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German Pages 388 Year 2007
Jüdische Religion, Geschichte und Kultur Herausgegeben von Michael Brenner und Stefan Rohrbacher
Band 7
Vandenhoeck & Ruprecht
Annkatrin Dahm
Der Topos der Juden Studien zur Geschichte des Antisemitismus im deutschsprachigen Musikschrifttum
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56996-2
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Judenfeindschaft und moderner Antisemitismus Kontinuitäten und Brüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.1 Der moderne Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1.2 Sprachliche Aspekte diskriminierender Literatur . . . . . . . . . . . . 29 2. Exkurs: Musik als ‚deutsche‘ Kunst und ihre spezifische ‚Tiefe‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 3. Die Musikliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.1 Judenfeindliche Tendenzen in der Musikgeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . 64 3.2 Das 19. Jahrhundert: Stereotype in der Musikkritik . . . . . . . . . . 3.2.1 Die Synagogalmusik-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Komponisten im Spiegel anti-judaistischer Polemik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Giacomo Meyerbeer: der ‚Rothschild der Musik‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.2 Jacques Offenbach: der ‚kleine Meyerbeer‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.3 Felix Mendelssohn Bartholdy: mangelnde ‚deutsche Tiefe‘ und ‚Lebenswärme‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3.3 Richard Wagner, Das Judenthum in der Musik (1850) . . . . . . . 143 3.4 Die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts: Kontinuitäten und Akzent-Verschiebungen . . . . . . . . . . . . . . . . 166 4. Die Polarisierung im Musikschrifttum seit der Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 4.1 Gustav Mahler und Arnold Schönberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
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Inhalt
4.2 Zur Genese des Begriffs der ‚Rasse‘ in der Musikliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 4.2.1 Der ‚Rasse‘-Gedanke in Biographien und Musikgeschichten . . . . . . . . . . . . . . 230 4.2.2 Die ‚Rassentheorie‘ im Musikschrifttum . . . . . . . . . . . . 245 5. Exkurs: Kulturzionistische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 6. Der Topos des Juden im nazistischen Musikschrifttum . . . . . . . . . . . 289 6.1 Die Juden in der Musik: Nachschlagewerke und schwarze Listen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 6.2 Historische Legitimationskonstrukte antisemitischer Musikpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 6.3 Ideologische Einwirkungen auf das musikwissenschaftliche Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 7. Perspektiven: Der Topos des Juden als Stereotyp in der Musikliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 8. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 8.1 Quellentexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 8.2 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Inhalt
Vorwort
Die Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Musikpolitik weckte das Interesse für die Rezeption von Musik unter politischen Vorzeichen. Die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass diese nahezu unüberschaubare Menge an agitatorischen Texten im Sinne des Antisemitismus zwischen 1933 und 1945 entstehen konnte, leitete die vorliegende Arbeit. Dabei wurde sehr bald deutlich, dass sich eine antisemitische Prägung der Musikliteratur auf judenfeindliche Akzente innerhalb der christlich-abend-ländischen Geschichte berufen konnte. Die Dechiffrierung des Topos des ‚Juden in der Musik‘ wie er sich in der NS-Propaganda darstellt, führte in das 18. Jahrhundert zu den Anfängen der deutschsprachigen Musikgeschichtsschreibung. Mit der historischen Tiefenschärfe wuchs der betrachtete Zeitraum und mit ihm der Umfang der vorliegenden Untersuchung. Zwischen konstanten und neuen Elementen des anti-judaistischen Topos in Texten zur Musik stellt diese Studie nicht allein den Versuch einer empirischen Quellenschau dar, sondern verweist zudem auf die grundlegende Bedeutung einer Rezeptionsforschung innerhalb der historischen Musikwissenschaft. Für ihre Unterstützung bei der vorliegenden Arbeit bin ich etlichen Personen dankbar. An erster Stelle danke ich Herrn Prof. Dr. Christoph von Blumröder für eine Vielzahl von Gesprächen, begleitenden Denkanstößen und fruchtbaren Rückmeldungen. Viele Diskussionen im Rahmen des Magister- und Doktorandenkolloquiums des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität zu Köln flossen in die vorliegende Arbeit ein. Allen Teilnehmenden sei für ihr Interesse und ihre Resonanz gedankt. Herrn Prof. Dr. Jost Dülffer danke ich für seine freundlichen Ratschläge von historischer Seite. Das Auffinden des umfangreichen Quellenmaterials aus drei Jahrhunderten wäre ohne die Mitarbeiter vieler Bibliotheken nicht möglich gewesen. Stellvertretend seien besonders den Universitätsbibliotheken Freiburg und Köln sowie der Germania Judaica in Köln für ihre Bemühungen im Beschaffen selbst entlegener Titel gedankt. Martina Eiffler und Anja Schöner aus Freiburg danke ich für viele Gespräche und tatkräftiges Korrekturlesen, vor allem aber für ihre Freundschaft. Carsten Schmidt danke ich für all die charmante Art der Unterstützung. Die vorliegende Arbeit wäre ohne die großzügige Hilfe meiner Eltern nicht entstanden. Für ihre Geduld danke ich Ihnen von Herzen. Köln, Mai 2007
Annkatrin Dahm
Einleitung Einleitung „Der ideologische Text wird >...@ nicht geschrieben, sondern komponiert. Seine innere Logik ist – mag es auch schockierend klingen – die eines Kunstwerkes. Der Willen, eine ‚neue Realität zu bilden‘, bewegt im Bewußtsein und Unbewußtsein des ideologischen Subjekts dieselben Schöpferkräfte wie das Kunstschaffen.“1
Die vorliegende Arbeit stellt die Frage nach den Einflüssen des Antisemitismus auf das deutschsprachige Musikschrifttum. Ausgehend von der Prämisse, dass selbst Texte über Musik nicht frei von ideologischen Einwirkungen sind, sollen diese am Beispiel von Judenfeindschaft und Antisemitismus untersucht werden.2 Im Vordergrund steht hierbei die Betrachtung des Entstehungsprozesses des Topos3 des Juden in der Musikliteratur und der ihn charakterisierenden Denkfiguren und Stereotype, die anhand von publizierten Schriften des 18. bis 20. Jahrhunderts beleuchtet werden sollen. Am deutlichsten zeigt sich die Form einer ideologisch-geprägten Musikliteratur in der Zeit des Nationalsozialismus, in der eine totalitäre, dezidiert antisemitische Musikpolitik durchgesetzt wurde, die singulär in der Geschichte steht. Mithilfe eines Macht- und Kontrollapparats, dessen Ziel die vollständige Eliminierung der Juden aus dem öffentlichen Leben war, wurde durch eine antisemitische Gesetzgebung nicht nur den kulturell tätigen Juden in Deutschland zunächst die ökonomische Grundlage entzogen. Während der ‚Kampf gegen das Judentum‘4 das Hauptziel der nationalsozialistischen Politik war, entstand jedoch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in 1 Vladimír Karbusicky, Ideologie in der Kunst, 80. 2 Zur wissenschaftlichen Differenzierung dieser beiden Begriffe vgl. Kap. 1. Judenfeindschaft und moderner Antisemitismus. Kontinuitäten und Brüche. 3 Der literaturwissenschaftliche Terminus ‚Topos‘ definiert sich als festes Denkmuster mit „verfügbare>n@ Versatzstücke>n@“, die „vorgeprägte Formeln, Phrasen, Wendungen, Zitate, stereotype Bilder, Embleme, tradierte Motive, techn. Anordnungs- und Darbietungsweisen für bestimmte Aufgaben und Anforderungen“ umfassen können (Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, 952). 4 In der vorliegenden Studie erfolgt der Gebrauch einfacher Anführungszeichen für zugewiesene Stereotype, abwertende Schlagwörter und undifferenzierte Redewendungen. Auch der Begriff ‚Rasse‘ und seine Komposita werden derart gekennzeichnet. Da stigmatisierende Vokabeln und simplifizierenden Formulierungen in der nachfolgenden Untersuchung nicht vermieden werden können, dienen die einfachen Anführungszeichen hier sowohl einer historisch-wissenschaftlichen Distanzierung als auch einer Sensibilisierung für sprachliche Diskriminierungsmuster.
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vielen Bereichen eine antisemitische Agitation, auf welche die NS-Ideologie aufbauen konnte. Dabei wurden die tradierten Elemente der religiös motivierten Judenfeindschaft mit den im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstehenden ‚Rassentheorien‘ verbunden und auf die bürgerliche Gesellschaft übertragen. Schon im Kaiserreich und in der Weimarer Republik entwickelte sich so ein völkisches Welt-, Geschichts- und Kulturverständnis, das sich in zahlreichen Hetzschriften widerspiegelt, die von einer ‚Verjudung‘ des deutschen Geisteslebens sprachen. Auch Schriften zur Musik gerieten unter den Einfluss dieser Agitation einer ‚Überfremdung‘ der deutschen Gesellschaft. Den zentralen Text des 19. Jahrhunderts für den Topos des ‚Juden in der Musik‘ lieferte 1850 Richard Wagners zweiteilige Polemik Das Judenthum in der Musik. Der Aufsatz wurde gerade von nicht-musikwissenschaftlicher, historischer Seite oft zitiert, findet sich doch in ihm schon sehr früh und sehr deutlich die neue Qualität des Antisemitismus dokumentiert. Dabei wurde bislang zumeist übersehen, dass sich Wagners Text in seinem Vokabular und seinen Argumentationsmustern in bestimmten Diskussionszusammenhängen der 1850er Jahre bewegt, die sich ihrerseits auf konstante Stereotype der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beziehen konnten. Ansätze einer Judenfeindschaft als Bestandteil der Geschichte des christlichen Abendlandes spiegeln sich allerdings schon im Musikschrifttum des 18. Jahrhunderts wider. Wie zu zeigen sein wird, griffen frühe Verfasser musikgeschichtlicher Schriften wie Johann Mattheson, Charles Burney oder Johann Nikolaus Forkel die gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber Juden in ihren Texten auf und prägten so die Anfänge spezifischer Stereotype innerhalb des vermeintlichen Themas ‚Judentum und Musik‘. Dieses konnte sich in der Musikliteratur des 19. Jahrhunderts zum Bild des ‚Juden in der deutschen Musik‘ verfestigen und erhielt seine charakteristische Prägung zum einen durch den deutschen Nationalisierungsprozess. Zum anderen verdichteten sich durch die Entstehung der bürgerlich-kapitalistischen Industriegesellschaft die anti-judaistischen Stigmatisierungen, in dem gesellschaftskritische, anti-modernistische und nationalistische Implikationen vor dem Hintergrund der jüdischen Assimilations- und Emanzipationsbestrebungen zum antisemitischen Impetus umgedeutet werden konnten. Während die deutschen Juden 1871 den staatsbürgerlichen Status erhielten, entwickelte sich parallel zur jüdischen Emanzipation im Laufe des 19. Jahrhunderts ein säkularisiertes Bild des ‚Juden‘, das zwar auf eine religiöse Differenz rekurrierte, diese aber deutlich erweiterte. In der Verbindung mit einem aggressiven Nationalismus und dem virulenten Gedanken der ‚Rasse‘ kristallisierten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ‚Rassentheorien‘ heraus, welche die Grundlage für die Ausbildung einer ‚musikalischen Rassenkunde‘ des Nationalsozialismus bildeten. Dabei wandelte sich
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der Begriff der ‚jüdischen Rasse‘ zu einem biologistischen Schlagwort, das homogene körperliche und geistige Gemeinsamkeiten aller Juden aller Zeiten bezeichnete. Als ‚Rasse‘ wurde den Juden jegliche Fähigkeit und Möglichkeit zur musikalischen Äußerung abgesprochen. Die Anwendung der neuen, vermeintlich naturwissenschaftlichen Kategorie ‚Rasse‘ als Beurteilungskriterium musikgeschichtlicher Prozesse sowie einzelner Werke und Komponisten baute Richard Eichenauer mit Verweis auf die ‚Rassentypologien‘ von Hans Friedrich Karl Günther und Ludwig Ferdinand Clauß zu dem Konstrukt Musik und Rasse (München 1932) aus. Betrachtungen der Physiognomie eines Komponisten verband er mit Spekulationen über die Spiegelung der ‚Rasse‘-Eigenschaften in seinen Werken. Der Gedanke einer ‚jüdischen Rasse‘ als biologistische Bedingtheit bildete sowohl die Grundlage der generellen NS-Propaganda als auch deren Ausprägungen in der Musikliteratur. Die Anfänge dieses ‚Rasse‘-Gedankens und seine Verzahnung mit dem Topos des Juden in der Musik werden in der vorliegenden Untersuchung ebenso nachzuzeichnen sein wie die Entstehung des Topos selbst und seiner präformierten Stereotype und Denkmuster. Eine Rekonstruktion der Bewertungs- und Stigmatisierungsmechanismen, die der Genese eines antisemitischen Judenbildes in der Musikliteratur zugrunde liegen, weist über die Funktion des Musikschrifttums als musikhistorisches Zeitzeugnis hinaus. Spätestens seit die Musik ein öffentliches, gesellschaftliches Ereignis wurde, entstand ein Schreiben über Musik, das größeren Kreisen zugänglich war. Hierbei traten die Anfänge der deutschsprachigen Musikgeschichtsschreibung und die öffentliche Musikkritik in Wechselwirkung mit den zeitspezifischen politisch-ideologischen Strömungen. Eine Dokumentation der Einflüsse dieser jeweils herrschenden Denkfiguren und Wertmaßstäbe auf den Topos des Juden soll neben einer Beleuchtung historischer und sprachlicher Aspekte versucht werden. Jeder Diskurs5 über Musik offenbart neben dem damit einhergehenden Musikverständnis gleichzeitig die gesellschaftlich bedingte Rezeptionshaltung der Zeit. 5 Für die vorliegende Betrachtung von veröffentlichten Schriften zur Musik kann der diskursanalytische Ansatz des Sprachwissenschaftlers Utz Maas gelten (Sprache im Nationalsozialismus, 18): „Eine strikt formale Analyse betrachtet den Text immanent. Damit wird sie dem Charakter >...@ politischer Äußerungen nicht gerecht, die ja nicht spontan erfolgen: nicht nur daß ihre professionelle Vorbereitung ein anderes Bezugssystem aufspannt als das der unmittelbaren Redesituation, auch ihre Rezeption ist anders. Sie werden als Exemplare eines bestimmten politischen Diskurses konzipiert und verstanden >...@; d.h. ein solcher Text ist Ausdruck bzw. Teil einer bestimmten gesellschaftlichen Praxis, die bereits eine bestimmte Menge von möglichen Texten definiert, die die gleiche Praxis ausdrücken bzw. als Repräsentanten der gleichen Praxis akzeptiert werden können. In diesem Rahmen wird die Textanalyse zur Diskursanalyse, wobei Diskurs für eine sprachliche Formation als Korrelat zu einer ihrerseits sozialgeschichtlich zu definierenden gesellschaftlichen Praxis steht.“
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Eine erste Untersuchung zu der, durch anti-judaistische Akzente geprägten, deutschen Rezeptionshaltung gegenüber einer ‚Musik der Juden‘ im 19. Jahrhundert stellt die Dissertation The Jew in German Musical Thought (1830–1880) von Jacob Hohenemser und Frederic Ewen dar, die 1960 am Jewish Theological Seminary of America entstand.6 Diese Arbeit liefert auf der Grundlage einer ausführlichen Quellendarstellung einen ersten Anhaltspunkt für die historische Dimension des Topos des Juden in der Musikliteratur. In Ergänzung zu dieser – mit Blick auf das frühe 19. Jahrhundert singulären – Studie anti-judaistischer Stereotypenbildung liegen von der musikwissenschaftlichen Forschung zahlreiche Publikationen vor, die sich mit der NS-Musikpolitik beschäftigen. Dennoch scheint die ganze Dimension dieses Bereichs der deutschen Musikgeschichte bis heute noch nicht erschlossen. Zu verschieden sind die Aspekte des Musiklebens zwischen 1933 und 1945. Stand zunächst die Funktionalisierung von Musik zu staatsideologischen und agitatorischen Zwecken im Zentrum des Interesses,7 beschäftigte sich die Musikwissenschaft in den letzten Jahren verstärkt mit dem Bereich des Unerwünschten, Verbotenen und Verfolgten.8 Als Standardwerk, das beiden Aspekten gerecht zu werden suchte, kann die Dokumentation Musik im Dritten Reich von Joseph Wulff gelten, die 1963 veröffentlicht wurde. Mit seiner kommentierten Zusammenstellung von Zeitzeugnissen, die den Bereichen Das Jahr 1933, Gesteuerte Musik, Arteigene Kunst und Artfremde Musik zugeordnet werden, vermittelt der Band ein facettenreiches Bild der musikpolitischen Ereignisse im Dritten Reich. Die in den 80er Jahren erschienene Untersuchung Musik im NS-Staat von Fred K. Prieberg sowie die von Hanns-Werner Heister und HansGünther Klein herausgegebene Aufsatzsammlung zur Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland gelten bis heute als Grundlagenwerke neben der Veröffentlichung von Joseph Wulff. Während Fred Prieberg von der Forschung teilweise wegen seiner polemisch-richtenden Sprache und vereinzelten Irrtümern in der Untersuchung kritisiert worden ist, weckte sein erster Versuch einer Beleuchtung der Musikgeschichte unter nationalsozialistischer Herrschaft ein bis heute anhaltendes Interesse. Dissertationen wie The Politics of Music in the Third Reich, von Michael Meyer 1991 vorgelegt, orientieren sich im Ganzen an Prieberg und Wulff.9 6 Ein Teilabdruck von Jacob Hohenemser erschien 1980 unter dem Titel The Jew in German Musical Thought before the Nineteenth Century in der Zeitschrift Musica Judaica. 7 Vgl. etwa die 1935 entstandene Schrift Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland von Hanns Eisler sowie die Artikel von Hans Heinz Stuckenschmidt (Braune Klänge [1946]; Musik unter Hitler [1962/63]; Die Musen und die Macht [1980]). 8 Dies zeigt sich etwa in dem zunehmenden musikwissenschaftlichen Interesse an der Exilforschung. 9 So wurde zu Meyers Studie kritisch angemerkt, dass er bereits hinreichend beleuchtete Komplexe in den Vordergrund seiner Untersuchung stellte, wie etwa die Struktur staatlicher
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Die meisten Forschungsarbeiten stellen hierbei vor allem die Fragen nach einer funktionalen Nutzung von Musik, nach der Organisation des NSMusikbetriebs10 oder nach den musikpolitischen Verstrickungen exponierter Personen des Musiklebens.11 Indem sich diese Untersuchungen allein auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 beziehen, die teilweise um eine kursorische Einführung durch die Betrachtung der Weimarer Jahre ergänzt wird, werden jedoch kontinuierliche Momente in Vorstellungen und Denkmustern übersehen, die bereits vor der Wende zum 20. Jahrhundert entstanden. Auf diese Schwierigkeit in der analytischen Betrachtung des deutschen Faschismus und seiner ideengeschichtlichen Vorläufer, die sich auch in der musikhistorischen Aufarbeitung zeigt, verweist eine Fülle der historischen Forschungsliteratur und die Vielzahl interpretatorischer Ansätze in der Geschichtswissenschaft, der Psychologie und Soziologie hin.12 Angesichts einer totalitären Musikpolitik, die mit der Machtübernahme Hitlers 1933 ihren Anfang nahm, sich aber gleichzeitig durch Konstanten im deutschen Musikleben darstellt, scheinen herkömmliche musikgeschichtliche Parameter nicht zu greifen. So hat Carl Dahlhaus darauf hingewiesen, dass die „These vom Primat der Komposition“ die Musikgeschichte zwischen 1933 und 1945 nur wenig erhellen kann. Vielmehr sollte neben der Beleuchtung der signifikanten Funktionalisierung von Musik im Rahmen der NS-Politik ein Forschungsschwerpunkt auf der „Interpretations- und Rezeptionsgeschichte“13 liegen. Obgleich sich die Musikforschung zum Nationalsozialismus zumeist an der Frage orientiert, warum die NS-Musikpolitik in der Form greifen konnte und sämtliche Bereiche des Musiklebens in Deutschland erfasste, konnten bislang nur Teilergebnisse erzielt werden. Die Vielzahl der propagandistischen NS-Schriften weist neben staatlichen Zwängen und ökonomischen Notwendigkeiten auf ein spezifisches Musikverständnis, im Rahmen dessen die Autoren durch das ‚Rasse‘-Kriterium zu neuen Erkenntnissen zu gelangen hofften. Während viele Untersuchungen die NS-Musikliteratur zum Komplex ‚Musik und Rasse‘ als politische Konzession an die Zeit nach 1933 betrachten, bilden die Ursprünge eines biologistisch ausgerichteten Musikschrifttums das Hauptinteresse der Dissertation Volk, Nation, Musikorganisationen oder die musikpolitischen Verstrickungen Wilhelm Furtwänglers und Paul Hindemiths. 10 Als Beispiel sei die Dissertation Zur Funktion der Musik im deutschen Rundfunk 1933– 1945 von Nanny Drechsler genannt. 11 Vgl. etwa Michael H. Kater, Mißbrauchte Muse. 12 Auch die Tatsache, dass sich in den 90er Jahren neben Musikwissenschaftlern gerade Sozialhistoriker wie Michael Meyer und Michael H. Kater mit der Musik im Dritten Reich beschäftigt haben, verweist hierauf. 13 Carl Dahlhaus, Politische Implikationen der Operndramaturgie. Zu einigen deutschen Opern der Dreißiger Jahre, in: Die Musik der 1930er Jahre, 149.
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Stamm und Rasse. Die Politisierung der deutschen Musik 1850–1945 von Birgitta Maria Schmidt. Neben dieser Studie boten vor allem die monographischen Arbeiten Jens Malte Fischers zu Richard Wagner und Gustav Mahler einen detaillierten Einblick in die antisemitische Stereotypenbildung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus waren besonders fünf Untersuchungsgebiete der musikwissenschaftlichen Forschung für eine Betrachtung des Topos des Juden im deutschsprachigen Musikschrifttum fruchtbar. Die Studie Music in the Third Reich von Erik Levi setzt in den beiden Kapiteln Anti-Semitic Jewish Propaganda und Rewriting Musical History: Music Literature and Musical Press einen Schwerpunkt auf den antisemitischen Hintergrund der NSMusikpolitik.14 Mit jeglichem Schreiben über Musik innerhalb der Musikpresse zwischen 1933 und 1945 beschäftigt sich die Dissertation Musikkritik im Nationalsozialismus von Fabian R. Lovisa, welche die großen Musikzeitschriften sowohl mit Blick auf die Autoren als auch auf ihre ideologische Ausrichtung hin untersucht. Obgleich die Arbeit weniger die manipulativen Diskriminierungsmuster der jeweiligen Artikel betrachtet, bietet sie dennoch mit einem umfangreichen dokumentarischen Anhang einen Einblick in die Fülle der NS-Publikationen. In Bezug auf die Verknüpfung des Antisemitismus mit anderen musikpolitischen Denkfiguren ist die Dissertation von Eckhard John Musikbolschewismus. Die Politisierung der Musik in Deutschland 1918–1938 und die Rekonstruktion der Ausstellung Entartete Musik sehr hilfreich.15 Das Unerwünschte, Verbotene und Verfolgte, das unter dem damaligen Stigma ‚kulturbolschewistisch und entartet‘ subsumiert wurde, dachte immer eine antisemitische Komponente mit. Die 1938 der Öffentlichkeit präsentierte Düsseldorfer Ausstellung Entartete Musik sowie eine zeitgleich stattfindende musikwissenschaftliche Fachtagung, die unter den Titel Deutsche Musik gestellt war, hatte eine richtungsweisende Funktion für die Musikliteratur. Durch die Arbeitsgruppe Musik und Rasse sollte sich die Musikwissenschaft verstärkt dieses Komplexes annehmen und sowohl die ‚arteigene, germanisch-nordische Musik‘ untersuchen als auch vermehrt eine propagandistisch-antisemitische Komponente in ihren Veröffentlichungen betonen. Grundlegende Untersuchungen zur Rolle der Musikwissenschaft im NSMusikleben finden sich in den Veröffentlichungen von Pamela M. Potter,16 14 Hierzu bemerkte allerdings Michael H. Kater kritisch (Mißbrauchte Muse, 10): „Es findet sich nicht einmal ein Widerhall von Musik, die Seiten scheinen nicht von realen Menschen bevölkert zu sein.“ 15 Albrecht Dümling/Peter Girth, Entartete Musik. 16 Die Deutsche Musikgesellschaft 1918–1938 (1991); Die Lage der jüdischen Musikwissenschaftler an den Universitäten der Weimarer Zeit, in: Musik in der Emigration (1994); Musico-
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deren Ergebnisse besonders in den letzten Teil der vorliegenden Arbeit einflossen. Allgemein bleibt jedoch festzustellen, dass die Musikforschung nach 1945 den zahlreichen Schriften zum Bereich des Unerwünschten, Verbotenen und Ausgelöschten nur wenig Beachtung schenkte. Galten sie doch als „Schandfleck der deutschen Geistesgeschichte“.17 Es kann keineswegs im Interesse der vorliegenden Untersuchung sein, diesen „Schandfleck“ nivellieren oder relativieren zu wollen. Lässt sich in der historischen Forschung zunehmend eine Objektivierung der Diskussion feststellen, die durch einen Generationswechsel innerhalb der Autorengruppe begünstigt wird, findet sich auch in der historischen Musikwissenschaft und ihrer NS-Forschung neben der Institutions- und Personengeschichte vermehrt ein Interesse an den ideengeschichtlichen Denkmustern zwischen 1933 und 1945. Frühere Untersuchungen hatten meist eine bloßstellende Tendenz im Ausmachen der Namen von Nazi-Ideologen, Musikwissenschaftlern, Publizisten und Mitläufern, die nach 1945 unbeschadet in ihren alten Positionen verblieben. Gerade das Thema Antisemitismus kann sich jedoch nicht darin erschöpfen, Antisemiten auszumachen oder in einzelnen Fällen zu prüfen, ob und wie weit überzeugt die anti-judaistische Position vertreten wurde. Eine solche Sichtweise blendet die politisch-gesellschaftliche Dimension des Antisemitismus aus und muss sich der Problematik einer Reduktion dieser Ideologie auf die Ebene der persönlichen Einstellung bewusst sein. In der vorliegenden strukturellen Untersuchung treten demnach die jeweiligen Motivationen der einzelnen Autoren sowie die Heterogenität der betrachteten Quellen zugunsten der historischen Dimension in den Hintergrund.18 Auch setzt sich eine Studie, die sich mit dem antisemitischen Musikdiskurs beschäftigt, nicht notwendigerweise mit der jüdischen Musik oder dem ‚jüdischen Anteil‘ in den Werken von Komponisten jüdischer Herkunft auseinander. Angesichts der Definitionsproblematik des Begriffs ‚jüdische Musik‘19 und der Tatsache, dass dieser – wie zu zeigen sein wird – in vielen Fällen mit einer judenfeindlichen oder antisemitischen Komponente gebraucht wird, würde eine Überprüfung oder Widerlegung der jeweiligen Behauptungen und Unterstellungen, die von befremdlich über kurios bis logy Under Hitler (1996); Most German of the Arts. Musicology and Society from the Weimar Republic to the End of Hitler’s Reich (1998, dt.: Die ‚deutscheste‘ der Künste. Musikwissenschaft und Gesellschaft von der Weimarer Republik bis zum Ende des Dritten Reichs [2000]). 17 Erwin Kroll, Verbotene Musik (1959), 314. Der Autor bezieht sich hier auf das Lexikon der Juden in der Musik. 18 Gleichzeitig wurde versucht, sofern es sich nicht um allgemein bekannte Verfasser handelt, die jeweiligen Lebensdaten zu recherchieren. Auf eine Nennung akademischer Titel wurde mit Ausnahme des Kapitels 6.3 Ideologische Einwirkungen auf das musikwissenschaftliche Schrifttum, in dem sie sich inhaltlich begründet, verzichtet. 19 Vgl. Kap. 3. Die Musikliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts.
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infam reichen, den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. In der nachfolgenden Bestandsaufnahme stereotyper, diskriminierender oder polemischer Bewertungsmuster im Musikschrifttum wurde versucht, sich in der eigenen Darstellung an einer Sachlichkeit zu orientieren und auf eine implizit oder explizit bewertende Sprache weitgehend zu verzichten. Eine derart objektivierende Vorgehensweise auf der Grundlage von Zeitzeugnissen, die judenfeindliche und antisemitische Akzente in der Musikliteratur belegen, kann leicht unter den Verdacht geraten, ausschließlich eine positivistische Materialschau zu bieten, um ein präformiertes Untersuchungsergebnis in Sinne der Fragestellung zu stützen. Die Breite des Untersuchungszeitraums und die Vielzahl der zusammengetragenen Quellen mit zum Teil gleichlautenden Grundaussagen und Formulierungen wirken jedoch einem solchen Einwand entgegen. Wenn im Folgenden verschiedenste Beispiele aus unterschiedlichen Schriften des 18., 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts herangezogen werden, so ist eine chronologische Form der Darstellung naheliegend. Dennoch kann sich die Frage nach den Voraussetzungen des Nationalsozialismus nicht als Darbietung einfacher Kausalketten verstehen und sollte die „Gefahr einer teleologischen Einbahnstraßenbildung nach dem Muster ‚Von Nietzsche zu Hitler‘, die den geschichtlichen Verlauf zur bloßen Vorgeschichte herabsetzt“,20 vor Augen behalten. Im Bewusstsein der skizzierten Problematiken und zur differenzierten Betrachtung der vorliegenden Quellentexte,21 die sich im Spannungsfeld zwischen konstanten und neuen Momenten einer anti-judaistischen Prägung der Musikliteratur bewegt, orientiert sich die vorliegende Arbeit an einem interdisziplinären Ansatz. Der inhaltlichen Gliederung liegt die Frage zugrunde, wie der Topos des Juden in der deutschsprachigen Musikliteratur entstehen konnte. In einem ersten Kapitel scheint es zunächst sinnvoll, die Begriffe ‚Judenfeindschaft‘ und ‚moderner Antisemitismus‘ gegeneinander abzugrenzen. Auf der Grundlage von Forschungsergebnissen aus der Geschichtswissenschaft und der Germanistik sollen hier die ideologischen wie auch sprachlich-diskriminierenden Merkmale des Antisemitismus herausgearbeitet werden. Die signifikante Verknüpfung des Antisemitismus mit dem Rassismus und Nationalismus ebenso wie sein Anspruch als Welterklärungsmodell zu 20 Bernd Sponheuer, Artikel Nationalsozialismus, 29. 21 Alle nachfolgenden Textquellen sind in jedem Fall wie im Original mit allen Hervorhebungen, Rechtschreibfehlern und anderen Eigentümlichkeiten wiedergegeben. Fettdruck, Sperrungen und Schmälerungen wurden in kursive Lettern umgewandelt. Auslassungen sowie vereinzelte Anmerkungen und Korrekturen, die dem besseren Verständnis dienen, sind durch eckige Klammern markiert. Da auf einen dokumentarischen Anhang verzichtet wurde, liess sich das Zitieren längerer Passagen aus den jeweiligen Quellen in Einzelfällen nicht vermeiden.
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fungieren, weisen direkt auf Denkmuster in der Musikliteratur, welche die Musik ‚als deutscheste der Künste‘ zu reklamieren versuchten. Diese, im 19. Jahrhundert entstehende Vorstellung von der Musik als ‚deutschen Kunst‘ verdichtete sich nach der Wende zum 20. Jahrhundert unter Einfluss des nationalistischen und rassistischen Chauvinismus von einer konservativen Denkfigur zu einem Selbstverständnis mit deutlich antisemitischer Ausprägung, das ein zentrales Moment in der NS-Übernahme tradierte Denkmuster darstellt und als Gegenbild des Topos des ‚Juden in der Musik‘ fungierte. Die isolierte Betrachtung eines angeblichen Merkmals der deutschen Musik, ihrer spezifischen ‚Tiefe‘, die in diametralem Gegensatz zu einer unterstellten ‚jüdischen Oberflächlichkeit‘ gesetzt wurde, vermittelt einen ersten Einblick in die Facetten außermusikalischer Bewertungsmuster im Musikschrifttum. Mit Blick auf das 18. und 19. Jahrhundert sollen im Anschluss die Anfänge der Stereotypenbildung im Kontext ‚Judentum und Musik‘ beleuchtet werden. Dabei steht neben zeitgenössischen Ausführungen zur althebräischen Tempelmusik zunächst die jüdisch-liturgischen Musik im Spiegel der Musikliteratur im Vordergrund. Eine konzentrierte Sichtung der deutschen Rezeption von Komponisten jüdischer Herkunft, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Öffentlichkeit traten, fokussiert sich aus Gründen der Darstellung auf Giacomo Meyerbeer, Jacques Offenbach und Felix Mendelssohn Bartholdy. Hier wird zu prüfen sein, ob und in welcher Weise sich spezifische Rezeptionsmuster und Stereotype im deutschsprachigen Musikschrifttum auffinden lassen, die auf anti-judaistische Einflüsse zurückzuführen sind.22 Neben einer Beleuchtung des musikhistorischen Kontextes muss demnach eine Abgleichung mit den allgemeinen zeitgenössischen Invektiven gegen die Juden in Deutschland erfolgen. Eine Betrachtung Richard Wagners Polemik gegen Das Judenthum in der Musik, ihrer beiden Fassungen von 1850 und 1869 sowie eine Einbettung in die Musikliteratur der Zeit beschließt diesen Abschnitt, dem die Leitfrage nach den Kontinuitäten und Veränderungen der Stigmatisierung des ‚Juden in der Musik‘ zugrunde liegt. Die Frage nach den Stereotypen in der deutschen Rezeption von Gustav Mahler und Arnold Schönberg vor dem Hintergrund einer völkischen Polarisierung nach der Wende zum 20. Jahrhundert leitet den dritten Teil der vorliegenden Studie ein. Eine Betrachtung der Entstehung des ‚Rasse‘Gedankens in musikbezogenen Veröffentlichungen soll ebenso versucht werden, wie die Frage zu klären sein wird, in welcher Weise dieser sich mit dem antisemitischen Bild des Juden in der Musik verzahnen konnte. Hierzu 22 Zugunsten der Darstellung wird in diesen monographischen Abschnitten eine chronologische Betrachtung zuweilen verlassen.
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Einleitung
werden die Diskussionen im nicht-jüdischen wie jüdischen Kontext zu untersuchen sein, obgleich der Exkurs zu kulturzionistischen Thesen in einer Untersuchung zum Antisemitismus in der Musikliteratur auf den ersten Blick befremden mag. Der Topos des Juden im NS-Musikschrifttum beschließt den letzten Teil der vorliegenden Studie. Im historischen Querschnitt und aus Gründen der Übersichtlichkeit werden die zahlreichen antisemitischen NS-Publikationen in drei repräsentative Bereiche unterteilt. Mit der einleitenden Frage nach den Merkmalen des antisemitischen Topos, wie er sich nach 1933 darstellt, sollen im Folgenden die antisemitischen Nachschlagewerke und namensauflistenden ‚Lexika‘ beleuchtet werden, die das nazistische Musikschrifttum entscheidend prägten. Die Betrachtung eines Teilbereichs der argumentativen NS-Verbrämung, die sich als historischer Legitimationsversuch darstellt sowie die Frage nach der Rolle der Musikwissenschaft, nach ihrem Selbstverständnis im Nationalsozialismus und nach einer Ausprägung antisemitischer Ausfälle in der Fachliteratur der Zeit beschließt die Untersuchung.
1. Judenfeindschaft und moderner Antisemitismus Kontinuitäten und Brüche Judenfeindschaft und moderner Antisemitismus Judenfeindschaft und moderner Antisemitismus Eine Beschäftigung mit Judenfeindschaft und Antisemitismus in Deutschland erfolgt fast zwangsläufig im Kontext der Shoah. Im Wissen um die Folgen des staatlich gesteuerten Antisemitismus im Nationalsozialismus wirft gerade eine historische Spurensuche über dessen Ursachen und Vorformen die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen in der deutschen Geschichte auf.1 Mit der nationalsozialistischen Propaganda gegen die in Deutschland lebenden Juden stellt sich die Frage nach den geistesgeschichtlichen Grundlagen, auf denen eine dezidiert antisemitische Politik und der daraus resultierende Völkermord von sechs Millionen Menschen in Konzentrations- und Vernichtungslagern stattfinden konnte. Dabei wird deutlich, dass sich die Agitation gegen Juden nicht nur in Deutschland in einer langen Tradition befindet. Von dem geschärften Blick auf diese Vorformen des nationalsozialistischen Antisemitismus in seiner ganzen Vielschichtigkeit zeugt die Vielzahl der Forschungsliteratur mit zum Teil sehr unterschiedlichen Erklärungsansätzen für die Entstehung des deutschen Antisemitismus. Dabei bleibt festzustellen, dass angesichts der historischen Dimension kein Erklärungsansatz die Shoah befriedigend zu beleuchten vermag. Trotz dieser Schwierigkeiten soll im Folgenden ein kurzer Aufriss der judenfeindlichen und antisemitischen Ideologie versucht werden. Vor dem Hintergrund dieser Ideologie konnte sich ein judenfeindliches und antisemitisches Musikschrifttum entfalten, das ohne die Beleuchtung des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs im 19. Jahrhundert nicht ausreichend betrachtet werden kann.2 Der folgende Abriss liefert einen ersten Einblick in die ideologischen Strömungen,3 unter denen sich das Musikschrifttum auf die ‚Juden in der Musik‘ spezifizieren konnte. 1 Vgl. dazu die vehement geführten Auseinandersetzungen angesichts der 1996 erschienen Untersuchung von Daniel Jonah Goldhagen (Hitler’s willing executioners). Goldhagen geht von der Kontinuität eines ‚eliminatorischen Antisemitismus‘ seit dem 19. Jahrhundert aus. 2 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit bleibt eine Darstellung der Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland notwendigerweise unvollständig und orientiert sich an der Sekundärliteratur der historischen Forschung. 3 Wenn auch das folgende Kapitel eine kurze Zusammenfassung der anti-judaistischen Stereotypenbildung versucht, verkürzt diese Auflistung judenfeindlicher und antisemitischer Agitation die realen Verhältnisse. Neben Stigmatisierung und Verfolgung gab es im Gesamtzeitraum immer wieder friedlichere Zeiten der Toleranz gegenüber den Juden in Deutschland.
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Seit den Anfängen jüdischer Ansiedlung vor zweitausend Jahren4 waren die Juden immer wieder mit Diskriminierung, Feindschaft und Übergriffen seitens ihrer deutschen Umwelt konfrontiert. Neben ihrer durch die jeweilige weltliche Gesetzgebung bedingten Sonderstellung und der konkreten gesellschaftlichen Verfolgung bildeten sich im Mittelalter und der frühen Neuzeit bestimmte Legenden und Bilder über die in Deutschland lebenden Juden heraus. Hierbei spielte die frühe und mittelalterliche theologische Erörterung auf der Grundlage des Alten Testaments eine wichtige Rolle. Bezieht sich die alttestamentliche Darstellung anhand von Moses in erster Linie auf den Bund Gottes mit den Juden, galten Juden darüber hinaus den Kirchenvätern als Überbringer des Alten Testaments, das sie in der hebräischen Originalsprache lesen konnten: Ohne die Mithilfe der Juden hätte das Alte Testament in seiner Ursprache überhaupt nicht gelesen werden können. Doch unterstellten die christlichen Theologen den Juden, sie würden die Heilige Schrift nur nach ihrem wörtlichen, nicht aber nach ihrem geistlichen Sinne lesen. [...] So, argumentiert Augustinus, tragen die Juden den Christen den Wortlaut der Heiligen Schrift vor, begreifen aber nicht ihren eigentlichen Gehalt. Den erschließen erst die Christen.5
Eine ähnliche theologische Umdeutung erfolgte hinsichtlich des zwischen Gott und Moses geschlossenen Bundes, der allein durch die christliche Wahrnehmung eines falschen Glaubens der Juden für nichtig erklärt wurde:6 Die feste Grundlage der Judenfeindschaft war die traditionelle Unfähigkeit der christlichen Kirchen, das Judentum als eine gleichberechtigte Religion zu verstehen, in ihm mehr zu sehen als ein ‚Altes Testament‘, Vorbereitung und überwundene Wiege der christlichen Heilsgeschichte.7
Durch den neutestamentarisch belegten Vorwurf der Schuld am Tod Jesu wurden die Juden als ‚Gottesmörder‘ angeklagt. Die Diskussion um diese Schuld und ihre damit verknüpfte göttliche Bestrafung durch die Zerstörung des Tempels von Jerusalem im Jahr 70 n.Chr. sowie die Diaspora, die Zerstreuung der Juden über die ganze Welt, ließ die Juden als Ungläubige erscheinen, die sich der Anerkennung des christlichen Heilsdogmas verweigert hatten. Mit den Kreuzzügen verschärfte sich der religiöse Gegensatz zwischen Juden und Christen in der theologischen Diskussion. Im religiö4 Eine der frühesten urkundlichen Erwähnungen liefert ein Dekret Konstantins des Großen für die Stadt Köln aus dem Jahr 321. 5 Willehad Paul Eckert, Antisemitismus im Mittelalter. Angst – Verteufelung – Habgier: ‚Das Gift, das die Juden tötete‘, in: Günther B. Ginzel (Hg.), Antisemitismus, 72f. 6 Für weitere Aspekte dieses Themenkomplexes vgl. Wolfgang Wirth, Judenfeindschaft von der frühen Kirche bis zu den Kreuzzügen, in: Ginzel, Antisemitismus, 53–70. 7 Herbert A. Strauss, Juden und Judenfeindschaft in der frühen Neuzeit, in: ders./Norbert Kampe (Hg.), Antisemitismus, 84.
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sen Sinne als Heiden betrachtet, wurden die deutschen Juden während der Kreuzzüge Opfer von blutigen Pogromen. In der Folge wurden seit dem 13. Jahrhundert Einzelbeschuldigungen des Ritualmordes an christlichen Kleinkindern und der Hostienschändung zum Anlass genommen, um die Juden als Ganzheit anzuklagen und Pogrome einzuleiten.8 Neben diesen in der religiösen Sphäre verhafteten Anschuldigungen,9 die als Ausgangspunkt für Übergriffe genommen wurden, kam in Zusammenhang mit den europäischen Pest-Wellen Mitte des 14. Jahrhunderts ein weltlicher Vorwurf gegenüber den Juden zum Ausdruck. Als Erklärung dieser Seuche wurden die Juden der Brunnenvergiftung angeklagt und in der Folge viele jüdische Gemeindemitglieder deutscher Städte wie etwa Köln und Nürnberg umgebracht.10 Diese Hauptvorwürfe des Heidentums, des Wuchers und Schachers, der Brunnenvergiftung, des Ritualmords sowie der Hostienschändung bildeten den Grundkanon judenfeindlicher Agitation, der sich durch die gesamte christlich-abendländische Geschichte verfolgen lässt. Er fand, angereichert mit negativen, den Juden zugeschriebenen Attributen seinen Ausdruck in theologischen und literarischen Schriften,11 aber auch in der darstellenden Kunst sowie in Passionsspielen, Oratorien und in anderen musikalischen Werken. Daneben existierten seit dem Mittelalter in der Volkskultur antijüdische Sagen und Märchen sowie eine Vielzahl von Judenspottliedern. In der Geschichtsforschung werden diese anti-jüdischen Stereotype und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen mit dem Begriff der ‚christlich-religiösen Judenfeindschaft‘ bzw. des ‚vormodernen Anti-Judaismus‘ beschrie8 Der Vorwurf des Ritualmords bezieht sich auf das angebliche Verschwinden von christlichen Kindern in der Karwoche. Als Wiederholung des Christusmordes verdächtigte man die Juden, mit dem Christenblut die Brote für das Passah-Fest zu backen. Der Ritualmord-Vorwurf deutet als Stereotyp zum einen auf die Umkehrung des jüdischen Ritus des Schächtens, bei dem das Fleisch ausbluten muss. Zum anderen stellt er eine Umkehrung des christlichen AbendmahlRitus, bei dem symbolisch der Leib und das Blut Christi verzehrt werden, dar. Die Anklage des Hostienfrevels scheint eine Modifizierung dieses Stereotyps zu sein. Vgl. Rainer Erb (Hg.), Die Legende vom Ritualmord. 9 Zu diesen gehört mittelbar auch das Bild des ‚jüdischen Wucherers‘, der durch hohe Zinsen die in Not geratenen Christen aussauge. Durch den Ausschluss der Juden aus dem Zunft- und Gildenwesen der mittelalterlichen Sozialordnung erhielten sie 1179 von Papst Alexander III. das Recht, gegen Zinsen Geld zu verleihen, welches den Christen durch das ‚kanonische Zinsverbot‘ – ausgesprochen 1215 auf dem IV. Lateranerkonzil durch Papst Innozenz III. – verboten war. Ebenfalls in die ökonomische Sphäre fällt die Duldung eines jüdischen Kleinhandels, die das Bild des ‚jüdischen Schacherns‘ formte. Vgl. Freddy Raphael, Sechstes Bild: ‚Der Wucherer‘, in: Julius H. Schoeps/ Joachim Schlör (Hg.), Antisemitismus, 103–118. 10 In Zusammenhang mit dem Vorwurf der ‚Brunnenvergiftung‘ zeigt sich auch das erste Mal der irrationale Vorwurf einer jüdischen Weltverschwörung, jenseits der Tatsache, dass auch jüdische Gemeinden von der Pest betroffen waren. 11 Mit Erfindung des Buchdrucks erfolgte eine weitere Verbreitung der judenfeindlichen Bilder.
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ben. Wenngleich sich die Agitation gegen Juden im Mittelalter und in der frühen Neuzeit primär vor einem theologischen Hintergrund darstellt, zeigen sich in den konkreten judenfeindlichen Ausschreitungen und ihren jeweiligen Begründungen in Abhängigkeit zum zeitlichen Kontext Veränderungen: Bei jeder Darstellung des Mittelalters muß immer wieder betont werden, daß eine christliche Volksfrömmigkeit sich erst langsam entwickelte und in den einzelnen Jahrhunderten recht unterschiedlich ausgeprägt war. Mit ihrem Vordringen und ihren Änderungen hängen auch die unterschiedlichen Formen der mittelalterlichen Judenfeindschaft zusammen.12
Darüber hinaus wurde vereinzelt nachgewiesen, dass sich in der mittelalterlichen Judenfeindschaft neben den religiösen Merkmalen judenfeindlicher Agitation auch sozioökonomische und rassistische Aspekte finden lassen.13 Dessen ungeachtet wurde, in Abgrenzung zum religiös-motivierten Judenhass, in den 50er Jahren durch die historische Fachliteratur der Begriff des ‚modernen Antisemitismus‘ eingeführt.
1.1 Der moderne Antisemitismus Der moderne Antisemitismus Die terminologische Unterscheidung zwischen einer ‚Judenfeindschaft‘ vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit und dem ‚modernen Antisemitismus‘ versucht, die gesellschaftlich veränderten Einstellungen gegenüber den deutschen Juden zu beschreiben. Dementsprechend steht der Begriff des ‚modernen Antisemitismus‘ jenseits unbestreitbarer Kontinuitäten judenfeindlicher Gesellschaftstendenzen für einen Wandel der anti-judaistischen Haltung sowie für eine neue Qualität anti-jüdischer Argumentation, wie sie sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts feststellen lässt.14 12 František Graus, Judenfeindschaft im Mittelalter, in: Strauss/Kampe, Antisemitismus, 34. 13 Vgl. etwa die Studien von František Graus (Judenpogrome im 14. Jahrhundert: Der Schwarze Tod, in: Bernd Martin/Ernst Schulin (Hg.), Die Juden als Minderheit in der Geschichte, 68–84) oder Jacob Katz (Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700–1933). Auch Léon Poliakov geht in seinem achtbändigen Standardwerk zur Geschichte des Antisemitismus in der Anlage seiner Darstellung von einer Kontinuität zwischen Judenfeindschaft und Antisemitismus aus. Vgl. dazu die Kritik von Detlev Claussen (Vom Judenhaß zum Antisemitismus, 8): „Die Rede vom ‚ewigen Antisemitismus‘ bedeutet nichts anderes als die intellektuell-politische Kapitulation vor dem Sachverhalt: Man isoliert den Antisemitismus aus seinem jeweiligen gesellschaftlich-geschichtlichen Kontext und verwandelt ihn in eine anthropologische Konstante. Schnell folgt daraus der Kurzschluß auf angebliche Nationalcharaktere, zu denen ein nationalspezifischer Antisemitismus gehört. Die Rede von ‚Deutschen und Juden‘ macht den Antisemitismus zu einer Angelegenheit von anthropologisch differenten Personengruppen, ohne auf die gesellschaftlich-geschichtliche Bestimmung der Individuen zu achten.“ 14 Allerdings hat sich die Trennung zwischen ‚christlich-religiöser Judenfeindschaft‘ bzw. ‚religiösem Anti-Judaismus‘ und ‚modernem Antisemitismus‘ in der publizistischen Praxis nicht
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Als ein charakteristisches Merkmal dieser neuen Beschaffenheit des Antisemitismus fällt die zunehmende Säkularisierung in der öffentlichen Agitation gegen die in Deutschland lebenden Juden auf. Bildete bis ins 19. Jahrhundert hinein der religiöse Unterschied zwischen Christen und Juden ein zentrales Moment judenfeindlicher Texte, so wurde diese Argumentation im ausgehenden 19. Jahrhundert um die pseudowissenschaftliche Hypothese eines biologistisch-rassistischen Gegensatzes zwischen Juden und Deutschen erweitert. Unter dem Einfluss totalitärer ‚Rassentheorien‘ erschienen die Juden nicht mehr nur als ‚Fremde‘ aufgrund der Religion, sondern auch durch ihre Abstammung, auf die sich der Begriff der ‚Rasse‘ bezog. Die sich im 19. Jahrhundert entwickelnden Theorien zur ‚Rasse‘ und ihre Übertragung auf das Judentum als Minderheit in Deutschland standen unter dem Eindruck der Anthropologie, der Sprachwissenschaft sowie einem im 18. Jahrhundert erwachten Geschichtsinteresse. Mit den Anfängen der Völkerkunde wurden bestimmte Gruppen durch ihre charakteristisch prägende Geschichte in der Summe ihrer vermeintlich dominierenden Eigenschaften zusammengefasst:15 Die Verschiedenartigkeit [der Völkergruppen] wurde sehr bald als eine Verschiedenwertigkeit verstanden, das ‚Semitentum‘ wurde zur dunklen Folie für die positiv akzentuierte Darstellung des Wesens der indo-germanischen bzw. arischen Völker.16
Hierbei wurden die Begriffe ‚indo-germanisch‘, ‚arisch‘ und ‚semitisch‘ aus der Sprachwissenschaft entlehnt und als ‚Rasse‘-Bezeichnungen eingeführt. Meinte der Begriff der ‚Rasse‘ im 18. Jahrhundert noch „Sorte“ oder „Gruppe“, erhielt er im Laufe des 19. Jahrhunderts eine biologische Bedeutung:17 Schwarze und gelbe Rassen spielten in den Phantasien einer Nation eine geringe Rolle, das bis zum Ende des 19. Jhs. keinerlei Kontakt mit diesen Völkern hatte. [...] Die Juden jedoch, die überall in Deutschland und in den Ghettos an seinen östlichen Grenzen lebten, sie waren – lange bevor Wagner sie für die völkische Degeneration verantwortlich machte – eine Zielscheibe des Rassismus.18
durchgesetzt. Vgl. Johannes Heil (‚Antijudaismus‘ und ‚Antisemitismus‘. Begriffe als Bedeutungsträger) sowie Reinhard Rürup (Antisemitismus. Begriff und Sache, in: ders., Emanzipation und Antisemitismus, 115–117). 15 Vorbereitet wurde diese Entwicklung durch Johann Gottfried Herders Interesse an der Sprache und Geschichte unterschiedlicher Völker, die seiner Ansicht nach ihren jeweiligen charakteristischen ‚Volksgeist‘ in ihren Sagen, Liedern und Mythologien ausdrücken. Vgl. George L. Mosse, Nation, Sprache und Geschichte, in: ders., Geschichte des Rassismus in Europa, 61–75, bes. 61ff. Zu Herders ‚Volksgeist‘-Lehre und ihrer Bedeutung für die Wahrnehmung einer ‚jüdischen Musik‘ vgl. Kap. 3.2.1 Die Synagogalmusik-Rezeption. 16 Reinhard Rürup/Thomas Nipperdey, Artikel Antisemitismus, 130. 17 Artikel Rasse, in: Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch (1934), 469f. 18 Mosse, Geschichte des Rassismus, 80.
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In dieser Übertragung der ‚Rassentheorien‘ auf die Juden erfolgte die Konstruktion eines Gegensatzes zwischen ‚Deutschen‘ und ‚Juden‘ durch ihre jeweilige Abstammung, der vor allem im Bürgertum und in völkischkonservativen Kreisen ideologisch auf fruchtbaren Boden fiel. Werke wie Joseph Arthur Gobineaus vierbändiger Essai sur l’inégalité des races humaines (1853–55, dt. Fassung: Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen, 1898–1901), Charles Darwins The Origins of Species by Natural Selection (1859, dt. Übersetzung: Die Entstehung der Arten, 1887) und Houston Stewart Chamberlains Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts (2 Bände, 1899ff) unterstützten die Entstehung einer pseudo-wissenschaftlichen ‚Rassenlehre‘.19 Mit der vermeintlichen, ‚rassisch‘ begründeten Gegenüberstellung von Juden und Deutschen ging ein dualistisches Erklärungsmodell einher, das die Welt vereinfachend in dichotomen Gegensatzpaaren zu deuten suchte. Als Personifikation des Bösen erschienen so die Juden als Ursache aller gesellschaftlich-politischen Missstände. Verknüpft mit anderen Strömungen wie Nationalismus, Rassismus und Anti-Modernismus verdichtete sich die Form des modernen Antisemitismus und wurde in der öffentlichen Agitation der politischen Parteien und Organisationen des ausgehenden 19. Jahrhunderts polemisch genutzt.20 Vor diesem Hintergrund der Verflechtung von sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren stellt sich die Entstehung des Antisemitismus im 19. Jahrhundert nicht als ein singuläres Phänomen dar, sondern war vielmehr in ein System unterschiedlichster ideologischer Standpunkte eingebunden. Gerade diese Komplexität erschwert eine monokausale Erklärung für die qualitative Veränderung der judenfeindlichen Agitation. Dementsprechend haben wissenschaftliche Disziplinen unterschiedliche Erklärungsansätze für die Entstehung des modernen Antisemitismus gesucht. So entwickelte die Soziologie ein Antisemitismus-Modell, das auf die Stellung von ethnischen Minderheiten und ihren sozialen wie ökonomischen Funktionen innerhalb der Gesellschaft eingeht.21 Mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen der Moderne konfrontiert, boten sich die Juden als Sündenböcke an, weil sie eine identifizierbare und durch die Jahrhunderte diskriminierte Minderheit darstellten. Eine Erweiterung er19 Zur Entwicklung der deutschen ‚Rassentheorie‘ und ihre Auswirkungen auf das Musikschrifttum vgl. Kap. 4.2.2 Die ‚Rassentheorie‘ im Musikschrifttum. 20 Zu den antisemitisch auftretenden Parteien und Verbänden sowie der Entwicklung des Antisemitismus im Kaiserreich und der Weimarer Republik vgl. die Untersuchungen von Werner Jochmann (Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft in Deutschland 1870–1945) und Heinrich August Winckler (Die deutsche Gesellschaft der Weimarer Republik und der Antisemitismus – Juden als ‚Blitzableiter‘, in: Ginzel, Antisemitismus, 181–191). 21 Vgl. etwa Fritz Bernstein, Der Antisemitismus als Gruppenerscheinung. Versuch einer Soziologie des Judenhasses (1926) oder Eva G. Reichmann, Flucht in den Haß. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe (1956).
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fährt dieser Ansatz durch die Sozialpsychologie, die den Antisemitismus im Rahmen der Vorurteilsforschung beschreibt.22 Aus Sicht einer historischen Forschung besteht ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der qualitativen Veränderung judenfeindlicher Einstellungen und der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft. Jeweils unterschiedlich in der Bedeutung für die Entwicklung des Antisemitismus akzentuieren Historiker hierbei die Rolle von Aufklärung und Emanzipation,23 den ökonomischen Umbruch von einer feudal-ständischen in eine kapitalistisch-industrielle Ordnung mit den daraus resultierenden sozialen Veränderungen,24 die spezifisch deutsche Entwicklung zum Nationalstaat sowie die Genese eines völkischen Nationalismus.25 Verknüpft war der moderne Antisemitismus mit der so genannten ‚Judenfrage‘, die sich Ende des 18. Jahrhunderts unter dem Einfluss der Aufklärung in Deutschland zunächst als Frage nach der Gleichberechtigung der Juden stellte. Die von Frankreich ausgehende Diskussion um die Bürgerrechte für Juden wurde in Deutschland an die Forderung jüdischer Assimilation gekoppelt. Die deutschen Juden sollten sich zunächst durch ihre Anpassung würdig erweisen, die deutschen Bürgerrechte zu erlangen.26 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und damit gegen Ende des Emanzipationsprozesses hingegen erschien eine veränderte ‚Judenfrage‘ in der öffentlichen Diskussion. Ausgangspunkt bildete die Frage nach der Rolle, Funktion und dem Einfluss der Juden in der deutschen Gesellschaft: Bei der durch den Antisemitismus geschaffenen ‚Judenfrage‘ der siebziger Jahre handelte es sich nicht um eine Wiederaufnahme der älteren, emanzipatorischen ‚Judenfrage‘, sondern um einen qualitativ neuen Sachverhalt. Der moderne Antisemitismus ist nicht nur chronologisch, sondern auch sachlich ein postemanzipatorisches 22 Vgl. Wolfgang Benz, Feindbild und Vorurteil. 23 Rürup, Emanzipation und Antisemitismus. 24 Claussen (Antisemitismus) erweitert seinen ökonomischen Ansatz jedoch um die soziologische Voraussetzung eines bürgerlichen Selbstverständnisses sowie um den psychologischen Bereich des ‚antisemitischen Meinens‘. 25 George E. Mosse akzentuiert die ideengeschichtliche Dimension des Antisemitismus in Verknüpfung mit anderen geistesgeschichtlichen Strömungen wie völkischen Vorstellungen, aggressivem Nationalismus und Rassismus als Teil einer „German Ideology“ (The Crisis of German Ideology. Intellectual Origins of the Third Reich). Dieser Ansatz ließe sich durch den Verweis auf Fritz Stern erweitern, der für den geistesgeschichtlichen Komplex den Begriff des ‚Kulturpessimismus‘ geprägt hat (Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie). 26 Rürup, Emanzipation und Antisemitismus, 78: „Nach einer ersten Teilemanzipation, die den Juden den Weg in die bürgerliche Gesellschaft öffnete, sollte jede weitere Rechtsgewährung vom jeweils erreichten Grad der Assimilation bzw. ‚Normalisierung‘ der Juden abhängig sein. Nur ein solches System von Vorgabe und Kontrolle schien die erwünschte ‚Verschmelzung‘ der Juden mit den Christen zu gewährleisten.“ In diesem Sinn war die ab 1812 beginnende Durchsetzung der rechtlichen Gleichstellung der Juden in Preußen an einen Assimilationszwang geknüpft. Vgl. Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, Bd. 6, 34–37.
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Phänomen. Er findet die rechtliche Gleichstellung als ein Faktum vor und wendet sich gegen das emanzipierte Judentum. Seine ‚Judenfrage‘ ist nicht mehr die Frage nach der Emanzipation der Juden, sondern – wie es in vielen Wendungen heißt – die Forderung nach der ‚Emanzipation von den Juden‘. [...] In seinem Selbstverständnis ist der moderne Antisemitismus zunächst eine Abwehrbewegung gegen jüdischen Einfluß und Herrschaftsanspruch.27
Die Entstehung dieser ‚Judenfrage‘ ab etwa 1875 liegt Reinhard Rürup zufolge zeitlich innerhalb des Emanzipationszeitraumes von der Französischen Revolution bis zur formal-rechtlichen Gleichstellung von 1871.28 Forciert durch den dynamischen ökonomischen Transformationsprozess erschien ein emanzipatorischer Wandel der Gesellschaft notwendig. Eingebunden in die allgemeinen bürgerlich-liberalen Emanzipationsbestrebungen war die Judenemanzipation nur ein Teil dieses Prozesses. Damit wurde die rechtliche Gleichstellung zu einer Bestrebung, in der es weniger um die Rolle der Juden als vielmehr um die Durchsetzung des aufklärerischen Gedankens am Beispiel des Judentums in Deutschland ging: Der Anstoß dazu ging nicht von den Juden aus, auch nicht von einem plötzlichen, unerklärbaren Philosemitismus. [...] Ursache und Triebkraft der um 1780 einsetzenden Versuche, die Verhältnisse der Juden grundlegend neu zu ordnen, war der beschleunigende Transformationsprozeß von der feudalen Ständegesellschaft zur bürgerlichen Klassengesellschaft, war die Hinwendung zu einer bewußten Politik des gesellschaftlichen Wandels. [...] Ihr Ziel war [...] die Ausbildung einer bürgerlichen Gesellschaft ohne die Schranken von Ständen, Korporationen und Kirchen, gestützt auf die Freiheit des Individuums und des Eigentums, getragen vom ökonomischen Fortschritt und der freien Konkurrenz der gesellschaftlichen Kräfte.29
Eine andere Ursache sieht Rürup in der Art des Emanzipationsprozesses, der in Deutschland vor allem zu einer staatlich-bürokratischen Aufgabe wurde.30 In der gesamten Dauer dieser schrittweise vollzogenen emanzipatorischen Entwicklung verfestigte sich ein angeblicher Unterschied zwischen den deutschen Juden und ihrer Umwelt: Damit bedeutete jede partielle Emanzipation zugleich eine Bestätigung der fundamentalen Ungleichheit, eine Verfestigung der überlieferten Vorstellung über einen 27 Rürup, Emanzipation und Antisemitismus, 90f. 28 Die formale Gleichstellung wurde 1871 mit Reichsgründung bestätigt und 1872 als Reichsgesetz anerkannt (zit. nach Helmut Berding, Moderner Antisemitismus, 34): „Alle bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hierdurch aufgehoben. Insbesondere soll die Befähigung zur Teilnahme an der Gemeinde- und Landesverteilung und zur Bekleidung öffentlicher Ämter vom religiösen Bekenntnis unabhängig sein.“ 29 Rürup, Emanzipation und Antisemitismus, 76f. 30 Rürup, Emanzipation und Antisemitismus, 78: „Damit gab es in Europa künftig zwei Konzeptionen für die Emanzipation der Juden: eine aufklärerisch-bürokratische und eine revolutionär-liberale bzw. eine deutsche und eine französische.“
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qualitativen Unterschied zwischen Juden und Christen auch im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipation. [...] Die Emanzipation der Juden stand damit, selbst nach ihrem formalen Abschluß, unter der permanenten Drohung der Revision [...].31
In Zusammenhang mit der Entstehung einer modernen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung wurde die ‚Judenfrage‘ im 19. Jahrhundert mit den daraus resultierenden Problemen verknüpft: Das Ursachengeflecht für die Entstehung des modernen Antisemitismus bildeten die industrielle Revolution, die wirtschaftliche Depression, eine nationale und kulturelle Identitätskrise und der Niedergang des Liberalismus in Mitteleuropa seit Mitte der siebziger Jahre. Der Antisemitismus richtete sich gegen das emanzipierte Judentum und damit gegen das Prinzip der Emanzipation.32
In der antisemitischen Agitation fand so eine Verdichtung durch antiliberale, anti-modernistische und anti-kapitalistische Positionen statt: Häufig erschienen die Juden dadurch als die wahren Repräsentanten der bürgerlichen Gesellschaft, und zwar gerade dort, wo man sich zu den Benachteiligten und Opfern dieser Entwicklung zählte. [...] Die wirtschaftlichen Nöte der in die Defensive geratenen Schichten wurden darüber hinaus allzu gerne auf die Emanzipation der Juden zurückgeführt statt auf die Durchsetzung des kapitalistischen Wirtschaftssystems.33
Shulamit Volkov ergänzt diesen Ansatz mit ihrer Studie Antisemitismus als kultureller Code.34 Anhand der begrifflichen Formierung des Wortes ‚Antisemitismus‘, den sich eine anti-judaistische Bewegung um den deutschen Schriftsteller Wilhelm Marr (1819–1904) um 1880 selbst gab, zeigt Volkov dessen agitatorische Wirkung. Als neue, künstlich geschaffene Vokabel hatte der Begriff ‚Antisemitismus‘ zunächst keinen Bezug zur Realität und ließ sich inhaltlich beliebig füllen. Die Ausformierung des Ausdrucks ging hierbei laut Volkov in drei Etappen vor sich. Ausgehend von der Wortneuschöpfung durch Marr, die in ihrer pseudo-wissenschaftlichen Terminologie Objektivität durch die Endung ‚-ismus‘ suggerierte, stand der Begriff für eine Abstraktion und damit für ein neues Phänomen. Er richtete sich nicht mehr gegen die konkreten Juden, sondern gegen die abstrakten Bilder und Vorstellungen eines einheitlich imaginierten Judentums. Dabei implizierte der Begriff des ‚Antisemitismus‘ eine Gegenströmung zu einer nichtexistierenden Bewegung des ‚Semitismus‘.35 Der nächste Schritt bestand laut Volkov darin, geeignete Schlagwörter zu finden, um die neue Begriff31 Rürup, Emanzipation und Antisemitismus, 82. 32 Rürup, Emanzipation und Antisemitismus, 123. 33 Rürup, Emanzipation und Antisemitismus, 83. 34 In: dies., Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, 13–36. 35 Volkov, Kultureller Code, 27: „Bezeichnenderweise bezog sich der neue Begriff nicht direkt auf die Juden oder das Judentum. Er bekundete vielmehr die Ablehnung des ‚Semitismus‘ – einer Abstraktion, die alle vermeintlichen Eigenschaften der semitischen Rasse beinhaltete.“
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lichkeit zu füllen. Hierbei sieht sie die tragende Rolle in Phrasen wie „Die soziale Frage ist die Judenfrage“ (Otto Glagau)36 und „Die Juden sind unser Unglück“ (Heinrich von Treitschke)37, die den Begriff des ‚Antisemitismus‘ allmählich im Kaiserreich zu einem geschlossenen Ganzen, zu einer „Kultur“, einem „Grundmuster an Werten und Normen“38 mit einem eigenen Vokabular transformierten: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war er [der Antisemitismus] zum ‚kulturellen Code‘ geworden. Das Bekenntnis zum Antisemitismus wurde zu einem Signum kultureller Identität, der Zugehörigkeit zu einem spezifischen kulturellen Lager. Man drückte dadurch die Übernahme eines bestimmten Systems von Ideen und die Präferenz für spezifische soziale, politische und moralische Normen aus.39
Als Teil einer sich im Kaiserreich herausbildenden Polarisierung stand der Antisemitismus in diesem gegensätzlichen System von Ideen und Normen, das sich in der Weimarer Republik zunehmend verschärfte: Emanzipation und Antisemitismus waren die Inbegriffe zweier Kulturen, die im deutschen Kaiserreich nebeneinander existierten. Die Wilhelminische Gesellschaft bewahrte eine gewisse Hoffnung auf einen Kompromiß, doch in der Weimarer Zeit wurde die Kluft zwischen beiden Kulturen immer breiter.40
Trotz der aufgezeigten qualitativen Veränderungen von der Judenfeindschaft zum modernen Antisemitismus bleiben die Stereotype und Bilder einer nicht-jüdischen Umwelt gegenüber der jüdischen Minderheit erstaunlich konstant. Gerade für den Zeitraum zwischen den 1870er Jahren des 19. Jahrhunderts und der Wende zum 20. Jahrhundert liegt eine Fülle antisemi36 Otto Glagau (1834–1892), ehemals liberaler Journalist, wandte sich mit seinem Antisemitismus in Bezug auf die Gründerkrise von 1873 vor allem gegen ein jüdisch-internationales Handels- und Bankenwesen, das als Ursache für die wirtschaftliche Krise angenommen und durch Glagau mit dem Schlagwort ‚Manchestertum‘ verknüpft wurde. Obiges Zitat stammt aus Glagaus Schrift Deutsches Handwerk und historisches Bürgertum, Osnabrück 51879 (zit. nach Volkov, Kultureller Code, 29). 37 Der Berliner Geschichtsprofessor und Publizist Heinrich von Treitschke (1834–1896) verknüpfte seinen Antisemitismus mit einem kulturell und geschichtlich geprägten Nationalismus (Volkov, Kultureller Code, 31): „Es gelang Treitschke, die geistigen, politischen und moralischen Grenzen einer neuen Ideologie abzustecken und die Umrisse einer Kultur zu skizzieren, in der diese Ideologie gedeihen konnte. [...] Mit Hilfe einer Geschichtsphilosophie und eines einheitlichen ethischen Systems lieferte er eine brauchbare Interpretation der deutschen Geschichte sowie den Umriß eines Programms für die Gegenwart und eine begeisternde Vision für die Zukunft“. Vgl. auch Christhard Hoffmann, Geschichte und Ideologie: Der Berliner Antisemitismusstreit 1879/81, in: Wolfgang Benz/ Werner Bergmann (Hg.), Vorurteil und Völkermord, 219–251. 38 Volkov, Kultureller Code, 20. Volkovs Definition des Begriffs ‚Kultur‘ (19f) umschließt ein „Gesamtgeflecht aller Arten des Denkens, Fühlens und Handelns“, das in Anlehnung an die soziologische Theorie „verstanden [wird] als ‚große symbolische Einheit‘, die von einzelnen gelernt und geteilt wird und dazu dient, sie in einer ‚besonderen und eigentümlichen Kollektivität‘ zu vereinigen.“ 39 Volkov, Kultureller Code, 23. 40 Volkov, Kultureller Code, 35.
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tischer Publikationen vor,41 die von der Forschung vor allem hinsichtlich des dort vermittelten stereotypen Judenbildes und der verbalen Agitation gegen Juden untersucht wurden. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sollen im Folgenden kurz beleuchtet werden, um eine erste Annäherung an die sprachlich-rhetorischen Mittel und an das Vokabular anti-judaistischer Polemiken zu ermöglichen. Zwar lässt sich eine Säkularisierung und Erweiterung der antisemitisch verdichteten Positionen feststellen, gleichzeitig finden sich jedoch eine Vielzahl antisemitischer Motive in Vorläufern der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Agitation gegen die Juden.
1.2 Sprachliche Aspekte diskriminierender Literatur Sprachliche Aspekte diskriminierender Literatur Das Quellenmaterial für die vorliegende diachrone Untersuchung zum Topos des Juden im Musikschrifttum besteht ausschließlich aus deutschsprachigen Texten verschiedenster Jahrhunderte, deren zeitlicher Rahmen sich vom letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erstreckt. Bei allen Quellen handelt es sich um schriftliche Texte, die zumeist in einem musikpublizistischen oder musikwissenschaftlichen Kontext entstanden sind. Zum Teil beziehen sich die Schriften direkt auf das Bild einer jüdischen Musik, zum Teil auf Komponisten und Musikausübende jüdischer Herkunft, zum Teil wird das Thema Musik jedoch nur zum Anlass genommen, um judenfeindliche und antisemitische Stereotype darzustellen.42 Angesichts der zeitlichen Spanne des Erscheinungsrahmens der betrachteten Texte scheint es zunächst sinnvoll, die diskriminierende Verbalisierung des ‚Juden in der Musik‘ näher zu beleuchten. Hierbei ergibt sich zunächst die Frage, inwieweit die Quellen ob ihres großen zeitlichen Bezugsrahmens überhaupt eine sprachliche Einheit bilden. Eine solche Einheit gerade hinsichtlich der ideologischen Prägung von Sprache wird von der frühen philologischen Forschung der 50er und 60er Jahre in erster Linie für die Zeit des Nationalsozialismus angenommen. Untersuchungen von Viktor Klemperer43 sowie von Eugen Seidel und Ingeborg 41 Klemens Felden, Die Übernahme des antijüdischen Stereotyps, 38: „In den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erscheinen annähernd 1.200 Schriften, die Wesen und Stellung des Judentums untersuchten.“ 42 Der thematische Rahmen der vorliegenden Arbeit lässt die Texttypenproblematik wie sie die Forschung zur sprachlichen Diskriminierung der Juden zeigt, sekundär erscheinen. Vgl. dazu den Aufsatz Verfahrensweisen sprachlicher Diskriminierung in antijüdischen Texten der Frühen Neuzeit. Aufgezeigt am Beispiel der Metaphorik von Nicoline Hortzitz, die in frühneuzeitlichen Schriften in erster Linie Argumentation, Narration und seltener auch Instruktion als typische Texttypen für die antijüdische Agitation ausmacht. 43 LTI. Notizbuch eines Philologen.
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Seidel-Slotty44 konstatieren daher vornehmlich die Veränderungen, der die Sprache und der alltägliche Sprachgebrauch zwischen 1933 und 1945 unterworfen war.45 Ausgehend von der These, dass die öffentliche Sprache im Nationalsozialismus von politisch-agitatorischen Merkmalen geprägt war, werden im Rahmen der nationalsozialistischen ‚Gleichschaltung‘ in erster Linie Transformationen in der Wortwahl, dem Stil und der Syntax angenommen und diese hinsichtlich ihrer Funktion analysiert. Solche Untersuchungen zur Einheit der Sprache für den Zeitraum von 1933 und 1945 scheinen nicht unproblematisch, da sie zum einen von der Grundannahme einer Homogenität der Sprache in den zwölf Jahren der NS-Herrschaft ausgehen, zum anderen jedoch kontinuierliche Momente des Sprachgebrauchs außer Acht lassen.46 Darüber hinaus wurde verschiedentlich festgestellt, dass die Merkmale des NS-Sprachgebrauchs sich weniger innerhalb des gleichgeschalteten Schrifttums dieses Zeitraums zeigen, sondern in erster Linie Charakteristika der emotionalen Rede seien, die in die Schriftsprache übernommen wurden.47 Im Spannungsfeld von Kontinuität und Diskontinuität bewegen sich demnach auch die Untersuchungen zum judenfeindlichen und antisemitisch geprägten Sprachgebrauch, die seit Ende der 70er Jahre erschienen sind: Die Sprache aller Judenfeinde knüpfte zur Artikulation ihrer Vorstellungen an ältere Formulierungen an [...]. Die bisherige Forschung zur Semantik des Antisemitismus und Rassismus hat ihre Schwerpunkte im Kaiserreich und im Nationalsozialismus. [...] Diese Semantik ist jedoch nicht erst ein Produkt des modernen Antisemitismus im ausgehenden 19. Jahrhundert, sie findet sich vielmehr bereits in großer Dichte in der Quellenliteratur der Emanzipationszeit, die ihrerseits auf Bilder und Motive der Frühen Neuzeit zurückgriff.48
Bei der Frage nach der Funktion anti-judaistischen Sprachgebrauchs und den damit einhergehenden Strategien herrscht in der Sekundärliteratur 44 Sprachwandel im Dritten Reich. Eine kritische Untersuchung faschistischer Einflüsse. 45 Dabei spielte zunächst in diesen, nach Ende des Zweiten Weltkriegs erschienenen Untersuchungen der Topos des Juden in Literatur, Publizistik und agitatorisch-politischem wie gesellschaftlichem Sprechen eine untergeordnete Rolle. 46 Wolfgang Werner Sauer, Zum Problem der Sprachkritik während der Zeit des Faschismus, 338: „Sie [Autoren wie Eugen Seidel, Ingeborg Seidel-Slotty oder Viktor Klemperer] reflektieren nicht die Funktion und Wirkung von Sprachkritik, sondern setzen diese als geeignetes Mittel zu Faschismuskritik voraus. Diese Überschätzung resultiert aus einer Fehleinschätzung von Sprache als einem Gebilde, das sich autonom entwickelt und eine unfaßbare Macht darstellt, deren Einfluß sich niemand zu entziehen vermag. [...] Einsichten in die Zusammenhänge ökonomischer Entwicklungen, darauf basierender Gesellschaftsformen und ihrer Ideologien und deren spezifische Sprachformen bleiben ihnen jedoch versagt.“ Hierzu lässt sich allerdings kritisch auf das Kapitel Die deutsche Wurzel in Viktor Klemperers Studie LTI (167–182) verweisen. 47 Vgl. Siegfried Bork, Tendenzen nationalsozialistischer Sprachregelung, 12 und Sauer, Sprachkritik, 331. 48 Rainer Erb/Werner Bergmann, Die Sprache der Demaskierung, 195f.
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Einigkeit darüber, dass es sich in erster Linie um affirmative Appelle an Verstand und Gefühl handelt. Gemäß der beeinflussenden Absicht judenfeindlicher und antisemitischer Texte steht ein Konsens zwischen Autor und Leserschaft im Vordergrund, der mit Hilfe von affektorientierten Stilmitteln und vermeintlichen Sachinformationen zu erzeugen versucht wird. Damit wird für den anti-judaistischen Impetus ein direkter Zusammenhang zwischen dem zu vermittelnden Inhalt eines diskriminierenden Judenbildes und den hierfür genutzten agitatorisch-sprachlichen Mitteln angenommen. Auf der Mikro-Ebene werden die linguistisch-stilistischen Merkmale der Agitation gegen die Juden beleuchtet, während die inhaltlichen Aussagen und Argumentationsweisen als Elemente der Makro-Ebene im zweiten Schritt zu diesen in Beziehung zu setzten sind. Hier jedoch wird das Spannungsfeld zwischen Kontinuität und Transformation anti-judaistischer Texte sehr deutlich. Mit Blick auf die rhetorischen Mittel der Mikro-Ebene sowie der affirmativen Intention der Quellen lassen sich Kontinuitäten zwischen judenfeindlicher und antisemitischer Agitation festmachen, während es hinsichtlich der Argumentation auf der Makro-Ebene eines Textes zu zeitspezifischen Erweiterungen und Veränderungen im oben dargelegten Sinne der antisemitischen Ideologie kommt.49 Wenn im Folgenden zunächst eine Auflistung der rhetorischen Mittel der jeweiligen Quellentexte erfolgt, so soll damit eine erste analytische Annäherung an die ideologische Wirkung der betrachteten Musikliteratur ermöglicht werden.50 Gleichzeitig liegt damit der Intention der vorliegenden Ar49 Nicoline Hortzitz unterscheidet in ihrer 1988 erschienenen Untersuchung ‚Früh-Antisemitismus‘ in Deutschland (1789–1871/72). Strukturelle Untersuchungen zu Wortschatz, Text und Argumentation vier verschiedene Argumentationsschritte (religiös, wirtschaftlich, völkischnational, biologisch-anthropologisch), die mit Blick auf ihre jeweilige Intention in fünf Argumentationsklassen ausdifferenziert werden können: moralische Argumentation, rationale Argumentation, strategische Argumentation, Plausibilitätsargumentation und Illustrationsargumentation. 50 Gleichzeitig lassen sich die Merkmale der Mikro-Struktur keineswegs von der inhaltlichargumentativen Makro-Ebene trennen. Damit wird jedoch ein zentraler Problempunkt innerhalb des Bereichs der Sprachkritik angesprochen. Die Frage nach dem Verhältnis von sprachlichem Stil und Inhalt des Gesagten und den damit einhergehenden Fragen nach dem Bewusstsein und Denken des Sprechenden mittels der verwendeten Sprache sowie nach der Bedeutung von Sprache im Rahmen der Ideologie-Bildung überhaupt wird in den verschiedenen sprachkritischen Untersuchungen zum Teil kontrovers beantwortet (Christoph Cobet, Wortschatz des Antisemitismus, 244): „Kann man von einer Wirkung auf die Sprache sprechen oder muß man von einer Wirkung der Sprache sprechen? Es gibt keine klar definierte ‚Norm‘ der sprachlichen Bedeutung. Es ist also nicht möglich, den antisemitischen Wortschatz einfach mit einer solchen ‚Norm‘ zu vergleichen, um aus den Abweichungen unmittelbar das ‚Antisemitische‘ ablesen zu können.“ In diesem Sinn folgert Cobet weiter (249): „Die ideologische Sprache kann nur soweit ihre Zuhörer überzeugen, wie dort eine latente Bereitschaft zur jeweiligen ideologischen Richtung vorhanden ist.“ In der vorliegenden Arbeit kann jedoch angesichts der einstimmig abwertenden Tendenz des betrachteten Musikschrifttums wie auch der dafür genutzten stilistischen Mittel von der Grundannahme ausgegangen werden, „daß die stilistische Form sozusagen die ‚Fortsetzung des Inhalts mit anderen Mitteln‘ ist, umgekehrt auch die formale Struktur das ‚ideologische‘ Denken, die Weltsicht von
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beit gemäß der Akzent auf einer historischen Kontinuität anti-judaistischer Agitation. Unabhängig vom jeweiligen musikgeschichtlichen Kontext zeigt eine Darstellung der stilistisch-rhetorischen Merkmale, auf welche Weise die affirmative Wirkung innerhalb einzelner Quellen erreicht werden sollte. Wie darzustellen sein wird, konnte sich hierbei die stigmatisierende Rhetorik auf musikliterarische Vorläufer stützen. Ausgehend von der spezifischen Kommunikationssituation einer indirekten sprachlichen Vermittlung mittels aufgezeichneter Texte scheint gerade dieser Kontinuität schriftlich fixierter Stereotype ein besonderes Gewicht zuzukommen. Die kontinuierliche Abwertung der ‚Juden in der Musik‘ weist auf eine nicht nur fachspezifische Tradierung, sondern zeigt die Kenntnis der jeweils vorausgehenden allgemeinen Diskriminierungs- und Musikliteratur sowie ihrer prägenden Rhetorik. Der große zeitliche Rahmen, den das betrachtete Musikschrifttum bildet, kann demnach fachspezifisch als sprachliche Einheit gesehen werden, in der sich durch die Jahrhunderte ein bestimmter Kanon sprachlicher Diskriminierungsmuster entwickeln konnte, der auf die musikalische Fachliteratur übertragen wurde. Als zentrale, funktionalistisch genutzte rhetorische Mittel gelten in diesem Zusammenhang Metaphern und Vergleiche ebenso wie ironische Formulierungen, Hyperbeln, Antonyme oder Synekdochen. Auch texttypische Attributierungen und affektive Wortzusammensetzungen finden sich häufig in anti-judaistischen Texten. All diese sprachlichen Diskriminierungsmuster sollen im Folgenden in einzelnen Absätzen näher exemplifiziert werden. Metapher und Vergleich gehören als wichtigste stilistisch-rhetorische Figuren zu den beiden verbreitetsten sprachlichen Diskriminierungsmustern und weisen auf die Bedeutung des bildlichen Stereotyps, wie es sich etwa in abwertenden Karikaturen findet. Während die Karikatur als direkte bildliche Darstellung mit Verfremdung und Übertreibung Humor zu erzeugen versucht, kann die Sprache über das Mittel der Metapher indirekte bildliche Assoziationen hervorrufen.51 Dabei ermöglichen Metaphern und Vergleiche im Rahmen ihrer psychologischen Wirkung eine spezielle Rezeptionsgrundlage: Die Metapher appelliert an die Gemeinsamkeit einer Welt also aus einer grundsätzlich einseitig-subjektiven Perspektive. Ihre Überzeugungskraft beruht ganz entscheidend auf der Vermittlung durch ihren Autor: Die fehlende Kontrolle über die Realität Judenfeinden erschließt“ (Hortzitz, Die Sprache der Judenfeindschaft, in: Schoeps/Schlör, Antisemitismus, 20). 51 Geschichtlich wäre hinzuzufügen, dass die Anfänge der deutschsprachigen anti-judaistischen Publizistik stark von den in den 1520er und 1530er Jahren erschienenen anti-jüdischen Flugschriften und Flugblättern geprägt wurden, die einen großen Anteil bildlicher Darstellungen enthielten. Vgl. Hans Wellmann, Linguistische Diskriminierung. Über die Agitation gegen Juden in Flugblättern der Frühen Neuzeit.
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der Metapher wird durch Vertrauen in die Kompetenz ihres Autors oder – anders ausgedrückt – durch Anerkennung einer vorgängigen, autoritären Hierarchie zwischen Autor und Adressat kompensiert.52
Dementsprechend zählen Metaphern und Vergleiche als sprachliche Bilder zu den häufig verwendeten Stilmitteln in anti-judaistischen Texten. Der Vergleich benötigt im Unterschied zur Metapher eine Einleitung, etwa durch das Partikel ‚wie‘: In der Praxis der Metaphernanalyse erweist es sich jedoch häufig, daß sowohl Ähnlichkeits- als auch Identitätsbeziehungen angenommen werden können. Insofern ist es unter pragmatischen Gesichtspunkten sinnvoller, Metapher und Vergleich als zwei Formen ‚metaphorischen‘/bildlichen Sprechens zu werten und ihre Gemeinsamkeiten hervorzuheben.53
Ursprünglich als Mittel der Konkretisierung und Veranschaulichung in der antiken Rhetorik verwendet, erhalten die bildlichen Übertragungen in diskriminierenden Texten eine andere Akzentuierung. Signifikant ist hierbei der Zusammenhang zwischen Bildspender und Bildempfänger: Im Prozeß der ‚Verbildlichung‘ werden also ein oder mehrere gemeinsame Bedeutungsmerkmale zweier Wörter (bzw. übereinstimmende Gefühlselemente bzw. sich entsprechende freie Assoziationen) hervorgehoben, unterscheidende Merkmale hingegen vernachlässigt. Über das jeweilige gemeinsame Merkmal, das sogenannte ‚tertium comparationis‘ (= das ‚Dritte des Vergleichs‘), findet eine Zusammenschau zweier grundsätzlich voneinander unterschiedener Objekte oder Sachverhalte statt.54
Bei der verbildlichten Darstellung von Juden stehen in Texten vom 15. bis 20. Jahrhundert Tier-, Pflanzen- sowie Krankheitsmetaphern und -vergleiche im Vordergrund, die je nach kultureller Konvention und hervorzuhebender Attributierung den Juden zugeordnet werden.55 Im Unterschied zu diesen kontinuierlichen Merkmalen judenfeindlicher und antisemitischer Metaphern- und Vergleichsverwendung lassen sich jedoch in diesem Bereich Veränderungen feststellen, die ihren Ausgangspunkt in der metaphorischen Prädisposition des Mittelalters und der frühen Neuzeit nehmen. Die seit dem 19. Jahrhundert gebräuchlichen Entlehnungen von konkreten oder abstrakten Bildern aus der Zoologie, Botanik, Medizin und Hygiene leiten einen Prozess der Entmenschlichung ein, der im antisemitischen Sprach52 Irene Meichsner, Logik von Gemeinplätzen, 245. 53 Meichsner, Logik von Gemeinplätzen, 200, Fußnote 35. 54 Hortzitz, Sprache der Judenfeindschaft, 21. 55 Hortzitz, Sprache der Judenfeindschaft, 21: „Das Judenfeinde gern sprachliche Bilder gebrauchen, wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Metaphern und Vergleiche nicht nur abstrakte Inhalte sozusagen ‚wertneutral‘ veranschaulichen. Vielmehr können sie auch ‚Gemeintes‘ präzisieren, argumentieren und sogar werten. Darüber hinaus vermögen sie Assoziationsketten auszulösen und so das Handeln oder Verhalten beeinflussen.“ Vgl. auch Dietz Bering, Sprache und Antisemitismus im 19. Jahrhundert, 345ff.
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gebrauch einen konkreten Handlungsbedarf gegen ‚Schädlinge‘ und ‚Krankheiten‘ suggeriert: Die zentralen biologischen und medizinischen Metaphern [...] entfalten dann seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert im Zusammenhang der Herausbildung einer organologischen Volks- und Staats- (auch Rechts- und sogar Kunst-)auffassung allmählich ihre volle Suggestivkraft. [...] Im antijüdischen Text- und Argumentationszusammenhang bedeutet dieses, daß die Juden traditionell als ‚Feinde‘ der Christenheit/des Abendlands und als ‚nicht zugehörig‘ empfunden, zu (tierischen, pflanzlichen, bakteriellen, viralen) ‚Schädlingen‘ und ‚Fremdkörpern‘ stilisiert wurden, die zu ‚eliminieren‘ wären, wollte man nicht Gesundheit und Leben des ‚Volksorganismus‘ gefährden.56
Diese Transformation in der Verwendung antisemitischer Metaphern scheint weniger durch die „qualitative Ausdifferenzierung der traditionellen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ungeziefer-, Unkraut- und Krankheitsmetaphern“ oder durch deren „quantitative Zunahme“57 zu erfolgen, sondern durch einen Prozess der Gewöhnung und Überflutung: Die Gefährlichkeit dieser durch Metaphern eröffneten Assoziationsfelder besteht darin, daß sich [...] die Vorstellung von metaphorischem Assoziationsfeld zu Assoziationsfeld schwingen kann, ohne je zum nicht-metaphorischen Ausgangspunkt zurückzukehren. Es könnte der Unterschied des vorrassistischen und rassistischen 19. Jahrhunderts nun nicht einfach in der Menge der Metaphern liegen, sondern darin, daß man später immer seltener zum Ausgangspunkt zurückging, die Metaphernwelt also dichter, tiefer ist.58
Demnach wurde damit die Ebene der bildlichen Übertragung verlassen und Unterschiede zwischen Bildempfänger und Bildspender gänzlich in den Hintergrund gedrängt. In einem Identifizierungsprozess erfolgte die Gleichsetzung der benutzten Metaphern mit den Juden.59 Mithilfe der Sprache suggerierten die übertragen gebrauchten Begriffe eine reale Handlungsanweisung, welche auf die ‚Vernichtung‘, ‚Ausmerzung‘ und ‚Tilgung‘ hinauslaufen konnte und die sich schon für den Emanzipationszeitraum zwischen 1780–1860 nachweisen lässt: In den schriftlichen Beiträgen Gebildeter dienten die Metaphern der Gewalt dazu, die Änderung oder die Auflösung des Judentums nachdrücklich zu fordern.60 56 Hortzitz, Sprache der Judenfeindschaft, 24f. 57 Hortzitz, Sprache der Judenfeindschaft, 25. 58 Bering, Sprache und Antisemitismus im 19. Jahrhundert, 348. 59 Vgl. Hortzitz, Sprache der Judenfeindschaft, 26: „Metaphern und bildliche Vergleiche scheinen nämlich den Charakter des ‚uneigentlichen‘ Sprechens verlieren zu können. D.h., im Zuge usuellen Sprachgebrauchs beginnen sie irgendwann für sich selbst zu stehen, während die Wirklichkeit des Bildempfängers verlorengeht.“ Ähnlich formulieren es Rainer Erb und Werner Bergmann (Sprache der Demaskierung, 196): „Neben der Entwicklung des Vokabulars und seiner Verwissenschaftlichung ist ein Prozeß zu beobachten, in dem der vergleichende Gebrauch von biologischen Bildern in einen identifizierenden überging.“ 60 Erb/Bergmann, Sprache der Demaskierung, 194.
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Im Musikschrifttum erhalten vor allem Metaphern und Vergleiche aus dem Tier-Bereich eine besondere Bedeutung. Diese direkten bildlichen Vergleiche mit tierischen Lautäußerungen gehen auf die Agitation gegen die Synagoge zurück: Die Verben blöken, grunzen und heulen [...], die in syntagmatischen Beziehungen zu ‚Schaf‘, ‚Schwein‘, ‚Wolf/Hund‘ stehen, werden in den Texten zur Kennzeichnung der synagogalen Gebete und Gesänge der Juden verwendet. Sie sollen den Eindruck einer Ähnlichkeit zwischen Lautäußerungen von Tieren und sprachlichen Ausdrucksformen jüdischer Menschen erwecken. Die diskriminierende Potenz dieser Verbalmetaphern besteht darin, daß suggeriert wird, selbst die im Höchstmaß kulturell überformte Sprache der Juden wäre nicht höher einzuschätzen als eben das Geblöke von Schafen oder das Geheul von Hunden.61
Neben dem Bezug auf die hebräische Sprache wird in der Musikliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts häufig der Vergleich zwischen der Synagogalmusik und tierhaften Lauten gesucht, durch den dem jüdischen Ritus eine Nähe zur Musik überhaupt abgesprochen werden sollte. Parallel zu diesen, aus dem Bereich der Haustiere entlehnten Vergleichen und Metaphern, gibt es laut der Sprachforscherin Nicoline Hortzitz noch zwei andere Gruppen, in die sich Tiermetaphern einordnen lassen: in die der wilden und gefährlichen (Raub-) Tiere sowie in den Bereich des Ungeziefers bzw. der Parasiten. Erfolgt in einigen agitatorischen Texten der vorliegenden Musikliteratur eine Übernahme der gängigen Tiermetaphern aus den letzten beiden Bereichen, dienen diese der allgemeinen Entmenschlichung von Komponisten, Interpreten und Rezipienten jüdischer Herkunft. Mit dem Bild vom Staatswesen als einem lebendigen Organismus, der durch bestimmte Minderheiten von innen heraus in seinem Allgemeinwohl geschädigt wird, erlangten die Metaphern und Vergleiche aus dem Komplex der Parasiten und des Ungeziefers eine besondere Bedeutung.62 Während Bauern und Handwerker zunehmend seit Ende des 18. Jahrhunderts als produktive Kräfte gesehen wurden, galt der Handel, der traditionell einen großen Anteil an Juden aufwies als unproduktiv für das Gemeinwesen: 61 Hortzitz, Sprachliche Diskriminierung, 206. Hortzitz bezieht sich hier auf Johann Müller, JUDAISMUS oder Jüdenthumb/ Das ist Außführlicher Bericht von des Jüdischen Volcks Vnglauben/ Blindheit vnd Verstockung/ Darinne Sie wider die Prophetischen Weissagungen/ von der Zukunfft/ Person vnd Ampt Messiae/ insonderheit wider des HErrn JEsu von Nazareth wahre GOttheit/ Gebuhrt von einer Jungfrawen/ Geschlecht vnd Geschlecht=Register/ Lehre/ Wunder= Wercken/ Weissagung/ Leben/ Wider die H. Dreyfaltigkeit/ Absonderlich wider das Newe Testament mit grossem Ernst vnd Eifer streiten/ Zu Befestigung vnsers Christlichen Glaubens/ Hintertreibung der Jüdischen Lästerung/ auch nothwendigen Vnterricht derer Christen/ die täglich mit Juden vmbgehen/ Aus der Rabbinen Eigenen Schrifften/ auch Mündlichem Gespräche der Jüden entdecket/ vnd mit Gründen der H. Göttlichen Schrifft widerleget [...], Hamburg 1644. 62 Erb/Bergmann, Sprache der Demaskierung, 205f: „Gerade ein organizistisches Gesellschafts- und Staatskonzept legt es nahe, Krisen als extern verursacht anzusehen. Die nicht zugehörig empfundene, fremde Gruppe wird schnell zum ‚Krankheitserreger‘ erklärt.“
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Sterilität und Schmarotzertum waren in dieser Zeit häufig miteinander verknüpfte Vorstellungskomplexe.63
Im Musikschrifttum findet eine Übertragung des organizistischen Staatsbildes vom ‚Volkskörper‘ auf den Bereich der Kultur seit Mitte des 19. Jahrhunderts statt. Als bekanntestes Beispiel sei Richard Wagners Schrift Das Judenthum in der Musik64 genannt, die, aufbauend auf dem Bild der jüdischen Unfruchtbarkeit in künstlerischen Dingen, von einer Schädigung der Kunst durch Komponisten jüdischer Herkunft ausging:65 Bei ihm war es die Leiche der Kunst, derer sich die Juden nicht eher bemächtigten, bevor nicht alles schöpferische Leben aus der Kunst gewichen war.66
Schon in Wagners Text findet sich das, aus der Naturwissenschaft entlehnte Motiv einer ‚Zersetzung‘ durch ‚jüdischen Einfluss‘: Der aus der Chemie stammende Begriff erhielt eine biologische Tönung, indem er mit dem Organischen verknüpft und mit Fäulnis und Auflösung assoziiert wurde. Eine zweite Hauptlinie schrieb dem Verstand zersetzende Eigenschaften zu und transportierte damit noch die aufklärerische Position der Auflösung von Dogmen durch Kritik.67
Die negative Sicht eines ‚Intellektualismus‘ ging in völkisch-konservativen Kreisen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik eine Verbindung mit der Erscheinung moderner Großstädte ein, in denen als Handelzentren prozentual viele Juden ansässig waren: Die wachsenden Städte mit ihrem wimmelnden Leben wurden als Verfallsprodukte gefürchtet, in denen die Juden, gemäß der alten Vorstellung, daß sie sich in Auflösungsprozessen der Gesellschaft besonders gut entwickelten, einen idealen Lebensraum fänden. [...] An diesem Schnittpunkt von vormodernem Vorurteil mit einem Symbol gesellschaftlicher Dynamik entstand ein wirkungsmächtiges Ideologem, das die Geschichte des modernen Antisemitismus wesentlich beeinflußte.68
In engem Kontakt mit diesem metaphorischen Schlagwortkomplex der Großstadt als gesellschaftlicher Auflösungserscheinung des modernen Ka63 Erb/Bergmann, Sprache der Demaskierung, 197. 64 In: Neue Zeitschrift für Musik (Sept. 1850). 65 Wagner, Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 111: „So lange die musikalische Sonderkunst ein wirkliches organisches Lebensbedürfniß in sich hatte, [...] fand sich nirgends ein jüdischer Componist: unmöglich konnte ein, diesem Lebensorganismus gänzlich fremdes Element an den Bildungen dieses Lebens Theil nehmen. Erst wenn der innere Tod eines Körpers offenbar ist, gewinnen die außerhalb liegenden Elemente die Kraft, sich seiner zu bemächtigen, aber nur um ihn zu zersetzen. Dann löst sich wohl das Fleisch dieses Körpers in wimmelnde Viellebigkeit von Würmern auf: [...] und nur im wirklichen Leben können auch wir den Geist der Kunst wiederfinden, nicht bei ihrer würmerzerfressenen Leiche.“ 66 Erb/Bergmann, Sprache der Demaskierung, 203. 67 Erb/Bergmann, Sprache der Demaskierung, 203f. 68 Erb/Bergmann, Sprache der Demaskierung, 204. Vgl. auch Bering, Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes.
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pitalismus wurde auch dem ‚Intellektualismus‘ als negative, angeblich alle Ordnung auflösende Erscheinung eine jüdische Provenienz zugeschrieben. Musikhistorisch galten vor allem die modernen dodekaphonen Tendenzen der Musik von Arnold Schönberg völkisch-konservativen Kreisen der Weimarer Republik als „Gehirn-Tonsysteme“69 oder „leere Gehirnakrobatik“,70 die den Gehalt und die Bedeutung der ‚deutschen‘ Musik zerstören würde. Ein weiteres diskriminierendes Sprachmerkmal anti-judaistischer Texte stellt die Ironie dar, die sich von den judenfeindlichen Texten bis hin zu den NS-Agitationsschriften verfolgen lässt. Ein Text kann durch ein vermeintlich überhöhtes Aufwerten zu einer Abwertung des betrachteten Gegenstandes führen und so der Autor das „Gegenteil dessen sagen, was man eigentlich meint“.71 Damit der Leser diese Ironie erkennen kann, bedarf es allerdings verständlicher Ironiesignale, die hinsichtlich der Juden insbesondere in der Verwendung von übertrieben positiven oder gegensätzlichen Wertattributen gekennzeichnet sind. Diese übersteigert-positive Wertung der Juden intendiert das Gegenteil und soll so unglaubwürdig wirken und Juden lächerlich machen. Neben der affektiv-emotionalen Wirkung mit Hilfe derer auch beim Leser eine Wertung und Meinung erzeugt wird, erfolgt durch das Verstehen der Ironiesignale eine Gemeinschaftsbildung zwischen Verfasser und Leserkreis: So stellen Figurationen der Ironie zugleich ein indirektes Mittel zur Konstituierung einer Wir-Gruppe gegenüber einer Fremdgruppe dar.72
Im betrachteten Musikschrifttum lassen sich solche ironischen Übertreibungen besonders in einer positiv übersteigerten Bewertung von einzelnen prominenten Komponisten jüdischer Herkunft feststellen. Dabei nutzt die Ironie vielfach das rhetorische Mittel der Hyperbel, welche eigentlich eine sprachliche Übertreibung darstellt, die als ausdrucksteigerndes Mittel dem Leser die Bedeutung einer Sache deutlich machen soll. Imanti-judaistischen Kontext treten Hyperbeln in unterschiedlichen Erscheinungsformen auf. Sie können etwa als Wortneubildungen mit den Präfixen ‚aller-‘, ‚erz-‘, ‚grund-‘, ‚hoch-‘ oder ‚über-‘ erscheinen oder aber durch Superlative und Elative von Attributen zum Ausdruck kommen.73
69 Alfred Heuß, Arnold Schönberg – Preußischer Kompositionslehrer, in: Zeitschrift für Musik (Okt. 1925), 584. 70 Richard Eichenauer, Der Untermensch auf der Opernbühne, in: Die Sonne (Nov. 1930), 507. 71 Hortzitz, Sprache der Judenfeindschaft, 26f. 72 Hortzitz, Sprache der Judenfeindschaft, 28. 73 Die Steigerung nicht steigerungsfähiger Wertattribute fällt ebenfalls in den Umkreis der abwertend genutzten Hyperbeln. Diese suchen eine extreme Abwertung des Geschilderten auszu-
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Als Beispiel für die ironische Nutzung der Hyperbeln sei hier auf Robert Schumanns Charakterisierung Giacomo Meyerbeers als der „Erzkluge aller Componisten“ verwiesen.74 Durch einen impliziten Bezug auf die jüdische Herkunft des Pariser Opernkomponisten wurde das Attribut ‚klug‘ durch das Präfix ‚erz-‘ abgewertet und eine Gemeinsamkeit in der Negativwertung zwischen Autor und Leserschaft herzustellen versucht. Die Einbindung des Antisemitismus in ein dualistisches Ideengeflecht als ‚Welterklärungsmodell‘ legt die Verwendung von Antonymen und Synekdochen nahe. Diese Einteilung der Welt in dichotome Gegensätze erfolgt auch auf der Textebene mittels Antonymen.75 Bemerkenswert ist, dass diese sich in den anti-judaistischen Texten nicht nur auf der argumentativen Ebene nachweisen lassen, sondern auch auf die Wortbildung beziehen. Die linguistische Fachliteratur sieht in Abweichung zur historischen die Verwendung von polarisierenden Gegensätzen nicht nur als sprachliches und argumentatives Mittel im ausgehenden 19. Jahrhundert, sondern weist Antonyme schon im 16. und 17. Jahrhundert mit Blick auf das dichotome Begriffspaar ‚jüdisch‘ versus ‚christlich-deutsch‘ nach.76 Dabei scheint jedoch der Inhalt der Gegensatzpaare im Laufe der Zeit komplexer zu werden, wie es sich etwa in der rassistischen Zuordnung von Physiognomie, Charaktereigenschaften, Denk- und Verhaltensweisen zu den Begriffspaaren ‚Juden/Nichtarier‘ und ‚Deutsche/Ariern‘ zeigt.77
drücken und mit Hilfe der grammatikalisch falschen Form negative Emotionen beim Leser auszulösen. Eine andere Art der Hyperbeln sind die verwendeten Pleonasmen, in dem das für Juden verwendete Substantiv die Bedeutung des untergeordneten Attributs voll enthält, wie etwa ‚arglistige Betrüger‘, ‚unsinnige Narren‘ oder ‚müßige Faulenzer‘. Eine weitere Kombination von Einzelwörtern mit dem Ziel der sprachliche Übertreibung findet sich laut Hortzitz in der Verwendung von „affektiven Wortreihen“, die sowohl als Substantive als auch als Attribute auftreten können (Sprache der Judenfeindschaft, 30f): „Bei diesen Stilmitteln zur ‚Steigerung des Ausdrucks‘ ist zunächst grundsätzlich zu unterscheiden zwischen Reihen bedeutungsähnlicher, im Kontext sogar bedeutungsgleicher (= synonymer) Wörter/Wortverbindungen und Reihen von Wörtern/Wortverbindungen mit unterschiedlichen Bedeutungen. [...] Wie die synonymischen dienen auch diese Reihen der Hervorhebung, des weiteren der Intensivierung und Steigerung. Dazu verfolgen sie den Zweck, einen ‚Sachverhalt‘ kurz und knapp, aber vollständig zu erfassen und für den potentiellen Leser/Hörer gut überschaubar zu gliedern.“ 74 Robert Schumann, Fragmente aus Leipzig, in: Neue Zeitschrift für Musik (Sept. 1837), 74. In indirektem Verweis auf das neutestamentliche Bild des ‚Otterngezüchts‘ für Pharisäer und Schriftgelehrte (Mt 23,33) sprach Theodor Uhlig von der „Schlangenklugheit“ Meyerbeers (Zeitgemäße Betrachtungen. II. Reminiscenzen, in: Neue Zeitschrift für Musik [April 1850], 177). 75 Hortzitz, Sprache der Judenfeindschaft, 31: „Bevorzugt drückt sich die dichotomische Einteilung der Welt in der Wahl von Antonymen (= Wort-Gegenwort-Paaren) aus, die geeignet sind, komplexe Sachverhalte, auf Schlag(‚gegen‘)wörter reduziert, beurteilend darzustellen.“ 76 Hortzitz, Sprache der Judenfeindschaft, 31. 77 Antonyme Paare können auch durch Metaphern gebildet werden oder aber als Wortneubildungen erscheinen.
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Die weit verbreitete Benutzung der Synekdoche in anti-judaistischen Schriften dient der Verallgemeinerung durch die omnipräsente Verwendung des Singulars ‚der Jude‘ für den Plural ‚die Juden‘:78 In diesem Fall werden die jüdischen Einzelpersonen unterschiedlichen Aussehens, Charakters, Temperaments, Verhaltens, sozialer Herkunft, weltanschaulicher Gesinnung, politischer Überzeugung usw. sprachlich-formal zu einer ‚Über-‘ oder ‚Kollektivperson‘ verschmolzen. Das Auftreten dieser Stilfigur ist zunächst einmal formales Indiz für das simple und simplifizierende Weltbild der Judenfeinde. [...] So stellt diese Synekdoche zunächst einmal ein ebenso einfaches wie ‚griffiges‘ Sprachmittel dar, um den Typus ‚Jude‘ zu behaupten.79
Als hypothetisches Konstrukt reduziert diese Pauschalisierung die Komplexität des Daseins und schafft innerhalb des jeweiligen Textes das Bild eines abstrakten Judentums. Zudem wird die Synekdoche in diesem Kontext durch den pejorativen Beiklang des Begriffs ‚Jude‘ als Schimpfwort intensiviert. Als Epitheta ornantia erfolgt durch adjektivisch gebrauchte Attribute in judenfeindlichen und antisemitischen Texten eine Festschreibung angeblich jüdischer Eigenschaften, die sich im Laufe der Geschichte zu einem Bild des ‚Juden‘ manifestieren: Sie neigen dazu, usuelle, quasi ‚idiomatische‘ Verbindungen mit den Basiswörtern einzugehen. [...] In expressiven Reihungen adjektivischer Attribute werden den Juden dann auch Bündel von Merkmalen zugeordnet. Dadurch entstehen einprägsame Quasi-Definitionen knappster Form.80
Der zunächst wertneutrale Begriff ‚Jude‘ wird in der festen Verbindung mit den ihm zugeschriebenen Attributen zu einer abwertenden Beleidigung.81 Von den jeweils nachfolgenden Autoren aufgegriffen und ergänzt, bilden die einzelnen Attribute einen charakterisierenden Kanon, der neben konstanten, den Juden zugeschriebenen Eigenschaften auch neue, zeitspezifische Merkmalsbeschreibungen enthalten kann.82 Ein Beispiel für die charakteristische Attributierung und deren Erweiterung in den vorliegenden Texten zum Topos des ‚Juden in der Musik‘ stellt 78 Gleichzeitig findet sich jedoch auch das umgekehrte Verfahren (Hortzitz, Sprache der Judenfeindschaft, 37): „Die Synekdoche vom Weiteren erscheint sprachlich als Setzung einer weiteren Bezeichnung für eine engere, z.B. in den Ersatzreihen Gattung für Art, Ganzes für Teil, Plural für Singular.“ 79 Hortzitz, Sprache der Judenfeindschaft, 37. 80 Hortzitz, Sprache der Judenfeindschaft, 33f. 81 Hortzitz, Sprache der Judenfeindschaft, 34: „Hier ist zu bemerken, daß bereits im 17. Jahrhundert der Begriff ‚Jude‘ im gemeinsprachlichen Gebrauch so negativ markiert war, daß er in der Funktion eines Schimpfwortes für Nicht-Juden verwendet werden konnte.“ 82 Dabei lässt die Häufigkeit der benutzten Beiworte Rückschlüsse auf Argumentation des jeweiligen Autors zu.
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das Verdikt dar, ihre Werke seien „undeutsch“. Ausgehend von dem ‚fremden‘ Lauteindruck der synagogalen Rezitationsgesänge und dem Vorwurf des ‚Internationalismus‘ in der frühen Meyerbeer-Rezeption, wurde das Schlagwort ‚undeutsch‘ auf Werke Jacques Offenbachs83 ebenso übertragen wie auf Felix Mendelssohn Bartholdy oder Gustav Mahler. Es erhält seinen ganzen pejorativen Gehalt in der völkischen Stigmatisierungskampagne gegen Arnold Schönberg.84 Obwohl im System der deutschen Sprache Wortbildungen als Zusammensetzungen von zwei Substantiven an sich nichts Ungewöhnliches sind, erhalten sie in anti-judaistischem Zusammenhang eine besondere Bedeutung, da auch Komposita mit dem Wort ‚Jude‘ linguistisch zu diesem Bereich zählen: Wort(neu)bildungen sind deshalb besonders aufschlußreich, weil sie u.a. indirekte Mittel der Argumentation und Persuasion sein können, indem sie ‚ideologische‘ Wertungen enthalten. Wie in anderem Zusammenhang bereits erwähnt, ist ja die Darstellungs- und Argumentationsstruktur judenfeindlicher Schmäh- und Kampfschriften antithetisch. D.h.: Die Textverfasser zielen darauf ab, einen Gegensatz zwischen einer positiv markierten (Eigen)Gruppe und einer negativ markierten (Fremd) Gruppe zu konstituieren. Als formale sprachliche Mittel können nun auch Wortbildungen mit Jude den Zielen der Polarisierung (und Verunglimpfung) dienen.85
Dabei bildet der Begriff ‚Jude‘ entweder das Grundwort oder wird als Bestimmungswort verwendet und kann in der Wiederholung eine affirmative Wirkung auf den Leserkreis ausüben: Die stilistische Leistung dieser Wortbildungen scheint des weiteren darin zu bestehen, durch semantisch überflüssige Wiederholungen des Wortes Jude, durch die ‚Verjudung‘ des Textes sozusagen, das Argument der ‚Verjudung‘ Deutschlands sinnlich wahrnehmbar umzusetzten, wohl zu dem Zweck, Überdruß gegenüber dem Bezeichneten hervorzurufen.86
Mit Blick auf den in der vorliegenden Arbeit betrachteten Gegenstand findet sich in erster Linie die Vokabel des „Musikjuden“87 in der musikalischen Fachliteratur, seltener zeigt sich hingegen die Bildung „Juden83 S., Kleine Zeitung, Correspondenz, in: Neue Zeitschrift für Musik (Juli 1861), 33. 84 Alfred Burgartz, Die künstlerische Bestimmung der deutschen Musik, in: Deutsches Musikjahrbuch (1924/25), 59. 85 Hortzitz, Sprache der Judenfeindschaft, 35. 86 Hortzitz, Sprache der Judenfeindschaft, 37. 87 Eine der frühesten Verwendungen dieses Begriffs findet sich 1863 bei Joseph Schlüter (Allgemeine Geschichte der Musik in übersichtlicher Darstellung, 161, Fußnote). In völkischen Publikationen der Weimarer Jahre lässt sich diese Komposita-Bildung häufig nachweisen. So benutzt etwa Oskar Goguel in seiner Polemik Volk und Musik. Eine Studie von 1928 den Begriff des „Konzertjuden“ (9).
Sprachliche Aspekte diskriminierender Literatur
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musik“,88 da es bei dem Begriff ‚Jude‘ als Bestimmungswort normalerweise zu einer Begriffsverschlechterung des Grundwortes kommt: In vielen Fällen erhalten bedeutungsneutrale bzw. positiv markierte Grundwörter durch die Komposition mit dem Bestimmungswort Jude negative Bedeutungsmerkmale.89
Damit weist das rhetorische Mittel der Komposita-Bildung auf die inhaltliche Ebene der jeweiligen Musikvorstellungen. Während das Schlagwort der ‚Judenpresse‘ in judenfeindlichen und antisemitischen Texten relativ häufig vertreten ist, welches auf den negativ konnotierten Begriff der ‚Presse‘ zurückzuführen ist,90 lässt sich in der musikalischen Fachliteratur mit ihrem positiv akzentuierten Begriff der Musik das Kompositum „Judenmusik“ nicht finden:91 Der antijüdischen Argumentation liegt ein Denken in Gegensatzsystemen zugrunde. Generell läßt sich eine polarisierende Wertung in der Struktur der Sprache nachweisen, die bis zur morphologischen Ebene geht: Bei Wortbildung mit dem Kompositionsglied ‚Jude‘ als Grundwort [...] wird das Zweitglied zu dem Zweck verwendet, mit formalen sprachlichen Mitteln die Juden aus einer als homogen empfundenen Gemeinschaft auszuschließen.92
Entsprechend der polarisierenden Funktion anti-judaistischer Texte wird dem ‚Musikjuden‘ gedanklich ein ‚Musikdeutscher‘ gegenübergestellt, obwohl sich dieses Wort jedoch in keinem der im Folgenden betrachteten Texte finden lässt. Dennoch scheint die Vorstellung der ‚Musik als deutscher Kunst‘ das Schlagwort vom ‚Musikjuden‘ entscheidend zu prägen.
88 Hermann von Scharff-Scharffenstein, Das geheime Treiben, der Einfluß und die Macht der Juden in Frankreich seit hundert Jahren (1872), 86f. Daneben verwendet der Autor jedoch auch das Kompositum „Musikjudentum“ als Kapitelüberschrift. 89 Hortzitz, Sprache der Judenfeindschaft, 35. 90 Vgl. etwa auch die Begriffe ‚Zeitungsjuden‘ oder ‚Theaterjuden‘, die neben dem Schlagwort der „Musikjuden“ relativ häufig zu finden sind. 91 Belegt ist die Verwendung dieser Vokabel um die Wende zum 20. Jahrhundert durch den Berliner Wirtschaftswissenschaftler Eugen Dühring (Die Judenfrage als Frage des Racencharakters und seine Schädlichkeit für Völkerexistenz, Sitte und Cultur [51901], 91). Vgl. zu Dühring Kap. 4. Die Polarisierung im Musikschrifttum seit der Jahrhundertwende. 92 Hortzitz, ‚Früh-Antisemitismus‘ in Deutschland, 283.
2. Exkurs: Musik als ‚deutsche‘ Kunst und ihre spezifische ‚Tiefe‘ Exkurs: Musik als ‚deutsche‘ Kunst Antisemitismus und Nationalismus bildeten den ideologischen Hintergrund, vor dem sich der Topos des ‚Juden in der Musik‘ entfalten konnte. Am deutlichsten zeigt sich die Verknüpfung des nationalistischen Diktums mit antisemitischen Schmähungen in der nationalsozialistischen Musikpolitik zwischen 1933 und 1945. Vor allem im Schrifttum, in der Musikpublizistik, in Einzelabhandlungen und ganzen Publikationsreihen lässt sich – gemäß den politischen Vorgaben und staatlichen Kontrollmechanismen – die Intention erkennen, sich der kulturellen Überlegenheit Deutschlands auch auf dem Gebiet der Musik zu vergewissern.1 Grundlage dieser Denkfigur einer ausschließlich national gefassten Musik bildete zum einen die Übertragung der ‚Rassenlehre‘ auf die Musik, zum anderen die hiermit verknüpfte Vorstellung von universalen Herrschaftsansprüchen ‚deutschen‘ Musikschaffens. Mit der ‚rassenkundlichen‘ Fundierung nationaler Ideen ging neben einer Begriffserweiterung zur ‚nordisch-germanischen‘ Musik auch eine inhaltliche Ausweitung der Idee einer ‚deutschen‘ Musik einher. Diese Erweiterung ermöglichte sowohl die Bildung eines Kanons ‚deutscher Meister‘, der nicht mehr an eine nationale Abstammung gebunden war,2 als auch musikgeschichtliche Darstellungen, welche die Vorherrschaft deutschen Musikschaffens zu belegen versuchten und die sich in ihrem Vorhaben nicht mehr an den nationalstaatlichen Grenzen zu orientieren brauchten. 1 Mit der Errichtung der Reichskulturkammer und der untergeordneten Reichsmusikkammer im September 1933 entstand auch die Reichspresse- und Reichsschrifttumskammer, die alle Veröffentlichungen im Bereich der Musik überwachte. Neben dem Druck dieser staatlichen Kontrollinstanzen lässt sich allerdings gleichzeitig vielfach von einer „Selbstgleichschaltung“ führender Musikschriftsteller, Musikkritiker und Musikwissenschaftler ausgehen. Vgl. dazu die Regionalstudie von Eckhard John, Der Mythos vom Deutschen in der deutschen Musik: Musikwissenschaft und Nationalsozialismus. Hier (163) findet sich auch der Begriff „Selbstgleichschaltung“. 2 Als Beispiel sei Hector Berlioz genannt, dem der Heidelberger Redakteur Friedrich Baser in seinem Artikel Hector Berlioz und die germanische Seele (in: Die Musik [Jan. 1934]) ob seiner Verdienste zur ‚deutschen‘ Gattung Symphonie sowohl „germanische[...] Züge“ (260) als auch einen „germanischen Kern“ (262) attestierte. Vgl. Birgitta Maria Schmidt, Exkurs – Hector Berlioz und die ‚deutsche‘ Sinfonie, in: dies., Politisierung der deutschen Musik, 20–24. Ähnlich wurde auch César Franck 1940 im Septemberheft der Zeitschrift für Musik ‚eingedeutscht‘: Eberhard Quadflieg, Caesar Franck – ein Deutscher! Zum 50. Todestag des Meisters am 9. November 1940. Caesar Francks deutsche Ahnen, 517–522; Reinhold Zimmermann, Caesar Franck, 522–527; Walter Trienes, Das deutsche Element in Caesar Francks Schaffen, 527–529.
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Dass hierbei die Begriffe ‚Rasse‘, ‚Nation‘ und ‚Volk‘ als Synonyme benutzt wurden, weist auf nur eine Schwierigkeit in der analytischen Beschäftigung mit dem NS-Schrifttum zur Denkfigur der ‚deutschen Musik‘ hin. Neben der Vielzahl der propagandistischen Texte mit ihren oft formelhaften Wiederholungen und eingängigen Phrasen disqualifizierten sich die inhaltlichen Aussagen und Theorien zur deutsch-nationalistischen Komponente der Musik häufig selbst. Die Zuschreibungen nationaler Spezifika und die Hegemonialidee einer ‚deutschen Musik‘ anhand (musik)wissenschaftlicher Verfälschung und historisch konstruierter Belege scheinen für sich zu sprechen.3 Dennoch lassen sich in der Vielzahl der schon kurz nach 1933 publizierten programmatischen Äußerungen über die ‚deutsche Musik‘ – unabhängig von staatlichen Proklamationen einer nationalen „Revolution“4 – Kontinuitäten und bestehende Denkmuster einer ‚Musik als deutschen Kunst‘ erkennen. Innerhalb der Sekundärliteratur ist verschiedentlich auf die nationalsozialistische Anbindung an völkisch-konservative Musikvorstellungen sowie den Rekurs auf musikalische Denkfiguren unter Einfluss des speziell deutschen Nationalismus und der Romantik hingewiesen worden. Der Nationalismus des 19. Jahrhunderts, in Deutschland als Einigungsbestrebung zur Überwindung feudalstaatlicher Zersplitterung, ging zum einen mit der bürgerlichen Emanzipationsbewegung und der Entstehung des bürgerlichen Musiklebens, zum anderen mit einer Überhöhung der Musik als Symbol nationaler Identität einher: Die Frage nach der ‚Kultur‘ war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Frage der nationalen Identität geworden, und da die nationale Bewegung ebenso wie die Musikkultur vom Bürgertum getragen wurde, wuchs der Musik als deren unmittelbarer Ausdruck eine zentrale Rolle zu. [...] Aus dieser musikalischen nationalen Identität erwuchs, parallel zur politischen Entwicklung im zunehmend imperialistischen Kaiserreich, ein kultureller Imperialismus; eine gegenseitige Indienstnahme ermöglichte die Verstärkung der jeweiligen hegemonialen Ansprüche. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg und der Konfrontation mit den wirtschaftlichen und sozialen Problemen der Weimarer Republik blieb dem verunsicherten Bürgertum die Identifikation mit der deutschesten aller deutschen Künste, der Musik.5 3 Zumeist wird in der Sekundärliteratur von einer Kontinuität nationalistischer Vorgaben zum ‚Deutschen‘ in der Musik für den Zeitraum zwischen 1933 und 1945 ausgegangen. Detaillierte Untersuchungen fehlen allerdings bislang. Eine Transformation innerhalb der NS-Literatur zur Denkfigur der ‚nordisch-germanischen Musik‘ lässt sich am auffälligsten für die Zeit des Zweiten Weltkriegs konstatieren, in der England aus der Reihe ‚nordischen Musikschaffens‘ ausgeschlossen wurde. Vgl. etwa Karl Blessinger, Englands rassischer Niedergang im Spiegel seiner Musik, in: Die Musik (Nov. 1939). 4 Georg Gräner, Deutsche und undeutsche Musik, in: Die Musik (Nov. 1933), 91: „Dank dieser nationalsozialistischen Revolution also werden wir veranlaßt, endlich auch in der Musik wieder zur Natur, zur Wahrheit und zum Leben zurückzukehren.“ ‚Natur‘, ‚Wahrheit‘ und ‚Leben‘ symbolisieren hier in textlogischer Gleichsetzung das nationale Musikschaffen Deutschlands. 5 Schmidt, Politisierung der deutschen Musik, 7f.
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Dass im Nationalsozialismus diese Adaption tradierter Vorstellungen und Wertungsmuster aus dem Bereich eines nationalen Musikdiskurses des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts nahezu ohne Brüche gelang, lässt sich in unterschiedlichen Bereichen nachweisen. Neben der Tradition einer Musikgeschichtsschreibung, die sich auf eine ausschließlich deutsche Musikgeschichte beschränkt, sowie der konzentrierten Forschung zu Leben und Werk deutscher Komponisten, finden sich historische Aspekte auch in den Zuschreibungen national-spezifischer Attribute zur ‚deutschen‘ Musik und den damit einhergehenden Überlegenheitsansprüchen deutschen Musikschaffens.6 Im Folgenden soll ein Teilbereich dieser Zuschreibungen, die ‚Tiefe deutschen Musikschaffens‘ als Element der Denkfigur einer ‚Musik als deutschen Kunst‘ exemplarisch betrachtet werden. Diese ‚deutsche Tiefe‘ der Musik bildet einen zentralen Aspekt in der polarisierenden Gegenüberstellung zwischen einem ‚deutschen‘ und einem ‚jüdischen‘ Musikschaffen. Als nationales Charakteristikum steht die ‚deutsche Tiefe‘ in Opposition zu einer angeblich jüdischen ‚Oberflächlichkeit‘ und ‚Nachahmung‘, die spätestens seit Richard Wagners Artikel Das Judenthum in der Musik (1850) zu einem integralen Bestandteil des Bildes vom ‚Juden in der Musik‘ wurden. Anders als in Texten des 18. Jahrhunderts stand die Musikliteratur des 19. Jahrhunderts unter Einwirkung des durch Johann Gottfried Herder geprägten Begriffs des ‚Volksgeists‘ und des deutschen Nationalismus. Unter diesem Einfluss fand eine zunehmende Säkularisierung der den Juden zugeschriebenen Eigenschaft, eine ‚Nation‘ ohne schöpferisches Potential zu sein, statt. Komplementär entstanden im 19. Jahrhundert vermeintliche Merkmale der ‚deutschen‘ Musik, unter anderem die ‚Tiefe‘. Die polaren Denkmuster, die den Musikdiskurs unter Einfluss des Nationalismus im ausgehenden 19. Jahrhundert beherrschten, wurden nahezu unverändert in das 20. Jahrhundert übernommen. Bereits in der Weimarer Republik zeigt sich die Vorstellung einer Dichotomie von einer ‚deutschen‘ Musik und ihrem Gegenpart einer „undeutschen“ Musik,7 mit der man die Frage nach nationalen Spezifika in der Musik über das Ausschlussprinzip zu beantworten suchte. Ausgehend von einer angeblichen Bedrohung durch das ‚undeutsche‘ Element, 6 Schmidt, Politisierung der deutschen Musik, 8: „Durch die Beschränkung auf die ‚deutsche‘ musikalische Historie [...] und durch die Marginalisierung der Beiträge nichtdeutscher Komponisten und Musiker zur europäischen Musikgeschichte wurde [...] das Bild eines musikalisch autarken Deutschlands vermittelt, das zur Stützung politischer Dogmen funktionalisiert werden konnte.“ 7 Hubert Kolland, ‚Undeutsche Musik‘. Gesellschaftliche Aspekte im Musikgeschichtsbild konservativer Musikpublizistik in der Weimarer Republik, dargestellt am Beispiel der ‚Zeitschrift für Musik‘, in: Stern, Angewandte Musik – 20er Jahre, 147: „‚Deutsche‘ und ‚undeutsche‘ Musik als zusammenhängende Wortprägungen ziehen sich schon während der Weimarer Republik [...] wie ein Faden durch die Diskussionen konservativer Musikpublizistik.“
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das primär in modernen kompositorischen Tendenzen gesehen, aber zugleich im Schrifttum als ein projektives Geflecht moderner, atonaler, internationaler, jüdischer, bolschewistischer und revolutionärer Strömungen angegriffen wurde, postulierte man nach 1933 den „Kampf um [die] deutsche Musik“.8 Begriffe wie ‚Entartung‘ oder ‚Zersetzung‘ verflochten sich hierbei mit dem in den 20er Jahren geprägten deutlich antisemitischen Schlagwort des ‚Musikbolschewismus‘ bzw. ‚Kulturbolschewismus‘.9 In diesem Sinn scheint es zunächst sinnvoll, den Begriff der ‚Tiefe‘, wie er sich im NS-Schrifttum darstellt, näher zu beleuchten, um im Anschluss daran der Frage nach den charakteristischen Umwertungen des 19. Jahrhunderts anhand unterschiedlichster Quellen, in denen sich diese Vokabel findet, nachzugehen. Leitbegriff der nationalsozialistischen Musikanschauung bildete die ‚Volksgemeinschaft‘ als Abbild des nationalsozialistischen Staats, der mit und durch Musik seine Legitimation finden sollte. Wurde sowohl Kunst- als auch Unterhaltungsmusik in der Musikpraxis funktional zu propagandistischen, restaurativen und repräsentativen Zwecken genutzt, fand demgegenüber besonders in der Musikpublizistik der Zeit eine uniforme Hypostasierung der Musik statt. Das Schreiben über Musik orientierte sich hierbei an den Forderungen nach Dauer und Universalität des proklamierten ‚Tausendjährigen Reiches‘. In schwärmerischer Überhöhung wurde die emotionale und metaphysische Qualität der Musik gelobt, diese aber gleichzeitig in Ablehnung von Weltflucht und Autonomie-Ästhetik direkt an die politischen Herrschaftsverhältnisse gebunden,10 wie ein aus der Fülle der Quellen herausgegriffenes Beispiel von 1934 illustriert: Man will Kunst nicht mehr in erster Linie als l’art pour l’art, als Sonderdisziplin mit einem lösgelösten Eigendasein, sondern als alles durchdringendes, alles umfassendes Prinzip. Je mehr wir unsere Welt als äußerlich erweitert und innerlich verengt empfinden, um so mehr brauchen wir Kunst nicht in einem Spezialsinn, sondern im allgemeinen Sinn als Mittel, die uns angehende Inhalte zu formen, als Deutung der Welt durch Formen, Deutung durch inneres Anschauen der Urformen, die hinter den Dingen als deren Vorbild und letzter Sinn stehen. In der Musik haben wir vielleicht das unmittelbarste, das intuitive Erkenntnismittel. Die Musik ist ihrem innersten Wesen
8 So der Musikschriftsteller Karl Grunsky mit seinem 1933 erschienenen Buch Kampf um deutsche Musik. 9 Kolland, ‚Undeutsche Musik‘, 164: „Die in ‚Undeutsch‘ zentrierten ideologischen Substrate können untereinander relativ beliebige Verbindungen eingehen, was sich in parallelem Wortgebrauch und sich überschneidenden Bedeutungsfeldern ausdrückt.“ 10 Vgl. Werner Korte, Krise und neue Sendung. Ein Kapitel von ‚Geschichte und Amt der deutschen Musik‘, in: Die Musik (März 1939), 397: „Musik ist uns so viel wert, wie sie Dienerin und Ausdruck des gesamtvölkischen Lebens unserer Nation ist und sein will; sie soll in erster Linie dienen.“
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nach: Deuterin des Weltgefüges, ist die Sprache des Übersinnlichen, ist die Offenbarung einer höheren Welt.11
In Anlehnung an den schwärmerischen Ton der romantischen Literatur wurde Musik im NS-Schrifttum als unmittelbarer Ausdruck des Gefühls und der (nationalen) Seele apostrophiert. Die Überhöhung dieses MusikBegriffs als Resultat anti-modernistischer Geistesströmungen des 19. Jahrhunderts hat Bernd Sponheuer in seiner „Argumentationsskizze“ Musik, Faschismus, Ideologie. Heuristische Überlegungen12 hervorgehoben. Sponheuer sieht diese im 19. Jahrhundert geprägten Musikvorstellungen als zentrale Momente der nationalsozialistischen Funktionalisierung der Musik: Dieses Programm der Kunst als kritisch-utopischer Gegenwelt zur entfremdeten Wirklichkeit, das im Bezugsystem der klassischen Kunstphilosophie an die Bedingung ihrer Autonomie, d.h. ihrer strikten Abgrenzung von der Lebenspraxis geknüpft bleibt [...], erfährt in der Kunstphilosophie von Teilen der deutschen Romantik [...] eine überschwengliche, sowohl metaphysisch-spekulative wie zugleich geschichtsmythologische Übersteigerung. Die Kunst wird geradewegs als Vergegenwärtigung des Absoluten – d.h. der alle Entzweiung und Entfremdung überflügelnden Einheit von Natur und Vernunft, Endlichem und Unendlichem – in Anspruch genommen. Kunst wird zum Glaubensersatz und das ästhetische Versöhnungsmodell zu einem quasitheologischen Heilsprogramm der Wiederherstellung ursprünglicher Totalität, wie man sie in mythischer Rückschau vor dem ‚Sündenfall‘ der Moderne vermutete. In solcher Perspektive erscheint der – eben erst errungene – Autonomiestatus der Kunst als Resultat ihres Substanzverlustes [...].13
Mit diesem Ansatz Sponheuers lässt sich die scheinbare Widersprüchlichkeit der Musikideologie nationalsozialistischer Texte erhellen, die sich einerseits vehement in der Negation der Autonomie-Ästhetik und einer individualistisch-liberalistischen Kunsthaltung des 19. Jahrhunderts begreifen,14 gleichzeitig allerdings an eben die dort entwickelten Begrifflichkeiten und Wertungen zumindest stilistisch anknüpfen. Gekoppelt an die nationale Gemeinschaft, einer durch die ‚Rasse‘ definierten Einheit, wurde der Rekurs auf die Denkfigur der ‚hohen‘ Kunst Musik eine Leitidee zur Stärkung national-ethnischer Identitäts- und Abgrenzungsbestrebungen. Die Grund11 Ludwig Weber, Musik und Volksgemeinschaft, in: Die Musik (Nov. 1934), 81. 12 In: Die Musikforschung, 241. 13 Sponheuer, Musik, Faschismus, Ideologie, 245f. 14 Vgl. auch Albrecht Riethmüller, Die Dreißiger Jahre: Eine Dekade kompositorischer Ermüdung oder Konsolidierung? Zusammenfassung der Diskussionen, in: Musik der 1930er Jahre, 177: „Der Nationalsozialismus in Deutschland war in dem, was er mit der Musik wollte, gespalten: Einerseits drängte er auf eine (Re-)Romantisierung und Sentimentalisierung der Musik, um sich die Massen gefügig zu machen [...], andererseits propagierte er in seinem Kampf gegen den, wie er meinte, Subjektivismus und Individualismus des bürgerlichen 19. Jahrhunderts eine sachliche, überpersönliche, nichtromantische, kollektive und monumentale Musik, die eine Abkehr vom persönlichen Ausdruck erforderte.“
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struktur dieser Entwicklung ist laut Sponheuer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angelegt: Im Schatten des romantischen Programms, aber dieses zu positiver ‚Weltanschauung‘ begradigend, steht die vor allem im deutschen Bildungsbürgertum zu beobachtende Ausbreitung einer politik- und realitätsfernen ‚Kulturreligion‘, die, vordergründig unpolitisch, einer folgenschweren Ästhetisierung der Politik den Weg bereitete. In Abkehr von den Realitäten einer als anorganisch und fragmentiert empfundenen modernen Industriegesellschaft und deren materiellen Verteilungskämpfen suchte man seelische Zuflucht in der ‚höheren‘, dem Erdenschmutz entzogenen Welt der deutschen Kunst, die noch nicht [...] vom ‚Ungeist‘ der Moderne korrumpiert war und von der man sich Heilung und Erlösung letztlich auch im Geschichtlich-Politischen erhoffte.15
Für die NS-Musikvorstellungen, die im Schrifttum vielfach diese religiösmythologisierenden Züge tragen, folgert er weiter: Die Kunst wird also einerseits aus dem Diskurszusammenhang der romantischen Ästhetik, soweit diese die Kunst als absoluten Wert auffaßte, herausgelöst, desartikuliert, andererseits, unter vollständiger Beibehaltung der ihr zugeordneten metaphysischen Qualitäten, in den nationalsozialistischen Diskurs übernommen und durch die Verbindung mit dem zentralen Ideologem des ‚Volkes‘, das die metaphysischen Qualitäten in eine neue ideologische Formation bringt, reartikuliert.16
Der Begriff der ‚Tiefe‘, wie er sich im NS-Musikschrifttum darstellt, ist Teil dieser „metaphysischen Qualitäten“ der Musik, die sich in den abstrakten NS-Schlagwörtern spiegeln. So wurde die Vokabel ‚Tiefe‘ selten näher definiert, meinte aber zumeist weniger die ‚Tiefe‘ als Komplexität einer musikalisch-kompositorischen Anlage, sondern vielmehr eine Kongruenz zwischen der nicht näher konkretisierten ‚Tiefe der Musik‘ überhaupt und einer „seelischen Tiefe“ des Deutschen respektive der historisch-anthropologischen ‚Tiefe‘ der ‚germanischen Rasse‘:17 Kunst ist geprägtes Seelentum, also nicht in erster Linie Form, sondern Ausdruck. Kunst steht im deutschen Sinne zutiefst auf ethischem Boden [...]. Von diesem Gedanken ist auch der Sinn der deutschen Musik zu verstehen. Die Musik ist ursprünglich das mit dem Wort verbundene [...] Klingende;[...] in seinem spezifischen Kern vermittelt es aber seelische Inhalte tiefster Art. So greift die Musik, und zwar nur die Musik, in die seelische Schicht des Mythischen hinein. [...] Im Grunde aber bleibt Musik nach germanischer Auffassung immer ein Ausdrucksmittel, das Übernationales den Seelen vermittelt, ohne daß die Bezirke des Verstandesmäßigen einbezogen 15 Sponheuer, Musik, Faschismus, Ideologie, 246. 16 Sponheuer, Musik, Faschismus, Ideologie, 251. 17 Zwar galt die Musik Beethovens und Wagners als exemplarisch für diese ‚Tiefe‘, bezog sich aber hier mehr auf die Tiefe einer emotionalen Rezeption. In den NS-Forderungen an die zeitgenössischen Komponisten hatte der Begriff der ‚Tiefe‘ kaum eine Relevanz. Vgl. dazu Riethmüller, Komposition um 1936.
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werden müßten. [...] Denn der Germane empfand, daß sich die Lebenstiefen und die Gottheitshöhen, so wie sie ihm, dem tief Veranlagten, sich darboten, nicht durch den Intellekt meistern ließen und nicht denkhaft klarer Gestalt darstellbar waren. Das rassisch bedingte Drängen zum Metaphysischen flüchtete sich bei den Germanen in ein Ausdrucksgebiet hinein, das, fernab vom begrifflichen Erfassen und denkmäßigen Verarbeiten, dieser Eigenschaft unseres Volkes entgegenkam: Die Musik.18
Die metaphysische Abstraktion des Begriffs ‚Musik‘ im NS-Schrifttum ermöglichte es, eine genaue Definition des Schlagworts ‚Tiefe‘ zu umgehen. Es blieb begrifflich nicht fassbar, war aber mit anderen Worten wie „Innerlichkeit“, „Seelentum“, „Ausdruck“ und „Gefühl“ verbunden. Darüber hinaus konnte ‚Tiefe‘ sowohl Dauer im Sinn von Ewigkeit bedeuten als auch eine Konnotation von ‚tiefgründig‘ oder ‚bedeutungsvoll‘ erhalten, dann allerdings angedeutet als so gedankenreich und komplex, dass dieses Attribut nicht in „denkhaft klarer Gestalt darstellbar“ war. Konkreter wurde der Begriff der ‚Tiefe‘ allein in zwei Bereichen, die sich häufig miteinander verknüpft finden. Die Vokabel erschien zum einen als Empfindung in der Musikrezeption mit der Bedeutung ‚von der Musik tief ergriffen sein‘, zum anderen als Ausdruck der Bodenständigkeit der nationalen Gemeinschaft. ‚Tiefe‘ meinte hier sowohl ein tief verwurzelt sein in der ‚Heimaterde‘ als auch eine physiognomische Tiefe, ausgedrückt im ‚Blut- und Boden-Mythos‘: Alle Kunst, hier in der tiefsten Artung gemeint, ist gewachsen auf dem Urboden von Blut und Boden, einem, den wir noch verfeinerter auffassen können, wenn wir ihn als ‚Landschaft‘, als Heimat des Künstlers begreifen. So ist die Kunst Ausdruck des Volkstums, und je stärker das in ihr zutage tritt, um so reifer ist sie und um so mehr wirkt sie durch ihre Kraft eigengearteter Gewachsenheit.19
Diese ‚Tiefe‘ als spezifisch ethnisch-nationale Eigenschaft der ‚Volksgemeinschaft‘ spiegelt sich eben in deren Rezeptionsvermögen wider, indem gemäß der Funktionalisierung von Musik das emotionale Musikerlebnis mystifiziert wurde: Wenn auch die Wirkung unserer deutschen Musik die ganze Welt ergreift, entstammt sie doch unserer Art und kann auch nur in den letzten Tiefen von Menschen unserer Art, also vom deutschen Volk, aufgenommen und erfaßt werden, ja sie gehört ihm in erster Linie.20
Die Vokabel ‚Tiefe‘ als spezifisches Charakteristikum der Musik verknüpft mit Begriffen wie ‚Seele‘, ‚Innerlichkeit‘ und ‚Gefühl‘ hat in der Musiklite18 Walter Kühn, Führung zur Musik (1939), 33f. 19 Erhard Krieger, Das innere Reich deutscher Musik. Lehre deutscher Musikkultur [Vorwort datiert Herbst 1936], 9f. Vgl. zu dem durch Ludwig Ferdinand Clauß geprägten Begriff „Artung“ das Kap. 4.2.2 Die ‚Rassentheorie‘ im Musikschrifttum. 20 Elly Ney, Die Aufgeschlossenheit des Volkes für die Musik, in: Zeitschrift für Musik (April 1939), 375.
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ratur eine lange Tradition.21 Ihre Verschmelzung mit nationalen Spezifika und die Kontrastierung durch ‚Oberflächlichkeit‘ und ‚Nachahmung‘ lässt sich historisch im 19. Jahrhundert lokalisieren. Als Begriff findet sich die ‚Tiefe‘ allerdings schon in der Musikliteratur des 18. Jahrhunderts und gerade ein direkter Vergleich des Musikschrifttums beider Jahrhunderte verweist anschaulich auf eine Umwertung dieser Attributierung unter Einfluss des nationalen Gedankens. So charakterisierte etwa Johann Adolf Scheibe in der zweiten Auflage des Critischen Musikus von 1745 bei seiner Betrachtung der italienischen, französischen und polnischen Musikkultur auch die deutsche Musik: Die deutsche Musik hat das meiste von den Ausländern entlehnet, und sie unterscheidet sich nur durch eine fleißige Arbeit, regelmäßige Ausführung der Sätze und durch die Tiefsinnigkeit, die sie in der Harmonie anwendet. Sie scheint also sehr gründlich zu seyn.22
Die „Tiefsinnigkeit“ der Harmonie taucht hier allerdings nur als sekundäres Merkmal deutschen Musikschaffens auf, dessen eigentliche Qualität die Fähigkeit zur Nachahmung anderer Nationalstile sei: Aus diesem Entwurfe der deutschen Musikart sieht man, daß der Deutsche gleichsam zur Nachahmung, und zu einem unermüdeten Fleiße gebohren ist.23
Ähnlich wie Johann Adolf Scheibe verglich auch Johann Joachim Quantz in seinem Versuch einer Anweisung die Flute traversière zu spielen24 von 1752 eine französische, italienische und deutsche Art des Komponierens und Musizierens und sah das deutsche Spezifikum in einem „vermischten Geschmack“: Wenn man aus verschiedener Völker ihrem Geschmacke in der Musik, mit gehöriger Beurtheilung, das Beste zu wählen weis[s]: so fließt daraus ein vermischter Geschmack, welchen man, ohne die Gränzen der Bescheidenheit zu überschreiten, nunmehr sehr wohl: den deutschen Geschmack nennen könnte.25
Als Charakteristikum der deutschen Musik erschien bei Scheibe und Quantz die Fähigkeit der Synthese verschiedener Musikstile, die den Akzent weniger auf die Eigenart deutschen Musikschaffens legte als vielmehr – sicherlich auch in Anlehnung an die geographische Lage Deutschlands – eine 21 Vgl. auch den Artikel ‚Innigkeit‘ und ‚Tiefe‘ als komplementäre Kriterien der Bewertung von Musik von Friedrich Geiger, der den impliziten Wertungscharakter der Begriffe ‚Innigkeit‘ und ‚Tiefe‘ im Pietismus nachzeichnet und deren Übertragung auf die Musik im 18. Jahrhundert lokalisiert. 22 Johann Adolf Scheibe, Critischer Musikus (1745), 147. Vgl. hierzu auch Christoph von Blumröder, Deutsche Tugenden, deutsche Musik?. 23 Scheibe, Critischer Musikus (1745), 148. 24 1752, Breslau 21780 (zit. nach dem Reprint der Aufl. 31789). 25 Quantz, Versuch einer Anweisung (31789), 332.
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Adaption und Nachahmung positiv betonte. Ein „allgemeiner guter Geschmack in der Musik“ bestünde nach Quantz in erster Linie aus eben dieser Synthese der unterschiedlichen Nationalstile: Wofern nun die deutsche Nation von diesem Geschmacke nicht wieder abgeht: wenn sie sich bemühet, [...] darinne immer weiter nachzuforschen, [...] wenn ferner die Italiäner und die Franzosen den Deutschen in der Vermischung des Geschmackes so nachahmen wollten, wie die Deutschen ihnen im Geschmacke nachgeahmet haben;[...] so könnte mit der Zeit ein allgemeiner guter Geschmack in der Musik eingeführet werden. [...] In einem Geschmacke, welcher, so wie der itzige deutsche, aus einer Vermischung des Geschmackes verschiedener Völker besteht, findet eine jede Nation etwas dem ihrigen ähnliches; welches ihr also niemals misfallen kann. [...] denn eine Musik, welche nicht in einem einzelnen Lande, oder in einer einzelnen Provinz, oder nur von dieser oder jener Nation alleine, sondern von vielen Völkern angenommen und für gut erkannt werden wird [...], muß, wenn sie sich anders auf die Vernunft und die gesunde Empfindung gründet, außer allem Streite, die beste seyn.26
Als spezielle Eigentümlichkeit der deutschen Musik stellte die Synthese im 18. Jahrhundert eine Qualität dar, die allerdings im 19. Jahrhundert als negatives Bewertungskriterium jeglichen Musikschaffens hervortritt, da die Synthese durch das Kennzeichen der Originalität ersetzt wurde. Carl Dahlhaus hat in seinem Artikel Nationale und übernationale Musikgeschichtsschreibung in Hinblick auf nationale Zuschreibungen diese Differenz zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert hervorgehoben. Dabei erscheint der Begriff des ‚Nationalstils‘ irreführend, da die jeweiligen Aussagen des 18. Jahrhunderts weniger national definierte Eigenarten als vielmehr musikalische Stilbezeichnungen meinen: Der französische Stil, von einem Deutschen adaptiert, war durchaus nichts Exotisches, sondern stellte vielmehr eine Schreibweise dar, die ebenso allgemein verfügbar war wie der pastorale oder der elegische Ton in der Musik. Ein musikalischer Nationalstil war also im 18. Jahrhundert einerseits eine eher funktional als substanziell bestimmte Kategorie: Resultat einer Wahl durch Akklamation, die von einem Bedürfnis nach nationaler Repräsentation ausging, nicht von der Vorstellung eines Volksgeistes, der nach Ausdruck verlangt. Und andererseits stand eine nationale Schreibweise für jeden Komponisten, unabhängig von seiner Herkunft, zur Verfügung [...]. Ein Nationalstil aber, der international verfügbar ist, taugt nicht zum Prinzip einer Nationalgeschichtsschreibung, die ohne ethnische Kriterien [...] schwerlich zu bestehen vermag.27 26 Quantz, Versuch einer Anweisung (31789), 332ff. 27 Dahlhaus, Nationale und übernationale Musikgeschichtsschreibung, 13f. Für das 19. Jahrhundert, „dem Zeitalter eines zunächst liberalen, später jedoch aggressiven Nationalismus“ (14) hebt Dahlhaus darüber hinaus die Bedeutung der Volksmusik hervor (17): „War demnach die Volksmusik in ihrer ersten, ursprünglichen Daseinsform [...] primär lokal oder landschaftlich gefärbt, so ist sie andererseits vom national gesonnenen Bürgertum des 19. Jahrhunderts als Nationalangelegenheit rezipiert worden“.
