate zuvor in den Blättern der genannten Zeitschrift erschienenen »Vorschlag, die Geist­ lichen nicht mehr bei Vollziehung der Ehen zu bemühen« entstand. Dieser Text enthielt ein Plädoyer für die Zivilehe und gegen die Einmischung der »allent­ halben sich zudrängenden regiersüchtigen Geistlichkeit«. Sein Autor, der sich hinter dem Kürzel E.v.K. verbarg, war Johann Erich Biester (1749–1816), zusam 1 Kornmann, Die Sibylle der Religion, S. 110. 2 Der Romanist Werner Kraus hat die Besinnung auf ihr eigenes Wesen als eins ihrer charakteristischen Merkmale angesehen: »Als Kriterium der geschichtlichen Epochenbegriffe kann nur dann seine Verankerung im Bewußtsein einer Epoche gefordert werden, wenn sie zum geschichtlichen Selbstbewußtsein gelangt ist. Seit dem 18.  Jahrhundert ist diese große Wendung eingetreten.« Krauss, Französische Aufklärung, S. 168–169. Siehe auch: ders., Der Jahrhundertbegriff, S. 29–32. 3 Kant, Was ist Aufklärung?, S. 481. Siehe auch: ders., Was heißt: sich im Denken orientiren?, S. 329: »Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung.« Vgl. Stuke, Aufklärung, S. 265–274. Die Beiträge zu dieser Debatte sind zusammengeführt worden in: Hinske, Was ist Aufklärung?. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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men mit Friedrich Gedike (1754–1803) Mitherausgeber der »Monatsschrift« und Sekretär der berühmten Berliner Mittwochsgesellschaft.4 Zöllner – zu dieser Zeit Diakon der Berliner Marienkirche – kehrte sich in seiner Antwort unter dem Titel »Ist es rathsam, das Ehebündniß ferner durch die Religion zu sancieren?« entschieden gegen Biesters antikirchlichen Vorschlag. Seiner Ansicht nach war die Heiligkeit der Ehe ein wichtiges Band, das den Zusammenhalt der Gesellschaft, auch wenn alle anderen Stricke reißen würden, noch garantiere. Gerade jetzt, in »unsern Zeiten«, schreib Zöllner, sei das umso wichtiger. Es folgte eine seitenlange Auseinandersetzung mit der sittlichen Korruption des Jahrhunderts, in dem die Literatur den Menschen die »allerverworfensten Principien« beibringe, »sogenannte[] Philosophen« eine lasterhafte Libertinage verbreiteten und »fast keine väterlandische Sitte mehr übrig [sei], die von französische Alfanzerein noch verdrängt werden könnte«.5 Der Aufsatz gipfelte in der dunklen Vermutung, die wohltuende Wirkung der Kirche würde, wenn man weiterhin »so kräftige Maßregeln anwendet, die ersten Grundsätze der Moralität wankend zu machen, den Werth der Religion her­ abzusetzen, und unter dem Namen der Aufklärung die Köpfe und Herzen der Menschen zu verwirren«, immer weiter zurückgedrängt werden.6 In einer Fußnote zum letzten Satz formulierte der Autor schließlich die Frage, die eine langjährige Debatte in der »Berlinischen Monatsschrift« auslöste und bis heute der Ausgangspunkt unterschiedlichster Studien zum Begriff der Aufklärung, deren Sache und Aktualität darstellt: Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit, sollte doch wol beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! Und noch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden!7

Zöllners Frage entstammte der Wahrnehmung eines weitreichenden kulturellen Wandels und der Sorge um ihn. Das Wort Aufklärung spielte seiner Ansicht nach in dieser Entwicklung eine zentrale Rolle. Ob die Aufklärung eine Bewegung, ein Prozess oder eine Epoche sei, ob es ihrer nur eine oder mehrere gebe, wann, wo und bei wem sie zu verorten sei, war zu dieser Zeit unentschieden – und ist es in vielerlei Hinsicht immer noch.8 Der Grund aber, dass diese Mehrdeutigkeit so stark als Problem empfunden wurde, das die Frage auf das Niveau der Pilatusfrage erhob und eine langjährige Debatte auslöste, war, dass sie eine konkrete kulturelle Gefahr darstellte. Weil die Bedeutung des Namens Auf­ klärung nicht geklärt sei, könne er als Schlagwort eingesetzt werden. Aufgrund 4 Biester, Vorschlag, S. 266. Vgl. Hinske, Einleitung, S. xxxvii–xlvi. 5 Zöllner, Ist es rathsam?, S. 509–510. 6 Ebd., S. 516. 7 Ebd. 8 Vgl. einführend: Borgstedt, Das Zeitalter der Aufklärung. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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seiner Mehrdeutigkeit verwirre der Begriff Aufklärung die »Köpfe und Herzen« und sei er eine Waffe in den Händen ihrer Gegner geworden. Vor diesem Hintergrund entfaltete sich eine Debatte, die von Anfang an über die bloße Klärung einer Definitionsfrage weit hinausging. Sie war nicht bloß semantisch, eine unbedeutende Wortklauberei, sondern entstammte dem Unbehagen an einer bestehenden Sprachpraxis, die den gegensätzlichen Definitionsversuchen vorausging und motivierte.9 Sie bildete eine höchstaktuelle Auseinandersetzung mit einem etablierten Begriffsgebrauch, der in den Augen der Zeitgenossen unmittelbare und weitreichende sozialkulturelle Auswirkungen hatte. Sie fragte also nicht nur nach einer richtigen Begriffsbestimmung, sondern suchte in immer neuen Anläufen die wahre Aufklärung, weil nur diese ihr unwahres Gegenstück entlarven könne.10 In gewisser Weise hat sich diese Situation bis heute nicht grundsätzlich geändert. Zöllners Frage bleibt lebendig.11 In der Aufklärungsforschung wird sie mit jeder Forschergeneration  – bzw. mit jedem turn  – neu beantwortet. Ihre spezifische Formulierung wird dabei immer wieder abgewandelt: Was ist Aufklärung? Was war Aufklärung? Wo ist Aufklärung? Wie ist Aufklärung? Wessen ist Aufklärung? Was sind Aufklärungen? What is Enlightenment? What is ­enlightenment? Was ist die Aufklärung der Historiker? Was ist Dialektik der Aufklärung? Und natürlich auch: was ist Gegenaufklärung?12 Dabei tendiert die Aufklärungshistoriographie der letzten Jahrzehnte zu einer fortschreitenden Pluralisierung der Fragestellungen, Themenfelder und Methoden. Die politisch und ideologisch motivierte Auseinandersetzung mit der Aufklärung als Teil der eigenen geschichtlichen Identität, welche die Forschung lange Zeit dominierte, hat einem eher nüchternen, fachlichen Umgang mit dieser Epoche Platz gemacht. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihm lässt sich thematisch und methodisch eher von ihrer internen Dynamik als von breiteren gesellschaftlichen Fragen und Problemen anregen. Aus diesem Grund kennzeichnet sich die gegenwärtige Forschungslandschaft durch ihre perspektivische und thematische Vielfalt ebenso wie durch die Aus­sparung einer holistischen Metaperspektive. Ob diese Fragmentierung der Sache der 9 Siehe auch: Salzmann, Carl von Carlsberg, Bd.  3, S.  85; Von Archenholz, Sitten­ aenderungen, S. 69. 10 Die Formulierung orientiert sich an Werner Schneiders’ klassischer Studie zur deutschen Debatte: Schneiders, Die wahre Aufklärung. Nebenbei sei erwähnt, dass dieselbe Unter­scheidung auch in der Abgrenzung der deutschen Philosophen von den französischen philosophes eine Rolle spielte. Vgl. Stuke, Aufklärung, S. 283–289. 11 Vgl. einführend: J. Schmidt, What is Enlightenment?; Zimmermann, Aufklärung  – Epochendiskurs und Projekt der Moderne. 12 Siehe beispielsweise: Vierhaus, Was war Aufklärung?; Mayer, Deutsche Geschichte, S. 10; Lilla, What is Counter-Enlightenment?; Wolin, The Seduction of Unreason, S. 1–4; Kontler, What is the (Historians’) Enlightenment Today?; McMahon, What are ­Enlightenments? © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Aufklärung in der Tat besser gerecht wird, als die ideologisch bzw. ideologiekritisch motivierte Forschung früherer Jahrzehnte, bleibt eine offene Frage. Für den Begriff der Aufklärung hat sie zur Folge, dass er aus dem Zentrum der Forschung zu verschwinden scheint. Gesamtinterpretationen der Aufklärung und analytische Auseinandersetzungen mit dem Begriff, wie sie in klassischer Weise von Ernst Cassirer, Paul Hazard, Peter Gay und Panajotis Kondylis vorgelegt wurden, haben zurzeit keine Konjunktur.13 Immer mehr haben sie – in einer typischen Historikergeste  – der Interpretation unterschiedlicher Aufklärungen Platz gemacht.14 In den neuesten Handbüchern und Übersichtswerken zur Aufklärung wird vor allem ihre Vielfalt betont. Ihre Einheit wird immer mehr nach regionalen, konfessionellen, sozialen und sprachlichen Grenzen zergliedert. Der Fokus liegt auf quellenkritischen und methodischen Spezialproblemen individueller Forschungsgebiete. Die Frage nach Einheit und Wesen der Aufklärung ist größtenteils in Sammelrezensionen und Einleitungen von Sammelbänden ausgewandert.15 Dennoch  – und das ist bedenkenswert  – ist der Terminus Aufklärung nicht verschwunden. Es ist eine Illusion, zu glauben, man könnte sich von einem Wort wie diesem so einfach lossagen. Obwohl sich sein Gebrauch merklich geändert hat, ist es ebenso Teil des alltäglichen wie des akademischen Sprachgebrauchs. Versuche, die Epoche – in aller ihrer Vielfalt – zu beschreiben, bleiben auf das Wort Aufklärung angewiesen. Diese Beobachtungen weisen starke Analogien auf mit dem, was anfangs über den Begriff Kulturkritik gesagt wurde. Beide Begriffe haben in letzter Zeit eine differenziertere Gestalt angenommen und sind in den akademischen Alltag integriert worden. Ihre frühere tonale Prägnanz lässt dabei merklich nach. Sie sind nicht völlig verschwunden, fristen aber ein etwas schattenhaftes Dasein. Dies ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer allgemeinen kulturellen Tendenz, die sich aber gerade dadurch auszeichnet, dass sie sich nicht leicht auf den Punkt bringen lässt. Die vorliegende Studie begreift diese Situation, wie oben er­örtert, nicht als unlösbares Problem, sondern vielmehr als Chance und Herausforderung, einen doppelten Erkenntnisgewinn zu erzielen. Einmal indem gerade jetzt, im Schatten der Aufklärung, die Möglichkeit gegeben ist, ihre Einheit – mit den Mitteln der historischen Semantik – neu zu fassen. Andermal indem der Schwund der geschichtlichen Kategorien selbst als symptomatisches Phä 13 Cassirer, Philosophie der Aufklärung; Hazard, La crise de la conscience européenne; P. Gay, The Enlightenment; Kondylis, Die Aufklärung. Eine eminente Ausnahme bildet das Werk Jonathan Israels: Israel, Radical Enlightenment, insbes. S. v–vi. Siehe auch: ders., ­Enlightenment! Which Enlightenment?; ders., Enlightenment Contested; ders., Revolution of the Mind; ders., Democratic Enlightenment. 14 Vgl. dazu: Robertson, Do we need more than one Enlightenment? 15 Vgl. schon: Dieckmann, Themen und Struktur, S. 1–13. Eine wichtiger Schritt in diese Richtung war: Jüttner und Schlobach, Europäische Aufklärung(en). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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nomen aufgefasst wird, deren präzisere Bestimmung uns einen wichtigen Hinweis auf den Charakter unserer eigenen Zeit gibt. Jetzt, da die Kraft, welche die ›großen Geschichtsnarrative‹, ihre Grundbegriffe und Gegensätze auf uns ausübten, allmählich nachlässt, werden wir auf die semantische Gegend verwiesen, in der sie sich bewegten. Die historische Semantik bietet die Mittel, diese überlieferten Gegensätze weder zu ignorieren noch unmittelbar in ihnen verstrickt zu bleiben. Stattdessen können sie als semantische Grundfiguren eines Diskurses aufgefasst werden, als Markierungen eines im Wandel begriffenen semantischen Horizonts, der unsere Lebensform ausmacht und orientiert. Kulturkritik und Aufklärung sind in vielfacher Weise eng miteinander verknüpft: weil der kulturkritische Diskurs in der ›Epoche der Aufklärung‹ aufkam; weil in ihm das Wortfeld um ›Aufklärung‹ eine bedeutsame Rolle spielte; weil er sowohl thematisch als formal eng mit der spezifischen Wissensform und -ordnung der Aufklärung zusammenhing; schließlich weil die beiden Begriffe heutzutage einen analogen semantischen Prozess der Differenzierung und Prägnanzverlust durchmachen. Dieses Kapitel ist dem komplexen Zusammenspiel dieser vielfältigen Dimensionen gewidmet. In seinem Mittelpunkt steht dabei die Frage nach einem gleichzeitig präzisen und differenzierten Verständnis davon, was es heißt, von einer Kulturkritik der Aufklärung zu sprechen. Der erste Abschnitt öffnet mit einer globalen Skizze der Aufklärungs­ semantik im 18.  Jahrhundert. Es wird der Aufstieg von Aufklärung als Epochenbegriff nachgezeichnet und gezeigt, wie solche Verwendungsweisen in der zeitgenössischen Kulturkritik integriert und modifiziert wurden. Eine zentrale Rolle spielte in diesem Zusammenhang die alte, äußerst vielfältige Metaphorik des Lichts. Anhand dieser wird es auch möglich, verschiedene Formen der zeitgenössischen Gegnerschaft gegen die Aufklärung zu unterscheiden und die Frage aufzuwerfen, welche von ihnen zum Diskurs der Kulturkritik zu zählen sind – und welche nicht. (§ 1). In der kulturkritischen Aufklärungsdeutung standen, so wird im zweiten Abschnitt gezeigt, zwei Elemente zentral. Einmal wurde sie als ein spezifischer Erkenntnismodus aufgefasst, als neue, um sich greifende Denkart, die wegen ihres kritischen, negativen, analytischen, irreli­ giösen und generell unzulänglichen Charakters kritisiert wurde. Zum anderen erschien sie auch als neue Wissensordnung, die mit einem grundsätzlichen Wandel der Bedingungen der Produktion und Zirkulation von Wissen ein­ herging. Beide Dimensionen werden hier, speziell im Hinblick auf die Bildung kontrastierender Gegenmodelle im kulturkritischen Diskurs, zu erörtern sein (§ 2). Im letzten Abschnitt wird ein letztes Mal die Frage aufgeworfen, inwiefern die thematische Auseinandersetzung mit der Aufklärung den Diskurs der Kulturkritik auch auf formaler Ebene geformt hat. Es wird zu zeigen sein, wie sich die Kulturkritik, ausgehend von ihrem spezifischen Aufklärungsverständnis, auf eine alternative Wissenskonzeption bezog, die eine kognitiv legitime und © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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rhetorisch überzeugende Konfrontation mit der Epoche der Aufklärung zu ermöglichen versprach. In direkter Abgrenzung vom neuen Denken griff sie dabei auf die alte Tradition des inspirierten Weisen zurück und inszenierte sich als die Rückkehr des Denkers in die abendländische Geschichte (§ 3).

1. Aufklärung und Gegenaufklärung Eine Epoche im Zeichen des Lichts Das Bild des Lichts als Ursprung der Erkenntnis einerseits, des Lebens andererseits ist sicherlich einer der wichtigsten Metaphernkomplexe der abendländischen Kulturgeschichte.16 In der judäo-christlichen Religion stand der Kampf zwischen Licht und Finsternis im Herzen der Eschatologie. Als Jesus sich im neuen Testament als das »Licht der Welt« bezeichnete, schrieb er sich in einen Gegensatz zwischen dem irdischen und dem göttlichen Licht ein, welche die religiöse Sprache bis heute prägt.17 Allmählich entfaltete sich in dieser Metaphorik eine geschichtliche Dimension. Nach der Reformation änderten die Genfer die Devise ihrer Stadt von post tenebras spero lucem zum selbstbewussten post tenebras lux. Damit situierten sie sich selbst im Licht, das nach einer langen Periode der Finsternis in die Welt gekommen sei. Das Selbstverständnis, dem sie damit Ausdruck verliehen, kam nicht nur den Humanisten, sondern auch den späteren Aufklärern entgegen.18 Diese bezogen die Lichtmetaphorik jedoch nicht länger auf eine übernatürliche Quelle. In der nachcartesianischen Philosophie wurde das lumen naturale als Quelle und Kriterium des menschlichen Wissens der göttlichen Erleuchtung geradezu entgegengesetzt.19 Diese Entwicklung setzte sich in der Folge immer stärker durch, so dass die lumières sich eines Lichtes erfreuten, das sie selbst in die Welt gesetzt hatten. Die betonte Weltlichkeit der rationalistischen Lichtmetapher übernahmen sie ebenso wie das von den Reformatoren in Ansätzen formulierte progressive Geschichtsverständnis. Es bildete sich allmählich ein Selbstbild heraus, das die eigene Identität in eine geschichtliche Bewegung der sich ausbreitenden Erleuchtung der Welt situierte. Vor diesem Hintergrund kam es seit dem 17. Jahrhundert immer wieder zu epochalen Deutungen des Lichts als Kenn­zeichen des eigenen Zeitalters. 16 Vgl. K. E. Becker, Licht, S. 1–146; Kreuzer, Licht. 17 Joh. 8, 12. 18 d’Alembert, Genève, S. 578A. 19 Vgl. zu diesem Thema: Blumenberg, Licht als Metapher der Wahrheit; Mortier, »Lumière«; Gusdorf, Lumières; Im Hof, Enlightenment; Reichardt, Lumières versus Ténèbres; Schneiders, Images of Light; Kneißl, Republik im Zwielicht, S. 1–5, 25–54. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Die Epoche der Aufklärung hat ihren Namen erst im Rückblick erhalten. Die epochalen Bezeichnungen, die heute allgemein für das 18. Jahrhundert benutzt werden, sind erst im 19. entstanden. Das gilt für die Aufklärung ebenso wie für the Enlightenment und den Siècle des Lumières.20 Dennoch ist die Diskrepanz zwischen dem damaligen und dem heutigen Sprachgebrauch insofern nur relativ, als auch die Zeitgenossen selbst ihre epochale Selbstbestimmung im Vokabular der Lichtmetaphorik artikulierten. Schon 1684 schrieb Pierre Bayle (1647–1706): »Ainsi nous voilà dans un Siecle qui va devenir de jour en jour plus éclairé, de sorte que tous les Siecles precedens ne seront que tenebres en comparaison.«21 Im 18. Jahrhundert wurden solche Verwendungen immer geläufiger, so dass spätestens ab der Jahrhundertmitte das Licht allgemein als Signum der eigenen Zeit verstanden wurde.22 Diese Semantik ist allzu bekannt, als dass sie hier noch mal ausführlich dargestellt werden müsste. Ein einzelnes Beispiel genügt, das Feld zu umreißen. Paul Thiry d’Holbach (1723–1789), selbst ein radikaler philosophe und Brennpunkt der von Rousseau so inbrünstig gehassten coterie holbachique, schrieb in seinem »Système social« (1773): Tout homme qui voudra jetter un coup d’œil attentif sur la plupart des contrées de l’Europe, ne pourra s’empêcher d’y reconnoître les effets les plus sensibles du progrès des lumieres. Ce que nous voyons est fait pour nous consoler, & nous permet de croire que les maux des nations ne sont point incurables. Si l’erreur & l’ignorance ont forgé les chaînes des Peuples, si le préjugé les perpétue, la science, la raison, la vérité pourront un jour les briser. L’esprit humain engourdi pendant une longue suite de siècles de superstition & de crédulité, s’est enfin réveillé. Les nations les plus frivoles commencent à penser; leur attention se fixe sur des objets utiles, les calamités publiques forcent à la fin les hommes à méditer, & à renoncer aux vrais jouets de leur enfance.23

Dies war der Fortschritt des Lichts im Selbstverständnis der Aufklärung. Der menschliche Geist habe seine Augen geöffnet, er sei aufgewacht und aufgewachsen. Er habe die frivolen Spielereien seiner Jugend hinter sich gelassen und sich dem Ernst des Lebens gewidmet. Er stehe auf dem Punkt, sich mittels der Verbreitung der Wissenschaft, der Vernunft und der Wahrheit aus den Ketten

20 Vgl. Stuke, Aufklärung, S. 244–247; J. Schmidt, Inventing the Enlightenment. 21 Bayle, Experience curieuse. Bei Charles Sorel (1602–1674) hieß es schon satirisch: »Au reste, ce Siecle est bien éclairé, car on n’y entend parler que de Lumieres; On met par tout ce mot aux endroits où l’on auroit mis autrefois l’esprit ou l’intelligence, & il arrive souvent que ceux qui se servent de ce mot l’appliquent si mal, qu’avec toutes leurs lumieres, on peut dire qu’ils ne voyent goutte.« Sorel, De la connoissance, S. 454–455. 22 Siehe beispielsweise: Voltaire, Le siècle de Louis XIV, Bd. 1, S. 1, 30 ; Boncerf, Le vrai philosophe, Préface [o. S.]; Démeunier, Avertissement, S. v. 23 d’Holbach, Système social, Bd. 3, S. 160–161. Siehe auch: Rousseau, Seconde partie des Confessions, Bd. 2, S. 54, 61, 84, 111. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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des Irrtums und der Unwissenheit, der Vorurteile und des Aberglaubens zu befreien.24 Entlang solchen semantischen Mustern bildete sich eine Gruppe epochaler Bezeichnungen, die das eigene Zeitalter im Sinne eines kognitiven Fortschritts darstellten. So konnte das Zeitalter der Aufklärung auch ein Zeitalter der Vernunft, der Philosophie oder der Wissenschaft heißen.25 Wissen, Erkenntnis, Vernunft und Philosophie waren in diesem Lichte nicht länger nur menschliche Fakultäten oder spezifische soziale Bereiche, sie wurden metonymisch auf die gesamte Kultur bezogen. Der philosophische Geist beherrsche das Zeitalter, so dass, wie Sénac de Meilhan schrieb, »Il en caractèrise toutes les productions & celles même, auxquelles par leur genre il paroît le plus étranger«.26 Der triumphale Tonfall und die bis zum Überdruss wiederholten Sprach­ muster dieses Diskurses ließen sich leicht parodistisch verkehren.27 Der blinde Optimismus und die überhebliche Selbstschätzung des philosophe wurden sprichwörtlich. Sie machten ihn zu einem beliebten Typus der satirischen Literatur. Ihm wurden die philosophischen Signalwörter in grotesk vergrößerter Gestalt – ertränkt in einem Meer von Ausrufezeichen, Gedankenstrichen und Interjektionen – in den Mund gelegt. Neben solche leichtfüßigen Karikaturen stellten sich aber ebenso viele genuin verärgerte Widerreden. Auch diese waren an die stereotype Figur des philosophe gekoppelt, behandelten ihn aber weniger im Modus der lächerlichen Übertreibung denn als Repräsentant einer Epoche im Verfall. Ein Paradox solcher Kritik war, dass sie die Selbstinszenierung der aufklärerisch gesinnten Autoren in wesentlichen Teilen übernahm. Deren positive Einschätzung des eigenen Zeitalters hing unmittelbar mit ihrer Auffassung der eigenen, geschichtlichen Rolle zusammen. Was sie wollten, was sie taten, wofür sie standen, waren ihrer Selbstdarstellung zufolge nicht einfach nur die Partikularziele eines Einzelnen oder einer Gruppe; es war die Richtung der Zeit selbst, 24 Rückblickend rechnete der amerikanische Theologe Samuel Miller (1769–1850) »that continual prating about the ›energies and progress of Mind,‹ the ›triumph of Reason,‹ the ›perfectibility of Man,‹ &c., which was never before so loud and frequent« zu den ärgerlichsten Eigenschaften des 18. Jahrhunderts. Miller, A Brief Retrospect, Bd. 3, S. 312–313. 25 Fontenelle, Réponse, S. 165; d’Alembert, Discours préliminaire, S. xxx; ders., Essai sur les Élémens de Philosophie, S. 2–3; Diderot, Encyclopédie, S. 636A; Gibbon, L’étude de la littérature, S. 83–87; Herder, Auch eine Philosophie, S. 486; Schiller, Universalgeschichte, S. 119; Paine, Rights of Man, S. 82; Moritz, Vorlesungen über den Styl, Bd. 2, S. 241–244; [Von Hendrich], Geist des Zeitalters, S. 3–4; 57–58; Reinhold, Geist des Zeitalters; Nicolai, Über das itzige verderbte Zeitalter, S. 106; L. P. de Ségur, L’esprit du siècle, S. 384. Vgl. Krauss, Der Jahrhundertbegriff, S. 12; Gembicki, Siècle, S. 245–247, 254–259. 26 Sénac de Meilhan, Du gouvernement des mœurs, S. 113. 27 Borde, Profession de foi philosophique, S.  29; Béliard, Lettres critiques, S.  37–39; ­Schubart, Wunden unsers Jahrhunderts, S.  281–282; Sabatier de Castres, Lettre VII; Coleridge, On the Constitution, S. 5–6. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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die in ihnen zum Ausdruck kam. »Conformez-vous aux temps«, rief Voltaire seinen Zeitgenossen zu, die Autorität der Geschichte selbst für sich in Anspruch nehmend.28 Die philosophes verstanden sich als Streitkräfte im Dienste der Zukunft. Sie kämpften gegen die Vergangenheit, in der sie auch ihre zeitgenössischen Gegner verorteten. Nur sie selbst befänden sich auf der Höhe der Zeit und wirkten in ihrem Sinne. Als Jean-Baptiste Suard (1733–1817) am 4.  August 1774 in die Académie ­française aufgenommen wurde, wurde dies in aufklärerischen Kreisen als wichtiger Erfolg gefeiert. Noch zwei Jahre zuvor war seine Wahl nach Einflussnahme ihrer Gegner vom König annulliert worden. Dass dieser Suards Eintritt in die zentrale literarische Institution des Ancien Régime jetzt doch gewährte, konnte deswegen als definitiver Durchbruch der Aufklärung in die höchsten Kreisen der Gesellschaft ausgelegt werden. In seiner Antrittsrede stilisierte Suard sich ausdrücklich als philosophe und feierte seine Wahl selbstbewusst als Sieg des Guten über die Kräfte »du faux zèle, de l’intrigue et de la corruption«.29 Er setzte sich ausführlich mit den üblichen Argumenten der Aufklärungs­ gegner auseinander, der philosophische Geist sei schädlich für Kunst, Religion, ­Monarchie und Sitten, und schilderte das 18. Jahrhundert als Schauplatz einer »heureuse révolution« aufgrund der »progrès des lumières«.30 Die Helden dieses Fortschritts seien die philosophes, eine geistige Elite weitsichtiger Literaten, welche die opinion publique auf das Gemeinwohl ausrichte und das Volk lehre, glücklich zu sein.31 Sie seien nicht nur die Urheber der Zeichen der Zeit, sondern vor allem auch deren angewiesene Interpreten. Ihre Ziele entstammten nicht ihrer eigenen Interessen, sondern der Einsicht in die notwendige Entwicklung des menschlichen Geistes, die von Suard mit dem Wachstum einer Pflanze verglichen wurde: […] car la philosophie est l’effet nécessaire des progrès de l’esprit humain; en vain voudrait-on la faire retourner en arrière, ou suspendre sa course, on ne ferait que détruire le principe même de son activité: c’est une plante dont on ne peut arrêter la végétation sans la faire périr.32

In seiner Besprechung der Antrittsrede in der »Correspondance littéraire« übernahm Grimm viele Elemente der von Suard verwendeten Semantik.33 Auch er verstand die Handlungen der philosophes als Ausdruck eines allgemeinen 28 Voltaire, Conformez-vous aux temps. 29 In etwas gekürzter Form wurde sie veröffentlicht als: Suard, Du progrès des lettres. Siehe Ebd., S. 380–381. 30 Ebd., S. 399. 31 Ebd., S. 400–406. Siehe auch: Voltaire, Conformez-vous aux temps, S. 155. 32 Suard, Du progrès des lettres, S. 382. 33 Zur »Correspondance« unter kommunikationsgeschichtlicher Perspektive, vgl. Abrosimov, Die Genese des Intellektuellen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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­ eistes der Philosophie und die fortschreitende Ausbreitung seiner Herrschaft G als schicksalhafte Notwendigkeit. Se déchaîner donc contre le siècle, parce qu’il est le siècle de la philosophie, c’est se déchaîner contre les arrêts de la nécessité, c’est se révolter contre la loi qui régla de toute éternité la marche et la conduit de l’esprit humain. Nous sommes plus philo­ sophes que nos pères, parce que nous sommes venus après eux; nous les sommes, parce que nous ne pouvons pas être autre chose […].34

Im Gegensatz zum neuen Akademiemitglied aber stellte sich Grimm die Frage, ob es denn wirklich so wünschenswert sei, in einem philosophischen Zeitalter zu leben. Die suardsche Wachstumsmetapher ad absurdum führend, fragte er sich: »comment nous applaudir de notre profonde sagesse, sans regretter un peu les douces erreurs du bel âge, sans craindre surtout d’approcher bientôt du terme où l’on ne fait plus que radoter?«35 Wie viele seiner Zeitgenossen zweifelte Grimm nicht an der Faktizität der Herrschaft des philosophischen Geistes, wertete sie aber letztendlich als Verlust. Die Verbreitung des Lichts in allen Lebensbereichen habe nicht nur viel Neues gebracht, sondern auch Vieles zerstört. Insbesondere der Verlust der Unmittelbarkeit lebendiger Erfahrung im Prozess fortschreitender Rationalisierung habe, so Grimm, nicht nur negative Auswirkungen auf die Kunst, sie beeinträchtige das allgemeine Lebensglück der aufgeklärten Menschheit. Die rationale Besonnenheit des philosophischen Geschmacks habe den Enthusiasmus zerstört, welche für wahrlich große Taten im Guten und im Schlechten er­ forderlich sei. Die abstrakte Einsicht in wohlverstandenes Eigeninteresse und gesellschaftlichen Nutzen habe die unmittelbaren Affekte verdrängt, so dass der moderne Mensch die Menschheit im Ganzen liebe »pour ne plus avoir la peine d’aimer personne en détail«.36 Möglicherweise erinnerte sich Grimm bei diesen Überlegungen auch an ein Ereignis, das ihn fast zwanzig Jahre zuvor zu ähnlichen Betrachtungen angeregt hatte. Damals hatte er in seiner »Correspondance« von einem Treffen am 5. Januar 1757 mit seinem Freund Diderot berichtet.37 Die Freunde hatten sich über den Zeitgeist unterhalten. Diderot zeigte sich, wie gewohnt, als ein eloquenter Verteidiger des philosophischen Programms. Alle Gemeinplätze des Diskurses 34 [Grimm], Paris, août 1774, S. 381. 35 Ebd., S. 382. Siehe auch: ders., Paris, avril 1774, S. 318. 36 Ders., Paris, août 1774, S. 382–388. Die Formulierung paraphrasiert einen Satz aus der ersten Fassung des »Contrat Social«: »Par où l’on voit ce qu’il faut penser de ces prétendus cosmopolites qui, justifiant leur amour pour la patrie par leur amour pour le genre humain, se vantent d’aimer tout le monde, pour avoir droit de n’aimer personne.« Rousseau, De la ­société générale, S. 296–298. Siehe auch: Herder, Auch eine Philosophie, S. 551; anon., New Morality, S. 188–189. 37 [Grimm], Paris, 15 janvier 1757, S. 81. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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passierten Revue: die Liebe zum Guten, die Macht der Tugend, die Herrschaft der Vernunft und der unaufhaltsame Fortschritt des philosophischen Geistes.38 Er lobte das Zeitalter und zeigte sich, in der Paraphrase Grimms, zuversichtlich, dass »l’empire doux et paisable de la philosophie va succéder aux longs orages de la déraison, et fixer pour jamais le repos, la tranquillité et le bonheur du genre humain«.39 Schon zu dieser Zeit konnte Grimm das sprachliche Register solcher Über­ legungen bei seinen Lesern als bekannt unterstellen, so dass er es in seiner Schilderung der Szene nur noch andeuten musste. Wenn das 18.  Jahrhundert sich bisher durch irgendetwas auszeichne, bemerkte er ironisch, dann nicht durch eine bestimmte Leistung oder geistige Revolution, sondern lediglich durch die unzähligen Lobgesänge, die es auf sich selbst angestimmt habe.40 Er selbst war aber nicht davon überzeugt, dass das Zeitalter der Vernunft angebrochen sei. In Wirklichkeit, meinte er, halte eine »barrière invincible« den Fortschritt der Vernunft auf. Die Wahrheit, welche »un petit nombre d’élus« für sich ergattern, bleibe für die Menge fruchtlos. Wenn überhaupt bestimmte Fortschritte gemacht worden seien, so seien sie vorübergehender Natur. Wie die historische Erfahrung lehre, stehe nunmehr eine »revolution sinistre« bevor, welche die kurze Sternstunde der Vernunft wieder verdunkeln würde. Darüber hinaus seien die Kampfplätze des Siebenjährigen Krieges wohl kaum ein Zeichen dafür, dass das goldene Zeitalter angebrochen sei. »Si c’est là le siècle de la philosophie, que nous sommes à plaindre!« Wie um dem noch einmal Nachdruck zu verleihen, be­ endete er den Bericht seines Gesprächs mit Diderot mit einer plötzlichen Wendung: »J’achevais de parler, lorsqu’un valet à l’air effaré entre dans le chambre où nous étions, et nous crie d’une voix tremblante et étouffée: Le roi est assassiné.«41 Der Romanist Roland Mortier hat solche Texte mit Hinweis auf den sprichwörtlichen »pessimisme naturel« Grimms einerseits und auf eine generelle »crise de confiance« im Lager der philosophes andererseits erklärt.42 Nach dem Warum von Grimms Äußerungen fragend, musste seine Antwort eine biographische bzw. prosopographische sein. Aus diskursanalytischer Sicht stellt sich aber, wie erwähnt, vielmehr die Frage nach dem Wie des Gesagten. Abgesehen von den Gründen, die Grimm gehabt haben mag, sich gegen die Zuversicht der philosophes zu kehren, ist die Art und Weise, wie er seine Kritik artikulierte eine spezifische, die sich nur im Horizont des diskursiven Kontexts verstehen lässt.

38 Ebd., S. 82. 39 Ebd., S. 80. 40 Ebd., S. 79. 41 Ebd., S.  84. De facto wurde der König nur leicht verletzt. Der Attentäter, Robert ­François Damiens (1715–1757), wurde öffentlich gevierteilt und verbrannt. Vgl. Van Kley, The Damiens Affair. 42 Vgl. Mortier, Ésotérisme et lumières, S. 79–83. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Aus dieser Perspektive kann der Text als Beitrag zu einer langjährigen Kontroverse um den Begriff des Philosophen gelesen werden. Ebenso wie Suard nach ihm, verstand sich Diderot schon 1757 ausdrücklich als philosophe. Auch Grimm sah ihn so und nannte ihn dementsprechend den »Socrate du siècle.«43 Im liebevollen Porträt, das er von ihm schilderte, schimmerte aber gleichzeitig eine semantische Bruchlinie durch, welche die beiden Freunde trennte. Je trouvais enfin mon philosophe le cinq de ce mois sur le soir; il était seul et dans un de ces momens de calme, de sérénité et de lumière qui suivent ordinairement la recherche de la vérité, la contemplation de la nature et la méditation sur ses beautés. A ses traits animés par l’imagination la plus séduisante, je reconnus l’apôtre de la vérité […].44

Der Apostel der Wahrheit war zweifellos ein Philosoph, aber war er auch der philosophe für den er sich selbst hielt? In seinem Bild von Diderot unterschied Grimm zwischen zwei Gestalten. Allererst war da die Figur des philosophe, mit der die gesellige Welt inzwischen bekannt war. Dieser war der Parteigänger der Menschheit und des Fortschritts. Er war es, der die altbekannten, zuweilen etwas abgeschmackt wirkenden Lobeshymnen auf sein Jahrhundert anstimmte und sich der »douce illusion« hingab, mit dem philosophischen Zeitalter sei das goldene Zeitalter der Menschheit angebrochen.45 Obwohl Grimm die zuversichtliche Rhetorik der philosophes nicht ohne Sympathie paraphrasierte, meinte er dennoch: »le vrai philosophe a malheureuse­ ment des notions moins consolantes et plus justes.«46 Grimms Blick auf seine Zeit war ein anderer. Entscheidend für die Struktur seiner Darstellung war, dass er von einem alternativen Philosophiebegriff ausging, der nicht nur die philosophes, sondern auch seinen Freund Diderot in einem anderen Licht erscheinen ließ. Die philosophes tauchten in Grimms Darstellung vor allem als eloquente Redner auf; sie redeten viel und gerne von Vernunft, Tugend, Glück und Menschenliebe; sie stimmten Lobgesänge auf das Zeitalter an; sie waren eine Gruppe, die so lautstark und zahlreich war, dass ihre Schlagwörter in der zeitgenössischen Öffentlichkeit den Ton angaben. Doch waren sie nicht ohne Fehler. Vor allem überschätzten sie die Rolle des Philosophen in der Gesellschaft. Für sie war der Philosoph der Vertreter eines allgemeinen Geistes, der zur Herrschaft über das Jahrhundert berufen sei, diese in gewisser Weise sogar schon angetreten habe. Auch Diderot war dieser Vorstellung verhaftet und ver 43 Vgl. zur Sokrates-Figur: Trousson, Socrate devant Voltaire; Ferret, La fureur de nuire, S. 373–378. 44 [Grimm], Paris, 15 janvier 1757, S.  81–82. Siehe auch: Rousseau, Dernière réponse, S. 63–64. 45 [Grimm], Paris, 15 janvier 1757, S. 82. 46 Ebd., S. 80–81. Siehe auch: ders., Paris, le 15 mai 1758, S. 242–243. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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kannte damit in den Augen Grimms nicht nur das Zeitalter, sondern auch sein eigenes Wesen. Denn Diderot war für Grimm in der Tat ein Philosoph, sei es auch in einem anderen Sinne, als dieser selbst meinte. Der Philosoph als Apostel der Wahrheit zeichne sich durch drei zentrale Merkmale aus, die jeweils durch eine Gruppe von Signalwörtern angedeutet wurden, welche ihn in eine lange Tradition einreihten. Zunächst war er eine strukturelle Ausnahme.47 Die philosophischen Weisen seien der vulgären Menge gegenüber von jeher eine privilegierte Elite von Auserwählten gewesen.48 Die Philosophie sei eine Macht, die im Verborgenen, abseits des Zeitgeschehens und der Öffentlichkeit wirke: »elle inspire de siècle en siècle un petit nombre d’hommes supérieurs; mais sans fruit pour le genre humain qui n’a jamais admis et honoré que les missionnaires du mensonge et de l’imposture.«49 Demnach sei sie in jedem Zeitalter vorhanden, könne aber, ihrer essenziellen Exklusivität wegen, nie zum Gesamtgeist eines Zeitalters aufsteigen. Zweitens zeichne sich der wahre Philosoph Grimms durch seinen natür­ lichen Ort aus. Wie im dritten Kapitel erörtert, bildete die Zugehörigkeit zur geselligen Welt ein wesentliches Element der (Selbst-)Darstellung der philosophes. Die neue Philosophie sei Weltweisheit. Sie bilde sich in der Welt und für sie: »La Philosophie est venue du Ciel sur la terre pour y habiter & la gouverner.«50 Der philosophe honnête homme, wie er nach der Jahrhundertmitte zuweilen hieß, war demnach ein Philanthrop in doppeltem Sinne.51 Einerseits, weil seine Philosophie im Dienst der Welt stand, auf den praktischen Nutzen des Gemein­ wesens und der Verbesserung konkreter Lebensumstände ausgerichtet. Andererseits, weil er für ›die Welt‹ – im Sinne der mondänen Kreise – philosophierte und sich ihrer höflichen Umgangsformen gewandt bedienen konnte. Der wahre Philosoph aber fühlte sich in der großen Welt nicht heimisch. Stärker noch: Diderots wahres, philosophisches Wesen könne in den leicht­ füßigen, flüchtigen Konversationen in »ces cercles de Paris, que l’oisiveté et l’ennui multiplient et renouvellent sans cesse« überhaupt nicht zum Ausdruck kommen. In solchen »assemblées frivoles« herrsche der alberne Witz über die Wahrheit. Diese jedoch erfordere die Ruhe eines kleinen, auserlesenen Kreises 47 Vgl. Schneiders, Zwischen Welt und Weisheit. 48 »Sur huit cent mille habitans que contient la ville de Paris, à peine en trouverez-vous quelques centaines qui s’occupent des lettres, des arts et de la saine philosophie; tout le reste est absorbé dans l’erreur et dans le fanatisme qu’elle engendre, ou dégradé par l’oisiveté, la paresse et la satiété des plaisires.« [Grimm], Paris, 15 janvier 1757, S. 83. 49 Ebd., S. 81–82. Und: »Le nom de philosophe s’acquiert à si bon marché! comment tout le monde ne se flatterait-il pas de pouvoir y prétendre?« ders., Paris, août 1774, S. 383. Siehe auch: ders., Paris, le 1er mars 1757, S. 106. 50 [Petiot], De l’opinion, S. 46. 51 Siehe beispielsweise: anon., Le Philosophe, S.  200. Zur Herkunft dieses Ausdrucks: Shank, The Newton Wars, S. 358–361. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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und das besinnliche Gespräch unter guten Freunden, das nur in der zurückgezogenen Einsamkeit aufblühen könne.52 Schließlich charakterisierte Grimm das Wissen des wahren Philosophen wiederholt als Weisheit (sagesse) und den Philosophen als Weisen (sage). Seine Erkenntnisse entsprängen der nüchternen Suche nach Wahrheit und seien das Resultat stiller Kontemplation und Meditation. Nicht nur die Beschreibung des Freundes, auch Grimms autoriale Selbstinszenierung war von dieser Vorstellung des Philosophen gezeichnet. Gegenüber der zu allen Zeiten in Irrtum, Lüge, Vorurteile und Fanatismus verstrickten Menge einerseits und den lautstark die Geburt einer neuen Zeit und eines neuen Menschen feiernden philo­ sophes andererseits stilisierte er sich als den eigensinnigen Verkünder einer »triste vérité«, welche diese beiden Gruppen nicht hören wollten. Die Wahrheit dieser »philosophie trop sombre« sei kein Gemeingut und könne dies nicht sein. Sie bleibe einem kleinen Kreis von Auserwählten vorbehalten.53 Grimms Kritik an den philosophes schwankte stets zwischen zwei Tendenzen. Einerseits hatte sie einen metaphysischen Aspekt: die philosophes, die an der Entstehung eines neuen Menschentypus und den Anbruch einer neuen Geschichtsepoche glaubten, gäben sich einer süßen Illusion hin. Dem Anschein nach mochten sich die Zeiten ändern, »le fond reste toujours le même dans l’homme«.54 Nur der wahre Philosoph sei im Stande, unter der veränderlichen Oberfläche das unveränderliche Wesen des Menschen zu entdecken. Er verstehe die Lehre der magistra vitae und sehe ein, dass jedes Aufkommen unweigerlich in ein Abebben und Absterben münde. Der Standpunkt solcher Kritik war, indem sie sich auf die ewige Wiederkehr des Gleichen bezog, antigeschichtlich.55 Gleichzeitig tauchten  – gerade in Grimms späteren Texten  – auch Motive auf, die einer anderen kritischen Spur folgten und dem modernen Diskurs der Kulturkritik zugerechnet werden müssen. In solchen Zusammenhängen wurde nicht länger das unwandelbare Wesen des Menschen gegen seine wandelbare Gestalt ausgespielt. Es war im Gegenteil die Veränderung dieses Wesens selbst, die als Dekadenz gekennzeichnet wurde. Die Geschichte wurde nicht länger als endlose Aneinanderreihung zyklischer Wiederholungen beschrieben, sondern als Einbruch eines neuen Zeitalters. Im Kontext der Debatte um die Philo­ 52 [Grimm], Paris, 15 janvier 1757, S. 81–82. 53 Ebd., S. 80–81. Kurz vorher hatte er geschrieben: »Ceux qui se persuadent que c’est la sagesse qui gouverne le monde, prouvent par leur croyance qu’ils ne le connaissent guère.« ders., Paris, 15 novembre 1756, S. 62. 54 Ders., Paris, 15 janvier 1757, S. 80. 55 »Il n’y a point de nation illustrée dans l’histoire qui n’ait vécu pendant des siècles dans l’ignorance et dans la barbarie. Trois ou quatre entre elles, dont on a conservé la mémoire ­après mille révolutions, sont parvenues à un âge plus heureux, où la douceur, la politesse, les arts et l’abondance semblaient fixer le bonheur et la gloire. Mais à peine arrivées à cette ­époque, elles ont vu naître d’autres révolutions, qui les ont bientôt ensevelies sous les débris de leur gloire vaine et passagère.« Ebd., S. 80. Siehe auch: ders., Paris, août 1774, S. 382. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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sophie bedeutete das, dass Grimm wesentliche Elemente aus der Selbstbeschreibung der philosophes übernahm. Statt der fruchtlosen Tätigkeit einer äußerst kleinen Gruppe, sei sie das Kennzeichen eines ganzen Volkes, gar des Zeitalters. Sie sei das unumgängliche Schicksal der Epoche.56 Hauptargument dieser Kritiklinie war also nicht länger, dass es so etwas wie eine philosophische Epoche gar nicht geben könne, sondern im Gegenteil, dass der »goût de la philosophie«, welcher das Jahrhundert tatsächlich beherrsche, einen schmerzlichen Verlust für die Menschheit darstelle.57 Was beide Kritikmodi zusammenband, war die Frage nach dem Typus des Philosophen. Wenn das kritisierte Zeitalter ein philosophisches war und die philosophes seine Vertreter, sah sich der Kritiker seines Zeitalters vor ein semantisches Dilemma gestellt. Einerseits war er, der er unter die Oberfläche der Dinge sah und die wesentliche Entwicklung des Zeitalters überblickte, dem traditionellen Verständnis nach eindeutig ein Philosoph. Andererseits war er, der er der philosophischen Richtung des Zeitalters widerstrebte und seinen Repräsentanten, den philosophes, widersprach, kein Philosoph im modernen Sinne. So stellte sich die Frage nach der eigenen Identität des Kritikers in Auseinandersetzung mit dem Wandel des Philosophiebegriffs. Im philosophischen Zeitalter mündete dies in die Aufgabe, sich vom Typus des philosophe abzugrenzen und sich auf die traditionelle Figur des Denkers zurückzubesinnen. Doch bevor dies ausführlicher erörtert werden kann, muss zunächst das spezifische und vielschichtige Verhältnis der Kulturkritik zur Aufklärung geklärt werden. Zu diesem Zweck soll zwischen drei Modi der Gegenaufklärung unterschieden werden.

Gestalten der Gegenaufklärung In der Einleitung ist die einflussreiche, vom Werk Isaiah Berlins ausgehende Forschungstradition des Counter-Enlightenment skizziert worden. Sie skizziert immer wieder eine quasi-transhistorische, ideengeschichtliche Tradition, in deren Mittelpunkt ein festes Set philosophischer Prinzipien stand. Doch kann derselbe Begriff auch in einem anderen, gleichzeitig beschränkteren und konkreteren Sinne verwendet werden, der an zeitgenössischen literarischen Kontroversen orientiert ist. Als die Mitarbeiter und Unterstützer der »Encyclopédie« in den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts anfingen, den Namen philo­sophe für sich in Anspruch zu nehmen, wurden ihre Gegner schon bald als anti 56 »Quel peuple n’a pas commencé par être poète, et n’a pas fini par être philosophe […]?« Und die oben zitierte Stelle über die Unumgänglichkeit des »siècle de la philosophie«. Ebd., S. 381–382. 57 Ebd., S. 383–384. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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philo­sophes bezeichnet. Galt dieser Ausdruck anfangs noch als Schimpfwort,58 wurde er schon nach kurzer Zeit – Titel wie »Pensées anti­philosophiques« (1751) oder »Dictionnaire anti-philosophique« (1771) bezeugen es – zum Ehrennamen und Schlagwort einer mehr oder weniger koordinierten Kampagne gegen das neue Denken.59 Statt der klassischen Werke großer Denker, auf die Berlin sich bezog, rückt aus dieser Perspektive die zeitgenössische literarische Welt in ihrer ganzen Formenvielfalt von Zeitschriften und Pamphleten bis hin zu Wörterbüchern und Schundliteratur in den Blick. Sie reiht sich ein in den von Robert Darnton vorgeschlagenen Fokuswechsel von der High Enlightenment zum Low-Life of ­Literature der Epoche und sucht die Gegner der Aufklärung auf dem Niveau der alltäglichen literarisch-politischen Publizistik ausfindig zu machen.60 Die Gegenaufklärung in diesem Sinne ist keine ideengeschichtliche Tradition, sondern eine mehr oder weniger konkrete Gruppe, welche sich in einem abgegrenzten Zeitraum gegen die philosophes und deren kulturellen Einfluss verbündete. Sie bezieht sich auf militante Priester, konservative Aristokraten, Zensoren, un­ modische Salonnières und widerspenstige Vielschreiber, kurzum auf alle, die von den philosophes ›Fanatiker‹ gescholten wurden. Wer sich die endlosen Literaturmengen über die Aufklärungsbewegung in allen ihren Aspekten vor Augen führt, staunt, wenn er erfährt, wie wenig ihre unmittelbaren Gegner lange Zeit beachtet worden sind. Nach der klassischen Studie Albert Monods über die katholische Apologetik aus dem Jahr 1916 erschien in den folgenden Jahrzehnten nicht viel mehr als vereinzelte Artikel in Enzyklopädien und kurze Exkurse in Monographien über die Aufklärer selbst.61 Noch 1998 musste der Romanist Manfred Tietz feststellen, dass eine »systematische[] Darstellung des gegenaufklärerischen Schrifttums in Europa« weiterhin fehlte.62 Im nächsten Jahr bestätigten die Germanisten Wolfgang Albrecht und Christoph Weiß sein Urteil noch einmal.63 Damit schien dann aber der Startschuss gegeben. Seit der Jahrhundertwende hat sich auf diesem Forschungsfeld viel getan. Als ob verlorene Zeit nachzu­holen 58 Siehe beispielsweise: Diderot, Essai sur les règnes, S.  146; ders., Jacques le fataliste, S. 197. 59 [Allamand], Pensées anti-philosophiques; Chaudon, Dictionnaire anti-philosophique. Vgl. McMahon, Enemies, S. 205. 60 Darnton, The High Enlightenment. Kritisch zu diesem Ansatz: Skinner, On Intellectual History, S. 32. Siehe auch: Darnton, Discourse and Diffusion. 61 Monod, De Pascal à Chateaubriand. Siehe auch: Deprun, Les Anti-Lumières; Domenech, Anti-Lumières; ders., Kampf des Katholizismus; Gumbrecht und Reichardt, Philosophe, Philosophie, S. 24–51. 62 Tietz, Widerstand gegen die Aufklärung, S. 95. 63 Albrecht und Weiß, Was heißt Gegenaufklärung?, S.  8. Zwei tatsächlich kaum be­ achtete Monographien hatten die Autoren übersehen: O’Keefe, Contemporary Reactions; Everdell, Christian Apologetics. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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war, erschienen innerhalb eines Jahres unabhängig voneinander – anscheinend ohne dass die Autoren ihre jeweiligen Projekte gegenseitig zur Kenntnis genommen hätten  – zwei Monographien über die Gegenaufklärung in Frankreich, die ausgehend von ähnlichen Fragestellungen und aufgrund von ähnlichen Quellenbeständen zu ähnlichen Ergebnissen, ja sogar zu ähnlichen Titeln kamen: Didier Masseaus »Les ennemis des philosophes« und Darrin McMahons »Enemies of the Enlightenment«.64 Beide Autoren beschrieben die Gegenaufklärung als einen losen Verband unterschiedlicher Gruppen, die sich nur in ihrer Abkehr vom gesellschaftlichen und kulturellen Aufstieg der philosophes zusammenfanden: Jesuiten um die »Mémoires de Trévoux«, Jansenisten um die »Nouvelles ecclésiastiques«, Theologen der Sorbonne, der literarische Kreis um Élie Catherine Fréron (1718–1776) und seine Zeitschrift, die »Année littéraire« und eine endlose Zahl mittelloser Abbés aus der Provinz, die sich mit einer Streitschrift gegen Voltaire einen Namen machen wollten.65 Beide skizzierten den Prozess, wie die anti-philo­sophes nach der Veröffentlichung der ersten Bände der »Encyclopédie« zu einer literarischen Bewegung zusammenwuchsen; wie sie in den Jahrzehnten vor der Revolution allmählich von den philosophes zurückgedrängt wurden; wie sie mit der Reaktion auf die Revolution neue Stärke gewannen und sich als feste Kraft auf der rechten Seite des politischen Spektrums des 19. Jahrhunderts etablierten. Beide beschrieben den erbitterten Streit, der aus zwei Gruppen, die ein­ander in vielerlei Hinsicht überlappten, zwei Parteien machte, die einander mit allen verfügbaren Mitteln  – schriftlichen, aber auch anderen, wie der Zensur und der politischen Intrige – bekämpften.66 Zwei Aspekte der Auseinandersetzungen zwischen philosophes und antiphilosophes verdienen im Rahmen unserer Fragestellung nähere Betrachtung, weil sie erlauben, das Verhältnis zwischen dieser Art von Gegenaufklärung und der gegenaufklärerischen Kulturkritik genauer zu bestimmen. Ihre vorschnelle Identifizierung greift schon aus methodischen Gründen zu kurz.67 Im Gegensatz zu den geläufigen Spielarten geistes- oder ideengeschichtlicher Studien 64 Vgl. Masseau, Les ennemis; McMahon, Enemies. Siehe auch: Masseau, Antiphilo­ sophie; McMahon, The Real Counter-Enlightenment. Obwohl diese Forschung sich hauptsächlich auf Frankreich konzentriert hat, sollten hier auch zwei Sammelbände, die sich mit der italienischen Gegenaufklärung befassen, erwähnt werden: Sozzi, Ragioni dell’anti-illuminismo; ders., Nuove ragioni dell’anti-illuminismo. 65 Dazu auch: O’Keefe, Contemporary Reactions; McMahon, Counter-Enlightenment and the Low-Life of Literature; Gembicki, Corrupion, Décadence, S. 46–49. 66 Vgl. McMahon, Enemies, S. 200. Dazu auch: J. Schmidt, Inventing the Enlightenment. Anderer Meinung ist: Stuke, Aufklärung, S. 289. 67 Die erneute methodische Erörterung ist notwendig, da sowohl McMahon als auch Masseau  – einem anderen Begriffsverständnis folgend  – die Gesamtheit der sprachlichen Äußerungen ihrer Protagonisten ebenfalls als Diskurs bezeichnen. Masseau, Les ennemis, S. 209 ff.; McMahon, Enemies, S. 13. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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dreht sich die Diskursanalyse der Kulturkritik um die Beschreibung und Analyse von Sprachmodi, welche von individuellen Akteuren und Akteursgruppen in unterschiedlichen historischen Kommunikationszusammenhängen und zu unterschiedlichen Zwecken in Anspruch genommen worden sind. Zweifelsohne haben bestimmte Gruppen die sprachlichen Muster dieses Diskurses öfter verwendet als andere. Dennoch ist ihre pauschale Identifizierung als ›Kulturkritiker‹ – und in deren Folge die ihres gesamten Sprachfundus als ›kulturkritisch‹ – methodisch unzulänglich. Selbst wenn es möglich wäre, die ›Kernideen‹ einer gewissen Person oder Gruppe präzise zu bestimmen, bliebe dies die Aufgabe der historischen Biographieforschung oder der Ideologieforschung, der Ideengeschichte oder Dogmengeschichte, der Geschichte der Philosophie, der Intellektuellen- oder Geistesgeschichte  – nicht aber der historischen Diskursanalyse. Einerseits, weil schlichtweg nicht Gedanken oder Ideen, sondern sprachliche Artikulationsmuster ihr Gegenstand sind; andererseits, weil Kulturkritik analytisch nicht als Äußerung eines Kulturkritikers, sondern umgekehrt der Kulturkritiker erst als Äußerer von Kulturkritik bestimmt ist. Der Kulturkritiker ist für die Diskursanalyse keine ›reale‹ Person, sondern eine Stimme, eine diskursiv konstruierte Sprecherposition, die mittels charakteristischer Artikulationsmuster inszeniert, vermittelt, rezipiert und reproduziert wird. Aus diesem Grund lässt die Diskursanalyse die Frage, ob dieser oder jener Kulturkritiker ist, ruhen. Stattdessen widmet sie sich der Aufgabe, die semantischen Mittel, mit denen die Stimme des Kulturkritikers diskursiv konstruiert wird, zu erörtern. Daraus folgt einerseits, dass in der ›Sprache der Gegenaufklärer‹, wie sie Masseau und McMahon beschreiben, gewisse Elemente, die dem Diskurs der Kulturkritik zuzuordnen sind, unterschieden werden können. Gleichzeitig finden sich auch andere, die nicht zu ihm passen, und manche, deren semantische Logik und pragmatische Funktion dem kulturkritischen Diskurs geradezu widersprechen. Umgekehrt kann auch die ›Sprache der Aufklärer‹ – wenn man eine solche Kategorie verwenden möchte  – gewisse Elemente des kulturkritischen Diskurses aufgreifen. Dem entspricht auch die von beiden Autoren gemachte Beobachtung, dass Aufklärer und Gegenaufklärer beide spezifisch moderne Diskursformen heranzogen, so dass die Sprache der beiden Lager größere Gemeinsamkeiten aufwies, als sie wohl hätten wahrhaben wollen.68 Ein erster Punkt, an dem sich der Diskurs der Kulturkritik und die Äußerungen der Gegenaufklärung überschnitten, war beider paradoxer Bezug zur literarischen Welt. Die philosophes begriffen sich als gens de lettres und ver 68 Masseau spricht von »contaminations réciproques«, McMahon von einer »greater resem­blance than either was prepared to admit«: Vgl. Masseau, Les ennemis, S.  21, 321, 391, 419; McMahon, Enemies, S. 76; ders., Narratives of Dystopia, S. 117. Siehe auch: Tietz, Widerstand gegen die Aufklärung, S. 102. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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standen sich auf die Kunst, mithilfe unterschiedlicher literarischer Praktiken die opinion publique für sich zu gewinnen.69 Für viele Gegenaufklärer aber bildete das neue Leitbild des Schriftstellers einen unwillkommenen Bruch mit den etablierten Praktiken der république des lettres. Mit ihrem Anspruch auf einen exklusiven Zugang zur Wahrheit, ihrer überheblichen Selbstsicherheit, ihrem sektiererischen Kampfgeist und ihrer unmittelbaren Bezugnahme auf ein Publikum, das über die engeren Gelehrtenkreisen weit hinausging, verstießen die philosophes gegen die seit Jahrhunderte geltenden Gesetze der gelehrten Auseinandersetzung.70 Das Paradox solcher Kritik war, dass die Verteidiger der alten Sitten der Gelehrtenrepublik sich alsbald gezwungen sahen, sich in Feindes Lager zu be­ geben. So wurde die Auseinandersetzung um die Konstitution der Öffentlichkeit zu einer in ihr.71 Masseau beschreibt eindringlich die Verstrickungen, in welche die Gegner der neuen Öffentlichkeit hineingerieten, wenn sie das Publikum für sich gewinnen wollten. Ihre strategischen Versuche, die Waffen des Feindes gegen sie zu verwenden, brachte die Gefahr mit sich, dass ihre Äußerungen von denen des Feindes ununterscheidbar wurden. Die Abstimmung auf den satirischen Tonfall der geselligen Welt, der Gebrauch modischer Schriftgattungen, die Verwendung eines fließenden, den Lesegewohnheiten des Publikums entgegenkommenden Schreibstils versprachen Publikumserfolg, setzten den Kritiker aber auch dem Risiko aus – wie Masseau es ausdrückt – »de perdre son âme«.72 Dieses Dilemma betraf auch die Kulturkritik, insofern sie – wie im Folgenden zu erörtern sein wird – die neuere Gestalt des öffentlichen Raums als geschichtliche Verfallserscheinungen auffasste. Zum Zweiten lassen sich auch in den sprachlichen Strategien der Gegenaufklärer viele Überschneidungen mit dem Diskurs der Kulturkritik fest­stellen. Eine Hauptrolle spielte dabei die Entlarvung philosophischer Signalwörter. Es wurde, wie sich am Beispiel Grimms zeigen ließ, zwischen wahrer und falscher Philosophie, zwischen dem sublimen Höhepunkt der Weisheit und seinem Wahnbild (chimère) differenziert. Die Gegenaufklärer verstanden sich als 69 Vgl. Masseau, Les ennemis, S.  48–49, 128, 209–210, 273 ff., 387–391; McMahon, Enemies, S. 15, 199–200. 70 »Doch wer sollte es glauben, daß man gerade in dem Reiche der Aufklärung, dessen unvergleichliches Daseyn ununterbrochen erhoben, besungen und vergöttert wird, nichts weniger, als den stillen, ruhigen und glücklichen Stand der Einheit, des Zusammenwirkens, der Gemeinnützigkeit und des Friedens erblickt: […] daß die Geisterwelt durch Geisteroberer eben so sehr beunruhiget und erschüttert wird, als die Politische durch die gewaltigen ­Stürmer der Staaten.« Kornmann, Die Sibylle der Religion, S. 100–101. 71 Für eine zeitgenössische Beschreibung, welche sie als literarische querelle auffasst, vgl. Irailh, Les encyclopédistes. Siehe auch: La Harpe, L’aléthophile; De Cubières, Le défenseur de la philosophie. Eine eingehende Analyse der Auseinandersetzungen unter diesem Gesichtspunkt bietet: Ferret, La fureur de nuire, S. 243–363. 72 Masseau, Les ennemis, S. 210. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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die eigentlichen Träger der Philosophie, nicht als ihre Gegner. Sie waren keineswegs geneigt, diesen Begriff – den höchsten im Bereich des Wissens – ihren Feinden zu überlassen. Die vorwitzigen philosophes hätten, so meinten sie, den Namen für sich usurpiert. Jetzt galt es, ihn seinen rechtmäßigen Herren wiederzugeben.73 »Les vrais Philosophes,« schrieb Caraccioli 1763 in »Le langage de la raison«, in dem er den Namen der Philosophie für die philosophes chrétiens zurück­ zugewinnen versuchte, »sont des hommes presque divins«.74 In ihrer Beschreibung griff er auf den traditionellen Typus des zurückgezogenen Weisen zurück: »Moins au monde qu’à eux-mêmes, moins au siecle qu’à l’éternité, ils ne ­craignent ni les révolutions du temps, ni les caprices du sort.«75 Die »prétendus Sages« und »Sophistes témeraires« dagegen, welche sich gegenwärtig zu Unrecht mit dem Namen der Philosophie schmückten, zeichneten sich in seinen Augen durch ihre fanatische Gemütsart (»dangereux insensés«), ihre Ignoranz bei lautstarker Prätention, ihre Ungläubigkeit und ihre Vorliebe für unsinnige Paradoxa, vor allem aber durch ihre Art, sich in der Gesellschaft zu bewegen (intriguer, se produire, cabaler, se plaindre, médire, disputer) aus.76 Wie in den vorhergehenden Kapiteln anhand der Begriffe Höflichkeit und Bedürfnis gezeigt werden konnte, gehörte diese Strategie der Differenzierung zwischen wahren und falschen Varianten eines Kernbegriffs ebenfalls zur Grundausstattung des kulturkritischen Diskurses. Sie diente der entlarvenden Kontrastierung der zeitgenössischen Gestalt einer kulturellen Form mit ihrer wahren Identität. In diesem Sinne wurden Wahr-falsch-Unterscheidungen auf Begriffe wie Aufklärung, Bildung, Kultur, Zivilisation, Sentiment, Wissen, Kunst und Verfeinerung angewandt. Auf der morphologischen Ebene kam dies in einer Unzahl von pejorativen Wortabwandlungen zum Ausdruck, die dem wahren Begriff von seiner verfallenen Gestalt unterschieden. Im Deutschen wurde dazu häufig das Präfix Ver- oder die Endung -ei, für die zugehörige Figur das Suffix -aster verwendet, im Englischen und Französischen hauptsächlich das negativ konnotierte Suffix -isme bzw. -ism. So wurde Philosophie kon­ trastiert mit Philosophisme,77 Philosophey, Philosophiererey, Modephilo­sophie, 73 »Ce n’est qu’en déraisonnant, qu’on ose usurper aujourd’hui le nom de Philosophe; comme c’est en déshonorant le Siecle par un délire continuel & par les ouvrages les plus ­bizarres, qu’on croit l’illustrer.« Caraccioli, Langage de la raison, S.  204. Siehe auch: Ebd., S. 209–212, 215–217. 74 Ebd., S. 216, 205. Siehe auch: Zimmer, Philosophische Untersuchung, S. 96–99. 75 Caraccioli, Langage de la raison, S. 206. 76 Ebd., S.  205, 207, 209, 211. Siehe auch: De Sales, Philosophie de la nature, Bd.  2, S. ­139–140; Gilbert, Le dix-huitième siècle, S. 1–3; E. Burke, Reflections, S. 132–133, 165–168. 77 Die Wortform philosophisme wurde schon im 17. Jahrhundert von jansenistischer Seite als Bezeichnung der jesuitischen Kasuistik verwendet. Siehe beispielsweise: Quesnel, Histoire abregée, S. 199, 205. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Unphilosophie oder auch Misosophie,78 Philosophen mit Philosophisten, Philosophaille oder Philosophastern,79 Toleranz mit Tolerantismus,80 Vernunft mit Vernünfteln oder Vernünftelei,81 Aufklärung mit Aufklärerey, Ausklärung, After­aufklärung, Abklärung oder, etwas später, auch Aufkläricht,82 Sentiment mit sensiblerie,83 Bildung mit Verbildung,84 Verfeinerung mit Überfeinerung,85 Empfindung mit Empfindeley.86 Trotz solcher Überschneidungen bleibt es notwendig, analytisch zwischen dem Diskurs der Kulturkritik und dem Sprachgebrauch der Gegenaufklärer zu trennen. Nicht nur weil Kulturkritik sich als Diskurs nicht auf die Thematik des ›philosophischen Zeitalters‹ beschränkte, sondern auch, weil die gegenaufklärerische Rhetorik sich in zumindest zwei Aspekten wesentlich vom kulturkritischen Diskurs unterschied. Zum Ersten richtete sie sich typischerweise aus der Perspektive eines über- oder ungeschichtlichen Kriteriums gegen die fundamentale Geschichtlichkeit des Selbst- und Weltverständnisses der philosophes. 78 Selbstverständlich müssen hier jeweils nur wenige Beispiele genügen: anon., Le Philosophisme; Schubart, Europa und Asia; Rigoley de Juvigny, De la décadence, S.  385, 399, ­463–464, 479, 521–522; anon., [Rezension zu:] De la Decadence des lettres, S. 78; [Capmartin de Chaupy], Philosophie des lettres; Hales, The Inspector, S. 22, 61; Burges, Progress of the ­Pilgrim Good-Intent, S. vii; De Goyon d’Arzac, Considérations, S. 171; Sambuga, Über den Philosophismus, S. 2–3; Zimmer, Philosophische Untersuchung, Vorrede [o. S.], S. 7, 99. 79 Fréron, Lettre XIII, S. 291; Linguet, Angleterre, S. 277; Sabatier de Castres, Lettre XXXIV, S. 179; De Feller, France, S. 390; Dutoit, De l’origine, Bd. 1, S. 20–21; Von Göchhausen, Bestimmtere Antwort; Herder, Denkmal Ulrichs von Hutten, S. 333; L. Pflaum, Wie kann man Schwätzer; Von Starck, Triumph der Philosophie, Bd.  1, S.  338; Southey, Sir Thomas More, Bd. 2, S. 364; anon., [Rezension zu:] Sir Thomas More, S. 540. 80 Anon., La Tolérance Chrétienne. 81 Mendelssohn, Phädon, S.  136; Herder, Kritische Wälder, Bd.  3, S.  165; Schiller, Dom Karlos, S. 151; Von Meyern, Dya-Na-Sore, Bd. 1, S. 254; Schiller, Ästhetische Erziehung, S. 25; Krug, Einfluss der Philosophie, S. 19; Jenisch, Geist und Charakter, Bd. 1, S. 275; Cäsar, Pragmatische Darstellung, Bd. 1, S. 96; Sambuga, Über den Philosophismus, S. 303; [Nienstädt], Darstellung unserer Zeit, Bd. 1, S. 373. 82 Anon. Abklärung einer gewissen Art von Aufklärung; Hoffmann, Definitiv-Urtheil der gesunden Vernunft über Aufklärung und Aufklärerei; ders., Höchst wichtige Erinnerungen, S. 32, 308; Röschlaub, Die Bamberg’sche Glashüttengeschichte, S. 106; Voss, Die Lichtscheuen, S. 228–229; Cäsar, Pragmatische Darstellung, Bd. 1, S. 273; Fichte, Grundzüge, S. 82; [K.], Ueber Ständische Reform, S.  392; Koethe, Ansichten von der Gegenwart, S.  302, 334; E. Th. A. Hoffmann, Alte und neue Kirchenmusik [III], S. 611; Hegel, Philosophie der Geschichte, Bd. 3, S. 588; Von Wessenberg, Aufklärerei und Verfinsterung; Vorpahl, Das Christenthum, S. 62; Auerbach, Luzifer, S. 343–345. 83 Arnault, De la sensibilité, S. 143–145. 84 Goethe, Leiden des jungen Werthers, S.  127; anon., Skizze von Frankfurt, S.  340; ­Jenisch, Geist und Charakter, Bd. 1, S. 33; Brandes, Über den Zeitgeist, S. 181. 85 Siehe dazu: Kapitel III. 86 Campe, Empfindsamkeit und Empfindelei; anon., Das Uebel der Empfindsamkeit oder Empfindeley; Von Schmettow, Ueber Empfindeley und Kraftgenies; Brandes, Das weibliche Geschlecht, Bd. 1, S. xix–xxii, 297. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Sie bestand gegen die progressive Orientierung der philosophes auf der ewigen Gültigkeit der Wahrheit, der Werte und der Religion und gegen deren optimistische, pädagogisch ausgerichtete Anthropologie auf der unveränder­lichen  – sündhaften – Natur des Menschen. Sie kehrten sich mithilfe der Semantik der metaphysischen Tradition gegen den Aufstieg des geschichtlichen Weltbildes. Jean Deprun hat die argumentative Form solcher Äußerungen in einem frühen Forschungsbeitrag zum Thema anti-lumières maßgeblich auf den Punkt gebracht: L’anti-lumière n’est pas le refus de la lumière, bien au contraire; c’est le refus de la lumière conçue comme travail, tâtonnement, progrès, faisceaux croisés, pluriel devenu singulier dans l’image révélatrice de la « masse », développement temporel illustré par celles de l’ « aube » et de l’ « aurore ». Au « soleil moral » de Mercier, fanal collectif et œuvre humaine, s’oppose le midi fixe de la lumière éternelle.87

Wie sich auch am Beispiel Grimms zeigte, war dies eine durchaus übliche Kritiklinie gegen die Ansprüche der Aufklärung, jedoch keine, die dem Diskurs der Kulturkritik zugeordnet werden kann. Sie gehörte vielmehr zu einem älteren Modus der Gesellschaftskritik, in dem kulturelle Entwicklungen auf einen unwandelbaren Wertekanon bezogen, gemessen und für zu leicht befunden wurden. Die moderne Kulturkritik dagegen verzichtete auf solche Kritik einzelner Phänomene am Kriterium einer zeitlos gültigen Norm. Stattdessen richtete er seinen Blick auf die geschichtliche Entwicklung des Bedeutungs- und Wertungshorizonts aller möglichen Einzelphänomene, auf die eigene Kultur im Ganzen. Eine solche Kritik kann nicht aus der Zeitlichkeit heraus auf ein überzeitliches Kriterium zurückgreifen. Sie steht vor der Aufgabe, sich »postresti­ tutiv« und als »Reflexionen in der veränderten Welt« aus der geschichtlichen Immanenz heraus mit der eigenen Geschichtlichkeit auseinanderzusetzen.88 Ein weiterer Unterschied zwischen dem Diskurs der Kulturkritik und dem Sprachgebrauch der Gegenaufklärer bezieht sich auf die semantische Konstruktion ihres Feindbildes. Als Peter Gay die Aufklärer in seinen Schriften als party of humanity bezeichnete, lag die Betonung hauptsächlich auf dem zweiten Teil des Ausdrucks.89 Die Einheit der philosophes bestand, so interpretierte 87 Deprun bezieht sich auf eine berühmte Stelle in Louis-Sébastien Merciers (1740–1814) Utopie »L’An 2440«, in der es bezüglich der nobles écrivains hieß: »Nous avons oublié les foiblesses particulieres qu’en qualité d’hommes ils ont pu avoir. Nous ne voyons que cette masse de lumiere qu’ils ont formée, agrandie; c’est un soleil moral qui ne s’éteindra plus qu’avec le flambeau de l’univers!« Mercier, L’an deux mille quatre cent quarante, S. 229–230. Auch im Illuminismus kursierte eine ähnliche Lichtauffassung. Deprun, Les Anti-Lumières, S. 717. Siehe auch: Mortier, »Lumière«, S. 53–55; Masseau, Les ennemis, S. 380–382. 88 Konersmann, Kulturkritik. Reflexionen in der veränderten Welt; ders., Kulturkritik und Wiederherstellungserwartung, S. 73–76. 89 P. Gay, The Party of Humanity. Siehe auch: ders., The Enlightenment, Bd. 1, S. 8. Der Ausdruck ist erneut aufgegriffen worden in: Israel, Enlightenment Contested, S. 543–696. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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es die Forschung der sechziger und siebziger Jahre weitestgehend, in einem bestimmten Weltbild, einem Grundbestand von Zielen und Ideen, einer Philo­ sophie. Seitdem aber hat sich die Forschung immer stärker auf das erste Element konzentriert, und die Aufklärung vorwiegend als Partei in literarisch-politischen Auseinandersetzungen im öffentlichen Raum interpretiert. Auch das erweiterte Interesse an den Auseinandersetzungen zwischen philosophes und antiphilosophes gehört zu diesem Perspektivwechsel. Vor allem der paradoxe Einfluss, welche die feindlichen Kennzeichnungen der philosophes von Seiten ihrer Gegner auf die diskursive Konstruktion ihres Selbstbildes hatten, wurde in diesem Kontext wiederholt hervorgehoben.90 Als in Palissots Satire »Les Philosophes« (1760) Rousseau, Voltaire, Diderot und Helvétius nebeneinander auf der Bühne erschienen, bekam das Publikum eine einheitliche Gruppe vor Augen geführt, die es in Wirklichkeit so nie gegeben hatte. In dieser Weise schmiedeten ihre Gegner die philosophes in der öffent­ lichen Wahrnehmung zu einer Einheit. Aber nicht nur das Publikum, auch die philosophes selbst begannen sich in Reaktion auf die ständigen Angriffe immer mehr als eine Gruppe zu verstehen. Angesichts des gemeinsamen Gegners wurden gegenseitige Differenzen in den Hintergrund gestellt und bildete sich allmählich ein Zweckbündnis, das auf Praktiken wechselseitiger Solidarität gründete.91 Während die geteilte Beobachtung der Aufklärung die Gegenaufklärer erst auf den Plan gerufen hatte, etablierte die Aufklärung ihre Gruppenidentität wiederum größtenteils in Reaktion auf deren Angriffe. Die berühmte Stelle, auf die sich Gay im Titel seiner klassischen Mono­ graphie über die Aufklärung bezog, ist in einem anderen Zusammenhang schon zitiert worden. Als Voltaire in seinen »Lettres philosophiques« (1734) die Erfahrungen, die er in England gemacht hatte, für das französische Publikum aufzeichnete, schrieb er in einem Brief über Pascal: »J’ose prendre le parti de l’humanité contre ce misantrope sublime«.92 Gay löste das Wort partie aus dem stehenden Ausdruck prendre parti pour quelqu’un heraus und fügte einen Artikel hinzu. So machte er aus Voltaires Parteinahme eine Partei. Was scholastische Haarspalterei zu sein scheint, hat in diesem Kontext entscheidende Bedeutung. Der semantische Schritt, der uns heutzutage so einleuchtet, wäre für die Zeitgenossen Voltaires undenkbar gewesen. Partei für jemanden, für eine Sache oder gar für die Menschheit im Ganzen zu ergreifen, war eine Sache. Einer Partei zuzugehören eine andere. Während die Wendung prendre parti – ebenso wie: embrasser le parti de oder tirer parti  – überwiegend positive Konnotationen hervorrief, galt das für den 90 Vgl. Lüsebrink, Vom »Gelehrten«, S. 309–310. 91 Vgl. Mortier, »Lumière«, S.  29–41; Shackleton, When did the French ›Philosophes‹ ­become a Party?; Gumbrecht und Reichardt, Philosophe, Philosophie, S. 32–34. 92 Voltaire, Lettres philosophiques, Brief xxv, S. 2. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Parteibegriff als solchen keineswegs. In politisch-sozialen Diskussionszusammenhängen galten die esprit de parti und de faction, da sie einen Gegensatz zum Allgemeinwohl zu implizieren schienen, als anrüchig. Auch aus den Bereichen der Literatur und Wissenschaft, in denen der allgemeinen Ansicht nach nichts Geringeres als die Wahrheit selbst auf dem Spiel stand, wurden sie dezidiert ausgeschlossen.93 Der Parteibegriff wurde mit Fanatismus und Eigennutz verknüpft und grundsätzlich pejorativ verwendet. Im Lichte dieser Praxis konnte selbst eine ›Partei der Menschheit‹ nicht als positiver Ausdruck gelten. Tatsächlich tauchte der Ausdruck parti de l’humanité – sowie auch die Alternative parti des lumières  – im Französischen ausschließlich eingebettet in der Wendung prendre parti auf.94 Obwohl das Gruppenbewusstsein der philosophes im Laufe des 18. Jahrhunderts angesichts des gemeinsamen Gegners immer ausgeprägter wurde, stellten sie in ihrer Selbsteinschätzung zumindest bis zur Revolution keine Partei dar. Im Gegenteil: Sie wehrten Versuche, sie als solche zu deuten, ausdrücklich ab. Als der Skandal um die Publikation von Helvétius’ »De l’esprit« in 1758 das Projekt der »Encyclopédie« gefährdete, richteten sich seine Herausgeber in einem Pamphlet mit Nachdruck gegen das durch ihre Gegner geschilderte Bild einer »association imaginaire«: Les Encyclopédistes, dit-on, sont une Société de prétendus Philosophes qui ont projetté le renversement entier de la Morale & de la Religion. Mais où subsiste cette So 93 Duclos, Considérations, S. 266–267; Brown, Estimate, S. 104–105; La Harpe, L’alétho­ phile, S.  6; Caraccioli, L’Europe Françoise, S.  82; Sénac de Meilhan, Considérations sur l’esprit, S. 99; Kleuker, Neue Prüfung, Bd. 2, Vorbericht [o. S.]. In einem weiteren Beitrag zur Debatte in der »Deutschen Monatsschrift« beklagte sich ein anonymer Autor, dass das Wort Aufklärung »zu einem verspottenden und schimpfenden Parteynamen herabgewürdigt« worden sei. Anon., Kritischer Versuch über das Wort Aufklärung, S. 11. 94 Friedrich II., Les raisons d’établir ou d’abroger les loix, S. 395; Hübner, L’histoire du droit naturel, Bd. 2, S. 297; Linguet, Théorie des loix civiles, Bd. 2, S. 513; Pluquet, De la sociabilité, Bd. 2, S. 337; anon., [Rezension zu:] Des pierres précieuses, S. 161. Auch im Deutschen war von einer »Partei der Menschheit« nicht die Rede. Im Englischen gibt es vereinzelte Stellen, wobei es bezeichnend ist, dass der Dichter William Mason (1724–1797) es als notwendig erachtete, sich gegen die genannten Einwände abzusichern. Im Nachwort zu einem Gedicht über den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg schrieb er: »With respect to the criticisms, which may be made on this last book, there is one so likely to come from certain readers, that I am inclined to anticipate it; and taking for granted that it will be said to breathe too much of the spirit of party, to return the following ready answer: The word Party, when applied to those men, who, from private and personal motives, compose either a majority or minority in a house of parliament, or to those who out of it, on similar principles, approve or condemn the measures of any administration, is certainly in its place: But in a matter of such magnitude as the present American War, in which the dearest interests of mankind are concerned, the puny term has little or no meaning. If, however, it be applied to me on this occasion, I shall take it with much complacency, conscious that no sentiment appears in my Poem which does not prove its author to be of the party of humanity.« Mason, The English Garden, S. 50–51. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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ciété qu’on suppose gratuitement? en quel lieu, en quel tems ont été formés des projets aussi monstrueux?95