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Die Entwicklung dieser „ethnischen Kriterien“ und ihre Verknüpfung mit der Kategorie des Nationalen lässt sich exemplarisch an einem Beispiel aus der Mitte des 19. Jahrhunderts aufzeigen, der Musikgeschichte von Franz Brendel.28 Ursächlich in Zusammenhang mit der Entstehung der Nationalstaaten Europas, scheint hier einer der frühesten Versuche vorzuliegen, eine durch das neue Nationalbewusstsein geprägte Denkfigur der ‚deutschen Musik‘ zu liefern.29 Die Geschichte der Musik in Italien, Deutschland und Frankreich. Von den ersten christlichen Zeiten bis auf die Gegenwart von 1851 erschien bis zur Jahrhundertwende in acht Auflagen und demonstriert anschaulich den Wandel der Bewertungskriterien ‚deutschen‘ Musikschaffens. Dabei greift Franz Brendel einerseits die Gedanken einer spezifisch ‚deutschen‘ Fähigkeit zum ‚vermischten Geschmack‘ des 18. Jahrhunderts auf, deutete diesen allerdings unter nationalistischen Vorzeichen in einen Hegemonialanspruch deutschen Musikschaffens um: Es ist bis jetzt die weltgeschichtliche Aufgabe Deutschland’s gewesen, alle anderen Volksgeister um den Thron seiner Universalmonarchie zu versammeln. Während die übrigen Nationen allein ihre gesonderte Individualität ausbildeten und in dieser verharrten, war es der Beruf Deutschlands, auf dem Grunde seiner Eigenthümlickkeit sich zu einer weithin schauenden Universalität zu erheben, die Individualität der anderen Völker in sich aufzunehmen und zu einem grossen Ganzen zusammenzufassen. [...] Diese Bestimmung Deutschlands giebt auch seiner Tonkunst noch eine zweite Wendung. Deutschland besitzt nicht blos eine nationale Tonkunst im engeren Sinne; es hat, die Stile Frankreichs, Italiens mit seiner Eigenthümlichkeit verschmelzend, eine Weltmusik geschaffen, und zunächst dadurch schon den Gipfel der gesammten musikalischen Entwicklung erstiegen.30
Bezog sich Brendel in seiner musikgeschichtlichen Darlegung auf die ‚Volksgeistlehre‘ und das Geschichtsmodell eines stufenweise erfolgenden Fortschrittsprozesses aus den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit von Johann Gottfried Herder,31 erweiterte Brendel diesen Ge28 Franz Brendel, Geschichte der Musik in Italien, Deutschland und Frankreich. Von den ersten christlichen Zeiten bis auf die Gegenwart. Fünfundzwanzig Vorlesungen gehalten zu Leipzig (1851, 21855, 71889, 81903, nachfolgend zit. nach der 5. verm. Aufl. 1875). 29 In seiner Studie zum Begriff ‚national‘ formuliert Kurt von Fischer dies umgekehrt (Zum Begriff national in Musikgeschichte und deutscher Musikhistoriographie, 15): „In der deutschen Musikgeschichtsschreibung ist [...] der Begriff des Nationalen im späten 18. Jahrhundert zunächst in Verbindung mit einem klassizistischen Humanismus zu sehen. Im 19. Jahrhundert wird er sodann an der eigenen deutschen, eine Vormachtstellung beanspruchenden Musik und erst sekundär an deren Gegensatz zur französischen und italienischen Musik entwickelt.“ 30 Brendel, Geschichte der Musik (51875), 126f. Brendel leitet hier einen Abschnitt über Mozart ein. 31 Brendel, Geschichte der Musik (51875), 330: „Durch Herder’s ‚Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‘ waren die ersten Anregungen zu einer Philosophie der Geschichte gegeben worden. […] Hierdurch wurde die Einsicht in den unaufhaltsamen, ununterbrochenen, stufenweisen Fortschritt des Menschengeschlechts gewonnen, die Erkenntnis des Zieles der Weltentwicklung überhaupt“.
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danken um das Hegelsche Geschichtsmodell von Aufstieg, Blüte und Verfall. Die Vorstellung einer Kausalität zwischen ‚Blüte‘ und ‚Niedergang‘ prägte Brendels Ausführungen entscheidend. Während er bis in das 18. Jahrhundert den Aufschwung Italiens auf musikalischem Gebiet hervorhob, der schließlich in den Verfall mündete, fand in Deutschland laut Brendel seit dem 16. Jahrhundert unter Einfluss des Protestantismus eine fortschreitende musikalische Entwicklung statt,32 die nicht von dem Schema ‚Aufstieg-Blüte-Verfall‘ geprägt war: Die überwiegend geistige Richtung Deutschlands ist die Ursache, dass seine Tonkunst nicht ausschliesslich jene [...] Stadien des erhabenen und schönen Stils, endlich die Epoche des Verfalls durchlaufen hat, [...] im Gegentheil [...] einen neuen grossen Aufschwung genommen, für die Kunst der Zukunft eine neue grosse Perspective eröffnet hat. [...] Diese Unbegrenztheit der Entwicklung, begründet in der Unendlichkeit des Geistes [...]. Sie ist es, welche uns als das erste unterscheidende Merkmal deutscher Tonkunst entgegentritt.33
Ausschlaggebend für die „Unbegrenztheit der Entwicklung“ erschien für Brendel die spezifisch deutsche „Unendlichkeit“ oder ‚Tiefe‘ des „Geistes“: Deutschland eröffnete eine neue Zeit, und wird zum Träger des fortschreitenden Geistes; es zeigt darum eine werdende, in die Zukunft hinausgreifende, mächtig aus den Tiefen des Geistes hervordrängende Welt, und darum [...] den mächtigsten Aufschwung.34
Diese „Tiefen“ akzentuierte Brendel in der Gegenüberstellung Italiens und Deutschlands35 durch einen Vergleich zwischen „germanische[m] und romanische[m] Element“ auch musikalisch, indem er die Satztechnik deutscher Instrumentalmusik rühmte:36 32 Erich Reimer hat in seiner Studie Nationalbewußtsein und Musikgeschichtsschreibung in Deutschland 1800–1850 drei verschiedene Versuche der Musikgeschichtsschreibung dieses Zeitraumes beleuchtet. In seiner Analyse der Abhandlung Bemerkungen über die Ausbildung der Tonkunst in Deutschland im achtzehnten Jahrhundert (elfteilig, 1800/01 erschienen in der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung, 3. Jg.) von Johann Karl Friedrich Triest, der Schrift Über die Hauptperioden der schönen Kunst, oder die Kunst im Laufe der Weltgeschichte (Leipzig 1831) von Amadeus Wendt und Brendels Geschichte der Musik in Italien, Deutschland und Frankreich beobachtet Reimer die Tendenz, unter Einfluss des aufkeimenden deutschen Nationalbewusstseins den jeweiligen „‚Aufschwung der deutschen Musik‘“ (27) früher zu datieren. 33 Brendel, Geschichte der Musik (51875), 126. 34 Brendel, Geschichte der Musik (51875), 123. 35 Vgl. Schmidt, Politisierung der deutschen Musik, 17: „Der Musikschriftsteller beschrieb die Nationalcharaktere in der Musik als sich gegenseitig ergänzende Prinzipien, die in der von deutschen Komponisten geleisteten Synthese ihren entwicklungsgeschichtlichen Gipfel fanden. Dabei verknüpfte er den Fortschrittsgedanken mit der Vorstellung, daß künstlerische Höchstleistungen mit politischem Aufschwung, also mit national-staatlicher Macht, korrelierten.“ 36 Brendel, Geschichte der Musik (51875), 125: „Zu diesen confesionellen Unterschieden kommen die der gesammten Bildung und Nationalität noch hinzu. Das germanische und romanische Element ist das in der europäischen Bildung am meisten hervortretende, welches sich auch in
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In Italien sehen wir deshalb überwiegend das melodische Princip vertreten, während Deutschland das Land der Harmonie, der Polyphonie, des höheren Contrapuncts ist.37
Verwoben mit dem Nationalismus weist bei Brendel die Begrifflichkeit von der ‚Tiefe des deutschen Geistes‘ auf das geistesgeschichtliche Spannungsverhältnis, in dem sich seine Ausführungen zur Musikgeschichte bewegen. Auf der einen Seite befand Brendel sich in der historischen Tradition des aufklärerischen Geistes, auf der anderen Seite allerdings verschmolzen bei ihm unter nationalen Vorzeichen die Begriffe ‚Geist‘ und ‚Seele‘ gleichermaßen in der ihnen attestierten ‚Tiefe‘.38 Neben der tiefgründigen und komplexen Satztechnik ‚deutscher‘ Instrumentalmusik konnte so die seelische ‚Tiefe‘ des einfachen Liedes ebenfalls als typisch deutsche Gattung reklamiert werden: Italien huldigte dem rein Melodischen, während Frankreich in seiner Gesangsmusik sich durch den declamatorischen Wortaccent bestimmen liess, und Deutschland, das Land der Harmonie, polyphonische Schreibart bevorzugte, oder sich auf die innige, einfache Liedmelodie, auf den Ausdruck eines tiefen, in sich verschlossenen Innern, auf den Ausdruck der Empfindung ohne Rücksicht auf plastische Gestaltung, äussere Schönheit und Sangbarkeit concentrirte. [...] Deutschlands Kunst wurzelt in den Tiefen der Seele, und so sehen wir bei ihm das Streben nach Charakteristik und in Folge davon theils die innige, einfache Melodie als Ausdruck eines tiefen, noch unentwickleten Innern, theils harmonische Kunst und Vollstimmigkeit als Ausdruck grosser allgemeiner Stimmungen vorherrschend. Diese Innigkeit, diese Gemüthstiefe des deutschen Volkes ist es gewesen, welche es befähigte, die Basis für eine organische Einigung der genannten Stile zu werden, und den Mittelpunct der europäischen Musik zu bilden.39
Zwar betrachtete Brendel die Beiträge Frankreichs, Italiens und Deutschlands zur Entwicklung der Musik als sich ergänzende Kräfte,40 betonte aber den germanischen und romanischen Sprachen offenbart. Das germanische Element ist das subjective, in sich gekehrte, beschauliche, das romanische das nach aussen strebende, sinnliche. Jenes ist träumerischer, phantasiereicher, gestaltloser, dieses anschaubarerer, in fest begrenzten Umrissen zur Erscheinung kommend, plastischer. Jenes ist das Charakteristische der deutsche, dieses das der italienischen Tonkunst. Wie der Italiener in allen Lebensbeziehungen im engeren Zusammenhange mit der Natur lebt, der Deutsche sich mehr dem Gedanken hingiebt, so ist dies auch in der Tonkunst zu bemerken. Im Gefühle des Deutschen behauptet die geistige, in dem des Italieners die sinnliche Gewalt die Herrschaft.“ 37 Brendel, Geschichte der Musik (51875), 127. 38 Einen ähnlichen Austausch der Begrifflichkeiten erfuhr auch die Vokabel ‚Volksgeist‘, die sich um die Wende zum 20. Jahrhundert als ‚Volksseele‘ darstellte. 39 Brendel, Geschichte der Musik (51875), 367f. Brendel bezieht hier seine Ausführungen auf die Oper. 40 Brendel, Geschichte der Musik (51875), 127f: „Die deutsche und italienische Musik sind Gegensätze, auf der abstracteren Natur des Deutschen und der mehr sinnlichen des Italieners beruhend, Gegensätze, sich zu ergänzen berufen. [...] Auch Frankreich vertritt ein eigenthümliches Prinzip, obschon es zunächst nur die Stellung zwischen diesen Gegensätzen einzunehmen scheint. [...] So sehen wir bei ihm nicht jenes Gleichgewicht von Phantasie, Gefühl und Verstand, wie in
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zugleich die allumfassenden Fähigkeiten ‚deutschen‘ Musikschaffens, aus denen die ‚deutsche Vormachtstellung‘ auf musikalischem Gebietresultiere. Mit den Überlegenheitsvorstellungen deutschen Musikschaffens und der assoziativen Verbindung zwischen der ‚Tiefe‘ und Begriffen wie ‚Geist‘, ‚Seele‘, ‚Gefühl‘ und ‚Verstand‘ lieferte Brendel Mitte des 19. Jahrhunderts ein Repertoire, auf das sich vor allem nationalistische Kreise der weiteren Jahrzehnte beziehen konnten, so auch 1898 der Theologe und Musikhistoriker Heinrich Adolf Köstlin (1846–1907). Ausgehend von der Frage nach den „charakteristischen Grundzüge[n] der deutschen Musik“, als dem „unmittelbare[n] Ausdruck und Abdruck des deutschen Geistes“41 beschrieb Köstlin in dem Sammelband Das deutsche Volkstum eine „Tonkunst, die sich von derjenigen anderer Nationen dadurch unterscheidet, daß das Ideal, welches sie zu verwirklichen sucht [...] nach dem eigensten Bedürfen des deutschen Volkes, nach dem innersten Empfinden der deutschen Volksseele orientiert“ sei.42 An der Darstellung seiner Vorgänger orientiert, waren Köstlins Erörterungen darüber hinaus von den Vokabeln ‚Individualismus‘ und ‚Idealismus‘ geprägt.43 Den Begriff der ‚Individualität‘ lehnte er hierbei an die im 18. Jahrhundert entstandene Denkfigur der ‚Originalität‘ an.44 Diese trug auch bei Köstlin nationale Züge. Während er auf der einen Seite von universal verfügbaren musikalischen Formen ausging, sah er in der „geistigen Seite“ der Musik die jeweiligen individuellen Merkmale einzelner Komponisten verwirklicht: Deutschland, wir haben nicht jene plastische Schönheit, wie in Italien. [...] Die französische, deutsche und italienische Musik sind als ein wesentlich Zusammengehöriges zu betrachten. Jedes dieser Länder hat eine bestimmte Seite der Tonkunst zur Darstellung gebracht, jedem ist eine bestimmte Aufgabe übergeben, und wir haben die Anschauung von sich wechselseitig ergänzenden, zusammen ein grosses Ganzes bildenden Kunststilen in der europäischen Musik.“ 41 Köstlin, Deutsche Tonkunst (1898), 527. 42 Köstlin, Deutsche Tonkunst (1898), 527. 43 Der ‚Individualismus‘ und der ‚Idealismus‘ sind bei Köstlin entgegen seiner begrifflichen Trennung zwei sich überschneidende Vokabeln in der Konnotation von nationaler ‚Substanz‘. Individualismus wird als ‚Geist‘ und ‚Verinnerlichung‘ apostrophiert, Idealismus meint eine „seelisch-ethische Vertiefung“ (532): „So würden sich als die Grundzüge der deutschen Musik die folgenden bezeichnen lassen: in erster Linie steht der ausgesprochene Individualismus, vermöge dessen dem Deutschen die Tonkunst vor allem Ausdruck und Abdruck der bewegten Innerlichkeit, Sprache des Geistes, Selbstmitteilung der Persönlichkeit ist [...]. Sodann ist zu nennen, was damit eng zusammenhängt: jener hohe, oft herbe Idealismus, der das Hauptgewicht auf die geistige, die poetische, die prophetische Seite der Tonkunst legt, und, wenn er die Wahl zwischen dem Schönen und Bedeutenden hat, schließlich immer das letztere vorzieht; eher noch Mängel der Form als Inhaltslosigkeit und Gedankenleere verträgt; lieber noch sich eine gewisse musikalische Zugeknöpftheit gefallen läßt, als nichtssagende Vielgeschwätzigkeit.“ 44 Vgl. hierzu Dahlhaus, Nationale und übernationale Musikgeschichtsschreibung, 14: „Die Originalität, die man seit dem ‚Sturm und Drang‘ von einem Komponisten erwartete, verstand man, was oft verkannt worden ist, zugleich und ineins als individuell und als kollektiv geprägt: und zwar darum, weil man die ‚Ursprünglichkeit‘, das zweite Begriffsmoment der Originalität neben der Neuheit, als ethnisch bestimmt oder gefärbt interpretierte.“
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Nach dieser ihrer geistigen Seite ist die Musik unter allen Künsten die individuellste. Denn Zeugnis der Anteilnahme des Geistes an die Hervorbringung der tönend bewegten Form, der einfachsten wie der kunstvollsten, ist diese genau in dem Maße, als sie das Gepräge des Individuellen und Originalen an sich trägt, nicht bloße Wiederholung oder Nachahmung, sondern eine originale, einzigartige Gestaltung der Form darstellt.45
Die Verbindung dieser individuellen Einzigartigkeit mit nationalen Momenten erläuterte Köstlin in Zusammenhang mit dem musikalischen Rezeptionsvermögen: Die Musik Beethovens kann in ihrer musikalischen Einzigartigkeit und Größe sicherlich auch von dem Italiener, von dem Franzosen, von dem Engländer, von dem Russen verstanden und gewürdigt werden. Das Innerste, der Kern der Beethovenschen Künstlerindividualität, damit das tiefste Wesen seiner Musik enthüllt sich jedoch [...] zuletzt nur dem germanischen Geiste. [...] Beim liebevollsten Eingehen auf Beethovens musikalische Eigenart, bei der sorgfältigsten Analyse seines tonkünstlerischen Schaffens wird dem Nichtdeutschen doch immer ein Rest übrigbleiben, den er nicht aufzulösen vermag, mit dem er sozusagen innerlich nicht fertig werden kann, dessen Vorhandensein er natürlich wohl bemerkt und als Ausfluß der deutschen Eigenart erkennt, [...] vielleicht sogar als deutsche Schrulle, als deutschen Spiritualismus oder Mystizismus empfindet, [...] während dem Deutschen, vorausgesetzt, daß er überhaupt den Beethovenschen Geist zu erfassen vermag, sich gerade darin das Tiefste, Innerste, Eigneste, der Kern von Beethovens Individualität, das Geheimnis seiner musikalischen Persönlichkeit offenbart.46
Die ‚Tiefe‘ der deutschen Musik als ethnisch fundierte Individualität spiegelt sich hier in den Fähigkeiten zur ‚nationalen‘ Rezeption einer nach diesen Kriterien exklusiven Gemeinschaft. In seinen Bestrebungen, das ‚Eigene‘ des deutschen ‚Volkstums‘ zu definieren und gegen das ‚Fremde‘ abzugrenzen, setzte Köstlin einen weiteren Schwerpunkt seiner Ausführungen auf die „Verdeutschung fremder Formen“.47 Hier fand er nicht ohne Kritik ein spezifisches Charakteristikum der deutschen Musikgeschichte:
45 Köstlin, Deutsche Tonkunst (1898), 529. 46 Köstlin, Deutsche Tonkunst (1898), 529. 47 Köstlin, Deutsche Tonkunst (1898), 536. Als spezifisch ‚deutsche‘ Formen erscheinen Adolf Köstlin, ähnlich wie schon Franz Brendel und anderen Autoren, das durch Schubert geprägte ‚deutsche‘ Lied und die Instrumentalmusik Beethovens (535f): „So werden uns die typischen Vertreter des Deutschen in der Tonkunst vor allem unter den Meistern des Liedes, unter den Meistern der Instrumentalmusik, und hier wieder unter den Meistern der Symphonie begegnen. Denn in diesen Formen kommt das Wesen des deutschen Kunstgeistes zu[r] vollsten Geltung und zur schärfsten Ausprägung. [...] Verinnerlichung und Vertiefung, ausgeprägter Individualismus und rücksichtsloser Idealismus [...], die individuelle Beseelung der Tonsprache, die Vergeistigung und ethische Vertiefung des Kunstideals.“ Seine Aufzählung ergänzte Köstlin schließlich noch mit dem „Musikdrama“, um dem Kanon ‚deutscher‘ Komponisten Wagner hinzufügen zu können.
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Auch für die deutsche Tonkunst ist dieser Zug der Weltoffenheit zuweilen recht verhängnisvoll geworden, wenn er zum kritiklosen Kultus des Fremden, zur thörichten Ausländerei wurde, [...]. Was jedoch der deutsche Geist davon sich wirklich und dauernd aneignete, das war immer nur das ihm innerlich Verwandte und seinem Wesen Entsprechende, das mit dem Eigenenen so in eins verschmolz, daß es aus dem Angleichungsprozeß hervorging als Neues zwar, aber doch nicht als ein Fremdes, sondern als ein Ureigenes.48
An Köstlins Idee der „Verdeutschung“ konnte Friedrich von Hausegger drei Jahre später mit seiner Gleichsetzung von ‚deutscher Musik‘ und Musik überhaupt anknüpfen:49 Gerade wenn wir [...] die Musik ins Auge fassen, so leuchtet ein, daß, wenn der Deutsche nicht so bereitwillig alle fremden Anregungen in sich aufgenommen und in der produktiven Werkstätte seines Geistes zu etwas ungeahnt Neuem verarbeitet hätte, das schließlich das Endergebnis der Entwicklung unserer Tonkunst nicht das hätte sein können, auf das wir heute mit Recht so stolz sein dürfen: daß nämlich Musik im höheren Sinne des Wortes und deutsche Musik geradezu Wechselbegriffe geworden sind. Ernst und Innerlichkeit auf der einen, Universalität auf der anderen Seite, das sind die beiden Genien, die den Werdegang unseres Volkes wie auf allen Gebieten, so vor allem auf dem der ihm eigensten Kunst, der Musik geleitet haben.50
In dieser Vertauschung der zugeschriebenen Attribute wird hier, wie schon in Anklängen 1851 bei Franz Brendel, die Universalität unter nationalem Überlegenheitsdenken zum spezifischen Kennzeichen der ‚deutschen‘ Musik. In Hauseggers Darstellung ist Musik eben nicht die internationale Sprache, sondern universales Symbol des ‚deutschen‘ „Wesen[s]“.51 Hierbei konnte er den universalen Überlegenheitsanspruch Deutschlands auf musikalischem Gebiet direkt auf die im 19. Jahrhundert entwickelte Begrifflichkeit des geheimnisvoll-abstrakten Wesens ‚deutscher Seelentiefe‘ beziehen: Spreche ich von deutscher Tonkunst, so soll damit nicht bloss eine Unterscheidung von der Tonkunst andrer Völker, etwa der antiken oder der italienischen u.s.w. betont, es soll auch gekennzeichnet werden, dass wir gerade in der Tonkunst eine Offenbarung des tiefsten Wesens der deutschen Seele zu erkennen haben, wie sie entsprechender und erschöpfender auf keinem anderen Geistesgebiet zu finden ist, – ja dass es überhaupt nur dem deutschen Geiste gelingen konnte, die Tonkunst zur Höhe ihrer heutigen Entwicklung emporzuheben, so dass, wenn wir von ihr als der höchsten Blüte abendländischen Kulturlebens sprechen, wir damit zugleich aussagen, dass der deutsche Geist es gewesen ist, der ihrer Entwicklung sein Gepräge gegeben hat.52 48 Köstlin, Deutsche Tonkunst (1898), 536. 49 Hausegger, Unsere deutschen Meister. Bach, Mozart, Beethoven und Wagner (1901). 50 Hausegger, Unsere deutschen Meister (1901), 243. 51 Für einen qualitativen Veränderungsprozess in der Symbolisierung des ‚deutschen Wesens‘ durch die Musik scheint in diesem Kontext auch die emphatische Betonung des Personalpronomens ‚wir‘ zu sprechen. 52 Hausegger, Unsere deutschen Meister (1901), Vorwort des Verfassers, X.
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Markierte der Erste Weltkrieg einen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Einschnitt in der europäischen Geschichte, konnte doch in der Musikliteratur der 20er Jahre unmittelbar an die Zuschreibungen des ‚Deutschen‘ in der Musik und an die Denkfigur der ‚Musik als deutschen Kunst‘ angeknüpft werden. Die Niederlage Deutschlands und die, von weiten Kreisen der Gesellschaft empfundene ‚nationale Demütigung‘ durch den Versailler Vertrag, sollte so zumindest in der proklamierten Überlegenheit der deutschen Nation auf musikalischem Gebiet relativiert werden.53 In der programmatischen Musikgeschichte Deutsche Musik auf geschichtlicher und nationaler Grundlage dargestellt von Hermann von der Pfordten,54 wie in einer Vielzahl anderer Veröffentlichungen der Zeit, zeigen sich eben jene, im 19. Jahrhundert entwickelten Elemente der Denkfigur einer ‚Musik als deutsche Kunst‘. In seinem Vorwort auf den Ersten Weltkrieg verweisend, sah von der Pfordten eine historische Verantwortung seines Vorhabens als Teil eines nationalen ‚Überlebenskampfs‘, in dem der Musik eine zentrale Rolle zugedacht wurde: Deutsch zu werden ist uns erst im Lauf der Jahrhunderte gelungen; viel Mühe, viel Kampf und Arbeit hat es gekostet. [...] Denn der deutsche Geist war es, der die unerträgliche Überlegenheit schuf, von deren Druck unsere Feinde sich befreien wollten. [...] Solange wir Deutsche sind, deutsch denken und fühlen, von deutschem Geist beseelt und getragen bleiben, können wir nicht untergehen.55
Musik als direktes Symbol nationaler Identität in einer Zeit des erstarkenden Nationalismus wurde bei von der Pfordten zu einem pathetischen Heilsversprechen: [...] lassen wir uns nur von unsern Meistern an der Hand nehmen: sie führen uns heraus aus dem Schatten ins helle Sonnenlicht. Stufenweise dringen wir empor, wenn wir nur festen Grund und Boden unter den Füßen haben, bis wir des ganzen reichen Besitzes sicher und froh werden. Dann werden wir stolz und freudig sagen: ob klein, ob groß, Deutsche sind sie alle. Und dann werden wir dankbar und glücklich sein, daß wir unsere deutsche Musik haben, und mit vollem Ernst der Verpflichtung uns bewußt bleiben, diesen Hort des Deutschtums zu wahren für alle Zeit, gegen jeden äußeren und inneren Feind, gegen jeden Zweifel und jede Anfechtung [...].56
53 Pamela M. Potter, Versuche, ein ‚Deutschtum‘ in der Musik zu definieren, in: dies., Die ‚deutscheste‘ der Künste, 254f: „Die Musik behauptete sich weiterhin als zentrales Charkteristikum der deutschen Nation, vor allem nach dem Ersten Weltkrieg. Für viele Deutsche hatte der Krieg die kulturellen und geistigen Differenzen zwischen Deutschland und den ihm verfeindeten Völkern in hellstes Licht gerückt [...]. Dem Bedürfnis, die Tiefe des deutschen Charakters zu verstehen, um sie der vermeintlichen Oberflächlichkeit und geistigen Armut der Feinde, besonders der Franzosen, entgegenzusetzten, wurde damit neue Nahrung gegeben. “ 54 Vorwort datiert 1920. 55 Pfordten, Deutsche Musik (1920), 1. 56 Pfordten, Deutsche Musik (1920), 11.
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Auf diese Funktionalisierung der Musik als Emblem nationaler Identität und Überlegenheit, ausgeschmückt mit affirmativen Attributen, bezogen sich nicht nur weite Kreise der völkisch-konservativen Musikpublizistik und Musikliteratur der Weimarer Republik, auch das musikpolitische Konzept des Nationalsozialismus rekurrierte darauf. Die emphatische Betonung der ‚Tiefe‘ deutschen Musikschaffens stand zwar angesichts der Konsolidierung eines dezidiert nationalsozialistischen Staats unter völlig anderen Voraussetzungen als zur Zeit der Weimarer Republik. In den Grundlagen dieser Denkfigur jedoch konnte sich – im Rahmen der nationalistischen Position – auf eine Tradition in der Musikliteratur des 19. Jahrhunderts berufen werden. Hier finden sich, wie die Gegenüberstellung mit dem Musikschrifttum des 18. Jahrhunderts illustriert, die Anfänge des Begriffs der ‚Tiefe‘ als nationales Charakteristikum. Nicht die ursprüngliche Eigenart steht bei den jeweiligen Zuschreibungen zu den einzelnen ‚Nationalstilen‘ im 18. Jahrhundert im Vordergrund, sondern sie liefern vielmehr ein Panorama der unterschiedlichen musikalischen Stile. Die von Scheibe und Quantz konstatierte ‚Nachahmung‘ und ‚Vermischung‘ als Kennzeichen einer ‚deutschen‘ Musik wird im 19. Jahrhundert umgedeutet. Mit dem Begriff der ‚Tiefe‘ als positivem Kriterium ‚deutscher‘ Musik tritt eine qualitative Veränderung ein. In Kontakt mit dem deutschen Nationalbewusstsein im Zuge nationalstaatlicher Einigungsbestrebungen lassen sich im Musikschrifttum des 19. Jahrhunderts drei unterschiedliche Thesen extrahieren: das Spezifikum einer sowohl kompositorisch-komplexen als auch abstrakt-‚innerlichen‘ Tiefe der deutschen Musik, der Überlegenheitsanspruch deutschen Musikschaffens und eine an die deutsche Nation gekoppelte Rezeptionsfähigkeit. In ihrer jeweiligen Entwicklung im 19. Jahrhundert werden diese drei Thesen argumentativ miteinander verwoben und dienen sich gegenseitig zur Beweisführung. Im Kontext mit der Annahme einer nationalen ‚Substanz‘, wie sie schon in der im 18. Jahrhundert geprägten Vokabel der ‚Originalität‘ angelegt ist, wird die Musik als Symbol der nationalen Identität konstituiert. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erscheint so die ‚Tiefe‘ als Gegenfigur zu einer negativ konnotierten ‚Oberflächlichkeit‘ und ‚Nachahmung‘, die beide – wie zu zeigen sein wird – in ein dichotomes System eingeflochten mit unterschiedlichsten außermusikalischen Schlagwörtern das Bild des ‚Juden in der Musik‘ entscheidend prägten.
3. Die Musikliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts Musikliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts Musikliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts Entsprechend alttestamentlicher Beschreibungen der Musikalität der Könige David (1010–927) und Salomon (972–933) und dortiger Psalmenüberlieferungen entwickelte sich seit der Renaissance ein Schrifttum, das sich unter anderem mit der jüdisch-hebräischen Musikkultur beschäftigte.1 Als eine der Musikkulturen des Altertums stand neben der griechischen und ägyptischen Musik die rituelle althebräische Musik sowie der Ursprung der Musik überhaupt im Vordergrund der Betrachtung. Das Ziel dieser Untersuchungen seit dem 16. Jahrhundert bestand vor allem in der Rekonstruktion der alten Tempelmusik und ihrer Instrumente anhand von Bibelbelegen. Zeugnis der alten hebräischen Musikkultur bildete für die jeweiligen Autoren neben der Bibel allerdings auch die zeitgenössische Synagogalmusik. Wurde diese mit der althebräischen Musik verknüpft, entstand die Idee der Unveränderlichkeit und Homogenität einer ‚jüdischen Musik‘, die mit zeitspezifischen Ressentiments gegenüber den Juden ausgeschmückt werden konnte. Lässt sich angesichts der jüdischen Geschichte, sowie der daraus resultierenden jeweiligen nationalen und regionalen Entwicklungen der jüdischen Musik in der Diaspora allenfalls eine Vielfalt der musikalischen Äußerungen in den unterschiedlichen jüdischen Musikkulturen konstatieren,2 verweist gerade der überzeitliche, pauschalisierende Aspekt in dem Begriff ‚jüdische Musik‘ auf die Problematik der vorliegenden Arbeit.3 Für die verschiedenen Autoren stellte sich die ‚jüdisch-hebräische Musik‘ bis in das 19. Jahrhundert hinein in erster Linie als fremd empfundene synagogale Praxis der in Deutschland lebenden Juden dar. Unter Einwirkung allgemeiner judenfeindlicher Vorstellungen schrieben sie den Juden in ihren Schilderungen der Psalmengesänge, Bibel-Kantillationen und anderen oral tra1 Vgl. die Bibliographie von Johann Nikolaus Forkel (Litteratur der hebräischen Musik, in: ders., Allgemeine Geschichte der Musik [1788], 173–184) sowie die Bibliographie von 4000 Schriften über jüdische Musik zusammengetragen 1951 durch Alfred Sendrey (Bibliography of Jewish Music). 2 Vgl. Hannoch Avenary, Einleitung des Artikels Jüdische Musik (in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 1511–1519) sowie Alphons Silbermann, Artikel Jüdische Musik (in: Neues Lexikon des Judentums, 328f). 3 Aus diesem Grund wird die Formulierung ‚jüdische Musik‘ im vorliegenden Text dann in Anführungszeichen gesetzt, wenn bei den hier zitierten Autoren die undifferenzierte Vorstellung einer einheitlich imaginierten ‚Musik der Juden‘ vorliegt oder dieser Ausdruck mit anti-judaistischen Stereotypen aufgeladen ist.
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dierten Gesängen einen Katalog negativer Attribute zu, der durch die Jahrhunderte hindurch eine Überlieferung, Erweiterung und Festlegung erfuhr. Ausgangspunkt bildete das Vorurteil der schöpferischen Unfruchtbarkeit der Juden, das in seiner Entstehung nicht genau festzulegen ist. Möglicherweise hat es einen frühen Anfang in der mittelalterlichen christlichen Theologie, die den Ursprung des Christentums im Judentum sah. Durch den Bund zwischen Gott und Moses wurden die Juden zum auserwählten Volk, die den Christen das Alte Testament überbracht hatten, da sie es in seiner Ursprache, dem Althebräischen lesen konnten. Gleichzeitig aber galten die Juden als schuldig am Tod Jesus Christus und dementsprechend fand eine strikte Trennung von vor- und nachchristlichem Judentum statt. Das vorchristliche Judentum galt der Theologie als Vorform des Christentums, während die nachchristlichen Juden als blinde Bücherträger angesehen wurden, die zwar den Wortlaut der heiligen Schrift den Christen vorzutragen vermochten, aber deren Gehalt nicht begreifen konnten:4 Von Anfang an mußte das Christentum, das ja das Alte Testament anerkannte, bemüht sein, sich vom ‚auserwählten Volk‘ dieses Teils der Bibel abzugrenzen. Es mußte beweisen, daß Jesus die Erfüllung und Überwindung des Alten Testaments sei. Die Gefahr, daß man das Alte Testament als wörtlich verpflichtend ansah, blieb bestehen [...].5
Da die Juden das Alte Testament als „wörtlich verpflichtend“ ansahen und damit zu einer theologisch legitimen Konkurrenz des Christentums wurden, musste ihnen von christlicher Seite ein eben nur ‚wörtliches‘ Verstehen unterstellt werden. Angeblich fehle damit den Juden die Fähigkeit, abstrakt denken zu können und eine schöpferische Kraft zu besitzen. Sie galten als ‚geistig unfruchtbar‘ und ‚unkreativ‘. In der Übertragung derlei kirchlich geprägten anti-judaistischen Vorstellungen vom unschöpferischen Judentum scheint ein Aspekt zu liegen, der den Vorwurf der musikalischen ‚Nachahmung‘ und ‚Übernahme‘ der Musik anderer Völkern schon im Musikschrifttum des 18. Jahrhunderts entstehen lässt. Wie zu zeigen sein wird, sind darüber hinaus andere Elemente einer Idee vom ‚fremden Juden‘ bereits in den Musikpublikationen des 18. und 19. Jahrhunderts geprägt worden6 und fanden ihren Eingang in die 4 So etwa in der Judenpredigt des Heiligen Augustinus. Vgl. Eckert, Antisemitismus im Mittelalter, in: Ginzel, Antisemitismus, 72f. 5 Graus, Judenfeindschaft im Mittelalter, 37f. 6 Nachfolgende Quellentexte wurden anhand des Artikels Jüdische Musik (Hannoch Avenary/ Judith Cohen/Edith Gerson-Kiwi/Joachim Braun, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart) und Hohenemser/Ewen, The Jew in German Musical Thought zusammengetragen. Während der MGG-Artikel nur am Rande auf die ideologische Prägung der jeweiligen Texte eingeht, findet sich bei Hohenemser und Ewen eine kursorische Zusammenstellung unter dem Aspekt judenfeindlicher Implikation, aber aufgrund der Quellenfülle fehlt eine detaillierte Betrachtung.
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dezidiert antisemitisch gefärbte Musikliteratur seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.7 Eine der ersten deutschsprachigen Abhandlungen über die Geschichte der Musik legte 1558 der Theologe und Historiker Cyriacus Spangenberg (1528–1604) vor.8 In Übereinstimmung mit der theologischen Auffassung seiner Zeit sah er in seiner Schrift die vorchristlichen Juden als Erfinder der Musik und als Lehrer der anderen Völker an. Die Bedeutung der althebräischen Musik grenzte er allerdings scharf von der zeitgenössischen synagogalen Vokalrezitation ab: [...] Eß ist aber leichtlich Zu muetmaßen, Daß Ihre Musica nicht ein solche Confus unnd ungeschickt werckh gewesen, Allß der ietzigen Juden Ellendt geheul, geschrey, unndt geplerre In Ihren Schulen unnd Synagogen [...].9
Gemäß der Kirche, die den Einfluss der Synagogen unterbinden wollte, erschien neben dem jüdischen Ritus generell zugleich die damalige Synagogalmusik dem Autor als unwürdig. Gemessen an der christlichen Liturgie blieb für Spangenberg sowohl der Synagogalgottesdienst als auch die dortige Musikpraxis fremd und vor allem einem Gottesdienst unangemessen.10 Sie war ihm eher emotionale Lautäußerung denn Musik und hatte mit der von Spangenberg hochgeschätzten althebräischen Tempelmusik nichts gemein. In Unkenntnis der Bedeutung ihrer musikalischen Vorläufer fiel so der Verlust dieser Tradition implizit auf das zeitgenössische Judentum zurück. Mit der Ansicht, dass die althebräische Musik die älteste und ursprünglichste Musik sei und sich vor allem in der vokalen Bibelrezitation mit ihrer Akzentschrift erhalten habe,11 entwickelte sich zu Beginn des 18. Jahrhun7 Wenn im Folgenden einzelne aus dem Zusammenhang gegriffene Textpassagen unterschiedlichster Autoren angeführt werden, bleibt dabei Kontext in dem die Zitate entstanden sind, notwendigerweise nur fragmentarisch betrachtet. Jedes Schreiben über Musik weist auch auf die jeweiligen Musikvorstellungen des einzelnen Autors und seiner Zeit hin. Diese im Einzelnen zu beleuchten, würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit überschreiten. Als Elemente und Vorformen einer Struktur anti-judaistischen und antisemitischen Denkens im deutschen Musikschrifttum werden die Textpassagen weniger hinsichtlich ihrer Gesamtaussage, sondern nach dem ideologischen Gehalt ihres Judenbildes bzw. ihres Bildes von einer ‚hebräisch-jüdischen‘ Musik befragt. 8 Spangenberg, Von der edlen und hochberühmten Kunst der Musica, und deren Ankunft, Lob, Nutz und Wirkung, auch wie die Meistersinger aufkommen vollkommener Bericht. 9 Spangenberg, Von der edlen und hochberühmten Kunst der Musica (1558), 57. 10 Dass diese Auffassung zum allgemeinen judenfeindlichen Denken des 17. Jahrhunderts gehörte, zeigt das Gutachten eines Pastors gegen den Bau einer sephardischen Synagoge in Hamburg von 1649 (zit. nach Günter Böhm, Die Sephardim in Hamburg, 25): „Es werden ihre Synagogen allhie mit silbernen, köstlichen Lampen gezieret, auf etliche 1000 Rthlr. an Werth, darin treiben sie gross Heulen, Plärren, Grunzen“. 11 Vgl. etwa die Untersuchung zur Bedeutung der Akzente im gesungenen Bibelvortrag von Johannes Reuchlin (De accentibus et orthographia linguae Hebraicae, Hagenau 1518). Ähnlich äußerte sich auch der jesuitische Gelehrte Athanasius Kircher (1602–1680) zu den Akzenten und Betonungen im althebräischen Bibeltext (Musurgia Universalis, sive ars magna consoni et dissoni, Rom 1650). Zu Kircher vgl. Hohenemser, The Jew in German Musical Thought before the Nine-
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derts ein Musikschrifttum, das die enge Beziehung zwischen der hebräischen Sprache und der althebräischen Musik zu betrachteten suchte. In diesem Zusammenhang sprach sich auch Johann Mattheson in seiner Einleitung vom Verfall der Music des Textes Das neu-eröffnete Orchestre12 vehement gegen das Hebräisch aus: Es lautet ja sehr tröstlich / wenn hie und da ein fast verlöschtes Licht der Welt / ein videtur, non est, durch seine blinde und dumme adorateurs den Leuten weiß machen läßt: Es könne / ohne die Hebräische Sprache zu verstehen / keiner componiren. [...] Und / lieber GOtt / wenn man dergleichen Hebräische Gasconaden beym Licht besiehet / so lauffen sie bloß auf etliche wenige / zerstümlete und errahtene Antiquitäten aus / die gar keine arcana sind / und dabey zur heutigen Composition eben so nütz / als das fünffte Rad am Wagen / wenn einer auch gleich alle Rabbiner auswendig wüste.13
Mattheson vertrat die generelle Auffassung, dass sich eine Musikfertigkeit und -fähigkeit nicht erst durch die Kenntnis des Altertums erschließe. Die hebräische Sprache als Symbol dieses Altertums nahm Mattheson zum Anlass, um sich gegen die veraltete hebräische Musik auszusprechen. Ihr Einfluss auf die zeitgenössische Synagogalmusikpraxis war seiner Meinung nach nur jüdische Prahlerei und angesichts der Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion althebräischer Musik fehle diesem Zusammenhang jegliche Grundlage aber auch jedes Geheimnis. Die hebräische Musik, wie auch die teenth Century, 64f: „Unlike Augustine and the Church Fathers, he did not regard post-Christian Judaism as something dead and sterile. He was particularly interested in the problem of Accents, and the differences manifested in their treatment by the diverse Jewish communities of various countries. [...] In his view the Accents were an innovation belonging to a later Period of Jewish history.“ Neben Bibelstellen nutzte Wolfgang Caspar Printz (Historische Beschreibung der Edelen Sing- und Kling-Kunst / in welcher Deroselben Ursprung und Erfindung / Fortgang / Verbesserung / unterschiedlicher Gebrauch / wunderbare Würckungen / mancherley Feinde / und zugleich berühmteste Ausüber von Anfang der Welt biß auff unsere Zeit in möglichster Kürtze erzehlet und vorgestellt werden / aus Denen vornehmsten Autoribus abgefasset und in Ordnung gebracht [1690]) die Abhandlung Kirchers und widmete sich in den Kapiteln zwei bis vier (Von Denen berühmtesten Erfindern und Ausübern der Music, welche nach der Sünd-Fluth bis auff die Zeiten der Jüdischen Könige Davids und Salomons gelebet haben, 8–26; Von Denen Musicalischen Instrumenten der Hebräer / so zu Davids und Salomonis Zeiten im Gebrauch gewesen., 26–33; Erörter die Frage: Ob die Music zu denen Zeiten Davids und Salomons ‚Figural‘, und unsere heutiges Tages gebräuchlichen Music gleich / oder ob sie ‚Choral‘, oder der heutigen Music ganz unähnlich gewesen sey?, 34–43) der althebräischen Musik und ihrer Instrumente, die er der Musik seiner Zeit gleichgestellt sah, sie allerdings anders als Spangenberg nicht in Bezug zur zeitgenössischen Synagogalmusik setzte. In diesem Kontext ist auch Johann Christoph Speidel zu nennen, der in seiner Studie Unverwerfliche Spuren von der alten Davidischen Singkunst, nach ihren deutlich unterschiedenen Stimmen, Tönen, Noten, Takt und Repetitionen (Stuttgart 1740) anhand der Psalmen eine Rekonstruktion der althebräischen Musik versuchte. 12 Mattheson, Das neu-eröffnete Orchestre, oder die gründliche Anleitung, wie ein ‚galant homme‘ einen vollkommenen Begriff von der Hoheit und Würde der edlen Musik erlangen möge (1713). 13 Mattheson, Das neu-eröffnete Orchestre (1713), 6f.
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Musik des Altertums an sich, erschien Mattheson überschätzt, zumal sich in der zeitgenössischen Synagogalmusik nur ein Rudiment dieser erhalten haben könne: Was man heutigen Tages bey den Juden höret, ist so aus der Art geschlagen, und von einer wahren Melodie abgewichen, daß man darin weder Geschmack noch Artigkeit mehr findet. [...] Hebräische Raritäten wollen zwar von einigen aufgewiesen werden, als ob solche aus dem Alterthum herstammeten; allein sie sehen gar nicht darnach aus.14
Auch gegen eine Überschätzung der alttestamentlichen Instrumente, die er als „andächtige Hackbretter“ und die „lausichten Werckzeuge“15 bezeichnete, sprach sich Mattheson aus, da die althebräische Musik bei ihm nur als Emblem für die Musik des Altertums allgemein fungierte. Seiner Ansicht nach habe eine Beschäftigung mit den Vorformen abendländischen Musizierens für die zeitgenössische Musikpraxis keine Relevanz: Man mercke sich die mißgünstige Zeit / die leider nicht zuläst / daß man auch nur ungefehr wissen könne / worinn solche Music bestanden /[...] Allen vernünfftigen Betrachtungen nach / stehet zu glauben / daß diese uhralte Musica Practica [...] sie sey nun Hebräisch / Syrisch oder Chaldeisch / Samaritanisch / Arabisch / Aetiopisch / Griechisch ec. gegen der heutigen zu rechnen ein simples elendes und kahles Wesen begriffen habe /[...].16
Zwar lässt sich festhalten, dass bei Mattheson die hebräische Musik nur als Stellvertreter für die Musik des Altertums benutzt wurde und seine Ablehnung der Synagogalmusik in einer generell negativen Haltung zur Kirchenmusik in Anbetracht der wachsenden Bedeutung der Opernhäuser stehen mag, seine Ausführungen sind jedoch in anderer Hinsicht sehr aufschlussreich. Nicht nur auf die rituelle Musik bezogen, dokumentieren sie eine assoziative Verknüpfung von hebräischer Sprache und Musik, die in der Folgezeit vor allem durch den Kontakt mit den Musikvorstellungen der 14 Mattheson, Der Musicalische Patriot, welcher seine gründliche Betrachtungen, über Geistund Weltl. Harmonien, samt dem, was durchgehends davon abhänget, In angenehmer Abwechselung zu solchem Ende mittheilet, Daß Gottes Ehre, das gemeine Beste, und eines jeden Lesers besondere Erbauung dadurch befördert werde (1728), 38f. In seinen Betrachtungen zur Kirchenmusik verwies Mattheson an dieser Stelle schon sehr früh auf den Ursprung des Gregorianischen Gesangs in der jüdischen Musiktradition (38): „Calvör stehet in den Gedancken, daß die alte Gregorianische Music eine Nachahmung der ältern Hebräischen sey, (per me licet) [...]. Wahrscheinlich ist es, daß Moses und Miriam weit mehr von der Figural-Music verstanden haben, als der Papst Gregorius. [...] Doch folget daraus nicht, daß die alten Juden (vielweniger die neuen) es mit der Figural-Music so weit gebracht haben sollten, als wir Christen.“ Der Klausthaler Generalsuperintendent Casper Calvör (1650–1725) verfasste zwei musikliterarische Abhandlungen (De musica ac singillatim de ecclesiastica eoque spectantibus organis [Leipzig 1702] und Rituale ecclesiasticum [Jena 1705]). 15 Mattheson, Das neu-eröffnete Orchestre (1713), 7. 16 Mattheson, Das neu-eröffnete Orchestre (1713), 7f.
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Romantik als ein Element des Topos des Juden im deutschsprachigen Musikschrifttum des 19. Jahrhunderts auftauchte.
3.1 Judenfeindliche Tendenzen in der Musikgeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts Musikgeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts Mit der Aufklärung entwickelte sich im 18. Jahrhundert eine neue Bedeutung und Form der Geschichtsbetrachtung. In der Konzentration auf Rationalität und Wissenschaftlichkeit wurden geschichtliche und kulturelle Errungenschaften als Leistungen in einem stufenweise fortschreitenden Entwicklungsprozess gefasst. Als Spitze dieses Prozesses wurde die Gesellschaft und Kultur des 18. Jahrhunderts begriffen: Man sieht den Zusammenhang der verschiedensten Lebensgebiete in jeder Epoche und den mit jedem Jahrhundert wachsenden kulturellen Fortschritt. Daraus erwächst das Bedürfnis, die historische Entwicklung dieses Fortschritts bis zum Höhepunkt in der Gegenwart zu beschreiben. Da die ganze Geschichte zusammengehalten wird durch die Idee des unendlichen Fortschritts des Menschengeschlechts, so ergibt sich notwendigerweise die Bewertung der früheren Zeitabschnitte aus der Gegenwart.17
Unter dem Eindruck dieses aufklärerischen Geschichtsbewusstseins entstand auch eine neue Art der musikhistorischen Betrachtungsweise, welche die Gesamtgeschichte der Musik in drei Abschnitten darzustellen suchte: der Musik des Altertum, des Mittelalters und der Neuzeit. Dabei wurde versucht, diesen Abschnitten einen einheitlichen Gesichtspunkt oder eine bestimmte Frage überzuordnen, um die jeweilige Musikdarstellung in sich geschlossen und kohärent erscheinen zu lassen:18 Eighteenth-century histories of music were on the whole objective studies which attempted rational classification into neat divisions or stages.19
Vor allem zwei in England erschienene Musikgeschichten, die 1776 veröffentlichte Untersuchung A General History of the Science and Practise of Music von Sir John Hawkins20 und die im gleichen Jahr publizierte Darstel17 Elisabeth Hegar, Die Anfänge der neueren Musikgeschichtsschreibung um 1770, 26f. Vgl. auch Helmut Osthoff, Die Anfänge der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland, 100: „Das kulturphilosophische Leitmotiv, das für seine ganze Behandlung der Materie, für seine Urteile und Schlüsse von prinzipieller Bedeutung wurde, war der Gedanke der historischen Entwicklung zu immer höheren Stufen hinauf. Der Entwicklungsgedanke hat in der Philosophie von jeher eine Rolle gespielt. Er taucht in der Neuzeit bei Leibniz auf, gewinnt aber erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allgemeine Bedeutung.“ 18 Hegar, Die Anfänge der neueren Musikgeschichtsschreibung, 36. 19 Warren Dwight Allen, Philosophies of Music History. A Study of General Histories of Music 1600–1960, 85. 20 2 Bde., London 1776, 21853 (Reprint New York 1963), Bd. 2, Buch 3, Kap. 20/21, 93–101.
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lung A General History of Music21 von Charles Burney sind in diesem Zusammenhang zu nennen.22 Beide Werke hatten großen Einfluss auf die deutsche Musikforschung, wobei im Folgenden in erster Linie Charles Burney in seiner Sicht einer ‚Musik der Juden‘ näher beleuchtet werden soll. In seinen Texten finden sich erste Ansätze einer judenfeindlichen Tendenz und ihrer stilistisch-rhetorischen Mittel, welche mit ihrer Übersetzung auch eine Wirkung auf das deutschsprachige Musikschrifttum ausüben sollten. Schon 1771 kamen die Vorarbeiten zu Burneys Musikgeschichte in Form eines Reiseberichtes unter dem Titel The Present State of Music23 zur Veröffentlichung. Im zweiten Band der deutschen Ausgabe Tagebuch einer musikalischen Reise von 1773 findet sich eine ausführliche Schilderung seines Synagogenbesuchs in Amsterdam:24 Jede Art von Nationalmusik schien meiner Aufmerksamkeit werth zu seyn. Ich ging also nach der Synagoge der deutschen Juden in dieser Stadt, um zu hören, was es für Musik wäre, die sie bey ihrem Gottesdienste hätten, und in wie weit sie sich von der Musik andrer Synagogen unterschiede, wo ich in verschiedenen Gegenden Deutschlands Singen gehört hatte. So wie ich hinein trat, sang eben ein Rabiner einen Theil des Gottesdienstes in einer Art von alten Cantusfirmus, und die Gemeinde antwortete ihm in einer Art Gesange, welcher dem Sumsen der Bienen glich. Hierauf fingen drey von den süssen israelitischen Sängern, die, wie es scheint, hier sehr berühmt sind, und denen sowohl Christen als auch Juden nachlaufen, eine Art von lustiger neuer Melodie an zu singen, zuweilen im Einklange und zuweilen in mehr Stimmen, ohne Text, und mit Tra la la, welches mir komisch genug vorkam. Eine von diesen Stimmen war eine Fistel, die mehr Aehnlichs mit den höhern Tönen eines schlechten Voxhuma Registers in einer Orgel, als mit einer natürlichen Menschenstimme hatte. [...] und dieser Sänger konnte sich rühmen, daß er die Kunst besässe, nicht zu singen wie ein menschliches Geschöpf, sondern daß seine Stimme wie eine Nachäffung einer der schlechtesten Voxhumana klingen müßte. Einerley Verdienst ungefehr haben die 21 From the earliest ages to 1789, 4 Bde., London 1776–1789. 22 Auch andere frühe Musikgeschichten des 18. Jahrhunderts beschäftigten sich zum Teil sehr ausführlich im Kontext des Ursprungs der Musik mit der althebräischen Tempelmusik. So etwa Giovanni Battista Martini in seiner Storia della Musica von 1757–1781 (14–66 und 335–446) sowie Martin Gerbert, De Cantu Et Musica Sacra Prima Ecclesiae Aetate, Usque Ad Praesens Tempus (1774, Bd. 1, Kap. 1, 3–12). 23 Burney, The Present State of Music in France and Italy (Bd. 1), The Present State of Music in Germany, the Netherlands and United Provinces (Bd. 2 u. 3), London 1771–1773. 24 Vgl. Israël Adler, Synagogale Kunstmusik in Europa aus der Zeit vor der Emanzipation. Hebräische Gesänge und Kantaten, 249: „Die Nachkommen von ‚Maranen‘ aus der iberischen Halbinsel, die sich ab dem Ende des 16. Jahrhunderts in Amsterdam niederließen, schufen während des 17. Jahrhunderts eine der blühendsten jüdischen Gemeinden in Europa. Tief geprägt von einer Assimilation mehrerer Generationen in ihrem Heimatland [...], bewahrten sie nun, nachdem sie wieder praktizierende Juden geworden waren, die kulturellen und künstlerischen Formen ihres vorherigen Lebensstils. Daher fand auch ein intensives Musikleben seinen Raum im Gemeindeleben.“
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Sänger, welche bey ihrem Singen die Stimme zu einer Flöte oder Geige abwürdigen, und vergessen, daß sie von keinem Instrument Gesetze annehmen, sondern denselben Gesetze geben sollten. Die Zwote dieser Stimmen war ein alltäglicher Tenor und die Dritte ein Baritonon. Dieser letzte Sänger ahmte in seinen Accompagnements des Fistelsängers, einen schlechten Basson nach. Zuweilen hielt er einen Ton aus wie einen Dröhnbaß, und zuweilen machte er Triolen und Sechzehntheile auf einer Linie. So widrig indessen der Ton des Fistelsängers war, und so sehr er ihn auch zuweilen bis zum Quiken hinauf trieb, so gewiß hatt doch der Mensch gute Musik und gutes Singen gehört. Er hatte eine grosse Fertigkeit in geschwinden Läufen, und dann und wann mischte er solche geschmacksvolle Passagien darunter, die ungleich schöner waren, als das Uebrige. Am Ende eines jeden Satzes fing die Gemeinde ein Geschrey an, ungefehr wie eine Kuppel Hunde, wenn ein Fuchs durchgeht. Es war mehr ein verwirrtes Geheule und ein wüstes Gelärme, als ein Gebet oder Gesang. Indessen ist dieses eine Beschreibung und kein Tadel der hebräischen Musik bey Gottesdienstlichen Feyerlichkeiten. Mir ist unbegreiflich, was für eine Idee die Juden mit diesem Singsang verknüpfen mögen. Ich werde es also, an und für sich selbst, weder gut noch schlecht nennen; nur so viel muß ich sagen, daß es dem sehr ungleich ist, woran wir Christen in unsern Kirchen gewöhnt sind.25
Neben den Relativierungen seiner Kritik am Ende des Textes fällt bei Burney doch die Schärfe seiner Schilderung auf. Enttäuscht von der eingangs als „Nationalmusik“ definierten Synagogalmusik deutscher Juden in Amsterdam, galt ihm diese nicht als Musik im eigentlichen Sinn. Den Gesang der Gemeinde als „Geschrey“, „verwirrtes Geheule und wüstes Gelärme“ charakterisierend, ähnelte Burneys Vokabular dem Cyriacus Spangenbergs, der die Vokalpartien der jüdisch-rituellen Musik als ‚Ellendt geheul, geschrey, unndt geplerre‘ dargestellt hatte. Dabei akzentuieren die von Burney verwendeten Attribute wie „verwirrt“, „wüst“, „schlecht“, „alltäglich“ die ‚jüdische Unkenntnis‘ in musikalischen Dingen. Den Synagogalritus verunglimpft er durch Tiervergleiche („dem Sumsen der Bienen gleich“, „wie ein Kuppel Hunde, wenn ein Fuchs durchgeht“). Speziell diese jedoch zählen, neben Pflanzen- und Krankheitsmetaphern, in der polemischen Literatur seit dem 15. Jahrhundert zu einem festen Bestandteil judenfeindlicher Rhetorik. Mit derlei pejorativem Gehalt versehen, zeugen die Tiervergleiche in diesem Zusammenhang von der primitiven ‚Lauthaftigkeit‘ der Synagogalmusik und es bleibt dem Leser ebenso wie Burney um so unverständlicher, warum den „süssen, israelitischen Sängern [...] sowohl Christen als auch Juden nachlaufen“. Ebenso findet sich ein weiteres Element eines abwertenden Judenbildes in Burneys Text angelegt, dass der ‚musikalischen Nachahmung‘. Den Gesang der Solopartien kritisierend, warf er einer Stimme die „Nachäffung 25 Burney, Tagebuch einer musikalischen Reise (21775), Bd. 2, 237–240.
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einer schlechten Voxhumana“ vor. Der direkte Vergleich zwischen kirchlichem und synagogalem Gottesdienst mag sich für ihn aufgedrängt haben: um das Fehlen von Instrumenten in der gottesdienstlichen Praxis auszugleichen, müssen die Juden diese mit ihren Stimmen nachahmen.26 Burneys eigentliche Kritik, die der schlechten gesanglichen Ausführung der drei Vorsänger kann bei allen judenfeindlichen Untertönen seines Textes durchaus einen realen Hintergrund gehabt haben. Traditionell kam dem Psalmengesang des Vorbeters eine große Rolle in der Synagoge zu. Seit etwa dem 18. Jahrhundert wurde die Bedeutung dieser Solopartie durch zwei weitere Singstimmen, die teilweise begleitend, teilweise respondierend wirkten, hervorgehoben. Dies fand auch seinen Niederschlag in der rezitativen Praxis: Trotz der verhältnismäßigen Einfachheit des Synagogengottesdienstes gewann der Gesang darin immer mehr an Bedeutung. Der Vorbeter hatte die Aufgabe, durch stimmungsvollen Gesang die Gemeinde in der Andacht und im Gebet zu unterstützen, oder auch in dieser Hinsicht anzuregen. Gar oft haben die Vorbeter diesen Brauch dazu benützt, sich zu produzieren und entweder eigene Kehlfertigkeit oder eigene Kompositionsbegabung zu bekunden.27
In Burneys dreibändiger Musikgeschichte A general History of Music. From the earliest ages to 1789 ist der althebräischen Musik ein eigenes Kapitel28 gewidmet, das weitere Aspekte der judenfeindlichen Akzente im Musikschrifttum des 18. Jahrhunderts deutlich macht. Wie schon seine Vorgänger versuchte Burney eine Rekonstruktion der althebräischen Musik und ihrer Instrumente anhand von Bibelbelegen. Dabei kam er zu dem Schluss, dass die Hebräer sowohl ihre musikalischen Kenntnisse als auch ihre Instrumente von den Ägyptern entlehnten. Die so entstandenen Formen der althebräischen Tempelmusik charakterisierte er als aufdringliches Freudenoder Bitt-Geschrei: That they [the Hebrews] had their first music and instruments, whatever they were, from the Egyptians, appears to admit no doubt; but these seemed to have remained in a very rude state till the reigns of David and Solomon, when, perhaps, they were more improved in quantity than quality; for the great number of Levites, of singing men 26 Mit Ausnahme der jüdischen Gemeinde in Prag, die schon im 18. Jahrhundert eine Orgel in der Synagoge gehabt haben soll, wurde dieses Instrument erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch zum Teil sehr kontrovers diskutierte Reformbestrebungen in den deutschen Synagogen eingeführt. Vgl. Andor Izsák, ‚Niemand wollte mich hören...‘ Magrepha. Die Orgel in der Synagoge. 27 Aron Marko Rothmüller, Die Musik der Juden. Versuch einer geschichtlichen Darstellung ihrer Entwicklung und ihres Wesens, 90f. Diese Kantillation der Synagogalsänger wurde auch von jüdischer Seite zum Teil vehement kritisiert. Vgl. hierzu Alfred Sendrey, The ‚Hazzan‘, in: ders., The Music of the Jews in the Diaspora, 224–247. 28 Burney, The History of Hebrew Music, in: ders., A General History of Music, Bd. 1, 191–214.
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and singing women [...] could only augment the noisy cry of joy, or the clamour of petition.29
Eine wichtige Rolle kommt bei Burneys Urteil der hebräischen Sprache zu. Indem er sie verkannte, meinte Burney, diese habe wegen ihres Mangels an Vokalen einen schädlichen Einfluss auf die hebräische Musik: For if the Hebrew language had originally no vowels, it must have been very unfavourable to music: and [...] instead of the clear and open vowels of other languages, must have corrupted sound, which, by the difficulty of producing it from such harsh words, would, of necessity, be very coarse and noisy. The music of the ancient Hebrews must, therefore, have been rough, not only from their language, but musical instruments [...] and from the manner of singing at present in the synagogues, of which the chorus is composed of clamour and jargon.30
In der Analogiebildung zwischen althebräischer und zeitgenössischer ritueller Musik erschien ihm die hebräische Sprache als fremdes Kauderwelsch („jargon“), deren greller („harsh“), grober („coarsy“) und aufdringlicher („noisy“) Lauteindruck sich auf die Qualität ‚jüdischer Musik‘ auswirke.31 Zugleich findet sich jedoch die Analogie zwischen alter und neuer ‚jüdischer Musik‘ bei Burney in einem anderen Kontext als bei seinen Vorgängern. Als wichtiges Charakteristikum der neuen Musikgeschichtsschreibung verweist dieser Vergleich auf den Fortschrittsgedanken Burneys: Der Hauptgesichtspunkt, unter dem Burneys Geschichtsschreibung steht, ist der unendliche Fortschritt. [...] Er sieht sich mit der Kunst seiner Gegenwart auf einer Höhe, die bisher nicht erreicht worden ist. Alle anderen Epochen zielen auf diese Gegenwart hin, haben nur insofern Wert, als das sie geholfen haben, diesen Höhepunkt heraufzuführen.32
Galten die Musikkulturen des Altertums Burney ist erster Linie als primitive Anfänge der Musik, wollte er in seiner Musikgeschichte deren stetige Weiterentwicklung nachzeichnen. In diesem Sinn sah er die Traditionsgebundenheit der zeitgenössischen ‚jüdischen Musik‘ als Stagnation an, die sich ihm aus den vermeintlichen Eigenschaften der hebräischen Sprache erklärte, welche sowohl der althebräischen als auch der modernen Synagogalmusik zugrunde lag. Da es seiner Ansicht nach keine Weiterentwicklung in diesem Bereich gab, schrieb er den Juden an sich und ihrer Musik einen Mangel an Eigenständigkeit und schöpferischer Fähigkeit zu:
29 Burney, History of Music (1776), Bd. 1, 212. 30 Burney, History of Music (1776), Bd. 1, 212. 31 Besonders das Attribut ‚grell‘ wurde in der deutschen Meyerbeer-Rezeption als formelhaftes Epitheton verwendet. 32 Hegar, Die Anfänge der neueren Musikgeschichtsschreibung, 36.
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Neither the ancient Jews, nor the modern, have ever had characters peculiar to music [...].33
Für Burney hatten einzig die deutschen Juden eine eigenständige synagogale Musikpraxis entwickelt,34 die für ihn allerdings nichts anderes als die Wiederbelebung und Nachahmung der jüdisch-orientalischen Musiktradition darstellte, wie er anhand der Schilderung eines jüdischen Priesters deutlich zu machen suchte: The same priest says that [...] the grand caliph of Persia was likewise on an embassy, and had the service of his religion regularly performed. [...] That when he first heard this service performed, he found the singing so like that in the German synagogues, that he thought it had been done in derision of the Jews. [...] But, upon enquiry, finding it to be nothing more than the manner of singing common in Persia, he concluded that the Persians had borrowed this kind of chant from the ancient Oriental Jews.35
Durch eine jüdische Autorität abgesichert fand so ein Zusammenhang zwischen deutscher Synagogalmusik und orientalischer Musik Eingang in die Musikliteratur. Implizit lässt sich diese Verbindung allerdings schon in anderen Untersuchungen zur antiken Musikpraxis feststellen. Während griechische und römische Musikkulturen als abendländischer Ursprung der Musik galten, wurde bei den ägyptischen und hebräischen Anfängen der Musik nicht nur geographisch eine Nähe zum Orient hergestellt.36 Die Positionen Burneys erfuhren ihre Verbreitung im deutschen Musikschrifttum durch den Musikdirektor der Universität Göttingen Johann Nicolaus Forkel.37 Er rezensierte 1778 Burneys Musikgeschichte und machte damit Gedanken des englischen Musikologen in allgemeinverständlicher 33 Burney, History of Music (1776), Bd. 1, 213. 34 Burney, History of Music (1776), Bd. 1, 213: „[...] but the only Jews now on the globe, who have a regular musical establishment in their synagogue, are the Germans, who sing in parts“. 35 Burney, History of Music (1776), Bd. 1, 213. 36 Prägend wirkte hierbei sicherlich auch die, in der synagogalen Liturgie übliche nahöstliche Singweise mit den charakteristischen Melsimen. Zum Konstrukt des Orientalen unter das auch die in der Diaspora lebenden Juden subsumiert wurden vgl. auch die Studie Orientalismus von Edward W. Said. 37 Hegar, Die Anfänge der neueren Musikgeschichtsschreibung, 86: „Auch Forkel hat als Glied der Göttinger Schule die englischen Autoren gekannt, hat sich gleichfalls mit ihren Ideen auseinandergesetzt, sie zum Vorbild genommen und ihre eigenen Gedanken auf sein Gebiet übertragen. [...] Die Arbeiten Forkels stellen also auf musikhistorischem Gebiet die Verbindung zwischen der englischen, rationalistisch-sensualistischen Schule und Deutschland dar. Durch Forkel ist diese Betrachtungsweise in die deutsche Musikgeschichtsschreibung eingegangen.“ Ebenso Heinrich Edelhoff in seiner Dissertation Johann Nikolaus Forkel (Ein Beitrag zur Geschichte der Musikwissenschaft, 23): „Das Wissenschaftsideal nach dem Forkel lebte, entstammte ja selbst weitgehend den Gedanken der Göttinger Gelehrten. [...] Die Universität gehörte zu einem Lande, dessen Fürst König von England war, und der Einstrom englischen Denkens und englischer Forschungsmethoden war unverkennbar.“
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Form einem breiteren deutschen Publikum zugänglich.38 Zählten Forkels Ausführungen über die hebräische Musik in seiner Allgemeinen Geschichte der Musik zu den ausführlichsten seiner Zeit, orientierte er sich darin doch stark an Charles Burney und übernahm von ihm drei Hauptaspekte: die Anfänge der Musik, den Einfluss der hebräischen Sprache auf die hebräische Musik sowie die Bedeutung und Qualität der zeitgenössischen Synagogalmusik. In seiner Untersuchung, die in erster Linie eine Erörterung verschiedenster von ihm bibliographierter Literaturquellen zur hebräischen Musik war,39 kam er zu ähnlichen Einschätzungen wie Burney, wenngleich in sachlicherem Ton und durch fundiertere Darstellung. Beginnend mit der althebräischen Geschichte versuchte Forkel aufzuzeigen, „was es für eine Bewandniß mit der Musik dieses Volks in allen ihren verschiedenen Staatsverfassungen gehabt habe“.40 Nach den musikalischen Zeiten von David und Salomon kam es seiner Ansicht nach in Folge der Zerstörung des Ersten Tempels zu einem „Verfall seiner Sitten, Künste und des bürgerlichen Wohlstandes“.41 Von diesem „Verfall“ zeuge immer noch die zeitgenössische Synagogalmusik, von der er wie Burney eine sehr geringe Meinung hatte: Was für eine musikalische Barbarey nach dieser Zeit überhaupt in den Gegenden der Juden entstanden, und was für eine Art von Musik sie bey ihrer nachherigen Zerstreuung in aller Welt, noch beybehalten haben, ist jedermann bekannt. Ihre jetzigen Synagogen, die man in allen Gegenden von Europa findet, können uns noch täglich die Beweise davon liefern.42
Die Juden wurden so zu lebenden Zeugnissen ihrer eigenen (Musik-)Geschichte, die von ‚Verfall‘, ‚Zerstörung‘ und ‚Verlust‘ geprägt war. Sie hätten die ‚wertvollen‘ musikalischen Traditionen des Altertums vergessen. Forkel suggerierte, dass nicht die allgemeine Legendenbildung, sondern die Juden selbst in ihrer ‚Unwissenheit‘ die Gerüchte um die Musikalität David und Salomon hervorgebracht hätten: Was uns die neuern Juden von der Vortreflichkeit und Schönheit der alten Davidischen Musik sagen, ist alles unzuverläßig und unsicher. [...] Sie sind so unwissend in musikalischen Dingen, und so eingenommen von allem, was ihren Gottesdienst 38 Forkel, Recensionen theoretischer Werke. Burney allgem. Gesch. der Musik, in: ders., Musikalisch-kritische Bibliothek (1778), Bd. 3, 171–173. Forkel akzentuierte in seiner Zusammenfassung der betreffenden Abschnitte insbesondere die jüdischen Autoritäten, die schon Burney genannt hatte. 39 Forkel, Geschichte der Musik bey den Hebräern; Litteratur der hebräischen Musik in: ders., Allgemeine Geschichte der Musik (1788), Bd. 1, 99–172 und 173–184. 40 Forkel, Geschichte der Musik (1788), Bd. 1, 101. 41 Forkel, Geschichte der Musik (1788), Bd. 1, 123. 42 Forkel, Geschichte der Musik (1788), Bd. 1, 125.
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betrift, daß ihre Erzählungen davon nothwendig mit Uebertreibungen und Vorurtheilen angefüllt seyn müssen. Die meisten halten die alte Davidische Musik für so schön, daß sie sie mit der, welche in den jetzigen Synagogen gebräuchlich ist, nicht einmal vergleichen mögen.43
Das diese alte „Davidische Musik und Singkunst“ zu alledem nichts Kunstvolles gehabt haben könne, stand für Forkel außer Zweifel: In dem Traktat Joma nach der lateinischen Uebersetzung von Scheringham [...] wird die Art des Gesangs, welche den Juden ehemals vorzüglich gefallen hat, und noch gefällt, genau beschrieben. Es wird nämlich ein Levit [...] seines schönen Singens wegen gerühmt, und gesagt: ‚daß er den Daumen in den Mund gesteckt, und den Finger an die Nase gehalten habe, wenn er recht schön, künstlich und anmuthig singen wollte.‘44
Da das Vorbild für die zeitgenössische vokale Synagogalmusik ein Tempelsänger mit einem Daumen im Mund war, ermangele es dieser laut Forkel an jeglicher musikalischer Qualität: In den Synagogen selbst ist die heutige jüdische Musik nichts, als entweder ein musikalisches Beten, welches in einerley Ton gleichsam gebrummt oder gemurmelt wird, oder (wenn der Chor einfällt) ein fürchterliches Geschrey. (Ein deutscher getaufter Jude, Christian Gerson sagt in seinem Talmud [...], die Musik der neuen Juden sey so beschaffen, daß die Teufel in dem jüdischen Fegfeuer darnach tanzen könnten).45
Neben der mit seinen Vorgängern fast identischen Wortwahl fällt in Forkels Ausführungen die Vermischung der verschiedenen christlichen und jüdischen Glaubenssymboliken auf, die spöttisch auf den Autor des Zitats zurückweisen. Diesen ‚Juden‘, obgleich getauft, stellt Forkel als völlig unwissend dar. Da das Fegefeuer und der Teufel als christliche Symbole von einem Juden ‚verdreht‘ worden sind, bleibt die (Un)Wert der „Musik der neuen Juden“ im negativen Imaginationsbereich des Lesers. Parallel zum Einfluss Burneys scheint Forkels Schrift vor allem unter dem Eindruck von Johann Gottfried Herder zu stehen. In Herders zweibän43 Forkel, Geschichte der Musik (1788), Bd. 1, 161. 44 Forkel, Geschichte der Musik (1788), Bd. 1, 162. 45 Forkel, Geschichte der Musik (1788), Bd. 1, 162. Dieses Zitat und die vorhergehende Schilderung des Traktats Joma scheint Forkel von Johann Lund (Die Alten Jüdischen Heiligthümer, Gottesdienste und Gewohnheiten, für Augen gestellt [1738], 841) entlehnt zu haben: „Bey uns [...] wissen die Juden wenig oder nicht von der Music. Gerson Talm.lib.I.cap.26, zeuget also hiervon: Musica liegt (bey den Juden) danieder. Wer es nicht gläubt, der gehe in ihre Synagogen oder Kirchen, da wird er sie eine Music hören, daß auch die Teufel in den Jüdischen Feg-Feuer darnach tantzen möchten.“ Im nachfolgenden Kapitel Wie und welcher Gestalt die levitischen Sänger aufgewartet ging Lund auf die althebräischen Sänger ein (848): „Es wird ein Levit, Hogrus genannt, gar sehr wegen seines Singens gerühmet, daß er den Daumen in den Mund gestecket, und den Finger an die Nasen gehalten, und überaus schön, künstlich, zierlich und anmuthig habe singen können, habe aber diese Kunst niemand weisen oder lehren wolen, weswegen er auch einen schlechten Ruhm hat, Joma c.3.Sect.II.&Sheringham. not.“
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diger Abhandlung Vom Geist der ebräischen Poesie stellte dieser in seiner Betrachtung der alttestamentlichen Psalme einen direkten Zusammenhang zwischen Sprache und Musik her, aus dem Forkel ableitete: Das Wesen der Tonkunst ist, wie das Wesen der Sprache, ein sein modificirter Hauch, der nach Herders Ausdruck auf den Lüften schwebt, und auch mit den Lüften vorüber fliegt.46
Wie in seinen anderen Veröffentlichungen war für Herder die Sprache direkt an den Begriff ‚Volksgeist‘ gekoppelt, der sich in der Mythologie, den Sagen und Liedern eines Volkes offenbare. In romantischer Überhöhung erschienen ihm die Juden nicht nur als ‚Volk‘ sondern als „einfache Nation“. Ihre Musik wurde zu einem „Nationalgesang“ erklärt: Wenn überhaupt Tonkünstler die Lieblingstöne und Gänge einzelner Menschen studirten und nachher zur höchsten Wirkung auf dieselben anwendeten; welche Wunder könnten sie auf diese einzelne Menschen wirken! – Bey einfachen Nationen sind diese Töne durch Nationalgesänge gegeben, die mit gewissen Lieblingsgegenständen des Stolzes und Väterruhms sich von Kindheit an des Herzens und Gehirns jedes Individuums bemächtigten, und wenn sie nachher unter solchen und andern feierlichen Anlässen wiederkommen, jeden gleichsam verjüngen, und die angenehmen Krämpfe des frühesten Enthusiasmus bei ihm erneuren.47
Mit Blick auf Herder folgerte Forkel für Sprache und Gesang: Die Schönheit des Gesangs einer Nation hängt mit der Schönheit und dem Wohlklange der Sprache derselben genau so zusammen, daß man hier ebenfalls von der Beschaffenheit der einen auf die Beschaffenheit der andern schliessen kann.48
Da Forkel jedoch in diesem Punkt Burneys pejorativer Schilderung zustimmte, kam auch er zu keinem anderen Ergebnis. In Anlehnung an Burney und Herder erweiterte Forkel allerdings das Denkmuster der ‚hebräischen Musik‘ erheblich. Zum ersten Mal tauchte in seiner Musikgeschichte der Begriff eines „orientalischen“49 bzw. „hebräischen“ Musikgeschmacks auf, der gegen einen „neuern europäischen 46 Forkel, Geschichte der Musik (1788), Bd. 1, 99. 47 Herder, Vom Geist der ebräischen Poesie (1783), 2. Bd., 271f. 48 Forkel, Geschichte der Musik (1788), Bd. 1, 149. Zur Analogie zwischen Sprache und Musik bei Herder und Forkel vgl. Christine Zimmermann, Die leserliche Natur. Johann Nikolaus Forkel und seine Allgemeine Geschichte der Musik (in: dies., Unmittelbarkeit. Theorien über den Ursprung der Musik und der Sprache in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, 1339: „Wie sie Sprache haben, haben die Völker Musik, also entwickeln sich beide aus ein und derselben Anlage. Herder hatte den Laut der Empfindung zur gemeinsamen Wurzel von Musik und Sprache erklärt, ohne daraus einen Parallelismus abzuleiten. Sprache und Gesang entspringen gleichermaßen als der Empfindung. Forkel kontrastiert Sprache sogleich mit Musik. Sprache unsers Herzens, spiegelt sie Sprache als Ausdruck der Vernunft.“ 49 Forkel, Geschichte der Musik (1788), Bd. 1, 104f.
Musikgeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts
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Geschmack“50 gestellt wurde und so die spätere dualistische Struktur einer ‚deutschen Musik‘ versus einer ‚jüdischen Musik‘ vorausgriff. Diese Gegensatz-Konstruktion wurde in einem patriotischen Aufruf an die deutschen Künstler von 178351 noch verschärft. Wohl primär gegen die Sujets von Georg Friedrich Händels Oratorien und geistliche Opern gerichtet, forderte Forkel, sich hinsichtlich der Stoffe von Oratorien, Kantaten und Opern auf „vaterländische Begebenheiten“52 zu berufen, da die Geschichten aus dem Alten Testament, wie „Judas Maccabäus, Debora, Esther, Simson, Saul, [...] u.s.f.“ als „zu weit von uns entfernt“ dargestellt wurden und diese „zu wenig Beziehung auf unsere jetzige Lage und Empfindungsart“ hätten, „als daß wir bey ihrer Erinnerung noch zu fruchtbringenden Empfindungen hingerissen werden könnten“.53 Neben moralischen Inhalten aus der „vaterländischen Geschichte oder Götterlehre“54 sollten christliche Themen für Oratorien und Opern aus dem Neuen Testament gewählt werden: Das Leiden und Sterben Christi, die Himmelfahrt und Auferstehung, sind uns unstreitig wichtiger, als die Siege des Judas Maccabäus über die Heiden. Bey der Erzählung dieser bleiben wir vielleicht so kalt, wie bey der Erzählung einer gleichgültigen Streiferey, welche ein Haufen indianischer Wilden in ihre benachbarten Gegenden macht.55
Gemäß Platonischem Ideal war für Forkel Musik ein erzieherisches Mittel, das zu einem verfeinerten, aufrichtigen, in seinem Sinn ‚völkischen‘ Geschmack führen könne: Eine einzige Tugend des Herzens nach unserer Art, auf unserm Boden gewachsen, gut und rührerisch geschildert, macht sicher mehr Eindruck, muntert mehr und kräftiger zur Nachahmung auf, als zehen der ehrhabensten Tugenden aus entfernten Zeitaltern und Gegenden. [...] Uns Deutschen kann man eine solche Regel kaum laut genug sagen. Unsere Neigung zum Ausländischen, es sey nun alt oder neu, ist so stark, daß ohngeachtet der größten Einschränkung, dennoch manches gute einheimische Produkt unbemerkt bleibt, ausländische Kleinigkeiten aber, wider alle Billigkeit gegen uns selbst, immer vorzüglich geschätzt werden.56 50 Forkel, Geschichte der Musik (1788), Bd. 1, 162. 51 Forkel, Ueber die Beschaffenheit der musikalischen Oratorien, nebst Vorschlägen zur veränderten Einrichtung derselben, in: ders., Musikalischer Almanach für Deutschland auf das Jahr 1783 (1782), 166–206. 52 Forkel, Ueber die Beschaffenheit der musikalischen Oratorien (1782), 182. 53 Forkel, Ueber die Beschaffenheit der musikalischen Oratorien (1782), 183. Einer möglichen Kritik an Händel widerspricht allerdings Edelhoff in seiner Studie Johann Nikolaus Forkel (94): „Als Muster des großen Kapellmeister gilt Händel.“ Forkel soll darüber hinaus in eigenen Kompositionen neben Johann Sebastian Bach auch Werke von Händel kopiert haben (Edelhoff, 109). 54 Forkel, Ueber die Beschaffenheit der musikalischen Oratorien (1782), 185. 55 Forkel, Ueber die Beschaffenheit der musikalischen Oratorien (1782), 184. 56 Forkel, Ueber die Beschaffenheit der musikalischen Oratorien (1782), 186f. Mit solchen deutsch-nationalen Untertönen ist auch Forkels Bach-Biographie von 1802 versehen (Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Für patriotische Verehrer echter musikali-
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Im Spannungsfeld zwischen Judentum und Christentum in Deutschland ist die primäre Wahrnehmung einer ‚jüdischen Musik‘ die Synagogalmusik. Hier bestimmt der Eindruck der religiösen ‚Fremdheit‘ und Unangemessenheit der rituellen Zeremonie der Juden die Schilderungen der jeweiligen Autoren. Die zeitgenössische religiöse Musik wird stereotyp abwertend als ‚Geschrei‘ oder ‚Gebrumme‘ charakterisiert, dem nichts Künstlerisches und Schönes anhaftet. Im Vergleich zwischen den oral vermittelten und traditionsgebundenen Synagogalgesängen und den Entwicklungen der europäischen Kirchenmusik57 erscheint die Musik des jüdischen Ritus nicht als Musik im eigentlichen Sinn und es wird ihr musikalische Qualität und Kenntnis abgesprochen. Mit dem aufklärerischen Fortschrittsgedanken, der ein Interesse an den Ursprüngen der Musik allgemein weckte, werden die Ausführungen über eine ‚jüdische Musik‘ breiter, aber zum Teil auch verächtlicher. Der althebräischen als auch der zeitgenössischen, rituellen jüdischen Musik wird an sich eine Möglichkeit und Fähigkeit zur musikalischen Weiterentwicklung abgesprochen. Als direkte Vermittler zwischen der althebräischen Tempelmusik und der Synagogalmusik sind die Juden in der betrachteten Musikliteratur diametral entgegengesetzten Implikationen ausgesetzt. Der Verlust der sprichwörtlichen Schönheit der althebräischen Musik wird ihnen ebenso zur Last gelegt, wie die Legenden der Musikalität Davids und Salomons, die sie selbst hervorgebracht haben sollen. Die hebräische Sprache als Tradition aus der Zeit vor der Diaspora und sichtbares Zeichen ihrer Geschichte, aber auch ihrer Zugehörigkeit zu einer Minderheit in Deutschland wird zu einer unmusikalischen Sprache erklärt, auf welcher der jüdische Mangel an musikalischer Fähigkeit beruhe. scher Kunst). Zu Forkels Nationalismus – hier 1935 zeitspezifisch emphatisch betont – vgl. Edelhoff, Johann Nikolaus Forkel (79): „Auf die nationale Wendung des Forkelschen Europäismus wurde an vielen Stellen hingewiesen. Wenn Forkel von dem Reiche der Musik spricht, setzt er immer gleichzeitig eine Zusammenfassung alles ‚Deutschen‘ in der Musik voraus. Die Ansätze zu einem deutschen Musikgeschmack – theoretisch wie künstlerisch – hat Forkel überall begeistert aufgegriffen und fremden Einflüssen entgegengehalten. Seine Bedeutung ist nicht zuletzt darin zu sehe, daß er den Deutschen in der Gestalt Bachs ein Symbol des ihnen Eigentümlichen schuf und dieses – wie unzählige Zeugnisse beweisen – seinen Hörern und Schülern unvergeßlich einprägte.“ 57 Vgl. Jakob Schönberg, Die traditionellen Gesänge des israelitischen Gottesdienstes in Deutschland, 18: „Der moderne Kompositionsstil, das Ergebnis einer jahrhundertelangen Musikübung, besitzt schon von vorneherein andere Grundlagen als der Synagogengesang. Aus der gleichen Klangwelt, aus der der Synagogengesang seine Weisen schöpfte, hatte wohl auch die Gregorianik ihren Ursprung genommen, aber bereits in den Klöstern war die erste Differenzierung und Individualisierung in der Gesangsübung eingetreten. Im Synagogengesang bedingte der Inhalt, der Gedanke, der dem Gebet zu Grunde lag, und nur der die Form des Gesanges; in den Klöstern setzte aber neben dieser selbstverständlichen Auffassung gleichzeitig eine kritische ästhetische Beurteilung der Gesänge ein; [...] Kirchengesang [...] entwickelte sich zum Kunstgesang – und zwar in einer Weise, die durch fortwährende Ueberbietung der künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten, unter Zuhilfenahme immer neuer Kunstmittel der musikalischen Ausdruck vervollkommnete und verfeinerte.“
Das 19. Jahrhundert: Stereotype in der Musikkritik
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Der Fortschrittsgedanke und die Analogiebildung zwischen Sprache, Volk, Geschichte und Musik in Anlehnung an Herder zum Ende des 18. Jahrhunderts in das Musikschrifttum eingeführt, werden im 19. Jahrhundert zu einem wichtigen Bestandteil nationaler und antisemitischer Positionen in der Musikliteratur. Für die deutschen Juden wurden diese Ideen zu einem Ausschlussprinzip.
3.2 Das 19. Jahrhundert: Stereotype in der Musikkritik Das 19. Jahrhundert: Stereotype in der Musikkritik Die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts in Deutschland war von zahlreichen Umbrüchen geprägt. Mit der Industrialisierung, in deren Zuge es zu einer Transformation der ständischen in eine bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung kam, sowie der Genese eines nationalen Selbstbewusstseins bis zur Konstitution des Deutschen Reiches, veränderte sich auch die Situation der Juden in der deutschen Gesellschaft. Die in Folge der Französischen Revolution erklärten Menschen- und Bürgerrechte fanden seit Ende des 18. Jahrhunderts ihren geistesgeschichtlichen Niederschlag zunehmend im deutschen Judentum.58 War es in Teilen Deutschland unter der Napoleonischen Besetzung ab 1806 zu einer Übertragung der in Frankreich deklarierten Rechte für die dort ansässigen Juden gekommen, so wurden diese mit den Befreiungskriegen 1813–1815 auf deutschem Gebiet erneut zurückgenommen. Vor dem Hintergrund wirtschaftlicher und sozialer Erschütterungen des gesellschaftlichen Wandels kam es 1819 mit den so genannten ‚Hep-Hep-Krawallen‘ zu zahlreichen überregionalen Ausschreitungen gegen jüdische Gemeinden. In Folge dieser Unruhen wurden die gelockerten rechtlichen Bestimmungen gegenüber Juden in vielen deutschen Ländern zurückgenommen. Unter Einfluss des aufklärerischen Gedankens setzten sich besonders die liberalen Kreise in den Kämpfen der 1848er Revolution erneut für eine jüdische Gleichberechtigung ein, konnten sich allerdings nicht als integraler Teil der deutschen Einheitsbestrebungen durchsetzen. Auf gesamtdeutschem Gebiet 58 Ziel jüdischer Bestrebungen im Gefolge der Aufklärung war zunächst eine Erneuerung der hebräischen Sprache und Literatur. In Deutschland war die Haskala eng mit dem Wirken Moses Mendelssohns verknüpft, der sowohl für eine Gleichberechtigung der in Deutschland lebenden Juden als auch für einen Dialog der verschiedenen Religionen plädierte. In diesem Sinn setzte sich Mendelssohn besonders für das jüdische Erziehungswesen ein, in dem der Deutschunterricht eine zentrale Stellung erhielt. Die deutsche Sprache als Ausdruck des jüdischen Assimilationswillens sollte die rechtliche und gesellschaftliche Emanzipation der Juden forcieren. Vgl. dazu auch die Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden des Mendelssohn-Freundes Christian Wilhelm Dohm (Berlin 1781). Zur Person Mendelssohns und seinem Modell einer Gleichberechtigung kultureller Identitäten vgl. Schoeps, Aufklärung, Emanzipation und Judentum, in: ders., Moses Mendelssohn, 126–149.
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erlangten die deutschen Juden erst mit der Reichsgründung 1871 die formal-rechtliche Parität als deutsche Staatsbürger. Jenseits dieser wechselvollen gesetzlichen Situation der Juden in den jeweiligen deutschen Kleinstaaten fand im 19. Jahrhundert im Zuge der bürgerlichen Emanzipation eine Entwicklung statt, in der die Begriffe der ‚jüdischen Emanzipation‘ durch ‚Assimilation‘ eine zentrale Bedeutung erhielten. Im Ringen um bürgerliche Gleichstellung entwickelte sich das in Deutschland lebende Judentum im 19. Jahrhundert zunehmend zu einer heterogenen Gemeinschaft, in der traditionell-konservative neben aufklärerisch-bürgerlichen Kräften wirkten. Gleichzeitig lässt sich eine anti-judaistische Agitation im gesellschaftlich-politischen Schrifttum feststellen, die zum Teil als Reaktion auf die jüdischen Gleichberechtigungsbestrebungen gewertet werden kann. Im Laufe des 19. Jahrhunderts nahm die kontrovers diskutierte ‚Judenfrage in der deutschen Gesellschaft‘ vor allem von Aufklärungsgegnern immer mehr zu.59 Die generelle judenfeindliche Literatur hatte unterschiedliche Auswirkungen auf das Musikschrifttum, das sich im 19. Jahrhundert unter vollständig neuen gesellschaftlichen Bedingungen entfalten konnte. Mit dem Aufschwung des Bürgertums entstand neben der bürgerlichen Musikkultur und einer musikalischen Forschung als universitäre Disziplin auch ein breiteres öffentliches Interesse an Geschichte und Gegenwart der Musik, wie es sich in der Ausdifferenzierung des Musikschrifttums spiegelt. Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die ersten wöchentlich erscheinenden Fachzeitschriften und -zeitungen als ein Ausdruck dieses gesellschaftlichen Musikdiskurses gegründet. Neben der Entstehung einer musikalischen Tageskritik zeugten die Artikel in den zeitgenössischen Musikzeitschriften darüber hinaus von den jeweils kontroversen Auseinandersetzungen über musikalische Anschauungen und Konzepte des 19. Jahrhunderts:
59 >Anonym@, Über die Gefahr, die den Thronen, den Staaten und dem Christenthume den gänzlichen Verfall drohet durch das falsche System der heutigen Aufklärung, und die kecken Anmaßungen sogenannter Philosophen, geheimer Gesellschaften und Sekten (1791); Christian Ludwig Paalzow, Die Juden (1799); ders., Ueber den Juden-Staat, (de civitate Judaeorum) oder über die bürgerlichen Rechte der Juden. Eine historisch-politische Abhandlung (1803); Gerhard Friedrich, Die Juden und ihre Gegner. Ein Wort zur Beherzigung für Wahrheitsfreunde, gegen Fanatiker (1816, 2. verb. u. verm. Aufl. 1816); Karl Wilhelm Friedrich Grattenauer, Wider die Juden. Ein Wort der Warnung an alle unsere christliche[n] Mitbürger (21803); Hartwig von HundtRadowsky, Judenspiegel. Ein Schand- und Sittengemälde alter und neuer Zeit (1819); ders., Neuer Judenspiegel oder Apologie der Kinder Israels (1828); Hermann von Scharff-Scharffenstein, Ein Blick in das gefährliche Treiben der Judensippschaft (1852); ders., Das geheime Treiben, der Einfluß und die Macht der Juden in Frankreich seit hundert Jahren (1771–1871) (1872); Wilhelm Marr, Der Judenspiegel (51862); Bruno Bauer, Das Judentum in der Fremde (1863, zuerst anonym veröffentlicht in: Hermann Wagener >Hg.@, Staats- und Gesellschafts-Lexikon. Neues Conversations-Lexikon >1862@, Bd. 10, 614–671).
Das 19. Jahrhundert: Stereotype in der Musikkritik
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Zusammen mit der beständig wachsenden Öffentlichkeit wuchsen, zunächst rein quantitativ gesehen die musikalischen Bedürfnisse: Das in der Gesellschaft sich mächtig ausbreitende Interesse am Phänomen Musik vergrößerte ebenso mächtig den musikalischen Produktionsschub und Verkaufsmarkt. Insofern setzte sich im 19. Jahrhundert fort, was in dem Jahrhundert zuvor mit dem Entstehen der ‚neuen Öffentlichkeit‘ begonnen hatte, und es steigerte sich durch das 19. Jahrhundert hindurch kontinuierlich bis in die heutige Zeit.60
Mit Blick auf die Darstellung eines ‚jüdischen‘ Musikschaffens in der Musikpublizistik des 19. Jahrhunderts lassen sich unterschiedliche Merkmale extrahieren. Auf der einen Seite fand eine kontinuierliche Festschreibung der Stereotype des 18. Jahrhunderts in der Wahrnehmung der Synagogalmusik statt. Parallel dazu begann seit den 1830er Jahren in der Musikkritik eine Rezeption von Komponisten wie Giacomo Meyerbeer, Jacques Offenbach und Felix Mendelssohn Bartholdy unter dem Aspekt ihrer jüdischen Herkunft. Ausgehend von dieser suchte die Musikliteratur zunehmend säkulare Merkmale einer ‚jüdischen Musik‘ festzustellen. Teilweise mit den plakativen Abwertungen der deutschen Synagogalmusik verknüpft, erfolgte so im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Übertragung und Verdichtung antijudaistischer Stereotype, die in Richard Wagners Artikel Das Judenthum in der Musik einen vorläufigen Kulminationspunkt erfuhren. Verstärkt wurde die Analogiebildung zwischen tradierten Zuschreibungen zur Synagogalmusik und dem Schaffen der genannten Komponisten durch das Geschichts- und Kulturmodell Johann Gottfried Herders, das um die Aspekte Sprache, Nation, Musik und Geschichte mit Begriffen wie ‚Volksgeist‘ und ‚Nationalgesang‘ kreiste. Die Idee eines jeweils spezifischen ‚Volksgeistes‘ prägte die Musikvorstellungen des 19. Jahrhunderts entscheidend, was sich sowohl auf die Bedeutung der Musik in der Konstitution eines deutschen Nationalbewusstseins als auch auf die Vorstellungen von den in Deutschland lebenden Juden auswirkte. Ausgehend von Volksliedern, Mythologien und Sagen, in denen sich der ‚Volksgeist‘ der jeweiligen Völker offenbare, initiierte Herder ein völkerkundliches Interesse an anderen Musikkulturen und regte so einen differenzierten, international ausgerichteten Blick an, der bei ihm ohne die späteren Ideen von der Vorherrschaft abendländischer Kultur zu finden ist. Allerdings wurden seine Schriften in Kontakt mit der literarischen Romantik und dem Auftrieb des nationalen Gedankens in Deutschland zunehmend von nationalistischen Kreisen rezipiert. Besonders in der Verknüpfung eines spezifischen ‚Volks-Charakters‘ mit dem Begriff der ‚Nation‘, der sich in einer gemeinsamen Sprache und Geschichte äußerte, erhielten 60 Hans Heinrich Eggebrecht, Das ‚neuzehnte Jahrhundert‘, in: ders., Musik im Abendland, 661.
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Herders Ideen eine zentrale Stellung sowohl in der Einigung zur deutschen Nation als auch in ihren Ausgrenzungsmechanismen: Dennoch förderte Herder das Erwachen des Nationalbewußtseins in Mittel- und Osteuropa. Entwicklung, Vitalität und Ursprünglichkeit, das alles waren die Eigenschaften der Volkgemeinschaft, und sie drückten sich in der Nationalsprache aus. Eine gemeinsame Sprache war das grundlegende Element, das die Gemeinschaft in grauer Vorzeit zusammengeführt hatte. Sprache war Beweis für die Spontanität des Volksgeistes. Sie war der ‚Lebensstrom‘ eines Volkes.61
Neben dem Lob der althebräischen Musik und Poesie im zweibändigen Werk Vom Geist der ebräischen Poesie (1782/83), das sich primär auf die ‚Vollkommenheit‘ der althebräischen Sprache gründete, fanden sich in Herders Werken auch vereinzelt Ausfälle gegen das zeitgenössische Judentum. Mit plakativen Metaphern aus dem naturwissenschaftlichen Bereich verglich er den Staat direkt mit einem lebendigen Organismus, der von den ‚fremden, heimatlosen‘ Juden angegriffen und ‚ausgesaugt‘ werde:62 Das Volk Gottes, dem einst der Himmel selbst sein Vaterland schenkte, ist Jahrtausende her, ja fast seit seiner Entstehung eine parasitäre Pflanze auf den Stämmen andrer Nationen; ein Geschlecht schlauer Unterhändler beinah auf der ganzen Erde, das trotz aller Unterdrückung nirgend sich nach eigner Ehre und Wohnung, nirgend nach einem Vaterlande sehnet.63
Herders Hervorhebung der Sprache als Symbol für die jeweilige Geschichte und Kultur eines Volkes erhielt durch die romantischen Vorstellungen der 61 Mosse, Geschichte des Rassismus, 63. Die Bedeutung der deutschen Sprache als Komponente in der Konstitution des deutschen Nationalbewusstseins, aber auch ihre Verflechtung mit dem Rassismus, ist vielfach unterschätzt worden. Zwar distanzierte sich Herder von rassistischen Klassifizierungen ausdrücklich und war bemüht, zwischen den Begriffen ‚Volk‘, ‚Nation‘ und ‚Rasse‘ zu differenzieren, dennoch wurden seine Schriften in der Adaption Charles Darwins und im Kontakt mit der Anthropologie auch in diesem Zusammenhang gedeutet (Mosse, Geschichte des Rassismus, 64): „Die Nation war vielmehr eine Gemeinschaft, die sich von anderen durch ihren – in Sprache und Kultur verkörperten – inneren Geist unterschied. Herders Gedanken beeinflußten während des 19. Jhs. nicht nur das nationale Erwachen der Deutschen entscheidend [...]. Ende des 18. Jhs. war Herders Hervorhebung der Sprache als Ausdruck einer gemeinsamen Vergangenheit Gedankengut einer ganzen Philologengeneration. In dem Versuch, die Wurzeln der Rasse freizulegen, konzentrierten diese Philologen sich auf die Suche nach den Ursprüngen der Sprache. [...] In diesem Zusammenhang tauchte der verhängnisvolle Ausdruck ‚Arier‘ zum ersten Mal auf.“ Vgl. auch Ruth Römer, Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland, 13: „Seine [Herder’s] Sprache schwelgt in Bildern von Wachstum und Organen. Das Wachstum der Völker und Kulturen verglich er mit dem Wachstum von Pflanzen, die Menschheitsgeschichte und Geschichte von Sprachen mit den Lebensaltern des Menschen. Herder lieferte damit ein Vokabular, das seine Nachfahren des bildhaften Charakters entkleideten, was die Biologisierung der Ansichten über Kultur im 19. und 20. Jahrhundert erleichterte.“ 62 Derlei Bilder manifestierten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts auch in der Musikliteratur und gehörten spätestens seit der Wende zum 20. Jahrhundert zum festen Inventar völkischer Konstrukte. 63 Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1787), 3. Bd., 98.
Die Synagogalmusik-Rezeption
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Musik als ‚Sprache des Herzens‘ eine Erweiterung. Wie zu zeigen sein wird, galt dabei die Sprache der deutschen Juden, das so genannte ‚JudenDeutsch‘ ebenso wie das Jiddisch im 19. Jahrhundert als populäres Angriffsziel anti-judaistischen Spotts und wurde in der musikpublizistischen Rezeption mit dem ‚jüdischen‘ Musikschaffen verknüpft. In Anwendung des Herderschen ‚Volksgeist‘-Gedankens als binnenintegrierendes Merkmal des deutschen Nationalbewusstseins erfuhr auch die Idee einer ‚deutschen‘ Musik eine popularisierende Aufwertung, die von dem Interesse und der Sammlung volksmusikalischer Lieder ihren Ausgangspunkt nahm: Herders Betonung gerade des Volksliedes unterstützte hier nicht nur die absolute Dominanz des sprachlich-kulturellen Prinzips bei der Nationenbildung, sondern sie führte auch zur Erweiterung dieses Prinzips und zur Erweiterung des typischen Prozesses der nationalen Geburt oder Wiedergeburt um eben diese musikalische Komponente. Es ging nicht mehr nur um Sprachverteidigung, Philologie, Dichtung und Geschichtsforschung, sondern auch um Musik, die mindestens gleichrangig neben die Dichtung trat.64
Damit wurde im 19. Jahrhundert die Musik zu einem wichtigen Emblem nationaler Zugehörigkeit, ein Prozess, der neben der Festschreibung integraler Merkmale ‚deutschen‘ Musikschaffens auch einen Einfluss auf das Bild der liturgischen Musik der deutschen Juden ausüben konnte. 3.2.1 Die Synagogalmusik-Rezeption Die Synagogalmusik-Rezeption Das Musikschrifttum, das sich mit einer ‚jüdischen Musik‘ beschäftigte, adaptierte Herders Ideen zunächst in Hinblick auf die ‚jüdische Nation‘ als eine in sich geschlossene, historisch-konstante Gemeinschaft aller Juden in der Diaspora. Eine Vielzahl von Autoren bezog sich im Laufe des 19. Jahrhunderts direkt oder indirekt auf Herders Abhandlung Vom Geist der ebräischen Poesie und suchte den spezifischen „Geist der hebräischen Musik“65 64 Ludwig Finscher, Die Entstehung nationaler Stile in der europäischen Musikgeschichte, 49. 65 C. Billert, Artikel Hebräer. Hebräische Musik, in: Hermann Mendel, Musikalisches Conversations-Lexikon (1875), Bd. 5, 158. Darüber hinaus findet sich in folgenden musikgeschichtlichen und -lexikalischen und -betrachtenden Beiträgen eine Bezugnahme auf Herders einschlägige Abhandlung von 1782/83: G.C. Grosheim, Recensionen. I.) Sechs hebräische Gesänge u.s.w. für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte, componiert von C. Löwe, in: Caecilia (1828), 110; Joseph Levin Saalschütz, Geschichte und Würdigung der Musik bei den Hebräern (1829), u.a. 75; Peter Joseph Schneider, Biblisch-geschichtliche Darstellung der hebräischen Musik (1834), u.a. 20 (Fußnote); Joseph Gall, Über hebräische Musik, in: Neue Berliner Musik Zeitung (Sept. 1854), 283; August Wilhelm Ambros, Die Musik der alten orientalischen Völker, in: ders., Geschichte der Musik, 1. Bd.: Die Musik des griechischen Altertums und des Orients (1887), u.a. 405; Joseph Schlüter, Die vorchristliche Zeit, in: ders., Allgemeine Geschichte der Musik (1863), 1; August Reissmann, Die Musik der Hebräer, in: ders., Allgemeine Geschichte der Musik (1863),
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im musikalischen Material der als fremd empfundenen deutschen Synagogalmusik zu erkennen. Mit der in der synagogalen Praxis üblichen hebräischen Sprache und dem melismatischen Klangeindruck der liturgischen Bibelkantillation wurde ein ‚orientalischer Volkscharakter‘ der deutschen Juden angenommen und direkt auf die rituelle Musik übertragen. In der relativen Abgeschlossenheit, in der die jüdischen Gemeinden seit dem Mittelalter gezwungen waren zu leben, habe sich der besondere Charakter dieses „orientalischen Fremdlingsvolke[s]“66 in der Meinung vieler Autoren über die Jahrhunderte hinweg bewahren können. Dessen ungeachtet bleibt jedoch festzuhalten, dass die Annahme orientalischer Merkmale in der deutschen Synagogalmusik, wie sie sich in der zeitgenössischen Musikpublizistik darstellt, zumeist einem fiktionalen Zuschreibungsmuster der jeweiligen Autoren entsprang. Demgegenüber liefert der Musikwissenschaftler Eric Werner 1926 in seinem Vorwort zu der Untersuchung Die traditionellen Gesänge des israelitischen Gottesdienstes in Deutschland eine detaillierte Liste der Stilmerkmale jüdischliturgischer Musik und kommt zur Schlussfolgerung: Die ältesten Elemente der westdeutschen Tradition stammen aus dem Orient, wie sich aus einer eingehenden Vergleichung der Weisen ergibt; doch ist dieser Bestandteil quantitativ nicht groß und hat nicht viele Teile der Gesamttradition beeinflußt. [...] Alles andre ist schon in Europa entstanden. Die ältesten dieser Weisen stammen aus dem 10. oder 11. Jahrhundert, und nur wenig ist von ihnen als alte ‚Einsprengsel‘ in neueren Gesängen erhalten geblieben. [...] Hier erhebt sich die Frage nach der Kontinuität der jüdischen Musiktradition; sie kann immer nur für Einzelfälle, niemals in Bausch und Bogen für alle Formen, Zeiten und Gegenden beantwortet werden.67
Ganz anders allerdings und mit Blick auf das vermeintlich ‚starrsinnige‘ jüdische Festhalten an religiös-kulturellen Traditionen formulierte es eine Rezension in dem ersten Jahrgang der Berliner Allgemeinen Musikalischen Zeitung von 1824,68 die eine Sammlung von zwölf hebräischen Melodien bespricht, welche von zwei ihrer Zeit bekannten jüdischen Tenören herausgegeben worden war:
Bd. 1, 34f; Hans Michael Schletterer, Geschichte der geistlichen Dichtung und kirchlichen Tonkunst (1869), u.a. 14. 66 Karl Wilhelm Friedrich Grattenauer, Erklärung an das Publikum über meine Schrift: Wider die Juden (1803), 36. 67 Werner, Zum Geleit, in: Schönberg, Die traditionellen Gesänge des israelitischen Gottesdienstes, VIII. 68 Zu den Herausgebern dieser Sammlung, den Tenören John Braham (1774–1856) und Isaac Nathan (1792–1864) vgl. Karl Josef Kutsch/Leo Riemens, Großes Sängerlexikon, Bd. 1: 350f bzw. Bd. 2: 2075. Die Resonanz, die diese Sammlung ihrer Zeit erhielt, läßt sich aus einem Artikel von B.M. Kapri in der Neuen Zeitschrift für Musik herauslesen, der sich noch 1879 auf diese bezog (Ueber die Musik der Hebräer [Febr. 1879], 97).
Die Synagogalmusik-Rezeption
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Wie kurz ist die Periode seiner Grösse gegen die lange Reihe von Jahrhunderten, die es in der Knechtschaft und Verachtung unter fremden Völkern hingeschleppt hat! Und wie viel lastender sind diese Leiden, da dem jüdischen Charakter von der ersten Bildung des Volkes an, der Geist der Absonderung und Verachtung, ja, Hass des Fremden eingeprägt ist! [...] Allein eben die Absonderung, in der es sich stets befunden, hat ihm unter allen Himmelsstrichen die orientalische Kraft und Weise erhalten; dies ist nicht abzuleugnen, wenn auch bei der tiefen Versunkenheit eines Theils desselben jene Züge seiner Abkunft nur in Verzerrung hervortreten.69
Mit den Projektionen über den „jüdischen Charakter“ bzw. (Volks-)„Geist“, der dem deutschen Wesen fremd und sogar feindlich gegenüberstehe, wurde den Juden ihre jahrhundertelang forcierte Sonderstellung in der deutschen Gesellschaft vorgeworfen und so die realen Verhältnisse der abendländischen Judenfeindschaft umgedeutet. Die jüdischen Gemeinden seien es, die auf ihre christliche Umwelt mit „Absonderung“, „Verachtung“ und „Hass“ reagierten, was sich auch musikalisch in den Melodien der Gesänge niedergeschlagen habe: Wir hören hier den Dulder, den Verbannten, Gedrückten [...] der bei der gänzlichen Zerstreuung seines Volkes nur Eine Waffe gegen den Unterdrücker hat – den Hass, dessen zornige Ausbrüche er wiederum sorgfältig drücken muss.70
Der Orient als historischer Herkunftsort der in Deutschland lebenden Juden bildete zugleich aber auch mit Blick auf die Gesangstexte, die von Lord Byron zu dieser zum Teil mündlich überlieferten Sammlung hinzugefügt worden waren, den Hintergrund für einen schwärmerischen Ton des romantischen Fernwehs nach exotischen Landschaften: Hier endlich (um nach dem Wichtigsten einen nicht gewichtslosen Nebenumstand zu berühren) hat er [Lord Byron] ein fremdes und zwar orientalisches Volk zu malen und wie gern verweilt er unter jenem Himmelsstriche, dem der Israelit auch im Norden noch angehört?71
Diese Ambivalenz zwischen Ablehnung und Reiz der ‚orientalisch-fremden Juden‘, die bei Herder schon angedeutet ist, kennzeichnete die Synagogalmusik-Rezeption. Während im Laufe des 19. Jahrhunderts auf jüdischer Seite kontinuierlich ein Musikschrifttum entstand, das sich sowohl mit der Sammlung und Notation althebräischer Melodien als auch mit der Geschichte der Synagogalmusik in der Diaspora beschäftigte, blieben dennoch 69 Recensionen. Sammlung hebräischer Originalmelodien, mit untergelegten Gesängen von Lord G.G. Byron, in: Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung (Jan. 1824), 5. Ähnlich argumentierte auch Franz Liszt Ende der 1850er Jahre in Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn. Vgl. Kap. 3.4 Die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts: Kontinuitäten und Akzent-Verschiebungen. 70 Recensionen. Sammlung hebräischer Originalmelodien (Jan. 1824), 5f. 71 Recensionen. Sammlung hebräischer Originalmelodien (Jan. 1824), 6.
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die im 18. Jahrhundert manifestierten Stereotype in der deutschen Musikpublizistik weiterhin präsent. Dabei lässt sich innerhalb der deutschen Synagogalmusik im 19. Jahrhundert eine tiefgreifende Entwicklung feststellen. Ausgelöst durch innerjüdische Reformbestrebungen wurde in verschiedenen liberalen Gemeinden versucht, den jüdischen Gottesdienst vor allem in seinen musikalischen Elementen weiterzuentwickeln: Die Reform des Gottesdienstes [...] theilte sich, soweit sie den synagogalen Gesang betraf, in zwei Richtungen. Sie musste erstens an das Wesen des synagogalen Gesanges herantreten, musste den Gehalt, den inneren Werth und die innere Wirkung der gottesdienstlichen Tongänge prüfen [...]. Sie musste aber zweitens auch die äussere Form berücksichtigen, musste angemessenen Vortrag der Melodien anordnen und dem synagogalen Gesange in würdiges Gewand geben.72
Ein Ausdruck dessen waren die Versuche einer Notation der bis dahin oral tradierten Synagogalmelodien, die zur Eingliederung der jüdisch-rituellen Musik in die Dur-Moll-Harmonik führten. In den auf jüdischer Seite seit Beginn des 19. Jahrhunderts erschienenen vielfältigen Notationssammlungen für den jüdischen Ritus73 fanden sich darüber hinaus aber auch zahlreiche Neukompositionen sowie satztechnische Erweiterung der bis dahin zumeist homophon gehaltenen Gesangspartien. Vor allem anhand dieser neuen Synagogalkompositionen lässt sich eine musikalische Wechselwirkung zwischen den jüdischen Gemeinden und ihrer christlichen Umwelt nachzeichnen, die für das 19. Jahrhundert signifikant wurde. Im Laufe dieses Jahrhunderts wurden sowohl Melodien als auch die vierstimmige Satztechnik christlicher Choralgesänge neben kunstmusikalischen Vorbildern und letztlich in einigen Reformgemeinden sogar die Orgel in den jüdischen Ritus übernommen: Stylistic peculiarities of classic and romantic music exert a strong influence on structure and sentiment of music in liberal and reformed services. The element of free improvisation in the chant of the cantor disappears in favour of a rhythmically and structurally firmer melody with instrumental harmonic support. The chazzan qualified for his office primarily by knowledge of the ritual and by vocal gifts is being superseded more and more by the cantor with a well-rounded musical education. Whereas the orthodox congregations continue to oppose the support of the organ, the liberal and reformed synagogues (increasing rapidly in number) in Europe and America permit its use.74 72 A. Ackermann, Der synagogale Gesang in seiner historischen Entwickelung, 524. 73 Zumeist enthielten diese Publikationen einführende Vorreden, in denen die jeweiligen Komponisten die Traditionen und zukünftigen Aufgaben einer jüdisch-liturgischen Musik reflektierten. 74 Arthur Holde, The Reform Movement in the 19th Century, in: ders., Jews in Music, 27. Vgl. auch Peter Zacher (Traditionsbewußtsein und Assimilationsstreben. Zur Entwicklung und
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In der zeitgenössischen Musikpublizistik spiegelten sich diese Reformansätze. Ein besonderes Interesse galt der Verbindung zwischen traditionellreligiösen und modernen künstlerischen Bestrebungen im Synagogalgottesdienst. In dem Artikel Die Musik in den Synagogen des 19ten Jahrhunderts von 1836 wurde diese Entwicklung sogar zum Anlass genommen, die Synagoge als Vorbild für die christliche Kirchenmusik zu erheben:75 Das israelitische Volk hat sehr viel Sinn für Musik, und kann bereits eine Menge talentvoller Tonkünstler aufweisen; vielleicht ertönen gar bald feyerliche Hymnen und Andacht erweckende Psalmen in den Tempeln der Juden, indess die Christen sich schämen müssen, dass aus ihren Gotteshäusern die edle Musica entflohen ist, um sich zu oft, als feile Dirne im unzüchtigen Flitterstaate nur auf den, von so vielen europäischen Fürsten schier ausschliesslich begünstigten Theatern brauchen zu lassen.76
Ähnliche Untertöne einer Konkurrenz zwischen den zeitgenössischen Entwicklungen der Synagogalmusik und den musikalischen Formen der nichtjüdischen Umwelt finden sich in einer Rezension der Neuen Zeitschrift für Musik von 1860. Ausgangspunkt bildete die Harmonisierung hebräischer Melodien durch den Königsberger Kantor Hirsch Weintraub.77 Neben viel Lob der musikalischen Kenntnis und des kompositorischen Könnens Weintraubs78 kritisierte der anonyme Autor die Verwendung der FugenUmfeld der Musik in der ost- und mitteleuropäischen Synagoge) sowie Arno Nadel, der in seinem Artikel Jüdische Musik (in: Der Jude [April 1923], 227–236) sieben Merkmale der Synagogalmusik aufstellte. Zu Nadel vgl. Kap. 5. Exkurs: Kulturzionistische Positionen. 75 H.S., Die Musik in den Synagogen des 19ten Jahrhunderts, in: Caecilia (1836), 16–21. Der Artikel stellte Israel Jacobson vor, der zu Beginn des Jahrhunderts eine Kantorenschule in Seesen im Harz gegründet hatte und den Synagogalgottesdienst sowohl hinsichtlich der Predigten und der musikalischen Elemente als auch mit der Einführung einer der ersten Orgeln an den deutschen Kirchenritus anzugleichen suchte (18): „Man hielt zwischen den hebräischen Gebeten deutsche Reden, und brachte so den jüdischen Gottesdienst dem christlichen näher. [...] Nun sang man in dem neuen Tempel beim Gottesdienste abwechselnd bald diese bald jene Lieder, so dass die Vorübergehenden den Jacobson’schen Tempel nicht für eine sogenannte Judenschule, sondern für eine christliche Kirche hielten.“ Nach dem Seesener Vorbild errichtete Jacobson auch 1808 in Kassel und seit 1813 in Berlin eine Reformsynagoge, die hier in den privaten Räumlichkeiten der Familie Jacob Herz Beer, den Eltern Meyerbeers ihren Platz fand. Vgl. Walter Salmen, Die Orgelsynagoge 1810–1900, in: Izsák, Die Orgel in der Synagoge, 141: „Sein [Jacobson’s] Ziel war die ‚jüdische Emanzipation im deutschen Vaterlande‘. Mit seinem umgreifenden Programm erstrebte er somit die Anerkennung der Juden als Staatsbürger und die Integration als ‚Einländer‘ in den monarchistisch regierten Staat. [...] Jacobson ließ in Anlehnung an den norddeutschen Protestantismus den Rabbiner durch den Prediger ersetzen, der [...] sich mehrheitlich der deutschen Sprache bei seinen Handlungen bediente. Aus der engräumigen Synagoge [...] wurde ein Reformtempel entwickelt mit Glockengeläut, Chorgesang und Orgelspiel.“ 76 H.S., Musik in den Synagogen des 19ten Jahrhunderts (1836), 21. 77 R., Musik für die Synagoge. Schire beth Adonai. Tempelgesänge für den Gottesdienst der Israeliten, componirt und herausgegeben von H. Weintraub, Cantor der Synagogen-Gemeinde zu Königsberg in Preußen, in: Neue Zeitschrift für Musik (Okt. 1860), 130–132. 78 R., Musik für die Synagoge (Okt. 1860), 130: „Hier hat sich Cantor Weintraub ein unbestreitbar hohes Verdienst erworben, um so mehr, als bei den gegenwärtigen Reform-Bewegungen
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Form in den publizierten Synagogalkompositionen.79 Die Fuge galt dem Rezensent zum einen als veraltete, polyphone Form, die selbst in der zeitgenössischen Kirchenmusik nicht mehr als „der Ausdruck unserer Gefühlsund Empfindungsweise“ gelten könne.80 Darüber hinaus erschien die Fuge für den jüdischen Religionsritus nicht angemessen: Gegen die Einführung der Fuge in die Synagogenmusik lassen sich aber noch gewichtigere Gründe anführen. Die Fuge ist in der Musik [...] eine Geburt des mittelalterlichen Christenthumes. Lassen wir selbst dahingestellt, ob der Jude oder Christ unserer Tage die Kunstgebilde dieser Form ganz nachzuempfinden vermag, so werden uns doch immer die Fugen des Herrn Weintraub inmitten der dem ältesten Orient entsprossenen Melodien nicht am rechten Orte erscheinen.81
Vor dem Hintergrund der Zuschreibung einer angeblich spezifisch ‚jüdischen Nachahmung‘ wird hier – im Spannungsfeld zwischen Tradition und Entwicklung, Juden und Nicht-Juden, mittelalterlichem Christentum und ‚ältestem Orient‘ – von der zu ‚eifrigen Anleihe‘ an eine nicht-jüdische Musik abgeraten. In welchem Maße die Synagogalmusik im 19. Jahrhundert in den Focus der nicht-jüdischen Umwelt geriet, lässt sich am deutlichsten anhand der Würdigung exponierter Vertreter der neuen jüdischen Reformbestrebungen feststellen: Salomon Sulzer in Wien, Louis Lewandowski in Berlin und Samuel Naumburg in Paris. Salomon Sulzer (1804–1890) seit 1826 Oberkantor der jüdischen Gemeinde in Wien wurde sowohl in Gustavs Schillings Musiklexikon Das Musikalische Europa von 184282 als auch noch 1874 in Hermann Mendels im Judenthume die Befürchtung nahe liegt, daß diese uralten Gesänge immer mehr aus der Synagoge verdrängt werden, und damit der Vergessenheit anheim fallen könnten.“ 79 R., Musik für die Synagoge (Okt. 1860), 131: „Vielleicht zeigt uns Herr Weintraub ein wenig zu viel, daß er gute contrapunctische Studien gemacht hat. Wir finden in vielen der motettenartigen, stets polyphon gehaltenen Compositionen theils fugirte Sätze, theils vollständige Fugen. Einige derselben sind in der That schwungvoll und schön, fast alle mit grossem Geschick gemacht; doch können wir nicht umhin, gegen den Gebrauch der Fuge in neuerer geistlicher Musik im Allgemeinen, und gegen ihre Einführung in die Synagoge im Besonderen einige feinere ästhetische Bedenken laut werden zu lassen.“ 80 R., Musik für die Synagoge (Okt. 1860), 131: „Der streng polyphone Styl ist nun einmal nicht mehr der Ausdruck unserer Gefühls- und Empfindungsweise, und fast alle unsere Kirchencomponisten der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit haben sich nur sehr wenig dieser für uns todten Sprache bedient, selbst wenn sie derselben durchaus mächtig waren. Sie haben unbewußt oder bewußt herausgefühlt, daß sie in einem dem Laien fremden Idiome zu ihm reden würden, ganz abgesehen davon, daß auch ihnen der Ausdruck in demselben ein mühevollerer und unserer heutigen Empfindungsweise nicht genügender und nicht entsprechender war.“ 81 R., Musik für die Synagoge (Okt. 1860), 131. 82 Artikel Sulzer, in: Gustav Schilling, Das Musikalische Europa (1842), 332f. Schon 1835/36 widmete Schilling Salomon Sulzer einen Artikel in seiner Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften oder Universal-Lexicon der Tonkunst, 536f.
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musikalischem Conversations-Lexikon83 positiv gewürdigt. Bedeutung erlangte Sulzer vor allem durch sein 1840 erschienenes Sammelwerk der modernen Synagogalkompositionen Schir Zion84 sowie als Leiter und Dirigent des Wiener Synagogalchors.85 Jedoch fanden sich in der Wiener Tageskritik des von Sulzer eingeleiteten Reformgottesdienstes durchaus ambivalente Untertöne, die an die durch Herder eingeführte Vorstellung von der ‚fremden, jüdisch-orientalischen Nationalmusik‘ erinnerten. So notierte etwa die Wiener Presse anlässlich des Eröffnungsgottesdienstes der neuen Synagoge am 9. April 1826: Die Musik zu den Psalmen sowohl als zu den übrigen Gesängen wurde von Herrn Joseph Drechsler, Kapellmeister und Professor der Harmonie bei St. Anna componirt. Wie er so ganz in die Tiefe der hohen Gotteslieder eingedrungen, ward wohl jenen am meisten klar, die mit der orientalischen Poesie vertraut sind.86
Ähnliche Anklänge an den „Reiz des Fremdartigen“,87 zu dessen Sinnbild die Juden zu Beginn des 19. Jahrhunderts stilisiert wurden, lassen sich in der Rezeption von Sulzers Sammelwerk Schir Zion feststellen, über dessen zweiten Teil Eduard Hanslick urteilte: Der zweite Theil des Sulzer’schen ‚Schir-Zion‘, obwohl natürlich dem modernen Ton- und Modulations-System angehörig, läßt ein eigenthümliches orientalisch-jüdisches Gepräge nirgends vermissen. Mit voller Anschaulichkeit tritt dasselbe allerdings erst heraus, wenn die Note durch den charakteristischen nationalen Vortrag belebt und individualisiert wird. Aber auch die Note an sich trägt diesen Typus; [...] Lebt doch im jüdischen Volke neben dem Charakterzug der Assimilirung der noch stärkere eines zähen Festhaltens an den nationalen Sitten und Traditionen. [...] So
83 Artikel Sulzer, in: Mendel, Musikalisches Conversations-Lexikon (1887), Bd. 10, 28–30. Auch Franz Liszt ging in seiner Abhandlung Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn in einem eigenen Abschnitt des Kapitels Die Israeliten auf Sulzer ein. Vgl. Kap. 3.4 Die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts: Kontinuitäten und Akzent-Verschiebungen. 84 Salomon Sulzer (Hg.), Schir Zion, 1. Teil: Ein Cyklus religiöser Gesänge zum gottesdienstlichen Gebrauche der Israeliten, Wien 1840 >Vorrede datiert 1838@, 2. Teil: Gottesdienstliche Gesänge der Israeliten, Wien 1865. Vgl. Sendrey, The Music of the Jews in the Diaspora, 245: „With the ‚father of modern cantorate‘, Solomon Sulzer […] a new era of cantorial art and synagogue music was inaugurated. [...] These were the first to undertake, during the outgoing eighteens century, the task of writing down, to the best of their abilities, the ancient melodies into Western musical notation – the oral tradition into modern musical language.“ 85 Vgl. Alexander L. Ringer, Salomon Sulzer – Zwischen Emanzipation und Exotik, 1139, sowie die Sammlung Salomon Sulzer – Kantor, Komponist, Reformer. Katalog zur Ausstellung des Landes Vorarlberg. 86 Allgemeine Theaterzeitung und Unterhaltungsblatt für Freunde der Kunst und des geselligen Lebens (hg. von Adolf Bäuerle), Bd. 19, 27.4.1826, 202f, zit. nach Hannoch Avenary/Walter Pass/Nikolaus Vielmetti, Kantor Salomon Sulzer und seine Zeit, 47. 87 Eduard Hanslick, Jubiläumsartikel, in: Neue Freie Presse, Nr. 551, 13.3.1866 (auch gekürzt abgedruckt in: ders., Aus dem Concert-Saal [21897], 453–458), zit. nach Avenary/Pass/ Vielmetti, Kantor Salomon Sulzer, 145.
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dürfen wir denn auch im ‚Schir-Zion‘, dem Repräsentanten des modernen Synagogalgesanges, einen nationalen Grundton anerkennen.88
Wenngleich in dieser Passage unklar bleibt, ob Hanslick, dessen Schrift Vom Musikalisch-Schönen bekanntlich durch Richard Wagner in der zweiten Fassung seines Judenthum-Artikels als ‚Propagandatext‘ „für den allgemeinen Zweck des Musikjudentums“89 beschimpft wurde, hier das „zähe Festhalten an den nationalen Sitten und Traditionen“ kritisch betrachtet, deutet seine Schilderung gleichzeitig weniger auf eine Einordnung der Synagogalkomposition in den religiösen Kontext, sondern vielmehr auf den Gesichtspunkt vermeintlich nationaler, ‚jüdisch-orientalischer‘ Traditionen. Auch Louis Lewandowski (1823–1894), Direktor der Berliner Zentralsynagoge, machte sich um die Entwicklung der Gesangspartien im jüdischen Gottesdienst verdient und wurde ebenso wie Salomon Sulzer auch von seiner nicht-jüdischen Umwelt hoch verehrt,90 wie Aron Marko Rothmüller in seiner Untersuchung zur jüdischen Musikgeschichte in Deutschland ausführt: Derjenige aber, der Sulzers Intentionen am vorbildlichsten erfaßte und in dieser Art weiter wirkte, war Louis Lewandowski. [...] Seine Kompositionstechnik ist vollkommener als diejenige Sulzers. Er unterlag stark dem Einfluß der Romantiker, doch sind bei ihm auch Elemente italienischer Musik und die italienische Koloraturmelodik vorhanden. Die Kanon- und die Imitationstechnik sind oft angewendet. [...] Den 88 Eduard Hanslick, Jubiläumsartikel (1866), zit. nach Avenary/Pass/Vielmetti, Kantor Salomon Sulzer, 145f. 89 Richard Wagner, Das Judentum in der Musik (1869), zit. nach Jens Malte Fischer, Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘. Eine kritische Dokumentation, 177. 90 Lewandowskis Hauptwerk war eine Sammlung ein- und zweistimmiger Gesänge für den Gottesdienst mit dem Titel Kol Rinnah u-Teffillah (Berlin 1870, 21883). Schon vorher trat der Komponist jedoch mit weltlichen Kompositionen in die Öffentlichkeit, wie eine wohlwollende Rezension von 1856 in der Berliner Musikzeitung zeigt (Kunst-Nachrichten [April 1856], 132): „Eine Sinfonie von Levandowski wurde am 12.d. im Kroll’schen Saale aufgeführt. Der dirigierende Componist ist ein Künstler, der fleissige Studien gemacht und sich in der Behandlung der Instrumente, in Anlegung und Ausführung des Melodischen ein nicht gewöhnliches Geschick angeeignet hat und mit Geschmack und Einsicht seine Gedanken zu entwickeln weiss. Die rein technischen Behandlungen zeigen die Früchte eines fleissigen Studiums der Comp. von Mozart, hie und da Wendungen, welche an Spohr, an Mendelssohn erinnern, im Schlussatz Beethoven’schen Constructionen. Ueberall ist diese Eigenschaft der Sinfonie mit selbständiger Technik verbunden, es wird dadurch dem Werke in allen Theilen Natürlichkeit und Freiheit verliehen, die wohlthut. Strenge Beobachtung der Form, die niemals in extravagante Bahnen gelenkt wird, giebt dem Ganzen einen künstlerischen Halt [...] eine Einheit im Styl, die für sein Geschick und Talent jedenfalls ein ehrenvolles Zeugnis giebt.“ Anlässlich Lewandowskis fünfundzwanzigsten Amtsjubiläums als Direktor der Berliner Hauptsynagoge und seiner Ernennung zum Königlichen Musikdirektor erschien sowohl in der Neuen Zeitschrift für Musik (Kleine Zeitung. Tagesgeschichte, Auszeichnungen, Beförderungen [Jan. 1866], 15) als auch in der Zeitschrift Symphonia. Fliegende Blätter für Musiker und Musikfreunde (Feuilleton. Berlin [1866], 24) eine kurze Notiz. Zu seinem fünfzigsten Amtsjubiläum wurde Lewandowski zudem vom Senat der musikalischen Sektion der Akademie der Künste der Titel des Professors der Musik verliehen.
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Anfang dieser Synagogenmusikentwicklung bildete Sulzer, der mehr im überlieferten, traditionellen Gesang wurzelte als Lewandowski, welcher natürlich im allgemeinen bestrebt war, die Melodien, die Sulzer bereits bearbeitet oder verwendet hatte, zu vermeiden.91
1854 erschien in der Neuen Berliner Musikzeitung die deutsche Übersetzung der hebräischen Einleitung zu Samuel Naumbourgs (1817–1880) wichtigstem Werk, einer Sammlung unbegleiteter, rezitativischer Psalmgesänge Semiroth Israel. Chants religieux des Israëlites, contenant la liturgie complète de la Synagogue des temps les plus reculès jusqu’a nos jours (Paris 1847). Autor des Artikels Über hebräische Musik, der die Pariser Reformbestrebungen in der Synagoge dem deutschen Publikum zugänglich machte, war der österreichische Musikkritiker Joseph Gall (1820–1898), der in einer kurzen Vorbemerkung das zeitgenössische Interesse an der Geschichte der Synagogalmusik deutlich machte: Was der Herausgeber dieses Gesangbuches [Naumbourg] in dieser gedrängten Geschichte der hebräischen Musik gesagt hat, kann nicht nur rücksichtlich der gründlichen Forschungen im Gebiete dieses Zweiges der Musik als äusserst belehrend, sondern auch durch seine kühnen aber begründeten Behauptungen und Schlüsse, so wie durch die neuen Ideen, die darin kundgegeben sind, in wissenschaftlicher und künstlerischer Hinsicht sehr interessant gelten.92
In der nachfolgenden Übersetzung, die Gall gemeinsam mit dem Philologen Franz Weissgerber erarbeitete, wurde durch Samuel Naumbourg eine Rekonstruktion der althebräischen Tempelmusik primär anhand von Bibelbelegen angestrebt und zusätzlich die Stereotype der früheren Musikliteratur kritisch beleuchtet: Eine beträchtliche Zahl neuerer Kritiker behauptet, der Gesang im Tempel sei hart, barbarisch gewesen und habe nur in monotonen Recitativen bestanden. Diese Meinung dünkt uns nicht sehr wahrscheinlich; überdies ist kein einziger Beweis zur Aufrechthaltung dieser Behauptung aufgebracht.93 91 Rothmüller, Aufklärungszeit, Emanzipation und Reformation, in: ders., Die Musik der Juden, 104–107. 92 Gall, Über hebräische Musik (Sept. 1854), 282. 93 Gall, Über hebräische Musik (Sept. 1854), 283. Gleichzeitig folgte der Reformer Naumbourg der Einschätzung von Charles Burney, der vor allem in der Sopranstimme, die den Vorsänger begleitete, eine Imitation fehlender Instrumente sah. Naumbourg hob dies in seiner Einleitung allerdings würdigend hervor (Gall, 290): „Eine durch gewaltsame Pressung der Kehle hervorgebrachte Stimme, deren Klang, obwohl von bedeutender Kraft, dennoch sehr unangenehm ist. Diese Stimme sollte das Serpent der katholischen Kirche ersetzen. [...] Dennoch gab es unter den Vorsängern (officiants) Männer, welche Talent und Geschmack hatten und durch ihren lebhaften und bemerkenswerthen Vortrag ihre Zuhörer hinrissen und sie zur Andacht stimmten. Mehrere dieser Sänger waren sogar Musiker von Fach und zeichneten sich durch eine grosse Zahl von Compositionen aus. In mehreren rabbinischen Werken des 18. Jahrhunderts spendet man der Musik viel Lob und man empfiehlt den in den Synagogen angestellten Sängern (Vorsängern) das Studium dersel-
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Dass sich diese Ansicht über die zeitgenössische Synagogalmusik, die von Burney und Forkel in das Musikschrifttum getragen wurde, auch im 19. Jahrhundert trotz der Aufklärungsversuche von jüdischer wie nichtjüdischer Seite94 fortgesetzt hat, zeigte die Uebersichtliche Darstellung der Geschichte der kirchlichen Dichtung und geistlichen Musik des Augsburger Kapellmeisters Hans Michael Schletterer (1824–1893). Schon in seiner Betrachtung der drei Formen gottesdienstlicher Gesänge als Vorformen christlicher Kirchenmusik, den Psalmen, Hymnen und geistlichen Oden wurden seine Ressentiments gegenüber der althebräischen Tempelmusik deutlich. Gemäß dem theologischen Rahmen seiner Untersuchung sah der Autor die christliche Kunst als Erneuerung und Erweiterung der altjüdischen Psalmen an. Während die alttestamentlichen Psalmen traditionell allein dem religiösen Zweck dienten, habe laut Schletterer nur das Christentum die Potenz, das „religiöse Interesse“ mit einem künstlerischen Anspruch zu verbinden:95 Die neue Kirche mit ihrem Cultus trat hiemit ebensowohl dem morschen Heidenthume, als den verknöcherten Formen des Judenthums bestimmt entgegen.96
In seiner Darstellung einer Konfrontation von Judentum und Christentum blieb Schletterer gerade in seinen Schilderungen der zeitgenössischen Synagogalmusik den stereotyp geprägten Formulierungen des 18. Jahrhunderts verhaftet: Die erste Kirche eignete sich ohne Zweifel mit den alttestamtlichen Psalmen auch deren eigenthümlichen Vortrag an, der in einem rezitativen Gesange, einem Aufschwunge der Stimme in freien mannigfaltigen Rhythmen, analog der Unbestimmtheit und Mannigfaltigkeit der metrischen Form der Dichtung bestand. Auch davon sind uns kaum wiedererkennbare Reste in dem Gesange, wie wir ihn heute noch in den Synagogen hören, geblieben; denn aus jenem schönen Seelenschwunge der
ben.“ Der „Serpent“, eigentlich ein Bass-Instrument der Zinkenfamilie war vom späten 16. bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts gebräuchlich und unterstützte angeblich den Kirchengesang, wenn in der Gemeinde keine Orgel zur Verfügung stand. Unter Umständen benutzte Naumbourg den Begriff jedoch auch als Synonym für die – in der Synagoge seinerzeit umstrittene – Orgel, in der es eine gleichnamige Zungenstimme gibt. 94 Vgl. etwa Joseph Levin Saalschütz (Geschichte und Würdigung der Musik bei den Hebräern, im Verhältnis zur sonstigen Ausbildung dieser Kunst in alter und neuer Zeit [1829]) sowie Peter Joseph Schneider (Biblisch-geschichtliche Darstellung der hebräischen Musik deren Ursprung, Zunahme, Glanzpunkt, Abnahme und gänzlicher Verfall [1834]). Während Schneider eine Rekonstruktion anhand von hebräischen Quellen und judaistischen Studien versuchte, widerlegte und ergänzte Saalschütz vor allem die „grelle Schilderung“ (108) Johann Nikolaus Forkels. 95 Schletterer, Geschichte der geistlichen Musik (1866), 2: „Der Psalm vermochte, solange er der Ausdruck der hebräischen Glaubensanschauung war, beide in ihm liegenden Elemente nicht zu vereinigen; das religiöse Interesse überwog in ihm noch das künstliche. Eine solche Verschmelzung blieb dem Christenthume vorbehalten“. 96 Schletterer, Geschichte der geistlichen Musik (1866), 8.
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alttestamentlichen Begeisterung ist durch Entseelung und Erstarrung das widerlichste Geplärre geworden. In der ersten Christengemeinde aber mußte sich die überlieferte Gesangsweise verjüngen und verherrlichen [...].97
Gegen derlei Kolportage der typischen Redewendung vom „widerlichste[n] Geplärre“ der Synagogalmusik gab es jedoch auch Widerstände, welche auf die im 19. Jahrhundert zunehmend differenzierte Haltung gegenüber den deutschen Juden und ihrem Ritus hinweist. In diesem Sinn konterte der Musiker und Komponist Hermann Zopff (geb. 1828) in seiner Rezension Schletterers dem obigen Zitat mit einem Verweis auf die skizzierten jüdischen Reformbestrebungen: So schlimm steht es nun doch nicht überall, wenigstens in den Hauptsynagogen von Wien und Berlin, wo, Dank den tiefen Forschungen und geistvollen Institutionen eines Sulzer und Lewandowsky, die althebräischen Gesänge in, der Auffassung unserer Zeit entsprechenden Bearbeitungen, künstlerisch ausgeführt zu Gehör gelangen.98
Drei Jahre später veröffentlichte Schletterer eine überarbeitete Fassung seiner Kirchenmusikgeschichte und modifizierte hierin seine 1866 getroffenen Urteile erheblich.99 Vorsichtig formulierte er, dass allein durch „Ahnungen“ und „Vermuthungen“100 eine Rekonstruktion der althebräischen Tempelmusik anhand von Bibel-Quellen versucht werden könne. Ein direkter Einfluss der althebräischen Gesangsweise auf die synagogale Praxis der zeitgenössischen jüdischen Gemeinden sei dementsprechend kaum nachzuweisen, da sich diese in der Diaspora stark ausdifferenziert habe. Ebenso könne man von der Hypothese einer Verbindung zwischen der althebräischen Tempelmusik und den christlichen Psalmgesängen ausgehen, die jedoch aufgrund der Quellenlage ebenso schwierig zu belegen sei.101 Damit 97 Schletterer, Geschichte der geistlichen Musik (1866), 9. 98 Hermann Zopff, Geschichte der Musik. H.M. Schletterer, Uebersichtliche Darstellung der Geschichte der kirchlichen Dichtung und geistlichen Musik, in: Neue Zeitschrift für Musik (Sept. 1866), 321. 99 Schletterer, Geschichte der geistlichen Dichtung und kirchlichen Tonkunst vom Beginne des Christenthums bis zum Anfange des elften Jahrhunderts (in ihrem Zusammenhange mit der politischen und socialen Entwickelung insbesondere des deutschen Volkes). Mit einer Einleitung über die Poesie und Musik der alten Völker (1869). In seinen Kapiteln Von der Poesie der Hebräer (11–15) und Von der Musik der Hebräer (15–26) orientierte er sich nach eigenem Bekunden an der einschlägigen Literatur von Saalschütz (Geschichte und Würdigung der Musik bei den Hebräern [1829]), Herder (Vom Geist der ebräischen Poesie [1782f] und Pfeiffer (Über die Musik der alten Hebräer [1779]). 100 Schletterer, Geschichte der kirchlichen Tonkunst (1869), 15. Zweifel an den Möglichkeiten einer Rekonstruktion althebräischer Musik äußerten einige Autoren des 19. Jahrhunderts, so etwa August Reissmann in seiner Allgemeinen Geschichte der Musik (1863f). 101 Schletterer, Geschichte der kirchlichen Tonkunst (1869), 24: „Möglich, dass sich kaum erkennbare Reste alten Gesanges unter dem Volke Israels selbst bis zum heutigen Tage erhalten haben. Der Gesang der in alle Welt zerstreuten Nation hat jedoch fast nichts Gemeinsames mehr [...]. Es dürfte also geradezu unmöglich sein, zu bestimmen, welche Gesangsweise heutiger Juden-
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wertete Schletterer die althebräische Musik und Poesie auf,102 indem er sie explizit als direkte Vorform christlicher Kirchenmusik herausstellte: [...] die heiligen Gesänge Juda’s haben als solche für uns auch noch einen andern hohen Werth, denn in ihnen gründet die christliche Dichtung überhaupt und ein grosser Theil der in allen Jahrhunderten unserer Zeitrechnung entstandenen geistlichen Liedern [...].103
Unübersehbar orientierte sich Schletterer hier an der Geschichte der Musik von August Wilhelm Ambros, dessen Formulierungen er teilweise kopierte: Die Musik des Christenthums lieh von der der Hebräer den frommen, heiligen Inhalt, von der der Griechen Form, Gestalt und Schönheit.104
August Wilhelm Ambros vierbändige Musikgeschichte kann als der Höhepunkt der deutschen Musikhistoriographie des 19. Jahrhunderts gelten. Anders als etwa Forkel betrachtete Ambros die jeweilige musikalische Entwicklung als kulturelles Phänomen und suchte die antike Musikpraxis, darunter auch die althebräische Musik, als Ausdruck des jeweils speziellen historisch-kulturellen Milieus zu sehen.105 Seiner Auffassung nach besaß die althebräische Kultur einen sehr hohen Entwicklungsstand, aus dem sich die frühe einstimmig vokale Musik des Christentums – etwa der Gregorianische Gesang des 6. bis 10. Jahrhunderts – ableitete.106 Schon Burney stellte gemeinden der originalen am nächsten kommt. Sehr wahrscheinlich ist es, dass alte Psalmenmelodien sich in die christliche Kirche herüber retteten, aber auch diese mögen wohl kaum aufzufinden sein.“ 102 Daneben verbreitete Schletterer jedoch in seinen Ausführungen über die althebräischen Instrumente das christliche Stigma der ‚jüdischen Unkreativität‘, in dem er die Juden als ein „überhaupt kein erfindungsreiches Volk“ darstellte (24). Auch hegte er Zweifel angesichts der, von ihm hier in die Sekundärliteratur projizierten Überhöhung ihrer musikalischen Fähigkeiten (25): „[...] so ist bei den Mittheilungen über die Musik der Hebräer ganz besonderes Misstrauen nöthig, denn hunderte von berufenen und unberufenen Schriftstellern waren von jeher bemüht, ihr [der Musik] die fabelhaftesten Vorzüge anzudichten und ihr eine Vollkommenheit beizulegen, die sie nie besessen hat, nie besessen haben kann“. 103 Schletterer, Geschichte der kirchlichen Tonkunst (1869), 15. 104 Schletterer, Geschichte der kirchlichen Tonkunst (1869), 26. Vgl. Ambros, Geschichte der Musik, 1. Bd.: Die Musik des griechischen Altertums und des Orients (1887), 407: „Von der musica sacra der Hebräer holte sich die Musik des Christenthums die Heiligung, von der Tonkunst der Griechen holte sie sich Form, Gestalt und Schönheit.“ 105 Ambros, Aus dem Vorworte der ersten Ausgabe, in: ders., Geschichte der Musik (1887), 1. Bd., VIII: „Verständniss, Liebe und Werthschätzung des Edeln, aber dem Zeitgeschmacke entfernt Liegenden zu wecken ist eine der Aufgaben des Kunsthistorikers.“ An dieser Stelle findet sich auch eine Kritik an Forkel (XII): „Wer dem antiken Geiste so völlig fremd bleiben konnte, für den war auch die antike Musik etwas völlig Unverstandenes [...]. Seine [Forkels] Verachtung der antiken Musik ist wenigstens für Deutschland maassgebend geworden“. 106 Ambros, Geschichte der Musik (1887), 1. Bd., 114: „Die deutschen Juden singen dagegen in Weisen, die eine Verwandtschaft mit dem gregorianischen Choral haben und mitunter erhaben heissen dürften, wenn der Vortrag ruhiger, weniger bunt wäre.“ An Ambros orientierte sich auch August Reissmann in seiner Allgemeinen Geschichte der Musik (1864), der sogar von einem
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in A General History of Music eine musikalische Übernahme althebräischer Wechselchöre in die christlichen Kirchen dar.107 Das Urteil seiner Vorgänger nivellierend, welche die althebräische Tempelmusik an der abendländischen Kunstmusik zu messen suchten, schränkte Ambros die Synagogalmusik als explizite Gebrauchsmusik des religiösen Ritus ein: Bei dieser ausschliessenden Richtung hebräischer Musik kommt es gar nicht in Betracht, ob sie den Standpunkt einer Kunst, einer Darstellung des Schönen durch Töne, eingenommen, wie später bei den Griechen. Sie ist Gottesdienst, nicht Kunst, und nicht die Aesthetik, sondern die Religion hat ihren Werth zu bestimmen.108
Ähnlich plädierte Ambros auch in Bezug auf das zeitgenössische Judentum für eine Differenzierung und folgerte für die vermeintliche Herkunft der deutschen Synagogalmusik aus althebräischen Traditionen: Die Melodien, nach denen die Juden heutzutage ihre Psalmen singen, geben keinen Anhaltspunkt, weil die deutschen, italienischen, spanischen u.s.w. Juden denselben Psalm nach untereinander völlig verschiedenen Weisen vortragen. Die Juden, so fest sie an dem Wesentlichen ihrer Nationalität und ihres Glaubens von jeher hielten, schliessen sich in allem Uebrigen mit wunderbarere Elasticität den Völkern an, unter denen sie seit ihrer Zerstreuung wohnen [...]. So mag auch auf ihren Gesang die übrige Musik des Landes nicht ohne Einfluss geblieben sein.109
althebräischen Einfluss auf die frühen deutschen Meistersingern ausging (Bd. 2, 6): „Wie aber die Meistersinger selbst ihren Ursprung von dem gottbegeisterten Sänger David ableiteten, so ist auch ihre Gesangsweise dem vom jüdischen Synagogengesange abgeleiteten und von der christlichen Kirche weitergebildeten, psalmodierenden Gesange des Liturgen näher verwandt als dem mehr volksmässigen der Sequenzen.“ 107 Burney, History of Music (1776), 1. Bd., 197: „This is an indubitable proof of a chant in dialogue, or, à dui cori, being in early use: and it was this which probably gave rise to the manner of chanting the Psalms in the cathedral service.“ 108 Ambros, Geschichte der Musik (1887), 1. Bd., 407. Gleichzeitig ging Ambros in seiner Musikgeschichte jedoch von einem unüberwindbaren Gegensatz zwischen einer „europäischabendländisch-christliche[n]“ und einer „asiatisch-orientalisch-mohammedanische[n]“ Musikkultur aus (Aus dem Vorwort der ersten Ausgabe, XVI), der zwar Mitte des 19. Jahrhunderts nachvollziehbar scheint, übertragen auf eine ‚jüdisch-hebräische Musik‘ jedoch eine ähnliche Konnotation erhält wie die Gegenüberstellung des „orientalischen“ mit dem „neuern europäischen Geschmacks“ von Forkel (Geschichte der Musik [1788], Bd. 1, 162). 109 Ambros, Geschichte der Musik (1887), 1. Bd., 414. Aus der ausgewogenen Darstellung Ambros fallen vereinzelt getroffene Bemerkungen heraus, in denen zeitspezifische Stigmatisierungen des zeitgenössischen Judentums einfließen. So projizierte er in einer Fußnote sowohl einheitliche physische Merkmale als auch einen spezifischen ‚jüdischen‘ Charakter (404, Fußnote 2): „Diese ‚orientalische Schönheit‘ ist von der griechischen Schönheit freilich sehr verschieden, aber wirklich nicht geringer. Noch jetzt findet man unter den Israeliten, besonders unter den polnischen Juden, Männer und Frauen von ausserordentlich schöner Bildung, besonders aber wahrhaftig ehrwürdige, echt patriarchalische Greisengestalten. Schachergeist, Schmutz, Elend verzerren die an sich schöne Nationalbildung leider nur zu oft zu einer schmählichen Karikatur. [...] Das wir an das alte Israel, dem wir ebenso viel und noch unendlich mehr danken, als dem
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Das skizzierte Spannungsfeld zwischen Assimilation und Tradition, wie es sich in der deutschen Synagogalmusik des 19. Jahrhunderts zeigte, prägte entscheidend das musikpublizistische Bild einer ‚jüdischen Musik‘. Wenn Jacob Hohenemser und Frederic Ewen für den Zeitraum von 1830 bis 1880 zu dem Untersuchungsergebnis kommen, die Rezeption der Synagogalmusik in Deutschland sei zumeist von objektiver Betrachtung geprägt,110 ist ihnen nur bedingt zuzustimmen. Zwar lässt sich bei einigen Autoren eine zunehmend differenzierende Haltung feststellen, die sicherlich auch durch die tiefgreifenden Entwicklungen der europäischen Synagogalmusik ausgelöst wurde. Zugleich erfolgte jedoch die Rezeption der ‚jüdischen Musik‘ im 19. Jahrhundert zunehmend vor einer verdichteten, säkularisierten Form anti-judaistischer Stereotype. Nicht mehr allein die religiöse Differenz zwischen Juden und Christen sondern verstärkt die Idee einer ‚nationalen Substanz‘ bestimmte eine Gegenüberstellung. Ein Ausdruck dessen findet sich in dem Bild des ‚fremden Orientalen‘, der sich trotz seiner Jahrhunderte alten Geschichte in Deutschland einen spezifischen, konstanten ‚Nationalcharakter‘ bewahrt habe. 3.2.2 Komponisten im Spiegel anti-judaistischer Polemik Komponisten im Spiegel anti-judaistischer Polemik Am deutlichsten lassen sich die für das 19. Jahrhundert charakteristischen, säkularen Entwicklungen der Stigmatisierung einer ‚jüdischen Musik‘ in der öffentlichen Wahrnehmung erfolgreicher Komponisten jüdischer Herkunft feststellen. In diesem Sinn soll im Folgenden exemplarisch die Rezeption Giacomo Meyerbeers in der deutschen Musikpublizistik betrachtet werden, um im Anschluss eine Übertragung der hier vermittelten Bilder auf Jacques Offenbach und Felix Mendelssohn Bartholdy nachzuzeichnen. Stehen die Biographien der Komponisten sowie ihre Möglichkeiten zu öffentlichen Erfolgen auf der einen Seite in engem Zusammenhang mit der emanzipatorischen Haltung weiter Teile des deutschen Judentums, wurden sie jedoch auf der anderen Seite auch zu einer prominenten Angriffsfläche für Emanzipationsgegner und deutsch-national Gesinnte, die den ‚christlichgermanischen‘ Staat gegen die vermeintlichen Eindringlinge zu verteidigen suchten. Dabei lässt sich schon anhand der Familiennamen der genannten alten Hellas, nicht mit gleicher Sympathie denken, hat seinen Grund wohl darin, dass uns manche sehr herbe, allen Semiten und also auch den Hebräern eigene Züge [...] abstossen, gewiss aber auch darin, dass sich uns unwillkürlich Vorstellungen einmengen, die wir von dem Schacherjuden und dem baronisirten Bankierthume abstrahirt haben, die aber glücklicher Weise auf die Zeitgenossen David’s und Salomo’s nicht passen.“ 110 Hohenemser/Ewen, The Jew in German Musical Thought, 95: „[...] interest in the music of the synagogue and temple, both ancient and contemporary, was kept alive, the subject was treated, on the whole, with objectivity“.