Das Bild eines Parteienstreits, das in der heutigen Forschung einen wichtigen Stellenwert einnimmt, entstammt der gegenseitigen Fremdwahrnehmung und -bezeichnungen von Aufklärern und Gegenaufklärern. Beide bezichtigten sich gegenseitig, eine fanatische und engstirnige clan, clique, coterie, cabale, secte, ligue oder eben partie zu bilden, die der Wahrheit entgegenwirke.96 Dazu gehörte die feste Bezeichnung Voltaires als ›Patriarchen‹ ebenso wie eine militärische Metaphorik. Der armée anti-philosophique bzw. anti-encyclopédiste stand, nach der an beiden Seiten verwendeten Semantiken zu urteilen, eine ebenso streitbare armée philosophique gegenüber, beide mit ihren jeweiligen Generälen, Adjutanten, Leutnants, Hilfstruppen und Taktiken.97 In diesem Kontext entstand auch die – ausschließlich pejorative verwendete – Kennzeichnung der Aufklärer als parti philosophique, die das Bild der Aufklärer als literarisch-politische Bewegung bis heute bestimmt.98 95 [Les libraires associés], Mémoire, S. 4. So auch d’Alembert in einer (nie abgehaltenen) Rede für die Académie Française: »Les philosophes, ajoute-t-on, font une secte, une association, une ligue offensive et défensive, et les attroupemens sont défendus. […] Nous répondrons […]: quand a-t-on vu attroupés ceux qu’on appelle philosophes? Ont-ils des temps et des lieux d’assemblée? La plupart se connoissent à peine; chacun a ses opinions, qu’il ne donneroit pas pour celles de ses voisins; et, si on a quelque chose à leur reprocher, ce n’est assurément pas l’excès d’uniformité dans leurs systèmes ni d’union entre leurs personnes.« d’Alembert, Réflexions, S. 156. Pierre Roussel (1742–1802), Medizinprofesser in Montpellier, beschwerte sich über diese Praxis (zit. n. der deutschen Übersetzung): »Das Wort Philosophie erregt bey manchem die Idee einer Faction, einer Secte, wenigsten eines Standes; aber es ist keineswegs ein Verbindungswort. Die Philosophie ist eine gewisse Stimmung der Seele«. P. Roussel, Ueber den Mißbrauch des Worts Philosophie, S. 180–181. 96 Gumbrecht und Reichardt, Philosophe, Philosophie, S.  32–34; Lüsebrink, Vom »Gelehrten«, S.  311–313. McMahon meint, leider ohne dies weiter auszuführen, diese Sprache entstamme »the Counter-Reformation’s fight against heretical ›sects‹«. McMahon, Enemies, S. 78. Ein interessanter Fall solcher Fremdbeschreibungs-Strategien ist die satirische Schilderung der philosophes als neu entdeckten Stamm der cacouacs. Ausgehend von einem Artikel im »Mercure de France« durch den Historiker Jacob Nicolas Moreau (1717–1803) verbreitete sich der Feindbegriff im Streit um die »Encyclopédie« schnell weiter. Moreau, Avis utile; ders., Nouveau mémoire pour servir à l’histoire des cacouacs; De Vaux de Giry, Catéchisme et décisions de cas de conscience, à l’usage des cacouacs; Irailh, Les encyclopédistes, S. 142; Chaudon, Dictionnaire anti-philosophique, Art. ›Cacouacs. De la maniere de les connoître‹, S. 65–68. Vgl. Masseau, Les ennemis, S. 124–129. 97 Anon., Mémoire pour Abraham Chaumeix, S. 2–3; Fréron, Lettre de M. Palissot à M. de la Harpe, S. 207; Proyart, Louis XVI détrôné, S. 111; ders., Louis XVI et ses vertus, Bd. 2, S. 285, 314; Bd. 3, S. 103, 108–110, 148–149; anon., [Rezension zu:] Voltaire ou le Triomphe, S. lxxvi; A. Jay, [Rezension zu:] Abrégé des Mémoires, S. 394. Vgl. Ferret, La fureur de nuire, S. 369–373, 378–385. 98 Palissot, Petites lettres sur de grands philosophes, S.  22; anon., Épitre du diable, à ­Monsieur de Voltaire, S. 8, 14; Feller, Catéchisme philosophique, S. 510; ders., France, S. 77; Sabatier de Castres, Les trois siècles, Bd. 1, S. 329 ; Fréron, [Rezension zu:] Les Trois Siècles, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Diese ›parteiische‹ Auffassung der Aufklärung bildete ein Kernstück der gegen­aufklärerischen Rhetorik. Sie fand ihren Höhepunkt in der Revolutionszeit. Johann Christian Gottlieb Schaumann (1768–1821), zu dieser Zeit Privatdozent für Philosophie in Halle, fasste die Semantik dieser Jahre wie folgt zusammen: Auch die französische Revolution ist von ihren Freunden und Feinden als eine Folge der Aufklärung dargestellt worden. Die eine Partei fand in jener großen Begebenheit Materialien zu neuen Lobpreisungen und evidenten Beweisen des vortrefflichen Einflusses der Aufklärung auf die Menschheit; die andre Partei glaubte, durch diese Erscheinung die Gefährlichkeit und Verderblichkeit dessen, was ihre Gegner unter dem Namen Aufklärung preisen, handgreiflich erhärtet und ihren Tadel und ihre Warnungen gerechtfertigt zu sehen.99

Nach dem Einbruch des Terrors gewann die zweite Gruppe rhetorisch die Überhand. In der Revolution schien die Verschwörung gegen Throne und Altar, vor der Gegenaufklärer immer gewarnt hatten, Wirklichkeit geworden.100 Für ihre Gegner war die Revolution also die logische Folge der jahrelangen Vorarbeit der philosophes, die hinter den Kulissen des Ancien Régime unermüdlich auf seinen Umsturz hingearbeitet hatten. Am wichtigsten für die Verbreitung dieser Auffassung war das Werk des Exilanten und vormaligen Jesuiten Augustin Barruel (1741–1820), dessen vierbändige »Mémoires pour servir à l’histoire du jacobinisme« (1797/1798) das Bild der Aufklärer als Verschwörerbande für lange Zeit prägte.101 Die Metaphorik des Lichts blieb von solchen Tendenzen nicht unberührt. Schon ab den fünfziger Jahren erhielt das Wort lumières immer mehr den Charakter eines Slogans.102 Der Gegensatz zwischen lumières und ténèbres wurde polarisiert und politisch instrumentalisiert. Damit verschob sich sein Gebrauch allmählich vom Bereich der Erkenntnis zur Beschreibung politisch-sozialer Kontroversen. Licht wurde zum Kampfbegriff und in der Auseinander­setzung zwischen Aufklärern und Gegenaufklärern wurde die Bildlogik der Metapher S. 167; anon., [Rezension zu:] An Introduction to the Principles, S. 307; anon., [Rezension zu:] The Ghost-Seer, S. 347; De Sales, Le vieux de la montagne, Bd. 2, S. 221. 99 Schauman, Versuch über Aufklärung, S.  7. Zit. in: Stuke, Aufklärung, S.  281. Siehe auch: Chateaubriand, Essai historique, S. 400. Für weitere Belege aus dem deutschen Sprachraum, siehe: Albrecht, Um Menschenwohl, S. 230–240. 100 Siehe beispielsweise: Maistre, Considérations, S. 69; anon., Woher kommet es?, S. 199. Vgl. zu diesem Thema: Stuke, Aufklärung, S. 278–283; Masseau, Les ennemis, S. 154, 396– 401; McMahon, Enemies, S. 33, 56–91; Schmidt-Biggemann, Politische Theologie der Gegenaufklärung. Sehr allgemein, und nicht unumstritten ist die klassische Studie: Von Bieberstein, Die These von der Verschwörung. 101 Barruel, Mémoires. Siehe auch: ders., Du pape. Im deutschen Kontext war in dieser Hinsicht wichtig: Von Starck, Triumph der Philosophie. Siehe auch: L. A. Hoffmann, Prolog. 102 Vgl. Mortier, »Lumière«, S. 29. Siehe auch: Im Hof, Enlightenment, S. 131. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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in unterschiedliche Richtungen weitergedacht. Die Gegner der Aufklärung wurden »Obscuranten, Finsterlinge und Nachtvögel«103 genannt und bildlich mit oder gar als Kerzenlöscher dargestellt. Umgekehrt wurden die lumières als Irrlichter gekennzeichnet und als Kinder dargestellt, die mit Kerzen spielten, die für sie viel zu groß sind.104 Es wurden die blendenden und destruktiven Implikationen des Lichts und der Flamme erörtert, so dass der gegenaufklärerische Abbé Antoine Sabatier de Castres (1742–1817) warnte, dass die lumières der Philosophie »des torches ardentes, prêtes à porter par-tout l’incendie« geworden seien.105 Lichtenberg fasste die ambivalente Semantik des Lichtbildes zusammen: Ich möchte zum Zeichen für Aufklärung das bekannte Zeichen des Feuers (∆) vorschlagen. Das Feuer gibt Licht und Wärme, und ist zum Wachsthum und Fortschreiten alles dessen, was lebt, unentbehrlich; aber unvorsichtig gebraucht, brennt es auch und zerstört.106

Als im Laufe der Revolution das Bild der von den Pariser Laternen baumelnden Priester um die Welt ging, wurden die Gefahren des Lichts noch einmal unterstrichen.107 Die Gegenaufklärung und die an der Aufklärung orientierte Kulturkritik unterschieden sich hinsichtlich ihrer semantischen Grundmuster grundsätzlich voneinander. Mehr noch als zwei parallel verlaufende, aber unterschied­ liche Kritiklinien waren sie einander in ihrer Logik diametral entgegengesetzt. Während die eine vorwiegend anti-geschichtlich und parteilich ausgerichtet 103 Zimmer, Philosophische Untersuchung, S. 81–82. Siehe auch: Ch. M. Wieland, Ein Paar Goldkörner, S. 104–105. 104 Caraccioli, L’Europe Françoise, S.  190–191; Saint-Germain, Du gouvernement des mœurs, S.  45; E. Burke, Reflections, S.  54; anon., Ob die Aufklärung Revolutionen befördere?; Bowles, Political and Moral State, S. 104; Miller, A Brief Retrospect, Bd. 3, S. 323–324; ­Brandes, Ueber den Einfluß, Bd. 1, S. 196. Siehe auch: [Brentano], Der Philister, S. 17. 105 Sabatier de Castres, Les trois siècles, Bd. 1, S. xcv. Siehe auch: Von Moser, Publicität, S. 519–520; Jean Paul, Levana, Bd. 1, S. 115; De Staël, De l’Allemagne, Bd. 3, S. 37; Arnault, La lumière, S. 156–157. Auf dem Titelblatt der von Von Moser herausgegebenen Zeitschrift »Neues patriotisches Archiv für Deutschland« (1792–1794) prangte das Bild eines kleinen Öllämpchens mit der Unterschrift »Zum Leuchten, nicht zum Zünden«. 106 Lichtenberg, Bemerkungen, S. 413. Und an anderer Stelle: »Was man von dem Vorteile und Schaden der Aufklärung sagt, ließe sich gewiß gut in einer Fabel vom Feuer darstellen. Es ist die Seele der unorganischen Natur, sein mäßiger Gebrauch macht uns das Leben angenehm, es erwärmt unsere Winter und erleuchtet unsere Nächte. Aber das müssen Lichter und Fackel sein: die Straßenbeleuchtung durch angezündete Häuser ist eine sehr böse Erleuchtung. Auch muß man Kinder nicht damit spielen lassen.« Zit. n. Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart, Bd. 2, S. 691. Siehe auch: Zöllner, Der Affe. 107 Die satirisch Zeitschreift »Le Nain Jaune«, die von 1814 bis 1815 in Paris, ab 1816 unter dem Titel »Le Nain Jaune Réfugié« in Brüssel erschien, wurde laut Titelblatt von einer »­Société d’Anti-Éteignoirs« herausgegeben. Vgl. zu diesem Thema: Mortier, »Lumière«, S.  50–52; Reichardt, Lumières versus Ténèbres, S.  109–137; Albrecht und Weiß, Was heißt Gegen­aufklärung?, S. 7; Schneiders, Images of Light, S. 9. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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war, argumentierte die andere geschichtlich und bezog sich auf eine über alle Parteien hinausgehende, schicksalhafte Macht. Auch in der bestehenden Forschung zu den anti-lumières ist auf diesen elementaren Unterschied hingewiesen worden. Die Gegenaufklärer machten – so Tietz – eine »Verschwörung einer perversen, satanisch inspirierten Minderheit von Ungläubigen« für die Verfallsentwicklungen ihrer Gegenwart verantwortlich.108 Sie orientierten sich an einem Erklärungsmuster, in dem Personen, Gruppen und deren Interessen die Hauptrolle spielten. Das Verschwörungstheorem bildete den natürlichen Gipfel dieses Argumentationsmodus.109 Gleichzeitig gab es aber eine weitere, in Kulturkritik mündende »Linie der Gegnerschaft gegen die Aufklärung«.110 Diese war an einem Aufklärungsbegriff orientiert, der weniger mit der Gruppe der Aufklärer, als mit einem epochalen Typus von Rationalität und Menschlichkeit verknüpft war. Statt bestimmte Gruppen für die zeitgenössischen Phänomene verantwortlich zu machen, deutete sie diese als Symbole und Symptome eines geistig-geschichtlichen Verfalls. Aus dieser Perspektive war auch die Revolution weniger ein politisches, denn ein geschichtliches Ereignis.111 Dies war eine genuine Kulturkritik der Aufklärung. Während McMahon die Gegenaufklärung mit Recht in die Vorgeschichte der politischen Rechten einordnet, führte die kulturkritische Perspektive auf die Aufklärung tendenziell von der politischen Interpretation des Zeitgeschehens weg  – oder genauer: an ihr vorbei. Zugegebenermaßen hat die Haltung des Unpolitischen – wie Reinhart Koselleck es in seiner klassischen Studie »Kritik und Krise« (1959) mustergültig vor Augen geführt hat – selbst unweigerlich politische Effekte.112 Andererseits war die un- und anti-politische Semantik, in die sich der kulturkritische Diskurs von ihrem Anfang an einschrieb, historisch äußerst folgenreich. Kulturkritik mit Konservatismus oder Reaktionismus in Eins zu setzen, wie es allzu oft geschieht, verstellt somit die Sicht auf eine äußerst wirkmächtige Differenz zweier Kritikmodi. Während die politische Kritik gesellschaftliche Phänomene im Einzelnen betrachtete, fasste die Kulturkritik sie als Symptome eines gesamtkulturellen Verfalls auf. Für sie gab es keine im Einzelnen lösbaren Aufgaben. Der kulturelle Wandel, der infolge des Aufstiegs einer un- und überpersönlichen Macht erfolgt ist, lasse sich nicht Stück 108 Tietz, Widerstand gegen die Aufklärung, S. 109–112; McMahon, Enemies, S. 52–54. 109 Zum politischen Aspekt, vgl. Lottes, Aufklärung und konservatives Denken; ders., Die Französische Revolution. 110 Tietz, Widerstand gegen die Aufklärung, S. 111. Er nennt zu ihrer Charakterisierung den Namen Rousseaus. 111 Vgl. Schlobach, Fortschritt oder Erlösung. 112 Die Monographie beschreibt die Politik der philosophes, deren vordergründig un­ politische Kritik hinterrücks zum Ausgangspunkt für politische Ansprüche und Handlungen wurde. Koselleck, Kritik und Krise. Nebenbei sei erwähnt, dass die Studie ursprünglich unter dem Titel »Dialektik der Aufklärung« konzipiert worden war. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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für Stück zurückdrehen. Wenn überhaupt noch Hoffnung bestehe, dann nur in einer Wende, in der das gesamte geschichtliche Schicksal eines Volkes eine neue Richtung erhält. Im Vorhergehenden sind zwei Modi der Aufklärungskritik erörtert worden, die im Kontext der Debatte um die Aufklärung in einem engen Zusammenhang mit der Entstehung der Kulturkritik standen, letztendlich aber in eine – jeweils unterschiedliche  – andere Richtung führten. Im Lichtvokabular aus­ gedrückt, ging es dabei einerseits um die Kritik der lumières aus der Sicht eines universalen, überzeitlichen und göttlichen Lichts, andererseits um die politische Kritik an einer parti des lumières, einer Gruppe radikaler Sozialrevolutionäre, die das Licht als Instrument mutwilliger Blendung und Brandstiftung verwendeten. Auch die Kulturkritik hatte es im 18. Jahrhundert unweigerlich mit der Aufklärung zu tun. Sie fasste diese aber weder als metaphysischen Irrtum noch als politische Verirrung, sondern als die allgemeine Richtung des Zeit­a lters im Ganzen auf. Dies taten auch die philosophes, und insofern laufen, aus seman­ tischer Perspektive betrachtet, ihre Selbst(ein)schätzung und -inszenierung und die kulturkritische Zeitdiagnose ein Stück weit parallel, sei es, dass, während sich die einen restlos zu dieser neuen Epoche bekannten, die anderen sie von außen zu betrachten, deuten und kritisieren versuchten. Auch hier tritt wiederum ein Phänomen in Erscheinung, das als Strukturmerkmal des kulturkritischen Diskurses betrachtet werden darf. Während der Blick der Kulturkritik durch die konkreten Phänomene hindurch und über sie hinaus auf das Ganze gerichtet ist, muss sie sich, um ihre Kritik artikulieren zu können, gleichzeitig an Einzelphänomene halten. Im Rahmen der Aufklärung heißt dies, dass ihre Deutung trotz ihres epochalen Charakters mit bestimmten Praktiken, stereotypen Figuren, Institutionen und Ereignissen verknüpft werden musste, damit sie überhaupt erst erfahrbar, sagbar, kommunizierbar und kritisierbar wurde. Zwei Themenbereiche standen in der kritischen Deutung der Aufklärung zentral und verdienen hier besondere Beachtung: Aufklärung als Erkenntnismodus und als Wissensordnung.

2. Dimensionen der Aufklärung Erkenntnismodus Der primäre Entstehungskontext der Kulturkritik war, so wurde eingangs er­ örtert, die Beschleunigung der seit der Frühen Neuzeit einsetzenden Ratio­ nalisierungsprozesse einerseits und ihre Bewusstwerdung und gesellschaftliche Verarbeitung andererseits. Die unterschiedlichen Diskussionszusammenhänge, die in den vorhergehenden Kapiteln zur Sprache gebracht wurden, entstanden jeweils vor diesem Hintergrund. Die Auseinandersetzung um Luxus und © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Kommerz bezog sich auf die Ausbreitung der Geldwirtschaft und des Handels einerseits, auf die Verbreitung kapitalistischer Produktionsformen andererseits. Die Frage nach dem Wert der Höflichkeit kam vor dem Hintergrund grundsät­zlicher Wandlungen im Bereich sozialer Praktiken auf. Die Sprach­ debatten beruhten auf der zeitgenössischen Wahrnehmung der fortschreitenden Entwicklung von Einzelsprachen und ihrer Verhältnisse untereinander in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten. Die Frage nach der Aufklärung schließlich hatte den grundsätzlichen Wandel der Organisation, Produktion, Distribution und Konstitution von Wissen, die im 18. Jahrhundert in den Augen der Zeitgenossen einen Höhepunkt erlebte, zur Grundlage. So wurden in der entstehenden Kulturkritik unterschiedliche gesellschaftliche Prozesse und Entwicklungen verarbeitet, gedeutet und wiederum beeinflusst. Als wir diese eingangs unter dem Nenner der Rationalisierung zusammenzufassen versuchten, schrieb sich unser Ansatz implizit in eine lange Diskurstradition ein, welche den Wandel unterschiedlichster sozialer Bereiche als ihre Neuordnung nach den Vorgaben einer sich wandelnden Denkform deutet. Diese Gebundenheit an einen historisch vermittelten semantischen Horizont zu ignorieren, wäre ebenso nutzlos wie der Versuch, ihr durch die Schöpfung einer künstlichen Terminologie zu entkommen. Nur indem die eigene semantische Standortgebundenheit explizit angeeignet und ausdrücklich reflektiert wird, kann sie für die eigene Analyse fruchtbar werden. In den kanonischen Studien über die Aufklärung ist sie in erster Linie als Epoche, in der das abendländische Denken einen grundsätzlichen Wandel erfahren hat, thematisiert worden. Dabei ging es  – wie Ernst Cassirer in seiner wirkmächtigen Studie »Die Philosophie der Aufklärung« (1932) betonte – nicht um die bloße Ausweitung der gesellschaftlich verfügbaren Wissensbestände. Entscheidend war vielmehr, dass die generelle »Form des philosophischen Gedankens« und der »Prozeß des Philosophierens« sich gravierend wandelten.113 Obwohl der philosophiegeschichtliche Fokus der älteren Aufklärungsforschung inzwischen um viele weitere Aspekten bereichert worden ist, bleibt der implizite Bezug auf die Priorität der Wissensrevolution in der epochalen Bezeichnung als ›Zeitalter der Aufklärung‹, Enlightenment, Age of Reason und Siècle des Lumières bis heute erhalten. In dieser Weise übernimmt die Forschung stillschweigend eine spezifische Variante zeitgenössischer Kulturreflexion, in der Entwicklungen auf dem Gebiet des Wissens als die wesentliche Richtung des Zeitalters betrachtet wurden. Alle anderen Ereignisse und Entwicklungen auf sozialem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet erschienen demgegenüber als nachgeordnet und abgeleitet. 113 Cassirer, Philosophie der Aufklärung, S.  x–xii. Im Artikel »Encyclopédie« sprach ­Diderot die Hoffnung aus, das Werk würde »changer la façon commune de penser.« Diderot, Encyclopédie, S. 642A. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Obwohl die Kulturkritik des 18.  Jahrhunderts  – wie in den anderen Kapiteln dargestellt – keineswegs auf dieses Deutungsmuster beschränkt blieb, stellte Rationalitäts- und Rationalisierungskritik in der Folge der epochalen Selbstdeutungen als ›Zeitalter des Lichts‹ ein wichtiges Thema der kulturkritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwart dar. Die Kulturkritik der Aufklärung entstand vor dem Hintergrund eines mit der Neuzeit einsetzenden Wandels in der Konstruktion des Verhältnisses zwischen Sein und Denken. Eine kurze – notwendigerweise verkürzende – Skizze dieser Entwicklung muss an dieser Stelle genügen.114 Noch bis in die Frühe Neuzeit hinein orientierte sich das Denken über das Denken am Idealbild eines Korrespondenzverhältnisses zwischen den beiden Gestalten der Ratio als Wissens- und Seinsgrund. Laut dieser Vorstellung erreiche das Denken seinen Höhepunkt, wenn es ihm – wie es Cassirer formuliert hat – gelinge, die »Architektonik des Seins in sich nachzubilden«.115 Die Repräsentation der Struktur der Wirklichkeit im menschlichen Geiste konnte zwar als progressive Angleichung gedacht werden, blieb aber prinzipiell auf eine vollendete Korrespondenz (adæquatio intellectus et rei) ausgerichtet.116 Im neuzeitlichen Rationalitätsbegriff vollzog sich nun an beiden Seiten dieses Korrespondenzverhältnisses eine Verzeitlichung. Auf der einen Seite wurde das Sein aus seiner kosmologischen Vollständigkeitsannahme gelöst. Es würde nunmehr die Möglichkeit in Erwägung genommen, das etwas völlig Neues, nicht nur auf der akzidentellen, sondern auch auf der essentiellen Ebene, ent­ stehen könne. Die Zeit, deren Herrschaftsbereich sich vorher auf das bloß Zeitliche beschränkt hatte, hielt Einzug in den metaphysischen Bereich. Die als endlich gedachte Wirklichkeit schöpfe, so hieß es jetzt, das Universum der Seinsmöglichkeiten nicht aus. Der endliche Kosmos wich einer in Raum und Zeit ausdehnbaren Unendlichkeit. Damit verlor in einem zweiten Schritt die Wirklichkeit ihre exemplarische Verbindlichkeit für das Denken. Das menschliche Denken wurde von einem Orientierungs- zu einem Verfügungswissen. Es brach aus dem engen Kreis der Repräsentation heraus und widmete sich – um wiederum Cassirer zu Wort kommen zu lassen – der »Aufgabe der Lebens­ gestaltung«. Die Vernunft war von nun an ein »Begriff nicht von einem Sein, sondern von einem Tun.«117 114 Vgl. Kible, Ratio; ders., Ratio cognoscendi; Th. S.  Hoffmann, Rolke und Gosepath, Ratio­nalität, Rationalisierung. 115 Cassirer, Philosophie der Aufklärung, S. 38. 116 Wenn auch nicht für den beschränkten Geist des Menschen, so doch für den unend­ lichen Geist Gottes. 117 Ebd., S.  xii, 13.  Vgl. Blumenberg, »Nachahmung der Natur«, S.  270, 276–278; Mittelstraß, Das Wirken der Natur, S.  36–37; Brewer, Discourse of Enlightenment, S.  19–24, 52; Kondylis, Die Aufklärung, S.  37–46, 121–122. Und zur literarischen Gestaltung dieses ›Denkstils‹: Hempfer, ›Literatur‹ und ›Aufklärung‹. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Die Verzeitlichung der Ratio in ihrer doppelten Gestalt  – die Rationalisierung der Ratio – ist die Grundbewegung der neuzeitlichen Geschichte. Sie bildet den analytischen Hintergrund, vor dem die Emergenz der Kulturkritik zu verorten ist. Ihre skizzenhafte Erörterung bietet also eine erste Grundlage für die Beantwortung unserer Frage nach der Art und Weise, wie der sich wandelnde, geschichtliche Erkenntnismodus im Diskurs der Kulturkritik reflektiert wurde. Im Folgenden wird versucht, die wichtigsten Dimensionen dieser Verarbeitung anhand einer Reihe von ›idealtypischen‹ Kernaussagen zu skizzieren. Das neue Denken ist kritisch. Schon im antiken Griechenland fand der Kritikbegriff (krínô, kritikós) außer in medizinischen und juristischen auch in epistemologischen Diskussionszusammenhängen Verwendung.118 Er bedeutete soviel wie scheiden und trennen, aber auch urteilen und entscheiden. Zu neuem Gebrauch gelangte der Begriff im 15. und 16. Jahrhundert, als er in der humanistischen Philologie, in der Logik und der Ästhetik einen zentralen Stellenwert erhielt. Wie der Philosoph Kurt Röttgers erklärt hat, erfuhr der Begriff im Laufe der Neuzeit dabei eine dreifache Erweiterung.119 Auf der Subjektseite trat anstelle des einzelnen Gelehrten allmählich die Vernunft selbst, die im Namen der gesamten Menschheit urteile; die Funktion der Kritik wurde von der Be­urteilung der Authentizität von Texten zu einem Synonym vom Urteil schlechthin ausgeweitet; und schließlich wurde ihr Anwendungs­ bereich in einem ersten Schritt von den antiken (critica profana)  zu den sakralen Texten (critica sacra), später auf alle weltlichen Phänomene insgesamt ausgeweitet. Auch im 18. Jahrhundert blieb der Begriff zwischen den engeren und weiteren Gebrauchsweisen gespalten, so dass Johann Heinrich Zedler (1706–1751) in seinem »Universal-Lexikon« zusammenfasste: Critic, unter diesem Worte verstehet man in dem allerweitesten Verstande alle Be­ urtheilung: in dem engern wird solches nur auf die Beurtheilung derer Schriften, so in die Gelehrsamkeit gehören, und in dem allerengsten Verstande begreift solches nichts mehr, als die verderbten Stellen derer Scribenten zu verbessern, und die durch die Unvorsichtigkeit derer Abschreiber bey denen alten Auctoribus eingeschlichenen Fehler auszumertzen.120

Die Spannung zwischen dem generellen und dem eingeschränkten Begriffs­ gebrauch wurde dadurch verschärft, dass in der cartesianischen Philosophie die kritische Methode ausdrücklich gegen die philologische Kritik ausgespielt 118 Vgl. im Folgenden: Röttgers, Kritik und Praxis; ders., Kritik; Williams, Criticism; Von Bormann, Tonelli und Holzhey, Kritik; Fontius, Critique; Schneiders, Vernünftige Zweifel. 119 Röttgers, Kritik, S. 655. 120 Zedler, Critic. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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wurde.121 Damit war die generalisierte Kritik nicht länger nur als Erweiterung der Hermeneutik und Textkritik, sondern als deren Überwindung gedacht. Wie Martin Fontius festgestellt hat, ging dies im Französischen mit einer semantischen Trennung des Substantivs vom Adjektiv einher. Lange Zeit blieb die Bedeutungserweiterung auf das Adjektiv (histoire critique, dictionnaire critique) beschränkt, während das Substantiv weiterhin vor allem auf die Philologie gemünzt blieb. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts setzte sich auch im Substantiv die erweiterte Bedeutung durch.122 Entscheidend war in diesem Zusammenhang der von Jean-François Marmontel (1723–1799) verfasste Artikel in der »Encyclopédie«. Darin wurde die philologische Bedeutungsebene zwar noch erwähnt (»ce genre d’étude à laquelle nous devons la restitution de la Littérature ancienne«) und deren Bedeutung sogar noch einmal unterstrichen (»nous traitons cette espece de critique avec trop de mépris«), der polemische Akzent lag jedoch deutlich auf der weiteren Bedeutung der Kritik als »un examen éclairé & un jugement équitable des productions humaines«.123 Als Synonym der »doute méthodique« und Waffe gegen die Autorität der Überlieferung umfasse sie in gewissem Sinne das Ganze menschlicher Erkenntnis.124 Im Lichte solcher Begriffsverwendungen ist die Aufklärung häufig generell als kritisch gekennzeichnet worden. So meinte Peter Gay in einem Abschnitt unter dem Titel ›Criticism as Philosophy‹: »for the Enlightenment, the Age of Philosophy was also and mainly, the Age of Criticism. These two names did not merely designate allied activities: they were synonyms«.125 Zur Legitimierung solcher Charakterisierungen wird fast ausnahmslos auf eine berühmte Stelle aus der ersten Vorrede von Kants »Kritik der reinen Vernunft« (1781) hingewiesen, in dem der Philosoph schrieb: 121 Vgl. Fontius, Critique, S.  12–16. Die Wechselbeziehungen zwischen der philosophie und der vraie critique wurden vom Historiker Nicolas Fréret (1688–1749) thematisiert: F ­ réret, Réflexions, S. 151–152. 122 Vgl. Fontius, Critique, S. 12, 15. 123 Marmontel, Critique. So schrieb Condorcet etwa vierzig Jahre später: »L’érudition, que la soumission à l’autorité humaine, le respect pour les choses anciennes, semblait destiner à soutenir la cause des préjugés nuisibles; l’érudition a cependant aidé à les détruire, parce que les sciences et la philosophie lui ont prêté le flambeau d’une critique plus saine. Elle savait déja peser les autorités, les comparer entr’elles; elle a fini par les soumettre elles-mêmes au ­tribunal de la raison.« Condorcet, Esquisse, S. 309–310. 124 »La crédulité est le partage des ignorans; l’incrédulité décidée, celui des demi-sçavans; le doute méthodique, celui des sages. Dans les connoissances humaines, un philosophe démontre ce qu’il peut; croit ce qui lui est démontré; rejette ce qui y répugne, & suspend son jugement sur tout le reste.« Marmontel, Critique, S. 491. 125 Vgl. Gay, The Enlightenment, Bd. 1, S. 130. Siehe auch: Ebd., Bd. 1, S. 127–159; Cassirer, Philosophie der Aufklärung, S. 288; Schalk und Mahlmann, Aufklärung, Sp. 622–623; ­Kossok, Bedingungen der europäischen Aufklärung(en), S. 45; Schneiders, Zeitalter der Aufklärung, S. 7; Jacobs, Aporien der Aufklärung, S.  19–45. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Critik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Maiestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdenn erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demienigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aus­halten können.126

Die berühmte kantische Gerichtshofsvorstellung der Vernunft beinhaltete gleichzeitig eine Verinnerlichung der Kritik und den Versuch, das anarchische Gewimmel von Meinungen in der Öffentlichkeit zu befrieden. Die Vernunft stehe als überparteiische Instanz über die Legitimität der vorgebrachten Hypothesen zu Gericht. Damit gelangte der Kritikbegriff zur höchsten Würde im Bereich der Erkenntnis. Seine Generalisierung schien vollendet.127 So prägnant das Zitat Kants ist, so sind solche Stellen doch mit Bedacht zu verwenden. Auf sich gestellt kann es jedenfalls nicht als ausreichender Beleg dafür gelten, dass – wie Gay und andere gemeint haben – Kritik und Philosophie im zeitgenössischen Verständnis zu Synonymen geworden seien, so dass die eigene Zeit in diesem Sinne allgemein als Zeitalter der Kritik bezeichnet werden konnte. Eine erweiterte Quellenlektüre zeigt, dass die Stelle in einer spezifischen Entwicklungslinie des Kritikbegriffs zu verorten ist, die größtenteils auf den deutschen Sprachraum beschränkt blieb und selbst da nur eine beschränkte Verbreitung fand.128 Allererst ist darauf hinzuweisen, dass der Kritikbegriff in der kantischen Philosophie eine sehr spezifische, technische Bedeutung hatte, die sich vom allgemeinen Sprachgebrauch ebenso wie von dem der philosophes grundsätzlich unterschied. Während bei diesen Kritik als Waffe gegen die Autoritätsan­sprüche der Tradition gerichtet war, hatte Kant einerseits eine transzendentalphilo­ sophische Bedeutung (»[d]er critische Weg ist allein noch offen«129), andererseits die protestantische Tradition der Denk- und Gewissensfreiheit im Blick. Mit der Popularisierung seiner Philosophie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts konnte sich der kantische Begriffsgebrauch in Deutschland zum Teil durchsetzen, so dass hier Philosophie tatsächlich eine zeitlang mit Kritik – oder Kritizismus – gleichgesetzt wurde. Dennoch war die Bedeutung des korrespondierenden Philosophiebegriffs wiederum so eingeschränkt, dass von einem kritischen Zeit­alter in diesem Zusammenhang nicht eigentlich die Rede sein konnte. Die kantische Philosophie blieb in seiner populären Rezeption immer eine technische und von professionellen Philosophen ausgeübte, akademische Diszi 126 Kant, Critik der reinen Vernunft, Vorrede [o. S.]. 127 Vgl. Röttgers, Kritik und Praxis, S. 26–62; ders., Kritik, S. 662–665. 128 [Von Hendrich], Geist des Zeitalters, 66; Carus, Ideen, S. 298; [Dr. H.], Einige Bemerkungen, S. 428–430; Campe, Critic; [Dr. H.], Zustand des Philosophirens, S. 177–179, 191–193. 129 Kant, Critik der reinen Vernunft, S. 856. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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plin. Sie besaß nicht die epochale Ausstrahlungskraft, die sie zum Markenzeichen eines philosophischen Zeitalters hätte machen können. Zweifellos wurde sie als Meilenstein der Philosophie wahrgenommen; nicht aber, wie die französische philosophie, als Markierung einer Epoche.130 Wo die Kritik Kants im Namen einer Meta-Kritik angegriffen wurde, wie es Hamann und Herder taten, oder im Sinne einer Epikritik, wie es der Würzburger Theologieprofessor Franz Berg (1753–1821) formulierte, ging es um eine philosophisch-methodische Auseinandersetzung, nicht um die kulturkritische Überwindung eines Zeitalters.131 Außerhalb des deutschen Sprachgebiets, wo die Wirkung der kantischen Schriften deutlich geringer war, spielte der Kritikbegriff weiterhin eine gewisse Rolle im Vokabular der Philosophie, blieb darin aber immer nur ein Aspekt neben anderen. Sie war, wie Werner Schneiders betont hat, »weit davon entfernt, die Rolle einer allgemeinen Parole zu spielen«.132 Entsprechend blieb der Kritikbegriff hier – wie übrigens auch in Deutschland, wenn man von der Diskussion um die kantische Philosophie absieht – stärker an die ältere, beschränktere Bedeutungsebene gebunden. Diese Tendenz kommt deutlich in einer Gruppe von Redensarten zum Ausdruck, in denen der Kritikbegriff tatsächlich als epochale Bezeichnung verwendet wurde (âge oder siècle critique, kritische Zeit, kritisches Zeitalter, Age of Criticism). Diese Wortgruppe, die in der gegenwärtigen Aufklärungsforschung eine solch zentrale Rolle spielt, wurde auch in zeitgenössischen Selbstreflexionen – auch schon vor Kant – immer wieder aufgegriffen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass der größte Teil solcher Begriffsverwendungen durchaus nicht mit der kantischen in einen Topf geworfen werden kann. Nicht weniger oft als die Sätze aus der »Kritik der reinen Vernunft« wird in der Forschungsliteratur auch Bayles Ausdruck »regne de la Critique« aufgegriffen.133 Dabei wird aber meistens ausgelassen, dass Bayle sich an dieser Stelle (es hieß genau genommen: »… & de la Philologie«) eindeutig auf die engere, philologische Bedeutungsebene bezog und dass er die Herrschaft der Kritik in das 16. Jahrhundert zurückprojizierte. Eine genauere Lektüre zeigt, dass er die eigene Gegenwart – in der die cartesianische Philosophie und das Interesse an den modernen Nationalsprachen einen anderen »goût« verbreitet hätten – von diesem kritischen Zeitalter gerade abgrenzte. Während âge critique nahezu ausschließlich in medizinisch-pädagogischen Zusammenhängen verwendet wurde,134 tauchte der Ausdruck siècle critique hauptsächlich in Predigten auf, in denen die eigene Zeit als entscheidende Krisenzeit (im Sinne der kairós 130 Vgl. Fontius, Critique, S. 24–25. 131 Hamann, Recension von Kants Critik der reinen Vernunft; ders., Brief an Herder; Herder, Verstand und Erfahrung; Berg, Epikritik der Philosophie. Siehe auch: Hamann, Brief an C. J. Kraus, S. 192. 132 Schneiders, Vernünftige Zweifel, S. 321. 133 Bayle, Aconce (Jaques), S. 67, Anm. D. Vgl. Schneiders, Vernünftige Zweifel, S. ­319–320. 134 Rousseau, Émile, Bd. 2, S. 227. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Tradition) bezeichnet wurde.135 Im Englischen war seit dem 17. Jahrhundert tatsächlich immer wieder von einem kritischen Zeitalter die Rede, so dass Jonathan Swift schon 1711 bemerken konnte: »’Tis grown a Word of Course for Writers to say, This Critical Age, as Divines say, This Sinful Age.«136 Und als Henry Fielding 1752 im »Covent-Garden Journal« ein satirisches ›Modern Glossary‹ veröffentlichte, hieß es da: »Critic. Like Homo, a Name common to all human Race.«137 Wie auch in Frankreich hatte man damit aber vor allem die gesellschaftliche Rolle und Resonanz der Literatur- und Kunstkritik im Blick. Die manie de tout critiquer, mit deren stetiger Ausbreitung man sich wiederholt auseinandersetzte, war also eher auf die literarische Kritik, denn auf eine kritische Philosophie oder gar auf eine allgemeine Denkart gemünzt.138 Sie bezog sich vor dem Hintergrund der Ausweitung des literarischen Markts auf die Konkurrenz zwischen Schriftstellern und ihren Kritikern, zwischen dem schöpferischen Originalgenie und dem sterilen Kunstrichter.139 Im Deutschen machten solche Kritiker der Literaturkritik  – auch darauf hat Röttgers auf­ merksam gemacht  – um die Jahrhundertwende von der Lautverwandtschaft von Kritik und ›kritteln‹ Gebrauch, um sie abzuwerten.140 Schließlich sind auch die Bemühungen der Romantiker, die Kritik aus ihrer untergeordneten Stellung 135 De Segeaud, Sermons, S. 84; Berthier, Sept degrés de perfection, S. 147. 136 Swift, Miscellanies, S. 240. Fréron übernahm die Wendung vierzig Jahre später – allerdings ohne Quellenangabe – in einem seiner kritischen Briefe: »Vous savez souvent, Mon­ sieur, entendu dire dans la conversation ce siècle critique, comme on dit dans la Chaire ce siècle pervers.« Fréron, A Paris, ce 8. Septembre 1749, S. 3. 137 Fielding, A modern Glossary, S. 14. 138 Alletz, Manuel de l’homme du monde, S. v. Siehe auch: Walton, The Compleat ­Angler, S.  64; Lubières, Esprit du siècle, Lettre de l’Auteur à un de ses amis [o. S.]; J.-B.  Rousseau, Épitre à Monsieur Rollin, S. 211; anon., [Rezension zu:] Philaster, S. 303; Voltaire, Épitre à M. d’Alembert, S. 308; ders., Critique, S. 308. Auch der Ausdruck »die neue deutsche philoso­ phische Kritik«, wie ihn Görres einmal verwendete, bezog sich auf eine Art der Literaturkritik, welche sich durch ›philosophische‹ Kriterien leiten ließ. Görres, [Rezension zu:] Probe einer neuen Uebersetzung, S. 251. Vgl. Martus, Aufklärung im Spiegelstadium ihrer Kritik. 139 Bei Diderot hieß es diesbezüglich: »L’Auteur dit: Messieurs, écoutez-moi; car je suis votre maître. Et le Critique: c’est moi, Messieurs, qu’il faut écouter; car je suis le maître de vos maîtres. / Pour le public, il prend son parti. Si l’ouvrage de l’Auteur est mauvais, il s’en moque, ainsi que des observations du Critique, si elles sont fausses. / Le Critique s’écrie après cela: O tems! O mœurs! Le goût est perdu! & le voilà consolé.« Diderot, De la poésie dramatique, S. 335. Siehe auch: Gottsched, Versuch einer kritischen Dichtkunst, Vorrede [o. S.]; Diderot, Salon de 1767, S. 213–214; Lessing, Hamburgische Dramaturgie, Bd. 1, S. 50. 140 Vgl. Röttgers, Kritik, S.  659. Dazu schrieb Joachim Heinrich Campe (1746–1818): »Nach [Adelungs] Bemerkung, vermöge welcher das Griechische Κριτος mit dem altdeutschen kriten, zanken, verwandt ist, würde man Krittler dafür sagen können. Aber dis hat der Sprachgebrauch schon für den schlechten und falschen Kunstrichter den Criticaster gestempelt, so wie die [W]örter kritteln (kriteln) und Krittelei (Kritelei) für kunstrichten und Kunstgericht in verächtlichem Sinne genommen.« Campe, Criticus, S.  239. Siehe beispielsweise: Schiller, Die Räuber, S. 18. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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zu befreien und sie zu einer produktiven Kraft zu erheben, in diesem Zusammenhang zu verorten.141 Der Blick auf diese Gruppe von epochalen Bezeichnungen macht deutlich, dass die Generalisierung des Kritikbegriffs nur einen begrenzten Erfolg hatte. Die älteren, eingeschränkteren Bedeutungsebenen blieben stets präsent. Daraus folgt aber nicht, dass der Ausdruck ›kritisches Zeitalter‹ als analytische Bezeichnung der Aufklärungsepoche prinzipiell unbrauchbar sei. Hier muss erneut zwischen der semasiologischen und der onomasiologischen Analyse-Ebene unterschieden werden. Selbst wenn die Zeitgenossen mit dem Wort Kritik oftmals auf andere Bedeutungsebenen anspielten, als heutzutage gemeinhin angenommen, war sein Bedeutungsfeld gleichwohl prägend für die Diskussion um das aufklärerische Denken. Nicht, weil das Wort ›Kritik‹ und seine Ableitungen selbst, sondern weil seine traditionellen Bedeutungskonnotationen in den Diskussionen um die neue Erkenntnisart omnipräsent waren. Selbst wo das Wort fehlte, wurde das neue Denken unter dem Aspekt der Kritik gesehen, indem es als negatives, als analytisches oder generell als unzulängliches dargestellt wurde. Werner Schneiders hat diesen Tatbestand maßgeblich auf den Punkt gebracht: »Offensichtlich ist die kritische Tendenz im Zeitalter der Kritik zunächst eine Tendenz ohne Namen oder vielmehr eine Tendenz mit vielen Namen.«142 Das neue Denken ist negativ. Das wohl älteste Argument gegen die Kritik, ob in literarischem oder in philosophisch-generellem Sinne, war, dass sie eine wesentlich reaktive Fakultät sei. Sie sei nicht im Stande, Neues in die Welt zu setzen, sondern ihre Funktion beschränke sich darauf, zu Unrecht Bestehendes aus dem Weg zu schaffen. Sie sei wesentlich sekundär, nachträglich, abgeleitet. Auch wo das Wort Kritik nicht fiel, wurde dies zu einem wichtigen Gegenargument gegen die neue, aufklärerische Denkart.143 Schon Bayle selbst – stets ein zentraler Referenzautor der Aufklärer – hatte darauf hingewiesen, dass die Vernunft (raison) von sich aus keine Wahrheit hervorbringe. Ihre Funktion sei darauf beschränkt, Schein zu zerstören: »c’est un principe de destruction, & non pas d’édification«.144 141 F. Schlegel, Fragmente, S.  23, 28–29; A. W. Schlegel, Ueber Litteratur, S. 82–83. 142 Schneiders, Vernünftige Zweifel, S. 321. 143 Am Wirkungsreichsten wurde dies von Hegel formuliert: »Die französische Philo­ sophie hat eine negative Richtung gegen alles Positive; sie ist zerstörend gegen das positiv Bestehende, gegen Religion, Gewohnheiten, Sitten, Meinungen, gegen den Weltzustand in gesetzlicher Ordnung, Staatseinrichtungen, Rechtspflege, Regierungsweise, politischer, juridischer Autorität, Staatsverfassung, ebenso gegen Kunst. In matter Gestalt trat dieß in Deutschland als Aufklärung auf.« Hegel, Philosophie der Geschichte, Bd. 3, S. 514. 144 Er zog daraus eine religiöse Konsequenz: »elle n’est propre qu’à faire conoître à l’homme ses tenebres & son impuissance, & la necessité d’une autre revelation.« Bayle, ­Manichéens, S.  2026. Vgl. Röttgers, Kritik und Praxis, S.  21. Ebenso berühmt ist das Zitat John Donnes (1572–1631): »A new Philosophy cals all in doubt, / The Element of fire is quite put out; / The Sunne is lost, and th’earth, and no mans wit / Can well direct him, where to looke for it.« Donne, An Anatomy of the World, [o. S.]. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Das Zitat wurde zu einem Gemeinplatz, der gerade auch von den Gegnern der Aufklärung immer wieder dankbar aufgenommen wurde.145 Der Gegensatz détruire – édifier und seine vielfältigen Äquivalente eigneten sich ausgezeichnet dazu, die ›Schwäche‹ des aufklärerischen Denkens bloßzustellen.146 In diesem Sinne schrieb der Metzer Anwalt und Parlementsabgeordneter Jean-­Antoine ­R igoley de Juvigny (1709–1788) in seiner antiphilosophischen Streitschrift »De la décadence des lettres et des mœurs« (1787): L’esprit destructeur qui domine aujourd’hui, n’a plus rien qui l’arrête. Le Philo­ sophisme a pénétré par-tout, a tout corrompu, les Lettres, les Sciences & les Arts. La suite de cette affligeante révolution, a été la dépravation générale des mœurs.147

Paradoxerweise wurde die sprichwörtliche Schwäche dieser Denkart also gleichzeitig als potenziell zerstörerische Kraft dargestellt.148 Der methodische Zweifel münde – dieses Argument war schon im 17. Jahrhundert verbreitet149 – leicht in eine allumfassende Skepsis, die allen Aspekten des menschlichen Lebens, die Tatkraft, Glauben und Willen erforderten, die Energie nähme.150 Auch bei denjenigen, die der Aufklärung positiv zugetan waren, ließen solche Konnotationen oftmals Zweifel aufkommen, ob die Kritik über ihre negative Funktion hin 145 Fréret, Réflexions, S.  152; Rousseau, Émile, Bd.  1, S.  iii; Saint-Germain, Du gouver­ nement des mœurs, S. 46–47; Von Eckhartshausen, Religion, S. 3. 146 So dass der Jenaer Philosophieprofessor Karl Leonhard Reinhold (1757–1823) meinte: »Das auffallendste und eigenthümlichste Merkmal von dem Geiste unsres Zeitalters ist eine Erschütterung aller bisher bekannten Systeme, Theorien und Vorstellungsarten, von deren Umfang und Tiefe die Geschichte des menschlichen Geistes kein Beyspiel aufzuweisen hat.« Reinhold, Geist unsres Zeitalters, S.  228. Siehe auch: Fréret, Réflexions, S.  152; Irailh, Les encyclopédistes, S.  146; Rousseau, Émile, Bd.  1, S.  iii; [Deschamps], Lettres, S.  51; anon., [­Rezension zu:] Philosophical Essays, S. 170; Kornmann, Die Sibylle der Religion, S. 109. 147 Rigoley de Juvigny, De la décadence, S. 452–453. 148 In seiner Gedenkrede auf Ludwig XV. brachte der Bischof von Senez, Jean-BaptisteCharles Marie de Beauvais (1731–1790), dieses Paradox paradigmatisch auf den Punkt: »Siècle dix-huitieme, si fier de vos lumieres, & qui vous glorifiez entre tous les autres du titre du siecle Philosophe, quelle époque fatale vous allez faire dans l’histoire de l’esprit & des mœurs des Nations? Nous ne vous contestons point le progrès de vos connoissances: mais la foible & superbe raison des hommes ne pouvoit-elle donc s’arrêter à son point de maturité? Après avoir réformé quelques anciennes erreurs, falloit-il, par un remede destructeur, attaquer la vérité même? Il n’y  a donc plus de supersitition, parce qu’il n’y aura plus de Religion; plus de faux héroïsme, parce qu’il n’y aura plus d’honneur; plus de préjugés, parce qu’il n’y aura plus de principes; pluy d’hypocrisie, parce qu’il n’y aura plus de vertu. Esprits téméraires, voyez, voyez les ravages de vos systêmes, & frémissez de vos succès.« De Beauvais, Oraison funèbre, S.  56–57. In Auszügen zit. in: [Grimm], Paris, août 1774, S. 399–400. Vgl. Gembicki, Siècle, S. 256. Siehe auch: Maistre, Considérations, S. 64; Salat, Geist der Verbesserung. 149 Vgl. Martus, Negativität im literarischen Diskurs, S.  58–66. Erneut in: ders., Werk­ politik, S. 101–112. 150 De Crousaz, Examen du pyrrhonisme, S.  201. Siehe auch: Carlyle, On Heroes, S. ­201–202, 206–207. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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aus eine positive Rolle spielen konnte. War es möglich, aufgrund der aufklärerischen Denkart eine Moral zu bilden? Eine Sittlichkeit? Eine Religion? Konnte sie zu Enthusiasmus und Tatkraft anregen und geschichtliche Größe hervorrufen? Solche Fragen standen im Zentrum einer breit geführten Auseinandersetzung um den Nutzen und Nachteil der Aufklärung für das Leben. Darüber hinaus wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts immer deutlicher, dass die scheinbar harmlose Reinigungsfunktion des aufklärerischen Denkens in Bezug auf die soziopolitische Ordnung eine ungeheure, zerstörerische Dynamik entwickeln konnte.151 Viele zentrale und offenbar unersetzbare Elemente des menschlichen Lebens konnten sich, so zeigte sich zunehmend, vor dem Richterstuhl der entfesselten Vernunft nicht behaupten. Aber war die Gewalt der Vernunft über das Leben eine legitime Herrschaft? Oder war sie ein tyrannischer Usurpator, der alles, was nicht in seinem einseitigen Blickfeld passte aus dem Weg schaffen ließ? Während manche in der Rationalisierung der Wirklichkeit nur die überfällige Beseitigung von Irrtümern und Vorurteilen erblickten, die Befreiung des menschlichen Lebens von den unnatürlichen Ketten geschichtlich gewachsener Strukturen, sahen andere in ihr vor allem die Zerstörung von wertvollen und bewährten Formationen und die Reduktion des Lebens auf die Vorgaben eines schematischen, abstrakten Rasters.152 Ein Beispiel genügt, um den semantischen Horizont solcher Auseinander­ setzungen abzustecken. In der von Schiller herausgegebene Zeitschrift »Thalia« erschien im Jahr 1786 ein Aufsatz unter dem Titel »Ueber moderne Größe«. Sein Autor war Ludwig Ferdinand Huber (1764–1804), ein Schriftsteller der es später in der Mainzer Republik zu einiger Prominenz bringen würde. In diesem Text kamen viele der skizzierten semantischen Muster zusammen. Wie Grimm hatte Huber ein ambivalentes Verhältnis zur Aufklärung. Ebenso wie jener wies er auf das Paradox hin, dass das Zeitalter sich weniger durch dieses oder jenes Merkmal als durch die Fülle an Reflexionen auf das eigene Wesen auszeichnete. Nicht nur dem rückwärts gerichteten Blick des Historikers fällt der rasante Aufstieg der kulturgeschichtlichen Reflexion in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf. Schon die Zeitgenossen nahmen diese Entwicklung wahr und empfanden sie – in charakteristischer Weise – als symptomatisch für das eigene Zeitalter. 151 So schrieb Christian Gottfried Hoffmann (1692–1735) in der von ihm herausge­gebene metakritische Zeitschrift »Aufrichtige und Unpartheische Gedancken«: »Wir leben in einem Seculo da man an allen Sachen zweiffelt: Man darff auch deßwegen unsere Zeiten nicht ­tadeln. […] [N]unmehro hat ein iedweder einen Kopff vor sich; eine Philosophie vor sich, eine Meynung vor sich, und es ist fast zu besorgen, daß man sich es künftig vor einen Schimpf halten dörffte, wen man eine Meynung, die ein anderer vor uns gehabt hat, annehmen sollte.« Zit. n. Martus, Negativität im literarischen Diskurs, S. 62. Siehe auch: Tischer, Predigt, S. 16. Zit. in: Brendecke, Die Jahrhundertwenden, S. 289. 152 Borde, Profession de foi philosophique, S.  23–24; Saint-Germain, Du gouvernement des mœurs, S. 46–47; E. Burke, Reflections, S. 247; Bowles, Political and Moral State, S. 37; Arndt, Ueber Sitte, S. 11; Southey, Sir Thomas More, Bd. 1, S. 31. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Im Gegensatz zu Grimm bezog sich Huber nicht ausschließlich auf die Lobeshymnen der philosophes. Für die »gutgemeinten Beiwörtern aufgeklärt und philosophisch, womit manche das Zeitalter bestechen zu wollen scheinen« konnte er sogar ein gewisses Verständnis aufbringen. Genauso weit verbreitet – und in Hubers Augen deutlich störender – seien aber die Wehklagen über die Dekadenz des Zeitalters und den Verlust eines gewissen »fantastische[n] Ehedem«.153 Die Lobeserhebungen die man an das ieztlaufende Zeitalter verschwendet, heben sich reichlich gegen die Klagen auf, welche über den Verfall desselben geführt werden; und das achtzehnte Jahrhundert unterscheidet sich von allen vorhergehenden durch die Menge von widersprechenden Komplimenten und Sottisen, die man ihm von allen Seiten aufbürdet.154

Ungeachtet solcher Vorbehalte wollte Huber offensichtlich nicht darauf verzichten, selbst auch wiederum eine eigene Kritik am gegenwärtigen Zeitalter anzuschließen. Im Zentrum stand dabei die Frage, ob heutzutage noch menschliche Größe möglich sei. Seine Antwort war differenziert, fiel im Ganzen schließlich aber doch negativ aus. Obwohl es auch ›heute‹ noch immer wieder vereinzelte Beispiele menschlicher Größe gebe, seien diese immer nur Ausnahmen. Die persönliche Größe vereinzelter Individuen stehe, so Huber, gegenwärtig strukturell im Widerspruch zum Geist ihres Zeitalters, anstatt seine Folge zu sein. Die modernen Helden sähen sich demnach gezwungen, »besser als ihre Zeiten zu seyn«, während die großen Männer früherer Zeiten »blos ihrer Zeiten würdig waren«.155 »Unsre heutige Welt ist ein kleiner, eingeschrumpfter Körper, an welchem iedes Glied von männlichem Ebenmaas zu gros scheint.«156 Die Ursache der Kleinlichkeit des modernen Geistes liege aber nicht – wie der »Genfer Heraklit« gemeint habe – im Fortschritt der Kultur überhaupt.157 Um dies zu widerlegen verwies Huber, – ein Gemeinplatz der ›Anti-Rousseauistik‹ dieser Zeit aufgreifend – auf das klassische Griechenland, das »in seiner mächtigsten Epoke der Siz des besseren Wissens« gewesen sei.158 Erst die spezifische Eigenart der modernen Kultur habe die wesentliche Verkleinerung des Menschen herbeigeführt. In ihrer Charakterisierung griff der Autor auf das übliche Arsenal der Aufklärungskritik zurück. Die »ängstliche kalte Beleuchtung«, welche sie über die moderne Welt ausstreue, habe den Menschen die Fähigkeit genommen, sich begeistert einer großen Tat zu widmen.

153 Huber, Ueber moderne Größe, S. 6. 154 Ebd. 155 Ebd., S. 9. Er fügte hinzu: »Und so geschieht es, daß wir nur auf Kosten des Zeitalters den Menschen noch achten können.« Ebd., S. 12. 156 Ebd., S. 10. 157 Ebd. 158 Ebd., S. 10–11. Siehe auch: G. Walker, A Defence, S. 471–472. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Tugend und Größe ist analisirt worden: Man hat sie mit dem Seziermesser zerstükt, weil man sie schon als todt betrachtete. Alles ist Wissenschaft geworden, und das Gedächtnis hat das Herz aus der Mode gebracht. Das ewige prometheische Feuer liegt nun unbenutzt; denn die Aufklärung hat iedem sein Lämpchen angestekt, das ihm durch das bischen Leben hilft.159

Die bekannten Muster der Kritik an die Denkart der Aufklärung waren alle präsent: die verdrehte Lichtmetaphorik, die Gegensätze zwischen kalt und warm, zwischen lebendig und tot, zwischen Herz und Gedächtnis. Darüber hinaus bezog sich Huber aber noch auf eine weitere Konnotation, die zum traditionellen Bedeutungsgehalt des Kritikbegriffs gehörte und allgemein zur Kennzeichnung der aufklärerischen Denkart verwendet wurde. Das neue Denken ist analytisch. Die alte Grundbedeutung des Kritikbegriffs (krínein) als Trennung blieb auch in seinen neueren Verwendungen erhalten. Die Aufgabe der Vernunft wurde darin gesehen, das Wahre vom Falschen, das Urteil vom Vorurteil, die Natur von ihrer künstlichen Verstellung zu unterscheiden.160 Aus diesem Grund stand in solchen Zusammenhängen der Begriff der Analyse zentral. Von einem Fachbegriff der Mathematik und Logik wurde er zu einer Kategorie der Auseinandersetzung über das Denken überhaupt. Er bezeichnete die Grundoperation einer Denkart, welche das Einzelphänomen als Aggregatzustand auffasste, diesen auf seine konstituierenden Elemente reduzierte und seine Beschreibung und Erklärung als rekonstruierende Synthese­ leistung verstand.161 In der Artikulation der modernen, ›trennenden‹ Denkart rückten drei Bildregister in den Vordergrund, in denen das neue Denken metonymisch verkörpert zu sein schien. Zum Ersten handelte es sich dabei um die Analyse im engeren Sinne: die Chemie oder, wie man damals sagte: Scheidekunst. Der Chemiker galt als Repräsentant des neuen Zeitalters und der moderne Mensch erschien als 159 Huber, Ueber moderne Größe, S. 11. Das Bild des prometheischen Feuers entstammte wohl der Rede Karl Moors, in dem dieser sich mit dem »Tintenkleksenden Sekulum« auseinandersetzte: »Der lohe Lichtfunke Prometheus ist ausgebrannt, dafür nimmt man izt die Flamme von Berlappenmeel – Theaterfeuer, das keine Pfeiffe Tabak anzündet. Da krabbeln sie nun, wie die Ratten auf der Keule des Herkules, und studieren sich das Mark aus dem Schädel was das für ein Ding sey, das er in seinen Hoden geführt hat?« Schiller, Die Räuber, S. 17–18. 160 So definierte Christoph Martin Wieland (1733–1813) Aufklärung als: »so viel Erkenntniß als nöthig ist, um das Wahre und Falsche immer und überall unterscheiden zu können«. Ch. M. Wieland, Ein Paar Goldkörner, S. 98. 161 D’Alembert nannte die Gegenwart: »Notre siecle porté à la combinaison & à l’analyse«. D’Alembert, Discours préliminaire, S. xxxj. Vgl. zu diesem Thema: Cassirer, Philosophie der Aufklärung, S.  14–22; Tonelli, Analysis and Synthesis; Auroux und Kaltz, Analyse, Expé­ rience, S. 7–14, 21–28. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Chemiker.162 Alternativ konnte auch der Mathematiker als Gestalt des analytischen Geistes gelten. Über seine terminologische Bedeutung hinaus wurde ›Analyse‹ als Bezeichnung für die Mathematik überhaupt verwendet. Insofern diese wiederum als Geist des Zeitalters aufgefasst wurde, brachte man sie mit gefühlloser Kälte, eigennütziger Berechnung und einem verkürzenden, reduktiven Blick auf die Wirklichkeit in Verbindung.163 Vor allem die verheerende Auswirkung des esprit du calcul auf die Künste wurde dabei immer wieder thematisiert.164 Drittens erschien der moderne Mensch in seinem Verhältnis zur Wirklichkeit häufig als Anatom. Gerade wenn es um das wissenschaftliche Verhältnis zur Natur ging, galt der Wissenschaftler als Chirurg, der die Natur auf seinem Seziertisch zerlege. Die Kritik knüpfte – der Logik dieses Bildes gemäß – vor allem an zwei Punkten an. Zum einen, dass die auseinandergelegte Natur nur in ihren Einzelteilen, nicht länger aber in ihrer phänomenalen Ganzheit in den Blick komme. Zum anderen, dass die lebendige Einheit des ganzen Körpers unter den Tranchiermessern der Wissenschaftler verblute. »Unter ihren Händen starb die freundliche Natur, und ließ nur tote, zuckende Reste zurück«.165 In solchen Zusammenhängen erschien die Trennungsleistung der Analyse als die Fragmentierung der Wirklichkeit, ihre vorschnelle Zerlegung um den Preis eines höheren Erfahrungsgehalts. In diesem Sinne wurde die Figur des Wissenschaftlers mit dem Künstler, an erster Stelle dem Dichter, manchmal auch mit dem ›wahren‹ Philosophen kontrastiert.166 Während jener infolge seiner unersättlichen Neugierde letztendlich nur die »Krankenstube« oder gar das »Beinhaus« der Natur betrete, stehe dieser in einem grundsätzlich anderen Verhältnis zu ihr. Er versuche sie nicht zu beherrschen, sondern begegne ihr auf Augenhöhe und mit gebührendem Respekt. Dadurch sei er im Stande, ihre lebendige Fülle unmittelbar zu genießen.167 162 Féraud, Dictionnaire critique, Bd. 1, Art. ›Critiquable‹, S. 633; Schiller, Ästhetische Erziehung, S. 9; Lichtenberg, Bemerkungen, S. 64–65; Novalis, Die Lehrlinge zu Sais, S. 233–234. 163 Clemens Brentano (1778–1842) sah darin ein wesentliches Merkmal des Philisters: »Sie nennen die Natur, was in ihren Gesichtskreis oder vielmehr in ihr Gesichtsviereck fällt, denn sie begreifen nur viereckigte Sachen, alles andere ist widernatürlich und Schwärmerei.« [Brentano], Der Philister, S. 16–17. 164 De Bernis, Le printemps, S. 11; Rigoley de Juvigny, De la décadence, S. 376; Novalis, Heinrich von Ofterdingen, Bd. 2, S. 54; Virey, L’influence des femmes, S. 49; Lamartine, Méditation dixième; Carlyle, Signs of the Times, S. 451; Southey, Sir Thomas More, Bd. 1, S. 79. Zum umkämpften Status des Literaturbegriffs und den Kämpfen zwischen den Ansprüchen der Philosophie, der Wissenschaft und der Literatur, vgl. Diaz, L’autonomisation de la littérature. 165 Novalis, Die Lehrlinge zu Sais, S. 175–176. Siehe auch: Linguet, Fanatisme, S. 17; Schubart, Europa und Asia, S. 483. 166 Schiller, Universalgeschichte, S. 111. 167 [D’Arc], La noblesse militaire, S.  49–50; Linguet, Fanatisme, S.  21; Rousseau, Les rêveries, S. 195; E. Burke, Reflections, S. 76, 113; Carlyle, Signs of the Times, S. 454; Coleridge, Coleridge’s System of Philosophy, S. 1. Dagegen: d’Argens, Critique du siécle, Bd. 1, S. 240, 276–277. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Das neue Denken ist irreligiös. Wo der Kritikbegriff auf das Ganze des neuen Denkens angewendet wurde, handelte es sich zunächst vor allem um Zusammenhänge, in denen er mit religiöser Skepsis, Agnostizismus, Deismus oder gar Atheismus assoziiert wurde. Kritik und Religion wurden als Antonyme aufgefasst. Der Widerstand gegen die Aufklärung gestaltete sich seit dem 17.  Jahrhundert in erster Linie als Kampf gegen Freigeisterei und Gottlosigkeit. Auch im 18. blieb die Frage nach dem Verhältnis zwischen Religion und Aufklärung bedeutsam. Als sich der Satiriker Josef Stransky in der Vorrede seines »Der Spotter, oder Zytherens Sieg« (1793) beklagte, dass er für sein »Büchelchen« keinen Mäzen finden könne, schrieb er verzweifelt: »Ist izt ein gar kritisches Zeitalter! – damnosa quid non gignit dies!«168 Wie sich im Folgenden herausstellte, bezog er den Ausdruck in diesem Zusammenhang weniger auf die kantische Philosophie als auf die Tradition der critica sacra und der aufklärerischen Religionskritik: Vor einem halben Jahrhundert hätte ich die heilige Kuria, oder sonst eine Eminenz – oder eine Hochwürden und Gnaden zu Gevatter gebeten, sechs Blätter mit Verdiensten, Einsicht, Geschmack und – Verstand des Herrn Mezänaten [sic] angefüllt, und ich  – wäre für meine Mühe belohnt worden; doch aus diesen goldenen Zeiten der Schriftstellerzunft hat uns das verdammte Aufklärungsgeschmeiß herauskritikakelt. O tempora o mores! muß ich mit vielen Mönchen ausrufen.169

Stransky spielte auf die antireligiöse Konnotation des aufklärerischen Denkens an. Von Anfang an hatten sich die Aufklärer gegen die Macht der Kirche gerichtet.170 Auf soziopolitischem Gebiet wehrten sie sich gegen den – infamen – Einfluss der Kirche in weltlichen Angelegenheiten. Auf ihrem eigenen Feld, im Bereich des Wissens, trachteten sie die philosophie aus den Ketten der Theologie zu befreien. Wie sie sich selbst jede Aussage über das Übernatürliche entsagten – ja sogar immer wieder ausdrücklich darauf hinwiesen, dass sie solche mit ihren Mitteln nicht liefern konnten –, forderten sie ihrerseits vollkommene Freiheit in Sachen des Natürlichen. Sie weigerten sich, Dogmen oder Tradition als Beschränkungen ihres Erkenntniswillens anzuerkennen, und schoben sie als bloße Vorurteile zur Seite. Nichts war ihnen auf der Suche nach der Wahrheit von vornherein heilig; alles durfte angezweifelt werden. 168 Stransky, Der Spötter, S. 5. Der Satz spielte offenbar auf einen Vers aus der im ersten Kapitel erwähnten horazschen Ode an: »damnosa quid non imminuit dies?« 169 Stransky, Der Spötter, S. 5–6. So nannte Jean Paul seine Gegenwart eine »kritisirende und kritische; – schwebend zwischen dem Wunsche und dem Unvermögen zu glauben – ein Chaos wider einander arbeitender Zeiten«. Jean Paul, Levana, Bd. 1, S. 113–114. Siehe auch: Sherlock, A Discourse, S. 441; anon., [Rezension zu:] An Essay on the Writings, S. 130; Von Eckartshausen, Ueber Religion; Kleuker, Neue Prüfung, Bd. 2, Vorbericht [o. S.]. 170 Gay deutete die Aufklärung in diesem Sinne auch als »The Rise of Modern Paganism«. Gay, The Enlightenment, Bd. 1. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Obwohl das Verhältnis der meisten Aufklärer zu Religion und Kirche ausgesprochen komplex war und der Atheismus Sache weniger Ausnahmen blieb, wurde diesen Radikalen in der öffentlichen Diskussion eine Symbolkraft zugemessen, die weit über ihre zahlenmäßige Bedeutung hinausging. Gerade auch die Gegner der Aufklärung schilderten deren radikalsten Vertreter gerne als typische Repräsentanten ihres Gedankenguts, um so die ganze Bewegung in Diskredit zu bringen. So konnte es passieren, dass – wie Jonathan Israel immer wieder betont hat – eine kleine Gruppe wirklich radikaler Aufklärer die Debatte über die Aufklärung im Griff hielt: Hence it became a typical feature of intellectual conflict that moderates endeavoured to shield themselves against conservatives by stressing, even exaggerating, the gulf dividing them from the universally reviled and abhorred radicals while, simultaneously, traditionalists sought a tactical advantage, in their public discourse, by minimizing the gap separating the latter from the moderates as much as possible.171

Während sich Israel vorwiegend auf die Periode vor 1750 bezog und der Auseinandersetzung um Spinozismus und Deismus eine zentrale Bedeutung zusprach, hat Kondylis in der Aufklärungsdebatte ab der Jahrhundertmitte eine analoge Struktur ausgemacht. In diesem Zeitraum wurde die Frage nach der Existenz Gottes und seiner Rolle in der Geschichte allmählich zugunsten politischen und ethischen Fragestellungen in den Hintergrund gedrängt. Der Verzicht auf die Bibel oder die kirchliche Tradition als Legitimationsquelle der moralischen, politischen und sozialen Ordnung konfrontierte die Aufklärer mit der Frage, wie auf der schmalen Basis einer im weitesten Sinne materialistischen Meta­physik eine naturalistische Ethik konstruiert werden konnte. Nur vereinzelte Autoren – Kondylis nannte Julien Offray de la Mettrie (1709–1751) und den Marquis de Sade (1740–1814) mit Nachdruck »die Konsequenten« – waren bereit, die letzten, nihilistischen Konsequenzen aus ihrem entgeistigten Weltbild zu ziehen. Diese Wenigen aber beherrschten als Schreckensgespenster die Debatte. Einerseits verschafften sie Aufklärungsgegnern die Gelegenheit, über die gesamte Aufklärung einen generellen Nihilismusverdacht auszurufen. Andererseits nötigten sie den zahlreichen Gemäßigten, ihre Position immer wieder von den wenigen Radikalen abzugrenzen.172 Solche Effekte prägten die Debatte um die Aufklärung nachhaltig. Indem die Äußerungen ihrer radikalsten Vertreter der Aufklärung im Ganzen zugeschrieben wurde, ließ sich diese metonymisch als atheistisch, negativ, zerstörerisch und politisch revolutionär darstellen. Angesichts dessen sah sich jeder aufklärerisch gesinnte Autor zunächst vor die Aufgabe gestellt, solche Konnotationen 171 Israel, Radical Enlightenment, S.  12. Siehe auch: ders., Enlightenment Contested, S. 38–40. 172 Kondylis, Die Aufklärung, S.  53–56, 503–518. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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zu widerlegen, um so die eigene, differenzierte Position artikulieren zu können. Der Einblick in diese Dynamik rückt auch die oft vertretene Ansicht, die Gegner der Aufklärung hätten von vornherein ein Rückzugsgefecht auf ver­lorenem Posten geliefert, in ein anderes Licht. Auf der Ebene der argumentativen Struktur kann vielmehr das Umgekehrte festgestellt werden. Die Positionen, die uns rückblickend als die zukunftsweisende erscheinen, mussten ihre Stellung in einem langen Prozess stetiger Argumentation aus unterlegener rhetorischer Position erarbeiten. Die Aufklärer sprachen aus der Verteidigung heraus. Daraus erklärt sich auch die kämpferische Stimmung ihrer Schriften, die auch dann noch andauerte, als sie sich in den geselligen, literarischen und wissenschaftlichen Institutionen der Zeit schon längst durchgesetzt hatten. Das neue Denken wird wesentlichen Bereichen des menschlichen Lebens nicht gerecht. Spätestens seit Horkheimer und Adornos »Dialektik der Aufklärung« (1947) ist es üblich, die Grenzen des aufklärerischen Denkmodus ausgehend vom Gegensatz zwischen Mythos und Logos zur Sprache zu bringen.173 Vor allem in literatur- und philosophiegeschichtlichen Zusammenhängen spielen solche Begrifflichkeiten bis heute eine Rolle. Zentraler Bezugspunkt solcher Erörterungen ist das sogenannte ›älteste Systemprogramm des deutschen Idea­ lismus‹, ein vermutlich von 1797 stammendes Textfragment dessen Verfasser nie zweifelsfrei festgestellt werden konnte und in dem die Notwendigkeit einer »neuen Mythologie« bzw. einer »Mythologie der Vernunft« im Mittelpunkt steht.174 Ob es aus philosophiegeschichtlicher Sicht zutrifft, dass dieser Text »wie ein Markstein an der Schwelle zur Modernität« steht, kann hier nicht entschieden werden.175 Im Rahmen einer historisch-semantischen Fragestellung kommt dem Text zunächst ein eher geringeres Gewicht zu. Nicht nur, weil er nur handschriftlich überliefert ist und erst 1917 zum ersten Mal publiziert wurde, sondern vor allem, weil der Mythosbegriff in den zeitgenössischen Auseinandersetzungen um das neue Denken keine besondere Rolle spielte.176 Dennoch bietet der Text ein Beispiel eines anderen Argumentationsmusters, das gegen Ende des 18. Jahrhunderts tatsächlich weit verbreitet war. Es geht um 173 Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung. 174 Rosenzweig, Das älteste Systemprogramm. Zum Text und seiner Wirkungsgeschichte, vgl. Jamme und Schneider, Mythologie der Vernunft; Hansen, »Das älteste Systemprogramm«. 175 Frank, Kaltes Herz, S. 99. Vgl. auch: Holzhey und Leyvraz, Rationalitätskritik; Jamme, Aufklärung via Mythologie; Winkler, Die Wiederkehr des Schicksals. 176 Das Motiv der ›neuen Mythologie‹ tauchte in Deutschland gelegentlich in ästhetischen und philosophischen Zusammenhängen auf. Herder, Fragmente. Zweite und dritte Sammlung, S.  242–277, (Abschnitt: ›Vom neuern Gebrauche der Mythologie‹); F. Schlegel, Rede über die Mythologie; Schelling, System des transcendentalen Idealismus, S. 477–478; A. W. Schlegel, Ueber Litteratur, S.  58. Dagegen richtete sich: Schleiermacher, Über die Religion, S. 365. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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den Gedanken, dass die Vernunft oder die Philosophie in ihrer gegen­wärtigen Gestalt  – im Systemprogramm hieß sie die Philosophie der »Buchstaben Philosophen«177 – dem Ganzen des menschlichen Wesens nicht gerecht werde. Erst eine ›ästhetisierte‹ Philosophie könne über die bloße Vernunft hinausgehen und so mythologisch werden. Nur so könne die fundamentale Beschränkung des bloß Vernünftigen überwunden werden: »Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen.«178 Der Text ist um eine Antwort auf das Problem der einseitigen Ausbildung menschlicher Seelenkräfte in der aufgeklärten Moderne bemüht. Obwohl die spezifische Antwort in vielerlei Hinsicht einzigartig war, spielte diese Problemstellung in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts eine Hauptrolle in den Auseinandersetzungen um das neue Denken. Wie im ersten Kapitel erörtert, bildeten die Einseitigkeit des Fortschritts und seine Ungleichmäßigkeit in verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren feste Motive seiner Kritik. Im Kontext der Aufklärungsdiskussion wurden die Entwicklungen im Bereich des Wissens in diesem Sinne mit denen auf anderen Feldern kontrastiert: die Moral, die Sittlichkeit, die Kunst hielten mit den kognitiven Leistungen der Menschheit nicht Schritt. Solche Argumente implizierten eine subtile, aber grundlegende Akzentverschiebung gegenüber der älteren Diskussion. Als die Kritik an der Aufklärung sie am Anfang des 18. Jahrhunderts noch weitgehend als Synonym von ›Freigeisterei‹ auffasste, setzte dies die Konkurrenz zweier Wissensformen voraus, die beide Anspruch auf eine vollständige Beschreibung der Realität erhoben. Seit Descartes hatte die Universalität als wesentliches Merkmal der neuen Methode gegolten. Das neue Denken sei nicht auf einen spezifischen Themenbereich beschränkt, sondern biete einen neuartigen Blick auf das Ganze. Auch als die philosophische Methode sich allmählich von ihrer mathematischen und systematischen Gestalt löste, blieb dieser Totalitätsanspruch erhalten.179 Aufgrund dieses Anspruchs erschienen Philosophie und Religion als konkurrierende Auffassungsmodi der Wirklichkeit. Sie wurden nach der Logik kommunizierender Röhren, oder genauer: als streitende Fraktionen konzipiert: jeder Sieg des Einen bedeute eine Niederlage des Anderen. Diese Grundvorstellung beherrschte die Diskussion im späten 17. und dem frühen 18. Jahrhundert. Sie ging später in die quasi-politische Vorstellung des Parteienstreits ein. Gleichzeitig sind im Laufe des 18. Jahrhunderts zwei neue semantische Entwicklungen wahrzunehmen. Zunächst kann eine Pluralisierung der Gegenbegriffe festgestellt werden. Obwohl Religion ein wichtiger Kon-