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Komponisten eine judenfeindliche und früh-antisemitische Stigmatisierung vermuten, die durch deren öffentliche Erfolge noch verstärkt wurde. Traditionell nur mit einem Rufnamen ausgestattet, dem gegebenenfalls der Name des Vaters hinzugefügt war, bildeten die deutschen Juden eine Ausnahme aus dem nicht nur in Deutschland gängigen Schema von Vor- und Familiennamen: Juden besaßen durchweg keinen Familiennamen. Sie führten nur einen Rufnamen, dem zur weiteren Verdeutlichung, falls nötig, der Rufname des Vaters beigegeben wurde.111
Mit dem durch die Aufklärung angeregten Assimilationsdrang und unter staatlich forciertem Anpassungszwang wurde seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine Angleichung jüdischer Namen an die deutsche Umwelt erstrebt. So regelte etwa das Edikt vom 11. März 1822 betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden im Preußischen Staate die Namensannahme für diejenigen Juden, die dies im Zuge ihrer Assimilationswilligkeit noch nicht getan hatten. Dabei wurden auf jüdischer Seite vielfach traditionelle Namen beibehalten oder in die neu angenommenen Namen integriert.112 In diesem Sinn blieben, wie Dietz Bering in seiner Untersuchung zu jüdischen Namensänderungen Der Name als Stigma belegt, bestimmte, zum Teil alttestamentliche Vornamen ebenso wie neugewählte Nachnamen, als vermeintlich typisch ‚jüdisch‘ kenntlich und wurden in der antisemitischen Agitation zu Diskriminierung und Spott genutzt.113 Für das Musikschrifttum scheint die Vermutung naheliegend, dass etwa der ursprünglich jüdische Vorname ‚Beer‘ bzw. ‚Baer‘ im Namen Meyerbeer ebenso einen Anhaltspunkt für die jüdische Herkunft des Komponisten lieferte wie die Silbe ‚Levy‘ bei Jacques Halévy oder der direkt auf die väterliche Linie bezogene Nachname ‚Mendelssohn‘. Auch familiäre Herkunftsnamen, wie der von Jacques (Jakob) Offenbach, der auf die Geburts111 Bering, Die Emanzipation der Juden und der neue Name als Symbol für den staatsbürgerlichen Qualitätssprung, in: ders., Der Name als Stigma, 43f: „So bezeugt auch das Benennungssystem: Nicht als Stand neben Ständen, sondern gänzlich außerhalb der Standesgesellschaft führten die Juden wie im Mittelalter so zuerst auch in der Neuzeit ihr Leben. [...] Die Zahl der Juden war klein, so daß im ‚Binnenverhältnis‘ bloße Rufnamen langten, und die Außenwelt, die Standesgesellschaft, hatte oft Maßnahmen getroffen, daß sie auf die Faßbarkeit des jüdischen Individuums gar nicht angewiesen war. Als Bezugspunkt fungierte für sie kollektiv die jüdische Gemeinde, die nicht allein für die Verbindlichkeiten ihrer Mitglieder gesamtschuldnerisch haftete, sondern auch für deren Straftaten.“ 112 Bering, Der Name als Stigma, 58: „Die ganz überwiegende Mehrheit gedachte, Vätersitte auch in Namensfragen, so weit wie möglich, beizubehalten.“ 113 Die Bedeutung ‚jüdisch klingender‘ Namen veranschaulichen ebenfalls die seit Ende des 19. Jahrhunderts erschienenen schwarzen Listen, die sich – auch bezogen auf die Musikwelt – dem denunziatorischen Nachweis der jeweiligen jüdischen Herkunft ebenso wie der Aufdeckung von künstlerischen Pseudonymen als spezifisch ‚jüdische Mimikry‘ verschrieben. Vgl. Kap. 6.1 Die Juden in der Musik: Nachschlagewerke und schwarze Listen.
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stadt des Vaters in Offenbach am Rhein verwies, wurden zwar „oftmals als besonders signifikant für Juden angesehen“, kamen jedoch „häufig auch bei Deutschstämmigen vor“.114 Einen Beleg für die Signalfunktion dieser ‚jüdisch klingenden‘ Familiennamen liefert eine negative Rezension zu Meyerbeers Oper Robert le diable, in der der Komponist noch 1832 penetrant als „Hr. M. Beer“ bezeichnet wurde115 und damit weniger auf den ursprünglichen Familiennamen des Komponisten als auf den vermeintlich jüdisch konnotierten Vornamen ‚Me(a)ier‘ bzw. ‚Meyer‘ rekurriert wurde.116 Angesichts der Tatsache, dass Meyerbeer seinem Geburtsnamen ‚Beer‘ schon in der Jugend seinen Vornamen ‚Meyer‘ hinzufügte, den er 1819 um den Vornamen ‚Jacob‘ ergänzte117 und seine frühen italienischen Opernkompositionen ab 1817 unter dem Namen ‚Giacomo Meyerbeer‘ publizierte, scheint die noch in den 1830er Jahren erfolgte Titulierung als „M. Beer“ einen deutlich stigmatisierenden Unterton zu haben. Vor diesem Hintergrund der Bedeutung von ‚jüdisch klingenden‘ Namen der jeweiligen Komponisten wird zu zeigen sein, in welcher Form die Musikpublizistik hier verschiedene Stereotype und Vorwürfe aus der allgemeinen judenfeindlichen Literatur entlehnte und sowohl auf die Biographien als auch auf die musikalischen Werke der genannten Komponisten übertrug. Dabei blieb das anhand der Synagogalmusik des 18. Jahrhunderts entwickelte und sich im 19. Jahrhundert manifestierende Schlagwort von der ‚orientalischen Fremdheit der deutschen Juden‘ weiterhin präsent, wurde jedoch mit der neuen Qualität, die den im 19. Jahrhundert entstehenden Antisemitismus kennzeichnete, verzahnt.118 In Wechselwirkung mit den 114 Bering, Der Name als Stigma, 33. 115 B., Ueber ‚Robert den Teufel‘ in Berlin. ‚Quousque tandem abutere‘, in: Allgemeine Musikalische Zeitung (Juli 1832), 483–488. 116 Vgl. den pejorativen Grundton des Artikels Beer oder Meyerbeer, in: Gustav Schilling, Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften (1835f), 506–510. Auch in der antijudaistischen Schrift Das geheime Treiben, der Einfluß und die Macht der Juden in Frankreich von Hermann von Scharff-Scharffenstein (1872) wird der Komponist in Anspielung auf seine jüdische Herkunft als „Mayerbeer“ (82) tituliert. 117 Giacomo Meyerbeer – Weltbürger der Musik, 54: „Es [das Kind] wurde im Geburtenregister der jüdischen Gemeinde zu Berlin unter dem Namen Meyer Beer eingetragen, Meyer ist also der Vorname. Nach 1810 zieht Meyerbeer Vor- und Zunamen zusammen, die behördliche Genehmigung zur Führung dieses Familiennamens wird jedoch erst 1822 erteilt. Am 1. Febr. 1819 unterschreibt Meyerbeer die Eidesformel zur Erlangung des Bürgerrechts in Berlin mit dem Vornamen ‚Jacob‘, der aber erst am 19. Mai 1826 offiziell bestätigt wird. Seit seiner Italienzeit gebraucht Meyerbeer die italienisierte Form ‚Giacomo‘.“ 118 Vgl. etwa den Artikel Hebräer. Hebräische Musik von C. Billert (in: Mendel, Musikalisches Conversations-Lexikon (1875), Bd. 5, 168), in dem – wie in vielen Publikationen dieser Zeit – eine Verquickung von althebräischer Synagogalmusik mit den in die Öffentlichkeit tretenden Komponisten jüdischer Herkunft erfolgte: „Auch in dem unverfälschten Stamme der H. scheint ein Urgeist des Empfindens in der Musik sich noch bis heute bewahrt zu haben [...]. Dies beweisen die Kunstheroen, welche in jedem Musikkreise, wenn wir über solche in neuester Zeit getreu zu berichten vermöchten, sich aufweisen lassen würden. Im Abendlande nennen wir nur die Tonmeister
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assimilatorischen Tendenzen des jüdischen Ringens um gesellschaftliche Integration erfolgte auf anti-judaistischer Seite eine Säkularisierung und Verschiebung tradierter judenfeindlicher Bilder und Stereotype. Im welchem Maße die jüdischen Assimilationsbestrebungen mit dem Ziel der bürgerlichen Gleichstellung umgedeutet werden konnten, illustriert die Schrift Die Juden und ihre Gegner des Pfarrers Gerhard Friedrich (1779–1862), die 1816 erschien. Mithilfe der Übertragung Herderscher Vorstellungen von einer – trotz der Diaspora – in sich geschlossenen jüdischen Gemeinschaft mit homogenen, konstanten „National- und Jugendeindrücke[n]“,119 suchte Friedrich die jüdischen Assimilationsbestrebungen als negativ dargestellte ‚Nachahmung‘ und ‚Aneignung‘ abzuwerten: Der Reiz der Neuheit zieht sie an, ihr Nachahmungstrieb macht sie kühn und deshalb streben sie denn, sich Alles das anzueignen, von dem sie glauben, daß die Genossen des Christenthums stolz darauf sind, sich in solchen Gegenständen gefallen und darin glänzen.120
Unter dem Deckmantel einer scheinbar ‚objektiven‘ Darstellung121 belegte der Autor die deutschen Juden mit einer Vielzahl von Vorwürfen, um ihre Unzulänglichkeit für eine bürgerliche Gleichstellung im Rahmen deutschnationaler Einigungsbestrebungen nachzuweisen. Dabei wurde die traditionelle Bindung der Juden an internationale Geldgeschäfte zu einem Argument für ihren angeblichen Mangel an nationaler Gesinnung stilisiert: Indessen müssen wir offen gestehen und es wird unten genauer erwiesen werden, das Patriotismus, wahre thätige Vaterlandsliebe gegenwärtig noch zu viel von ihnen gefordert heißt. [...] Gleichen sie nicht [...] einer großen durch die ganze Welt verbreiteten, geschlossenen Gesellschaft reisender Kaufleute, welche die Märkte eines Staates beziehen, sich durch den Handel bereichern und dann ihr Kapital und ihre Kräfte dem Staat entziehen, den sie für einige Zeit zum Wohnsitz erwählt haben.122
Mit Blick auf die Musik bezog sich Friedrich auf die gängigen Abwertungen der Synagogalmusik, die er allerdings ebenso mit physischen Merkmalen der Bewegung wie auch mit sprachlichen Assimilationsbestrebungen verknüpfte: Meyerbeer, Mendelssohn und Halévy und verweisen ausserdem auf die Legion von verdienstvollen Priestern der Kunst aus dem Stamme der H., welche alle täglich die Wahrheit der Worte ‚Die Form hat man zerbrochen, doch der Geist lebt in uns Allen fort‘ durch ihre Thaten beweisen.“ 119 Friedrich, Die Juden und ihre Gegner (1816), 13. 120 Friedrich, Die Juden und ihre Gegner (1816), 12. 121 Friedrich, Die Juden und ihre Gegner (1816), 6f: „Daher dieser Versuch, die Wahrheit in der Mitte zu finden. Wie jenes Volk das geworden, was es gegenwärtig ist mit Licht und Schatten, mit Scharfsinnn und Habsucht, das psychologisch, ja! pragmatisch zu beantworten, vermag nur eine philosophische Geschichte dieses Volkes und seiner Schicksale, im Geiste eines Herder geschrieben.“ 122 Friedrich, Die Juden und ihre Gegner (1816), 18.
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Und gelingt es ihnen auch, sich gewisse Formen des höheren, geselligen Lebens bis zur Täuschung anzueignen, so entwischt ihnen doch bisweilen ein nationaler Mißlaut, welcher dann einen desto grelleren Kontrast und bei den Umgebenden dadurch eine höchst komische Sensation erregt. [...] Der bizarre, orientalische Geschmack in der Tonkunst, erwiesen durch die Musik in ihren Synagogen, ist höchst auffallend; das Singende ihres Dialektes unterdrücken die meisten unter ihnen sehr schwer; das Hastige in ihren Bewegungen, die Eigenheit in allem, was sie beginnen, verräth den israelitischen Stammgenossen sehr bald.123
Solche säkularen Anschuldigungen, hier singulär schon 1816 geäußert, entwickelten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem integralen Bestandteil der antisemitischen Agitationsschriften. So diente der ‚typisch jüdische‘ Bewegungsablauf seit Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem der anti-jüdischen Karikatur als plakative Angriffsfläche.124 Auf den von Friedrich exponierten „nationale[n] Mißlaut“,125 die jiddische bzw. so genannte ‚juden-deutsche‘ Sprache, die im Zuge sprachlicher Assimilation im 19. Jahrhundert zunehmende das Hebräische verdrängte, rekurrierte vierunddreißig Jahre später Richard Wagner in seinem Artikel Das Judenthum in der Musik, der hierin ein integrales physisches Merkmal des Judentums sah, das zwangsläufig zur ‚Unfähigkeit‘ im künstlerischen Ausdruck führe. Gerade Wagners Vorwürfe wurden von der historischen Forschung als ein zentrales Dokument des neuen Antisemitismus rezipiert. Jedoch lassen sich Wagners Invektiven in Ansätzen schon im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts feststellen und dokumentieren, dass die neue Qualität anti-judaistischer Agitation schon wesentlich früher in das Musikschrifttum Eingang finden konnte. In der deutschen Musikkritik wurde vor allem Giacomo Meyerbeer mit den stereotypen Anschuldigungen des Internationalismus, der Geldgier und der Gefallsucht zu diskreditieren versucht. Giacomo Meyerbeer: ‚Rothschild der Musik‘ 3.2.2.1 Giacomo Meyerbeer: der ‚Rothschild der Musik‘ Als international erfolgreicher Opernkomponist blieb Giacomo Meyerbeer seinerzeit nicht unumstritten. Anhand der Rezeption seines Schaffens markierte sich allerdings nicht nur die scharfe Trennung der Kritiker und Anhänger der französischen ‚Grand opéra‘. Vielmehr lässt sich in der pejorativen Kritik seiner Gegner zumeist ein impliziter, spätestens seit der Oper Le Prophète (Paris 1849) auch der explizite Hinweis auf Meyerbeers jüdische Herkunft feststellen. Schon sein erster französischer Opernerfolg Robert le diable (Paris 1831) provozierte in Teilen der deutschen Musikkritik Widerstände, die durch das Nachfolgewerk Les Huguenots (Paris 1836) noch verstärkt wur123 Friedrich, Die Juden und ihre Gegner (1816), 15. 124 Vgl. Eduard Fuchs, Der Jude in der Karikatur. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte. 125 Friedrich, Die Juden und ihre Gegner (1816), 15.
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den. In dieser Streitfrage, die bereits Ende der 1830er Jahre begann und bis nach Meyerbeers Tod 1864 anhielt, lassen sich bestimmte Themenkomplexe extrahieren, die sich zunehmend verfestigten. Dabei manifestierte sich in Teilen der deutschen Musikpublizistik in den 30er und 40er Jahren des 18. Jahrhunderts eine neue, säkularisierte Qualität der früh-antisemitischen Agitation, wie sie sich in der oben dargestellten Schrift von Gerhard Friedrich als singuläres Beispiel aus dem Jahr 1816 zeigte. Meyerbeers familiärer Hintergrund eines reichen jüdischen Bankiershaus in Berlin wurde in der Musikliteratur vielfach zum Anlass genommen, seine finanzielle Unabhängigkeit zu betonen, da sie ihm die Möglichkeit bot, seinen Wohnsitz in Europa frei zu wählen und sich in seinem Schaffen von ökonomischen Zwängen freizuhalten.126 Während Verteidigungsschriften Meyerbeers versuchten, den Neid als Motivation für die heftigen Angriffe gegen den Komponisten zu benennen und so außer Kraft zu setzen,127 scheint jedoch die musikpublizistische Hervorhebung von Meyerbeers finanziellem Wohlstand vor dem Hintergrund seiner jüdischen Herkunft dezidiert früh-antisemitische Untertöne zu enthalten. Dabei stellte die vermeintlich enge Verbindung zwischen dem bürgerlich aufstrebenden deutschen Judentum und der neuen ökonomischen Ordnung den Hintergrund für die abwertenden Bemerkungen über Meyerbeers Vermögen. So agitierte die anti-emanzipatorische Literatur vornehmlich gegen ein Judentum, das, historisch in der Sphäre des Geldes verankert, im 18. und 19. Jahrhundert zum Sinnbild einer nach kapitalistischen und industriellen Marktgesetzen umorganisierten Gesellschaft ungedeutet wurde. Da die Juden seit dem Mittelalter durch kirchliches Recht in Zins- und Kleinsthandelsgeschäfte gedrängt worden waren, bildete der Vorwurf des ‚Wuchers‘ und ‚Schachers‘ neben dem des ‚Hausierens‘ und ‚Bettelns‘ ein tradiertes Element der judenfeindlichen Agitation. Parallel zu der Masse verarmter, durch diskriminierende Verordnungen und Übergriffe stigmatisierter Juden entwickelte sich im Laufe des 17. Jahrhunderts eine kleine Schicht von so genannten ‚Schutzjuden‘, die sich und ihre Gemeinden 126 Den „Sohn des reichen jüdischen Banquiers“ benennen unter anderem: Artikel Meyerbeer, in: August Gathy, Musikalisches Conversations-Lexicon. Encyclopädie der gesammten Musikwissenschaft (OA: 1835, 31874), 248; Artikel Beer oder Meyerbeer, in: Schilling, Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften (1835f), 506; William Neumann, Giacomo Meyerbeer. Eine Biographie (1854), 7. Auch noch in dem Nachruf auf Meyerbeer von 1864 findet sich dieses Element explizit erwähnt (Giacomo Meyerbeer, in: Allgemeine Musikalische Zeitung (Mai 1864), 347), desgleichen im Artikel Meyerbeer von 1877 (in: Mendel, Musikalisches Conversations-Lexikon, Bd. 7, 143). 127 Vgl. Johann Peter Lyser, Giacomo Meyerbeer. Sein Streben, sein Wirken und seine Gegner (1838), 15: „Glücklicher Weise besaß Meyerbeer die Mittel, [...] und ich wüßte nicht, was ihn hätte hindern sollen, seinem Genie die Anerkennung der ‚Weltstadt‘ zu verschaffen. Ich bin gewiß: wäre unter seinen Gegnern Einer, der es ihm nachthun könnte, er thäte es.“
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durch finanzielle Zahlungen an die jeweiligen Territorialherren vor einer Verfolgung zu bewahren suchten. Zu diesem Schutzjudentum kamen im 18. Jahrhundert die so bezeichneten ‚Hofjuden‘, indem einzelnen privilegierten jüdischen Familien in verschiedenen deutschen Kleinstaaten wirtschaftliche und finanzielle Machtpositionen übertragen wurden. Als Gegenleistung erwartete man von ihnen, dass sie den jeweiligen Hof mit Krediten, Kriegsmaterialen und durch internationale Geschäfte ermöglichten Luxusgütern versorgten, wie Ismar Elbogen und Eleonore Sterling in ihrer Geschichte der Juden in Deutschland hervorheben: Beim Aufbau seiner Macht bediente sich der absolutistische Staat dieser sogenannten jüdischen Kommissare, Hofjuden. Oberhoffaktoren, Finanz- und Kammeragenten, [...] während die jüdische Bevölkerung in den gleichen Staaten unter kleinlichen und entwürdigenden Bedingungen leben mußte oder überhaupt nicht geduldet war. In der Auseinandersetzung zwischen den Fürsten und den Ständen leisteten sie den ersteren nützliche Dienste bei der Kreditbeschaffung, als Pächter der Münze, der Lotterien, Monopole und staatlichen Manufakturen. [...] Zugleich wurden sie um so verhaßter bei allen, die durch die fürstliche Machtpolitik benachteiligt waren: beim einfachen Volk, das unter dem Steuerdruck zu leiden hatte; bei den Gilden und Zünften, in deren Produktions- und Absatzgebiete der Merkantilismus eingriff; bei den Ständen, deren Rechte durch die steigende fürstliche Macht geschmälert wurden. Gegen die privilegierten Juden entlud sich alle Bitterkeit, aller Haß, den man nicht offen gegen die Fürsten selber zu wenden wagte.128
Vor dem Hintergrund dieser Zwangssituation wurden die, um bürgerliche Gleichstellung bemühten deutschen Juden mit der Industrialisierung und der zunehmenden Transformation von einer ständischen in die bürgerlich kapitalistische Ordnung zu Sündenböcken einer durch wirtschaftliche und soziale Veränderungen verunsicherten Gesellschaft.129 Kam es zunächst zu einer Gegenüberstellung zwischen ‚schaffendem‘ deutschen und ‚raffendem‘ jüdischen Kapital, wurde diese Unterscheidung im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend zugunsten einer Gleichsetzung von Kapitalismus und Judentum aufgegeben. Hierin zeigte sich unter anderem die neue, mo128 Elbogen/Sterling, Die Geschichte der Juden in Deutschland, 120f. Der durch antisemitische Angriffe bekannteste ‚Hofjude‘ war der Jud Süß Oppenheimer (1692–1738) am Württembergischen Hof. 129 Vgl. die statistische Untersuchung Jüdische Minderheit und Industrialisierung. Demographie, Berufe und Einkommen der Juden in Westdeutschland 1850–1914 von Avraham Barkai, der dezidiert nachweist, dass im Rahmen der den Emanzipationsprozess begleitenden jüdischen Berufsumschichtungen nur eine geringe jüdische Minderheit als Träger von Privatbanken und Börsenwesen fungierte, die allerdings im antisemitischen Schrifttum zur Personifikation des sich entwickelnden Kapitalismus stilisiert wurden. Für das frühe 20. Jahrhundert sind hier vor allem die Schriften Werner Sombarts (Die Juden und das Wirtschaftsleben [Leipzig 1911]; Händler und Helden. Patriotische Besinnungen [München/Leipzig 1915]) zu nennen, in denen der Nationalökonom die moderne Industriegesellschaft auf den ‚jüdischen‘ Einfluss zurückzuführen suchte.
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dernitätsfeindliche Tendenz anti-judaistischer Vorwürfe, die auf politischer Ebene im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zum integralen Bestandteil antisemitischer Agitation wurden. Galt bis dato das Judentum als eine in sich geschlossene religiöse und soziokulturell identifizierbare Minderheit, die mit dem Vorwurf einer tradierten, veralteten Lebenskonzeption bedacht wurde, so brachte der Antisemitismus die deutschen Juden in eine enge Nähe zu den gesellschaftlichen Entwicklungen der modernen Wirtschaftsorganisation. Mithilfe dieser ideologischen Erweiterung der judenfeindlichen Haltung nahm man auch Giacomo Meyerbeer nicht allein als Sohn eines wohlhabenden deutschen Juden wahr. Schon 1837 erschien in der Neuen Zeitschrift für Musik eine Polemik, die den Komponisten in die Nähe des abstrakten, ‚raffenden‘ Finanzkapitals rückte und so abzuwerten suchte:130 Ich würde Meyerbeeren [...] lieber den Rothschild der Musik nennen; er sitzt in den musikalische Residenzen, er speculirt in der vollsten kaufmännischen Bedeutung; er weiß wie Keiner, welche Münze, welche Papiere, welche Geschäfte an der Tagordnung.131
In der Logik dieses Vergleichs mit dem Frankfurter Bankiershaus Rothschild wurden die Opern Meyerbeers als „musikalische[...] Banknoten“132 bezeichnet und der Erfolg des Komponisten zunehmend mit den Einnahmen aus seinen Opernaufführungen gleichgesetzt. Dabei wurde der Begriff der ‚Spekulation‘ aus der ökonomischen Sphäre entlehnt und diente dazu, den spezifisch ‚jüdischen‘ Umgang mit Geld zu illustrieren. Die antisemitisch unterfütterte Kritik an der modernen kapitalistischen Form des Geldverkehrs konnte sich auf das judenfeindliche Bild des ‚Wuchers‘ berufen: Nicht den schöpferischen Kapitalismus hätten die Juden vorangetrieben, sondern einen Kapitalismus des Wuchers und des Parasitentums. Die Fugger und die Rothschilds, die beide ihr Vermögen dem Krieg verdanken, stehen symbolisch für die zwei möglichen Wege, zu Reichtum zu gelangen: der eine Weg, der deutsche, bestand in der direkten Vergabe von Krediten, von Person zu Person; der zweite, der jüdische, bestand im Ausstellen von Wechseln, im Handel an der Börse, er vollzog sich ‚hinter dem Rücken des Publikums‘. Indem sie die für eine Kriegsführung nötigen Gelder zur Verfügung stellten, sorgten die Juden zuallererst für ihr eigenes Vermögen.133
Im Zuge der gesellschaftlich verändernden Position des Komponisten, wie sie sich vor dem Hintergrund der Entwicklung einer bürgerlichen Musik130 Aus Wendel’s Aufzeichnungen: Das deutsche Repertorium, in: Neue Zeitschrift für Musik (Sept. 1837). 131 Aus Wendel’s Aufzeichnungen (Sept. 1837), 85. 132 Aus Wendel’s Aufzeichnungen (Sept. 1837), 85. 133 Raphael, Sechstes Bild: ‚Der Wucherer‘, in: Schoeps/Schlör, Antisemitismus, 108.
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kultur darstellt, wurde Meyerbeer zum einen zum Emblem eines finanziell unabhängigen Künstlers, der sich trotz des zunehmenden Konkurrenzdrucks in der Öffentlichkeit behaupten konnte. Auf der anderen Seite erhoben seine Gegner der Vorwurf, Meyerbeer sei allein zu seiner eigenen Bereicherung schöpferisch tätig und erziele auf verschleierte Weise mit seinem Erfolg große finanzielle Einnahmen. In diesem Sinn wurde ihm schon 1835/36 in Gustav Schillings Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften vorgeworfen, dass er sich einiger „Nebenhülfsmittel“ bediente, die „der Componist bei seinem Reichthum ins Werk zu setzen pflegte, um sich der äußeren Beifallszeichen zu versichern“.134 Der anonyme Autor des Artikels unterstellte hierbei eine Bürgschaft Meyerbeers gegenüber den Opernhäusern, damit diese seine Werke ohne großes finanzielles Risiko aufführen konnten: Man könnte zwar dagegen einwenden, daß ja Jedem die theatralischen Hülfsmittel zur Benutzung freistehen, und also ein wirksames Verfahren dabei wenigstens immer eine gewisse Geschicklichkeit voraussetze. Allein [...] nur Jemand, der, wie Meyerbeer, die Geldmittel in Bewegung setzen kann, um den Theaterunternehmer bei so kostspieligen Versuchen im Voraus zu decken, nur ein solcher vermag in Paris ein Werk dieser Gattung zur Darstellung zu bringen.135
Obgleich eine grundsätzliche Kritik an der französischen ‚Grand opéra‘ mit ihrer plakativen Darstellung bürgerlichen Selbstbewusstseins, das sich in großem technischen und ökonomischen Aufwand auf der Opernbühne bekundete, zum zeitgenössischen Bestandteil der deutschen Musikliteratur gerechnet werden kann, bezog sich in den 1830er Jahren ein direkter Vorwurf der Bestechung auf die Person Meyerbeers. Die Anschuldigung der Korruption von Sängern, Musikern, der jeweiligen Theaterleitungen, des Publikums und der Presse – der „Pariser Lobposaune“136 – wurde anhand einer Kolportage über den Komponisten zu beweisen versucht: Auch entdeckte es sich mehr und mehr, wie viel Mühe es sich der Componist hatte kosten lassen, um seine ausländischen Triumphe glänzend zu machen, so daß ein berühmter Musiker, den wir nicht näher namhaft machen wollen, in jener Periode als bon mot sagte: ‚ich wünschte, daß meine Werke mir nur halb so viel einbrächten, als Meyerbeer die seinigen kosten.‘137
Implizit verbarg sich hinter solchen Anschuldigungen die verquere Position, dass allein durch die ‚Macht des Geldes‘ die jüdische Emanzipation in 134 Artikel Beer oder Meyerbeer, in: Schilling, Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften (1835f), 507. 135 Artikel Beer oder Meyerbeer, in: Schilling, Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften (1835f), 510. 136 B...g, Nachrichten. Berlin, in: Allgemeine Musikalische Zeitung (April 1832), 229. 137 Schilling, Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften (1835f), 508.
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der deutschen Gesellschaft erpresst oder gekauft werden sollte138 und im Fall Meyerbeers nur von einem „künstlichen oder Schein-Erfolg“139 zu sprechen sei: Von den Pariser Blättern bis zu den Petersburgern raunt eines dem andern das große Lob, was freilich dem Triumphator das Seinige kosten mag, aber auch sicherlich wieder das Seinige einbringt. Der Triumphator weiß zu gut, was Christenthum ist, er weiß, daß die meisten Redactoren arme Teufel sind, und daß ein Almosen, ihnen gespendet, hundertfältige Früchte hervorbringet.140
Den Vorwurf einer ökonomischen Verlockung der ‚ehrlichen deutschen‘ Haltung ergänzten vereinzelt auftretenden Hinweise auf die vermeintlich jüdische Herkunft der meisten Opernzuschauer, die auf das Mitte des 19. Jahrhunderts auftretende Schlagwort von der ‚Verjudung der deutschen Gesellschaft‘ vorauswiesen.141 Dementsprechend wurde die Berliner Uraufführung der in italienischer Sprache verfassten Oper Emma von Noxburg 1820 gehässig kommentiert: Es schien jetzt dem Componisten Bedürfniß zu seyn, den Ruhm, den er im Auslande erworben hatte, in seiner Vaterstadt zu rechtfertigen. [...] Allein trotz der äußeren Ausstattung, der sorgfältigsten Besetzung des auf alle Weise gewonnenen Wohlwollens der Sänger, und des aus der großen Zahl der Glaubensgenossen, Verwandten, Freunde und Bekannten des Componisten bestehenden Publikums, hatte das Werk gar keinen Erfolg [...].142
Ein anderer schwerwiegender Angriff, dem Meyerbeer in der deutschen Rezeption seiner Werke ausgesetzt war, betraf die internationale Ausrichtung seines Opernschaffens.143 So fand sich im Kontext des oben erwähnten Artikels Aus Wendel’s Aufzeichnungen. Das deutsche Repertorium, der 1837 in der Neuen Zeitschrift für Musik erschien, ein direkter Appell an das deutsche Nationalbewusstsein, der Meyerbeer trotz seiner Herkunft und der 138 Vgl. auch die generelle judenfeindliche Literatur der Zeit, etwa Hartwig von HundtRadowsky (Judenspiegel. Ein Schand- und Sittengemälde alter und neuer Zeit [1819], 51): „Heimtückische lauernde Arglist, schmutziger Geiz und Wuchersinn, ein unbesieglicher Hang zu Betrügereien und Ränken, Neid, eitler Hochmuth verbunden mit sklavischer, schmarotzender Kriecherei, [...]: dies waren und sind, und werden ewig die Grundbestandtheile des jüdischen Volkscharakters seyn.“ 139 Schilling, Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften (1835f), 508. 140 Aus Wendel’s Aufzeichnungen (Sept. 1837), 85. 141 Vgl. Kap. 3.3 Richard Wagner, Das Judenthum in der Musik (1850). 142 Schilling, Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften (1835f), 508. 143 Meyerbeer, der – nach ersten Opernkompositionen in Deutschland – auf Anraten Antonio Salieris nach Italien gegangen war, komponiert hier mit zunehmendem öffentlichen Erfolg sechs Opern in italienischer Sprache: Romilda e Costanza (Padua 1817), Semiramide riconosciuta (Turin 1819), Emma di Resburgo (Venedig 1819), Margeritha d’Anjou (Mailand 1820), L’Esule di Granata (Mailand 1821) und Il Crociato in Egitto (Venedig 1824). Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Deutschland ließ er sich 1827 dauerhaft in Paris nieder.
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Tatsache, dass er seine musikalische Bildung in Deutschland erhalten hatte, deutlich aus der Reihe der deutschen Komponisten ausschloss.144 Hierbei kam neben dem Aufenthalt in Italien vor allem die Tatsache seines großen Erfolgs in Paris zum Tragen. Nach der Napoleonischen Besetzung und den darauf folgenden Befreiungskriegen 1813–15 formierte sich in national-konservativen Kreisen eine dezidiert anti-französische Haltung: Denn seit Napoleon aus unseren Fluren verjagt ist, kann ich sagen, daß ich vaterländisch gesinnt bin; und nun verachte ich das Fremde und fühle, je öfter ich jenes vaterländische Meisterwerk höre, um so deutlicher, daß auch ich ein Deutscher bin. [...] Sollen wir es also dulden, durch fremde Künstler und Kunstwerke nicht blos einheimische unterdrückt, sondern auch unsre Landsleute französirt, oder italisirt werden? [...] Von jeher war die augenfälligste Verirrung des deutschen Volkes, daß es Fremdes zu willig aufnahm, daß es nicht eigenthümlich sein wollte nach der Weise anderer Nationen. [...] und da man auch von seinen Feinden lernen kann, so habe ich den Plan gefaßt, Napoleons Kontinental-Sperre auf deutsche Kunst anzuwenden.145
Paris erhielt den Ruf einer musikalischen „Weltstadt“,146 in der ein Komponist einzig Erfolg haben könne, wenn er dem „Modegeschmacke“147 huldige. Mit dezidiert anti-modernistischer Wortwahl wurde Paris zu einer „französischen Opernfabrik“148 konstruiert, in der sich dementsprechend auch ein dekadentes und moralisch verdorbenes, „unersättliche[s] Publicum“149 gebildet habe. Dem deutschen Publikum wurde in dieser, mit moralischen Schlagwörtern aufgeladenen Debatte, eine Überlegenheit gegenüber der französischen Rezeption zugesprochen. Diese Oppositionsbildung von deutscher und französischer Musikkultur lässt sich in nahezu allen kritischen Besprechungen der deutschen Uraufführungen von Meyerbeers französischen Opern feststellen:
144 Aus Wendel’s Aufzeichnungen (Sept. 1837), 84: „Mag von Zeit zu Zeit das Beste der Tagneuigkeiten aufgeführt werden, damit auch hierin der deutschen Vielseitigkeit Genüge geleistet werde, aber man höre auf, die Bühne mit den Erzeugnissen der Fremde, die den einheimischen nicht im mindesten verglichen werden können, zu überschwemmen, man kehre diesen Schund von ihr weg, [...] man mache in würdiger Ausstattung unserm Volke seine großen alten und neuen Meister [...] bekannt, und es wird schon zu wählen wissen.“ 145 Aus der Korrespondenz des Redakteurs, in: Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung (Jan. 1824), 4f. 146 Lyser, Giacomo Meyerbeer (1838), 15. Der Begriff findet sich auch in: Paul Frank (Hg.), Geschichte der Tonkunst (OA: 1870, 31878), 164. 147 J.P.S. [Schmidt?], Ueber die Oper ‚Robert der Teufel‘ von Scribe und Delavigne, mit Musik von J. Meyerbeer, und deren Aufführung auf der Königlichen Opernbühne zu Berlin im Juny 1832, in: Allgemeine Musikalische Zeitung (Juli 1832), 480. 148 B...g, Nachrichten. Berlin (April 1832), 231. 149 Schilling, Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften (1835f), 509.
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Wohin muss unser deutsches Publicum gerathen, wenn es ferner diese französischen Missgeburten, die aller Achtung für Sittlichkeit, Religion, guten Geschmack und der heiligsten Gefühle des Menschen spotten, auf der vaterländischen Bühne duldet?150 Das Alles finden die Pariser jedoch vortrefflich und weil es die Pariser finden, so sollen wir Deutsche, immer bereit ihnen nachzuäffen, es ebenfalls für vortrefflich erklären.151 Wie will zuvörderst Hr. M. Beer sich rechtfertigen, gerade mit einem solchen Sujet in seinem deutschen Vaterlande, vor seinem so sittlichen und religiösen Könige, aufgetreten zu seyn?!152 Wohl thut einem Deutschen zu sehen, dass dieser blühende Unsinn merklich kühler aufgenommen worden, als in Frankreich, wo man so viel Großes von ihm faselt.153
Hierbei wurden neben dem Appell an eine deutsch-nationale Überlegenheit auch religiöse Bedenken ins Feld geführt, die angesichts der von Eugène Scribe verfassten Sujets der Opern Robert le diable und Les Huguenots einen Anknüpfungspunkt ermöglichten. Bildeten bei der letzteren die Kämpfe zwischen Katholiken und Protestanten in der Bartholomäusnacht den historischen Hintergrund, schilderte Robert le diable den Kampf zwischen Gut und Böse, der sich um Robert, den Sohn des Teufels entspinnt. Angesichts der Berliner Aufführung dieser Oper 1832 sprach ein anonymer Autor in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung von einem „öffentlichen Skandal [...], in welchem, in einer christlich-deutschen Stadt, dem Sitz eines reinen Geschmacks und wahren Kunstsinnes, ein solches Werk über die Bühne gehen kann.“154 Vor dem Hintergrund einer ideologisch aufgeladenen Oppositionsbildung zwischen Deutschland und Frankreich polemisierten die Gegner Giacomo Meyerbeers in der deutschen Musikkritik gegen die ‚äußeren‘ Erfolge des Komponisten, in denen sie einen „wahrhafte[n] Verrath an der tiefen Bedeutung des deutschen Kunstwerks“155 sahen. Mit deutlicher Anlehnung an das religiöse Bild des Judas, der für Geld zum Verräter geworden war, galt Meyerbeer als „Vaterlands-Genosse [...], der sich des scheinbaren Ruhmes so erfreut hat“, und dem man „für die Nachwelt kein ehrenderes Denkmal zu setzen vermag, als die Anklage, daß er die Heimath um der Fremde willen treulos verläugnet hat“.156 Diese Übertragung des Bildes 150 B...g, Nachrichten. Berlin (April 1832), 230. 151 B...g, Nachrichten. Berlin (April 1832), 231. 152 B., Ueber ‚Robert den Teufel‘ in Berlin. ‚Quousque tandem abutere‘, in: Allgemeine Musikalische Zeitung (Juli 1832), 485. 153 Aus Wendel’s Aufzeichnungen (Sept. 1837), 86. 154 B., Ueber ‚Robert den Teufel‘ in Berlin (Juli 1832), 483. 155 Schilling, Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften (1835f), 509. 156 Schilling, Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften (1835f), 510. Weiter heißt es bei Schilling „eine Anklage, die [...] einer der größten deutschen Musiker, der Jugend-
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eines national nicht integeren und damit schwerlich integrationsfähigen deutschen Judentums auf den Bereich der Musik erhält vor dem Hintergrund assimilatorischer Tendenzen deutlich antisemitische Qualität. Schon in der christlichen Figur des ‚jüdischen Verräters‘ lassen sich gemäß der Forschungsliteratur Ansätze dieses modifizierten Stereotyps finden: Wenn Juden als die absolut anderen konstruiert werden, taugen sie nicht als Verräter. Sind sie Verräter, dann haben sie zumindest bis zum Zeitpunkt des Verrats zur Gemeinschaft gehört. [...]. Wo der Verratsvorwurf gegen Juden erhoben wurde, wurde ihr Aufgehen in der Nation zumindest implizit anerkannt. Es ging dann darum, dieses Aufgehen rückgängig zu machen, oder [...] es zu verhindern. Als Teil des modernen Antisemitismus kann der Vorwurf des Verrats mithin als Instrument im Kampf gegen die Emanzipation gesehen werden [...]. In diesem Sinne gehört der Verratsvorwurf zum Kern des modernen Antisemitismus. Er ordnet sich dann insbesondere dem Topos der Zersetzung ein, der Zerstörung der ursprünglichen und natürlichen Kraft, der Dekadenz. Vom älteren Antijudaismus war dabei das Motiv der Geldgier [...] und des egoistischen Gewinnstrebens, das in der Judasgeschichte aufgetaucht war, in die moderne Konstruktion transponierbar.157
Während die Anschuldigungen der Geldgier und des daraus resultierenden Verrats in der allgemeinen früh-antisemitischen Agitation in den 1830er Jahren als Einzelfälle gewertet werden müssen, die erst ab Mitte des Jahrhunderts in den Diskussionen um die ‚Judenfrage in der deutschen Gesellschaft‘ an Quantität zunahmen, zeigt die Auswertung der Stigmatisierung Meyerbeers, in welchem Maße schon im frühen 19. Jahrhundert die Denkfigur einer ‚deutschen Musik‘ als nationales Emblem stilisiert wurde, die einem ‚verderblichen‘ Einfluss ‚jüdischer‘ Künstler ausgesetzt sei.158 Findet sich bereits in der musikpublizistischen Unterscheidung zwischen dem deutschen und französischen Publikum ein signifikanter Dualismus mit freund und Kunstgefährte Meyerbeers [...] Maria v. Weber, sie ebenfalls mit aller Strenge gegen ihn erhoben hat“. Die hier eingeführte Gegenfigur, Carl Maria von Weber, der gemeinsam mit Meyerbeer bei Abt Vogler in Darmstadt studiert hatte, bot sich gerade durch dessen Werk Der Freischütz (Berlin 1821), die als ‚deutsch-nationale Oper‘ rezipiert wurde, an. In dem er die Bedeutung der deutschen ‚Musik-Nation‘ nicht nur auf dem Gebiet der Instrumentalmusik und des Lieds zu festigen vermochte, galt Weber als zeitgenössischer Repräsentant der ‚deutschen‘ Oper in Nachfolge Glucks und Mozarts. Vor diesem rezeptionsgeschichtlichen Hintergrund verbreitete die zeitgenössische Musikliteratur häufig die ablehnende Haltung Webers gegen den in Frankreich erfolgreichen Komponisten Meyerbeer. Vgl. Artikel Meyerbeer, in: Gathy, Musikalisches Conversations-Lexicon (OA: 1835, 31874), 248: „Mit edlem Eifer wirft ihm schon C.M. v. Weber seine Abtrünnigkeit vor.“ 157 Erhard Stölting, Sechzehntes Bild: ‚Der Verräter‘, in: Schoeps/Schlör, Antisemitismus, 223f. 158 Stölting, ‚Der Verräter‘, 227: „Der soziologische Typus des Verräters konnte und kann also innerhalb des Antisemitismus eingesetzt werden, ohne in ihm aufzugehen. Er taucht auf, wo immer es in modernen Gesellschaften um soziale Gemeinschaften geht, die ihren Zusammenhalt moralisch-sakral zu überhöhen trachten“.
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vielschichtigen Bedeutungsfeldern, so wurde dieser durch die Debatte um die jeweiligen musikalischen Nationalstile, die in Meyerbeers Opernschaffen gesehen wurden, noch erweitert. Mit den Angriffen gegen seine Aufenthalte in Italien und Frankreich bezog sich der aus der ökonomischen Sphäre entlehnte Begriff der ‚Spekulation‘ nicht allein auf den „künstlich gemachten [...] Ruhm“159 und Erfolg seiner Werke, sondern wurde auch auf musikalische Stilfragen übertragen. In der Oper Robert le diable wurde eine negativ bewertete Verwendung aller erdenklichen musikalischen Stile und szenischen Mittel gesehen und dem Werk ein übergeordneter, künstlerischer Sinn abgesprochen: Wir finden in diesem musikalischen Orbis pictus Alles beysammen, was nur je in Opern zusammengerührt worden: stilo serio, stilo buffo, stilo stretto, Bravour, Rückungen, Tempo- und Rhythmenwechsel, harmonische und disharmonische Kunststücke, und Instrumente aller Art, Orgel, Tamtam und Sprachröhre nicht ausgeschlossen; allein Eins fehlt und diess Eine ist: der Geist, der über diesem Chaos schwebt; die Kraft des Genius, der diese disponibeln Massen gewältigt und zum rechten Ziele lenkt; der edle, reine Kunstsinn; der Geschmack, der [...] nur solche musikalische und scenische Mittel anwendet, welche zweckmässig, schön, edel, erhaben sind.160
Carl Dahlhaus beschreibt in seinem Artikel Motive der Meyerbeer-Kritik die weitreichende Denkfigur, die hinter diesen Anschuldigungen stand. Ihm erscheint Meyerbeer durch die „Prinzipien, von denen er sich leiten ließ, eher ein Mann des 18. als des 19. Jahrhunderts“.161 Mit der Unterscheidung zwischen den Nationalstilen des 18. Jahrhunderts und der im 19. Jahrhundert auftretenden Verknüpfung von Nationalität und Originalität wurde Meyerbeer zu einem Opfer einer den gesamten Bereich der Musik umfassenden ästhetischen Debatte: Man kann den ästhetischen Ideenwandel, dessen Opfer Meyerbeer wurde, als Übergang von einem ‚Stilbegriff‘ des musikalisch Nationalen zu einem ‚Substanzbegriff‘ charakterisieren. Ein musikalischer Nationalstil war im 18. Jahrhundert [...] eine Schreibweise, die sich prinzipiell jeder Komponist [...] aneignen konnte, ohne daß die Authentizität des Stils von der Herkunft des Autors abhängig gewesen wäre. [...] Dagegen setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich – und zwar zunächst in Deutschland, wo man Herder las, [...] die Überzeugung durch, daß ein musikalischer Nationalstil durch die Nationalität des Komponisten gewissermaßen verbürgt sein 159 Schilling, Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften (1835f), 510. 160 B., Ueber ‚Robert den Teufel‘ in Berlin (Juli 1832), 484f. Von den Verteidigern Meyerbeers wurde die ‚Stilmischung‘ indes positiv hervorgehoben (J.P.S., Ueber die Oper ‚Robert der Teufel‘ [Juli 1832], 476): „In der Musik findet [...] eine sehr gelungene Vermischung italienischer Melodie mit französischer Characteristik und feiner Nüancirung statt. Zugleich hat der Componist aber auch die Kraft deutscher Harmonie und Instrumental-Effect mit Geschmack und Erfahrung angewandt.“ 161 Carl Dahlhaus, Motive der Meyerbeer-Kritik, 35.
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müsse. [...] Die Wurzeln und Ursprünge der Individualität, als deren Ausdruck man Musik verstand, suchte man im Nationalen.162
In seiner Betrachtung der bekannten Rezension von Robert Schumann zu Les Huguenots in einer der frühesten Nummern der Neuen Zeitschrift für Musik sucht Dahlhaus dessen vernichtendes Urteil der Oper vor dem Hintergrund von Meyerbeers jüdischer Herkunft zu erhellen: Ein Komponist, der einer Nation ohne musikalischen Nationalstil angehört, bleibt nach Schumann zur Nichtoriginalität verurteilt, da Originalität an Nationalität gebunden ist. Der Zwang, sich in einer fremden Sprache auszudrücken, bewirkt, daß es dem Gesagten an Authentizität mangelt.163
Schumann setzte in seinem Artikel Fragmente aus Leipzig das Oratorium Paulus (Düsseldorf 1836) von Felix Mendelssohn Bartholdy gegen die zweite Pariser Oper Meyerbeers.164 Dabei kommt Schumanns Besprechung einer Übertragung der gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung um den jüdischen Emanzipationsprozess auf das Gebiet der Musik gleich. Seine schematische Gegenüberstellung zwischen Mendelssohn Bartholdy als „Edleren“165 der deutschen Komponisten und Meyerbeer als ‚schlechtem, internationalistischem‘ Künstler wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem gängigen Topos der Musikliteratur und illustriert anschaulich die gesellschaftliche Wahrnehmung der jüdischen Gleichstellungsbestrebungen zwischen Anpassungszwang und Assimilationswillen. Robert Schumann tradierte die früheren Anschuldigungen gegen Robert le diable und sah in Les Huguenots einen Ausdruck der ökonomischen Bereicherung auf Kosten des „gesunden musikalischen Deutschland[s]“166 und seiner national-exclusiven Musik, die hier – trotz rhetorischer Negationsfigur – zu einem Medium sittlicher und moralisch-religiöser Werte stilisiert wurde:167 162 Dahlhaus, Motive der Meyerbeer-Kritik, 37. 163 Dahlhaus, Motive der Meyerbeer-Kritik, 37. 164 Robert Schumann, Fragmente aus Leipzig. 4, in: Neue Zeitschrift für Musik (Sept. 1837), 73–75. 165 Schumann, Fragmente aus Leipzig (Sept. 1837), 75. 166 Schumann, Fragmente aus Leipzig (Sept. 1837), 73. 167 Schon in der Oper Robert le diable wurde vor allem das so genannte Nonnenballet im 3. Akt als Verletzung religiöser Gefühle kritisiert. Vgl. B...g, Nachrichten. Berlin (April 1832), 231: „Nun vollends diese gespenstigen Nonnen, die ihren Gräbern entsteigen und als Geister ihren sündigen Lebenswandel wieder beginnen [...]. Kann es etwas Anwidernderes, ja Empörenderes geben?“ Ähnlich auch B., Ueber ‚Robert den Teufel in Berlin‘ (Juli 1832), 485f: „Ohne Katholiken zu seyn, haben wir doch auch hier religiösen Sinn [...]. Wäre Hr. M. Beer noch so weit zurück, nicht zu wissen, dass die Kunstwelt ihre eigene Ethik hat? Glaubt er, dass etwas noch kunstschön seyn könne, was in dem Zuschauer Widerwillen, Ekel, Indignation erregt? Glaubte er, dass ein wollüstiger Kitzel, welchen aus ihrem Gräbern vom Teufel erweckte halbnackte Nonnen in bachantischem Taumel und mit lascivischen Stellungen erregen sollen [...] noch innerhalb der Grenzen des Schönen liegen?? Nichts ist schön, was nicht edel oder erhaben, lieblich oder erschütternd ist! Die Wahrheit, aus dem Sumpfe gezogen, ist ekelhaft und hässlich“.
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Ich bin kein Moralist; aber einen guten Protestanten empört’s, sein theuerstes Lied auf den Bret[t]ern abgeschrieen zu hören, empört es, das blutigste Drama seiner Religionsgeschichte zu einer Jahrmarktsfarce heruntergezogen zu sehen, Geld und Geschrei damit zu erheben, empört die Oper von der Ouverture an mit ihrer lächerlich-gemeinen Heiligkeit bis zum Schluß, nach dem wir ehestens lebendig verbrannt werden sollen. Was bleibt nach den Hugenotten übrig, als daß man geradezu auf der Bühne Verbrecher hinrichtet und leichte Dirnen zur Schau ausstellt. [...] Schwelgen, morden und beten, von weiter nichts steht in den Hugenotten: vergebens würdest du einen ausdauernd reinen Gedanken, eine wahrhaft christliche Empfindung darin suchen. [...] Es ist Alles gemacht, Alles Schein und Heuchelei.168
Schumanns Kritik blieb nicht allein auf das von Scribe verfasste Libretto und den ökonomischen Erfolg der Oper beschränkt.169 Vielmehr wertete er die Komposition Meyerbeers im Sinn einer ‚blinden‘ Nachahmung und die ‚äußerliche‘ Stil-Übernahme als plagiatorische Zusammenstellung ohne eigene künstlerisch-kompositorische Leistung ab. Hier fand Schumann nur Substanzlosigkeit und „Nicht-Originalität“ verwirklicht: Meyerbeer’s äußerlichste Tendenz, höchste Nicht-Originalität und Styllosigkeit sind so bekannt, wie sein Talent, geschickt zu appretiren, glänzend zu machen, dramatisch zu behandeln, zu instrumentiren, wie er auch einen großen Reichthum an Formen hat. Mit leichter Mühe kann man Rossini, Mozart, Herold, Weber, Bellini, sogar Spohr, kurz die gesammte Musik nachweisen.170
Der Vorwurf der oberflächlichen Nachahmung, hier mit Blick auf die musikalischen Stile anderer Komponisten, steht in der zeitgenössischen Literatur keineswegs singulär. Er lässt sich schon als Anschuldigung der ‚blinden‘ Nachahmung religiöser Traditionen in der judenfeindlichen Agitation nachweisen,171 erfährt jedoch in den früh-antisemitischen Schriften der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Erweiterung. So setzte die oben erwähnte Publikation von Gerhard Friedrich die Assimilationsbestrebungen deutscher Juden in diesen Kontext, akzentuierte aber vor allem eine spezi168 Schumann, Fragmente aus Leipzig (Sept. 1837), 73f. Vgl. zu Schumanns Argumentationsstruktur auch Hartwig von Hundt-Radowsky, Neuer Judenspiegel (1828), IV: „[...] denn Niemand wird läugnen, daß das sittliche Verderben der Juden eine sehr hohe Stufe erreicht hat; [...] und daß Niemand durch dies täglich wachsende Sittenverderbniß größere[n] Gefahren ausgesetzt ist, als gerade die Christen“. 169 Weiter heißt es bei Schumann in direkter Anspielung auf das Bild des ‚jüdischen‘ Betrügers, der allein auf seinen eigenen Profit bedacht sei (74): „Und dies läßt man sich Alles gefallen, weil es hübsch in die Augen fällt, und von Paris kömmt [...]. Und der Erzkluge aller Componisten reibt sich die Hände vor Freuden!“ Auf die ironisch-übertreibende Abwertung des Attributs ‚klug‘ mithilfe des Präfix ‚erz-‘ wurde im Kapitel 1.2 Sprachliche Aspekte diskriminierender Literatur verwiesen. 170 Schumann, Fragmente aus Leipzig (Sept. 1837), 74. 171 Vgl. Kap. 3.1 Judenfeindliche Tendenzen in der Musikgeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts.
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fisch ‚jüdische‘ Form, die nicht-jüdische Umwelt allein durch äußerlichen ‚Glanz‘ im Gegensatz zur deutsch konnotierten, inneren ‚Gründlichkeit‘ zu blenden.172 Eine „Nicht-Originalität“ wurde Meyerbeer indes schon 1832 vorgeworfen und der Mangel an „nothwendige[r] Einheit“ hervorgehoben. In dem Artikel Ueber ‚Robert den Teufel‘ in Berlin wurde der Komponist als „Mosaik-Arbeiter“ charakterisiert, der „nach fremden Mustern, emsig und mühsam, aber rein mechanisch, Jahre lang, Stift vor Stift zusammenreiht, und so endlich ein Ganzes construirt, welches ein Stelldichein aller Künstler, ein Kaleidoskop aller Farben und Formen [...] kurz Alles ist, nur – kein Ganzes! Je näher man nun einem solchen [...] Werke tritt, je deutlicher erkennt man den Mangel an Zusammenhang, das Geschmacklose, das Kunstwidrige daran“.173 An diesem Artikel der fünf Jahre zuvor in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung erschienen war, scheint sich Robert Schumann mit seiner vernichtenden Kritik zu orientieren. Wenngleich beide Rezensionen unterschiedliche Opern Meyerbeers besprechen, so zeigt sich gerade durch eine ähnliche Struktur der Anschuldigungen wie auch in der polemischen Schärfe, dass das negative Urteil weniger auf die Werke an sich, sondern vielmehr auf die Person Meyerbeers und seine jüdische Herkunft zielte. Selbst in der jeweiligen Darstellung einzelner musikalischer Merkmale lässt sich diese undifferenziert-polemische Betrachtungsweise feststellen. In diesem Sinn hieß es in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung zu Robert le diable in Anlehnung an die typisch ‚jüdische‘ Körperhaltung und eine spezifische Form des Gehens in Bocksprüngen wie sie häufig in anti-judaistischen Karikaturen zu finden war: Die Rhythmen des Componisten sind die allerwunderlichsten Verrenkungen seines musikalischen corpus und die Tempi wechseln ohne alle Veranlassung [...].174
Robert Schumann kritisierte im Blick auf die Oper Les Huguenots ebenfalls eine spezifisch Meyerbeer zugeschriebene Rhythmik und meinte, diese implizit auf die jüdische Herkunft des Komponisten zurückführen zu können: 172 Friedrich, Die Juden und ihre Gegner (21816), 11: „Selbst der reichste Jude sorgt in der Regel bei der Erziehung seiner Kinder mehr für das Glänzende, in die Augen fallende, wie für das Gründliche [...]. Tonkunst, Malerei, Tanzen u.a. schöne Künste machen das Wesentliche der Bildung“. Ähnlich hetzte auch Hundt-Radowsky in seinem Judenspiegel ([1819], 62): „Allein diese geistige Ausbildung besteht in nichts, als in tönendem Erz und klingenden Schellen, in nichts als in eitelm Nachplappern aufgeschnappter Gemeinsprüche und Floskeln, die von einem jüdischen Nußknacker wieder gekäut, nur Langeweile und Eckel erregen.“ 173 B., Ueber ‚Robert den Teufel‘ in Berlin (Juli 1832), 486. 174 B., Ueber ‚Robert den Teufel‘ in Berlin (Juli 1832), 487. Vgl. die Abbildungen in Eduard Fuchs Untersuchung Der Jude in der Karikatur, in denen unter anderem die ‚verdrehte‘ Beinhaltung der karikierten jüdischen Figuren auffällt.
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Was ihm aber durchaus angehört, ist jener berühmte, fatal mekkernde, unanständige Rhythmus, der fast in allen Themen der Oper durchgeht. [...] Was aber ist das Alles gegen die Gemeinheit, Verzerrung, Heuchelei, Unsittlichkeit, Un-Musik des Ganzen?175
Liegt dieser Passage die Analogie mit den in der deutschen SyngogalmusikRezeption verwendeten Tiermetaphern zugrunde, setzte Schumann die stereotypen Abwertungen eines „gebrummt und gemurmelt[en]“176 Lauteindrucks der Synagogalmusik in Beziehung zur jüdischen Herkunft Meyerbeers. Bis Ende des 19. Jahrhunderts fand diese Verbindung einen weitverbreiteten Eingang in antisemitische Publikationen. Meyerbeers Schaffen wurde zur ‚jüdischen Musik‘ par excellence umgedeutet, in der sich ein ‚blökender‘ Eindruck stets erkennen lasse.177 Der bei Schumann verwendete polemische Begriff der „Un-Musik“ stellte in der Musikliteratur nicht den Gipfel der Schmähungen dar. Schon ein Jahr zuvor fiel in Gustav Schillings Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften die Invektive der „ausgearteten, fremden Aftermuse“,178 die in ihrer Schärfe auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts vorausweist.179 Derart vernichtende Urteile müssen jedoch – neben ihrer früh-antisemitischen Tendenz – in Relation zu den musikästhetischen Entwicklungen ihrer Zeit betrachtet werden. Eine hierarchisierende Trennung zwischen ‚Trivial‘- und Kunstmusik zu Beginn des 19. Jahrhunderts prägte die deutsche Meyerbeer-Rezeption entscheidend. Die in diesem Kontext geformten und nicht nur singulär zur Abwertung einzelner Komponisten gebrauchten deutschen Schlagwörter mit vielschichtigen Bedeutungsfeldern hat Bernd Sponheuer in seiner Studie Beethoven vs. Rossini – Anmerkungen zu einer ästhetischen Kontroverse des 19. Jahrhunderts nachgewiesen: Weit entfernt von einem bloßen Journal-Disput über Geschmacks- und Modefragen (obwohl auch das eine Rolle spielt), ging es dabei um grundlegende strukturelle Probleme wie den Status der Musik als schöner Kunst, das richtige Verhältnis des 175 Schumann, Fragmente aus Leipzig (Sept. 1837), 74. 176 Forkel, Geschichte der Musik (1788), Bd. 1, 162. 177 Dementsprechend fand sich ein Abdruck des Schumann-Artikels neben Richard Wagners Pamphlet im Artikel Meyerbeer in dem von Theo Stengel und Herbert Gerigk 1940 herausgegebenen Lexikon der Juden in der Musik (186–194). 178 Schilling, Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften (1835f), 510: „Ueberall ist deutsche Wahrheit, deutscher Ernst der Kunst, dem gedanckenlosesten Scheine einer ausgearteten, fremden Aftermuse geopfert.“ 179 In der Weimarer Republik polemisierte der Schriftsteller Alexander Pfannenstiel im völkisch-konservativen Deutschen Musikjahrbuch mit ähnlichen Komposita gegen den angeblichen Herrschaftsanspruch deutscher Juden (Musikkulturkampf [1924/25], 21): „Vor allem uns, die wir die deutsche Kultur von den zersetzenden und zerstörenden Einflüssen einer uns art- und rassefremden Afterkunst bedroht sehen.“
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Komponisten zur Öffentlichkeit oder die Legitimationsbasis ästhetischer Urteil. Im Verlauf dieser Kontroverse, die alle Züge einer prinzipiellen musikästhetischen Selbstverständigung an sich trägt, kommt es zur Konsolidierung eines Kanons von Normen und Wertkriterien, die auf eine dichotomische Scheidung von ‚höherer‘ und ‚niederer‘ Musik hinauslaufen und die als tragende Grundannahmen in das ästhetische Bewußtsein der deutschen Musikkultur des 19. Jahrhunderts eingegangen sind.180
In der Herausbildung dieses Wertekanons, der die Kunstmusik von einer als minderwertig empfundenen ‚Trivialmusik‘ abgrenzen sollte, weist Sponheuer die Entstehung eines antithetischen Systems nach, in dem die verschiedensten Zuschreibungen und Kategorien in einen scheinbar geschlossenen Zusammenhang gebracht wurden: Dieses System ist zugleich einfach und verwickelt. Seine auf der Denkfigur der Antithese beruhende, grundlegende strukturelle Simplizität nämlich erlaubt es, die unterschiedlichsten Sachverhalte [...] miteinander ins Verhältnis zu setzten [...]. Auf einer hohen Ebene der Verallgemeinerung schälen sich vor allem drei Dichotomien als wesentlich heraus: ‚künstlich‘ – ‚natürlich‘, ‚Wahrheit‘ (Subjektausdruck, Charakteristik) – ‚Schönheit‘ (vor allem im Sinne melodischer Attraktivität) und ‚Geist‘ (Verstand, Idee) – ‚Sinnlichkeit‘.181
Ähnlich abwertende Motivkreise eines „Kategoriensystem[s], dessen griffige und simplifikationsfreudige Plakativität durch die ethisch-ästhetische Doppelwertigkeit der Ausdrücke [...] noch in besonderer Weise forciert wird“,182 lassen sich auch in der skizzierten deutschen Meyerbeer-Rezeption nachweisen. Unter dem Überbegriff der „Sinnlichkeit“183 zeigen sich die gleichen Negativ-Begriffe, die auch schon zur Abwertung Rossinis benutzt wurden.184 Meyerbeer wurde das „eine Streben, [...] Effecte zu erhaschen“185 als „künstliche Huldigung [...] dem Geschmacke der Gegenwart“ unterstellt und in Opposition zu Kunstwerken, die aus „innerm Drang des Schaffens“186 entstanden, gesetzt. Nicht nur in der deutschen Rossini-Rezeption findet sich laut Sponheuer dieses Schlagwortgeflecht: 180 Sponheuer, Beethoven vs. Rossini, 398f. 181 Sponheuer, Beethoven vs. Rossini, 400. 182 Sponheuer, Beethoven vs. Rossini, 402. 183 Das Stigma einer ‚erotischen Sinnlichkeit‘ gehörte zum allgemeinen anti-judaistischen Repertoire der Zeit. Vgl. Friedrich, Die Juden und ihre Gegner (21816), 7f: „[...] der Zweck des Erwerbs heiligt bei ihm [dem Juden] die Mittel, durch welche er zum Besitz des ersteren gelangt. [...] Hierzu kommt noch eine ungezähmte Sinnlichkeit, besonders Leckerei, Unreinlichkeit, Scheu vor aller körperlicher Anstrengung“. 184 Schon durch seine italienischen Opern galt Meyerbeer als Nachahmer des Rossinischen Stils. Vgl. Artikel Meyerbeer, in: Gathy, Musikalisches Conversations-Lexicon (OA: 1835, 3 1874), 248. 185 B., Ueber ,Robert den Teufel‘ in Berlin (Juli 1832), 487. 186 Artikel Meyerbeer, in: Gathy, Musikalisches Conversations-Lexicon (OA: 1835, 31874), 248. Zu der Identifikation Meyerbeers mit der zeitkritischen Wahrnehmung ‚musikalischer Moden‘ vgl. Dahlhaus (Motive der Meyerbeer-Kritik, 36): „Was man im 18. Jahrhundert an Gluck
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Nimmt man nun noch die Vorwürfe der Publikumshörigkeit [...], der Effekthascherei [...] und der Profitsucht [...] hinzu, so gewinnt man einen ungefähren Eindruck von den mehrfachen Bedeutungsebenen, die den komplexen und hochgradig abstrakten Ausdruck ‚Sinnlichkeit‘ konstituieren.187
Gerade das abwertende Schlagwort von „einer Masse von Knalleffecten“188 ist für die deutsche Meyerbeer-Rezeption der 1830er Jahre von zentraler Bedeutung. Die ‚Effekthascherei‘, die dem Komponisten unterstellt wurde, ist eng an ein negativ konnotiertes „Bestreben nach Neuheit der Wirkung auf der Bühne“189 geknüpft. Fritz Reckow hat in seinem Artikel ‚Wirkung‘ und ‚Effekt‘. Über einige Voraussetzungen, Tendenzen und Probleme der deutschen Berlioz-Kritik die Entstehung dieses „spezifisch deutschen“190 Begriffspaares und ihrer „ideologische[n] Aufheizung und Inanspruchnahme“191 untersucht. Während das französische Wort ‚effet‘ eine „neutrale – zum Positiven wie Negativen hin offene – kunsttheoretische Kategorie“192 blieb, wurde in der deutschen Verwendung des zunächst synonymen Begriffspaares ‚Wirkung‘ und ‚Effekt‘ in den 1830er und 1840er Jahren eine Bedeutungsverschiebung eingeleitet. Der positiv konnotierten künstlerischen ‚Wirkung‘ wurde als Gegenbegriff ein negativ verstandener ‚Effekt‘ entgegengesetzt wie Reckow ausführt: Dieses Wort Effekt konnte in dem Maße den sogenannten ‚äußeren‘ Wirkungen zugeordnet werden – und zwar zunächst noch im durchaus positiven Sinne [...] – in dem das Wort Wirkung speziell auf ‚indirekte‘, gewissermaßen ‚innere‘ Wirkungen bezogen [...] wurde. Je entschiedener aber solch ‚innere‘ zugleich zur ‚eigentlichen‘ bewunderte: daß er ‚der Mann seiner Zeit‘ war [...], wurde im 19. Jahrhundert, jedenfalls in der deutschen Kritik, an Meyerbeer beargwohnt, als wäre es ein Makel. Obwohl sich Meyerbeers Opern fast ein Jahrhundert lang im Repertoire behaupteten, hielt man hartnäckig an dem Vorurteil fest, daß ein Ruhm, der auf Übereinstimmung mit dem ‚Zeitgeist‘ beruhe, mit raschem Vergessen bezahlt werden müsse und die Chance des Überdauerns einzig einem Werk zuteil werde, das im Widerstand gegen den ‚Zeitgeist‘ seine ästhetische und moralische Größe und Integrität bewahre.“ 187 Sponheuer, Beethoven vs. Rossini, 401. 188 B...g, Nachrichten. Berlin (April 1832), 229. 189 J.P.S., Ueber die Oper ‚Robert der Teufel‘ (Juli 1832), 483. Vgl. auch Friedrich Kluge (Etymologisches Wörterbuch, 204f), der die Verwendung des Begriffs ‚Effekt‘ seit dem 15. Jahrhundert feststellt. Als Entlehnung aus dem Lateinischen ‚effectus‘ sowie als substantiviertes Partizip Perfekt Passiv vom lateinischen Verb ‚efficere‘ mit der Bedeutung ‚bewirken, entstehen lassen‘ wird es hier mit dem Wort ‚Wirkung‘ umschrieben. Dabei scheint sowohl bedeutsam, dass in dem Verb ‚efficere‘ das lateinische ‚facere‘ [=machen] steckt, wie auch die Tatsache, dass seit dem 17. Jahrhundert mit ‚Effekten‘ Wertpapiere bezeichnet wurden. Hier weist die Wurzel auf das französische Plural von ‚effet‘, welches als ‚Vermögen‘ oder ‚Wertpapiere‘ übersetzt werden kann. 190 Reckow, ‚Wirkung‘ und ‚Effekt‘, 1. 191 Reckow, ‚Wirkung‘ und ‚Effekt‘, 5. Neben Werken von Rossini und Berlioz galt besonders die Auber-Oper La Muette de Portici (Paris 1828) als Vorläufer der von der Kritik so genannten ‚Effekt-Opern‘. 192 Reckow, ‚Wirkung‘ und ‚Effekt‘, 6.
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Wirkung, mithin zum Ideal musikalischer Wirkung erklärt wurde, desto mehr musste der Begriff des ‚äußeren‘ Effekts ins Negative abgleiten und so nach und nach regelrecht zu einem Gegenbegriff zu dem der (‚ästhetischen‘) Wirkung werden. Dies lag um so näher, als – weit über jede künstlerisch vertretbare ‚Wendung gegen das Publikum‘ hinaus – zumal seit dem früheren 19. Jahrhundert angesichts einer immer zwangvolleren musikalischen Marktsituation zusehends kommerziell motivierte Zugeständnisse an ein Publikum zu beklagen waren, auf dessen Interesse, Beifall und Zahlungswilligkeit der Künstler sich angewiesen sah, mochte er auch den ‚Publikumsgeschmack‘ selbst nur verachten.193
In Abgrenzung zur positiv verstandenen ‚inneren Wirkung‘ war jedoch der Vorwurf des ‚äußeren Effekts‘ musikalisch kaum zu definieren194 und wurde zudem durch nationale Klischees ergänzt: Der Effekt-Vorwurf [...] wird zumal in den 1830er Jahren aus dem wachsenden Abgrenzungsbedürfnis gegenüber der später so genannten ‚westlichen‘ Kultur heraus von deutschen Autoren zusehends gezielt gegenüber französischen (daneben auch italienischen) Komponisten erhoben.195
In dem das Schaffen Ludwig van Beethovens und Wolfgang Amadeus Mozarts neben den Werken von Goethe und Schiller als Symbol für die Überlegenheit deutschen Kunstschaffens stilisiert wurde, bildete sich ein Wertekanon heraus, der spezifisch ‚deutsche‘ Merkmale für die ‚innere Wirkung‘ eines Kunstwerkes zusammenstellte. Begriffe wie ‚Originalität‘, ‚Tiefe‘, ‚Wahrheit‘, ‚Natürlichkeit‘ wurden dem ‚inneren Drang des Schaffens‘ zugeordnet, der eine ‚innere Wirkung‘ erstrebe. Dem gegenüber stand als Abgrenzung der Vorwurf eines ‚äußerlichen Strebens nach Erfolg‘, der mit Schlagwörtern wie ‚Nachahmung‘ oder ‚Nicht-Originalität‘,196 193 Reckow, ‚Wirkung‘ und ‚Effekt‘, 15. 194 Reckow, ‚Wirkung‘ und ‚Effekt‘, 20: „‚Effekt‘ ist zu einer elastischen Negativkategorie geworden, deren nähere inhaltliche Ausfüllung und personelle Zuordnung weitgehend in das Belieben dessen gestellt ist, der sich ihrer bedient.“ Ähnlich formuliert auch Carl Dahlhaus (Motive der Meyerbeer-Kritik, 39): „Aber die analytische Demonstration des Sachverhalts und eine ästethische Begründung für eine Grenze, die in der Oper zwischen erlaubtem und illegitimem Effekt gezogen werden kann, stehen einstweilen noch aus.“ 195 Reckow, ‚Wirkung‘ und ‚Effekt‘, 18. Vgl. Artikel Beer oder Meyerbeer, in: Schilling, Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften (1835f), 509: „Der Franzose denkt anders hierüber [...] jetzt ist der melodramatische Unfug, d.h. jenes Steigern und Aufreizen der Empfindung fast bis zur körperlichen Angst oder Wollust an der Tagesordnung.“ 196 Mit dem Vorwurf der ‚Nicht-Originalität‘ sprachen die Gegner Meyerbeers ihm trotz seines internationalen Erfolges den Status eines musikalischen ‚Genies‘ ab und er wurde als „Talent“ oder „Arbeiter“ abzuklassifizieren versucht. Vgl. etwa B., Ueber ‚Robert den Teufel‘ in Berlin (Juli 1832), 484: „Nichts desto weniger sind wir überzeugt, dass ein musikalisches Genie sich über einen solchen Stoff erhoben haben würde [...] allein Herr M. Beer hat uns bewiesen, dass es ihm an genialer Kraft gänzlich ermangelt. Verwechseln wir hierbey ja nicht diese Kraft mit der eines Arbeiters im Schweisse seines Angesichts“. Von dem „Talent“ Meyerbeers in Abgrenzung zu einem musikalischen ‚Genie‘ sprechen unter anderem: Artikel Meyerbeer, in: Gathy, Musikalisches Conversations-Lexicon (OA: 1835, 31874), 248; Aus Paris. Die Hugenotten, in: Neue
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‚Oberflächlichkeit‘, ‚Schein‘ und ‚Künstlichkeit‘ bzw. ‚Berechnung‘ illustriert wurde. Der Vorwurf des negativen Strebens nach ‚Effekten‘ wird innerhalb der deutschen Meyerbeer-Rezeption an die Verwendung emotionaler „Reizmittel“197 seiner Bühnenwerke geknüpft. Mit „hohlem theatralem Effect“198 suche der Komponist bei dem „überreizten Empfindungs-Organe der Zuhörer“199 ein „Steigern und Aufreizen der Empfindung fast bis zur körperlichen Angst oder Wollust“200 zu erzeugen. Gleichzeitig wird jedoch eine durchdachte, hier als ‚berechnend‘ charakterisierte Verwendung201 der so genannten ‚Effekte‘ konstatiert und das „Contrastirende[...]“ als „Gipfel des bunt Massenhaften“202 sowie eine musikalische Anlage „ohne künstlerische Uebersicht und Klarheit“203 zu den zentralen Merkmalen der Meyerbeerschen Opern erklärt. Versucht man derlei Vorwürfe, die stereotyp unter dem Schlagwort des ‚Effekts‘ auf die unterschiedlichen Opern Meyerbeers angewendet wurden, hinsichlich ihres musikalischen Hintergrundes zu überprüfen, ergeben sich verschiedene, sich zum Teil widersprechende Kritikpunkte. Schon die jeweiligen Sujets und der Aufbau der Libretti von Eugène Scribe würden auf eine emotionale Bühnenwirkung zielen: Deshalb mußte auch Meyerbeer einen solchen Stoff haben; er verband sich mit Scribe [...]. Von diesem verlangte er denn ein Werk, was jede grässliche Ingredienz der Effecte in sich tragen sollte. [...] Nicht eine Situation ist darin wahr, nicht eine innig, nicht ein Charakter frei von Carricatur. [...] Bei Meyerbeer’s Werk jedoch ist das Zeitschrift für Musik (April 1836), 118; Aus Wendel’s Aufzeichnungen (Sept. 1837), 85; C.B. von Miltitz, Ueber Meyerbeer’s Oper: Die Hugenotten, in: Allgemeine Musikalische Zeitung (Nov. 1838), 752. Auf der anderen Seite wird das „Genie“ Meyerbeer’s von seinen Verteidigern besonders hervorgehoben: J.P. Schmidt, Ueber die musikalische Composition der grossen Oper: Die Hugenotten von E. Scribe, in: Allgemeine Musikalische Zeitung (März 1837), 174; Lyser, Giacomo Meyerbeer (1838) 8, 10, 15; Artikel Meyerbeer, in: Gustav Schilling, Das Musikalische Europa (1842), 234; Johann Peter Lyser, Giacomo Meyerbeer, in: Allgemeine Wiener MusikZeitung (Dez. 1842), 589: „Wenige Künstler nämlich besitzen einen solchen Reichthum an Mitteln hinzureissen und zu blenden, als Meyerbeer [...]. Meyerbeer freilich darf und kann es, da er seine Mittel genau kennt, da er außer diesen äußeren noch innere Mittel besitzt, wie sie deren nur das Genie sich rühmen kann, und wie das bloße Talent sie nimmer sich zu erringen vermag.“ 197 J.P.S., Ueber die Oper ‚Robert der Teufel‘ (Juli 1832), 483. Den beiden Begriffen ‚Affekt‘ und ‚Effekt‘ liegt das lateinische Wort ‚facere‘ [=machen] zugrunde. Das Wort ‚Affekt‘ wurde entlehnt aus dem Begriff ‚affectus‘ [=der „körperliche oder geistige Zustand, Stimmung, Leidenschaft“] und meint eine „heftige Gemütsbewegung“ (Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 17). 198 Schilling, Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften (1835f), 509. 199 J.P.S., Ueber die Oper ‚Robert der Teufel‘ (Juli 1832), 474. 200 Schilling, Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften (1835f), 509. 201 Schilling, Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften (1835f), 507: „[...]ein solches ausschließlich auf die Executionsmittel berechnetes Werk“. 202 Ueber die Aufführung der Hugenotten von Scribe und Meyerbeer am 9. und 13. April in Leipzig, in: Allgemeine Musikalische Zeitung (April 1837), 262. 203 B., Ueber ‚Robert den Teufel‘ in Berlin (Juli 1832), 488.
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schon Verzerrte noch verzerrter geworden. Scribe gab uns eine verrenkte Gliederpuppe; der Componist staffirte sie auf das abentheuerlichste mit geschmackloser Pracht heraus. Alles ist [...] von vorn herein nur darauf angelegt, die Masse zu blenden und zu gewinnen [...].204
Auch eine andere Rezension äußert Kritik an dem Stoff zu Robert le diable, wirft dem Libretto jedoch gerade einen Mangel an bühnenwirksamen Elementen vor: Ohne Handlung und Interesse, ohne Oekonomie und Eintheilung, ohne musikalischen Zuschnitt [...] erscheint das ganze Gedicht [...] als ein leerer Wortschwall, von allem Zusammenhange, aller Wahrscheinlichkeit entblösst [...]. Und ein solches Sujet wählte Hr. M. Beer oder vielmehr liess er sich in die Hände stecken.205
Die Widersprüchlichkeit derlei Aussagen innerhalb der Musikkritik weist auf die unterschiedlichen operndramaturgischen Konzepte des 19. Jahrhunderts, in denen wie Carl Dahlhaus akzentuiert, vermeintliche Zusammenhangslosigkeit und „schroffe Situationskontraste“ in Opposition zu dem „Begriffskomplex ‚Idee‘, ‚Schicksal‘ und ‚Charakter‘“ gestellt wurden: Meyerbeers und Scribes Dramaturgie repräsentiert die französisch-italienische Tradition des 17. und 18. Jahrhunderts, die trotz Shakespeare und der deutschen Klassik im 19. Jahrhundert [...] durchaus noch ihren Platz behauptete. [...] Daß die Diskontinuität des jähen Affektwechsels gegenüber der Kontinuität des Charakters ästhetischpsychologisch ‚unwahr‘ sei, ist ebenso ein Vorurteil wie die Prämisse, dass im Inneren eines Kunstwerks eine Idee statt eines Räderwerks hausen müsse: eine Prämisse, die auf der Antithese von innerem Wesen und äußerer Erscheinung beruht.206
Auch direkte musikalische Verweise auf die vermeintlichen ‚Effekte‘ in den Opern Meyerbeers folgen dem Muster scheinbar widersprüchlicher Kritikpunkte, die sich in ihren Leitgedanken an außermusikalischen Begriffen orientierten: Der Melodie [...] hat Herr M. Beer schon längst entsagt und vergeblich haben wir auch in dieser ganzen Oper nach einer einzigen Piece gesucht, welche aus der Quelle des Gefühls entspringend melodisch dahin strömte und so auch wieder den Weg zum Gefühle fände [...].207
204 Schilling, Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften (1835f), 509. Der Vorwurf einer nachahmenden Vermischung unterschiedlichster Nationalstile im Werk Meyerbeers wurde auch auf das Libretto übertragen. Vgl. B...g, Nachrichten. Berlin (April 1832), 231: „Leicht hat es sich der productive Hr. Scribe mit der Erfindung dieser Oper gemacht [...]! Recipe: ein Stück Faust mit einem Schatten des Mephisto versetzt, eine Dosis Don Juan mit einem Extract von Agnes von Hohenstauffen, wohl vermischt, und Robert der Teufel darauf geschrieben, so ist der Zauberbrey fertig.“ 205 B., Ueber ‚Robert den Teufel‘ in Berlin (Juli 1832), 484. 206 Dahlhaus, Motive der Meyerbeer-Kritik, 40. 207 B., Ueber ‚Robert den Teufel‘ in Berlin (Juli 1832), 486.
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Robert der Teufel ist unstreitig eine sehr geistreiche, in vielen Stellen sehr charakteristische und meist originelle, ja auch sehr melodiöse Composition, doch es fehlt ihr am Zusamenhange, sie ist oft zerrissen, oft gesucht, manche Motive sind kaum leicht angedeutet, deren weitere Durchführung zu wünschen wäre, während andere nur zu sehr in die innersten Elemente zerlegt und mehr als nothwendig wiederholt worden sind [...].208 Wahrhaft angemessene Motive sind überhaupt fast nirgends aufzufinden; sondern durchaus vorherrschend ist das eine Streben, seltsam und appart zu seyn, Effecte zu erhaschen [...].209 [...] er weiß immer in den Farbentopf zu greifen und einen grellen augenfallenden Schein zu geben, und dennoch ist fast keine der Nummern gehörig durchgeführt. [...] Lärm ist das vorherrschende auch in dieser Oper, sie ist ein Feuerwerk, in der allerhand theils fremde, theils eigene Melodieen bunt durch einander, ohne Zusammenhang abbrennen, und dabei gewaltig knackern und knallen [...].210 Dass man auch heute noch in der Melodie gross und originell sein könne, das beweist ohne Zweifel Niemand besser, als Meyerbeer; allein er würde grösser sein, wenn er uns Zeit liesse, seine Schönheiten zu geniessen. [...] Ein Effect wird durch einen andern verdrängt, verwischt, vernichtet; – aber wahre Schönheiten laufen auf der Spiegelfläche des Geistes wie sanfte Wellen in einander, ohne dass die eine die andere stört.211
Der Mangel an melodischen Einfällen oder die fehlende ‚Angemessenheit‘ deren Verarbeitung wird hier ebenso kritisiert wie die angebliche Abwesenheit einer übergeordneten Formidee als ‚Zusammenhangslosigkeit‘ und ‚Zerrissenheit‘ getadelt wird.212 Die erstaunliche Widersprüchlichkeit und Oberflächlichkeit in der Übertragung des abwertenden ‚Effekt‘-Begriffs auf konkrete musikalische Merkmale mag dem Fehlen von objektivierbaren Bewertungskriterien zuzuschreiben sein. So bemerkte schon ein Zeitgenosse Meyerbeers, der Musikschriftsteller Johann Peter Lyser 1842 in seinem Artikel Giacomo Meyerbeer. Eine Skizze: 208 Nachrichten. Prag, in: Allgemeine Musikalische Zeitung (Nov. 1835), 766. 209 B., Ueber ‚Robert den Teufel‘ in Berlin (Juli 1832), 487. 210 Aus Wendel’s Aufzeichnungen (Sept. 1837), 85f. 211 Ed. Murelli, Mozart und Meyerbeer, in: Allgemeine Musikalische Zeitung (Okt. 1837), 676. 212 Robert Schumann (Fragmente aus Leipzig [Sept. 1837], 74) wirft in dem oben erwähnten Artikel Meyerbeer sogar musikalische Substanzlosigkeit und Trivialität vor, wenn er attestiert: „Situation, Scenerie, Instrumentation greifen zusammen [...]. Betrachtet man aber die Melodie musikalisch, was ist’s als eine aufgestutzte Marseillaise? Und dann ist’s denn eine Kunst mit solchen Mitteln an so einer Stelle eine Wirkung hervorzubringen?“ Vgl. hierzu Carl Dahlhaus (Motive der Meyerbeer-Kritik, 39): „Einerseits ist es grob inadäquat, in einer Oper von ‚Situation, Szenerie, Instrumentation‘ zu abstrahieren und zu behaupten, der melodische Gedanke, der übrig bleibe, bilde die eigentliche Substanz des Werkes, die den dramatischen Apparat entweder rechtfertige oder – wie bei Meyerbeer – nicht rechtfertige.“
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Übrigens thäte es endlich einmal Noth, den Begriff über den Mißbrauch der Mittel in der Musik, namentlich der Opernmusik, etwas deutlicher und bestimmter, als es bisher geschehen, festzustellen!213
Dieser Mangel an substanziellen Kategorien zur Werkkritik der zeitgenössischen Oper begünstigte zudem – ebenso wie die zugrunde liegenden wertästhetischen Debatten ihrer Zeit – die Verwendung außermusikalischer Schlagwörter und abstrakt-simplifizierender Systematiken. Der Vorwurf des ‚Effekts‘ lässt sich anhand der vorliegenden Meyerbeer-Rezeption der 1830er Jahre inhaltlich kaum definieren. Der Begriff ist – nicht nur anhand der Person Meyerbeers – geknüpft an abwertende Klischees wie ‚Bestreben nach Neuheit‘, ‚äußerliche Oberflächlichkeit‘ und ‚berechnende Reizwirkung‘. Musikalisch wird an Meyerbeers Opern vor allem eine vermeintliche ‚Substanzlosigkeit‘ kritisiert, deren Ausdruck sich in einer mangelnden Entwicklung der Charaktere und der melodischen Verarbeitung, ‚greller‘ Kontraste sowie allgemeiner ‚Zusammenhangslosigkeit‘ und ‚Zerissenheit‘ zeige. Zudem impliziert die Vokabel ‚Effekt‘ einen Opportunismus an den jeweiligen Publikumsgeschmack, in dem ein kommerzielles Interesse dem Komponisten unterstellt wird. Wie gezeigt, ist der Begriff des ‚Effekts‘ darüber hinaus auch Teil eines wertästhetischen Systems, das die Merkmale einer so genannten ‚Trivialmusik‘ zusammenstellt, um diese von der ‚hohen‘ Kunstmusik abzugrenzen. Mithilfe griffiger Formeln und unterschiedlichster Antagonismen werden doppeldeutige, unzusammenhängende Sachverhalte in ein scheinbar geschlossenes Ganzes zusammengeführt, ein Mechanismus, der sich auch anhand der Verwendung des ‚Effekt‘-Vorwurfs zeigt. Während die ‚Originalität‘ mit einem ‚inneren Drang‘ für eine ‚Substanz‘ musikalischer Werke und eine ‚innere Wirkung‘ sowie ‚Beständigkeit‘ in der Rezeption sorge, führe die Meyerbeer unterstellte ‚Nachahmung‘ bzw. ‚Stilmischung‘ mit der ‚profitorientierten Inhaltslosigkeit‘ allein zum ‚modischen Tageserfolg‘. Die Doppeldeutigkeit und Absolutheit dieses Wertungsrasters zeigt sich vor allem in der Verwendung von moralisierenden Attributen wie ‚echt‘, ‚wahr‘, ‚tief‘ und ‚natürlich‘, denen Begriffe wie ‚falsch‘, ‚verlogen‘ oder ‚heuchlerisch‘, ‚oberflächlich‘ und ‚künstlich‘ gegenübergestellt werden.214 Diesem dichotomen System liegt ein Ausgrenzungsmechanismus zugrunde, der – begünstigt durch nationale Klischees – zunehmend die scheinbaren Kriterien einer ‚deutschen‘ Musik zusammenstellte. In Ab213 Lyser, Giacomo Meyerbeer (Dez. 1842), 589f. 214 Ferner impliziert diese Attributtierung eine grundsätzliche Einstellung des Komponisten zu seinen Werken. Während die ‚Ehrfurcht vor der Kunst‘ zu einer ‚Ernsthaftigkeit‘ und ‚Angemessenheit‘ des musikalischen Werks führt, folgt aus deren ‚Geringschätzung‘ eine ‚Gehaltlosigkeit‘ und ‚Seichtheit‘.
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grenzung zur italienischen und französischen Musiktradition, der ‚Sinnlichkeit‘, das Streben nach ‚Tageserfolg‘ und die Verwendung ‚äußerlicher Effekt‘ unterstellt wurden, prägten Begriffe wie ‚Geist‘, ‚Beständigkeit‘ und ‚innere Wirkung‘ die spezifisch ‚deutschen‘ Kriterien der Musik wie Bernd Sponheuer ausführt: Der Grundmechanismus der Dichotomisierung kann als zirkulärer Prozeß der Einund Ausgrenzung beschrieben werden, in dem mit der Abspaltung bestimmter Teilbereiche der Musik als Kunst die abwertende Ausgrenzung aller übrigen vollzogen wird; zugleich verfestigt sich die einmal in Gang gesetzte Polarisierung in einem verhängnisvollen Zusammenspiel beider Gegenbereiche, die sich wechselseitig ihre abgespaltene Identität bestätigen.215
Innerhalb der Meyerbeer-Rezeption der 1830er Jahre mit ihrer formelhaften Wiederholung und Verzahnung abwertender Stereotype, deren spezifische Motiv-Kreise bis zum Ende des 19. und des 20. Jahrhunderts fortwirkten, lässt sich darüber hinaus eine früh-antisemitische Tendenz erkennen. Wurden die Angriffe gegen Meyerbeer durch die jeweiligen musikästhetischen Debatten gestützt, konnten sie scheinbar problemlos in die neue Argumentation des Antisemitismus integriert werden und präformieren die Schlagwörter einer abschätzigen Entwertung, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der Diskussion um das ‚Judentum in der Musik‘ verwendet werden. Sowohl in den Auseinandersetzungen um die Bedeutung und Funktion der Musik in der neuen bürgerlichen Gesellschaft als auch im Nationalisierungsprozess einer Musik als ‚deutschen‘ Kunst tauchen bestimmte Themenkomplexe auf, die eine Übertragung auf die Debatten um die Rolle der jüdischen Minderheit in der entstehenden deutschen Nation ermöglichten. Vor diesem Hintergrund der Frage nach einer jüdischen Integration und Assimilation, die eine langwierige politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung provozierte, scheint es, dass gerade anhand eines exponierten Komponisten wie Giacomo Meyerbeer, der als Symbol einer erfolgreichen jüdischen Emanzipation rezipiert wurde, der Prozess der Integration wie auch der drohenden (Wieder-)Ausgrenzung eine Verknüpfung zwischen musikästhetischen und gesellschaftsrelevanten Aspekten ermöglichte. Sowohl ‚Profitsucht‘, ‚erkaufter Erfolg durch Bestechung‘, die Vorwürfe des ‚Verrats‘, des ‚Internationalismus‘ und des ‚Plagiats‘ als auch die unterstellte ‚Gefallsucht‘ mittels ‚äußerem Glanz‘ und ‚berechnender Effekte‘ zählten – wie gezeigt – in der allgemeinen anti-judaistischen Literatur seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zu den gängigen Anklagen. Insbesondere durch die kompakte Verflechtung mit dem dichotomen wertästhetischen System zwischen Kunst- und ‚Trivialmusik‘ ließen sich derlei Anschuldi215 Sponheuer, Musik als Kunst und Nicht-Kunst, Untersuchungen zur Dichotomie von ‚hoher‘ und ‚niederer‘ Musik im musikästhetischen Denken zwischen Kant und Hanslick, 129.
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gungen mit ihren doppeldeutigen, negativen Schlüsselbegriffen auch auf andere Komponisten jüdischer Herkunft übertragen. Jacques Offenbach: ‚kleiner Meyerbeer‘ 3.2.2.2 Jacques Offenbach: der ‚kleine Meyerbeer‘ Mit ähnlichen Vorwürfen wie Giacomo Meyerbeer wurde auch Jacques Offenbach in der deutschen Rezeption seines Schaffens bedacht. Beide Komponisten verband vor allem eine biographische Ähnlichkeit im Hinblick auf den deutschen Geburtsort und ihres Pariser Wirkungskreises. Anders als Meyerbeer erhielt der 1819 in Köln geborene Offenbach jedoch seine musikalische Ausbildung in Paris. Durch Initiative seines Vaters wurde er 1833 am dortigen Konservatorium unter Leitung Luigi Cherubinis angenommen, wo er kurzfristig Violoncello studierte. In Paris bestritt Offenbach seinen Lebensunterhalt zunächst als Instrumentalvirtuose. Nach der Bekanntschaft mit Fromental Halévy, der ihm Unterricht in Kompositionslehre gab, begann er 1836 mit der Komposition kleinerer Romanzen, Walzer und Salonstücke. Offenbachs Ruf als Komponist parodistisch-komischer Bühnenwerke drang in den 1860er und 1870er Jahren nach Deutschland. In den Besprechungen seiner Werke galt er analog zu Meyerbeer als ‚undeutscher‘ Komponist, der sein Vaterland zugunsten des finanziellen Erfolges an Frankreich verraten habe:216 [...] denn obwohl er am 20. Juli 1822 in Köln a.Rh. geboren wurde, so ist er doch nach seiner Erziehung, Bildung und ganzen Anschauungsweise kaum als ein Deutscher zu betrachten. [...] Das schöne Talent auszubilden lag aber weder in seiner Willenskraft, noch in seiner Absicht, vielmehr strebte er nur darnach, die lebenslustigen Pariser nach Kräften zu amüsiren. Ruhm und Ehre waren ihm völlig Nebensache, sein einziges Streben ging darauf hinaus, Geld zu verdienen [...].217
Ungeachtet der Tatsache, dass die deutsche Rezeption Jacques Offenbach noch bis in das 20. Jahrhundert immer wieder als „Jakob Offenbach“ betitelte und ihn so für eine deutsch-nationale Musikgeschichte zu reklamieren versuchte,218 wurde ihm in den 1860er Jahren der ‚Vaterlandsverrat‘ ebenso 216 Dabei mögen bei der französischen Wohnortwahl Meyerbeers und Offenbachs durchaus spezifisch jüdische Motivationen eine Rolle gespielt haben. Vgl. Arthur Holde, Jews in Music, 72: „Since the narrow world of the Jewish community did not offer any chances for development, his father encouraged him when he [Offenbach] was only seventeen to apply for admission to the Conservatoire in Paris, at that time the most glamorous centre of musical life.“ 217 Artikel Offenbach, in: Mendel, Musikalisches Conversations-Lexikon (1877), Bd. 7, 326f [in der Angabe des Geburtsjahres irrte der Autor sich um 3 Jahre]. Ein Ausschluss aus der Riege der deutschen Komponisten findet sich auch in dem Nachruf der Zeitschrift Signale für die Musikalische Welt (B.S., Jacques Offenbach [Okt. 1880], 898): „Ein Deutscher war Offenbach längst nicht mehr und Niemand fiel es ein, ihn dafür zu halten.“ 218 So etwa X. Roland, Echo aus Paris. III (Schluß). Concerte und Allerlei, in: Neue Zeitschrift für Musik (Jan. 1861), 46; A.S., Tonkünstler der Gegenwart. Jacob Offenbach, in: Signale
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angelastet wie der Vorwurf des künstlerischen Schaffens mit ausschließlich ökonomischem Interesse, der durch die Tatsache, dass Offenbach als Komponist zeitweise sein eigener Theaterleiter war, noch verstärkt wurde. Eng mit der Pariser Salonkultur verbunden, gründete Offenbach 1855 ein kleines Theater auf den Champs-Elysées, die Bouffes Parisiens, in dem er seine einaktigen Singspiele und Miniaturen mit großem Erfolg zur Aufführung brachte. Die Anklagen des ‚Verrats‘ an Frankreich und einer kompositorischen Tätigkeit unter ausschließlich merkantilen Gesichtspunkten verknüpfte die zeitgenössische deutsche Rezeption erneut mit moralisierenden Implikationen. Mithilfe von Krankheitsbildern – Offenbach verstoße mit seinem Schaffen gegen den „gesunden Sinn“219 – wurden seine Kompositionen ebenso abgewertet wie mit dem Vorwurf, den Publikumsgeschmack zu verderben.220 Vor diesem Hintergrund wurde sein Theater Bouffes Parisiens als „ein Kunsttempel“ bezeichnet, „in dem es nun mit Riesenschritten auf der Leiter des höheren Blödsinns aufwärts, auf der der Kunst aber abwärts ging, bis von dieser endlich auch jede Spur getilgt wurde“.221 Derlei Beschuldigungen, allein aufgrund des ökonomischen Erfolges schöpferisch tätig zu sein und die ‚höheren, tiefen‘ Ideale222 der Musik auch in Bezug auf das Publikum zu verraten, finden sich in ihrer Verflechtung – wie gezeigt – schon in der deutschen Meyerbeer-Rezeption. Die feindliche Gegenüberstellung von französischer und deutscher Musiktradition,223 die sich begrifffür die Musikalische Welt (Aug. 1862), 393–395; >anonym@, Richard Wagner und Jacob Offenbach. Ein Wort im Harnisch von einem Freunde der Tonkunst (1871); Artikel Offenbach, in: Mendel, Musikalisches Conversations-Lexikon; [H.M.] Schletterer, Artikel Offenbach, Jakob (Jacques), in: Allgemeine Deutsche Biographie (1887), Bd. 24, 166–173; Anton Henseler, Jakob Offenbach (1930). Offenbach wurde erst 1860 französischer Staatsbürger, änderte jedoch seinen Vornamen in ‚Jacques‘ mit den ersten öffentlichen Auftritten in Frankreich. 219 Artikel Offenbach, in: Gathy, Musikalisches Conversations-Lexicon (OA: 1835, 31874), 276: „Er gründete 1855 die Bouffes parisiennes, ein Theater, in welchem seine Burlesken zur Aufführung kommen. Mit diesen Werken hat er sich – leider – einen Weltruhm verschafft, denn sie sprechen oft allem gesunden Sinne und gutem Geschmack Hohn.“ Diese Zeilen scheinen vom Herausgeber der dritten Auflage, August Reissmann zu stammen. 220 Frank, Geschichte der Tonkunst (OA: 1870, 31878), 171: „Jacques Offenbach [...] hat nicht wenig dazu beigetragen, den Geschmack des Publikums zu verderben.“ Ähnlich formulierte es auch der Musiklehrer Joseph Schlüter (1833–1887) in seiner Musikgeschichte (Allgemeine Geschichte der Musik [1863], 162): „[...] und er hat sein Redliches gethan, den Geschmack des großen Publikums so recht bis in den Grund zu verderben“. 221 Artikel Offenbach, in: Mendel, Musikalisches Conversations-Lexikon (1877), Bd. 7, 327. 222 Die scheinbar widersprüchlichen Wertattribute ergeben sich aus dem Unterscheidungsprozess zwischen so genannter ‚niederer Trivial‘- und ‚hoher Kunstmusik‘, wobei letzterer wie skizziert eine spezifisch deutsche ‚Tiefe‘ zugeschrieben wurde. 223 Die Gegeneinandersetzung zwischen Deutschland und Frankreich wurde in den 1870er Jahren durch den preußisch-französischen Krieg noch verschärft. Eine Meldung in der Neuen Zeitschrift für Musik (Vermischtes [Sept. 1870], 337) erwähnt eine Petition der Berliner Geistlichkeit an den Polizeipräsidenten „in welcher die Bitte ausgesprochen wurde, es möge mit Rücksicht
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lich gerade in der assoziativen Verknüpfung unterschiedlichster Vorwürfe ausdrückt, ermöglichte die Anwendung verschiedenster abstrakt-abwertender Attributierungen auch auf Offenbach. So urteilte eine Meldung zum Wiener Gastauftritt der unter Offenbach spielenden Theatertruppe in der Neuen Zeitschrift für Musik von 1861: Nun ist bekanntlich das ganze Thun und Treiben dieser von der Seine herübergekommenen Leute, dieser ‚hommes et femmes de plaisir‘ zu bedeutungslos, weil undeutsch und obendrein im höchsten Grade unkünstlerisch, als daß ich es für nöthig gehalten hätte [...] Ihnen allwöchentlich über die hausse und baisse dieses gründlich unmusikalischen Trödlerunternehmens Bericht zu erstatten.224
In deutlicher Anlehnung an den ‚Pariser Börsenspekulanten‘ und ‚Rothschild der Musik‘ Giacomo Meyerbeer findet hier mit den Börsen-Begriffen „hausse“ und „baisse“ eine indirekte Rückbindung Offenbachs an seine jüdische Herkunft statt. Anti-judaistische Akzente fließen zudem in die Formulierung des „unmusikalischen Trödlerunternehmens“ ein, die auf das Stereotyp des jüdischen ‚Hausierers‘ aufbaut. Nicht nur die internationale Finanz- und Börsenwelt wurde im Einflussbereich des assimilierten Judentums gesehen, sondern ebenso der tradierte Bereich des verarmten Kleinsthandels, in dem eine spezifisch jüdische ‚Erfolglosigkeit‘ und ‚Unproduktivität‘ stigmatisiert wurde.225 Derlei Vokabular weist auf das durch die Meyerbeer-Rezeption geprägte latente Verdikt einer jüdischen ‚NichtOriginalität‘ hin und ermöglichte, ungeachtet der Unterschiede in den konkreten Werken beider Komponisten, eine direkte Übertragung der abwertenden Schlagwörter auch auf Offenbach: Was Meyerbeer im Großen, versuchte Jacques Offenbach, ein nach Paris gegangener Kölner, im Kleinen [...].226
auf den Ernst der Zeit (nur wegen dieser?) die Aufführung der Offenbach’schen Opern und der französischen Tänze verboten werden. Obwohl sich bei der Berathung herausstellte, daß keiner der anwesenden Geistlichen einer Darstellung der mißliebigen Opern beigewohnt oder sich einmal einen Cancan mitangesehen hatte, so erhielt der Antrag dennoch die Majorität [...]. Wie wir hören, hat die Nürnberger Theaterdirection die Offenbachiaden ohne eine derartige Petition gänzlich vom Repertoire gestrichen, was wir zu recht allgemeiner Nachahmung empfehlen.“ 224 S., Kleine Zeitung, Correspondenz (Juli 1861), 33. 225 Die Polemik gegen den ‚unproduktiven‘ Handel mit gebrauchten Gütern innerhalb eines „Trödlerunternehmens“ mag durchaus auch an Offenbachs kompositorisches Vorgehen anknüpfen. Zeitgemäß benutzte der Komponist in seinen Werken bekannte Melodien und Themen anderer Komponisten als parodistische Zitate. 226 Schlüter, Allgemeine Geschichte der Musik (1863), 162. Verschärfter findet sich dieser Vergleich in der anti-judaistischen Hetzschrift Das geheime Treiben, der Einfluß und die Macht der Juden in Frankreich seit hundert Jahren von Hermann von Scharff-Scharffenstein ([1872], 88): „Ein bei Weitem gefährlicheres Individuum ist jedenfalls der Jude Jakob Offenbach [...], welcher vor einem Jahrzehnt in Paris ein Kindertheater leitete und uns seitdem von dort mit allem nur möglichen Unrath überfluthet. Gleich wie Mayerbeer sendete er Libretto’s in die Welt, welche
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Beide Komponisten erschienen in der deutschen Kritik als ein Emblem für das ‚verdorbene‘ Pariser Musiklebens und ein „Zeugniß für den Verfall der Bühne und die fortschreitende Entsittlichung der Kunst“.227 Innerhalb dieser Zuordnung scheint sowohl der Vorwurf des ‚Internationalismus‘ als auch eine Identifikation von Großstadt und Judentum mitgedacht zu werden. Ungeachtet der Tatsache, dass Jacques Offenbach 1844 zum Katholizismus konvertierte,228 stigmatisierte die deutsche Rezeption ihn mithilfe der gängigen Schlagwörter als national nicht integeren Juden, der sowohl das Ansehen der ‚deutschen‘ Musik im Ausland schädige als auch die deutschen Komponisten und Musiker im zeitgenössischen Musikleben verdränge. In diesem Sinn berichtete der Pariser Korrespondent der Neuen Zeitschrift für Musik 1861 mit deutlichen Ironiesignalen des übersteigerten Lobes: Ihr armen schlichten und gediegenen Musiker, die ihr in irgend einem deutschen Provinzialneste, mit dem Schatze eines tüchtigen und soliden Wissens, elendiglich verkommt, geht hin zu Ihm, dem Großen, und erlernt von ihm, wie man ohne Alles das, was den Künstler zum Künstler macht, hier zum allmächtigen Helden, in einem katholischen Lande, als Jude, zum Großtürken der Musik werden kann, vorausgesetzt, daß man im Stande ist, Violoncell so falsch als irgend möglich zu spielen.229 die Religion und den Staat lächerlich zu machen versuchen und die Ehrfurcht vor allem Heiligen aus dem Herzen des Volks reißen. Er hat sich dabei auch einen Juden als Librettofabrikanten beigelegt.“ Einer von Offenbachs Librettisten, Hector Jonathan Cremieux (1828–1892) war jüdischer Herkunft. Vgl. auch Schletterer, Artikel Offenbach (1887), 170: „Er [Offenbach] war nicht der erste Deutsche und nicht der einzige deutsche Jacob (Giacomo Meyerbeer), der den Parisern und von Paris aus, der ganzen Welt zu Dank sang, und, indem er den unverwüstlichen Schwächen der Menschen [...] unausgesetzt schmeichelte, das Kunstleben verliederlichte. Er vermochte sich bis zum Aufgeben seines eigenen Ichs, bis zum letzten Funken von Gewissenhaftigkeit, bis zur Schamlosigkeit einer frivolen Zeitströmung anzupassen.“ 227 Schlüter, Allgemeine Geschichte der Musik (1863), 163. Einen direkten Bezug zwischen Offenbach und Meyerbeer stellen die musikalischen Zitate aus Meyerbeers Oper Les Huguenots her, die Offenbach in seiner musikalischen Chinoiserie Ba-ta-Clan (1855) verwendete. Beide Künstler schätzten einander und Offenbach veröffentlichte einen Nachruf auf Meyerbeer in L’Autograph vom 18.5.1864. Zu den musikalischen Ähnlichkeiten beider Komponisten bemerkt Peter Hawig (Der ‚Mozart der Champs-Elysées‘, in: ders., Jacques Offenbach. Facetten zu Leben und Werk, 149), der in Offenbachs Werken eine „Stilmixtur im Sinne kosmopolitischer Offenheit, wie sie in der französischen Musik Mitte des 19. Jahrhunderts gar nicht so selten war“, sah: „Es ist auffälligerweise die gleiche Mischung, wie sie bei Giacomo Meyerbeer [...] vorlag, und es wäre einmal eine eigene Untersuchung wert, ob Offenbach und Meyerbeer nicht viel mehr miteinander gemeinsam haben, als man meinen sollte.“ 228 Der Konfessionswechsel Offenbachs war primär durch seine Heirat mit der Katholikin Hermine d’Alcain (1826–1887) motiviert. 229 X. Roland, Echo aus Paris. III. Die deutschen Künstler in Paris, in: Neue Zeitschrift für Musik (Jan. 1861), 25. Der polemische, anti-judaistisch gefärbte Unterton dieses Artikels entging auch einem zeitgenössischen Leser nicht. Vgl. R.K., Vermischtes (in: Neue Zeitschrift für Musik [Jan. 1861], 48): „Gestatten Sie mir, mein Herr, eine Bemerkung über Ihren letzten Bericht ‚Echo aus Paris‘. Mit Entrüstung sprechen Sie sich über den verderbten Geschmack des Pariser Publicums aus, das den werthlosen Productionen von Offenbach huldigt. Darin stimme ich Ihnen vollkommen bei. Jedoch drücken Sie ebenfalls Ihr Erstaunen aus, wie Offenbach, dem jeder
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Mit einem polemischen Seitenhieb wird hier das Unvermögen des ‚jüdischen‘ Künstlers selbst im ‚nachschaffenden‘ Instrumentalspiel ebenso vorausgesetzt, wie die im 19. Jahrhundert zunehmend ausgrenzende Rückbindung der deutschen Juden an ihren historischen Herkunftsort, den Orient. Die ironische Bezeichnung „Großtürke der Musik“ impliziert sowohl den feindlichen Gegensatz zum christlichen Abendland als auch einen Herrschaftsanspruch Offenbachs im Musikleben.230 Derlei imaginäre Verbindung mit dem Orient lässt sich ebenfalls in der Meyerbeer-Rezeption nachweisen: Bei allem ästhetischen Glaubenswechsel Meyerbeers ist dies überhaupt bemerkenswerth, daß er sein früheres Bekenntniß nie ganz aufgab, sondern als kluger Mann das Praktische der alten Lehre in die neue mit herübernahm, etwa wie wenn ein getaufter Türke sich nunmehr des christlich erlaubten Weines erfreut, dazu aber auch ein Stück von Muhammeds Vielweiberei reserviren wollte.231
Die gleichen Anfeindungen der ‚Geltungs-‘ und ‚Gefallsucht‘, der ‚Trivialität‘, ‚Substanzlosigkeit‘ und ‚Sinnlichkeit‘, die schon auf Giacomo Meyerbeer angewendet wurde, ließen sich vor diesem Hintergrund auf Offenbach, den „französisirten Deutsch-Hebräer[...]“232 übertragen:
künstlerische Werth abgeht, ‚als Jude in einem katholischen Lande‘, eine solche Stellung einnehmen kann. Wohnhaft in Paris, werden Sie gewiß unterrichtet sein, daß Frankreich, und besonders Paris, der toleranteste Platz der Welt ist und daß Jedermann, ob Jude, Türk oder Christ, mit Talenten begabt, eine seiner würdige Stellung daselbst einnehmen kann. Daß also Offenbach ein Jude ist, hat, wie ich glaube, durchaus keinen Einfluß auf seine Pariser Laufbahn. Oder sollten Sie beabsichtigt haben, solchen Ihrer Leser, die mit der Muttermilch noch im 19. Jahrhundert den mittelalterlichen Judenhaß eingesaugt haben, anzudeuten, wie gerecht Ihr Urteil über Offenbach’s Compositionen sein muß, wenn er sogar Jude ist? – Wollten Sie die Juden in der Tonkunst aussschließen, wie es noch in vielen Ländern von Staatsämtern geschieht, so würde doch der Kunst ein kleiner, wenn auch nicht erheblicher Schaden zugefügt werden, da, wie Sie als Musikkenner gewiß nicht leugnen werden, in dem gegenwärtigen Zeitalter manche talentvolle, vielleicht auch geniale Tonkünstler von jüdischer Abkunft sind. Glauben Sie nicht, mein Herr, Ihr Bericht hätte in künstlerischer und literarischer Hinsicht denselben Werth gehabt, wenn die betreffende gehässige Bemerkung weggelassen worden wäre? Meiner Ansicht nach sollten Religionsspalten keinen Einfluß auf die edle Kunst, Musik, ausüben. Es zeichnet ergebenst R.K. ein jüdischer Tonkünstler.“ 230 Neben dem Mitleidsappell mit deutschen Komponisten und Musikern, die durch Erfolge wie die von Offenbach keine Möglichkeit zur öffentlichen Anerkennung mehr hätten, appellierte der Autor an die potentiellen Leser, sich nicht durch zu hohe Eintrittsgelder betrügen zu lassen (X. Roland, Echo aus Paris. III. Die deutschen Künstler in Paris [Jan. 1861], 25): „Die Armen, die ihren Platz an der Casse bezahlen, erinnern mich lebhaft an jenen Sonderling, der sich jedesmal zu Weihnachten mit dem Producte seiner Ersparnisse den Genuß eines Zahnausreißens bescheerte.“ 231 Wilhelm Heinrich Riehl, Musikalische Charakterköpfe (41875), 2. Bd., 211. Riehls Aussage bezieht sich auf den prägenden Einfluss, den Rossini auf den Komponisten gehabt haben soll und Meyerbeers Bemühungen, „den Schein des Rossinismus zu wahren und die beliebten Formen äußerlich getreu abzuklatschen“. 232 S., Kleine Zeitung, Correspondenz (Juli 1861), 33.
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Es gilt der Verhimmelung des undeutschen, ja frechen Elementes die Spitze zu bieten, das – laut dem Willen Offenbach’s und seiner Gesellschaft – sich hier in unsere wesentlich deutsche und auf sittlichem Boden ruhende Kunst einschmuggeln will. Ich bin durchaus kein Verächter der wirklich berechtigten Seiten fremdländischer Kunst. Allein dies blose Lospauken, Trillern und Minauderiren auf die leere Unterhaltungssucht, auf den kurzweildürftige[n] Drang des großen Haufens; dies wüste Amüsirenwollen um jeden Preis; dies aller sittliche Grundlage [...] ledige Jagen nach Piquantem, das in seiner letzten Entartungsstufe [...] zur vollständigen Geschmacklosigkeit, zur geistlosesten Ironie wider allen sogenannten guten Ton wird [...] gegen das von Seiten jeder ehrenhaften Kritik mit allem Nachdrucke angekämpft werden muß. [...] Ebenso mißlich steht es um die Darstellungsweise dieser hohlen Bluetten. Kaum Eine erträgliche Stimme, kaum Eine nur mäßigen Ansprüchen genügende mimische Kraft läßt sich da vernehmen. An all dessen Stelle tritt hier ein Gefallsüchteln nach allen Richtungen, ein mißverstandenes Abstractum von Grazie, Leichtfertigkeit und sogenanntem Esprit. Diese Elemente machen sich im Singsange, Mienengezerre und körperlichen Hin- und Hergedrehe dieser Offenbach’schen Leute geltend.233
Derlei Polemik gegen die „letzte[...] Entartungsstufe“ der Musik, die Anklage des heimlichen Eindringens als ‚Einschmuggeln‘ in Analogie zum jüdischen Akkulturations- und Emanzipationsprozess sowie der direkte Verweis auf Offenbachs jüdische Herkunft in der deutschen Rezeption der 1860er Jahre wurde – wie noch hinsichtlich Richard Wagner zu zeigen sein wird – durch die Debatte um das ‚Judentum in der Musik‘ der 1850er Jahre ermöglicht, ohne dass in derselben der Name Offenbachs zu diesem Zeitpunkt schon genannt wurde.234 Dabei ignorierte die deutsche Rezeption zumeist vollständig den musikhistorischen Hintergrund, vor dem Offenbachs Werke entstanden. Mit seiner angestrebten Wiederbelebung der Tradition der ‚Opéra comique‘ schuf Offenbach ein neues Genre, die so genannten ‚Offenbachiaden‘. Dieser Begriff wird im Gegensatz zur Bezeichnung ‚Operette‘, die Offenbach selbst seit 1856 anwendete, von der heutigen Offenbach-Forschung bevorzugt:235 Der Versuch, eine alte Gattung [...] neu zu beleben, führte unter ganz neuen und andersartigen historischen, soziokulturellen und sozioökonomischen Bedingungen einer anderen Zeit eben nicht zur Wiederauferstehung der alten Gattung, sondern zur 233 S., Kleine Zeitung, Correspondenz (Juli 1861), 33. 234 Der Name Offenbachs fällt allerdings 1869 in der Wiederveröffentlichung des Aufsatzes Das Judenthum in der Musik als eigenständige Broschüre. Im November 1870 entstand Wagners literarische Satire Eine Kapitulation, in der Offenbach mit dem gängigen anti-judaistischen Stigma als „internationalstes Individuum“ bezeichnet wird. Vgl. Peter Ackermann, Eine Kapitulation. Zum Verhältnis Offenbach – Wagner, in: Winfried Kirch/Ronny Dietrich (Hg.), Jacques Offenbach – Komponist und Weltbürger. Ein Symposion in Offenbach am Main, 135–152. 235 Während die Gattungsgeschichte der Operette sich zunehmend von den Wurzeln der Offenbachschen Werken entfernte, bezeichnet der Begriff der ‚Offenbachiade‘ eine musikalische Zeitsatire im Sinn der Werke Offenbachs.
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Kreation einer neuen [...], die den geänderten Zeitumständen angepaßt war. [...] Vielmehr vermischte Offenbach drei Entwicklungsstränge der alten Opéra comique: den parodistischen Ton der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die schlichte Einfachheit und Volkstümlichkeit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und die an der Grand Opéra geschulten anspruchsvolleren Formen von Arie und Szene, wie sie Offenbachs Zeitgenossen kultivierten.236
In seinem Nachruf auf Offenbach wies Eduard Hanslick 1884 auf den niedrigen Stellenwert dieser neuen Gattung innerhalb der „dramatischen Hierarchie“ hin, mit Werken, die aber dennoch „ein Vierteljahrhundert lang Millionen von Menschen das beinahe verloren gegangene Vergnügen an frisch und reich hervorquellender heiterer Musik bereitet“237 hatten: Erst wenn der Zeitverlauf einem Komponisten leichter, komischer Musik den Stempel der Klassizität aufgedrückt hat, sehen wir sein Verdienst gepriesen [...]. Es haftet nämlich an dieser ganzen Gattung ein gewissen Ballast von possenhaftem Unsinn und von Frivolität, welche auch ihre besten Exemplare nicht in den reinen Aether der Kunst aufsteigen läßt. [...] Auch Werke dieses kleineren Genres wollen aus einer gewissen historischen Distanz betrachtet sein, müssen gleichsam ihre Zeitlichkeit abgestreift haben, um eine endgiltig gerechte Kritik zu erfahren. Eine solche wird, wie ich glaube, in Offenbach ein Talent allerersten Ranges auf dem Gebiet heiterer und komischer Musik erkennen.238
Gerade das Ziel der Unterhaltung, die mit Komik und zeitaktuellen Bezügen das Publikum zu fesseln suchte, erschien der deutschen Kritik vor dem Hintergrund einer vermeintlichen Konkurrenzsituation mit der zeitgenössischen Oper als „nackte grinsende Verhöhnung des Idealen in der Kunst“.239 Dessen ungeachtet fand hier das gleiche Vokabular seine Anwendung, das im 19. Jahrhundert die Abwertung der ‚französisch-italienischen‘ Oper prägte. Das Schlagwort vom „Verschwender und Spötter“,240 das auf eine neue Komponente innerhalb einer durch latenten Früh-Antisemitismus geprägten Rezeptionsgeschichte weist, prägte die deutsche Musikkritik, die sowohl die Aufführungspraxis der Offenbachschen Bühnenwerke beanstandete als auch eine ‚Oberflächlichkeit‘ und ‚Unangemessenheit‘ der verwendeten 236 Peter Hawig, Was ist eine Offenbachiade?, in: ders., Jacques Offenbach, 98. 237 Eduard Hanslick, VI. Offenbach. († 1880.), in: ders., Aus dem Opernleben der Gegenwart, 269. 238 Hanslick, Offenbach, 287–290. 239 Schlüter, Allgemeine Geschichte der Musik (1863), 162. 240 [Bruno Bauer], Artikel Judenthum, das, in der Fremde, in: Hermann Wagener, Staats- und Gesellschafts-Lexikon (1862), Bd. 10, 629. Der Junghegelianer und Theologe Bruno Bauer (1809– 1882) veröffentlichte diesen Artikel im Folgejahr als eigenständige Publikation (Das Judenthum in der Fremde. Separat-Abdruck aus dem Wagener’schen Staats- und Gesellschaftslexikon). Schon 1843 agitierte Bauer gegen die Emanzipation der preußischen Juden mit der Schrift Die Judenfrage (Braunschweig 1843), auf die wiederum Karl Marx mit seinem Artikel Zur Judenfrage (in: Deutsch-Französische Jahrbücher 1844) reagierte.
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musikalischen Formen konstatierte. Schon bei Giacomo Meyerbeer wurde die Wahl des jeweiligen Librettos ebenso kritisiert wie die ‚Verschwendung‘ anhand der Ausstattung und der so genannten ‚Effekte‘. Vor allem Offenbachs erste abendfüllende Komposition, die Oper Orphée aux Enfers (1858) – eine Travestie göttlicher Gestalten auf der Erde – galt der zeitgenössischen Rezeption als ‚Verunglimpfung‘ und ‚Verspottung‘ tradierter Werte: Nicht zufrieden mit dem Beifall, den seine allerliebsten Operetten [...] hatten, begründete er mit seinen burlesken Opern [...] eine Musikgattung, die eine Parodie des ernsten, erhabenen Opernstyls, sowie des classischen und romantischen Alterthums zum Zwecke hat.241
Die Vertonung des griechischen Mythos von Orpheus und Eurydike 1762 durch Christoph Willibald Gluck im Rahmen seiner Bestrebungen zur Opernform deutete die deutsche Rezeption des 19. Jahrhunderts als nationaler Beitrag einer durch Italien und Frankreich geprägten Operngeschichte. Die Verwendung desselben Stoffes durch Offenbach als „lüderliche Götterwirthschaft“242 wurde hier als direkte negative Auswirkung jüdischer Emanzipationsbestrebungen gewertet, als „elende Caricatur, die Jacob Offenbach aus seinem dürren Gehirn herausgepreßt hat“.243 Der Begriff der „Caricatur“ diente in anderem Kontext ebenfalls einer indirekten Verbindung zwischen Meyerbeer und Offenbach, der die jüdische Herkunft beider Komponisten mitdachte: Meyerbeer ist als Operncomponist die Caricatur des universellen Mozart, der kosmopolitische ‚von allen Nationen profitirende‘ Jude, der Jude, welcher es dem hochverehrten Publikum auf jede Weise recht zu machen weiß. [...] Nicht zufrieden mit dem Beifalle, den seine [Offenbachs] allerliebsten Operetten [...] gefunden hatten, begründete er mit den für seine Truppe [...] geschriebenen ‚burlesken Opern‘: Orphée aux enfers, Geneviève de Brabant, Le pont des soupirs ec. ein Genre, das sich ganz eigentlich die Caricatur der classischen wie der romantischen Kunst, die Parodie des ernsten Opernstyles vorgesetzt hat.244
Vor allem die allgemeine anti-judaistische Literatur der Zeit griff die vermeintlich bewusste Entstellung einer national-exklusiven Oper auf und sah darin ein Beispiel für den ‚verderblichen‘ Einfluss, den die jüdische Emanzipation entfalten würde: Bis dahin sind die Juden gerade die rechten Leute dazu, die alten Kunstinstrumente in die Hand zu nehmen, die gegebenen Kunstgriffe zu üben und zur Virtuosität zu stei241 242 243 244
Frank, Geschichte der Tonkunst (OA: 1870, 31878), 171. Artikel Offenbach, in: Mendel, Musikalisches Conversations-Lexikon (1877), Bd. 7, 327. Roland, Echo aus Paris. III. (Schluß). Concerte und Allerlei (Jan. 1861), 46. Schlüter, Allgemeine Geschichte der Musik (1863), 160ff.
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gern und die entleerte Form spaßhaft zu zerquetschen oder in’s Pathetische aufzublasen. Ohne eigene Originalität kann der Jude die christliche Kunst nur nachahmen (fortbilden niemals); [...] er muß dann unsere Lebensformen zerknittern, unsere Romantik, wie in Offenbach’s [...] Spottburlesken geschieht, zerschinden, unsere, unsers Gluck’s Palingenesie des Alterthums travestiren.245
Neben dem affektorientierten Appell an das Bild einer national geprägten, überlegenen Musiktradition, das sich in der Wiederholung des Personalpronomens „unsere“ ausdrückt, deuten die Verben „zerquetschen“, „zerknittern“ und „zerschinden“ auf eine generell zeitkritische Wahrnehmung des Niedergangs der Kunst und speziell der Musik hin. Als Protagonist des von der Pariser ‚Dekadenz‘ ausgehenden vermeintlichen Verfalls der musikalischen Bühnenkunst wurde Offenbach als Komponist zu einem Prototyp des ‚zersetzenden‘ Juden in der Musik. In ihrer Studie Zur Geschichte des Wortes ‚zersetzen‘ beleuchtet die Sprachwissenschaftlerin Renate Schäfer die Genese des Begriffs im 18. und 19. Jahrhundert und kommt zu dem Schluss: Historische und politische Schriftsteller des neuzehnten Jahrhunderts bedienen sich des Wortes, um die Auflösung staatlicher, sozialer oder geistiger Ordnungen zu beschreiben. [...] In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts muß das Wort ‚zersetzen‘ sich in der allgemeinen sprachlichen Vorstellungswelt mit dem Begriff des Organischen verknüpft haben.246
Während Offenbachs mythologische Parodie der Götter auf Erden schon in der französischen Rezeption als anstößig wahrgenommen wurde und diese Presse-Debatten zunächst zu ersten Erfolgen des Werkes führten,247 scheint die öffentliche Wirkung seiner Zeitsatiren auch im weiteren Verlauf zum Teil an die Schärfe ihrer Kritik geknüpft zu sein. Den in die Gegenwart travestierten antiken Göttergestalten in Orphée aux Enfers folgte in der Oper Belle Hélène (1864) eine Parodie des griechischen Olymps, während in dem Werk La Grande-Duchesse de Gérolstein (1867) der Eigennutz, die 245 Bauer, Artikel Judenthum, das, in der Fremde (1862), 629. Ähnlich, aber zunehmend verschärfend formulierte es 1881 die anonyme, in völkischen Kreisen kursierende Schrift Die Juden in der Musik (16f), die in Anlehnung an Richard Wagner entstanden war: „Im travestirenden Genre, welches er [Offenbach] nachher hauptsächlich cultivirt hat, und wo er es in nach Dutzenden zählenden Spottburlesken versucht, unseres Gluck und der klassischen Meister Palingenesie des Alterthums und unsere Märchen- und Sagen-Welt in den Staub zu ziehen und lächerlich zu machen, läßt er Originalität der Auffassung und satyrische Durchführung gänzlich vermissen, Mängel, welche durch die prahlerische Effecthascherei in der Benutzung eigener Plagiate nur noch mehr auffallen und die Productionsarmuth, das Erbtheil aller Semiten, auf’s krasseste zur Schau stellen.“ 246 Schäfer, Zur Geschichte des Wortes ‚zersetzen‘, 60f. 247 Vgl. Holde, Jews in Music, 73: „At first the success was moderate. But suddenly interest awakened among the Parisians when it became known that in dialogue poisoned darts were aimed at the leading critic of the Journal des Débats who had panned the work unmercifully.“
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Korruption und die Eitelkeit der Gegenwartspolitik und des Militärs persifliert wurden. Da Offenbachs Werke historische wie zeitgenössische Autoritäten in ihrer Alltäglichkeit abbildeten, konnte dies mit einem durch negative Wertakzente belegten Begriff der ‚Kritik‘ verknüpft werden, der seinen Ausdruck in dem Wort ‚zersetzen‘ fand: Indem die in ‚Kritik‘ ursprünglich enthaltene, aber dem allgemeinen Sprachbewußtsein nicht mehr deutliche Vorstellung von der ‚scheidenden‘ Wirkung des Denkens durch die Verbindung mit ‚zersetzen‘ wieder vergegenwärtigt wird, entsteht eine neue sprachliche Spiegelung der Sorge um den Bestand der Dinge, die von der Schärfe des Denkens bedroht sind [...]. Nun ist es sehr auffallend, wie schon früh das Wort ‚zersetzen‘ immer wieder mit einer bestimmten Gruppe in Zusammenhang gebracht wird: mit dem Judentum. In dieser Anwendung des Wortes fließen die beiden charakterisierten Hauptlinien zusammen: das Mißtrauen gegen die Schärfe des Intellekts setzte die Neigung zur alle Ordnungen auflösenden Kritik, die den Juden zugeschrieben wurde, als einen der Gründe des gegenwärtigen Verfalls an. Schon in der ersten Jahrhunderthälfte beginnt dieser Zweig der Wortgeschichte.248
Heinrich Heine, der seit 1831 im Pariser Exil lebte, galt der deutschen Rezeption trotz seines Konfessionswechsels 1825 als Beispiel des ‚zersetzenden‘, ‚intellektuellen‘ „Vers- und Broschürejuden“, der den Geschmack des Publikums verderbe.249 In seiner Person finden sich verschiedene Elemente dieses pejorativen Bildes zusammengeführt, das seine Wurzeln zwar in der tradierten Judenfeindschaft hatte, aber erst im Rahmen der antisemitischen Agitation gegen den ‚jüdischen Zersetzer‘ zur vollen Ausprägung kam: Heine gilt [...] als Prototyp ‚überspitzten‘ und damit ‚jüdischen Intellektualismus‘: – aufgrund [...] seiner analytischen alias ‚zersetzenden‘ Kraft, die [...] eine ‚aufhetzende Gewalt‘ beinhaltet; – aufgrund seines ironischen und satirischen bis polemischen Talents, das entlarvt, anklagt und geistig hinrichtet [...] – aufgrund seines Erotizismus, der für Reaktionäre jeder Art und aller Zeiten Inbegriff des ‚dekadenten‘ und ‚entarteten‘ Emanzipationsstrebens ist.250
Betrachtet man die deutsche Rezeption Offenbachs, so lassen sich derlei Merkmale der Denkfigur des ‚zersetzenden Juden‘ ebenfalls finden. Heinrich Heines ironisch-humoristische Desillusionierung des Autoritätsglaubens wie auch sein in der Grundidee der Offenbachschen Travestie Orphée 248 Schäfer, Zur Geschichte des Wortes ‚zersetzen‘, 59–62. 249 Vgl. Scharff-Scharffenstein, Ein Blick in das gefährliche Treiben der Judensippschaft (1852), 12: „Gefährlicher sind die Vers- und Broschürejuden, welche [...] alles Edle und Hohe herabziehen und durch die Richtung, welche sie der vaterländischen Literatur zu geben gewußt haben, den Geschmack und das sittliche Gefühl des Publikums gänzlich verderben, und die deutsche Nation recht eigentlich um ihre geistigen Vorzüge bringen.“ 250 Richard Faber, Zwanzigstes Bild: ‚Der Zersetzer‘, in: Schoeps/Schlör, Antisemitismus, 260.
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aux Enfers naher Aufsatz Die Götter im Exil251 begünstigten eine imaginäre Verbindung zum Komponisten, die durch die jüdische Herkunft beider Künstler und ihren Pariser Wirkungskreis noch unterstützt wurde.252 Auch Offenbach erzielte die komische Wirkung seiner Persiflagen teilweise durch scharfe Kontraste und satirische Umbildungen. Indem überlegene Respektspersonen in einer gewöhnlichen Alltäglichkeit abgebildet und machtvolle Autoritäten mit kritischem Unterton der vermeintlichen Lächerlichkeit preisgegeben wurden, galten Offenbachs Werke als ‚respektlos‘ und ‚verderbend‘. Vor allem die erotischen Verwicklungen innerhalb der Ehekomödien der Offenbachschen Libretti, die sich leicht unter dem, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingeführten Begriff der ‚Sinnlichkeit‘ subsumieren ließen, erschienen als Schamlosigkeit und ‚französische‘ Frivolität. Musikalisch wurde in diesem Zusammenhang die Verwendung folkoristischer Rhythmen ebenso kritisiert wie eine Benutzung modischer Tanzformen und Märsche. In diesem Sinn galt in den 1860er Jahren die musikalische Umsetzung der Parodie Orphée aux Enfers als Ausdruck einer verderblichen sexuellen Stimulanz: Orpheus insbesondere verdankt seinen Erfolg hauptsächlich den zahlreichen politisch-satirischen Nebenbeziehungen und der decorativen Ausstattung, da doch die Musik dieses Opus ohne erheblichen Rest in einer Quadrille aufgeht; dieselbe bewegt sich auch fast ausschließlich in einer leichten, sinnlich aufregenden Tanzrhythmik, es ist kurzgesagt die richtige Bordellmusik.253
Dabei bleibt jedoch festzuhalten, dass der französische Cancan der Zeit, der durch Offenbach auf der Bühne populär wurde, „eine Galoppade, also ein rascher Rundtanz wilden Zuschnitts“ war und in den 1860er und 1870er Jahren noch nichts mit der Mode der Jahrhundertwende gemein hatte, in der 251 Les dieux en exil erschien 1853 in der Revue des Deux Mondes. Einige Wochen später wurde der Text in den Hamburger Nachrichten unter dem Titel Die verbrannten Götter publiziert. 252 Der Offenbach-Biograph Anton Henseler suchte in seiner Studie Jacob Offenbach von 1930 den Vergleich zwischen Heine und Offenbach mit einem Hinweis auf die formale Anlage der Werke beider Künstler zu untermauern (434): „Offenbachs allgemein als frech empfundenen kleingestoßenen Rhythmen, neben denen aber auch die Lyrik kleiner, feinziselierter Formen, der sentimentale Romanzenton Raum hat, seiner aggressiven Parodistik, seiner dionysischen Verherrlichung des Rausches [...] lassen sich ähnliche Züge in der Dichtung und Geistigkeit Heines gegenüberstellen. [...] Auch bei Heine werden Zitate in satirischer Absicht karikierend umgemodelt; auch bei ihm ist der plötzliche Umschlag vom Erhabenen ins Triviale das oft angewandte komische Mittel. Wenn Heine den Lutherchoral ‚Eine feste Burg‘ als ‚die Marseiller Hymne der Reformation‘ bezeichnet, so übersetzt Offenbach diesen Witz ins Musikalische, indem er dem Choral das schmetternde Trompetensignal der ‚chinesischen Marseillaise‘ anhängt.“ Zeitspezifisch akzentuierte Henseler zudem die Verbindung der beiden Künstler in einer „Geistesverwandtschaft“, einer „gleichen Konstellation von Rasse und Nationen im Leben und Schaffen“ der „beiden rheinischen Juden“. 253 Schlüter, Allgemeine Geschichte der Musik (1863), 162f. Die „Wollust“ wurde indes schon Anfang des 19. Jahrhunderts als ein integraler Bestandteil des „jüdischen Volkscharakters“ gesehen. Vgl. Hundt-Radowski, Judenspiegel (1819), 51.
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zu Offenbachs „Musik in einschlägigen Nachtlokalen kreischende Damen in Rüschenröcken akrobatisch die Beine werfen“.254 Mit dem Vorwurf der ‚Sinnlichkeit‘, der schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an ‚verderbliche‘ erotische Reize geknüpft wurde, ging die Anklage einer Verunglimpfung menschlicher Werte an sich einher. Mit Blick auf Offenbachs kompositorisches Vorgehen, Wortparadoxien und Tierlaute als karikierende Momente in seine Werke einzubauen, wurde ihm „die Nachahmung des thierischen Wesens“ vorgeworfen: [...] die Thiere sind zu Menschen und die Menschen Thiere geworden [...].255
Gerade im subtilen Zusammenhang mit den in der allgemeinen antijudaistischen Literatur gängigen Tiermetaphern und innerhalb des Kontextes eines Aufschwungs der französischen Karikatur in den 1850er und 1860er Jahre, die in dem Erfolg Offenbachs ein beliebtes Thema fand,256 erschien 1876 in Deutschland eine Karikatur, die Offenbach als „semitischmusikalisch-akrobatische[n] Gorilla (Semia Affenbach)“257 darstellte. Unter dem Bild eines Affenkörpers mit Offenbachkopf, das an eine verfremdete Zentaur-Darstellung erinnert, wurde der Komponist als „Freude aller Operettenthiergärten“ bezeichnet: Er ging zwar auf allen musikalischen Vieren, hatte aber doch auch [...] musikmenschähnliche Momente. [...] Gegenwärtig ist er, da sich die Welt inzwischen viele andere Affen gekauft hat, etwas außer Mode gekommen.258
Obgleich derlei entmenschlichende Untertöne als Einzelfälle im Kontext der Karikatur gewertet werden können, zeigt sich, dass dezidierte antijudaistische Stigmata aufgrund der deutschen Offenbach-Rezeption auch in Nachschlagewerke wie die Allgemeine Deutsche Biographie von 1887 einflossen. Als „Judenjüngling“259 habe Offenbach entsprechend seiner „Herkunft, die er weder durch seine Nase, noch durch seine Aussprache verleugnen konnte“ die „corrumpirten Genußmenschen durch seine raffinirten Melodien noch mehr zu corrumpiren“ versucht:260 254 Hawig, Vorrede. Cancan und Barkarole, in: ders., Jacques Offenbach, 9. 255 Schlüter, Allgemeine Geschichte der Musik (1863), 162:„Es ist dafür nur zu charakteristisch, daß gerade die Nachahmung des thierischen Wesens (Fliegenduett im Orpheus, Miaulied in La chatte métamorphosée en femme, irgend ein Hühnergackern in Genovefa ec.) den größten Beifall geerntet“. 256 Vgl. die Abbildungen in der Studie Jacques Offenbach. Genie der Heiterkeit von Sonja Luyken. 257 Abbildung in der Leipziger Zeitschrift Puck, zit. nach Eduard Fuchs, Die Juden in der Karikatur, 167. 258 Fuchs, Die Juden in der Karikatur, 167. 259 Schletterer, Artikel Offenbach (1887), 167. Zu Schletterers Darstellung der Synagogalmusik vgl. Kap. 3.2.1 Die Synagogalmusik-Rezeption. 260 Schletterer, Artikel Offenbach (1887), 169.
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Seine Musik war dabei nichts weniger als französisch. Was man an ihr französische Leichtigkeit nannte, war kosmopolitische Luftigkeit, sein sogenannter französischer Esprit uralter Judenwitz [...]. Gerade seine verbreitetsten Lieder tragen bedenklich den Stempel der Gemeinheit in der Stirn. Es ist daher nicht zu beklagen, wenn sie mit jedem Jahre mehr und mehr verklingen.261
In Offenbachs Person konnten gerade die völkischen Kreise des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und die dezidiert antisemitische Musikpolitik des Nationalsozialismus den verderblichen Einfluss ‚jüdischer‘ Künstler im 19. Jahrhundert konstruieren. Durch seine erfolgreiche, populäre Unterhaltungsmusik, die mit zahllosen Anspielungen tagesaktuell auf politischgesellschaftliche Ereignisse verwies und durch Satire und Parodie humoristisch aufbereitete, wurde Offenbach als ‚Vater der Operette‘ zu der vermeintlichen Personifikation des ‚zersetzenden Theaterjuden‘ stilisiert, der es allein mithilfe von ‚Trivialität‘, ‚Laszivität‘ und ‚Frivolität‘ zu öffentlichem und ökonomischem Erfolg gebracht habe.262 Damit wurden schon in der deutschen Offenbach-Rezeption der 1860er und 1870er Jahre Begrifflichkeiten zusammengeführt und erweitert, die in der Folgezeit als integrale Bestandteile sowohl zu einer Abwertung der Gattung Operette an sich als auch zu demagogischen Zwecken durch einen Verweis auf die jüdische Herkunft der jeweiligen Komponisten benutzt werden konnten. Felix Mendelssohn Bartholdy: mangelnde ‚deutsche Tiefe‘ 3.2.2.3 Felix Mendelssohn Bartholdy: mangelnde ‚deutsche Tiefe‘ und ‚Lebenswärme‘ In den 1830er Jahren formierten sich – wie gezeigt – in der deutschen Meyerbeer-Rezeption judenfeindliche und früh-antisemitische Akzente. Giacomo Meyerbeer wurde durch seinen Pariser Aufenthaltsort als ‚Vaterlandsverräter‘ angeklagt und mit seinen erfolgreichen Opern zu einem Sinnbild des ‚verdorbenen‘ Pariser Musikgeschmacks stilisiert. Ähnlich verlief auch die deutsche Rezeption Jacques Offenbachs, der ausgehend von Paris mit seinen ‚Offenbachiaden‘ internationale Anerkennung erlangte. Dabei zeigt die Auswertung der deutschen Musikkritik beider Komponisten eine ideo261 Schletterer, Artikel Offenbach (1887), 170ff. In der nachfolgenden Schilderung – als angebliches Zitat unbekannter Herkunft kenntlich gemacht – wird mit anti-judaistischer Häme Offenbachs Erscheinung geschildert (172): „Seine spindeldürre Gedankenstrichgestalt, auf der die messerschneidendenscharfe Maske eines outrirenden Satyrs saß, war klein, verwittert, energielos und zerfallen, der Rücken leicht erhöht; die Beine zappelten beständig. Er erschien stets, immer auffallend parisisch gekleidet, als ein echter Boulevardier [...]. Nicht ein einziger bedeutender Zug kennzeichnete seine Physiognomie. Die Nase wies auf schneidig, kleinliche Findigkeit hin, die Augen schimmerten klüglich, zuweilen etwas schadenfroh, um den Mund lag es beständig wie eine verächtliche Kritik des ganzen Welttreibens“. 262 Vgl. etwa das Kapitel Musik (in: Theodor Fritsch [Hg.], Handbuch der Judenfrage [271910], 208): „Uebertroffen an Jüdischkeit wurde er [Meyerbeer] noch durch Offenbach, der in Ton und Sujet noch frivoler und lasziver ist.“ Vgl. zum Handbuch der Judenfrage Kap. 6.1 Die Juden in der Musik: Nachschlagewerke und schwarze Listen.
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logisch aufgeladene Oppositionsbildung zwischen deutscher und französischer Musikkultur. In dieser Gegenüberstellung verschmolz mithilfe eines vielschichtigen dichotomen Schlagwort-Systems zunehmend ein negatives Bild der französischen Musiktradition mit den in Deutschland kursierenden judenfeindlichen Stereotypen. Dem Prozess der Verzahnung von ‚jüdischfranzösischen‘ Negativ-Charakteristika lag ein Ab- und Ausgrenzungsmechanismus zugrunde, der die Denkfigur einer ‚deutschen Musik‘ schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Emblem nationaler Einheitsbestrebungen überhöhte. Im Unterschied zu der oben dargestellten Rezeption von Meyerbeer und Offenbach erfolgte in der deutschen musikliterarischen Betrachtung des 1809 geborenen Felix Mendelssohn Bartholdy eine wesentlich unterschwelligere und subtilere Form der posthumen Abwertung, die allerdings dessen jüdische Herkunft zumindest implizit mitdachte. In diesem Sinn ist auch die weit kolportierte Aussage seines Lehrers und Leiters der Berliner Singakademie Carl Friedrich Zelters in einem Brief an Johann Wolfgang von Goethe vom Oktober 1821 zu verstehen: Morgen früh reise ich mit meiner Doris und einem 12jährigen muntern Knaben, meinem Schüler, dem Sohn des Hrn. Mendelssohn ab nach Wittenberg um dem dortigen Feste bei zu wohnen. [...] Der Letztere ist ein guter hübscher Knabe, munter und gehorsam. Er ist zwar ein Judensohn aber kein Jude. Der Vater hat mit bedeutender Aufopferung seine Söhne nicht beschneiden lassen und erzieht sie wie sichs gehört; es wäre wirklich einmal eppes Rohres wenn aus einem Judensohne ein Künstler würde.263
Die ironische Nachbildung der jiddischen Sprache mit dem Ausdruck „eppes Rohres“, d.h. ‚etwas Rares‘ weist neben dem stigmatisierenden Unterton Zelters auf die grundsätzliche Situation der deutschen assimilationswilligen Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In dem Bewusstsein um die Nachteile der jüdischen Herkunft in einer christlichen Mehrheitsgesellschaft ließ Abraham Mendelssohn alle seine Kinder protestantisch erziehen und christlich taufen, so auch seinen Sohn Felix am 1. März 1816 und suchte sich selbst 1822 durch die Hinzufügung des Namens ‚Bartholdy‘ zu seinem Nachnamen von den nichtgetauften Mitgliedern seiner Familie abzusetzen, aber auch den Signalcharakter des jüdisch klingenden Namens ‚Mendelssohn‘ abzuschwächen.264 Die Bedeutung dieses Namens als Angriffsfläche in einer nicht-jüdischen Umwelt und in Zusammenhang mit dem öffentlichen Auftreten als Kompo263 378. Zelter, Berlin, Leipzig, 21. bis 31. Oktober 1821, in: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, 679. 264 Der Name Mendelssohn war durch das Wirken des jüdischen Philosophen und Aufklärers Moses Mendelssohn eng mit der deutsch-jüdischen Geschichte des 18. Jahrhunderts verknüpft.
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nist akzentuiert auch der Historiker Julius H. Schoeps in seiner Studie Christliches Bekenntnis oder modernes Marranentum? Der Übergang vom Judentum zum Christentum: Das Beispiel Abraham und Felix Mendelssohn Bartholdy: Seinem Sohn Felix gegenüber hat er [Abraham Mendelssohn] sich zwar zu Liberalität in Religionsfragen bekannt, aber andererseits sich darüber beklagt, daß dieser den Namen Bartholdy nicht führe. [...] Den Sohn bat er deshalb in einem Brief [...] darüber nachzudenken, ob dieser nicht den Namen ‚Mendelssohn‘ ablegen und statt dessen nur den Namen ‚Bartholdy‘ führen wolle: ‚ich wiederhole dir, einen christlichen Mendelssohn gibt es ebenso wenig als einen jüdischen Confucius. Heißt du Mendelssohn, so bist du eo ipso ein Jude, und das taugt nichts, schon weil es nicht wahr ist.‘ (8. Juli 1829).265
Dessen ungeachtet trat Felix Mendelssohn zunächst nur unter diesem Namen in die Öffentlichkeit und ergänzte ihn erst später zum Doppelnamen.266 Ob und in welcher Art judenfeindliche und antisemitische Ressentiments die Karriere Mendelssohn Bartholdys behindert haben, ist in der Sekundärliteratur häufig spekuliert worden. Hier findet sich die, auf den Mendelssohn-Freund Eduard Devrient zurückgehende Vermutung, dass Felix Mendelssohn Bartholdy nicht nur aufgrund seiner Jugend sondern vielmehr wegen früh-antisemitischer Voreingenommenheit 1832 nicht zum Nachfolger Zelters auf den repräsentativen Posten des Direktors der Berliner Singakademie gewählt wurde.267 Dennoch boten Felix Mendelssohn Bartholdys Biographie, sein kompositorisches und musikorganisatorisches Schaffen scheinbar kaum Angriffsfläche für eine Übertragung anti-judaistischer Stigmata. Sein Eintreten für Deutschland als musikalisches Zentrum und sein Engagement in historischen Aufführungen ‚deutsch‘ reklamierter Komponisten wie Gluck, Händel, Beethoven und Bach ließen anders als etwa bei Giacomo Meyerbeer kaum die Anklagen von ‚Vaterlandsverrat‘ und ‚jüdisch-internationalisti-scher‘ sowie ‚profitorientierter‘ Ausrichtung im künstlerischen Wirken zu. Dementsprechend firmierte der in Deutschland schaffende Mendelssohn Bartholdy als positive Gegenfigur zu dem in Paris erfolgreichen Meyerbeer.268 Dabei lag einem direkten Vergleich zwischen dem in Frankreich tätigen 265 Schoeps, Christliches Bekenntnis oder modernes Marranentum?, in: ders., Die mißglückte Emanzipation. Wege und Irrwege deutsch-jüdischer Geschichte, 173. 266 Vgl. Max F. Schneider, Mendelssohn oder Bartholdy? Zur Geschichte eines Familiennamens. 267 Vgl. Eduard Devrient, Meine Erinnerungen an Felix Mendelssohn Bartholdy und seine Briefe an mich (OA: 1869, 31891), 143. 268 So etwa in Schumanns Rezension zu Meyerbeers Oper Les Huguenots, die gleichzeitig die erste musikliterarische Betrachtung von Mendelssohn Bartholdys Oratorium Paulus darstellte: (Fragmente aus Leipzig, in: Neue Zeitschrift für Musik (Sept. 1837), 73–75.
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Opernkomponisten und dem in Deutschland ansässigen Komponisten nichttheatraler Vokal- und Instrumentalmusik zumindest implizit die gemeinsame jüdische Herkunft zugrunde, während die eigentlichen Werke beider kaum Vergleichsmöglichkeiten boten. Die, in den 1840er und 1850er Jahren auftauchenden abschätzigen Wertungsmuster und Etikettierungen der Werke Mendelssohn Bartholdys scheinen dessen ungeachtet dennoch Parallelen zu den abwertenden Motivkreisen in der Rezeption Meyerbeers zu bilden, die um 1850 in den Debatten um das ‚Judentum in der Musik‘ zu integralen Bestandteilen ‚jüdischen‘ Kunstschaffens überhaupt verschärft wurden.269 Ausgangspunkt bildete die tradierte anti-judaistische Überzeugung, die den Juden ein kreatives künstlerisches Potential per se absprach und eine vermeintliche ‚Nicht-Originalität‘ nachzuweisen suchte. Demzufolge galt auch Felix Mendelssohn Bartholdy, dessen Vorname zu einem Synonym für seinen künstlerischen Werdegang umgedeutet wurde,270 Teilen der deutschen Musikkritik trotz seiner umfassenden Bildung, seiner Orientierung an den Vorbildern Bachs, Händels und der Wiener Klassik nicht als ‚Genie‘, sondern nur als strebsames, fleißiges Talent vom Rang eines sekundären Kleinmeisters. So urteilte der spätere Dirigent Hans von Bülow im Februar 1850 in der Berliner Abend-Post: Mendelssohn war kein Mann der Zukunft, er schuf für seine Zeit, für die Gegenwart: darin soll kein Tadel liegen. Mendelssohn hat nie dem herrschenden Modegeschmacke Concessionen gemacht [...]. Mendelssohn war aber kein Genie, sondern nur ein außerordentliches Talent, dem Geschick und scharfer, praktischer Verstand, welches beides den Leuten seines Stammes in hohem Grade eigen ist, bedeutend zu Hülfe kamen.271
Ähnlich wie Meyerbeer, der als emsiger, mühsamer und mechanischer ‚Mosaik-Arbeiter‘ abqualifiziert wurde, dem man jedoch ein spezifisch ‚jüdische‘ Klugheit in künstlerischen Dingen unterstellte, firmierten auch Mendelssohn Bartholdys Werke als ‚oberflächliche‘ Aneignung und ‚rein 269 Ähnlich der Beurteilung Offenbachs findet sich in der Mendelssohn Bartholdy-Rezeption eine Verschärfung der Anklagen im Jahr 1850, die jedoch schon ein halbes Jahr vor dem WagnerAufsatz Das Judenthum in der Musik, der im September 1850 in der Neuen Zeitschrift für Musik erschien, festzustellen ist. 270 Vgl. Hans von Bülow, Zweite Symphonie-Soirée der königl. Capelle im Saale der Singacademie. Haydn’s C moll-Symphonie. – Mendelssohn’s A dur-Symphonie. – Beethoven’s 8. Symphonie (in: Abend-Post, democratische Zeitung, Berlin, den 23. Februar 1850, zit. nach ders., Ausgewählte Schriften 1850–1892 [1896], 9): „Man hat Mendelssohn in seinem Leben überschätzt; keinem Künstler ist je Alles so von Statten gegangen; keiner hat bei seinen Lebzeiten so viel Zeichen der Verehrung und des Enthusiasmus von allen Seiten erhalten [...] und er hat seinen Namen (Felix) im Superlativ getragen.“ 271 Bülow, Zweite Symphonie-Soirée der königl. Capelle im Saale der Singacademie (1850), zit. nach ders., Ausgewählte Schriften 1850–1892 (1896), 9.
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technische‘ Nachahmung der ‚deutschen‘ Musikgeschichte. Während am Beispiel von Meyerbeer und Offenbach eine ‚jüdisch-französische‘ Bedrohung der vermeintlichen Vormachtstellung ‚deutschen‘ Musikschaffens konstruiert und anhand von Offenbach eine bewusste ‚Zersetzung‘ durch Spott und Satire vermutet wurde, unterstellte man dem aus assimilierten bürgerlichen Kreisen stammenden Mendelssohn Bartholdy ein heimliches Einschmuggeln in eine ihm ‚ursprünglich fremde‘ Gesellschaft und Kultur. Das Denkmuster, die jüdische Assimilation mit dem Ziel der bürgerlichen Gleichstellung in eine schleichende ‚jüdische‘ Unterwanderung der ‚christlich-deutschen‘ Gesellschaft umzudeuten, gehörte zum anti-judaistischen Repertoire des 19. Jahrhunderts. In diesem Sinn veröffentlichte der erste Herausgeber des oben zitierten Goethe-Zelter-Briefwechsels, der Hofrat Friedrich Wilhelm Riemer (1774–1845)272 in seinen 1841 erschienenen Mittheilungen über Goethe ein Kapitel mit aggressiven früh-antisemitischen Beschimpfungen, das indirekt auch auf Mendelssohn Bartholdy abzielte. Während Goethe nach Riemer dem „jungen Felix Mendelssohn“ eine „väterliche Liebe und Vorsorge“273 entgegenbrachte, sei das vorstechende Merkmal ‚der Juden‘ allgemein eine „schmarotzerpflanzenähnliche[...] Existenz“,274 die sie durch „gefällige Aufmerksamkeit und schmeichelnde Theilnahme“ sowie durch „ihre schnelle Fassungsgabe“ und „ihr[en] penetrante[n] Verstand“275 zu kaschieren suchten: Es ist dieß auch nur eine der vielen Anmaßungen und Zudringlichkeiten die jenes Geschlecht von jeher sich erlaubt, [...]. Es ist das gleißnerische Heranschleichen an die Gesinnung, Interessen und Wünsche der Christen, um zuletzt sich darin festzusetzen und jene daraus zu vertreiben. [...] Und nun äußerlich so den Christen assimilirt, [...] prätendiren sie auch die völligen Rechte derselben, welche den Christen selber nicht einmal alle zukommen. Durch die bisher vergönnte Theilnahme an der intellectuellen und ästhetischen Bildung [...] fühlen auch sie sich wohlfeilern Kaufs in den Stand gesetzt mit den geistigen Mitteln ihrer Wirthe ebenso zu operiren [...] um am Ende auch darin zu Gläubigern derer zu werden, deren Schuldner sie hätten bleiben sollen. Nun wenden sie die geistigen Waffen gegen die Christen, gegen die Erstgeburten des deutschen Genies [...].276
Die latent früh-rassistische Projektion eines festen jüdischen Nationalcharakters mit überzeitlichen Zuschreibungen ermöglichte es, dass selbst ein 272 Friedrich Wilhelm Riemer, Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1796– 1832, 6 Bde., Berlin/Weimar 1833f. 273 Riemer, Juden (1841), 429. 274 Riemer, Juden (1841), 436. 275 Riemer, Juden (1841), 428. 276 Riemer, Juden (1841), 437f. Das Bild des Gläubigen verwendete auch Richard Wagner in seine Polemik von 1850 (Das Judenthum in der Musik, 102): „Ganz unvermerkt ist der ‚Gläubiger der Könige‘ zum ‚König der Gläubigen‘ geworden, und wir können nun das Nachsuchen dieses Königs um Emancipation nicht anders als ungemein naiv finden“.
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Assimilationsakt wie der Glaubenswechsel als ‚jüdische Mimikry‘ und ‚Travestie‘ umgedeutet werden konnte: Das Prinzip aus dem die ganze Nation hervorgegangen, aus dem sie gehandelt hat und fortwährend handelt, ist indelebel; also denke man nicht Mohren weiß zu waschen, auch durch die christliche Taufe nicht, wie man etwa im Mittelalter den foetor judaicus dadurch zu tilgen glaubte [...].277
Zu diesem „Prinzip“ der „ganzen Nation“ gehörte in den Augen der Emanzipationsgegner eine Art „verborgenes Judentum“278 mit einem speziell gegen die nicht-jüdische Umwelt gerichteten innerjüdischen Zusammenhalt. Derlei Unterstellungen, die jüdische Assimilation und Emanzipation diene einzig dem Zweck, Macht und Einfluss über die deutsche Gesellschaft und Kultur zu erlangen, fanden ihren Niederschlag auch im Musikschrifttum und speziell in der deutschen Mendelssohn Bartholdy-Rezeption. Im Juli 1847 veröffentlichte die sozialistische Schriftstellerin Louise Otto (eigentlich Louise Otto Peters, 1819–1895), die aus dem Umkreis der Junghegelianer und radikalökonomischen Kapitalismus-Kritiker stammte, in der Neuen Zeitschrift für Musik einen Artikel mit dem Titel Parteien – Cliquen. Wenngleich hier der Name Felix Mendelssohn Bartholdy nicht genannt wird und sich keinerlei direkte judenfeindliche Attribute finden lassen, berührte die Veröffentlichung dennoch einen zentralen Aspekt der anti-judaistischen Demagogie des 19. Jahrhunderts. Den eigensüchtigen, vorteilsorientiert geschilderten „Cliquen“, deren Ziel eine Beherrschung und Vormachtstellung in der Gesellschaft sei, wird die hochherzige Idealvereinigung der „Parteien“ gegenübergestellt: Da ist z.B. ein berühmter Componist, ein Kapellmeister, der organisirt sich aus den Mitgliedern der Kapelle ein förmliches Hülfschor, um nicht nur seine Compositionen, sondern auch seinen Ruf und Namen hinausklingen zu lassen in alle Welt, und nur was diesem Zwecke dient, darf von der Kapelle geschehen. Die jüngeren Talente finden dann weder Anerkennung noch Ermunterung, es sei denn, daß sie eifrige Bewunderer des Meisters sind und in seinen Fußstapfen ihm nachtreten, ohne sich je beikommen zu lassen, einen anderen Weg zu gehen oder den vor ihnen wandelnden Meister einzuholen, geschweige denn zu überholen. Untergeordneten Talenten bleibt vielleicht – um nur überhaupt ihr Fortkommen zu finden – gar nichts Anderes übrig, als irgend einer solchen machthabenden Persönlichkeit sich zu unterwerfen und nach 277 Riemer, Juden (1841), 440. Die hasserfüllte Bezeichnung „foetor judaicus“ meint den so genannten ‚Juden-Gestank‘. 278 Schoeps, Christliches Bekenntnis oder modernes Marranentum?, 178: „Die Mendelssohns und die Mitglieder einer Anzahl anderer getaufter Familien sahen oder begriffen sich selbst als Christen, mußten aber gleichzeitig die Erfahrung machen, daß ihr Bekenntnis zum Christentum mit Skepsis betrachtet wurde. Die Umwelt argwöhnte, sie würden eine Art verborgenes Judentum leben“.
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deren Gutdünken sich brauchen zu lassen. Solche und ähnliche Vereinigungen sind Cliquen und keine Parteien.279
In Anspielung auf Mendelssohn Bartholdys musikorganisatorische Tätigkeit in Leipzig unterstellte ihm die Autorin eigennützige Interessen und Adeptenwirtschaft. Mit Felix Mendelssohn Bartholdys Berufung zum Konzertmeister (1835)280 und späteren Musikdirektor des Leipziger Gewandhauses (1845–1847) erhielt die Musikstadt einen enormen Aufschwung. Unter seiner Führung wurde das dortige Orchester systematisch nach dem Vorbild des Pariser Konservatoriums geschult und der Aufführung zeitgenössischer deutscher Musik neben den historischen Konzerten deutscher Komponisten eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Auch die Gründung eines Konservatoriums 1842/43 trug wesentlich zum Ruf von Leipzig als musikalischem Zentrum bei. Die Tatsache, dass Mendelssohn Bartholdy viele Komponisten und Musiker jüdischer Herkunft in seinem Freundesund Bekanntenkreis hatte, wurde jedoch in eine ‚Cliquen‘-Wirtschaft mit dem Ziel einer ‚jüdischen‘ Unterwanderung des ‚deutschen‘ Musiklebens umgedeutet.281 Die bis in die 1830er Jahre bestehende innige Freundschaft mit dem Musikkritiker Adolf Bernhard Marx (1795–1866)282 oder die seit 1824 andauernde Verbundenheit mit dem Pianisten und Komponisten Ignaz Moscheles (1794–1870), der 1846 an das Leipziger Konservatorium berufen wurde, sowie die dortige Lehrtätigkeit des Violin-Virtuosen Ferdinand David (1810–1873) oder die aus der Paris-Reise im Dezember 1831 resultierenden Bekanntschaften mit Ferdinand Hiller, Giacomo Meyerbeer oder 279 Otto, Parteien – Cliquen (Juli 1847), 54. Vgl. hierzu auch Heinrich Laube, einen Vorläufer Richard Wagners, der ebenfalls 1847 in Bezug auf Giacomo Meyerbeer gegen das „Berliner Judenthum“ mit einem spezifisch ‚jüdischen‘ Zusammenhalt hetzte (Heinrich Laube, Einleitung, in: ders., ‚Struensee‘. Tragödie in fünf Akten (1847), 22ff. Zu Laube vgl. Kap. 3.3 Richard Wagner, Das Judenthum in der Musik (1850). 280 Die Verhandlungen zwischen Felix Mendelssohn Bartholdy und einem Vertreter des Leipziger Magistrats begannen im Oktober 1834 und dauerten bis April 1835. Der Komponist wollte weder seinen Vorgänger Christian August Pohlenz (1790–1843) von dem Posten verdrängen noch andere Bewerber ausstechen. Vgl. Eric Werner, Mendelssohn. Leben und Werk in neuer Sicht, 273ff. 281 Vgl. hierzu auch Richard Wagners Broschüre Das Judentum in der Musik von 1869 (zit. nach Fischer, Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘. Eine kritische Dokumentation, 174): „Leipzig [...] hatte in Folge der langjährigen Wirksamkeit des dort mit Recht und nach Verdienst geehrten Mendelssohn die eigentliche musikalische Judentaufe erhalten: wie ein Berichterstatter sich einmal beklagte, waren blonde Musiker dort zur immer größerer Seltenheit geworden, und der sonst durch seine Universität und seinen bedeutenden Buchhandel in allem deutschen Wesen so regsam sich auszeichnende Ort [...] ward schließlich Judenmusikweltstadt.“ 282 Der Musikschriftsteller und spätere leitende Redakteur der Berliner Allgemeinen musikalischen Zeitung wurde 1795 unter dem Namen Samuel Moses Marx geboren. 1819 wechselte er zum evangelischen Glauben und nahm den Vornamen Friedrich Adolf Bernhard an. Zum Bruch im freundschaftlichen Verhältnis zwischen Marx und Mendelssohn Bartholdy kam es um 1839. Vgl. die Studie ‚Der interessanteste und problematischte seiner Freunde‘ – Adolf Bernhard Marx von Christina Siegfried (in: Blickpunkt Felix Mendelssohn Bartholdy, 35–44).
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Jacques Halévy galten in den Augen der nicht-jüdischen Umwelt als gezielte innerjüdische Unterstützung: Die Musikgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts kennt keinen berühmten Musiker jüdischen Stammes, während im neunzehnten eine sehr starke Gruppe plötzlich auftritt; [...]. Die Stammesherkunft, welche diesen Künstlern vor hundert Jahren ein Fluch gewesen wäre, ward ihnen jetzt aber ein Vortheil. Sie fanden unter sich und unter noch weit mehr ausübenden jüdischen Musikern schon Stütze genug, und die liberalen Tendenzen der zwanziger und dreißiger Jahre förderten die neue große Rolle, welche mit Einem Male so viele Juden in der Litteratur und Musik spielten, als einen Sieg freier menschlicher Gesittung. Dabei wußten sich die meisten dieser Männer vortrefflich selber zu helfen und künstlerisch und litterarisch ebensogut zu berechnen als materiell zu rechnen. Kein neuerer und gewiß auch kein älterer großer Componist erfreute sich nach Außen einer so unabhängigen, geförderten Laufbahn wie Meyerbeer und Mendelssohn.283
Neben der Anklage einer schleichenden, heimlichen und berechnenden ‚Verjudung‘ des ‚deutschen‘ Musiklebens, die auf die Initiative Mendelssohn Bartholdys zurückgegangen sei, wurde jedoch auch wesentlich subtiler seinen Werken eine musikalische Qualität abgesprochen. Jenseits der allgemeinen Anerkennung seines kompositorischen Schaffens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigen sich in den kritischen Untertönen einzelner Rezensionen der zweiten Jahrhunderthälfte unabhängig von den jeweiligen Werken stereotyp wiederholte, negative Zuschreibungen. Vor allem das erste öffentlich-erfolgreiche Auftreten Mendelssohn Bartholdys scheint sich bei den simplifizierenden Etikettierungen als prägend erwiesen zu haben. Als Schablone, unter der sein weiteres Schaffen subsumiert wurde, firmierte sowohl die Ouvertüre zu dem Sommernachtstraum von Shakespeare (E-Dur, op. 21, 1826) als auch die von ihm maßgeblich mit-initiierte Wiederaufführung der Bachschen Matthäuspassion im März 1829 durch die Berliner Singakademie. Dementsprechend finden sich unterschiedliche ineinander verwobene Klischees als wiederkehrende Topoi in der deutschen Mendelssohn Bartholdy-Rezeption. So heißt es in der 1870 erschienen Geschichte der Tonkunst von Paul Frank: 283 Riehl, Musikalische Charakterköpfe (41875), 2. Bd., 204f. Der Vorwurf, das Leipziger Konservatorium sei eine Art ‚musikalischer Judenschule‘ wurde in der Zeit des Nationalsozialismus konsequent ausgebaut. Vgl. dazu das Lexikon der Juden in der Musik von 1940 (hg. von Theo Stengel, Herbert Gerigk) mit Einträgen zu ‚Mendelssohn‘ („Diese Legendenbildung wurzelt in dem Mendelssohnkultus, der bereits zu Lebzeiten von einer großen Zahl Rassegenossen entfacht wurde“, 180), ‚David, Ferdinand‘ („David wurde 1836 von Mendelssohn als KonzM an das Gewandhaus und 1843 als Lehrer des Violinspiels an das Kons. in Leipzig berufen und übte in diesen Stellungen einen maßgeblichen Einfluß auf das Musikleben in Deutschland aus“, 52) oder ‚Moscheles, Ignaz‘ („[...] war kurze Zeit Lehrer von Fel. Mendelssohn-Bartholdy und verhalf seinem Schüler und Rassegenossen durch eine geschickt inszenierte ‚Kunstreise‘ nach England zu frühzeitigem Ruhme. Wurde dafür von Mendelssohn als Lehrer an das Leipziger Kons. berufen“, 198).
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In der Musik zum ‚Sommernachtstraum‘ waltet Mendelssohn’s Genius am reinsten, abgeklärtesten, glänzendsten, Licht und Wärme nach allen Seiten verbreitend. Wenn Mendelssohn überhaupt etwas wirklich Geniales geschaffen hat, so ist es gewiß dieses Werk.284
Das „Elfengeflüster“285 mit dem der 18-jährige kompositorisch in die Öffentlichkeit getreten war, bestimmte die Blickrichtung der nachfolgenden deutschen Musikkritik. So urteilte Hans von Bülow im Februar 1850 über die ‚Italienische‘ A-Dur Symphonie (op. 90, 1830–33, endgültige Fassung 1834–37): [...] im letzten Satze ist jenes neckische, elfenhafte Element vorherrschend, in welchem die hauptsächlichste Originalität Mendelssohn’s besteht [...].286
Eng mit dem „neckische[n], elfenhafte[n] Element“ verbunden zeigte sich in der Rezeption ein Motivkreis, der um die Attribute ‚weiblich, seicht, sentimental‘ kreiste. Schon 1827 erschien in der Berliner Allgemeinen Zeitung eine Rezension zu einer Sammlung von Mendelsohn Bartholdy-Liedern (Zwölf Gesänge, op. 8, 1824–28). Der Autor, der Berliner Musikkritiker und Mendelssohn Bartholdy-Freund Adolf Bernhard Marx unterstellte hier „ein Schmachten“, „das dem mannhaften Komponisten sonst nicht eigen“287 sei: [...] wie man denn bald versucht wäre, die Komposition weiblich zu nennen, wenn man den Komponisten nicht kennte, wenn es Komponistinnen gäb’ und wenn Damen so tiefe Musik in sich aufnähmen [...].288
In seiner Abhandlung Die Musik des Neunzehnten Jahrhunderts und ihre Pflege, in der Marx seinen diffusen Begriff der „musikalischen Wahrheit“ 284 Frank, Geschichte der Tonkunst (OA: 1870, 31878), 177. 285 Theodor Uhlig, Die Instrumentalmusik, in: Deutsche Monatsschrift für Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben, hg. von Adolph Kolatschek, II (1851), I. Quartal (zit. nach Theodor Uhlig, Musikalische Schriften [Vorwort datiert 1913], 168): „Als Mendelssohn die übrige Musik zum ‚Sommernachtstraum‘ (op. 61) noch nicht geschrieben hatte, wußten die kunstverständigen Leute bloß für das eine (erste) Tonbild der Ouvertüre die allerdings naheliegende Erklärung aufzufinden und gaben die Musik desselben für ‚Elfengeflüster‘ aus. Der Komponist hat diese Annahme später sanktioniert, zugleich aber auch gezeigt, was alles er in diesem Tonstück ‚gewollt‘ und – ‚nicht gekonnt‘ hat.“ 286 Bülow, Zweite Symphonie-Soirée der königl. Capelle im Saale der Singacademie (1850), zit. nach ders., Ausgewählte Schriften 1850–1892 (1896), 10. 287 Zit. nach Marx, Mendelssohn, in: ders., Über Tondichter und Tonkunst, 77f. Dass gerade Marx, der ebenfalls jüdischer Herkunft war, als einer der ersten dieses Stereotyp verwendete, das in der Folgezeit in der antisemitisch geprägten Mendelssohn Bartholdy-Rezeption gegen den Komponisten gewendet wurde, scheint aus heutiger Sicht als ein befremdlicher Umstand. 288 Marx, Zwölf Gesänge (1827), zit. nach ders., Über Tondichter und Tonkunst, 78. Vgl. auch die Allgemeine Geschichte der Musik von Joseph Schlüter ([1863], 190): „Aber nichts desto weniger und ohne uns mit dem Gesagten in Widerspruch zu setzen müssen wir es gestehen, daß Mendelssohn in unserem so vielfach durch die Frauen und Dilettanten beeinflußten Musikleben eine bei weitem zu große Bedeutung erlangt hat“.
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gegen ‚Verweichlicher‘, ‚Nachbilder‘ und ‚unwahre‘ Komponisten zu verteidigen suchte, tauchte 1855 dieser Tadel, hier allerdings bezogen auf die Oratorien Paulus (1834–36) und Elias (1844–47) erneut auf: Der ihm eigenthümliche Grundzug seiner kirchlichen Kompositionen [...] ist weiblich-weiches Verlangen und Heranringen zu Gebet und Andacht mehr, als jene begeisternde gemüthskräftige Frömmigkeit [...].289
Auch mit Blick auf das renommierte Konzert für Violine und Orchester in e-moll (op. 64, 1838–44) erscheint das Klischee des ‚weichen, weiblichen‘ Künstlers. Hier wird das Fehlen einer „gewisse[n] laue[n] Behaglichkeit“ der „Haltung der Melodien“ herausgestellt: Diese Lauheit oder Weichheit, diese weibliche Hingebung an das Unbestimmte, die sowohl dem Künstler als der Poesie schädlich schien, ist in diesem neuesten Werke sehr zurückgetreten und edlerer, kräftigerer Spannung gewichen. Nicht als ob M. seine milde Natur gänzlich verleugnet hätte, [...]: aber es ist mehr Mark und Haltung d’rin, es regt und hebt sich ein höherer Geist als in den letzten wortlosen Liedern.290
Dass sich hinter derlei Zuschreibungen auch Projektionen über die Person jenseits des Komponisten Mendelssohn Bartholdys verbergen, zeigt der Autor Eduard Krüger auch an anderer Stelle seines Aufsatzes über Mendelssohn’s neueste Werke: Daß übrigens der ureinwohnende Sinn, die innata indoles unseres felicis, nämlich sein sanftes weibliches Wesen ohne Sturm und Abgrund, auch hier sich vernehmen lasse, ist wohl zu erwarten.291
Die Herkunft aus einer privilegierten und wohlhabenden Familie, der scheinbar mühelose künstlerische Werdegang und der Erfolg in jungen Jahren hätten ein „träumerisches Walten [...] ohne wahre Lebenskraft“292 zur Folge gehabt: [...] die andere Seite der gebildet empfindenden Phantasie macht sich bemerklich, der Mangel an durchgreifender Kraft, an einfacher Männlichkeit und ebendamit auch an der vollen Lebenswärme, an Natur, die sich gibt, es ist zu viel Kunstmusik, es sind schöne Bilder, welche die Persönlichkeit ihres Urhebers wohl überall abspiegeln, in welchen aber doch nicht ein ausgeprägter Charakter mit der Wucht, oder mit der 289 Marx, Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts (1855), 102. Vgl. auch Frank, Geschichte der Tonkunst (OA: 1870, 31878), 180: „Dem ‚Elias‘ von Mendelssohn hat man bald eine höhere, bald eine niedrigere Stelle, als dem ‚Paulus‘ anweisen wollen: [...] So viel ist gewiß, daß im ‚Elias‘ eine gereiftere, kraftvollere Mannesempfindung, im ‚Paulus‘ eine weichere, in sich abgerundetere Form zur Erscheinung kommt.“ 290 Eduard Krüger, Mendelssohn’s neueste Werke, in: Neue Zeitschrift für Musik (Jan. 1846), 9. 291 Krüger, Mendelssohn’s neueste Werke (Jan. 1846), 2. 292 Otto, Parteien – Cliquen (Juli 1847), 54.
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Lebendigkeit unmittelbarer Empfindung activ, durchschlagend auftritt, es ist mehr gebildete Reproduction als geniale Production [...].293
Damit blieb dem Schaffen Mendelssohn Bartholdys das Urteil einer ‚Seichtheit‘, ‚Weichheit‘ und ‚Weiblichkeit‘ anhängig, dass in diametralem Widerspruch zu den kanonisierten Attributen ‚deutschen‘ Musikschaffens wie ‚Kraft‘, ‚Tiefe‘ und ‚innerer Wahrheit‘ stand. Wurden die Leitbilder einer national-exklusiven deutschen Musikkultur vor allem durch doppeldeutige Schlüsselbegriffe wie ‚inneres Leiden‘ und ‚geniales Ringen‘ um die ‚wahrhafte Originalität‘ illustriert, blieb eine vermeintliche ‚Leichtigkeit‘ in der Biographie ebenso wie in der Werkgenese dem Vorwurf einer ‚Gehaltlosigkeit‘ und ‚Oberflächlichkeit‘ verhaftet: Mendelssohn hatte das Glück, überall sich gefördert [...] zu sehen, und eine schon frühzeitig hochgesteigerte Entwicklung und ein schnell gewonnener Ruf schienen als die Folge dieser vortheilhaften Umstände. [...] Sie hielten ihn ferner von jener [...] inneren Durcharbeitung, wie sie nur die Anstrengung und der Kampf, die Schule des Leiden zu gewähren vermag. [...] Es mangelt das Hinabsteigen in die Tiefen des Schmerzes.294
In einer dezidierten Umdeutung wurde darüber hinaus die durch Mendelssohn Bartholdy maßgeblich ermöglichte Bach-Wiederentdeckung sowie seine explizite Orientierung an historischen Vorbildern als ausschließlich ‚äußerlich-formale Nachahmung‘ dargestellt, der eine ‚innere‘ Substanz aufgrund der jüdischen Herkunft fehle. Gerade die Hinwendung zur Kirchenmusik und die Oratorien-Kompositionen betrachtete man unter dem Blickwinkel eines Spannungsfelds zwischen christlich-abendländischer Kunstform und jüdischen Assimilationsbestrebungen: 293 Friedrich Theodor Vischer, Die Geschichte der Musik, in: ders., Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen (1857), 1149f. Von Richard Wagner wurde indes in der zweiten Fassung seines Artikels Das Judentum in der Musik (1869) gemutmaßt, dass der Abschnitt über die Musik in der Abhandlung Vischers von dem, Wagner verhassten Wiener Musikkritiker und -schriftsteller Eduard Hanslick stammte (zit. nach Fischer, Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘, 186f): „[...] er [Vischer] überließ ihm die Ausführung dieses Artikels, von dem er Nichts zu verstehen bekannte, für sein großes Werk. So saß denn die musikalische Judenschönheit mitten im Herzen eines vollblutig germanischen Systems der Ästhetik [...]. Unter der verstärkten Protektion durch diese neue, noch dazu ganz christlich-deutsche Berühmtheit, ward nun die musikalische Judenschönheit zum völligen Dogma erhoben“. Jens Malte Fischer (106) gibt an, dass der Text jedoch von Vischers Tübinger Nachfolger, dem Professor für Ästhetik und deutsche Literatur Karl Reinhold Köstlin (1819–1894) stammte. 294 Brendel, Geschichte der Musik (51875), 466. Franz Brendel (1811–1869), der von 1846 bis 1868 am Leipziger Konservatorium unterrichtete, akzeptierte als Herausgeber der Neuen Zeitschrift für Musik, die von Richard Wagner dort publizierte Polemik gegen Das Judenthum in der Musik. Von Brendel stammt auch mutmaßlich der einleitende redaktionelle Kommentar zu diesem Artikel (in: Neue Zeitschrift für Musik [Sept. 1850], 101): „Wir nehmen diese (geistige) Freiheit in Anspruch, wir stützen uns auf dieselbe, indem wir obigen Aufsatz drucken [...]. Mag man die darin ausgesprochenen Ansichten theilen, oder nicht, Genialität der Anschauung wird man dem Verf. nicht abstreiten können.“
Felix Mendelssohn Bartholdy: mangelnde ‚deutsche Tiefe‘
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Wie soll ein Wesen, welches, ohne Selbstgefühl, also auch ohne Hingebung und Sympathie für seine Umgebung, sich nur zwischen seinen besondern und profanen Zwecken und jenen Aufklärungsphrasen hin und her bewegt, unsre deutsche, unsre christliche Welt in Kunstwerken, zu denen doch vor Allem Originalität gehört, wiederspiegeln und verklären können. [...] Daß derselbe Componist mit seinen Psalmodien den Beifall der christlichen Gesellschaft gewonnen hat, können wir nur aus der Guthmütigkeit derselben und ihrer Theilnahme für den Stoff erklären; die Begeisterung jedoch, die ihm entgegen gekommen ist, war bei alledem ein bedenkliches Zeichen der Zerflossenheit dieser Gesellschaft und ihrer Entwöhnung von der tiefen, freilich auch strengen Originalität unsers Kirchenliedes und unsers Bach. Aber das Entzücken der derselben Gesellschaft über das leere und fade Elfengeschwirr im Sommernachtstraum desselben Componisten bewies am peinlichsten, wie schnell ein so nahe liegendes Original, wie das Weber’sche, welches doch wenigstens noch Ton und Haltung hatte, vergessen werden konnte.295
Derlei Beschimpfungen lag die ostinat wiederholte Agitation zugrunde, dass ‚der Jude‘ „Ohne eigene Originalität [...] die christliche Kunst nur nachahmen (fortbilden niemals)“ könne und ihn „seine sclavische Abhängigkeit von den christlichen Mustern [...] sogar verrathen“296 müsse. So kam Eduard Krüger in der Neuen Berliner Musik-Zeitung im Januar 1850 zu dem Urteil: „Seine ganze kirchliche Laufbahn ist eine verfehlte.“297 In diesem Aufsatz findet sich auch der früheste, direkt an musikalische Sachverhalte geknüpfte Verweis auf die jüdische Herkunft Mendelssohn Bartholdys, der an den „fatal mekkernde[n], unanständige[n] Rhythmus“ gemahnt, den Robert Schumann im Werk Meyerbeers zu erkennen glaubte:298 Auffallend aber ist die in allen M’schen Werken wie eine Phrase durchziehende stumpfe Rhythmik, die unwiderstehlich an die Naivität rabbinischer Recitation erinnert [...].299
295 [Bruno Bauer], Artikel Judenthum, das, in der Fremde (1862), 629f. 296 [Bruno Bauer], Artikel Judenthum, das, in der Fremde (1862), 629. 297 Krüger, Recensionen. F. Mendelssohn Bartholdy. Drei Psalmen (Jan. 1850), 3. Dem gegenüber gab es aber auch neutrale Stimmen, welche die jüdische Herkunft Felix Mendelssohn Bartholdys nicht als Hinderungsgrund für Gattungswahl des Oratoriums oder alttestamentlicher Stoffe ansahen. Vgl. Otto Jahn, Ueber F. Mendelssohn-Bartholdy’s Oratorium Elias, in: Allgemeine Musikalische Zeitung (Febr. 1848), 115: „Der wahre Künstler, der einen jüdischen oder heidnischen Stoff behandelt, muthet uns nicht etwa zu, uns zu Juden oder Heiden zu verläugnen, sondern erfasst das rein Menschliche desselben [...]. Das Oratorium ist seiner Natur nach nicht nothwendig christlich oder kirchlich. Gegenstände des alten Testaments sind sogar von Händel bis in die neueste Zeit vorwiegend behandelt worden, und man kann von ihnen im Allgemeinen gewiss nicht sagen, dass sie uns fremd wären.“ 298 Schumann, Fragmente aus Leipzig (Sept. 1837), 74. 299 Krüger, Recensionen. F. Mendelssohn Bartholdy. Drei Psalmen (Jan. 1850), 5. Dass schon im November 1846 im Leipziger Tageblatt anlässlich der Uraufführung von Schumanns Symphonie C-Dur der Vorwurf auftauchte, Mendelssohn Bartholdy vertrete „mosaische“ Interessen, wie 1961 im Artikel Mendelssohn von Eric Werner (in: Die Musik in Geschichte und Gegen-
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Ein ‚Mangel an Originalität‘ und die rein ‚technisch-formale Nachahmung‘ zeige sich bei Mendelssohn Bartholdy auch in der Wahl seiner Gattungen. Neben den frühen Jugendopern fungierte hier ebenso der nicht mehr vollendete Opern-Plan des Loreley-Fragments (op. 98, 1847) als Beweisführung,300 wie eine das symphonische, konzertante und oratorische Werk ausblendende These, der Komponist hätte nur „kleinere Formen“ adäquat auszufüllen vermocht: Mendelssohn war am bedeutendsten in solchen kleineren Gebilden. In Ihnen vermochte er sein inniges, seelenvolles Wesen, seine liebenswürdige Persönlichkeit am entsprechendsten zum Ausdruck zu bringen. [...] Mendelssohn hat aus dem ihm von der Natur Gegebenen gemacht, was er irgend im Stande war, er hat dasselbe, stets beseelt von einem auf das Höchste gerichteten Streben, nach den verschiedensten Seiten hin zu möglichster Vollkommenheit herausgebildet. Hierin aber ist er weniger hervorstechend gewesen, er vermochte die grösseren Dimensionen objectiver Formen häufig nicht ganz auszufüllen, so dass er leicht formell wurde, während kleiner Gebilde meist geistdurchdrungen erscheinen.301
So kam ebenfalls Joseph Schlüter in seiner von anti-judaistischen Stigmata durchzogenen Allgemeinen Geschichte der Musik zu dem Urteil: Bei vieler Schönheit im Einzelnen, besonders in der Instrumentation, fehlt den Symphonieen Mendelssohn’s die großartige Anlage, der einheitliche festgeprägte Charakter Mozart’s und Beethoven’s [...]. Der tiefere Grund ist, daß der sich selbst gebenden Natur des glücklichen Felix die aus eigenem harten Kampf hervorgehende tragische Größe, das wahre Pathos der Leidenschaft versagt bleiben musste [...].302
Damit wurde Felix Mendelssohn Bartholdy in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mithilfe außermusikalisch-diffuser Attributierungen, die auf die musikalische Qualität seiner Werke zielten, in einer mit anti-judaistischen Akzenten durchzogenen Rezeption zu dem gescheiterten Versuch einer kompositorischen Assimilation an eine ihm ‚ursprünglich fremde‘ Musikkultur stilisiert. In diesem Sinn scheint die Formulierung vom ‚jüdischen Wollen, aber nicht Können‘, wie sie Richard Wagner mit seinem Aufsatz Das Judenthum in der Musik prägte, das Ziel einer abschätzigen Beweisführung um die Bedeutung Mendelssohn Bartholdys gewesen zu sein. Während sich seine Werke kaum mit denen von Meyerbeer und Offenbach vergleichen lassen, ermöglichten gerade die vielschichtigen Etikettierungen, welche die deutsche Rezeption für die jeweiligen Komponisten prägte, die Unterstellung wart, Bd. 9, 80) erwähnt, lässt sich anhand der Quelle nicht bestätigen (Fünftes AbonnementConcert am 5. November 1846, in: Leipziger Tageblatt und Anzeiger [Nov. 1846], 3541f). 300 Marx, Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts (1855), 119: „Denn ihm selber war die eigentliche Macht und Höhe des Drama’s nicht gegeben, ja seinem feinzurückhaltenden mehr anempfindenden als ursprünglich schöpferischen Wesen im Grunde widersprechend“. 301 Brendel, Geschichte der Musik (51875), 469f. 302 Schlüter, Allgemeine Geschichte der Musik (1863), 188f.
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einer Allgegenwärtigkeit von Künstlern jüdischer Herkunft in der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. Innerhalb der Musikkritik gingen die jeweiligen Zuschreibungen und Attributierungen eine imaginäre Verbindung ein, die allein aufgrund der jüdischen Herkunft konstruiert wurde. Als spezifisch jüdische ‚Verstellung‘, ‚Unentschiedenheit‘ und ‚Oberflächlichkeit‘ konnten so die musikgeschichtlich unterschiedlichsten Phänomene als Einflussbereich von erfolgreichen und assimilationswilligen Künstlern jüdischer Herkunft dargestellt werden: „Was Meyerbeer für das romantische und Mendelssohn für das classische Genre ist, nämlich der Prototyp des modernen Kunstjuden in der Musik, ist der kürzlich in Paris verstorbene Jakob Offenbach (Schmuhl) für das komische.“303
3.3 Richard Wagner, Das Judenthum in der Musik (1850) Richard Wagner, Das Judenthum in der Musik Richard Wagners Polemik Das Judenthum in der Musik, 1850 unter dem Pseudonym K. Freigedank304 in der Neuen Zeitschrift für Musik veröffentlicht, ist das wohl bekannteste Beispiel zur Geschichte des Antisemitismus im Musikschrifttum. Kein Text Wagners wurde in der Sekundärliteratur so kontrovers und ausgiebig diskutiert wie dieser Artikel und seine erweiterte Wiederveröffentlichung 1869 als eigenständige Broschüre. Von nichtmusikwissenschaftlicher Seite breit rezipiert, erhielt der Text aus dem Jahr 1850 in der historischen Forschung eine zentrale Position in der Geschichte des deutschen Antisemitismus, vor allem weil sein Erscheinen vor der Entstehung der Vokabel ‚Antisemitismus‘ innerhalb der politisch-gesellschaftliche Diskussion der 1870er Jahre eine qualitativ neue Argumentation gegen die deutschen Juden zeigte.305 Als Merkmale dieser neuen antisemitischen Qualität gelten die explizit von Richard Wagner eingeforderte Säkularisierung des tradierten Judenbildes306 ebenso wie die dichotome Gegensatzkonstruktion zwischen Deutschen und Juden. In diesem Sinn apostrophiert der Text ein an den Leser gerichtetes affirmatives „wir“,307 303 Die Juden in der Musik. Separat-Abdruck aus ‚Die deutsche Wacht‘ (1881), 16f. Diese Formulierung scheint sich aus dem Artikel Offenbach abzuleiten, der sich in dem von Hermann Wagener 1863 herausgegebenen Staats- und Gesellschafts-Lexikon findet und dessen Schlusssatz lautet (589): „O. ist der Prototyp des modernen Kunstjuden in der Musik und für das komische Genre, was Meyerbeer (s.d.Art.) für das romantische, Mendelssohn für das classische ist.“ 304 Die Nutzung eines Pseudonyms mag in der Furcht vor direkten Nachteilen begründet sein, die aus einer gekennzeichneten Veröffentlichung in der renomierten Fachzeitschrift entstehen konnten. 305 Vgl. Kap. 1. Judenfeindschaft und moderner Antisemitismus. Kontinuitäten und Brüche. 306 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 101: „In der Religion sind uns die Juden längst keine hassenswürdigen Feinde mehr“. 307 Das ‚Wir‘ wird zunächst als Gemeinschaft der für die Judenemanzipation streitenden Liberalen eingeführt („Als wir für Emancipation der Juden stritten, waren wir aber doch eigentlich
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dem als Gegenbegriff die Synekdoche ‚der Jude‘ entgegengestellt wird. Als direkte Auswirkung der jüdischen Emanzipations- und Akkulturationsbestrebungen wurde durch Wagner eine „Verjüdung der modernen Kunst“,308 d.h. ein vermeintlich schon vor der rechtlichen Gleichstellung realisierter Herrschaftsanspruch der Juden im Bereich der Kunst konstatiert. Insbesondere jedoch die bei Wagner durchscheinenden „protorassistische[n] Argumentationen“,309 innerhalb deren mit dem biologistisch-abstrakten Begriff eines selbsterhaltenden ‚Instinkts‘,310 drastischen organizistischen Metaphern311 und den Zuschreibungen physischer Erkennungszeichen312 operiert wird, weisen in ihrer Verzahnung mit den anderen Argumentationsmerkmalen auf eine neue Qualität antisemitischer Pseudo-Beweisführung hin.313 Die musikwissenschaftliche Diskussion zeigt sich allgemein kontroverser als die historische Betrachtung.314 Sie orientiert sich stärker am Komponisten Richard Wagner und versucht Fragen nach den Anfängen seines Antisemitismus anhand biographischer Rekonstruktionen, nach dem antijudaistischen Subtext seiner gesamten musikästhetischen Schriften oder nach den ideologischen Auswirkungen auf sein Opernschaffen zu beantworten. Mit Hilfe von verschiedensten Quellen und Methoden werden so entweder Verteidigungen erwirkt oder pauschale Verurteilungen begründet. Selbst wenn eine Einbettung in den zeitgeschichtlichen Zusammenhang der 1848/49er Revolution mit dem Einfluss der so genannten ‚Junghegelianer‘ mehr Kämpfer für ein abstractes Princip [...] wie all unser Liberalismus ein luxuriöses Geistesspiel war“, 101), verliert diese Bedeutung aber im Verlauf des Textes. 308 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 102. 309 Fischer, Richard Wagners ‚Das Judenthum in der Musik‘, 38. 310 Richard Wagner berief sich auf eine „instinctmäßige Abneigung“ bzw. den „instinctmäßige[n] Widerwille[n] gegen das jüdische Wesen“ (102). 311 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 111: „So lange die musikalische Sonderkunst ein wirkliches organisches Lebensbedürfniß in sich hatte [...] fand sich nirgends ein jüdischer Componist: [...] Erst wenn der innere Tod eines Körpers offenbar ist, gewinnen die außerhalb liegenden Elemente die Kraft, sich seiner zu bemächtigen, aber nur um ihn zu zersetzen. Dann löst sich wohl das Fleisch dieses Körpers in wimmelnde Viellebigkeit von Würmern auf: wer möchte bei ihrem Anblicke aber wohl den Körper selbst noch für lebendig halten?“ 312 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 102: „Der Jude [...] fällt uns im gemeinen Leben zunächst nur durch seine äußere Erscheinung auf [...]: wir wünschen nicht mit einem so aussehenden Menschen etwas gemein zu haben.“ 313 Vgl. für diese Sicht des Textes vor allem die Studie des Historikers Jacob Katz (Richard Wagner. Vorbote des Antisemitismus). 314 Vgl. dazu den Widerspruch zu der Dissertation über die antisemitische Ausrichtung der durch Wagner herausgegebenen Zeitschrift Bayreuther Blätter von Annette Hein (‚Es ist viel Hitler in Wagner.‘) im Artikel Über den Zwang, Richard Wagner immer wieder zu nazifizieren von Udo Bermbach. Ähnlich stellte sich auch die Situation auf den jüngsten Tagungen zum Antisemitismus Richard Wagners dar (Wagner und die Juden, August 1998 in Bayreuth; Wagner im Dritten Reich, Juli 1999 auf Schloß Elmau). Vgl. Marc A. Weiner, Über Wagner sprechen. Ideologie und Methodenstreit, in: Saul Friedländer/Jörn Rüsen (Hg.), Richard Wagner im Dritten Reich, 342–362.
Richard Wagner, Das Judenthum in der Musik
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Karl Marx und Bruno Bauer315 erfolgt – in erster Linie allerdings von Historikern und nicht von Musikwissenschaftlern – konzentrieren sich die meisten Untersuchungen auf die Person Richard Wagners, teilweise ergänzt durch eine Betrachtung der Rezeptionsgeschichte des Artikels. Dabei kann vom heutigen Forschungsstand davon ausgegangen werden, dass der Antisemitismus ein integraler Bestandteil Wagners Denken war, der sich nicht nur in Zusammenhang mit den so genannten ‚Züricher Reformschriften‘ zeigt, zu denen der Artikel Das Judenthum in der Musik zählt.316 Mit welchem Hintergrund allerdings die antisemitische Ausprägung im Denken und in der publizistischen Tätigkeit Richard Wagners operierte, wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Die unterschiedlichen Interpretationen gerade des letzten Satzes des Artikels Das Judenthum in der Musik mit der Aufforderung, „daß nur Eines Eure Erlösung von dem auf Euch lastenden Fluche sein kann [...] Der Untergang!“317 sucht die Sekundärliteratur mithilfe attributiver Ergänzungen wie „transformatorische[r]“,318 ‚eliminatorischer‘319 oder ‚exterminatorischer Antisemitismus‘320 zu akzentuieren. Besonders mit der von Wagner unter eigenem Namen erfolgten erweiterten Republikation 1869 als eigenständiger Broschüre unter dem gleichen Titel beschäftigt sich die jüngste Forschung und sieht darin eine „wirkungsmächtigere“ Version, in der sich „signifikante Verschärfungen der Position von 1850“ zeigen.321 315 Hier ist vor allem die Rezension von Karl Marx (Zur Judenfrage, in: DeutschFranzösische Jahrbücher, 1. Doppellieferung, Febr. 1844) zu nennen, in der er Bruno Bauers Schrift Die Judenfrage (1843) besprach. Marx postulierte innerhalb religionskritischer Positionen eine Säkularisierung des Judenbildes und identifizierte ‚die Juden‘ mit der abstrakten Zirkulationssphäre des Geldes. Bislang gibt es allerdings nur Indizien, dass Wagner die Schrift von Marx kannte. Den geistesgeschichtlichen Zusammenhang mit den ‚Junghegelianern‘ und der ‚neudeutschen‘ Schule stellte Paul Lawrence Rose in das Zentrum seiner Untersuchung Richard Wagner und der Antisemitismus. 316 Im Schweizer Exil entstanden drei Schriften: das geschichtsphilosophische Essay Die Kunst und die Revolution (Juli 1849) und die ästhetischen Theorie-Schriften Das Kunstwerk der Zukunft (Nov. 1849) und Oper und Drama (Ende 1850/51). Vgl. Udo Bermbach, Das ästhetische Motiv in Wagners Antisemitismus. ‚Das Judentum in der Musik‘ im Kontext der ‚Zürcher Kunstschriften‘, in: Dieter Borchmeyer/Ami Maayani/Susanne Vill (Hg.), Richard Wagner und die Juden, 55–78. 317 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 112. 318 Wolf-Dietrich Hartwich, Jüdische Theosophie in Richard Wagners ‚Parsifal‘, in: Borchmeyer/Maayani/Vill, Richard Wagner und die Juden, 104. Die These einer ‚transformatorischen‘ Ausrichtung von Wagners Antisemitismus sieht im Schluss-Satz des Aufsatzes Das Judenthum in der Musik eine Aufforderung, an der ‚universellen Erlösungsidee‘ auch von jüdischer Seite teilzunehmen. 319 Als Verfechter dieser Lesart des ‚Vernichtungsantisemitismus‘ Wagners können Hartmut Zelinsky und Paul Lawrence Rose gelten. 320 Gemeint ist die ‚Erlösung‘ der nicht-jüdischen Gemeinschaft von den Juden. 321 Fischer, Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘, 16. Die Fassung von 1869 wählt auch Hans-Joachim Hinrichsen in seinem Artikel ‚Musikbankiers‘. Über Richard Wagners Vorstellungen vom ‚Judentum in der Musik‘ als Grundlage.
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Angesichts der breiten Wagner-Rezeption und der Vielzahl von Ansätzen in der Sekundärliteratur werden im Folgenden zunächst zwei direkte publizistische Vorläufer aus dem Umfeld Richard Wagners beleuchtet, die vor allem in einer Ähnlichkeit der inhaltlich-rhetorischen Struktur bemerkenswert sind. Mit der Frage nach den Kontinuitäten und Brüchen innerhalb eines durch judenfeindliche und früh-antisemitische Akzente geprägten Musikschrifttums wird versucht werden, die pseudo-argumentativen Merkmale der Wagnerschen Polemik von 1850 mit ihren Vorgängern innerhalb der deutschen Meyerbeer- und Mendelssohn Bartholdy-Rezeption, in den stereotypen Vorstellungen von einer deutschen Synagogalmusik sowie den Anfängen des Gedankens einer biologistisch determinierten Musikbefähigung exemplarisch zu vergleichen.322 Im Anschluss daran wird die Klärung einiger Gründe für die Resonanz, welche die Publikation seinerzeit auslöste, zu erörtern sein. Richard Wagners Thesen im Artikel Das Judenthum in der Musik nahmen ihren Ausgangspunkt bei den liberalen Forderungen der 1848/49er Revolution, deren Protagonisten zunächst für eine Gleichberechtigung der Juden eintraten. Diese Forderung sei angesichts der Meinung, dass „Der Jude [...] bereits mehr als emancipirt“323 ist, gegenstandslos geworden. Ein historischer Verweis auf den jüdischen „Wucher“324 sollte die Behauptung untermauern, die Juden hätten allein durch die Macht des Geldes eine gesellschaftliche Vorherrschaft errungen, die sich nun auch auf dem Gebiet der Kunst feststellen ließe. Die apostrophierte äußerliche ‚Fremdartigkeit‘ der Juden nahm Wagner zum Anlass, deren angebliche ‚Unfähigkeit‘ in der darstellenden Kunst und auf der Bühne zu begründen: Dies ist sehr wichtig: einen Menschen, dessen Erscheinung – nicht in dieser oder jener Persönlichkeit, sondern allgemeinhin seiner Gattung nach – wir zu künstlerischer Kundgebung für unfähig halten müssen, dürfen wir zur künstlerischen Aeußerung rein menschlichen Wesens überhaupt für ebenfalls unfähig halten.325
Damit ist die Kernaussage des Textes, der Nachweis eines spezifisch ‚jüdischen‘ Unvermögens zu künstlerisch-schöpferischen Prozessen eingeführt. Als Argument für diese These gab Wagner die ‚jüdische‘ Sprache und ihren Klangeindruck an, die er in Beziehung zum Gesang als „die in höchster Leidenschaft erregte Rede“326 setzte. Mithilfe des Geldes habe sich der 322 Gemäß dem diskursiven Ansatz der vorliegenden Arbeit rückt dabei die Person Richard Wagners und die Frage nach der Verankerung seines Antisemitismus auch anhand seiner weiteren musikästhetischen Schriften zwangsläufig in den Hintergrund. 323 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 102. 324 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 104. 325 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 103. 326 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 104.
Richard Wagner, Das Judenthum in der Musik
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„gebildete Jude“327 als ‚Fremder‘ in der Gesellschaft und Kultur auf das Gebiet der Musik spezialisiert, auf dem durch den zeitgenössischen Niedergang nach einem Kulminationspunkt in Mozarts und insbesondere Beethovens Schaffen328 zumeist „nur noch sinnlos nachgeredet werden“ könne: Die Möglichkeit, in ihr zu reden ohne etwas Wirkliches zu sagen, bietet jetzt keine Kunst in so blühender Fülle als die Musik, weil in ihr die größten Genie’s bereits das gesagt haben, was in ihr als absoluter Sonderkunst zu sagen war [...].329
Die griffige Formel vom „Reden ohne etwas Wirkliches zu sagen“, die sich in einer spezifisch ‚jüdischen, substanzlosen‘ Nachahmung des formalen „Wie“ zugunsten eines inhaltlichen „Was“330 zeige, sah Wagner sowohl in einer sich an ‚veralteten‘ religiösen Traditionen orientierenden Synagogalmusik bestätigt331 als auch anhand Felix Mendelssohn Bartholdy illustriert, „ein>em@ Jude>n@ von reichster spezifischer Talentfülle“,332 dessen Werke durch die ‚oberflächlich‘-formale Aneignung „unseres musikalischen Styles“, insbesondere Bachs nur „verwischt“ „zerfließend[…]“ und „unbestimmt[…]“ erscheinen.333 Weit mehr angegriffen wurde jedoch ein „weit und breit berühmter jüdischer Tonsetzer unserer Tage“,334 und ohne Nennung des Namens konnte der zeitgenössische Leser durch den Zusammenhang auf Giacomo Meyerbeer schließen. Ihm wurde die „Täuschung“ über eine ‚triviale‘ Substanz seiner Werke attestiert, mithilfe derer er es zu öffentlichen Erfolgen gebracht habe: [...] genug, daß er es – wie wir aus dem Erfolge ersehen – vollkommen versteht zu täuschen, und namentlich darin, daß er jenen von uns genauer characterisirten Jargon seiner gelangweilten Zuhörerschaft für eine modern-pikante Aussprache aller der Trivialitäten aufheftet [...].335
327 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 104. 328 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 111: „Unserer Kunst konnten sich die Juden nicht eher bemächtigen, als bis in ihr das darzuthun war, was sie erweißlich in ihr dargethan haben, – ihre innere Lebensunfähigkeit. So lange die musikalische Sonderkunst ein wirkliches organisches Lebensbedürfniß in sich hatte, bis auf die Zeiten Mozart’s und Beethoven’s, fand sich nirgends ein jüdischer Componist“. 329 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 105. 330 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 105. 331 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 105: „[...] hier hat sich seit Jahrtausenden nichts aus innerer Lebensfülle weiter entwickelt, sondern Alles ist, wie im Judenthum überhaupt, in Gehalt und Form starr haften geblieben. Eine Form, die nie durch neuen Gehalt belebt wird, zerfällt aber: ein Ausdruck, dessen Inhalt längst nicht mehr lebendiges Gefühl ist, verzerrt sich“. 332 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 107. 333 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 109f. 334 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 110. 335 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 110.
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Während bei Mendelssohn Bartholdy das „Tragische seiner Situation“336 durchscheine, wurde Meyerbeer durch den „peinlichen Conflicte zwischen Wollen und Können“ zu einer „tragikomischen“,337 ‚lächerlichen‘ Erscheinung stilisiert. Mit einem Verweis auf zwei prominente und zudem getaufte Dichter jüdischer Herkunft, Heinrich Heine und Ludwig Börne338 wurde abschließend erneut die Gemeinsamkeit eines bindenden jüdischen ‚Wesens‘ akzentuiert und die Polemik mit dem häufig zitierten und viel interpretierten Appell abgeschlossen: Nehmt rückhaltlos an diesem selbstvernichtenden, blutigen Kampfe Theil, so sind wir einig und untrennbar! Aber bedenkt, daß nur Eines Eure Erlösung von dem auf Euch lastenden Fluche sein kann, die Erlösung Ahasver’s: Der Untergang!339
Vor allem zwei Autoren scheinen dem Artikel Richard Wagners von 1850 direkt vorauszugehen, die sich mit ihren Publikationen beide auf die Person Meyerbeers fokussierten, der mit polemischer Schärfe angegriffen wurde. 1847 veröffentlichte der Journalist und Dramatiker Heinrich Laube (1806– 1884), der ab 1834 zu Wagners Bekanntenkreis gehörte, eine Vorrede zu seiner Tragödie Struensee, die 1844 entstanden war.340 Mit gleichem Bezug auf den dänischen Minister deutscher Herkunft Johann Friedrich Graf von Struensee (1737–1772) und unter demselben Titel erschien bereits 1824 ein Theaterstück von Meyerbeers Bruder Michael Beer (1800–1833), zu dem Meyerbeer die Musik komponierte. Hinter dem Erfolg dieses Vorläufers zurückbleibend, nahm Laube das Vorwort der gedruckten Fassung seines 336 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 109f: „Die Zerissenheit und chaotische Willkür unseres musikalischen Styles ist durch Mendelssohn’s Bemühen, einen unklaren, fast nichtigen Inhalt auf das Interessanteste und Geistblendendste auszusprechen, wenn nicht herbeigeführt, so doch auf die höchste Spitze gesteigert worden. […] Nur da, wo das drückende Gefühl von dieser Unfähigkeit […] ihn zu dem Ausdrucke weicher und schwermüthiger Resignation hindrängt, vermag uns Mendelssohn charakteristisch zu erscheinen, – characteristisch in dem subjectiven Sinne einer edlen Individualität, die sich der Unmöglichkeit gegenüber ihre Ohnmacht eingesteht. Dies ist, wie wir sagten, der tragische Zug in Mendelssohn’s Erscheinung“. 337 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 109f. 338 Heinrich Heine (1797–1856) – ursprünglich Harry Heine – nahm diesen Namen bei seiner protestantischen Taufe 1825 an, entwickelte jedoch seit etwa 1840 wieder erneut eine Affinität zum Judentum, während Juda Löw Baruch (1786–1837) sich mit seiner Taufe 1818 Ludwig Börne nannte. 339 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 112. 340 Heinrich Laube war einer der Repräsentanten des so genannten ‚Jungen Deutschlands‘. Neben seiner Herausgebertätigkeit, unter anderem der Werke Grillparzers, Lessings und Heines, war er von 1849 bis 1867 deutscher Direktor des Wiener Burgtheaters. Wagner lernte ihn als Redakteur der Leizpiger Zeitung für die elegante Welt kennen, in der der Komponist 1834 seinen ersten Aufsatz Die deutsche Oper veröffentlichte. Vgl. Fischer, Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘, 41f.
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Stückes zum Anlass gegen die ‚jüdische Überfremdung‘ in der Literatur und Musik zu hetzen.341 An der Schnittstelle zwischen tradierter Judenfeindschaft und modernem Antisemitismus wird hier mit der ironisch-stigmatisierenden Bezeichnung „Michelbeer“342 für Michael Beer in indirekter Anspielung auf Meyerbeers Namen das Spannungsfeld eröffnet, in dem sich Laubes Ausführungen bewegen. Den spöttischen Ausgangspunkt für Laube bilden die jüdischen Emanzipations- und Akkulturationsbestrebungen, die zu einer vermeintlichen Verschmelzung zwischen dem deutschen „Michel“ und dem jüdischkonnotierten Namen „Beer“ führten. Da Michael Beer zu Zeiten von Laubes Tragödie schon verstorben war, griff Laube explizit dessen Bruder Giacomo Meyerbeer an, der aufgrund eines ausschließlich finanziellen Eigennutzes und ‚niederer‘ persönlicher Interessen die Rivalität zwischen den beiden Dichtern geschaffen hätte, da der Komponist „in dem kostspieligen Konkurrenztreiben des Pariser Opernwesens groß geworden“343 sei: Der gute Stil unter deutschen Poeten bestand wenigstens bisher noch immer darin, daß man im Reiche der poetischen Wahl und Erfindung die Idee einer alltäglichen Kaufmanns-Konkurrenz nicht kannte. [...] Der Poet sucht ja in erster Linie ein objektives Gelingen, nicht aber eine persönliche Genugtuung. [...] Der in Konkurrenz eingeschulte Bruder [...] eilte in eigner Person zu Herodes und Pilatus und wendete alle Mittel an, mein Stück zu beseitigen.344
Der historisch-christliche Verweis auf den jüdischen König Herodes Antipas, der Jesus durch den von ihm angeordneten Kindermord in Bethlehem mit dem Tod bedrohte, wie auch auf den Statthalter der römischen Provinz Judäa, Pontius Pilatus, der Jesus zum Tod verurteilte, weist hier auf die christliche Tradition judenfeindlich geprägter Bilder hin. Indem Laube scheinbar dem Leser eine Identifikation seiner Person mit der Figur Jesus suggeriert, imaginierte der Schriftsteller sich als ‚christlich-deutsches‘ Opfer eines ‚jüdischen‘ Verrats. Gleichzeitig vermutete er eine ‚Intrige‘ gegen sein Theaterstück, das er in Berlin zur Aufführung bringen wollte: Wer hätte gedacht, daß so mühsame Eroberung von einem Künstler wie Herr Meyerbeer mir zu nichte gemacht und zu seinem Zwecke ausgebeutet werden könnte! [...] Herr Meyerbeer ist [...] ein Geschäftsmann von Pariser Erfahrungen und literarisch ungewöhnlichen Mitteln. [...] Das fünfaktige Trauerspiel ist am Ende gar von Meyer341 Hohenemser/Ewen, The Jew in German Musical Thought, 35: „This preface is a document of extraordinary significance, for it enlarged a personal quarrel to proportions where it became the source of an entire theoretical analysis of the role of Jews in the musical and cultural life of Germany, and in many ways foreshadowed the epochal work of Richard Wagner, ‚Das Judenthum in der Musik‘.“ 342 Laube, Einleitung (1847), 16. 343 Laube, Einleitung (1847), 16 344 Laube, Einleitung (1847), 16f.
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beer in eine Oper verwandelt worden. [...] Und so sind wir denn mit unserer armen Tragödie, welche keine Lockmittel hat für die Menge [...] auf den banalen Kampfplatz hinaus gebracht, auf den Kampfplatz, wo das recitirende Drama seit langer Zeit sich mühsam aufrecht erhält gegen die mit allen sinnlichen Reizmitteln ausgestattete Oper!345
Die persönlichen Erfahrungen Heinrich Laubes auf dem „Kampfplatz“ führen ihn zu einer grundsätzlichen Abrechnung mit „einer uns wildfremden Nationalität“:346 Ein fremdes Element dringt neuerer Zeit überall in unsere Bahnen [...]. Dies ist das jüdische Element. Ich nenne es mit Betonungen ein fremdes; denn die Juden sind eine von uns total verschiedene orientalische Nation heute noch wie sie es vor zweitausend Jahren waren. [...] was uns an ihnen stört, ist eben das Fremde, [...] alle die innerlichsten Lebensmaximen, die uns hundertfach und schreiend widerstreben [...].347
Ohne die den Juden zugeschriebenen kontinuierlichen, völkerpsychologischen Charaktereigenschaften näher auszuführen,348 wie sie sich innerhalb des Begriffs der „orientalische[n] Nationalität“ mit „innerlichsten Lebensmaximen“ zeigen, lassen sich ähnliche Anklänge an das Denkschema einer Kontinuität der jüdischen ‚Substanz‘ drei Jahre später bei Richard Wagner finden, die sich in einem überzeitlichen, homogenen und durch physische Zuschreibungen ausgeschmückten Begriff des ‚jüdischen Wesens‘ ausdrücken. Während beide Autoren es jedoch vermieden, den Begriff der ‚Rasse‘ explizit zu nennen, beriefen sie sich dennoch auf die Instanz eines ‚Instinkts‘. Wagner argumentierte innerhalb seines Artikels mit einer „instinctmäßige[n] Abneigung“ gegen das „unwillkürlich Abstoßende, welches die Persönlichkeit und das Wesen der Juden für uns hat“,349 während Heinrich 345 Laube, Einleitung (1847), 20f. Die Schlüsselwörter „Geschäftsmann“, „Lockmittel“ und „sinnliche[...] Reizmittel[...]“ weisen auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit ihren Begrifflichkeiten einer Gegenüberstellung von ‚deutscher‘ und ‚französischer‘ Operntradition. Anders als Laube darstellte, wurde allerdings die Musik Meyerbeers zu Struensee in Deutschland keineswegs so erfolgreich aufgenommen, da Meyerbeer als Vertreter der französischen ‚Grand opéra‘ sich mit „weniger Glück, vielleicht auch geringerem Geschick [...] in der höheren Kunstform der reinen Instrumentalmusik“ versucht habe (A. Riccius, Opern im Clavierauszug. G. Meyerbeer, Musik zur Tragödie ‚Struensee‘ von Michael Beer, in: Neue Zeitschrift für Musik [Juni 1847], 215). 346 Laube, Einleitung (1847), 22. 347 Laube, Einleitung (1847), 21f. 348 Laube bindet sein negatives Meyerbeer-Bild an eine anti-modernistische Identifikation von Judentum und Großstadt (23). Nicht mehr Paris, sondern Berlin erschien ihm „mehr Lager als Stadt“ und sein „Hauptstadtcharakter“ sei „viel mehr ein gemachter als ein innerlich aus Lage und Landschaft entsprungener“. Demzufolge „ist in der Mehrzahl der Bewohner das starke Gefühl eines organischen Lebens, welches dem Fremden mißtrauisch zusteht, nicht ausgebildet. [...] Hier konnte sich also das brillante Judenthum, welches der Natur der Sache nach in seinen besten Leistungen einen organisch deutschen Charakter nicht haben kann, hier in Berlin konnte es sich am Freiesten entwickeln.“ 349 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 102.
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Laube diese „Abneigung“ innerhalb seiner Angriffsphantasien des Judentums auf die deutsche Kultur umdrehte. Durch einen „Zustande der Belagerung“ seitens der nicht-jüdischen Umwelt, hätte sich ‚der Jude‘ zum „Feind“ entwickelt und „vertheidigt sich instinktmäßig mit allen möglichen Waffen“.350 Ähnlich wie Laube motivierte auch Richard Wagner eine vermeintliche Rivalität mit Giacomo Meyerbeer zu der Erstpublikation seines Artikels, die allerdings bei Wagner nicht explizit genannt wurde.351 Wagner wie Laube sahen in der jüdischen Herkunft einzelner Künstler des 19. Jahrhunderts etwas „einer europäischen Nationalität [...] unüberwindlich unangenehm Fremdartiges“, das zu einer „Verjüdung der modernen Kunst“352 führe. An dem historischen Scheidepunkt zwischen tradierter Judenfeindschaft und modernem Antisemitismus beschäftigten sich beide Texte darüber hinaus mit den Forderungen nach der jüdischen Emanzipation bzw. nach einer „Emancipation von dem Geiste des Judenthumes“353 und setzten ihre Aussagen in diesen Kontext. Während Heinrich Laube auf eine „gründliche Einheimsung der Juden unter uns“354 durch eine „möglichst radikale[...] Juden-Emancipation“355 drang und den Schriftsteller Berthold Auerbach (1812–1882) als Beispiel eines „gründlich deutsch nationalisir[t]en“356 Juden nennt, betrachtete Wagner die jüdischen Emanzipationsforderungen als abgeschlossen und gab statt Auerbach,357 den er persönlich kannte, in dem Artikel von 1850 den Journalisten und politischen Schriftsteller Ludwig Börne als Beispiel einer ‚Emanzipation vom Judentum‘ an. Zur Illustration seien hier beide Textstellen nebeneinandergestellt, da sie eine signifikante rhetorische Parallelität aufweisen: 350 Laube, Einleitung (1847), 22: „Das Nichtemancipiren beläßt sie fortwährend in einem Zustande der Belagerung, und der Belagerte bleibt Feind und vertheidigt sich instinktmässig mit allen möglichen Waffen, also auch in diesem Falle besonders mit den ihm natürlichsten einer uns wildfremden Nationalität. So erhalten wir gerade das lebendig in den Juden, was uns gründlich zuwider ist; alle die innerlichsten Lebensmaximen, die uns hundertfach und schreiend widerstreben, werden durch unsre halbe Abwehr aufrecht erhalten im Charakter der Juden.“ Schon in der Synagogalmusik-Rezeption der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich eine solche Argumentation finden, die Anfeindung der nicht-jüdischen Umwelt als ursprünglich von den jüdischen Gemeinden selbst ausgehend umdeutet. 351 Wagner lernte Meyerbeer bei seinem Paris-Aufenthalt 1831–1842 kennen, wo er sich eine Protektion Meyerbeers aber auch Heines erhoffte. Zur Pariser Zeit vgl. Heinz Becker, Der Fall Heine – Meyerbeer. Neue Dokumente revidieren ein Geschichtsurteil. 352 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 102. 353 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 102. Diese Formulierung mag auf den Aufsatz Zur Judenfrage von Karl Marx zurückgehen, der schon 1844 von einer ‚Emanzipation von den Juden‘ sprach. 354 Laube, Einleitung (1847), 22. 355 Laube, Einleitung (1847), 21. 356 Laube, Einleitung (1847), 25. 357 Auf Auerbach wird indes in Wagners Fassung des Artikels von 1869 angespielt.
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Er [Auerbach] ist ein redendes Zeugniß, daß sich der hingebende Jude unter uns gründlich deutsch nationalisiren kann. Freilich wird dies nicht leicht im oberflächlichen Getriebe des großstädtischen Lebens geschehen können. Auerbach hat auch die Lösung der schweren Aufgabe nicht in der Lungerei des Kaffeehaus- und Börsentreibens [...] gefunden.358 Gemeinschaftlich mit uns Mensch werden, heißt für die Juden aber zu allernächst so viel, als – Aufhören Jude zu sein: Börne hatte aufgehört, dies zu sein. Aber gerade Börne lehrt Euch, wie diese Erlösung nicht in Behagen und gleichgültig kalter Bequemlichkeit erreicht werden kann, sondern daß sie, wie uns, nur durch Schweiß, Noth und Fülle des Leidens und der Schmerzen zu erkämpfen ist.359
Mit der hypothetischen Gemeinsamkeit einer in der Herkunft begründeten jüdischen ‚Substanz‘ stellten beide Autoren dem Komponisten Meyerbeer einen Schriftsteller zur Seite, dem ein affirmatives ‚Wir‘ bzw. „uns“ entgegengesetzt wurde. Ähnlichkeiten mit den Gedanken Laubes und Wagners zeigt darüber hinaus eine Aufsatzreihe, die im Frühsommer in der Neuen Zeitschrift für Musik erschien und in deren Kontext sich Wagner selbst mit dem ersten Satz seines Artikels Das Judenthum in der Musik stellte: Kürzlich kam in dieser Zeitschrift ein ‚hebräischer Kunstgeschmack‘ zur Sprache: eine Anfechtung dieses Ausdruckes konnte, eine Vertheidigung durfte nicht ausbleiben.360
Der Musiker Theodor Uhlig (1822–1853), seit 1843 ein enger Freund Wagners,361 veröffentlichte vom April 1850 bis Juli 1850 eine fortlaufende Artikelserie,362 die mit zwei Rezensionen anlässlich der deutschen Uraufführung von Meyerbeers Oper Le Prophète im Januar 1850 in Dresden ihren Ausgangspunkt nahm, um sich dann unter dem Titel Zeitgemäße Betrachtungen ausschließlich mit dem Verriss dieser Oper zu beschäftigen. Sämtliche abwertenden Schlagwörter der Meyerbeer-Rezeption der 1830er und 1840er Jahre wurden innerhalb dieser umfangreichen Serie repetiert und auf die aktuelle Oper Le Prophète übertragen. Die erste Rezension Der Prophet von Meyerbeer, am 5. Februar 1850 erschienen, strebte nach eigenen Angaben eine „Abwägung“ des „musikalischen Gehaltes“363 dieser Oper an. Anders als die deutsche Meyerbeer358 Laube, Einleitung (1847), 25. 359 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 111f. 360 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 101. 361 Uhlig war seit März 1841 Mitglied der Königlichen Kapelle zu Dresden, deren Kapellmeister 1843 Wagner wurde. Seit Juni 1849 schrieb er gelegentlich für die Neue Zeitschrift für Musik. 362 Die Serie umfasste zunächst sechs Teile und erschien unter dem Autoren-Sigel „T.U.“. Ein siebter und letzter Teil erschien erst ein Jahr später unter dem Titel Wollen. 363 U.t., Der Prophet von Meyerbeer (Febr. 1850), 49.
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Rezeption der 1830er Jahre, bemühte sich Theodor Uhlig, substantielle Kriterien für die Beurteilung eines musikalischen Bühnenwerkes aufzustellen. Als Entscheidungsmerkmale listete er „Wiedergabe der Situation, des Textes durch die Töne“, „Grad der Originalität der musikalischen Gedanken“ und „Vollendung in den benutzten Formen“364 auf. Trotz angestrebter musikanalytischer Differenzierung blieben die nachfolgenden Ausführungen in parolenartiger Wiederholung der stereotypen Vorwürfe anhand griffiger Substantivierungen verhaftet. Mit deutlicher Anlehnung an Robert Schumanns Rezension zu Les Huguenots von 1837 kommt Uhlig mit Blick auf das Text-Musik-Verhältniss – hier allerdings bezogen auf alle Opern Meyerbeers – zu dem Ergebnis der „Unnatur“ und des „Raffinements“,365 während die Frage nach den musikalischen Formen in der Schlussfolgerung einer „Zerrissenheit“366 des Komponisten mündete. In ostentativer Doppelung und ohne jede Begründung fällte Uhlig in seiner oberflächlichen Aufzählung der einzelnen Musikstücke hinsichtlich der Frage nach ihrer ‚Originalität‘ das Urteil „gewöhnlich“.367 Allerdings differenzierte er ausdrücklich zwischen den einzelnen Opern Meyerbeers, sah aber innerhalb der Abfolge einen stetigen Niedergang der kompositorischen Leistung des Komponisten, deren Talsohle die aktuelle Oper bilde.368 In dieser Zusam364 U.t., Der Prophet von Meyerbeer (Febr. 1850), 49. 365 U.t., Der Prophet von Meyerbeer (Febr. 1850), 49. Vgl. dazu Schumann, Fragmente aus Leipzig (Sept. 1837), 74: „Ein Meyerbeer’sches Raffinement muß ich hier erwähnen. Er kennt das Publicum zu gut, als daß er nicht einsehen sollte, daß zu viel Lärm zuletzt abstumpft. Und wie klug arbeitet er dem entgegen? [...] Geist kann man ihm leider nicht absprechen.“ Der Begriff ‚Raffinement‘ fiel allerdings schon 1832 in einer Besprechung von Robert le diable (J.P.S., Ueber die Oper ‚Robert der Teufel‘, in: Allgemeine Musikalische Zeitung [Juli 1832], 483): „Sonst würde es indess auch in Paris spurlos vorübergegangen seyn, wo der Geschmack so überreizt war, dass nur das höchste Raffinement noch ein neues Reizmittel auffinden konnte.“ 366 U.t., Der Prophet von Meyerbeer (Febr. 1850), 50: „[...] diese Art der Gestaltung eines Ganze aus einer oft sehr zahlreichen Menge verschiedener zuweilen nur sehr kurzer musikalischer Sätzchen findet sich auch im Propheten wieder vor, und hat schon früher dem Componisten den Vorwurf der Zerrissenheit eingetragen“. Das Verdikt der ‚Zerrissenheit‘ verknüpft mit dem Urteil der ‚Gesuchtheit‘ wurde schon 1835 mit Verweis auf die Oper Robert le diable erhoben (Nachrichten. Prag, in: Allgemeine Musikalische Zeitung [Nov. 1835], 766): „Robert der Teufel ist unstreitig eine sehr geistreiche, in vielen Stellen sehr charakteristische und meist originelle, ja auch sehr melodiöse Composition, doch fehlt es ihr am Zusammenhange, sie ist ze[r]rissen, oft gesucht“. 367 Der pejorative Gehalt zeigt sich allein dadurch, dass hier zehn Mal das Adjektiv „gewöhnlich“ repetiert wird. 368 U.t., Der Prophet von Meyerbeer (Febr. 1850), 52: „Man mag von den Meyerbeer’schen Opern im Allgemeinen halten, was man will, so wird man dem Componisten im Hinblick auf seinen Robert ein bedeutendes musikalisches Vermögen und eine Originalität der Gedanken nach einer gewissen Seite hin niemals absprechen können. Die Frische und verhältnißmäßige Natürlichkeit in den Melodien dieser Oper weicht in den Hugenotten recht ersichtlich theils einer größeren Gesuchtheit, theils einer größeren Gewöhnlichkeit, während im Allgemeinen das declamatorische Element, neben ihm jedoch auch jene schon erwähnte musikalische Zerrissenheit auffallend hervortritt; noch aber entbehrt diese zweite große Oper – wenigstens theilweise –
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menstellung kam Uhlig aufgrund seines Standpunktes, die Le Prophète werde beherrscht von „Kälte“, „Alltäglichkeit und Gewöhnlichkeit“ zu dem Schluss einer nun „eingetretenen musikalischen Impotenz des Componisten“.369 Mit noch deutlicherer Anlehnung an die in den 1830er und 1840er Jahren durch Ausgrenzungsmechanismen geprägte wertästhetische Einteilung von ‚Kunst-‘ und ‚Trivialmusik‘, von ‚deutscher‘ und ‚französisch-italienischer‘ Operntradition mit einer imaginierten Vorherrschaft des ‚Innen‘ und ‚Außen‘ führte die zweiten Rezension Uhligs unter dem Titel Noch einmal der Prophet von Meyerbeer in allgemeine opernästhetische Betrachtungen. Giacomo Meyerbeer als Repräsentant der französischen ‚Grand opéra‘ wird hier Carl Maria von Weber als Vertreter der deutschen romantischen Oper gegenüber gestellt, während Uhlig auch kurz direkt auf Richard Wagner als Vermittler in der „Verknüpfung Webers und Meyerbeers“370 einging: Die Webersche Oper verhält sich zur Meyerbeerschen wie Poesie zu nackter Wirklichkeit, wie Gefühl zu kaltem Verstande [...] deshalb kann die französische große Oper alles Andere, z.B. ein Werk der Speculation sein, eine Pfiffigkeitsoper [...] nur nicht ein Werk echter Kunst.371
Gemäß dem Ansatz der Darstellung knüpfte Theodor Uhlig in seiner nachfolgenden Artikelserie Zeitgemäße Betrachtungen an den Wagnerschen Begriff des „musikalischen Dramas“ an und untertitelt den ersten Teilabschnitt vom 23. April 1850 mit I. Dramatisch.372 Schon im Eingangssatz keineswegs einer gewissen Wärme in der musikalischen Wiedergabe und einiger Selbstständigkeit der Gedanken.“ 369 U.t., Der Prophet von Meyerbeer (Febr. 1850), 52. 370 U.t., Der Prophet von Meyerbeer (Febr. 1850), 52. Nach der Pariser Uraufführung der Oper Rienzi, der Letzte der Tribunen (Dresden 1842), deren Anlehnung an Meyerbeer und die ‚Grand opéra‘ unbestritten ist, folgte mit Der fliegende Holländer (Dresden 1843) und der Oper Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg (Dresden 1845) eine Annäherung an die romantische Oper auch in der Eigenbezeichnung Wagners. 371 U.t., Noch einmal der Prophet von Meyerbeer (Febr. 1850), 82. Der Begriff der „Pfiffigkeitsoper“, der noch einmal am Schluß des Artikels und in den nachfolgenden Aufsätzen Uhligs erneut auftritt, erinnert an die an Meyerbeer geknüpfte Charakterisierung als der „Erzkluge aller Componisten“ von Schumann 1837. Vgl. dazu das vorhergehende Kapitel 3.2.2.1 Giacomo Meyerbeer: der ‚Rothschild der Musik‘. 372 Schon 1995 hat der Musikwissenschaftler Christian Berkthold in seinem Artikel Theodor Uhlig und Richard Wagners ‚Das Judenthum in der Musik‘ auf die Bedeutung dieses Vorläufers für den Wagnerschen Text hingewiesen und sechs gemeinsame Merkmale beider Texte herausgearbeitet. Am auffälligsten ist die Wahl beider Artikel hinsichtlich der Beispiele Meyerbeer und Mendelssohn Bartholdy ebenso wie die These von einer Kongruenz zwischen ‚jüdischer‘ Sprechund Kompositionsweise. Neben der gesellschaftskritischen Sicht eines durch ökonomische Gesetze diktierten Musikmarktes und eines zunehmend verdorbenen Publikumsgeschmacks, zeigt sich in beiden Texte eine geschichtsphilosophische Perspektive, die eine Veränderung des als negativ empfundenen gegewärtigen Gesellschaftszustands anstrebt. Affirmative Wortprägungen und eine ‚volkstümliche‘ Abwertung der ‚jüdischen Musik‘ sind gleichfalls bei beiden Autoren zu finden.
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zeigte sich die polemische Tendenz seiner Ausführungen, in dem die aktuelle Oper Meyerbeers als „falscher Prophet“373 betitelt wird, eine Bezeichnung, die in den nachfolgenden Artikelteilen zu einem Schlagwort mit deutlicher Signalfunktion ausgeweitet wird. Durch ihre Mehrdeutigkeit verweist die Etikettierung des Propheten als ‚falsch‘ einerseits direkt auf einen inhaltlichen Bezug zum Opern-Libretto, das in historisch freier Adaption den Führer der Wiedertäuferbewegung Johannes von Leiden als einen durch private Interessen korrumpierten, machtorientierten Propheten darstellt.374 Auf der anderen Seite offenbart sich in dem Verdikt „falsch“ jedoch auch die prinzipielle wertästhetische Debatte der ersten Hälfte der 19. Jahrhunderts. Mit den anhand der deutschen Meyerbeer-Rezeption geformten abstrakten Schlagwörtern, die ein scheinbar in sich geschlossenes System zur Abwertung und Ausgrenzung von ‚fremdem‘, hier vor allem französischem und italienischem Musikschaffen ermöglichten, ging die moralische Wertung von ‚richtig‘ und ‚falsch‘ als Beurteilungsinstanzen einher. Neben der Absolutheit solcher Wertungsraster mit Blick auf musikalische Kunstwerke wird damit bei Theodor Uhlig gleichzeitig eine Bewertung des Komponisten mitgedacht, die Meyerbeer als ‚falschen Heilsverkünder‘ im Gegensatz zu einem „Priester wahrer Kunst“375 beschreibt. Anknüpfend an dieses Bild fällt in Uhligs Artikel die Bezeichnung „hebräischer Kunstgeschmack“. Inhaltlich wird dieser Ausdruck an den Nachweis geknüpft, dass die aktuelle Oper Meyerbeers hinsichtlich des TextMusikverhältnisses kaum „dramatischen Gesang“ aufweise, der als „gesungene Rede [...], die Natürlichkeit der Rede niemals doch beeinträchtigen darf“:376 Was ist es aber denn, wenn es nicht dramatisch ist? [...] Vorläufig ist auf diese gerechtfertigte Frage nur zu antworten, daß dergleichen Gesangsweisen einem guten Christen im besten Falle gesucht, übertrieben, unnatürlich, raffinirt erscheinen, und es auch nicht wahrscheinlich ist, daß eine mit solchen Mitteln betriebene Propaganda des hebräischen Kunstgeschmacks Erfolg haben sollte.377
Wenn die „Propaganda des hebräischen Kunstgeschmacks“ direkt auf die mehrdeutige Metapher vom „falschen Propheten“ zurückgeführt und damit 373 T.U., I. Dramatisch (April 1850), 169. 374 Vgl. Sieghart Döhring, Meyerbeer: Le Prophète, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Werke, Bd. 4, 147f: „So erscheinen Jeans drei Entscheidungen, von denen Aufstieg und Fall des ‚Königreichs Zion‘ abhängen, jeweils das Ergebnis eines Konflikts zwischen persönlichen Wünschen [...] und öffentlichen Forderungen [...], den Jean stets in der Weise löst, daß er die politische Aktion zur Förderung seiner privaten Ziele benutzt. [...] Diese Privatmotivation des Politischen erscheint um so ostentativer, als sie durch Abrücken von den historischen Fakten erkauft werden musste“. 375 T.U., I. Dramatisch (April 1850), 173. 376 T.U., I. Dramatisch (April 1850), 170. 377 T.U., I. Dramatisch (April 1850), 170.
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ein scheinbar griffiger Interpretationsansatz zur Oper Le Prophète in der jüdischen Herkunft Meyerbeers angeboten wurde, bleiben doch die in den weiteren Artikelteilen gefällten Urteile in einer Wiederholung der Vorwürfe der 1830er und 1840er Jahre verhaftet, wie sie etwa schon in Robert Schumanns Rezension zu Les Huguenots durchscheinen. Uhlig prangerte neben einer angeblichen Bestechung der Sänger, des Publikums und der Kritiker,378 die Verwendung des so genannten „äußeren Effect[s] um [...] jeden Preis“ ohne einen „höheren Kunstzweck“379 und einen Mangel an ‚Originalität‘380 an. Zunehmend verschärfte sich der Ton in den einzelnen Artikelteilen und kulminierte in einer Abwertung aller Opern Meyerbeers mit der Formulierung „alle Teufeleien des Robert, alle Frivolitäten der Hugenotten und alle Spitzbübereien des Propheten“.381 Diese Wendung, vor allem jedoch die Unterstellung einer „Propaganda des hebräischen Kunstgeschmacks“, erhielt gerade durch einen zunächst anonymen Widerspruch in der Rheinischen Musik-Zeitung eine besondere Beachtung. Der Autor des Artikels Welcher ist der wahre Prophet? entlarvte in den durch Uhlig repetierten Vorwürfen aus den 1830er und 1840er Jahren anti-judaistische Untertöne: Freilich, der Jude durfte nicht unerwähnt bleiben – die Berliner Kreuzzeitung wirkt!382
Die Debatte um die Formulierung einer „Propaganda des hebräischen Kunstgeschmacks“ weitete sich durch eine Replik Uhligs und eine erneute Reaktion des Herausgebers der Rheinischen Musik-Zeitung Ludwig Bischoff (1794–1867) aus, der sich auch als Verfasser des ersten Artikels Welcher ist der wahre Prophet? zu erkennen gab.383 Innerhalb dieser Ausei378 T.U., I. Dramatisch (April 1850), 169: „Seitdem dem fruchtbaren Boden der Gegenwart freilich eine eigene Propheten-Literatur entkeimt und dem Referenten eines gewissen Journals die Unsterblichkeit gesichert ist, sollte man billiger Weise Anstand nehmen, ein Werk anzurühren, dessen Schöpfer des Beifalls des modernen Publikums, der modernen Künstler und modernen Kritiker, eben so sicher sein darf, als sich noch stets die Anziehungskraft der Geldsäcke bewahrt hat, über die derselbe ‚zum Heile der Kunst‘ gebietet.“ 379 T.U., I. Dramatisch (April 1850), 173. 380 T.U., II. Reminiscenzen (April 1850), 178: „Was wir dem Componisten dieser Musik jedoch nicht verzeihen können, ist seine Art der Auswahl unter dem Vorhandenen, die außergewöhnliche Gewöhnlichkeit fast aller verwendeten musikalischen Gedanken. Ein musikalischer Gedanke braucht nicht originell um jeden Preis zu sein, wenn er anders nur nicht trivial und alltäglich ist.“ 381 T.U., III. Schön (März 1850), 218. 382 Welcher ist der wahre Prophet? (Juli 1850), 7. Die „Berliner Kreuzzeitung“, eigentlich Neue Preußische Zeitung vertrat eine ‚christlich-deutsche‘ Staatsidee mit deutlich anti-judaistischer Ausrichtung. 383 L. Bischoff, T.U. hoc intrivisti: tibi omne est exedendum (Aug. 1850). Eine Zusammenfassung der ersten beiden Artikel der Debatte erschien unter dem Titel Prophetisch und Unprophetisch von Eduard Krüger (1807–1885) in der Neuen Zeitschrift für Musik im Juni 1850.
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nandersetzung akzentuierte Uhlig seine grundsätzliche Einschätzung und verwies nun auf eine speziell ‚jüdische‘ Sprechweise, die sich in den Werken von Komponisten jüdischer Herkunft zeige. Ähnlich wie schon Schumann, der hier direkt als Beispiel angeführt wurde, illustrierte Uhlig seine These mit einer polarisierenden Gegenüberstellung von Giacomo Meyerbeer und Felix Mendelssohn Bartholdy: In der Musik vieler jüdischen Componisten giebt es Stellen, die fast alle nichtjüdischen Musiker im gewöhnlichen Leben und mit Bezugnahme auf die allbekannt gemeine jüdische Sprechweise als Judenmusik, als ein Gemauschele oder als ein Dergl. bezeichnen. Je nachdem in dieser Musik hier der Charakter des Edlen, dort der des Gemeinen überwiegt, treten diese Stellen, deren Eigenthümlichkeit theils in der metrischen Gestaltung, theils in einzelnen melodischen Tonfällen der musikalischen Phrase liegt, hier nur wenig, dort ganz auffallend hervor, so z.B. bei Mendelssohn sehr gelind, bei Meyerbeer dagegen in höchster Schärfe, namentlich in seinen Hugenotten, nicht minder auch in seinem Propheten. Eben so wenig wie die ihnen analogen Sprechweisen hat man diese Tonweisen schön oder nur erträglich da finden können, wo sie wie bei Meyerbeer ganz unmittelbar an das erinnern, was ich nicht anders, denn als ‚Judenschule‘ zu bezeichnen weiss. [...] ich [...] spreche – vielleicht weniger bezeichnend, als schonungsvoll – in Bezug auf jene allbekannten Stellen von einem ‚hebräischen Kunstgeschmacke des Componisten‘ und stelle demselben – gestützt auf die Wahrnehmung, daß man diese Stellen theils lächerlich, theils widerwärtig findet – nur wenig Erfolg in Aussicht.384
Eine Analogie von Sprachmelodie und Kompositionsweise wurde funktionalisiert, um die Annahme konkreter Stilmerkmale, die sich in der Musik von Komponisten jüdischer Herkunft finden ließen, zu begründen. Diese Merkmale allerdings belegte Uhlig mit dem stärksten negativen Verdikt der ‚Lächerlichkeit‘, das jegliche Ernsthaftigkeit im musikalischen Schaffen als vergeblich darstellte und auch in Wagners Polemik eine zentrale Rolle spielte. Als Ziel allgemeiner spöttischer Verunglimpfung in der anti-judaistischen Literatur der Zeit rückte die jüdische Sprache bzw. Sprechweise im 19. Jahrhundert zunehmend in den Blickpunkt früh-antise-mitischer Agitation. Auf jüdischer Seite lässt sich beginnend mit Moses Mendelssohn seit dem 18. Jahrhundert ein Akkulturationsprozess hinsichtlich der deutschen Sprache konstatieren, der bis in das 19. Jahrhundert andauerte und verstärkt die hebräische wie die jiddische Sprache verdrängte. Der Historiker Jacob 384 T.U., VI. Außerordentliches (Juli 1850), 30. Den Verweis auf Schumann ergänzte ein Hinweis auf die Abhandlung Meyerbeer’s Prophet als Kunstwerk beurtheilt (1850) des Musikers Ernst Otto Lindner (1820–1867). Mit Blick auf den 3. Akt der Oper Le Prophète meinte Lindner (31): „Trotz der rauschenden Harfen und der machtvollen Instrumentation ist so der offenbar als Glanzpunkt behandelte Triumphgesang: Herr Dich in den Sternenkreisen, in seinem melodischen Motive nichtssagend, und die judaisirende Art giebt ihm keine charakteristische Färbung, sondern zeigt nur, woran der Componist gedacht, um wenigstens Etwas daraus zu machen.“
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Toury hat in seinem Aufsatz Die Sprache als Problem der jüdischen Einordnung im deutschen Kulturraum nachgewiesen, dass sich dennoch bis in das 19. Jahrhundert hinein die Verwendung jiddisch-hebräischer Floskeln in bestimmten von Juden geprägten Berufsgruppen erhalten hat. Auch die seit 1848 im deutschen Judentum vermehrt auftretenden Umschichtungen von ländlichen Gebieten in die Städte sowie die Zuwanderung von ostjiddisch sprechenden Ostjuden trugen zu einem Fortbestand der jiddischen Sprache bei.385 Den Gegnern der jüdischen Emanzipationsbestrebungen galt die eigenständige Sprache Jiddisch – eine Nahsprache des Deutschen – als oberflächliche Nachahmung oder bewusste Verunglimpfung des Hochdeutschen. Dabei wurde im stereotyp-abwertenden Sprachgebrauch oft das Jiddisch mit dem ‚Jüdeln‘ bzw. dem ‚Mauscheln‘ identifiziert und verwechselt. Das ‚Jüdeln‘, eine durch den sprachlichen Assimilationsprozess hervorgegangene Mischung von hochdeutschen und jiddischen Sprachelementen386 zeichnete sich nach Meinung der nicht-jüdischen Umwelt vor allem in einer ‚verdrehten‘ Wortstellung und Resten einer den Juden zugeschriebenen vokalen Lautgebung aus, wie sie sich etwa in dem Spottwort „Mayerbeer“387 zeigt. Durch ‚jüdische‘ Wortverdrehungen sei zugleich auf der inhaltlichen Ebene den Aussagen von Juden kein Sinn zu entnehmen.388 Das so genannte ‚Mauscheln‘, abgeleitet von dem jiddischen Wort ‚Mojsche‘ oder ‚Mausche‘ für Moses,389 wurde zum Begriff für eine, den Juden zugeschriebene undeutliche Aussprache, galt aber gleichzeitig als Synonym einer für NichtJuden zumeist unverständlichen jiddischen Sprache, als auch für eine spezifisch ‚jüdische‘ Sprechweise und selbst für einen schädlichen Inhalt des Gesagten.390 Diese Unklarheit scheint auch Theodor Uhligs bezeichnende Formulierung von der „gemeine[n] jüdische[n] Sprechweise als Judenmusik, als ein Gemauschele“ zu prägen. Er sah diese „Sprechweise“ musikalisch „theils in der metrischen Gestaltung, theils in einzelnen melodischen Tonfällen der musikalischen Phrase“ verwirklicht. Direkt auf den Charakter und die Per385 Toury, Die Sprache als Problem der jüdischen Einordnung, 87–90. 386 Bering, Sprache und Antisemitismus im 19. Jahrhundert, 331. Die Bezeichnung ‚Jüdeln‘ mag auch den Hintergrund für die von Wagner benutzte Formulierung von der ‚Verjüdung der modernen Kunst‘ bilden. 387 Scharff-Scharffenstein, Das geheime Treiben, der Einfluß und die Macht der Juden in Frankreich seit hundert Jahren (1872), 82–85. 388 Hortzitz, ‚Früh-Antisemitismus‘ in Deutschland, 127. 389 Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 547. 390 Vgl. Bering, Sprache und Antisemitismus im 19. Jahrhundert, 338: „Wo dann schließlich selbst die verfälschende Kraft der Antisemiten nichts mehr Jüdisches hinter der offensichtlich lautreinen Sprache ausmachen konnte, da wurde schließlich ‚das Sprachproblem [...] zum Problem der Tendenz und des Inhalts‘: Jetzt wurde ‚Mauscheln‘ [...] zu einer pseudolingustischen Kategorie, die in Wirklichkeit nur noch den verderblichen Inhalt der Rede meinen sollte.“
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sönlichkeit des jeweiligen Komponisten bezogen, unterschied Uhlig in dem Vorkommen derlei ‚jüdisch‘ konnotierter, musikalischer Gestaltungsmerkmale zwischen einem „Edlen“ wie Mendelssohn Bartholdy oder einem „Gemeinen“ wie Meyerbeer. Wesentlich grundlegender und ausführlicher erfolgt die Gleichsetzung von ‚jüdischer‘ Sprache und Musik durch Richard Wagner. Auch er bezog sich nicht mehr auf das Hebräisch, das als vermeintlich vokallose Sprache im 18. Jahrhundert ebenso zu einer Abwertung althebräischer Tempelmusik wie zeitgenössischer Synagogalmusik angeführt wurde, sondern meinte mit der gleichen Unbestimmtheit wie Uhlig eine „Sprache“ ebenso wie eine „Sprechweise“.391 Die sprachlichen Akkulturationsbestrebungen von jüdischer Seite interpretierte Wagner als ‚jüdische‘ Nachahmung der ihnen ‚fremden‘ deutschen Sprache, die keine „angeborene“ sondern eine „erlernte“392 sei. In direkter Anlehnung an Herders Begriff vom „Volksgeiste“,393 der eine spezifisch nationale ‚Substanz‘ durch seine analoge Betrachtung von Sprache, Geschichte und Musik zu fassen suchte, schloss Wagner die deutschen Juden aus diesen drei Bereichen aus: Eine Sprache, ihr Ausdruck und ihre Fortbildung, ist nicht das Werk Einzelner, sondern einer geschichtlichen Gemeinsamkeit: nur wer unbewusst in dieser Gemeinsamkeit aufgewachsen ist, nimmt auch an ihren Schöpfungen Theil. Der Jude stand aber außerhalb einer solchen Gemeinsamkeit. [...] In einer fremden Sprache wahrhaft zu dichten ist nun bisher unmöglich gewesen: unsere ganze europäische Civilisation und Kunst ist aber dem Juden eine fremde Sprache [...]. In dieser Sprache, dieser Kunst kann der Jude nur nachsprechen, nachkünsteln, – nicht wirklich redend dichten oder Kunstwerke schaffen.394
Dem ‚jüdischen‘ Kauderwelsch, einer „unserer nationalen Sprache gänzlich uneigenthümliche Verwendung und willkürliche Verdrehung der Worte und Konstructionen“ wird ergänzend die „jüdische Sprechweise“ als „rein sinnliche Kundgebung der jüdischen Sprache“ hinzugefügt. Beide seien „widerlich[...]“ und „lächerlich[...]“.395 Mit dieser ostinat den Text durchziehenden stärksten Abwertung, den ‚lächerlichen‘, ‚komischen‘ oder ‚albernen‘ jüdischen Bemühungen illustrierte Wagner die Vergeblichkeit einer ‚jüdischen‘ Nachahmung im sprachlichen wie im musikalischen Bereich. Der Lautaus391 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 103. 392 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 103: „Zunächst muß im Allgemeinen der Umstand, daß der Jude die moderne europäische Sprache nur wie eine erlernte, nicht angeborene redet, ihn von aller Fähigkeit, in dieser Sprache sich seinem eignen Wesen eigenthümlich und selbstständig kund zu geben, im höheren Sinne gefaßt, ausschließen.“ 393 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 105. 394 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 103. 395 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 103. Zur Verunglimpfung der jüdischen Sprache in der allgemeinen anti-judaistischen Literatur vgl. Jens Malte Fischer, Ablehnung der Sprache der Juden, in: ders., Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘, 45–48.
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druck der ‚jüdischen‘ Sprache, der „den Charakter eines unerträglich verwirrten Geplappers“396 habe, wird hier durch die Benutzung von fast identischem Vokabular in die Nähe des Hebräisch und der jüdisch-liturgischen Vokalrezitation gerückt: Als durchaus fremdartig und unangenehm fällt unserem Ohr zunächst ein zischender, schrillender, summsender und mucksender Lautausdruck der jüdischen Sprechweise auf.397
Schon im 18. Jahrhundert fielen Attribute wie „fremd“ und „komisch“, wenn im Musikschrifttum die rituelle Musik der Synagoge mit dem „Summsen der Bienen“ verglichen oder als „verwirrtes Geheule und wüstes Gelärme“ charakterisiert wurde. Mit der These des jüdischen Mangels an sprachlichen und künstlerischen Traditionen398 erfolgte trotz der explizit säkularen Ausrichtung der Scheinargumentation Wagners ein Verweis auf die zeitgenössische Synagogalmusik als „einzige Quell, aus dem der Jude [...] volksthümliche Motive für seine Kunst schöpfen kann“.399 Auch hier zeige sich „jenes sinn- und geistverwirrende[...] Gegurgel[...], Gejodel[...] und Geplappper[...], das keine absichtliche Caricatur widerlicher zu entstellen vermag“.400 Unübersehbar befindet sich Wagner mit derlei Formulierungen in den musikliterarischen Traditionen einer verächtlichen Stigmatisierung der zeitgenössischen Synagogalmusik mit ihrer plakativen Verwendung lautmalenden Vokabulars.401 Auf eine weitere Affinität zu den musikjournalistischen Diskursen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weisen die ‚protorassistischen‘ Anklänge in dem Artikel Das Judenthum in der Musik mit ihren Tendenzen einer Übertragung biologistischen Denkens auf den Bereich der Musik. Diese reichen in unterschiedlichen Artikeln bis in die Musikpublizistik des beginnenden 19. Jahrhunderts zurück. Dabei ermöglichte das rasch anwachsende völkerkundliche Interesse seit Ende des 18. Jahrhunderts neben ersten fundierten Untersuchungen und Sammlungen volksmusikalischer Zeugnisse auch stereotype Zuschreibungen über die jeweiligen musikalischen Unterschiede der verschiedenen ‚Nationen‘, ‚Völker‘ und ‚Stämme‘, innerhalb 396 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 103. 397 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 103. 398 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 105: „Der Jude hat nie eine eigne Kunst gehabt, daher nie ein Leben von kunstfähigem Gehalte: ein Gehalt, ein allgemein gültiger, menschlicher Gehalt, ist diesem auch jetzt vom Suchenden nicht zu entnehmen, sondern nur eine sonderliche Ausdrucksweise.“ 399 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 103. 400 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 105f. 401 Darüber hinaus fielen in der deutschen Meyerbeer-Rezeption der 1830er Jahre bildliche Begriffe wie „leerer Wortschwall“ oder „Strudel der Tollhäuslerey und Faseley“ (B., Ueber ‚Robert den Teufel‘ in Berlin, in: Allgemeine Musikalische Zeitung [Juli 1832], hier 484 u. 488).
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deren die musikalische ‚Leistung‘ zu betrachten versucht wurde. Wie gezeigt, erschienen die deutschen Juden im Musikschrifttum des 18. Jahrhunderts als eigenständiges ‚Volk‘ bzw. als ‚orientalische Nation‘, deren musikalische Veranlagung in den Blickpunkt einzelner Artikel der Musikpublizistik des 19. Jahrhunderts geriet. In diesem Zusammenhang erschien schon 1828 ein Aufsatz mit dem Titel Musikanlage der Orientalen in der Berliner Allgemeinen Musikalischen Zeitung,402 der die Andeutung eines ‚fremden, orientalischen Musikgeschmacks‘ der Juden, wie er von Johann Nikolaus Forkel in das Musikschrifttum eingeführt worden war, aufgriff. Von einem anonymen Verfasser wurde allen Völkern des Orients, darunter auch den „Hebräer[n]“ die Fähigkeit zur Musikalität abgesprochen, da Musik für sie nur von sekundärer Bedeutung sei. Ausgangspunkt dieser Annahme bildete hierbei – neben den einschlägigen musikgeschichtlichen Untersuchungen über den Ursprung der Musik – ein angeblich reduziertes Tonsystem, das anhand von Instrumentenfunden rekonstruiert werden sollte: Forkel hat aus den Instrumenten, aus der Notirung und andern Punkten dargethan, dass Hebräer, Aegypter und andere, mit diesen gleichstehende, ihnen verbundene Völker des alten Orients nur eine sehr niedrige Stufe der musikalischen Bildung erstiegen haben – was auch ihre eigenen Dichter von der Vortrefflichkeit der Musik gesagt haben mögen. Diese Völker hatten noch nicht einmal ein einigermassen vollständiges und auf die Natur gegründetes Tonsystem. Ihre 3, 4 bis 6 Saiten umfassen nicht einmal die Hauptstufen in einfacher Potenz, vielweniger deren Modifikation [...] und Potenzirung in je höhere Oktaven. [...] Dass unter diesen Umständen an Harmonie (man müsste denn jeden Zusammenklang von Tönen so nennen) nicht zu denken war, versteht sich von selbst.403
In überzeitlicher, latent biologistisch determinierter Sicht des ‚Musiksinns‘ wurde den ‚Orientalen‘ darüber hinaus eine etwaige Entwicklungsmöglichkeit ihrer „niedrige[n]“ musikalischen Fähigkeiten aberkannt. Als Erklärung hierfür fungierte nicht mehr das vermeintlich ‚starre‘ Festhalten an religiösen Traditionen, sondern eine hypothetische Verbindung zwischen der landschaftlichen Umgebung bzw. den klimatischen Bedingungen dieser Landschaft und dem historischen Herkunftsort der deutschen Juden, dem Orient: Aber auf derselben Stufe musikalischer Entwickelung stehen diese Völker noch jetzt. [...] Wie geht das zu? – Indier, Hebräer, überhaupt Orientalen haben ihre Musik 402 Bei dem Artikel handelte es sich um einen Beitrag zu einer seit Juni 1827 unregelmäßig erschienenen Reihe mit dem Titel Aufgefundene Blätter aus dem Tagebuch eines früh verstorbenen Musikers, wobei die Redaktion der Berliner Allgemeinen Zeitung jedoch die inhaltliche Verantwortung ablehnte: „Die Redaktion giebt sie unverändert, in aller Skizzenhaftigkeit und Subjektivität“ (6. Juni 1827, 177f). 403 Aufgefundene Blätter. Musikanlage der Orientalen (Juni 1828), 179.
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deswegen nicht ausgebildet, weil ihnen Musik ein untergeordnetes Bedürfniss, sogar die höhere Ausbildung mit ihrer Natur in Widerspruch sein müsste. Um das Kleinste zuerst zu erwähnen – schon ihr Klima steht entgegen. Es ist in einem solchen Grade erhitzt, das die Anstrengung beim Gesang und Spiel, das Vergnügen daran stört. Regsam kann den Orientalen nur ein erwachter Affekt machen. Dann schwingt der Beduine seine wirbelnde Lanze, dann entsendet er unverdrossen seine Pfeile.404
In Gleichsetzung der „Natur“ des Orientalen mit einer ‚orientalischen‘ Landschaft als ‚heiße‘ Klimazone, die keinerlei musikalische „Anstrengung“ zulasse, kam der anonyme Autor zu völkerpsychologischen Zuschreibungen eines impulsiven „Affekt[s]“ und des angeblich arbeitsscheuen Temperaments: Nun aber wirkt wieder das Klima dahin, den Orientalen von der süssen Körperruhe (bei mühelosem Leben) zur Beschaulichkeit, zum Sinnen, zum Philosophiren zu bringen. Ungestört versenkt er seinen Geist in die metaphysischen Tiefen, so tief, als der dunkelblaue Nachthimmel seinen Sternenschoos öffnet. Was soll nun bei alle dem Musik? Malen kann sie nicht und in die Tiefen des Nachsinnens, der Spekulation steigt sie nicht. Sie kann nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben.405
Ähnlich wie später bei Richard Wagner wird auch hier ‚die‘ Sprache des ‚Orientalen‘ in die Betrachtung der musikalischen Befähigungen ihres ‚Volksgeistes‘ einbezogen. Eine besondere Affinität zur Sprache wirke sich negativ auf die musikalischen Fähigkeiten aus: Die Sprache bildete sich dieser Anregung nach, nur zog sie das, was nicht gemalt werden kann, den tiefblauen Himmel, die Sterne des Orients, die wie unsere Sonne leuchten, in ihr Gebiet. Sie wurde mehr bilder- als tonreich [...].406
Für Richard Wagner indes stellte sich die Verbindung zwischen Sprechweise und Gesang mit impulsivem „Affekt“ als Intonation einer in Leidenschaft erregten Rede des ‚Juden‘ dar: Hören wir einen Juden sprechen, so verletzt uns unbewußt aller Mangel rein menschlichen Ausdruckes in seiner Rede: die kalte, labernde Gleichgültigkeit in ihr steigert sich bei keiner Veranlassung zur Erregtheit höherer, herzdurchglühter Leidenschaft [...].407
404 Aufgefundene Blätter. Musikanlage der Orientalen (Juni 1828), 179. 405 Aufgefundene Blätter. Musikanlage der Orientalen (Juni 1828), 180. Dementsprechend seien es primär die bildenden Künste zu denen der ‚Orientalen‘ eine Begabung besäße (179f): „Nun haben wir nur zu beobachten, was die Natur bei jedem Volke angeregt haben kann und muss, um dessen Sphäre zu bestimmen. Licht und Farbe ist es, was im Orient herrscht. Sogar die Vögel, die lautesten Geschöpfe, haben meist ihren Gesang gegen herrliche Farbengewänder vertauscht. Gewiss war Farben- und Formenkunst die erstgeborne Tochter des Orients.“ 406 Aufgefundene Blätter. Musikanlage der Orientalen (Juni 1828), 180. 407 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 103. Wagner versucht innerhalb seiner Analogie von Sprachmelodie und Gesang die „sympathetisch wirkende[...] Leidenschaft“
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Die Zusammenstellung subjektiver Zuschreibungen zum ‚orientalischen Nationalcharakter‘ prägte im 19. Jahrhundert die Ausführungen zur althebräischen wie zeitgenössischen Musik. Derlei Projektionen sollten gleichzeitig in synagogalen Musiktraditionen wie auch in Werken der Komponisten jüdischer Herkunft eine Gültigkeit zeigen. Während der anonyme Verfasser anders als Wagner die kontinuierliche ‚Unmusikalität‘ der Juden ebenso wie die Eigenschaften der ‚Trägheit‘ und ‚Sinnlichkeit‘ auf die Landschaft zurückführte, findet sich derlei Rekurs auf die Natur, hier als Klima oder landschaftliche Gegebenheit einer anthropologischen Ursprungsregion im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend als möglicher Erklärungsansatz für die musikalischen Unterschiede der verschiedenen Musiktraditionen jenseits von historischen und sozio-kulturellen Bedingungen. Vor allem das Konstrukt eines angeborenen, ‚orientalischen Volkscharakters‘ mit vagen Ein- und Ausgrenzungen dieser Sammelgruppe prägte entscheidend das Bild des ‚Juden‘, wie es auch Richard Wagner konstruierte. Die Wirkung, die seinerzeit der Artikel Vom Judenthum in der Musik auf das deutsche Musikschrifttum hatte, ist nicht zu unterschätzen. Wenngleich sich die öffentlichen Reaktionen auf den Aufsatz von K. Freigedank in einem überschaubaren Rahmen bewegten,408 wurde doch durch die Publikation das spekulative Thema ‚Judentum und Musik‘ in die musikliterarische Diskussion eingeführt. Die hier verwendeten Schlagwörter fanden sich jedoch schon in der deutschen Meyerbeer- und Mendelssohn BartholdyRezeption vor 1850. Neu ist hingegen, diese Gemeinplätze einzig und allein mit dem direkten Verweis auf eine jüdische Herkunft der jeweiligen Komponisten zu untermauern. Hierin konnte der Aufsatz seine fatale Wirkung einer jüdisch konnotierten „Sprechweise [...] mit lächerlicher Leidenschaftlichkeit“ gegenüberzustellen (104). Die Unterstellung eines spezifischen ‚Affekts‘ mag zudem durch die Meyerbeer vorgeworfene ‚Effekthascherei‘ unterstützt worden sein. 408 Positiv reagiert zunächst Eduard Krüger mit seinem Aufsatz Judenthümliches (in: Neue Zeitschrift für Musik [1. Okt. 1850], 145–147). Dem folgte eine ablehnend-kritische Hinterfragung von Eduard Bernsdorf (K. Freigedank und das Judenthum in der Musik, in: Neue Zeitschrift für Musik [15. Okt. 1850], 165–168). Den Schlusspunkt dieser Debatte setzte ein Jahr später der Herausgeber Franz Brendel mit dem Aufsatz Das Judenthum in der Musik (in: Neue Zeitschrift für Musik [4. Juli 1851], 4–6), in dem er eine nivellierende Zustimmung zu Wagners Thesen äußerte. Unter den Reaktionen fällt die des Musiktheoretikers Johann Christian Lobe auf, der den Freigedank-Artikel als eine bewusste Satire zu entkräften suchte (Das Judenthum in der Musik, in: Illustrierte Zeitung [25.1.1851], 54–56, zit. nach ders., Konsonanzen und Dissonanzen. Gesammelte Schriften aus älterer und neuerer Zeit [1869], 17): „Was ist nun der Kern des ganzen Freigedank’schen Raisonnements? – dieser: Ich hasse die Juden: ich hasse und beneide Mendelssohn und Meyerbeer; ich rathe daher, alle Juden zu vernichten. Wer nicht mit mir ist, der ist ein gedanken- und gefühlloser Schlendrianer, der ist auch ein Jude, und muß mit vernichtet werden. – Kann ein solches Raisonnement aus dem Geist und dem Herzen eines vernünftigen, humanen Menschen unsere Zeit fließen? Nein! – Folglich existiert ein K. Freigedank in dieser Uebertreibung wenigstens nicht“). Sämtliche genannten Reaktionen finden sich als dokumentarischer Anhang in Fischer, Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘, 199–232.
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entwickeln. Während bis 1850 die Herkunft einzelner Komponisten unterschwellig durch jeweils ‚jüdisch‘ klingende Namen mitgedacht wurde, erfolgte eine explizite Abwertung aufgrund ihrer jüdischen Herkunft erst mit den Artikeln von Theodor Uhlig und Richard Wagner in der Neuen Zeitschrift für Musik. Dabei wirkten beide Artikel sich sowohl inhaltlich als auch rhetorisch prägend aus. Mit Uhligs pejorativen Formulierungen eines „falschen Prophet>en@“, dem „hebräischen Kunstgeschmack“ und einer „Judenmusik“ wurden affektive Wendungen und Komposita aus der allgemeinen anti-judaistischen Literatur entlehnt und in das Musikschrifttum eingeführt. Ähnliches lässt sich für den Wagner-Artikel mit dem programmatischen Titel Das Judenthum in der Musik und Ausdrücken wie „Verjüdung der modernen Kunst“, „semitische[...] Aussprechweise“409 oder „Kategorie der Judenschaft in der Kunst“410 konstatieren, der zudem mithilfe einer Vielzahl von Metaphern und Vergleichen die generalisierende Gegenüberstellung zwischen ‚Deutschen‘ und ‚Juden‘ unterstrich. Auch die Verwendung des verallgemeinernden Singulars ‚der Jude‘ als Typus, dem ein, den Leser vereinnahmendes ‚Wir‘ gegenübergestellt wird, weist auf einen rhetorisch-geprägten, affirmativen Appell an den Leser im Sinne anti-judaistischer Agitation. In welchem Maße sich diese Verwendung rhetorischstigmatisierender Mittel auf die nachfolgende Musikliteratur auswirkte, zeigen nach 1850 sowohl ausdrückliche Komposita wie „Judenclaque“,411 „Sinaimuse“412 und „moderne[...] Musikjuden“413 als auch Formulierungen wie „Tendenzopern des modernen Judenthums“.414 Inhaltlich lässt sich eine konzentrierte Bündelung und Verdichtung der virulenten Stereotype der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts feststellen, die durch Wagner explizit auf einen einzigen Nenner, die jüdische Herkunft der jeweiligen Komponisten gebracht wurden. Hier spannte der Artikel Das Judenthum in der Musik einen neuen konzeptionellen Rahmen und fügte die zeitgenössischen Schlagwörter unter dem Oberbegriff ‚Verjüdung der Musik‘ ein.415 Zeigten sich schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die früh-antisemitischen Akzente in der Musikliteratur eingebunden in eine wertästhetische Debatte über Musik, die unter nationalistischen Ideen der deutschen Einheitsbestrebungen spezifische Charakteristika einer ‚deutschen‘ Musik zusammenzustellen suchte, findet sich dieses komplexe 409 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 103. 410 Freigedank, Das Judenthum in der Musik (Sept. 1850), 111. 411 Krüger, Prophetisch und Unprophetisch (Juni 1850), 254. 412 Dühring, Die Judenfrage als Frage des Racencharakters (51901), 91. 413 Schlüter, Allgemeine Geschichte der Musik (1863), 161. 414 Schlüter, Allgemeine Geschichte der Musik (1863), 162. 415 In einer Fachzeitschrift wie der Neuen Zeitschrift für Musik veröffentlicht, fiel der Artikel als Propagandatext deutlich aus dem sonstigen musikpublizistischen Rahmen.
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Gefüge auch in den kunsttheoretischen Schriften Richard Wagners wieder.416 Die in seiner Person vereinigten Elemente von grundsätzlichen gesellschaftskritischen Ansätzen, kunstästhetischen Betrachtungen und kompositorischem Schaffen gaben seinen Anschauungen zum Thema ‚Judentum in der Musik‘ ein besonderes Gewicht.417 Schon der Artikel von 1850, als dessen Urheber relativ schnell Richard Wagner in Fachkreisen identifiziert wurde,418 vor allem jedoch durch die Wiederveröffentlichung 1869 unter eigenem Namen erhielt die Polemik eine besondere Bedeutung. Dabei zeigte sich in Wagners Thesen zudem eine zukunftsorientierte Perspektive, die neben einem Erklärungsansatz gleichfalls eine Lösungsmöglichkeit für den von ihm konstatierten ‚Verfall‘ der zeitgenössischen Kunst anbot und diesen unter nationale Vorzeichen stellte. Die dichotome Gegeneinandersetzung von ‚französisch-italienischer‘ und ‚deutscher‘ Operntradition ließ sich anhand Meyerbeers ebenso auf eine ‚jüdisch-deutsche‘ Opposition rückbinden, wie auch eine spezifisch ‚jüdisch-formelle‘ Nachahmung anhand Mendelssohn Bartholdys dem deutsch konnotierten Begriff der ‚genialen Originalität‘ innerhalb dieses Systems gegenübergestellt werden konnte. Hier prägte Wagner keineswegs die unterscheidende Formel von einem substanziellen ‚Was‘ und dem formellen ‚Wie‘, sondern konnte sich auf die präformierten Leitworte von ‚Innen‘ und ‚Außen‘, ‚Inhalt‘ und ‚Form‘ berufen, die er zu einer griffigen Formulierung ausbaute. Mit dem Appell an eine national definierte schöpferische ‚Substanz‘ – das ‚Was‘ – geht bei Wagner eine Mystifizierung einher, wie sie sich in der Phrase „unserer Erlösung zu wahrhaften Menschen“ darstellt. Dass so dieser unkonkrete Lösungsansatz aus dem vermeintlichen Niedergang der zeitgenössischen Musik im Schlusssatz des Artikels zu den kontroversesten Interpretationen innerhalb der Sekundärliteratur geführt hat, ist einem weiteren Merkmal der Wagnerschen Polemik zuzuschreiben. Arbeitet der Text auf der einen Seite mit Oberbegriffen und scheinbaren Differenzierungen wie „der gemeine Jude“, „der gebildete Jude“, die „jüdische Sprechweise“ und „das Geld“, bleibt er doch auf der anderen Seite gerade durch omnipräsente Analogismen häufig widersprüchlich in seiner 416 Vor allem hinsichtlich eines qualitativen Unterschieds der Darstellungen von Uhlig und Wagner kommt auch Christian Berkthold (Theodor Uhlig und Richard Wagners ‚Das Judenthum in der Musik‘, 78) zu diesem Ergebnis: „Dennoch wird man aber vorsichtig sein müssen, die Abhängigkeit von Uhlig in zu globaler Weise zu betonen. [...] Im Wesentlichen ist es einerseits Wagners geschlossenere Systematik des Gedankengangs gegenüber der essayistischen Tagespresse Uhligs, andererseits seine geradezu maßlose polemische Schärfe, die sich vom üblichen Niveau des ‚Volkstümlichen‘ abhob.“ 417 Eine ähnliche, wenngleich wesentlich schwächere Rezeptionswirkung lässt sich auch für Schumanns Rezension zu Les Huguenots von 1837 feststellen. 418 Bereits 1851 vermutete der Musiker und Musikjournalist August Friedrich Riccius (1819– 1886) hinter dem Pseudonym K. Freigedank den Komponisten Richard Wagner. Vgl. Fischer, Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘, 31.
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scheinbaren Beweisführung. In diesem Sinn lässt sich die Annahme von überzeitlichen jüdischen Charakteristika in der „äußeren Erscheinung“ und der „rein physisch“ begründeten jüdischen Sprech- und Singweise mit einer abschließenden Aufforderung „Aufhören Jude zu sein“ weder vereinbaren noch textimmanent auflösen. Die zentrale und für das Musikschrifttum neue These, dass sich die jahrhundertlange Unterdrückung der Juden nun mit den Emanzipations- und Akkulturationsbestrebungen in eine ‚jüdische‘ Herrschaft verwandelt habe, erschien als Hauptargument des politischen Antisemitismus der 1870er Jahre. Dabei spielte sowohl die Wiederveröffentlichung des Artikels 1869 als eigenständige Broschüre als auch ein anwachsendes Schrifttum zum expliziten Thema ‚Judentum und Musik‘ eine bedeutende Rolle in der völkischkonservativen Publizistik und ihrer Suche nach historischen Vorläufern.419
3.4 Die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts: Kontinuitäten und Akzent-Verschiebungen Die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts Neben Richard Wagner, der seinen Aufsatz Das Judenthum in der Musik anonym publizierte, nahm ein weiterer Komponist Mitte des 19. Jahrhunderts zu dem Komplex ‚Judentum und Musik‘ Stellung. In den 1850er Jahren entstand die Originalfassung von Les Bohémiens et leur musique en Hongari von Franz Liszt,420 die 1861 in deutscher Sprache unter dem Titel Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn421 erschien. Als eine der ersten Abhandlungen über die Musik der ungarischen „Zigeuner“ gilt das Buch bis heute als materialreiches, wenn auch romantisch verklärtes Zeitzeugnis, während das dortige 48 Seiten umfassende Kapitel Die Israeliten nahezu vergessen scheint. Zeitlich zwischen der Erstveröffentlichung des WagnerArtikels und ihrer erweiterten Republikation als eigenständige Broschüre 1869 stehend, finden sich bei Franz Liszt ähnliche Stereotype und Stigmata über das angebliche jüdische Unvermögen im kreativ-künstlerischen Bereich wie sie Richard Wagner neun Jahre zuvor darlegte.422 419 Besonders nach 1900 konnten sich immer mehr völkische und rassistische Autoren auf Wagners Ideen berufen und ihn – begünstigt durch seine zentrale Stellung in der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts – als Teil der antisemitischen Bewegung reklamieren. 420 Paris 1859. Ob Franz Liszt tatsächlich der Autor dieser Schrift ist oder ob und in welchem Maße die Fürstin Carolyne von Sayn-Wittgenstein wie bei anderen seiner Veröffentlichungen der Weimarer Zeit als Urheberin zu gelten hat, ist für die vorliegende Untersuchung unerheblich, da die Schrift unter seinem Namen rezipiert wurde. 421 Deutsch von Peter Cornelius, Pest 1861, nachfolgend zit. nach Band 6 der Gesammelten Schriften, hg. von Lina Ramann, 1883. 422 Dementsprechend fand sich in Theodor Fritsch’ anti-judaistischem Antisemiten-Katechismus von 1893 (OA: 1887) das Kapitel Aussprüche berühmter Männer über die Juden, das neben
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In seiner Darstellung stellte Franz Liszt „Israeliten“ und „Zigeunern“ nebeneinander, da beide „ohne Vaterland, ohne Zufluchtsstätte, ohne Gastfreundschaft in Europa“423 ursprünglich ‚asiatischer‘ Herkunft seien424 und in Europa nur einen vorübergehenden Aufenthaltsort hätten. Liszts Vorstellungen werden entscheidend von dieser Zuschreibung des ‚vaterlandslosen‘ Volkes geprägt. Die Jahrhunderte andauernde Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung durch die christliche Mehrheitsgesellschaft anprangernd, fand er hierin allerdings gleichzeitig eine zentrale Ursache für die, ‚den Juden‘ zugeschriebenen Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften. In der christlich-abendländischen Judenfeindschaft sei der Grund zu sehen, warum die Juden einen Hass und eine Feindseligkeit gegen die nichtjüdische Umwelt entwickelt hätten: Es ist wahr – die Israeliten wurden bis zum XIX. Jahrhundert wie eine vom Fluch getroffene Nation behandelt: Schmach, Kränkung, Beleidigung, Schimpf ergoß man stromweise über sie. Aber sie zahlten die Schmach heim mit Haß, die Kränkung mit Groll, die Beleidigung mit Bösem, den Schimpf mit Rache.425 Je mehr sie verspottet wurden [...] desto mehr schlürften sie den Sarkasmus ein, um an ihm ihr Recht des Hasses und der Ausbeutung gegen den Mächtigeren zu mehren und zu stärken.426
Als religiöse Gemeinschaft mit starker Binnenintegration, die in Liszts Argumentation zunächst ambivalent als ‚starres und verstocktes‘ aber auch bewundernswertes Festhalten an den religiös-kulturellen Traditionen dargestellt wurde,427 hätten die Juden als auserwähltes Volk Gottes gegenüber Richard Wagner auch Auszüge aus der hier betrachteten Abhandlung Liszts enthielt (98–100). Noch in der weiterführenden Publikation des Handbuchs der Judenfrage (261907, 112–114 und 27 1910, 57f) wurde dieser Verweis auf ‚historische Autoritäten‘ beibehalten, der jedoch aus den Ausgaben nach 1933 zugunsten extensiverer jüdischer Namensnennungen verschwand. Vgl. dazu Kap. 6.1 Die Juden in der Musik: Nachschlagewerke und schwarze Listen. 423 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 19. 424 Die asiatische Provenienz wird bei den „Zigeunern“ etwa auf Seite 190 erklärt. Unter den „Israeliten“ galten für Liszt nur die Werke des Wiener Kantors Salomon Sulzer als Ausdruck „asiatischen Genie[s]“ (51). Ähnlich dem Denkmuster Wagners, der die Synagogalmusik als einzige Grundlage für ‚volkstümliche Motive‘ in einer ‚jüdischen‘ Kunst sah, erschien auch Franz Liszt das begeistert geschilderte Erlebnis in der Wiener Synagoge als Ausdruck dessen, „was aus einer judäischen Kunst werden könne“ (51). 425 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 20. 426 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 23. 427 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 21f: „Voll blinden Gehorsams gegen absolute und bewegungslose Gebote, aber von so überraschendem Gefüge, solchem Alter [...] blieben die Israeliten, trotz der beispiellosen Lüsternheit ihrer verschiedenen Leidenschaften, ein Vorbild tausendfacher Uneigennützigkeit, trotz der Beweglichkeit ihrer aktiven Natur, ein unbewegliches Monument, das von den Stürmen und Gewittern eines ungereimten Fanatismus mit Erbitterung gepeitscht, von den bitteren Wogen populären Abscheus geschlagen, von dem verzehrenden Blitze königlicher Habgier oft ergriffen wurde [...] ohne daß dieselben ihre wunderbare Lebensfähigkeit geschwächt [...] hätten!“
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„ihren Feinden, d.i. den Feinden Gottes“428 das Geld, den Handel und die Industrie als Herrschafts- und Racheinstrument für ihre durch Judenfeindschaft geprägte Geschichte erkannt: Die Juden durchschauten schnell, daß, um die Lebenskräfte einer autonomen Gesellschaft zu absorbiren, es genüge, sich mit den tausend Fasern der Parasitengewächse an sie zu hängen. Mit dem Genie der Leidenschaft gaben sie die Ansprüche auf Kraft auf und bewaffneten sich mit Schwäche, um auf dem beweglichen Boden des Handels und der Industrie Fuß fassen zu können. [...] denn indem sie immer darnach streben das Geld zu monopolisiren, enden sie mit dem wucherischen Ansichreißen der Herrschaft.429
Trotz der Emanzipations- und Akkulturationsprozesse des 19. Jahrhunderts erhalte sich eine Art ‚geheimes Judentum‘,430 das neben dem internationalen Kapital auch die Presse als geistiges Macht- und Infiltrationsinstrument in ihren Herrschaftsbereich gebracht habe: Gleich einem Heer von Heuschrecken überfielen sie die Presse, bemächtigten sich der Tages-Publikationen, ergriffen die Direktion der Ideen und schienen den Vertrieb der öffentlichen Meinung gepachtet zu haben. Die Christen bemerkten endlich, daß sie in ihrem eignen Lande von zwei Hauptquellen des Reichtums und der Macht – von dem Geldhandel der Bank, von dem Gedankenhandel der Presse – verdrängt worden waren, und zwar von denen, die sich französische, deutsche, englische ec. Bürger nannten, immer aber Israeliten geblieben waren!431
Neben diesen, dem früh-antisemitischen Repertoire entsprechenden allgemeinen anti-modernistischen Anklagen, die den größten Teil des Kapitels Die Israeliten einnehmen, äußerte sich Liszt gleichfalls zum zeitgenössischen Musikleben, in dem er den ‚jüdischen‘ Herrschaftsanspruch432 auch hier als „Invasion in die Sphären der Tonkunst“433 verwirklicht sah: 428 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 22. 429 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 24f. Der abstrakten Sphäre des Geldes als ‚raffender‘ Profit ohne eigentliche Arbeit aber mit dem „Kalkül der Verdoppelung“ und den „Treulosigkeiten des Gewinnes“ (32) wird ein mystifizierter Begriff des „Bodens“ gegenübergestellt als Symbol für die konstruktive, ‚schaffende‘ Arbeit (27): „Der Erdboden, dieser natürliche Reichthum der Menschheit, diese direkte Gottesgabe, bereitet dem ihm kultivirenden und liebenden Menschen die substanziellste Nahrung für sein Blut, die belebendsten Getränke für seine kräftigen und müden Glieder, gesunde Luft für seine Lungen, [...] das süßeste Dasein seinem Empfinden, das glücklichste Dach seiner Familie: aber den raschen Gewinn der Industrie, den enormen Profit des Handels – den giebt sie ihm nicht. Die Juden, die immer gewinnen und profitiren wollen, haben sich nirgends mit dem, was der Ackerbau bietet, begnügt.“ 430 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 38: „Selbst da, wo sich die Juden europäisiren, in Paris oder in München, in England oder in Italien, ist es so. Den Christen ist es nicht gelungen, diese inkorruptible Rasse zu korrumpiren, die immer einen Winkel behütet, in dem sie sich in ihrer ganzen Integrität erhält“. 431 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 38f. 432 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 21: „Überall, wo sie sich auch niederließen, begnügten sie sich nicht damit, ihre Nahrung aus dem Boden und auf Kosten der dürfti-
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Auch die Kunst haben die Juden gepflegt, bis sie das Gebiet derselben bis auf den letzten Punkt besetzten.434
Gleichzeitig setzte Liszt das Stigma einer spezifisch ‚jüdischen‘ NichtOriginalität voraus, das er mit den obligatorischen Begriffspaaren des schaffenden „Genie>s@“ und des nachahmenden „Talent>s@“ zu fassen suchte und durch die mit Schumann und Wagner eingeführten Beispiele Giacomo Meyerbeer und Felix Mendelssohn Bartholdy illustrierte: Das Genie singt Kraft einer persönlichen Begeisterung in Formen, die sie ihm diktirt, ihm lehrt. Das Talent bearbeitet das, was Andere vor ihm gesagt haben. Das Talent kann außergewöhnlich sein; Erfinder ist es niemals. Zwischen Schaffen und Neuerungen machen liegt der Unterschied zwischen dem Genie und dem Talent: zwischen Bach und Mendelssohn, zwischen Beethoven und Meyerbeer.435
Dabei fungierte der Vorwurf gegen die vermeintlich selbstgewählte, „halsstarrige[...]“436 Abgeschiedenheit der jüdischen „Religion des Schweigens“437 als das „Exemplar einer vorsündfluthlichen versteinerten Moral“438 ebenso als Begründung wie die These, dass die Juden in der Diaspora ohne „den gesegneten Boden“439 Jerusalems zu einer originären, hier an den Nationalstaat gebundenen Kunst nicht fähig seien.440 Innerhalb dieses Argumentationsschemas findet sich die jüdische Assimilation als spezifische ‚Verstellung‘ innerhalb der christlichen Mehrheitsgesellschaft musikalisch erneut an die gängige Zuschreibung einer ausschließlich ‚oberflächlich-formalen‘ Nachahmung geknüpft: Die Israeliten aber haben niemals neue Formen erfunden: denn sie haben niemals ihre eigenen Gefühle gesungen.441 gen Bewohner zu ziehen; schien es doch, als athmeten sie nur darum ihre Luft, [...] um die Wissenschaft einer fatalen Oberherrschaft über diejenigen zu erringen, welche sie innerhalb ihrer Grenzen aufgenommen hatten.“ 433 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 44. 434 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 39. 435 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 40. Allerdings forderte Liszt noch 1854 in einer Rezension zu Meyerbeers Robert, le diable die Entwicklung der französischen ‚Grand opéra‘ im gattungsgeschichtlichen Kontext zu sehen und gestand Meyerbeer hier den Status eines „musikalischen Genie[s]“ zu (Scribe’s und Meyerbeer’s ‚Robert der Teufel‘, 60): „Dieser Autor [Scribe] konnte nur von einem musikalischen Genie vollständig erfaßt werden, welches im Erforschen der akustischen Effekte, in der Instrumentation, in der Harmonie, in der Anwendung und Kombination von Massen- und Einzelwirkung so erfahren war, wie Meyerbeer.“ 436 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 44. 437 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 40. 438 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 21. 439 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 41. 440 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 42: „Sie haben weder eine Architektur noch eine Malerei noch eine Musik noch Gesänge noch Gedichte hervorgebracht, welche die innerste Gefühlsart dieser Menschen [...] dargelegt hätte und als national betrachtet werden könnte.“ 441 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 40.
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Als die Juden zur Kunst griffen, geschah es nicht, um ihr eigenes Selbst erklingen zu lassen, auch nicht, um für sich selbst zu singen – sie wollten nach Art der Christen geschickt werden, das heißt: sie wollten in den Künsten [...] noch geschickter als sie werden.442 Sich auf intelligentes Kopiren beschränkend wollten sie das Beste, das wir besitzen, kopiren und wußten es zu erkennen.443
Obgleich Franz Liszts Schlüsselbegriffe „intelligentes“ ‚Verstellen‘ und ‚Kopieren‘ die zeittypischen Anklagen gegen das emanzipations- und akkulturationswillige deutsche Judentum um die Mitte des 19. Jahrhunderts repetierten,444 fällt in seiner Darstellung vor allem eine argumentative Umkehrung der historischen Situation auf. Die Diskriminierung, Verfolgung und Absonderung durch die christliche Mehrheitsgesellschaft umdeutend unterstellte er den Juden eine gezielte, durch ‚Hass‘ und ‚Rache‘ geprägte Entscheidung, sich der nicht-jüdischen Umwelt zu verschließen:445 Diese, die eingefleischten Juden haben die Abtödtung und Entbehrung mit einer wahren Wuth der Beharrlichkeit geübt. Sie haben sich in Koth gesteckt, unreine Orte bewohnt, die Nachbarschaft der Hochgerichte ertragen, ja in Löchern gelebt! Das schmutzige Pflaster ihrer Straßen blieb ungereinigt. Eng in ihrem Wohnungen zusammengedrängt athmeten sie lieber ihre eigenen Ausdünstungen ein [...]. Diese eingefleischten Juden hielten das Wohlsein in der Verbannung für ehrlos: sie fanden es ihrer hohen Abkunft unwürdig, an den Genüssen derer theilzunehmen, die sie verachteten.446
442 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 42. 443 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 44. 444 Die spezifisch ‚jüdische Klugheit‘ erscheint als Schlagwort vor allem in der deutschen Meyerbeer-Rezeption. 445 Derlei Verdrehung der historischen Gegebenheiten zugunsten der jeweiligen Argumentation findet sich schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts innerhalb der Musikliteratur zur Synagogalmusik und wurde ebenfalls von dem Wagner-Vorläufer Heinrich Laube in seiner Einleitung zur Tragödie Struensee als Argumentationsmuster verwendet. 446 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 31. Die Projektionen über eine ‚jüdische Aggression‘ gegen die nicht-jüdische Umwelt fanden ihren Ausdruck auch in seiner Herleitung des Begriffs ‚Ghetto‘, ein Wort mit der Bedeutung ‚abgetrenntes Wohnviertel, Judenviertel‘, das im 17. Jahrhundert aus dem venezianischen Dialekt entstand, da Venedig die erste Stadt war, die ein abgetrenntes, jüdisches Wohnareal hatte (vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 321). Bei Liszt heißt es dagegen (35, Fußnote): „Dieses Wort [...] hat seinen etymologischen Ursprung in dem hebräischen Wort für Scheidung; ghet nennt man den Brief, in welchem ein Gatte seiner Gattin ihre Verstoßung erklärt. Es unterliegt somit keinem Zweifel, daß die Juden es waren, welche ihren Straßen diesen Namen gaben, und daß sie mit demselben den geheimen Sinn einer ewigen Trennung zwischen sich und den Götzendienern verbanden, ja daß sie ihre Wohnungen theilweise darum ein abschreckendes Äußeres annehmen ließen, um die Christen – da sie es nicht durch Gewalt konnten – durch Abscheu fern zu halten.“ Obgleich das Wort ‚gitin‘ (pl. von ‚get‘) tatsächlich der Titel eines Talmudtraktats ist, das die Gesetze der Ehescheidung behandelt, erscheint die Herleitung Liszts vom heutigen Stand der Forschung nicht plausibel.