177 Rosenzweig, Das älteste Systemprogramm, S. 7. 178 Ebd. 179 Cassirer, Philosophie der Aufklärung, S.  5–6, 23–24. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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trastbegriff zu Aufklärung blieb,180 wurden neben ihr jetzt auch andere Lebens­ bereiche als Kontrastfolien genannt. Nicht nur Literatur und Kunst, sondern auch Sitten, Moral, Politik, Recht und Liebe konnten als Gegenbegriffe zum semantischen Komplex Philosophie – Aufklärung – Verstand – Wissen verwendet werden. Damit ging ein grundsätzlicher Wandel im argumentativen Rahmen der Aufklärungskritik einher. Die Gegnerschaft gegen die Aufklärung mündete nicht länger automatisch in die Befürwortung der Religion. Neben einer solchen binären Kritik wurden jetzt auch andere Varianten möglich, die an die wesentliche Pluralität kultureller Felder anknüpften. In ihnen erschienen die verschiedenen Begriffe nicht als direkte Opponenten, sondern als gleichberechtigte Aspekte eines vorhergehenden Ganzen. Ausgangspunkt solcher neuen Variationen der Aufklärungskritik war die Norm einer ganzheitlichen Bildung der Seele. Es wurde die Aufklärung als die Ausarbeitung einer menschlichen Fakultät unter mehreren, prinzipiell gleichwertigen aufgefasst. Obwohl seine Fortschritte durchaus positiv gewertet werden konnten, brächten sie gleichzeitig die Gefahr mit sich, dass die Konzentration auf einen einzelnen Bereich die relativen Rückstände in anderen verdecken  – oder gar verstärken  – könne.181 Begrifflich gesprochen wurde in diesem Zusammenhang die spezifische, psychologische Bedeutung des Vernunftbegriffs gegen seine Tendenz zur metonymischen Generalisierung ausgespielt.182 Um die eigenständige Bedeutung alternativer Seelenkräfte für die ganzheitliche Bildung des Menschen zu artikulieren, wurde auf ein vermögens­ psychologisches Vokabular zurückgegriffen: das Gefühl, die Liebe, der Wille, der religiöse Sinn, die Hoffnung, die Tatkraft oder die Phantasie wurden gegen die Alleinherrschaft der Vernunft ins Feld geführt.183 Derart wurde das Arsenal der Aufklärungskritik in den letzten Jahrzehnten des 18.  Jahrhunderts um eine neue Dimension erweitert. Obwohl die bi 180 Beispielsweise in der langjährigen Auseinandersetzung um Thomas Paines ­(1737–1809) deistische Kampfschrift: Paine, The Age of Reason. Siehe beispielsweise: Williams, The Age of Infidelity; ders., The Age of Credulity; Jones, The Age of Unbelief; Boudinot, The Age of Revelation. Or, The Age of Reason Shewn to be an Age of Infidelity; Nares, A View of the Evidences of Christianity at the Close of the pretended Age of Reason. 181 So fragte sich Jean Paul: »Sollte vielleicht, da das Licht schneller geht als die Wärme, und die Umarbeitung des Kopfes schneller als die des Herzens, der Lichteinbruch immer durch seine Plötzlichkeit dem unvorbereiteten herzen feindlich erscheinen?« Und: »Von jeher aber ging bei Völkern der Kopf dem Herzen oft um Jahrhunderte voraus, wie bei dem Negerhandel; ja um Jahrtausende, wie vielleicht bei dem Kriege.« Jean Paul, Levana, Bd. 1, S. 115, 119. 182 Hegel nannte die Aufklärung eine »Eitelkeit des Verstandes«. Hegel, Philosophie der Religion, S. 287. 183 Claudius, Eine Correspondenz, S.  65–66; Zimmer, Philosophische Untersuchung, Vorrede [o. S.]. Wie im zweiten Kapitel ausgeführt kursierten analoge Argumentationsmuster auch im Kontext wirtschaftlicher Debatten, in denen sie in Reaktion auf das Motiv der Arbeits­teilung entwickelt wurden. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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nären Kritiklinien nie vollständig ersetzt oder verdrängt wurden, stellte sich ihnen ein alternatives Argumentationsmuster zur Seite, das an eine pluralistische, vielmehr denn eine holistische Ganzheitsvorstellung anknüpfte. Diese Art von Kritik wurde verstärkt durch die Tatsache, dass der semantische Gegensatz zwischen Partialität und Ganzheit in zweifacher Weise mit dem Aufklärungsbegriff in Verbindung gebracht werden konnte. Nicht nur der ›ganze Mensch‹, auch die ›ganze Wirklichkeit‹ werde, so hieß es kritisch, durch die Vorherrschaft der aufgeklärten Vernunft verfehlt. Gerade um die Wende zum 19.  Jahrhundert spielte dieser Topos des fehlenden Ganzheitsbezugs eine bedeutsame Rolle in der Kritik am neuen Denken. Wesentliche Aspekte der Realität blieben dem prüfenden Blick des Verstandes verschlossen. Solche Kritik konnte an die analytisch-fragmentierenden Konnotationen des neuen Denkens anknüpfen, um die Unzulänglichkeit und den reduktiven Charakter des aufgeklärten Wirklichkeitsbezugs anzuprangern. Der »alles trennende Verstand« wurde der »alles vereinende[n] Natur« entgegengesetzt.184 Eine solche Kritik am neuen Denken führte die Notwendigkeit einer Reflexion auf den spezifischen Wissensmodus, auf dem sie selbst basierte, mit sich. Die Grenzen der kritischen Vernunft konnten – logischerweise – nur aus einer übergeordneten, über-vernünftigen Perspektive sichtbar werden. So sah sich die Kulturkritik der Aufklärung vor die Aufgabe gestellt, einen alternativen Wissensmodus zu formulieren, der imstande war, das Ganze des menschlichen Lebens zu überschauen. Im diskursiven Kontext, in dem Aufklärung und Wissen weitgehend synonym verwendet wurden, erhielten solche Versuche notgedrungen die Form einer Rehabilitierung unterschiedlicher Erkenntnisbegriffe, die außer Mode gekommen waren. Unterschiedliche Begriffe wurden in dieser Rolle ausprobiert: Phantasie, Ahnung, Anschauung und Glaube wurden ebenso genannt wie Vision, Gefühl, Einbildung und Inspiration. Dieser Pluriformität lag aber immer wieder die gleiche Sprachhandlung zugrunde: die Abgrenzung eines alternativen Weltzugangs von der als epochal-herrschend aufgefassten Denkart der Aufklärung. Die genannten Konnotationen funktionierten in solchen Zusammenhängen als rhetorischer Ausgangspunkt: Das Denken des Kulturkritikers sei nicht kritisch, sondern schöpferisch, nicht negativ, sondern positiv, nicht analytisch, sondern synthetisch, nicht reduktiv und fragmentierend, sondern ganzheitlich und umfassend.185 Auch in diesem Kontext wurde die Lichtmetaphorik herangezogen, um die Gegnerschaft gegen das neue Denken zu artikulieren. Unter der Vorherrschaft 184 Schiller, Ästhetische Erziehung, S. 27. Und: »Die Aufklärung, deren sich die höhern Stände unsers Zeitalters nicht mit Unrecht rühmen, ist bloß theoretische Kultur und zeigt, im ganzen genommen, so wenig einen veredelnden Einfluß auf die Gesinnung, daß sie vielmehr bloß dazu hilft, die Verderbnis in ein System zu bringen und unheilbar zu machen.« Schiller, An Friedrich Christian von Augustenburg, S. 263. 185 Vgl. Berlin, Counter-Enlightenment [b], S. 17. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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des Lichts hatten Nacht und Schatten eine untergeordnete Rolle bekleidet. So wie dem Übel in der mittelalterlichen Theologie kein eigenständiges Sein zugesprochen wurde, sondern es lediglich als Mangel des Guten (privatio boni) erschien, so galt in aufklärerischen Diskursen die Finsternis als nachgeordnete Mangelerscheinung, als privatio lucis. Im Rahmen der versuchten Artikulation alternativer Erkenntnisweisen kam es in Reaktion darauf nun aber wiederholt zu Versuchen, das Dunkel aus seiner semantischen Unterordnung zu befreien und als eigenständige kognitive Sphäre ernst zu nehmen.186 Die »neue europäische Zunft« der Aufklärer hatte, so erklärte Novalis ­(1772–1801) in »Die Christenheit oder Europa« (1799), das Licht zum höchsten Prinzip der Wirklichkeit ausgerufen. Das Licht war wegen seines mathematischen Gehorsams und seiner Frechheit ihr Liebling geworden. Sie freuten sich, daß es sich eher zerbrechen ließ, als daß es mit Farben gespielt hätte, und so benannten sie nach ihm ihr großes Geschäft, Auf­ klärung.187

Aus dieser Welt, in der das Licht »in ewiger Unruh hauset«, heraus zog es Novalis in die Nacht. In seinen von Edward Youngs »Night-Thoughts« (1742–1745) inspirierten »Hymnen an die Nacht« (1800) trachtete er, der blendenden Mittagssonne der Aufklärung eine Alternative entgegenzusetzen.188 Das allzu helle Licht der Aufklärung, als Prinzip der fortschreitenden Vernichtung der Finsternis aufgefasst, werde der Wirklichkeit nicht gerecht. Im Laufe ihres Siegeszuges sei immer deutlicher geworden, dass es »nur ein geborgtes Licht war, und daß wir mit den bekannten Werkzeugen und den bekannten Methoden nicht das Wesentliche, das Gesuchte finden und construiren würden«.189 Erst in der »Nachtbegeisterung«, befreit von »des Lichtes Fessel« stelle sich die Welt in ihrer wahren Gestalt dar: in der Ahnung einer Zukunft, in der jede Trennung – auch die von Licht und Finsternis – aufgehoben sein würde.190 In dieser Weise bildete sich das kognitive Selbstverständnis des Kulturkritikers in Abgrenzung von und Auseinandersetzung mit einer spezifischen Vorstellung der aufklärerischen Denkart. 186 Vgl. zu dieser Semantik in erkenntnistheoretischen Zusammenhängen: Adler, Fundus Animae. 187 Novalis, Die Christenheit oder Europa, S. 200. 188 E. Young, Night-Thoughts; Novalis, Hymnen an die Nacht. Dagegen: »Aufklärung verscheucht jene in neuester Zeit in Hymnen besungne Nacht, in welcher die Scheiterhaufen der Inquisition so höchst poetisch flammten.« Robert, Kämpfe der Zeit, S. 186. 189 Novalis, Hymnen an die Nacht, S.  206. Analog dazu nannte Hamann das Licht der Aufklärung »ein bloßes Nordlicht« und »ein kaltes unfruchtbares Mondlicht ohne Auf­ klärung für den feigen Verstand und ohne Wärme für den feigen Willen«. Hamann, Brief an C. J. Kraus, S. 191. 190 Novalis, Hymnen an die Nacht, S. 191–192. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Wissensordnung Eine bedeutende Entwicklung der historischen Wissensforschung der letzten Jahrzehnten liegt darin, dass neben den Erkenntnisinhalten zunehmend auch andere Aspekte der Erzeugung, des Transfers und der Rezeption des Wissens in Betracht gezogen werden. Die Frage, wie sich das soziale Feld konstituiert, auf dem Wissen hervorgebracht, verarbeitet, kommuniziert und rezipiert wird, rückt zunehmend in den Mittelpunkt, wobei Institutionen und Organisationsformen ebenso beachtet werden wie Akteure und Praktiken, Instrumente und Methoden, Medien und Kommunikationsnetzwerke. Unter dem neuerdings kursierenden Begriff der ›Wissensordnung‹ werden solche Aspekte der »Selektion, Systematisierung, Organisation und Präsentation von Wissen« zusammengefasst.191 Im Rahmen unserer Fragestellung spielt diese Ordnung auf zwei Ebenen eine Rolle. Einerseits ist Kulturkritik als Diskurs an die materiellen, sozialen, medialen, wirtschaftlichen und institutionellen Formen zeitgenössischer Wissensordnungen gebunden. Andererseits wird deren Entwicklung im Diskurs der Kulturkritik auch inhaltlich verarbeitet. Ungeachtet, wie sich die Figur des Kulturkritikers diskursiv konstituierte, sozialhistorisch gesprochen war er an erster Stelle ein homme de lettres.192 Nur insofern der Kritiker sich auf die Rahmenbedingungen des literarischen Feldes einließ, war er in der Lage, seinen Äußerungen eine weitere Zirkulation zu gewähren.193 Diese Bedingungen änderten sich im Laufe des Untersuchungszeitraums grundlegend.194 Generell kann eine starke Expansion und Diversifikation des literarischen Marktes festgestellt werden. Die Zahl der Einzelveröffentlichungen stieg ebenso wie die ihrer Durchschnittsauflagen. Neue Textformate entstanden, alte erhielten eine neue Signifikanz. Eine Vielzahl neuer Periodika erschienen, mit einem immer größeren Absatz und einem immer schnelleren Erscheinungszyklus. Das Verlagswesen wurde reorganisiert und differenziert und hielt so Schritt mit den technischen und organisatorischen Fortschritten des Druck­ verfahrens. Obwohl kirchliche und staatliche Zensur weiterhin ein beschränkender Faktor blieb, fand die Branche immer neue Wege, sie zu umgehen.195 191 G. Oesterle, Einleitung: Wissensordnungen, S. 261. Vgl. auch: Spinner, Die Wissens­ ordnung, S.  19–52. Eine Alternative wäre der Terminus ›Wissenskultur‹, welcher im Rahmen dieser Studie aber zu Missverständnissen führen könnte. Vgl. Fried und Kailer, Wissenskultur(en) und gesellschaftlicher Wandel; Detel und Zittel, Wissensideale und Wissenskulturen; Schneider, Kulturen des Wissens. 192 Vgl. zu diesem Thema besonders: Roche, Les républicains des lettres; Chartier, L’homme de lettres. 193 Selbstverständlich gilt dies nur in Bezug auf schriftlich vorgebrachte Kulturkritik. 194 Vgl. zur Einführung: Raven, Judging New Wealth, S. 42–60; Melton, The Rise of the Public, S. 81–122. 195 Vgl. insbesondere: Darnton, The Forbidden Best-Sellers; ders., Clandestine Literature. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Diese Entwicklungen auf der Produktionsseite hatten ihr Pendant auf der Seite der Konsumenten, der Leser. Der seit dem 17.  Jahrhundert einsetzende Alphabetisierungsschub beschleunigte sich, wobei vor allen in den Provinzen, unter Frauen und in den unteren Bevölkerungsschichten große Fortschritte gemacht wurden. Gleichzeitig änderten sich die Praktiken des Lesens grundsätzlich, so dass in der Forschung manchmal von einer Leserevolution ge­ sprochen wird.196 Die traditionelle, intensive Leseart musste einer extensiveren Variante weichen: Statt der wiederholten, kollektiven Lektüre weniger autoritativer Schriften wendeten sich die Leser zunehmend der extensiven, stillen Einzellektüre vieler verschiedener Texten zu. Das Lesen diente nunmehr weniger der Informationsvermittlung und Charakterbildung als der Zerstreuung und Unterhaltung. Darüber hinaus erleichterten verschiedene Organisationsformen wie die Lesegesellschaft oder die öffentliche Bibliothek den Zugang zur Literatur für immer weitere Kreise. In Kombination mit der absoluten Bevölkerungszunahme entstand so ein breites Lesepublikum, auf das die Verlagsindustrie aufbauen konnte. Im Lichte der gesteigerten Nachfrage wurde das literarische Produkt zu Massen­ware. Demzufolge entstand auch eine enorme Nachfrage nach dem Rohstoff dieser Industrie, den Medieninhalten oder wie man heute sagt: dem ­Content. Vor diesem Hintergrund änderten sich wiederum die Realität sowie die gesellschaftliche Wahrnehmung des Sozialtypus des Schriftstellers.197 Seine traditionelle Bindung an das adelige Mäzenatentum löste sich allmählich. Obwohl die Verankerung in der geselligen Welt weiterhin bedeutsam blieb, übte eine immer größer werdende Zahl der Schriftsteller ihre Tätigkeit nunmehr als unabhängige, freischaffende Autoren aus.198 Freilich war ihre Emanzipation von den traditionellen Klienteleverhältnissen ein zweischneidiges Schwert. In einer Zeit, in der Urheberrechte noch weitgehend unbekannt waren, konnten nur vereinzelte Schriftsteller vom Verkauf ihrer Schriften leben. Die Anziehungskraft dieser Elite war aber groß und zog zahlreiche ambitionierte Jugendliche in die Großstadt, die ihr Glück als freie Schriftsteller versuchen wollten. So entstand neben den wenigen Bestsellerautoren ein vielfältiges und zahlreiches literarisches Prekariat, das jede Chance – ob legal oder illegal – ergriff, sich finanziell über Wasser zu halten.199 Den Studien zu den sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Aspekten des literarischen Feldes stellt sich eine weitere Forschungstradition zur Seite, in der 196 Die These Rolf Engelsings ist in seiner allgemeinen Gestalt vielfach kritisiert worden, behält jedoch als Nachzeichung einer allgemeinen Tendenz seine Richtigkeit. Vgl. Engelsing, Der Bürger als Leser; Darnton, Readers Respond to Rousseau, S. 249–250; Wittmann, Gibt es eine Leserevolution?. 197 Vgl. Melton, The Rise of the Public, S. 123–159. 198 Siehe dazu auch: Kapitel III. 199 Vgl. Darnton, The High Enlightenment; ders., A Police Inspector Sorts His Files. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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dieser Bereich unter dem Aspekt des Wandels bzw. der Neukonstruktion einer eigenständigen gesellschaftlichen Sphäre betrachtet wird. Jürgen Habermas formulierte in seiner klassischen Arbeit »Strukturwandel der Öffentlichkeit« (1962) die äußerst wirkungsvolle These, im 18.  Jahrhundert habe eine spezifisch moderne, »bürgerliche« Öffentlichkeit ihre vormoderne, »repräsentative« Variante abgelöst.200 Während sich diese dadurch ausgezeichnet habe, dass in ihr die gesellschaftliche Stellung und Würde einer Person zum Ausdruck gebracht wurde, so habe sich jene vielmehr als Sphäre kritisch-argumentativer Urteilsbildung, in der symbolische Ordnungen ausgeblendet wurden, konstituiert. Die soziale Identität sollte – so wollte es zumindest das Idealbild – gleichsam vor Eintritt in die Öffentlichkeit abgelegt werden, so dass sich das Gespräch als rationale Auseinandersetzung unter Gleichen habe gestalten können. In diesem Bereich habe ein gesetzloser Zustand permanenter Kritik aller über alle geherrscht. Die einzig anerkannte Autorität sei die kritische Vernunft selbst gewesen.201 Ausgehend von Habermas’ idealtypischem Modell sind seitdem viele historische Studien der Frage nach Mythos und Wirklichkeit dieses öffentlichen Raums nachgegangen. Ob aus sozialgeschichtlicher, historisch-semantischer oder ideengeschichtlicher Perspektive, immer wieder wurde gefragt, wie sich dieser Raum diskursiv und praktisch konstituierte, wer Zugang zu ihm erhielt und welche Kommunikationsformen ihm zugrunde lagen.202 Ein zweites Leitkonzept dieses Forschungszweigs ist der von der früh­ neuzeitlichen Selbst- und Fremddarstellung der Literaten ausgehende Begriff einer république des lettres. Wie bei der Öffentlichkeitsforschung wird auch hier ein Quellenbegriff zum Anlass genommen, das Spannungsfeld zwischen Ideal und Wirklichkeit des literarischen Feldes zu vermessen.203 Und auch hier liegt der Akzent auf der diskursiven Konstitution einer eigenständigen Sphäre nichtstaatlicher Legitimationsverhandlung. Ebenso wie die Öffentlichkeit wurde die Gelehrtenrepublik als herrschaftsfreier Raum konzipiert. Ihr ausdrücklich zur Schau getragener Kosmopolitismus der kollektiven Wahrheitssuche wurde erst dadurch möglich, dass die Gelehrten – wenn auch nicht immer in Wirklichkeit, so doch in ihrer Selbstdarstellung – untereinander auf jeden Anspruch auf religiöse, nationale oder soziopolitische Identität und Autorität verzichteten.

200 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Für eine kritische Bestandsaufnahme ihrer Rezeption in der Geschichtswissenschaft, vgl. Mah, Phantasies of the Public Sphere; La Vopa, Conceiving a Public. 201 Siehe: Von Halem, Hymne an die Göttin Publicitas. 202 Vgl. Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis; ders., Öffentlichkeit; Ozouf, L’opinion publique; Baker, Public Opinion; Gordon, Citizens, S.  199–208; Melton, The Rise of the Public. 203 Vgl. Daston, Ideal and Reality of the Republic of Letters; Goodman, The Republic of Letters; Eskildsen, How Germany Left the Republic of Letters. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Eine leitende Erkenntnis dieser Forschung besteht darin, dass die Herausbildung eines solchen ausdrücklich unpolitischen Raums auf Dauer erhebliche politische Folgen hatte. Im diskursiv geschützten Nebenraum, abseits von den etablierten Machtpositionen, konnten Ansichten zur Sprache gebracht werden, die im von Staat und Kirche kontrollierten Alltag nicht geduldet waren. Darüber hinaus hatten solche Äußerungen den rhetorischen Vorteil, dass sie ihres Entstehungskontexts wegen von vornherein legitimiert schienen. Als Resultat eines öffentlichen Austausches von Argumenten konnten sie Anspruch auf Allgemeinheit erheben. Sie repräsentierten nicht nur ein bestimmtes Partikularinteresse, sondern das Publikum. Sie verlautbarten die öffentliche Meinung und schienen ausschließlich am objektiven Gemeingut orientiert. Insofern dieses Idealbild ernst genommen wurde, konnte sich eine Konstellation bilden, in der soziopolitische Würdenträger sich genötigt fühlten, ihre Taten vor dem Gericht der Öffentlichkeit zu verantworten. Schriftsteller erhielten in der Rolle des öffentlichen Intellektuellen einen unerwarteten soziopolitischen Einfluss.204 Diese Ansicht kulminierte in dem zitierten Wort Kants, dass auch Religion und Gesetzgebung sich letztendlich der öffentlichen Prüfung der Kritik unter­werfen müssten.205 Zusammenfassend ist dieser Teil  der Forschungslandschaft weitgehend an zwei Leitfragen orientiert. Zum einen hat sich unter dem Schlagwort des literarischen Marktes eine Perspektive herausgebildet, welche die Texte als Resultat eines äußerst komplexen Verhandlungsprozesses zwischen Schriftstellern, Verlagsindustrie, Obrigkeit und Lesepublikum auffasst. Die unterschiedlichen Akteure erscheinen als pragmatisch handelnde Individuen, die im Kampf um die Verteilung von wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Kapital ihren eigenen Interessen nachgehen. Zum anderen hat sich eine Forschungsperspektive herausgebildet, die auf das analytische Begriffspaar Staat und Gesellschaft fokussiert ist. Auch in diesem Zusammenhang werden Texte als Funktionen eines mehr oder weniger erfolgreichen strategischen Handelns aufgefasst, sei es auch, dass hier politische Interessen – mit einem starken Fokus auf die Französische Revolution und den sprichwörtlichen ›Aufstieg des Bürgertums‹ – im Mittelpunkt stehen. Im Lichte der Wirkung dieser beiden – hier nur skizzenhaft umrissenen – Forschungstraditionen stellt sich die Frage, wie sich die Kulturkritik in ihnen verorten lässt. Angesichts der hohen Erwartungen, die sie hervorruft, fällt die Antwort allerdings etwas enttäuschend aus. Beim Thema Kulturkritik stoßen beide Perspektiven an ihre Grenzen. Im Allgemeinen gilt für Kulturkritiker ebenso wie für andere Schriftsteller, dass sie sich im Rahmen des 204 Vgl. Masseau, L’invention de l’intellectuel. 205 Vgl. Koselleck, Kritik und Krise. Vgl. auch: Goodman, Public Sphere and Private Life; Decroix, L’instrumentalisation politique. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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zeitgenös­sischen literarischen Marktes und der politischen Auseinandersetzung bewegten. Auch sie profitierten, insofern sich ihre Schriften in der Konkurrenz mit anderen durchsetzen konnten, von der Erweiterung des Lesepublikums. Auch sie waren – abgesehen von einigen wenigen, die andere Einnahmequellen hatten – finanziell auf den Ertrag ihrer schriftstellerischen Tätigkeit ange­ wiesen. Auch sie gaben sich – zumindest vor der Französischen Revolution – oftmals unpolitisch und vermieden politische Themen, scheinbar nicht ahnend, wahrscheinlicher aber mit Absicht ausblendend, wie die Feder zunehmed selbst zu einem politischen Machtfaktor heranwuchs, der sich manchmal mit dem Schwert messen konnte. Doch lässt sich über solche Allgemeinheiten hinaus über die spezifische Eigen­art des kulturkritischen Schriftstellers auf diesem Wege nicht viel Weiteres in Erfahrung bringen. Eine Geschichte der Kulturkritik unter der Perspektive der literarischen oder politischen Pragmatik scheitert an ihrer wesentlichen Pluriformität. Weder war der Diskurs an bestimmte Medien gebunden noch wurde er von einer in irgendeiner Weise einheitlichen Gruppe getragen.206 Diese Fragerichtung führt somit lediglich zu der abstrakten und intellektuell wenig zufriedenstellenden Beobachtung, dass er sich ebenso wie andere Diskurse unter den Bedingungen des literarischen Marktes und der politischen Welt entfaltete. Auch Kulturkritik ist, aus diesem Blickwinkel betrachtet, ein rhetorisches Mittel im Dienste des Publikumserfolges oder der politischen Einflussnahme. Wie sich dieses Instrument nun aber in der Auseinandersetzung mit der überlieferten und zeitgenössischen diskursiven Landschaft der Zeit gestaltete; wie es kam, dass es sich den einzelnen Schriftstellern als gewichtiges Thema und als sinnvolles Deutungsmuster ihrer Lebenswelt anbot; und wie sich die Formen seiner Artikulation mit der Zeit im Spannungsfeld zwischen Wiederholungsnotwendigkeit und Originalitätsanspruch herauskristallisierten, lässt sich auf diesem Weg nicht ausfindig machen. Um solche Fragen hinlänglich stellen und beantworten zu können, ist eine diskursanalytische Perspektive auf das Verhältnis zwischen Kulturkritik und Wissensordnung unerlässlich. Auch die Zeitgenossen erkannten den beschriebenen Wandel des litera­ rischen Feldes. Während manche die ungeheure literarische Produktions- und Konsumsteigerung als Fortschritt der Aufklärung feierten, betrachteten andere dieselben Entwicklungen kritisch. Gerade unter dem Aspekt einer Ökonomie des Wissens stellte sich die Quantitätssteigerung nicht unbedingt als Gewinn dar. Heutzutage, im sogenannten Informationszeitalter sind wir mit dem Topos des Informationsüberflusses ebenso vertraut wie mit der Problematik seiner alltäglichen Bewältigung. Aber die Umfokussierung vom Informationsmangel

206 Siehe auch: Kapitel II. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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auf die Problematik der Überinformation hat eine lange Vorgeschichte.207 Seit der Verbreitung des Buchdrucks war immer wieder die Frage nach Strategien des Informationsmanagements aufgeworfen worden. Im Jahr 1685 schickte Adrien Baillet (1649–1706) einer Sammlung literarischer Kritiken die Sorge voraus, ob die täglich zunehmende Zahl der Neuerscheinungen »ne fasse tomber les siecles suivans dans un état aussi facheux qu’estoit celuy où la barbarie avoit jetté les precedens depuis la decadence de l’Empire Romain«.208 Dass seine Lösung – die darin bestand, die literarische Spreu kritisch vom Weizen zu trennen – die Literaturflut in der Praxis nur noch um ein weiteres vierbändiges Werk bereicherte, kam ihm wohl nicht in den Sinn. Als sich die literarische Produktion im Laufe des 18. Jahrhunderts weiter steigerte, wurden solche Stimmen immer lauter, so dass sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine genuine Lesesuchtdebatte entspann.209 Hatte sich mit der gesteigerten Zahl der Veröffentlichungen auch das gesellschaftliche Wissen vermehrt? Oder musste, wie Ernst Brandes und andere befürchteten, im »zu aus­ gedehnten Meere des Wissens« der »eigenthümliche Geist« ersticken?210 Musste die Extension der Erkenntnisse deren Intension nicht notwendigerweise schaden? »Die Ströme, die ein sehr breites Bette, eine große Oberfläche darbieten, sind selten die tiefsten«.211 Was das Bild eines unaufhaltsamen Literaturstromes 207 Generell ist zwischen beiden Begriffen nicht immer streng zu unterscheiden, da In­ formationsknappheit nicht das Fehlen irgendwelcher, sondern spezifischer Informationen beinhaltet, die, wenn sie denn vorhanden sind, wiederum unter Bedingungen des Überflusses und der Selektionsnotwendigkeit rezipiert werden müssen. Somit greift die bisweilen postulierte Unterscheidung zwischen Gesellschaften, in denen Informationsknappheit, und solchen, in denen Informationsüberfluß herrscht, zu kurz. Vgl. Headrick, When Information Came of Age. 208 Baillet, Jugemens des sçavans, Bd.  1, Avertissement [o. S.]. Vgl. P. H. Smith und B. Schmidt, Introduction. In seiner Zukunfts-Utopie »L’An 2440« berichtet Mercier davon, wie die Menschen der Zukunft »tous les livres que nous avons jugé ou frivoles ou inutiles ou dangereux« in einem riesigen Feuer verbrannten: »Ainsi nous avons renouvellé par un zêle éclairé ce qu’avoit exécuté jadis le zêle aveugle des barbares.« Mercier, L’an deux mille quatre cent quarante, S. 197–198. 209 Vgl. Goetsch, Zur Bewertung von Lesen und Schreiben. Vgl. auch: Kreuzer, Gefährliche Lesesucht; Nies, Suchtmittel oder Befreiungsakt?. 210 Brandes, Ueber den Einfluß, Bd. 2, S. 216. Auch Lichtenberg konnte sich nicht dem Eindruck entziehen, durch das viele Lesen habe der moderne Mensch sich »eine gelehrte Barbarei zugezogen.« Zit. n: Goldmann, Lesen, Schreiben, S.  79. Siehe auch: Von Moser, ­Publicität, S. 519–520; O. Goldsmith, Citizen of the World, Bd. 1, S. 92; Beyer, Ueber das Bücherlesen; Bergk, Die Kunst, Bücher zu lesen, S.  viii–x; Lichtenberg, Bemerkungen, S.  297; Gérard, La théorie du bonheur, S.  438; Coleridge, On the Constitution, S.  158. Dagegen: Voltaire, L’horrible danger de la lecture. 211 Und: »Wenn gleich die Zahl der Leser oder der Blätter sich ungemein vermehrte, so fand sich doch unter diesen ein großer haufen, der nothwendigen Vorbildung oder der natürlichen Anlagen zu einem fruchtbringenden Genusse beraubt, wo also nicht Bildung, sondern Verbildung, Folge der Leserey ward.« Brandes, Über den Zeitgeist, S. 215–216. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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oder gar -meeres für die Menge der Neuerscheinungen leistete, übernahmen Metaphoriken welkender Blumen oder Eintagsfliegen bezüglich der kurzen Lebensspanne einzelner Veröffentlichungen.212 Ebenso wie die Vielschreiberei zog auch ihr Pendant, die Vielleserei, das kritische Auge der Zeitgenossen auf sich. Wie Fichte meinte, habe »die Schrift­ stellerei und die Leserei ihr Ende erreicht; sie ist in sich selbst zergangen und aufgegangen, und hat durch ihren höchsten Effect ihren Effect vernichtet.«213 Nicht nur die Schriftsteller, auch die Leser selbst hätten mit ihrem veränderten Verhalten zum Verfall des literarischen Geistes beigetragen. Wie jene ohne Rast, und Ahnalt fortschreiben, so lesen diese fort ohne Anhalt; mit aller Kraft strebend, sich auf irgend eine Weise empor zu halten über der Fluth der Litteratur, und fortzugehen, wie sie dies nennen, mit dem Zeitalter. Froh, das alte nothdürftig durchlaufen zu haben, greifen sie nach dem neuen, indem das neueste schon ankommt, und es bleibt kein Augenblick übrig, jemals wieder an das alte zu ­gedenken.214

Fichte wies auf das Paradox hin, dass die ins Maßlose gesteigerte Beschleunigung eine eigenartige Form der Erstarrung hervorgebracht habe. Mit der Zunahme der Lesegeschwindigkeit und der Zahl der gelesenen Bücher habe sich das Lesen im besten Falle zu einer oberflächlichen Tätigkeit verflüchtigt.215 Vor allem die Unverbindlichkeit des Lesens für das praktische Leben wurde als Symptom des Niedergangs der Literatur aufgefasst. Das Lesen zur bloßen Unterhaltung sei keine Aktivität in eigentlichem Sinne mehr, sondern versetze den Leser in einen lustlosen Schlummerzustand, der ihm jede Tatkraft nähme. So, wie andere narkotische Mittel, versetzt es in den behaglichen Halbzustand zwischen Schlafen und Wachen, und wiegt ein, in süße Selbstvergessenheit, ohne daß man dabei irgend eines Thuns bedürfe.216

212 Caraccioli, L’Europe Françoise, S. vi; Sénac de Meilhan, Du gouvernement des mœurs, S. 117. 213 Fichte, Grundzüge, S. 192. 214 Ebd., S.  190. Im selben Sinne unterschied Caraccioli zwischen Lecteurs und Liseurs und zwischen dem Lesen à la Française (»c’est parcourir un in-douze dans la journée«) und à l’Anglaise (»c’est l’étudier tout un mois«). Caraccioli, L’Europe Françoise, S. 147–148. 215 Das Jahrhundert wurde in diesem Sinne auch das »belletrische« genannt. [Wolf], Salvator, S. 207. 216 Er führte die Analogie noch weiter: »Mir hat es immer geschienen, daß es am meisten Aehnlichkeit mit dem Tabaksrauchen habe, und durch dieses sich am besten erläutern lasse. Wer nur einmal die Süßigkeit dieses Zustandes geschmeckt hat, der will sie immerfort genießen, und mag im Leben nichts anderes mehr thun; er lieset nun, sogar ohne alle Beziehung auf Kenntniß der Litteratur, und Fortgehen mit dem Zeitalter, lediglich damit er lese, und lesend lebe, und stellt in seiner Person dar den reinen Leser.« Fichte, Grundzüge, S. ­191–192. »Reading«, schrieb John Brown in seinem Estimate, »is now sunk at best into a Morning’s © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Im Allgemeinen orientierte sich die Kritik am modernen Lesen und Schreiben somit in erster Linie am Gegensatz von Quantität und Qualität. Die bloße Zahl der Schriftsteller, der Leser und der Bücher wurde als Skandal empfunden. Im Age of Paper, of Ink oder of Authors – wie es jetzt gelegentlich hieß – drohe das wahre Wissen in einer Papierflut unterzugehen.217 Zum Zweiten setzte sich die Kritik mit der fortschreitenden Kommodifizie­ rung der Literatur auseinander. »In opulent and commercial societies«, so hatte Adam Smith in einem Entwurf zum »Wealth of Nations« geschrieben, »to think or to reason comes to be, like every other employment,  a particular business«. Unter diesen Umständen erscheine Wissen als ein Produkt unter anderen, als Ware, die »in the same manner as any other commodity« auf einem Markt erworben werde.218 Im Kontext von Smiths Argumentation war dies übrigens keineswegs abschätzig gemeint. Es ging ihm vielmehr darum, zu zeigen, dass auch der scheinbar sterile philosopher eine nützliche gesellschaft­ liche Funktion erfülle. Für viele andere aber hatte die prinzipielle Gleichstellung des literarischen Produkts mit jeder anderen Ware sehr wohl einen negativen Beigeschmack. Ab den sechziger Jahren wurde dieses Thema verstärkt aufgenommen, wobei offensichtlich die Sorge im Hintergrund stand, die zunehmende Ausrichtung des Schriftstellers auf den Publikumserfolg könne auf Dauer zu Statusverlusten führen. So beklagte sich Samuel Miller (1769–1850) in seinem  – dreibändigen – »Brief Retrospect of the Eighteenth Century« (1803) darüber, dass der spirit of trade in die Literatur eingedrungen sei, mit katastrophalen Konsequenzen: »It too often leads men to write, not upon a sober conviction of truth, utility, and duty, but in accommodation to the public taste, however depraved, and

Amusement. But what kind of Reading must that be, which can attract or entertain the languid Morning-Spirit of modern Effeminacy? Any, indeed, that can but prevent the unsupportable Toil of Thinking; that may serve as a preparatory Whet of Indolence, to the approaching Pleasures of the Day.« Brown, Estimate, S. 42. Siehe auch: anon., [Rezension zu:] Les Préjugés du Public, S. 462; L. A. Hoffmann, Höchst wichtige Erinnerungen, S. 119–123; F. Schlegel, Ueber nordische Dichtkunst, S. 163; Werfer, Versuch einer medizinischen Topographie, S. 74. 217 Cadogan, To the Author, S. 638; [H. M.], Thursday, S. 202–203; Herder, Journal meiner Reise, S.  258–259; anon., [Rezension zu:] The Question concerning Literary Property, S. 81; Knox, On Modern Literature, S. 34; d’Israeli, An Essay, S. viii; Lamb, Reflections, S. x; Harley, The Press, S.  126; Bulwer-Lytton, The Pilgrims of the Rhine, S.  288; Carlyle, The French Revolution, Bd. 1, S. 41–42; ders., On Heroes, S. 212. Es sollte erwähnt werden, dass dieselbe Gruppe von Ausdrücken auch in einem anderen Diskussionszusammenhang auftauchte, nämlich da, wo es um die Ersetzung des Wertmetalls durch Papiergeld ging. Siehe beispielsweise: Swift und Sheridan, The Hardships of the Irish, S. 210; [Colbert, Jun.], The Age of Paper; or, An Essay on Banks and Banking. 218 Smith, Early Draft, S. 574. Zum Fragment und seiner Überlieferung, vgl. Scott, Adam Smith, S. 317–322. Siehe auch: Rommel, Der Wohlstand der Autoren. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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with a view to the most advantageous sale.«219 Dies, in Kombination mit der bloßen Menge der literarischen Produktion, hatte in seinen Augen die dignity of authorship in der Gegenwart stark beeinträchtigt.220 Die Ziele des Schriftstellers unter den Bedingungen des literarischen Marktes wurden mit seinen eigentlichen Aufgaben kontrastiert.221 Das Publikum – so hieß es in direktem Widerspruch zu ihrer Verherrlichung als Verkörperung der öffentlichen Meinung und Träger der kritischen Vernunft – sei zu un­gebildet, um die wahren Meriten eines literarischen Werkes begutachten zu können: »­letting the mob in to vote«, wie es der irische Dichter Thomas Moore (1779– 1852) nannte, würde unweigerlich artfremde Kriterien an die Literatur heranführen.222 Die Gleichsetzung des Wertes einer literarischen Schöpfung mit der bloßen Zahl der erreichten Leser – oder genauer: ihrer Käufer – sei demnach eine wesentliche Bedrohung für ihre Identität. In diesem Kontext wurde die Figur des nach Erfolg und Ruhm haschenden Schriftstellers allmählich zum Stereotyp. Es erschienen ausführliche Abhandlungen über das Wesen und die historischen Entstehungsgründe des »elenden Skribenten«, des Lohnschriftstellers, Schreiberlings, Geldautors, der poly­ graphes, petits auteurs, canaille littéraire, littérateurs oder scribblers.223 Im Gegensatz zum wahren Schriftsteller, so hieß es, seien diese gezwungen, ihre Schriften den Launen des Publikums anzupassen. Die meistdiskutierte Folge der Lesewut des Publikums einerseits und der exklusiven Ausrichtung der Schriftsteller auf Publikumserfolg andererseits war deswegen die literarische Erneuerungssucht. Nicht länger seien Wahrheit oder Schönheit die Kriterien, 219 Und: »When pecuniary emolument is the leading motive to publication, books will not only be injuriously multiplied, but they will also be composed on the sordid calculation of obtaining the greatest number of purchasers. Hence the temptation to sacrifice virtue at the shrine of avarice. Hence the licentious and seductive character of many of those works which have had the greatest circulation in modern times, and which have produced the greatest emolument to their authors.« Miller, A Brief Retrospect, Bd. 3, S. 300. 220 Ebd., Bd. 3, S. 301. 221 »Von der Schriftstellerei allein leben zu wollen, wird leicht zum gefährlichsten Mißbrauch des Geistes, zur Schändung des Heiligsten in uns, zu einer nicht von dem Geiste getriebenen Schriftstellerei führen, mit der Abhängigkeit von den Launen des Publikums im Gefolge.« Brandes, Ueber den Einfluß, Bd. 2, S. 239. Siehe auch: Ebd., Bd. 2, S. 240–243; ders., Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, Bd. 1, S. xvii–xviii. 222 Moore, Diary, S.  46, Eintrag vom 11.  August 1834. Siehe auch: Brydges, Sir Egerton Brydges, Bd. 2, S. 202–203. Vgl. Williams, Culture and Society, S. 35. 223 Liscov, Die Vortrefflichkeit und Nohtwendigkeit der elenden Scribenten; [H. M.], Thursday, S. 118–119; d’Argens, Critique du siécle, Bd. 1, S. 27–28, 36; anon., Wrote Extempore; anon., On the present Party Disputes; Du Coudray, L’Auteur et le Libraire; Zimmermann, Grabschrift eines elenden Scribenten; Rigoley de Juvigny, De la décadence, S. ­328–329; Von Archenholz, Sittenaenderungen, S.  69; Sénac de Meilhan, Considérations sur l’esprit, S.  54; ders., Des principes et des causes, S.  18; Heinzmann, Die Pest der deutschen Literatur, S. 161–162. Zwischen 1768 und 1769 erschien eine satirische Zeitschrift, dieser Art von Schriftstellern gewidmet, die »Bibliothek der elenden Scribenten«. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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an denen ein Text gemessen werde. Viel wichtiger sei inzwischen die Frage, ob er in Form oder Inhalt den Reiz des Neuen für sich beanspruchen konnte. Nur so könne er sich in der Konkurrenz mit anderen literarischen Produkten, die ebenso um die Aufmerksamkeit des Publikums rangen, behaupten.224

3. Die Alternative der Kulturkritik Spätestens seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war das Wesen des Literaten Thema einer breit geführten öffentlichen Debatte geworden. Ausgehend von der schriftstellerischen Auseinandersetzung mit den Rahmenbedingungen und der Bedeutung der eigenen Tätigkeit, führte sie wiederholt zu kultur­ kritischen Besinnungen auf das eigene Zeitalter. Die Deutungsmuster, welche diese Debatte etablierte, hatten einen entscheidenden Einfluss auf das Selbst­ verständnis der Kulturkritiker und infolgedessen auf ihre sprachliche Selbst­ inszenierung. Ein Fallbeispiel, an dem sich diese Dynamik exemplarisch nachzeichnen lässt und anhand dessen sich darüber hinaus auch die Frage nach unserer eigenen Interpretationshaltung im 21. Jahrhundert neu fassen lässt, ist eine Episode, die mehrfach als Geburtsstunde der Kulturkritik gedeutet worden ist.225 An einem Nachmittag im Sommer 1749 hatte sich Rousseau von Paris aus aufgemacht, seinen Freund Diderot im Gefängnis zu besuchen. Dieser war anlässlich der Publikation der »Lettre sur les aveugles« (1749) festgenommen und in der mittelalterlichen Festung von Vincennes inhaftiert worden.226 Erschöpft vom weiten Weg und der brennenden Sonne ließ sich Rousseau mit einer Kopie der »Mercure de France« im Schatten eines Baumes nieder. Da las er die Preisfrage der Akademie von Dijon, die sein Leben verändern würde: »Si le p ­ rogrès des sciences & des arts  a contribué à corrompre ou à épurer les mœurs?« In einem fieberhaften Zustand – so würde er sich später erinnern – schrieb er auf der Stelle das Kernstück des Diskurses nieder, mit dem er sich einen Namen machen würde: die Prosopopöie des Fabricius.227 In rückblickenden Darstellungen würde Rousseau den Inspirationscharakter seines Schriftstellertums später immer wieder unterstreichen. Die Preisfrage 224 E. Burke, Reflections, S.  165; Fichte, Grundzüge, S.  184–185; anon., [Rezension zu:] The View, S. 135; Arnault, De l’industrie littéraire, S. 109; Southey, Sir Thomas More, Bd. 2, S. 136–137. 225 Vgl. Starobinski, Rousseau und die Niedergangsthematik; Konersmann, Zeichensprache, S. 235–244; Weigand, Einleitung, S. xxi–xxvii; Darnton, The Great Divide. Vgl. ausführlicher: Jung, The Writing Self. 226 Diderot, Lettre sur les aveugles. 227 Rousseau, Discours sur les Sciences & les Arts, S. 24–28; ders., Quatre lettres à Mon­ sieur le président de Malesherbes, S. 249. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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habe in ihm eine einmalige und unwiederbringliche Erfahrung ausgelöst, die seine Welt und sein Leben verändert habe. In einem offenen Brief vom 12. Januar 1762 an den Oberzensor Chrétien-Guillaume de Lamoignon de Males­ herbes (1721–1794) schrieb er: Si jamais quelque chose a ressemblé à une inspiration subite, c’est le mouvement qui se fit en moi à cette lecture; tout-à-coup je me sens l’esprit ébloui de mille lumieres; des foules d’idées vives s’y présentent à la fois avec une force, & une confusion qui me jetta dans un trouble inexprimable; je sens ma tête prise par un étourdissement semblable à l’ivresse. Une violente palpitation m’oppresse, souleve ma poitrine; ne pouvant plus respirer en marchant, je me laisse tomber sous un des arbres de l’avenue, & j’y passe une demi-heure dans une telle agitation, qu’en me relevant j’apperçus tout le devant de ma veste mouillé de mes larmes, sans avoir senti que j’en répandois.228