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Dementsprechend gelte das ‚jüdische‘ Streben nicht einer ‚echten‘ Teilnahme oder der ‚schöpferischen Originalität‘ wie sie sich etwa anhand Beethovens in einer „unergründliche[n] Tiefe nördlich germanischen Gefühls“447 offenbare sondern der ‚kombinatorisch-nachahmenden Täuschung‘: Sie versuchen nicht einmal [...], unsere Meister nicht zu kopiren, andere Empfindungen auszudrücken, andere Saiten erklingen zu lassen als die unsrigen. Meyerbeer fiel es nicht ein, sich von der italiänischen Schule, welche er zuerst nachahmte, oder von der deutschen, welche er später studirte, loszusagen: er dachte nur sie zu verbinden [...]. Es war dieses eine neue Kombination, die ihm, weil noch nicht dagewesen, eine Popularität eintrug, die bis dahin ohne Beispiel war; aber – es war nur eine Kombination. [...] Mendelssohn machte es nicht anders als Händel, wenngleich er diesen durch neue, den Gewohnheiten unseres Auditoriums und den Errungenschaften unserer Instrumentation angemessenere Mittel verdunkelte. Ihre Nationalgenossen [...] thaten alle wie diese beiden. Die Juden erlauben sich nur die Elemente geschickt zu ordnen, zu kombiniren, zu verbinden, die wir schaffen. Werke von wahrhaft origineller Erfindung [...] werden sie erst dann selbst hervorzubringen vermögen, wenn sie unser Ideal vollständig in sich aufgenommen [...] haben werden [...].448
In der programmatischen Gegenüberstellung zwischen einem den Leser umfassenden ‚Wir‘ der nationalen Gemeinschaft und der textimmanent zunehmenden Verwendung einer prototypischen Bezeichnung ‚der Israelit‘ bzw. ‚der Jude‘449 wie auch in Liszts bildreicher Sprache mit Schädlingsund Krankheitsmetaphern wie „Parasitengewächse“,450 gleich „einem Heer von Heuschrecken“451 oder dem „Giftgeschmack“ des „Saft ihres Geistes“452 erinnert der Text in den sprachlich-rhetorischen Mitteln an den Aufsatz Richard Wagners, wenngleich der polemische Gehalt des Kapitels Die Israeliten aufgrund einiger Ambivalenzen in der Darstellung weniger offen zutage tritt als im Artikel Das Judenthum in der Musik.453 Dennoch nutzen beide Komponisten das vermeintliche Thema ‚Judentum und Musik‘ um ihre allgemeinen, durch früh-antisemitische Akzente geprägten Vorstellungen über ‚die Juden‘ zu verbreiten. In ihren Kernaussagen bleiben beide 447 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 47. 448 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 47f. 449 Verschiedene Vokabeln werden durch Liszt verwendet: „die Israeliten“ (20), „die Juden“ (24), „die Hebräer“ (25) sowie im Textverlauf immer häufiger die Singularformen der „Judaismus“ (36), „der Israelite“ (62) und „der Jude“ (63). 450 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 24. 451 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 38. 452 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 35. 453 Positiv akzentuiert Liszt etwa ein ‚jüdisches‘ Mäzenatentum als nutzbringende Geldwirtschaft für das Musikleben (44f): „Wer könnte beweisen, daß ohne sie die Musik eine für unsere Gesellschaft eben so gebieterische Nothwendigkeit geworden wäre, als sie es jetzt ist? [...] Hätte sich hier die kommercielle Ader der Juden nicht hineingemischt: würde der Respekt und Enthusiasmus für die Kunst unter uns so verbreitet gewesen sein, daß, falls sie nicht gewesen wären, unsere Mäcene sie ersetzt hätten?“
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Quellentexte gleich, wie dies schon 1931 Alfred Einstein in seiner Betrachtung der Thesen Liszts feststellte: [...] sie unterscheiden sich wohl in der konzilianteren Formulierung, aber im wesentlichen Inhalt nicht viel von denen Richard Wagners [...].454
Basierend auf einer pessimistischen Sicht des zeitgenössischen Musiklebens behaupteten beide Texte in ihren zentralen Aussagen eine wesenhafte ‚jüdische Unfruchtbarkeit‘ im musikalischen Bereich, die sie in den Werken prominenter Künstler jüdischer Herkunft verwirklicht sahen.455 Der jüdische Emanzipationsprozess gilt Wagner wie Liszt als Angriff mit dem Ziel, die christlich-deutsche Mehrheitsgesellschaft durch offene kapitalistische wie geheime verschwörerische Mittel zu beherrschen. Als rein ‚formale‘ Anpassung wird die jüdische Akkulturation und Assimilation entwertet, die Liszt als ‚äußere‘ Kombination, Richard Wagner als ‚oberflächliche‘ Nachahmung auf das musikalische Gebiet übertrug.456 Signifikant erscheint bei Franz Liszt besonders der Begriff der jüdischen „Rasse“, den Richard Wagner in seinem Aufsatz von 1850 vermied, der jedoch implizit seiner Polemik zugrunde lag. Als einer der ersten in der Musikliteratur schreibt Liszt mit eindeutigen Formulierungen die „organische Kraft dieser seltsamen Rasse“457 als „Triebfedern, die aus seinem Volke das macht, was es ist“458 fest und illustriert die integralen „Symptome ihres unauslöschlichen Charakters“459 mit den Zuschreibungen „Intelligenz“, „Kleinmuth“, „Habgier“, „Gewalt“,460 „Scharfsinn für List und Trug“461 oder „kriechendes Wesen“:462 454 Alfred Einstein, Franz Liszts ‚Judentum in der Musik‘, 274. Anders sieht dies Jens Malte Fischer in seiner Studie Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘ (88), der in Liszts Text einen „hindurchziehenden Grundton des Mitgefühls mit einem heimatlosen Volk“ ausmacht und diesen als „grundverschieden“ zur Polemik Wagners einstuft. 455 Während Wagners Lösungsansatz aus dem konstatierten Verfall der zeitgenössischen Musik in der unkonkreten Phrase seines letzten Satzes des Judenthum-Aufsatzes diffus bleibt, fordert Liszt mit drastischen Bildern, dass Palästina als jüdische Heimstätte gerade von den Nicht-Juden erkämpft werden müsse (64): „Weil es unnatürlich ist, daß ein Volk auf Kosten eines andern, einem Parasiten gleich, tief in dessen innerstem Eingeweide lebt, will die Bestimmung, daß es die Christen sind, welche diese fremde Rasse aus ihrem Schoß weisen, den sie zerstört, um sie [...] in ihr Vaterland zurückzuführen – mit ihren vielleicht noch einmal blutbefleckten Händen! – Davor sei Gott!“ 456 Die Vermutung, dass Liszts Ausführungen durch Wagners Judenthum-Artikel angeregt worden sind, ließe sich aus biographischer Sicht durch die Tatsache ergänzen, dass Wagner nahezu ein halbes Jahr später in einem Brief an Franz Liszt vom 18.4.1851 über seine Motivation zur Veröffentlichung Auskunft gab. Vgl. Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt (1887), 1. Bd.: Vom Jahr 1841–1853, 122–126. 457 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 22. 458 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 34. 459 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 36. 460 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 23. 461 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 39. 462 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 50.
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Der Kern dieser Nation hat sich nicht um ein Atom geändert [...]. Die wahren Israeliten bleiben, was sie waren. [...] allen Abschwörungen und scheinbaren Verbindungen zum Trotz bleiben sie ihrem wahren Charakter treu: düster, feindselig und anziehend, wie der stumme und bannende Blick der fabelhaften Schlange. Auf diese Weise durchschritt der Judaismus die Bedrückungen und Qualen, mit denen das Mittelalter ihn belastete; auf diese Weise durchschreitet er die Wohlthaten, mit denen die modernen Zeiten ihn überhäuften!463
Neben diesen Projektionen von konstant-überzeitlichen, homogenen „Nationalgefühle[n]“464 findet auch der biologistische Begriff der „semitischen [...] Physiognomie“465 und die direkt an Wagner erinnernde Zuschreibung eines „gebieterischen, wenn auch unbewußten Instinkte[s]“466 bei Liszt Verwendung. Dennoch befand sich Liszt mit seinem Abschnitt über Die Israeliten augenscheinlich an der Schnittstelle zwischen biologistischem Denken467 und der Wahrnehmung der Juden als Religionsgemeinschaft. Als Synonym für die Vokabeln „jüdische Nation“468 und „Volk“469 erscheint bei Liszt ein diffuser ‚Rasse‘-Begriff, der zugleich historisch geprägte Eigenschaften beinhaltet als auch in der Definition des Judentums als traditionsgebundene, veraltete Religion verankert ist.470 Mit der Einführung eines durch biologistische Akzente geprägten Begriffs der ‚Rasse‘ und dem Vergleich zwischen ‚den Zigeunern‘ und ‚den Juden‘ aufgrund ihres „asiatischen“ Ursprungs mag sich Franz Liszt an virulenten Gedanken über die Musikalität verschiedener europäischer Nationen orientiert haben, die sich bereits in Einzelfällen in der Musikpublizistik der ersten Jahrhunderthälfte finden lassen. Neben den Spekulationen über die Bedeutung der geographischen und klimatischen Umgebung für 463 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 36. 464 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 34. 465 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 51. An anderer Stelle (31) wurde den Juden vorgeworfen, dass sie „ihre Rasse mißwachsen lassen“. 466 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 34. 467 Der Musikhistoriker Arthur Holde gibt in seiner Studie Jews in music an, dass Liszt stark von einer der ersten Systematiken der ‚Rassenkunde‘, dem Essai sur l’inégalité des races humaines (1853–55) von Joseph Arthur Gobineau beeindruckt war: „To Gobineau’s biological approach to the race theory Liszt adds religious, philosophical, historical, cultural, ethical and ethnological embellishments. Deviating at times from the pseudo-scientific line, he assails the financial genius of the Jews which supposedly earned them ‚billions‘.“ (Holde, The Ideological Conflict: Antagonism against Jewish music and musicians, in: ders., Jews in Music, 298). Die deutsche GobineauRezeption wurde maßgeblich durch Wagners Bayreuther Kreis beeinflusst. Vgl. Kap. 4.2 Zur Genese des Begriffs der ‚Rasse‘ in der Musikliteratur. 468 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 20 sowie 34. 469 Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn (1861), 56. 470 Dies zeigt sich sowohl in der Verwendung religiös motivierter, judenfeindlicher Anklagen und Bilder als auch in der dichotomen Gegenüberstellung von ‚Juden‘ und ‚Christen‘, die den gesamten Text durchzieht. Anders als Wagner, der eine explizite Säkularisierung zugunsten der Nationalisierung forderte, fehlt bei Liszt der deutsch-nationale Unterton.
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die Musikanlage der Orientalen471 fand schon in den 1840er Jahren der Begriff des ‚Blutes‘ Eingang in das Musikschrifttum,472 der in seiner Grundidee weit über die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gängigen nationalen Zuschreibungsmuster hinausging. Nicht dem späteren Gedanken einer ‚Reinheit des Blutes‘ innerhalb der deutsch-nationalen Gemeinschaft verpflichtet, lag dem Artikel Ueber die Entwicklung des musikalischen Sinns bei den verschiedenen Völkern Europa’s von F. Helms473 die These zugrunde, dass sich eine ‚Vermischung des Blutes‘ positiv auf die musikalischen Fähigkeiten der jeweiligen europäischen „Haupt-Volksstämme[...]“474 auswirke. Neben einer Betrachtung der Basken, Spanier, Portugiesen und Italienern standen vor allem die ‚Slawen‘ und die ‚Germanen‘ im Vordergrund des Artikels. Sowohl den „Völker[n] aus unvermischtem germanischem Stamme“475 als auch den „reinen Slaven“476 wurde eine spezifische Begabung zur Musik abgesprochen, in den lokalen Grenzregionen hingegen sah Helms eine besondere „Anlage zu Musik, im Schaffen und im Ausführen“,477 die er durch physiognomische Verweise zu untermauern versuchte.478
471 Vgl. Kap. 3.3 Richard Wagner, Das Judenthum in der Musik (1850). 472 Die Vokabel ‚Blut‘ benutzte auch Franz Liszt (z.Bsp. 31f, 36, 53, 57). 473 In: Hamburger Literarische und Kritische Blätter (Mai 1843). Über den Verfasser ließen sich keinerlei biographische Daten ermitteln. 474 Helms, Ueber die Entwicklung des musikalischen Sinns (Mai 1843), 405. 475 Helms, Ueber die Entwicklung des musikalischen Sinns (Mai 1843), 406f: „Haben die Völker aus unvermischtem germanischen Stamme eine vorzügliche Anlage für die Musik? Wenn man gerecht seyn will, und genau die Abstammung zu unterscheiden versteht, so muß man diese Frage verneinen. [...] So hatten also unsere Vorfahren weder im eigentlichen Deutschland, noch die Nord-Germanen in Dänemark und Skandinavien, eben viel Musik und viel Gesang; es zeigte sich bei ihnen weder eine besondere Lust, noch eine besondere Anlage dazu.“ 476 Helms, Ueber die Entwicklung des musikalischen Sinns (Mai 1843), 406. 477 Helms, Ueber die Entwicklung des musikalischen Sinns (Mai 1843), 407: „Wenn man aber nun jene Gegenden Deutschlands betrachtet, wo die Slaven und Deutschen zusammengestoßen sind, und etwa zu gleichen Theilen des Bluts sich innig vermischt haben – die Gegenden von Hamburg an die Elbe hinauf, an ihrem rechten und ihrem linken Ufer, vorzüglich Thüringen, bis tief in Deutsch-Böhmen hinein, und dann wieder an der Donau bis ins Salzburgische, ins Tirol, wo die alten Vindelikier (slavische Wenden) mit Deutschen sich mischten, und in allen jenen österreichischen Provinzen, wo nicht die slavische Bevölkerung ganz überwiegt – welch’ eine unglaubliche, man möchte sagen riesenhohe Entwickelung des musikalischen Sinnes, d.h. nicht nur der Lust, sondern auch der Anlage zu Musik, im Schaffen und im Ausführen.“ 478 Helms, Ueber die Entwicklung des musikalischen Sinns (Mai 1843), 407: „Wer also an der Hand der Geschichte, der Sprachkunde und den Körperbau, besonders die Schädelbildung der Einwohner betrachtend, erkennt, wo auf slavischem Stamme das edlere germanische Reis gepfropft ist, der wird in diese Behauptung einstimmen, obgleich ihm unerklärlich bleibt, wie gerade durch die Vermischung der Germanen und Slaven eben der Sinn für Musik besonders entwickelt ist, so wie in den Abkömmlingen des reinen deutschen Bluts mehr jener Tiefsinn bewahrt liegt, der in den Erfindungen sich offenbart, wie ja bekanntlich alle großen Erfindungen, welche das Leben der Völker umgestaltet haben, von Deutschen gemacht sind.“
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Wie sechzehn Jahre später bei Liszt findet sich in diesem Aufsatz sowohl eine imaginäre Verbindung zwischen ‚den Juden‘ und ‚den Zigeunern‘ aufgrund einer gemeinsamen ‚orientalisch-asiatischen‘ Herkunft als auch der implizite Vorwurf einer innerjüdischen Abgeschlossenheit in der Diaspora, die zur angeblichen Unfähigkeit im musikalischen Bereich führe. Mit den im 19. Jahrhundert gängigen Urteilen über den Synagogalgesang wurden die musikalischen Fähigkeiten und Möglichkeiten der Juden bei Helms wie später bei Liszt unterhalb derer der ‚Zigeuner‘ angesiedelt: Bei den Juden, diesen den Arabern stammverwandten, unter uns in der Zerstreuung lebenden ägyptischen Asiaten, hat sich theilweise eine große Geschicklichkeit, auch im Componiren, entwickelt – aber bei all dem, und obgleich Mirjam die Pauke schlug, und David die Harfe oder sonst etwas spielte, hat das ganze Volk im Ganzen nicht vielen musikalischen Sinn. Die Juden singen nicht; die meisten Männer dieses Volks haben auch eine häßliche, rauhe, krächzende Stimme. In der Synagoge wird, trotz der uralten Chöre im Tempel, nur geplappert und geplärrt. Ein anderer asiatischer Volksstamm aber, die Zigeuner, hat vielleicht unter allen Völkern die größte Lust und Anlage zur Musik, und sie haben in den südlichen Ländern Europa’s die Kunst der Musik, neben der Kunst des Vagabondirens, am höchsten ausgebildet.479
Eine angebliche Verbindung zwischen ‚Zigeunern‘ und ‚Juden‘ als ‚asiatische Volksstämme‘ ergänzte die „Kunst des Vagabondirens“, die beiden Gruppen aufgrund einer fehlenden Nationalstaatlichkeit unterstellt wurde. Jacob Hohenemser und Frederic Ewen weisen in ihrer Studie The Jew in German Muscial Thought (1830–1880) darauf hin, dass in den 1840er und 1850er Jahren die Legende vom ‚ewigen Juden‘ eine große Beliebtheit erlangte.480 Auf dieses Motiv des heimatlosen, ewig wandernden Juden, 479 Helms, Ueber die Entwicklung des musikalischen Sinns (Mai 1843), 405. Widerspruch gegen Helms Gedanken aber auch ihre weitere Verbreitung regte die Reaktion von Ign. [Ignatz] Lewinsky (geb. 1815) an (Der Musiksinn der Juden und der Ungarn, in: Allgemeine Wiener Musik-Zeitung [Okt. 1843], 534f): „Über dieses Volk [die Juden] ist nun der Verfasser in einem gelinden Irrthum. Das Volk selbst, so weit ich dieses kennen lernte, hat außerordentlich viel Musiksinn. [...] Der Verfasser des angezogenen Aufsatzes sagt: ‚Die Juden singen nicht.‘ Er durchgehe die Reihen der bei den Tempeln und beim Theater angestellten jüdischen Sänger, er durchmustere die Orchester größerer Städte, ob er wohl eines treffen wird, in welchem sich nicht Juden befinden, der vielen Virtuosen und Componisten dieses Volkes nicht zu gedenken, von denen wir nur einige hersetzen wollen (Es versteht sich wohl von selbst, daß die Religion, zu welcher sich etwa ein oder das andere Individuum jetzt bekennt, da nicht in Anschlag kommen könne, wo nur von der Abstammung die Rede ist.), als: Moscheles, Meyerbeer, [...] Henry Herz, Halevy, Mendelssohn-Bartholdy, [...]. Auch ist es gänzlich unwahr, das die ‚meisten Männer dieses Volkes eine häßliche, raue, krächzende Stimme‘ haben, und nur der in Deutschland fast allgemein gesprochene widerliche Jargon mag den Hrn. Verfasser zu obiger Behauptung verleitet haben.“ 480 Hohenemser/Ewen, 30: „It is in this period, too, that the legend of the ‚Wandering Jew‘, already very popular, is given its capping climax with the publication of Eugen Sue’s celebrated novel, in 1845.“ Der Roman Le juif errant des französischen Schriftstellers Eugène Sue (1804– 1857) erlangte in Deutschland vor allem große Popularität, weil er wenige Tage nach seiner
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dem die Volkslegende Kurtze Beschreibung und Erzehlung von einem Juden mit Namen Ahasverus aus dem beginnenden 17. Jahrhundert zugrunde lag,481 bezog sich auch Richard Wagner in seinem letzten Satz des Artikels Das Judenthum in der Musik. Ebenso zeigt sich in Helms Formulierung des „geplappert[en]“ und „geplärrt[en]“ Lauteindrucks des Synagogalgesangs, wenngleich sie – wie gezeigt – zum judenfeindlichen Repertoire des 18. und 19. Jahrhunderts gehörte, eine charakteristische Ähnlichkeit mit dem Vokabular des Wagner-Artikels von 1850.482 Die Neupublikation des besagten Wagner-Artikels als eigenständige Broschüre 1869483 provozierte erneut die Auseinandersetzung über das vermeintliche Thema ‚Judentum und Musik‘ und löste eine Vielzahl von Reaktionen aus. Unter eigenem Namen und versehen mit einer kurzen Einleitung sowie einem Nachwort in Form eines offenen Briefs an Marie Muchanoff,484 die beide als Begründung für die erneute Veröffentlichung dienen sollten, erweiterte Richard Wagner seine Anklagen an das zeitgenössische Judentum. Jüngste textkritische Forschungen über Das Judenthum in der Musik haben verschiedene signifikante Unterschiede der beiden Fassungen herausgearbeitet. So geht Jens Malte Fischer in seiner Studie Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus von einem „Schritt von den antijüdischen französischen Erstveröffentlichung 1844 als erster Fortsetzungsroman in einer deutschen Tageszeitung, der Leipziger Allgemeinen Zeitung erschien. Liszt nutzte ebenfalls das populäre Bild des ‚ewigen Juden‘ in seiner Rezension zu Meyerbeers Oper Robert le diable, die er aufgrund der jeweiligen Libretti von Scribe in Bezug setzte zu einer anderen ‚Grand opéra‘ eines Pariser Komponisten jüdischer Herkunft, der Oper La Juive (1835) von Jacques François Fromental Elias Halévy (Liszt, Scribe’s und Meyerbeer’s ‚Robert der Teufel‘ 1854, 53f): „Auf die Phantomtänze im ‚Robert‘ folgte das Pferdegewimmel der ‚Jüdin‘; [...]. Seitdem scheinen die fabulösen Wunder des ewigen Juden und die wunderbaren Fabeln des verlorenen Sohnes die Phantasie der Dekorateure fast erschöpft zu haben.“ Neben dem inhaltlichen Bezug auf die jeweiligen Opern scheinen die doppeldeutigen Etikettierungen zudem sowohl auf die jüdische Herkunft Halévys als auch auf den für Deutschland ‚verlorenen Sohn‘ Meyerbeer anzuspielen. 481 ‚Ahasver‘, das hebräische Wort für ‚Fürst‘ bezeichnete ursprünglich den Perserkönig Xerxes, wurde aber seit dem 17. Jahrhundert als typisch ‚jüdisch klingender‘ Name eingestuft. Vgl. Avram Andrei Băleanu, Fünftes Bild: Der ‚ewige Jude‘. Kurze Geschichte der Manipulation eines Mythos, in: Schoeps/Schlör, Antisemitismus, 96–102. 482 Richard Wagner entstellte den Synagogalgesang als „jenes sinn- und geistverwirrende[...] Gegurgel[...], Gejodel[...] und Geplapper[...]“ (Das Judenthum in der Musik [Sept. 1850], 105f). 483 Der Artikel bzw. die Fassung der Broschüre erschien drei Jahre später nochmals – allerdings ohne Vor- und Nachwort – in Wagners Gesammelten Schriften und Dichtungen (1872, Bd. 5, 85–108). Vor- und Nachwort der Broschüre finden sich unter dem Titel Aufklärungen über das Judenthum in der Musik in Band 8 der Gesammelten Schriften (1873, 299–323). 484 In einem Gespräch mit Frau Muchanoff soll diese nach dem Grund für die Herabwürdigung der Werke des Komponisten in der Presse gefragt haben. Nach Wagner war dies der Anlass für die Wiederveröffentlichung des Artikels. Zu Marie Muchanoff, geborene Gräfin Nesselrode (1822–1874), eine Freundin Richard und Cosima Wagners vgl. Fischer, Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘, 102f.
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Ressentiments in der Schrift des Jahres 1850 zur Verschwörungstheorie, zur antijüdischen Paranoia“485 der Broschüre von 1869 aus. Während sich die erste Fassung – wie skizziert – an zahlreichen musikjournalistischen Vorläufern orientiert und ausschließlich Meyerbeer und Mendelssohn Bartholdy als Komponisten zur Illustration der These eines verderblichen ‚jüdischen‘ Einflusses auf die Musik herangezogen wurden,486 erweiterte das Nachwort zur zweiten Fassung die Hetze auch gegen die unter vermeintlich jüdischer Herrschaft stehende Presse sowie die Sphäre der ausübenden Musiker. Als Beispiele für eine organisierte, ‚international-jüdische‘ Konspiration gegen Richard Wagner und seine Werke diente unter anderem die Nennung Eduard Hanslicks,487 des Herausgebers der Niederrheinischen Musik-Zeitung Ludwig Bischoff ebenso wie die Namen von musikorganisatorisch tätigen Komponisten und Instrumentalisten wie Ferdinand Hiller488 oder Josef Joachim489. 485 Fischer, Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘, 94. 486 Heinrich Heine und Ludwig Börne erscheinen in der Fassung von 1850 als Beispiele einer ‚Emanzipation vom Judentum‘. 487 Richard Wagner, Das Judentum in der Musik (1869), zit. nach Fischer, Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘, 177f: „Dies ward durch einen Wiener Juristen erreicht, welcher großer Musikfreund und Kenner der Hegelschen Dialektik war, außerdem aber durch seine, wenn auch ziemlich verdeckte, jüdische Abkunft besonders zugänglich befunden wurde. [...] Dieser schrieb nun ein Libell über das Musikalisch-Schöne, in welchem er für den allgemeinen Zweck des Musikjudentums mit außerordentlichem Geschick verfuhr. [...] Es war gewiß kein Kunststück, auch für die Musik das ‚Schöne‘ als Hauptpostulat hinzustellen: brachte der Autor dies in der Art zu Stande, [...] so gelang nun aber auch das allerdings Schwere, nämlich die moderne jüdische Musik als die eigentlich ‚schöne‘ Musik aufzustellen; und zur stillschweigenden Anerkennung dieses Dogmas gelangte er ganz unvermerklich, indem er der Reihe Haydns, Mozarts und Beethovens, so recht wie natürlich, Mendelssohn anschloß“. Eduard Hanslick war zunächst Wagners Schaffen positiv gesinnt, wendete sich aber später mit seiner Kritik über Die Meistersinger von Nürnberg (1868) gegen den Komponisten. 488 Richard Wagner, Das Judentum in der Musik (1869), zit. nach Fischer, Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘, 176: „Dagegen tauchte zunächst ein Freund und Bewunderer des Herrn Ferdinand Hiller, ein Professor Bischoff, in der Kölnischen Zeitung mit der Begründung des von jetzt an gegen mich befolgten Systemes der Verleumdung auf: dieser [...] verdrehte meine Idee eines ‚Kunstwerkes der Zukunft‘ in die lächerliche Tendenz einer ‚Zukunftsmusik‘, nämlich etwa einer solchen, welche wenn sie jetzt auch schlecht klänge, mit der Zeit sich doch gut ausnehmen würde. Des Judentums ward von ihm mit keinem Worte erwähnt, im Gegenteil versteifte er sich darauf, Christ und Abkömmling eines Superintendenten zu sein.“ Ferdinand [von] Hiller (1812–1885), getaufter Jude und Freund Mendelssohn Bartholdys war 1843/44 als Dirigent am Leipziger Gewandhaus tätig. 1850 arbeitete er als Dirigent des Kölner Gürzenich Orchesters und wurde zum Leiter des dortigen Konservatoriums ernannt. 489 Der getaufte Joseph Joachim (1831–1907), seit 1869 Direktor der Berliner Hochschule für Musik war ein früher Freund und Schüler Liszts, später aber mit dem ‚Traditionalisten‘ Johannes Brahms befreundet. Sein Name wurde zwar nicht explizit genannt, erschloss sich aber aus dem Kontext (180): „Mit dem Abfall eines bisher warm ergebenen Freundes, eines großen Violinvirtuosen, auf welchen das Medusenschild doch endlich auch gewirkt haben mochte, trat jene wütende Agitation gegen den nach allen Seiten hin großmütig unbesorgten Franz Liszt ein“. Wagner gab seinen späteren Schwiegervater Liszt hier ebenfalls als Opfer der gegen ihn gerichtete Verschwörung an. War Liszt zwar künstlerisch auf Seiten von Wagners neudeutschem Fortschrittsglauben,
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Die These einer Verschärfung und Erweiterung des anti-judaistischen Feindbildes der Broschüre von 1869 lässt sich durch die Untersuchung ‚Musikbankiers‘. Über Richard Wagners Vorstellungen vom ‚Judentum in der Musik‘ von Hans-Joachim Hinrichsen ergänzen. Nach Hinrichsen konzentrieren sich Wagners Angriffe zunehmend auf die musikausübenden und musikvermittelnden Künstler jüdischer Herkunft wie er am Beispiel Felix Mendelssohn Bartholdy nachweist: Fast scheint es, als sei für Wagner jenes ‚individuelle rein musikalische Vermögen‘, das in einem Musiker wie Mendelssohn sogar als unüberbietbare Begabung erscheint, der Inbegriff selbstläufigen Musizierens, seelenloser und verselbständigter musikalischer Reproduktion. Und in der Tat kommt hier eine Pointe der Wagnerschen Denkfigur zum Vorschein, die auch erst der Wiederveröffentlichung des Textes von 1869 ihr spezielles Gepräge gibt. [...] Diese Pointe hat ihre Grundlage darin, daß Wagner durchaus zutreffend in der Situation um 1850 – und um 1869, zwanzig Jahre später, trifft dies noch viel stärker zu – bereits die ersten Symptome der Überlagerung einer Produktions- und Kompositionskultur durch eine Interpretationskultur erkennt, [...] ein Prozeß, der sich, überaus kontrovers diskutiert, durch das spätere 19. und das frühe 20. Jahrhundert zieht.490
Dementsprechend lautet Hinrichsens Auslegung des Artikels Das Judenthum in der Musik, der in der Zweitpublikation durch Vor- und Nachwort zur universalen Konspirationstheorie ausgebaut wurde: Mendelssohn, so meine Lesart von Wagners Judentum in der Musik, ist für Wagner entgegen dem vordergründigen Wortlaut des Textes nicht als Komponist relevant, sondern als Interpret. Er steht, als Dirigent des Gewandhausorchesters und Gründer des Konservatoriums, für den neuen Typus des professionellen Musikvermittlers, der die moderne Konzertkultur bis heute prägt. [...] Wir werden noch sehen, daß Wagner sich durch die angeblich spezifisch jüdische Sphäre der Reproduktion – als der Sphäre der Ausbeutung der Produktion – in allem Dimensionen bedroht fühlt: in der materiellen Sphäre der Politik, Gesellschaft und Ökonomie ebenso wie in der ideellen Sphäre der Kunst und der Musik.491
Vor allem mit Blick auf Wagners interpretationsästhetische Schrift Ueber das Dirigiren, die ein Jahr nach der Veröffentlichung der WagnerBroschüre in der Neuen Zeitschrift für Musik erschien,492 akzentuiert Hinrichsen deren latenten „antijüdischen Subtext“.493 Innerhalb der Kritik an äußerte er sich brieflich im März 1869 dennoch kritisch zur Neupublikation der Artikels (vgl. Fischer, Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘, 88). 490 Hinrichsen, ‚Musikbankiers‘, 75f. Das Zitat („individuelle rein musikalische Vermögen“) entstammt dem Artikel Das Judenthum in der Musik von 1850. 491 Hinrichsen, ‚Musikbankiers‘, 76f. 492 Die Schrift Ueber das Dirigiren wurde in 9 Teilen zur Jahreswende 1869/1870 veröffentlicht Für die Broschüre Das Judentum in der Musik gab Wagner selbst ‚Neujahr 1869‘ an. 493 Hinrichsen, ‚Musikbankiers‘, 79. Einzig an zwei Stellen der Stellungnahme Ueber das Dirigiren wird Richard Wagner deutlicher, wenn er bei Meyerbeer „gewisse[...] semitische[...]
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Felix Mendelssohn Bartholdys Dirigententätigkeit und der durch ihn begründeten musikalischen Schule des Leipziger Konservatoriums fällt der signifikante Begriff ‚Musikbankiers‘ als grundsätzlicher Tadel am kapitalistischen Musikbetrieb:494 Der antikapitalistisch-antijüdische Analogieschluß zieht durch Wagners Argumentation in die Interpretationsästhetik ein. ‚Oberflächlichkeit‘, ‚elegante Kapellmeisterei‘, ‚Trivialität‘, ‚seichte Abfindung mit allem Ernsten und Furchtbaren des Daseins‘, ‚seligmachende glatte, durchaus gewürzlose Vortragsart‘ und ‚Harmlosigkeit‘ sind die gleichmäßig über den Text verteilten Vokabeln, aus deren Zusammensetzung in Wagners Artikel so etwas wie ein Syndrom jüdischer Vortragsästhetik entsteht. Die Perfidie der Argumentation besteht darin, an keiner Stelle diesen Zusammenhang ausdrücklich zu nennen, aber ihn hinreichend deutlich durch die Konstellation der Elemente nahezulegen. Auf diese Weise wird ‚das Jüdische‘ zu einem Prinzip, das von seinen Trägern ablösbar, zu etwas ästhetisch Allgemeinen wird [...].495
Dieses Prinzip kann laut Hinrichsen auch als Erklärungsmodell für die zunächst widersprüchlich erscheinende Tätigkeit von Dirigenten jüdischer Herkunft im Wagner-Umkreis dienen, da es „die Paradoxie ermöglicht, daß einzelne jüdische Künstler gerade zu als Hauptvertreter des dezidiert Unjüdischen figurieren können (Hermann Levi bei Richard Wagner, Joseph Joachim bei Hans von Bülow, Carl Tausig bei beiden)“:496 Die gemeinhin mit dem Judentum konnotierten Eigenschaften der Glätte, der Nuancen- und Akzentlosigkeit, kurz, die ‚Vortragslosigkeit‘ sind für das Ehepaar Wagner gelegentlich auch das Kennzeichen nicht-jüdischer Künstler [...].497
Sowohl die offenkundigen als auch die subtilen anti-judaistischen Stereotype, die in der deutschen Meyerbeer-, Offenbach- und Mendelssohn Bartholdy-Rezeption gefallen waren, konnten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem pejorativen Schlagwortgeflecht ausgebaut und Accentuationen in der Musik“ zu erkennen glaubt und hinsichtlich Mendelssohn Bartholdy ausführt (Ueber das Dirigiren [Jan. 1870], 15): „Selbst Mendelssohn [...] ließ deutlich an sich erkennen, daß er zu jener Freiheit nie gelangte, und jene eigenthümliche Befangenheit nie überwand, welche für den ernsten Betrachter ihn [...] außerhalb unsres deutsches Kunstwesens erhielt [...]. Der Grund hiervon ist eben dieser, daß dem ganzen Motive eines solchen Bildungsdranges keine Unbefangenheit innewohnt, wogegen dieses mehr in der Nöthigung, vom eigenen Wesen etwas zu verdecken, als in dem Triebe, dieses selbst frei zu entfalten, beruht. Die Bildung, welche hieraus hervorgeht, kann daher nur eine unwahre, eine eigentliche Afterbildung sein“. Das vernichtende Verdikt Wagners erinnert an die deutsche Meyerbeer-Rezeption der 1830er Jahre, in der die Formulierung einer „ausgearteten, fremden Aftermuse“ fiel (Artikel Beer oder Meyerbeer, in: Schilling, Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften [1835f], 510). 494 Als Feindbild firmierten für Wagner „unsere heutigen Musikbanquiers, wie sie aus der Schule Mendelssohns hervorgegangen sind, oder durch dessen Protection der Welt empfohlen wurden“ (Ueber das Dirigiren [Nov. 1869], 407). 495 Hinrichsen, ‚Musikbankiers‘, 81. 496 Hinrichsen, ‚Musikbankiers‘, 81. 497 Hinrichsen, ‚Musikbankiers‘, 81f.
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mit einem diffusen Begriff des ‚Jüdischen in der Musik‘ in Verbindung gebracht werden. Vor allem in der breiten Auseinandersetzung um die Broschüre von 1869498 verfestigte sich die Suche nach konkreten ‚jüdisch‘ konnotierten Stilmerkmalen in Komposition und musikalischer Interpretation. Das ‚Jüdeln‘ in der Musik wurde durch die verschiedensten Schlagwörter zu einer getadelten musikalisch-kompositorischen Ausdrucksform, die in Einzelfällen sogar von der konkreten jüdischen Herkunft des jeweiligen Künstlers abgekoppelt werden konnte.499 Jenseits jüdischer Assimilationsbestrebung, wie sie sich etwa im Akt der christlichen Taufe ausdrückte, und der gesetzlich verankerten bürgerlichen Gleichstellung von 1871500 zeigen sich im Musikschrifttum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschiedene Akzentverschiebungen innerhalb der Kontinuitäten anti-judaistischer Stigmatisierung. Während die gesellschaftliche Integration der deutschen Juden fortschritt, entwickelte sich durch die Wiederveröffentlichung des Artikels Das Judenthum in der Musik in der Musikliteratur der Vorwurf einer international-jüdischen Verschwörung. Auf den Bereich des Musikjournalismus, der musikalischen Reproduktion und Interpretation übertragen,501 erscheinen die tradierten Schlagwörter in anti-modernistischem Kontext, der den Kapitalismus als ‚jüdisches‘ Herrschafts- und Machtinstrument auszumachen suchte. Mit dem Zusammenbruch der Börse 1873 und der darauffolgenden ökonomischen Krise des Wohlstands der Gründerjahre setzte aufgrund der drückenden Wirtschaftslage Mitte der 1870er Jahre eine antisemitische 498 J.E. de Sinoja [Pseudonym von Josef Engel (Edler) von Jánosi] nennt in seiner Veröffentlichung Das Antisemitentum in der Musik (1933) 170 Reaktionen auf die Broschüre (11). Einige hiervon finden sich im dokumentarischen Anhang der Studie von Jens Malte Fischer (Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘, 232–356). 499 Vgl. etwa Wilhelm Heinrich Riehl, Bach und Mendelssohn aus dem socialen Gesichtspunkte. 1850 und 1847 (81899, 79): „Mendelsohn ist immer geistvoll, immer gewählt in der Form. Es war bei seinem ersten Auftreten etwas ganz neues, einem modern eleganten Musiker zu begegnen, dessen Werke auch ein wissenschaftlich und künstlerisch fein gebildeter Geist genießen kann, ohne sich alle Augenblicke über einen groben Verstoß gegen die Logik der musikalischen Gedanken hinwegsetzen oder über die Maßlosigkeit der Formen ärgern zu müssen, einem Musiker, der Lieder setzte, ohne sich die einfältigsten Texte zu wählen, der Kammermusik schrieb, ohne langweilig, und Salonmusik, ohne frivol zu sein, einem Tondichter jüdischer Abstammung, der nicht jüdelte in seiner Schreibart, während fast alle christlichen Lieblingskomponisten des Tages jüdelten.“ 500 Mit der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 3.7.1869, die nach 2 Jahren zum Reichsgesetz erhoben wurde, war der Prozess der Anerkennung einer staatsbürgerlichen Gleichberechtigung der deutschen Juden am Ziel. Auf Grundlage des säkularisierten Staatsgebildes sollten die bürgerlichen und politischen Rechte nicht mehr vom religiösen Bekenntnis bestimmt sein. 501 So akzentuierte etwa auch Franz Liszt (Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn [1861], 44): „In der Musik haben sich die Juden aller Gattungen sowohl der Ausführung als der Komposition bemächtigt. [...] Als Virtuosen und als Komponisten haben sie die Form wunderbar gehandhabt. Durch den dem aktuellen Genie ihrer Rasse so eigenen Hang zur Kombination haben sie dieselbe mehr geschmeidigt und vergrößert.“
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Pressekampagne ein, in deren Zusammenhang um 1880 die Entstehung des Wortes ‚Antisemitismus‘ selbst fällt. Innerhalb der Diskussionen um die postemanzipatorische ‚Judenfrage‘ in den gesellschaftlichen und politischen Bewegungen des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts verfestigte sich der neue Begriff zunehmend zu einem geschlossenen, polaren „Grundmuster an Werten und Normen“,502 das durch Anti-Modernismus, Nationalismus und Rassismus neue Akzente erhielten. Dieser Prozess lässt sich auch für das hier betrachtete Musikschrifttum feststellen. Als neues Element innerhalb des von musikalischen Sachverhalten abgekoppelten Komplexes ‚Judentum und Musik‘ finden vereinzelt biologistisch untermauerte völkerpsychologische Klischees schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Eingang in die musikjournalistischen Debatten. Vor allem die Diskussionen um die Wagner-Broschüre verfestigten jedoch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen an biologistischen Abstammungsfaktoren orientierten Begriff der ‚Rasse‘ in der Musikliteratur.503 Trotz Assimilation, Religionswechsel und einem allgemeinen „Akt der Entjudung“504 wurde für die angebliche Sondergruppe ‚orientalisch-asiatischer Herkunft‘ ein homogenes, überzeitliches „Racenthum[...]“505 festgeschrieben, das in seiner Abstraktheit auf jeglichen Künstler jüdischer Herkunft übertragen werden konnten. Im welchem Maße sich die präfigurierten Stereotype, die biologistisch untermauerten Zuschreibungen und die universelle, alle musikalischen Bereiche umfassende Verschwörungstheorie mit der neuen Qualität des Antisemitismus verbinden konnten, wird vor allem in der deutschen Rezeption Gustav Mahlers deutlich.
502 Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, 20. 503 1869 konnte etwa ein anonymer Autor in seinem Wagner-konformen Beitrag mit Blick auf Mendelssohn Bartholdy ausführen (L.K., Zur Versöhnung, in: Neue Zeitschrift für Musik [April 1869], 137f): „Es haftet der Erscheinung Mendelssohn’s ein charakteristisches Moment von specifischer Culturbedeutung an: insofern nämlich in seinen künstlerischen Thaten eine harmonische, innere Vereinigung der Nationalitäten hebräischen und germanischen Stammes liegt, ähnlich wie man dies in manchen Physiognomien findet, die beide Typen in idealschöner Verschmelzung enthalten.“ Zur Verschiebung der Auseinandersetzung mit Begriffen wie ‚Stamm‘, ‚Volk‘, ‚Nation‘ oder ‚Rasse‘ vgl. Jacob Katz, Der Wagner-Streit als Spiegelbild der Assimilationsillusion (in: ders., Richard Wagner. Vorbote des Antisemitismus, 127–147). 504 Katz, Richard Wagner, 113. 505 Louis Ehlert, F. Mendelssohn-Bartholdy und die Gesammtausgabe seiner Werke, in: ders., Aus der Tonwelt (1877), 167: „In einzelnen Fällen hat das Individuum sich seines Racenthums und seiner schönheitsfeindlichen Elemente fast ganz zu entäußern gewußt, und Mendelssohn muß hier in erster Reihe genannt werden. Spuren davon finden sich in den aufgeregt redseligen Außensätzen einiger seiner Streichquartette und in den Finale’s der Claviertrios“.
4. Die Polarisierung im Musikschrifttum seit der Jahrhundertwende Polarisierung seit der Jahrhundertwende Polarisierung seit der Jahrhundertwende Der moderne Antisemitismus, wie er während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts innerhalb der verschiedenen politischen Parteien, Verbände und Initiativen sichtbar wurde,1 umfasste nahezu alle gesellschaftlichen Schichten. Aufbauend auf tradierten anti-judaistischen Stereotypen suggerierte der moderne Antisemitismus mit seinem nicht mehr an der Religion orientierten Juden-Bild und der Verdichtung mit nationalistischen, rassistischen, anti-modernistischen und anti-kapitalistischen Strömungen ein dichotomes Welterklärungsmodell, dem der allumfassende Gegensatz zwischen einem fiktiven ‚Gut‘ und ‚Böse‘ zugrunde gelegt wurde. Innerhalb eines gegensätzlichen Systems von Werten und Normen fungierten die abstrakten Bilder eines einheitlich imaginierten Judentums als omnipräsentes Feindbild, in dem die Juden als Träger der modernen bürgerlichkapitalistischen Gesellschaftsordnung konstruiert wurden. So agitierte der Schriftsteller und Journalist Wilhelm Marr (1819–1904), in dessen Umfeld das neue Wort ‚Antisemitismus‘ um 1880 entstanden war,2 in seiner Hetzschrift Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum sehr deutlich mit seinem Untertitel Vom nicht confessionellen Standpunkt aus betrachtet gegen ein säkulares Judentum. Mit einem Vokabular, das die deutschen Juden als „orientalische[...] Fremdlinge“3 einer 1 Hier sind etwa zu nennen: die vom Berliner Hofprediger Adolf Stoecker 1878 gegründete Christlich-Soziale Arbeiterpartei, die sich 1881 in eine mittelstandsorientierte Christlich-Soziale Partei umbenannte; die 1880 von Ernst Henrici gegründete Soziale Reichspartei, die zwar nur zwei Jahre bestand, aber äußerst radikal antisemitische Ausschreitungen organisierte und für die berüchtigte Antisemitenpetition an Bismarck vom April 1881 eintrat; der konservative Deutsche Volksverein (gegr. 1881); die 1889 gegründete Antisemitische Deutschsoziale Partei, die sich im gleichen Jahr teilte in die gemäßigtere Deutschsoziale Partei um Theodor Fritsch und Paul Förster sowie in die 1890 gegründete Antisemitische Volkspartei um den radikalen Antisemiten Otto Böckel. Ursächlich hervorgerufen durch die drückende Wirtschaftslage zeigte sich in den 1890er Jahren eine zweite antisemitische Welle in der Gründung von antisemitisch ausgerichteten Interessenverbänden wie dem Bund der Landwirte (gegr. 1893) oder dem Deutschnationalen Handelsgehilfenverband (gegr. ebenfalls 1893). Alle diese Parteien und Verbände nutzten den Antisemitismus vor allem als binnenintegrierende Programmatik innerhalb der zum Teil widerstrebenden Interessen ihrer Anhänger, trugen jedoch mit der Verknüpfung von Antisemitismus und gesellschaftskritischer Agitation zu einer ideologischen Verdichtung und öffentlichen Verbreitung des Antisemitismus bei. 2 Marr gründete 1879 die Antisemiten-Liga. 3 Marr, Der Sieg des Judenthums (OA: 1879, 71879), 11.
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„semitische[n] Race“4 angriff, ebenso wie mit seiner polemischen Stoßrichtung, die durch eine „Identität von Jude und Geldmacht“5 in Deutschland sowohl eine verschwörungstheoretische „Fremdherrschaft“6 als auch den „Geist der Verjudung“7 und „Zersetzung“8 erfand, griff Marr den scharfen antisemitischen Formulierungen nach Ende des Ersten Weltkriegs voraus, wenn er die so genannte ‚Judenfrage‘ als einen „Kampf um’s Dasein“9 darstellte. In eine ähnliche propagandistische Richtung ging der Berliner Wirtschaftswissenschaftler Eugen Dühring (1833–1921) mit seiner in vielen Neuauflagen verbreiteten Polemik Die Judenfrage als Frage des Racencharakters und seine Schädlichkeit für Völkerexistenz, Sitte und Cultur.10 Ausgehend von einem steigenden „Hebräereinfluss“11 in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sah Dühring in „der ganzen semitischen Race“ eine „besonders völkergefährliche Nationalität“.12 Im Folgenden agitierte er vornehmlich gegen einen ‚jüdischen‘ Kapitalismus und die „Judenpresse“,13 um in dem Kapitel Unfähigkeit der Juden zur Kunst überhaupt und sogar zur Musik die tradierten judenfeindlichen und früh-antisemitischen Stereotype des 19. Jahrhunderts zu bündeln. Inhaltlich konstatierte Dühring erneut eine „angestammte Phantasielosigkeit“ mit daraus resultierender spezifisch ‚jüdischer‘ „Nachahmung“14 und bezog sich in seinen weiteren Ausführungen in erster Linie auf Richard Wagners Aufsatz,15 von 4 Marr, Der Sieg des Judenthums (71879), 22. 5 Marr, Der Sieg des Judenthums (71879), 19. 6 Marr, Der Sieg des Judenthums (71879), 21. 7 Marr, Der Sieg des Judenthums (71879), 23. 8 Marr, Der Sieg des Judenthums (71879), 6. 9 Marr, Der Sieg des Judenthums (71879), 8. 10 5. umgearb. Aufl. 1901. Die Originalausgabe erschien 1881 unter dem Titel Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage. Mit einer weltgeschichtlichen Antwort. Dührings Polemik ging vor allem mit seinen radikalen Forderungen, in denen er implizit eine Eliminierung der Juden vorschlug, über die zeitgenössische Agitation hinaus (137): „Kein geistiges, kein sociales, kein politisches System kann die Hebräer wesentlich zu etwas Anderm machen, als was sie sind und stets auch waren. Die Schädlichkeiten, aus denen sich ihr Nationalcharakter zusammensetzt, können daher nur mit ihnen selbst zurückweichen und verschwinden.“ 11 Dühring, Die Judenfrage als Frage des Racencharakters (51901), Vorrede, V. 12 Dühring, Die Judenfrage als Frage des Racencharakters (51901), 3. 13 Dühring, Die Judenfrage als Frage des Racencharakters (51901), 91. 14 Dühring, Die Judenfrage als Frage des Racencharakters (51901), 90. 15 Zudem erörterte Dühring wie Wagner in einem Absatz die Synagogalmusik, die hier als direkter Ausdruck der „Racenanlage“ (94) gewertet wurde (91–93): „Uebrigens ist auch schon in den Synagogen und am Cultus die angestammte Unschönheit zu beobachten. Eine Judenversammlung verräth gleich jeder Judenschule sofort in Sprache und Manieren das angeborene Talent zum Gegentheil aller Kunst. [...] Das Hässliche in Lautausstossung und Gliederregung herrscht hier vor. [...] Ihr Singerichthum [Sing-Reichtum?], welches sich schon im bekannten singenden Ton kundgiebt, mit dem sie ihre gutturalen Auslassungen aus dem tiefsten Grund der Kehle hervorholen, wir meinen also ihre singende Manier beim Sprechen oder, gebührender ausgedrückt, im
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dessen zweiter Fassung er auch die Bildung verschiedener neuer Komposita als Schlagwörter wie „Judenreclame“, „Judenmeinung“, „Judenliteraten“,16 „Judengenossen“,17 „Judenanlage“,18 „Sinaimuse“ oder „Judenmusik“19 übernahm. Unter Einfluss des ‚Rasse‘-Gedankens war die Säkularisierung der religiösen Judenfeindschaft zum modernen Antisemitismus um die Wende zum 20. Jahrhundert eng an die neue ‚völkische‘ Weltanschauung und Bewegung im Wilhelminischen Kaiserreich geknüpft. Das Attribut ‚völkisch‘ als plakative, zugleich aber ungenaue Vokabel für ein Sammelbecken von nationalistischen, rassistischen und antisemitischen Strömungen erschien als Eigenbezeichnung um die Jahrhundertwende.20 Obwohl der Antisemitismus zumeist ein integraler Bestandteil der deutschvölkischen Bewegung war, geht die historische Forschung heute davon aus, dass der „Antisemitismus [...] zweifelsohne ein konstitutives Element der völkischen Weltanschauung, aber nicht das einzige und auch nicht [...] das wichtigste“21 war. So extrahiert Uwe Puschner in seiner Studie Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich die drei Schlüsselbegriffe „Sprache, Rasse und Religion“ als zentrale völkische Themenkomplexe. Zwar war die völkische Bewegung zur Zeit Wilhelms II. zahlenmäßig noch gering und untereinander häufig zerstritten, dennoch entfaltete sie mit ihrem auf rassistischer Grundlage verankerten, aggressiven Nationalismus eine weitreichende Wirkung, die sich allein in dem enormen Umfang völkisch inspirierter Literatur seit der Jahrhundertwende ablesen lässt. Nach dem Ersten Weltkrieg konnte nahezu nahtlos an die völkische Bewegung der Kaiserzeit angeknüpft werden, die sich in der Weimarer Republik als direkter Vorläufer nationalsozialistischer Propaganda entwickelte.22 Mauscheln, verräth das Widerspiel aller Kunst nicht minder, als es ihre hanswurstige Mimik thut, mit der sie ihre angestammte praktische Schauspielerei und Hypokrisie wider Willen auszustatten pflegen.“ 16 Dühring, Die Judenfrage als Frage des Racencharakters (51901), 88. 17 Dühring, Die Judenfrage als Frage des Racencharakters (51901), 89. 18 Dühring, Die Judenfrage als Frage des Racencharakters (51901), 90. 19 Dühring, Die Judenfrage als Frage des Racencharakters (51901), 91. 20 Die Begriffsprägung wurde vor allem durch den 1886 als Reaktion auf den SansibarVertrag gegründeten Allgemeinen Deutschen Verband zur Förderung überseeischer deutschnationaler Interessen maßgeblich bestimmt, der sich 1894 in die Sammelorganisation Alldeutscher Verband umbenannte. 21 Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich, 15. 22 Erik Levi differenziert in seiner Untersuchung Music in the Third Reich die politische Rechte der Weimarer Zeit in drei Untergruppen. Der traditionelle Konservativismus, der einen Erhalt des Status quo und ein Arrangement mit der neuen Republik für möglich hielt, wurde ergänzt durch einen radikalen Flügel mit nationalistischer Ausrichtung, der durch eine „konservative Revolution“ (Anton Mohler) mit der Rückbesinnung auf ‚nationale Werte‘ den kapitalistischen Modernisierungs- und Demokratisierungsprozess aufhalten wollte. Eine radikale Rechte ergänzte die beiden konservativen Gruppen, die gerade durch nationalistisch-antisemitische Parteien und
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Auch das Musikschrifttum blieb von dem Einfluss des völkischen Nationalismus nicht verschont und versuchte, eine Überlegenheit des ‚deutschen‘ Musikschaffens darzustellen. Auf die im Laufe des 19. Jahrhunderts vereinzelt auftretenden, latent biologistisch konnotierten Begriffe wie ‚Stamm‘ oder ‚Rasse‘ baute etwa der Grazer Musikästhetiker Friedrich von Hausegger auf, wenn er 1874 in einem sechsteiligen Aufsatz Über die Anlage der germanischen Völker zur Musik referierte23 und „eine Kontinuität zwischen den mythischen germanischen Vorfahren, dem mittelalterlichen ‚deutschen Volk‘ und den Deutschen seiner Zeit sowie denen zukünftiger Zeiten konstruierte, die sich alle durch eine besondere Neigung zur Musik auszeichneten“.24 Die Vorherrschaft der relativ jungen deutschen Nation auf musikalischem Gebiet suchten um die Wende zum 20. Jahrhundert Heinrich Adolf Köstlin in seinem Artikel Die deutsche Tonkunst,25 Karl Storck mit seiner zweibändigen Geschichte der Musik26 und Rudolf Louis durch eine Betrachtung der deutschen Musik der Gegenwart27 nachzuweisen. Während Karl Storck und Rudolf Louis mit unverhülltem Antisemitismus Gustav Mahler als Exempel des verderblichen ‚jüdischen‘ Einflusses auf musikalischem Gebiet präsentierten, zeigt gerade die 1903 erschienene erweiterte Neuausgabe des Köstlin-Artikels von 1898, inwiefern das Denkmuster einer spezifischen Musikbegabung in der deutschen „Volksseele“28 – ein Wort, das um die Jahrhundertwende die Herdersche Vokabel ‚Volksgeist‘ ablöste und sich schließlich in den 20er und 30er Jahren zu dem biologistisch gefärbten Begriff ‚Volkskörper‘ verschärfte – um den Ausgrenzungsmechanismus gegen ein ‚undeutsches‘ Musikschaffen erweitert wurde. Adolf Köstlin griff in der zweiten, erweiterten Auflage seiner Ausführung zu Giacomo Meyerbeer – ohne allerdings dessen jüdische Herkunft explizit zu erwähnen – auf die griffigen Topoi der deutschen Meyerbeer-Rezeption des 19. Jahrhunderts zurück und warf dem „kosmopolitischen“ Komponisten „angenommene Pose, das affektierte Pathos [und] das Plagiat“ in seiner „virtuose[n], den Effekt genial berechnende[n], aber unpersönliche[n] Kunst“ vor, die dadurch „innerlich“ dem deutschen „Wesen durchaus fremd Verbände Unterstützung erhielt. Die NSDAP, gegründet 1919 als Deutsche Arbeiterpartei und 1920 umbenannt, bündelte nicht nur in ihrer Kulturpolitik diese zersplitterte Rechte (Levi, Music in the Third Reich, 3): „In effect, the Nazis hi-jacked many of the ideas emanating from radical conservatives and enabled them to gain a wider platform. Furthermore, by the end of the 1920s, the Nazis had managed to forge a broad alliance of conservative opinion by appealing to the traditionalists with their frequently reiterated proposals to restore Germany to its former cultural glory and their outright rejection of foreign influences.“ 23 In: Musikalisches Wochenblatt (Jan./Febr. 1874). 24 Schmidt, Politisierung der deutschen Musik, 27. 25 In: Hans Meyer (Hg.), Das Deutsche Volkstum (1898), 2. bearb. u. verm. Aufl. 1903. 26 Storck, Geschichte der Musik, 1904–1922, 31918, 61926. 27 Louis, Die deutsche Musik der Gegenwart (1909, 21912). 28 Köstlin, Die deutsche Tonkunst (1898), 527.
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geblieben“ sei.29 Mit Erstarken des Antisemitismus erschien der Vorwurf einer unkonkreten ‚inneren‘ Fremdheit ebenso wie die tradierte Vokabel des ‚Kosmopolitismus‘ bzw. ‚Internationalismus‘ zunehmend als jüdische „Stammes“-Eigenschaft, ohne dass direkt auf die jüdische Herkunft des jeweiligen Komponisten verwiesen werden musste. Dem ‚Internationalismus‘ wurde in der dezidiert nationalistischen Ausrichtung manchen Musikschrifttums der Begriff des ‚deutsch-nationalen‘ „Universalismus“ gegenübergestellt, der dem Denkschema von der Musik als einer spezifisch ‚deutschen‘ Kunst entstammte.30 In diesem Sinn argumentierte Karl Storcks Geschichte der Musik von 1926 mit Blick auf Halévy und Meyerbeer: [...] man wird nicht mit Unrecht die Entwicklung des Opernstils zu einem internationalen Gemisch, bei dem der Effekt einziger Gebieter ist, auf das Stammestum dieser beiden hervorragenden Könner zurückführen. Dieser Internationalismus ist etwas ganz anderes als der Universalismus, den wir schon früher als Eigentum mehrerer deutschen Musiker, insbesondere Händels und Mozarts, hervorgehoben haben. Sie haben die Errungenschaften der fremden Musik aufgenommen und innerlich verarbeitet [...].31
Formulierungen wie ‚innerliche Verarbeitung‘ weisen auf die zunehmende Bedeutung einer nationalen ‚Substanz‘ hin, die mit unkonkreten, außermusikalischen Vokabeln wie ‚Tiefe‘ oder ‚Innigkeit‘ ausgestattet wurde und in den Werken kanonisierter ‚deutscher‘ Komponisten – aus nationalistischer Sicht – angeblich exklusiv erfühlt werden könne. Die Adaption der frühen französischen Rassentheoretiker, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts in scheinbar geschlossenen Ordnungen die ‚Rasse‘ als Grundlage der geschichtlichen Entwicklung darstellten, ergänzte diesen Gedanken. So erschienen die aus dem 19. Jahrhundert in der Rezeption prominenter Komponisten jüdischer Herkunft geformten Schlagwörter und Stereotype auch nach der Jahrhundertwende innerhalb deutsch-nationalistischer Kreise,32 erhielten jedoch 29 Köstlin, Die deutsche Tonkunst (1903), 145. Auf der anderen Seite nahm Köstlin jedoch Felix Mendelssohn Bartholdy neben Schumann, Brahms und Bruckner in den Kanon ‚deutscher‘ Instrumentalmusik nach Beethoven auf, indem er ihm „das Zeichen edler Männlichkeit“ und „Tiefe und Ernst der Empfindung“ (178f) attestierte. 30 Vgl. Kap. 2. Exkurs: Musik als ‚deutsche‘ Kunst und ihre spezifische ‚Tiefe‘. 31 Storck, Geschichte der Musik (61926), 2. Bd., 113. Die gängige Zusammenstellung ‚deutscher‘ Komponisten orientierte sich in dem durch nationalistische Einflüsse geprägten Musikschrifttum vornehmlich an der Wiener Klassik. Frankreich blieb vor allem durch den deutschfranzösischen Krieg 1871/72 wie auch durch die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg der ‚Erzfeind‘, ein Konstrukt, das sich besonders in einer verschärften anti-französischen Komponente innerhalb der deutschen Meyerbeer-Rezeption und in der völkischen Polemik zeigte. 32 Mit Blick auf Mendelssohn Bartholdy wurde in Storcks Geschichte der Musik im Gegensatz zu Mozart der Begriff einer ‚oberflächlichen‘, substanzlosen „Treibhauskultur“ (152) geprägt: „Unsere deutsche Kunstgeschichte wird überhaupt unter ihren bekannten Künstlern kaum noch einen Mann nennen können, dessen Entwicklung so glatt verlief, so gar nichts von Kampf, von Problematischem zeigt, wie die seine. Das könnte ein Ideal sein, doppelt innerhalb der Geschichte der deutschen Kunst, in der das Ringen und Kämpfen einen so breiten Raum einnimmt, wenn es
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einen deutlich antisemitischen Zug und wurden mit der biologistisch-pejorativen Vorstellung von ungleichwertigen ‚Rassen‘ unterfüttert. Dabei blieb der Bezug auf die biologistische Imagination einer ‚jüdischen Substanz‘ ebenso wie die Annahme einer spezifisch ‚deutschen Wesenheit‘ den dichotomen Wertungsrastern des 19. Jahrhunderts verhaftet. Die Gegensatzkonstruktion zwischen einer ‚jüdisch-asiatisch-orientalischen‘ und der ‚deutschen‘ bzw. ‚germanischen Rasse‘ ermöglichte die simplifizierende Zusammenstellung verschiedenster tradierter Stigmata wie ‚Effekte und Geschäftemacherei‘, ‚Glätte, Formalismus und mangelnde Tiefe‘ oder ‚Nachahmung‘ und ‚parodistisch-satirische Zersetzung‘ unter der Synekdoche ‚Jude‘. Vor allem Richard Wagners Polemik gegen Das Judenthum in der Musik mit seiner sich auf den deutschen ‚Instinkt‘ berufenden Argumentation und der Kanalisation der gängigen Abwertungen gegen Komponisten jüdischer Herkunft entfaltete eine enorme Wirkungsmacht. Die ideologische Inanspruchnahme des Komponisten nicht nur durch völkische Kreise zeigen zahlreiche Forschungsarbeiten auf,33 indem sie etwa den Einfluss des Wagner-Kultes im Kaiserreich darstellen,34 auf die Bedeutung des Bayreuther Kreises mit seiner völkisch-nationalen Idee hinweisen35 oder die völkischrassistische Vorreiterrolle der hier von 1878 bis 1938 publizierten Bayreuther Blätter untersuchen.36 Mit der Entstehung eines „Wagnerismus“, einer „vorwiegend, wenn nicht ausschließlich außermusikalische[n] Art und Weise der Wagner-Rezeption“37 ermöglichten die Wagner-Schriften Anknüpfungspunkte gerade in den drei völkischen Schlüsselbegriffen ‚Spranicht leider Oberflächlichkeit bedeutete. [...] doch wird man auch – wieder im Gegensatz zu Mozarts Wunderkindschaft – den Gedanken an Treibhauskultur nicht los“. Storck folgerte (154): „Sein Gefühl für das Volkstum blieb recht äußerlich“. 33 Ernst Hanisch, Die politisch-ideologische Wirkung und ‚Verwendung‘ Wagners, in: Ulrich Müller/Peter Wapnewski (Hg.), Richard-Wagner-Handbuch, 625–646. 34 Hildegard Châtellier, Wagnerismus in der Kaiserzeit, in: Uwe Puschner/Walter Schmitz/ Justus H. Ulbricht (Hg.), Handbuch zur völkischen Bewegung ‚1817–1918‘, 575–612. 35 Winfried Schüler, Der Bayreuther Kreis von seiner Entstehung bis zum Ausgang der Wilhelminischen Ära, 231f: „Zwar wird mit der Feststellung, Bayreuth kultiviere ein völkisch-kulturelles Nationalbewußtsein, auf das typologisch interessanteste und wichtigste Merkmal hingewiesen [...]. Seine individuelle Eigenart aber empfängt der Bayreuther Nationalismus vor allem aus der engen Verquickung mit antisemitischen und rassistischen Vorstellungen.“ 36 Hein, ‚Es ist viel Hitler in Wagner.‘, 1: „Durch die Verbindung von kulturpessimistischen, national-konservativen und forschrittsfeindlichen Zügen und durch das Propagieren eines rassischen, antisemitischen Mythos hat die Zeitschrift ideologiebildend gewirkt. Sie funktionierte als Medium zur Konsolidierung und Verbreitung antisemitischer Argumentationsstrukturen vom Zeitpunkt des Einsetzens des sog. politischen Antisemitismus in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts an bis hinein ins Dritte Reich.“ Annette Hein fasst in ihrem Kapitel Antisemitismus und Deutschtumsideologie in den ‚Bayreuther Blättern‘ (123–158) die erschienenen Artikel nach ihrer jeweiligen Argumentationsstruktur unter die Begriffe „wirtschaftlicher“, „religiöser“, „politischer“ und „rassistischer“ Antisemitismus zusammen, wobei letzterer eine besondere Gewichtung erhält. 37 Erwin Koppen, Der Wagnerismus – Begriff und Phänomen, in: Müller/Wapnewski, Richard Wagner-Handbuch, 609.
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che, Religion und Rasse‘. Neben dem Bezug auf Wagner als frühen Apologeten des rassistischen Antisemitismus mit nationalistischen und kulturpessimistischen Verknüpfungen lässt sich vor allem eine Verbindung zu völkischen Kreisen durch die im Wagner-Umfeld offenkundige Popularisierung des germanischen Mythos’ mit ersatzreligiösen und antisemitischen Zügen rekonstruieren. Nach Ende des Ersten Weltkriegs erschienen völkisch ausgerichtete Publikationen wie etwa Geistesleben und Judentum oder Richard Wagner und die Juden,38 beide vom Musikschriftsteller und Zeitungskritiker Karl Grunsky39 verfasst. Hierin agitierte der Verfasser mit dezidiert rassistischer Ausrichtung gegen eine (Vor-)„Macht des Judentums“,40 die neben den gängigen Stereotypen mit den Schlagwörtern „Verfall und Entartung“41 unterfüttert wurde. Mit der zweibändigen Veröffentlichung Entartung des Arztes und Journalisten Max Nordau (eigentlich Max Simon Südfeld, 1849–1923) wurde 38 Die Verbreitung des Wagnerschen Antisemitismus durch völkische Kreise dokumentiert etwa auch in der Wiederauflage der Broschüre Das Judentum in der Musik, herausgegeben 1914 als 3. Denkschrift des Deutschvölkischen Schriftstellerverbandes durch Philipp Stauff, der besonders mit seinem Semi-Kürschner (1913) bekannt geworden ist. Vgl. zu Stauff Kap. 6.1 Die Juden in der Musik: Nachschlagewerke und schwarze Listen. 39 Karl Grunsky (1871–1943) veröffentlichte vor dem Ersten Weltkrieg neben einer Musikästhetik (1907) eine populärwissenschaftliche Musikgeschichte (Musikgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts [1905]; Musikgeschichte seit Beginn des 19. Jahrhunderts, 2 Bde. [2. umgearb. Aufl. 1908]). Darüber hinaus war er Mitarbeiter der ersten völkischen Musikzeitschrift Deutsches Musikjahrbuch und publizierte in der Zeitschrift für Musik (Musik und Volksgemeinschaft [März 1931], 206–208). 40 Grunsky, Richard Wagner und die Juden (1920), 85. Ähnlich auch in: Geistesleben und Judentum (1920), 3: „Die Tatsache der freiwilligen Unterordnung unter die Fremden ist so ungeheuerlich, daß sie eben nur verstanden und gewürdigt werden kann durch eingehende Betrachtung darüber, wie das heutige Geschlecht geistig beeinflußt und bearbeitet und zubereitet worden ist, die Herrschaft der Juden geduldig hinzunehmen.“ Inhaltlich repetierte Grunsky die judenfeindlichen und früh-antisemitischen Anklagen des 19. Jahrhunderts gegen Meyerbeer und Mendelssohn Bartholdy wie die ‚äußerliche‘ „Nachahmung“ und eine daraus resultierende „Uebertreibung“ (Geistesleben und Judentum, 9): „Mendelssohn und Meyerbeer legten alles auf unmittelbares Gefallen an. Uebertreibung wird man ihnen kaum zur Last legen. Und doch hängt die Uebertreibung seelisch und sachlich mit der Nachahmung zusammen. Wer nachahmt, ohne eigenen inneren Beruf, dem bleibt verschlossen und verborgen, wie sich von lebendigem Mittelpunkt her die äußere Gestalt bildet. Er gewahrt nur die Außenseite. Ihr wendet er seine Aufmerksamkeit zu, bis er von selber soweit gelangt, die wahrgenommenen Merkmale als das Wesentliche anzusehen und zuletzt übertreibend wiederzugeben.“ Die ‚übertreibende Wiedergabe‘ trägt bei Grunsky antimodernistische Züge (8): „Aber das ist eben die jüdische Tugend: es muß nach einer Seite übertrieben werden, damit man die neue Richtung bald wieder verlassen kann, um einer noch neueren Platz zu machen.“ Neben der ‚Mode‘ wurden vor allem – wie bei Eugen Dühring – ökonomische Interessen und eine „jüdische Presse“ angeprangert (7f): „Beide [Meyerbeer und Mendelssohn Bartholdy] sind von unserer Seite in maßloser Weise überschätzt worden, hauptsächlich weil die jüdische Presse einhellig das Lob ihrer Rassegenossen in die Welt knallt, und wir es ahnungslos fortpflanzen.“ 41 Grunsky, Richard Wagner und die Juden (1920), 91. Als Gegensatz hierzu wurde der „deutsche Geist“ konstruiert, der „sucht und forscht nach allem Reinen, Echten, Ursprünglichen“ (90).
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Ende des 19. Jahrhunderts ein neuer Begriff in die Debatte um den vermeintlichen Niedergang der zeitgenössischen Kunst eingeführt.42 Nordau stellte in seiner vielgelesenen Abhandlung in Anlehnung an den italienischen Mediziner Cesare Lambroso die These auf, dass Künstler, die als ‚Genies‘ verehrt wurden, eigentlich psychische Anormalitäten aufwiesen, und rückte die so bezeichneten „genial Degenerierten“ in die Nähe von Verbrechern:43 Es fällt uns nicht ein, dem Verbrecher aus organischer Anlage zu gestatten, daß er seine Individualität in Verbrechen ‚auslebe‘; und ebenso wenig kann uns zugemuthet werden, dem entarteten Künstler zu gestatten, daß er seine Individualität in unsittlichen Kunstwerken auslebe. Der Künstler, der das Verwerfliche, das Lasterhafte, das Verbrecherische mit Behagen darstellt, es billigt, es vielleicht gar verherrlicht, unterscheidet sich nicht im Wesen, sondern nur im Stärkegrade vom Verbrecher, der es thatsächlich verübt.44
Innerhalb seiner Psycho-Pathologisierung und Kriminalisierung der Künstler forderte Nordau eine „Kennzeichnung“, „Entlarvung“ und „Brandmarkung“ der „führenden Entarteten“45 sowie die Einrichtung einer überwachenden „Gesellschaft für ethische Kultur“46 und griff damit ebenso wie mit seiner direkten Verunglimpfung einzelner Künstler den aggressiven Polemiken des Musikschrifttums der Weimarer Republik voraus, ohne dass sich völkisch-konservative Kreise oder der 1929 gegründete Kampfbund für deutsche Kultur47 mit ihrer antisemitischen Agitation gegen die ‚Entar42 Der Begriff tauchte indes wie gezeigt schon in der Offenbach-Rezeption der 1860er Jahre auf, ohne dass es jedoch zu einer weiteren Verbreitung kam. 43 Nordau, Entartung (1892), 1. Bd., 40: „Ich bin nicht der Ansicht Lambrosos, daß die genialen Degenerierten eine treibende Kraft des Fortschrittes der Menschheit sind. Sie bestechen und blenden, sie üben leider auch häufig eine tiefe Wirkung, aber diese ist stets eine unheilvolle. [...] Sie leiten ebenfalls die Menschheit auf eigenen, selbstgefundenen Pfaden zu neuen Zielen, aber diese Ziele sind Abgründe oder Wüsteneien.“ 44 Nordau, Entartung (1893), 2. Bd., 134. 45 Nordau, Entartung (1893), 2. Bd., 505: „Das ist die Behandlung der Zeitkrankheit, die ich für wirksam halte: Kennzeichnung der führenden Entarteten und Hysteriker als Kranke, Entlarvung und Brandmarkung der Nachäffer als Gesellschaftsfeinde, Warnung des Publikums vor den Lügen dieser Schmarotzer.“ 46 Nordau, Entartung (1893), 2. Bd., 503. 47 Die in München gegründete Organisation begriff sich als Reaktion auf den „Zerfall aller kulturellen Grundlagen“ und sah ihr Ziel in der „‚ernste[n] Aufgabe, Erkenntnis über die fortschreitende Zersetzung unseres inneren geistig-seelischen Baues zu verbreiten und einen starken Willen zu erwecken, um sich in großer Front geschlossen gegen diese Schande der eigenen Schwäche und der feindlichen Überwucherung zu wehren, um neue kulturelle Lebensformen aus deutschem Wesen heraus gestalten zu helfen.‘“ (Kreuz und Quer, Ein ‚Kampfbund für deutsche Kultur‘, in: Zeitschrift für Musik [Febr. 1929], 95). Zu den Gründungsmitgliedern des Kampfbunds zählten neben dem damaligen Schriftleiter der Zeitschrift für Musik, Alfred Heuß auch Eva Chamberlain, Winifred Wagner und Alfred Rosenberg, der mit seinem Mythus des 20. Jahrhunderts (1930) ein grundlegendes Werk der nazistischen Propaganda lieferte. Zur Gründung des
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tungserscheinungen‘ direkt und namentlich auf Nordau, der jüdischer Herkunft war, berufen hätten.48 Diese aus historischer Perspektive bemerkenswerte Ausweitung des Wortes ‚Entartung‘ entgegen seines ursprünglichen Entstehungskontexts zeigt Jens Malte Fischer in seinem Aufsatz ‚Entartete Kunst‘. Zur Geschichte eines Begriffs auf: Der Begriff der Entartung, der entarteten Kunst [...] löste sich von seinem Buch, machte sich selbstständig und gewann gefährliche, von den exakt umrissenen Anlässen Nordaus sich emanzipierende Lebenskraft. [...] In den kulturpolitischen Kontroversen der Weimarer Republik sind Schlagworte aus dem Dunstkreis des EntartungsBegriffes ständig präsent.49
Einen fundamentalen Einschnitt auf gesellschaftlicher wie politischer Ebene markierte in dieser Hinsicht der Erste Weltkrieg. Schlagwörter wie ‚Entartung‘, ‚Degeneration‘ und ‚Zersetzung‘ entstammten der Publizistik um die Wende zum 20. Jahrhundert, erschienen jedoch nach Weltkriegsende häufig in miteinander verzahnter und zunehmend verschärfter Form in den musikliterarischen Debatten der Zeit.50 Eckhard John hat in seiner Studie Musikbolschewismus. Die Politisierung der Musik in Deutschland 1918–1938 die Genese des „Kampfbegriffes“51 ‚Musikbolschewismus‘ in der durch heftige innenpolitische Auseinandersetzungen und eine extreme Polarisierung geprägten Zeit zwischen 1918 und 1924 dargestellt. Nach dem Ersten Weltkrieg erhielt der völkische Gedanke durch den Versailler Friedensvertrag, der nicht nur in völkischkonservativen Kreisen vor allem durch die hohen Reparationszahlungen, die Deutschland leisten musste, als ‚Schmach von Versailles‘ betitelt wurde52 und mit der so genannten ‚Dolchstoßlegende‘53 eine die gesamte Kampfbunds vgl. bes. Donald Wesley Ellis, The Kampfbund fuer deutsche Kultur, in: ders., Music in the Third Reich: National Socialist Aesthetic Theory as Governmental Policy, 29–55. 48 Auch die Tatsache, dass Richard Wagner von Nordau als Beispiel der ‚Entartungserscheinungen‘ in der Musik angeführt wurde, hätte ideologische Schwierigkeiten im Kampfbund für deutsche Kultur nach sich gezogen. Nordau wurde um 1897 als führender Zionist neben Theodor Herzl bekannt. 49 Fischer, ‚Entartete Kunst‘, 350. 50 Vgl. dazu Eberhard Kolb, Die Weimarer Republik, 23: „In einem über vier Jahre dauernden Weltkrieg, in dem alle großen Nationen Europas und zahlreiche außereuropäische Staaten engagiert waren, hatten auf beiden Seiten die Propagandamaschinerien durch eine bis dahin ungeahnte Intensität des publizistischen Trommelfeuers die nationalen Leidenschaften mobilisiert und dem Krieg immer stärker den Charakter eines Kreuzzugs für bestimmte Ideale und Ideologien zu verleihen versucht – mit der sich daraus ergebenden Konsequenz einer Verteufelung der jeweiligen Feindnationen. Der erste Weltkrieg war daher tendenziell [...] bereits ein ‚totaler Krieg‘.“ 51 John, Musikbolschewismus, 30. 52 Auch die französische Ruhrbesetzung im Januar 1923, die aufgrund von Rückständen in den Reparationszahlungen als Druckmittel eingesetzt werden sollte, brachte eine Welle nationaler Empörung mit sich und verstärkte in Deutschland die feindliche Haltung gegenüber Frankreich. 53 Vgl. Kolb, Die Weimarer Republik, 37: „In Publizistik und Versammlungstätigkeit der politischen Rechten wurde die Agitation gegen den ‚Schmachfrieden‘ verknüpft mit der Propagie-
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Gesellschaft der Weimarer Republik prägende Präsenz. Zu dem äußeren ‚welschen Erbfeind‘ rückte der ‚innere Feind‘, die politischen Linkskräfte ebenso wie die deutschen Juden als Sündenböcke der Weltkriegsniederlage in den Blickpunkt. Vor diesem Hintergrund eines gesamtgesellschaftlichen Nationalisierungsprozesses ergänzte und bündelte der Begriff ‚Musikbolschewismus‘ zunehmend die in konservativen Kreisen genutzten, abwertenden Bezeichnungen ‚Expressionismus‘ oder ‚Futurismus‘ und enthielt als Schimpfwort die auf den musikalischen Bereich übertragenen politischen Implikationen und antisemitischen Stereotype der Zeit: Vergegenwärtigt man sich die vorliegenden Fundstellen, dann ergibt sich, daß die Entstehung des neuen Begriffes ‚Musikbolschewismus‘ chronologisch in Abhängigkeit zu den revolutionären Ereignissen in Deutschland verlief: Die Novemberrevolution 1918 bot die Initialzündung [...]. Die ‚Gralshüter‘ der geltenden musikalischen Ordnung erkannten in der musikalischen Avantgarde die Infragestellung dieses Ordnungssystems; die neue Musik erschien ihnen als ‚drohende Verwirrung‘, als ‚Pseudokunst‘ – als ‚Gefahr‘, wie sie gleichermaßen auch die politische Situation beurteilten. Aus dieser Parallelisierung rekrutierten die Protagonisten der Begriffsbildung das diskreditierend gemeinte und verstandene Wort vom ‚Bolschewismus‘ und versuchten, damit die neue Musik zu stigmatisieren.54
Entscheidende inhaltliche Prägungen erhielt der Begriff ‚Musikbolschewismus‘ durch die von Hans Pfitzner 1920 veröffentlichte Schrift Die neue Aesthetik der musikalischen Impotenz. Ein Verwesungssymptom?,55 mit welcher der Komponist gegen progressive Musikauffassungen der Zeit polemisierte.56 Namentlich erschien zunächst Paul Bekker als persönlicher Hauptangriffspunkt in Pfitzners Publikation,57 zumal der Musikschriftsteller und Musikkritiker der Frankfurter Zeitung als angesehener Förderer der rung der ‚Dolchstoß-Legende‘: Die Heimat sei der kämpfenden Front in den Rücken gefallen, die politischen Linkskreise seien daher verantwortlich für die militärische Niederlage und den daraus resultierenden drückenden Friedensvertrag. [...] Innerhalb weniger Monate wurde die Dolchstoßlegende zu einer tragenden Säule der konservativ-nationalistischen Rechtfertigungs- und Kampfideologie; ihr Wirkungsradius reichte aber weit hinaus über den Kreis kompromißloser Gegner der Republik, weil große Teile des deutschen Volkes die erlittene Niederlage nicht anerkennen wollten.“ 54 John, Musikbolschewismus, 35. 55 Vgl. John, Musikbolschewismus, 58: „Anhand dieser Schrift läßt sich die Denkfigur ‚Musikbolschewismus‘ mustergültig exemplifizieren. [...] Die Stellungnahme eines der damals namhaftesten deutschen Komponisten hatte eine umfassende und hitzig geführte Debatte zur Folge, die als Kristallisationspunkt der Diskussion um die Neue Musik wegweisend für die Geschichte des Begriffs ‚Musikbolschewismus‘ war.“ 56 Bereits 1917 publizierte Pfitzner die gegen Ferruccio Busonis Entwurf einer neuen Aesthetik der Tonkunst (1907, 2. erw. Aufl. 1916) gerichtete Broschüre Futuristengefahr. Bei Gelegenheit von Busoni’s Ästhetik. 57 Als Vorkämpfer des ‚musikalischen Umsturzes‘ stilisiert, wurde Bekker auch von anderen Autoren angegriffen, da seine Broschüre Neue Musik von 1919 einen zentralen Bezugspunkt in dieser Begriffsbildung markierte. Vgl. Christoph von Blumröder, Der Begriff ‚neue Musik‘ im 20. Jahrhundert, 36–49.
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Neuen Musik eine weit verbreitete Beethoven-Interpretation verfasst hatte und dadurch „für einen Traditionsbezug einstand, der der Neuen Musik von ihren Gegnern schlichtweg abgesprochen wurde“.58 Während weite Teile der Pfitznerschen Veröffentlichung vordergründig eine gehässige Abrechnung mit Bekkers Beethoven-Deutung darstellten,59 hetzte Pfitzner gleichzeitig gegen die zeitgenössischen, fortschrittlichen Tendenzen der Musik und sprach diesen jegliche musikhistorische Legitimation ab.60 Als vierter einflussreicher Komponist nach Robert Schumann, Richard Wagner und Franz Liszt bezog er am Ende seiner Abhandlung öffentlichkeitswirksam anti-judaistische Positionen.61 Bekkers jüdische Herkunft mit seinem Eintreten für Gustav Mahler verknüpfend, nahm Pfitzner dessen Broschüre Die Sinfonie von Beethoven bis Mahler (1918) zum Anlass, gegen das „östliche[...] Gepräge“ der „Klassikerköpfe im Pantheon deutscher Musik“62 zu agitieren. Sehr deutlich wird an gleicher Stelle in der Schrift ein direkter Zusammenhang von musikalischen Innovationen und politischen Entwicklungen konstruiert, wenn Pfitzner ausführt, dass sich nach „der Schmach und dem Frevel der Revolution“ das „deutsche[...] Volk“ von „russischjüdischen Verbrechern“ anführen ließe.63 Mit einer musikalischen ‚Dolchstoßlegende‘ argumentierend, konstatierte er, dass die „Vernichtung des Deutschen Reiches aus uns selbst kam“ und prophezeite, dass auf ähnliche Weise „das Ende der deutschen Kunst herbeigeführt und besiegelt durch eigene Volksgenossen“64 werde. Dabei spielte laut Pfitzner die „international-jüdische Bewegung“ eine besondere Rolle: In der Kunst erleben wir, daß ein deutscher Mann aus dem Volke, von so scharfem Verstande und reichem Wissen, wie Herr Bekker [...] die international-jüdische Bewegung in der Kunst leitet. Ich sage: international-jüdisch, meine also nicht die Juden, als Individuen. Es ist ein Unterschied zwischen Jude und Judentum. Der Grenzstrich der Scheidung in Deutschland geht nicht zwischen Jude und Nichtjude, sondern zwischen deutsch-national empfindend und international empfindend.65 58 John, Musikbolschewismus, 59. 59 Pfitzner, Die neue Aesthetik der musikalischen Impotenz (1920), 36: „Was Beethoven geschieht, geschieht der Musik überhaupt; und was Herr Bekker sagt, sagt er nicht allein [...]. Was da gesagt wird, liegt in der Luft; es ist der Geist der musikalischen Impotenz. Und Herr Bekker schreibt ihm seine Ästhetik.“ 60 Pfitzner, Die neue Aesthetik der musikalischen Impotenz (1920), 123: „Und wer das nihilistische Geseires seiner Frankfurter Zeitungs-Lieblinge für die legitime Nachfolge der Werke Beethovens und Wagners hält, der kann geschissen nicht von gemalt unterscheiden.“ Die Vokabel ‚Geseire‘ entlehnte Pfitzner dem Jiddischen. 61 Durch seine Oper Palestrina (1917) zu Popularität gelangt, wurden Pfitzners Auslassungen Futuristengefahr und Die neue Aesthetik der musikalischen Impotenz breit diskutiert. 62 Pfitzner, Die neue Aesthetik der musikalischen Impotenz (1920), 123. 63 Pfitzner, Die neue Aesthetik der musikalischen Impotenz (1920), 123. 64 Pfitzner, Die neue Aesthetik der musikalischen Impotenz (1920), 130. 65 Pfitzner, Die neue Aesthetik der musikalischen Impotenz (1920), 123f.
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Zwar rekurrierte Pfitzner mit seiner rhetorischen Differenzierung zwischen „deutsch-national“ und „international empfindend[en]“ Juden zunächst scheinbar weniger auf den virulenten Gedanken einer jüdischen ‚Rasse‘,66 gleichzeitig konstruierte er jedoch eine „international-jüdische Bewegung“, die sich ‚national getarnt‘ habe und gleichsam von innen heraus die ‚deutsche‘ Musik zerstören wolle. Pauschalisierend und im Sinn einer Verschwörungstheorie stellt er an dieser Stelle „das Judentum“ als „ein gefährliches Rätsel“67 dar und setzt seine eigenen Ausführungen positiv in den Kontext der frühantisemitischen Aussagen Richard Wagners.68 Auch mit seinen biologistischen Bildern bleibt Pfitzner in der Nachfolge Wagners, dessen Metaphern Pfitzner seinerseits mit der zentralen Vokabel der „Verwesung“ illustrierte: Die künstlerische Verwesung ist das Symptom der nationalen. Die nationale Kunst ist im Organismus des Volkskörpers der edelste Teil. Sage mir, welche Kunst im Volke gedeiht, und ich will dir sagen, wie der Gesundheitszustand des Volkes ist.69
Pfitzners Polemik zeigt paradigmatisch, in welcher Form Vokabeln wie ‚revolutionärer (Musik-)Bolschewismus‘, ‚jüdischer Internationalismus‘, ‚künstlerische Impotenz‘, ‚degenerative Entartung‘ oder ‚Verwesung‘ in den 20er und 30er Jahren mit antisemitischen Komponenten aufgeladen wurden und innerhalb eines polaren Systems als Schlüsselbegriffe mit Signalcharakter stehen konnten. Der gesamten Abhandlung des Komponisten liegt ein dichotomes Raster zugrunde, in dem die Überbegriffe ‚Impotenz‘70 und ‚Schöpfertum‘ gegeneinander gestellt71 und mit antisemitischen 66 Bekkers Replik zu den Angriffen macht Pfitzners Nähe zu den verbreiteten ‚Rassentheorien‘ deutlich, die schon vor 1933 neben der biologistischen Stammbaumforschung gleichzeitig das ‚nationale Gefühl‘ als kategorisierende Entscheidungsinstanz vertraten (Bekker, ‚Impotenz‘ oder Potenz, in: Musikblätter des Anbruch [Febr. 1920], 140f): „Also: der Jude ist Nichtjude, sofern er deutschnational empfindet, der Nichtjude ist Jude, sofern er nicht deutschnational empfindet. Herr Professor Hans Pfitzner aber allein hat das Patent für deutschnationales Empfinden. [...] Hauptsache ist, daß man mit dem Wort ‚jüdisch‘ jetzt ein neues, deklassierendes Schimpfwort gewonnen hat, das man jedem entgegenschleudern darf, der nicht ‚deutschnational‘ im Pfitzner-Stil empfindet.“ 67 Pfitzner, Die neue Aesthetik der musikalischen Impotenz (1920), 124. 68 Allein von seinem nationalistisch-antisemitischen Standpunkt aus könnte Pfitzner die Hasstiraden des Wagner-Aufsatzes als „ernste, liebevolle und tapfere Schrift“ (124) bezeichnen. 69 Pfitzner, Die neue Aesthetik der musikalischen Impotenz (1920), 125. Bei Wagner heißt es (Das Judenthum in der Musik, in: Neue Zeitschrift für Musik, 111): „So lang die musikalische Sonderkunst ein wirkliches organisches Lebensbedürfniß in sich hatte [...] fand sich nirgends ein jüdischer Componist: [...] Erst wenn der innere Tod eines Körpers offenbar ist, gewinnen die außerhalb liegenden Elemente die Kraft, sich seiner zu bemächtigen, aber nur, um ihn zu zersetzen. Dann löst sich wohl das Fleisch dieses Körpers in wimmelnde Viellebigkeit von Würmern auf: wer möchte bei diesem Anblicke aber wohl den Körper noch für lebendig halten?“ 70 Zu diesem Gegenbegriff der ‚schöpferischen Potenz‘ vgl. John (‚Impotenz‘ oder Das musikalische Kunstwerk als Zeugungs- und Gebärphantasie des genialen Mannes, in: ders., Musikbolschewismus, 71–86). 71 John hat darauf hingewiesen, dass eine antithetische Grundstruktur bereits in Pfitzners Schrift Futuristengefahr von 1917 angelegt ist, allerdings ohne direkte Verknüpfung mit antisemi-
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Akzenten unterfüttert werden. Während laut Pfitzner sich die „Potenz“ – der Tradition der ‚Genie‘-Ästhetik des 19. Jahrhunderts verpflichtet – als „wahre[s] Bedürfnis“ der „Fähigkeit und Notwendigkeit, Lebensfähiges hervorzubringen“72 auszeichne, attestiert er der ‚Impotenz‘ einen Hang zum „großen Schwindel“, dem „Scheinleben“ und „der Lüge“.73 Das „Schöpfertum in der Musik“74 drücke vor allem durch die „Melodie“75 bzw. den „musikalischen Einfall“ als „Inbegriff alles musikalischen Schaffens“76 aus, während Pfitzner die Gegenseite durch einen „geistige[n] Kampf gegen den musikalischen Einfall“ charakterisiert, der angeführt werde „von dem international-jüdischen Geist, der dem Deutschen den ihm ganz fremden Wahnsinn des Niederreißens und Zertrümmerns einpflanzt“.77 Mit Stichworten wie dem ‚Umsturz‘ des tradierten Verhältnisses zwischen Melodie und Harmonie, der ‚Zerstörung‘ der Musik oder der ‚Anarchie‘ des ‚international-jüdischen Geists‘ war für den zeitgenössischen Leser offensichtlich, dass Pfitzner hier gezielt gegen Arnold Schönberg hetzte, ohne allerdings dessen Namen explizit zu nennen. In Pfitzners Parallelisierung zwischen ‚nationaler Auflösung‘ und musikalischem ‚Niedergang‘ symbolisierte der Name Schönbergs die neuen Kompositionsprinzipien, die ebenso wie deren positive Rezeption in der Musikpresse als ‚jüdische Verschwörung‘ galten. Trotz der Namensnennung von Paul Bekker und Gustav Mahler sowie den Anspielungen auf Arnold Schönberg macht die Publikation jedoch gleichzeitig deutlich, in welchem Umfang der Begriff ‚Jude‘ bzw. bei Pfitzner „das Judentum“ zunehmend als abstraktes, überzeitliches Prinzip verstanden wurde, das mit den verschiedensten Mitteln angeblich einzig eine ‚Unterwanderung‘ und ‚Zerstörung‘ der ‚deutschen‘ Kultur – speziell der Musik als Ausdruck ‚nationaler‘ Größe – zum Ziel habe.78
tischen Zuschreibungen (Musikbolschewismus, 61): „Hatte Busoni für experimentelle Entdeckungsfreude jenseits des tonalen Systems des 19. Jahrhunderts eine Lanze gebrochen, so verteidigte der darüber aufgebrachte Pfitzner die Rechtmäßigkeit der bestehenden musikalischen Gesetze mit dem Hinweis, daß es sich hierbei quasi um Naturgesetze handle [...]. Ebenso wegweisend war Pfitzners Gegenüberstellung von Destruktion und ‚deutscher Musik‘.“ 72 Pfitzner, Die neue Aesthetik der musikalischen Impotenz (1920), 6. 73 Pfitzner, Die neue Aesthetik der musikalischen Impotenz (1920), 7. 74 Pfitzner, Die neue Aesthetik der musikalischen Impotenz (1920), 5. 75 Pfitzner, Die neue Aesthetik der musikalischen Impotenz (1920), 8f: „Diese selbsttätige Identifizierung von Impotenz und Melodielosigkeit als Zeichen der Ungenialität, des NichtAuserwähltseins, und von Potenz und Melodieenreichtum als das der Genialität ist wohl zu beachten und im tiefsten Grunde richtig.“ 76 Pfitzner, Die neue Aesthetik der musikalischen Impotenz (1920), 12. 77 Pfitzner, Die neue Aesthetik der musikalischen Impotenz (1920), 109. Die hier verwendete Vokabel „Wahnsinn“ weist auf die ideologische Nähe zu dem psycho-pathologisierenden Schlagwort ‚Entartung‘. 78 Vgl. Dorothea Kolland, Musik und Musikpolitik in Deutschland nach 1918, 540: „Im Kampf der Reaktion wurde aus den verschiedenen Elementen fortschrittlicher Musik und Musik-
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In welchem Maße Pfitzners Auslassungen in die polarisierte Situation der Weimarer Republik eingebunden wurden, zeigt sich deutlich an der Wiederveröffentlichung seiner antisemitischen Passagen in der ersten völkischen Musikzeitschrift, dem Deutschen Musikjahrbuch,79 die in vier Jahrgängen von 1923 bis 1926 erschien. Während Publikationen wie die Allgemeine Musik-Zeitung oder die Zeitschrift für Musik80 mit national-konservativen und zum Teil antisemitischen Akzenten gegen fortschrittliche Musikauffassungen standen, wie sie etwa in den Musikzeitschriften Musikblätter des Anbruch,81 Melos82 oder Der Auftakt83 diskutiert wurden, verschärfte das Deutsche Musikjahrbuch die Auseinandersetzung um die kulturelle Moderne und griff mit aggressiver Propaganda dem Nationalsozialismus voraus. In biologistischen Bildern und organizistischen Metaphern84 wurde „Musik als politische Waffe“ gegen die „Zerstörung der deutschen Art“85 apostrophiert und die verschiedensten innovativen Musiktendenzen mit offen antisemitischen und rassistischen Auslassungen angeprangert. Die Autoren des Deutschen Musikjahrbuchs, unter ihnen die Musikwissenschaftler Hans Joachim Moser, Alfred Lorenz oder Hermann Wolfgang von Walterhausen, der konservativ-nationalistische Musikhistoriker Hermann von der Pfordten,86 der aggressive Antisemit Reinhold Zimmermann87 oder kultur ein großer, bunter Eintopf: Begriffe wie ‚modern, jüdisch, international, kulturbolschewistisch, links, atonal‘ wurden zu Synonyma“. 79 Der Aufsatz Klare Scheidung (in: Deutsches Musikjahrbuch [1923], 9–12) eröffnete gleichsam programmatisch den ersten Jahrgang dieser Zeitschrift. 80 Mit der Berufung von Alfred Heuß (1877–1934) zum Schriftleiter im Oktober 1921 änderte sich der Untertitel der Zeitschrift zunächst im November 1923 kurzzeitig in Kampfblatt für deutsche Musik und Musikpflege, um schließlich 1925 dauerhaft als Monatsschrift für eine geistige Erneuerung der deutschen Musik zu firmieren. Dass die Zeitschrift für Musik neben der zunehmend nationalistischen Ausrichtung in den 20er Jahren auch deutlich von antisemitischen Ausfällen durchzogen war, zeigt Joel Sachs in seiner monographischen Studie Some Aspects of Musical Politics in Pre-Nazi Germany. 81 Die Musikblätter des Anbruch wurden 1919 in Wien mit dem richtungsweisenden Untertitel Halbmonatsschrift für moderne Musik gegründet. 82 Hermann Scherchen begründete 1920 diese Zeitschrift in Berlin. 83 Ebenfalls seit 1920 wurden diese Musikblätter für die tschechoslowakische Republik in Prag herausgegeben. 84 Vgl. dazu den Schriftsteller Alexander Pfannenstiel (geb. 1861) mit seinem von antisemitischer Hetze durchtränkten Artikel Musikkulturkampf (in: Deutsches Musikjahrbuch [1924/25], 32): „So ward der deutsche Volksacker von kulturfeindlichen Horden überrannt, zerwühlt und zerstampft. Wo einst unser Weizen blühte, geht jetzt, altes Kulturland mit wirrem Wurzelwerk verrottend, fremdes Unkraut auf.“ 85 Hermann W. von Waltershausen, Die Politisierung der deutschen Musik, in: Deutsches Musikjahrbuch (1926), 40. 86 In seiner Musikgeschichte Deutsche Musik auf geschichtlicher und nationaler Grundlage dargestellt (Vorwort datiert 1920) warf Pfordten Meyerbeer „Verrat am Heiligtum deutscher Kunst“ (221) vor und erörtert mit präformierten Topoi Meyerbeers ‚Internationalismus‘ (222): „Man hat immer wieder behaupten wollen, Meyerbeer vereine alle Vorzüge der drei Nationen: deutsche Gründlichkeit und Ehrlichkeit, italienisches Temperament und französische Beweglich-
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oder der völkische Karl Grunsky riefen den „Endkampf“88 bzw. einen „Musikkulturkampf“ aus und hetzten gegen eine allumfassende ‚jüdischinternationale‘ Verschwörung, die – im Pfitznerschen ‚Impotenz‘-Vokabular – Musik als eine „entmannende, verweichlichende, einlullende Gefühlsduselei“89 zum endgültigen ‚Verfall‘ führe. Beispielhaft verknüpften die Autoren ihre antisemitischen Auslassungen mit anti-französischen, anti-bolschewistischen und anti-amerikanischen Akzenten, wenn sie gegen all das, „was innerhalb deutschen Kulturgebietes befremdend undeutsch anmutet, Jüdisches, Romanisches, Östliches u.a.m.“90 hetzten. Musikpädagogische Reformbestrebungen wie die von Leo Kestenberg wurden als „jüdisch-kommunistische Versuchsschulen“91 ebenso angriffen wie Frankreich als das „Hurenparkett von Paris“,92 das eine „starke innere Verbindung mit dem Orient besitze“93 oder die „triviale und künstlerisch wertlose keit. [...] Selbst wenn man eine solche Dreieinigkeit gelten lassen will, muß man doch sofort bemerken, daß das deutsche Element dabei sehr zu kurz kommt. [...] Meyerbeers Akkordfolgen sind wie seine Musik überhaupt nicht auf Gründlichkeit und Ehrlichkeit gestellt [...]. Wir brauchen keinen Antisemitismus, um zu erkennen, daß auch hier alles nur auf Effekt berechnet ist.“ Mendelssohn Bartholdy stilisierte Pfordten zu der Gegenfigur Meyerbeers. Er galt ihm als „tiefgläubiger Christ und ein deutscher Mann“ (246), der mit seinem Liedschaffen „die Tiefe und Innigkeit deutschen Gemütsempfindens“ (248) verkörpere. Dessen ungeachtet wurden jedoch gleichzeitig nicht nur seine religiösen Kompositionen als „kühle, nur formell befriedigende“ (248) Werke dargestellt (249): „Wir erkennen klar: die Beherrschung aller Form und Technik tut’s nicht allein: der Geist ist es, der den Gehalt bestimmt. Und dieser Geist ist bei Mendelssohn nicht stark und frei; es ist nicht deutscher Geist in seiner Vollkraft.“ 87 Vgl. zu Zimmermann Kap. 4.2.1 Der ‚Rasse‘-Gedanke in Biographien und Musikgeschichten. 88 Waltershausen, Die Politisierung der deutschen Musik (1926), 41. 89 Hans Joachim Moser, Die Stellung der Musik im deutschen Geistesleben der Gegenwart, in: Deutsches Musikjahrbuch (1924/25), 122. Als ‚jüdische‘ Vorläufer dieser Tendenz fungierten angeblich „Mendelssohn und andere weichartige Komponisten“ (Jón Leifs, Nationalmusik und Germanentum, in: Deutsches Musikjahrbuch [1924/25], 17). 90 Alfred Burgartz, Die künstlerische Bestimmung der deutschen Musik, in: Deutsches Musikjahrbuch (1924/25), 55. 91 Moser, Die Stellung der Musik im deutschen Geistesleben der Gegenwart (1924/25), 121. Leo Kestenberg, seit 1918 Ministerialreferent für Musikangelegenheiten am Preußischen Kultusministerium, geriet in den 20er Jahren verstärkt in den Fokus antisemitischer Agitation, in der ihm die Entlassung des ‚deutschen‘ Komponisten Max von Schilling als Intendant der Berliner Staatsoper angelastet wurde. Aufgrund Kestenbergs jüdischer Herkunft wurde ihm etwa durch die Berufung Franz Schrekers an die Berliner Musikhochschule (1920), Arnold Schönbergs an die Preußische Akademie der Künste (1925) oder Otto Klemperers an die Berliner Kroll-Oper eine typisch ‚jüdische Cliquenwirtschaft‘ unterstellt. Vgl. dazu auch Waltershausen, Die Politisierung der deutschen Musik (1926), 42f: „Der Fall Schillings ist in der weitesten Öffentlichkeit in Breite besprochen worden. [...] Künstlerische Fragen spielen fast keine Rolle mehr, lediglich das Bedürfnis, Parteibrüder, Gesinnungs- und Rassengenossen unterzubringen, entscheidet. [...] Kein Wunder, daß nicht sehr charakterfeste, aber um so mehr opportunistisch veranlagte Komponisten darüber zum Chamäleon werden, daß Männer, die bisher immer auf ihre rein arische Abstammung stolz waren, unter der Hand geschickt durchsickern lassen, sie hätten vielleicht doch einen Tropfen jüdisches Blut in den Adern“. 92 Moser, Zwischen Kultur und Zivilisation der Musik, in: Deutsches Musikjahrbuch (1926), 32. 93 Burgartz, Die künstlerische Bestimmung der deutschen Musik (1924/25), 57.
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Operetten-, Tanz- und Niggermusik, welche mit ihrer öden Plattheit die ganze Welt überschwemmt“94 und als eine „amerikanisierende[...] Nivellierung des homo sapiens“95 und „systematische[...] Selbstzerstörung der Geschlechtsunterschiede“96 galt. Mit der Reduktion auf das propagandistische Modell einer Deutschen Musik und unserer Feinde,97 wie es ab etwa 1925 unter Einfluss der ‚Rasse‘-Ideologie den Begriff des ‚Musikbolschewismus‘ ablöst, wurde das Epitheton ‚undeutsch‘ mit offener aggressiver antisemitischer Rhetorik aufgeladen.98 Die „außerdeutschen Drahtzieher[...]“ und „feindliche[n] Ausländer“99 wurden im Deutschen Musikjahrbuch retrospektiv für das 19. Jahrhundert in Meyerbeer100 und Mendelssohn Bartholdy101 ausgemacht, standen im zeitgenössischen Musikleben personalisiert mit Angriffen gegen Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Kurt Weill oder Franz Schreker und wurden mit dem Vorwurf einer „planmäßig betriebene[n] Propaganda“102 auch auf Institutionen wie die 1922 gegründete Internationale Gesellschaft für neue Musik,103 Verlage wie die Wiener Universaledition 94 Leifs, Nationalmusik und Germanentum (1924/25), 18. 95 Waltershausen, Die Politisierung der deutschen Musik (1926), 41. 96 Waltershausen, Die Politisierung der deutschen Musik (1926), 41. Neben den frühen Arbeiten Hindemiths standen Ende der 20er Jahre besonders KĜeneks Oper Jonny spielt auf (Febr. 1927) wie auch Weills Dreigroschenoper (Aug. 1928) im Mittelpunkt der völkisch-konservativen Kampagne gegen den ‚moralisch verderblichen‘ Einfluss des Jazz auf die zeitgenössische Kunstmusik. Wie Albrecht Dümling in seiner Studie Symbol des Fortschritts, der Dekadenz und der Unterdrückung. Zum Bedeutungswandel des Jazz in den zwanziger Jahren (in: Stern, Angewandte Musik – 20er Jahre, 81–100) aufzeigt, verlor um 1929 der Jazz seine Attraktivität für die Kunstmusik, gleichzeitig jedoch hielt eine Agitation gegen den ‚verjudeten Jazz‘ auch während des Nationalsozialismus an. 97 Konrad Huschke, Die deutsche Musik und unsere Feinde (1921). 98 John, Musikbolschewismus, 190: „[...] dem ‚gesunden‘ Musikempfinden der ‚Deutschen‘ wurden als Repräsentanten der angeblich ‚kranken‘ Musik ‚jüdische‘ Musiker gegenübergestellt und behauptet: was der imaginierten arischen Rasse und völkisch-germanischen Seele als ‚entartet‘ erschien, sei den Juden nun einmal ‚arteigen‘. Sagte man bislang: der Komponist ist geistesgestört, so sollte es künftig heißen: er kann nicht anders, er ist Jude!“ 99 Waltershausen, Die Politisierung der deutschen Musik (1926), 40. 100 Vgl. Moser, Die Entwicklung des Nationalbewußtseins in der deutschen Musik (1923), 25. In der Tradition von Franz Liszt schloss Moser seinen Aufsatz mit den Worten (30): „Wer fest zu seiner Art steht, ist nicht so rasch vergessen wie der landlose Zigeuner und Ahasver der bloßen Kunstgeschicklichkeit.“ 101 Der Musiker Alfred Burgartz (geb. 1890) stellte in seinem Aufsatz Die künstlerische Bestimmung der deutschen Musik (1924/25) etwa die These auf, dass der „Gedanke des Sichreckens [...] das Deutsche, das Sichsammelns das Undeutsche“ (59) sei und spürte durch gewagte Sprachblüten in Mendelssohn Bartholdys Werken den „Banne des Verengungsgefühles“ (58) auf, da dieser sich „in der klassischen Form ‚sammelt‘“ (59). Burgartz folgerte weiter: „[...] Mahler [...] versagt, wo er sich den deutschen Weitendrang zu eigen macht. Ganz in harmoniefremden Tönen befangen ist Schönberg, in einer Dämmerwelt, von wo aus es keinen Aufschwung gibt“. 102 Pfannenstiel, Musikkulturkampf (1924/25), 33. 103 Gegen diese agitierte auch Alfred Heuß 1924 in der Zeitschrift für Musik (Die musikalische Internationale. Zur Gründung einer Ortsgruppe Leipzig der ‚Internationalen Gesellschaft für Musik‘), wenn er die „musikalische Internationale“ (55) als „starke, international eingestellte,
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oder progressive Musikzeitschriften wie die Musikblätter des Anbruch104 ausgeweitet. Solch eine offene antisemitische Propaganda Mitte der 20er Jahre stand in ihrer Gleichsetzung der musikalischen Moderne mit einer ‚zersetzenden, jüdischen Verschwörung‘ der nazistischen Hetzliteratur nach 1933 in Schärfe und Polemik nicht nach.105 Dabei verzahnte sich der auf die Musikliteratur seit der Jahrhundertwende prägend wirkende Gedanke fundamentaler, biologistisch begründeter ‚Rassen‘-Unterschiede mit der von antisemitischen Ausfällen geprägten Rezeption Gustav Mahlers und Arnold Schönbergs.
4.1 Gustav Mahler und Arnold Schönberg Gustav Mahler und Arnold Schönberg Wohl bei keinem Komponisten ist die zeitgenössische Rezeptionssituation so gut dokumentiert wie bei Gustav Mahler. Begründete sich das Interesse der Forschung vor allem in dem umfangreichen Sekundärschrifttum, das schon zu Mahlers Lebzeiten erschien und „eine stark biographische Akzentuierung aufweist“,106 rückt innerhalb der heutigen Forschungsliteratur zunehmend die antisemitische Komponente der Mahler-Rezeption in den Blickpunkt. Damit erhält Gustav Mahler eine Ausnahmestellung innerhalb der im Rahmen der vorliegenden Arbeit betrachteten Komponisten jüdischer Herkunft. In diesem Sinn werden die Ergebnisse der Forschungsarbeiten, die sich mit den antisemitischen Akzenten der Mahler-Rezeption vor dem Ersten Weltkrieg beschäftigen, im Folgenden in den Gesamtrahmen des Topos des Juden im Musikschrifttum einzuordnen sein.107 Nach Weltkriegsende zeigt sich in der Weimarer Republik eine Verfestigung und radikale Linke“ (51) darstellte, die mit Exponenten wie Schönberg und Schreker ein „Kunstgefährliches“ (57) für die ‚deutsche‘ Musik bedeuten würde. 104 Pfannenstiel, Musikkulturkampf (1924/25), 34: „Diese Kampfschrift trat alsbald mit hochtönendem Wort und hohler Phrase für den Wert und die Bedeutung des fremden Unkrauts im deutschen Acker ein.“ 105 Neben der inhaltlichen Kongruenz mit der nazistischen Propaganda fällt im Deutschen Musikjahrbuch vor allem die exzessive Namensnennung der ‚undeutschen Feinde der Musik‘ auf, die in der Tradition antisemitischer schwarzer Listen steht, wie sie seit Ende des 19. Jahrhunderts gerade durch völkische Kreise publiziert wurden. Nach 1935 erschienen denunziatorische Nachschlagewerke wie Das musikalische Juden-ABC oder das Lexikon der Juden in der Musik. Vgl. Kap. 6.1 Die Juden in der Musik: Nachschlagewerke und schwarze Listen. 106 Christoph Metzger, Mahler-Rezeption. Perspektiven der Rezeption Gustav Mahlers, 49. 107 Eine kritisch-analytische Betrachtung der kontroversen Diskussionen, ob Mahlers Musik als ‚jüdisch‘ zu gelten habe, würde über den thematischen Rahmen der vorliegenden Arbeit hinausführen. Einige Aspekte dieser Auseinandersetzung werden jedoch im nachfolgenden Kap. 5. Exkurs: Kulturzionistische Positionen gestreift. Einen kursorischen Überblick über die verschiedenen Einschätzungen zu diesem Thema gibt Susan M. Filler in ihrem Artikel Mahler as a Jew in Literature, der allerdings Ungenauigkeiten enthält. So publizierte etwa Rudolf Louis seine Musikgeschichte schon 1909 und nicht erst nach Mahlers Tod 1912.
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nationalistische Verschärfung antisemitischer Positionen, die sich in den Polemiken gegen Arnold Schönberg als Personifikation des ‚revolutionären‘, ‚internationalen‘ und ‚intellektualistischen Juden‘ darstellt. Unzweifelhaft stand Gustav Mahler in der Zeit seiner ersten öffentlichen Popularität um die Wende zum 20. Jahrhundert an dem direkten Schnittpunkt zwischen der tradierten Judenfeindschaft, den vereinzelt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auftretenden Denkmustern des Früh-Antisemitismus und dem ‚Rasse‘-Antisemitismus seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die Kanalisation unterschiedlichster Zuschreibungen und Wertungen zu seinem Wirken als Dirigenten ermöglichten auch und gerade die tradierten Stereotype des 19. Jahrhunderts, die jedoch gleichzeitig um die neuen Merkmale des modernen Antisemitismus ergänzt wurden. Wenngleich Mahler aus einer assimilierten jüdischen Familie stammte und einen Konfessionswechsel zum römisch-katholischen Glauben vollzog,108 wurde dennoch er als ‚fremder Jude‘ stigmatisiert und von Anfang an unter einem biologistischen Begriff der ‚Rasse‘ rezipiert. Nicht mehr die Religion, sondern die ‚Rasse‘ als Ausdruck grundsätzlicher Andersartigkeit galt den Gegnern Mahlers als Argumentationsgrundlage für die verschiedenen Zuschreibungen, Angriffe und Schmähungen. In welchem Maße Mahler schon als Dirigent antisemitischen Implikationen ausgesetzt war, betrachtet K.M. Knittel im Aufsatz „Ein hypermoderner Dirigent“: Mahler and Anti-Semitism in ‚Fin-de-siècle‘ Vienna. In ihren Analysen von Abbildungen und literarischen Schilderungen aus der Wiener Zeit (1897–1907), die einen auffällig dargestellten Dirigierstil Mahlers aufgreifen, der ihn von anderen Dirigenten seiner Zeit unterschied, arbeitet Knittel die antisemitischen Elemente dieser Differenz heraus. Die Charakterisierung von den expressiven, energiereichen bis ‚nervös-unkontrollierten‘ Dirigaten Mahlers, die in dem zeitgenössischen Etikett des ‚Zappeldirigenten‘ mündeten,109 setzt Knittel schlüssig in Bezug zu den 108 Mahler trat im Februar 1897 am Ende seiner Anstellung als Erster Kapellmeister am Hamburger Stadttheater zum Katholizismus über, um im Oktober desselben Jahres die Direktion der Wiener Hofoper zu übernehmen. Vgl. Oliver Hilmes, Im Fadenkreuz. Politische GustavMahler-Rezeption 1919–1945, 35: „Seine Konversion zum Katholizismus war dadurch motiviert, daß Mahler eine Berufung an die Hofoper in Wien erhoffte, der katholische Kaiser von Österreich aber nur Katholiken in den Dienst des Hofes nahm. Durch entsprechende Gesetze wurde es 1873 in Deutschland und 1868 in Österreich möglich, aus der jüdischen Religionsgemeinschaft auszutreten, ohne sich anschließend taufen lassen zu müssen. Hätte Mahler nur den Austritt aus dem Judentum beabsichtigt, so hätte dieser Schritt ausgereicht. Wenn er sich aber katholisch taufen ließ, so stand dies in direktem Zusammenhang zu der erhofften Berufung an die Wiener Hofoper.“ 109 Zu dieser Etikettierung mag die sehr bekannte Karikatur von Hans Schließmann, publiziert im März 1901 in den Fliegenden Blättern mit dem Titel „Ein hypermoderner Dirigent“ und dem Untertitel „Kapellmeister Kappelmann dirigirt seine Symphonie diabolica“ beigetragen haben (abgedr. in: Herta Blaukopf/Kurt Blaukopf [Hg.], Gustav Mahler. Leben und Werk in Zeugnissen der Zeit, 147).
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Stigmata des ‚jüdischen Körpers‘ als vermeintlicher Ausdruck einer ‚andersartigen‘ Fremdheit. Vor allem durch den im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auftauchenden Gedanken eines fundamentalen ‚Rassen‘-Unterschiedes zwischen Juden und Nicht-Juden entstand die Meinung, dass selbst assimilierte Juden weiterhin als Juden erkennbar seien. In judenfeindlicher Tradition erschienen Zuschreibungen bestimmter körperlicher Merkmale als ‚Rasse‘-Physiognomien, dessen bekanntestes Beispiel eine besonders große Nase darstellt,110 aber auch eine charakteristische Art der sprachlichen und gestischen Artikulation beinhalten konnte. Der Topos, die Juden würden die deutsche Sprache nur als eine erlernte, aber nicht angeborene Sprache beherrschen, von Richard Wagner in der Verknüpfung mit musikalischem Schaffen am öffentlichkeitswirksamsten dargelegt, lässt sich durch die Unterstellung einer besonderen Art des ‚jüdischen‘ Gestikulierens ergänzen. Diese expressiven ‚jüdischen‘ Gesten beim Sprechen dienten aus antisemitischer Sicht dazu, den Inhalt des Gesagten zu ‚verschleiern‘, einen vermeintlich ‚nichtigen‘ Inhalt aufzubauschen und die nicht-jüdische Umwelt über den ‚Mangel an Gehalt‘ zu täuschen. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Karikaturen Mahlers, in denen seine expressive Körpersprache im Gegensatz zu anderen Dirigenten der Zeit häufig zum Ziel des Spottes wurde, einen unterschwelligen antisemitischen Akzent zu erhalten. Knittel weist darüber hinaus nach, dass auch das Etikett des „hypermodernen Dirigenten“ in dieser Hinsicht interpretierbar ist. Die besondere Verbindung zwischen der Moderne und einer Entstehung von Nervenkrankheiten akzentuierend hebt sie den spezifisch europäischen Kontext dieser Beziehung hervor, die mit den Anschuldigungen gegen die Juden verschmolz. Innerhalb der anti-modernistischen Vorstellungen einer jüdisch beeinflussten ‚zersetzenden Intellektualität‘ wurde um die Jahrhundertwende in Europa den Juden eine bestimmte Prädisposition zu nervösen Krankheitserscheinungen attestiert: The Jewish body had traditionally been viewed as both a site and cause of disease, but at the end of the nineteenth century medical science solidified a link between race and nervous disorders. Thus ‚Jewish‘ movements became visible signs of the wild, uncontrolled movements of the hysteric. By the last quarter of the century, the view that Jews were predisposed to nervous illness was common. […] In its European – 110 Darüber hinaus wurden den Juden aber auch andere körperliche Merkmale wie ein auffallend ‚stechender, diabolischer‘ Blick, ‚sinnlich-aufgeworfene‘ Lippen, krause schwarze Haare oder eine schmächtige Statur zugeschrieben. Desgleichen galt ein spezieller Gang, der durch einen ‚jüdischen‘ Hang zu Plattfüßen und O-Beinen hervorgerufen sei, als besonderes Erkennungsmerkmal. Auf den konstruierten Zusammenhang dieses Ganges in ‚Bocksprüngen‘ und die Projektion eines spezifisch ‚jüdischen‘ Rhythmus in den Werken Meyerbeers wurde im Kapitel 3.2.2 Komponisten im Spiegel anti-judaistischer Polemik verwiesen.
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and specifically Viennese – context […] neurasthenia was more typically taken as a sign of degeneracy and inferiority.111
In diesem Sinn interpretiert Knittel die Darstellungen und Schilderungen des ‚nervösen‘ Dirigierstils Mahlers als subtile Unterstellung ‚jüdischer‘ Nervenkrankheit im Gefolge der Moderne. Insbesondere im Kontrast mit zeitgenössischen, fremdsprachlichen Schilderungen, die Mahler als ruhigen, in Gesten sparsamen Dirigenten darstellen und keinen grundlegenden Unterschied sehen zwischen ihm und Dirigenten, die einen aus Sicht europäischer Zeitgenossen statischeren Stil vertreten wie etwa Hans Richter oder Arthur Nikisch, kommt Knittel zu dem nachvollziehbaren Schluss:112 Given the anti-Semitic atmosphere in Vienna and the virtual equation of modernity with nervousness and Jewishness, these contradictory accounts suggest that Mahler’s actual podium style might have had little to do with the criticism leveled at him. Indeed, it seems likely that the expectations of how a Jew would conduct interfered with the way Mahler was seen by the press. As tempting as it is to speculate, we can never know either how Mahler wished to appear or how he actually did appear. The images that have come down to us are probably distorted through a questionable lens – the world of anti-Semitic Vienna, where ideas of nervousness, modernity, and Jewishness were conflated. This is not to say that Mahler never gestured, perhaps even excessively. All conductors gesture – they must. […] Mahlers difference is centered in his body, not in his musical interpretations.113
Innerhalb der Sekundärliteratur sind die Belege für die aggressive antisemitische Abwehr gegen Mahler als ‚jüdischen‘ Dirigenten, die sich schon in seiner Kasseler Zeit (1883–1885) finden lassen, häufig erwähnt worden.114 111 Knittel, „Ein hypermoderner Dirigent“, 264f. Als Beispiel dieser europäischen Verknüpfung wird hier die Publikation Die auffallend häufigen Krankheitserscheinungen der jüdischen Rasse (Wien 1902) von Martin Engländer genannt. Dagegen fand in Amerika laut Knittel zur gleichen Zeit eine andere Bewertung der Nervenkrankheiten statt (265): „[...] this link between disease and modernism was not limited to the European sphere. [...] In its American context, a diagnosis of neurasthenia, a disease limited to those who worked with their minds, became an indicator of status or superiority“. 112 Die Verschiedenartigkeit der Schilderungen wird in der Mahler-Literatur häufig mit biographischen Veränderungen erklärt, wie etwa mit einer durch das Älterwerden bedingten Ruhe, der Achtsamkeit gegenüber dem 1907 diagnostizierten Herzleiden oder einem künstlerischen Einschnitt, den die Anstellung in Amerika bedeutete. 113 Knittel, „Ein hypermoderner Dirigent“, 275. 114 Als Reaktion auf die geplante Leitung eines großen Musikfestes durch Mahler in Kassel erschien 1885 in der örtlichen Presse ein direkter Verweis auf Mahlers Herkunft, der sowohl den Begriff der „Rasseeigenthümlichkeiten“ einführte, als auch vermeintlich ‚jüdische‘ Herrschaftsansprüche unterstellend, eine ‚Verschwörung‘ suggerierte, da der Erste Kapellmeister Wilhelm Treiber mit der Ernennung Mahlers übergangen worden sei. Die in Kassel erscheinende Wochenzeitung Reichsgeldmonopol. Volksblatt für wirthschaftlich-sociale Neugestaltung, die am 2. Mai 1885 mit dem auf Otto Glagau zurückgehenden Motto „Die Judenfrage ist die sociale Frage“ erschien (vgl. dazu das vorhergehende Kapitel 1.1 Der moderne Antisemitismus, Glagau formulierte 1879: „Die soziale Frage ist die Judenfrage“), agitierte sowohl gegen den nominierten
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Als allgemein bekannt können auch die antisemitischen Anfeindungen gegen den Wiener Hoftheaterdirektor durch die lokale Presse gelten, und es ist in der Forschungsliteratur oft auf den spezifischen Wiener Entstehungskontext im Spiegel eines „antisemitischen Hexenkessel[s]“115 hingewiesen worden.116 Schon vor Mahlers Antrittsdirigat in Wien erschien im März 1897 ein Artikel in der örtlichen Reichspost, in dem Mahler mit aggressivem antisemitischen Ton stigmatisiert wurde. Das Arsenal dieser Invektive reichte von dem expliziten Verweis auf den „Ursprung“ des Künstlers als „unverfälschten – Juden“ über Angriffe gegen die ihn feiernde „Judenpresse“ bis hin zu dem tradierten Vorwurf, dass „Herr Mahler am Dirigierpult mauschelt“.117 Der Vorwurf des ‚Mauschelns‘ oder ‚Jüdelns‘, die absichtsvolle Verfremdung und Verunstaltung ‚deutschen‘ Musikschaffens durch eine im weitesten Sinne gefasste ‚jüdische Reproduktion‘, die sowohl ausübende Musiker als auch angeblich ‚plagiierende‘ Komponisten und interpretierende Dirigenten jüdischer Herkunft meinen könnte, gehörte – wie gezeigt – zum rhetorischen Inventar des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts. Als Leiter der Wiener Hofoper und Dirigent der Wiener Philharmoniker war Mahler ähnlichen Schmähungen ausgesetzt wie Felix Mendelssohn Bartholdy, der durch seine musikvermittlerische Tätigkeit in Leipzig von Richard Wagner Oberbürgermeister als Initiator des Musikfestes als auch gegen den Zweiten Hofkapellmeister Gustav Mahler (zit. nach Hans Joachim Schaefer, Gustav Mahler in Kassel, 33): „Damit aller Welt gezeigt wurde, daß in Cassel von nationalliberalen Rechtswegen bei solchen Gelegenheiten der Jude die erste Violine zu spielen hat, wurde der derzeitige 2. Dirigent am königlichen Hoftheater, der Jude Mahler, als Hauptdirigent ernannt. Es wurde gar nicht in Betracht gezogen, daß wir in Kassel bessere Dirigenten von höherem Verdienst um unsere Vaterstadt und von weitaus größerer Beliebtheit hatten [...] nein Mahler mußte den ersten Platz haben, denn es mußte den Herrn Juden bewiesen werden, was sie zu erwarten haben, wenn ‚He‘ erst Oberbürgermeister ist. [...] Das war denn doch den Rasseeigenthümlichkeiten genügt, die Deutschen hatten die Arbeit und der Jude die dabei abfallenden Ehren, o, das wäre eine Lust gewesen, einen lieben guten Juden einmal aus vollen Kräften zu einem Genie schwätzen und schreiben zu helfen, so ganz ein Fall für das Leiborgan des zukünftigen Oberbürgermeisters.“ 115 Hilmes, Politische Gustav-Mahler-Rezeption 1919–1945, 40. 116 So etwa im Eintrag Antisemitismus (in: Alphons Silbermann, Lübbes Mahler Lexikon, 11): „Seit im Jahre 1897 das Haupt der christlich-sozialen Partei, der notorische Antisemit Karl Lueger (1844–1910), Bürgermeister der Stadt Wien geworden war, wurde der Antisemitismus offiziell sanktioniert und auch bestens propagiert und gefördert.“ Nach Léon Poliakov (Geschichte des Antisemitismus, Bd. 7, 37) geht auf Lueger der im allgemeinen Hermann Göring zugeschriebene Ausspruch zurück: „Wer Jude ist, bestimme ich.“ 117 Reichspost 14. April 1897 (zit. nach Blaukopf/Blaukopf, Gustav Mahler, 122): „In unserer Nummer vom 10. April brachten wir eine Notiz über die Person des neu engagierten Opernkapellmeisters Mahler. Wir hatten damals schon eine kleine Ahnung von dem Ursprung dieses Gefeierten, und deshalb hüteten wir uns, mehr als die nackten Tatsachen über diesen unverfälschten – Juden zu bringen. Daß er in – Budapest von den Blättern gefeiert wurde, bestätigt ja unsere Ahnung. Wir enthalten uns vollständig jedes voreiligen Urteils. Die Judenpresse mag zusehen, ob die Lobhudeleien, mit denen sie jetzt ihren Götzen überkleistert, nicht vom Regen der Wirklichkeit weggeschwemmt werden, sobald der Herr Mahler am Dirigierpult mauschelt.“
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in interpretationskritischer und anti-kapitalistischer Stoßrichtung 1870 als ‚Musikbankier‘ gebrandmarkt wurde. Dementsprechend verwundert es nicht, dass die politisch orientierte Wiener Tagespresse mit dem Artikel Die Judenherrschaft in der Wiener Hofoper im November 1898 empört interpretatorische Eingriffe Mahlers als ‚Verfälschung unseres Beethovens‘ stigmatisierte118 und gleichzeitig im oben dargestellten Impetus einen dichotomen Gegensatz zwischen Gustav Mahler und ‚unserem‘ Hans Richter konstruierte: Die Art des Dirigierens des Herrn Mahler ist nicht einwandfrei. [...] Die Linke Mahlers in konvulsivischen Zuckungen markiert oft den böhmischen Zirkel, sie scharrt nach Schätzen, sie tremoliert, sie hascht, sie sucht, sie erwürgt, die kämpft mit den Wogen, sie erdrosselt Säuglinge, sie walkt, sie schlägt die Volte – kurz, sie befindet sich oft im Delirium tremens, aber sie dirigiert nicht. Wie vorteilhaft unterscheidet sich davon die Art des Dirigierens unseres Hans Richter [...]. Die majestätische Ruhe, jede Bewegung zielbewußt, keine unnütz, keine unbedeutend. In der Enthaltsamkeit Richters offenbart sich der Meister. [...] Übrigens muß Beethoven ein recht unvollkommenes Talent zur Orchestrierung besessen haben, denn er schrieb die CoriolanOuvertüre ohne Es-Klarinette, die muß jetzt Mahler dazu schreiben. [...] Wenn Herr Mahler Korrekturen anbringen will, dann soll er sich Mendelssohn oder Rubinstein dazu wählen – am Ende lassen sich das die Juden nicht gefallen – aber unseren Beethoven soll er fein in Ruhe lassen.119
Betrachtet man diese Schmähungen der Deutschen Zeitung im Einzelnen, so eröffnet die metaphorische Schilderung von Mahlers dirigierender Handhaltung unterschiedlichste Assoziationsfelder. Der „böhmische Zirkel“, 118 Der in der Mendelssohn Bartholdy-Rezeption geprägte Vorwurf einer ‚Cliquenwirtschaft‘ findet sich indes bei Mahler nicht, eine Tatsache, die Jens Malte Fischer in seiner Biographie Gustav Mahler. Der fremde Vertraute treffend erläutert (571): „Der Jude als Direktor [...] gab weiteren Anlaß zur Häme – wenn der Jude einen nichtjüdischen Sänger entlässt, so spielt angeblich der Haß der Juden auf alle Nichtjuden eine Rolle. Hätte es mehr jüdische Sänger gegeben, die von Mahler engagiert worden wären, wäre dies ein weiterer Punkt der Kritik gewesen, aber außer bei Selma Kurz traf dies für keines der Mahlerschen Neuengagements zu.“ Auf der anderen Seite wird jedoch in den 20er Jahren anhand früher Mahler-Fürsprecher, wie Arnold Schönberg, Guido Adler, Paul Bekker, Oskar Fried, Paul Stefan oder Richard Specht eine ‚jüdische Verschwörung‘ konstruiert. 119 E.Th., Die Judenherrschaft in der Wiener Hofoper, in: Deutsche Zeitung, 4. November 1898 (zit. nach Blaukopf/Blaukopf, Gustav Mahler, 132). Mahler reagierte auf den Vorwurf einer ‚Verfälschung‘ der von ihm dirigierten Werke mit einem öffentlichen Flugblatt (22.2.1900), in dem er auf Wagners Aufsatz Zum Vortrag der ‚Neunten Symphonie‘ Beethovens verwies (zit. nach Blaukopf/Blaukopf, Gustav Mahler, 139): „Von einer Uminstrumentierung, Änderung oder gar ‚Verbesserung‘ des Beethovenschen Werkes kann natürlich absolut nicht die Rede sein. [...] In diesem, wie in jedem Punkte, der die Interpretation des Werkes im Ganzen wie im Einzelnen betrifft, kann an der Hand der Partitur (und zwar je mehr ins Detail eingehend, desto zwingender) der Nachweis geführt werden, daß es dem Dirigenten überall nur darum zu tun war, fern von Willkür und Absichtlichkeit, aber auch von keiner ‚Tradition‘ beirrt, den Willen Beethovens bis ins scheinbar Geringfügigste nachzufühlen“.
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der als Wiener Schimpfwort gegenüber den Tschechen120 eine ‚Fremdheit‘ durch den Geburtsort Mahlers im böhmischen Kalischt ebenso wie aufgrund der jüdischen Herkunft annimmt, wird ergänzt durch die Zuschreibung einer typisch ‚jüdischen‘ Geldgier, hier durch die Verben ‚scharren nach Schätzen‘, ‚haschen‘ und ‚suchen‘ suggeriert, die in letzter Konsequenz zu einer Zerstörung der nicht-jüdischen Umwelt durch den ‚jüdischen Geldhandel‘ führe, wie es das Verb ‚erwürgen‘ impliziert. In direkter Steigerungsform angeordnet, wurden die dirigierenden Gesten Mahlers in Bezug zu der judenfeindlichen Legende vom Ritualmord („sie erdrosselt Säuglinge“) gesetzt, mithilfe derer im Mittelalter den Juden unterstellt wurde, christliche Säuglinge für rituelle Handlungen zu missbrauchen.121 Derlei unterschwellige Verleumdungen weisen in ihrer Verknüpfung auf die qualitative Veränderung der religiös motivierten Judenfeindschaft zum modernen Antisemitismus, in dem tradierte Schmähungen mit anti-modernistischen und anti-kapitalistischen Schlagwörtern unter dem Gedanken einer ‚jüdischen Herrschaft‘ verzahnt werden. Während im 19. Jahrhundert gegen den ‚verderblichen‘ Einfluss des Judentums agitiert wurde, gibt sich der moderne Antisemitismus als dualistisches Welterklärungsmodell. Mit dem Verweis auf das ‚jüdische‘ Machtstreben wurden die Probleme der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft verschwörungstheoretisch auf den Bereich der Kunst übertragen und mit dem säkularen Begriff der ‚andersartigen Rasse‘ unterfüttert. So erscheint die polare Gegenüberstellung zwischen einem, den Leser umfassenden nationalen ‚Wir‘ und den ‚jüdischen Fremden‘, die den gesamten oben zitierten Artikel durchzieht, mit biologistischen Akzenten versehen als weitere Verschärfung der konstruierten Gegensätze zwischen Juden und Nicht-Juden. Als charakteristisches Beispiel für die antisemitische Rezeption unter dem Gedanken des ‚Rassen‘-Unterschiedes kann die 1909 erschienene, nationalistisch ausgerichtete Musikgeschichte Die deutsche Musik der Gegenwart von Rudolf Louis gelten. Besprach Louis in seiner weitverbreiteten Abhandlung als einer der ersten Mahlers kompositorisches Werk in Buchform, zeigt sich gerade in den hier verwendeten unterschiedlichen, zumeist außermusikalischen Gegensatzmustern die Tradierung der Stereotype des 120 Als Ausdruck dieser Wiener Vorurteile nennt Christa Rothmeier neben „böhmischer Zirkel“ die Schimpfnamen „Saubüttelböhm“ und „böhmisches Gesindel“, mit denen die Tschechen den ‚Zigeunern‘ gleichgesetzt und „pauschal des Vandalismus und Diebstahls bezichtigt“ wurden (Vorwort. Das Bild Wiens in der tschechischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, in: dies. [Hg.], Die entzauberte Idylle. 160 Jahre Wien in der tschechischen Literatur, 13). 121 Vgl. Kap. 1. Judenfeindschaft und moderner Antisemitismus. Kontinuitäten und Brüche. Auch die Formulierung „sie schlägt die Volte“ mag in der Bedeutung des französischen Wortes „Volte“ als ‚Drehung, Wendung, Windigkeit und Unangreifbarkeit‘ einen anti-judaistischen Beiklang erhalten, indem auf das Vorurteil einer den Juden wesenhaften Tendenz zur ‚Verstellung‘ und der, die Assimilation umdeutenden ‚jüdischen‘ Mimikry rekurriert wird.
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19. Jahrhunderts, die vor dem Hintergrund einer „durch nichts zu überbrückende[n] Kluft“ zwischen „den Angehörigen okzidentalischer Kultur und okzidentalischer Rasse“122 und Künstlern jüdischer Herkunft zum modernen Antisemitismus verdichtet wurden. Im Gefolge der allgemeinen gesellschaftlich-politischen Auseinandersetzung um die so genannte ‚Judenfrage‘ erschien bei Louis zunächst eine rhetorische Distanzierung vom aggressiven politischen Antisemitismus, derer sich auch andere Musikschriftsteller bedienten, um ihren auf die Musik übertragenen antisemitischen Anschauungen mehr Gewicht zu verleihen: Es ist das Problem von der Stellung des Juden innerhalb unserer abendländischen Kultur- und Geistesgemeinschaft. Obwohl der ernstgesinnte Teil der Juden selbst das Problematische dieser Stellung schon heute klar erkannt hat [...], ist es immer noch heikel, davon zu reden. Denn man riskiert, von Unverstand oder Böswilligkeit ohne weitere Umstände des Antisemitismus geziehen zu werden, wenn man unbefangen genug ist zu erkennen und anzuerkennen, dass ein deutscher Jude doch noch ein klein wenig etwas anderes ist als nur einfach ein ‚deutscher Staatsbürger mosaischer Konfession‘. Aber auf die Gefahr hin, dass man mich einer Partei zuzähle, deren Anschauungen und Tendenzen ich als töricht und roh empfinde, muss ich es frei heraus sagen: das, was so grässlich abstossend an der Mahlerschen Musik auf mich wirkt, das ist ihr ausgesprochen jüdischer Grundcharakter.123
Mit Verweis auf das verbreitete Stigma des ‚plagiatorischen Jüdelns‘, das auf Musiker ebenso wie auf Komponisten angewendet werden konnte, versuchte Louis den ‚jüdischen‘ „Grundcharakter“ von Mahlers Symphonien herzuleiten. In Sprachanalogie mit dem Jiddisch wird auch hier das Schlagwort ‚Jüdeln‘ als ‚Verfremdung und Verunglimpfung‘ der ‚deutschen Musiksprache‘ begriffen: Denn das Jüdische als solches könnte wohl exotisch, fremd und fremdartig, aber zunächst noch nicht abstossend wirken. Wenn Mahlers Musik jüdisch sprechen würde, wäre sie mir vielleicht unverständlich. Aber sie ist mir widerlich, weil sie jüdelt. Das heisst: sie spricht musikalisches Deutsch, wenn ich so sagen darf, aber mit dem Akzent, mit dem Tonfall und vor allem mit der Geste des östlichen, des allzu östlichen Juden. Der Symphoniker Mahler bedient sich der Sprache Beethovens und Bruckners, Berlioz’ und Wagners, Schuberts und der Wiener Volksmusik, – und man 122 Louis, Die deutsche Musik der Gegenwart (1909), 181. 123 Louis, Die deutsche Musik der Gegenwart (1909), 181f. Ähnlich formuliert es die ursprünglich von Karl Storck verfasste Geschichte der Musik ([erg. u. hg. von Julius Maurer], 6 1926, Bd. 2, 391f): „Es ist heute im allgemeinen so, daß das Einbeziehen der Rassenfrage, sobald es sich dabei um einen Juden handelt, den ärgsten Mißdeutungen unterliegt. Es ist da hüben und drüben durch Gehässigkeit und Oberflächlichkeit viel gesündigt worden, und so hat immer mehr eine Scheu platzgegriffen, die andererseits allgemein als ungeheuer wichtig anerkannte Kraft der Rasse zu erwähnen und in Rechnung zu stellen. [...] Für die Musik hatte das Judentum eine positive Bedeutung bislang nur auf dem Gebiete der Reproduktion. Und nach der Richtung liegt auch Mahlers Genialität.“
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muss es ihm lassen, dass er sich Grammatik und Stilistik dieser Sprachen leidlich angeeignet hat.124
Allerdings wird von Louis nicht nur Mahlers Schaffen, sondern auch seine Person125 mit dem Wagnerschen Verdikt der ‚Lächerlichkeit‘ deklassiert, da „er [Mahler] selbst davon gar keine Ahnung hat, wie grotesk er sich in der Maske des deutschen Meisters ausnimmt“.126 Phrasenartig findet sich im Folgenden die Wiederholung der den ‚Juden in der Musik‘ zugeschriebenen Eigenschaften, mit den durch Richard Wagner entscheidend geprägten Stigmata der „Impotenz“ als „absolute Ohnmacht des schöpferischen Willens bei Mahler“, des „‚Mögens‘ ohne jegliches ‚Vermögen‘“ sowie des „Täuschen[s]“ eines „ohnmächtigen Schein-Titanentums“ durch „äussere und äusserliche Wirkung“, die auch hier mit dem aus dem 19. Jahrhundert stammenden pejorativen Begriff des ‚Effekts‘ illustriert wird.127 Ist es bei derlei Ausführungen offensichtlich, dass die in Bezug auf Giacomo Meyerbeer und Felix Mendelsohn Bartholdy kanonisierten Urteile Wagners lückenlos auf Gustav Mahler übertragen wurden,128 offenbart sich gleichzeitig deutlich die Simplizität, mit der die tradierten Stigmata unter dem 124 Louis, Die deutsche Musik der Gegenwart (1909), 182. Auch hier zeigt sich die hervorgehobene Bedeutung der ‚jüdischen‘ „Geste“ innerhalb der Rezeption Mahlers. Dem Prozess, Mahler in eine ‚deutsche‘ Musikgeschichte einzuordnen oder daraus auszugrenzen, liegt das gleiche nationalistisch-verklärende Konstrukt zugrunde, mit dem etwa Anton Bruckner für die ‚deutsche‘ Symphonietradition zu reklamieren versucht wurde oder nach 1933 das nazistische Schrifttum sogar Hector Berlioz und César Franck in eine ‚germanische‘ Tonkunst einzugliedern bemüht war. 125 Mit dem Begriff des „östlichen Juden“, der auf den Geburtsort Mahlers anspielt, jedoch gleichzeitig antisemitisch geprägte Assoziationen an die seit Ende des 19. Jahrhunderts aus Russland, Polen und Galizien einwandernden so genannten ‚Ostjuden‘ hervorruft, geht erneut das Bild des ‚fremden Orientalen‘ einher. Vgl. dazu Kap. 5. Exkurs: Kulturzionistische Positionen. 126 Louis, Die deutsche Musik der Gegenwart (1909), 182. Diese Schmähung, beruhend auf dem überzeitlichen, rassistisch begründeten Gegensatz zwischen abendländischer Musik und ‚morgenländischer‘ Herkunft wird von Louis als „innere[r] Widerspruch“ dargestellt, der „den Mahlerschen Werken jenen Charakter des peinlich Unechten aufprägt“ (182). 127 Louis, Die deutsche Musik der Gegenwart (1909), 183: „[...] man braucht von der künstlerischen Persönlichkeit Mahlers noch keineswegs abgestossen zu sein, um die völlige Leerheit und Nichtigkeit einer Kunst einzusehen, in der der Krampf eines ohnmächtigen Schein-Titanentums sich auflöst in das platte Behagen an gemeiner Nähmädel-Sentimentalität, und wo die kindliche, um nicht zu sagen: kindische Freude an billigen Instrumentationswitzen, die noch nicht einmal immer gut klingen, sich den Anschein geben möchten, als ob ein zweiter Berlioz erstanden sei [...]. Dass diese absolute Ohnmacht des schöpferischen Willens bei Mahler, diese Impotenz eines ‚Mögens‘ ohne jegliches ‚Vermögen‘ jemals verkannt wurde, hätte unmöglich geschehen können, wenn die Mahlersche Tonsprache nicht über gewisse Hilfsmittel verfügte, die zum Täuschen geeignet sind. Die äussere und äusserliche Wirkung, der ‚Effekt‘ kann unter Umständen bei ihm so stark sein, das technische Interesse des Fachmannes kann durch sein in mancher Hinsicht virtuoses Können so lebhaft gefesselt, das Unterhaltungsbedürfnis dessen, der durch Musik bloss amüsiert sein will, so gut befriedigt werden, dass man denen, die sich etwa durch die zweite Symphonie (in C-Moll) kaptivieren liessen, mildernde Umstände zubilligen mag.“ 128 Zu Louis’ Urteilen über Mahler vor der Folie von Wagners Polemik vgl. Jens Malte Fischer, Gustav Mahler und das ‚Judentum in der Musik‘.
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Gesichtspunkt der ‚Rasse‘ in das 20. Jahrhundert transformiert werden konnten. Wesentlich differenzierter und zugleich jedoch in sich signifikant wiederholenden Kategorien verhaftet, zeigte sich die feuilletonistische MahlerRezeption um 1900, die Christoph Metzger in seiner Studie Mahler-Rezeption. Perspektiven der Rezeption Gustav Mahlers betrachtet. In seinen Analysen der zeitgenössischen Rezensionen zu Mahlers Symphonien ebenso wie in der musikwissenschaftlichen Literatur nach der Jahrhundertwende bis in die 60er Jahre, extrahiert Metzger verschiedene kontinuierliche Begriffsfelder, um die widersprüchlichen Einschätzungen Mahlers und letztlich das „sehr komplexe[...] Gewebe ästhetischer Urteile“129 nachvollziehbar zu machen.130 Unter den miteinander verwobenen Überbegriffen ‚Ausdruck‘, ‚Charakter‘, ‚Wollen und Können‘, ‚Nation‘ und ‚Form‘,131 die je nach Intention des einzelnen Autors sowohl für eine Würdigung als auch für eine Abwertung der einzelnen Werke genutzt werden konnten, lassen sich neben dem Fortwirken der tradierten Stereotype des 19. Jahrhunderts neue, dem anti-modernistisch akzentuierten Antisemitismus angehörige Zuschreib-ungen feststellen: Topoi der Mahler-Rezeption sind die Vorwürfe: Formlosigkeit, Trivialität, Banales, Wollen und Können, Kapellmeistermusik. Sind solche Topoi erst entdeckt, so läßt sich weiterhin untersuchen, in welcher Form sich die umfangreiche Literatur auf diese Topoi positiv oder negativ bezieht und wie im einzelnen Verfestigungen entstehen.132
Wie Metzger feststellt, zeigt sich in der frühen Mahler-Rezeption eine tendenzielle Abkehr von musikanalytischen Gesichtspunkten zugunsten des 129 Metzger, Mahler-Rezeption, 142. 130 Methodisch orientiert sich Metzger an dem Verfahren Hans Heinrich Eggebrechts zur Rezeption Beethovens (Zur Geschichte der Beethoven-Rezeption, Laaber 1994) und setzt damit jenseits historischer Veränderungen seinen Schwerpunkt auf konstante Rezeptionsmuster und ihre Varianten, die Metzger allerdings nach Textsorten in eine musikkritische, musiklexikalische und musikwissenschaftliche Rezeption unterteilt, gleichzeitig jedoch auf die Interferenz der Wertungen in den jeweiligen Textarten verweist (139): „Diese spezifisch wissenschaftlich geprägte Literatur bemüht sich um die systematische Beschäftigung mit dem Werk unter der Vorgabe und kritischer Betrachtung bereits kanonisierter Kriterien.“ 131 Ähnliche thematische Felder rekonstruiert Susanne Pusch in ihrer Arbeit Die Rezeption der Schönberg-Schule in der Zeitschrift ‚Die Musik‘ in den Jahren 1922–1933, allerdings werden die antisemitischen Ausfälle gegen Schönberg an keiner Stelle der Arbeit erwähnt und in der Rezep-tion sehr unspezifisch die „Hilflosigkeit der Umwelt“ und eine allgemeine „Orientierungslosigkeit“ als „Zeichen der Verwirrung“ (239) konstatiert. 132 Metzger, Mahler-Rezeption, 34f. Analog formuliert auch Juliane Wandel in ihrer Dissertation Die Rezeption der Symphonien Gustav Mahlers zu Lebzeiten des Komponisten (238): „Die meisten der für Mahlers Symphonik angewendeten Rezeptionsfolien [...] können vor diesem Hintergrund [des Antisemitismus] neu beleuchtet werden: das Absprechen des original-musikalischen Impulses, Eklektizismus, Mangel an Gehalt und Tiefe, Raffinesse in der Instrumentation, dazu Lautstärke, all diese Punkte können sich in Zusammenhang mit antisemitischen Überzeugungen zu einer rassistisch begründeten Mahler-Kritik verstärken.“
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biographischen Zugangs, der die Frage nach dem Gehalt und der Bedeutung von Mahlers Schaffen zu einer „Projektionsfläche“ werden lässt, die als das „typische Kennzeichen der Mahler-Rezeption um 1900“133 gelten kann. Versuchte die wohlwollende Musikkritik eine persönliche Integrität Mahlers und damit die ‚Erhabenheit‘ seiner Werke zu erörtern,134 wurden in negativen Mahler-Darstellungen die Gegenvokabeln ‚Trivialität‘ und ‚Banalität‘ eingeführt, die in ihrer Tradition aus dem 19. Jahrhundert unter dem Überbegriff der ‚jüdischen Oberflächlichkeit‘ einen deutlich antisemitischen Akzent beinhalten konnten: Zweifel an der Integrität Mahlers werden mit Hinweisen angereichert, die den Komponisten oftmals lediglich als ‚raffinierten Techniker‘ darstellen. [...] Immer wieder finden sich die Wendungen vom ‚Jüdisch-Raffinierten‘, vom ‚Erdachten und NichtEmpfundenen‘. Auch Wortgebilde wie ‚Spekulationsmusik‘ sind immer wieder zu finden.135
Innerhalb der Mahler-Rezeption weist vor allem das Wortpaar ‚Wollen und Können‘ als griffige Zusammenstellung von „zwei umgangssprachlich leicht verständlichen Worten“136 auf den synonymen Charakter polarer Konstruktionen seit der Jahrhundertwende hin, innerhalb derer der Antisemitismus Teil eines von musikalischen Zusammenhängen losgelösten Wertungsmusters wurde und sich in ähnlichen, beliebig erweiterbaren Gegensatzpaaren, wie etwa ein ‚Mögen‘ ohne ‚Vermögen‘, eine ‚Form‘ ohne ‚Inhalt‘, ein ‚Wie‘ ohne das ‚Was‘, eine ‚Wirkung‘ ohne ‚Gehalt‘, eine ‚Oberflächlichkeit‘ ohne ‚Tiefsinn‘ oder die ‚technische Reproduktion‘ ohne ‚innere Originalität‘ niederschlagen konnte:137
133 Metzger, Mahler-Rezeption, 93. 134 Metzger, Mahler-Rezeption, 97f: „Umschreibungen zur Person des Komponisten heben [...] positive Eigenschaften hervor. So verfahren die Charakterisierungen nach einem Muster, welches sich seinerseits kaum detailliert beschreiben läßt. Dieses Muster kann jedoch, positiv oder negativ gewendet, auf das Reversbild einer Ästhetik des Erhabenen bezogen werden. Bei aller Vereinfach-ung und Unbestimmtheit läßt sich die Verknüpfung des Kunstschönen mit dem Erhabenen erkennen. [...] Die Formel ist einfach: Der erhabene Künstler erschafft das erhabene Werk. Charakter-liche Voraussetzungen sowie auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten kulturellen Gruppe ermöglichen erst, so will es zumindest eine anthropologisch angereicherte Kritik glauben machen, das erhabene (geniale) Werk.“ 135 Metzger, Mahler-Rezeption, 98. 136 Metzger, Mahler-Rezeption, 100. 137 Metzger gibt an dieser Stelle auch ein Beispiel für den Topos der ‚Lächerlichkeit‘, der in dem ‚jüdischen‘ Versuch einer Überbrückung dieser Gegensätze entstehe. Vgl. Leopold Schmidt, anlässlich der Erstaufführung der III. Symphonie, in: Berliner Tageblatt, 15.1.1907 (zit. nach Metzger, Mahler-Rezeption, 102): „Aber am deutlichsten spiegelt sich in ihm [Mahler] die ans Lächerliche grenzende Tendenz minutiöser und komplizierter Darstellungen, den Kultus der Ausdrucksmittel, um ihrer selbst Willen zu bedienen.“ Die Formulierung „um ihrer selbst Willen“ erinnert an den Vorwurf der deutschen Meyerbeer-Rezeption einer unmotivierten ‚Effekthascherei‘.
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Wille und Potenz werden als Charakterstärken, als heroische Eigenschaften hervorgehoben, sie bestimmen die Wahl weiterer Worte. [...] Deutlich wird auch hier, daß Anspielungen auf Eigenschaften vorliegen, die als ‚nationale Tugenden‘ deklariert wurden. Wollen und Können wird auch für Formulierungen eingesetzt, die auf weitere Momente der Ausgrenzung zielen. Anspielungen auf Begriffe wie ‚Ernsthaftigkeit‘, ‚Tiefsinn‘ u.a. weisen im Richtung eines Nationalcharakters.138
Gerade in den Erörterungen um eine Aufnahme Gustav Mahlers in den Kanon ‚deutscher‘ Komponisten wird laut Metzger das Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne deutlich,139 zumal die Frage der nationalen Einordnung oder Ausgrenzung in der feuilletonistischen Rezeption der Jahrhundertwende unter dem Einfluss einer nationalistischen Polarisierung erfolgte. Dementsprechend findet sich in einigen negativen Besprechungen Mahlers neben den tradierten Verdikten über Komponisten jüdischer Herkunft140 implizit das kriminalisierende und psychopathologisierende Schlagwort der ‚Entartung‘,141 dem ein verdichtetes Konglomerat nationalistischer, kulturpessimistischer und anti-intellektualistischer Ansichten zugrunde liegt:142 Eine nationalistische antisemitische Front innerhalb der Musikkritik lässt sich in der Aufführungsgeschichte bereits deutlich vor den 30er Jahren finden. [...] Die Wendungen solcher Anfeindungen kehren stereotyp wieder: ‚Seltsames Gemisch‘ anstelle von Komposition oder Tondichtung, ‚höchstes Raffinement‘ als versteckter Hinweis auf eine (kaufmännisch verdeckte) Falschheit eines Produktes, sowie ‚künstliche Naivität‘ anstelle von ‚echter Naivität‘ ergeben hier als kurz skizzierter Dreischritt eine deutliche Warnung.143 138 Metzger, Mahler-Rezeption, 100f. 139 Metzger, Mahler-Rezeption, 105: „Insgesamt zeigen die Konnotationen, mit denen das Be-griffsfeld Nation beschrieben wird, daß die Trennung von musikalischen Traditionen und nationalen Aspekten kaum intendiert wird. [...] Die Entscheidung jedes einzelnen Kritikers, ob nun Mahler in eine nationale Tradition der Musikgeschichte aufzunehmen sei oder nicht, diese Entscheidung schlägt sich meist bereits in den ersten Sätzen der Besprechungen nieder.“ 140 In wörtlicher Anlehnung an Schumanns Hugenotten-Rezension von 1837 und Wagners Polemik werden die Stereotype des 19. Jahrhunderts mit dem Verweis einer ‚jüdischen‘ Heimatlosigkeit auf Mahler übertragen, wie es eine Rezension von Josef Stolzing in der Berliner Deutschen Tageszeitung vom 19.5.1911 formuliert (zit. nach Metzger, Mahler-Rezeption, 106): „Meyerbeers äußerliche Tendenz, höchste Nichtoriginalität und Stillosigkeit sind so bekannt wie sein Talent geschickt zu appretieren, glänzend zu machen [...]. Meyerbeer und Mahler sind als Künstler wurzellose Erscheinungen; sie gehören einer Volksgemeinschaft an, von der Richard Wagner in seinem Artikel Judentum in der Musik sagte: ‚Der Jude hat nie eine eigene Kunst gehabt, daher nie ein Leben von kunstfähigem Gehalte‘.“ 141 D., in: Ostdeutsche Rundschau, 27.6.1912 (zit. nach Metzger, Mahler-Rezeption, 106f): „Welch krankhafte Verirrung eines musikalischen Geistes, diese ‚Neunte‘! [...] Fratzenhaft und verzerrt erscheint diese Musik, das Ganze ein Riesenunkraut im symphonischen Garten, davon ein neuer Balken zu dem Tempel widerlicher Unzucht gezimmert werden mag, die Krankhafte oder Verbrecher jetzt immer ungescheuter mit der Musik treiben.“ 142 Vgl. Kap. 4. Die Polarisierung im Musikschrifttum seit der Jahrhundertwende. 143 Metzger, Mahler-Rezeption, 108f.
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Die Mahler häufig vorgeworfene ‚Formlosigkeit‘ und der ‚Mangel an Einheitlichkeit‘, die in diametralem Gegensatz zu dem Stereotyp einer ‚jüdisch‘ konnotierten ‚formalen Nachahmung‘ steht, erklärt sich für Metzger aus den Defiziten des ‚Form‘-Begriffs. Dieser erwies sich als strukturelle Verlaufsbeschreibung unter der Vorgabe musikhistorischer Modelle um die Jahrhundertwende als eine ungenügende Darstellungskategorie in Bezug auf Mahlers Symphonien.144 So wurde der Vorwurf der ‚Formlosigkeit‘ auf verschiedene musikalische Elemente übertragen und blieb letztlich ebenso pauschal wie andere Abwertungen, wenngleich er auf die Verunsicherungen im Gefolge fortschrittlicher Musikentwicklungen verweist: So lautet der Hauptvorwurf, dem Mahler häufig ausgesetzt war, schlicht und unspezifisch: ‚Formlosigkeit‘. Sehr unterschiedliche Aspekte können damit gemeint sein. Hauptmomente sind: die Relation von Instrumentation und Tonsatz, oder in der metaphorischen Version, von Farbe und Zeichnung, in vielfältigen Varianten. Umschreibungen, die in die gleiche Richtung zielen, sind auch in der allgemein gehaltenen Gegenüberstellung ‚Form und Inhalt‘ zu finden.145
Zeigen sich die von Christoph Metzger extrahierten Konstanten der deutschen Mahler-Rezeption als sehr anfällig für eine antisemitische Aufladung, deren Weiterwirken auch in der musikwissenschaftlichen Literatur nachzuzeichnen ist,146 wird gleichzeitig die Ungenauigkeit und Relativität der Topoi der Mahler-Rezeption auch in einer fachspezifischen Literatur deutlich. Dichotome Gegenüberstellungen und anti-modernistische Akzente überwiegen in der Abwertung von Mahlers Schaffen. Dies zeigt sich desgleichen in dem pauschalen Urteil der ‚Zerrissenheit‘ Mahlers, das auf die unterschiedlichsten Bereiche übertragen werden konnte. Dabei sah die zeitgenössische Kritik einen Zwiespalt zwischen dem Dirigenten und dem Komponisten, der sich am augenfälligsten in dem Stigma der „Kapellmeistermusik“147 darstellt. Das Spannungsfeld zwischen der Moderne und den 144 Metzger, Mahler-Rezeption, 111f: „Die Wahl der Sprache, die einer musikalischen Beschreibung gerecht werden konnte, war deutlich durch die Tradition der Kompositions- und Formenlehre bestimmt. [...] Die Logik der Form, der klare Aufbau und eine organische Entwicklung, dies alles sind bei genauerer Betrachtung meist dunkele Umschreibungen, die eher wie Beschwörungsformeln wirkten, als daß musikalischer Verlauf sinnfällig erklärt werden konnte.“ 145 Metzger, Mahler-Rezeption, 114. 146 Aus der kanonisierten feuilletonistischen Rezeption und einer Verschärfung des Antisemitismus nach dem Ersten Weltkrieg erklärt sich etwa die stigmatisierende Abwertung Mahlers in Hugo Riemanns Musik-Lexikon von 1922 (bearb. u. erw. von Alfred Einstein, 772): „M.s Sinfonik [...] ist von einer Gleichgültigkeit gegen die sog. Originalität der Empfindung, gegen die Gewähltheit der Thematik, daß man M. – auch aus Rassegründen (M. war Jude) – aus der Reihe der schöpferischen Musiker gänzlich zu stoßen dürfen geglaubt hat. M. ist in Wirklichkeit primitiv und kompliziert zugleich [...]. Aus dem Versuch, diesen Dualismus zu überwinden, erklärt sich die ekstatische Krampfhaftigkeit dieser Musik, in der die Romantik ihre letzte Zersetzung erlebt.“ 147 Hans Joachim Moser, Geschichte der Musik in drei Bänden, 1. Bd.: Von den Anfängen bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges (1920); 2. Bd., 1. Halbband: Vom Beginn des Drei-
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normativen Musiktraditionen des 19. Jahrhunderts148 oder zwischen den volksmusikalisch orientierten Momenten ‚niederer‘ Musik und der symphonischen Gattung wurde auf einen vermeintlich ‚inneren‘ Konflikt zwischen der jüdischen Herkunft und einer nicht-jüdischen Umwelt reduziert. Über den Zusammenhang zwischen Antisemitismus und der Kritik an der Moderne in der österreichischen Abwertung Mahlers zwischen 1918 und 1988 referieren Gerhard Scheit und Wilhelm Svoboda in ihrer Studie Feindbild Gustav Mahler. Zur antisemitischen Abwehr der Moderne in Österreich. Sie sehen in Mahlers Symphonien und seinem Wirken im Umkreis der Zweiten Wiener Schule tatsächliche Anknüpfungspunkte für einen anti-modernistischen Antisemitismus: Anders als im Falle Mendelssohn Bartholdys verfolgten sie [die Gegner] Mahlers Musik nicht nur, weil es die Musik eines Juden war, sondern weil sie von dieser Musik unmittelbar ihr Kulturverständnis, ihre Weltanschauung, ja ihre Identität in Frage gestellt sahen – weil es moderne Musik in einem bestimmten Sinn ist.149
Diese Sicht ließe sich in noch stärkerem Maße auf Arnold Schönbergs kompositorisches Werk übertragen, dessen Schaffen den fundamentalen musikgeschichtlichen Einschnitt zu Beginn des 20. Jahrhunderts markiert. Die Emanzipation der Dissonanz, Schönbergs Erweiterung der tonalen Normen ebenso wie die dodekaphone Strukturierung führten bekanntermaßen schon bei den Uraufführungen der jeweiligen Werke zu Skandalen und brachten heftige Diskussionen um die neuen Ausdrucksformen zeitgenössischer Musikentwicklung hervor. In der politischen Tagespresse wurden bereits vor dem Ersten Weltkrieg Schönbergs Kompositionen mit dem an Mahler exemplifizierten Verdikt der ‚Entartung‘ belegt, wie dies eine Wiener Kritik anlässlich der skandalumwobenen Uraufführung von Schönbergs Kammersymphonie für 15 Solo-Instrumente (op. 9) von 1907 belegt: In der Loge stand bleich und mit verkniffenen Lippen der Herr Hofoperndirektor Gustav Mahler, der das hohe Protektorat über entartete Musik schon seit längerer Zeit führt. Schönberg [...] schreibt einfach Noten, die miserabel klingen, er macht wilde, ungepflegte Demokratengeräusche [...].150
Im Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation151 wurde die Kammersymphonie hier unter eindeutig antisemitischen Akzenten rezipiert. ßigjährigen Krieges bis zum Tode Joseph Haydns (1921), 2. Halbband: Vom Auftreten Beethovens bis zur Gegenwart (1924). Als dreibändige Ausgabe erschien die 2. Auflage 1928, hier zit. nach dem 3. Bd., 399. 148 Einen weiteren Aspekt dieser Dichotomie mögen auch die bekannten Debatten darstellen, ob Mahlers Symphonien als absolute Musik oder Programmmusik zu begreifen seien. 149 Scheit/Svoboda, Feindbild Gustav Mahler, 8. 150 Illustriertes Wiener Extrablatt, 9.2.1907, zit. nach: Begegnung mit Arnold Schönberg. Ausstellung im Kultur- und Stadthistorischen Museum Duisburg 1993, 60. 151 Vgl. Christoph von Blumröder, Schlüsselstation Arnold Schönberg.
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Gleichzeitig weist der Begriff „Demokratengeräusche“ auf den, die Zeit nach 1918 charakteristisch prägenden Prozess einer Verzahnung von Musik und Politik voraus. Wie Eckhard John in seiner Studie Musikbolschewismus. Die Politisierung der Musik in Deutschland 1918–1938 aufzeigt, war es in der Frühzeit des Begriffs um 1919 „immer wieder [...] vor allem die Musik Arnold Schönbergs, die den Vorwurf des Musikbolschewismus provozierte“.152 Mit dem auf die deutsche Novemberrevolution 1918 bezugnehmenden Aspekt der ‚musikalischen Revolution‘ lagen dem Schlagwort des ‚Musikbolschewismus‘ ebenso wie den im gleichen Kontext gebrauchten Schmähungen ‚Degeneration‘, ‚Entartung‘ oder ‚Musikkulturkampf‘ deutlich antisemitische Klischees zugrunde. In der nationalistisch aufgeheizten Atmosphäre nach der Weltkriegsniederlage erschienen innenpolitische Auseinandersetzungen, der Zusammenbruch tradierter Wertemuster und ökonomische Krisen in der antisemi-tischen Ideologie als Ausdruck eines allgegenwärtigen feindlich-zerstörerischen ‚Juden‘. Nicht mehr allein der ‚jüdische‘ Kapitalist, wie er in der Agitationsliteratur seit Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem tradierten Bild des ‚Wuchers‘ und ‚Schachers‘ konstruiert worden war, sondern auch der Prototyp des ‚jüdischen Bolschewisten‘ prägte die antisemitischen Polemiken der Zeit. Ausgehend von der russischen Revolution 1917, in deren Zusammenhang auch die fingierten, sehr populären so genannten ‚Protokolle der Weisen von Zion‘ als Verschwörungstheorie in der deutschen Publizistik auftauchten,153 bildete sich vor allem in völkisch-konservativen Kreisen die Meinung, die Ablösung der Monarchie sei ebenso wie die Weltkriegsniederlage ein Werk der allgemeinen ‚Verjudung‘: In Deutschland hatte das Ideologem von der jüdischen Weltverschwörung vor 1914 in der völkischen Propaganda nur eine verhältnismäßig geringe Rolle gespielt. Das änderte sich nun bald. [...] Während des Kriegs war der ‚jüdische Marxismus als der internationale Feind Deutschlands am Werk‘ und vergiftete das deutsche Volk. Diesem Wirken blieb der Erfolg nicht versagt: ‚Der Weltkrieg bot für das jüdische Volk die Gelegenheit, seine politische Machtergreifung durchzusetzen.‘ Die jüdische Emanzipation, die 100 Jahre zuvor eingesetzt hatte, hatte in letzter Konsequenz die Niederwerfung der sogenannten Wirtsvölker zur Folge, deren gefährlichstes gerade die Deutschen waren, denn Deutschland war das größte Hindernis auf dem Weg zur jüdischen Weltherrschaft.154
Das Bild des ‚Revolutionärs‘, der mithilfe einer ‚jüdischen Weltverschwörung‘ Schuld an dem Verlust der tradierten Werte und Normen trüge, zeigt 152 John, Musikbolschewismus, 34. 153 Vgl. dazu Ernst Piper, Achtes Bild: ‚Die jüdische Weltverschwörung‘, in: Schoeps/Schlör, Antisemitismus, 127–135. 154 Piper, ‚Die jüdische Weltverschwörung‘, 130f. Piper paraphrasiert hier ein Flugblatt der völkischen Organisation Deutscher Volksbund von 1919.
Gustav Mahler und Arnold Schönberg
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sich als neue Facette des modernen Antisemitismus im 20. Jahrhundert. Bezogen auf Schönberg wurde die Erweiterung der Dur-Moll-Tonalität jenseits der öffentlichen Erklärungen der Zweiten Wiener Schule als gewaltsam-revolutionärer Umsturz ‚jüdischen‘ Ursprungs begriffen und als Ursache des völkisch-nationalen ‚Musikkulturkampfs‘ gegen die ‚verjudete‘ Moderne dargestellt.155 Im Umkreis des Schimpfwortes ‚Musikbolschewismus‘ findet sich nach Eckhard John ebenfalls die antisemitisch zu verstehende Vokabel ‚international‘, die in der nationalistisch aufgeheizten Atmosphäre der Weimarer Republik zu einem Synonym für sämtliche fortschrittlichen Tendenzen der neuen Musik avancierte: Dieses Adjektiv hatte seine als Schmähwort verstandene Aufgeladenheit dem Arsenal der Weltkriegs-Deutschtümelei mit ihrer Hetze gegen die ‚Ausländerei in der Musik‘ zu verdanken. [...] Als mit nahendem Kriegsende immer mehr Musikschaffende diesen Musiknationalismus über Bord warfen und als nach Kriegsende vor allem die Kreise der Neuen Musik offensiv den Kontakt und den Austausch mit den im Ausland tätigen schöpferischen Kräften suchten, wurden die (k)alten Krieger nicht müde, gegen solchen ‚Geist des Internationalismus in der Musik‘ zu wettern [...]. Der Vorwurf an die Neue Musik, nicht ‚national‘ sondern ‚international‘ zu sein, war ein geläufiger. [...] Aber der Begriff ‚international‘ war mehr als ein Gegensatz zu ‚national‘: bereits 1918 kam der deutsche Nationalismus nicht ohne die Juden als Sündenbock aus. Das Wort ‚international‘ brachte immer auch antisemitische Saiten zum Schwingen.156
Während sich das Vorurteil des ‚Internationalismus‘ bzw. des ‚Kosmopolitismus‘ – wie weiter oben gezeigt – in der deutschen Meyerbeer-Rezeption der 1830er und 1840er Jahre in erster Linie außermusikalisch auf die Biographie des Komponisten bezog, erscheint es in der 20er Jahren zunehmend erweitert als komprimiertes Schlagwort gegen die zum Teil sehr unterschiedlichen Richtungen der Musik des frühen 20. Jahrhunderts. Unspezifisch wurde mit der Formel des ‚Internationalismus‘ ein imaginäres ‚internationales‘ Judentum für jegliche modernen Innovationen der Musik verantwortlich gemacht, das in Abkehr der musikhistorischen Traditionen angeblich das nationale Ansehen schädige, indem es die Ideale deutscher Musik verrate157 und für ‚Chaos‘, ‚Verfall‘ und ‚Zersetzung‘ stehe. 155 So konstruierte etwa Alfred Heuß anlässlich der Berufung Schönbergs an die Preußische Akademie der Künste (Arnold Schönberg – Preußischer Kompositionslehrer, in: Zeitschrift für Musik [Okt. 1925], 584) „eine Kraftprobe zwischen Deutschtum und – nun heißt es ebenfalls offen werden – spezifisch jüdischem Musikgeist“. 156 John, Musikbolschewismus, 67. 157 Vgl. Heuß, Arnold Schönberg – Preußischer Kompositionslehrer (Okt. 1925), 583: „[...] daß die Musik des späteren Schönberg wie überhaupt seine ganze, traditionslos sein wollende Musikanschauung nichts als eine Verirrung bedeuten könne, weshalb es einem künstlerischen
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Auch das Adjektiv ‚intellektuell‘, wie es in den 20er Jahren in den Polemiken gegen Schönberg auftaucht, weist auf einen tradierten Aspekt antijudaistischer Agitation. In Anlehnung an das Stereotyp über das Judentum als rabulistische Religion, das – ebenfalls in der deutschen MeyerbeerRezeption – zur Zuschreibung einer spezifisch ‚jüdischen‘ Schlauheit und eines ‚Raffinement‘ in künstlerischen Dingen genutzt wurde, erscheint in der Weimarer Republik vor allem in Ablehnung des dodekaphonen Konstruktionsprinzips das Schmähwort „Gehirn-Tonsysteme“,158 dem eine negative Bedeutung des Begriffs ‚Intellektueller‘ zugrunde liegt. Dabei bildete diese Vokabel einen Gegenbegriff zu dem an die ‚Volksgemeinschaft‘ appellierenden ‚nationalen‘ Gefühl. Auf den musikalischen Bereich übertragen beinhaltet das Attribut ‚intellektuell‘ jedoch auch Konnotationen wie ‚unnatürlich‘, ‚blutleer‘ oder ‚steril‘159 und konnte so die anti-judaistischen Stigmata ‚zersetzend‘, ‚wurzellos‘ und ‚unschöpferisch‘ umfassen. All diese Schmähungen ließen sich unter den antisemitischen Komponenten beliebig miteinander verzahnen und bündelten sich unter dem Oberbegriff ‚undeutsch‘.160 Als „errechnete und erklügelte, nur vom Intellekt diktierte musikalische Mathematik eines von einer verstiegenen Idee Besessenen“161 wurde Schönberg die „methodische Negation bisher geltender Musikelemente“162 vorgeworfen, die unter Einfluss des Antisemitismus zu einer „Verneinung der Musik überhaupt“163 als „Verbrechen [...] an der Musik“164 durch „spekulative Zersetzungs- und Zerteilungsarbeit“165 dargestellt wurde. Vergehen schwerster Art gleichkomme, diesen Mann an einer sichtbarsten Stelle zu einem offiziellen Erzieher in der deutschen Musik zu machen“. 158 Heuß, Arnold Schönberg – Preußischer Kompositionslehrer (Okt. 1925), 584. 159 Vgl. Bering, Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes, 98f: „Zunächst ist festzustellen, daß man bei den nationalistischen Gruppen vergebens nach präzisen Definitionen für ‚Intellektueller‘ sucht. [...] Wer da getadelt wird, bleibt vage, muß es bleiben, denn es geht um Propaganda. Emotionelle Aufladung ist ihr Zweck – nicht präzise Beschreibung. Sie würde Nachprüfbarkeit ermöglichen, ja zu ihr auffordern. Präzise Aussagen müssen also vor allem über den vermieden werden, der, als universeller Feind aufgebaut, zur Erklärung alles Unheils herhalten soll.“ 160 Vgl. Alfred Heuß, Auseinandersetzungen über das Wesen der neuen Musik, in: Zeitschrift für Musik (Nov. 1923), 8f: „Es gibt insofern kaum etwas Undeutscheres als die neue Musik […]. Heute sind wir bereits so weit, daß gut deutsch gesinnte Musiker […] von wesensfremden Anschauungen infiziert sind, weil ihnen fremdes Blut sowohl in frechster wie raffiniertester Weise tagtäglich eingeträufelt wird.“ 161 Fritz Ohrmann, Zwei Schwarze Tage für die extreme musikalische Moderne in Berlin. Kreneks Einakter-Zyklus in der Kroll-Oper.– Der neueste Schönberg in der Philharmonie, in: Signale (Dez. 1928), 1525. 162 Julius Korngold, Wien, Ende Januar, in: Signale für die Musikalische Welt (Febr. 1910), 221. 163 Heuß, Auseinandersetzungen über das Wesen der neuen Musik, in: Zeitschrift für Musik (März 1924), 3. Teil: III. Über Arnold Schönberg, 113. 164 Heuß, Auseinandersetzungen über das Wesen der neuen Musik (März 1924), 100. 165 Heuß, Auseinandersetzungen über das Wesen der neuen Musik (März 1924), 114.
Zur Genese des Begriffs der ‚Rasse‘
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Jenseits musikgeschichtlicher Tatsachen polemisierte 1925 mit offenem Antisemitismus der Hauptschriftleiter der Zeitschrift für Musik Alfred Heuß:166 Aber bereits um 1900 war der deutsche Musikboden stark zersetzt, was niemand schärfer merkte als gerade Schönberg, der sich, weil er keine starke deutsche Vergangenheit in sich fühlte, immer mehr auf sich selbst angewiesen sah, somit seine immer stärker hervortretende Wurzellosigkeit zum Prinzip machte und sie mit fanatischem Eifer durcharbeitete. Seine weitere Entwicklung ist persönlich und rassenmäßig bestimmt [...]. Seine Entwicklung, sein Schicksal hat aber mit dem der deutschen Musik nicht das mindeste zu tun, immer hat diese Mittel und Wege gefunden, neue natürliche Entwicklungen einzuschlagen und zwar eben ohne Gewaltsamkeiten. [...] Der auf sich selbst gestellte, nirgends mehr bodenständige, auch bewusst traditionslos sein wollende Jude als fanatischer Führer – das bedeutet nichts anderes als den Weg zum Untergang [...].167
Derlei Schmähungen mit ihrer säkularisierten Übertragung der tradierten Stereotype des 19. Jahrhunderts und den skizzierten Erweiterungen und Verdichtungen zum modernen Antisemitismus als unüberbrückbarer ‚Rassen‘-Gegensatz zwischen Juden und Nicht-Juden waren kein Einzelfall. In welchem Maße der Gedanke der ‚Rasse‘ das Musikschrifttum nach dem Ende des Ersten Weltkriegs prägte und nicht nur auf antisemitischer Seite zu einer Verdichtung der Zuschreibungen führte, soll im folgenden Kapitel aufgezeigt werden.
4.2 Zur Genese des Begriffs der ‚Rasse‘ in der Musikliteratur Zur Genese des Begriffs der ‚Rasse‘ Das Interesse an den naturwissenschaftlich-anthropologischen Grundlagen der Musik setzte von vereinzelten Artikeln während des 19. Jahrhunderts abgesehen in der deutschsprachigen Musikliteratur erst nach der Wende zum 20. Jahrhundert ein. Dabei entfaltete der Begriff der ‚Rasse‘ im Musikschrifttum der Weimarer Republik eine prägende Präsenz. Die Übertragung der ‚Rassentheorie‘ auf den musikalischen Bereich bildete darin nur einen Aspekt in der Annahme, dass jegliche gesellschaftliche Prozesse scheinbar rein wissenschaftlich auf biologistische Gesetzmäßigkeiten und Systeme zurückzuführen seien.168 Als Ausdruck der Säkularisierung, der Verunsiche166 Bereits 1921 in seinem Antrittsartikel An die Leser der Zeitschrift für Musik (in: Zeitschrift für Musik [1. Okt.-Heft 1921], 485f) kündigte Heuß an, die Musikzeitschrift unter die programmatische Zielsetzung einer ‚Entlarvung‘ durch Artikel über „Das Judentum in der neueren deutschen Musik“ (486) stellen zu wollen. 167 Heuß, Arnold Schönberg – Preußischer Kompositionslehrer (Okt. 1925), 584. 168 Helmuth Plessner, Die verspätete Nation, 165: „Dieser neue Glaube an die Macht des Blutes als der eigentlichen Wurzel und Bestimmung des Menschen in den Grenzen eines rassisch
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rung in der technischen wie kulturellen Moderne, des Werteverlusts durch die Weltkriegserfahrung und der schwierigen ökonomischen Situation der Weimarer Zeit entwickelte der ‚Rasse‘-Gedanke nach 1918 ebenso wie die völkische Idee eine große Anziehungskraft. Mit der Entstehung der ‚Rassentheorien‘, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vor allem hinsichtlich der nationalstaatlichen Entwicklung Europas an Dynamik gewannen, wurde der Begriff der ‚Rasse‘ in theoretischen Konstrukten systematisiert.169 Dabei gingen die meisten Autoren sowohl von einer, ihrer jeweiligen Einteilung entsprechenden ‚Bluts-Reinheit‘ der einzelnen ‚Rassen‘ als auch von der ‚naturgegebenen‘ Hierarchisierung in ‚höhere‘ und ‚niedere Rassen‘ aus. Die biologistisch begründete Überlegenheit der jeweils eigenen ‚Rasse‘ und ihre impliziten Herrschaftsansprüche verschmolzen im Zuge nationalstaatlicher Integrations- und Abgrenzungsbestrebungen mit einem aggressiven Nationalismus. Die ‚Rassenkunde‘ entwarf den Begriff der ‚Rasse‘ als überzeitliche Kategorie und als scheinbar naturwissenschaftlich begründbare Erklärung für sprachliche, geschichtliche, religiöse und kulturelle Differenz. Mithilfe anatomischer Messungen und Systematisierungen der physischen Merkmale im Rahmen einer angeblich ‚objektiven‘ Wissenschaft versuchten die ‚Rassentheorien‘, eine empirische Grundlage zu schaffen. Gleichzeitig erschien die Annahme permanenter ‚leib-seelischer‘ Merkmale, die sowohl tradierte Vorurteile und Stereotype als auch neue, zum Teil wahllos zugeordnete ‚Rasse‘-Eigenschaften mit einem biologistischen ‚Rasse‘-Begriff zu begründen suchte. Die Allgegenwärtigkeit der Vokabel ‚Rasse‘ in den Diskussionen der Weimarer Republik lässt sich anhand der unterschiedlichsten Bereiche des Musikschrifttums aufzeigen. In musikgeschichtlichen und biographischen Abhandlungen kann der Begriff ebenso nachgewiesen werden wie in Artikeln der großen Musikzeitschriften der Zeit. Das Fehlen einer allgemein verbindlichen deutschen ‚Rassentheorie‘ verstärkte diese Debatten und Erörterungen. Hier überwogen vornehmlich assoziative Verknüpfungen völkerpsychologischer Klischees und oberflächliche Einbindungen anthropologischer Verweise, die in ihren jeweiligen Zuschreibungen zu den untergehaltenen Volkes bildet die letzte Antwort auf die Verfallsgeschichte griechisch-christlicher Überlieferung im Blick auf Deutschlands politische und geistige Lage.[...] Der Blutglaube übernimmt damit (in höchst durchsichtiger Verbindung des religiösen und des wissenschaftlichen Elementes) die von der freien Philosophie nicht mehr zu erfüllende [...] religiöse Funktion wissenschaftlicher Weltanschauung. Als solches organisiert er eine biologische Weltansicht, welche die Natur des Menschen zum Erklärungs- und Willensprinzip macht.“ 169 Vgl. zur Entstehung des Rassismus: Patrik von zur Mühlen, Rassenideologien. Geschichte und Hintergründe; Imanuel Geiss, Geschichte des Rassismus; Peter Emil Becker, Wege ins Dritte Reich. Teil II: Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und Völkischer Gedanke; Mosse, Die Geschichte des Rassismus.
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schiedlichen ‚Rassen‘ nichts mit fundierten (musik-)wissenschaftlichen Aussagen gemein hatten. Die sehr beliebig gewählten biologistischen Erklärungsansätze dienten vielmehr als vermeintlich naturwissenschaftliche Unterstützung der jeweiligen Argumentationsrichtung der Darstellung.170 In der Entstehung und Entwicklung des Begriffs der ‚Rasse‘ in der deutschsprachigen Musikliteratur zeigen sich in der zeitgenössischen Diskussion drei Bezugsysteme. So orientierte sich die Musikpublizistik zum einen an den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen von Charles Darwin und Johann Gregor Mendel und versuchte, diese pauschal auf die Musikgeschichte wie auf einzelne Kompositionen zu übertragen. Darüber hinaus spielten insbesondere die verschiedenen kulturphilosophischen Theorien mit pessimistischer Ausrichtung, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts von Autoren wie Joseph Arthur Gobineau, Houston Stewart Chamberlain, Oswald Spengler und schließlich Alfred Rosenberg publiziert worden waren, gerade in der nationalistischen Idee einer biologischen Einheit und Überlegenheit der ‚germanisch-arischen Rasse‘, wie sie die völkische Bewegung konstruierte, eine entscheidende Rolle. Diese Kulturmodelle wurden mit dem dritten Strang, dem rassistisch begründeten Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts verknüpft. Mit der Übertragung politisch-gesellschaftlicher Prozesse auf den musikalischen Bereich nach Ende des Ersten Weltkriegs171 lässt sich eine zunehmend polemische Verzahnung der oben skizzierten Schlagwörter wie ‚Entartung‘, ‚Zersetzung‘, ‚Impotenz‘ oder ‚Degeneration‘ mit den Diskussionen um den Begriff der ‚Rasse‘ feststellen, die zumeist in dualistischen Systemen, oberflächlichen Analogiebildungen und einer phrasenhaften, stereotypen Metaphorik ihren sprachlichen Ausdruck fand.172 170 Die Diskussionen um ‚rassenkundliche‘ Thesen im Musikschrifttum nach 1918 schufen eine Grundlage, auf die sich die nazistische Agitation nahtlos berufen konnte. Eine Abhandlung wie Richard Eichenauers Musik und Rasse (1932), die als ‚Grundlagenwerk‘ nach 1933 gelten kann, verweist gleichzeitig auf die spezifische Bedeutung der Musik als Symbol nationaler Überlegenheit und ihrer Überfrachtung mit biologistisch-anthropologischen Theorien. Abgesehen von Paul Schultze-Naumburgs Kunst und Rasse (1928) sind Eichenauers ‚rassenkundliche‘ Physiognomiebetrachtungen eine singuläre Erscheinung der geisteswissenschaftlichen Literatur der Zeit und zeigen das weitreichende Interesse an einer angeblich naturwissenschaftlich begründbaren ‚Rassentheorie‘ in der Musik auf. 171 Bei den vor 1918 erschienen Artikeln handelte es sich zumeist um Einzelerscheinungen, auf die jedoch in den 20er und 30er Jahren aufgebaut werden konnte. 172 Alexander Bein, ‚Der jüdische Parasit‘. Bemerkungen zur Semantik der Judenfrage, 142: „In dieser Atmosphäre der Biologisierung der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften und der Mythisierung biologischer Gegebenheiten, der Erschütterung aller Werte, der materiellen, der geistigen und der moralischen im Verfolg des Ersten Weltkrieges und seiner Nachwirkungen, der Vermassung und Totalisierung des Lebens in allen Bezügen – vom motorisierten Verkehr bis in die Politik, bei der Verkehrsregelung und der Reklame mit ihren Techniken der suggestiven Verbreitung von einfach-einprägsamen Worten und Bildern und Parolen, – fiel der Sprache mit
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1886 erschien die deutsche Fassung der 1859 von Charles Darwin veröffentlichten Abhandlung The Origins of Species by Natural Selection unter dem Titel Die Entstehung der Arten im Tier- und Pflanzenreich durch natürliche Zuchtwahl. Nicht nur durch den deutschen Untertitel Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe ums Dasein stellte diese einen zentralen Bezugspunkt für die Entstehung der ‚Rassentheorien‘ dar, wie George Mosse in seiner Geschichte des Rassismus akzentuiert: Den wichtigsten und weitreichendsten englischen Beitrag zur Rassentheorie leistete der Darwinismus. Charles Darwin selbst war kein Rassist, aber solche Vorstellungen wie ‚natürliche Auslese‘ und ‚Überleben des Tüchtigsten‘ wurden von Rassetheoretikern begierig aufgenommen. [...] Darwins eigene Theorie vom Überleben und der Auslese war kompliziert. Sie beruhte mehr auf Umwelttheorie als auf Vererbung.173
In der Abschwächung der Umweltfaktoren, der Betonung der Vererbung, vor allem aber in der Übertragung des ‚Kampfes um das Dasein‘ aus dem Pflanzen- und Tierreich auf die menschliche Gesellschaft konnte eine sozialdarwinistische Theorie „ohne Schwierigkeiten als Leitfaden für rassische Klassifizierung verwendet“ werden.174 Den vermutlich ersten Ansatz der Anwendung der Darwinschen Entwicklungstheorie auf musikalische Sachverhalte versuchte der Musikforscher und Germanist Oswald Koller (1852–1910) in seinem 1901 im Jahrbuch der Musikbibliothek Peters für 1900 erschienenen Artikel Die Musik im Lichte der Darwinschen Theorie. Ohne direkte Verknüpfung mit ‚rassenkundlichem‘ Denken bemühte sich Koller musikgeschichtliche Parallelen für die von Darwin geprägten Begriffe wie ‚Erblichkeit‘, ‚Selektion‘, ‚Kreuzungen‘ und ‚Variabilität‘ zu finden. In seiner „Anwendung der Gesetze des organischen Lebens auf das geistige Gebiet“175 sah er eine Entsprechung der verschiedenen Organismus-Arten in den unterschiedlichen musikalischen Formen. Da Koller jedoch auch Vokabeln wie ‚Erblichkeit‘ abstrakt auf musikgeschichtliche Phänomene übertragen wollte, konstruierte er die ‚Eltern‘ eines musikalischen ‚Organismus‘ in den musikhistorisch geprägten Begriffen Personal- und Zeitstil: So ist das Kunstwerk Produkt zweier Faktoren. [...] Wie alle Kinder eines Vaters sich mehr oder weniger gleichen, so tragen auch alle unter denselben gleichartigen Verhältnissen entstandenen Kunstwerke ein einheitliches gemeinsames Gepräge; wie aber alle Kinder auch ihrer Mutter ähnlich sind, so tragen auch alle von einem und den in ihr eingeschlossenen Bildern und Vorstellungen eine immer tiefer eindringende und verhängnisvollere Rolle zu.“ 173 Mosse, Geschichte des Rassismus, 95. 174 Mosse, Geschichte des Rassismus, 95. Die Verbreitung der Formulierung ‚Survival of the fittest‘ erfolgte allerdings durch Herbert Spencer (1820–1903). 175 Koller, Die Musik im Lichte der Darwinschen Theorie (1901), 38.
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demselben Künstler geschaffenen Werke gewisse verwandtschaftliche Züge an sich. [...] Ist nun ein Kunstwerk als gemeinsames Ergebnis zweier schaffender Kräfte, mit beiden Urhebern verwandt und beiden ähnlich, so ist es klar, dass man den Begriff der Erblichkeit im übertragenen Sinne auch auf die Werke der Kunst anwenden kann.176
In seinen metaphorischen Gleichsetzungen versuchte Koller ebenfalls den zentralen, von Darwin im Rahmen seiner Selektionstheorie geprägte Ausspruch des ‚Kampfes um das Dasein‘ auf das Publikum zu übertragen. Diesem Publikum, bei dem sich das jeweilige Kunstwerk durchsetzen müsse, um seinen Wert zu beweisen, wurde in unterschwellig sozialdarwinistischer Anwendung ein quasi mystischer Auslese-Mechanismus zugeschrieben:177 Der natürliche Regulator aber dieses Kampfes ums Dasein ist der Geschmack des Publikums. [...] Seine unberechenbare und schwankende Gunst ist nicht ein Produkt der Laune, des Zufalls oder der Willkür, sie ist nur der Ausdruck unbewusster ewiger, vielleicht nie ergründbarer Entwicklungsgesetze. Kampf ums Dasein herrscht überall, wohin wir blicken.178
In der Idee „unbewusster ewiger [...] Entwicklungsgesetze“, die als Grundsätze der Natur zu allgemeingültigen, überzeitlichen musikhistorische Erklärungen stilisiert wurden, drückten sich gleichzeitig die enthusiastischen Hoffnungen aus, die Koller mit seiner Übertragung von biologischen Gesetzmäßigkeiten auf die Geisteswissenschaften verband: So zeigt es sich, dass die Gesetze, die die organische Welt beherrschen, auch für die Welt der Kunst Geltung haben: die Erblichkeit, die Variabilität, die Überproduktion, 176 Koller, Die Musik im Lichte der Darwinschen Theorie (1901), 40. Ebenfalls aus dem jeweiligen Zeit- und Personalstil erklärte Koller die von Darwin eingeführten Faktoren der ‚konservativen‘ und ‚progressiven Erblichkeit‘, d.h. die Vererbung genetisch bedingter und selbstständig erworbener Eigenschaften (41): „Auf das Gebiet der Kunst angewendet, bedeutet die konservative Erblichkeit, dass jedes Kunstwerk die Form seiner Zeit widerspiegelt. [...] Die progressive Erblichkeit bedeutet, dass jeder Künstler aus seiner Individualität heraus zu der überkommenen Ausdrucksweise, zu den ererbten Formen etwas Neues, ihm Eigentümliches hinzufügt, dass er den von ihm geschaffenen Organismus bereichert, ihn vollkommener, ausdrucksfähiger gestaltet und dass diese vervollkommnete Form ihren Einfluss auf die Kunstschöpfungen der folgenden Zeit ausübt.“ 177 Vgl. Plessner, Die verspätete Nation, 101: „Die tiefe Wirkung Darwins [...] erklärt sich eben daraus, daß die Begriffe Kampf ums Dasein, Anpassung, Überleben der Tüchtigsten und Bestangepaßten eine naturgesetzliche Rechtfertigung des Gesellschaftsideals der freien Konkurrenz erbringen.“ 178 Koller, Die Musik im Lichte der Darwinschen Theorie (1901), 49. Den ‚Kampf‘ auf musikalischem Gebiet illustrierte Koller mit progressiven Musikentwicklungen, die er als „Zerstörung“ musikalischer Gattungen charakterisierte: „Kreuzen sich zwei verschiedene Arten von Organismen, so nennt man ihre Nachkommen [...] Bastarde. Entgegen der organischen Natur begünstigt die moderne Musik solche hybriden Bildungen; ja, die Zerstörung der altüberkommenen Formen, die Verschmelzung der Artunterschiede scheint sogar zu ihren wesentlichen Merkmalen zu gehören.“
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die zum Kampf ums Dasein und dadurch zur Divergenz der Charaktere und zum Erlöschen der minder verbesserten Formen führt. [...] und es ist ein grossartiger Gedanke, dass alles, was auf der Welt lebt, einem und demselben Gesetze folgt [...].179
Wesentlich weiter als Oswald Koller in seinem Glauben an die Naturwissenschaften ging der Komponist und Dirigent Roderich von Mojsisovics [eigentlich Mojsisovics von Mojsvár, geb. 1877]. Anders als dieser schlug er in seinem Artikel Künstlerische Vererbung180 von 1925 eine direkte Übertragung der Mendelschen Vererbungsgesetze181 auf die Genealogie des jeweiligen Komponisten vor. Mit dieser Anregung zu Stammbaum-Betrachtungen sah Mojsisovics das an biologische Vererbungsregeln gekoppelte „Umformen von Gedankenkreisen der Vorfahren“182 als eine Art überzeitliches, genetisch bedingtes ‚musikalisches Gedächtnis‘. Dieses könne sich sowohl in einzelnen Familien183 als auch in Gruppen mit derselben „völkischen Abstammung“184 bewahren. Seine nationalistisch-völkische Grundhaltung ergänzte Mojsisovics mit dem Verweis auf die „angeborenen Fähigkeiten“ der ‚fremden‘ Juden und deren angeblich musikalischer Nähe sowohl zum ‚asiatischen Orient‘ als auch zu einer „afrikanische[n]“ Musik:185 179 Koller, Die Musik im Lichte der Darwinschen Theorie (1901), 49f. Der Musikwissenschaftler Erwin Felber bezog sich Ende der 20er Jahren in seiner Erörterung der Geltung von Naturgesetzen in der Musik (in: Melos [Mai 1927]) direkt auf Kollers Artikel, akzentuierte jedoch mit Verweis auf Mendel stärker den Bereich der Vererbung und kam zu der vorsichtigen Einschätzung (205): „Es mag heute noch ganz aussichtslos erscheinen festzustellen, nach welchem Schlüssel, nach welchem ziffernmässigen Verhältnis Gesetz und Zufall in der musikalischen Stilbildung, in dem komplizierten Musikbau, der eine Vielheit von als Einzelwesen heute noch nicht definierbaren Organismen umfasst, ineinandergreifen.“ Zu Felber vgl. Kap. 5. Exkurs: Kulturzionistische Positionen. 180 In: Neue Musik-Zeitung (1925). 181 Der österreichische Mönch Johann Gregor Mendel entdeckte 1865 die nach ihm benannten und bis heute gültigen Gesetze der Vererbung, deren Bedeutung um die Wende zum 20. Jahrhundert unter anderem durch den Vererbungsforscher Karl Erich Correns (1964–1933) wiederentdeckt worden war. 182 Mojsisovics, Künstlerische Vererbung (1925), 177. 183 Mit nationalistischer Ausrichtung wählte Mojsisovics das nahe liegende Beispiel der Familie Bach und betonte mit Blick auf deren Verwandtenehen, „daß in kräftigen, urgesunden Familien auch die – altdeutsche Inzucht nichts schadet“ (178). Ähnlich wie nach ihm Alfred Lorenz (Musikwissenschaft und Ahnenforschung, in: Zeitschrift für Musik [Dez. 1938], 1372f) forderte Mojsisovics auch andere Genealogien zu erforschen (Künstlerische Vererbung, 177): „Natürlich hängt dieser Gedanke, insolange wir über die Abstammung unserer Großmeister und Kleinmeister nicht im klaren sind, in der Luft. Ich halte es daher für die allerwichtigste, wenn auch für eine unendlich schwierige [...] Aufgabe der biographischen Forschung: die Stammbäume unserer Tonheroen (wie aller schaffenden Künstler überhaupt) in tunlichster Vollständigkeit aufzustellen.“ Als Beitrag zur ‚musikalischen Rasenkunde‘ erschien 1939 in dem Sammelband Rasse und Musik (hg. von Guido Waldmann) erneut eine solche Stammbaumbetrachtung der BachFamilie von dem Freiburger Musikwissenschaftler Josef Müller-Blattau (Die Sippe Bach. Ein Beitrag zur Vererbung, 48–67). 184 Mojsisovics, Künstlerische Vererbung (1925), 177. 185 Diese These korrespondierte mit der völkischen Agitation gegen den ‚verjudeten Negerjazz‘.
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Ich habe die feste Überzeugung, daß auch daraus die Unmöglichkeit für unsereins entspringt, fremdvölkische, etwa asiatische (z.B. japanisch-chinesische) oder afrikanische (z.B. ägyptische) Kunst voll zu erfassen: etwas bleibt uns immer fremd darin. Hierin mag [...] auch die Blutmischung von Einfluß sein; so werden beispielsweise Juden oder auch nur Halbjuden stets asiatische und afrikanische Kunst mit heller Begeisterung aufnehmen: ‚sie gehen mit!‘ was natürlich ist, weil dies einer ihrer angeborenen Fähigkeiten entspricht, in dem das betreffende Kunstwerk durch Linienführung und Ausdruck in ihnen mitschwingende Empfindungen auslöst.186
Mit der Vokabel „Linienführung“ scheint Mojsisovics hier eine spezifisch ‚jüdische‘ Begabung für das melodisch Lineare zu unterstellen, die als ‚Oberflächlichkeit‘ implizit in diametralem Gegensatz zur ‚deutschen‘ Musik, speziell der harmonischen ‚Tiefe‘ Johann Sebastian Bachs stünde. Gleichzeitig ermöglichte die Inanspruchnahme eines diffusen „Ausdrucks“, der an konkreten musikalischen Sachverhalten kaum eindeutig zu bestimmen ist, letztlich jede beliebige Projektion. Mit anderen, den Juden zugeschriebenen „angeborenen Fähigkeiten“ beschäftigte sich bereits drei Jahre zuvor der seinerzeit bekannte Berliner Klavierpädagoge Rudolf Maria Breithaupt (1873–1945) in dem Artikel Spieltalent und Rasse, der 1922 in der Zeitschrift Die Musik erschien. Den Begriff der „Rasse“ schon im Titel führend, ging Breithaupt von einer engen Beziehung zwischen dem Instrumentalspiel und der Abstammung aus nationalen ‚Rasse‘-Gemeinschaften aus.187 Eine auffallende Begabung zum Klavier- und Geigenspiel schrieb er in besonderem Maße der „semitische[n]“ und der „slawische[n]“ ‚Rasse‘ zu:188 Die instrumentale Spielbegabung ist in erster Linie eine Rassenfrage, d.h. Sache mehr des Blutes, der Vererbung und Anlage (zentrale Disposition) als der Organisation, der Erziehung und Durchbildung, der Atmosphäre und Kultur.189 186 Mojsisovics, Künstlerische Vererbung (1925), 179. 187 In seinen Betrachtungen der jeweiligen Begabung in den verschiedenen Ländern und Kontinenten suchte Breithaupt in kuriosen Analogiebildungen unterschiedliche Erklärungen. So verglich er etwa das „Spieltalent“ in Nordamerika mit dem Weinanbau (41: „Von Nordamerika kann man wie von den Weinbergen sagen, es gibt gute, mittlere und schlechte Lagen und Kreszenzen. Der reine New-Jersey-Mann teilt dasselbe Schicksal wie der Stockengländer. Dieser Stamm liefert nur sauren Wein. Die besten Erzeugnisse wachsen im Süden“) und sah in der englischen Sportbegeisterung den Grund für einen Mangel an musikalischen Fähigkeiten (41): „Seine unwiderstehliche Neigung zur Fußball- und Boxerkunst sowie zum Wassersport schließen ja auch eine künstlerische Betätigung auf dem Gebiete der musikalisch-nachschaffenden Künste von vornherein aus.“ 188 Breithaupt, Spieltalent und Rasse (Okt. 1922), 37: „Eine außerordentliche Eignung und Anpassung an die Instrumentalkünste, insonderheit an die Klavier- und Geigenkunst, weisen zwei Rassen auf: die semitische und slawische, sowie deren Mischungen.“ Auffallend ist die inhaltliche Nähe zu dem oben erwähnten Aufsatz Ueber die Entwicklung des musikalischen Sinns bei den verschiedenen Völkern Europa’s von F. Helms, in dem schon 1843 eine günstige musikalische Anlage in der ‚Blut-Mischung‘ gesehen wurde. Vgl. Kap. 3.4 Die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts: Kontinuitäten und Akzent-Verschiebungen. 189 Breithaupt, Spieltalent und Rasse (Okt. 1922), 37.
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In Anknüpfung an das tradierte anti-judaistische Stereotyp eines Mangels an schöpferischen Fähigkeiten sah Breithaupt ‚die Juden‘ primär als Vertreter der ‚oberflächlichen‘ Unterhaltungsmusik190 und suchte deren geringe „schöpferische und gestaltende Begabung“191 mit diffusen anatomischen Verweisen zu belegen: Die frontalen Stirnlappen werden mehr entwickelt als die sensiblen Gehirnflächen. Intelligenz und Klugheit überragen die Phantasie und die höheren Assoziationsformen. Nachahmungstrieb und Wirklichkeitssinn führen mehr zur Vollendung des Technischen. Äußerer Ehrgeiz und Eitelkeit, dazu ein durch ein Jahrtausend geschärfter merkantiler Instinkt bringen zwar Geld und Ruhm, lenken aber oft von der Sache ab und verschütten nur zu leicht die Quellen des Musikalisch-Künstlerischen.192
Neben den bekannten Etikettierungen wie „Nachahmungstrieb“, ‚Geldgier‘, „Ehrgeiz und Eitelkeit“ erschien Breithaupt die spezifisch ‚jüdische‘ Instrumentalbegabung durch eine „geistige Lebendigkeit und Beweglichkeit“ und eine „schnelle Auffassungs- und Anpassungsgabe“ begründbar.193 Als maßgebliche Eigenschaften der „jüdischen Rasse“ galten ihm ein „starker Spielwille“ mit einem „blendenden Gedächtnis und Gehör“.194 Dieser gehe bei ‚den Juden‘ mit einer „großen persönlichen Ungebundenheit und Freiheit des Wesens“ und einem „unermüdlichen Fleiß“195 einher. Da besonders die „Kreuzungen und Mischung“196 mit „Judenblut“197 den „besten Nährboden für das Spieltalent“198 ergäben, folgerte Breithaupt, dass „Reinkulturen [...] eher verdächtig“ seien.199 Obgleich damit nicht dem völkischen Gedanken einer ‚Bluts-Reinheit‘ verpflichtet,200 lieferten seine Behauptungen 190 Breithaupt, Spieltalent und Rasse (Okt. 1922), 37, Fußnote: „Man vergleiche auch ihre überragende Befähigung zur Schauspielkunst und zur Kunstgattung der Operette. Selbst die Opernsoubrette ist meist jüdischer Abstammung. In der Artistenwelt, auf dem Gebiete der Jongleurkunst, der Equilibristik und der exzentrischen Leistungen ist das gleiche der Fall.“ 191 Breithaupt, Spieltalent und Rasse (Okt. 1922), 37. 192 Breithaupt, Spieltalent und Rasse (Okt. 1922), 37. Obgleich Breithaupt die Schlagwörter der Rezeption Meyerbeers, Mendelssohn Bartholdys und Offenbachs verwendete, gestand er diesen als „Ausnahmeerscheinungen“ ihrer ‚Rasse‘ ein schöpferisches Potential zu und distanzierte sich hiermit von dem gängigen antisemitischen Schema in Wagner-Nachfolge (43f): „Genial-schöpferische Begabungen vom Range eines Halévy, Mendelssohn, Meyerbeer usw. werden jedenfalls solange Ausnahmeerscheinungen bleiben, als [...] der Auftrieb zu ideelen Höhen, [...] das Ringen und Leiden um das Erfassen der Weltseele [...], die Vertiefung der Technik nach Seite der großen Form, des inneren Aufbaues und kontrapunktischen Durchführung hin der jüdischen Rasse nicht zu einer inneren Notwendigkeit geworden ist.“ 193 Breithaupt, Spieltalent und Rasse (Okt. 1922), 37. 194 Breithaupt, Spieltalent und Rasse (Okt. 1922), 37. 195 Breithaupt, Spieltalent und Rasse (Okt. 1922), 37. 196 Breithaupt, Spieltalent und Rasse (Okt. 1922), 38. 197 Breithaupt, Spieltalent und Rasse (Okt. 1922), 39. 198 Breithaupt, Spieltalent und Rasse (Okt. 1922), 38. 199 Breithaupt, Spieltalent und Rasse (Okt. 1922), 39. 200 Die Idee einer Reinheit der ‚Rassen‘ wurde indes schon Mitte des 19. Jahrhunderts von Joseph Arthur Gobineau in seinem Essai sur l’inégalité des races humaines (Paris 1853–1855) vertreten.
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angesichts der Diskussionen über den vorherrschenden ‚jüdischen‘ Einfluss auf die ‚deutsche‘ Musik einen weiteren Baustein für die antisemitische Argumentation in der Musikliteratur.201 Zudem listete Breithaupt die Namen von über vierzig Pianisten auf, um seine Ausgangsthese anhand der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts zu belegen.202 Mit seiner Behauptung, dass seit der jüdischen Emanzipation ein hoher „Zusatz jüdischen Blutes“ bei den ausübenden Musikern zu finden sei203 und durch eine biologistische Argumentation, die selbst getaufte Juden ihrer „Urrasse“204 zurechnete, wurde unter umgekehrten Vorzeichen die antisemitische Unterstellung einer absichtsvollen, verderblichen Verzerrung ‚deutscher‘ Musik durch jüdische Interpreten rassistisch unterfüttert.205 In welchem Maße Breithaupts Idee einer biologischen Disposition ‚der Juden‘ zur nachschaffenden Kunst auf ein zeitgenössisches Interesse stieß, bezeugt die Diskussion, die seine Thesen in der Allgemeine Musik-Zeitung auslöste.206 201 In den meisten der von ihm betrachteten Länder sah Breithaupt einen ‚jüdischen‘ Einfluss aufgrund der ‚Rassen-Mischung‘ und folgerte unter anderem für Deutschland (40): „Was in Deutschland an großen Spieltalenten lebt, ist meistens fremdstämmiger Geburt, sind jüdische oder slawische Mischlinge: Russen, Polen, Böhmen, Ungarn und Romanen.“ 202 Breithaupt, Spieltalent und Rasse (Okt. 1922), 43. Unter den Genannten befanden sich die Pianistenbrüder Henri und Jacques Herz, Ignaz Moscheles sowie Anton und Nikolaus Rubinstein, aber auch irrtümlicherweise Ferruccio Busoni. Besonders stigmatisierend erscheint die Namensnennung seinerzeit noch berufstätiger Musiker wie etwa Arthur Schnabel, Leonid Kreutzer oder Ignaz Friedmann. Eine Anregung für diese Auflistung Breithaupts mögen die seit den 1880er Jahren erschienenen antisemitischen Publikationen mit deutlich denunziatorischem Charakter gewesen sein. Vgl. Kap. 6.1 Die Juden in der Musik: Nachschlagewerke und schwarze Listen. 203 Breithaupt, Spieltalent und Rasse (Okt. 1922), 43: „Ein gleich hoher Einschuß und Zusatz jüdischen Blutes läßt sich auch unter den Sängern und Sängerinnen, Geigern, Cellisten und Dirigenten feststellen.“ 204 Breithaupt, Spieltalent und Rasse (Okt. 1922), 43. 205 So konnte Richard Maar in seiner Dissertation Über den jüdischen Einfluß auf die Wiedergabe klassischer deutscher Violinmusik von 1941 indirekt an die Thesen Breithaupts anknüpfen. Vgl. Kap. 6.2 Historische Legitimationskonstrukte antisemitischer Musikpolitik. 206 Der Historiker und Musikschriftsteller Richard Sternfeld (1858–1926) lobte in seinem Aufsatz Spieltalent und Rasse. Eine Entgegnung an Rudolf Maria Breithaupt (in: Allgemeine Musik-Zeitung [Dez. 1922], 920) Breithaupt, der „manches Hübsche und Einleuchtende gesagt“ habe, wenn auch seine Betrachtungen „etwas oberflächlich“ seien. Gerade in Bezug auf die ‚rassenspezifische‘ Namens-Auflistung Breithaupts äußerten sowohl er als auch der Musikwissenschaftler Gustav Ernst (Noch einige Worte zum Thema ‚Spieltalent und Rasse‘, in: Allgemeiner Musik-Zeitung [Jan. 1923], 4) Widerspruch bei einigen der genannten Pianisten jüdischer Herkunft, vor allem jedoch bei der Einordnung Franz Liszts und Frédéric Chopin als ‚reinen‘ Ungarn bzw. ‚reinen‘ Polen. Sternfeld formulierte zudem grundsätzliche Zweifel an Breithaupts Behauptungen: „Nach allem möchte ich behaupten, daß Breithaupt sich die Sache etwas zu leicht gemacht hat. [...] Sollte nur die Abstammung im Künstler, im Dichter und Musiker wirksam sein und gar nicht die Umwelt, das Vaterland, in das er hineingeboren, die Sprache vor allem [...] die Erziehung, und andere geheimnisvolle sympathische Kräfte, die sich nie auf bestimmte Formeln bringen lassen werden?“ Ein halbes Jahr später äußerte sich Sternfeld jedoch ganz anders. Herbert Johannes Gigler stellte in seinem Artikel Musik und Klima die These auf, dass es in „der Rassenfrage“ besonders „das Klima“ sei, das „zur Unterscheidung einen wesentlichen Faktor beiträgt“
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Neben Übertragungen von Darwins und Mendels Theorien waren es vor allem die nationalistischen Strömungen mit ihrer Idee einer Überlegenheit der ‚arisch-germanischen Kultur‘, die den Begriff der ‚Rasse‘ in der Musikliteratur der Zeit entscheidend prägten und um einen mystisch-nationalistischen sowie einen offen antisemitischen Aspekt erweiterten.207 Als umfassendes Geschichts- und Kulturmodell war schon Mitte des 19. Jahrhunderts der vierbändige Essai sur l’inégalité des races humaines des Diplomaten Joseph Arthur Gobineau (1816–1882) erschienen, dessen deutsche Fassung von dem – im Bayreuther Umfeld tätigen – Ludwig Schemann als Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen (1889–1901) veröffentlicht worden war. Gobineau unterschied in seiner Abhandlung drei Grund-‚Rassen‘, die weiße, schwarze und gelbe, denen er mithilfe von anthropologischen, linguistischen und historischen Verweisen jeweils eigenständige charakterliche Eigenschaften zuordnete. In Gobineaus kulturpessimistischer Theorie war die ‚Rassen-Mischung‘ zunehmend der Grund für den generellen, unaufhaltsamen Kulturzerfall. Die Juden spielten in diesem Essay eine untergeordnete Rolle. Erst in Kontakt mit Richard Wagner, dem Bayreuther Kreis und der völkischen Bewegung wurden sie zu einer Gegenmacht der ‚weißen, arischen Rasse‘ stilisiert und „Gobineaus Verdammung der schwarzen und gelben Rassen gegen die Juden“ gewendet.208 Ebenso wie Gobineaus ‚Rassen‘-Theorie erfuhren die Gedanken des britischen Schriftstellers Houston Stewart Chamberlain (1855–1927) durch den Bayreuther Kreis eine große Verbreitung. Sein populäres, zweibändiges Werk Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts209 ging von einem dualistischen Weltgeschehen zwischen ‚Gut‘ und ‚Böse‘ aus. Auf der einen Seite stand Chamberlains Verherrlichung der ‚germanisch-arischen‘ Kultur, die sich gegen den allumfassenden Einfluss von ‚Rom‘ und ‚Juda‘ behaup(in: Die Musik [April 1923], 517). Dagegen akzentuierte Sternfeld nun die Bedeutung der ‚Rasse‘ (Musik und Klima, in: Allgemeine Musik-Zeitung [Juli 1923], 480): „Das Meer ist der Musik günstig [...]. Die Niederlande haben ja eine große musikalische Vergangenheit und bis heute bedeutenden Musiker (Beethoven!) hervorgebracht; mehr noch berühmte Sänger. Dagegen heißt es ‚Frisia non cantat‘, und in der Tat ist diese Küste arm an Musik: also ein Zeichen, daß es das Klima nicht allein macht, sondern noch vielerlei anderes: Rasse, Mischung, Befruchtung.“ 207 Wie schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschmolzen jedoch häufig Begriffe wie ‚deutsche Nation‘ oder ‚germanisches Volkstums‘ mit dem biologistischen Gedanken der ‚Rasse‘. 208 Mosse, Geschichte des Rassismus, 80f: „In den letzten Lebensjahren knüpfte Gobineau enge Freundschaft mit Richard Wagner. Dies verhalf seinen Werken zu Popularität [...]. Der Bayreuther Kreis unterstützte ihn finanziell und moralisch. 1894 schließlich gründete Schemann eine Gobineau-Gesellschaft. [...] Bayreuth und die Alldeutschen pervertierten Gobineaus Botschaft, oder besser, sie paßten sie deutschen Bedürfnissen an. Schwarze und gelbe Rassen spielten [...] eine geringe Rolle [...]. Die Juden jedoch [...] waren [...] die Zielscheibe des Rassismus. Auch die Alldeutschen machten die Juden wegen derer vermeintlichen Opposition zu Militarismus und Expansionismus für den Niedergang der Nation verantwortlich.“ 209 OA: 1899, 21900, 31901, 271941.
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ten müsse. Sowohl ‚Juden‘ als auch ‚Germanen‘ galten Chamberlain als gegeneinander um die Weltherrschaft kämpfende ‚Rassen‘: Für Chamberlain waren die Juden ein asiatisches Volk, die mit den Germanen zugleich in der europäischen Geschichte auftauchten und denen es, wie den Germanen, gelungen war, ihre rassische Reinheit zu bewahren. Seiner Ansicht nach war die jüdische Seele materialistisch, legalistisch und bar der Toleranz und Moral. Zum Beweis dafür bezog er sich auf das Alte Testament. Aus Chamberlains Sicht waren die Juden der Teufel und die Germanen das erwählte Volk. Zwischen beiden lebte eine chaotische Mischung von Völkern – passive Zuschauer bei dieser entscheidenden historischen Schlacht.210
Dabei erschien bei Chamberlain die „Rasse nicht nur als ein schon immer Vorhandenes, sondern als etwas Werdendes in Gegenwart und Zukunft“,211 wie Peter Emil Becker in seiner Studie Wege ins Dritte Reich akzentuiert. Mit seinen populären Anschauungen erweiterte Chamberlain den Gedanken einer aus der Abstammung resultierenden ‚Rasse‘ entscheidend um eine mystische Komponente, die sich in den Begriffen ‚Rassenbewusstsein‘ und ‚Rassenseele‘ ausdrückte:212 Das Judentum ist nicht nur eine Macht in der sozialen und politischen Umwelt, sondern mächtig auch in uns. Aus der eigenen Seele muß erst einmal alles Semitische ausgeschieden werden. [...] Das Abgründige, das Fremde, ja das Böse im eigenen Innern wird mit dem Semitischen identifiziert. Deshalb muß nach Chamberlain vor allem in der eigenen Seele eine ‚Umkehr‘ erfolgen, und das eigene Wesen muß gestärkt werden. Erst dann werde die Andersartigkeit, die Fremdheit der Juden deutlicher in Erscheinung treten.213
Als Mittler zwischen der Welt und der ‚Rassenseele‘ kam gerade der Musik eine besondere Bedeutung zu. In seinem Kapitel zur Kunst stilisierte Chamberlain den „Germane[n]“ als „musikalischeste[n] Mensch auf Erden“214 210 Mosse, Geschichte des Rassismus, 128f. 211 Becker, Wege ins Dritte Reich, 178. Vgl. zu Chamberlains ‚Rasse‘-Begriff auch Von zur Mühlen, Rassenideologien, 96: „Rasse war für Chamberlain ein historisch gewordenes Phänomen, das durch die Vereinigung von verschiedenen Erbfaktoren entstand und durch politische, soziale oder auch geographische Barrieren zu einer Art Inzucht großen Stils angehalten und dadurch konserviert wurde. Mit einem Wort: Rasse war für Chamberlain weitgehend identisch mit Nation [...]. Eine sozialdarwinistische Auffassung von der Nation als Vererbungsgemeinschaft mußte indessen keineswegs zwingend zu einer umfassenden Rassentheorie führen. Chamberlain entwickelte [...] eine solche mit der Annahme, daß bestimmte Kombinationen von Erbfaktoren durch eine über viele Generationen wirkende Zuchtwahl eine gewisse Homogenität sowie eine begrenzte Invarianz der dadurch erzeugten Großgruppen verursachen [...] können.“ 212 Laut Chamberlain beruhe die ‚Rassengemeinschaft‘ auf einer nicht näher spezifizierten und nicht nachprüfbaren „Verwandtschaft im Denken und Fühlen“ (Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts [31901], 1. Bd., 269, Fußnote 2). 213 Becker, Wege ins Dritte Reich, 188. 214 Chamberlain, Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts (1901), 2. Bd., 959f: „Musik ist seine spezifisch eigene Kunst, diejenige, in welcher er unter allen Menschen der unvergleich-
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und konstruierte so eine spezifisch ‚germanische‘ Vorherrschaft auf dem Gebiet der Musik.215 An dieser Dominanz der ‚Germanen‘ orientierte sich auch Oswald Spengler (1880–1936) in seinem Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes,216 in dem er den Begriff der ‚Kultur‘ als positives Leitbild gegen eine negativ konnotierte ‚Zivilisation‘ in das Zentrum stellte. Anders als Chamberlain ging Spengler jedoch von einer Herrschaftsabfolge der verschiedenen Kulturen aus und erklärte in organizistischen Bildern und Vergleichen wie der Abbau einer ‚Kultur‘ zur ‚Zivilisation‘ ihren jeweiligen Untergang einläute. Galt die abendländische Kultur und besonders die Musik Spengler als „faustisch“,217 führte er damit ein Schlagwort ein, dass in der Publizistik der Weimarer Zeit zu einem Synonym für die ‚germanische Rasse‘Zugehörigkeit wurde. Gerade hinsichtlich Gustav Mahlers wurde das Attribut ‚faustisch‘ auffallend häufig erörtert. So erschien Mahler in dem oben erwähnten Aufsatz Breithaupts als „der erste faustische Jude, der von diesem inneren Rassezwiespalt loszukommen und das Mißverhältnis zwischen logischer Spekulation und intuitiver Kraft auszugleichen versucht hat“.218 Auch der Musikschriftsteller Roland Tenschert (geb. 1894) suchte in seinem Aufsatz Der Faustische Zug in Gustav Mahlers Wesen und Werk von 1927219 festzustellen, dass die „ganze Reinheit und Lauterkeit Mahlerschen liche Meister ist. [...] Und so greift denn der Germane [...] im 13. Jahrhundert [...] sofort zu der nur ihm eigenen Harmonie und Polyphonie, und zwar geht diese Entwickelung von den kerngermanischen Niederlanden (der Heimat Beethoven’s) aus [...]. Die Italiener sind erst später und zwar als Schüler der Deutschen Musiker von Bedeutung geworden; auch Palestrina schliesst sich den Nordländern unmittelbar an.“ 215 Gleichzeitig verzichtete Chamberlain jedoch auf konkrete Beispiele für seine These. 216 Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Bd. 1: Gestalt und Wirklichkeit (OA: 1918, zit. nach der 48–52. umgearb. Aufl. 1923), Bd. 2: Welthistorische Perspektiven (OA: 1922, zit. nach 63–681923). 217 Spengler, Der Untergang des Abendlandes (1923), Bd. 1, 404: „Halten wir hier, wo es sich um den Stil des faustischen Lebens im Gegensatz zu jedem andern handelt, daran fest, daß die Urworte Wille, Kraft, Raum, Gott, vom faustischen Bedeutungsgefühl getragen und durchseelt, Sinnbilder sind, schöpferische Grundzüge großer, einander verwandter Formenwelten, in denen dieses Sein sich zum Ausdruck bringt.“ 218 Breithaupt, Spieltalent und Rasse (Okt. 1922), 44. Ähnlich meinte auch Adolf Weissmann in seinem Buch Die Musik in der Weltkrise (1922, zit. nach der 2. erw. Aufl. 1925, 107): „Auch das Faustische ist in ihm [Mahler], auch die Sehnsucht nach jener Abklärung, die er mit seinem ererbten Wesen nie erreichen wird. Im Reiche der Musik sind es Beethoven und Wagner, zu denen er strebt.“ Felix Mendelssohn Bartholdy wurde in der zeitgenössischen Literatur dieser ‚faustische‘ Zug aufgrund des Stigmas der ‚Glätte‘ aberkannt und er so aus dem Kanon ‚deutscher‘ Komponisten ausgeschlossen. Vgl. Ernst Wolff, Zu Felix Mendelssohns hundertjährigem Geburtstag (3. Februar 1909), in: Die Musik (Febr. 1909), 140: „Gerade auf die mit Pessimismus durchtränkte Kultur der Gegenwart kann die Erscheinung eines Meisters, der den Nachtseiten des Menschenlebens abgewandt und von keinem faustischen Ringen erfüllt war [...] einen versöhnenden Schimmer werfen.“ 219 In: Die Musik (Juni 1927).
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Wesens“ aus seiner „faustischen Art“ entspränge.220 Auf der anderen Seite konstatierte Tenschert mit Blick auf die zeitgenössische Musikliteratur innerhalb seiner ‚Faust‘-Metapher eine ‚Zerissenheit‘ Mahlers zwischen ‚deutscher‘ Musik und ‚jüdischer‘ Herkunft, zwischen „Faust und Mephistopheles“: Hugo Kauder glaubt auch in dem Judentum Mahlers eine Wurzel seines stetigen Lebenszwiespaltes zu finden. Er führt [...] aus [...]: ‚Das Judentum bedeutet die schärfste Ausprägung des Dualismus, indem es die Extreme alles Menschentums aus seiner Mitte hervorbringt: den Christ und den Antichrist.‘ (Für unsere Ausführungen könnten wir ergänzen: Faust und Mephistopheles!) ‚Es ist einerseits der Inbegriff aller zersetzenden Geisteskräfte, ... aber es hat in sich auch die Möglichkeit zu deren Überwindung. [...]‘ In dem Sinne erscheint uns der Umstand, daß Mahler sich von allem, was auf die Überwindung des Judentums hinzielt, so sehr angezogen fühlt, erklärlich.221
Ein weiteres Schlagwortgeflecht, das durch Spengler entscheidend geprägt wurde, betrifft das Begriffspaar ‚Zivilisation‘ und ‚Kultur‘. Die modernen Großstädte, die den ‚bäuerlichen Kulturmenschen‘ in ihren Bann zogen, galten Spengler als Orte der „Unfruchtbarkeit des zivilisierten Menschen“222 und damit Zeichen des kulturellen Verfalls. Innerhalb seiner Kulturtheorie kolportierte er die Positionen einer, im Zuge der nationalen Einigung und industriellen Revolution entstandenen anti-modernistischen Bewegung, die in den Begriffen Agrarromantik und Großstadtfeindschaft223 ihren Ausdruck fand und setzte sie in direkter Beziehung zur kulturellen ‚Leistung‘. Wenngleich Spengler sich mit seinem Negativbild der modernen Großstädte nicht direkt auf ‚die Juden‘ bezog, konnten doch seine Begrifflichkeiten mit einem rassistisch, antisemitischen Gehalt aufgeladen werden,224 wie er sich in dem Bild des ‚jüdischen‘ Großstadtbewohners zeigt: 220 Tenschert, Der Faustische Zug in Gustav Mahler (Juni 1927), 652. Gleichzeitig sah Tenschert in direktem Bezug zum anti-judaistischen Stereotyp der ‚jüdischen Anpassung‘ (ebd.): „Nicht nur das aufrichtige Bemühen [...] geht daraus hervor, sondern die tiefgründliche Art [...] und nicht zuletzt die starke Einfühlungsfähigkeit des als Juden so blind verketzerten, alle konfessionelle Engherzigkeit weit hinter sich lassenden Weltmenschen.“ 221 Tenschert, Der Faustische Zug in Gustav Mahler (Juni 1927), 654. Tenschert zitiert hier den Aufsatz Vom Geiste der Mahlerschen Musik des Wiener Komponisten Hugo Kauder (1888– 1972) (in: Musikblätter des Anbruch [April-Heft 1920]). 222 Spengler, Der Untergang des Abendlandes (1923), Bd. 2, 123. 223 So der gleichnamige Titel einer Untersuchung von Klaus Bergmann. Unter Einfluss der ‚Rassentheorie‘ wurde etwa Das Bauerntum als Lebensquell der Nordischen Rasse (Walther R. Darré, München 1929) konstruiert. 224 Vgl. Von zur Mühlen, Rassenideologien, 137: „Die Entwicklung der Technik stehe nämlich in engem Zusammenhang mit dem Rassenzerfall: die moderne industrielle Gesellschaft biete durch ein größeres Angebot von Arbeitsplätzen und durch erhöhte Befriedigung menschlicher Bedürfnisse auch solchen ‚minderwertigen‘ Elementen Existenzmöglichkeiten, die in früheren Zeiten dem Kampf ums Dasein zum Opfer gefallen wären.“
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Diese großstadtfeindliche Denkrichtung, die in Deutschland mehr als anderswo wirksam war, bedient sich im weiten Feld der Vorurteile; ihre Vertreter identifizieren wirkliche und eingebildete ‚Stadtbewohner‘ – das Proletariat, die ‚gefährlichen Klassen‘ und eben auch das Judentum – mit ihrem Schreckbild Stadt.225
Die durch Spengler verdichteten und popularisierten Vokabeln ‚Kultur‘ und ‚Zivilisation‘ dienten etwa Hans Joachim Moser in seinem Aufsatz Zwischen Kultur und Zivilisation der Musik226 als zentrale Bezugspunkte, in dem er gegen die „Großstadtzivilisation [...] als traurige Decadence, Überreife, Entartung, als hohler Nachklang des Eigentlichen“ agitierte und dagegen die „Kultur als nach innen verlegte Geistesblüte“ stellte.227 Mit antisemitischen Akzenten versehen korrespondierte die Identifikation von modernen Großstädten und Juden hier zudem mit den tradierten anti-judaistischen Stereotypen der deutschen Meyerbeer-Rezeption. Galt schon im 19. Jahrhundert Paris als Ort des Verfalls und der Unmoral zeigen sich unter Einfluss der Spenglerschen Begriffe in Mosers Auslassungen deutlich antisemitische Untertöne: Hat es nicht immer Meyerbeere gegeben und wird sie stets neu geben? Oder wenigstens entscheidende Zuschüsse solches mephistophelisch-verneinenden Geiste [...]. Ich glaube, die Welt der Schaffenden hat sich immer in Priestertum und Händlertum geteilt [...].228
Mosers Charakterisierung eines ‚jüdischen‘ Einflusses als ‚dekadent‘, ‚entartet‘, ‚kapitalistisch‘, ‚unproduktiv‘, ‚verneinend‘ und ‚teuflisch‘ ergänzte die rassistisch unterfütterten Verherrlichung einer ‚faustischen Kultur‘ zu deren Protagonisten von völkischer Seite Bach, Beethoven und Wagner stilisiert wurden. Mit einem mystischen ‚Kultur‘-Begriff, der die ‚Rasse‘ mitdachte, wurde jegliche abendländische Entwicklung auf dem Gebiet der Musik als Errungenschaft der ‚nordischen Kultur‘ umgedeutet.229 Noch stärker als bei Spengler zeigt sich eine rassistische Prägung der Vokabel ‚Kultur‘ bei Alfred Rosenberg (1893–1946), der 1930 mit seinem Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts ein Grundlagenwerk des Nationalsozialismus vorlegte. Entscheidend durch Spengler und Chamberlain ange225 Joachim Schlör, Siebzehntes Bild: ‚Der Urbantyp‘. Stadtbewohner par excellence, in: ders./Schoeps, Antisemitismus, 231. Dabei beinhaltete die Identifikation von Großstadt und deutschem Judentum durchaus den realen Kern, dass sich die Urbanisierung der in Deutschland lebenden Juden – auch aufgrund der Verfolgungs- und Diskriminierungssituation – schneller vollzog als die der übrigen Bevölkerung. 226 In: Deutsches Musikjahrbuch (1926). 227 Moser, Zwischen Kultur und Zivilisation (1926), 31. 228 Moser, Zwischen Kultur und Zivilisation (1926), 32. 229 Alfred Lorenz konstruierte etwa in seiner Abendländischen Musikgeschichte im Rhythmus der Generationen (1928) die niederländische Mehrstimmigkeit als „Ursprung der Polyphonie bei den nordischen Völkern“ (7f), während andere Autoren auf die besondere ‚rassische‘ Begabung zur ‚nordischen Tiefe der Harmonie‘ hinwiesen.
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regt,230 sah Rosenberg im „Mythus“ die ‚Sprache des Bluts‘ und damit einen ‚Rassenausdruck‘. Neben der historischen Bedeutung von ‚Blut‘ und ‚Rasse‘ akzentuierte er jedoch besonders die Möglichkeiten der Zukunft, wie Peter Emil Becker ausführt: Rasse trägt die Kultur. Kulturen können durch Rassenmischungen zugrunde gehen. In Zeiten, denen das Kulturbewußtsein verloren gegangen ist, bleibt die Besinnung auf die Rassenseele als die einzige Hoffnung. Dem ‚Arteigenen‘ muß zum Durchbruch verholfen werden, das war die politische Aufgabe, die Rosenberg sich gestellt hatte.231
Mit Rosenbergs Forderungen nach praktisch politischer Anwendung, institutioneller Grundlage und ihrer Umsetzung im 1929 gegründeten Kampfbund für deutsche Kultur erreichten die ‚Rasse‘-Spekulationen schon vor 1933 eine Aufwertung, auf die sich die nazistische Agitation mit ihrer konkreten Ausrichtung auf völkische Zuchtideale und eine ‚rassereine‘ Gesellschaft berufen konnte, wie Patrick von zu Mühlen in seiner Studie Rassenideologien deutlich macht: Nicht ohne innere Folgerichtigkeit hatte sich im Laufe weniger Jahrzehnte eine Entwicklung vom teilweise materialistischen Rassengedanken über einen biologischen Monismus bis hin zu jener eigenartigen Mischung von Mystizismus, Theosophie und Spiritismus vollzogen, die in den 1920er Jahren und vollends im Dritten Reich ihren Gipfelpunkt erreichte.232
Im Musikschrifttum der 20er und 30er Jahre lässt sich diese Entwicklung des ‚Rasse‘-Begriffs in einer Verschränkung der drei oben dargestellten Bezugssystem aufzeigen. Hypothesen über biologische Dispositionen, spekulative Übertragungen von naturwissenschaftlichen Thesen auf die Musik und mystisch verklärte Begriffe wie ‚Rassenseele‘ und ‚Rassenbewusstsein‘ finden sich in enger Zusammenstellung. Vor allem auf völkisch-nationalistischer Seite wurde der unklare Begriff der ‚Rasse‘ zu einem integralen Bestandteil der antisemitischen Hetze. Aber auch in der nicht von vorneherein unter politische Zielsetzung gestellten Musikliteratur der Zeit, wie in Biographien und Musikgeschichten, fand ein zumeist diffuser ‚Rasse‘-Begriff Eingang.
230 Vgl. etwa den durch Rosenberg 1927 veröffentlichten Aufsatz Houston Stewart Chamberlain als Verkünder und Begründer einer deutschen Zukunft. 231 Becker, Wege ins Dritte Reich, 223f. 232 Von zur Mühlen, Rassenideologien, 156.
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4.2.1 Der ‚Rasse‘-Gedanke in Biographien und Musikgeschichten ‚Rasse‘ in Biographien und Musikgeschichten In welchem Maße der Begriff der ‚Rasse‘ sich prägend auf die Musikliteratur der 20er und 30er Jahre auswirkte, lässt sich in nahezu allen publizistischen Bereichen feststellen. Während in den großen Musikzeitschriften der Weimarer Republik über die Bedeutung der ‚Rasse‘ für die Differenz unterschiedlicher Musikkulturen diskutiert wurde, enthielten auch die meisten musikhistorischen und biographischen Veröffentlichungen der Zeit einen Absatz zum Einfluss der ‚Rasse‘. Vor allem mit Blick auf das 19. Jahrhundert und die zu dieser Zeit erstmals in die Öffentlichkeit tretenden Komponisten jüdischer Herkunft wurde der ‚Rasse‘-Gedanke zu erörtern versucht. Lassen sich bei Meyerbeer, Mendelssohn Bartholdy, Offenbach und Mahler schon in der zeitgenössischen Rezeption historisch tradierte, anti-judaistische Bilder und Stereotype finden, wurden diese in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mit der Idee der ‚Rasse‘ unterfüttert. Der Vorwurf einer unspezifischen ‚Fremdheit‘ der jeweiligen Komponisten – im 19. Jahrhundert mit zunehmend gleichförmig-abwertenden Zuschreibungen ausgestattet – erschien im Kontext der zeitgenössischen Diskussion zu Beginn des 20. Jahrhunderts als biologische Bedingtheit. In diesem Sinn werden im Folgenden verschiedene Biographien und Musikgeschichten dieses Zeitraumes betrachtet, um die allgegenwärtige Verwendung des ‚Rasse‘-Begriffs schon vor 1933 näher zu beleuchten. Im Unterschied zur Zeit des Nationalsozialismus zeigten sich die Erörterungen musikalischer ‚Rassefragen‘ in der Musikliteratur der 20er und 30er Jahre allerdings häufig durch Unsicherheiten und Beliebigkeiten in ihrem Oszillieren zwischen Distanzierung und Anerkennung biologistischer Erklärungsmuster geprägt. Innerhalb eines völkisch ausgerichteten Musikschrifttums wie etwa dem Deutschen Musikjahrbuch hingegen stellte der ‚Rasse‘-Gedanke ein zentrales Moment antisemitischer ‚Beweisführung‘ dar und wurde mit Schlagwörtern wie ‚Musikbolschewismus‘, ‚Entartung‘ und ‚Zersetzung‘ verknüpft. 1920 erschien die Meyerbeer-Biographie des bekannten Musikschriftstellers Julius Kapp,233 deren Ausgangspunkt damals unbekannte französische Quellen bildete, die Kapp vor dem Ersten Weltkrieg in Paris einsehen konnte. In einem separaten, der Biographie vorangestellten Kapitel Der ‚Fall Meyerbeer‘ erörterte Kapp die, dem Komponisten seit Wagner angelasteten Vorwürfe.234 Schon 1910/1911235 und erneut 1923236 entlarvte er 233 Julius Kapp (1883–1962) publizierte eine Reihe von Biographien unter anderem zu Richard Wagner, Franz Liszt, Hector Berlioz, Niccolò Paganini und Franz Schreker. 234 Kapp, Meyerbeer, 11–18. 235 Julius Kapp, Richard Wagner und Meyerbeer, in: Die Musik (1910/11); ders., Richard Wagner und Meyerbeer. Ein Nachtrag, in: Die Musik (1910/11). Kapp veröffentlichte neben bis dahin unbekannt gebliebenen hochachtungsvollen Briefen Wagners an Meyerbeer auch einen
‚Rasse‘ in Biographien und Musikgeschichten
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aufgrund seiner Pariser Brief-Funde Wagners Anschuldigungen und ihre Wirkungsgeschichte im „Fall Meyerbeer“ als „systematisch gefälschte Darstellung“:237 Der ‚Fall Meyerbeer‘ gehört zu den peinlichsten für den ‚Wagnerianer‘.238
Während sich Kapp demnach in seiner Biographie jenseits antisemitischer Voreingenommenheit bemühte, „Meyerbeers Person und Werk unparteiisch und ohne Vorurteile gegenüberzutreten“,239 wie er dies anhand der musikhistorisch-kritischen Rekonstruktion des Briefwechsels Wagner-Meyerbeer vorgeführt hatte, blieb er jedoch gleichzeitig trotz der differenzierten Haltung Wagner gegenüber in seiner Meyerbeer-Darstellung den historisch verfestigten Wertungsmustern verhaftet. Vor dem Hintergrund einer nationalistisch orientierten Musikliteratur, die im Laufe des 19. Jahrhunderts einen exklusiven Kanon deutscher ‚Musikgenies‘ und ihrer vermeintlich ‚musikalischen‘ Eigenarten festschrieb, galt auch Meyerbeer hier nicht als ein solches ‚Genie‘, das ‚urschöpferisch‘ aus „einem inneren Zwang, einem selbsterkannten Ideal zustrebend“240 schaffe, sondern vielmehr als kosmopolitisches „Talent“,241 das die jeweiligen nationalen Stile seiner Zeit zwar erfolgreich, aber ‚oberflächlich‘ zu verarbeiten wusste: Sein Quell [...] nährt sich nicht aus eigenem Erdreich, sondern aus aller Welt. Er hat wenig urerschaut, aber genial das in der Luft Liegende aufgegriffen und das schon Vorhandene zur äußersten Entfaltung, zur höchsten Spannung aufgepeitscht. [...] Seine erfinderische Phantasie quillt klar und üppig, aber innere Anklänge vermag sie nicht zu wecken, da sie aus keinem Erlebnis geboren, ihr fehlt Seele und Gemüt, sie bleibt heimatlos. Seine Musik wendet sich nicht nach innen, sondern nach außen, sie wahrscheinlich um die Jahreswende 1841/42 entstandenen Lobesartikel, den Wagner in der Hoffnung auf Meyerbeers Protektion an diesen übersandt hatte. 236 Kapp, Wagner – Meyerbeer. Ein Stück Operngeschichte nach zum Teil unveröffentlichten Dokumenten zusammengestellt, in: Die Musik (Okt. 1923). 237 Kapp, Richard Wagner und Meyerbeer (1910/11), 80. 238 Kapp, Richard Wagner und Meyerbeer (1910/11), 80. 1923 sprach sich Kapp noch schärfer gegen die „Bayreuther Eintagsfliege[n]“ und andere „Vertuschungsversuche[...]“ aus (Wagner – Meyerbeer, 25f): „Der Vorwurf der Unaufrichtigkeit und der heuchlerischen Freundlichkeit, den Wagner, und in noch weit schrofferer Form später seine Parteigänger, gegen Meyerbeer erhoben, fällt mit weit größerer Berechtigung auf Wagner selbst zurück.“ 239 Kapp, Meyerbeer (1920), 9. Zugleich forderte er eine Durchsicht der Bearbeitungen Meyerbeerscher Opern und eine historisch adäquate Aufführungspraxis (12): „Will man heute Meyerbeer überhaupt noch aufführen, so lasse man alles Experimentieren und Reformieren und gebe ihn im dem Stil und Geschmack seiner Zeit, und nicht der unseren!“ 240 Kapp, Meyerbeer (1920), 13. 241 Kapp, Meyerbeer (1920), 15: „Denn das Talent spiegelt nur wider, was es durch die Sinne aufgenommen, bearbeitet, vervollkommnet, bildet weiter, aber es erfindet nicht. Das Genie dagegen schafft aus dem Eigensten, enthüllt sein Innerstes, schleudert den verborgensten Kern seiner Seele in die Welt, gießt, getrieben von einem inneren Zwang, eigenes Leben in neue Formen. Solches aber ist den Juden verwehrt“.
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offenbart nicht geheime Tiefen, sie bleibt glanzvolles Feuerwerk für die Sinne. Seine Muse war immer der Kokotte [...]. Ursprünglich lebensfrisch und unbefangen [...], mußte sie zu immer neueren und stärkeren Mitteln greifen, um zu gefallen. Da ersetzte sie Frische durch Pikanterie, Gefühl durch Sensation, Wahrheit durch Schein und kennt nur noch ein Ziel: Erfolg um jeden Preis!242
Mit der Darstellung Meyerbeers als ein auf äußere Wirkung bedachter ‚Jude‘, dessen Charakteristikum das besondere ‚Einfühlungsvermögen‘ aufgrund einer ‚Seelen- und Heimatlosigkeit‘ sei,243 kolportierte Kapp die, in der zeitgenössischen Rezeption des 19. Jahrhunderts entstandenen antijudaistischen Stereotype. Ein angeblich ‚innerer‘ Gegensatz zwischen ‚deutschem‘ und ‚jüdischem‘ Musikschaffen wird mit den, in Wagner-Nachfolge häufig gebrauchten Dualitäten „Wahrheit“ und „Schein“, „innen“ und „außen“, ‚Tiefe‘ und ‚Oberflächlichkeit‘ illustriert.244 Gleichzeitig verwies Kapp jedoch im Folgenden auf die Diaspora und setzte so einen Akzent auf die sozialgeschichtlichen Bedingungen für die Sonderstellung der in Deutschland lebenden Juden. Der historische Rekurs diente ihm allerdings nur als Einleitung für die These von überzeitlichen, homogenen ‚Rasse‘-Merkmalen, die mit dem Argumentationsstrang einer „notwendige[n] Folge historischen Weltgeschehens“245 verschmolzen wurde: In diesem Einzelschicksal Meyerbeers wiederholt sich nur die Tragödie seines Volkes, das Ringen des jüdischen Genies mit der inneren Zerbrochenheit, die eine Folge der jahrtausendelangen Kämpferstellung ist, die der Jude als Abkömmling einer in verschwindender Minderheit unter die europäischen Nationen verstreuten Rasse 242 Kapp, Meyerbeer (1920), 13. 243 Kapp, Meyerbeer (1920), 15: „Der Jude war nun zwar untergetaucht in den Nationen, mit denen er hauste, ohne aber dort völlig bodenständig geworden zu sein. Innerlich losgelöst von seiner Kultur, ward der Jude im Grunde heimatlos, dafür aber befähigt, fremde Kulturen in sich aufzunehmen, sich in erstaunlichem Maße in das Wesen anderer Völker und Menschen einzufühlen.“ Ähnlich formulierte es auch Karl Storck (1873–1920) in seiner posthum veröffentlichten Geschichte der Musik (2. Bd., 396): „In dieser geistigen und seelischen Hinsicht war Mahler wurzellos. Vielleicht, wenn er geistig und seelisch wirklich ganz Jude gewesen wäre! Aber er suchte das Deutsche, und zwar das deutsche Volk. [...] Das sticht von der allgemeinen jüdischen Art grundsätzlich ab und ist aus den gewöhnlichen Ursachen der Blutsgebundenheit mit diesem Volke, der Verwurzelung im Heimatboden nicht zu erklären.“ Die apostrophierte ‚Heimatlosigkeit‘ korrespondierte mit der völkischen Ansicht, dass „echte Kultur [...] ihre Wurzeln im Bodenständigen, sozusagen in der Heimaterde“ habe (Oskar Goguel, Musik und Volk [1928], 10): „Dort sprießt sie aus den gesunden und lebensfähigen Keimen des Volkstums, diese in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindend.“ 244 Richard Wagner konnte sich – wie gezeigt – mit seiner Gegenüberstellung von einem substanziellen ‚Was‘ mit dem formellen ‚Wie‘ als Merkmal ‚jüdischen‘ Schaffens auf ein, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägtes dualistisches System zwischen ‚Inhalt‘ und ‚Form‘ beziehen. Im Wagnerschen Sinn sah auch Karl Storck (Geschichte der Musik, 2. Bd., 398) in Mahlers Schaffen den „peinlichste[n] Widerspruch zwischen Inhalt und Form“. 245 Kapp, Meyerbeer (1920), 15.
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einnehmen mußte. Durch die Geschichte seines Volkes wurde der Jude gezwungen, sich zu verstellen, sein eigenes Innere zu verheimlichen. [...] Um den steten Konflikten mit den Nationen, denen sie sich angeschlossen, zu entgehen, mußten sie ihre eigensten Gefühle und Empfindungen selbstmörderisch unterdrücken, sich den fremden Gepflogenheiten anpassen.246
Offensichtlich wenn auch nicht explizit an die Argumentation Franz Liszts angelehnt,247 ermöglichte diese ambivalente Darstellung Kapps die Zusammenstellung unterschiedlichster Unterstellungen und Anklagen. Neben dem Verlust der „Gefühlswelt“ zugunsten eines „durch das Leben aufgezwungenen Materialismus“ konstatierte Kapp sowohl „zersetzende Ironie“ und „beißende Satire“ als auch das „Hinausschwärmen ins Wesenlose, das man Sentimentalität nennt und das bei den Juden nun die Stelle echter Leidenschaft ersetzt“.248 Damit übernahm er die zentralen anti-judaistischen und früh-antisemitischen Stereotype, wie sie im Laufe des 19. Jahrhunderts in Bezug auf Meyerbeer, Offenbach und Mendelssohn Bartholdy kanonisiert worden waren und subsumierte diese unter dem Begriff der ‚Rasse‘. Die zeitgenössische Suche „nach Temperament und Eigenart der Rassen in nationale Richtungen“aufgreifend, koppelte Kapp die jeweilige „Rassenverschiedenheit in der Musik“249 an eine Suche nach den Spezifika der „semitische[n]“ Musik.250 Obgleich er sich eingangs von der Ansicht der „Minderwertigkeit ihrer Rasse“251 distanzierte, stellte der nachfolgende Katalog ‚jüdischen‘ Musikschaffens eben diese Unzulänglichkeit im kompositorischen Schaffen dar. Hier wurde „das Fehlen einer starken persönlichen Note“ durch die „innere[...] Zerissenheit des Schöpfers“252 ebenso aufgeführt wie ein „auffallender Mangel an kritischer Sichtung und künstlerischem Geschmack“.253 Neben der Beherrschung „alles Technische[n]“ und ein „in gar keinem Verhältnis zum inneren Kern stehendes Aufgebot äuße246 Kapp, Meyerbeer (1920), 14f. 247 Vgl. Kap. 3.4 Die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts: Kontinuitäten und AkzentVerschiebungen. 248 Kapp, Meyerbeer (1920), 15. Nach dem gleichen Zuschreibungsmuster erschien auch Gustav Mahler dem national-konservativen Musikwissenschaftler Walter Niemann (1876–1953) in dessen Musikgeschichte Die Musik der Gegenwart von 1922 als „Satiriker und Ironiker“ (146), dem es an „jedweder künstlerischen Fassung und Veredelung“ (147) mangele. 249 Kapp, Meyerbeer (1920), 16. 250 Kapp, Meyerbeer (1920), 16: „Wie man daher eine deutsche, französische oder italienische Musik unterscheidet, müßte man auch eine semitische anerkennen. Worin besteht nun das ‚Jüdische‘ in der Musik? Ins einzelne zergliedern, an typischen Eigenheiten darlegen wie bei den anderen Rassen, läßt sich das nicht, da wir es eben – wie oben ausgeführt – bei diesen schöpferischen Versuchen mit komplizierteren tragischen Einzelerscheinungen zu tun haben.“ Die Frage nach den Merkmalen einer ‚jüdischen Musik‘ stellte sich zeitgleich auch in innerjüdischen Kreisen. Vgl. Kap. 5. Exkurs: Kulturzionistische Positionen. 251 Kapp, Meyerbeer (1920), 15. 252 Kapp, Meyerbeer (1920), 16. 253 Kapp, Meyerbeer (1920), 17.
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rer Mittel“ erschien als musikalisches Merkmal bei Kapp die angebliche „Kurzatmigkeit der melodischen Linie“254 als ‚jüdische‘ Eigenart, die jedoch nicht näher erläutert wird. Darüber hinaus findet sich die nicht nur auf Meyerbeer angewendete zeittypische Formulierung einer „welthistorisch bedingten Tragik seiner Rasse“,255 die aus dem angeblichen Widerspruch zwischen jüdischen ‚Rasseeigentümlichkeiten‘ und künstlerischem Schaffen resultiere: Die Tragik des schöpferisch sich versuchenden jüdischen Künstlers besteht nun darin, daß er sich in diesem Kampf mit seiner eigenen Rasseeigentümlichkeit verzehrt, an der unüberwindlichen Diskrepanz zwischen Wollen und Können zerbricht. [...] es ist das Mißverhältnis zwischen Ehrgeiz und Begabung. Diese innere Leere wird nun auf andere Weise zu ersetzten versucht, über die Dürftigkeit des Inhalts muß die virtuose Form, die Steigerung der äußeren Mittel, die sensationelle Note hinwegtäuschen. [...] Die typischen Beispiele sind auf musikalischen Gebiet: in der Oper Meyerbeer, in der Symphonie Gustav Mahler.256
Der paradigmatische Begriff ‚Tragik‘, der an die auf Meyerbeer gemünzte Wagner-Formulierung eines „tragikomischen“ Eindrucks durch den „peinlichen Conflicte zwischen Wollen und Können“ gemahnt,257 wurde auch in anderen Schriften der Zeit mit einem aus der Abstammung resultierenden ‚Rasse‘-Begriff verschmolzen und als verständnis-suggerierendes und gleichzeitig abwertendes Argument gegen Komponisten jüdischer Herkunft verwendet.258 So nutzte der völkisch-konservative Musikwissenschaftler Hans Joachim Moser in seiner nationalistisch ausgerichteten Geschichte der deutschen Musik in drei Bänden ebenfalls die Vokabel ‚Tragik‘, hier allerdings in Blick auf Gustav Mahler, den er gemäß der Ahasver-Legende 254 Kapp, Meyerbeer (1920), 17. Über den Ursprung der hier unterstellten „Kurzatmigkeit“ lässt sich nur spekulieren. Sie mag von den Stereotypen der jüdische Sprachgestaltung als ‚Stammeln‘ und ‚Stottern‘ ebenso angeregt worden sein wie durch anti-judaistische Karikaturen, in denen mit anti-kapitalistischer Ausrichtung ein korpulenter, ‚jüdischer‘ Händler zum Ziel des Spottes wurde. 255 Kapp, Meyerbeer (1920), 18. 256 Kapp, Meyerbeer (1920), 15f. 257 Wagner, Das Judenthum in der Musik (1850), 110. 258 Die völkisch-antisemitische Behauptung fundamentaler Unterschiede zwischen „Germanen“ und „Semiten“ als „Naturgesetze“ suchte Kapp eben mit dieser These einer „naturnotwendig[en]“ Beschränkung der jüdischen ‚Rasse‘ umzudeuten (Meyerbeer, 18): „Darf man an das Werk eines jüdischen Schöpfers nicht-jüdischen Maßstab anlegen? Wird nicht vieles [...] Verständnis finden können, wenn man sich die Mühe nimmt, den Schöpfer als Sohn seines Volkes, der mit der Tragik seiner Abstammung zu ringen hat, anzusprechen? [...] Viel eher kann, dank seiner Anpassungsfähigkeit, ein Jude dem Werke eines Deutschen gerecht werden als die viel stärker ausgeprägte Eigenpersönlichkeit des Germanen der ihm wesensfremden Anschauungswelt des Semiten. [...] Man wird aufhören, einem Juden bei der Kritik seiner Werke sein Judentum und die durch dieses naturnotwendig bedingten Einzelheiten als Fehler vorzuhalten, und erkenne, daß auch er nicht anders schaffen kann, als die Naturgesetze zulassen.“
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als zwischen Religionen und ‚Rassen‘ ruhelos umherirrenden ‚Juden‘ darstellte:259 [...] nach vieljähriger und zunächst begeisterter Beschäftigung mit Mahler sehe ich heute in ihm als Tonsetzer [...] mehr die rührend tragische Erscheinung Eines, der mit alttestamentarischer Propheteninbrunst aus dem Fluchdasein des östlichen Ahasver hinwegstrebte zum Anschluß an Katholizismus und Deutschtum; der mit krampfigen Verrenkungen Riesenentwürfe türmte, dessen verehrungswürdigem Kampf viel Herrliches im Einzelnen gelang, der aber trotzdem blieb, wozu er geboren war [...].260
Eine angeblich ‚fremde, außereuropäische‘ Herkunft Mahlers sah Moser auch in dessen Musik bestätigt, die er als ‚Verzerrung‘ zur „melancholischen Pojazgrimasse“ und zu „künstelnde[r] Deutschtümelei“ darstellte und mit der kanonisierten Invektive „der Ödnis einer grandios leeren Kapellmeistermusik“ belegte.261 Mit einem Vokabular, das „fremde, beduinische Klageweise[n]“, „näselndes Gedudel“,262 „Endlose Nomadenmärsche“ und „unangenehm zudringliche[...] Gesanglichkeit“263 in Mahlers Kompositionen zu sehen glaubte, folgerte Moser mit Blick auf das Liedschaffen: [...] man beachte vor allem die wilden, verbissenen Akzente und lege Mahlers hageres Eifererbild daneben: [...] Das ist irgend ein fernes Asien oder Afrika – aber doch wohl kaum mehr Deutschland [...].264
Ohne den Begriff der ‚Rasse‘ direkt zu verwenden und doch mit dem Hinweis auf eine biologisch begründete ‚jüdische Anpassungsfähigkeit‘ bei 259 Meyerbeers Musik galt Moser als „ausgeklügelte[...] Gipfelung von Kulissenwirkungen und musikantischer Gerissenheit“ (1928, 3. Bd., 120), in der er viel „Abstoßendes [...] für den deutsch Empfindenden“ (121) sah. 260 Moser, Geschichte der deutschen Musik (1928), 3. Bd., 399. Ähnlich beschrieb auch Niemann in Die Musik der Gegenwart von 1922 (145f): „Es ist aber die Tragik seines Lebens und Schaffens, daß aus dem [...] dämonischen, weil innerlich zerrissenen und in der Durchsetzung seines menschlichen und künstlerischen Willens fanatischen genialen Musikanten niemals ein großer Musiker geworden ist, daß sich die buntscheckigen, vornehmlich an den Klassikern [...] gebildeten Stilelemente seiner Kunst mit ihrem starken volkstümlichen Einschlag niemals zu höherer künstlerischer Einheit zusammengeschlossen haben.“ Auch für Storck erschien in seiner Geschichte der Musik ([61926] 2. Bd., 393) eine „Lebenstragik Gustav Mahlers“. 261 Moser, Geschichte der deutschen Musik (1928), 3. Bd., 399. 262 Moser, Geschichte der deutschen Musik (1928), 3. Bd., 401. 263 Moser, Geschichte der deutschen Musik (1928), 3. Bd., 404. Derlei orientalisierende Formulierungen finden sich etwa auch bei Reinhold Zimmermann (Das Wesen der jüdischen Musik, in: Deutschlands Erneuerung [Jan. 1925], 55), die Mahler eine „nomadenhafte Plötzlichkeit seines Wesens“ unterstellten und seinen Symphonien das Urteil „musikalischer Bazar“ auferlegten. Gerade der letzte Ausdruck scheint sich in der Tradition von dem in der deutschen OffenbachRezeption gefallenen Begriff eines ‚unmusikalischen Trödlerunternehmes‘ zu befinden. Vgl. Kap. 3.2.2.2 Jacques Offenbach: der ‚kleine Meyerbeer‘. 264 Moser, Geschichte der Musik (1928), 3. Bd., 401f. Moser gibt an dieser Stelle das Notenbeispiel eines Mahlerliedes. Den gezogenen Vergleich zwischen der Physiognomie von Komponisten und ihrer Musik mag er aus Hans Karl Friedrich Günthers Rassenkunde des deutschen Volkes (1922) übernommen haben. Vgl. Kap. 4.2.2 Die ‚Rassentheorie‘ im Musikschrifttum.
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gleichzeitiger „Fremdartigkeit“,265 beschloss Moser seine Einschätzung mit den in zeitgenössischen Publikationen häufig gebrauchten Worthülsen: In Summa: ein brennender, heiß ringender Mensch, vielleicht der große Mythendichter eines fremden Volks, der mit riesenhaftem Anempfindungswillen gerade in unserer Tonsprache zu formen versuchte, woran er litt – ein verehrungswürdiger, um im Letzten nicht faßbarer Gast, aber jedenfalls kein großer deutscher Musiker.266
Nach dem gleichen Muster wurde Felix Mendelssohn Bartholdy als „eine ganz einmalige Erscheinung durch die seltsame Mischung fremden Herkommens mit gepflegter deutscher Bürgerlichkeit“267 aus der Geschichte der deutschen Musik ausgeschlossen. Mit der Frage nach den Spezifika ‚jüdischen‘ Musikschaffens erschienen hier – wie in den meisten nationalistisch ausgerichteten Musikgeschichten der Zeit – tradierte anti-judaistische Stereotype des 19. Jahrhunderts neben anderen, willkürlich zusammengestellten Merkmalen, um einen ‚jüdischen‘ Mangel im künstlerischen Schaffen zu illustrieren und gleichzeitig ein ‚deutsches‘ Musikschaffen aufzuwerten: Sucht man das ausgeprägt Jüdische an seiner Musik zu fassen [...] so käme am ehesten neben dem schon berührten Fehlen deutscher Wucht und Tiefgründigkeit, die (manchmal gerade zu ermüdende) Durchführung der äußerlich zwar von Händel entlehnten, jetzt aber nicht mehr stilhaften, gleichen punktierten Rhythmen und bedenklich häufiger 6/8 Takte in Betracht, eine scharfsinnige Abneigung gegen alles verschwommene Ideenmusizieren, eine allzuglatte Bearbeitung nur gefälliger, mit weltbürgerlicher Verbindlichkeit vorgetragener Spielthemen, [...] die weite Bogenwölbung, die tiefe Versunkenheit eines deutschen Denkers in Tönen blieb seiner liebenswürdigen Behendigheit eben doch versagt, und er war ehrlich genug, nichts andres durch Technik vortäuschen zu wollen.268
Ersetzten Phrasen wie Häufung der „gleichen punktierten Rhythmen“, „Fehlen deutscher Wucht und Tiefgründigkeit“ oder Mangel an „weite[r] Bogenführung“ substanzielle Aussagen,269 offenbarten sich derlei Beliebigkeiten und Unsicherheiten in der Zuordnung musikalischer Merkmale zur ‚jüdischen‘ Abstammung auch in der 1922 erschienen Mendelssohn Bartholdy-Biographie des Musikers und Fachautors Walter Dahms.270 Ausgehend von der These, „daß das Jüdische keine Sache der Religion, sondern 265 Moser, Geschichte der deutschen Musik (1928), 3. Bd., 405. 266 Moser, Geschichte der deutschen Musik (1928), 3. Bd., 405f. 267 Moser, Geschichte der deutschen Musik (1928), 3. Bd., 153. 268 Moser, Geschichte der deutschen Musik (1928), 3. Bd., 153, Fußnote 3. 269 So schloss Moser Mendelssohn Bartholdy aus seiner nationalen Musikgeschichtsschreibung mit den Worten aus (154): „aber schöpferisch bleibt ihm das von unserm Standpunkt aus Entscheidende versagt, die hinreißende Größe, die erschütternde Tiefe des Erlebnisses“. 270 Ebenfalls von Dahms (geb. 1887) erschienen in dieser Reihe Biographien zu Robert Schumann (Berlin/Leipzig 1916) und Franz Schubert (Berlin 1918).
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der Rasse ist“,271 suchte Dahms allerdings Mendelssohn Bartholdy auf dieser Grundlage als „Juden“ für die ‚deutsche‘ Musikgeschichte zu reklamieren:272 Mendelssohn dagegen ist der einzige große und ernste, für alle Zeiten bleibende Meister, den die Juden der Musik geschenkt haben. Seine Musik hat deutschen Charakter. [...] Noch ist keine endgültige Formel für das Deutsche gefunden worden. Denn die unendliche Variabilität und Fülle unserer Genies straft jede engherzige Definition Lügen. Und gerade dies sei unser größter Stolz.273
Die Schwierigkeiten, ein ‚jüdisches‘ Musikschaffen einheitlich zu definieren, auf die viele zeitgenössische Autoren reagierten, in dem sie auf die kanonisierten Stereotypen des 19. Jahrhunderts zurückgriffen, wurden hier auf die ‚deutsche‘ Musik übertragen. In Abgrenzung zu der ‚jüdischen Widersprüchlichkeit‘ erschien die Behauptung einer positiv konnotierten ‚deutschen Vielseitigkeit‘ als Argument für eine Aufwertung Mendelssohn Bartholdys, während andere Komponisten jüdischer Herkunft scheinbar leichter aus einer deutsch-nationalen Musikgeschichte auszugrenzen waren:274 Ein Meyerbeer und noch viel weniger spätere jüdische Komponisten dürfen uns den Blick für Mendelssohns Reinheit und Seelengröße nicht trüben.275
271 Dahms, Mendelssohn (1922), 13: „Wir müssen nun von dem Judentum Mendelssohns sprechen [...]. Nicht, wie um etwas Unangenehmes oder Peinliches, von dem doch nun einmal die Rede sein muß, möglichst rasch zu erledigen, sondern um von vornherein den richtigen Standpunkt in einer so wesentlichen Frage zu gewinnen.“ 272 In seiner Verteidigung nutzte Dahms die aus dem 19. Jahrhundert stammende Gegenüberstellung des ‚guten, deutschen‘ Mendelssohn Bartholdy mit dem „effekthaschenden Hugenottenkomponisten“ Meyerbeer (13f): „Wagners höchstpersönliche Auseinandersetzung, die mit Keulenschlägen seinen Anschauungen vom Wesen der deutschen Musik eine Bahn brechen und die Widersacher vernichten sollte, ist, trotzdem viel von Mendelssohn gesprochen wird, doch in der Hauptsache gegen Meyerbeer gerichtet. Denn Wagner wußte ebensogut wie wir, daß Mendelssohns Musik unbeschadet der Würde der deutschen Kunst und Kultur neben der seinen bestehen konnte, daß sich aber im Fall Wagner-Meyerbeer zwei Welten scheiden mußten.“ 273 Dahms, Mendelssohn (1922), 14. 274 Dementsprechend versuchte Dahms Mendelssohn Bartholdy gegenüber den anti-judaistischen Vorwürfen der ‚Zerrissenheit‘ und ‚Effekthascherei‘ in Schutz zu nehmen (14): „Finden wir etwa in seinem Schaffen die von Nietzsche gekennzeichneten Eigenschaften der Semiten: ‚die furchtbare Wildheit, das Zerknirschte, Vernichtete, die Freudenschauer, die Plötzlichkeit‘? Doch keineswegs! Er schwelgte nicht in Extremen; er liebte auch nicht das Sensationelle. Er war in dieser Hinsicht so abgeklärt wie nur möglich. Seine Musik ist klassisch – eine Musik, die den höchsten und strengsten Gesetzen der Moral unterliegt, ebenso wie den Gesetzen des guten Geschmacks.“ Gleichzeitig zeigte Dahms Schilderung jedoch eine Nähe zu den vor allem in der Schönberg-Rezeption geprägten antisemitischen Stereotypen der ‚Intellektualität‘ und ‚Kälte‘: „Der starke Intellekt, der die Phantasie überragte, gab ihm im Schaffen Selbstbeherrschung. Die Scheu seiner vornehmen Natur, das innerste Gefühlsleben preiszugeben, erwirkte eine gewisse Zurückhaltung im Aussprechen der musikalischen Ideen und erzielte daher oft trotz aller tiefen Leidenschaft eine marmorne, kalte Schönheit.“ 275 Dahms, Mendelssohn (1922), 15.
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Mit dem Verweis auf „spätere jüdische Komponisten“ spielte Walter Dahms offensichtlich auf Gustav Mahler und Arnold Schönberg an. Vor allem Mahler galt – erneut in einer Tradierung der Stereotype seiner zeitgenössischen Rezeption – in den Schriften der Weimarer Republik als Beispiel für eine ‚jüdische Zerrissenheit‘ zwischen der zunehmend aufgrund nationaler Abstammung definierten exklusiven ‚germanischen‘ Gemeinschaft und seiner jüdischen Herkunft. Mahlers „künstlerische[...] Begrenzung durch seine oft frevelhaft stark betonte semitische Rasse“ wurde als Beleg herangezogen, um Vorwürfe wie „Mangel an Selbstkritik, impulsive Hingabe an den Augenblick, Mangel an gedrungener Gestaltung, an Sichtung des Edlen vom Unedlen, des Wichtigen vom Unwichtigen“276 anzubringen. Mit Urteilen wie „nicht immer deutsch, [...] unleidlich sentimental, süßlich, unecht, krampfhaft gewollt, kalt berechnend und äußerlich theatralisch“277 vollzog sich in den 20er und 30er Jahren jenseits jeglicher musikalischer Konkretisierung eine Entwertung Mahlers,278 die in Polemiken gipfelte, die seine Symphonien als „allertrivialste Musik“,279 „primitiv“280 und „schmierig“281 beschimpften oder sein Gesamtwerk als den „höchsten Grad von Impotenz“ im Pfitznerschen Sinn282 und „von zersetzendem, negativem Wert“283 stigmatisierten. Unter dem „gefährlichen jüdischen Einfluss[...]“284 ließ sich eine äußere „Reproduktion“285 oder die „notorische[...] Assimilati276 Niemann, Die Musik der Gegenwart (1922), 147f. 277 Niemann, Die Musik der Gegenwart (1922), 148. 278 Mit einer rhetorischen Umkehrung distanzierte sich Niemann wie andere Autoren der Zeit rhetorisch vom „törichten Judenhaß“, gab aber gleichzeitig seinen antisemitischen Etikettierungen mehr Gewicht (148f): „Das jüdische Blut aber in seinem Schaffen zu sehen, es als jüdisch mit dem Unterton des Verächtlichen abzulehnen, erscheint, solange man dies Jüdische mehr fühlt und aufsuggeriert erhält, wie begrifflich zergliedern und zweifellos feststellen kann, durchaus verfrüht und gehässig. [...] Man muß die Schwächen seines Schaffens beklagen [...] um einer [...] Persönlichkeit wie Mahler ohne den blinden und törichten Judenhaß seiner Widersacher gerecht zu werden.“ 279 Niemann, Die Musik der Gegenwart (1922), 147. 280 Niemann, Die Musik der Gegenwart (1922), 145. 281 Karl Blessinger, Die Überwindung der musikalischen Impotenz (1920), 81. 282 Blessinger, Die Überwindung der musikalischen Impotenz (1920), 81. Blessingers Schrift stellt eine direkte Reaktion auf Pfitzners Die neue Aesthetik der musikalischen Impotenz dar, dessen „rechthaberisches Gebaren“ (Blessinger, 4) er zwar kritisiert, aber in seiner antisemitischen Grundhaltung noch deutlicher wurde als Pfitzner. Ausführlich hetzte Blessinger in seinem Pamphlet Mendelssohn, Meyerbeer, Mahler. Drei Kapitel Judentum in der Musik als Schlüssel zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts von 1938/39. Vgl. Kap. 6. Der Topos des Juden im nazistischen Musikschrifttum. 283 Blessinger, Die Überwindung der musikalischen Impotenz (1920), 82. 284 Blessinger, Die Überwindung der musikalischen Impotenz (1920), 79. Eine „deutsche Kultur in Gefahr“ sah auch der völkische Autor Oskar Goguel (Musik und Volk [1928], 29). 285 Storck, Geschichte der Musik (61926), 2. Bd., 392: „Für die Musik hatte das Judentum seine positive Bedeutung bislang nur auf dem Gebiete der Reproduktion. [...] Der Jude scheut sich [...] nicht, sein Inneres zu entkleiden. Er gibt sich restlos auf, er prostituiert [...] sein eigenes Ich [...]. Es erwächst diesem Reproduzierenden ein Machtgefühl aus seiner Fähigkeit, durch die Hingabe an ein anderes dieses andere werden zu können.“
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onsfähigkeit“286 ebenso wie die „orientalische Dreistigkeit“287 anprangern, die unter dem Herrschaftsgedanken zu einer „äußerliche[n] Durchsetzung der deutschen Musik mit jüdischen Elementen“288 geführt habe. Bezeugen Formulierungen wie das „jüdische Problem“,289 die „musikalische Judenfrage“,290 die „Judenfrage in der deutschen Musik“291 oder die „Rassenfrage“292 den Einfluss, den die antisemitische Forderung nach einer Rücknahme der jüdischen Emanzipation im Rahmen der Bürgerrechte gewonnen hatte, eröffnete sich unter diesen Schlagwörtern die Möglichkeit, unterschiedlichste Beschimpfungen gegen die „Invasion“293 von „jüdischen Volksvergiftern“294 in der Musik zu bündeln. In phrasenhaften Wiederholungen wurde dem Begriff der ‚jüdischen Rasse‘ eine „kalt rechnende Geldwirtschaft“295 unterstellt, die sich etwa in den „Geschäftsinteressen rechnender Konzertjuden“ zeige und zum „allgemeinen Niedergang[...] der Tonkunst“ als „Zersetzungsprozeß in unserem Musikleben“296 geführt habe. Während es sich wohlwollende Mahler-Biographien von Arthur Neißer, Richard Specht oder Paul Stefan zum „Hauptbestreben“ machten, „Mahler [...] von diesem Vorwurf eines ‚eben aus seiner Rasse zu erklärenden Geschäftsgeistes‘ zu reinigen“297 oder auf die Beliebigkeit,298 Inkonsequenz299 und spekulative Festschreibung300 ‚jüdischer Rassenmerkmale‘ hinwiesen, 286 Blessinger, Die Überwindung der musikalischen Impotenz (1920), 75. 287 Goguel, Musik und Volk (1928), 29. 288 Blessinger, Die Überwindung der musikalischen Impotenz (1920), 77. 289 Blessinger, Die Überwindung der musikalischen Impotenz (1920), 74. 290 Moser, Geschichte der Musik (1928), 3. Bd., 501. 291 Zimmermann, Das Wesen der jüdischen Musik (Jan. 1925), 45; Blessinger, Die Überwindung der musikalischen Impotenz (1920), 80. 292 Storck, Geschichte der Musik (61926), 2. Bd., 391. Richard Eichenauer schließlich sprach 1932 in seinem Buch Musik und Rasse von dem „Rassenkampf in der Tonkunst“ (125). 293 Blessinger, Die Überwindung der musikalischen Impotenz (1920), 80. 294 Goguel, Musik und Volk (1928), 4. 295 Goguel, Musik und Volk (1928), 6. 296 Goguel, Musik und Volk (1928), 9. 297 Arthur Neißer, Gustav Mahler (1918), 9. Ähnlich distanzierte sich auch Richard Specht, der Mahler noch persönlich kannte und dessen Biographie ob ihrer bewundernden Grundhaltung kritisiert wurde, von dem Begriff der ‚Rasse‘ (Gustav Mahler [1918], 50): „Über das Jüdische bei Mahler kann ich nicht mitreden und halte mich hier nur an die Kraft und Wahrheit der NietzscheNotiz: ‚Wo Rassen gemischt sind, ist der Quell großer Kulturen. Maxime: mit keinem umgehen, der an dem verlogenen Rassenschwindel Anteil hat [...]‘“. 298 Paul Stefan, Gustav Mahler (4. verm. Aufl. 1912), 18f: „Aber angenommen, [...] daß wirklich eine einzige jüdische Rasse bestehe [...]: was in aller Welt hat das mit dem Geistigen, mit der Kunst und insbesondere mit der Musik zu tun?“ 299 Stefan, Gustav Mahler (1912), 19: „Keine Sprache, kein Staat, keine Gemeinschaft bindet ihn mehr an das Volk seiner Ahnen (von der ‚Konfession‘ dürfen wir wohl absehen), keine Rassenidee ist in ihm lebendig. [...] Man schilt ihn wurzellos. Nur darf man die abgestorbenen Wurzeln auch nicht zählen und schmähen.“ 300 Stefan, Gustav Mahler (1912), 21f: „Es gibt heute wohl viele Musiker jüdischer Abstammung, aber keine jüdische Musik. Solange es nicht gelingt, an den Werken und an dem Wirken
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wurde auf völkischer Seite immer wieder die „als ungeheuer wichtig anerkannte Kraft der Rasse“301 herbeigeschrieben. Gerade anhand der Schönberg-Rezeption, die mit Etikettierungen wie „Getön, Gegraunze, Geheul und Gewimmer“302 nach Ende des Ersten Weltkriegs eine angeblich ‚geisteskranke Entartung‘ der Neuen Musik zu konstruieren suchte, lässt sich Mitte der 20er Jahre durch den Begriff der ‚Rasse‘ eine Akzentverschiebung innerhalb des Schlagworts ‚Entartung‘ feststellen, wie Eckhard John in seiner Studie Musikbolschewismus darlegt: [...] am Beispiel Arnold Schönbergs wurde 1925 scharf akzentuiert in Frage gestellt, daß die Schöpfer der Neuen Musik verrückt wären; vielmehr sei der Schlüssel für die kompositorische Entwicklung eines Schönberg seine jüdische Abstammung!303
Wie im Begriff ‚Musikbolschewismus‘ angelegt, führte 1920 der völkische Musikschriftsteller Reinhold Zimmermann (geb. 1889) in direkter Gleichsetzung von Musik und Politik Arnold Schönberg und den Außenminister Walther Rathenau304 als Beispiele dafür an, dass ‚der Jude‘ „von Natur aus gar kein Werkzeug“ habe, „unsere deutschen Lebenswerte anzufassen und innerlich zu erfassen“.305 Vor dem Hintergrund einer ‚Krankhaftigkeit‘ stellte Zimmermann 1925 hingegen in seinem gleichnamigen Aufsatz in Frage, ob Schönberg als „psychologisches Rätsel“306 zu betrachten sei. Gemäß der „Volkstums- und Rassenfragen auch in der Musik“307 könne er laut Zimmermann nur als ein „vom Wege der Natur, d.i. aber seines Blutes Abgekommener“ beurteilt werden, „den sein Spekulationstrieb verleitete, eigenschöpferische Bahnen zu betreten“.308 Mit Rekurs auf das völkische dieser Musiker positiv oder negativ [...] Gemeinsames nachzuweisen, solange man an der Werken des Einzelnen nicht ernsthaft ‚jüdische‘ Eigentümlichkeiten findet [...], solange gehört auch Mahlers Erscheinung dorthin, wo sie der klügere Ausländer längst schon sieht: in die Reihe der großen Deutschen.“ 301 Storck, Geschichte der Musik (61926), 2. Bd., 391. 302 Zimmermann, Das Wesen der jüdischen Musik (März 1925), 168. 303 John, Musikbolschewismus, 187. 304 Der Reichsaußenminister Walther Rathenau wurde 1922 von Nationalisten erschossen. 305 Zimmermann, ‚Der Geist des Internationalismus in der Musik‘, in: Deutschlands Erneuerung (Sept. 1920), 580f: „Die innere Kraft, das Überlieferte wirklich zu entwickeln, hatten und haben natürlich die Schönberg und Rathenau mitsamt ihren nach Tausenden zählenden Vor-, Mitund Nachläufern nicht; darum ihre Forderung nach Beseitigung des alten, elenden ‚Kastenstaates‘, ‚Zerbrechung‘ des herkömmlichen Harmoniesystems und ‚unbeschränkter‘ Erfindung neuer ‚Konsonanzen‘.“ 306 Zimmermann, Arnold Schönberg, ein psychologisches Rätsel?, in: Deutsches Musikjahrbuch (1924/25). Schon 1920 erklärte Pfitzner in Die neue Aesthetik der musikalischen Impotenz das „Judentum“ als „gefährliches Rätsel“ (124). 307 Zimmermann, Arnold Schönberg, ein psychologisches Rätsel? (1924/25), 276. 308 Zimmermann, Das Wesen der jüdischen Musik (März 1925), 169. Ebenso in: Arnold Schönberg, ein psychologisches Rätsel? (1924/25), 275f: „Dieser Mann hat die Grenze dessen, was ihm von Natur aus zustand, in einem Maße überschritten, daß es niemand mehr verborgen bleiben konnte. Aber anstatt das Ding ehrlich deutsch beim rechten Namen zu nennen und unmiß-
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Schimpfwort ‚entseelter Intellektualismus‘309 konstruierte Zimmermann unter dem ‚Rasse‘-Gedanken eine „reine spekulative Geistestätigkeit“ als das „Hauptmerkmal der jüdischen Seele“.310 Mit dieser abstrakten überzeitlichen Typisierung zog er eine imaginäre Verbindungslinie von Meyerbeer zu Schönberg: Sowohl bei Meyerbeer, als auch bei Mendelssohn und Mahler nimmt das Verstandesmäßige, das Bloß-Geistige, einen breiten Raum im Schaffen ein. [...] Der Verstand war eben, alles in allem stärker anteilhaft als das urschöpferische Gemüt. [...] Den Anspruch, Neuerer, Wegweiser, Schöpfer im tiefsten Wortsinne zu sein, hatte keiner von ihnen gemacht. [...] Den unternahm dann [...] Arnold Schönberg. [...] In maßloser Überschätzung seiner einseitig spekulativen, mathematisch-rechnerischen und irdisch-klangsinnlichen Kräfte wollte er Schöpfer sein, und entbehrte doch des zum eigentlichen, tiefen Schaffen Notwendigsten: des Ausgleiches der Verstandesgemächte seines Inneren durch das Gemüt! [...] Damit glaube ich, ist das ganze ‚psychologische Rätsel‘ Schönbergs auf eine ebenso einfache, natürliche wie zuverlässige Art der Lösung entgegengeführt.311
Noch deutlicher in seiner Beurteilung Schönbergs wurde Zimmermann in einem zeitgleich in der völkischen Zeitschrift Deutschland Erneuerung erschienenen Artikel mit dem neutral anmutenden Titel Das Wesen der jüdischen Musik: Wahrscheinlich wird eine zukünftige deutsche Musikgeschichtsschreibung Schönberg die Titel Zertrümmerer und Dämon belassen, sie wird allerdings auch hinzufügen müssen, daß das Daimonion Schönbergs [...] aus fremdem Volkstum stammte [...].312
Unzweifelhaft stand für Reinhold Zimmermann fest, dass derlei allerdings nur „von uns Deutschen aus gefühlt und gefunden“ werden könne, „da wir, als Natur- und Bluterbe, jenes Andere, Ausgleichende, im Grunde erst schöpferisch Auftreibende besitzen“ und „daher zur Kritik, d.h. zur Wertung, Schätzung und Einreihung Schönbergs überhaupt nur in der Lage sind“.313 verständlich festzustellen, daß im deutschen Volkstume andere, tiefere, größere Schöpferkräfte ruhen, als im jüdischen, half und hilft man sich noch mit Umschreibungen angeblich objektivwissenschaftlicher Art.“ 309 Vgl. John, Musikbolschewismus, 191: „Diese Rede von ‚beseelter‘ und ‚unbeseelter‘ Musik war in der Musikdebatte um 1925 beliebt. Die Prägung war im Prinzip synonym zu den eingeführten Gegensatzpaaren ‚deutsch/undeutsch‘.“ 310 Zimmermann, Arnold Schönberg, ein psychologisches Rätsel? (1924/25), 275. 311 Zimmermann, Arnold Schönberg, ein psychologisches Rätsel? (1924/25), 274f. Vgl. auch Storck, Geschichte der Musik (61926), 2. Bd., 390: „Der aufgepeitschte Intellektualismus unserer Tage einerseits, das hochgesteigerte technische Können andererseits bringen diese Täuschung zustande, die ja nur für kurze Zeit eine Täuschung der Umwelt ist, dauernd aber eine Selbsttäuschung bleibt, als ob mit großen Entwürfen, hochgespanntem geistigem Wollen und glänzendem äußeren Können auch große Kunstwerke zu schaffen seien.“ 312 Zimmermann, Das Wesen der jüdischen Musik (Jan. 1925), 50. 313 Zimmermann, Arnold Schönberg, ein psychologisches Rätsel? (1924/25), 275.
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Damit offenbart sich neben Zimmermanns kulturpessimistischer Sicht der Gegenwart und seinem Postulat, der „Rassenfrage in der Musik“314 eine größere Bedeutung zuzumessen, die besondere Irrationalität antisemitischer Agitation, die neben dem Wissenschaftlichkeit suggerierenden ‚Rasse‘-Begriff gleichzeitig in Anlehnung an Chamberlain das ‚nationale Gefühl‘ als Entscheidungsinstanz einführte.315 Dieses ‚Gefühl‘ auf Grundlage des „Blute[s] und Geiste[s] [...] der eigenen Heimat“316 sei allerdings laut Zimmermann immer noch nicht weit genug ausgeprägt. Hier herrsche noch immer „Trägheit, Stumpfheit und Dumpfheit [...] als größte[...] Bundesgenossen der jüdischen Streitmacht in unserem Vaterlande“.317 Mit seinem Anspruch, dass „der jüdische Tonkünstler in unseren Landen durchaus als das gelten soll, was er von Natur und Bestimmung ist: Jude“,318 forderte Zimmermann auch für die zeitgenössische Musikliteratur wie sie etwa von Kapp,319 Dahms oder Niemann vorlag, „daß das Andere, Fremde, Nicht- oder Undeutsche [...] gebührend ins Licht gerückt“320 werden müsse: Selten nur treffen wir [...] eine Spur davon, daß versucht wird, der Bedeutung der Rassenfragen auch in der Musik gerecht zu werden; in den meisten Fällen helfen sich die Bücherschreiber mit allgemeinen Redewendungen, Halbheiten, Verdrehungen oder gar mit einfacher Unterschlagung.321
Zimmermanns konkrete Forderungen gegen die im Sinne der Verschwörungstheorie angeblich „gewaltigen Kräfte [...], über die das Judentum [...] verfügt“ vorzugehen,322 erfüllten sich nach 1933.323 Für zahlreiche Musik314 Zimmermann, Das Wesen der jüdischen Musik (Jan. 1925), 50. 315 Vgl. Schmidt, Politisierung der deutschen Musik, 200f: „‚Gefühl‘ und ‚Instinkt‘ als aus mystischem Dunkel herausragende Maßstäbe der Bewertung hatten rationale Begründungen abgelöst; das Denken in ‚völkischen‘ und ‚rassischen‘ Kategorien entband auf ganz ‚natürliche, organische‘ Weise von der Auseinandersetzung mit der Neuen Musik und deren wichtigstem Vertreter.“ 316 Zimmermann, Das Wesen der jüdischen Musik (März 1925), 170. 317 Zimmermann, Das Wesen der jüdischen Musik (Jan. 1925), 51. 318 Zimmermann, Das Wesen der jüdischen Musik (Jan. 1925), 51. 319 Bereits 1923 provozierte Zimmermann eine Auseinandersetzung in der Neuen MusikZeitung, in der er Kapps Meyerbeer-Biographie mit Plagiat-Vorwürfen belegte. Vgl. Zimmermann, Merkwürdiges aus Dr. Julius Kapps Biographienfabrik, in: Neue Musik-Zeitung (1923); Julius Kapp, Merkwürdiges aus der Werkstatt eines Kritikers, ebd. (1923); Zimmermann, Erwiderung, ebd. (1923). 320 Zimmermann, Das Wesen der jüdischen Musik (Jan. 1925), 45f. 321 Zimmermann, Das Wesen der jüdischen Musik (Jan. 1925), 50. 322 Zimmermann, Das Wesen der jüdischen Musik (Jan. 1925), 48. Mit deutlicher Denunziationsfreude listete Zimmermann hier die jüdische Herkunft einzelner Autoren auf und entwickelte um 1924 nach eigenem späteren Bekunden den Plan, ein ‚Lexikon der Juden in der Musik‘ herauszugeben. Vgl. Zimmermanns Rezension zu Christa Maria Rock-Hans Brückner: Judentum und Musik (in: Zeitschrift für Musik [Dez. 1936]). 323 Nach 1933 diskutierte Zimmermann etwa Die Dinarierfrage (in: Die Sonne [1938]), das Verhältnis von Wort und Ton in germanisch-deutscher Musik (in: Die Sonne [1938]), die Bedeu-
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schriftsteller und -wissenschaftler stellte sich die ‚musikalische Rassenkunde‘ in der Zeit des Nationalsozialismus als systemkonformes Forschungsfeld dar. Hier konnte sich auf die verschiedensten Diskussionen um den Begriff der ‚Rasse‘ in der Musikliteratur der Weimarer Zeit berufen werden.324 Betrachtet man die Genese des Begriffs der ‚Rasse‘ und dessen Verbreitung in der Musikliteratur der Weimarer Jahre fällt jenseits nationalistischer, völkischer und antisemitischer Positionen auf, dass sich dem optimistischen Glauben an biologistische Erklärungsmuster scheinbar nur wenige Autoren entziehen konnten. Selbst bei Verfechtern und Protagonisten der Neuen Musik findet sich der Begriff der ‚Rasse‘. So erörterte etwa der bekannte Berliner Musikkritiker Adolf Weissmann325 in einem Beitrag für das Jahrbuch 1926 der Universal Edition die Bedeutung von Rasse und Nation in der Musik. Wenngleich Weissmann „die Frage der Rasse“ für die Musik „nur mit äußerster Vorsicht behandelt“ wissen wollte,326 bewegten sich seine Ausführungen dennoch im Spannungsfeld zwischen völkischer ‚Rassereinheit‘ und einer „Rassenmischung“,327 die er vor allem in „Deutschland als Musikland“ sah.328 Beispielhaft zeigen Weissmanns Thesen die Problemfelder auf, die mit dem Gedanken der ‚Rasse‘ einhergingen. Formulierungen wie „Italien als Rasse“329 oder die „Fröhlichkeit [...] der englischen Musik als Rasseausdruck“ weisen auf eine Verschmelzung der Vokabeln ‚Rasse‘ und ‚Nation‘ und machen die Unsicherheit und Willkür in der Ein- bzw. Ausgrenzung der jeweiligen „Rassengemeinschaft“330 deutlich. Mit dem grundsätzlichen Defizit einer genauen Definition des ‚Rasse‘-Begriffs erscheinen diffuse Spekulationen über die ‚deutsche‘ Musikkultur, die zumeist gleichzeitig als Gegenbild eine einheitlich imaginierte tung von Rasse und Form in der Musik (in: Zeitschrift für Musik [Juni 1937]) oder ‚Blut und Boden‘ in der Kunst (in: Zeitschrift für Musik [Nov. 1927]) und stritt mit dem Berliner Musikwissenschaftler Fritz Metzler um Dur oder Moll? Betrachtungen zur Frage der Nordischen Musik (in: Die Sonne [1937]). 324 Einige der Autoren, die sich in den 20er Jahren mit ambivalenten Aussagen zum Bereich der ‚Rasse‘ äußerten, wurden nach 1933 aufgrund ihrer politischen und künstlerischen Überzeugung oder eines mangelnden Abstammungsnachweises diskriminiert, verfolgt oder ins Exil gezwungen. 325 Adolf Weissmann – selbst jüdischer Herkunft – gehörte bekanntlich zu den Gründern der deutschen Sektion der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik, die ihrerseits von nationalistischer Seite mit einem pejorativen Internationalismus-Begriff angegriffen wurde. 326 Weissmann, Rasse und Nation in der Musik (1925), 88. 327 Weissmann, Rasse und Nation in der Musik (1925), 86. 328 Weissmann, Rasse und Nation in der Musik (1925), 102: „Deutschland, als Musikland nichts weniger als rasserein, kann daher von Anfang an das Verschiedenartigste in sich aufnehmen, um es allmählich zu verarbeiten. [...] Im letzten Grund ist die deutsche Musik Gemeinschaftsmusik.“ 329 Weissmann, Rasse und Nation in der Musik (1925), 90. 330 Weissmann, Rasse und Nation in der Musik (1925), 100.
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‚jüdische‘ Musik entwarfen. Eine solche paradigmatische Gegeneinandersetzung findet sich ebenfalls bei Weissmann: Und hier ist auch der Ort, von dem starken Zusatz an Judentum zu sprechen, der sich in der deutschen Musik findet. [...] Wir erleben also das Merkwürdige, daß ein Volk, dessen Rassereinheit zwar unleugbar ist, das aber den begrenzenden Begriff der Nation durch sein Dasein verneint hatte, nunmehr zu einem nationalen Leben erwachen und bald darauf ein nationale Musik haben oder schaffen will.331
Auch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erwies sich in der Gegenüberstellung einer ‚deutschen‘ und ‚jüdischen‘ Musik das dualistische System prägend, das im 19. Jahrhundert ein Bewertungsmuster anhand außermusikalischer Etikettierungen suggerierte. Die Wertungsraster aus der Rezeption von Komponisten jüdischer Herkunft, die im Laufe des 19. Jahrhunderts kanonisiert worden waren, zeigen sich unter dem Begriff der ‚Rasse‘ als sehr präsent332 und erlebten zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine biologistische Konsolidierung als ‚Naturgesetz‘. Gleichzeitig lassen sich in den jeweiligen Auflistungen der Merkmale ‚jüdischen‘ Musikschaffens neben außermusikalischen Gemeinplätzen wie dem Vorwurf der ‚Kälte‘, ‚Intellektualität‘ und ‚Oberflächlichkeit‘ oder des ‚Fehlens von künstlerisch kritischer Auswahl‘ zunehmend beliebige musikalische Kennzeichen wie eine spezielle Rhythmik oder das „Rassische in der Melodie“333 auffinden, die ausführlich diskutiert wurden. Die Auseinandersetzungen über die Beziehung zwischen einer noch zu entdeckenden, allgemein verbindlichen Gesetzmäßigkeit der ‚Rasse‘ und jeglicher musikalischer Ausdrucksform und Rezeption verengte sich unter dem Einfluss völkisch-antisemitischer Positionen. In Stellungnahmen von musikwissenschaftlicher Seite wie etwa dem Artikel Das Rassenproblem in der vergleichenden Musikwissenschaft des Wiener Musikwissenschaftlers Robert Lach galt es als „schwer, ja vorläufig unmöglich [...] solche Rassen-, Völker- und Stammesverschiedenheiten in objektiv-exakter, über jederlei subjektive Gefühlseindrücke hinaus entrückter, wissenschaftlich einwandfreier Weise bloßzulegen und bestimmte zuverlässige Kriterien und Merkmale musikalischer Rasse-, 331 Weissmann, Rasse und Nation in der Musik (1925), 104. Auch in seiner Abhandlung Die Musik in der Weltkrise (2. erw. Aufl. 1925) zeigte sich Weissmann durch die gängigen, auf Mahler bezogenen Klischees beeinflusst (104f): „Es gibt ein Mahler-Problem. [...] Und: Mahler ist Jude. Ein Jude der Neuzeit als Sinfoniker großen Stils. Die scheinbar tote, durch Beethoven geweihte Sinfonie durch einen Juden wiedergeboren? [...] Dieses jüdische Blut ist wichtig. Ewig gärend, kann es vielseitig veranlagen und nicht immer zur Höhe. Es drängt zur Zersetzung wie zur Zusammenraffung. [...] Auch in Mahlers Seele gräbt das Judentum tiefere Furchen. [...] Die Zusammengesetztheit seines Wesens wird immer klarer. Sein Hang zum Nachschaffen ist nicht weniger leidenschaftlich als der zum Schaffen. Mahler zeigte die Vollendung des Deutschen im Juden.“ 332 Zu diesen tradierten Rezeptionsmustern gehören der Vorwurf der ‚Reproduktion‘ ebenso wie ein Ausschluss aus dem ‚Genie‘-Status und eine direkte oder implizite Orientalisierung. 333 Weissmann, Rasse und Nation in der Musik (1925), 88.
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Völker-, und Stammesstile zu gewinnen, geschweige denn allgemein gültige diesbezügliche Normen aufzustellen“.334 Von antisemitischer Seite wurde gleichzeitig mit Phrasen wie ‚gesundes Volkstum‘, ‚Blut‘, ‚Abstammung‘ und ‚ursprüngliche Anlage‘335 jenseits musikwissenschaftlicher, musikhistorischer und wirkungsgeschichtlicher Zusammenhänge ein Ausschluss von Komponisten jüdischer Herkunft aus der nationalen Musikgeschichte gefordert. Einen Auftrieb erhielt diese antisemitische Forderung nach der Rücknahme der jüdischen Emanzipation durch die um 1920 entstehende, an der Physiognomie orientierte Rassenkunde des deutschen bzw. jüdischen Volkes von Hans Friedrich Karl Günther und ihrer Verschränkung mit der so genannten ‚Rassenseelenkunde‘ des Schriftstellers Ludwig Ferdinand Clauß. Deren Theorien um den imaginären ‚Rassenkampf‘ wurden 1932 von dem Pädagogen Richard Eichenauer auf die Musik übertragen und zu einer pseudowissenschaftlichen Systematik ausgebaut. 4.2.2 Die ‚Rassentheorie‘ im Musikschrifttum Die ‚Rassentheorie‘ im Musikschrifttum Die Schriften der so genannten ‚musikalischen Rassenkunde‘ nach 1933 bezogen sich in erster Linie auf Richard Eichenauers Musik und Rasse, der nach eigenem Bekunden seinerseits von den ‚Rassentheoretikern‘ Hans Friedrich Karl Günther und Ludwig Ferdinand Clauß angeregt worden war. Beide Vertreter des „Nordischen Gedankens“336 suchten ihre idealisierte Vorstellung von der Exklusivität, Homogenität und Überlegenheit der ‚nordischen Rasse‘ in einer biologistisch unterfütterten Systematik nachzuweisen. In ihrer Vermischung von anthropologischen Merkmalen mit der „seelischen Haltung“337 jeweiliger ‚Rassen‘, philosophisch-historischen Vereinfachungen und Verdrehungen sowie eines scheinbar differenzierendwissenschaftlichen Systems mit prägenden Wortschöpfungen wie ‚Artung‘ und ‚Gesittung‘ wurde der Idealtyp des ‚nordischen‘ „Leistungsmenschen“338 beschworen, dem nahezu alle positiven Eigenschaften und eine 334 In: Berichte des Forschungs-Instituts für Osten und Orient (1923), 107. Die Unmöglichkeit führte Lach (1874–1958) auf den Mangel an geeigneten Methoden zurück, die „vergleichendmusikwissenschaftliche[...] Forschung, Biologie, Anthropologie, Physiologie (vor allem Phonetik), Psychologie (vor allem Völkerpsychologie, Psychologie des Kindes, Entwicklungs- und Tierpsychologie), Psychopathologie und Psychoanalyse, Ethnographie und Ethnologie, vergleichende[...] Sprachwissenschaft, allgemeine[...] Kunstwissenschaft, Kulturgeschichte, vergleichende[...] Sagen- und Mythenforschung usw.“ umfassen müsste (108f). 335 Vgl. Bork, Tendenzen nationalsozialistischer Sprachregelung, 76: „Nicht der mythische Sinn, sondern der mythische Klang stand im Vordergrund.“ 336 Günther, Der Nordische Gedanke unter den Deutschen (1925, 2. umgearb. Aufl. 1927); Clauß, Die nordische Seele. Artung, Prägung, Ausdruck (1923). 337 Günther, Rasse und Stil (1926), 109. 338 Clauß, Rasse und Charakter, 1. Teil: Das lebendige Antlitz (1936), 46.