Im achten Buch seiner »Confessions« (1782) kam er noch einmal auf das Ereignis zurück. Erneut deutete er die Erfahrung als die Kehrtwende seines Lebens: »A l’instant de cette lecture, je vis un autre univers, & je devins un autre homme.«229 Seine späteren Erfahrungen aber ließen das Ereignis jetzt in einem etwas ambivalenteren Licht erscheinen. Die Erfahrung der einen großen Wahrheit, der er sein Leben gewidmet hatte, hatte sich in der Folge als persönliche Katastrophe entpuppt. Ce que je me rappelle bien distinctement dans cette occasion, c’est qu’arrivant à Vincennes, j’étois dans une agitation qui tenoit du délire. Diderot l’apperçut; je lui en dis la cause, & je lui lus la prosopopée de Fabricius, écrite en crayon sous un chêne. Il m’exhorta de donner l’essor à mes idées, & de concourir au prix. Je le fis, & dès cet in­ stant je suis perdu. Tout le reste de ma vie & de mes malheurs fut l’effet inévitable de cet instant d’égarement.230

Der plötzliche Erfolg seines Diskurses habe, so deutete Rousseau das Schlüssel­ ereignis rückblickend, ihn von einem auf den anderen Tag als Schriftsteller etabliert. Er habe ihm den lang ersehnten Zugang zur geselligen Welt und Ruhm bis weit über die Grenzen Frankreichs hinaus erbracht. Zugleich aber habe er ihn in ein Feld eingeführt, auf dem Rousseau sich selbst und seiner Erfahrung unmöglich noch habe gerecht werden können. Der Versuch, der Erfahrung auf der Landstraße nach Vincennes Stimme zu verleihen, habe ihn dazu verdammt, sich in den Logiken der literarischen und geselligen Welt zu verstricken. Diese hätten seine Selbstliebe und den Ehrgeiz nach der nichtigen »gloriole littéraire« geweckt.231 Die unmittelbare Erfahrung der Wahrheit, die reine Liebe zu ihr 228 Ebd., S. 248–249. 229 Rousseau, Seconde partie des Confessions, Bd. 1, S. 228. 230 Ebd., Bd. 1, S. 229–230. 231 Ders., Les rêveries, S. 59. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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und die kompromisslose Bereitschaft, ihr sein Leben zu widmen, hätten ihn in einen Bereich der Unwahrheit hineingeführt. Die Selbstdarstellungen Rousseaus, in denen er die Entstehungsgeschichte seiner Erstlingsschrift als Erweckungs- und Inspirationserlebnis schilderte, dienten offenkundig dem Zweck, sich vom literarischen Feld zu distanzieren. Seine eigentliche Stimme war, so betonte er immer wieder, nicht die eines Schriftstellers, sondern die unmittelbare Verlautbarung einer höheren Wahrheit: »Voilà comment lorsque j’y pensois le moins, je devins auteur presque malgré moi.«232 Daraus folgte die äußerst komplexe Struktur von Rousseaus Selbstbild als Autor. An der Stelle, wo er eigentlich er selbst war, sei er gleichzeitig Sprachrohr einer höheren Macht, die ihn zu seinen Äußerungen inspiriere. Umgekehrt sei er, insofern er an sich und seine eigenen Interessen auf dem litera­ rischen Feld dachte, nicht mehr eigentlich er selbst. Die Eigenart der rousseauschen Selbstdarstellung stellt sich noch deut­licher heraus, wenn wir sie mit Äußerungen Diderots zum selben Ereignis kontrastieren.233 Dieser hatte in den Kreisen der philosophes ein völlig anderes Bild der Episode in Vincennes geschildert: »Quel parti prendrez-vous«, habe er Rousseau gefragt, als er erfuhr, dass dieser über den Einfluss des Fortschritts der Künste und Wissenschaften auf die Moral schreiben wollte. »Celui des lettres, dit Jean-Jacques.  – C’est le pont aux ânes, reprit Diderot; prenez le parti contraire, et vous verrez quel bruit vous ferez.«234 Obwohl sich die unterschiedlichen Berichte aus dem Umfeld Diderots dem Wortlaut nach leicht unterscheiden, kehrt der Ausdruck pont aux ânes immer wieder. Diderots Hauptargument gegen die zunächst von Rousseau anvisierte Antwort auf die Frage der Dijoner Akademie war also nicht, dass sie unwahr, sondern dass sie allzu bekannt, ja langweilig sei. Sein Gegenvorschlag dagegen sei piquant und  – in der Wiedergabe Marmontels  – »présente à la philosophie et à l’éloquence un champ nouveau, riche et fécond.«235 Er besitze den Reiz des Neuen und könne aus diesem Grund mit einer großen gesellschaftlichen Resonanz (bruit) rechnen. Die Forschung neigt heute dazu, der rousseauschen Version der Ereignisse den Vorrang zu gewähren.236 Diderots Darstellung hat offensichtlich den Charakter einer Entlarvung und lässt sich mit Hinweis auf die zwischenzeitlich ein 232 Ders., Quatre lettres à Monsieur le président de Malesherbes, S. 249. 233 [Grimm], Lettre sur J.-J. Rousseau, S.  140–141; Diderot, Essai sur les règnes, S.  137; Marmontel, Mémoires d’un père, Bd.  1, S.  434–435; Morellet, Mémoires inédits, Bd.  1, S. ­119–120. Die Episode spielte in der Debatte um die sprichwörtliche Authentizität Rousseaus eine Schlüsselrolle. La Harpe, De J. J. Rousseau, S. 11; ders., Correspondence littéraire, Bd. 1, S. 208; anon., Rousseau (Jean-Jacques), S. 604. 234 [Grimm], Lettre sur J.-J. Rousseau, S. 140. 235 Marmontel, Mémoires d’un père, Bd. 1, S. 435. 236 Weigand, Einleitung, S. xxvi–xxvii; Sturma, Jean-Jacques Rousseau, S. 22–23. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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getretene Entfremdung zwischen ihm und dem früheren Freund erklären.237 Auch spricht – wenngleich eine gewisse Stilisierung von Seiten Rousseaus unverkennbar ist – die wesentliche Kontinuität der Kerngedanken des Diskurses mit verstreuten Äußerungen seit den vierziger Jahren und mit seinen späteren Schriften für die Version Rousseaus. In Ermangelung weiterer Quellen wird der genaue Hergang zu Vincennes wohl unaufgeklärt bleiben. Wichtiger aber ist, dass in dieser Kontroverse zwei grundsätzliche Deutungsmodelle der schriftstellerischen Tätigkeit einander gegenüberstanden, welche nicht nur für die zeitgenössische Artikulation von Kulturkritik von fundamentaler Bedeutung waren, sondern auch unseren Blick auf die Ereignisse weiterhin prägen. In einem Vokabular, das der Tradition der religiösen Epiphanie entstammt, inszenierte sich Rousseau als inspirierter Schriftsteller.238 Er bemühte sich, glaubhaft zu machen, dass seine schriftstellerische Tätigkeit nicht auf der Sucht nach finanziellem oder gesellschaftlichem Erfolg fußte. Diese seien nach der Publikation der Preisschrift eingetreten und hätten ihre Wirkung auf das Selbstgefühl des Autors – so gab er in seiner charakteristischen Art der Selbstanklage bereitwillig zu – nicht verfehlt. Dennoch beträfen sie nicht den eigentlichen Kern seiner Autorschaft.239 Diese beruhe vielmehr auf dem Bedürfnis, einer überwältigenden Erfahrung Ausdruck zu verleihen. Genau an diesem Punkt setzte die Gegenversion Diderots an, über die André Morellet (1727–1819) zu Recht schrieb: »Ce récit, que je crois vrai, renverse et détruit toute la narration de JeanJacques.«240 Ihr Angelpunkt lag darin, dass sie die Kernaussage sowie die charakteristische Stilistik des rousseauschen Werks auf eine schriftstellerische Strategie reduzierte. Die sprichwörtliche Authentizität Rousseaus sei demnach nicht mehr als eine Maske, eine Verstellung im Dienste des Publikumserfolgs.241 Die Alternative der beiden Deutungsmodelle hat sich bis heute bewährt. Auch wir sehen uns auf den ersten Blick vor die Frage gestellt, ob Kulturkritik 237 Es ist in dieser Hinsicht aufschlussreich, dass Diderots Version in einem Abschnitt seines »Essai sur les règnes de Claude et de Néron« (1778) mit dem Titel ›Mon apologie‹ auftauchte, in dem er sich seitenlang über die pathologische Gegensätzlichkeit Rousseaus er­ eiferte und ihn »ingrat«, »méchant« und »anti-philosophe« nannte. Diderot, Essai sur les ­règnes, S. 137–140. 238 Vgl. Zaiser, Die Epiphanie, S. 104–134. 239 In seinem siebten Spaziergang schrieb er, er sei »jetté dans la carriere littéraire par des impulsions étrangeres«. Rousseau, Les rêveries, S. 192–193. Siehe auch: ders., Seconde partie des Confessions, Bd. 3, S. 383–384. Vgl. Jurt, Lesen und Schreiben, S. 245–246. 240 Morellet, Mémoires inédits, Bd. 1, S. 119–120. 241 Marmontel beendete die Anekdote mit der Bemerkung: »Ainsi dès ce moment, ­ajoutai-je, son rôle et son masque furent décidés.« Marmontel, Mémoires d’un père, Bd. 1, S. 435. Rahmenerzählung für seine Version war ein Dialog mit Voltaire. Marmontel überließ seinem Gesprächspartner das letzte Wort. »Vous ne m’étonnez pas, me dit Voltaire; cet homme-là est factice de la tête aux pieds, il l’est de l’esprit et de l’ame; mais il a beau jouer tantôt le stoïcien et tantôt le cynique, il de démentira sans cesse, et son masque l’étouffera.« Ebd. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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als authentischer Ausdruck einer Grunderfahrung zu verstehen ist oder als die geschickte Anwendung erfolgversprechender Schreibstrategien. Dass der jähe Tonwechsel, die spielerische Umkehrung geläufiger Sprachmuster, die neuartigen Argumentationsmuster und die unerwarteten Aussagen der Kulturkritik für das Lesepublikum den Reiz des Widerwortes besaßen, dass sie aus diesem Grund für Schriftsteller attraktiv waren und dass dieses rhetorische Potenzial bei der Verbreitung des Diskurses eine konstitutive Rolle gespielt hat, ist nicht zu bezweifeln. Die Beobachtung des Erfolges bestimmter Redemuster wird andere Autoren dazu geführt haben, sie ebenso zu verwenden, so dass sich allmählich feste Redemuster etablieren konnten. Nicht weniger überzeugend ist allerdings die Gegenthese, der Zustand und die Entwicklung der abendländischen Kultur habe zu einem gewissen Zeitpunkt bei einer Gruppe von Autoren eine bestimmte Erfahrung hervorgerufen, die  – im Kontext der zeitgenössischen Diskurse  – zur Konstitution isomorpher Deutungs- und Artikulationsmuster geführt habe. Erneut stoßen wir auf die methodische Leitproblematik dieser Studie. Scheinbar sehen wir uns vor eine Entscheidung gestellt, welche die unerbittliche Form eines Entweder-Oder hat. Während die eine Interpretationshaltung die Aussagen der Autoren unmittelbar ernst nimmt, versucht die andere, sie zu entlarven und auf eine unterliegende Pragmatik zu reduzieren. Aber ist dieses Dilemma wirklich so scharf umrissen? Ist die Alternative zwischen authentischer Erfahrung und bloßer Pragmatik, zwischen dem inspirierten Schriftsteller und dem ehrgeizigen Skribenten nicht vielmehr selbst ein überliefertes Deutungsmodell? Könnte es sein, dass dieses Paradox erst dadurch entsteht, dass wir uns auf eine Alternative einlassen, welche die eigene Komplexität des Phänomens verkürzt darstellt? Und: Könnte eine diskursanalytische Perspektive hier weiterführen, indem sie einerseits eine Besinnung auf die Genealogie unseres eigenen interpretativen Standortes erlaubt, andererseits aber auch ein Deutungsmodell bietet, das es erlaubt, beide Interpretationsebenen miteinander zu verknüpfen? Im Diskurs treffen Handlung und Bedeutung, Pragmatik und Semantik aufeinander. Einerseits gäbe es ohne die individuellen Handlungen der Akteure keinen Diskurs. Der Diskurs ist den (Sprach-)Handlungen weder vor- noch nachgeordnet. Er existiert nicht hinter ihnen oder über sie hinaus, sondern als ihre formale Bestimmung, als das Wiederholbare und als solches Erkennbare an ihnen. Daraus folgt, dass eine hinlängliche Beschreibung eines diskursiven Ereignisses niemals ohne die Berücksichtigung der Akteursmotivation auskommen kann. Im individuellen Kommunikationsakt wählt der jeweilige Akteur aus zahllosen Artikulationsmöglichkeiten diejenige Sprachmuster, von denen er sich erhofft, sie würden seine kommunikativen Zwecke optimal realisieren. Was diese Zwecke sind, kann im Einzelnen nur durch detaillierte biographische Forschung beantwortet werden. Wie die geschilderte Kontroverse um die illumination de Vincennes zeigt, ist dies keine leichte Aufgabe. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Da ein Diskurs nun aber keine Einzelhandlung, sondern eine serielle Wiederholungsstruktur ist, kommen darüber hinaus noch andere Fragen auf, die eine andere Art Antwort erfordern. Individuum est ineffabile, sagt ein altes Wort der Metaphysik. Dies gilt für das Postulat einer unhintergehbaren Motivationsimpuls des Handelnden ebenso wie für die daraus resultierende Handlung. Ein wiederholtes Handlungsmuster dagegen hat, um als solches erkennbar zu sein, notwendigerweise eine Bedeutung, welche die Einzelphänomene als zusammengehörige Fälle eines Musters erscheinen lässt. Als solches ist es denn auch interpretierbar, artikulierbar und wiederholungsfähig. Nun folgt daraus durchaus nicht, dass diese Bedeutung immer auf iso­morphe Intentionen zurückzuführen sein muss.242 Zahllose Phänomene weisen eine serielle Wiederholungsstruktur auf, ohne dass ihnen irgendwelche Intentionen zugrunde liegen. Andere können besser als das Ergebnis von Akkumulationseffekten entgegengesetzter Intentionen beschrieben werden. In dem Fall aber, dass ihrer Serialität tatsächlich eine wiederholte Handlungsmotivation zugrunde liegt – wie es bei Kommunikationshandlungen analytisch vorausgesetzt werden kann – kann dies nur Folge einer geteilten Semantik sein. Die historische Diskursanalyse beschreibt solche Handlungen in ihrer Entstehung als Reaktion auf eine an überlieferten und gesellschaftlich geteilten Deutungsmuster orientierte Erfahrung der Umwelt und in ihrer Konstitution als die Wahl zwischen Handlungsalternativen, welche dem Aktor, durch seinen semantischen Horizont bedingt, in den Sinn kommen. Damit löst sich das alte Dilemma, das die Episode in Vincennes aufgeworfen hatte, auf – wie ein Stück Zucker im Wasser.243 Weder Rousseaus Selbstinszenierung noch Diderots Entlarvung können auf dieser Ebene schließlich überzeugen. Ob Rousseau auf der Landesstraße nach Vincennes eine einzigartige Erweckungserfahrung hatte oder ob es sich dabei um eine geschickte Fiktion handelte, lässt sich vielleicht nicht mehr herausfinden. Wo die Interpretation der Episode als Einzelphänomen endet, fängt ihre Beschreibung im Sinne der historischen Diskursanalyse aber erst an. Aus diesem Blickwinkel erscheint die Handlung nicht als letztendlich unerkennbarer und unsagbarer Akt unmittelbarer Individualität, sondern als Instanz eines semantisch orientierten Handlungsmusters. Ob auf einem Inspirationserlebnis basierend oder nicht, ob bewusst oder nicht, Tatsache bleibt, dass Rousseau in seinen Äußerungen auf eine etablierte Diskurstradition zurückgriff und sie äußerst wirkmächtig weiterschrieb. Der inspirierte Schriftsteller hat als diskursive Figur eine lange Geschichte, die von der mittelalterlichen Mystik über Genieästhetik und Romantik

242 Oder gar einer singulären Intention, was eine theologische Perspektive öffnen würde, die hier besser unberücksichtigt bleiben sollte. 243 Die Redewendung stammt aus: Wittgenstein, Synopse, S. 151. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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bis in die literarische Moderne reicht.244 Im unmittelbaren Entstehungs­kontext war überdies klar, welches Kontrastbild mitgemeint war: der ehrgeizige und erfolgsbesessene Skribent. Ebenso sehr wie Rousseaus Selbstdarstellung konnte auch Diderots Entlarvung nur funktionieren, indem er sie in diese bestehende semantische Differenz einschrieb. De facto bedienten sich beide also (wenn auch aus unterschiedlichen Motiven und in entgegengesetzte Richtung) eines und desselben Deutungsmusters, dieses in ihrer Auseinandersetzung weiter verfestigend. Deswegen ist es wichtig, den analytischen Unterschied zwischen der diderotschen Demaskierungsstrategie und unserer Feststellung, dass Rousseaus Äußerungen als diskursive Sprachhandlungen notwendig einen pragmatischen Aspekt haben, im Auge zu behalten. Die Beschreibung der Sprachpragmatik aus diskursana­ lytischer Sicht ist nicht die Reduktion einer trügerischen Außenseite auf eine eigentliche – bloß pragmatische – Motivation. Sie ist vielmehr die Beschreibung der (Sprach-)Pragmatik der Handlung und ihrer Rezeption unter dem Gesichtspunkt ihrer semantischen Vorstrukturierungen und Effekte. Auf diese Weise rückt die Alternative zwischen ›bloßer‹ Pragmatik und ›authentischer‹ Erfahrung selbst als diskursive Figur in den Mittelpunkt der Betrachtung. Vor dem Hintergrund der neueren Entwicklungen auf dem literarischen Feld bekam die überlieferte Figur des inspirierten Schriftstellers im Laufe des 18. Jahrhunderts eine neue Brisanz. Das Selbstbild vieler Schriftsteller ließ sich mit ihrer neuen Rolle als Beschäftigte eines marktgeleiteten Industriezweigs nur schwierig vereinen. Die Literaturgeschichte seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeichnet sich demnach durch eine Reihe von Neubesinnungen auf die Identität und Aufgabe des Schriftstellers aus. Wichtige literarische Strömungen, wie der Sturm und Drang oder die Romantik, versuchten, eine klare Grenze zwischen dem modernen Literaturbetrieb und der ›wahren‹ Literatur zu ziehen. Die manchmal fast sakrale Überhöhung der Rolle des Schriftstellers, die damit einherging – der Literaturwissenschaftler Paul Bénichou hat sie le sacre de l’écrivain getauft245 –, ist nicht zuletzt als Reaktion auf seine reale Neukonstitution im Kontext des literarischen Marktes zu verstehen. Für den kulturkritischen Diskurs spielte diese Konstellation in zweifacher Weise eine konstitutive Rolle. Einmal, indem die Entwicklungen des literarischen Feldes viele Schriftsteller zu kritischen Betrachtungen über das in ihnen zum Ausdruck kommende gesamtkulturelle Klima anregten. Zum anderen, da solche Diagnosen die Möglichkeit (und Notwendigkeit) mit sich führten, sich in der Selbst­ inszenierung ausdrücklich vom ›modernen‹ Berufsschriftsteller  – und damit von der Moderne selbst – abzugrenzen. Während die literarische Selbstreflexion 244 Vgl. Zaiser, Die Epiphanie. 245 Bénichou, Le Sacre de l’écrivain. Vgl. zum deutschen Sprachraum: Selbmann, Dichterberuf. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Das neue Denken und die kritische Besinnung

oft in kulturkritische Besinnungen mündete, erforderte die Selbstbesinnung des Kulturkritikers gleichzeitig eine stetige Auseinandersetzung mit seiner eigenen Identität als Schriftsteller. In dieser gegenseitigen Dynamik liegt die Nähe zwischen Kulturkritik und literarischer Selbstreflexion im Untersuchungszeitraum begründet.246 Die Geschichte der Kulturkritik weist neben ihrer sprichwörtlichen Geburtsstunde in Vincennes noch viele weitere Inspirationserlebnisse auf. Ihrer literarischen Vorlage in Augustinus’ Konversionsgeschichte in den »Confessiones« gemäß waren diese vielfach auf irgendeine Weise mit einer Lektüre­ erfahrung verknüpft.247 In Hamanns »Gedanken über meinen Lebenslauf« bildete eine persönliche Krise, die ihn am Abend des 31.  März 1758 in London bei einer Bibellektüre widerfahren war, den Hintergrund seiner ›kulturkritischen Wende‹.248 Für Herder war es nicht die Bibel, sondern Ossian, der als Wendepunkt seiner Lebensgeschichte fungierte. Er hatte die ›keltischen‹ Gesänge 1769 auf seiner Schifffahrt von Riga nach Nantes gelesen. In autobiographischen Darstellungen betonte er  – in ausdrücklicher Abgrenzung von den gängigen Lesepraktiken seiner Zeitgenossen  – die Bedeutung der besonderen Situation dieser Lektüre. Ossian zuerst, habe ich in Situationen gelesen, wo ihn die meisten, immer in bürgerlichen Geschäften, und Sitten und Vergnügen zerstreute Leser, als blos amusante, abgebrochene Lecture, kaum lesen können.249

Das Schiff als außergewöhnlicher Ort der Erfahrung und des Denkens erhielt eine zentrale Bedeutung aufgrund der Tatsache, dass es eine Außenperspektive auf die festgefahrenen kulturellen Denk- und Handlungsmuster zu er­lauben schien. Auf Einmal aus Geschäften, Tumult und Rangespossen der bürgerlichen Welt, aus dem Lehnstuhl des Gelehrten und vom weichen Sopha der Gesellschaften auf Einmal weggeworfen, ohne Zerstreuungen, Büchersäle, gelehrten und ungelehrten Zei­ 246 Siehe zum Typus des mondänen Schriftstellers: Kapitel III. Für eine alternative Deutung dieser ›Konjunktur der Individualität‹, vgl. Marquard, Der angeklagte und der ent­ lastete Mensch, S. 52–53. 247 Buch VIII, 12, 29. 248 Bei der Lektüre der Geschichte von Kain und Abel (Gen. 4,11) überfiel ihn eine Er­ weckungserfahrung, deren literarischer Niederschlag es wert ist, vollständig zitiert zu werden: »Ich fühlte mein Herz klopfen, ich hörte eine Stimme in der Tiefe desselben seufzen und jammern, als die Stimme des Bluts, als die Stimme eines erschlagenen Bruders, der sein Blut rächen wollte, wenn ich selbiges beyzeiten nicht hörte, und fortfähre, mein Ohr gegen selbiges zu verstopfen; – – daß eben dieß Kain unstätig und flüchtig machte. Ich fühlte auf einmal mein Herz quillen, es ergoß sich in Thränen, und ich konnte es nicht länger – – ich konnte es nicht länger meinem Gott verhehlen, daß ich der Brudermörder, der Brudermörder seines eingebornen Sohnes war.« Hamann, Gedanken über meinen Lebenslauf, S. 212–213. 249 Herder, Briefwechsel über Ossian, S. 18–19. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

Die Alternative der Kulturkritik

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tungen, über Einem Brette, auf ofnem allweiten Meere, in einem kleinen Staat von Menschen, die strengere Gesetze haben, als die Republik Lykurgus, mitten im Schauspiel einer ganz andern, lebenden und webenden Natur, zwischen Abgrund und Himmel schwebend, täglich mit denselben endlosen Elementen umgeben, und dann und wann nur auf eine neue ferne Küste, auf eine neue Wolke, auf eine ideale Weltgegend merkend – nun die Lieder und Thaten der alten Skalden in der Hand, ganz die Seele damit erfüllet, an den Orten, da sie geschahen – […] unter eben dem Weben der Luft, in der Welt, der Stille – glauben Sie, da lassen sich Skalden und Barden anders lesen, als neben dem Katheder des Professors.250

Solche Motive der autobiographischen Selbstinszenierung trugen dazu bei, das Bild des Kulturkritikers als das eines inspirierten Schriftstellers zu verfestigen.251 Ob positiv oder negativ gedeutet, gehörte es alsbald zum Kern seiner Fremd- und Selbstwahrnehmung. In dieser letzten Funktion diente es, indem es die Außenseiterrolle des Kritikers in eine etablierte Diskurstradition einschrieb, der Legitimation seiner schriftstellerischen Authentizität. Seine diskursive Stellung sei – so legten derartige Narrative nahe – keine Folge von sozialer Unfähigkeit oder Misanthropie. Auch sei sie nicht auf unlautere, egoistische Absichten zurückzuführen. Sie sei vielmehr Folge einer ungewollten, aber unwidersteh­ lichen Auserwähltheit. Die Distanz des Kritikers zur alltäglichen Welt wurde so vom Negativen ins Positive umgedeutet. Sie sei als Rückzug in einen Bereich

250 Ebd., S. 19–20. Und im Reisejournal: »So denkt man, wenn man aus Situation in Situation tritt, und was gibt ein Schiff, das zwischen Himmel und Meer schwebt, nicht für weite Sphäre zu denken! Alles gibt hier dem Gedanken Flügel und Bewegung und weiten Luftkreis! das flatternde Segel, das immer wankende Schiff, der rauschende Wellenstrom, die fliegende Wolke, der weite unendliche Luftkreis! Auf der Erde ist man an einen toten Punkt ange­heftet; und in den engen Kreis einer Situation eingeschlossen. Oft ist jener der Studierstuhl in einer dumpfen Kammer, der Sitz an einem einförmigen, gemietheten Tische, eine Kanzel, ein Katheder – oft ist diese, eine kleine Stadt, ein Abgott von Publikum aus Dreien, auf die man horchet, und ein Einerlei von Beschäftigungen, in welche uns Gewohnheit und Anmaßung stoßen. Wie klein und eingeschränkt wird da Leben, Ehre, Achtung, Wunsch, Furcht, Haß, Abneigung, Liebe, Freundschaft, Lust zu lernen, Beschäftigung, Neigung – wie enge und eingeschränkt endlich der ganze Geist! Nun trete man mit Einmal heraus, oder vielmehr ohne Bücher, Schriften, Beschäftigung und homogene Gesellschaft werde man herausgeworfen – welch eine andre Aussicht! Wo ist das feste Land, auf dem ich so feste stand? und die kleine Kanzel und der Lehnstuhl und das Katheder, worauf ich mich brüstete? wo sind die, vor denen ich mich fürchtete und die ich liebte! – – O Seele, wie wird dir’s seyn, wenn du aus dieser Welt hinaustrittst? der enge, feste, eingeschränkte Mittelpunkt ist verschwunden, du flatterst in den Lüften oder schwimmst auf einem Meere – die Welt verschwindet dir – ist unter dir verschwunden! – Welch neue Denkart! aber sie kostet Thränen, Reue, Herauswindung aus dem Alten, Selbstverdammung!« ders., Journal meiner Reise, S. 160–161. 251 Bollenbeck hat betont, wie sehr der gesundheitliche Zusammenbruch, den Schiller im Januar 1791 erlitt, dazu beitrug, seinen »Blick auf die Welt einzudunkeln«. Bollenbeck, Geschichte der Kulturkritik, S. 82–83. Für weitere Beispiele aus dem französischen Sprachraum, vgl. Zaiser, Die Epiphanie, S. 135–182. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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höheren Wissens zu begreifen, aus dem heraus schon die Propheten des alten Testaments und die Weisen Griechenlands gesprochen hätten. Die Überblicksperspektive, die der Kulturkritiker für sich in Anspruch nahm, wurde in das überlieferte Vokabular der Inspiration eingeschrieben und so kognitiv legitimiert. An die Stelle empirischer Objektivität und intersubjektiver Kontrollverfahren trat die Vorstellung eines einmaligen, unverwechselbaren und esoterischen Zugangs zu einer Wahrheit, die mit den gewöhn­lichen Erkenntnismitteln nicht erreichbar sei. Im Kontext der zeitgenössischen Debatten wurde dieser Erfahrungsmodus nicht nur vom alltäglichen Welt­verständnis gemeiner Leute, sondern vor allem auch von der spezifischen – ›modischen‹ – Denkart der Aufklärung und von ihren Trägern, den vorwitzigen philosophes, abgegrenzt. Das Selbst des Kulturkritikers, als Stimme dieser Erfahrung, war nicht das stabile, autonome und allgemeinmenschliche, das von Kant aufgefordert wurde, sich von seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien und selbst zu denken. Es war vielmehr ein Ich, das erst vollständig es selbst wird, indem es zugunsten einer höheren Wahrheit bedingungslos auf sich verzichtet. Dieser Rolle eines inspirierten Weisen und Interpreten, situiert zwischen der Menschheit und dem Geist der Zeit, entlehnte der Kulturkritiker seine Autorität.

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Fazit

Tantùm series juncturaque pollet: Tantùm de medio sumptis accedit honoris! Horaz1

Die Kulturkritik fristet heutzutage ein etwas schattenhaftes Dasein am Rande unserer kulturellen Selbstreflexion. Dies gilt für ihre neuesten Verlautbarungen ebenso wie für ihre historische Erforschung. Beide sind in unserer Gegenwart gewissermaßen unzeitgemäß, wenn auch in einem völlig anderen Sinne als es die Kulturkritik früherer Zeiten ihrer eigenen Selbstdarstellung nach einmal war. Diese eigenartige Distanz – die nicht im Widerspruch zu ihrer gleichzeitigen Allgegenwart steht, sondern ihr Spiegelbild darstellt  – ist aber nicht (oder nicht nur) als Verlust zu betrachten. Sie ermöglicht eine neue Sichtweise auf die Kulturkritik als historisches Phänomen, eine Perspektive, die zum genealogischen Ausgangspunkt einer neuen Form der Standortbestimmung in der Gegenwart werden kann. Von unserem Standpunkt an der Peripherie der Kulturkritik aus zeigt sich, dass dieser Diskurs zu einer spezifischen semantischen Epoche gehörte, in deren Ausläufer wir uns heute befinden. Die zentrale Achse der kulturkritischen Geschichtsdeutung, ihr Anspruch auf eine ­Außenseiterperspektive auf die eigene Epoche sowie auf den Gang der Geschichte überhaupt, ist unlösbar mit einem kulturgeschichtlichen Verständnishorizont verknüpft, der sich im Laufe des 18. Jahrhunderts entwickelte und dessen langsames Entrücken wir heute erleben (Einl., K. I). Um die Dimensionen dieses Horizonts auszuloten und den Platz des kulturkritischen Diskurses in ihm zu bestimmen, wurde in dieser Studie die Methode der historischen Semantik angewandt. Sie ermöglicht es in mehrfacher Hinsicht, einen Schritt über die bisherige Forschung zu diesem Thema hinauszugehen. Zunächst stellt sie die Mittel bereit, deren enge philosophie- und literaturhistorische Fokussierung zu erweitern sowie ihre Orientierung an tradierten  – binär geprägten  – Deutungsschemata (Aufklärung / Gegenaufklärung, Fortschritt / Reaktion, Aufklärung / Romantik) aufzuheben. Darüber hinaus erlaubt sie es, die Prägung unserer eigenen Deutungskategorien durch eben dieselben semantischen Muster, deren Entstehung Gegenstand dieser Studie war, aus genealogischer Perspektive zu reflektieren, so dass es möglich wird, sie ernst zu nehmen, ohne blind in ihnen verhaftet zu bleiben. Schließlich eröffnet die

1 Ars Poetica, 242. Motto der »Encyclopédie«. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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historische Semantik – in ihrer integrativen Anwendung als Diskursanalyse – eine Perspektive auf die historische Rolle der Sprache, die das scheinbare Dilemma zwischen ihren semantischen und pragmatischen Dimensionen aufzulösen und beide Aspekte zu integrieren vermag (Einl, K. II, K. V). Die Gestalt der modernen Kulturkritik, deren Entstehung und frühe Entwicklung in dieser Studie skizziert wurden, bleibt auf gewisse Art und Weise diffus. Dies liegt in ihrer Art begründet. Sie ist ein Diskurs, eine Bedeutungsstruktur, die, selbst wenn sie für zeitgenössische Akteure hinreichend verwendbar und identifizierbar war, nicht ohne weiteres durch eindeutige Definitionen in den Griff zu bekommen ist. Ihre historische Erörterung muss demnach die Form einer fortschreitenden, einkreisenden Charakterisierung haben. Aus demselben Grund bleibt auch die Chronologie ihrer Entstehungsgeschichte notwendigerweise unscharf. Sie hat nicht den Charakter einer jähen Geburt zu einem mehr oder weniger genau bestimmbaren Zeitpunkt, sondern ereignet sich als räumlich und zeitlich verstreute Emergenz. Viele Partikularentwicklungen auf der Mikro- und Mesoebene, mit jeweils ihrer eigenen Geschichte und kontextuellen Situierung, fügen sich zu einer Einheit und erscheinen – auch rückblickend – als zusammengehörig. Ausgehend von einer vorgreifenden Bestimmung des kulturkritischen Diskurses (Einl.) und einem generellen Überblick über seine zentralen Semantiken (K.  I) fächerte sich die Studie in vier Diskussionszusammenhänge auf, die für die Kulturreflexion des Untersuchungszeitraums von eminenter Bedeutung waren. Im Kontext der zeitgenössischen Auseinandersetzungen über Wirtschaft (K. II), soziale Umgangsformen (K. III), Sprache (K. IV) und Wissen (K. V) konnte über die abstrakte Bestimmung des Diskurses hinaus seine konkrete historische Gestalt und Wirkung nachgezeichnet werden. Ferner wurde auf diese Weise gezeigt, wie sich der Diskurs als parasitäre Sprachform in die semantische Landschaft der Zeit ein- und sie auf seine spezifische Weise weiterschrieb. Erst in Bezug auf die kulturell geteilten Semantiken einer Gesellschaft – die Kulturkritik selbst hätte gesagt: auf den Geist der Zeit – und in Auseinandersetzung mit ihnen, erhielt der Diskurs seine historische Form. Nun aber gilt es, die verschiedenen Fäden wieder miteinander zu verknüpfen und zu fragen, welche allgemeinen Strukturen und Entwicklungen die Ent­stehungsgeschichte der Kulturkritik in ihren unterschiedlichen Funktionskontexten prägten. Eingangs wurde der Diskurs der Kulturkritik als die geschichtlich orientierte Kritik der eigenen Kultur im Ganzen bestimmt. Zwei Elemente stehen im Zentrum dieser heuristischen Definition und grenzen die moderne Kulturkritik analytisch von den kritischen Vorgängerdiskursen, auf denen sie semantisch aufbaute, ab: Generalisierung und Verzeitlichung. Die moderne Kulturkritik ging von Anfang an ›aufs Ganze‹. Sie nahm von der partiellen Kritik an einzelnen Phänomenen ihren Ausgang, ging über diese aber stets hinaus. Sie deutete deren Entwicklungen nicht im Rahmen eines © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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stabilen, umfassenden Bedeutungshorizonts und in Kontrast zu ihm, sondern als Symptome seines Verfalls. Anstelle der kritischen Beurteilung einzelner Erscheinungen anhand eines feststehenden Kriteriums entstand so der Versuch, die geschichtliche Entwicklung dieses Horizonts selbst zur Sprache zu bringen. Gleichwohl war das Ganze, das von der Kulturkritik ins Visier genommen wurde, nie eine abstrakte und ungebrochene Einheit. Wie insbesondere anhand des Gesellschaftsbegriffs (K. III) nachgezeichnet werden konnte, füllte sich dieses Ganze stets mit einer Fülle von Konnotationen, die aus der Semantik des jeweiligen Ganzheitsbegriffs und seinem Diskussionszusammenhang geschöpft wurden. Seine Deutung war demnach stets zeitlich, räumlich und sozial orientiert, sie hatte Zentren und Peripherien, Anfänge und Enden, sie hatte ein Geschlecht und war mit einer Vielzahl von stereotypen Figuren verbunden. Zur Bezeichnung der in geschichtlichem Wandel begriffenen Lebensform, auf die sich die Kulturkritik bezog, entstand nach der Mitte des 18. Jahrhunderts eine Reihe von Kollektivsingularen (K. I). Neben Kultur, Zivilisation, Gesellschaft und Sitte (mœurs) gehörten dazu auch Begriffe wie Nation, Volk oder Vaterland. Darüber hinaus wurde die Zeit selbst zunehmend in ihrer epochalen Gliederung artikuliert. Der gegenwärtige Zeitabschnitt wurde mit den vorherigen und künftigen kontrastiert und anhand einer herrschenden Tendenz oder Eigenschaft charakterisiert. Auf diese Weise ereiferte man sich über das ›kommerzielle Zeitalter‹ ebenso wie über die ›Epoche der falschen Höflichkeit‹, über die ›prosaische Gegenwart‹ genauso wie über das ›philosophische Jahrhundert‹. Schließlich erschien die Zeit selbst als geschichtlicher Faktor. Der Gang der Geschichte galt als schicksalhafte Macht, dem der Mensch nur wenig entgegenzusetzen vermochte. Im Mittelpunkt der mannigfaltigen Versuche, den Charakter der eigenen Lebensform in ihrer Ganzheit und geschichtlichen Entwicklung zur Sprache zu bringen, stand eine Semantik geistiger Herrschaft. Ihre allgemeinste Form war der Zeitgeistbegriff, der sich demgemäß als zentraler Fokus der kulturkritischen Gegenwartsdeutung konstituierte. Seine epochale Souveränität wurde als Gewalt konzipiert, die über die gewöhnliche, soziopolitische Machtausübung weit hinausging. Die Kraft dieser geistigen Semantik bestand nicht zuletzt in ihrer vielseitigen Verwendbarkeit. So wurde im kulturkritischen Diskurs neben dem Zeitgeist noch eine Fülle an unterschiedlichen Geistern heraufbeschworen und einander gegenübergestellt: vom Geist des Luxus und des Kalküls über den Geist der Verfeinerung und der Verweiblichung bis hin zum Geist der Philosophie, des Zweifels, der Kritik und der Prosa. Stets wurden diese mit ent­ sprechenden Gegen-Geistern kontrastiert, so dass die Kultur als Kampfplatz spiritueller Mächte in Erscheinung trat. Anhand zweier Beispiele konnte gezeigt werden, wie überlieferte Semantiken in der generalisierten Perspektive der Kulturkritik verarbeitet wurden und eine neue Dimension erhielten. Im Luxusbegriff, der von jeher eine wichtige Rolle © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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in der kritischen Deutung gesellschaftlicher Phänomene gespielt hatte, bildeten sich gegen Ende des 18.  Jahrhunderts zwei neuartige Verwendungsweisen heraus (K. II). Diese bezogen sich nicht länger auf die Überschreitung einer wie auch immer bestimmten Grenze des legitimen Konsums, sondern auf die ihr zugrunde liegende Logik der Grenzziehung selbst. Anstelle der Transgression der ›Notdurft‹ wurde nunmehr der Charakter des Systems, innerhalb dessen die Notdurft erst ihren Sinn erhielt, selbst als ›luxuriös‹ bezeichnet. Was politische Stoßrichtung und Bezugsrahmen angeht, waren diese beiden Verwendungsweisen grundverschieden. Ging es einerseits um eine ›republikanische‹ Kritik an der repräsentativen Natur des ständisch geregelten Konsums, so handelte es sich andererseits um die ›aristokratische‹ Kritik an der nivellierenden Wirkung der Geldwirtschaft. In beiden Fällen aber war der Luxusbegriff semantisch von einem Problem in der Gesellschaft zu einem Problem der Gesellschaft überhaupt aufgewertet worden. Eine analoge Entwicklung konnte im Kontext der Reflexion über gesellige Umgangsformen bezüglich der zentralen Differenz zwischen Sein und Schein festgestellt werden (K. III). Mittels einer ganzen Reihe von isomorphen, binären Gegensätzen wurde seit dem Beginn der Frühen Neuzeit fortwährend auf der Differenz zwischen der wahren, innerlichen Tugend und ihrer falschen, bloß äußerlichen Form bestanden. Ein wesentlicher Wandel dieser Semantik ereignete sich, als der Scheinbegriff in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts generalisiert wurde. Die prinzipielle Scheinhaftigkeit, welche sich nach der kulturkritischen Perspektive in der Gegenwart ausbreitete, war nicht länger als Verhüllung einer eigentlichen Wahrheit gedacht. Sie war überhaupt nicht mehr als Verfehlung auf eine wie auch immer konzipierte Realität bezogen, sondern stellte vielmehr ein systemisches Prinzip dar: die logische Folge der spezifischen Eigendynamik der geselligen Gesellschaft. Ebenso wichtig für den kulturkritischen Diskurs wie solche Bezugnahmen auf eine jedes Partikularphänomen übersteigende Ganzheit waren Erörterungen, in denen die Ganzheit als summierende an das gegenseitige Verhältnis unterschiedlicher Sektoren zurückgebunden wurde. So konnte der Verfall der eigenen Kultur nicht nur als Gegensatz zu ihrem möglichen Fortschritt, sondern auch als Resultat vieler individueller Fort- und Rückschritte in unterschiedlichen Sektoren konzipiert werden. Besonders vor dem Hintergrund der offensichtlichen Fortschritte im Bereich der arts et sciences gewannen solche Argumentationsmuster an Aktualität (K. V). In diesem Zusammenhang wurde der beständige Wissenszuwachs mit den verzögerten Entwicklungen auf Feldern, die nicht unmittelbar auf erweiterte Erfahrung aufbauen konnten, kontrastiert. Man kritisierte die ungleichmäßige Bildung des Menschen unter der tyrannischen Herrschaft der Vernunft. Schließlich wurden die negativen Folgen der zunehmenden Aufklärung für andere Lebensbereiche thematisiert. Speziell die Aufklärung der Sprache war Anlass einer Reihe von kritischen Beobach­ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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tungen, die in ihr vor allem den Verlust einer ursprünglichen, poetischen Energie zu entdecken meinten (K. IV.). Mittels solcher semantischen Generalisierungsschritte eröffnete die Kulturkritik eine neuartige Perspektive auf die eigene Lebensform. Anstelle des Verstoßes gegen ein nicht weiter zur Diskussion gestelltes Regelwerk rückte nunmehr dessen zunehmende Irrelevanz unter gewandelten kulturellen Bedingungen in den Mittelpunkt. Der Fokus der Kulturkritik lag demzufolge nicht länger auf der Berichtigung eines partikularen Fehlers oder der Bestrafung eines einzelnen Verbrechers, sondern auf der Konzeption einer – in die Zukunft oder in die Vergangenheit projizierten – alternativen kulturellen Logik. Sie war somit von Anfang an das genaue Gegenteil der von Karl R. Popper so geschätzten piecemeal engineering.2 Nicht, dass sie nicht auch in soziopolitischen Auseinandersetzungen Verwendung fand. Wie im Hinblick auf die Verarbeitung der Spekulationsblasen von 1720 sowie auf die Debatte um das Verhältnis zwischen Adel und Kommerz in den fünfziger Jahren exemplarisch gezeigt werden konnte, wurden kulturkritische Deutungsmuster in verschiedenen Kontexten, von verschiedenen soziopolitischen Interessengruppen und zu verschiedenen Zwecken ins Feld geführt (K.  II). Dennoch gab sich die Kulturkritik ihrer semantischen Logik nach stets ausdrücklich ›unpolitisch‹. Über jede ›gewöhnliche‹, tagespolitische Problemlösung hinaus richtete sie ihr Augenmerk konsequent auf das geschichtliche Schicksal eines ganzen Kulturkreises. Eine Wende, insofern diese überhaupt als möglich angesehen wurde, müsse demnach die gesamte Gestalt des Zeitalters betreffen, oder sie sei umsonst. Das zweite Kennzeichen der modernen Kulturkritik ist ihr spezifisches Zeitverhältnis. Diesbezüglich konnte die Studie an das Verzeitlichungsmodell der Moderne, wie es maßgeblich von Reinhart Koselleck formuliert worden ist, anknüpfen (K. I). Das Modell musste aber zunächst hinsichtlich seiner Reichweite und Periodisierung qualifiziert werden. Einerseits erscheint die chronologische Verknüpfung der Verzeitlichung mit der Sattelzeit (1750–1850) angesichts der unterschiedlichen europäischen Entwicklungen sowie der uneinheitlichen Zeitlichkeit semantischer Strukturen als zu beschränkt. Andererseits ist das Modell in seiner abstrakten Gestalt zu allgemein, um den vielfältigen ›Zeitkulturen‹ in der Moderne gerecht werden zu können. Nichtsdestotrotz behält es in einem eingeschränkten Sinne seine Gültigkeit. Anstatt einer kategorialen Bestimmung moderner Zeitlichkeit bezeichnet der analytische Begriff der Verzeitlichung in seiner engeren Bedeutung nunmehr den Entstehungsprozess einer Gruppe geschichtlicher Zeitlichkeitssemantiken, auf deren Basis sich eine Reihe von neuartigen, gesellschaftlichen Reflexionsdiskursen konstituierte. Ein solcher Diskurs war – und ist – die Kulturkritik.