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besondere schöpferische Begabung zuzuschreiben seien.339 In Anlehnung an Chamberlains Verherrlichung der ‚Germanen‘ und seiner Idee eines dualistischen Weltkampfes um die Herrschaft340 fungierte innerhalb der ‚Rassenlehre‘ die ‚jüdische Rasse‘ als Gegenbild zum ‚Nordischen‘. Wenngleich Günther und Clauß in ihren Grundaussagen keinerlei neue Ideen zum Gedanken der ‚Rasse‘ hinzufügten,341 gewannen ‚Rassensystematiken‘ ebenso wie der Be-griff der ‚Rasse‘ an sich schon in den 20er Jahren eine eigene Dynamik: Dadurch wurde die ‚Rasse‘ zur ‚gesellschaftlichen Totalität‘ erhoben und zunehmend als alleinige Erklärung für kulturelle und soziale Verhaltensweisen herangezogen. ‚Rasse‘theorien wurden zur Grundlage einer ‚Weltanschauung‘, anhand derer moralische und politische Entscheidungen getroffen wurden. Diese ‚Weltanschauung‘ enthob Vertreter der ‚völkischen-rassischen‘ Lösung von der Aufgabe, die Probleme der Weimarer Republik mit wirtschaftspolitischen oder sozialpolitischen Mitteln anzugehen und erlaubte ihnen, sich der Utopie einer idealen, auf ‚rassischer‘ und kultureller Geschlossenheit basierenden Gesellschaft hinzugeben.342
In der Tradition völkischer und kulturpessimistischer Schriften mit ihren Untergangsfantasien suggerierte die ‚Rassenlehre‘ durch völkerpsychologische Zuschreibungen, die Glorifizierung des ‚Nordischen‘ und die Abgrenzung gegen ‚das Fremde‘ ein einfaches, scheinbar wissenschaftlich fundiertes Bewertungsraster. An höchster Stelle stand das ‚Volk‘, das durch den Begriff der ‚Rasse‘ zum „bloßen Naturbestand“343 erklärt wurde. 1922 erschien die populäre Rassenkunde des deutschen Volkes von dem Philologen Hans Friedrich Karl Günther (1891–1968), die bis 1927 elf Auflagen erfuhr344 und nach der Machtübernahme der NSDAP zu dem 339 Günther, Rassenkunde des deutschen Volkes (1922), 133: „Untersucht man die Begabungsverhältnisse der einzelnen Rassen nach der Häufigkeit des Auftretens schöpferischer Menschen, so ist die Nordrasse darin unvergleichlich reich.“ 340 Auch die Erweiterung eines zunächst aus der Abstammung resultierenden Gedankens der ‚Rasse‘ um die Idee einer „Rassenseele“ und eines „Rassenbewusstseins“ geht – wie im Kapitel 4.2 Zur Genese des Begriffs der ‚Rasse‘ in der Musikliteratur gezeigt – auf Chamberlain zurück. 341 Mosse, Geschichte des Rassismus, 223: „Diese Bücher bereicherten das rassische Denken um keine neuen Erkenntnisse. Sie waren lediglich populärwissenschaftliche Zusammenfassungen der vorausgegangenen Theorien. Es sei hier jedoch festgehalten, daß solche Schriften vorwiegend in Deutschland und weniger in anderen europäischen Ländern erschienen, und daß sie ein Symptom dafür waren, daß Deutschland sich an die Spitze rassistischen Denkens schob“. 342 Schmidt, Politisierung der deutschen Musik, 75. 343 Rürup, Emanzipation und Antisemitismus, 110: „Die Rassetheorien fixierten endgültig den biologischen Sinn des Begriffs ‚Rasse‘ und erhoben ihn zum obersten Erklärungsprinzip der geschichtlichen Welt: der Begriff der Rasse wurde historisiert und ideologisiert, ehe er politisiert wurde. Mit der Historisierung des Rassebegriffs vollendete sich die Naturalisierung der politischsozialen Welt.“ 344 Vgl. Becker, Wege ins Dritte Reich, 237: „Jedenfalls ist es Günther geglückt, durch Lebendigkeit der Darstellung das Interesse des Lesers wachzuhalten. In der Mischung von wissenschaftlicher Betrachtung und künstlerischer Schau, in den Übergängen vom Trivialen zum Erha-
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grundlegenden ‚rassenkundlichen‘ Standardwerk erklärt wurde. Eine Rassenkunde des jüdischen Volkes, zunächst als Anhang an dieses Buch angefügt, wurde 1930 als eigenständiger Band publiziert. Mit dem Ziel einer ‚naturgesetzlichen‘ Begründung der tradierten Judenfeindschaft versuchte Günther hier mit zahlreichen Verweisen auf die Mendelsche Vererbungslehre eine, auf biologischen Grundlagen beruhende „Fremdheit der Juden in rassisch andersgearteten Umgebungen“ aufzuzeigen und so die „notwendige [...] gegenseitige Abneigung“ zwischen „den Juden einerseits, den abendländischen Völkern andererseits“ herzuleiten.345 Dabei galten ihm beide Gruppen als Mischung verschiedener ‚Rassen‘. Während diese ‚Rassenzusammensetzung‘ in Europa laut Günther auf einer Sechsteilung beruhe,346 sei das „Rassengemisch“ der Juden ein außereuropäisches.347 „Rassenkundliche Meßverfahren“348 des Schädels, Gesichts und der körperlichen Konstitution bildeten bei Günther die Grundlage für die Beurteilung der jeweiligen ‚Rassenmischungen‘, die mithilfe physischer wie auch charakterlicher Eigenschaften gegeneinander abgegrenzt werden sollten. Seine Theorie bebilderte er mit zahlreichen Gesichtsfotografien, unter ihnen – neben dem Wagner-Dirigenten Hermann Levi und dem Geiger Theodor Naschitz (1859–1930) – auch Jacques Offenbach und irrtümlicherweise Camille Saint-Saëns,349 denen unter anderem ein ‚vorderasiatischer‘ Einschlag attestiert wurde, zumal diese ‚Rasse‘ laut Günther eine besondere Neigung zu Theater und Musik aufweise:
benen, vom Belehrenden zum Erbaulichen liegt der Erfolg, den das Buch bei einer breiten Leserschicht hatte.“ 345 Günther, Rassenkunde des jüdischen Volkes (1930), 321. 346 Günther unterteilte innerhalb Deutschlands in ‚nordische‘ (norddeutsch), ‚westische‘ (mediterran, süddeutsch), ‚dinarische‘ (östliche Alpen, Bayern und Tirol), ‚ostische‘ (Alpen und Schwarzwald), ‚ostbaltische‘ und (west-) ‚fälische Rasse‘. Diese Aufteilung wurde in die ‚musikalische Rassenkunde‘ übertragen. In nachfolgenden Auflagen der Rassenkunde des deutschen Volkes wurde diese Systematik Günthers noch um die ‚dalische Rasse‘ ergänzt. 347 Günther, Rassenkunde des jüdischen Volkes (1930), 12f: „Die abendländischen Völker stellen somit Rassengemische dar, die im wesentlichen aus den gleichen Rassen bestehen, nur eben daß diese Rassen im Rassengemisch der einzelnen Völker verschieden stark vertreten sind. Auch die Juden stellen ein Rassengemische dar [...]. Nur sind im jüdischen Volk in der Hauptsache außereuropäische Rassen in einem bestimmten Mischungsverhältnis vertreten. [...] Die Juden unterscheiden sich also von den Abendländern nicht wie eine Rasse von einer oder mehreren anderen, sondern wie ein bestimmt zusammengesetztes Rassengemisch von anders zusammengesetzten Rassengemischen.“ 348 Günther, Rassenkunde des jüdischen Volkes (1930), 17. 349 Noch im Kontext der denunziatorischen Nachschlagewerke des Nationalsozialismus beschäftigte sich Herbert Gerigk mit dem ‚rassisch‘ verdächtigen Komponisten, der scheinbar vor allem durch seine deutschenfeindlichen Aussagen und sein Eintreten für fortschrittliche Tendenzen in der Musik mit dem Verdikt ‚jüdisch‘ belegt worden war. Zu Gerigk vgl. Kap. 6.1 Die Juden in der Musik: Nachschlagewerke und schwarze Listen.
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Eine Begabung für die Schauspielkunst und vor allem für Tonkunst ist für die vorderasiatische Rasse bezeichnend, ferner eine Neigung zu berechnender Grausamkeit [...].350
Neben Berechnung, „Grausamkeit“ und dem „Genuß der Macht über Gemeinschaften“ nannte Günther eine spezifische „Einfühlung und Sichhineinsteigern“351 als ‚vorderasiatische Rasse-Eigenschaften‘. Unübersehbar in der Tradition kanonisierter anti-judaistischer Verleumdungen befand sich Günther auch in seiner Auflistung der weiteren Merkmale dieser ‚Rasse‘, der er einen ‚kapitalistischen Schachergeist‘, ‚zersetzende Intellektualität‘ und ‚manipulierendes Schmarotzertum‘ unterstellte: Die Auswirkung ihres besonderen Handelsgeistes wird bei der vorderasiatischen Rasse gefördert durch einen geschmeidigen Verstand, durch ausmalende Beredsamkeit, eine ausgesprochene Gabe, ja einen Eifer zur Einfühlung in fremdes Seelenleben, zur Berechnung der Menschen und Zustände und eine Fähigkeit zur Auslegung und Umdeutung fremder Geistesgüter.352
Für die, den Juden seit dem Mittelalter attestierte ‚Verstocktheit‘ und innerjüdische ‚Abgeschlossenheit‘ sei laut Günther allerdings ein Einfluss der ‚orientalischen Rasse‘ verantwortlich, einer ‚Rasse‘, die darüber hinaus jedoch keinerlei besondere Anlagen zur Musik aufweise.353 Nach Günther enthalte die ‚jüdische Rassenmischung‘ neben ‚vorderasiatischen‘ und ‚orientalischen Rassenmerkmalen‘ unter anderem „Einschläge [...] negrischer Rasse“ und er differenzierte zudem in der ‚rassischen‘ Zusammensetzung zwischen den aschkenasischen (osteuropäisch) und sephardischen (süd- und westeuropäisch) Juden,354 wenngleich „in beiden Gruppen das Gemeinsame so deutlich“ sei, „daß Vertreter beider Gruppen von Juden und Nichtjuden doch immer als Angehörige eines und desselben Volkes empfunden worden sind“.355 350 Günther, Rassenkunde des jüdischen Volkes (1930), 30. 351 Günther, Rassenkunde des jüdischen Volkes (1930), 35. 352 Günther, Rassenkunde des jüdischen Volkes (1930), 27f. 353 Günther, Rassenkunde des jüdischen Volkes (1930), 78f: „Ein Bild der seelischen Eigenart der orientalischen Rasse wird man am ehesten aus einer Betrachtung des seelischen Verhaltens der arabischen Beduinen [...] gewinnen. An ihnen ist immer wieder ein Sinn für eine sich abschließende Würde und eine gewissen Starrheit der Empfindungen aufgefallen, eine Starrheit, welche anscheinend auch die Ausbildung einer arabischen Tonkunst und eines arabischen Schauspiels jeweils so lange gehemmt haben, bis Vermischungen mit der vorderasiatischen Rasse eingetreten sind.“ 354 Günther, Rassenkunde des jüdischen Volkes (1930), 191f: „Das Ostjudentum, etwa neun Zehntels des Judentums [...] entspricht etwa einem Rassengemische, das man in der Hauptsache als vorderasiatisch-orientalisch-ostbaltisch-ostisch-innerasiatisch-nordisch-hamitisch-negerisch bezeichnen kann. Das Südjudentum, etwa ein Zehntel des Gesamtvolkes [...] hat auf seinen Ausbreitungswegen längs der Küsten des Mittelmeers wahrscheinlich einen Teil seines vorderasiatischen Einschlags verloren, dafür neue Einschläge orientalischer, westischer, hamitischer und negerischer Rasse, also Einschläge langköpfiger Rassen, gewonnen.“ 355 Günther, Rassenkunde des jüdischen Volkes (1930), 192.
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Mit Blick auf die angeblichen ‚jüdischen Rasse-Eigenschaften‘ und einer Befähigung zur Musik orientierte Günther sich an Richard Wagner,356 dessen anti-judaistisches Stigma einer spezifischen Sprechweise und charakteristischer Gebärden er als Folge der ‚Rassenmischung‘ darstellte und damit diesen durch eine sich anthropologisch gebenden Beweisführung ergänzte. Während Wagner das so genannte ‚Mauscheln‘ als Ausdruck für die unüberwindbare ‚Fremdheit‘ der deutschen Juden und Argument gegen jegliches musikalisches Schaffen darstellte, beruhe es laut Günther auf einer typischen, ‚rassischen‘ „Lautneigung“, die er auf die „Erbanlagen der orientalischen Rasse“ zurückführte:357 Aber sicherlich bewirkt der von Rasse zu Rasse mehr oder minder verschiedene Bau der Sprechwerkzeuge – um noch gar nicht von Erbanlagen seelischer Art zu sprechen – bei jeder Rasse eine ihr eigene und sie von anderen Rassen unterscheidende Lautneigung. Das Mauscheln der Juden oder vieler Juden wäre dann der Versuch, der eigenen Lautneigung in der übernommenen Sprache zu folgen, der Versuch, an der artfremden Sprache, die der Jude spricht, wenigstens eine arteigene Tongebung durchzusetzen.358
Seine These der „Erbanlagen seelischer Art“ sah Günther neben der ‚Reproduktion‘ einer „übernommenen Sprache“ jenseits jeglicher musikalischer Konkretisierung in einer ‚mauschelnden Kompositionsweise‘ bestätigt: Stellen wahrscheinlich ungewollten ‚Mauschelns‘ in Tonstücken jüdischer Tonsetzer zeigen an, daß es sich beim Mauscheln anscheinend nicht nur um die leiblichen Anlagen der Sprechwerkzeuge, sondern auch um seelische Eigenheiten handelt, die sich in der Tongebung auch eines Tonstückes ausdrücken können.359
Dem Exkurs über die Bedeutung der ‚Rasse‘ für die Musik schlossen sich Günthers Ansichten über die Einwirkung des jüdischen Geistes an, in denen 356 In unterschwelliger Anlehnung an Wagners Schlusssatz des Judenthum-Aufsatzes brachte Günther eine Lösung der so genannten ‚Judenfrage‘ auf den Nenner (343): „Die rassenbiologische Zukunft des Judentums könnte man somit bezeichnen durch das Schlagwort: Entweder Zionismus oder Untergang.“ 357 Günther, Rassenkunde des jüdischen Volkes (1930), 257. Diese konstruierte Günther ebenfalls im Gesang (256): „Ein gewisses Mauscheln läßt sich bei den jüdischen Sängern auch im Gesange vernehmen: der oder jener Ton erscheint etwas abgewandelt, der Rhythmus etwas verzerrt, die Gesamtempfindung fremd gegenüber den Absichten des nichtjüdischen Tonsetzers.“ 358 Günther, Rassenkunde des jüdischen Volkes (1930), 257. 359 Günther, Rassenkunde des jüdischen Volkes (1930), 255. Gemäß seiner pseudowissenschaftlichen Differenzierung meinte Günther, dass die „rassenseelischen“ Merkmale des ‚Mauschelns‘ sich im Tonfall verwirklichen, die Laute selbst hingegen auf die „Erbanlage der Sprechwerkzeuge“ zurückzuführen seien (259f): „Die Einwirkung leiblicher Erbanlagen wird man wohl eher in den Lauten einer Sprache suchen dürfen, die Einwirkung rassenseelischer Art im Tonfall. Der Einwirkung einer oder mehrerer Rassenseelen wird es zuzuschreiben sein, wenn anscheinend schon der althebräische Gesang durch ein Näseln und Zitternlassen der Stimme gekennzeichnet war, ebenso wie der Sington der strenggläubigen Ostjuden beim Talmudlesen. Im Mauscheln aber scheint sich auch eine solche Neigung zum näselnden Sington beim Sprechen auszuwirken.“
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er die zeittypischen Verdächtigungen eines politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Herrschaftsanspruchs der in Deutschland lebenden Juden aufgriff, um die „Gefahr der Durchfremdung des abendländischen Geistes“360 als eine Notwendigkeit aus der biologistischen Differenz darzustellen. So wurde der Antisemitismus gleichsam als ‚Naturgesetz‘ gerechtfertigt: Eine Judenfrage, sowie der ‚Antisemitismus‘, sind ja nur möglich geworden durch die [...] ‚unnatürliche Vermengung‘, d.h. durch eine Vermengung zweier Gruppen, der Abendländer und der Juden, die insofern ‚unnatürlich‘ ist, als die beiderseitigen Rassengemische ‚von Natur‘, d.h. nach ihren Erbanlagen, eine gedeihliche und für beide Teile würdige Zusammenarbeit, gar ein beiden Rassengemischen angemessenes und förderliches Geistesleben, nach allen geschichtlichen Erfahrungen nicht zulassen.361
Dementsprechend sah Günther die „Lösung der Judenfrage“362 nur in einer Rücknahme der jüdischen Emanzipation und forderte das „Herauslösen der Juden als ‚nationaler Minderheit‘“363 und die „klare Scheidung der Juden von Nichtjuden“,364 wie sie sich in der antisemitischen Gesetzgebung nach 1933 verwirklichen sollte. Dass die Juden Deutschlands seit der Emanzipation eine wirtschaftlichpolitische und auch ‚geistige‘ Machtstellung erworben hätten, war ebenfalls die Grundthese des Schriftstellers Ludwig Ferdinand Clauß (geb. 1892) innerhalb seiner „Rassenkundliche[n] Gesittungsforschung“.365 Clauß entfernte sich noch weiter als Günther von einer scheinbar sachlich-wissenschaftlichen ‚Rassenlehre‘ und ihrer typologisierenden Einteilung körperlicher Merkmale. In seinen Büchern Die Nordische Seele und Rasse und Seele prägte er – neben dem von Günther eingeführten Begriff „Gesittung“366 – entscheidend die verschwommene Vokabel ‚Artung‘, die je nach Kontext als Synonym für ‚Seele‘,367 ‚Rasse‘,368 ‚Blut‘,369 ‚Ausdruck‘370 oder ‚Lebensstil‘371 fungieren konnte:
360 Günther, Rassenkunde des jüdischen Volkes (1930), 315. 361 Günther, Rassenkunde des jüdischen Volkes (1930), 344. 362 Günther, Rassenkunde des jüdischen Volkes (1930), 345. 363 Günther, Rassenkunde des jüdischen Volkes (1930), 344. 364 Günther, Rassenkunde des jüdischen Volkes (1930), 345. 365 Günther, Rasse und Stil (1926), 128. 366 Günther, Der Nordische Gedanke unter den Deutschen (1927), 79f: „Eine nordisch-gerichtete deutsche Gesittung muß dem Deutschen ebenso ‚höchste Kultur‘ sein, wie eine aus jüdischem Geist kommende jüdische Gesittung dem Juden. Alle Gesittung beruht auf Begrenzung.“ 367 Clauß, Rasse und Seele (1926), 11–16: „Ein Stilgesetz, das im Erleben einer Seele waltet und ihm seine besondere Gestalt verleiht, wollen wir das Artgesetz einer Seele nennen; kraft dieses Artgesetzes ist die Seele geartet. Je nachdem, ob eine Seele von diesem oder jenem Artgesetz durchherrscht ist, sagen wir, daß sie teilhabe an dieser oder jener Artung. Eine Seele kann in allem ihrem Erleben von einem einzigen Artgesetz bestimmt sein; eine solche Seele nennen wir eingeartet oder rein-geartet. Eine Seele kann von zwei oder mehreren Artgesetzen bestimmt sein [...]; eine solche Seele nennen wir zwie-geartet oder mehr-geartet, je nachdem.“
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‚Verfall‘ eines Volkes und seines Gewirkes (seiner ‚Cultur‘) bedeutet, daß die Artung, als deren Ausdruck das Gewirk entstanden war, nicht mehr die Herrschaft hat im Volk und seiner Seele: daß diese Seele voll-durchfremdet ist und herrschaftslos. Stürzt aber die Herrschaft, so zerfällt die Einheit des geltenden Ausdrucks in der Volksgemeinschaft, es zerfällt das Verstehen und so die Gemeinschaft selber; die Seele zersetzt sich gleichsam, und ihre schöpferische Kraft gerinnt.372
Mit seiner betont nicht-naturwissenschaftlichen Sprache und seinen verschlungen-pathetischen Formulierungen forcierte Clauß die Willkür ‚rassenkundlicher‘ Betrachtungen. An Günther orientiert, typisierte er dessen ‚Rassentheorie‘ durch verschwommene Substantiv-Zuordnungen und klassifizierte so den „nordischen Menschen“ als „Leistungsmenschen“,373 die „fälische Rasse“ als „Verharrungsmenschen“,374 einen Angehörigen der ‚ostischen Rasse‘ als „Enthebungsmenschen“375 und der ‚westischen Rasse‘ als ‚Darbietungsmenschen‘. Durch seine langjährigen Reisen nach Nordarabien und Palästina (1927–1931) angeregt, sah er in dem Angehörigen der ‚orientalischen Rasse‘ den „wüstenländische[n] Offenbarungsmenschen“,376 und „den Menschen vorderasiatischer Rasse“ benannte er als „Erlösungsmenschen“.377 Neben derlei plakativen Simplifizierungen erweiterte Clauß ähnlich wie Günther die jeweilige Klassifikation gerade in der Kunstbetrachtung um eine ‚intuitive‘ Bewertungsinstanz des ‚Gefühls‘. Wenn die physischen Merkmale eines Künstlers nicht dem Schema der ‚Rassenkunde‘ entsprächen, drücke sich trotzdem und gerade in seinem Werk die jeweilige ‚Rassenseele‘ aus. Durch ‚einfühlendes Verstehen‘ und ‚Mitschwingen‘ könne man im Kunstwerk die ‚Rassenzugehörigkeit‘ zweifelsfrei zuordnen. Die 368 Clauß, Rasse und Seele (1926), 31: „Jede echte Artung oder Rasse trägt in sich selbst ein Bild ihrer höchsten Möglichkeit“. 369 Clauß, Die Nordische Seele (1923), 147: „‚Blut‘ bedeutet uns, in unsrer gesamten Betrachtung, nicht etwas nur Leibliches, sondern: Seele in artlicher Verbundenheit mit ihrem Ausdrucksfeld, dem Leibe“. 370 Clauß, Die Nordische Seele (1923), 71: „In dem Gezüge des Ausdrucks spiegelt sich das artliche Spiel der Gewoge, das von der artlichen Erlebniswelt bestimmt ist. [...] das alles gründet in dem Artgesetz der Seele“. 371 Clauß, Rasse und Seele (1926), 31f: „[...] dieses höchste Inbild einer Artung ist es, was ich ihren Adel nenne. [...] Adel ist Treue zum Schicksal. Artgesetze sind Adelsgesetze. Den Lebensstil einer Rasse zu erforschen, heißt also nichts anderes, als das Gesetz ihres Adels zu schauen“. 372 Clauß, Die nordische Seele (1923), 218. 373 Clauß, Rasse und Charakter (1936), 1. Teil, 46. 374 Clauß, Rasse und Charakter (1936), 1. Teil, 47. 375 Clauß, Rasse und Charakter (1936), 1. Teil, 58–63. 376 Clauß, Rasse und Charakter (1936), 1. Teil, 58. 377 Clauß, Rasse und Charakter (1936), 1. Teil, 101. Diese Zuordnung findet sich dann auch in Eichenauers Beitrag (Über die Grundsätze rassenkundlicher Musikbetrachtung) zum Sammelband Rasse und Musik (hg. von Guido Waldmann [1939], 40), „denn mehr als eine Haltung kann man im Mittelpunkte seines Wesens zu den Dingen dieser Welt nicht einnehmen“.
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Beliebigkeit der Einteilung zeigte sich bei Clauß jedoch nicht nur in der allgegenwärtigen Phantasie einer Überfremdung der ‚nordischen Rasse‘. Unter den präformierten Schlagwörtern der „jüdische[n] Entartung“,378 „Mißartung“ und „Zerfremdung“,379 die „ein Krampf der Verneinung des Nordischen“ seien und so eine „Störung der artechten Keimordnung“380 darstellten, appellierte auch er an eine „Volksgemeinschaft“, die sich in der „Gemeinsamkeit des Artgesetzes“ begründen sollte.381 Der Musikpädagoge Richard Eichenauer (1893–1956) übertrug 1932 Günthers und Clauß’ ‚Rassentheorie‘ auf den Bereich der Musik.382 Nach eigenen Aussagen suchte er nach einer Methode, „wie bei der Beurteilung zeitgenössischer Musik ein sicherer Maßstab zu gewinnen sei“.383 Wenngleich Eichenauer zugab, dass „auch viel von Dingen die Rede ist, die man nicht im strengen Sinne beweisen“ könne und dass die „‚Intuition‘“ des „gesund empfindenden deutschen Zeitgenossen“ ein zentrales Bewertungskriterium sei, wollte er durch die ‚rassenkundliche‘ Deutung der Musikgeschichte so genannte „Tatsachen“384 über die „feste[n] Beziehungen zwischen musikalischer Artung der Werke und seelischer Artung der Rassen“385 feststellen. Mit „grotesk verkürzten und mißverstandenen“ Verweisen auf die zeitgenössische Musikforschung386 unterfüttert, versuchte Eichenauer gemäß 378 Clauß, Die Nordische Seele (1923), 147. 379 Clauß, Die Nordische Seele (1923), 235: „Mißartung nennen wir jene Weise der inneren Zerfremdung [...]. Mißartung haben wir erkannt als den Ursprung alles tiefen Mißverstehens in unserer Volksgemeinschaft“. 380 Clauß, Die Nordische Seele (1923), 146f. 381 Clauß, Die Nordische Seele (1923), 235: „Alle Gemeinschaft, die nicht in Gemeinsamkeit des Artgesetzes gründet, beruht auf solchem Um-Verstehen und Schein-Verstehen, in welchem der scheinbar Verstehende das innerste Wesen des Anderen verfälscht. Ein Weg nur ist möglich, solche Scheingemeinschaft umzuschaffen zu einer echten Gemeinschaft“. 382 Fünf Jahre zuvor hatte der damalige Leiter der Staatlichen Schule für Baukunst in Weimar, Paul Schultze-Naumburg (1869–1949) seine Betrachtungen zu Kunst und Rasse veröffentlicht, in denen er davon ausging, dass sich gerade in der bildenden Kunst ein ‚rassisch bedingtes‘ Selbstbild des Künstlers zeige. In der modernen Malerei sah er die „Bevorzugung und Betonung der Erscheinungen der Entartung“ und „eine wahre Hölle des Untermenschen“ als Ausdruck des „sittlichen Tiefstand[s]“ verwirklicht (87). Propagandistisch stellte er modernen Kunstwerken Fotos von psychisch und physisch Kranken gegenüber, die seine Auslassungen über den Verfall der Kunst als ‚krankhafte Entartung‘ im Sinn der Begriffsprägung durch Max Nordau illustrieren sollten. 383 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 8. 384 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 9. 385 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 13. 386 Schmidt, Politisierung der deutschen Musik, 81. Unter den von Eichenauer zitierten Autoritäten befanden sich neben seriösen Musikwissenschaftlern wie Hermann Abert, Guido Adler, Robert Lach, Hugo Riemann, Curt Sachs oder Arnold Schering auch konservativ-nationalistische und dezidiert völkische Autoren wie Alfred Lorenz, Hans Joachim Moser, Walter Niemann und Karl Storck.
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seiner Intention jedoch einzig die musikalische Überlegenheit der ‚nordischen Rasse‘ nachzuweisen. So sah er die „abendländische Gesittung“ als eine „Geistestat der nordischen Rasse“,387 die sich musikalisch vor allem durch eine „besondere Veranlagung der nordischen Rasse zur harmonischen Mehrstimmigkeit“388 darstelle. Da die „nordische Rasse die Schöpferin der Harmonik“389 sei, gehöre zu ihren Verdiensten auch die Entstehung der DurMoll-Tonalität: [...] nur die Germanen haben kraft der harmonischen Richtung ihrer musikalischen Begabung eine Tonkunst ausgebildet, in der beide Begriffe, Dur und Moll, überhaupt erst möglich wurden. Ob man daher Moll als ‚weniger nordisch‘ ansehen kann, dürfte eine große Frage sein [...].390
Die angebliche Überlegenheit des „nordisch-polyphonen Stil[s]“391 wies Eichenauer in nahezu allen Epochen nach. Die Gregorianik, die sich – wie um die Wende zum 20. Jahrhundert von wissenschaftlicher Seite erneut zweifelsfrei festgestellt – in der christlichen Übernahme synagogaler Praxis gründete,392 sei „in ihrer tatsächlich vorhandenen Gestalt stark durch abendländisch-nordischen Geist umgestaltet“ worden:393 Die orientalischen Wurzeln der Gregorianik werden nicht in Frage gestellt, wenn man sich an ihrem Ausbau die nordische Rasse hervorragend mitbeteiligt denkt. [...] ‚Gregorianik und Germanentum‘ – eins der besten Beispiele für die Möglichkeit gegenseitiger Befruchtung, selbst dort, wo rassische Abgründe zwischen zwei Ausprägungen des Menschengeistes klaffen. [...] ‚Gregorianik und Germanentum‘ – auf der andern Seite ein ergreifendes Beispiel für die Tragik, die der Zusammenprall rasseverschiedener Kräfte im Gefolge haben kann. Soviel der gregorianische Gesang dem nordischen Geiste verdankt: er ist doch schließlich von ihm aufgelöst, gesprengt, erdrückt worden.394
Neben dieser Uminterpretation der Gregorianik und ihrer Entwicklung als ‚nordische Verfälschung‘ und letztendlichen Tilgung führte Eichenauer etwa äußerst widersprüchlich die italienische Renaissance mit der Florentiner Entstehung der Gattung Oper aus der – wohl kaum polyphon zu nen387 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 21. 388 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 81. 389 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 84. 390 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 84f. 391 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 125. 392 Vgl. etwa Franz Leitner, Der gottesdienstliche Volksgesang im jüdischen und christlichen Altertum (1906), 71: „Wie schon erwähnt, trat nicht der jüdische Tempel, sondern die Synagoge ihren Gesang als Erbe an die christliche Kirche ab. Dafür spricht schon die einfachere Form der synagogalen Kantillation [...]. Auch wurden die übrigen Elemente des Synagogalritus, nämlich Lesung, Homilie und Gebet, in welchem dem Gesange das Urbild unserer heutigen Liturgie zu suchen ist, in die christliche Kirche herübergenommen.“ 393 Eichenauer, Musik und Rasse (1937), 70. 394 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 102f.
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nenden – Monodie auf den ‚nordischen‘ Einfluss zurück.395 Claudio Monteverdi wurde zum „nordisch-dinarischen Mischling“ erklärt, zumal seine „zielbewußte Art, in der er das dramatische Wollen der Opernschöpfer ernst nahm, das Streben nach großen Formen und einheitlichen Leitgedanken, der Adel seines rezitativischen Stils, die Bedeutsamkeit des Instrumentalen und des Chors“396 laut Eichenauer „nordische Züge“ trügen.397 Mit ähnlich diffusen Zuschreibungen erschienen bei ihm Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel als „nordische Großmeister“398 und „‚Leistungsmenschen‘“, die jedoch „zwei einzelmenschlich verschiedene Ausprägungen derselben Rassenseele“399 darstellten. Während Bach „als echter Mystiker durch ein dürftiges Kantoren- und Organistendasein den heiligen Gral in seinen geweihten Händen trägt“,400 sei Händel der ‚nordische‘ Vertreter der ‚westischen‘ Opera seria neapolitanischer Herkunft,401 da Angehörige der ‚westischen Rasse‘ als ‚Darbietungsmenschen‘ galten. Die Händelschen Oratorien wie Esther oder Judas Maccabeus gründeten zwar auf alttestamentlichen Texten und waren so aus antisemitischer Sicht nicht akzeptabel,402 395 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 144f: „Das Wesen der neuen Gattung selbst verrät die Einwirkung nordischen Geistes aufs klarste. [...] Hier scheinen nicht gerade nordische Gipfelgeister am Werke, wohl aber guter nordischer Mittelschlag, dessen Kennzeichen: Ernst und Redlichkeit, kühle Sachlichkeit und wache Verständigkeit, Scharfsinn und Gründlichkeit, sich in schönster Vereinigung finden.“ Nach der ‚germanischen‘ Entdeckung der Polyphonie musste laut Eichenauers ‚rassenkundlicher‘ Logik der „wagende[...] Schritt ins Unbekannte“ des Monodischen erfolgen (146): „Um 1600 waren die polyphonen Formen überreif geworden; zu neuen Ufern lockte ein neuer Tag, und die den Lockruf der unbekannten Fernen zuerst vernahmen, waren eben die Wikingsnaturen der nordischen Kulturschöpfer jener Tage.“ 396 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 146. 397 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 147. ‚Dinarisch‘ bei Monteverdi hingegen sei ein „leidenschaftlicher Schwung und farbige Leuchtkraft“ (147). Dem ‚Dinarischen‘ wurde schon bei Günther eine ‚vorderasiatisch-armenische‘ Abstammung attestiert, wenngleich diese ‚Rasse‘ durch ‚Einkreuzung‘ dem ‚nordischen Blut‘ viel näher stände als etwa die ‚vorderasiatisch-orientalische Rasse‘, wie sich schon in ihrer ausgesprochenen ‚Dreiklangsneigung‘ zeige. In der musikalischen ‚Rassenkunde‘ nach 1933 erörterten ‚Rassenkundler‘ wie Musikwissenschaftler häufig Die Dinarierfrage (Zimmermann, in: Die Sonne [1938]). Vgl. auch Lothar Gottlieb Tirala, Musik und Rassenseele (in: Die Sonne [1934]) oder Siegfried Günther, Rassenseelenkundliche Beiträge zur musikalischen Stilforschung. I. Der musikalische Stil der westischen und dinarischen Rasse (in: Archiv für Musikforschung [1938]). 398 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 180. 399 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 172. 400 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 172. 401 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 173: „Als Opernschöpfer gehört Händel [...] zur neapolitanischen Schule. Es wurde aber schon erwähnt, daß auch durch diese stark westisch beeinflußte Kunstform hindurch sich eine Kette von offenbar mehr nordisch gerichteten Geistern verfolgen läßt. [...] Jedenfalls haben die Versuche mit Händel auf der Bühne uns das Eine schon gezeigt, welch ein Schatz von königlich großer, adlig kraftvoller, echt nordisch empfundener Musik in diesen Opern verborgen liegt.“ Händel dränge laut Eichenauer mehr nach „äußeren Unternehmungen“ (173) und sei damit dem ‚westischen Darbietungsmenschen‘ nah. 402 1941 rief Eichenauer dementsprechend in der Zeitschrift Musik in Jugend und Volk in seinem Artikel Händel und das Alte Testament nicht nur zu einer „Tilgung jüdischer Namen“ (227)
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trotzdem jedoch hätten die Stoffe laut Eichenauer eine „unleugbare Aehnlichkeit mit der seelischen Welt germanischen Heldentums“.403 Die gesamte Musikgeschichte gemäß der Vorherrschaft der ‚nordischen Rasse‘ umdeutend, attestierte Eichenauer nahezu allen bedeutenden abendländischen Komponisten eine ‚nordische Rassenseele‘.404 Ließ sich seit den Anfängen der Musik der positiv schöpferische Einfluss der ‚nordischen Rasse‘ nachweisen, zeige sich ebenso früh schon ihr antagonistisches Feindbild, die Asiatische[n] Gegensätze.405 An Günther und Clauß gemahnend, konstruierte Eichenauer in der „orientalischen Rassenseele“ eine Tendenz zum „Systembilden“,406 jedoch keinerlei „Stärke [...] in einer Instrumentalmusik“,407 wie er durch naive Assoziationen belegen wollte: Eine Nomadenrasse, die die mitzuschleppenden Dinge auf das Notwendige beschränken muß, wird nicht gerade leicht zur Ausbildung einer weitläufigen Orchestermusik gelangen [...].408
Einen Hang zur Instrumentalmusik zeige jedoch die „vorderasiatische[...] Rasse“ durch „eine gewisse Ueppigkeit der Phantasie“.409 Allerdings ließe sich gleichzeitig ihr negativer Einfluss bereits auf die „alten Kulturländer“ unter die Oberbegriffe „Handelsgeist“, ‚Großstädtertum‘, „Einfühlung“, „Sinnlichkeit“ und „Askese“ fassen410 und wurde letztlich von Eichenauer unter dem Stichwort „‚Verquickung von Heiligtum und Bordell‘“411 subsumiert: Meldet sich aber mit der vorderasiatischen Rasse die Neigung zum Stadtleben, zur Bildung von Großstädten [...], so muß diese Umwelt und der sie erzeugende und in auf, sondern forderte eine „Um- oder Neudichtung“ (230) der Händel-Oratorien mit alttestamentlichem Text, da es eine „Lebensfrage“ sei, „wie wir uns zu der Textgestaltung stellen“ (228). Bereits früher stellte er mit Blick auf Liedtexte die Frage Müssen Neutextierungen stillos sein? (in: Musik in Jugend und Volk [1937/38]). 403 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 175. 404 Zu den Einzelheiten der Argumentationsstruktur und den musikgeschichtlichen Verfälschungen Eichenauers vgl. Schmidt (Politisierung der deutsche Musik, 80–97 u. 201–203). 405 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 21–36. 406 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 32. 407 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 64. 408 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 64. 409 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 64. 410 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 33: „Die Begabung für Tonkunst ist innerhalb der vorderasiatischen Rasse häufig; die Eigenheiten der vorderasiatischen Rassenseele werden sich also in ihrer Tonkunst gut beobachten lassen. [...] Nach Günthers Schilderung [...] sind es etwa folgende: ausgeprägter Handelsgeist, damit zusammenhängend Bevorzugung städtischen Lebens, Fähigkeit zur Einfühlung in Menschen und Zustände, zur Auslegung und Umdeutung von fremden Geistesgütern, Fähigkeit zur Bildung von Glaubensgemeinschaften, Neigung zum Verkündertum, Sichhineinsteigern in ungewöhnliche Erregungszustände (Ekstase), Empfindung eines Zwiespalts zwischen Geist und Leib, daher Schwanken zwischen den beiden Möglichkeiten der Abtötung (Askese) und der Sinnlichkeit.“ 411 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 34.
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ihr herrschende Geist notwendig auf die Musik abfärben: auf der einen Seite beginnt sie, jenem verfeinerten Lebensgenuß, oft genug bald dem überfeinerten Wohlleben der Entartung zu dienen, auf der andern Seite muß sie sich den wenig wählerischen Bedürfnissen der in der Großstadt zusammenströmenden Untermenschheit aller Rassen bequemen. Wie in der oben angeführten Schilderung aus Aegypten schon betont, drängt sich die Sinnlichkeit auch in Gestalt der Ausführenden ein: die Musik wird in solcher Umwelt weithin zur Harems- und Hafenkneipenkunst.412
In ihrer Empörung über eine ‚verderbliche Erotik‘ ebenso wie mit der Hetze gegen ‚Dekadenz‘ und ‚Verjudung‘ ist Eichenauers Agitation gegen die moderne großstädtische ‚Degeneration‘ unverkennbar dem Arsenal völkischer Argumentation entnommen. Jenseits der Epochen hätte sich in den ‚antiken‘ wie modernen Großstädten besonders der auf äußere Wirkung bedachte „Virtuose“ herausgebildet, der „technische Fertigkeiten“ nur nutze, um „mit ihnen zu prunken, Menschen zu beherrschen und Geld zu verdienen“:413 Händlergeist, Einfühlungsfähigkeit, Berechnung menschlicher Neigungen und Schwächen – sie alle, die [...] als kennzeichnend vorderasiatisch angegeben waren, gehören zum Bilde des Virtuosen im hier gemeinten Sinne.414
Auch in seinen sonstigen überzeitlichen, homogenen Zuschreibungen zu den ‚vorderasiatischen‘ und ‚orientalischen Rassencharakteren‘ wiederholte Eichenauer unermüdlich die gängigen völkisch-antisemitischen Hetztiraden. Felix Mendelssohn Bartholdy zeige „körperlich die Züge der beiden Hauptrassen des Judentums, der vorderasiatischen und der orientalischen“ und seine Werke seien Ausdruck „lauter vorderasiatische[r] Rassenzüge: Gabe der Einfühlung in fremdes Seelenleben, der gefälligen Ausnutzung bestehender Formen, ein gewisser Mangel an jenem Schwergewicht, das für nordisches Empfinden zu einem ‚großen‘ Menschen gehört, Neigung zum Glänzend-Virtuosen, auffallende Frühreife“415 und eine „gewisse Hinneigung zum salonhaft Glatten, Untiefen“.416 Eine „eigentümlich starke Anpassungsfähigkeit des Juden“ zeichne demnach auch Giacomo Meyerbeer aus, „aber Mendelssohn passt sich dem Guten, Meyerbeer dem Schlechten der Wirtsvölker an“.417 Litaneiartig übernahm Eichenauer die kanonisierten 412 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 36. 413 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 36. 414 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 36. 415 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 269f. Die hier angesprochene „Frühreife“ steht nach Eichenauer in direkter Opposition zur ‚nordischen Rasse‘, da „der nordische Großmeister bis in höheres Alter hinein nicht allein schaffenskräftig, sondern auch wandlungsfähig bleibt, während Künstler anderer Rassen anscheinend dazu neigen, eine in jüngerem Alter verhältnismäßig leicht erreichte Eigenart festzuhalten, sich selbst nachzuahmen“ (180). 416 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 270. Allerdings zeige sich in ihm noch nicht die „gewollte[...] Kampfstellung“ des 20. Jahrhunderts. 417 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 270.
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Anschuldigungen an Komponisten jüdischer Herkunft, indem er ihnen per se jegliche Möglichkeit zu originärem Schaffen absprach.418 Jacques Offenbach wurde bei Eichenauer erneut mit der „Lächerlichmachung einer Heldenwelt, und möglichst viel ‚Erotik‘ auf der Bühne“419 identifiziert, während er Gustav Mahler als „vorwiegend vorderasiatisch“420 klassifizierte und zu „einer jener tragischen Gestalten“ stilisierte, „die heimatlos zwischen den Volkstümern stehen“.421 Mahlers Symphonien hätten als „Urkunden eines innerlich zerborstenen Geistes“422 zu gelten. Anders als Mendelssohn Bartholdy oder Meyerbeer, bei denen durch die Assimilation der „tief im Blut liegende, anders geartete Formwille durch ‚Zivilisation‘ so gut wie ganz verdeckt“ sei, wolle Mahler „die Verbundenheit mit dem deutschen Musikgeiste erzwingen, die ihm doch nun einmal blutlich versagt war“:423 Das komponierende Judentum zieht deutlich auf zwei durch Meyerbeer und Mahler gleichnishaft vorgezeichneten Wegen dahin; in [...] die [...] verschiedenen seelischen Möglichkeiten der vorderasiatischen Rasse. Immer noch enthält der [...] geschilderte Zwiespalt die Möglichkeit des Auseinanderklaffens in platte Sinnlichkeit und übertriebene Vergeistigung [...]: auf jenem Wege, dem breiten, erfolgsicheren, ziehen sie dahin, die sich geschäftstüchtig dem Ungeschmack des immer mehr anschwellenden Rassenpöbels der ‚zivilisierten‘ Völker anzupassen verstehen; auf dem andern, dem schmalen [...] alle jene, welche die Gewächse ihrer ‚reinen Geistigkeit‘ auf dem Dünger des Kunstsnobismus entartender ‚Oberschichten‘ anbauen.424
Das Bild des ‚jüdischen Revolutionärs‘ und ‚Zerstörers‘ aufgreifend, deutete Eichenauer Schönbergs Schaffen zur „echt vorderasiatischen Verneinung des Schönen“425 um, da seine innovative Kompositionslehre „einem Gesetz ihrer Rasse“ gehorchend, „die harmonische Mehrstimmigkeit, die ihnen urfremd ist, folgerichtig zu zerstören suchen“.426 Nicht mehr nur den „seelischen Inhalt europäischer Kunst“ galt es den modernen ‚jüdischen‘ Kom418 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 268: „[...] und es ist nun einmal eine Tatsache, daß das Judentum keinen schaffenden Musiker erster Größe hervorgebracht hat, trotz Mendelssohn und Mahler“. 419 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 271f: „Und daneben doch auch bei Offenbach, wie bei Meyerbeer, unbestreitbare künstlerische Fähigkeiten! Dieses Absinken menschlich-sittlicher Werte bei noch vorhandenem rein ‚artistischem‘ Können ist das Kainszeichen des ‚befleckten Begabten‘ [...]. Günther ist geneigt, den ‚befleckten Begabten‘ vor allem aus jüdisch-nichtjüdischer Mischung abzuleiten. Jedoch wäre es bei den vielen rassischen Möglichkeiten, die das Judentum schon in sich enthält, auch denkbar, daß solche aus den Fugen geratene [...] Menschen auch ohne Mischehen im Judentum öfter auftauchen als in andern Volkstümern.“ 420 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 271. 421 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 272. 422 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 272. 423 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 272. 424 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 273. 425 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 273. 426 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 274.
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ponisten zu verfälschen, „sondern zugleich ihre Formgrundlagen“ zu vernichten.427 Als Gegenbild zu der angeblich leistungsstarken und entwicklungsfähigen ‚nordischen Rasse‘ repetierte Eichenauer in seinen antisemitischen Schmähungen die kanonisierten Anschuldigungen zwischen ‚Anpassung‘, ‚Nachahmung‘, ‚moralischer Verderbtheit‘ und ‚Zerstörung‘, erweiterte diese jedoch um eine sich biologistisch gebende Komponente des ‚Rasse‘Begriffs. Nicht mehr nur eine unbestimmte Fremdheit des ‚Juden‘ wurde hier angeprangert, sondern vielmehr seine ‚rassisch‘ bedingte Andersartigkeit. Dementsprechend sei an den gegenwärtigen „Verfallszuständen“ zunehmend die „stärkere Rassenmischung“ schuld, die zu einem Verlust „nordischer Führung“428 geführt habe: Wenn man die Bastardierung ganzer Völker, ja ganzer Erdteile tatenlos geschehen läßt, kann man dann anderes erwarten, als daß die so entstandenen Kötervölker sich durch eine kleine Schar schlauer vorderasiatischer Händlernaturen willenlos beherrschen lassen?429
Wenngleich sich Eichenauer in seinen antisemitischen Auslassungen nur auf kanonisierte und völkisch verbreitete Verunglimpfungen bezog und keinerlei neue Gedanken zum allgegenwärtigen Feindbild des ‚Juden‘ hinzufügte, nimmt sein musikhistorischer Fokus auf die ‚nordische Rasse‘ und ihren ‚orientalisch-vorderasiatischen‘ Antagonisten unter den zahlreichen nationalistischen Musikgeschichten, die nach der Wende zum 20. Jahrhundert erschienen, eine Sonderstellung ein. Als einer der ersten übertrug er Günthers und Clauß’ Systematik der biologistischen ‚Rasse‘-Eigenschaften auf den musikalischen Bereich und ging davon aus, dass sich diese direkt in entsprechend abgrenzbaren Erscheinungsformen der Musik widerspiegeln müssten. Die Gründe für die Popularität des Buchs Musik und Rasse sind vielfältig. Nahezu alle Autoren, die sich nach 1933 mit der neuen Disziplin der ‚musikalischen Rassenkunde‘ beschäftigten, verwiesen auf Eichenauer.430 427 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 274. 428 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 18. 429 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 18. 430 Unter der unübersehbaren Vielzahl der Auseinandersetzungen mit Eichenauers Thesen in der Musikliteratur, in Veröffentlichungen der so genannten ‚Rassenkunde‘ oder der NS-Schulungsliteratur seien exemplarisch genannt: J.B. Collins, Richard Eichenauer: Musik und Rasse, in: Die Musik (Dez. 1932); Fritz Stege, Kreuz und Quer, Zukunftsaufgaben der Musikwissenschaft – Musik und Rassenkunde, in: Zeitschrift für Musik (Mai 1933); Paul Beyer, Der nordische Anteil an der deutschen Musik, in: Die Musik (April 1936); Siegfried Günther, Musikalische Begabung und Rassenstilforschung im Schrifttum der Gegenwart, in: Archiv für Musikwissenschaft (1937); Reinhold Zimmermann, Richard Eichenauer, Musik und Rasse, in: Zeitschrift für Musik (Febr. 1938); Siegfried Günther, Neue Bücher. Richard Eichenauer, Musik und Rasse, in: Archiv für Musikwissenschaft (1938); Adolf Seifert, Das Wirken rassischer Kräfte in der deutschen Musik, in: Deutscher Glaube. Zeitschrift für arteigene Lebensgestaltung, Weltschau und Frömmigkeit
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Die Wirkung, die seinerzeit von den Thesen in Musik und Rasse ausging, mag zum einen an der hier vorgenommenen Vereinfachung musikgeschichtlicher Phänomene liegen. Für die unterschiedlichsten politischen, religiösen, gesellschaftlichen, historischen und musikalischen Sachverhalte fand Eichenauer das monokausale Erklärungsmuster, dass die ‚nordische Rasse‘ der einzige Träger schöpferischer Begabung sei und an allen musikhistorischen Entwicklungen in Europa ihren Anteil habe. Im erstarkenden Nationalismus der Weimarer Jahre wurde die Idee einer ‚nordischen‘ Musik als nationales Emblem der biologistisch begründeten Überlegenheit dankbar aufgenommen. Neben dieser Simplifizierung scheint auch die Anschaulichkeit des Buchs Musik und Rasse zur Verbreitung beigetragen zu haben. Mit den eingestreuten Komponistenportraits und ihren klassifizierenden Untertiteln wie „Richard Strauß, ostbaltisch-dinarisch“431 wurde eine vermeintliche Klarheit und Eindeutigkeit der Bestimmung aufgrund von Bildmaterial suggeriert, die zwar mit musikalischen Sachverhalten nichts mehr zu tun hatte, aber gleichzeitig durch plakative Anschaulichkeit eine scheinbare Einordnung der jeweiligen Komponisten und ihrer Werke ermöglichte. Dabei wiederholte Eichenauer die durch Günther und Clauß eingeführten argumentativen Winkelzüge. Im Spannungsfeld zwischen ‚Rasse‘-Reinheit und ‚Rassen‘-Mischung wurden bei Eichenauer selbst denjenigen Komponisten, die angeblich körperlich keinerlei ‚nordische‘ Merkmale aufwiesen, eine ‚Rassenmischung‘ mit ‚nordischem‘ Einfluss unterstellt. In Anlehnung an die These Günthers, der in Deutschland eine europäische ‚Rassen‘Mischung vorherrschend sah, verband Eichenauer diesen Gedanken mit den kulturellen Verfallstheorien der Zeit. Aufgrund der zunehmenden Vermischung der ‚Rassen‘ zeige sich der ‚Untergang des Abendlandes‘ in Abhängigkeit zur Stagnation des ‚nordischen Rasse‘-Einflusses. Während in der Musikgeschichte laut Eichenauer die ‚Rassen-Mischung‘ fortschreite, forderte er implizit für die Gegenwart eine Hinwendung zum Ziel der ‚Rasse‘Reinheit. Damit war Musik und Rasse auch für die neuen Machthaber nach 1933 in die nationalsozialistische ‚Rassen-Hygiene‘ integrierbar. Durch Eichenauers Übernahme des Argumentationsmusters und des Begriffs der ‚Rassenseele‘ von Clauß konnten Widersprüche in der Übertragung der ‚Rassentheorie‘ auf die Musik zugunsten einer Simplifizierung übergangen werden. Heterogene und nicht in das biologistische Schema der ‚Rasse‘ (Okt. 1938); W. Hellpach, Musik und Rasse, in: Zeitschrift für Rassenkunde (1938); Karl Blessinger, Rassenforschung und rassische Erkenntnis auf dem Gebiete der Musik, in: Ziel und Weg (1938); Siegfried Günther, Umschau und Fortschritte. I. Kleiner Beiträge. Der gegenwärtige Stand rassenkundlich-musikalischer Stilforschung, in: Zeitschrift für Rassenkunde (1939). Zur musikwissenschaftlichen Rezeption Eichenauers vgl. das nachfolgende Kapitel 6.3 Ideologische Einwirkungen auf das musikwissenschaftliche Schrifttum. 431 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 240.
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passende Sachverhalte wurden mit dem Verweis auf die bewusst mystischunklar gehaltene Komponente der ‚Rassenseele‘ ausgeräumt. Vor allem Eichenauers Grundthese von einer ‚nordisch‘ begründeten, artifiziellen Mehrstimmigkeit, die er 1938 in seinem Buch Polyphonie – die ewige Sprache deutscher Seele noch ausbaute, erwies sich für die nationalsozialistische Verquickung von Musik und Politik als nutzbar. Wenngleich Eichenauer keineswegs als erster der Polyphonie eine spezifische nationale Bedeutung zumaß,432 liegt in seiner Denkfigur doch neben einer vordergründigen Aufwertung der ‚nordischen Rasse‘ gleichzeitig ein Akzent auf der gemeinschaftsbildenden Qualität einer nicht mehr allein auf den formalen Aspekt rekurrierenden Bedeutung der Mehrstimmigkeit.433 Als eine „immer wieder auch irrtümlich deutsch reklamierte Errungenschaft betrachtet, die im Gegenzug gegen den im 19. Jahrhundert beklagten Individualismus als Ausdruck und Symbol des Kollektivs – man sprach von ‚Gemeinschaftsgefühl‘ im nun angebrochenen ‚Gemeinschaftszeitalter‘ – galt“, scheint nach 1933 der politisierte Begriff der Polyphonie mit dem der Monodie zu verschmelzen, wie er schon in der skizzierten Argumentation Eichenauers in Musik und Rasse angelegt ist. Beide Begriffe fungieren nicht mehr als satztechnische Beschreibungen, sondern als ideologisch aufgeladene Bekenntnisse wie Albrecht Riethmüller in seiner Studie Komposition im Deutschen Reich um 1936 nachweist: Andererseits aber galt die mehr chorisch als solistisch verstandene Einstimmigkeit besonders viel; ‚einstimmig‘ heißt hier in erster Linie, daß alle das Gleiche singen, so daß der Gedanke der Vielheit ganz zurückgedrängt erscheint. Die Vielheit verschwindet in der Einheit dann, wenn Einstimmigkeit so als Einsinnigkeit verstanden wird, daß sie in Übereinstimmung mit Leitsätzen wie Ein Volk, ein Reich, ein Führer gerät.434
Die zweite Auflage von Musik und Rasse von 1937 enthielt nur geringfügige Änderungen. Allerdings revidierte Eichenauer hier deutlich seine Einschätzung Richard Wagners im Sinne der Anforderungen der NS-Musikpolitik. 432 Vgl. dazu Wolf Frobenius, Politisierung der Ästhetik zwecks Ästhetisierung der Politik. Zur Funktion der Musik im Dritten Reich, 55f: „Er [Eichenauer] begründet dies zwar rassisch mit einer angeblichen Eigenart der Deutschen; tatsächlich aber geht er von der in der Jugendmusikbewegung üblichen Auffassung der Polyphonie als Symbol der Gemeinschaft aus“. 433 Eichenauer, Polyphonie (1938), 74f: „Allerdings müssen wir dann den Sinn des Wortes ‚Polyphonie‘ über seine eng fachliche Bedeutung hinaus erweitern. Wenn ich die Kantate eine in sich polyphone Form nenne, so meine ich nicht den Stil der einzelnen Sätze, der ja nicht notwendig polyphon ist, sondern die Tatsache der Bindung von Teilen verschiedenen Charakters zu einem einheitlichen Kunstwerk, zu einer übergeordneten Größe, worin sich wieder der germanische Bauwille, die germanische Kraft der Zusammenschau offenbart. [...] Und in der aufkeimenden Gemeinschaft dieser Stunde wurde mir noch eines klar: daß Polyphonie im tiefsten deutschen Sinne gar kein technischer Begriff ist; daß sie für uns über den Zusammenklang der Töne hinaus den Zusammenklang der Seelen bedeutet.“ 434 Riethmüller, Komposition im deutschen Reich um 1936, 263.
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In der Ausgabe von 1932 fragte sich der Musikpädagoge noch, ob bei „Wagner leiblich vorderasiatische Rasseneinschläge“ zu finden seien.435 Derlei Spekulationen über eine jüdische Herkunft Wagners finden sich zuweilen schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in den Repliken auf seinen Judenthum-Aufsatz.436 In den 20er Jahren wurde diese Idee vor allem in der sehr populären Abhandlung Die Stunde der deutschen Musik des Kulturhistorikers Richard Benz (1884–1966) vertreten. Er sah in Wagner noch stärker als etwa in Mendelssohn Bartholdy437 den Protagonisten einer ‚asiatischen Orientalisierung‘ der Musik, die auch hier zeittypisch in diametralem Gegensatz zu „deutscher Musik“ gesetzt wurde: Hier bricht der Orient in Wagner hervor: die elementare Wirkung, die Nerven- und Willens-Übermächtigung – zum Zweck elementarer Willens-Bejahung und Verneinung, zum Zweck wollüstiger Selbstvernichtung in einem ekstatisch begehrten Nirwana. Man hat dieses in deutscher Musik, ja in abendländischer Kunst überhaupt unerhörte Ereignis durch orientalische Abstammung Wagners zu erklären gesucht – aber alle realen Erklärungen sind hier nur Hilfshypothesen [...]. Was mit Wagner heraufkommt, was mit der Musik, wie er sie begonnen hat, droht, ist Schlimmeres als Geschmacksverderbnis und bloße Decadence: es ist nichts anderes als eine neue asiatische Überflutung Europas.438
Für Richard Benz hatte Wagners Musik eine „sinnliche Gewalt“ und „NervenWirkung“, die durch das „bloß-Triebhafte“ und der „Ekstase“ eine „physische, hypnotische, narcotische Wirkung“439 entfalten konnte und so einen „welthistorischen Kriegs-Fall“ zwischen dem „Norden“ und „Asien“ begründet habe:440 435 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 227. 436 Vgl. dazu etwa die Entgegnung des Schriftstellers Gustav Freytag, Der Streit über das Judentum in der Musik (in: Der Grenzbote, Nr. 22 [1869], zit. nach Freytag, Gesammelte Werke [1888], Bd. 8: Aufsätze zur Geschichte, Litteratur und Kunst, 329f: „Im Sinne seiner Broschüre erscheint er [Wagner] selbst als der größte Jude.“) oder die Reaktion des Berliner Musikjournalisten und Wagner-Bewunderers H. Ehrlich (1826–1897) in seiner Recension. Richard Wagner, das Judenthum in der Musik. Neue Auflage mit einem Vorworte und Nachsatze versehen. Leipzig 1869 (in: Neue Berliner Musikzeitung [März 1869], 85: „[...] er fand nach Durchlesung der Schrift und nach Vergleichung dessen, was Wagner darin sagt, mit dem was er thut, dass Wagner eine Muster des Juden ist, den er so wüthend bekämpft“). Auch Friedrich Nietzsche hatte mit seinen Ansichten wie etwa in dem Aufsatz Der Fall Wagner (1888) großen Anteil an der Abwertung von Wagners Werken als Ausdruck der ‚Verderbnis‘, ‚Krankheit‘ und ‚Dekadenz‘. 437 Benz, Die Stunde der deutschen Musik (1927), 2. Bd., 109: „[...] die These einer Zerstörung der Musik durch Menschen orientalischer Abkunft ist durch die Erscheinung Mendelssohns widerlegt, der, wie wenige Musiker des 19. Jahrhunderts, in edler Selbstbeschränkung und Selbsterkenntnis das deutsche Erbe der Musik gehütet hat [...]. In Mendelssohn waltet noch ein Rest dichterischer Tradition – deshalb brach in ihm, trotz seiner physischen Abkunft, der Orient noch nicht hindurch“. 438 Benz, Die Stunde der deutschen Musik (1927), 2. Bd., 109f. 439 Benz, Die Stunde der deutschen Musik (1927), 2. Bd., 111. 440 Benz, Die Stunde der deutschen Musik (1927), 2. Bd., 110: „Man kann von Asien sehr hoch denken, und es, mit seiner Cultur der Jahrtausende, Europa für ungeheuer überlegen erach-
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Daß Europa sich diesem Zauber hingab, hat es zu büßen gehabt. Glaubt man, die europäische Seele hätte sich dem Ansturm Asiens [...] so willig ergeben, wenn Wagner sie nicht dazu bereitet hätte? Glaubt man, [...] der Niggerrhythmus hätte sie in Schwingungen versetzt, wenn Wagner nicht allem Elementaren, Triebhaften, Unterund Vormenschlichen die Bahn bereitet hätte?441
Schwächte Richard Eichenauer demgegenüber schon 1932 die These eines ‚orientalischen‘ Wagners deutlich ab, bezog er sich jedoch ebenfalls auf das präformierte Schlagwort der ‚triebhaft-erotischen Sinnlichkeit‘ als Ausdruck des ‚verderbenden Judentums‘. In Wagners Musikdramen sah auch er eine ‚rassenkundlich‘ nicht unverdächtige „nordisch-dinarische[...] Mischung“:442 Bedenkt man, daß vorderasiatische und dinarische Rasse irgendwie zusammenhängen, so wäre es das Nächstliegende, Wagners ‚Erlösungstyp‘ aus seinen dinarischen Einschlägen zu erklären.443
Aus Wagners Musikdramen leitete Eichenauer 1932 keineswegs nur „nordisches Empfinden“ her444 und kam in seinen sonstigen Zuschreibungen ebenfalls dem ‚orientalisch-vorderasiatischen‘ Feindbild sehr nahe: Unnordische Züge hat man auch in Wagners ‚Erotik‘ finden wollen. […] und der Stil wirkt bei Wagner in der Tat treibhausschwül. […] Nicht nur in der Liebesschilderung, auch im Ganzen seiner Tonsprache erscheint Wagner manchem Beurteiler um einige Grade zu warm. Man redet dann gerne von der Abkehr vom ‚Wagnerschen Pathos‘. Das stimmt aber nur dann, wenn wir unter Pathos den inbrünstigen Rausch der Leidenschaft verstehen, der bei Wagner allerdings eine sehr häufige seelische Gebärde ist. Es grenzt das für den nordischen Hörer zuweilen fast an ‚Effekt‘.445
In der zweiten Auflage von 1937 erschienen die oben zitierten Sätze in deutlich modifizierter Form. Unter der Zielsetzung, Wagner als „nordischen Künstler“ zu reklamieren, formulierte Eichenauer seine pseudo-‚naturgesetzliche‘ Einordnung um: ten. Man kann es aber trotzdem bekämpfen, wenn es auf unserm Boden dasselbe wirken will, was einem andern Klima und einer andern Menschheit zugehört. Asiatische Phänomene als solche, die im Orient ihren physisch-metaphysischen Grund und in allem orientalischen Leben ihr Gegengewicht haben, können im Norden Verderben bringen, Cultur und Leben zerstören – das ist es, was den Fall Wagner zum welthistorischen Kriegs-Fall macht“. 441 Benz, Die Stunde der deutschen Musik (1927), 2. Bd., 113. 442 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 227. 443 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 227. Nach der Zuordnung von Clauß gehört der ‚Erlösungstyp‘ der ‚vorderasiatischen Rasse‘ an. 444 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 228f: „In Wagners Harmonik vereinigen sich aufs vollkommenste zwei Eigenschaften der dinarischen Seele: Einfachheit und farbige Leuchtkraft. […] Man betrachte Motive wie Wotans Wandererakkorde: ein Meer schimmernder Harmonien! Es würde aber nicht verwunderlich sein, wenn sie für nordisches Empfinden vielleicht einen Hauch zu bunt, zu grell schimmerten.“ 445 Eichenauer, Musik und Rasse (1932), 230f.
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Als einen unnordischen Zug in Wagners Dramatik führen viele Beurteiler die starke Betonung des Erlösungsgedankens an. […] Aus diesem Hinweis hat man nun schließen wollen, ich hielte bei Wagner einen Einschlag vorderasiatischer Rasse für wahrscheinlich. Das ist völlig abwegig. […] Deutet man die erlösende Liebe [...] als ‚das tätige Leben selbst‘, so hat das natürlich nichts mehr mit dem vorderasiatischen Erlösungsmenschen zu tun, sondern ist [...] rein germanisch empfunden. [...] Wollen wir also Wagner als nordischen Künstler, so müssen wir auch den Mut haben […], die christliche, offensichtliche vorderasiatische Deutung des Wortes ‚Erlösung‘ im Sinne eines magischen Heilsgeschehens mit aller Schärfe abzulehnen; dann steht nichts mehr im Wege, ‚Erlösung‘ bei Wagner nordisch zu verstehen: Selbsterlösung des Menschen durch Willen zur Tat.446
Diese, an die politischen Anforderungen nach 1933 angepasste Einordnung Wagners zeigt vordergründig, in welchem Maße das neue NS-Regime auf das erscheinende Schrifttum Einfluss nahm. Gleichzeitig verweisen die Umarbeitungen jedoch auf die Beliebigkeit in der Interpretation musikalischer Phänomene unter dem ‚Rasse‘-Gedanken. Auf der einen Seite suggerierten die einfachen Erklärungen Eichenauers zwar eine Eindeutigkeit und biologistische Begründbarkeit. Auf der anderen Seite zeigten sich mit dem Rekurs auf die tradierten abwertenden abstrakten Schlagwörter, die im 19. Jahrhundert im Umkreis der Debatten um das ‚Judentum in der Musik‘ geprägt worden waren, deutlich die willkürlichen Begründungen für die jeweilige ‚rassische‘ Aus- und Eingrenzung. Schon bevor die ‚musikalische Rassenkunde‘ nach 1933 eng mit politisch-ideologischen Zielsetzungen verknüpft wurde, weist die Dynamik, die den Begriff der ‚Rasse‘ in den 20er und 30er Jahren in Deutschland erfasste auf die Bedürfnisse in einer durch technische, kulturelle und politische Verunsicherungen geprägten Zeit: Das Wissen um Rasse sollte eine Orientierungshilfe in konturloser Zeit sein. Rassenbewußtsein sollte den Anker bedeuten, der einen Halt bietet im politischen und kulturellen Zeitstrom, der mit der Inflation immer reißender geworden war. […] Das Rassenschema war anschaulich und eingängig und geeignet, kulturelle und historische Zusammenhänge auf einen einfachen Nenner zu bringen; und alles erscheint wissenschaftlich begründet. Aber mehr noch, das Bewußtsein von Rasse und Volkstum verleiht Selbstsicherheit und es schöpft Kraft aus einem Mythos.447
Im Kontext der „Selbstsicherheit“ blieb der ‚Rasse‘-Begriff nicht auf völkisch-nationalistische Kreise beschränkt, wenngleich hier – wie gezeigt – die ersten umfassenden Systematiken durch Günther, Clauß und Eichenauer entstanden. Auch auf jüdischer Seite begann in den 20er Jahren die Suche nach den Spezifika einer ‚jüdischen Musik‘, die teilweise mit dem ‚Rasse‘Gedanken verwoben wurde. 446 Eichenauer, Musik und Rasse (1937), 249ff. 447 Becker, Wege ins Dritte Reich, 235.
5. Exkurs: Kulturzionistische Positionen Exkurs: Kulturzionistische Positionen Exkurs: Kulturzionistische Positionen Eine spezifische Erscheinung der 20er Jahre bildeten die verschiedenen Ansichten zu einem national-jüdischen Musikschaffen, deren Höhepunkt das 1926 erschienene Buch Das Judentum in der Musik von Heinrich Berl darstellte. In der Forschungsliteratur in erster Linie als singuläre Publikation rezipiert, gingen ihr jedoch eine Reihe von Artikeln und Abhandlungen jüdischer wie nicht-jüdischer Autoren voraus. Neben der zunächst auffälligen Titelähnlichkeit der jeweiligen Beiträge mit völkisch-antisemitischen Publikationen erweist sich bei näherer Betrachtung der national-jüdischen Standpunkte zwar eine Distanz zu den antisemitischen Positionen ihrer Zeit, gleichzeitig zeigt sich dennoch bei mehreren Autoren ein Weiterwirken zeitspezifischer Begrifflichkeiten und nationaler Zuschreibungsmuster. Zunächst in innerjüdischen Kreisen diskutiert und sich primär an einen jüdischen Rezipientenkreis wendend, erschienen einzelne Artikel später in unterschiedlichen Musikzeitschriften und konnten so von völkisch-nationalistischen Kreisen in ihre antisemitische Agitation einbezogen werden. In diesem Sinn scheint es zunächst nötig, auf die Bedingungen für die Entstehung dieser national-jüdisch differenzierenden Positionen der jeweiligen Verfasser einzugehen. Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen bildete die Suche nach einer jüdischen Identität, die sich auch in der Musik von Komponisten jüdischer Herkunft nachweisen lassen sollte. Ansätze eines jüdischen Interesses an der eigenen Kultur lassen sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Russland finden. Vorbereitet durch die dort im 19. Jahrhundert entstandene Faszination für folkloristische Motive und ihre kunstmusikalische Verarbeitung gründete sich 1908 in St. Petersburg um den Musikwissenschaftler und Komponisten Joel Engel (auch Julius oder Juri Dmitriewitsch Engel, 1868–1927) die Gesellschaft für jüdische Volksmusik. Der Komponistenkreis, der seine Aufgabe neben der Sammlung jüdischer Volkslieder in deren musikalischer Bearbeitung sah, hatte das Ziel, auf dieser Grundlage eine neue, explizit jüdische Musik zu schaffen. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es verstärkt Verbindungen dieser Komponistengruppe nach Berlin.1 1 Vgl. Abraham Zwi Idelsohn, Jewish music in its Historical Development, 464: „The activity of this society was cut short by the World War. With reestablished peace some members of the original group organized the Juwal Publishing Company for Jewish music in Berlin; and since 1922 have put out several works among which is a number of folk-songs in arrangements.“ Vgl.
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Die Besinnung auf eigene volksmusikalische Traditionen2 stand in engem Zusammenhang mit der politischen Bewegung des Zionismus, die Ende des 19. Jahrhunderts durch den Theoretiker Theodor Herzl mit seinem Buch Der Judenstaat3 vor allem in Osteuropa große Resonanz erhielt. Mit dem zentralen Gedanken, dass sich durch die zionistische Idee im Judentum nicht nur „das Schicksal des Volkes, sondern das Schicksal aller Völker“ entscheide,4 sollten sowohl die jüdischen Probleme innerhalb der jeweiligen Diaspora-Länder als auch die durch Anfeindungen aufrecht erhaltenen antijudaistischen Ressentiments durch die Schaffung eines jüdischen Staatsgebiets aufgelöst werden. In Deutschland stellte sich die Situation durch die erfolgreiche Emanzipation und Akkulturation der Juden wesentlich anders dar als etwa in den osteuropäischen Ländern.5 Dort blieben jüdische Religion, Lebensweise und Kultur weitgehend erhalten. Mit dieser ostjüdischen Kultur, in welcher der Zionismus aufgrund anhaltender Verfolgungen eine große Bedeutung erhielt,6 kamen viele deutsche Juden durch die nach Deutschland geflohenen so genannten ‚Ostjuden‘ in Kontakt. Seit Ende des 19. Jahrhunderts stellte die Gruppe osteuropäischer Juden, die vor Pogromen aus Russland, Polen und Galizien geflohen waren, eine Angriffsfläche für die antisemitische Agitation dar. Dies wirkte sich auch auf die innerjüdische Auseinandersetzung um die ostjüdischen Flüchtlinge aus: Als eine Reaktion auf den Antisemitismus muß auch die Haltung der deutschen Juden gegenüber den Juden aus dem Osten betrachtet werden. Den stark assimilierten deutzu den russisch-jüdischen Bestrebungen die von der Universal-Edition 1927 herausgegebene Broschüre Die nationale jüdische Schule in der Musik des Komponisten und Gründers des russischen Staatsinstituts für Musikwissenschaft Leonid Ssabanejew (geb. 1881), in der einer allgemeinen Erörterung über ein national-gebundenes Musikschaffen eine Betrachtung der Komponisten im Umkreis der Gesellschaft für jüdische Volksmusik folgt. Auch hier findet sich eine zeitspezifische Gleichsetzung der Begriffe ‚Nation‘ und ‚Rasse‘. Eine ähnliche Publikation stellt die Sammlung Mein Weg zur jüdischen Musik. Gesammelte Aufsätze (o.J., Vorwort datiert 1935) des Komponisten Joachim Stutschewsky (1891–1982) dar. 2 In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts begann eine musikethnologische Sammlung der jüdisch-orientalischen Musik durch den Musikwissenschaftler Abraham Zwi Idelsohn (1882–1938) (Hebräisch-Orientalischer Melodienschatz, 10 Bde., Leipzig/Berlin/Wien 1914–1932). 3 Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage (Wien 1896). Frühere Ansätze der Idee einer jüdischen Re-Nationalisierung durch den sozialistischen Autor Moses Hess (1812–1875) in seinem Werk Rom und Jerusalem (Leipzig 1862) geäußert, fanden wenig Öffentlichkeit. 4 Berl, Das Judentum in der Musik (1926), 70. 5 Zur Heterogenität der deutschen Juden in der Weimarer Republik vgl. u.a. Monika Richarz (Hg.), Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1918–1945; Trude Maurer, Die Juden in der Weimarer Republik; Wolfgang Benz/Arnold Paucker/Peter Pulzer (Hg.), Jüdisches Leben in der Weimarer Republik. 6 Heiko Haumann, Geschichte der Ostjuden, 150: „Was anderswo im Westen von den meisten Juden geleugnet wurde – nämlich daß sie eine Nation seien –, wurde in Polen und Rußland von einer steigenden Zahl von Juden empfunden und auch bewußt artikuliert.“
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schen Juden, die größtenteils dem bürgerlichen Mittelstand angehörten, erschienen die verarmten, zumeist orthodoxen Flüchtlinge aus dem Osten geradezu als eine Gefahr. Sie fürchteten, daß die Einwanderer – ob ihrer Fremdheit – den Antisemiten ‚objektive Gründe‘ geben würden. [...] Sie waren bestrebt, jede Identifikation mit diesen zu vermeiden, ohne sich dabei der Wirkungslosigkeit einer solchen Distanzierung bewußt zu sein.7
Diese ablehnende Haltung vieler deutscher Juden gegenüber den Flüchtlingen, die sich schon rein äußerlich durch Sprache, Kleidung und religiöse Tradition von den assimilierten deutschen Juden unterschieden, veränderte sich mit dem Ersten Weltkrieg. Vor dem Hintergrund zionistischer Einigungsbestrebungen entwickelte sich eine Faszination für die ostjüdischen Einwanderer, in der diese zum Symbol für den Verlust des eigenen Judentums durch Emanzipation und Assimilation wurden. Gründe für diese Wende in der Haltung gegenüber den ostjüdischen Immigranten lassen sich auf verschiedenen Ebenen finden. War die zionistische Bewegung eng mit der Geschichte des Antisemitismus verbunden, erfolgte die national-jüdische Selbstbesinnung ebenfalls im Kontext anti-judaistischer Erfahrungen innerhalb der deutschen Geschichte, speziell vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs. Obgleich viele Juden für Deutschland gekämpft hatten und sich selbst als deutsch-national begriffen, wurden sie in den anhaltenden antisemitischen Anfeindungen der Weimarer Republik aus der deutsch-nationalen Gemeinschaft ausgeschlossen. Neben dieser direkten Reaktion auf den Antisemitismus, dem durch die innerjüdischen Einigungsbestrebungen mit einer neuen, selbstbewussten jüdischen Identität begegnet werden konnte, offenbart sich in dieser säkularen Entwicklung aber auch die erfolgreiche Emanzipation der deutschen Juden: Eine Generation von Juden, die von der Angst um den sozialen Aufstieg relativ frei war, begann, nach innen zu schauen. Es waren die Jahre Freuds und der großen jüdischen Kulturkritiker [...], die Zeit des aufkommenden Zionismus. Der ständige Umgang mit der Ostjudenfrage [...] kam dieser Neubesinnung sehr zugute. In den Fremden sich selbst zu erkennen und anzuerkennen, war für den gesamten Prozeß entscheidend wichtig. [...] Ein Aspekt dieses Umdenkprozesses war, daß die Ostjuden allmählich mit anderen Augen gesehen wurden [...]. Die Juden begannen, die Heterogenität ihres Zusammenlebens zu akzeptieren und das positive Potential dieses Pluralismus anzuerkennen. Für viele von ihnen bedeutet das, daß sie die Grenzen der Assimilation erreicht hatten [...]. Von hier aus konnte man nur noch den Weg zurück und nach innen antreten, um eine neue Definition der eigenen Identität und oft auch neue Selbstachtung zu suchen.8
7 Elbogen/Sterling, Die Geschichte der Juden in Deutschland, 280. 8 Volkov, Die Dynamik der Dissimilation, in: dies., Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, 179f.
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Im Zuge dieser Suche nach der eigenen jüdischen Identität entstand im deutschsprachigen Raum der ‚geistige Zionismus‘ oder ‚Kulturzionismus‘.9 Begründet durch den russischen Schriftsteller und Philosophen Achad Haam (eigentl. Ascher Ginzberg, 1856–1927) übte diese Bewegung in Deutschland besonders auf eine junge Gruppe Zionisten um den Religionsphilosophen Martin Buber großen Einfluss aus. Im Unterschied zum praktischen, politischen Zionismus Herzls verfolgte der kulturzionistische Kreis die geistige Rückbesinnung auf eine gesamtjüdische Verbundenheit in der Diaspora und sah in Palästina primär einen geistig-kulturellen Mittelpunkt. Zentrum dieser Bewegung bildete der 1902 in Berlin gegründete Jüdische Verlag10 ebenso wie einige jüdische Periodika, so etwa die ab 1901 erschienene Kunstzeitschrift Ost und West, die Wiener Zeitschrift Das Zelt sowie die seit 1916 von Martin Buber herausgegebene Zeitschrift Der Jude. Vor allem letztere stellte ein Forum für die kulturzionistische Idee dar und näherte sich in idealisierter Form der ostjüdischen Kultur. Prägend wirkte sich hier Bubers Beschäftigung mit dem Chassidismus aus.11 Diese religiösmystische Splitterbewegung entstand im Kontext kabbalistischer Lehre an der Wende des 17. zum 18. Jahrhundert in Polen durch Israel ben Elisier, der als ‚Meister des heiligen Namens‘ den Beinamen Baal Schem Tow, abgekürzt „Bescht“ erhielt: Durch ihn und seine Anhängerschaft entfaltete sich in Polen ein neuer Chassidismus, eine Bewegung der Frommen [...], die sich als äußerst folgenreich erweisen sollte. In dieser Erweckungsbewegung drückte sich eine Art pietistische Laienfrömmigkeit aus. [...] Die chassidische Frömmigkeit des Bescht war lebensbejahend. Tanzen, Singen und Feiern gehörten dazu. Hoher Wert wurde auf die Selbstfindung und Selbsterkenntnis des Einzelnen gelegt, in Übereinstimmung mit Umwelt, Geschichte und Gott.12
Gerade aufgrund seiner Wendung zum Diesseits, die Fröhlichkeit mit Frömmigkeit verknüpfte, erfuhr der Chassidismus in Osteuropa großen 9 Der Terminus ‚Kulturzionismus‘ geht auf eine Selbstbezeichnung der zionistischen Splittergruppe Demokratische Fraktion um Martin Buber im Anschluss an den 5. Zionistenkongress von 1901 zurück. Von der Forschung wurde diese, sich speziell im deutschen Sprachraum entwickelnde Form des Zionismus bislang wenig beachtet. Vgl. Kerstin Griese, Kulturzionismus und die Bedeutung des Ostjudentums, 3–6. 10 Neben einer Sammlung von Engel arrangierter Jüdischer Volkslieder, die in dem, von ihm mitbegründeten Berliner Musikverlag Juwal herauskam, gab auch der Jüdische Verlag zahlreiche Liedsammlungen heraus wie etwa Arno Nadel, Jontefflieder (Berlin 1919) oder Fritz Mordechai Kaufmann (Hg.), Die schönsten Lieder der Ostjuden. Siebenundvierzig ausgewählte Volkslieder (Berlin 1920). 11 Vgl. zu Martin Buber sowie zu den folgenden Ausführungen über den Kulturzionismus vgl. die Studien von Kerstin Greise (Kulturzionismus) und Andreas Herzog (Die Ostjuden. Kulturelle Wirklichkeit und Fiktion). 12 Haumann, Geschichte der Ostjuden, 51f.
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Zuwachs. Im Deutschland der 20er Jahre prägte er den Begriff des ‚Ostjuden‘ entscheidend mit.13 In der kulturzionistischen Publizistik fand neben der idealisierten Darstellung der ostjüdischen Kunst, Literatur und Musik vielfach eine Gleichsetzung derselben mit dem Chassidismus statt. Da dieser religiöse und volkstümliche Momente in sich vereinigte, begünstigte er die Idee einer jüdischen ‚Nationalkultur‘, die ihre historische Verwurzelung im Orient sah.14 Anstatt differenzierter Sichtweisen der jüdischen Kultur standen einigende Bestrebungen im Vordergrund,15 wobei „Volk und Nation zu entscheidenden Identifikationsmerkmalen“ wurden, „was immer auch die Gefahren völkischen Denkens in sich barg“.16 Vielfach ist auf diese Nähe zionistischer Argumentationsmuster mit völkisch-antisemitischen Positionen hingewiesen worden, die sich aus der zionistischen Annahme einer national-jüdischen ‚Substanz‘ und dem antisemitischen Konstrukt einer ‚vorderasiatisch-orientalischen Rasse‘ ergab.17 Auch anhand einzelner kulturzionistisch geprägter Musikartikel lässt sich diese Nähe in der Übertragung anthropologischer Merkmale auf musikalische Sachverhalte nachzeichnen. Wurde von vielen kulturzionistischen Autoren die Hypothese einer einheitlichen ‚Substanz‘ in der Musik von Komponisten jüdischer Herkunft als noch nicht genau erforschtes naturwissenschaftliches Kriterium apodiktisch gesetzt, erörterten sie zudem häufig die Idee einer jüdischen ‚Rasse‘, die begrifflich zum Teil als Synonym für ‚Volk‘, ‚Nation‘ oder ‚Stamm‘ fungieren konnte, zum Teil aber auch als biologistisch konnotierte Größe benutzt wurde. Insbesondere eine musikhistorische Spurensuche, in der die Musik von Komponisten jüdischer Herkunft aus der 13 Haumann, Geschichte der Ostjuden, 56: „Dieser Begriff, der erst [...] im 19. Jahrhundert, aufkam und sich im 20. Jahrhundert allmählich durchsetzte, bezeichnet also mehr als eine geographische Zuordnung [...]. Bei einem Ostjuden handelt es sich um einen Menschen, der sich bewußt zum Judentum bekennt, dessen Verständnis sich ihm in schweren Konflikten erschlossen hat. Tradition und Erinnerung üben dabei eine prägende Wirkung aus“. 14 Die Vokabel ‚Kaftanjude‘, die im Gegensatz zu dem assimilierten ‚Krawattenjuden‘ von antisemitischer Seite geprägt wurde, veranschaulicht sehr deutlich, in welchem Maße eine Orientalisierung der ‚Ostjuden‘ stattfand, die sowohl ein anti-judaistisches Stereotyp als auch das innerjüdische Selbstverständnis betraf. 15 Zu der Bedeutung und Funktion des kulturzionistischen Rekurses auf eine nationaljüdische Musik wie er sich in der deutsch-jüdischen Publizistik der 20er Jahre darstellte, sowie den Auswirkungen auf das historische Selbstverständnis der Musik in Israel liegen bislang keine Forschungsergebnisse vor. Erste Ansatzpunkte vor allem für die jüdische, musikhistorischorientierte Forschung nach 1933 bietet Jost Hermand in seinem Aufsatz Juden in der Kultur der Weimarer Republik. 16 Griese, Kulturzionismus, 137. 17 Vgl. hierzu u.a. Joachim Doron, Rassenbewusstsein und naturwissenschaftliches Denken im deutschen Zionismus während der wilhelminischen Ära. Unterschiede akzentuiert George Mosse (Geschichte des Rassismus, 160): „Der Traum vom ‚neuen Menschen‘, dem sowohl die Rassisten als auch die Zionisten nachhingen, war das Gegenstück zum Rationalismus. Nur, für die Zionisten war er ‚humanitärer Nationalismus‘, der sowohl voluntaristisch als auch pluralistisch war.“
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Diaspora herausgelöst und als national-jüdisches Musikschaffen umgedeutet wurde, erwies sich als sehr anfällig für die ‚Rassentheorien‘.18 1916 erschien in der von Martin Buber herausgegebenen Zeitschrift Der Jude ein Aufsatz mit dem Titel Jüdische Volksmelodien von Max Brod.19 Bekannt als enger Freund und Nachlassverwalter Franz Kafkas, aber auch als Musikschriftsteller tätig, betonte Brod hier drei spezifisch jüdische Merkmale in der Musik Gustav Mahlers. Ausgangspunkt seiner Betrachtung bildete der kulturzionistische Zugang über die chassidische Synagogalmusik, die Brod durch galizische Flüchtlinge in Prag kennenlernte und dort „den lange gesuchten Schlüssel zu etwas scheinbar Fernliegendem, aber doch ebenso tief Jüdischem [...] zu der Kunst Gustav Mahlers“20 zu finden glaubte. Als Ausdruck einer unbewussten, kollektiven Erinnerung sah er die Verwendung von Marschrhythmen in den Kompositionen Mahlers als religiös fundiert an:21 18 Vgl. etwa den Artikel des Operettenkomponisten und promovierten Mediziners Bogumil Zepler (1858–1918) mit dem plakativen Titel Vom jüdischen Rassentum in der Musik (in: Ost und West. Monatsschrift für modernes Judentum [1917]). Zepler versucht eine einheitliche jüdische Charakteristik anhand verschiedenster Komponisten jüdischer Herkunft des 19. Jahrhunderts aufzustellen. Ausgangspunkt seiner Betrachtungen bildet Mendelssohn Bartholdy, in dessen Werk er das „Bevorzugen einer formalen Symmetrie und Abrundung, eines fast immer markanten Rhythmus und einer leicht eingängigen und häufig einen besonderen Mollcharakter annehmenden melodischen Linie“ (552) als spezifisch ‚jüdische‘ Kennzeichen apostrophiert, die sich nach Zepler auch bei Meyerbeer, Offenbach, Rubinstein, Goldmark und Mahler finden ließen. Der Begriff der ‚Rasse‘ ist bei Zepler nicht eindeutig biologistisch konnotiert, sondern erscheint vielmehr in Abgrenzung zum Assimilationsprozess als Synonym für einen besonderen jüdischen ‚Nationalcharakter‘ (551): „Denn bei verhältnismäßig freiheitlicher Gestaltung seiner Lebensbedingungen ‚verähnlicht‘ sich der Jude im Verlaufe einiger Lebensalter in ganz frappanter Weise den Genossen des Volkes, unter dem er lebt. Das hindert natürlich nicht, daß er seinem innersten Wesen nach an Temperament, Lebensauffassung, ersichtlicher aber noch in seiner künstlerischen Veranlagung der romanischen, ja auch der slawischen Rasse einigermaßen nähersteht wie der germanischen.“ 19 Der Aufsatz erschien vier Jahre später unter dem Titel Gustav Mahlers jüdische Melodien in den Musikblättern des Anbruch und erfuhr so eine Verbreitung in nicht-jüdische Kreise. 20 Brod, Gustav Mahlers jüdische Melodien (Mai 1920), 378. Zur Tradition chassidischer Musik vgl. Sendrey, Hasidism and Its Music (in: ders., The Music of the Jews in the Diaspora, 408): „Prayer alone was not considered sufficient for Hasidim [...]. Physical ecstasy, a rapturous state of mind, was necessary, and the followers of BESHT devised a ritual which included singing and dancing as the means for attaining the desired spiritual exaltation. Soon specific Hasidic songs sprang up, some with lyrics, in which short Biblical phrases, but mostly single words, were repeated over and over again. Some were sung to a rhythmical formula utilizing meaningless words, others were without words, and employed vowels as a ‚text‘. [...] While Hasidism added but a few – and mostly rhythmically new – features to Jewish music, it infused an entirely new spirit into the devotional chant and into the folksong as well.“ 21 Andere zeitspezifische Erklärungen für die Marschrhythmen im Werk Mahlers hoben eine kindliche Prägung durch die räumliche Nähe zu einer Militärkaserne hervor. Vgl. etwa Paul Stefan, Gustav Mahler (1912), 23; Richard Specht, Gustav Mahler (1918/1925), 170; Guido Adler, Gustav Mahler (1916), 9f. Aus musikwissenschaftlicher Sicht lassen sich keinerlei ‚jüdischen‘ Merkmale im Schaffen Mahlers extrahieren, wie dies Hans Heinrich Eggebrecht (Die Musik Gustav Mahlers, 288: „Höchst fragwürdig andererseits erscheint mir Max Brods Versuch [...], eine
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Seit ich chassidische Volkslieder gehört habe, glaube ich, daß Mahler ganz einfach aus demselben unbewußten Urgrund seiner jüdischen Seele so und nicht anders musizieren mußte, aus dem die schönsten chassidischen Lieder, die er wohl niemals gekannt hat, entsprossen sind. Das Seltsame ist nämlich, daß auch diese Lieder einen oft scharf ausgeprägten Marschrhythmus aufweisen [...]. Man sieht gleichsam in unübersehbaren geschlossenen Massen die Heere gleichgesinnter Gottesstreiter heranrücken.22
Laut Brod weist die chassidische Musik verschiedenste Marschrhythmen auf, die jedoch durch ein nicht verifizierbares ‚Gefühl‘ nur für Juden erkennbar und verständlich wären: Es scheint, daß der Jude eine ganze Fülle verschiedenartig nüancierter Marscharten für ganz entgegengesetzte Gefühle bereithält. Nur dem Nichtjuden erscheint das als Monotonie, der Jude fühlt die Unterschiede.23
Der Verweis auf eine unbewusste, aber dennoch bindende jüdische ‚Substanz‘ in Mahlers Schaffen wie auch die Kategorie des ‚Gefühls‘ als Entscheidungsinstanz in der Frage nach einer national geprägten und ebenso erkannten Musik weisen eine Nähe zu den zeitgenössischen Diskussionen um musikalische ‚Rasse‘-Fragen auf. Hier spielte neben den unterschiedlichen Systemen rassistischer Klassifikation immer auch das nicht objektivierbare, mystifizierende ‚Gefühl‘ eine zentrale Rolle in der Entscheidung ‚rassischer‘ Zugehörigkeit. Neben dem Rhythmus meinte Brod darüber hinaus in Mahlers tonaler Anlage und Melodieführung eine spezifisch ostjüdische Komponente zu erkennen, die gemäß seiner Schilderung eine offensichtliche Gemeinsamkeit mit Melismen und Ostinati der orientalischen Musik zeige: Und noch andere Eigentümlichkeiten hat die chassidische Volksweise mit Mahlers Melodik gemein: gewisse zwischen Dur und Moll schwebende Melismen, sowie die Art, sich langsam in Bewegung zu setzen, zuerst denselben Ton einigemale zu wiederholen, für westliche Ohren eigensinnig oft, dann erst loszuschaukeln, in kleineren, bald gewaltigen Schwingungen. – Vielleicht wird man Gustav Mahler gerechter, wenn man ihn im Zusammenhang einer jüdischen Seelenstimmung betrachtet [...].24 ‚jüdische Grundkomponente‘ in Mahlers Musik konkret aus jüdischer Kult- und Volksmusik, insbesondere aus chassidischen Gesängen, ableiten zu wollen, zumal Mahler derartiges wohl nie gehört hat“.) und Alphons Silbermann (Artikel Jüdische Musik, in: ders., Lübbes Mahler Lexikon, 122: „Mahlers Musik als ‚jüdische Musik‘ darzutun ist nicht nur, wie der Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht meint, ‚höchst fragwürdig‘, sondern bare Torheit.“) festgestellt haben. Gleichzeitig werden bis heute immer wieder Mahlers Werke vor der Folie des Judentums betrachtet. So etwa durch Hennig Böke (Gustav Mahler und das Judentum) oder Jost Hermand (Deutschjüdische Zerrissenheit. Gustav Mahlers ‚1. Symphonie‘). 22 Brod, Gustav Mahlers jüdische Melodien (Mai 1920), 378. Bereits 1910 erörterte der konservative Musikkritiker Richard Batka Das Jüdische bei Gustav Mahler als etwas, das „unbewußt, unabhängig von seinem Willen in ihm schläft“ (in: Kunstwart, 98). 23 Brod, Gustav Mahlers jüdische Melodien (Mai 1920), 378f. 24 Brod, Gustav Mahlers jüdische Melodien (Mai 1920), 379. Man kann in Brods Schilderung der melodischen Verläufe die Analogie zwischen Mahlers Musik und dem religiösen Kultus
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Bezeichnend für die selbstbewusste Separation einer ‚jüdischen‘ von einer ‚deutschen‘ Musik zeigt sich das Schlussplädoyer dieses Aufsatzes, das unabhängig von Mahlers eigenem Selbstverständnis einen speziell ‚jüdischen‘ Zugang zu seiner Musik forderte: Ich glaube, die ungeheuren Widerstände, die seine Kunst bei Publikum und auch bei ernster Kritik zu überwinden hatte, [...] beruhen darauf, daß sein Werk zwar äußerlich recht deutsch ausschaut, den [dem] Instinkt aber undeutsch (und das mit Recht) anmutet. Von einem deutschen Blickpunkt aus erscheint dieses Werk daher inkohärent, stillos, unförmlich, ja bizarr, schneidend, zynisch, allzu weich, gemischt mit allzu Hartem. Es ergibt, deutsch betrachtet, keine Einheit. Man ändere die Perspektive, suche sich in Mahlers jüdische Seele einzufühlen; wobei es natürlich kein Einwand ist, daß in Mahlers Oberbewußtsein das Judentum keine große Rolle gespielt haben mag. Sofort ändert sich das Bild, Form und Inhalt stimmen [...].25
Die hier konstatierte ‚Uneinheitlichkeit‘ bzw. ‚Zerrissenheit‘ wirkt wie eine spiegelbildliche Umkehrung der antisemitischen Agitationen gegen Mahler, der nicht nur von völkischer Seite zum Sinnbild ‚jüdischer Widersprüchlichkeit‘ und ‚Tragik‘ stilisiert wurde.26 Mit einem musikhistorischen Verweis forderte Brod auch für andere Künstler jüdischer Herkunft eine Betrachtung ihrer Werke unter dem Aspekt des ‚Jüdischen‘: Ebenso geht es (nebenbei bemerkt), wenn man Heine nicht als deutschen Lyriker, Mendelssohn nicht als Klassiker der deutschen Musik, Meyerbeer nicht als italienischen Opernkompositeur und Offenbach nicht als Pariser Gamin auffaßt, sondern alle vier als große Söhne des jüdischen Volkes, deren Genius mit der spezifischen Judennot (nebst anderer Widerstände der Materie) zu ringen hatte. Es soll nicht gesagt sein, daß damit alles ‚Unechte‘ an diesen Autoren echt, alles Halbe zu einem Ganzen wird. Nein, aber in ihrer Totalität werden sie klarer, geradliniger, einfacher, und manches falschklingende Detail kehrt plötzlich einen echten Herzensgrundton hervor.27
Lassen sich in dieser Gegensatzkonstruktion zwischen ‚deutscher‘ und ‚jüdischer‘ Musik gerade mit Blick auf die genannten Komponisten des 19. Jahrhunderts Anklänge an die damals entwickelten Ideen einer exklusiv ‚deutsch-national‘ gefassten Musik erkennen, bleiben Brods Ausführungen ohne den Hintergrund seiner kulturzionistischen Positionen unverständlich und befremdlich.28 Als Mittel zur Legitimation des eigenen Handelns sowie osteuropäischer Juden vermuten, in dem im Unterschied zum deutschen Reformjudentum das Thora-Gebet mit einer schaukelnden Bewegung des Oberkörpers begleitet wurde. 25 Brod, Gustav Mahlers jüdische Melodien (Mai 1920), 397. 26 Dementsprechend konnte obiger Passus 1941 unverändert in das Lexikon der Juden in der Musik aufgenommen werden (41f), um im antisemitischen Zusammenhang seine Wirkung zu entfalten. 27 Brod, Gustav Mahlers jüdische Melodien (Mai 1920), 379. Die Etikettierung Offenbachs als Pariser Gassenjunge korrespondiert mit den zeitgenössischen Abwertungen des 19. Jahrhunderts. 28 Brod, Gustav Mahlers jüdische Melodien (Mai 1920), 379: „Beim Klange ostjüdischer Volkslieder verstand ich mit einemmal, warum sein letzter Zyklus, das chinesische ‚Lied von der
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zur historischen Untermauerung findet sich im Kontext national-abgrenzender Bestrebungen generell häufig der Rekurs auf exponierte Persönlichkeiten, wie Otto Brusatti in seiner Untersuchung Nationalismus und Ideologie in der Musik ausführt: Die Einzelpersönlichkeit gewährt demnach durch ihr Werk und durch ihr, für die Nation bzw. das ideologische System vorbildliches Leben, einen Halt. Sie erbringt scheinbar den Beweis der Richtigkeit der Ansichten und Ideologien der Gruppe. [...] Die Gruppe hat somit ein Orientierungsmittel erhalten, welches auch außerhalb ihrer Grenzen Anerkennung und Gültigkeit besitzt. Durch die schrankenlose Inbesitznahme dieses sich zumeist in einer historischen Persönlichkeit darstellenden Orientierungsmittels erhöht die Gruppe ihren Anspruch auf Richtigkeit ihrer Handlungsweise, und sie beweist somit aus ihrer Sicht die Ausschließlichkeit der eigenen Ideologie.29
Mit seiner Auffassung von unbewussten, ‚jüdischen‘ musikalischen Merkmalen, die sich im Schaffen von assimilierten Komponisten jüdischer Herkunft offenbaren, wurde Max Brod breit rezipiert und blieb dabei nicht unumstritten.30 Auch der Musikwissenschaftler Erwin Felber (1885–1929) und der Musikpädagoge Heinrich Berl (1896–1953), in deren Betrachtungen zionistisch geprägte Vorstellungen ebenfalls eine wichtige Rolle spielten, orientierten sich an Brods Ausführungen. Mit einer gemäßigteren Position stellte Felber 1928 in den Musikblättern des Anbruch die Frage Gibt es eine jüdische Musik? Hier distanzierte er sich einleitend von den Thesen Brods und sah gerade Mahler als letzten „Großmeister der urdeutschen Symphonik“31 an: Eifrige Sammler mögen in seiner übergroßen Sentimentalität, in seiner Neigung zur linearen Melodik, in seinen angeblich an Chassidim-Weisen anklingenden Marschrhythmen, in seinem Hang zur Mystik und in seiner Sehnsucht nach dem Osten (im ‚Lied von der Erde‘) Argumente für seine jüdische Musik finden. Sie übersehen dabei freilich, [...] daß seine ‚Wunderhorn-Vertonungen‘ tief in den Geist deutscher Romantik eindringen. Sein bewußtes Bekenntnis zur westeuropäischen Tonkultur ist weit stärker als das Unbewußte der verdunkelten oder gar schon abgeklungenen Erinnerungsbilder an jüdische Geistesart. Der Wille zum Judentum fehlt, ohne den die jüdische Musik eben nicht zustande kommen kann. [...] Zu einer jüdischen Musik Erde‘, seine ‚Einsamkeiten‘ beklagen und die ‚Heimat‘ suchen gehen mußte – ‚ewig, ewig‘ den Orient.“ Noch 1951 publizierte Brod in einer der ersten Untersuchungen zur zeitgenössischen Musik in Israel erneut mit der historischen Spurensuche diese Thesen in Jewish musicians in the diaspora (in: ders., Israel’s Music, 26–41; dt. Fassung: Max Brod/Yehuda Walter Cohen, Die Musik Israels. Revidierte Ausgabe mit einem zweiten Teil ‚Werden und Entwicklung der Musik in Israel‘). Vgl. auch Max Brod, Gustav Mahler. Beispiele einer deutsch-jüdischen Symbiose (1961). 29 Brusatti, Nationalismus und Ideologie in der Musik, 56. 30 Vgl. Brod, Israel’s Music (1951), 32: „At the time, my article received unpleasant attention. The whole group of assimilated German-Jewish music-critics in Vienna rose in angry protest. [...] My judgement was considered queer and crazy.“ 31 Felber, Gibt es eine jüdische Musik? (1928), 284.
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gehört grundsätzlich [...] nicht nur der Boden der mütterlichen Landschaft, aus dem es seine besten Kräfte in sich aufsaugt, sondern auch das Bekenntnis zur Rasse, aus der das Judentum hervorgegangen ist und der es – trotz seiner Wanderung durch die Jahrtausende – innerlich verbunden geblieben ist, das Bekenntnis zur vorderasiatischen Rasse.32
Der Begriff der ‚Rasse‘, wie er bei Felber auftaucht, leitet sich aus zwei seiner weiteren Artikel ab, die ebenfalls Ende der 20er Jahre erschienen. In einer Erörterung der Geltung von Naturgesetzen in der Musik33 und Felbers Gedanken über Musik und Volkstum34 diskutierte er zunächst sehr vorsichtig die Frage nach einer biologischen Fundierung musikalischen Schaffens. In direkter Bezugnahme auf die Theorien Darwins und Mendels folgerte er 1927 mit Blick auf die angenommenen ‚musikgeschichtlichen Naturgesetze‘: Mag auch diese kunsthistorische Umdeutung der Mendelschen Regeln vorläufig, insolange noch alle eindeutigen Definitionen über die musikalisch-biologischen Grundbegriffe – wie Art, Artmerkmal, Generation, Artgleichheit, Artverschiedenheit usw. – ausstehen, wie ein Versuch mit untauglichen Mitteln anmuten, so erscheint sie mir doch immerhin als ein diskussionsfähiger Versuch an einem tauglichen Objekt.35
Das Fortschreiten dieser Diskussion um die „musikalisch-biologischen Grundbegriffe“ verdeutlicht gerade der ein Jahr später publizierte Artikel Gedanken über Musik und Volkstum. Die Vokabel ‚Rasse‘ erschien in diesem Kontext als anthropologisch bestimmende Komponente, war allerdings zugleich nicht klar von anderen synonym verwendeten %egriffen wie „Volk“, „Nation“ und „Stamm“ abzugrenzen: Jede Rasse hat eben im Bau eines jeden Organes gewisse Durchschnittswerte und so auch im Bau des Gehirns, in welchem die seelischen Anlagen lokalisiert sind. Und 32 Felber, Gibt es eine jüdische Musik? (1928), 284. Vgl. auch den fünf Jahre zuvor in innerjüdischen Kreisen publizierten Artikel Felbers Über jüdische Musik und Musikpflege. Hier kam er in seinen Betrachtungen, die bewusst in Form eines Fragenkatalogs nach dem ‚Jüdischen‘ in der Musik formuliert waren, zu der Schlussfolgerung (97): „Die jüdische Musik – wir sprechen unausgesetzt von Kunstmusik – ist eben vorläufig nicht greifbar, der unbestreitbar jüdische Einschlag in der abendländischen Musik nicht recht definierbar, denn Ausdrücke wie ‚ruhelos‘, ‚trivial‘, ‚sentimental‘, ‚dekorativ-effektvoll‘ und andere reden an dem Kern der Judenfrage in der Kunst vorbei. Begegnen wir doch unter den jüdischen Komponisten von Mendelssohn bis Schönberg trotz des ihnen gemeinsamen jüdischen Einschlags den verschiedenartigsten Richtungen und Temperamenten, Konservativen wie Modernen, Sinfonikern und Lyrikern, Opern- und Operettenkomponisten. Es wäre darum ein Gebot der Zweckmäßigkeit, die unfruchtbaren Debatten über jüdische Musik zu vertagen“. Dementsprechend betrachtete Felber Schönberg zwar als Komponisten jüdischer Abstammung, seine Musik aber nicht als ‚jüdische Musik‘. Juliusz Wolfsohn, der sich selbst in die Tradition jüdischen Musikschaffens einordnete, wurde hingegen als ‚jüdischer Komponist‘ dargestellt. Vgl. Felber, Arnold Schönberg, in: Das Zelt (Juni 1924); ders., Juliusz Wolfsohn, in: Das Zelt (April 1924). 33 In: Melos (Mai 1927). 34 In: Musikblätter des Anbruch (1928). 35 Felber, Geltung von Naturgesetzen in der Musik (Mai 1927), 205f.
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diese Anlagen [...] erklären es, daß jedes Volk irgendwie seine besondere Kunst besitzt und so auch seine eigene Tonsprache redet.36
Mit der Einschränkung eines nicht objektivierbaren „irgendwie“ wies Felber neben den biologischen Grundlagen des Musikschaffens ebenfalls auf die Bedeutung des Milieus hin: Voraussetzung einer tonsprachlichen Volksindividualität ist natürlich, daß die musikalische Anlage durch die äußeren Verhältnisse, durch die Gunst der Umwelt, hinreichend zur Entwicklung gebracht wird.37
Dass die Betonung einer unspezifischen „Umwelt“ neben der biologischen Scheinkategorie der ‚Rasse‘ ebenfalls in assoziativen völkerpsychologischen Klischees münden konnte, lässt sich aus den von Felber zugeschriebenen Eigenarten von „Nord und Süd“ erkennen: Immerhin kann man zwischen Rassen und Völkern unterscheiden, bei denen primär das Musikalische, der Zeitsinn, das rein Sinnliche betont ist, und anderen, bei denen das Gedankliche, das Geistige vorherrscht. Es ist dies letzten Endes ein Gegensatz zwischen Nord und Süd, wobei sich die überkultivierte französische Nation gleichsam als schmiegsames, einfühlsames Zwischenglied erweist.38
Dem Norden, der zwar im Sinn Gobineaus „als Ganzes betrachtet, nicht eigentlich musikalisch“39 sei, wurde hier eine „Musik des Südens“40 gegenübergestellt, unter der auch eine ‚jüdisch-orientalische‘ Musik zu subsumieren sei. Für das ‚nordische‘ Musikschaffen, in dem Deutschland eine überragende Stellung einnähme, galt laut Felber: Die Deutschen gebieten souverän wie kein zweites Volk im Reiche der Kunst- und namentlich der Instrumentalmusik. Vielleicht hängt dies eben damit zusammen, daß sie [...] von allen mächtigen Kulturnationen anscheinend am wenigsten orientalisches Blut aufgenommen haben und demgemäß am weitesten von den musikalischen Rassemerkmalen des Orients – der Kultur des Spieles mit der reinen melodischen Linie – entfernt sind.41 36 Felber, Gedanken über Musik und Volkstum (1928), 51. 37 Felber, Gedanken über Musik und Volkstum (1928), 51. 38 Felber, Gedanken über Musik und Volkstum (1928), 51. 39 Felber, Gedanken über Musik und Volkstum (1928), 51. 40 Vgl. das gleichnamige Buch von Walter Dahms (1923), Aussagen Felbers scheinen dort abgeleitet zu sein. So heißt es bei Dahms (Musik des Südens, 50): „Zwei Welten Musik! das bedeutet die Manifestierung des seelenhaften Wesensunterschiedes zwischen der Musik des Südens und der des Nordens, [...] der Melodie als beherrschendem sinnlichen Ausdruck und der Harmonie als metaphysischer Grundlage.“ Auch Dahms ging auf die Verbindung zwischen ‚Natur‘ und Musik ein, wenn er den jeweiligen Landschaften prägende Eigenschaften für die spezifische Musikpraxis zuschrieb (51): „Musik ist Ausdruck der Landschaft. Sie bringt das Seelenhafte in reinster, sublimster Form zur Darstellung. Ihre Abhängigkeit von Landschaft und Klima wird sich deshalb besonders stark geltend machen.“ 41 Felber, Gedanken über Musik und Volkstum (1928), 55.
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Den in Deutschland lebenden Juden kam in dieser polaren Gegensatzkonstruktion zwischen Norden und Süden, Abendland und Orient, „Gedanklichkeit und Sinnlichkeit“, Instrumental- und Vokalmusik, „Raumkunst“42 und „Zeitsinn“,43 Harmonie und Melodie eine „Art Vermittlerrolle“ – ähnlich der Frankreichs – zu: Eine Art Vermittlerrolle zwischen den Extremen künstlerischen Denkens und musikalischen Fühlens spielt [...] allenthalben das Judentum, welches einerseits auf Grund seiner Abstammung, seiner Vorvergangenheit und ander>er@seits seiner Umwelt, seiner Gegenwart auch hier eine Brücke vom Orient zum Okzident baut. Das Judentum gehört ursprünglich dem musikalisch anscheinend besonders hochstehenden vorderasiatischen Rassentypus an, der auch noch in der europäischen Mischbevölkerung da und dort durchschlägt, am wenigsten vielleicht in dem norddeutschen Stamm, der gedanklich am höchsten und der nordländischen Rasse am nächsten steht.44
Geht Felber auf der einen Seite bei Meyerbeer, Mendelssohn Bartholdy und Mahler nicht von einem spezifisch ‚Jüdischen‘ in ihrer Musik aus,45 fordert er auf der anderen Seite dennoch aufgrund eines anthropologischen ‚Rassen‘-Unterschieds die Abspaltung einer jüdischen Musik zur ‚orientalischasiatischen‘ Kultur. Diese ‚jüdische‘ Musik, die in direktem Gegensatz zur europäischen Musiktradition zu stehen habe, könne sich nur in einem eigenen Staatsgebiet auf den musikalischen Grundlagen des „vorderasiatischen“ Raums entfalten: Ob ein Volksganzes ohne Heimat, ohne seelisches Zentrum, ohne Bindung an eine Scholle, bloß aus dem Willen zur Gemeinsamkeit heraus, eine Art bodenständiger Kunst schaffen kann, soll hier nicht untersucht werden. [...] Ausgeschlossen scheint es mir aber, eine orientalische Kunst – denn nur um eine solche kann es sich bei dem vorderasiatischen Rassentypus der Juden handeln – auf mehr oder weniger okzidentaler Basis aufzurichten. [...] Eine solche [jüdische Musik] könnte nur auf dem Fundament der ursprünglichen Rasse und ihrer Geistesrichtung aufbauen. [...] Sie müßte eben zu den asiatischen Quellen ihres übersinnlichen Kunstdenkens und Kunstfühlens zurückfinden. [...] Aber eine ausgesprochen jüdische Musik wird erst auf dem Boden eines panasiatischen Musikempfindens in bewußtem Gegensatz zur paneuropäischen Tonsprache hochgezüchtet werden können.46
42 Felber, Gedanken über Musik und Volkstum (1928), 52. 43 Felber, Gedanken über Musik und Volkstum (1928), 51. 44 Felber, Gedanken über Musik und Volkstum (1928), 54f. Felber mag sich an Hans Friedrich Karl Günthers ‚Rassentheorie‘ orientieren, in der die ‚vorderasiatische Rasse‘ im Unterschied zur ‚orientalischen Rasse‘ ebenfalls als besonders musikalisch dargestellt wurde. 45 Felber, Gibt es eine jüdische Musik? (1928), 284: „Sie sind Musiker deutscher Zunge, deutscher Vorstellungswelt, mag auch ihr Judentum als Unterton mit einklingen, oder im Sinne der Mendelschen Regeln irgendwie herausspalten. Von jüdischer Musik – in dem Sinne wie von italienischer oder russischer Musik – kann bei ihnen keine Rede sein.“ 46 Felber, Gibt es eine jüdische Musik? (1928), 285ff.
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Felbers Gedanken mögen unter dem Eindruck der Thesen Heinrich Berls entstanden sein, dessen Buch Das Judentum in der Musik zwei Jahre zuvor erschienen war.47 Vorveröffentlichungen einzelner Kapitel fanden in innerjüdischen Zeitschriften jedoch schon seit 1922 statt.48 In Anlehnung an Richard Wagner, von dem er nicht nur den Titel übernahm, betrachtete Berl die Juden als „Fremdkörper“, den er allerdings positiv zu konnotieren versuchte.49 Die Fremdheit der Juden ergäbe sich aus ihrer historischen Herkunft, wodurch das jüdische Musikschaffen ähnlich wie bei Brod und Felber – hier allerdings im Kontext eines zionistisch beeinflussten Zukunftsoptimismus – als ‚orientalisch-asiatisch‘ charakterisiert wurde. Berl hingegen betonte einen, mit verworrenen musikethnologischen Querverweisen gestützten „musikpsychologisch[en]“ bzw. „musikmetaphysisch[en]“ Blick.50 In der „Landschaft“ des jeweiligen Ursprungslands eines Volkes sah er prägende Momente für das musikalische Schaffen, die trotz geschichtlichen Wandels überzeitlich bis in die Gegenwart wirken würden.51 In seiner Suche nach den Merkmalen einer orientalisch geprägten jüdischen Musik entfaltete Berl ein enges System von dichotomen Dualitäten und bildete sowohl Analogien als auch apodiktisch gesetzte Kausalketten zur Untermauerung seiner wirren Thesen.52 Die ‚orientalisch-jüdische‘ Musik als „Musik des Ostens“53 charakterisierte er demnach eher durch assoziative Zuschreibungen denn durch musikalisch-exemplifizierbare Aussagen. Den Unterschied zwischen abendländischer und morgenländischer Musik – gleichgesetzt mit dem Gegensatz zwischen Nord und Süd – beschrieb Berl mit den virulenten Ideen der Zeit als ‚räumlich-harmonisch‘ versus ‚linearmelodisch‘: 47 Sowohl Felber als auch Berl publizierten in der kulturzionistisch geprägten Zeitschrift Das Zelt. 48 Berl, Das Judentum in der abendländischen Musik, in: Der Jude (Mai 1922), [im Buch Das Judentum in der Musik (1926), 85–103]; ders., Erich Wolfgang Korngold. Ein jüdischer Musiker, in: Das Zelt (Jan. 1923), [im Buch: 174–183]; ders., Neue Musik, in. Das Zelt (April 1924), [im Buch: 68–77]; ders., Umschau: Musik. Zum Problem einer jüdischen Musik, in: Der Jude (Mai 1923), [im Buch: 137–167]; ders., Ignaz Moscheles. Der Jude als Virtuose, in: Das Zelt (1924), [im Buch: 183–189, mit neuem Schlussteil im Artikel]; ders., Musik des Ostens, in: Die Musik (Febr. 1926), [im Buch: 25–36]. 49 Berl, Das Judentum in der Musik (1926), 10: „Inwiefern Wagner recht hatte, da er das Judentum als Fremdkörper empfand, geht nirgends klarer hervor als aus diesem Buch. Es fragt sich nur, ob dieser Fremdkörper mit positiven oder negativen Vorzeichen zu betrachten ist.“ 50 Berl, Das Judentum in der Musik (1926), 154. 51 Berl, Das Judentum in der Musik (1926), 42: „Der singende, tanzende, spielende Mensch steht inmitten der Landschaft, die ihn zeugte. Lösen wir Mensch oder Instrument los, so werden doch beide ihre bestimmte landschaftliche Herkunft nie verleugnen, selbst wenn sie sich äußerlich den Elementen des fremden Bodens angleichen.“ 52 Für Berls befremdliche ‚Beweisführung‘ sei hier nur ein Beispiel gegeben (65): „Der Orientale lebt pflanzenhaft verbunden im Raum, darum ist sei primärstes Erlebnis die Zeit; der Okzidentale lebt tierhaft losgelöst in der Zeit, darum schafft er sich einen künstlichen Raum.“ 53 Berl, Das Judentum in der Musik (1926), 42.
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Die Harmonie ist rein entwicklungsgeschichtlich zu verstehen als das parallele Ergebnis der Raumbeherrschung des nordischen Menschen; die Melodie durchaus primär als Ausdruck des Zeiterlebens der südlicheren Menschheit.54
Melodie und Harmonie wurden jeweils der Vokal- und Instrumentalmusik zugeordnet, die sich antithetisch nach Berl auch geschlechtsspezifisch als „Reproduktion“ und „Produktion“ charakterisieren ließen.55 Auf einer anderen Ebene seiner Argumentation entfaltete Berl eine musikhistorische Sicht der ‚jüdischen Musik‘ in der abendländischen Musikgeschichte, die er als ‚jüdische Pseudomorphose‘ bezeichnete und zu einer ‚äußerlich-formalen‘ Anpassung der Juden an die ‚räumlich-harmonische‘ Musik des Abendlandes, symbolisiert im Dreiklang, dem sie innerlich fremd geblieben wären, stilisierte: Im Judentum haben wir innerhalb der abendländischen Musikentwicklung den einzigen konkreten Fall einer Pseudomorphose, einer Eingießung latenter Musikalität in fremde Formen, in jene Formen nämlich, die als Produkt aus dem Empfinden des Dreiklangs hervorgegangen sind. Kein Jude, von Meyerbeer bis Korngold, hat je im Dreiklang empfunden, vielmehr bot sich ihnen der Dreiklang als die Tonsprache ihrer Umgebung, und sie nahmen von ihm den Ausgang, um ihn – in sich selbst ad absurdum zu führen. Nicht als ein bewußtes Adabsurdum! Bewußt wurde es nur in dem einen Falle Schönberg. Vielmehr wirkte in ihnen allen der latente Orientalismus nach, der in den Unterschächten der jüdischen Seele verdrängt ruhte und der den Krankheitskomplex des Judentums bis dato ausmachte.56
Die vermeintliche „Krise“ der abendländischen Musik, die ihren gegenwärtigen Höhepunkt erlebe, führte Berl auf die jüdischen Emanzipationsbestrebungen als „orientalische Invasion“ zurück: Die asiatische Krise in der europäischen Musik bedeutet also: der Hereinbruch des Orients in die okzidentale Musik, durch das Judentum.57
In Berls fragwürdigem Zuschreibungssystem erschien ‚der Jude‘ durch „eine merkwürdige Verkettung des Blutes“ als „der unplastische Mensch 54 Berl, Das Judentum in der Musik (1926), 49. 55 Berl, Das Judentum in der Musik (1926), 41f: „[...] die Reproduktion gehört dem vokalen Prinzip, die Produktion dem instrumentalen Prinzip an. Solange das Instrument in den Händen des Weibes dient, ist es in gleicher Weise reproduktiv. [...] Mit der Isolation des Instruments beginnt die Möglichkeit der ‚Produktion‘ und damit die Aufgabe des Mannes: denn nun [...] mußte eine andere Erscheinungswelt geschaffen werden: der akustisch-optische Raum, mit den Mitteln der Instrumente“. 56 Berl, Das Judentum in der Musik (1926), 73. Selbiger Passus wurde mit dem Kommentar „Wir haben diesen Feststellungen nichts hinzuzufügen. Sie geben die letzte Erklärung dafür, warum der komponierende Jude im Schönheitsideal unserer Tonkunst niemals ganz aufgehen kann“ in den Artikel Juden in der Musik im NS-Sammelband Die Juden in Deutschland von 1936 (358) übernommen. 57 Berl, Das Judentum in der Musik (1926), 23.
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par excellence“,58 der gleichzeitig jedoch eine spezifische Affinität zur Musik besitze: Tatsächlich beruht das plastische Unvermögen auch auf einer psychologisch vollkommen unmännlichen Kategorie des jüdischen Geistes und die höchste Potenzierung des Emotionalen, Ekstatischen, Musikalischen aus einer vielmehr nach dem Weiblichen und vor allen Dingen nach dem Kindlichen hinneigenden psychischen Formation.59
Ausgeschmückt mit den verbreiteten Etikettierungen „Trivialität“ und „Sentimentalität“ sah Berl die Neigung zum „Weiblichen“ und „Kindlichen“ unter angeblich positiven Vorzeichen als unbewusste ‚jüdische‘ Disposition: Haben wir hier nicht wieder die beiden berüchtigten Kennzeichen der jüdischen Musik: Sentimentalität und Trivialität? Sind wir ihnen nicht schon bei Meyerbeer und Offenbach, bei Mendelssohn und Mahler begegnet? [...] Der Wiener mag sentimental sein, der Italiener trivial: beides zusammen in solchen Ausmaßen, daß sie zu typisch psychologischen Merkmalen werden können, ist nur der Jude. [...] Es ist nur wichtig, daß wir die falsche Wertung der Sentimentalität und Trivialität aufgeben; daß wir sie in die Sphäre des Herzens verlegen, nicht in die Sphäre des Wertlosen. [...] Wo wir also bei Juden auf Sentimentalität und Trivialität stoßen – und wir stoßen fast immer auf sie – handelt es sich tatsächlich um ein großes volkspsychologisches Moment.60
Paradigmatisch lässt sich in Heinrich Berls gesamter Theorie eine seltsame Umkehrung antisemitischer Vorwürfe nachweisen, die ihren argumentativen Ausgangspunkt in der Betrachtung der musikalischen Moderne als ‚Verfallserscheinung‘ nahm. Die völkische Agitation gegen eine ‚Verjudung des kulturellen Lebens‘ deutete Berl als ‚jüdische Pseudomorphose‘, während er eine Psychopathologisierung der Juden, wie sie sich im Begriff der ‚Entartung‘ zeigte, als historisch notwendige ‚Krankheitserscheinung‘ darstellte. Die im 19. Jahrhundert in der deutschen Rezeption Meyerbeers, Mendelssohn Bartholdys und Offenbachs entstandene und im 20. Jahrhundert auf Mahler übertragenen Schlagwörter ‚Trivialität und ‚Sentimentalität‘ erschienen in der Gleichsetzung mit dem ‚Weiblich-Infantilen‘ als integraler Bestandteil ‚jüdischen‘ Musikschaffens. Der ‚jüdische‘ Komponist als ‚unschöpferischer‘, ‚nachschaffender‘ Künstler erfuhr bei Berl eine Umdeutung zu einem ‚re-produktiven‘ Musiker orientalischer Provenienz. Den Vorwurf einer ‚jüdischen Zersetzung‘ der Musik, symbolisiert durch Schönbergs atonale und dodekaphonen Kompositionen, interpretierte Berl 58 Berl, Das Judentum in der Musik (1926), 85. 59 Berl, Das Judentum in der Musik (1926), 87. Das religiöse Abbildungsverbot von Gott und seiner Schöpfung mag Berl zu dieser, hier biologistisch begründeten These eines ‚jüdischen Unvermögens‘ zur plastischen Darstellung angeregt haben. 60 Berl, Das Judentum in der Musik (1926), 177f.
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als einen positiven Separatismus- und Gesundungsprozess. Dieser Prozess wurde durch Mahler und Schönberg eingeleitet, wobei Mahler als ‚lyrischer, infantiler‘ Vokalkomponist ‚Trivialität‘ und ‚Sentimentalität‘ verkörpere,61 während Schönbergs kompositionstechnische Neuerungen als Weg des ‚abendländischen‘ Harmoniestrebens zur ‚orientalischen‘ Bevorzugung der Melodie gewertet wurden:62 Das Judentum hat also die Musik nicht zur Entartung geführt, sondern zur Erneuerung. [...] Der Jude kann unmöglich die Musik zur Entartung bringen, weil er der musikalische Typ kat’ exochen ist. Mahler und Schönberg sind also zugleich zwei Dinge: jüdische Musiker und Erneuerer der abendländischen Musik.63
Seinen großen Wirkungskreis verdankte Berls Abhandlung sowohl seiner regen Publikationstätigkeit als auch der Wechselwirkung zwischen seiner scheinbar in sich geschlossenen diskursiven Argumentation und den zeitspezifischen Diskussionen um die ‚Rassentheorie‘ und das ‚Judentum in der Musik‘. Darüber hinaus bezog Berl neben philosophischen Querverweisen viele bekannte Musikschriftsteller seiner Zeit wie etwa Walter Dahms, Georg Capellen oder Paul Bekker in sein Gedankengeflecht mit ein. Die Ansätze zu dem Definitionsproblem einer ‚jüdischen Musik‘ wie sie von Max Brod über Erwin Felber bis hin zu Arno Nadel64 geliefert wurden, erfuhren so durch Berl eine weite Verbreitung und stereotype Vereinheitlichung.65 61 Berl, Das Judentum in der Musik (1926), 96: „Für Mahlers Judentum spricht alles: sein Ringen mit der Instrumentalmasse und mit der Harmonie, sein Lyrismus und seine Infantilität, seine ‚Trivialität‘ und ‚Sentimentalität‘ – [...] in [...] dem ‚Lied von der Erde‘ und den ‚Kindertotenliedern‘ hat sein Judentum, seine asiatische Angehörigkeit restlos gesiegt, und damit die Seele über die Materie.“ 62 Berl, Das Judentum in der Musik (1926), 98: „Daß also Schönberg in Akkorden komponiert, ist viel weniger wichtig, als daß seine Akkorde nicht den Bezirken der Harmonie angehören, sondern denen der Melodik. Die Harmonie wird also unter seinen Händen negiert“. 63 Berl, Das Judentum in der Musik (1926), 100. 64 Der Fachautor und Komponist Arno Nadel (geb. 1878) publizierte wie Felber und Berl in der Zeitschrift Der Jude und beschäftigte sich mit ostjüdischer Volksmusik und Synagogalmusik (Jüdische Musik [April 1923], 227): „Man kann von deutscher Musik reden, von französischer, von italienischer, von arabischer, von chinesischer – man kann auch von jüdischer Musik sprechen. [...] aber es gibt nur eine einzige jüdische Musik, die wir kennen und die klar faßbar ist: das ist die synagogale Musik.“ Dieser Aufsatz, in dem Nadel sieben charakteristische Merkmale der Synagogalmusik zu extrahieren suchte, bildete in seiner Auseinandersetzung mit Berls Aufsatz Das Judentum in der abendländischen Musik (in: Der Jude [Mai 1922]) den Ausgangspunkt für eine publizistisch geführte Diskussion zwischen ihm und Berl. Als Reaktion vgl. Heinrich Berl (Umschau: Musik. Zum Problem einer jüdischen Musik, in: Der Jude [Mai 1923]). 65 In diesem Sinn konnte 1927 eine kritische Besprechung, die sich direkt gegen Berl richtete, indirekt auch auf Bekker und Brod bezogen werden. Vgl. Albert Wellek, Besprechungen: Heinrich Berl, Das Judentum in der Musik, in: Zeitschrift für Musik (Nov. 1927), 637f: „Von der ersten Seite an bekundet sich Berl als ein Sprecher oder Sprachrohr Paul Bekkers, den jede 2. oder 3. Seite nennt und zu Zeugen ruft, und dem das Buch zum Überfluß auch noch gewidmet ist. [...]. Wenn Berl schließlich auch auf die einzelnen Vertreter der jüdischen Musik eingeht, bietet er
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Die Umwertung zeitgenössischer antisemitischer Argumentationsmuster, wie sie Berl anstrebte, blieb allerdings wenig erfolgreich.66 So nutzte der völkisch-nationalistischen Kreisen zugehörige Hermann Matzke seine Rezension von 1928 zur Konsolidierung einer kulturpessimistischen Sicht der zeitgenössischen Musikkultur.67 Mit Berl und völkischen Positionen übereinstimmend identifizierte Matzke die musikalische Moderne mit einer „jüdischen Frage“ in der deutschen Gesellschaft.68 Die ‚jüdische Pseudomorphose‘ Berls aufgreifend, widersprach Matzke allerdings einer, nicht nur von Berl konstatierten ‚Vorherrschaft der Juden in der Musik‘. Offenbarte sich doch hier ein Hauptwiderspruch innerhalb der völkischen Argumentation, die durch die angebliche ‚Verjudung der deutschen Musik‘ von einer impliziten Schwäche ‚nordischer‘ Musikkultur ausgehen musste, die mit der nationalistischen Vorstellung einer ‚rassisch‘ bedingten Hegemonie schwer zu vereinbaren war: Mit dem Aufsteigen des jüdischen Menschen in Europa wird aber das autochthone Musikempfinden und Musikhören des nordischen Menschen noch nicht schlechthin verändert. Die propagandistische Tätigkeit der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik, das Eindringen der neuen Musik in die Konzertsäle der Großstädte, die richtungsfreundliche Tätigkeit mancher Verlage, die intensive Wirksamkeit mancher Kritiker jüdischer Herkunft an einflußreichen Blättern, die zunehmende Betätigung einseitig eingestellter jüdischer Musikwissenschaftler usw. können wohl eine Trübung und Verwirrung im Musikempfinden der Volkspsyche bewirken, keineswegs ebenso wenig Charakteristisches, größtenteils nur feuilletonistische Phrasen, manchmal sogar – in Form halbpolemischer Darstellungen – aus zweiter Hand (Max Brod u.a.).“ 66 In anderem Kontext mit Blick auf die bildende Kunst diente ein Artikel von Heinrich Berl (Die Juden in der bildenden Kunst der Gegenwart, in: Der Jude [1924]) dem ‚Rassenforscher‘ Günther in seiner Rassenkunde des jüdischen Volkes (1931) die Machtansprüche ‚der Juden‘ in der Kunst anhand des Expressionismus zu belegen (311): „Die vorderasiatische Rassenseele mit ihrem Sichhineinsteigern [...] schien sich im Expressionismus besonders unmittelbar ausdrücken zu können. Für die expressionistische Malerei hat Berl die Führung durch Juden dargestellt: in Rußland seien Kandinsky, Chagall, Segall und Steinhardt, in Frankreich Picasso und Simon Levy, in Deutschland Meidner und Feininger führend aufgetreten.“ 67 Hermann Matzke, Das Judentum in der Musik. Eine kritische Betrachtung über das gleichnamige Buch von Heinrich Berl (in: ders., Aus Grenzgebieten der Musikwissenschaft. Eine Reihe von Vorträgen und Aufsätzen [1928]). Nach eigenen Angaben lag diesem Abschnitt ein Aufsatz in dem völkischen Sammelband Das Deutsche Volk (hg. von Prof. Martin Spahn, Stuttgart 1926) zugrunde. Bekannt wurde der Musikwissenschaftler Hermann Matzke (geb. 1890) vor allem durch seine musikpolitischen Reformbestrebungen, die er als eine „Musikwirtschaftslehre“ in Abgrenzung zum volksbildnerischen Engagement Leo Kestenbergs verstanden wissen wollte. Vgl. Matzke, Musikökonomik und Musikpolitik. Grundzüge einer Musikwirtschaftslehre (1927) sowie ders., Musik und Politik, in: ders., Aus Grenzgebieten der Musikwissenschaft. Vgl. zu Matzke auch Johns Kapitel Zentrales Thema um 1930: Musik und Politik (in: ders., Musikbolschewismus, 317–323). 68 Matzke, Das Judentum in der Musik (1928), 95: „Die Beschäftigung mit der jüdischen Frage nimmt von Jahr zu Jahr zu. Immer mehr wird das Problem auch als ein Kernstück für das künftige Sein und die Form unserer abendländischen Kultur und Politik empfunden.“
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aber [...] eine schließlich biologische Wandlung des noch immer zumindest nordisch getönten Bewohners Nord- und Mitteleuropas.69
Dessen ungeachtet konnte Matzke mit seinen Erörterungen Berls, von dem er große Teile als direkte Zitate übernahm, die These einer ‚jüdischen‘ Unterwanderung der ‚deutschen‘ Musik stützen: Es ist gleichwohl das unbestreitbare Verdienst Berls, mit seinem Buch trotz aller Irrtümer und Überspitztheiten, [...] in systematischer Hinsicht einen bedeutenden Schritt vorwärts in der Erkenntnis des musikalischen Chaos unserer Zeit und unserer selbst geführt zu haben. Seine Arbeit erlaubt es, von nun an ohne den fatalen Beiklang eines hilflos-unklaren Antisemitismus und ohne die Gefahr der Straße über die unbestreitbar tiefgreifende jüdische Einwirkung auf unsere Musikkultur in der Gegenwart offen zu reden.70
Welche prägende Wirkung die Diskussion um eine ‚jüdische‘ Musik mit ihrer partiellen Übernahme und Umdeutung antisemitischer Anschuldigungen entfalten konnte, zeigen drei weitere Publikationen der 20er Jahre, die nicht in direktem Kontakt mit den deutschen kulturzionistischen Bestrebungen entstanden. Stellten diese Untersuchungen auf der einen Seite den Versuch dar, antisemitische Aussagen zu widerlegen, konnten sich auf der anderen Seite dennoch auch hier unterschwellig stereotype Zuschreibungen aus dem Arsenal antisemitischer Agitation niederschlagen. So argumentierte Desider Lauko71 in seiner Studie Die jüdische Musik. Sch’ire Isarel, der nach eigenem Bekunden ein Vortrag über die althebräische Synagogalmusik in den innerjüdischen Kreisen der israelitischen Gemeinde in Bratislava zugrunde lag,72 mit der besonderen jüdischen Affinität zur Musik. In Anlehnung an den ostjüdischen Zionismus entsprachen Laukos Thesen den skizzierten kulturzionistischen Positionen von Erwin Felber. In dessen 69 Matzke, Das Judentum in der Musik (1928), 103. 70 Matzke, Das Judentum in der Musik (1928), 108. Eine ähnliche Rezeption fand noch 1942 unter dem Titel Die asiatische Krise in der abendländischen Musik statt, in der ebenfalls Abschnitte Berls zitiert wurden. Vgl. Gotthold Frotscher, in: Musik in Jugend und Volk (1943), 72: „Wir haben diese Gedanken trotz ihrer reichlich krausen Sprache zum Abdruck gebracht, weil sie die Gefahr, die durch das Judentum über die Kultur Europas hereingebrochen war [...], in aller Deutlichkeit erkennen lassen. Erst die letzte Konsequenz in der Ausrottung jüdischen Geistes und jüdischer Kunstformen kann die Gesundung unserer Kultur gewährleisten.“ Auch auf die Besprechung der vergleichenden musikethnologischen Forschungen zu den unterschiedlichen Tonsystemen durch Curt Sachs konnte Berls Publikation Einfluss nehmen. Vgl. Kreuz und Quer, Zur Wertbestimmung von morgen- und abendländischer Musik, in: Zeitschrift für Musik (Jan. 1931), 56: „Und wenn im letzten Jahrzehnt dieses wunderbare Tonsystem zerbrochen und durch eines ersetzt werden sollte, das [...] verzweifelte Ähnlichkeit mit orientalischen Systemen hatte, so wissen wir ja schon lange zur Genüge, wem wir dieses Geschenk zu verdanken haben; Musikern nämlich, denen ja allerdings unser Tonsystem zum Fluch geworden ist, weil sie sich in diesem, als ihrem innersten, nicht abendländischen Wesen fremd, nicht mehr zurecht fanden.“ 71 Über den Autor waren keinerlei biographische Daten zu finden. 72 Lauko, Die jüdische Musik (1926), 3.
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Sinne sah Lauko ebenfalls die Musik eines zukünftigen jüdischen Staates in der Rückkehr zu orientalischen Grundlagen73 und negierte das Schaffen einer national-jüdischen Musik durch assimilierte Komponisten des 19. Jahrhunderts.74 Indes argumentierte Lauko jedoch zugleich indirekt mit Herders Volksgeistlehre und ihrer Analogie zwischen Sprache, Kunst und Nation. Als ‚Volk ohne Land‘ hätten die Juden in der Diaspora keine direkte ‚Nationalkunst‘ mehr,75 obgleich die hebräische Sprache für den musikalischen Ausdruck sehr geeignet sei.76 Dem Juden wäre als ‚Orientale‘ eine charakteristische Sing- und Sprechweise eigen, die sich im ‚Näseln‘ und einem „Vibrieren mit der Stimme“77 äußere und nicht auf den synagogalen Gottesdienst beschränkt bliebe: Die hebräische Sprache schmiegt sich diesen besonders an; dermaßen, daß auch heute noch, wenn der Jude eine fremde Sprache spricht, er sofort erkenntlich wird, wenn nicht durch was anderes, so durch seine singende Redeweise [...].78
73 Lauko, Die jüdische Musik (1926), 77ff: „Die in jüngster Zeit erwachte Bewegung des Zionismus erweckte im Judentum das hebräische National-Selbstgefühl; da es den hebräischen Staat begründet hatte, mußte es ganz richtig daran denken, daß das Gepräge des selbständigen Staates, das selbständige National- und Rassen-Wesen auch in seiner Kunst zur Geltung komme. [...] Die Musik des neuen hebräischen Staates darf nicht aus dem Körper und Blut der christlichen Musik spriessen. Die Juden [...] müssen an die alte jüdische Musik anknüpfen!“ 74 Lauko, Die jüdische Musik (1926), 74f: „Wir können nicht jenen folgen, die in der heutigen Musikkritik-Literatur, in den Werken einzelner jüdischer Autoren die spezifischen jüdischen Rhythmen und Melodien-Keime mit großem Fleiß heraussuchen und ihre Freude darin finden, darauf hinzuweisen und sich damit zu brüsten, daß der betreffende Komponist in großem Maße orientalisch-jüdisch ist. Zur übermäßigen Freude ist kein Anlaß! Die Musik, welche diese genialen jüdischen Komponisten kultivieren – ist eine abendländische Musik, und wenn man in dieselbe auch jüdische Melodien, oder rhythmische Originalitäten hineinwebt, wird sie dadurch ebensowenig zur orientalischen, – zur jüdischen Musik, wie sie auch Debussy und seine Nachfolger nicht zur orientalischen Musik umgestalten, indem sie die typische Skala des Orients, die Ganztonskala in sie hineinbrachten.“ 75 Lauko, Die jüdische Musik (1926), 31f: „Die nationale Kunst ist nur so lange national und eine Kunst, solange sie der integrierende Teil der lebendigen und pulsierenden Kunst eines Volkes ist. Wir gehen sogar weiter! Das Wesen eines Volkes kann durch nichts so ausgedrückt werden, als durch seine Kunst, die spezielle Volkskunst der betreffenden Nation. Zeige mir die Kunst, eines Volkes, – und ich sage dir, ob jenes Volk eine Nation ist! [...] Der Staat der Hebräer hörte auf und damit hörte auch die jüdische Nationalkunst auf.“ 76 Lauko, Die jüdische Musik (1926), 14f: „Ist doch ihre herrliche, klangvolle, einfach schöne Sprache wie geschaffen um gesungen zu werden. Diese Sprache gehört zu jenen seltenen Sprachen, in welcher das Aneinanderdrängen der Konsonanten nicht vorkommt; hingegen das der Selbstlaute, wodurch sich das Melodiöse der Sprache noch mehr bekundet. Und wir sehen es tatsächlich, daß die Musik- und Gesangskultur der Juden jene der gleichzeitalterigen Völker überflügelt.“ Vgl. dazu auch die Ausführungen Forkels wie in Kapitel 3.2 Judenfeindliche Tendenzen in der Musikgeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts dargestellt, der gerade die angebliche Vokallosigkeit des Hebräischen als Indiz für den Mangel an musikalischen Fähigkeiten gewertet wissen wollte. 77 Lauko, Die jüdische Musik (1926), 50. 78 Lauko, Die jüdische Musik (1926), 55.
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Zwar konnotierte Lauko diese „singende Redeweise“, die für Richard Wagner und seine Zeitgenossen als ‚Mauscheln‘ zu einem protorassistischen Argument für das ‚jüdische Unvermögen‘ in der Musik wurde, positiv. Dennoch erschien auch bei Lauko in zionistischer Umdeutung die Sprechweise als unveränderliches, implizit biologistisches Merkmal,79 an dem die Juden selbst in der Diaspora kenntlich seien. Die jiddische Sprache, die schon Wagner als ‚Jargon‘ stigmatisiert hatte, war für Lauko ebenfalls gemäß den zeitspezifischen Ressentiments „ein bis zur Verzweiflung verdorbener Deutsch-Jargon“80 und ein „Hebel zur Germanisierung“,81 die im zukünftigen zionistischen Staat keine Bedeutung haben werde. Ebenfalls ursprünglich als Vortrag konzipiert war die vielbeachtete Studie Alte jüdische Spielleute und Musiker von Paul Nettl, in welcher der renommierte Musikwissenschaftler neben der althebräischen Synagogalmusik als einer der ersten die mittelalterliche, zumeist weltliche Musik von ‚jüdischen‘ Musikern und Komponisten untersuchte.82 In einem Einführungsabschnitt, in dem die Komponisten jüdischer Herkunft des 19. und 20. Jahrhunderts betrachtet wurden, übernahm Nettl allerdings – wie viele seiner Vorgänger – die Stereotype aus judenfeindlichem und antisemitischem Kontext. Mit der bis in das 18. Jahrhundert zurückreichenden Zuschreibung, dass die Juden „auch in der Musik Parvenus ohne jede Tradition und Vorbild“ seien, bemühte Nettl psychologische Erklärungsmuster für das ‚Phänomen‘ der ‚Juden in der Musik‘ seit der Wende zum 19. Jahrhundert. In einem hohen Maß an „ästhetischer Einfühlungsfähigkeit“ und der allgemeinen „jüdischen Anpassungsfähigkeit“83 sah Nettl den wichtigsten Grund für die große Zahl von Juden, die sich „auch in besonderem Maße der Musik bemächtigt“84 hätten:
79 Das der vereinzelt auftauchende Begriff der ‚Rasse‘ durchaus zum Teil biologistisch konnotiert war, zeigt die mit kulturchauvinistischem Unterton durchzogene Schilderung der ‚Orientalen‘. Diese hätten im Vergleich mit den Europäern minder entwickelte Ohren (37): „Diese Ohren sind, demnach nicht befähigt, die komplizierte Polyphonie und die Dissonanzen der modernen Musik aufzunehmen, sie dem Gehirne übermitteln und sie musikalisch genießen zu können.“ 80 Lauko, Die jüdische Musik (1926), 76. 81 Lauko, Die jüdische Musik (1926), 77. 82 Die Untersuchung stellte nach seiner Dissertation und Habilitation die erste Publikation Nettls (1889–1972) dar. 1927–1930 übernahm Nettl die Leitung des Musikwissenschaftlichen Instituts der Deutschen Universität in Prag. Beim Einmarsch der deutschen Truppen in Prag 1939 verlor Nettl aufgrund seiner jüdischen Herkunft die Stelle als musikalischer Direktor des Deutschen Rundfunks in der Tschechoslowakei und musste in die USA emigrieren. Als Professor für Musikwissenschaft wirkte er seit 1946 an der Indiana University in Bloomington, Indiana. Vgl. Thomas Atcherson, Ein Musikwissenschaftler in zwei Welten. Die musikwissenschaftlichen und literarischen Arbeiten von Paul Nettl. 83 Nettl, Alte jüdische Spielleute und Musiker (1923), 2. 84 Nettl, Alte jüdische Spielleute und Musiker (1923), 1.
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Man halte sich nochmals die ganz auffallende Erscheinung vor Augen, daß die Juden, in Rasse, Betätigung, Empfinden, Denken und Religion von ihren ‚Wirtsvölkern‘ vollständig verschieden, sich mit einem Schlag des dunkelsten, dem Verstande unzugänglichsten, weil vollständig im Unbewußten gelagerten Gebietes der Geistesbetätigung bemächtigen.85
Das den Juden vorgeworfene Stigma nur ‚nachschaffende‘ Komponisten zu sein, erschien bei Nettl ebenfalls als eine „typisch jüdische Eigenschaft“, als die „Fähigkeit, aus dem Kunstwerk den letzten Rest von Eigenart herauszuholen, in dem Kunstwerk restlos aufzugehen, ja gelegentlich Stileigentümlichkeiten direkt zur Manier zu karikieren“.86 Diese Form der ‚Karikatur‘ ließe sich als Gemeinsamkeit zwischen Mendelssohn Bartholdy, Mahler, Offenbach, dem Wiener Komponisten Alexander Krakauer sowie George Bizet, der Nettl als ‚Halbjude‘ galt, erkennen.87 Zeitkritisch wurden darüber hinaus die Juden mit dem modernen Musikbetrieb gleichgesetzt und in Anlehnung an Oswald Spengler in die Sphäre von Kapitalismus und urbanem Leben eingeordnet, zu deren Symbol sie geworden seien.88 Als Sinnbild des großen Erfolgs von Juden in der ‚oberflächlichen‘ Unterhaltungsmusik galt Nettl – ebenso wie vielen völkischen Autoren – Jacques Offenbach, der mit dem ‚Frivolen‘ und ‚Triebhaften‘ als typisch jüdische Eigenschaften zum Verderben des Publikumsgeschmacks beigetragen habe: Worin besteht der Erfolg der jüdischen Operette und des jüdischen Tanzschlagers? Daß sie das triebhaft Erotische, auf das die raffiniert-barbarische Gesellschaft von heute, die nur im Zeichen des Genusses und Gewinnes steht, eingestellt ist, im Rhythmus und Melodik erschließt.89
Neben derlei Übernahme antisemitischer Vorwürfe bemühte Nettl schließlich in seinen musikgeschichtlichen Erklärungsansätzen vereinzelt den allgegenwärtigen Gedanken der ‚rassischen‘ Ein- und Ausgrenzung. Dabei verankerte auch er seine Zuschreibungen bestimmter ‚jüdischer‘ Merkmale in dem bekannten dualistischen Schema zwischen Nord und Süd. So erklärte 85 Nettl, Alte jüdische Spielleute und Musiker (1923), 1. 86 Nettl, Alte jüdische Spielleute und Musiker (1923), 2. 87 Nettl, Alte jüdische Spielleute und Musiker (1923), 2. Nicht erst nach 1933 bildete sich die Verdächtigung Bizets als ‚Halbjuden‘ heraus, da dieser in die Halévy-Familie eingeheiratet hatte. Vgl. etwa den Artikel Die Abstammung Georges Bizets (in: Die Musik [Jan. 1938], 249), in dem schließlich festgestellt wurde, dass Bizet „einwandfrei als Arier zu gelten“ habe. 88 Nettl, Alte jüdische Spielleute und Musiker (1923), 3f: „[...] die Errichtung der Konzertdirektionen und Konzertagenturen ist zweifellos jüdischem Einflusse zuzurechnen. Und auch hier läßt sich der oben erwähnte Gegensatz jüdisch-arisch, Stadt-Provinz verfolgen [...]. Bedenkt man ferner, daß der erschreckende Zudrang zur ‚Künstlerlaufbahn‘, der die Überproduktion, das Übermaß und die nervöse Hast unseres Konzertwesens wesentlich beeinflußt, auf jener Eigenart des jüdischen Geistes beruht, sich vor allen anderem über das Normale und das Mittelmaß zu erheben, [...] so mag man eine weitere Quelle jüdischen Einflusses hier bloßgelegt haben.“ 89 Nettl, Alte jüdische Spielleute und Musiker (1923), 2.
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er den Erfolg des italienischen Madrigalkomponisten Salomon Rossi durch die ‚rassische‘ Verwandtschaft von Italienern und Juden: Der Jude und der Italiener gehören beide der Mittelmeerrasse an, sie haben beide in Aussehen und Körperbau große Ähnlichkeiten, ebenso in Temperament und Empfinden. In Italien war der Jude lange nicht in dem Maße Pionier der Kapitalswirtschaft wie in Deutschland, weil der eingeborene Italiener mit seinem ‚Normannenblut‘ selbst stark ausgeprägte Händlerinstinkte aufweist.90
In diesen polaren Argumentationsmustern bewegten sich auch Nettls Zuordnungen zur Instrumentalmusik, die er in Abgrenzung zu Vokalwerken als spezifischen Ausdruck einer ‚jüdischen Zügellosigkeit‘ sah.91 Zeigte sich bei Erwin Felber, Heinrich Berl und Paul Nettl ebenso wie bei anderen Autoren der Zeit die tendenzielle Beliebigkeit der ‚rassischen‘ Zuordnung musikalischer Sachverhalte und musikgeschichtlicher Phänomene, erschien vor dem Hintergrund des erstarkenden Antisemitismus 1930 erneut eine Abhandlung mit dem durch Wagner eingeführten Titel Das Judentum in der Musik von S. Levy.92 Ausgehend von dem antisemitischen Vorwurf, ‚die Juden‘ wären die ‚zersetzende‘ Kraft in der ‚deutschen‘ Musik, verfolgte Levy den Nachweis eines besonderen, positiv akzentuierten Verdienstes der deutschen Juden. Mit dieser Intention lieferte er einen Abriss zur Geschichte der Komponisten und Musiker jüdischer Herkunft, den 90 Nettl, Alte jüdische Spielleute und Musiker (1923), 4. 91 Nettl, Alte jüdische Spielleute und Musiker (1923), 15: „Daß die absolute Instrumentalmusik monodischer Färbung – im Gegensatz zur polyphonen Instrumentalmusik – die Domäne der drei bedeutendsten jüdischen Musiker (Rossi, Mendelssohn, Mahler) war, ist begreiflich. Der hemmungslose, ausschweifende Subjektivismus der Juden kann hier zügelloser walten als in der an technische Regeln gebundenen polyphonen Spielmusik oder in der an Worte festgelegten Vokalmusik.“ Die Tatsache, dass alle drei Komponisten Vokalwerke komponierten, blieb unerwähnt, allerdings fügte Nettl in einer Fußnote ein, dass sich Mahlers Lieder – gemäß der ‚jüdischen‘ Eigenart – kaum am eigentlichen Liedtext orientierten. Mahler wird in diesem Kontext mit seiner „heiße[n] Sehnsucht nach einem fremden Land, nach fremdem Wesen, nach einem anderen Ich“ zu einem Beispiel für den so genannten ‚jüdischen Selbsthass‘ stilisiert (16f): „Derartige Dispositionen manifestieren sich – wie auch die modernen Psychiater bestätigen – bei Juden viel häufiger als bei Nichtjuden. Der Jude verbindet mit seiner Sehnsucht nach der Vergangenheit eine unstillbare Sehnsucht, von seinem Ich loszukommen. Der Kulturjude empfindet die latente Tragik seiner Existenz [...]. Daher die so häufige seelische Disposition des Juden: Zurück zur Kindheit, die sich eben bei Mahler im Volkslied, im Gassenhauer, den ‚Leitmotiven‘ seiner Kindheit kundgibt“. Mit Berl übereinstimmend sah auch Nettl in Mahlers Werken spezifisch ‚jüdische‘ Charakteristika (28, Fußnote 1): „Wichtiger erscheint mir der Hinweis Berls auf das Feminine bzw. Infantile im Charakter des Juden, das sich in der Bevorzugung des Melos gegenüber der Harmonie ausdrückt. Die Beobachtung, daß bei Mahler äußere Vielfalt und innere Einfalt sich gegenseitig bekämpfen, ist sehr richtig beobachtet [...]. Seine primären Instinkte kämpfen gegen die von ihm übernommene ‚arische‘ Formenwelt.“ Nettls Fazit in diesem Zusammenhang erinnert an die antisemitische Agitation, welche die unterschiedlichsten musikalischen Strömungen unter dem Nenner einer ‚jüdischen Zersetzung‘ verstanden wissen wollte (28, Fußnote 1): „Das Wesen des Jüdischen ist so vielfältig und kompliziert, daß es sich nicht auf eine Formel bringen läßt.“ 92 Zu Levy ließen sich keine biographischen Daten ermitteln.