2 Vgl. Popper, The Poverty of Historicism, S. 64–70. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Anhand der für die Selbstdeutung des 18.  Jahrhunderts äußerst wichtigen Lichtmetaphorik konnten die Grenzen zwischen der generalisiert-geschichtlichen Perspektive der Kulturkritik einerseits und der Blickwinkel anderer, zum Teil älterer, kritischer Diskurstraditionen exemplarisch abgesteckt werden (K. V). Aus metaphysischem Blickwinkel wurde die Ausbreitung der lumières mit dem universalen und zeitlosen Licht Gottes kontrastiert, während die parti des lumières unter einem quasi-politischen Gesichtspunkt als Gruppe radikaler Revolutionäre erschien, die das Licht als Instrument mutwilliger Blendung und Brandstiftung verwendeten. Die kulturkritische Deutung der Aufklärung unterschied sich von diesen Sichtweisen grundlegend. Sie kam dem Selbstbild der Aufklärer insofern entgegen, dass sie die Verbreitung des Lichts als epochale Entwicklung auffasste, auch wenn sie diese nicht als Sieg der Vernunft, der Tugend und der Menschheit, sondern im Gegenteil als kulturelle Katastrophe wertete. Ihre Aufklärungskritik war folglich stets geschichtlich orientiert und setzte sich aus diesem Blickwinkel mit dem Charakter und der Entwicklung ihrer spezifischen Formen der Rationalität und der Wissensordnung auseinander. Doch erfolgte die Entfaltung der geschichtlichen Perspektive des kulturkritischen Diskurses nicht widerstandslos. Nicht selten fand sie etablierte Semantiken auf ihrem Weg, die sich mit der neuartigen Entwicklungslogik nur schwer in Einklang bringen ließen. Hauptsächlich handelte es sich dabei um Deutungsmuster, die anhand eines unwandelbaren Kriteriums eine binäre Zeitlichkeit (früher – heute, vorher – nachher) evozierten. Ein Beispiel eines Begriffs, in dem diese binäre Logik so stark etabliert war, dass sie der Heraus­bildung einer kulturkritischen Geschichtsdeutung zuwiderlief, war erneut Luxus (K. II). Sein Gebrauch blieb, ungeachtet seiner vielfältigen Verwendungsweisen, stets an den fundamentalen Gegensatz zwischen einem Bereich legitimer Bedürfnisse und einem des Überflüssigen gebunden. Vor dem Hintergrund der sich wandelnden Konsumpraktiken und der wachsenden sozialen Mobilität gerieten solche Grenzziehungen im Laufe des 18.  Jahrhunderts zunehmend unter Druck. Angesichts der alltäglichen Realität immer neuer, gesellschaftlich vermittelter Bedürfnisse verlor die Bezugnahme auf ein zeitloses Kriterium legitimen Konsums stetig an Überzeugungskraft. Im Rahmen des Luxusbegriffs konnte diese Historisierung der Bedürfnisse aber nur mangelhaft verarbeitet werden. Obwohl sich, wie erwähnt, auch kulturkritische Verwendungsweisen des Luxusbegriffs bildeten, konnten diese sich gegen seine etablierte, binäre Semantik letztendlich nicht durchsetzen. Aus diesem Grund war der Kernbegriff der wirtschaftlich orientierten Kulturkritik seit dem Ende des 18. Jahrhunderts nicht Luxus, sondern Kommerz: ein Begriff, der sich – beispielsweise im Rahmen der sogenannten Stadientheorien der Kulturentwicklung – sehr viel besser mit einer geschichtlichen Perspektive verknüpfen ließ. Eine ähnliche Problematik konnte ausgehend von der zeitgenössischen Reflexion über die Sprache bezüglich des Naturbegriffs nachgezeichnet werden © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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(K. IV). Im Rahmen der frühneuzeitlichen Debatte um den Ursprung der Gesellschaft (und der Sprache) war durchgehend auf den alten Gegensatz zwischen dem Bereich der Natur und dem des Menschlichen zurückgegriffen worden. Die zweigliedrige Chronologie, die mit solchen kategorischen Verwendungen des Naturbegriffs und seines Gegenteils (Kunst, Kultur, Geist) hervorgerufen wurde, ließ sich aber nur mangelhaft mit der progressiven Semantik der sich im 18.  Jahrhundert verbreitenden Geschichtsnarrative verknüpfen. Der Anfang der Menschheitsgeschichte konnte als qualitativer Sprung paradoxerweise selbst nicht mit geschichtlichen Mitteln erklärt oder selbst nur beschrieben werden. Die Inkommensurabilität zwischen der binären Logik der Ursprungsfrage und der geschichtlichen Entwicklungslogik der Kulturkritik führte demnach auf semantischer Ebene zu Widersprüchen (war die Natur des Menschen im Naturzustande nun menschlich, oder nicht?). Demzufolge waren uneingeschränkte Bezugnahmen auf die Natur, ihrer gerade im späten 18. Jahrhundert unentrinnbaren normativen Autorität ungeachtet, rhetorisch immer angreifbar. Sie konnten nur allzu leicht relativiert oder ad absurdum geführt werden. Aus diesem Grund hatten kulturkritische Rückgriffe auf den Naturbegriff  – im Gegensatz zu einem geläufigen Vorurteil – nur in den seltensten Fällen die Form eines uneingeschränkten ›Zurück zur Natur!‹ Stattdessen wurden relativ natürlichere mit relativ künstlicheren Lebensformen kontrastiert und versucht, den kategorischen Gegensatz zwischen Natur und Kultur begrifflich zu überbrücken. Neben der Verarbeitung von überlieferten Semantiken im Sinne ihrer Generalisierung und Verzeitlichung war insbesondere auch die zeitgenössische Auseinandersetzung der Kulturkritik mit ihren diskursiven ›Gegnern‹ prägend für ihre semantische Form. Die Gegen- und Meta-Diskurse des kulturkritischen Diskurses waren, so die These, nicht nur ein wesentlicher kontextueller Faktor im Hinblick auf seinen öffentlichen Erfolg. Sie reichten vielmehr bis in den Diskurs selbst hinein und formten in nicht zu unterschätzendem Maße seine charakteristische Semantik. Das Verhältnis zwischen Fremd- und Selbstbestimmung war somit streng genommen kein rein antagonistisches, sondern immer auch ein dialogisches. Aus diesem Grund wurde in dieser Studie versucht, die vielfältigen semantischen Überschneidungen und Rückkopplungseffekte zwischen der Kulturkritik und ihren vielfältigen Widersachern zu skizzieren. Am deutlichsten traten diese zu Tage, wo der Diskurs im Kontext einer semi-formalisierten und aus einer Metaperspektive reflektierten querelle – wie es beispielsweise die Auseinandersetzungen um den Luxus (K. II) oder um die gesellschaftliche Rolle der Frau (K. III) darstellten – auftrat. Die Akteure stellten die Form ihrer Äußerungen in vorgreifender Rücksichtnahme auf (mögliche) argumentative Entgegnungen sowie auf die bekannte gegnerische Semantik ein und versuchten darüber hinaus – mittels Definitionen oder anderer Sprachstrategien – die formalen Bedingungen der Auseinandersetzung selbst zu beeinflussen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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Über solche expliziten Strategien hinaus wurde die gegnerische Position aber in jeder kulturkritischen Äußerung stets mitgedacht, so dass sie auch die implizite Form ihrer Selbstinszenierung von vornherein bestimmte. Von Anfang an setzte sich die Kulturkritik in diesem Sinne mit ihrer Fremddarstellung in  – größtenteils feindlichen  – Begleitdiskursen auseinander (K.  I). In diesen erschien sie als negatives Spiegelbild eines gleichermaßen übertriebenen Forschrittsoptimismus. Sie wurde in die altbekannte Tradition der Gegenwartsklagen eingereiht und so dem Verdacht der ewigen Wiederkehr ausgesetzt. Schließlich entlarvte man sie als Ausdruck eines soziopolitischen Interesses, als altersbedingt oder gar als Symptom einer Psychopathologie. Die Selbstinszenierungsstrategien der Kulturkritik waren in starkem Maße durch die Abwehr von solchen unterschiedlichen Fremddarstellungen geprägt. So konnte die kulturkritische Entfernung von der Gesellschaft und ihre Weigerung, sich deren Umgangsformen anzupassen, im ›geselligen Jahrhundert‹ leicht als Misanthropie ausgelegt werden (K. III). Das Dementi dieses Vorwurfs gehörte dementsprechend ebenso zu den festen Bestandteilen des kulturkritischen Diskurses wie die umständlichen Erklärungen, warum die vermeintliche Misanthropie des Kulturkritikers de facto ein Ausdruck aufrichtigster Menschenliebe sei. Umgekehrt war es den Kulturkritikern aber nicht weniger wichtig, die Distanz zur geselligen Welt zu wahren. Um ihre Außenseiterrolle aufrechtzuerhalten war es insbesondere notwendig, beständig auf dem prinzipiellen Unterschied zwischen der Kulturkritik und dem verwandten Sprachmodus der Satire, der als typischer Ausdruck des geselligen bon ton galt, zu bestehen. Neben der Markierung der Grenze zwischen leichtfüßiger Satire und ernster Kulturkritik erfüllte ihr begeisterter Tonfall – das Kernstück ihres charakteristischen Pathos – noch zwei weitere diskursive Funktionen. Erstens signa­ lisierte er im Rahmen des verbreiteten Geschichtsnarrativs der fortschreitenden Sprachaufklärung eine sprachliche Distanz zwischen dem Kritiker und seiner Epoche (K. IV). Neben der zentralen Rolle von Metaphern bildete er den wichtigsten Bestandteil der ›poetischen‹ Prosa der Kulturkritik, deren Funktion darin bestand, ihre Stimme als vox clamantis in deserto auszuweisen. Indem sie die Kritik als Widerhall aus einer vergangenen – ursprünglicheren und poetischeren – Epoche und als Widerwort gegen die Kälte und Erschlaffung des prosaischen Zeitalters inszenierte, setzte sie ein implizites Zeichen gegen die eigene Epoche. Dass diese widerspenstige Stilistik in der angeblich so entnervten Gegenwart faktisch auf viel Beifall stieß, wurde dabei systematisch ausgeblendet. Des Weiteren diente der prägnante Tonfall des Kulturkritikers der doppelten Legitimierung seiner schriftstellerischen Tätigkeit einerseits und des Erkenntnisanspruchs seiner Aussagen andererseits (K.  V). Vor dem Hintergrund der sich wandelnden Bedingungen des literarischen Feldes erhielt der Schriftsteller im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend die Gestalt eines Produzenten einer gewöhnlichen, auf dem Markt erhältlichen Ware. Auch kulturkritische Äuße© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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rungen und ihre typischen Artikulationsmuster konnten in diesem Licht als literarische Strategien im Dienste des Publikumserfolgs erscheinen. Doch das Selbstbild des Kulturkritikers war alles andere als das eines ehrgeizigen Skribenten. Er verstand sich vielmehr als das authentische Sprachrohr einer ebenso ungewollten wie überwältigenden Inspiration, als ein Ich, das erst vollständig es selbst wird, indem es zugunsten der Verlautbarung einer höheren Wahrheit auf sich und seine Interessen verzichtet. Die diskursive Inszenierung dieser exzentrischen Identität orientierte sich an der tradierten Semantik des inspirierten Weisen, dessen kontemplatives Dasein am Rande der Gesellschaft ihn befähige, weiter als andere zu blicken. Vor allem bezüglich des kognitiven Status der kulturkritischen Aussagen bildete dies eine wertvolle rhetorische Ressource. Der Anspruch, aus der Gegenwart heraus ihren Geist bestimmen zu können, setzte eine nicht unproblematische Überblicksperspektive voraus. Die Versuche, die Identität des Zeitalters mittels Kollektivsingulare, Epochenbegriffe und Geistes-Vokabular zu artikulieren, blieben stets tentativ und – deswegen – angreifbar. Skeptiker brachten dieser Art von ›Geisterseherei‹ eine Reihe von ontologischen, epistemologischen und pragmatischen Einwänden entgegen. Doch konnten solche argumentativen Entgegnungen am Ende nur wenig gegen die Überzeugungskraft der überlieferten Weisheits-Semantik ausrichten. Indem sie erlaubte, die fundamentale Andersartigkeit des kulturkritischen Erkenntnismodus vom alltäglichen Wissen als kognitive Überlegenheit und die Position des Kritikers abseits der Gesellschaft als Rückzug in einen esoterischen Bereich höheren Wissens zu deuten, machte sie aus einer Schwäche eine Tugend. Im Kontext des 18. Jahrhunderts grenzten die Kulturkritiker den speziellen Status ihrer Einsichten in die Verfassung der Zeit nicht nur vom alltäglichen Wissen gemeiner Leute, sondern vor allem auch von (ihrer Auffassung) der spezifischen Denkart der Aufklärung ab. So gestaltete sich die Selbstbestimmung des Kulturkritikers als die Rückbesinnung auf einen im Zeitalter der Vernunft außer Gebrauch gekommenen Philosophiebegriff. Die philosophes hatten dezidiert mit der Tradition des kontemplativen Weisen gebrochen. Sie hatten die Philosophie aus ihrer Einsamkeit heraus in die Mitte der Gesellschaft geholt und als pragmatische Lebensgestaltung im Dienste der Menschheit etabliert (K. III). Ihr Erkenntnismodus bezog sich ausschließlich auf die allgemeingültigen Kriterien der Vernunft und auf intersubjektiv überprüfbare Erfahrung und gestaltete sich als das Resultat eines un- und überpersönlichen sowie inter­ aktiven Verfahrens allseitiger Kritik (K. V). Demgegenüber trat die Kulturkritik nachdrücklich als Rückkehr des Denkers in der abendländischen Geschichte auf. Sie gründete den Erkenntnis­ anspruch ihrer Aussagen auf eine völlig entgegengesetzte Wissensvorstellung. Stärker noch: Sie formulierte ihre spezifische Erkenntnisweise stets ausdrücklich in negativer Abgrenzung von jener der philosophes. In ihren Augen ent© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367179 — ISBN E-Book: 9783647367170

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wickelte die in ihrer Gegenwart um sich greifende Denkart der Aufklärung eine ungeheure Zerstörungskraft, gekoppelt an eine prinzipielle Sterilität, an die Unfähigkeit, Positives in die Welt zu setzen. Was die Aufklärung nicht mittels ihrer engstirnigen Vernunft  – auf deren Allumfassendheit sie in überheblicher Weise bestand – zu begreifen vermöge, blende sie entweder aus oder gäbe es, als Vorurteil stigmatisiert, der Vernichtung preis. Während sie so den phänomenalen Reichtum der ganzen Wirklichkeit auf ein kümmerliches Extrakt reduziere, verstümmele sie mit ihrer einseitigen Betonung der Ratio gleichzeitig die harmonische Bildung des ganzen Menschen. Diesem fehlenden Ganzheitsbezug gegenüber setzte die Kulturkritik auf eine dezidiert ganzheitliche Denkart, in der das ganze Individuum der ganzen Wirklichkeit auf Augenhöhe begegne. Die Einsicht der Kulturkritiker in den Geist der Zeit sei, ihrem Selbstverständnis nach, also alles, was die aufklärerische Kritik nicht war. Sie sei nicht fragmentierend, sondern holistisch, nicht analytisch, sondern synthetisch, nicht nüchtern, sondern begeistert, nicht negativ und destruktiv, sondern positiv und aufbauend. Vor allem sei sie nicht allgemein zugänglich und nicht intersubjektiv überprüfbar, sondern esoterisch und unnachahmbar, unlösbar mit dem weitsichtigen Blick des einzelnen Kritikers verbunden. Am Ende der Geschichte steht die Kulturkritik weiterhin als schwierig greifbares, in vielerlei Hinsicht widersprüchliches Phänomen dar. Dies war (und ist) ein moderner Diskurs, der seiner Diskursivität ebenso zu entkommen trachtete wie seiner Modernität. In jeder ihrer Äußerungen betonte die Kulturkritik  – immer wieder – die einmalige Dringlichkeit der gegenwärtigen Situation. Mit den erkennbaren Mitteln einer weitgehend standardisierten Sprache bestand sie auf der unverwechselbaren Individualität eines jeden ihrer Warnrufe. Während sich der Kritiker als unzeitgemäßer Außenseiter an der Peripherie der Moderne inszenierte, artikulierte er seine Ansichten über die Korruption der Gegenwart mithilfe einer kulturgeschichtlichen Semantik, die ihn als unverkennbar modern auswies. Jedoch hat sich unser Blick auf die Paradoxien und inneren Widersprüche dieses Diskurses im Laufe dieser Studie merklich gewandelt. Die Vermessung seiner semantischen Dimensionen und die Erörterung seiner Funktionsweisen in konkreten historischen Zusammenhängen haben gezeigt, dass die genannten Bruchstellen weniger als logische oder kognitive Mängel denn als konstitutive und produktive Elemente seiner historischen Realität begriffen werden müssen. Die vielschichtige ›Unmöglichkeit‹ der Kulturkritik war in vielerlei Hinsicht der Motor ihrer historischen Wirklichkeit.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Zur Zitierweise Aus Gründen wirkungsgeschichtlicher Relevanz sind dieser Studie vorzugsweise Schriften, die eine größere zeitgenössische Resonanz hatten, zugrunde gelegt. Manche von ihnen haben ihre Popularität bis ins 19. Jahrhundert, manche bis heute nicht verloren. Einige gehören zu den Klassikern des philosophisch-literarischen Kanons. Daraus erklärt sich, dass eine Großzahl von ihnen seit der Erstveröffentlichung in einer beträchtlichen Anzahl von Neuauflagen – in Einzelform oder in Sammelbänden, gesammelten oder Gesamtwerken – erschienen ist. Es stellt sich die Frage, welche Editionen für die Belegstellen angeführt werden sollen. Abgesehen von Fragen der Verfügbarkeit leitet sich diese Wahl aus der Fragestellung und methodischen Perspektive der Studie her. Für eine historisch-semantische Perspektive steht weniger der von dem Autor intendierte Text im Vordergrund als derjenige, der in der zeitgenössischen Öffentlichkeit wirkte. Dass Verleger, Schriftsetzer und andere – wie Diderot als Heraus­geber der »Encyclopédie« zu seinem Leidwesen immer wieder feststellen musste – auf die definitive Gestalt des Textes erheblichen Einfluss haben konnten, ist demnach nicht als nachträgliche Verunreinigung des Urtextes, sondern als konstitutiven Bestandteil seiner Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte zu würdigen. Moderne – durchweg anhand der Manuskriptvorlagen bereinigte – Editionen sind für solche Zwecke ungeeignet. Das gilt ebenso für die Korrekturen ›veralteter‹ Schreibweisen, Syntax und Zeichensetzung, wie sie in vielen Editionen zu Gunsten des gegenwär­ tigen Lesepublikums vorgenommen werden. Aus diesen Gründen wird, im Gegensatz zur gängigen Praxis, in der vorliegenden Studie nach Möglichkeit auf zeitgenössische Veröffentlichungen zurückgegriffen. Erstauflagen oder doch zumindest zeitgenössische bzw. zeitnah entstandene Nachdrucke und Neuauf­ lagen werden modernen Editionen vorgezogen. Diese Herangehensweise wird unter anderem durch den Umstand ermöglicht, dass Digitalisierungsprogramme und die intensivierte Vernetzung wissenschaftlicher Bibliotheken solche Ausgaben immer besser zugänglich machen. Die Zitate werden durchgängig in der ursprünglichen Rechtschreibung, fremdsprachige Zitate in der Originalsprache wiedergegeben. Hervorhebungen sind nur da vorgenommen, wo sie im Original vorliegen. Dabei werden Sperrschrift und Unterstreichung durch Kursivschrift ersetzt.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

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Register

Personenregister Addison, Joseph  246 Adelung, Johann Christoph  81, 150, 260, 286, 296, 350 Adorno, Theodor W.  20, 37, 359 Albrecht, Wolfgang  330 d’Alembert, Jean-Baptiste le Rond  88, 207, 262, 339, 355 Alexander der Große  78 Alexander, William  204, 208 Ancillon, Jean Pierre Frédéric  105 Apel, Karl-Otto  48 d’Arc, Philippe-Auguste de SainteFoix  172–175, 178 f. Archenholz, Johann Wilhelm von  105 Arendt, Hannah  16 Aristoteles  77, 192, 255, 266 Arndt, Ernst Moritz  276 Assmann, Aleida  194 Augustinus  73 f., 126, 128, 191, 380 Augustus  78, 86, 96 Austin, John Langshaw  39 Babier, Edmond Jean François  158 Bacon, Francis  76, 98, 285, 288 Baillet, Adrien  369 Barruel, Augustin  340 Barry, Marie-Jeanne Bécu du  206 Barthes, Roland  243 Baudelaire, Charles  243 Baudrillard, Jean  126, 149 Bayle, Pierre  321, 349, 351 Beauvais, Jean-Baptiste Charles Marie de  352 Becker, Ernst Wolfgang  69 Bell, David A.  100 Bénichou, Paul  379 Benrekassa, Georges  42 Bentham, Jeremy  124 Berg, Franz  349 Berg, Maxine  156 Berkeley, George  134–138, 163

Berlin, Isaiah  30–34, 329 f. Berry, Christopher  127, 144 Bertuch, Friedrich Justin  144 Breyer, Carl Wilhelm Friedrich  90 Biester, Johann Erich  315 f. Blair, Hugh  311 f. Blumenberg, Hans  301 Boileau, Nicolas  173 Bolingbroke, Henry St. John, Lord  183 Bollenbeck, Georg  14, 21, 23, 27–29, 36, 95, 163, 381 Bonald, Louis-Gabriel-Ambroise de  31 f. Boncerf, Claude-Joseph  227, 248 Bossuet, Jacques Bénigne  99 Boswell, James  172, 309, 312 Bourdieu, Pierre  39, 126, 149, 221 Boureau-Deslandes, André-François  248 Boyle, Robert  266–268 Brandes, Ernst  210, 228–231, 369 Brentano, Clemens  356 Brown, John  172, 212 f., 243, 370 Bunyan, John  75 Burke, Edmund  177, 179, 243 Byron, George Gordon, Lord  232, 252 Caesar  112, 139 Campe, Joachim Heinrich  350 Caraccioli, Louis-Atoine  202, 248, 334, 370 Carlyle, Thomas  27 Carus, Friedrich August  279 Cassirer, Ernst  195, 282, 318, 344 f. Castiglione, Baldassare  218, 220 Chartier, Roger  221–223 Chateaubriand, François-René de  107, 243, 252, 310 Chesterfield, Philip Dormer Stanhope, Earl of  226 Child, Josiah  171 Clark, Henry C.  177 f. Clay, Henry  137 Clément, Jean-Marie-Bernard  152

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Register

Clery, Emma  206 Cobbett, William  181 Colbert, Jean-Baptiste  129, 171, 179 Cölln, Friedrich von  111 Compagnon, Antoine  243 Condillac, Étienne Bonnot de  276, 293 Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat de  92, 347 Constant, Benjamin  161, 180 f., 229 Coseriu, Eugenio  259 Court, Pieter de la  171 Coyer, Gabriel-François  170–175, 178 f. Dacier, Anne  87 Damiens, Robert François  325 Damilaville, Etienne  239 Darnton, Robert  235, 330 Darwin, Charles  272 Delon, Michel  35 Demandt, Alexander  74 Deprun, Jean  336 Derrida, Jacques  263–265 Descartes, René  77, 320, 346, 349, 360 Dethlefs, Hans Joachim  225 Diderot, Denis  116, 182, 193, 250, 274, 283, 291, 297, 324–327, 337, 344, 350, 373–379 Digges, West  187 Dilthey, Wilhelm  57 Dipper, Christoph  59, 70 f. Diogenes 94 Donne, John  351 Duclos, Charles Pinot  215 f., 234 f., 238 Dumarsais, César Chesneau  194 Effen, Justus van  246 Eger, Elizabeth  156 Elias, Norbert  197, 211, 214, 219 Engel, Johann Jakob  106 Engelsing, Rolf  365 Erasmus, Desiderius  218, 290 Febvre, Lucien  101 Fénelon, François de Salignac de La Mothe  130 f., 142 Ferguson, Adam  185, 231, 272 Ferlet, Edmé  207 Fetscher, Justus  263 Feydeau, Ernest  160 Fichte, Johann Gottlieb  262 f., 265, 282, 370 Fielding, Henry  201, 350 Fisch, Jörg  102

Fitz-Adam, Adam  211 Flacius, Matthias  97 Fléchier, Valentin Esprit  229 Fontenelle, Bernard Le Bovier de  78–82 Fontius, Martin  347 Formey, Jean Henri Samuel  262, 272 Forster, Georg  112 Foucault, Michel  28, 34, 48–50, 57 f. Fréret, Nicolas  347 Fréron, Élie Chaterine  331, 350 Freud, Sigmund  27 Friedrich II.  112, 118, 247, 293 Friedrich Wilhelm IV.  105 Fukuyama, Francis  71 Gadamer, Hans-Georg  44, 178 Garrard, Graeme  31, 33 Garrick, David  237 Gay, Peter  318, 336 f., 347 f., 357 Gedike, Friedrich  316 Geitner, Ursula  220, 228 Geyer, Paul  85 Gibbon, Edward  88, 257 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig  105 Goethe, Johann Wolfgang von  91, 224, 250, 295, 304, 310 Goldsmith, Oliver  145 Görres, Joseph  123, 350 Gottsched, Johann Christoph  150 Gournay, Vincent de  170 Granjon, Robert  218 Gräter, Friedrich David  213 Grimm, Friedrich Melchior  173, 323–329, 333, 336, 353 f. Grotius, Hugo  192 Gryphius, Christian  97 Guibert, Jacques Antoine Hippolyte  208 Guizot, François  199 Gumbrecht, Hans Ulrich  70–72, 245 Günderrode, Karoline von  311 Gusdorf, Georges  13 Habermas, Jürgen  48 Haller, Carl Ludwig von  273 Hamann, Johann Georg  27, 31, 307, 349, 363, 380 Hazard, Paul  318 Hazlitt, William  112, 275, 310 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm  96, 106, 166, 351, 360 Heidegger, Martin  27, 301

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Register Heinrich IV.  165 Helvétius, Claude Adrien  103, 174, 246, 337 f. Hendrich, Franz Jozias von  104, 239 f. Heraklit 354 Herder, Johann Gottfried  27, 31, 102, 109, 122, 199, 271, 287–290, 294 f., 298, 303, 310, 312, 349, 380 Hesiod 89 Hirschman, Albert  129 Hobbes, Thomas  191–193, 271, 285 Høfding, Harald  21 Hoffmann, Christian Gottfried  353 d’Holbach, Paul Thiry  321 Hölderlin, Friedrich  278 Homer  18, 87, 306, 309 f. Hont, Istvan  185 Horaz  18, 116–120, 128, 239 f., 357 Horkheimer, Max  16, 359 Huber, Ludwig Ferdinand  353, 355 Hübner, Lorenz  149 Hume, David  31, 88, 124, 138, 142, 144, 199, 205, 207 Iffland, August Wilhelm  153, 296 Im Hof, Ulrich  196 Iselin, Isaak  199 Israel, Jonathan  318, 358 Itard, Jean Marc Gaspard  167 Jackson, William  89 Jäger, Ludwig  41 Jäger, Siegfried  49 Jean Paul [Johann Paul Friedrich Richter]  109, 112, 280, 357, 361 Jelinek, Elfriede  27 Jenisch, Daniel  260, 289 Jennings, Jeremy  160 Jenyns, Soame  212 f. Jesus Christus  79, 111 f., 268, 320 Johnson, Samuel  172, 174, 178, 226, 294 f. Jones, Jennifer  160 f. Juvenal  116, 242 Juvigny, Jean-Antoine Rigoley de  352 Kant, Immanuel  78 f., 90–92, 115, 167 f., 252, 263, 277 f., 303 f., 315, 347–349, 357, 367, 382 Kerz, Friedrich von  213 Klinger, Cornelia  109 Klotz, Christian Adolph  102

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Kondylis, Panajotis  318, 358 Konersmann, Ralf  13, 27, 284, 302 f. Koselleck, Reinhart  41, 56, 58–71, 73, 83, 342, 387 Kraus, Georg Melchior  144 Kraus, Werner  315 Kriege, Wilhelm Leonhard  119, 213 Kuhn, Thomas  281 La Bruyère, Jean de  238 La Fontaine, Jean de  151 Lagarde, Paul de  33 Lambert, Anne-Thérèse de Marquenat de Courcelles, marquise de  215 La Mettrie, Julien Offray de  358 La Motte, Antoine Houdar de  87 Langbehn, Julius  33 Langbein, August Ernst Friedrich  106 Langewiesche, Dieter  66 La Rochefoucauld, François de  124, 216 f., 226 Lassay, Armand-Léon de Lesparre de  170 Law, John  132, 142, 157 Lehmann-Brauns, Sicco  261 Leibniz, Gottfried Wilhelm  263, 285, 293 Le Maître de Claville, Charles-FrançoisNicolas  171, 205 Lenz, Jakob Michael Reinhold  217, 296 Lepenies, Wolf  58, 62 Lessing, Gotthold Ephraim  31, 206 Lichtenberg, Georg Christoph  81, 286, 341, 369 Linnaeus, Carl  285 Lisieux, Zacharie de [Petrus Firmianus]  98 Locke, John  283, 285, 302 Louveau, Jean  218 Lovejoy, Arthur O.  46, 57 f., 62, 157 Löwith, Karl  71, 73 f. Ludwig XIV.  77 f., 88, 97, 99, 112, 129 f., 149, 179, 225 Ludwig XV.  172, 206, 352 Ludwig XVI.  155 Ludwig XVIII.  107 Luhmann, Niklas  58 f., 101, 227 Lukian von Samosata  244 Mably, Gabriel Bonnot de  138 MacPherson, James  309 Magendie, Maurice  215 Mah, Harold  293 Maistre, Joseph de  27, 31 f., 112, 243 f.

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Register

Malesherbes, Chrétien-Guillaume de Lamoignon de  155, 374 Mandeville, Bernard  124, 141, 144, 151, 165 f. Marcuse, Herbert  16 Margairaz, Dominique  141 Marie Antoinette  206 Marmontel, Jean-François  245, 347, 375 f. Marquard, Odo  68 Marx, Karl  27 f., 126 Mason, William  338 Masseau, Didier  331–333 Massillon, Jean-Baptiste  130 Maza, Sarah  144, 157 McMahon, Darrin  331 f., 339 Melon, Jean-François  124, 142, 144, ­160–162 Meinecke, Friedrich  29, 57, 59 Meiner, Johann Werner  279 f. Meiners, Christoph  257 Menander 244 Mendelssohn, Moses  315 Mercier, Louis-Sébastien  336, 369 Merville, Pierre-François Camus  216 Meschonnic, Henri  261 Michaelis, Johann David  282 Mill, John Stuart  95 f. Miller, Samuel  322, 371 Mirabeau, Victor Riqueti de  199, 223 Moeller van den Bruck, Arthur  33 Mohammed 112 Molière [Jean-Baptiste Poquelin]  153, 216, 244–246, 249–251 Monboddo, James Burnet, Lord  300 Monod, Albert  330 Montaigne, Michel de  292 Montesquieu, Charles-Louis Secondat de La Brède et de  88, 99, 136, 172, 175–178, 180, 202 f., 221, 228 Moore, John  294 Moore, Thomas  372 Moreau, Jacob Nicolas  339 Morellet, André  376 Mornet, Daniel  275 Mortelmans, Dimitri  149, 154 Mortier, Roland  325 Morvan de Bellegarde, Jean-Baptiste  204 Moser, Friedrich Karl von  136, 341 Mühlmann, Horst  140 Nachtigal, Johann Karl Christoph  292, 308 f. Napoleon  103, 107 f., 112, 181, 213, 310

Neis, Cordula  271 Newton, Isaac  112 Nicolai, Friedrich  118 Nienstädt, Wilhelm  113 Nietzsche, Friedrich  27, 29, 31, 36 f. Norton, Robert E.  31 f. Novalis [Georg Philipp Friedrich von Hardenberg] 363 d’Orléans, Philippe  142 Ossian  309–312, 380 Ovid  89, 97, 157, 236 Paine, Thomas  361 Palissot, Charles  250, 337 Pallach, Ulrich-Christian  147, 155 Panckoucke, Charles-Joseph  144, 221 Pascal, Blaise  249, 337 Paulus 299 Perrault, Charles  77, 82 Pestalozzi, Johann Heinrich  283 Peyrou, Pierre-Alexandre du  271 Pflaum, Michael  199, 225 Pfreundschuh, Wolfgang  14 Plato  127, 165, 299, 304 f. Pocock, John Greville Agard  49, 131, 134 Pompadour, Jeanne-Antoinette Poisson de  201, 266 Popper, Karl R.  387 Preußen, Albrecht von  113 Prometheus 355 Pufendorf, Samuel von  192, 268 Rauhut, Franz  276 Raynal, Guillaume-Thomas  182, 199 Reichardt, Rolf  72, 245 Reinhold, Karl Leonhard  352 Renouvier, Charles  160 Reynolds, Joshua  145 Richardson, Samuel  206 Richter, Melvin  69 Riedel, Manfred  192 Ritter, Joachim  60 Ritter, Johann Wilhelm  266 Rivarol, Antoine de  293 Robertson, William  199 Robinson, David  95 Rohkrämer, Thomas  21 Roscoe, William  110 Ross, Ellen  160 f. Röttgers, Kurt  346, 350

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Register Rousseau, Jean-Jacques  21, 27 f., 31 f., 85, 90, 92–94, 103, 113, 117, 124, 160, 163, 168, 177, 183, 193, 206 f., 212, 217, 226, 228, 230, 232, 236 f., 239 f., 244 f., 249– 252, 263–265, 269–271, 273, 277 f., 282 f., 295, 299, 321, 337, 342, 354, 373–376, 378 f. Roussel, Pierre  339 Sabatier de Castres, Antoine  153, 341 Sade, Donatien Alphonse François de  358 Saint-Evremond, Charles Marguetel de Saint-Denis de  77, 177, 204 Saint-Germain, Antoine Pollier de  114 f., 143, 212 Saint-Lambert, Jean François de  144, 154 Saint-Mard, Remond de  305 Sallust  128, 138 Sarasin, Philipp  45 Savigny, Friedrich Karl von  280 Savigny, Kunigunde von  311 Saurin, Bernard-Joseph  152 Sawilla, Jan Marco  63–66, 73, 84 Say, Jean-Baptiste  161 Schaumann, Johann Christian Gottlieb  340 Scheler, Max  32 Schiller, Friedrich  27 f., 112, 186, 196, 198, 210, 227, 278, 353, 381 Schlegel, Friedrich  93 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst  119 Schlosser, Johann Georg  304 Schneiders, Werner  317, 349, 351 Schubart, Christian Friedrich Daniel  225, 247 Searle, John  39 Seifert, Arno  62 f., 66 Sekora, John  124–127, 148 Sénac de Meilhan, Gabriel  136, 156, 158, 306, 322 Seneca  128, 142, 217, 257 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of  193, 239, 275 Shakespeare, William  105, 166, 244 Shaw, Charles Gray  31 Shaw, George Bernard  159 Shelley, Percy Bysshe  185 Sheridan, Thomas  312 Shovlin, John  126 f., 144, 148, 154, 156 Sieyès, Emmanuel Joseph  161 Simmel, Georg  27, 126

471

Skinner, Quentin  49 Smith, Adam  124, 141, 184 f., 371 Smith, Jay M.  41, 129, 174 f., 178 Sokrates  89, 246, 326 Solnon, Jean-François  153 Sombart, Werner  149 Soulavie, Jean-Louis  208 Spengler, Oswald  27 Spinoza, Baruch  192, 358 Staël, Anne-Louise Germaine Necker de  238, 310 Steele, Richard  246 Stern, Fritz  33 Steuart, James  146 Stockhorst, Stefanie  66 f., 68, 81 Storch, Heinrich Friedrich von  209 Stransky, Josef  357 Strauß, Botho  27 Suard, Jean-Baptiste  323 f., 326 Sulzer, Johann Georg  241, 282–287, 289, 302 f., 306 Süßmilch, Johann Peter  283 Swift, Jonathan  77, 137, 239, 292, 350 Tacitus 128 Taylor, Charles  35, 230 Temple, William  77 Thomas, Alexandre  208 Tietz, Manfred  330, 342 Toussaint, François-Vincent  192 Trenchard, John  137 Troeltsch, Ernst  21 Trömer, Johann Christian  296 Trublet, Nicolas-Charles-Joseph  307 Trusler, John  141, 144 Turgot, Anne Robert Jacques  80, 82, 198 Ueding, Gert  43 Ullrich, Wolfgang  32, 244 Valla, Lorenz  290 Vauvenargues, Luc de Clapiers de  118, 200 Veblen, Thorstein  126, 149 Vico, Giambattista  27, 31 f., 302 Virey, Julien Joseph  214 Volkmann, Johann Friedrich Ludwig  119, 213 Voltaire [François Marie Arouet]  31, 78, 87, 100, 112, 117, 124, 142, 144, 165, 199, 205, 209, 215, 239 f., 245–247, 249, 271 f., 323, 331, 337, 339, 376

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Register

Vyverberg, Henry  85

Wokler, Robert  31 Wolff, Christian  285 Wordsworth, William  275 Wundt, Max  32

Walpole, Robert  133 Warton, Thomas  242 Weber, Carl Julius  95 Weber, Max  21 Weiß, Christoph  330 Wezel, Johann Carl  115 Wieland, Christoph Martin  355 Winckelmann, Johann Joachim  77 Wittgenstein, Ludwig  126

Young, Edward  171, 363 Zedelmaier, Helmut  261 Zedler, Johann Heinrich  246 Zimmermann, Johann Georg  248 Zöllner, Johann Friedrich  315–317

Sachregister Aberglaube  199, 321 f., 352 Abstrakt / konkret  24, 30, 32, 38 f., 41, 43, 52 f., 83 f., 108, 122, 147, 170, 189–191, 195 f., 200, 273, 276, 300, 306, 312, 353, 384 f., 387, 392 Académie de Dijon  90, 373, 375 Académie Française  77, 307, 323, 339 Adel  39, 106–108, 152–154, 156, 158 f., ­170–176, 178 f., 189, 196 f., 211, 218 f., 221, 225, 233, 365, 386 f. Ahnen, Vorfahren  116, 130, 134, 137, 177, 211–213, 220, 225, 234, 310 Aktiv / passiv  269, 273 Algebra (siehe: Mathematik)  Alltagssprache  126, 197, 256 f. Anachronismus (siehe: Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen)  Analyse / Synthese  274, 351, 355 f., 362, 392 Anmut  218, 221, 233, 253, 292 Anthropologie  19, 34, 66, 74, 90, 93 f., 119, 127 f., 163, 192–194, 196, 212, 255, 259, 272, 336 Antike  18, 24, 38 f., 73–79, 86 f., 96, 98, 131, 135, 137–139, 180, 190, 200, 218, 257, 291, 346 – Griechenland  74, 96, 137, 288 f., 346, 350, 354, 382 – Rom  55, 88, 116, 128, 137–139, 177, 181, 232, 266, 289 f., 293, 369 Anciens / modernes (siehe: Querelle) Ancien Régime  104, 156, 159 f., 170, 172, 214 f., 234, 252 f., 340 Arbeit / Muße  38, 171, 174, 327, 336, 345 – Arbeitsteilung  184 f., 231, 361

Armut (siehe: Reichtum) Ästhetik  87 f., 189, 215, 227, 272, 274, ­288–291, 307, 346, 359 f. Atheismus  30, 334, 357 f. Aufklärung  30–37, 43, 46 f., 57, 64, 72, 76, 82, 85, 105, 144, 174, 183, 192, 194–197, 199, 204, 228, 237, 243, 246 f., 257 f., 282, 286, 302, 309, 315–325, 329 f., 332–373, 382 f., 386, 388, 391 f. – Sprachaufklärung  258, 279–287, 290 f., 297–300, 302, 309, 311, 313, 390 Aufrichtigkeit  136, 215, 220, 224, 226, 228, 233 f., 245 f., 273, 296 Aufwand  129, 143, 150, 155, 158 Ausnahmemenschen  112, 325, 327, 354, 381 Außenseiter, geschichtliche  37 f., 42 f., 47, 52, 72, 112 f., 193, 236, 246, 251, 308, 312, 381–383, 390, 392 Äußerlich / innerlich  215, 217, 219, ­221–224, 229, 386 Austausch (siehe: Interaktion)  Authentizität  20, 230, 237, 273, 310–312, 346, 375–379, 381, 391 Barbaren, Barbarei  80 f., 88 f., 100, 173, 181, 183, 190, 193, 198 f., 204, 209, 211, 225, 236, 257, 262, 265, 290, 296, 298, 306, 308, 328, 369 – Edle Wilde  24, 92, 209, 270, 274 Bedürfnis, Begierde  123, 128, 130, 149, 156, 164–169, 186 f., 252, 262, 264, 278, 334, 388 Begeisterung  237, 307, 311, 313, 324, 353 f., 363, 390, 392

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Register Begriff  25, 29, 40 f., 43, 45 f., 84, 123, 125, 135, 145 f., 267, 276, 280, 283 f., 286, 292, 301 f., 316 f. Berechnung (siehe: Kalkül)  Beschleunigung  19 f., 59 f., 67 f., 151, 343, 370 Bibel  116, 256, 265, 306, 358, 380 Bildung, Erziehung  36, 82, 91–93, 109, 115, 185, 198 f., 205, 221, 224, 227, 257 f., 278, 292, 334 f., 349, 361, 369, 386, 392 – Erziehungsliteratur  171, 193, 201, 204 Bon mot  233, 238 Bon ton (siehe: Ton) Bourgeois gentilhomme, Parvenü  152 f., 157, 234 Bürgertum  39, 150, 152 f., 155, 174 f., 186, 197, 224, 237, 296, 366 f., 380 Cambridge School  29, 39, 49 Civic humanism  131, 206 Chaos  157 f., 223, 266, 357 Charakter, Eigenart  16–18, 23 f., 30, 37 f., 51–53, 97, 108, 133, 169, 181, 183, 189, 198 f., 200, 203, 228 f., 231, 255–258, 260, 263, 267, 275, 281, 288–290, 292, 296, 298 f., 319, 384 f. Christentum  73–75, 78, 98, 128, 130, 192 f., 206, 217, 268, 275 f., 320, 334 – Christliche Askese  124, 128, 193 Cultural studies  15–17 Definition  146 f., 223, 256, 285, 317, 384 Deismus  271, 357 f., 361 Dekadenz, Verfall  13 f., 16–20, 23–26, 45 f., 52, 68, 74–81, 83–88, 93, 104, 114–119, 128, 133–135, 137–139, 147, 157–159, 170, 241, 251, 256–258, 281 f., 291, 322, 328, 333 f., 342, 354, 369 f., 385 f. – Kosmologische Verfallstheorien  18, 75, 78 – Verfall der Künste  87 f., 257 Despotie, Tyrannei  107, 131, 155, 172, 177, 186, 203, 208, 219, 238, 277, 353, 386 Destruktion, Zerstörung  324, 341, 351–353, 358, 392 Deutungskampf  40, 146 Dialektik der Aufklärung  35, 317, 342, 359 Diagnose, Entlarvung  15 f., 23–26, 52, 84 f., 118 f., 219, 225, 256 f., 286, 377–379 Dialog  97 f., 118, 122, 201, 218, 245, 247, 271, 328, 376, 389

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Dichtung  80, 82, 258, 302–309, 312 f., 329, 387, 390 Differenzierung  14 f., 18, 35, 41, 58, 86, 142, 152, 168 f., 174 f., 178 f., 181, 184, 186 f., 219–223, 231, 257, 299, 303 f., 319, 333 f. Diskursanalyse (siehe: Historische Semantik) Distinktion, soziale  221, 223, 237 Dualismus  30 f., 35–37, 42, 46, 86, 383 Egoismus, Eigennutz  32, 180, 186, 196, 212, 250, 324, 338 Ehre (siehe: Würde) Einbildungskraft, Phantasie  77, 80, 82, 89, 302–304, 306, 308, 311 f., 326, 361 f. Einfalt  136, 155, 159, 163, 167, 232, 273 f., 278, 296 Einförmigkeit (siehe: Uniformität)  Einmaligkeit  63, 74 f., 118, 242, 244, 262, 279, 374, 382, 392 Einsamkeit  192 f., 236, 240, 245, 247–249, 251, 328, 334, 391 Einseitigkeit (siehe: Ungleichgewicht)  Empfindsamkeit  35, 224, 231, 234, 274, 305, 308, 335, 361 Empirie, Empirismus  44, 59 f., 81, 194, 259–261, 269, 283, 289, 382 Encyclopédie ou dictionnaire raisonné  88, 144, 193 f., 200, 223, 262, 283, 285, 329, 331, 333, 338 f., 344, 347 Energie  211, 258, 273, 291, 306, 312, 352, 387 Entdeckungsreisen  76, 198, 212, 260 Entlarvung (siehe: Diagnose)  Epoche, Zeitalter  23, 59, 61, 63, 67, 88, 95, 97–99, 109, 179, 181, 198, 256, 263, 313, 315 f., 319, 321 f., 328 f., 343 f., 349, 383, 385, 390 f. – Goldenes Zeitalter  18, 24, 89, 96 f., 116, 193, 326, 357 – Zeitalter der Kritik (siehe: Kritik) – Zeitalter der Philosophie (siehe: Philosophie) – Zeitalter der Vernunft (siehe: Vernunft)  – Übergangszeitalter  61, 96 Epistemologie  43, 57, 70, 82, 215, 259, 261, 289 f., 346, 391 Erfahrung  18, 20, 28, 46, 50, 66–68, 70, ­81–83, 104, 115, 120 f., 164, 186, 215, 249, 252, 267, 277, 309, 324 f., 356, 374, ­376–380, 382, 386, 391 – Erfahrungswandel  42, 59, 63, 71

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Register

– Erfahrungsakkumulation  77, 79–83, 90 – Erfahrung und Erwartung, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont  19 f., 56, 60, 67 f., 71, 123 Erkenntnis (siehe: Wissen) Erneuerungssucht  27, 87, 232, 293, 295, 372 f. Erziehung (siehe: Bildung) Eschatologie (siehe: Heilsgeschichte) Ethik (siehe: Moral) Exotismus  24 f., 277 Fanatismus, Fanatiker  237, 250, 309, 327 f., 330, 334, 338 f. Fauxpas  233, 238 Feindbild (siehe: Fremddarstellung) Feuer  43, 213, 336, 341, 351, 355 Figur (siehe: Stereotyp)  Finanzwirtschaft  124, 129, 132 f., 153, 155, 164, 183, 344, 386 Fortschritt  30, 46, 52, 68, 75 f., 80–93, 105, 114 f., 121, 158, 167 f., 174, 205, 266, 273, 277, 282 f., 321–323, 325 f., 360 f., 375, 383, 386 – Fortschrittstheorie, -glaube (der Auf­ klärung)  26, 66, 74, 76, 81 f., 85, 87 f., 119, 322 – Fortschritt in der Kunst  86 f., 130, 360 – Fortschritt in der Moral  89–92, 168, 360 – Negative Folgen des Fortschritts  91, 93, 386 Fragmentierung  18, 185, 317, 356, 362, 392 Französische Revolution  21, 63, 65, 83, 103–105, 112, 119, 156, 159–162, 181, 206, 210, 213 f., 244, 252 f., 331, 338, 340– 342, 367 f. Freiheit  33, 112, 131, 136 f., 139, 212, 219, 226, 257, 269, 348 Fremddarstellung, Feindbild  25, 55, 113, 118–122, 190, 193, 206 f., 234, 244, 336 f., 339, 389 f. Freundschaft  235, 328 Frieden (siehe: Krieg)  Frugalität  128, 137–139, 167, 202 Funktionale Differenzierung  58, 174, 178 f., 181, 186, 303 Ganze, Gesamtüberblick, Generalisierung  15–18, 20, 22–24, 26, 37 f., 53, 68, 73, ­83–86, 94, 100, 108, 113, 119, 133 f., 153, 156, 158 f., 162 f., 169 f., 181, 187, 193 f.,

196–198, 200, 202 f., 205, 225, 228 f., 240 f., 255 f., 267 f., 276, 317, 336, 343, 356, 360–362, 382, 384 f., 387–389, 391 Geburt  152 f., 155 f., 174 Gefallen  205, 230, 251, 293 Gegenaufklärung  30–37, 43, 323, 329–343, 358 f., 383 Gegenbegriffe, asymmetrische  25, 30, 42, 86, 136, 147, 221, 227, 267 f., 300, 319, 360 Gegenwart  24 f., 30, 34, 56, 70–72, 94, 102 f., 112, 116 f., 137, 158, 163, 258, 262, 300, 305, 308, 310, 312, 349, 383, 385, 391 f. Geist  15 f., 22, 24, 53, 57, 98 f., 103, 106, 110 f., 159, 175–182, 228, 230, 235, 240 f., 249, 268, 278, 288 f., 299, 306, 308, 315, 321, 326 f., 333, 345, 352, 369, 372, 385, 389, 391 – Schöngeist, bel-esprit  88, 103, 236, 242, 303 f. – Gespenst, Phantom  99, 106 – Geist des Krieges  80, 142, 174, 177, 179 f. – Geist des Kalküls  103, 182 – Geist des Kommerzes  174, 176 f., ­179–182 – Geist der Nation, Volksgeist  99, 180, 212, 276, 288–290, 292, 294, 296 f. – Geist der Freiheit  137, 212 – Geist der Sprache  276, 288–290, 292 – Parteigeist  103, 107, 110, 333, 338 – Geist der Philosophie  308, 322–325, 327, 385 – Geist / Natur (siehe: Natur)  Geld, Gold  97, 129, 131 f., 136 f., 149, 152, 157–159, 162, 170 f., 173, 177, 181, 183 f., 287, 371, 386 Gelehrsamkeit, Gelehrte  237, 247, 291, 333, 346, 366, 380 Gemeinwohl  131, 139, 161, 171, 192, 226, 248, 323, 338, 367 Genauigkeit  147, 286, 299, 311 Gender, Geschlecht  122, 136 f., 161 f., 189, 203–214, 385 – Verweiblichung  136, 139, 181, 204, 206 f., 210–212, 371, 385 Genie  47, 111, 179, 182, 240, 288–290, 295, 307, 350, 378 Genuss, Genusssucht, Frivolität  129, 143 f., 151, 155, 165, 202, 207, 292 f., 295, 321, 327, 369 Geometrie (siehe: Mathematik) 

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Register Geschichte, Historie  17, 23, 60, 63–65, ­83–85, 105, 159, 189, 194, 263, 269 Geschichtsnarrative  17, 46, 68 f., 104, 124, 128, 140, 168, 173, 181, 198, 204, 258, 397, 313, 319, 389 f. – Lineare / zyklische Geschichtsnarrative  46, 83–83, 88, 328 – Binäre / entwicklungslogische Geschichtsnarrative  138 f., 163, 169, 187, 258, 262 f., 265, 269, 279, 388 f. – Ende der Geschichte  17, 71 Geschichtliche Grundbegriffe  61–64, 69, 71, 102 Geschmack  87–89, 98, 102, 108, 130, 143, 160, 167, 201, 208, 214, 235, 251, 272, 297, 312, 329, 350 Geselligkeit, Soziabilität  143, 167, 189, ­191–193, 195–200, 202 f., 205, 208 f., ­228–231, 235 f., 239, 244, 248, 250–253, 264, 327, 374, 390 Gesellschaft  22 f., 103, 189–197, 202, 216, 232, 246–248, 250, 264, 270, 292, 311, 338, 367, 385, 389 Gesellschaftsordnung, symbolische  149, 152–158, 160, 171 f., 219, 366 Gesellschaftsvertrag  192, 200, 273 Gesetz, Gesetzesordnung  99, 105, 150 f., 176, 191, 204, 206–209, 257, 264, 295, 348, 351, 366 f. Glaube  105, 119, 352, 357, 362 Goldenes Zeitalter (siehe: Epoche)  Größe, klein / groß  111, 213, 311, 353–355 Gruppen, soziale  38–41, 66 f., 121, 196, 201, 218, 326, 329–332, 337 f., 342, 369, 387 Habsucht, avaritia  123, 128, 372 Handel (siehe: Kommerz)  Heilsgeschichte  68, 73–76, 78, 275, 320 Heiterkeit  237–241, 310 Hermeneutik  267, 38, 50, 52, 127, 178, 256, 276, 347 Herz  196, 217 f., 224, 234, 240, 274, 355, 361 Historische Semantik, Diskursanalyse  27– 30, 37, 39, 42, 46, 48–51, 61, 70, 72, 84, 86, 120 f., 163, 265, 276, 300–302, 318 f., 325, 331 f., 364, 368, 377–379, 383 f. – Begriffsgeschichte  59, 68, 70–72, 83, 100 f., 125, 148, 190, 221, 301 – Interdiskursive Interaktion, Rückkoppelungseffekte  43, 53, 113, 121 f., 146, 148, 185, 187, 240, 256, 319, 389 f.

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Hof, Höfling  47, 129–131, 155, 172, 175, 194, 196 f., 201 f., 206 f., 211, 213 f., ­218–221, 224–226, 228, 245 f., 294 Höflichkeit  88, 130, 192, 195, 197–211, ­214–229, 232 f., 245 f., 248, 253, 257, 291, 293–295, 327 f., 334, 344 – Anstandsliteratur  194 f., 218, 221 f. Höhenkamm  29, 126 Honnêteté, honnête homme  195, 211, 215, 221, 229, 234, 246, 327 Humanismus (siehe: Renaissance)  Hypokrisie  216, 226, 246, 352 Ideengeschichte  30 f., 42, 46, 57–59, 63, 66, 329–332 Ignoranz  89, 115, 204, 321 f., 328, 334, 347 Imitation (siehe: Nachahmung)  Individualität  109, 120, 229–231, 234, 244, 296, 378, 380, 392 Industrie  83, 123, 134, 180, 202 Infâme, l’  239, 286 Innerlich (siehe: äußerlich)  Inspiration (siehe: Weisheit)  Intention  49, 116, 378 Interaktion, Austausch  137, 162, 170, 177, 184 f., 187, 191, 194, 201, 204 f., 207, 247 f. – Interdiskursive Interaktion (siehe: Historische Semantik)  Interesse  39, 41, 49, 89, 107, 110, 120 f., 129, 131, 173, 175, 177–180, 182, 186, 192, 225, 251, 323 f., 342, 367, 375, 387, 390 f. Jahrhundert  61, 97, 99, 106, 109, 186, 199, 352 Jansenismus  206, 246, 331, 334 Jesuitismus  170, 246, 331, 334, 340 Kalkül, Berechnung  103, 115, 161, 179, 181 f., 186, 274, 356, 372 Kalt / warm (siehe: Temperatur)  Kinder  80 f., 122, 136, 198, 261 f., 270, 280, 286, 309, 341 Klage 116–120, 134, 227, 242 f., 248, 354, 390 – Klage alter Leute  78, 120, 165 Klassizismus  87, 290, 305, 307 Kleidung  150, 156, 236, 248 Klientelismus (siehe: Patronage)  Klugheit, Privatpolitik  92, 220, 228, 268 Kollektivsingular  63–65, 83–86, 94, 385, 391 Komfort  32, 141, 144, 158, 166 f., 190

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Register

Kommerz, Kommerzialisierung  123 f., 127, 129, 131, 136 f., 153, 156, 161–163, 169– 187, 201 f., 204 f., 216, 246, 248, 264, 294, 344, 371, 387 f. Kommunikation  45, 48, 180, 187, 190, 194, 215, 217–219, 228, 230, 232–234, 236, 238, 262, 270, 284, 296, 377 f. Konservatismus  39, 120, 125, 162, 174, 342 Konsum  123, 126, 128 f., 136, 140, 142 f., 146, 148–152, 154–156, 158–162, ­164–167, 176, 197, 365, 386, 388 Kontemplation, Meditation  111, 246, 275 f., 326, 328, 391 – Vita contemplativa / activa  111, 192 Konversation  187, 206 f., 233, 238, 253, ­291–293, 327 Kontrastfolien (siehe: Kultur)  Korruption  74 f., 87, 93, 127–129, 131, ­133–138, 157, 181, 200, 206, 210, 215, 223, 242 f., 245, 258, 292–294, 316, 392 Kosmopolitismus  202, 324, 366 Krankheit, Pathologie  80, 118–120, 202, 212, 309, 356 – Psychopathologie  118, 120, 249, 390 Kredit  129, 137, 219, 246 Krieg / Frieden  80, 93, 129–131, 142, 171– 174, 177–181, 183, 211 f., 274, 333, 361 – Geist des Krieges (siehe: Geist)  Kritik, Zeitalter der Kritik  19, 22, 47, 342 f., 346–351, 357, 366, 391 Kultur, Zivilisation  20, 23, 83–85, 91, ­100–102, 181, 183, 189, 198 f., 204, 210 f., 214, 220, 224, 243, 249, 257, 261, 263, 268–270, 276, 278 f., 281, 285, 291, 302, 306, 334, 385, 389 – Kulturstadien  184, 198, 228, 269, 299, 388 – Kulturvergleich  18, 24 f., 67, 77 f., 83, 95, 128, 137 f., 163, 172, 181, 203, 213, 225, 231, 234, 257, 309 f., 312 – Kultur / Zivilisation-Gegensatz  32, 36, 102 – Kultur / Natur (siehe: Natur)  Kulturkritik  – K. heute  13–18, 72, 318, 383 – Kritik an K.  13 f., 55, 113–122, 390 – Begriffsgeschichte ›K.‹  21, 44 f., 51, 318 – Analytische Bestimmung  22–27, 30–37, 51 – Kulturkritisches Paradox, Zirkularität  37 f., 43 f., 255 f., 300, 392

Kunst, schöne Künste  77, 79, 82, 86 f., 90, 186, 227, 271 f., 274, 278, 324, 351, 356, 360 f. – Fortschritt in der Kunst (siehe: Fortschritt) – Künstlich / natürlich (siehe: Natur)  – Kunst / Natur (siehe: Natur)  Künste und Wissenschaften, arts et sciences  76 f., 79, 82, 86, 88, 92 f., 103 f., 114, 143, 183, 243, 257, 286, 297, 352, 373, 375, 386 Langeweile  230, 232, 235, 327, 375 Language, political  49 f., 131, 134 f. Laster (siehe: Tugend)  Lebensaltervergleich  74–76, 79–82, 92, 138, 198, 280 f., 286, 311, 321, 323 f. Lesen, Leser  365, 367–372, 380 f. Lexikometrie  190, 195 f. Lichtmetapher  43, 87, 200, 247, 319–322, 324, 336, 340 f., 343, 355, 361–363, 374, 388 Literatur  143, 224, 234 f., 303, 333, 338, 350, 356, 361, 364 f., 369–376, 379–381, 390 – Literarischer Markt  235, 350, 364, 367 f., 371 f., 379 – République des lettres (siehe: Republik) Logik  25, 43 f., 227, 255, 259, 355 Luxus  93, 123–170, 174–177, 181 f., 186 f., 210, 212, 343, 385 f., 388 f. – Querelle du luxe  140–148, 153, 159–161, 187 Maske  214, 216 f., 223, 225 f., 232, 376 Maß, telos  33, 36, 70, 74, 76, 87, 90 f., 94, 127 f., 132, 139, 148 f., 158, 164, 167 f., 261, 265, 268, 335, 386, 388 Mathematik  82, 111, 274, 285, 305, 355 f., 363 Medien  22, 45, 298 f., 307, 368 Meditation (siehe: Kontemplation)  Medizin  82, 212, 346, 349, 355 f. Melancholie  120, 236, 249 Menschheit  20, 75–77, 79–84, 90–94, 182, 186, 198 f., 245, 248–250, 261, 265, 269, 275, 324, 326, 336–338, 340, 346, 382, 388 f., 391 – Natur des Menschen  20, 32, 79, 88, 90 f., 94, 100, 115, 118 f., 134, 192 f., 245, 248, 260, 263, 265, 269, 272, 277, 289, 311, 320, 328, 336, 360, 389 Meta-Diskurs  55, 113 f., 120, 389

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Register Metapher  43, 45 f., 78–81, 98, 135, 191, 230 f., 284, 287, 293, 300–307, 309, 313, 390 Metaphysik  20, 57, 76, 79, 84, 98 f., 103, 108, 110, 266, 283, 301, 328, 336, 343, 345, 358, 378, 388 Misanthropie, Misanthrop  203, 239, ­244–252, 337, 381, 390 Mittelalter  19, 74 f., 80, 102, 290 Mobilität, soziale  132, 148, 151–155, 157, 164, 221, 234, 388 Mode  27, 109 f., 137, 139, 144, 151, 160 f., 202, 207 f., 210 f., 220, 224, 229, 233, 236, 247, 275, 294–296 Moderne  14, 20, 30 f., 34–37, 42–44, 5­ 6–72, 76–82, 85, 89, 98, 109, 125, 137, 143, 180 f., 185, 201, 214, 230 f., 290, 350, 353 f., 359, 366, 387, 393 – Modernisierung  56, 59, 64, 70 f., 125, 144, 148, 231, 253 Mœurs (siehe: Sitten)  Monarchie  106 f., 172, 174–179, 203 Monde, le (siehe: Welt)  Moral  88–92, 131, 133, 161, 207, 215, 220, 222 f., 225, 316, 353, 358, 360 f. – Fortschritt in der Moral (siehe: Fortschritt) – Moralistik  18 f., 94, 102 f., 124, 127, 138, 141, 144, 167, 215–217, 220, 224, 226, 228, 236, 241, 245, 251, 275 Muße (siehe: Arbeit)  Mythos, Mythologie  303, 359 f. Nachahmung  77, 82, 86 f., 130, 151 f., 181, 202, 212, 215–217, 219, 221, 223–227, 271 f., 274, 292–295 Nation  55, 99 f., 103, 172, 224, 385 – Patriotismus, Nationalismus  30, 32 f., 128, 136, 171, 173–175, 290–293, 296 f., 324 Natur  37, 62, 75, 78 f., 92, 186, 213 f., 251, 258, 264, 266 f., 271–279, 298, 326, 356, 362, 381, 388 – Naturrecht  57, 191 f., 194, 200, 264 – Naturzustand / Gesellschaftszustand  93, 103, 163, 191–194, 200, 203, 212, 231 f., 234, 259, 262–265, 269–273, 389 – Natur / Kunst, Kultur, Geist  37, 100, 207, 225, 232, 267–275, 277–279, 312, 389 – Natürlich  /  künstlich  127 f., 164 f., 210, 216, 218–221, 224, 231–233, 267, 269, 271–275, 278 f., 296, 300, 305 f., 389

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– Natürlich / übernatürlich  268, 275–277, 320, 357 – Natur des Menschen (siehe: Menschheit)  Negative Folgen des Fortschritts (siehe: Fortschritt) Neuzeit (siehe: Moderne) Nivellierung (siehe: Stände) Nostalgie  120, 174, 277, 310 Nutzen  124, 141 f., 155 f., 161, 171, 175, 186, 226 f., 248, 321, 324, 327, 333, 371 – Nutzlosigkeit  143, 156, 165, 171, 173, 186 Öffentlichkeit  42, 45, 131, 333, 348, 366 f. – Öffentliche Meinung  104, 121, 257, 323, 333, 367, 372 Ökonomie (siehe: Wirtschaft)  Onomasiologie / Semasiologie  45, 101, 221, 351 Originalität  28, 50, 164, 229–231, 240, 274, 293, 350, 368 Pädagogik (siehe: Bildung)  Parlement  155, 172, 182, 201 Parodie (siehe: Satire)  Partei, Parteienkampf  34 f., 331, 336–143, 360, 388 – Parteigeist (siehe: Geist)  Passiv (siehe: aktiv)  Pathologie (siehe: Krankheit)  Pathos  13, 16 f., 23, 47, 118–120, 242, 390 Patriotismus (siehe: Nation)  Patronage, Klientelismus  235 f., 357, 365 Perfektion  76, 87 f., 93, 114, 277 f. – Perfektibilität  92–94, 260, 270, 322 Performanz  214 f., 219, 238, 291 Peripherie (siehe: Zentrum)  Pessimismus  25, 85, 120, 325 Phantasie (siehe: Einbildungskraft)  Philanthropie  247–252, 326 f., 390 Philister  286, 356 Philosophes  19, 72, 194, 238–240, 246–250, 308, 317, 322–343, 348 f., 351, 354, 375, 382, 391 Philosophie, Philosoph  18, 20, 27, 34, 82, 87 f., 93, 106, 111, 114, 117, 122, 239, 243, 245–251, 259, 263, 265, 286, 302– 304, 308, 323–329, 334 f., 337, 339, 344, ­347–352, 356 f., 360 f., 371, 391 – Zeitalter der Philosophie  118, 179, 247, 322, 324 f., 327, 329, 347, 349, 352 Pluralisierung  17, 66, 68, 317 f., 360–362

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Register

Poesie (siehe: Dichtung) Politik  39–42, 49, 52, 83, 88, 99, 104–107, 120 f., 131–135, 147, 153, 156, 159–162, 170, 172–176, 180–183, 192, 196, 206 f., 214, 220, 224, 253, 338, 342, 353, 358, 360 f., 367 f., 385–388, 390 Politische Ökonomie  146, 160 f., 170, 180 Politur, politesse (siehe: Höflichkeit) Polysemie  45, 64, 140, 266 Postmoderne  14, 16, 27, 31, 33, 70–72, 85, 154 Pragmatik  39–41, 120, 125 f., 135, 223, 226 f., 245–247, 301, 367 f., 377–379, 384, 391 Primitivismus (siehe: Ursprung) Privatpolitik (siehe: Klugheit) Prophet (siehe: Weise) Prosa, prosaisch  258, 300, 302, 304–309, 312 f., 385, 390 Publikum  121, 229, 233, 238, 243, 251, 333, 337, 350, 367 f., 372 f., 376, 391 Qualität / Quantität  134, 149, 185, 256, 258, 262, 281 f., 284, 287–290, 297 f., 301, 368, 371, 389 Querelle   140 f., 146, 203, 333, 389 – Querelle des anciens et des modernes  77 f., 82, 86 f., 290 – Querelle du luxe (siehe: Luxus) Raum  24, 46 f., 58, 100, 108 f., 200–202, 234, 253, 277, 385 Ratio, Rationalisierung (siehe: Vernunft) Reaktion  37, 62, 331, 340, 342, 383 Reformation  57, 75, 320 Reichtum / Armut  128–130, 136, 139, ­142–144, 155 f., 158, 171, 176, 181, 306 Religion  99, 110, 131, 136, 217, 236, 239 f., 260, 268, 275–277, 316, 320, 334, 336, 338, 340, 348, 351–353, 357 f., 360 f., 363, 366 f., 376, 388 Renaissance, Humanismus  62, 74 f., 96, 224, 290, 320, 346 Repräsentation  26, 40, 49, 58, 112, 154–159, 162, 189, 214–219, 223, 230, 283 f., 329, 345, 355, 366, 386 Republik  165, 175–178, 203, 211 – Republikanismus  156–160, 213, 386 – République des lettres  333, 366 Revolution  75, 104 Ridikülisierung  157, 167, 205, 238–241, 250 f., 322

Romantik  27, 31 f., 35, 85, 186, 278, 307, 350, 378 f., 383 Rückkehr, Wiedergewinnung  46, 76, 270, 277 f., 389 Saeculum (siehe: Jahrhundert)  Säkularisierung  275 f. Satire  23, 43, 106, 113, 153, 200, 234, 236, 240–243, 273, 294, 322, 333, 390 Sattelzeit  59, 51, 68 f., 387 Schein (siehe: Wahrheit)  Schleier (siehe: Maske)  Schrei  243, 298, 312 Schriftsteller  142, 234–236, 240 f., 288–290, 333, 350, 357, 365, 367 f., 370–381, 390 Schwärmerei  115, 305, 356 Selbstinszenierung, Selbstdarstellung  25, 37 f., 42, 47, 52, 68, 113, 121, 193, 218 f., 234, 236–238, 243 f., 251, 253, 322 f., 328, 332, 343, 363, 366, 373–376, 381–383, 390–392 Semantik  39–44, 48, 69 f., 73, 121, 125, 135, 162, 195, 223, 252, 262, 275, 317, 319, 344, 376–379, 383 f., 387, 389, 392 – Semantische Leere, Lücke  101, 275 – Semantische Innovation  44, 84, ­123–125, 148 – Semantische Erstarrung  123 f. – Semantischer Wandel  61, 64, 76, 100, 145, 220 – Semantische Bruchlinie  262 f., 265 f., 269 f., 270, 282, 388 f. – Semantisches Chaos  223, 260 – Semantische Ersetzung  275 f. Semasiologie (siehe: Onomasiologie)  Semiotik (siehe: Zeichen)  Siebenjähriger Krieg  172, 212, 325 Sitten, mœurs  88–90, 93, 100, 117 f., 130, 163, 180, 199, 204 f., 208 f., 215, 230, 235, 245, 248, 250, 257, 277, 288, 291 f., 295, 308, 311, 316, 350–353, 360 f., 373, 380, 385 Skandal  133, 141, 192 f., 226, 338 Skepsis (siehe: Zweifel)  Sonderweg, Eigenweg  36, 102, 225 Spekulation  132 f., 157, 259, 261 f., 387 Spezialisierung (siehe: Arbeitsteilung) Sprachaufklärung (siehe: Aufklärung) Sprachpflege  260, 290 f., 295 Stadientheorie (siehe: Kultur) Stadt  47, 164, 199, 201 f., 214, 245, 248

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Register – Stadt / Hof  47, 130, 201 f. – Stadt / Land  47, 155, 201 f., 232, 234 Stände  108, 148–159, 164, 174, 178, 181, 380, 386 – Verwirrung der Stände, Nivellierung  152–154, 157–159, 162, 386 Stellung (siehe: Würde) Stereotyp  47, 103, 131, 153, 171, 186, 199, 241, 244, 249, 294, 296, 322, 343, 372, 385 Stilistik  47, 234, 236, 240–244, 288, 307, 313, 376, 390 Stoa  191, 245, 376 Sturm und Drang  32, 186, 225, 307, 379 Sünde (siehe: Tugend) Symptom (siehe: Zeichen) Synthese (siehe: Analyse) System, Systematismus  19, 27, 103, 155, 352, 360, 362 Tat, Tatkraft  352 f., 361, 370 Telos, Teleologie (siehe: Maß)  Temperatur  224, 231, 234, 239, 274, 299, 309, 312, 341, 354–356, 361, 363, 390 Theologie  259, 261, 268, 357, 363, 378 Tier  194, 249, 255, 261, 270 Ton, Tonfall  47 f., 103, 108, 120, 154, 208, 230 f., 233 f., 236–244, 247 f., 253, 275, 292, 304, 307, 310, 313, 315, 318, 322, 333, 377, 390 – Bon ton  231, 233, 237 f., 292, 390 Tugend / Laster, Sünde  19, 75, 79, 89, 114, 128–131, 134, 136 f., 139, 141, 150, 155– 157, 160, 163, 167, 170 f., 176 f., 192 f., 200, 207, 211, 216 f., 220–228, 234, 237 f., 247 f., 250 f., 257, 292, 295, 325, 336, 350, 355, 372, 386 Überfeinerung (siehe: Verfeinerung)  Überfremdung  202, 212, 224, 291, 294– 297, 316 Übergangszeitalter (siehe: Zeitalter)  Übernatürlich / natürlich (siehe: Natur)  Umgangsformen  103, 190, 195, 198 f., 210 f., 214–226, 235, 253, 291, 295, 327, 386, 390 Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen  24, 61, 67, 86, 92, 109, 198 Ungleichgewicht  91–93, 185, 360, 361, 386, 392 Uniformität  230–232, 299, 307

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Universalsprache  285, 289, 293 Unmittelbarkeit  229, 232, 295, 299, 304, 324, 374 f. Unwissenheit (siehe: Ignoranz)  Unzeitgemäß (siehe: Außenseiter) Ursprung, Ursprünglichkeit  26, 36, ­257–265, 273 f., 277, 279, 282, 305–313, 387, 389 f. – Primitivismus  24, 270 Utilität (siehe: Nutzen) Vaterland (siehe: Nation) Verfall (siehe: Dekadenz) Verfeinerung  89 f., 142, 196, 198 f., 204, 209–211, 214, 229, 231, 233, 243, 249, 260, 272 f., 294, 309, 312, 335, 385 – Überfeinerung  210 f., 291, 293 f., 297, 335 Vergangenheit  24 f., 56, 50 f., 70–72, 76, 89, 137, 163, 261, 323, 354 Verlust  20, 119, 277, 309 f. Vernunft, Verstand  19, 46, 106, 111, 146, 186, 207, 246, 263–265, 282 f., 287, 289, 302 f., 306, 308 f., 311 f., 321 f., 325, 335, 342, 344–348, 351–353, 355, 359–362, 386, 388, 391 f. – Rationalisierung  19 f., 60, 258, 298–300, 308, 311, 324, 343–346, 353 – Zeitalter der Vernunft  246, 305, 322, 325, 344, 361, 391 – Animal rationale  255, 260 Verstellung  156, 216 f., 219, 224 f., 228–230, 233 f., 291, 376 Verweichlichung  128, 136, 171, 174, 181, 206, 210–213, 247, 295, 310, 312, 390 Verzeitlichung  19 f., 55–72, 91, 159, 162, 166–169, 182, 187, 203, 253, 255, 258, 260, 262 f., 269, 279, 281, 336, 342, 345 f., 384, 387–389 Vita activa / contemplativa (siehe: Kontemplation)  Vollendung (siehe: Perfektion) Vorsehung (siehe: Heilsgeschichte) Vorurteil  105, 114, 141, 158, 171, 239, 241, 289, 321 f., 328, 347, 352 f., 357, 392 Wahrheit / Schein  20, 189, 212, 217, 219, 224–229, 256, 291, 316, 321, 325–328, 336, 338, 351, 372, 375, 386 – Wahr / falsch  168, 220, 222, 233, 248, 316 f., 326 f., 333 f., 356, 386

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Register

Warm / kalt (siehe: Temperatur) Weisheit, höhere Einsicht, Inspiration  111, 320, 327 f., 333, 362, 373–382, 391 – Weise, Prophet, Denker  47, 111, 240, 246, 290, 326–329, 334, 356, 381 f., 391 Welt, le monde  200–202, 204, 214, 224, 226, 229, 231–238, 240, 245–248, 251, 275, 293–296, 327, 333 f., 374 Weltaneignung  258, 281, 284, 286 f., 291 Weltverständnis, Weltwissen  41, 49, 135, 276 f. Weltweisheit  247, 257, 327 Wiedergewinnung (siehe: Rückkehr) Wirtschaft  123, 161, 169, 178 f., 182, 371 – Wirtschaftlicher Strukturwandel  123, 125, 150 f., 186 Wissen  89, 167, 218–285, 306, 368 f. – Wissensmodus  47, 319, 343–346, 362, 382, 391 f. – Wissensordnung  319, 364 Wissenschaft  81 f., 86, 260 f., 268, 274, 278, 286, 297, 302, 321 – Wissenschaftliche Revolution  76, 102 Witz  103, 237, 239–241, 295, 327

Wohlfahrt   141 f., 171, 177 Wolfskinder  167, 194, 260–262 Wort 283–285 Würde  139, 155 f., 171, 175 f., 178, 181, 211, 219, 222, 235, 246, 366, 372, 381 Zeichen  22, 26, 45 f., 48, 64, 69, 73, 149, 154, 197, 215–219, 221, 229, 232, 257, 262, 276, 283, 287, 341 – Zeichen der Zeit  24, 26, 38, 43, 53, 68, 103, 110 f., 133, 200, 203, 241, 257, 318, 322 f., 342, 353, 385 Zeitalter (siehe: Epoche) Zeitgeist  24, 95–113, 176, 180, 189, 200, 324, 382, 384 f., 391 f. Zeitkulturen  66 f., 72, 387 Zensur  331, 364 Zentrum / Peripherie  36, 47, 53, 197, ­200–202, 385 Zirkularität (siehe: Kulturkritik) Zivilisation (siehe: Kultur) Zukunft  58–60, 66, 68, 71 f., 76, 89, 261, 323, 363, 369 Zweifel  103, 347, 351 f., 357 Zynismus, Zyniker  245, 248, 376

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