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er als direkten Beitrag zum „Abwehrkampf“93 verstanden wissen wollte. Neben dem kolportierten Titel setzte Levy auch inhaltlich den Ausgangspunkt bei Wagners früh-antisemitischen Anschuldigungen: Da fehlt nicht einer der vielen Vorwürfe, die Angst vor der eigenen Minderwertigkeit, Denkfaulheit und angeborener Haß und Verleumdungssucht von jeher gegen religiöse Minderheiten, besonders die Juden, vorzubringen wußten.94
In seiner Entkräftung dieser Schmähungen argumentierte Levy jedoch vor demselben Denkmuster einer exklusiven, deutsch-nationalen Musik, wenn er mit pathetischen Worten die Bemühungen, Verdienste und ‚Opfer‘ von Komponisten und Musikern jüdischer Herkunft für diese rühmte.95 Vor allem jedoch mit Blick auf Mahlers Werke konnte sich Levy in seiner Darstellung nicht von den antisemitisch gefärbten Stereotypen der zeitgenössischen Rezeption freimachen: Die alte, so vielen Juden eigene Sehnsucht nach einer anderen Welt, einem Untertauchen in einem anderen Ich, der faustische Drang nach Naturerkenntnis, nach den ‚Brüsten der Natur‘, nach dem Sinn des Lebens, der altererbte, halb-kabbalistische Zwang zum Grübeln und Graben in den Tiefen des Lebens und der Erde, alle diese Züge finden sich in seinen Werken.96
Diesen ‚jüdischen‘ Merkmalen in Mahlers Symphonien setzte Levy gleichzeitig die Hingabe an das ‚deutsche Volkslied‘ entgegen, symbolisiert in der Vertonung von Des Knaben Wunderhorn. Dabei wurde der Glaubens93 Levy, Das Judentum in der Musik (1930), 10: „[...] aus diesen Seiten soll dem deutschen Juden das Bewußtsein erwachsen: dein Abwehrkampf ist gerecht, [...] du bist nicht allein, das Buch der Geschichte spricht zu dir, liefert dir scharfe, doch gerechte Waffen für deinen Kampf um Klarheit und Wahrheit.“ 94 Levy, Das Judentum in der Musik (1930), 17. Levy erwies sich als genauer Kenner von Wagners Schriften und ging auch auf die frühen, Meyerbeer positiv gesonnenen Briefe und Schriften ein (20f), die von Julius Kapp 1910/11 in Die Musik zugänglich gemacht worden waren. 95 Levy, Das Judentum in der Musik (1930), 15: „Wir werden sehen, mit welcher Hingebung bis zum äußersten, mit welcher Leidenschaft die befreiten, aufnahmefähigen Juden der ersten Generation sich [...] der Musik des Abendlandes, ihrer neugewonnenen Weltbürgerheimat in die Arme warfen, wie dankbar sie jegliche Erweiterung ihres geistigen Horizontes, jede Verschönerung ihres Erlebens und Empfindens begrüßten, welche Anstrengungen sie machten, sich der Freiheit und Mitarbeit würdig zu zeigen. Unvergängliches haben sie geleistet an hingebungsvollem Verständnis, an opfermutigem Eintreten für ihre geistigen Führer und Freunde, eine Rahel Levin für Goethe, ein Markus Herz für Kant, ein Felix Mendelssohn-Bartholdy für Bach!“ An anderer Stelle heißt es (60): „Wir hoffen und glauben behaupten zu dürfen, daß dem Teil, den die deutschen Juden zu der Verwaltung deutschen Kulturgutes, zu der Pflege deutscher Kunst beigetragen haben, ein inneres Verpflichtungsgefühl, innere Verbundenheit zugrunde liegt, daß die Dankbarkeit [...] jener schönen Selbstverständlichkeit entspringt, die der Geprüfte und Befreite vor allen Anderen auf dem Altare der wahren Heimatliebe als Opfer darbringt“. 96 Levy, Das Judentum in der Musik (1930), 49. Vgl. Schmidt, Politisierung der deutschen Musik, 204: „Die Beschreibung Gustav Mahlers als Komponist durch S. Levy gleicht, bei diametral gegensätzlicher Bewertung, erstaunlich der eines Hans Joachim Moser oder eines Karl Blessinger.“
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wechsel Mahlers, den dieser als Bedingung seiner Ernennung zum Wiener Hofoperndirektor vollzogen hatte, zum Bekenntnis an die deutsche Heimat umgedeutet: Seine Stellung zum Deutschtum, zur Volksgenossenschaft ist gekennzeichnet durch den allesbeherrschenden Drang, sich der Erde der Heimat zu vermählen, ihre Töne in sich aufzunehmen, seinen Herzschlag in Einklang zu bringen mit den Pulsen, die sie durchglühen [...]. Daher seine Verbundenheit mit dem Volkslied, der Atemluft, die seine Lunge und sein Hirn nährt, daher auch sein Einklang mit den mystischen, bezaubernden Unterströmen der Kirche, dem er auch äußerlich durch Glaubenswechsel [...] glaubwürdigen Ausdruck verlieh.97
Obgleich Levys Betrachtungen das Ziel hatten, die Verbundenheit der deutschen Juden mit der deutschen Musikgeschichte aufzuzeigen, konnte auch er sich im Spannungsfeld zwischen ‚deutscher‘ und ‚jüdischer‘ Musik mit ihren jeweiligen assoziativen und zum Teil biologistischen Zuschreibungen nicht den tradierten judenfeindlichen und antisemitischen Schlagwörtern entziehen.98 Bei einer oberflächlichen Betrachtung der innerjüdischen Diskussionen um die ‚jüdische‘ Musik scheint diese befremdliche Übernahme und Umdeutung antisemitischer Anschuldigungen das einigende Merkmal der hier vorgestellten Schriften zu sein. Dieser Ansatz würde allerdings ohne den spezifischen zeitgeschichtlichen Hintergrund der zunächst offenen und breiten Erörterungen um den Gedanken der ‚Rasse‘ und den kulturzionistischen Kontext unvollständig bleiben. Zudem stellte sich die Debatte um eine national-jüdische Musik unter gänzlich anderen Vorzeichen dar als etwa die völkischen Hegemonialbestrebungen einer ‚deutschen‘ Musik. Die jüdische Minderheit in Deutschland führte ihre Rückbesinnung auf nationale Spezifika in der Musik primär im innerjüdischen Kreis und stellte so sowohl einen quantitativen als auch qualitativen Unterschied zu den deutsch-nationalistischen Bemühungen des gleichen Zeitraums dar. Größere Wirkung konnten die jeweiligen Publikationen allerdings entfalten, wenn einzelne Titel in den großen Musikzeitschriften rezipiert wurden. Dabei kam es zu regen Auseinandersetzungen innerhalb der jeweiligen Autorengruppe. 97 Levy, Das Judentum in der Musik (1930), 52. 98 Von Berls Umdeutungsversuchen distanzierte sich Levy allerdings vehement (62): „Seine Ueberladenheit mit metaphysischen Ungeheuerlichkeiten [...] und faktischen Unrichtigkeiten bedeuten für den vom historischen Standpunkt an die Frage herantretenden Beurteiler des Komplexes eine solche Vergewaltigung des jüdischen Teilnehmers am Kampfe (Berl selbst ist kein Jude!) [...], daß bei aller Anerkennung für den Fleiß und den vorgefaßten guten Willen des Autors, die Zumutung, sich wissenschaftlich mit ihm auseinanderzusetzen, als Angriff an zwei verschiedenen Hebelpunkten abgelehnt werden muß. [...] Gegen Schatten [...] kämpft man nicht [...]. Und der Schatten im Blick des Beschauers bedarf des Arztes, nicht des Ästheten.“
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Jenseits der argumentativen und inhaltlichen Unterschiede der einzelnen Positionen, welche die Heterogenität jüdischen Lebens bezeugen, lässt sich zugleich zeitspezifisch die weite Verbreitung von biologistisch gefärbten Vokabeln wie ‚Nation‘ und ‚Volk‘ nachweisen, die mit dem Begriff der ‚Rasse‘ verschmolzen. In diesem Kontext wurden auch andere Merkmale des ‚Rasse‘-Gedankens von jüdischer Seite aufgegriffen. Die Annahme einer unbewussten, bindenden jüdischen ‚Substanz‘ ebenso wie die Mystifizierung des ‚Gefühls‘ als Entscheidungsmerkmal für die nationale Zugehörigkeit, aber auch polare Gegensatzkonstruktionen mit assoziativen Analogien, die auf das ‚jüdische‘ Musikschaffen übertragen wurden, weisen auf die prägende Wirkung einer ‚rassenkundlich‘ gefärbten Musikbetrachtung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Obgleich in dem skizzierten Musikschrifttum stereotyp abwertende Stigmata übernommen und als positive Kriterien umzudeuten versucht wurden, gelang eine Entkräftung der Anschuldigungen als Teil des antisemitischen Abwehrkampfs nicht.99 Vielmehr fand – zumal wenn die innerjüdischen Positionen in die nichtjüdische Musikliteratur übergingen – eine erneute Umdeutung von antisemitischer Seite statt.100
99 Die kulturzionistisch geprägte Musikliteratur wirkte auch nach 1933, wenn sich stigmatisierende Namensauflistungen direkt des innerjüdischen Schrifttums bedienten. Gleichzeitig scheinen die unterschiedlichen – aus heutiger Sicht nur historisch nachvollziehbaren – Auflistungen jüdischer Musiker und Komponisten beinahe als ein Äquivalent zu diesen schwarzen Listen. Die Zusammenstellungen von jüdischer Seite markierten sowohl eine Reaktion auf die NS-Verfolgungspolitik als auch eine Resonanz auf die Suche nach einer jüdischen Identität in der Musik. Vgl. etwa Julius Sachs, Der Jüdische Musikalien-Katalog. Die wichtigsten Werke jüdischer Komponisten (1936), 3: „Mit Stolz kann man auf die Künstler und ihre Werke blicken, die dieses Buch füllen. Und wenn sich die Gelehrten noch nicht darüber einig sind, ob es eine jüdische Volksmusik gibt, so steht doch fest, daß Musik von Juden reich an Genialität ist und daß es wichtig ist, sie zu pflegen im jüdischen Haus, im Konzertsaal oder bei feierlicher Gelegenheit.“ Auch noch im Lexikon des Judentums von 1967 finden sich unter dem Stichwort „Musiker, jüd.“ sowie „Musikkritiker und Musikschriftsteller“ jeweilige Auflistungen, die folgendermaßen eingeleitet werden (532): „Weit mehr noch als in der Literatur sind Juden, spezifischen musikalischen Anlagen entsprechend, als Schaffende u. Nachschaffende in den Vordergrund getreten.“ 100 Die seit dem 18. Jahrhundert im Musikschrifttum zu beobachtende rhetorische Figur, stereotype Abwertungen der ‚Juden in der Musik‘ durch Verweise auf ‚jüdische Autoritäten‘ zu untermauern, konnte auch hier eine Anwendung finden.
6. Der Topos des Juden im nazistischen Musikschrifttum Der Topos im NS-Musikschrifttum Der Topos im NS-Musikschrifttum Im Januar 1933 verschoben sich die Machtverhältnisse in Deutschland zugunsten des Antisemitismus. Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung am 30. Januar und der Reichstagswahl am 5. März 1933 kam eine Partei an die Befehlsgewalt, die seit ihrer Gründungsphase in den 20er Jahren die Judenhetze als integralen „Bestandteil eines umfassenden politischen Konzepts“ benutzte.1 Zur „Konsolidierung der neu etablierten Herrschaft und planmäßig angewendet zur moralischen Diskreditierung, sozialen Diffamierung und rechtlichen Diskriminierung der jüdischen Minderheit in Deutschland“2 trat schon bald nach der Ernennung Hitlers als Reichskanzler und dem nachfolgenden Prozess der nazistischen Machteroberung und Gleichschaltung eine Gesetzgebung in Kraft, deren Ziel die vollständige Eliminierung der Juden aus dem öffentlichen Leben3 und damit auch aus dem Musikleben war. Mit dem so genannten ‚Ermächtigungsgesetz‘4 vom 24. März 1933 als Reaktion auf den Reichstagsbrand am 27. Februar wurde die Grundlage für weitere Gesetze geschaffen, durch die politische Gegner, Juden und unliebsame Personen ihre ökonomische Position und gesellschaftliche Stellung verloren. Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 besagte, dass nur Personen ‚arischer‘ Herkunft als Beamte und 1 Rürup, Emanzipation und Antisemitismus, 112. In dem 25-Punkte-Programm der NSDAP vom 24. Februar 1920 dominierten neben anti-kapitalistischen besonders nationalistische und antisemitische Zielsetzungen. Vgl. hierzu die Doppelfunktionsthese des Historikers Helmut Berding (Moderner Antisemitismus, 201f), der den Antisemitismus sowohl für die Binnenintegration der Partei als auch für die Gewinnung neuer Anhänger von zentraler Bedeutung sieht. 2 Wolfgang Benz, Die Juden im Dritten Reich, in: Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke/ Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Deutschland 1933–1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, 274. 3 Neben der zunehmenden Verschärfung der rechtlichen Situation für die deutschen Juden agierte die NSDAP auch gezielt mit ‚spontanen‘ Terrorisierungen. Der Aprilboykott 1933 setzte ein deutliches Zeichen, dass die jüdische Basis in Deutschland durch die neuen Machthaber erschüttert werden sollte. Gleichzeitig dienten die ausländischen, angeblich ‚jüdisch unterwanderten‘ Proteste gegen derlei Boykottaktionen als Vorwand für die künftige offizielle Judenpolitik. Ein weiteres Signal der neuen Kulturpolitik wurde am 10. Mai 1933 durch die überregional organisierte Bücherverbrennung gesetzt. Im November 1938 schließlich führten die in der so genannten ‚Reichskristallnacht‘ landesweit organisierten Pogrome zu einem gesellschaftlichen Vandalismus, der die Deportation und Ermordung der deutschen Juden vorbereitete. 4 Eigentlich Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich. Dieses Gesetz hob die Gewaltenteilung der Weimarer Republik auf und ermöglichte es der Regierung, ohne Mitwirkung des Reichstags und des Reichsrats Gesetze zu erlassen.
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Staatsangestellte angestellt werden durften.5 Mit dem aus der Sprachwissenschaft entlehnten Begriff des ‚Ariers‘ wurde eine neue, fiktive Norm in die Gesetzgebung eingeführt. Für die deutschen Juden bedeutete das ‚Berufsbeamtengesetz‘ den Verlust ihrer öffentlichen Ämter und Stellungen auch im Musikbereich. Ebenfalls im April 1933 wurde das Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen durchgesetzt, das die Ausbildungsmöglichkeiten jüdischer Studenten stark eingeschränkte. Damit wurden jüdische Dozenten und Studenten sukzessive aus dem musikalischen Lehrbetrieb an Universitäten und Musikhochschulen entfernt. Eine weitere legislative Zäsur markierten die Nürnberger Rassegesetze vom September 1935. Neben dem Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre, das Eheschließungen auf ‚rassischer‘ Grundlage regeln sollte,6 diente vor allem das Reichsbürgergesetz mit der Verfügung, dass nur ‚Arier‘ Reichsbürger mit entsprechenden Rechten sein konnten, der völligen Entrechtung der deutschen Juden. Zudem lieferten die Nürnberger Rassegesetze eine an der Ahnentafel orientierte scheinbare Definition,7 wer unter die Kategorie ‚Arier‘ und ‚Jude‘ zu rechnen sei.8 Bereits im Frühjahr 1933 lagen Pläne für die dirigistische Zentralisierung der Presse, des Schrifttums, des Theaters, des Rundfunks, der bildenden Kunst und der Musik vor, die im September des gleichen Jahres verwirklicht wurden: Schon kurz nach der Machtübernahme war in Preußen Hans Hinkel tätig geworden, der im Auftrag des Kultusministeriums die ‚Entjudung des deutschen Kulturlebens‘ in Angriff nehmen sollte. [...] Die Tätigkeit Hinkels war jedoch nur ein Vorspiel zu den umfassenderen Plänen Goebbels’. [...] Am 15. September 1933 legte dann das Propa-
5 Für ‚Nichtarier‘ galt eine Kündigungsfrist von einem Monat, die allerdings intern häufig umgangen wurde mit der Begründung, die jeweiligen Personen seien ‚politisch unzuverlässig‘. Vgl. Uwe Dietrich Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, 64: „Die Bedeutung des Gesetzes liegt aber darin, daß es im Sinne einer Zäsur den Anfangspunkt eines neuartigen politischen Verständnisses hinsichtlich der gesetzlichen Behandlung von Minderheitsgruppen markierte und ein Signal setzte, das von keinem der Betroffenen übersehen werden konnte.“ 6 Eheschließungen zwischen ‚Juden‘ und ‚Nichtjuden‘ wurden von Rechts wegen verboten. Darüber hinaus galt ein außerehelicher sexueller Kontakt zwischen beiden Gruppen als ‚Rassenschande‘. 7 Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, 131: „Die einzig entscheidende Frage, wer denn nun eigentlich ‚Jude‘ ist, wurde von beiden Gesetzen nicht beantwortet. Man übertrug vielmehr die Lösung dieses Problems auf die zwischen dem Innenministerium und der Partei auszuhandelnden Rechtsvorschriften und ließ bis zu deren Erlaß ein Rechtsvakuum offen, das sowohl die Betroffenen wie die Staatsbehörden in einen Zustand zunehmender Unsicherheit versetzte.“ 8 Für das Verdikt ‚nicht-arisch‘ genügte es, wenn ein Eltern- oder Großelternteil dem jüdischen Glauben angehörte. Damit war, wie Raul Hilberg (Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1, 70–84) feststellt, entgegen der NS-Verlautbarungen eben nicht die ‚Rasse‘ das Ausschlusskriterium, sondern die Religion und „zwar nicht etwa die Religion der betroffenen Person, sondern ausnahmslos die Religion der Vorfahren“ (71).
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gandaministerium die Entwürfe zu einem Reichskulturkammer- und einem Schriftleitergesetz vor.9
Die Einrichtung der Reichskulturkammer mit ihrer Unterorganisation der Reichsmusikkammer, in NS-Selbstdarstellungen als „innere[...] Neugestaltung des deutschen Musiklebens“10 emphatisch gefeiert, diente als Kontrollinstitution der effektiven Überwachung der musikpolitischen Ziele der Nationalsozialisten. Schon vor 1933 waren erste Pläne einer zentralistischen staatlichen Organisation des Musiklebens in engem Kontakt zwischen der NSDAP und dem 1929 gegründeten Kampfbund für deutsche Kultur entstanden.11 Als einer der Initiatoren des Kampfbundes erhoffte sich Alfred Rosenberg nach 1933 die Aufsicht über die neuzugründende Reichskulturkammer. Diese zentrale Überwachungsinstitution mit der ihr innewohnenden ökonomischen Machtposition wurde allerdings dem Propagandaministerium unter Joseph Goebbels unterstellt:12 Der RKK-Gesetzgebungsakt sicherte dem NS-Regime im kulturellen Bereich nicht nur ein Macht- und Finanzpotential ohnegleichen, denn sämtlichen Zwangsmitgliedern wurden selbstverständlich Beiträge und zusätzlich eine Aufnahmegebühr abverlangt, sondern er offenbarte auch, welche Rolle den Künstlern und den Künsten im NS-Staat zugedacht war: Mit der Errichtung der RKK durch das neu gegründete Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda [...] wurden den Künsten a limine propagandistische, d.h. politische Funktionen zugewiesen.13
Die Richtlinien für die Aufnahme in die Reichsmusikkammer waren anfangs bewusst unklar und enthielten sich eines direkt antisemitisch formulierten Paragraphen. Konnte zunächst, abhängig von der „erforderlichen Zuverlässigkeit und Eignung“14 eine Aufnahme verweigert werden, wurde die staat9 Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, 78. Mithilfe des so bezeichneten ‚Schriftleitergesetzes‘ wurden die deutschen Juden aus den Presseberufen entfernt. 10 Heinz Ihlert, Die Reichsmusikkammer. Ziele, Leistungen und Organisation (1935), 10. 11 Die Gründung des Kampfbund für deutsche Kultur (KfDK) seinerseits entstand aus einer Umbenennung der Anfang 1928 begründeten Nationalsozialistischen Gesellschaft für deutsche Kultur-nationalsozialistische wissenschaftliche Gesellschaft. Vgl. Hildegard Brenner, Kunstpolitik des Nationalsozialismus, 8–11. Ausführlich auch bei Gerhard Splitt, Die ‚Säuberung‘ der Reichsmusikkammer. Vorgeschichte – Planung – Durchführung (in: Musik in der Emigration, 25): „Gerade aufgrund seiner politischen Anonymität bzw. seiner verschleierten Parteizugehörigkeit sollte der KfDK vor allem Nichtmitglieder der NSDAP und bedeutende Persönlichkeiten des Kulturlebens, die jegliche Bindung an eine Partei und insbesondere die Hitlers ablehnten, erreichen.“ 12 Damit begründete sich in der Folgezeit ein Machtkampf zwischen Goebbels und dem 1934 berufenen Leiter der Nationalsozialistischen Kulturgemeinde. Vgl. Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem. 13 Splitt, Die ‚Säuberung‘ der Reichsmusikkammer, 39f. 14 § 10 der Ersten Durchführungsverordnung zum Reichskulturkammergesetz, zit. nach Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, 79. Vgl. auch Wer ist zur Musikausübung berechtigt? (in: Die Musik [Mai 1935], 615f).
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liche Musikbehörde ab 1935 zum Instrument, allen jüdischen Musikschaffenden die Ausübung der in den jeweiligen Unterkammern organisierten Berufe zu verbieten. Aufgrund eines „Nichtarier-Fragebogens“, der sich zum einen an den Entwürfen des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums,15 zum anderen an den Nürnberger Rassegesetzen orientierte,16 wurde sowohl die ‚arische‘ Abstammung als auch eine eventuelle politische Vorgeschichte abgefragt: Was das für die ca. 8.000 zunächst in der RMK (zwangs)organisierten Juden und ‚Mischlinge‘ bedeutete, war aufgrund der zum ‚Nichtarier‘-Fragebogen ergangenen Verfügungen klar: Ausschluß aus der RMK, d.h. Berufsverbot.17
Bereits im Juni 1933 war der Kulturbund deutscher Juden gegründet worden, der sich im April 1935 in Jüdischer Kulturbund umbenannte.18 In Selbstorganisation entstanden in Städten mit großen jüdischen Gemeinden wie Berlin, Frankfurt, Stuttgart, München, Hamburg, Köln, Düsseldorf und anderen Orten Kulturbünde, welche die „drastische wirtschaftliche Benachteiligung und kulturelle Ghettoisierung“19 der deutschen Juden aufzufangen suchten. Bis zu seinem offiziellen Verbot am 1.1.1939 existierte der Reichsverband der jüdischen Kulturbünde,20 der als Dachorganisation mit Sitz in Berlin für alle Jüdischen Kulturbünde im Reich gegründet worden war. In den hier zusammengefassten lokalen jüdischen Organisationen gelang es inmitten der legislativen Schikane, gesellschaftlichen Diffamierung und staatlichen Terrorisierung der jüdischen Minderheit in Deutschland ein autonomes, musikalisch-kulturelles Leben auf höchstem Niveau aufrecht zu erhalten.21 15 Vgl. „Fragebogen zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 (Reichsgesetzbl. I, S. 175)“, abgedr. in Brenner, Kunstpolitik des Nationalsozialismus, 181f. 16 Vgl. Splitt, Die ‚Säuberung‘ der Reichsmusikkammer, 39. Hier (46f) auch Abdruck des zunächst streng vertraulichen „‚Nichtarier‘-Fragebogens der RMK von 1934“. 17 Splitt, Die ‚Säuberung‘ der Reichsmusikkammer, 49. 18 Diese Umbenennung musste aufgrund eines Gestapo-Verweises, dass es keine ‚deutschen Juden‘ gäbe, erfolgen. 19 Splitt, Die ‚Säuberung‘ der Reichsmusikkammer, 51. Vgl. auch Bernd Sponheuer, Musik auf einer ‚kulturellen und physischen Insel‘. Musik als Überlebensmittel im Jüdischen Kulturbund 1933–1941 (in: Musik in der Emigration, 117f): „Das Dilemma lag darin, daß das emphatische Insistieren auf der jüdischen Identität unter den Bedingungen des Zwangs einen unaufhebbaren Doppelcharakter annahm; Selbstbestimmung und Fremddefinition ließen sich nicht voneinander trennen: Was auf der einen Seite einen Akt der positiven Identifikation darstellte, war auf der anderen Seite ein Einschwenken in den von den Nazis vorgezeichneten Rahmen einer jüdischen Abgesondertheit.“ 20 Die Berliner Ersatzorganisation, der Jüdische Kulturbund, konnte bis 1941 existieren. 21 Die Überwachung des Jüdischen Kulturbundes unterstand Hans Hinkel, dem Leiter eines Sonderreferats im Propagandaministerium. Zwar konnten bis 1937 noch deutsche Komponisten aufgeführt werden, aber die Konzertprogramme der Kulturbünde stellen sich allmählich auf Komponisten jüdischer und ausländischer Herkunft um. Zu den Jüdischen Kulturbünden vgl. unter
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Schon 1925 hatte Adolf Hitler in seiner Niederschrift Mein Kampf keinen Zweifel an den aggressiven Zielsetzungen der NSDAP gelassen. Unter dem Titel, der angeblich in bewusster Anlehnung an Richard Wagners Autobiographie Mein Leben gewählt worden war,22 verbarg sich ein verworrenes Konglomerat autobiographischer Skizzen, autoritärer Allmachtsphantasien und radikalisierter Vorstellungen eines auf rassistischen Kriterien aufzubauenden nationalistischen Staats. Der völkischen Agitation fügte Hitler mit seinen repetierenden, eingängig erscheinenden Phrasen der Glorifizierung des ‚Ariers‘ und den kanonisierten antisemitischen Verdächtigungen der 20er Jahre gegenüber ‚den Juden‘ keinerlei neue Aspekte hinzu. Der ‚Arier‘ erschien bei ihm als schöpferischer „Kulturbegründer“,23 ja sogar als „Urtyp dessen [...], was wir unter dem Wort ‚Mensch‘ verstehen“,24 dem ‚der Jude‘ als „Kulturzerstörer“ dualistisch gegenübergestellt wurde. In künstlerischen Dingen könne dieser nur ‚unoriginär‘ und ‚nachahmend‘ sein:25 Als wesentliches Merkmal bei der Beurteilung des Judentums in seiner Stellung zur Frage der menschlichen Kultur muß man sich immer vor Augen halten, daß es eine jüdische Kultur niemals gab und demgemäß auch heute nicht gibt, daß vor allem die beiden Königinnen aller Künste, Architektur und Musik, dem Judentum nichts Ursprüngliches zu verdanken haben. Was es auf dem Gebiete der Kunst leistet, ist entweder Verballhornisierung oder geistiger Diebstahl. Damit aber fehlen dem Juden jene Eigenschaften, die schöpferisch und damit kulturell begnadete Rassen auszeichnen.26
Unter der schlichten Polarisierung zwischen einem ‚guten, arischen‘ und einem ‚zerstörenden, jüdischen‘ Prinzip in Geschichte und Gegenwart kolportierte Hitler die gängigen antisemitischen Anschuldigungen. Die „Verfallserscheinungen“ und „Erkrankungen“27 der zeitgenössischen Weimarer anderem Fred K. Prieberg, Musik unter dem Davidsstern (in: ders., Musik im NS-Staat, 78–106); Akademie der Künste (Hg.), Geschlossene Vorstellung: Der Jüdische Kulturbund in Deutschland 1933–1941; Eike Geisel/Henryk M. Broder, Premiere und Pogrom. Der jüdische Kulturbund 1933–1941; Eva Hanau, Die musikalischen Aktivitäten des Jüdischen Kulturbunds in Frankfurt am Main (in: Verfemte Musik. Komponisten in den Diktaturen unseres Jahrhunderts, 79–87); Stephan Stompor, Uraufführungen 1933–1941 im Jüdischen Kulturbund und durch weitere jüdische Ensembles in Berlin und anderen Städten (in: Verfemte Musik, 65–78). 22 Splitt, Die ‚Säuberung‘ der Reichsmusikkammer, 20. 23 Adolf Hitler, Mein Kampf, 1. Bd.: Eine Abrechnung (1925), 2. Bd.: Die nationalsozialistische Bewegung (1927), zit. nach der einbändigen Ausgabe 331933, 318: „Würde man die Menschheit in drei Arten einteilen in Kulturbegründer, Kulturträger und Kulturzerstörer, dann käme als Vertreter der ersten wohl nur der Arier in Frage.“ 24 Hitler, Mein Kampf (1933), 317. 25 Hitler, Mein Kampf (1933), 331: „Daher ist das jüdische Volk bei allen scheinbaren intellektuellen Eigenschaften dennoch ohne jede wahre Kunst, besonders aber ohne jede eigene. Denn was der Jude heute an Scheinkultur besitzt, ist das unter seinen Händen meist schon verdorbene Gut der anderen Völker.“ 26 Hitler, Mein Kampf (1933), 332. 27 Hitler, Mein Kampf (1933), 284.
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Jahre seien nur möglich geworden durch den Erfolg eines ‚jüdischen Herrschafts- und Vernichtungswillen‘. Mithilfe des Kapitalismus, der internationalen Politik, aber auch des „Bolschewismus in der Kunst“28 hätten sich ‚die Juden‘ gegen die deutsche Nation verschworen. Das stigmatisierende Kompositum „artfremd“,29 das dem Vokabular der ‚Rassentheorien‘ entstammt, zeigt hierbei deutlich die Akzente des Antisemitismus nach 1933. Wurden die deutschen Juden in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Judenfeindschaft als ‚Fremde‘ stigmatisiert, ergänzte der moderne Antisemitismus diesen Gedanken mit dem Begriff der ‚angeborenen Art‘ als Synonym für ‚Rasse‘. Aus dieser ‚Artfremdheit‘ und dem angeblichen ‚Zerstörungswillen‘ leitete Hitler die Berechtigung ab, gegen den imaginären inneren Feind, die jüdische Minderheit in Deutschland, vorzugehen. In seiner Kulturpolitik verfolgte er zwei Ziele: die nationale Erschaffung von künstlerischen Erfolgswerken und die Auslöschung des ‚Kunstbolschewismus‘ aus dem kulturellen Leben. Wenngleich die konkrete NS-Musikpolitik aufgrund von widerstrebenden persönlichen Interessen der unterschiedlichen Organisationen aus heutiger Sicht äußerst widersprüchlich und inkonsequent erscheint,30 spiegelten sich Hitlers Zielsetzungen als einheitliche Propaganda-Kampagne innerhalb der Musikliteratur zwischen 1933 und 1945. Während der Nationalsozialismus die Musik als ‚deutsche Kunst‘ primär für ideologische und propagandistische Zwecke zu funktionalisieren gedachte, wurden in den ‚gleichgeschalteten‘ zeitgenössischen Musikzeitschriften wie Die Musik oder die Zeitschrift für Musik31 die „Neue[n] Aufgaben und Wege der deutschen Musik“32 im Rahmen einer „musikalischen Gesamtreform“33 emphatisch gefeiert34 und neutral als „Umbildung“ und „Umbau“ formuliert.35 Mit dem nationalistischen Diktum auf Grundlage des Abstammungsstolzes und der fixen Idee der ‚Blutreinheit‘ sollte die Vor28 Hitler, Mein Kampf (1933), 283. 29 Arteigene und artfremde Musik, in: Völkischer Beobachter (10.11.1931). 30 Zu Hitlers Anschauungen und den sich zum Teil widersprechenden kulturpolitischen Vorgaben der führenden NS-Ideologen vgl. Thomas Mathieu, Kunstauffassungen und Kulturpolitik im Nationalsozialismus. 31 Vgl. zu den „Gleichschaltungsmechanismen“ der führenden Musikzeitschriften Lovisa, Die Musikzeitschriftenlandschaft (in: ders., Musikkritik im Nationalsozialismus, 21–195). 32 Hermann Unger, Neue Aufgaben und Wege der deutschen Musik, in: Die Musik (Okt. 1933); Walter Krug, Neue Wege deutscher Musik, in: Zeitschrift für Musik (Aug. 1933). 33 Kurt Herbst, Leitfaden zu einer musikalischen Gesamtreform, in: Die Musik (Jan. 1936). 34 Die staatliche Neuorganisation mit Einrichtungen wie der Reichsmusikkammer brachte jedoch auch Vorteile, allerdings nur für die ‚deutschen‘ Musikschaffenden. Vgl. Jutta Lambrecht, ‚Nicht jede Musik passt für jeden...‘. Anmerkungen zur Musik im Dritten Reich, 143: „Sie [die RMK] war z.B. maßgeblich beteiligt an der Verlängerung des Urheberschutzes auf fünfzig Jahre; sie unterhielt die zentrale Stellenvermittlung; der Einheitsvertrag für Musiker bedeutete für diese sozialen Fortschritt, der jedoch durch politische Gegenleistungen oft recht teuer erkauft werden mußte.“ 35 Ferdinand Beussel, Im Zeichen der Wende, in: Die Musik (Juni 1933), 675.
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herrschaft deutschen Musikschaffens gewährleistet werden. Obwohl die meisten NS-Definitionsversuche nationaler Charakteristika einer Musik „aus deutschem Gemüt und deutschem Geblüt“36 scheiterten, durchzieht die nachdrückliche Betonung ‚national-sozialistischer Qualitäten‘37 die gesamte Musikliteratur der Zeit. Die ‚Weltherrschaft deutschen Wesens und germanischer Kultur‘ sollte sich besonders durch und mit Musik ausdrücken. Während die ‚musikalische Rassenkunde‘ ihren Forschungsgegenstand zur „nordisch-germanischen Musik“ erweiterte und jenseits nationalstaatlicher Grenzen die artifizielle Mehrstimmigkeit und den Dreiklang als spezifisch ‚deutsch‘ reklamierte, erfanden andere Autoren zum Beispiel eine typisch ‚deutsche‘ „Weltweite“,38 indem sie sich auf Aussagen verstiegen wie: Der Gedanke des Sichreckens ist das Deutsche, des Sichsammelns das Undeutsche in der Musik.39
Zentrale ideologische Floskeln der NS-Agitation wie die imaginäre „Volksgemeinschaft“,40 das ‚naturgesetzliche‘ „Heimatgefühl“41 oder die ‚Tiefe‘ des „deutsche[n] Wesen[s]“42 und der ‚deutschen‘ (Volks-)„Seele“43 wurden auch in der Musikliteratur unermüdlich wiederholt und ersetzten substanzielle Aussagen. Die „Nationalisierung der deutschen Musik“44 vollzog sich auf plakativ-oberflächlichen Ebenen. Neben einer Konzentration auf den Kanon ‚notorisch deutscher‘ Komponisten wie Beethoven und 36 Georg Gräner, Deutsche und undeutsche Musik, in: Die Musik (Nov. 1933), 91. 37 Wie im Wort ‚National-Sozialismus‘ angelegt, verknüpfte die NS-Ideologie „antikapitalistische[...] Demagogie und imperialistische[...] Praxis“ (Reinhard Opitz, ‚Raum‘, ‚Rasse‘, ‚Volk‘. Über den Zusammenhang von Programm, Ideologie und Ideologiepolitik des deutschen Faschismus, in: Heister/Klein, Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland, 41). Die Propaganda grenzte einen ‚nationalen Sozialismus‘ gegen den ‚marxistisch-jüdischen Sozialismus‘ ab. In der Musikpolitik schlug sich die ‚national-sozialistische‘ Idee mit Forderungen nach einer völkischen ‚Gmeinschaftsmusik‘ nieder und der aus der ‚Volksgemeinschaft‘ abgeleiteten neuen Bedeutung der Volksmusik, die Ursprünglichkeit und Beständigkeit suggerieren sollte. 38 So in dem berüchtigten Aufsatz Was ist deutsche Musik? Erkenntnisse und Folgerungen des damaligen Hauptschriftleiters der Zeitschrift Die Musik Friedrich W. Herzog (in: Die Musik [Juli 1934], 801). Die Formulierung geht jedoch auf den Aufsatz Die künstlerische Bestimmung der deutschen Musik des Musikers Alfred Burgartz zurück (in: Deutsches Musikjahrbuch [1924/25]). 39 Herzog, Was ist deutsche Musik? (Juli 1934), 802. 40 Ludwig Weber, Musik und Volksgemeinschaft, in: Die Musik (Nov. 1934). 41 Johannes Brockt, Heimatgefühl und Fremdidee in der Musik, in: Die Musik (Jan. 1934). 42 Hans Severus Ziegler, Entartete Musik. Ein Abrechnung (1939), 4: „Im wahrhaft schöpferischen Prozeß entscheidet allein der vollschöpferische Mensch, [...] der die deutsche Seele zum Klingen bringen und durch sein Kunstwerk deutsches Wesen sich offenbaren lassen will.“ 43 Alexander Franck, Deutsche Musik – Deutsche Berichte!, in: Die Musik (Febr. 1937), 351: „Wir glauben: wo deutsche Meister und deutsche Künstler in Tönen die tiefsten Geheimnisse der deutschen Seele künden dürfen, wo deutsche Sänger und deutsche Chöre deutsche Lieder als höchstgesteigerten Ausdruck unseres Sprachvermögens erklingen lassen, dort müßte sich auch der Kunstbericht derselben deutschen Sprache befleißigen!“ 44 Willi Hille, Nationalisierung der deutschen Musik, in: Die Musik (Juni 1933).
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Wagner45 wurde die vehemente Repetition der Epitheton ‚deutsch‘ im Musikschrifttum ebenso erwartet wie eine Abkehr von Fremdworten, etwa durch die Umbenennung des Musikkritikers in „Musikberichter“,46 der nunmehr einzig auf Grundlage von „Blut und Gesinnung“ beurteilen sollte.47 Scheinbar ließen sich die vergeblichen Bemühungen, die „deutsche Musik“ zu definieren, am einfachsten durch deren Gegenüberstellung mit einer „undeutschen Musik“48 umgehen. Vor dem Hintergrund der Spenglerschen Untergangsfantasien mit Kulturkrise und Kulturverfall wurde der Kampf um die deutsche Musik49 ausgerufen. In simpelsten dichotomen Gegeneinandersetzungen postulierte man den „Kampf des Heimatgefühls gegen die Fremdidee“50 und appellierte an das Ringen der „völkische[n] Eigenart gegen fremde Einflüsse“51 ganz im Sinn der dritten Richtlinie der von Joseph Goebbels 1938 aufgestellten „Zehn Grundsätze deutschen Musikschaffens“: Judentum und deutsche Musik, das sind Gegensätze, die ihrer Natur nach in schroffstem Widerspruch zueinander stehen.52
Mit deutlichem Rekurs auf die völkisch-antisemitische Agitation der 20er und 30er Jahre erweiterten sich nach 1933 die Beschimpfungen gegen die ‚jüdischen Feinde‘ der ‚deutschen‘ Musik. Zwar blieben die aus dem 19. Jahrhundert transformierten, nun biologistisch unterfütterten Stereotype weiterhin präsent, gleichzeitig wurde dem ‚Judentum in der Musik‘ jedoch eine Vorsätzlichkeit und Absichtlichkeit ihres angeblich destruktiven Potentials unterstellt. Nicht mehr nur ‚Unoriginalität‘ und ‚Nachahmung‘ seien 45 Hille, Nationalisierung der deutschen Musik (Juni 1933), 668: „Beethoven und Wagner – das sind die beiden Exponenten urdeutschen Musikertums und damit zugleich die Gegenpole des deutschen Wesens schlechthin, denn in der Musik vermag sich der deutsche Genius wohl am reinsten und tiefsten zu offenbaren. Beethoven ist sittlicher Träger des mystischen Pathos (im Faustsymbol verkörpert), wie Wagner Künder des heroischen Pathos ist (in der Siegfriedsage gestaltet). [...] jedem deutschen Menschen mit Persönlichkeitskultur wohnen diese beiden geistigseelischen Lebensmächte von den Ahnen her im Blut. [...] (Und gerade auch in der Individualität Adolf Hitlers finden wir diese beiden arteigenen Innengewalten in selten glücklicher und fruchtbarer Mischung vereinigt.)“. 46 Franck, Deutsche Musik – Deutsche Berichte! (Febr. 1937), 351f. 47 Herbert Gerigk, Auslandspresse und Deutsche Musikpolitik, in: Die Musik (Jan. 1935), 250: „Nicht der Grad der Begabung allein darf bestimmend sein für die Beurteilung eines Künstlers, sondern an erster Stelle sind es Blut und Gesinnung.“ 48 Gräner, Deutsche und undeutsche Musik (Nov. 1933). 49 Grunsky, Kampf um deutsche Musik (1933). 50 Brockt, Heimatgefühl und Fremdidee in der Musik (Jan. 1934), 276. 51 Brockt, Heimatgefühl und Fremdidee in der Musik (Jan. 1934), 275. Zur Wirksamkeit militärischer Ausdrücke vgl. Bork, Tendenzen nationalsozialistischer Sprachregelung, 21: „Die Auslese durch den Kampf wurde zum tragenden Postulat. Darum wurde der Kampf, die Kampfleidenschaft geradezu verherrlicht und zum dynamischen Element der ‚Bewegung‘ erhoben, welches die Massen ständig in Spannung und Aktivität halten sollte.“ 52 Zit. nach Mitteilungen, Düsseldorfer Reichsmusiktage, in: Die Kulturverwaltung (25.6.1938), 160.
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die vorstechenden jüdischen (‚Rasse‘-)Eigenschaften, sondern in der Musik wären „die Mächte der Unnatur, der Lüge und der Zerstörung“53 am Werk, die vom „gesunden Musikleben der Nation“ zum „krampfartigen Musikbetrieb des Juden“54 geführt hätten. Mit präformierten redundanten Schlagwörtern wie „Entartung“,55 „Aufweichung und Zersetzung“56 oder „Entseelung“ durch „Musikbolschewismus“57 wurde nicht mehr nur gegen ein aus der ‚rassischen‘ Abstammung hergeleitetes Feindbild agitiert, sondern auch gegen die „geistige[...] Vergiftung“58 durch „Juden und Judengenossen“,59 die als „Untermenschentum“60 beschimpft wurden. Die fortschrittlichen Kompositionstendenzen der Weimarer Jahre als „Intellektorgien“,61 „blutleere[...] Gehirnakrobatik oder platte[...] Zoterie“62 verteufelnd, wurden diese als versuchter „Zerstörungswahn[...]“63 der „trieb- und instinkthaften Naturkräfte“64 einer deutschen ‚Volksgemeinschaft‘ gesehen. Anti-modernistische Hauptvorwürfe, die sich im Antisemitismus in der Musikliteratur nach 1933 niederschlugen, sammelten sich in Anklagen gegen eine „projüdische Musikpresse“65 ebenso wie in den Verurteilungen eines angeblich nach jüdischen Kapitalinteressen organisierten Musikmarktes, wie es sich in dem Bild von dem „Jude[n] als Musik-Fabrikant“66 ausdrückte oder in dem Vorwurf eines „verwaschenen Internationalismus ohne innere Bindung an den Blutstrom der heimatlichen Scholle“.67 Wie schon in der völkischen 53 Gräner, Deutsche und undeutsche Musik (Nov. 1933), 91. 54 Friedrich Brand, Vom jüdischen Musikbetrieb zum Musikleben der Nation, in: Die Musik (Jan. 1938), 246. 55 Herbert Gerigk, Aufgabe und Verpflichtung, in: Die Musik (Okt. 1937), 3: „Vom Juden ausgehend, kommt man zu der entarteten Musik, die in der alten und in der neuen Welt merkwürdige Gebilde hervorgebracht hat. Die Grenzziehung ist naturgemäß schwer; aber wir werden gerade da versuchen, die Entartung von dem oft genug ungewohnten zukunftsträchtigen Neuen klar zu scheiden.“ 56 Gräner, Deutsche und undeutsche Musik (Nov. 1933), 91. 57 Brand, Vom jüdischen Musikbetrieb zum Musikleben der Nation (Jan. 1938), 246. 58 Ziegler, Entartete Musik (1939), 3. 59 Carl Hannemann, Der Jazz als Kampfmittel des Judentums und des Amerikanismus, in: Musik in Jugend und Volk (1943), 57. 60 Arteigene und artfremde Musik (Nov. 1931). 61 Gräner, Deutsche und undeutsche Musik (Nov. 1933), 92. 62 Brand, Vom jüdischen Musikbetrieb zum Musikleben der Nation (Jan. 1938), 246. 63 Grunsky, Kampf um deutsche Musik (1933), 24. 64 Gräner, Deutsche und undeutsche Musik (Nov. 1933), 92. 65 Brand, Vom jüdischen Musikbetrieb zum Musikleben der Nation (Jan. 1938), 246. 66 Brand, Der Jude als Musik-Fabrikant, in: Die Musik (März 1936), 429: „Denn die kommerzielle Witterung in allen Fragen der Kunst ist dem Juden Herzenssache gewesen, er hat sich fast nie aus reinem idealistischen Wollen hingegeben und er ist nicht wie der Deutsche imstande, Musik zu schreiben bloß für sich und seinen Freund [...]. Die Musik nimmt der Jude als eine Realität, die sich in ‚Verdienste‘ umrechnen läßt, und immer da tummeln sich [...] die meisten der Mosessprösslinge, wo schon rein äußerlich eine Erwerbsgelegenheit in die Augen springt. So tragen bald ganze Betätigungsgebiete den Charakter der Handelsware.“ 67 Hille, Nationalisierung der deutschen Musik (Juni 1933), 666.
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Agitation verknüpfte die NS-Demagogie derlei anti-modernistische Anschuldigungen mit den tradierten anti-judaistischen Zuschreibungsmustern und klagte die „Entstellung und Verzerrung nicht-jüdischer Werte“, ein „vorwiegend technisch-intellektuelles Einfühlungsvermögen“ oder die ‚Erniedrigung‘ der Musik als „Oberflächen- oder Pseudokunst“68 an. Das NS-Schrifttum stilisierte die deutschen Juden zu Gegnern und unterstellte ihnen – in Umkehrung der historischen Verhältnisse – eine Feindschaft gegenüber den Nicht-Juden. Im moralischen Sinn als Verbrecher kriminalisiert69 – wie dies schon in der Genese des Begriffs der ‚Entartung‘ angelegt war – sei das Ziel des internationalen „Weltjudentum[s]“ die Ausbeutung, Unterjochung und letztlich die „Herrschaft in der Tonkunst“ ebenso wie in der Welt.70 Mithilfe des Geldes, der Presse und der unterwandernden ‚Verjudung‘ sollte aus nationalsozialistischer Sicht die „Gesundung des deutschen Musiklebens“71 verhindert werden. 1938 verschärfte sich deutlich der antisemitische Ton in der Musikliteratur. Im Kontext der Ausstellung Entartete Musik, die in Zusammenhang mit den ersten Düsseldorfer Reichsmusiktagen vom Mai 1938 gezeigt wurde,72 erschienen zeitgleich zahlreiche antisemitische Hetzartikel in den großen NS-Musikzeitschriften.73 Der Hauptinitiator der Ausstellung Entartete Musik, Hans Severus Ziegler,74 veröffentlichte im Folgejahr eine gleichnamige 68 Brand, Vom jüdischen Musikbetrieb zum Musikleben der Nation (Jan. 1938), 246. 69 Grunsky, Kampf um deutsche Musik (1933), 25f: „Im ‚Jonny‘ verherrlicht die Musik KĜeneks die Notzucht und den Diebstahl, und zwar als Mächte, die den Neger der Weltherrschaft würdig machen. Wenn uns deutsche Ideale so hoch und wert dünken, daß wir sie andern Völkern mitteilen wollen, so belehrte uns fremdes, behördlich geschütztes Denken, daß nur verbrecherische Neigungen den Anspruch auf Weltherrschaft haben.“ 70 Walter Trienes, Die jüdische Musik-Internationale, in: Westdeutscher Beobachter (Nov. 1936), als Teilabdruck auch unter der Rubrik Musikalisches Presseecho (in: Die Musik [Dez. 1936], 223): „In allen Erdteilen ist das Weltjudentum rührig, seine Herrschaft in der Tonkunst aufzurichten, sei es durch eine aus taktischen Gründen gebotene Tarnung als Nationalmusik [...], sei es durch Aufrichtung der musikalischen Anarchie und Zertrümmerung der Grundsäulen nordisch-abendländischer Musik durch einen Schönberg, oder sei es durch die Degradierung der Musik zur Verherrlichung bolschewistischer Zustände wie in Weills ‚Stadt Mahagonny‘, durch ihre Verbastardierung mittels Zufuhr negroider Elemente (vgl. Gerschwin) oder durch brutale Enthüllung rein jüdischer Machtziele“. 71 Beussel, Im Zeichen der Wende (Juni 1933), 674. 72 In der Titelgebung und der Konzeption orientierte sich die Ausstellung Entartete Musik an dem Münchener Vorläufer Entartete Kunst von 1937. 73 Vgl. zu der im Rahmen der Düsseldorfer Reichsmusiktage stattfindenden Tagung der Deutschen Gesellschaft für Musikwissenschaft und zu den in diesem Jahr erschienenen antisemitischen Polemiken das nachfolgende Kapitel 6.3 Ideologische Einwirkungen auf das musikwissenschaftliche Schrifttum. 74 Ziegler agierte schon im Kampfbund für deutsche Kultur als Leiter des Gaus Thüringen. Zur Zeit der Ausstellung war er Generalintendant am Deutschen Nationaltheater in Weimar. Vgl. hierzu Albrecht Dümling, Anmerkung zu Ziegler, in: ders./Girth, Entartete Musik, 144f. Neben ihm war auch der Weimarer Generalmusikdirektor Paul Sixt an der Konzeption beteiligt.
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Broschüre, dem sein Düsseldorfer Eröffnungsvortrag zugrunde lag und der mit zentralen Propagandatafeln der Ausstellung illustriert wurde. Mit dem Zusatz Eine Abrechnung, der den Untertitel des ersten Bands von Hitlers Mein Kampf aufgriff, machte Ziegler die generelle Stoßrichtung der Broschüre deutlich, in der er die ‚entartete Musik‘ als „entdeutschte Musik“75 darstellte. Als Protagonisten dieser Entwicklung konstruierte Ziegler ‚den Juden‘, der seit dem 19. Jahrhundert versucht habe, durch „zielbewusste[...] Umfälschung“ das deutsche „Volk von seinen schöpferischen Kräften, von seinen Talenten und Genies, zu trennen und damit von den anschaulichsten Beispielen von Rasse und Volkstum zu entfernen“.76 In drastischen Formulierungen und organizistischen Wortschöpfungen präsentierte er „das Judentum [...] als Ferment der Dekomposition und als Verspotter aller deutschen Tugenden und Charaktergrundwerte“:77 Was in der Ausstellung ‚Entartete Musik‘ zusammengetragen ist, stellt das Abbild eines wahren Hexensabbath und des frivolsten, geistig-künstlerischen Kulturbolschewismus dar und ein Abbild des Triumphes von Untermenschentum, arroganter jüdischer Frechheit und völliger geistiger Vertrottelung [...].78
Vor allem die Atonalität Schönbergs wurde von Ziegler als „Produkt jüdischen Geistes“ und Ausdruck von „Zerstörung [...] Entartung und Kunstbolschewismus“ stigmatisiert.79 In der Ausstellung Entartete Musik, die wesentlich umfangreicher als die Broschüre war, standen darüber hinaus besonders fünf Komponisten im Zentrum. Neben Schönberg, Weill und KĜenek, dessen Oper Jonny spielt auf zum Emblem ‚jüdischer‘ Weltherrschaftsfantasien umgedeutet wurde,80 waren auch prominente Nicht-Juden vertreten wie Paul Hindemith und Igor Stravinsky.81 Den Besuchern wurden in Düsseldorf neben den auf Schautafeln ausgestellten Noten, Kritiken, Schriften und Bühnenbildern darüber hinaus Musikbeispiele in separaten Schall-„Kojen“82 präsentiert. Außerdem stellte die Ausstellung auch 75 Ziegler, Entartete Musik (1939), 16. 76 Ziegler, Entartete Musik (1939), 8. 77 Ziegler, Entartete Musik (1939), 5f. 78 Ziegler, Entartete Musik (1939), 16. 79 Ziegler, Entartete Musik (1939), 24: „Ich bekenne mich [...] zu der Anschauung, daß die Atonalität als Ergebnis der Zerstörung der Tonalität Entartung und Kunstbolschewismus bedeutet. Da die Atonalität zudem ihre Grundlage in der Harmonielehre des Juden Arnold Schönberg hat, so erkläre ich sie für das Produkt jüdischen Geistes. Wer von ihm ißt, stirbt daran.“ 80 Das Umschlagblatt der Broschüre Entartete Musik wurde von Ludwig Tersch gestaltet und zeigte in Anspielung an KĜeneks Oper einen Schwarzen mit affenartigen Gesichtszügen, der mit Judenstern am Revers Saxophon spielt. 81 Vgl. John, ‚Entartete Musik‘ – Mythos und Realität, in: ders., Musikbolschewismus, 367–381. 82 R. Ohlekopf, Entartete Musik, in: Signale für die Musikalische Welt (15.6.1938), 375: „In einzelnen Kojen wird der Einfluß des Judentums auf das Musikleben der Vergangenheit gezeigt. Ein Druck auf einen Knopf: Schallplatten-Wiedergabe der Werke des fraglichen Komponisten bringt den akustischen Eindruck der entarteten Tonalität.“
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Theoretiker wie Hermann Erpf, Schönberg mit seiner Harmonielehre oder Hindemith durch seine Unterweisung im Tonsatz neben Musikkritikern wie Adolf Weißmann oder Heinrich Strobel an den Pranger.83 Nicht nur auf eine eventuelle jüdische Herkunft beschränkt, richteten sich Zieglers Hasstiraden damit besonders gegen die Protagonisten fortschrittlicher Musikauffassungen.84 Der Topos des Juden in der Musik mit seinem angeblich zerstörerischen Potential diente in der Ausstellung als Stigma zur Diffamierung der musikalischen Moderne. Die untrennbar miteinander verwobenen, präformierten Schlagwörter wie ‚Zersetzung‘, ‚Entartung‘ und ‚Musikbolschewismus‘ signalisierten auch hier die Stilisierung ‚des Juden‘ zum Inbegriff des allgemeinen, unspezifischen ‚Bösen‘, ‚Zerstörerischen‘ in der Musik. Neben der Verunglimpfung innovativer Kompositionstechniken wie Atonalität oder Dodekaphonie griff die Ausstellung Entartete Musik unter den gleichen antisemitischen Vorzeichen den „Einbruch des brutalen JazzRhythmus und Jazz-Klanges in die germanische Musikwelt“85 an. Die „Jazzfrage als eine Rassenfrage“86 stellten auch andere Autoren und wetterten gegen die „Verniggerung und Verjazzung der Vergangenheit“87 ebenso wie gegen den „Jazzbazillus“88 oder die „Jazzpest“89 der Gegenwart. Obgleich zwischen 1933 und 1945 kein Reichsgesetz gegen den Jazz erlassen wurde,90 83 Prieberg, Musik im NS-Staat, 278f. 84 Vgl. John, Musikbolschewismus, 373: „[...] den Ausstellungsmachern um Ziegler ging es primär darum, radikale Säuberungspositionen zu propagieren, denen in der Realität nationalsozialistischen Musiklebens Verwässerung drohte. [...] Die Retrospektive auf Musiker wie Weill, Schönberg oder Krenek war ihnen Kampfinstrument gegen Komponisten, deren Musik sich ungeachtet nazistischer Anfeindungen im Musikleben des ‚Dritten Reiches‘ gehalten hatte, in erster Linie: Hindemith und Strawinsky“. 85 Ziegler, Entartete Musik (1939), 26. 86 Herbert Gerigk, Die Jazzfrage als eine Rassenfrage, in: Musik im Krieg (Juni/Juli 1944), 41–45. 87 Ohlekopf, Entartete Musik (Juni 1938), 375. 88 Hans Petsch, Der Jazzbazillus. (Auszug aus der gleichnamigen Abhandlung), in: Zeitschrift für Musik (Aug. 1940), 457: „Wer den ganzen Jazzgedanken einmal von Urbeginn an durchschaut hat, [...] weiß, daß hier ein geistig musikalischer Bazillus immer noch im deutschen Vaterlande vorhanden ist, der jederzeit in der Lage ist, über Nacht in tausendfacher Vermehrung und Verbreitung, seine Aufgabe, die Zerstörung unseres Musikgutes und darüber hinaus unseres ganzen geistigen Kulturlandes wieder aufzunehmen und zu erfüllen.“ 89 Max Merz, Deutsches Volkstum und der Jazz, in: Musik in Jugend und Volk (1940), 57: „Die Jazzverbreitung trägt alle Anzeichen einer Epidemie an sich, welche bekanntlich sind: ‚Krankheitserreger (virus)‘, ‚Keimträger‘ und ‚Disposition des Erkrankten, also seine Anfälligkeit‘. Nach diesem Schema [...] ging auch die Verbreitung der Jazzpest vor sich. Krankheitserreger war die blut- und artbedingte Wesensäußerung [...] einer uns völlig fremden [...] farbigen Mischrasse, der sich für uns eben zum ‚virus‘ verdichtete; – zu Keimträgern wurden die unter jüdischer Führung stehenden Jazzbetriebe“. 90 Vgl. John, Musikbolschewismus, 378: „Kein Zweifel: die Anfeindungen und Restriktionen gegen Jazz waren massiv – aber bis in die vierziger Jahre traten Swing-Kapellen in Nazi-
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war die Hetze gegen den „Niggerjazz[...]“91 ein zentraler Kampfplatz der NS-Propaganda. Die agitatorische Bekämpfung des Jazz eröffnete unterschiedlichste Assoziationsfelder. Präformierte judenfeindliche Stereotype des 19. Jahrhunderts fanden hier erneut ihre Verwendung. Die angebliche Oberflächlichkeit der „leichte[n] Muse“92 wurde genau so aufgegriffen wie der Topos einer verderblichen Erotik und Frivolität, der bis in die Rezeption Meyerbeers und Offenbachs im 19. Jahrhundert zurückreicht. Als Teil der zeitgenössischen Unterhaltungsmusik wurde der Jazz in einem Zug mit dem „jüdische[n] Schlager als Geschäftsobjekt“,93 dem angeblich hohen Anteil der „Juden in der Unterhaltungsmusik“94 oder der „jüdischen Operettenindustrie“95 gebrandmarkt. Innerhalb der neuen Form der Tanzmusik mit ihren „blutbedingten Bewegungsimpulsen“96 korrespondierten die rhythmischen Innovationen des Jazz mit tradierten Ideen eines spezifisch ‚jüdischen‘ Rhythmus, der schon bei Meyerbeer festzustellen versucht wurde. In organizistischen Bildern wurde die Erweiterung des instrumentalen Klangfarbenspektrums des Jazz nicht nur als „volkstum-zersetzende[...]“,97 „artfremde[...] Erscheinung“98 und „Verkrüppelung“99 einer positiv konnotierten „an ein artgerechtes Brauchtum gebundenen Volkskunst“100 gegenübergestellt, sondern auch mit den in judenfeindlichen und antisemitischen Darstellungen häufig anzutreffenden Tiermetaphern und -vergleichen ausgestattet.101 Als Bindeglied fungierte der Ursprung des Jazz und Swing bei den nordamerikanischen Schwarzen. Dieser ‚fremden‘ „farbigen Mischrasse“ wurde wie schon in der musikalischen ‚Rassentheorie‘ „allerlei Exotisches, Orientalisches, Nah- und Fernöstliches und EntartetDeutschland auf, auch im Unterhaltungsfilm der Nazizeit war Tanzmusik mit Swingcharakter umfangreich vertreten und bis in die ersten Kriegsjahre hinein konnte man Jazzplatten kaufen.“ 91 Gerigk, Die Jazzfrage als eine Rassenfrage (Juni/Juli 1944), 43. 92 Gerigk, Musikalisches Presseecho, Die leichte Musik und der Rassegedanken [!], in: Die Musik (Febr. 1936), 397. 93 Aus Zeitschriften und Büchern, Der jüdische Schlager als Geschäftsobjekt, in: Musik in Jugend und Volk (1943), 70f. 94 Lothar H.B. Schmidt, Die Juden in der Unterhaltungsmusik. Kulturgeschichtlicher Abriß, in: Die Unterhaltungsmusik (März/April/Mai 1938). 95 Fritz Stege, Kulturpolitische Wochenschau. Kreuz und quer durch die Musik, Die Wiener Operette und der wahre Wiener, in: Die Unterhaltungsmusik (2.6.1938), 696. 96 Max Merz, WIR und der JAZZ, in: Westermanns Monatshefte (Sept. 1940), 4. 97 Merz, Deutsches Volkstum und der Jazz (1940), 58. 98 Merz, WIR und der JAZZ (Sept. 1940), 3. 99 Merz, WIR und der JAZZ (Sept. 1940), 4. 100 Merz, WIR und der JAZZ (Sept. 1940), 6. 101 Merz, WIR und der JAZZ (Sept. 1940), 5: „Was den Jazzrhythmus aber anbetrifft, so sei nur auf seine Primitivität hingewiesen. [...] Es kommt bekanntlich beim Jazz gar nicht auf den Komponisten an, sondern auf den Arrangeur, [...] dem die Geheimnisse der Entstellung des natürlichen, im Bau der Instrumente begründeten Ton ins Gewinsel, Geschnarre, Gequäke, ins Blöken und Tierstimmenhafte durch verschiedene technische Kniffe [...] bekannt sein müssen.“
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Afrikanisches“102 unterstellt. Den Jazz als Ausdruck des „Führungsanspruch[s] des Amerikanismus“103 und als „politisches Kampfmittel des Judentums im Dienste der Internationale“104 umdeutend, stattete man diesen mit den bekannten antisemitischen Invektiven aus. Das Schlagwort „Bolschewismus“105 fiel in den geifernden Beschimpfungen ebenso wie das Verdikt „undeutsch“106 oder die Schmähungen einer bewussten Verfälschung107 und vorsätzlichen „Vergiftung der Volksseele“.108 Eine systematische Wiederaufnahme der judenfeindlichen und frühantisemitischen Stereotype des 19. Jahrhunderts lieferte das berüchtigte Buch Mendelssohn, Meyerbeer, Mahler. Drei Kapitel Judentum in der Musik als Schlüssel zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts des Komponisten und Musikschriftstellers Karl Blessinger (geb. 1888), das in erster Auflage ein Jahr vor Zieglers Broschüre Entartete Musik erschien.109 Unter dem omnipräsenten Aspekt einer angeblich zielgerichteten ‚jüdischen Unterwanderung‘ und ‚Zerstörung‘ der ‚deutschen‘ Musik belebte er mit seiner Hetzschrift Mendelssohn, Meyerbeer, Mahler die kanonisierten Schmähungen als vermeintlich planvolle Entwicklung seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Den tradierten, nun biologistisch unterfütterten Stigmatisierungen eines ‚schöp102 Merz, WIR und der JAZZ (Sept. 1940), 4. 103 Hannemann, Der Jazz als Kampfmittel des Judentums (1943), 57. 104 Hannemann, Der Jazz als Kampfmittel des Judentums (1943), 58. 105 Herrock, Bolschewismus ohne Maske – Die Legende vom anständigen Juden und die deutsche Unterhaltungsmusik!, in: Die Unterhaltungsmusik (18.8.1938), 1091f; H. Wolters, Bolschewismus als jüdischer Hot- und Swing-Rhythmus und seine Gefahren für das kulturschaffende Deutschland, in: Die Unterhaltungsmusik (15.12.1938), 1635: „Bolschewismus entspringt dem jüdischen Geiste. Judentum ist Bolschewismus und Bolschewismus bedeutet Aufhetzung, Zerstörung und Vernichtung alles kulturell Harmonischen, Edlen, Göttlichen.“ 106 Paul Lincke, Musikalisches Presse-Echo, Musikalisches Volk und Volkstümliche Musik, in: Die Musik (Aug. 1935), 873: „Die Jazzmusik ist in ihrem ganzen Wesen undeutsch, ihre meckernden Trompeten sind ein Ergebnis fremdartigen Musikempfindens.“ 107 Merz, Deutsches Volkstum und der Jazz (1940), 55: „Tausende von Beispielen sind anzuführen, mit welcher Frechheit und Frivolität sich die Jazzproduzenten an unserem weißrassigen Melodiengut vergreifen, es persiflieren, zerhacken, entstellen und atomisieren.“ 108 Wolters, Bolschewismus als jüdischer Hot- und Swing-Rhythmus (Dez. 1938), 1635. Auch das durch Wagner in die Debatten um Das Judenthum in der Musik eingeführte Urteil der ‚Lächerlichkeit‘ wurde erneut aufgegriffen, um Jazzmusiker zu stigmatisieren. Vgl. etwa Merz, WIR und der JAZZ (Sept. 1940), 5: „Es wäre zu wünschen, daß sich die Leiter unserer Jazzkapellen bei ihren schwachen Versuchen, durch Achselgeschupf und Kniegeschlotter den amerikanisch geschulten Meister herauszukehren, doch endlich einmal der Lächerlichkeit ihres Gebarens bewußt würden.“ 109 Schon in den 20er Jahren hatte sich Blessinger, damals Lehrer an der Staatlichen Akademie der Tonkunst in München an der Debatte um Pfitzners Die neue Aesthetik der musikalischen Impotenz beteiligt (Die Überwindung der musikalischen Impotenz [1920]. Vgl. das vorhergehende Kapitel 4.2.1 Der ‚Rasse‘-Gedanke in Biographien und Musikgeschichten). Im Mai 1932 als NSDAP-Mitglied registriert, erhielt Blessinger im September 1934 eine außerordentliche Professur an der Münchner Akademie und wurde am 10.1.1942 zum ordentlichen Professor ernannt. Vgl. Wulf, Musik im Dritten Reich, 475ff.
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ferischen Mangels‘ und der ‚oberflächlichen Nachahmung‘ stellte er eine Verschwörungstheorie zur Seite, indem Blessinger suggestiv eine Linie zwischen Mendelssohn Bartholdy, Meyerbeer, Mahler zog und so einen heimlichen „Großangriff der Judentums auf die deutsche Musik“110 konstruierte. Der eigentliche infame Impetus der Hetzschrift offenbarte sich jedoch erst mit der zweiten neubearbeiteten Auflage, die während des Zweiten Weltkriegs 1944 unter Titel Judentum und Musik. Ein Beitrag zur Kulturund Rassenpolitik erschien. Zu einer Zeit, da die Ermordung der europäischen Juden in Konzentrationslagern und Vernichtungszentren ihren Höhepunkt erreichte, erweiterte Blessinger seine Schmähschrift trotz Papiermangels von 94 auf 156 Seiten und hetzte nun noch umfangreicher gegen den Zustand einer „parasitären jüdischen Zersetzung“111 in der deutschen Musik. Menschenverachtend und zynisch postulierte Blessinger auch weiterhin die „dauernde Reinigung unseres Musiklebens“ von der „Unmusik fremdrassiger Herkunft“,112 nachdem die „Abschnürung der Zufuhr weiteren Giftstoffes“ durch die „personelle Ausschaltung des Judentums“113 erreicht sei. Ausgestattet mit organizistischen Bildern und Metaphern blieben seine beleidigenden Erniedrigungen indes den gängigen Propagandaphrasen verpflichtet. Die „musikalische[...] Judenherrschaft in Deutschland“114 mit ihrer „Verfälschung, Zersetzung und schließlichen Zerstörung“115 sei seit dem 19. Jahrhundert in drei Abschnitten erfolgt: 1. Das eine organische Einheit bildende europäische Kulturgut wird atomisiert, d.h. in Einzelteile aufgelöst, die nicht mehr innerlich, sondern nur noch rein äußerlich-formal zusammenhängen (Epoche Mendelssohn). 2. Die Einzelbestandteile verschiedenartigster Herkunft werden zu einem bunten Flickwerk ohne tieferen Sinn zusammengesetzt (Epoche Meyerbeer). 3. Talmudistische Rabulistik und magische Pose werden als letzte und höchste Erfüllung nordischer Philosophie und Weltschau hingestellt, um die Entwicklung vollends ganz ins jüdische Fahrwasser zu lenken (Epoche Mahler).116
Bezieht sich Blessinger hier mit seinen Metaphern der ‚Atomisierung‘ und ‚verfälschenden Neuzusammensetzung‘ direkt auf die ursprüngliche Entlehnung der Vokabel ‚Zersetzung‘ aus dem chemischen Wortschatz, ergänzte er dieses Zerrbild zudem durch typisierende Komposita. Felix Mendelssohn 110 111 112 113 114 115 116
Blessinger, Mendelssohn, Meyerbeer, Mahler (1938/39), 87. Blessinger, Judentum und Musik (1944), 10. Blessinger, Judentum und Musik (1944), 131. Blessinger, Judentum und Musik (1944), 130. Blessinger, Judentum und Musik (1944), 12. Blessinger, Judentum und Musik (1944), 16. Blessinger, Judentum und Musik (1944), 16.
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Bartholdy, „der das Zerstörungswerk eingeleitet“ habe, wurde zum „Typus des sogenannten Assimilationsjuden“ stilisiert, während Meyerbeer Blessinger als der „skrupellose Geschäftsjude“ erschien und Mahler den „fanatischen Typus des ostjüdischen Rabbiners“ vertrete,117 dem durch die „völlige Auflösung [...] der abendländischen Tonordnung“ letztlich nur „ein Chaos, in welchem ein Nichtjude sich unmöglich mehr zurechtfinden“118 könne, gefolgt sei. Nahezu lückenlos zeichnete Blessinger das Bild von „Rassejuden und Judengenossen“,119 die sich heimlich in die unterschiedlichsten „Richtungen“ aufgespaltet hätten, allein um die Nicht-Juden zu verwirren.120 In einem Großteil seiner erweiterten Schmähschrift Judentum und Musik widmete sich Blessinger der Verunglimpfung Felix Mendelssohn Bartholdys. In den neuen Kapiteln „Der Jude als Kulturparasit – Moses Mendelssohn und die jüdischen Salons“, „Bürgertum, Bühne und Literatur“ und „Die Romantik und die jüdischen Salons“ wurde die Berliner Salonkultur als Keimzelle des „Tarnsystems“121 der jüdischen Assimilation herbeigeschrieben, das Theater des 18. Jahrhunderts zum Opfer der „Freimaurerei als Hilfstruppe des Judentums“122 stilisiert und die „Erscheinungen der Romantik“, die „unter jüdischem Einfluß zu einer mehr oder weniger gefährlichen Entwicklung führten“,123 verleumdet. Mendelssohn Bartholdy selbst wurde durch Blessinger erneut mit den bekannten Invektiven versehen. Die „geschickte Regie des internationale Judentums“124 als „Personalpolitik anonymer Cliquen“125 habe zu dessen „im wesentlichen unangefochene[r] Berühmtheit“126 geführt. In seinem Verfolgungswahn etikettierte Blessinger sein Eintreten für Bach ebenso wie die Oratorien als „Reklame für das Judentum“.127 Mit den – nun verschärften – Rezeptionsmustern des 19. Jahrhunderts unterstellte er der Musik, die einzig als Ausdruck der „jüdischen Verfälschung“128 und „Verdrehungs117 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 17. 118 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 16. 119 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 9. 120 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 12: „Dadurch, daß die Vertreter der einzelnen ‚Richtungen‘ nach außen hin sich gegenseitig bekämpften, war die Voraussetzung dafür geschaffen, daß ein Nichtjude, der gegen die eine dieser Richtungen auftrat, mit Sicherheit der anderen in die Arme lief.“ Aus der völkischen Agitation entlehnte Blessinger darüber hinaus ein „gesundes Empfinden“, das allein unterscheiden könne „zwischen deutschem Gefühl und jüdischer Weinerlichkeit, zwischen deutschem heldischem Ausdruck und jüdischer Pose, zwischen deutscher Tragik und jüdischer Katzenjammerstimmung“ (17). 121 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 23. 122 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 35. 123 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 46. 124 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 49. 125 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 50. 126 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 49. 127 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 59. 128 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 58.
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kunst“129 zu sehen sei, eine „weichliche Haltung“ der „unechte[n] Sentimentalität“,130 die „rein formelhafte[...] Wiederholung“131 und eine „leere Glätte“.132 Bei Meyerbeer folgte Blessinger ebenfalls den kanonisierten Schlagwortformeln des 19. Jahrhunderts,133 die er in direkter Anlehnung an die weithin bekannten Urteile Wagners und Schumanns vorstellte. In Blessingers Verschwörungstheorie hätten „die Juden selbst von der Großen Oper Besitz ergreifen“ können, die im Paris des 19. Jahrhunderts zum jüdischen Machtzentrum verkommen sei, „von dem aus die Dinge gelenkt werden“.134 Überall wurde von jüdischer Seite die „Störung des inneren Gleichgewichts“ des nicht-jüdischen Publikums vorangetrieben, „gleichgültig ob durch süßliche Sentimentalität die innere Kraft gebrochen oder durch eine künstliche Aufpeitschung [...] eine Kraft vorgetäuscht wird, die in Wirklichkeit nicht vorhanden ist“.135 Auch Gustav Mahler gehörte laut Blessinger als „Mißdeuter deutscher Musik“ zu den „gefährlichsten dieser jüdischen Propheten“.136 Mit seiner „Entstellung erhabenster deutscher Schöpfungen“137 habe dieser als Dirigent nur Erfolge bei einem „sehr stark mit Juden durchsetzen Konzertpublikum“138 erzielen können. Die Mahlerschen Symphonien beschrieb Blessinger als „agressiv[e]“ Werke, die „dem einen Zweck, die angestammte Empfindungswelt des Deutschen zu zerstören und an ihre Stelle jene trostlose 129 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 57. In der Ouvertüre zum Sommernachtstraum konstruierte Blessinger die „Vermauschelung deutscher Vorbilder“ und unterstellte mit dem einzigen Notenbeispiel, dass hier Motive „in oft sehr großzügiger Weise ‚entlehnt‘“ worden seien (67). Bekanntlich versuchten sich schon 1934 einige Komponisten erfolglos an einer Ersatzkomposition, nachdem das Werk nur mit einigen Widerständen aus dem Repertoire entfernt werden konnte. Vgl. Prieberg, Ein Sommernachtstraum – arisch, in: ders., Musik im NS-Staat, 144–164. 130 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 53. 131 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 69. 132 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 62. In die gleiche Richtung agitierte Otto Schumann in seiner populären Geschichte der deutschen Musik von 1940 (198f): „Die fast ein Jahrhundert währende Mendelssohn-Schwärmerei ist um so unbegreiflicher, als zu allen Zeiten Männer aufstanden [...], denen seine Musik allzu glatt erschien, – ein Urteil, das auch die unentwegtesten Mendelssohn-Verehrer nicht bestritten [...]. Da er aber [...] echten Stil nicht aufzubringen vermochte, erschöpfte er sich in Nachbildung deutscher Eigentümlichkeiten. Diese wiederum konnte er aus rassischen Ursachen nicht von innen erfassen und war daher triebhaft bestrebt, die äußeren Erscheinungsformen um so sorgfältiger nachzuzeichnen. So erklärt sich das bloß Gefällige seiner Musik, ihre fließende Glätte und mangelnde Tiefenwurzelung, so erklärt sich vor allem auch seine kampflose Unentschiedenheit gegenüber dem Zwiespalt Romantik-Klassizismus. Mendelssohn erschaute die künstlerischen Fragen seiner Zeit mit wachem Verstand und kühlem Herzen; das konnte er, weil sie ihn als Fremdrassigen im Grunde nicht bewegten.“ 133 Dieser Struktur folgt auch der Abschnitt über Offenbach, der als ‚kleiner Meyerbeer‘ dargestellt wurde (Blessinger, Judentum und Musik [1944], 90). 134 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 82f. 135 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 90. 136 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 111. 137 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 118. 138 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 116.
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Wüstenstimmung zu setzen“ dienen würden.139 Wie schon bei Felix Mendelssohn Bartholdy und Giacomo Meyerbeer erfand Blessinger hier eine mehr oder minder „offenkundige[...] Orientalisierung“,140 die er musikalisch neben „unverhüllten Entlehnungen“ als „stumpfsinnige, teils einschläfernde, teils aufpeitschende Wiederholung von Tonfiguren und Rhythmen“141 charakterisierte, sich aber gleichzeitig gegen objektivierbare Nachweise solch allgemein-oberflächlicher Zuschreibungen verwahrte: Im übrigen sind die äußeren Merkmale nicht das letztlich Entscheidende; dieses liegt vielmehr in der inneren Haltung, also in einem Faktor, der nicht ohne weiteres logisch exakt nachgewiesen werden kann.142
Laut Blessinger folge dieser zielgerichteten „Anlehnung an ein asiatisches Vorbild“ auch die Entwicklung von Mahler zu Schönberg. Unter Berufung eines anti-kommunistischen Impetus, der dem präformierten völkischen Feindbild des jüdischen Revolutionärs folgte, habe Schönberg durch eine „jüdische Gleichmacherei auf allen [...] Gebieten des Lebens“ die „völlige Umstürzung der naturgegebenen Ordnung der Töne im Tonalitätsprinzip unserer klassischen Musik“ durchgesetzt.143 Mit diesem Schema der „unerbittlichen Folgerichtigkeit“ der „jüdischen Pläne zur Zerstörung der rassischen und nationalen Grundlagen unserer Musik“144 rechtfertigte Blessinger wie zahlreiche Musikautoren und Musikwissenschaftler vor ihm die NS-Vernichtungspolitik gegenüber den europäischen Juden. Seine Hetzschrift Mendelssohn, Meyerbeer, Mahler wurde neben Eichenauers Musik und Rasse zu einem Standard(mach)werk der antisemitischen Musikliteratur.145 Den Anfang der systematischen, letztlich mörderischen Auslöschung der deutschen Juden aus dem Musikleben146 markierten indes schwarze Listen 139 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 124. 140 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 120. 141 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 15. 142 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 16. Vgl. auch 15: „Auch große deutsche Musiker unserer Art haben dann und wann eine einzige Tonfigur durchgehend festgehalten, einen obstinaten Rhythmus durchgeführt; wer aber einigermaßen lebendig musikalische fühlt, wird sofort merken, daß das etwas grundlegend anderes ist“. 143 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 121. 144 Blessinger, Judentum und Musik (1944), 136. 145 Vgl. die Rezensionen zur Blessinger-Ausgabe von 1938: Friedrich Brand, Die Juden in der Musikgeschichte, in: Der Musikerzieher (Juli 1939); Herbert Gerigk, Karl Blessinger: Mendelssohn, Meyerbeer, Mahler, in: Die Musik (Juni 1939); Schriften und Noten, Karl Blessinger, Mendelssohn Meyerbeer, Mahler, in: Völkische Musik Erziehung (März 1939); Gotthold Frotscher, Wir besprechen, Karl Blessinger: Mendelssohn – Meyerbeer – Mahler, in: Musik in Jugend und Volk (1943); zur 40er Ausgabe: Erwin Völsing, Musik und Judentum, in: Musik im Krieg (1944). 146 Mit dem Zweiten Weltkrieg und der deutschen Okkupationspolitik dehnte sich die Judenhetze 1938 zunächst auf Österreich (Stege, Die Wiener Operette und der wahre Wiener, in: Die
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und Nachschlagewerke mit Namen von Komponisten, Interpreten, Musikschriftstellern und Musikgelehrten. Neben der reinen Namensnennung erhielten diese zunehmend einen beschreibenden Text, durch den historischvorgestanzte Etikettierungen bewusst wiederbelebt werden sollten.147 Diese so genannten ‚Lexika‘ lieferten die Grundlage für Verdächtigungen und Verfolgungen, für Repertoirestreichungen und Librettoänderungen sowie für Publikationsverbote und Musikgeschichtsverfälschungen. Ergänzend versuchten andere NS-Publikationen eine historische Fundierung antisemitischer Musikpolitik, indem auch sie wie Karl Blessinger präformierte Abwertungen wiederbelebten. Durch Verzerrung und Verkürzung entstand so eine Musikliteratur, die den Antisemitismus als historisches Kontinuum glorifizierte und so zu legitimieren versuchte. Zur Konsolidierung der antisemitischen Ideologie stellte sich letztlich auch die Musikwissenschaft – wie jede andere universitäre Disziplin der Zeit – nicht nur mit der ‚musikalischen Rassenkunde‘ in den Dienst der „Schaffung eines neuen Musikgeschichtsbildes“148 wie es die totalitäre NS-Musikpolitik forderte.
6.1 Die Juden in der Musik: Nachschlagewerke und schwarze Listen Nachschlagewerke und schwarze Listen Bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, parallel zum politischen Antisemitismus der verschiedenen Parteien und Verbände, erschien eine generelle, völkisch geprägte Propagandaliteratur, welche die einst emanzipatorisch gestellte ‚Judenfrage‘ antisemitisch umdeutete. Die politische Agitation gegen die Assimilation und Emanzipation der deutschen Juden zirkulierte um die manipulative Formulierung der ‚Verjudung der deutschen Gesellschaft und Kultur‘, die eine Forderung nach der Rücknahme der bürgerlichen Gleichberechtigung deutscher Juden unterstützen sollte. Unterhaltungsmusik [Juni 1938]; Josef Tomandl, Das Wiener Musikleben – und das Judentum. Eine kulturpolitische Studie, in: Die Unterhaltungsmusik [Sept. 1938]; Heinrich Damisch, Die Verjudung des österreichischen Musiklebens, in: Der Weltkampf [1938]; Rudolf Gerber, Die Musik der Ostmark. Eine Wesensschau aus ihrer Geschichte, in: Zeitschrift für deutsche Geisteswissenschaft [1939/40]; Mungo, Arisierung der Gefühle, in: Musik in Jugend und Volk [1943]) und schließlich Osteuropa sowie die besetzten Gebiete aus (Trienes, Die Jüdische MusikInternationale [Nov./Dez. 1936]; Walter Wünsch, Der Jude im balkanslawischen Volkstum und Volksliede, in: Die Musik [Juni 1938]; Wünsch, Sudetendeutsche Musikkultur der Gegenwart im Kampf gegen jüdische Musikpolitik, in: Die Musik [Okt. 1938]; Nicolaus Spanuth, Kreuz und quer, Deutsche Musik im besetzten Gebiet. Erstaufführungen in Belgien, in: Zeitschrift für Musik [Juli 1941]; Spanuth, Deutsche Musik im besetzten Gebiet. Erstaufführungen in Belgien, in: Die Musik [1944]). 147 Vgl. die emphatische Rezension Blessingers zu dem Lexikon der Juden in der Musik von 1940 (Musik und Judentum, in: Die Musik [Nov. 1940], 51: „Das Lexikon ist schlechthin für jeden, der sich ernsthaft mit Musik befaßt, unentbehrlich“). 148 Brand, Die Juden in der Musikgeschichte (Juli 1939), 233.
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Auf dieses Schlagwort der ‚Verjudung‘ baute auch die NS-Musikliteratur mit ihren verschiedenen, direkt auf das praktische Musikleben in Deutschland zielenden ‚Lexika‘ wie etwa Das musikalische Juden-ABC von 1935149 oder das Lexikon der Juden in der Musik von 1940150 auf. Da sich diese NSNachschlagewerke in einer Kontinuität mit den seit Ende des 19. Jahrhunderts im Umfeld der völkisch-antisemitischen Bewegung erschienenen Schriften bewegen, soll im Folgenden der Blick zunächst auf diese Vorbilder gelenkt werden, um die grundsätzliche Idee denunziatorischer Musik‚Lexika‘ näher zu beleuchten. Die antisemitische Literatur, die sich vermehrt seit den 1880er Jahren nachweisen lässt, unterstützte als Teil der politischen Agitation eine Verbreitung des verdichteten Feindbilds des ‚Juden‘. In hohen Auflagen erschienen, richteten sich diese Publikationen mit ihrer komprimierten Zusammenstellung an eine breite, zumeist dezidiert anti-judaistisch eingestellte Leserschaft. Selbsterklärtes Ziel war es, „in gedrängter Form alle wichtigen Aufzeichnungen für die antijüdische Propaganda“151 bereitzustellen. Inhaltlich orientierten sich die Schriften an den tradierten judenfeindlichen Bildern des christlichen Abendlandes, die durch verschiedenste Schlagwörter und eine rassistische Ausrichtung zum Antisemitismus verdichtet wurden. Sowohl in dem kleinformatigen Antisemiten-Katechismus, dessen erste Auflage 1887 erschien, als auch in dem ihm nachfolgenden Handbuch der Judenfrage findet sich ein Kapitel Aussprüche berühmter Männer über die Juden,152 das unter anderem Auszüge aus den einschlägigen Texten Richard Wagners und Franz Liszts enthielt.153 Als reine Zitate ohne direkten Kommentar des Herausgebers wurde durch den identitätsstiftenden Bezug154 auf diese nationalen „Geistes-Helden“ eine historische Rechtfertigung für den „Kampfe gegen den hinterlistigsten Feind“155 angestrebt. Dementsprechend 149 Während die erste Auflage von Hans Brückner und Christa Maria Rock herausgegeben wurde, erschien die 2. und 3. Auflage von 1936 bzw. 1938 unter dem Titel Judentum und Musik. Mit dem ABC jüdischer und nichtarischer Musikbeflissener, jeweils erweitert und bearbeitet von Hans Brückner. 150 Die vierte, letzte Auflage erschien im April 1944. 151 Theodor Fritsch (Hg.), Antisemiten-Katechismus. Eine Zusammenstellung des wichtigsten Materials zum Verständniß der Judenfrage (251893), III. Auf diesen Aspekt der praktischen Anwendung weist auch die Eigenbezeichnung „Katechismus“ hin. 152 Fritsch, Antisemiten-Katechismus (251893), 30–114. 153 Die Zitate Wagners aus dem Judenthum-Artikel bzw. der Broschüre wurden irrtümlich auf 1859 datiert (Fritsch, Antisemiten-Katechismus [1893], 73–75). Beide Auszüge finden sich auch im Handbuch der Judenfrage (Eine Zusammenstellung des wichtigsten Materials zur Beurteilung des jüdischen Volkes, hg. von Theodor Fritsch [261907], 98ff u.112ff). 154 Fritsch, Antisemiten-Katechismus (1893), IV: „Möge das Büchlein [...] auch fernerhin seinen Teil beitragen zu der Erweckung des deutschen Volks-Bewußtseins; möge es eine Streit Axt sein im Kampfe für die idealen Güter unserer Nation!“ Vgl. auch Kap. 6.2 Historische Legitimationskonstrukte antisemitischer Musikpolitik. 155 Fritsch, Antisemiten-Katechismus (1893), IVON
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gingen die ausgewählten Textstellen Wagners und Liszts weniger auf angeblich ‚jüdische‘ Mängel im musikalischen Schaffen ein, sondern enthielten vielmehr die Passagen mit allgemeinen Zuschreibungen und Unterstellungen. Eine erste Zusammenstellung ‚jüdischer‘ Namen, geordnet nach verschiedenen Gesellschaftsbereichen, findet sich in der 25. Auflage des Antisemiten-Katechismus von 1893. Unter der Rubrik Judenstatistik: Juden in der Musik156 erfolgte – zum Teil mit Ortsangabe und Berufsbezeichnung – eine Auflistung von 54 Musikschaffenden. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurde damit die Veröffentlichung antisemitischer Namenslisten eingeführt, die den nachfolgenden Zusammenstellungen als direkte Vorbilder wie auch als Quellenmaterial dienten. Den Antisemiten-Katechismus, der ab 1896 nicht mehr erhältlich war, ersetzte das Handbuch der Judenfrage herausgegeben ebenfalls von Theodor Fritsch,157 das bis 1944 in 49 Auflagen erschien. Im ähnlich aufgebauten Handbuch der Judenfrage fand sich ergänzend zu den einschlägigen Zitaten und einer erweiterten Namensliste seit 1907 ein vierseitiges Kapitel Musik, in dem ‚rassische‘ Grundlagen ‚jüdischen‘ Musikschaffens verbreitet wurden. Der anonyme Verfasser bezog sich in seinen Ausführungen direkt auf Joseph Arthur Gobineaus Essai sur l’inégalité des races humaines und führte hiermit eine „musikalische Begabung meist auf Beimischung des Blutes dunkler Rassen, hauptsächlich des negerischen Elementes“158 zurück. Den ‚Juden‘, denen im Eingangssatz dieses Abschnittes im Handbuch der Judenfrage schon ein „gewisses Virtuosen-Talent für musikalische Reproduktion“159 zugesprochen wurde, erschienen in Übertragung von Gobineaus früher ‚Rassentheorie‘160 als „negroide Hebräer“ mit einer „gewissen Befähigung für Musik“, da durch den Anteil des ‚dunklen Bluts‘ „das Phantastische und Leidenschaftliche“ zu einem „hohen Empfindungs-Rausche“ gesteigert werde, aber auch für das „Dämonische[...]“ und eine „thierische[...] Wildheit“ verantwortlich sei.161 Mit derlei diffusen biologistischen Zuschreibungen stellte der Autor fest, dass „auch hier das Können meist die 156 Fritsch, Antisemiten-Katechismus (1893), 260. 157 Theodor Fritsch (1855–1933), seit 1887 Verleger des Antisemiten-Katechismus gründete einen eigenen Verlag, in dem sowohl die weit verbreitete antisemitische Zeitschrift DeutschSoziale Blätter als auch seit 1902 die Propaganda-Zeitschrift Hammer. Blätter für deutschen Sinn publiziert wurde. Hier erschien 1920 unter anderem als Sonderausgabe Geistesleben und Judentum von Karl Grunsky (Hammer-Schläge, H. 14, hg. vom Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund). 158 Fritsch, Handbuch der Judenfrage (1907), 362. 159 Fritsch, Handbuch der Judenfrage (1907), 362. 160 Gobineau bezog sich in seinem Essay auf drei Grund-‚Rassen‘, die weiße, schwarze und gelbe. Seine Ausführungen zur musikalischen Begabung der einzelnen ‚Rassen‘ waren spätestens seit 1933 umstritten und wurden als früher Irrtum der entstehenden ‚Rassenlehre‘ gewertet, zumal Gobineau den blonden Germanen ‚kühles Temperament‘ und ‚abgeklärte Vernunft‘ zuschrieb und ihnen im Unterschied zu den ‚dunklen Rassen‘ jegliche musikalische Fähigkeit absprach. 161 Fritsch, Handbuch der Judenfrage (1907), 362.
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Mittelstufe nicht“ übersteige,162 wie dies vor allem Giacomo Meyerbeer als „der unverfälschte hebräische Musikmacher“163 zeige. Mit diesem Beispiel wurde in einer Wiederaufnahme der präformierten Schlagwörter der deutschen Meyerbeer-Rezeption erneut ein ‚oberflächlicher Effekt‘ der ‚tiefen Innerlichkeit‘ gegenübergestellt: Wie es dem Juden an echtem reinem Empfinden und tiefer Leidenschaft fehlt, so ist er auch nicht fähig, musikalisch die tiefsten Wirkungen zu erzielen. [...] Am Juden ist Alles Oberfläche, Alles auf den äußeren Effekt berechnet; es fehlt seinem Wesen die innere Echtheit.164
Als „geschickte[r] Kapriolen-Macher, der Anderen ihre Eigenheiten ablauscht und sie in Uebertreibung verwendet“ könne jeder ‚jüdische‘ Komponist und Musiker nur „musikalische Albernheiten“ und „Ton-Zappeleien“165 betreiben. Deutlich orientieren sich diese Metaphern an den im 19. Jahrhundert von nicht-jüdischer Seite weit verbreiteten physischen Zuschreibungen. Als ‚jüdisch‘ karikiert und angegriffen wurde neben einer hüpfenden Bewegung der Beine, die zu einem charakteristisch-lächerlichen Gang führe, ebenfalls die angeblich expressive Gestik beim Sprechen als ‚Verschleierung des Gesagten‘. In einfachen Übertragungen meinte der anonyme Verfasser, derlei unterstellte körperliche Defizite gleichfalls in einem „spezifisch jüdischen Rhythmus“ ausmachen zu können:166 In dem Rhythmus jüdischer Melodien liegt unwillkürlich das Herüber- und HinüberWiegen der Schultern, das der Jude im leidenschaftlichen Gespräch annimmt.167
In Analogie zur ‚typisch jüdischen‘ Gestik wurde so mit dem Adverb „unwillkürlich“ eine diffuse musikalische „Jüdischkeit“168 festzustellen versucht, die als unbewusster Ausdruck jüdischer ‚Rasse‘-Eigenheiten zu gelten habe. 162 Fritsch, Handbuch der Judenfrage (1907), 362. 163 Fritsch, Handbuch der Judenfrage (1907), 363. 164 Fritsch, Handbuch der Judenfrage (1907), 362f. Gerade mit Blick auf das rhetorisch genutzte, affektorientiert groß geschriebene ‚Alles‘ drängt sich der Vergleich mit Robert Schumanns Rezension zu Les Huguenots auf (Fragmente aus Leipzig [1837], 74: „Es ist Alles gemacht, Alles Schein und Heuchelei.“). Schumann wird indes nicht in der zweckdienlichen Zitat-Sammlung des Handbuchs der Judenfrage aufgeführt. 165 Fritsch, Handbuch der Judenfrage (1907), 363. 166 Fritsch, Handbuch der Judenfrage (1907), 363: „Als Komponisten sind die Hebräer nirgend Bahnbrecher und Pfadfinder gewesen; [...] Nur ein gewisses orientalisches Kolorit und der Anklang an Synagogen-Gesänge gibt ihren Schöpfungen den Anschein einiger Originalität. Ein bestimmter spezifisch jüdischer Rhythmus ist vielfach zu erkennen.“ 167 Fritsch, Handbuch der Judenfrage (1907), 363. Diese Zuschreibung ähnelt den Analogien Max Brods, mit denen er 1916 in seinem Aufsatz Jüdische Volksmelodien Mahlers Melodik als eine „Art, sich langsam in Bewegung zu setzten, zuerst denselben Ton einigemale zu wiederholen, für westliche Ohren eigensinnig oft, dann erst loszuschaukeln, in kleineren, bald gewaltigeren Schwingungen“ (345) zu greifen suchte. 168 Fritsch, Handbuch der Judenfrage (1907), 364.
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1932 erschien die 31. Auflage des Handbuchs der Judenfrage in umstrukturierter und erweiterter Form. Im Sinne Hans Friedrich Karl Günthers wurden mit dem Abschnitt Rassenkunde des jüdischen Volkes alle früheren ‚Rassentheoretiker‘ als überholt dargestellt. Darüber hinaus konstruierte der Musikschriftsteller Erich Hermann Müller169 in einem neuen, umfangreicheren Kapitel mit dem durch Richard Wagner vorgeprägten Titel Das Judentum in der Musik170 die „Judenfrage in der Musik“,171 der er als den „seelischen Ruin des Abendlandes“172 in nahezu allen Bereichen des Musiklebens nachspürte. Den bekannten anti-judaistischen Stereotypen der deutschen Meyerbeer-, Mendelssohn Bartholdy- und Offenbach-Rezeption fügte Müller eine umfangreiche Namensaufstellung hinzu, die er zudem um eine historisch orientierte Auflistung erweiterte.173 Beginnend in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts mit dem Minnesänger Süßkind von Trimberg über den Musiktheoretiker Leo Hebraeus (um 1460–1535) bis zu dem am Hof zu Mantua wirkenden Madrigalkomponisten Salomon Rossi (1587– 1628) konstatierte Müller, dass diese als einigendes Merkmal „in gewissem Sinne zersetzend“ gewirkt haben, ihnen „wirkliches Schöpfertum versagt“174 geblieben sei und „jener gewisse Zug zur Trivialität, der jüdische Musik so ungenießbar für abendländische Hörer“175 mache, hier schon festzustellen sei. Damit erweiterte Müller den Gedanken der ‚Verjudung der deutschen Musik‘ um eine geschichtliche Perspektive, die einzig dazu diente, eine Kontinuität des ‚jüdischen‘ Mangels an musikalischem Können nachzuweisen. Für das 20. Jahrhundert machte Müller „Schallplatte und Rundfunk“ als „die beiden Domänen der Juden“ aus, die als „Mittel zur Entseelung“ die Operette, den Schlager und den Jazz, „jene amerikanisch-jüdisch-negroide Synkopenmusik“ bis „in die letzte Bauernhütte“176 trügen. Auch die Anprangerung von Gustav Mahler und Arnold Schönberg als Repräsentanten 169 Erich Hermann Müller (1892–1964) studierte in Leipzig bei Hugo Riemann und Arnold Schering. 1915 promovierte er über Die Mingottischen Opernunternehmungen 1732–1756. Er war der Herausgeber des verbreiteten Deutschen Musiker-Lexikon (1929), in dem neben biographischen Angaben auch Wohnort und Konfession mithilfe eines Fragebogens ermittelt wurden. Bis 1933 lebte Müller in Dresden, dann in Salzburg und kehrte 1945 unter dem Namen Erich Müller von Asow nach Berlin zurück. 170 In: Handbuch der Judenfrage. Die wichtigsten Tatsachen zur Beurteilung des jüdischen Volkes (311932), 323–333. 171 Müller, Das Judentum in der Musik (1932), 323. 172 Müller, Das Judentum in der Musik (1932), 329. 173 Dieser musikhistorische Rekurs ist offensichtlich aus Paul Nettls Studie Alte jüdische Spielleute und Musiker (1923) entlehnt. Auch die kulturzionistisch geprägten gleichnamigen Schriften Das Judentum in der Musik von Heinrich Berl (1926) und S. Levy (1930) wurden von Müller als Quellenmaterial genannt (333). 174 Müller, Das Judentum in der Musik (1932), 324. 175 Müller, Das Judentum in der Musik (1932), 325. 176 Müller, Das Judentum in der Musik (1932), 328.
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der Moderne fehlte bei Müller nicht, denen unabhängig von der jeweiligen Herkunft Ernst KĜenek, Kurt Weill, Igor Strawinsky und Paul Hindemith zur Seite gestellt wurde.177 Ihnen allen sei das generelle Ziel zu eigen, „das ganze abendländische Tonsystem, jenes kunstvoll stilisierte Meisterwerk ungezählter Generationen, zu zerstören“.178 In seinem verschwörungstheoretisch unterfütterten Artikel fand Müller in der Musikgeschichtsschreibung und der Musikwissenschaft ebenfalls eine Durchsetzung mit „jüdischen Elementen“.179 Mit seinem denunziationseifrigen Rundumschlag schoss Müller allerdings sehr deutlich weit über sein Ziel hinaus, wenn er neben Guido Adler, Alfred Einstein und Curt Sachs mit offenem Konkurrenzneid180 auch Hermann von der Pfordten, Paul Graener181 und Hans Joachim Moser nannte: Dieser ist der Sohn des aus Semlin eingewanderten Andreas Moser, der an der Berliner Hochschule neben dem ungarischen Juden Joseph Joachim wirkte und dessen engster Vertrauter war. Hans Joachim Moser ist hervorgetreten als Musikgelehrter, Sänger, Klavierspieler, Komponist, Bearbeiter, Herausgeber und Novellist. Mit der unerhörten Rührigkeit, die der jüdischen Rasse eigen ist, nimmt er zu allen Fragen der Musik oft recht oberflächlich und in einem mit den unnötigsten Fremdworten gespickten Stil Stellung. [...] Daß Moser evangelischer Konfession ist, ändert nichts an seiner unzweifelhaften jüdischen Rassenzugehörigkeit.182
Dementsprechend veränderte sich 1933 das Kapitel Das Judentum in der Musik in der 32. Auflage des Handbuchs der Judenfrage, wenngleich Müller weiterhin als Verfasser zeichnete. Die Namenslisten wurden gemäß den politischen Anforderungen korrigiert und deutlich erweitert. Unter der, aus dem parasitären Bereich entlehnten Beschimpfung „Hauptschädlinge des deutschen Musiklebens“,183 denen die „vorsätzliche Vernichtung uralter 177 Hiermit griff der Artikel bereits 1932 den Kanon der ‚verfemten Moderne‘ vorweg, den die Ausstellung Entartete Musik 1938 in Düsseldorf zum Programm erhob und auch nicht-jüdische Komponisten stigmatisierte. 178 Müller, Das Judentum in der Musik (1932), 329. 179 Müller, Das Judentum in der Musik (1932), 329. 180 Müller, Das Judentum in der Musik (1932), 331: „Allen diesen Männern ist eine ungeheure Betriebsamkeit eigen. Sie sind mehr oder weniger immer bei allen Kongressen und Tagungen in erster Reihe; sie verstehen es, mit Geschick über ihre Arbeiten einen Schleier strenger Wissenschaftlichkeit zu verbreiten, und sind in ihren Urteilen meist ganz apodiktisch. Mit ziemlicher Ellenbogenfertigkeit drängen sie sich und ihre oft recht bescheidenen Leistungen in den Vordergrund, wobei ihnen ihre jüdischen Pressegenossen hilfreich die Hand bieten.“ 181 Der Komponist Paul Graener (1872–1944), seit 1930 Direktor des Sternschen Konservatoriums in Berlin, wurde 1933 Vizepräsident der Reichsmusikkammer. 182 Müller, Das Judentum in der Musik (1932), 330. Zu den Auflagenzahlen nach 1933 vgl. Prieberg, Musik im NS-Staat, 71: „Dieses Nachschlagewerk war in 200 000 Exemplaren verbreitet; jede Bibliothek besaß es, und natürlich hatte jeder Fehler böse Folgen, so daß mehrfach Persönlichkeiten und Firmen juristisch gegen ihre irrtümliche Brandmarkung einschreiten mußten.“ 183 Müller, Das Judentum in der Musik (1933), 327.
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Kulturwerte“184 unterstellt wurde, hetzte Müller nun unspezifischer gegen die „Verjudung der Musikwissenschaft“, gegen „Rassegenossen und Marxisten“ in der „Verjudung des Musikschulwesens“185 und listete „jüdische[...] Agenten“,186 Repräsentanten der „Jüdische[n] Gesangskunst“,187 „jüdische[...] Pianisten“ und Instrumentalisten sowie „jüdische[...] Dirigenten“188 auf. Die von Erich Müller vorgebrachten Schmähungen und Denunziationen wiederholte und bündelte 1935 Hans Költzsch189 in einem vierzehnseitigen Kapitel,190 das bis zur 49. Auflage des Handbuchs der Judenfrage von 1944 in unveränderter Form beibehalten wurde.191 In direkter Anlehnung an Hitlers Mein Kampf meinte Költzsch eine „unerbittlich sachliche[...] und gerechte[...] Scheidung zwischen dem Geiste, der gründet, gestaltet, und dem der auflöst und zersetzt, zwischen Kultur-Schöpfer, -Begründer, -Ausstreuer, und -Schmarotzer, -Zerstörer“192 vornehmen zu können und behauptete mit Richard Eichenauers Musik und Rasse: „europäische Tonkunst ist nordischen Geistes“.193 In einfachen Zuordnungen prägnant-griffiger Substantive zu der Liste ‚jüdischer‘ Komponisten propagierte Költzsch den Kanon, der für alle Autoren im Nationalsozialismus obligatorisch werden sollte: An den größeren jüdischen Gestalten der deutschen Musikgeschichte sehen wir [...], wie das mehr oder minder klare Bewußtsein des Gnaden-Mangels, des Nichtschaffen-Könnens zu Ableitung und zum Ersatz greifen läßt: Mendelssohn zur Glätte der Form und zu Stil-Mustern, Meyerbeer zum Schein und Flitter des Theaters, Offenbach zu Frivolität, Zynismus und Erotik, Mahler zur Ekstase, Schönberg zu übersteigertem Intellekt und Konstruktion. [...] Was bei den dabei genannten Größeren dann gerade noch an Eigenwerten herauskommt, enthüllt sich bei den Kleineren und Kleinen erbarmungslos als technisch gekonntes Nachäffen und geschickt übertünch184 Müller, Das Judentum in der Musik (1933), 324. 185 Müller, Das Judentum in der Musik (1933), 327. 186 Müller, Das Judentum in der Musik (1933), 331. Schon im Antisemiten-Katechismus (1893) wurde gegen die ‚jüdische Herrschaft‘ in der Presse und den Theateragenturen gehetzt (365): „Bei der musikalischen Berühmtheit spielt die Preßmache eine große Rolle; mäßige Talente, wenn sie nur den Vorzug haben, dem auserwählten Volke anzugehören, werden solange hochposaunt, bis jedermann glaubt, daß sie hervorragende Künstler sind. [...] Nimmt man hinzu, daß die Theater-Agenten [...] ausschließlich Juden sind, so ist es begreiflich, warum es für die Kinder Juda so viel leichter, für deutsche Talente so schwer ist, zur Geltung zu gelangen.“ 187 Müller, Das Judentum in der Musik (1933), 332. 188 Müller, Das Judentum in der Musik (1933), 333. 189 Hans Költzsch (geb. 1901) promovierte 1924 in Leipzig über Franz Schubert und seine Klaviersonaten und war bereits vor 1933 Mitarbeiter der Zeitschrift für Musik. 190 In: Handbuch der Judenfrage (381935), 313–327. 191 In: Handbuch der Judenfrage (491944), 334–349. Das Kapitel Das Judentum in der Musik erschien allerdings ohne die Angabe von Költzsch, während die Namenslisten mit jeder Auflage umfangreicher wurden. 192 Költzsch, Das Judentum in der Musik (1935), 313. 193 Költzsch, Das Judentum in der Musik (1935), 314.
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tes Epigonentum [...] oder als aufgeplusterter Kitsch [...] oder als zeitgebundenes oberflächliches Mitmachen jeder Stilsensation [...].194
Auch Költzsch systematisierte und erweiterte die nach unterschiedlichen Berufsgruppen geordnete Namensauflistung Müllers. Neben Komponisten, Operetten-Librettisten, Dirigenten, Sängern und Instrumentalisten erschienen die Namen von Musikwissenschaftlern, Kritikern und Pädagogen sowie von Musikagenturen und Verlagen,195 um die angeblichen profitorientierten ‚jüdischen‘ Geschäftsinteressen in der Musik zu konstruieren und gleichzeitig zu suggerieren, dass „das deutsche Kulturleben im wesentlichen in jüdischen Händen“ läge.196 Dabei wurden in diesen Listen nicht nur die gemäß der Nürnberger Rassegesetze vom September 1935 als ‚Volljuden‘ Gebrandmarkten einbezogen, sondern ebenso „die Namen der Mischlinge und der meist evangelisch Getauften“ und auf die Künstler verwiesen, die „bei arischer Abstammung jüdisch dachten und handelten, mitschwammen im Strom von Fäule und Zersetzung“.197 Nicht allein die Bekämpfung von Komponisten, Musikern und Musikliteraten jüdischer Herkunft war das Ziel der NS-Musikpolitik, sondern die Ausweitung auf jegliche Exponenten der musikalischen Moderne, die auf die Begriffe ‚Zersetzung‘ und ‚Entartung‘ reduziert wurde: Dies sind nüchterne Listen; macht man sich aus ihnen noch einmal das Bild vor allem der 20er Jahre lebendig, so faßt einen das Grauen [...]. Man erinnere sich der Judenschulen Schrekers und Schönbergs [...], Klemperers [...], der widerlichen Experimentier- und Protektionswirtschaft Bekkers-Kreneks [...]; man erinnere sich, wie auch schöpferisch wertvolle Musiker (Hindemith!) von diesem Geist der Zersetzung, der Flucht in Sensation und oberflächliches Experiment ergriffen wurden; [...] Man erinnere sich [...] wie der Arier Hans Mersmann in seiner Zeitschrift ‚Melos‘ hemmungslos für alles Jüdisch-‚Moderne‘ eintrat, – wie der arische, jüdisch-versippte Kritiker H.H. Stuckenschmidt seine Schmutzkübel in deutsch-jüdischen Tagezeitungen ausleeren durfte, – welchen Erfolg die rassenschänderische Oper ‚Jonny spielt auf‘ des Ariers, doch jüdisch verheirateten Ernst Krenek im Jahre 1928 hatte [...].198 194 Költzsch, Das Judentum in der Musik (1935), 315f. 195 Költzsch, Das Judentum in der Musik (1935), 317f: „Nicht genug damit: die Gebiete des Musikhandels im weiten Sinne, mit Noten sowohl wie mit Menschenware, Verlag und Agentur, wurden von Juden mit besonderer Zähigkeit mit Beschlag belegt; die Mehrzahl großer MusikVerlage befanden und befinden sich in jüdischen Händen [...]. Hinzu kamen [...] die jüdischen Agenturen [...], die Hunderten von Rassegenossen mit oft recht wenig Können und Berechtigung die Tore zur Öffentlichkeit erschlossen – und sie vielen gleichwertigen arischen Künstlern versperrten!“ 196 Költzsch, Das Judentum in der Musik (1935), 320. 197 Költzsch, Das Judentum in der Musik (1935), 320. Bereits 1920 hatte Hans Pfitzner in seiner Polemik Die neue Aesthetik der musikalischen Impotenz. Ein Verwesungssymtom? eine Unterscheidung nach der ‚Gesinnung‘ postuliert (124): „Der Grenzstrich der Scheidung in Deutschland geht nicht zwischen Jude und Nichtjude, sondern zwischen deutsch-national empfindend und international empfindend.“ 198 Költzsch, Das Judentum in der Musik (1935), 325. Einige der hier Genannten befanden sich 1935 im Exil. Schönberg verließ Berlin bereits im Mai 1933. Der Katholik Franz Schreker,
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Ähnlich war die denunziatorische Konzeption eines weiteren antisemitischen ‚Standardwerks‘, das 1913 unter dem Titel Semi-Kürschner erschien199 und neben den Namen getaufter Juden auch ‚jüdisch‘ verheiratete Personen brandmarkte. Der Titel dieser Publikation bezog sich auf den Lexikographen Joseph Kürschner (1853–1902), Herausgeber zahlreicher Nachschlagewerke, Handbücher und literarischer Reihen, der vor allem durch die Edition des biobibliographischen Nachschlagewerks Deutscher Literatur-Kalender bekannt wurde. Als Abkürzung des Begriffs ‚Semiten‘ fungierte die Vorsilbe „Semi-“,200 um mit dem „Semiten-Kürschner“ an den Titel des Antisemiten-Katechismus anzuknüpfen. Die neutrale bis positiv gewertete Vokabel ‚Antisemitismus‘ wurde um die Wende zum 20. Jahrhundert als Selbstbezeichnung häufig benutzt.201 Durch die Endung ‚-ismus‘ einen wissenschaftlichen Habitus suggerierend, beriefen sich sämtliche antisemitischen ‚Standardwerke‘ mit ihren jeweiligen Titeln und Begrifflichkeiten von „Handbuch“ über „Statistik“ bis „Lexikon“ äußerlich auf diese seriös-wissenschaftliche Fassade und stellten sich in eine Reihe mit anderen Nachschlagewerken und Enzyklopädien. In alphabetischer Reihenfolge listete der Semi-Kürschner die Namen von etwa 200 Musikschaffenden auf.202 Neben den Lebensdaten, dem jeweiligen 1934 in Berlin verstorben, war indes schon Anfang der 20er Jahre nach seiner Ernennung zum Direktor der Berliner Hochschule für Musik heftigen Anfeindungen ausgesetzt, in denen er neben Busoni und der Zeitschrift Melos zum Protagonisten der Berliner „semitisch tschecho-slowakische[n] Afterkunstinvasion“ erklärt wurde, die gegen den „deutsche[n] Michel“ angetreten sei (Bruno Schrader, Musikbriefe. Aus Berlin, in: Zeitschrift für Musik [Febr. 1921], 65). Otto Klemperer wurde 1933 aus ‚rassischen‘ Gründen an der Berliner Staatsoper entlassen (vgl. Otto Klemperer wurde brieflich verständigt, in: Berliner Lokal-Anzeiger vom 6.6.1933, abgedr. in Wulff, Musik im Dritten Reich, 23). Ernst KĜenek, der seit 1928 in Wien lebte, geriet vor allem durch seine Beschäftigung mit Jazz und Zwölftontechnik in den NS-Fokus. Zusammen mit Weills Dreigroschenoper und Wozzeck von Alban Berg galt seine Oper Jonny spielt auf als Höhepunkt ‚entarteten Opernschaffens‘. Während Paul Bekker 1936 Deutschland verließ und 1937 im Exil verstarb, emigrierte Hans Heinz Stuckenschmidt erst 1937 nach Prag (vgl. Prieberg, Musik im NSStaat, 225–234). Paul Hindemith, dessen Oper Mathis der Maler 1934 einen Skandal auslöste, reiste im September 1938 zunächst in die Schweiz, um später in die USA zu immigrieren. Zu Hans Mersmann, der 1933 seine Position als verantwortlicher Herausgeber der Zeitschrift Melos verlor, vgl. Kap. 6.3 Ideologische Einwirkungen auf das musikwissenschaftliche Schrifttum. 199 Der Herausgeber des Semi-Kürschners Phillip Stauff (1876–1923) war Ordenskanzler des 1912 gegründeten Germanenordens, einer Vereinigung mehrerer antisemitischer und völkischer Gruppen. Daneben fungierte er auch als Vorsitzender des Guido-von-List-Bundes, von dem Hitler wohl sprachliche und ideologische Anregungen bekam. 200 So etwa auch bei dem 1912 erschienen so genannten ‚Semi-Gotha‘, der die Namen adliger Familien jüdischer Herkunft auflistete. 201 Erst im August 1935 gab es eine offizielle Anordnung vom Propagandaministerium, den Begriff ‚Antisemitismus‘ in der öffentlichen Agitation zu vermeiden. Vgl. Cornelia Berning, Die Sprache des Nationalsozialismus, 162. 202 Stauff, Semi-Kürschner (1913), 43–72. In welchem Maße die antisemitischen Namenslisten anschwollen, macht die zweite Auflage des Semi-Kürschners – erschienen unter dem Titel Sigilla Veri – deutlich, die als sechsbändige Ausgabe geplant war (E. Ekkehard [Hg.], Sigilla Veri
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Wirkungskreis und den wichtigsten Werken wurde bei einigen Eintragungen eine vollständige Adresse beigefügt und so die Genannten noch angreifbarer gemacht als bei einer einfachen Namensnennung. Als direkte schwarze Liste nutzbar, lieferte der beschreibende Text bei einzelnen Namen weniger musikbezogene als ideologisch verbrämte Aussagen, die sich inhaltlich auf drei Argumentationsmuster reduzieren lassen. Zum einen sollten Querverweise auf Kontakte ‚jüdischer‘ Künstler untereinander den Nachweis einer ‚jüdischen Verschwörung gegen die deutsche Musikkultur‘ erbringen. So lautete der Vermerk zu dem getauften Komponisten und bekannten Mahler-Dirigenten Oskar Fried: Unser musikalischer Sachverständiger schreibt: Die Ges.d. Musikfreunde wurde wohl (von Juden) gegründet, um Fried zu einer Dirigentenstelle zu verhelfen.203
Als zweite Kategorie der Eintragungen findet sich hierzu ergänzend als angeblicher Beleg für die ‚jüdische Schmeichelei‘ mit dem Ziel der ‚Weltherrschaft‘ vielfach der vorwurfsvolle Verweis auf eine Verquickung mit machtvollen Personen des öffentlichen Lebens, wie etwa bei dem international renommierten Geiger „Bronislaw Hubermann“: Dieser Jude aus Polen spielt bei unsern Ministern und Fürsten auf. Gibt es denn keine nichtjüdischen Musiker mehr, die den Bedarf bei den Mächtigen dieser Erde bestreiten könnten?204
Und schließlich wurde mit Hinweisen auf die angeblich enormen Einkommensverhältnisse einzelner ‚jüdischer‘ Verlags-, Spielstätten- und Konzertagenturleiter die ökonomische Ausbeutung der Nicht-Juden und die profitorientierte ‚Vermarktung‘ und ‚Verfälschung‘ der ‚deutschen‘ Musik behauptet.205 Sämtliche der hier dargestellten Publikationen dienten als Vorbilder und als Quellen für die ausschließlich musikbezogenen ‚Lexika‘ mit einschlägigen Nennungen der ‚Juden in der Musik‘. Dabei zeigt die Auflistung jüdischer Namen, wie sie sich schon seit Ende des 19. Jahrhunderts im deutsch[Ph. Stauff’s Semi-Kürschner], 5 Bde., 2. verb. u. verm. Aufl. 1929–1932). Der Titel bezog sich vermutlich auf das lateinische ‚Sigillaria, Sigillum‘, ein römisches Bilderfest, an dem Wachs- oder Tonbilder verschenkt wurden. Die Sigilla Veri erschien allerdings nur bis zum 5. Band und brach mit dem Eintrag zu Walther Rathenau ab. Als antisemitisches Nachschlagewerk konnte es nur direkt vom Herausgeber geordert werden und war deshalb nicht so verbreitet wie das Handbuch der Judenfrage. 203 Stauff, Semi-Kürschner (1913), 51. Der Berliner Oskar Fried (1871–1941) emigrierte 1934 in die Sowjetunion. 204 Stauff, Semi-Kürschner (1913), 55. Bronisáaw Hubermann (1882–1947) hatte bereits 1929 Palästina besucht und beteiligte sich an der Gründung des Palestine Orchestra, das mit einem Konzert unter Toscanini am 26.12.1936 seine Tätigkeit begann. 205 So etwa beim Konzertveranstalter Ullmann (Semi-Kürschner, 70ff).
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sprachigen Raum findet, dass eine klare Identifizierbarkeit der deutschen Juden durch ihre Vor- und Familiennamen angenommen wurde. Wie Dietz Bering in seiner Studie Der Name als Stigma nachweist, erhielten bestimmte Namen seit dem Namensannahmegesetz 1845/46 zunehmend eine deutlich anti-judaistische Aufladung, die sich bereits in der skizzierten deutschen Rezeption Meyerbeers, Mendelssohn Bartholdys und Offenbachs nachweisen lässt. Als vermeintlich ‚jüdisch‘ klingende Namen galten Levy, Cohn, Schmul oder Itzig ebenso wie alttestamentliche und hebräische Vornamen „wie Nathan, Salomon, Baruch, David, Isidor usw., die selbst in der Abkürzung als bloßes N., S., B., D. noch charakteristisch“206 seien. Darüber hinaus wurden – wie gezeigt – auch Herkunftsbezeichnungen (Breslauer, Mendelssohn), Tiernamen (Löwe, Hirsch) und zusammengesetzte Namen (Sternberg) als typisch ‚jüdisch‘ angesehen und „die Erkennbarkeit der Juden an ihren Namen als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt“: Einer Bewegung wie der antisemitischen, die an einen genetischen Verbund zwischen Rassen und bestimmten charakterlichen, ja sogar wirtschaftlich-beruflichen Eigenarten glaubte, lagen die Konzepte der sozialen Bedingtheit des Menschen oder von seiner Entscheidungsfreiheit ebenso weit entfernt wie die Arbitrarität der Namengebung. [...] So gesellte sich denn just zur Falsibilität der ‚jüdischen‘ Namen ausgerechnet ihre immer steigende Bedeutsamkeit. Mit der Abnahme aller ehemals unterscheidenden Qualitäten wie Kleidung, rituelle Eßgewohnheiten, gesonderte Feiertage, eigentümlicher Sprachduktus usw. gewann der festgeschriebene Familienname als unfortschaffbar Haftendes ja immer größere Bedeutung. An diesem – vermeintlichen – Distinktiv konnte man Vorurteile, Aggressionen und auch den Spürsinn ansetzen lassen, wenn man herausbekommen wollte, ob jemand denn nun Jude sei.207
Unter gänzlich anderen Voraussetzungen und dennoch in historischen Kontinuitäten fand nach 1933 weiterhin diese Stigmatisierung der deutschen Juden durch Namenslisten statt. Mit dem so bezeichneten ‚Berufsbeamtengesetz‘ vom April 1933, der Schaffung der Reichskulturkammer im Herbst 1933 sowie den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 wurde ein Instrumentarium geschaffen, das so genannten ‚Volljuden‘ die Reichsbürgerrechte absprach und sie unter anderem aus jeglichen kulturellen Erwerbsbereichen ausschloss. Trotz dieser legislativen Maßnahmen und einer breiten antisemitischen Diffamierungskampagne war es auch nach 1935 noch so bezeichneten ‚Halb- und Vierteljuden‘208 möglich, einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Reichsmusikkammer zu stellen, der je nach 206 Jüdische Namen, in: Fritsch, Antisemiten-Katechismus (1893), 363. 207 Bering, Der Name als Stigma, 126. 208 Vgl. Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, 141: „Vorläufige Reichsbürger waren auch die ‚staatsangehörigen jüdischen Mischlinge‘. ‚Mischling‘ war, wer von einem oder zwei der Rasse nach volljüdischen Großelternteilen abstammte. Als volljüdisch galt ein Großelternteil ‚ohne weiteres‘, wenn er der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hatte.“
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Interesse der Machthaber unterschiedliche Aussicht auf Erfolg haben konnte.209 Um den Ausschluss aller ‚Judenstämmigen‘, ‚Mischlinge‘, ‚jüdisch Versippten‘ und ‚jüdisch Infiltrierten‘ aus dem ‚deutschen‘ Musikleben voranzutreiben, unternahmen 1935 Hans Brückner und Christa Maria Rock210 mit dem Musikalischen Juden-ABC den ersten Versuch einer ausschließlich den Musikbereich umfassenden Auflistung von Komponisten, Librettisten, Musikern, Sängern, Textdichtern, Musikschriftstellern und Musikwissenschaftlern jüdischer Herkunft. Es sah sich laut Brückners Vorwort als „Nachschlagewerk“, das „nur dann Anspruch darauf“ hätte, „ernst genommen zu werden, wenn es zuverlässig ist“.211 Die Denunziationsliste von 175 Seiten, die angeblich „durch ein zehnjähriges Forschen in den Bibliotheken und Presseerzeugnissen der Welt“212 zusammengetragen worden war, ergänzte eine „Feuilleton-Einleitung von Christa Maria Rock“.213 Deren wahllose Kurzkapitel wurden durch Überschriften wie „Jüdischer Freiheitsgesang“,214 „Wunderkinder“215 oder „Verjudeter Tonfilm in England und Amerika“216 noch diffuser. In ihren von blankem Hass getragenen Hetzartikel gab sich Rock keine Mühe, einen pseudo-wissenschaftlichen Schein zu wahren. So übertrug sie ihre verzerrten Physiognomie-Schilderungen auf musikalische Zusammenhänge und schrieb etwa zu Darius Milhaud, dessen Oper Christoph Colombe 1930 in Berlin unter Leitung von Erich Kleiber Premiere hatte: Sein quadratischer Schädel mit derbsinnlichen Formen und tückischem Blick verrät ihn ebenso, wie sein echtjüdischer Egoismus. Genau so hart und brutal, wie seine Selbstsucht sich im Leben erwies, sind auch seine Harmonien, die Mittel seiner Polytonalität, bei reichlicher Verwendung diatonischer Thematik.217 209 Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, 79f: „Die Mitgliedschaft zu den Einzelkammern war derart unbestimmt geregelt, daß es [...] völlig im Belieben Goebbels’ stand, wer den Kammern angehören durfte. [...] Zwar schaltete er auf Grund der ihm zur Verfügung stehenden Rechtsvorschriften fast alle Juden aus dem Pressewesen und den kulturellen Berufen aus, doch ließ er, besonders auf dem Gebiet des Films und des Theaters, Juden weiterarbeiten, sofern ihm dies aus künstlerischen oder geschäftlichen Gründen geraten schien.“ 210 Nach Michael H. Kater (Gewagtes Spiel. Jazz im Nationalsozialismus, 85f) war Hans Brückner ein „achtunddreißigjähriger Tenor, ein Veteran des Ersten Weltkriegs und etlicher Provinzoperetten. Er war Verleger und Chefredakteur von Das deutsche Podium [...]. Der in München ansässige Brückner hatte sich der NSDAP angeschlossen; er war ein Bewunderer des Nürnberger Gauleiters und Judenhassers Julius Streicher und erwies sich als erklärter Feind des Jazz, der Schwarzen und der Juden“. Christa Maria Rock wird hier als Vertraute Streichers und Frau eines Düsseldorfer Zahnarztes vorgestellt (88). 211 Brückner/Rock, Das Musikalische Juden-ABC (1935), 9. 212 Brückner/Rock, Das Musikalische Juden-ABC (1935), 9. 213 Brückner/Rock, Das Musikalische Juden-ABC (1935), Titelblatt. 214 Brückner/Rock, Das Musikalische Juden-ABC (1935), 33f. 215 Brückner/Rock, Das Musikalische Juden-ABC (1935), 54ff. 216 Brückner/Rock, Das Musikalische Juden-ABC (1935), 57–60. 217 Brückner/Rock, Das Musikalische Juden-ABC (1935), 51.
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Einen besonderen Schwerpunkt setzte das Musikalische Juden-ABC in dem Aufspüren von Künstlernamen, die als „Jüdische Tarnungen“218 oder ‚Decknamen‘ zum Beweis für die, den Juden zugeschriebene ‚Rasse‘-Eigenschaft des ‚Täuschens‘ und ‚Verstellens‘ gegenüber einer nicht-jüdischen Umwelt aufgeführt wurden. Ungeachtet der Tatsache, dass schon im September 1934 von der Reichsmusikkammer das „Führen von Künstlernamen, namentlich von ausländisch klingenden, ohne besondere Genehmigung“219 verboten worden war, wetterte noch 1938 Theo Stengel als einer der Herausgeber des Lexikons der Juden in der Musik gegen Getarnte Musikjuden.220 Dabei wurde ‚den Juden‘ sowohl ihre Assimilation als bewusste Irreführung und spezifisch ‚jüdische Mimikry‘ vorgeworfen als auch die Unmöglichkeit einer Identifikation anhand angeblich ‚jüdisch‘ klingender Vor- oder Familiennamen. Neben der Nennung von Pseudonymen und den jeweiligen Mädchen- und Ehepartnernamen gab es Versuche, die durch christliche Taufe möglich gewordenen Namensänderungen aufzuspüren. Wie absurd die Bemühungen um den Nachweis einer jüdischen Herkunft zum Teil waren, wurde schon im Handbuch der Judenfrage deutlich, in dem Franz Lehár mit dem Verweis auf das Palindrom ‚Rahel‘ seines Nachnamens als vermeintlicher Jude stigmatisiert wurde.221 Ähnlich verhielt es sich mit Max Bruch, der durch seine Komposition Kol Nidre (1881), einem Stoff, den „ein Deutscher [...] niemals bearbeiten“222 würde, aufgefallen war. Mithilfe der Einfügung eines ‚A‘ in den Nachnamen erklärte man ihn kurzerhand zu Max „Baruch“.223 Noch im Musikalischen Juden-ABC wurde 218 Brückner/Rock, Das Musikalische Juden-ABC (1935), 62f. 219 Stuckenschmidt, Musik unter Hitler, 513. Im Januar 1938 wurde das generelle ‚Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen‘ erlassen. Vgl. Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, 171: „Am 17. August 1938 erklärte dann eine Durchführungsverordnung, daß Juden nur solche Vornamen führen durften, die in den Richtlinien des Reichsinnenministeriums über die Führung von Vornamen enthalten waren, andernfalls hatten sie ihren Vornamen zusätzlich den Namen ‚Israel‘ oder ‚Sara‘ hinzuzufügen. Neben dem rein diffamierenden Aspekt beinhaltete das Gesetz zugleich ein sicherheitspolizeiliches Element, da es zugleich der erste Versuch einer allgemeinen, äußerlichen Kennzeichnung der Juden war.“ 220 In: Die Musik (Jan. 1938), 247f: „Es ist durchaus nicht das Privileg der jüdisch-bolschewistischen Weltrevolutionäre, durch geschickte Namensänderung die jüdische Herkunft zu verschleiern. Vielmehr begegnen wir auch anderswo solchen getarnten Juden. [...] Bei näherer Betrachtung bilden auch die getarnten Musikjuden eine beachtliche Kollektion.“ 221 Fritsch, Handbuch der Judenfrage (1910), 208. Aufgrund seiner Zusammenarbeit mit Librettisten jüdischer Herkunft wie Fritz Löhner wurde Lehár nach 1933 zunächst nicht aufgeführt (vgl. Wulf, Franz Lehár, in: ders., Musik im Dritten Reich, 437f). Erst nach Umarbeitungen konnte die von Hitler geschätzte Operette Die Lustige Witwe wieder auf die Bühne gebracht und Léhar auch aufgrund mangelnder Alternativen rehabilitiert werden. Vgl. zu den NS-Operettenverhältnissen: Ingrid Grünberg, ‚Wer sich die Welt mit einem Donnerschlag erobern will...‘. Zur Situation und Funktion der deutschsprachigen Operette in den Jahren 1933–1945, in: Heister/Klein, Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland, 227–242. 222 Stauff, Semi-Kürschner (1913), 48. 223 Stauff, Semi-Kürschner (1913), 47.
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Bruchs Name fälschlicherweise neben Hugo Riemann und Rudolf Haas aufgeführt.224 Auch der nicht-jüdische Dirigent und Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper Ernst Kleiber (1890–1956) sollte nach dem Willen der Herausgeber des Musikalischen Juden-ABCs durch die Schreibweise seines Namens als Jude kenntlich gemacht werden. In Anlehnung an die angebliche spezifisch jüdische Artikulation schlugen sie eine Schreibweise mit ‚AI‘ vor.225 Trotz vieler fehlerhafter und unvollständiger Angaben in der schwarzen Liste von Hans Brückner und Christa Maria Rock erfuhr die Publikation drei erweiterte Auflagen, in denen mit Akribie Namen berichtigt und zusätzliche Namen hinzugefügt wurden.226 Jede neue Auflage erhielt in den Rezensionen der großen NS-Musikzeitschriften Die Musik und Zeitschrift für Musik eine breite Resonanz227 und wurde letztlich trotz Kritik an der Zuverlässigkeit „zum eisernen Bestand der Schulungsliteratur“ gezählt.228 Unter den Rezensenten fanden sich auch die beiden späteren Herausgeber des Lexikons der Juden in der Musik, Theodophil Stengel und Herbert Gerigk.229 224 Brückner/Rock, Das Musikalische Juden-ABC (1935), 88. Riemanns Musiklexikon diente indes neben der Sigilla Veri, dem Handbuch der Judenfrage, dem Tonkünstler-Lexikon von Wilhelm Altmann und Musik und Rasse von Richard Eichenauer als Quelle für die Zuordnung einer jüdischen Herkunft, da vielfach die Konfession der verzeichneten Komponisten und Musiker angegeben war. Darüber hinaus wurden auch innerjüdische Enzyklopädien verwendet wie etwa Alfred Kohuts Berühmte israelitische Männer und Frauen oder Salomon Winigers Große Jüdische National-Bibliothek. 225 Brückner/Rock, Das Musikalische Juden-ABC (1935), 150. Dieser stigmatisierende Vokalwechsel von ‚E‘ zu ‚A‘ findet sich schon im 19. Jahrhundert im Spottwort ‚Mayerbeer‘. Vgl. Kap. 3.2.2 Komponisten im Spiegel anti-judaistischer Polemik. 226 In Hans Brückners Zeitschrift Das deutsche Podium erschienen zudem laufend Ergänzungen und Berichtigungen des Musikalischen Juden-ABCs. 227 Unsere Meinung. Ein musikalisches Juden-ABC, in: Die Musik (Jan. 1936); Wir besprechen. Hans Brückner: Judentum und Musik, 31938, in: Musik in Jugend und Volk (1937/38); Gustav Bosse, Hans Brückner und C.M. Rock: ‚Judentum und Musik‘, 31938, in: Zeitschrift für Musik (März 1938); [Theo] Stengel, Auf dem Tisch. Brückner-Rock: Judentum und Musik, 31938, in: Die Volksmusik (1938); Herbert Gerigk, Musikalisches Schrifttum. Hans Brückner: Judentum und Musik, 31938, in: Die Musik (Mai 1938). 228 Gerigk, Musikalisches Schrifttum. Hans Brückner: Judentum und Musik (1938), 546. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine Aussage des völkischen Musikschriftstellers Reinhold Zimmermann in seiner Rezension zur 2. Auflage des Musikalischen Juden-ABCs (in: Zeitschrift für Musik [Dez. 1936]). Zimmermann, der schon in der Weimarer Zeit durch aggressive antisemitische Publikationen aufgefallen war, teilte hier seinen eigenen Plan von 1924 mit, ein ‚Lexikon der Juden in der Musik‘ herauszugeben. Vorbereitet „mit Hilfe von mehreren hundert Fragebogen“, die ihm von Alfred Heuß, dem damaligen Hauptschriftleiter der Zeitschrift für Musik und Gründungsmitglied des Kampfbunds für deutsche Kultur, „ebenso verständnisvoll wie uneigennützig zur Verfügung“ gestellt wurden, scheiterte allerdings das Vorhaben: „bis auf ein gutes halbes Dutzend eingelaufener Antworten blieb die ganze Arbeit ergebnislos“ (1502). 229 Sowohl Stengel als auch Gerigk waren promovierte Musikwissenschaftler. Theodophil Stengel (geb. 1905) studierte bei Arnold Schering und Georg Schünemann in Berlin und schrieb 1931 seine Dissertation über Die Entwicklung des Klavierkonzertes von Liszt bis zur Gegenwart,
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Im Unterschied zur Eigeninitiative Brückners erfolgte 1940 die Publikation des Lexikons der Juden in der Musik im Auftrag der NSDAP. Als Veröffentlichung des Instituts zur Erforschung der Judenfrage, der 1941 in Frankfurt gegründeten ersten Abteilung der Hohen Schule, schlossen sich durch die Herausgeber die beiden machtvollsten Organisationen der NSMusikpolitik zusammen: Theo Stengel als Referent der Reichsmusikkammer, die dem Propagandaministerium unter Joseph Goebbels unterstand, und Herbert Gerigk als Leiter der Hauptstelle Musik. Darüber hinaus arbeitete in der unter Führung des Amts Rosenberg gegründeten Hauptstelle Musik neben Stengel und Gerigk ein Stab von sechs Musikwissenschaftlern an der „reinlichen Scheidung“ zwischen „deutschem und jüdischem Geist“.230 Im Aufbau knüpfte das ‚Lexikon‘ an die dargestellten Publikationen an und glich im Umfang des Namensteils dem Musikalischen JudenABC. In einem Vorwort betonte Herbert Gerigk jedoch in Abgrenzung zu Brückner die „zuverlässigsten Quellen, [...] um dem Musiker, dem Musikerzieher, dem Politiker und auch dem Musikfreund jene unbedingte Sicherheit zu geben, die hinsichtlich der Judenfrage gefordert werden muß“.231 Diese ‚Zuverlässigkeit‘ sei durch die Unterstützung der Reichsmusikkammer, der Reichsstelle für Sippenforschung, der Standesämter, Einwohnermeldeämter sowie durch andere Verwaltungsstellen garantiert. Darüber hinaus wurde an die Mithilfe der Leserschaft appelliert: Es liegt also im allgemeinen Interesse, daß möglichst viele Benutzer Ergänzungen und Berichtigungen zu den vorhandenen Namen sowie Angaben über nicht berücksichtigte jüdische Musiker an die angegebene Anschrift weiterleiten.232
Die rassistische Namenszusammenstellung wurde mit den obligatorischen Beschimpfungen, verschleiernden Verzerrungen und formelhaften Wiederholungen tradierter Stereotype unterfüttert. In den hetzerischen Etikettierungen des Lexikons der Juden in der Musik finden sich Artikel zu den Musikwissenschaftlern Guido Adler („Verherrlichung seines Rassegenossen Gustav Mahler“233), Alfred Einstein („Ausgedehnte Herausgeber- und in der er sich – bei vorurteilsfreier Behandlung Hermann Levis oder Arthur Rubinsteins – positiv auf Pfitzners Schrift Die neue Aesthetik der musikalischen Impotenz bezog, ohne dessen antisemitische Ausfälle zu erwähnen (111f). Herbert Gerigk (1905–1996) promovierte 1929 über die Musikgeschichte der Stadt Elbing und verfasste seine Habilitation 1932 über Giuseppe Verdi. Seit 1932 Mitglied der NSDAP wurde Gerigk ab September 1936 Chefredakteur der Zeitschrift Die Musik, die seit 1934 „Amtliches Organ der NS-Kulturgemeinde“ unter Leitung Alfred Rosenbergs geworden war. Vgl. ausführlicher zu den Mitarbeitern des Lexikons der Juden in der Musik sowie zur Entstehung und Organisation die Studie Ausgemerzt! Das Lexikon der Juden in der Musik und seine mörderischen Folgen von Eva Weissweiler. 230 Stengel/Gerigk, Lexikon der Juden in der Musik (1940), 6. 231 Stengel/Gerigk, Lexikon der Juden in der Musik (1940), 5. 232 Stengel/Gerigk, Lexikon der Juden in der Musik (1940), 7f. 233 Stengel/Gerigk, Lexikon der Juden in der Musik (1940), 17.
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Bearbeitertätigkeit [...] unter Hervorkehrung prosemitischer Tendenzen“234), Ernst Kurth („Verschleierungsästhetik“235) und Curt Sachs („versuchte [...] nachzuweisen, daß die Musik des Abendlandes ihre wesentlichsten Bestandteile von der jüdischen Tempelmusik übernommen habe“236), zu Musikkritikern wie Adolf Weissmann („vernichtete mehr als einmal [...] die Laufbahn ehrlich strebender deutscher Künstler“237) und Theodor W. Adorno („einer der betriebsamsten Wortführer der jüdischen Neutöner“238), sowie zu Komponisten wie Darius Milhaud, Ernst Toch239 oder Kurt Weill.240 Ein angehängtes, umfangreiches Titelverzeichnis241 sollte „als sicherer Wegweiser [...] für Kulturpolitiker, für Bühnenleiter und Dirigenten, für den Rundfunk, für die leitenden Persönlichkeiten in den Dienststellen der Parteigliederungen und in den angeschlossenen Verbänden und nicht zuletzt auch für die Leiter der Unterhaltungskapellen“242 zur endgültigen Auslöschung der Werke von Komponisten und Librettisten jüdischer Herkunft führen. Die publizistische Wirkung,243 die seinerzeit das Lexikon der Juden in der Musik erlangen konnte, war enorm. In den Rezensionen als „geradezu erlösende Tat“244 gefeiert, breitete es in kurzer, prägnanter Form das projektive Geflecht einer ‚jüdischen Unterwanderung der deutschen Musik‘ vor dem Leser aus. Darüber hinaus appellierte das ‚Lexikon‘ an die Sensationslust und Skandalfaszination der Rezipienten. Mit einem im antisemitischen 234 Stengel/Gerigk, Lexikon der Juden in der Musik (1940), 60. 235 Stengel/Gerigk, Lexikon der Juden in der Musik (1940), 147. 236 Stengel/Gerigk, Lexikon der Juden in der Musik (1940), 235. 237 Stengel/Gerigk, Lexikon der Juden in der Musik (1940), 290. Diese Formulierung stammt, ohne als Zitat kenntlich gemacht zu sein, aus dem NS-Sammelband Die Juden in Deutschland von 1934 (365), in dem sich ein eigenes Kapitel Juden in der Musik findet (348–368). Auch viele andere Eintragungen im Lexikon der Juden in der Musik entstammen anderen Polemiken. 238 Eintrag unter „Wiesengrund-Adorno“, in: Stengel/Gerigk, Lexikon der Juden in der Musik (1940), 292. 239 Stengel/Gerigk, Lexikon der Juden in der Musik (1940), 274: „Toch übte bis 1933 als ‚fortschrittlichster‘ Komponist einen großen Einfluß aus.“ 240 Stengel/Gerigk, Lexikon der Juden in der Musik (1940), 286: „Der Name dieses Komponisten ist untrennbar mit der schlimmsten Zersetzung unserer Kunst verbunden. In Weills Bühnenwerken zeigt sich ganz unverblühmt [!] und hemmungslos die jüdisch-anarchistische Tendenz.“ 241 Stengel/Gerigk, Lexikon der Juden in der Musik (1940), 303–380. 242 Stengel/Gerigk, Lexikon der Juden in der Musik (1940), 8f. 243 Neben Herbert Gerigks Beiträgen in der Zeitschrift Die Musik veröffentlichte auch Stengel zahlreiche hetzerischer Artikel. Vgl. Stengel, Aus der jüdischen Musikkonfektion, in: Die Musik (Dez. 1937); ders., Getarnte Musikjuden, in: Die Musik (Jan. 1938); ders., Jüdische Unterhaltungsmusikfabrikanten, in: Die Volksmusik (Febr. 1938); ders., Aus jüdischen Konzertprogrammen, in: Die Volksmusik (April/Mai 1938); ders., Die Juden in der Musik, in: Die Volksmusik (Aug./Sept. 1942). 244 Friedrich Mahling, Musik und Judentum. Eine Buchbesprechung, in: Völkische Musik Erziehung (Dez. 1940), 311.
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NS-Schrifttum einzigartigen organisatorischen und personellen Aufwand erhielt es gerade durch seine behördliche Genauigkeit, die es von früheren Versuchen abhob, eine Sonderstellung.245 Damit löste es den Anspruch seiner Vorläufer wie dem Handbuch der Judenfrage oder dem Musikalischen Juden-ABC ein, als ‚informatives‘ Nachschlagewerk nicht nur für Forschungen zum Komplex ‚Musik und Rasse‘ zur Verfügung zu stehen.246 Jeder nachfolgende Autor konnte seine Publikationen mithilfe des Lexikons der Juden in der Musik und seiner Vorläufer durch eine entsprechende Kennzeichnung ‚jüdischer‘ Namen gestalten247 und pseudowissenschaftlich im Sinne der NS-Ideologie absichern.248 Bei gleichzeitigem Ausblenden des Nicht-Verzichtbaren – etwa waren die Heine-Lieder Schuberts und Schumanns oder die jüdische Herkunft des Mozart-Librettisten Lorenzo da Ponte nicht verzeichnet – zielte das ‚Lexikon‘ nicht nur auf die Anpassung der erscheinenden Musikliteratur. Mit seinem selbsterklärten Anspruch der lückenlosen Erfassung, Ausgrenzung und „schnellsten Ausmerzung aller irrtümlich verbliebenen Reste aus unserem Kultur- und Geistesleben“249 diente es einer systematischen Vernichtung von Künstlern jüdischer Herkunft. Für die Verzeichneten hatten die publizistisch „hervorgebrachten Selektionsmaßnahmen“250 zumeist verheerende Folgen. Eva Weissweiler, die in ihrer Untersuchung Ausgemerzt! Das Lexikon der Juden in der Musik und seine mörderischen Folgen251 die Schicksale von etwa zweihundertfünfzig im Lexikon der Juden in der Musik verzeichneten Personen rekonstruierte, kommt zu dem Ergebnis, dass „je niedriger der öffentliche Bekanntheits245 Auf dieser Grundlage beteiligte sich Herbert Gerigk neben Wolfgang Boetticher unter Führung des Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg während des Zweiten Weltkriegs maßgeblich an den umfangreichen Beraubungen in den von Deutschland besetzten Gebieten. Vgl. Willem de Vries, Sonderstab Musik. Organisierte Plünderungen in Westeuropa 1940–1945. 246 Stengel/Gerigk, Lexikon der Juden in der Musik (1940), 6: „Die Wissenschaft erhält damit ein Hilfsmittel, das im Zuge ihrer Neuorientierung an den Gegebenheiten der Rasse seinen Wert besitzt.“ 247 So etwa Hans Joachim Moser in seinem Musiklexikon (2. umgearb. Aufl. 1943), der weisungsgemäß in der zweiten Auflage die Namen mit den jeweiligen Kennzeichnung „j“ für ‚Jude‘ und „hj“ für ‚Halbjude‘ einführte. Noch 1943 wurde von Gerigk über die Kennzeichnung jüdischer Namen schwadroniert (Zeitspiegel, in: Musik im Kriege [Aug./Sept. 1943], 75): „Heißt es dann gar: hj., wird es wegen des Gleichklanges mit der Abkürzung für eine Parteigliederung peinlich. Auch bloße Möglichkeiten solcher doppelsinnigen Deutung sollte man strikt ausschalten. [...] Wir müssen uns daran gewöhnen, den Zusatz Jude wie einen Vornamen dem Eigennamen hinzuzufügen.“ 248 Vgl. den von Walter Trienes verfassten Anhang Juden in der Musik (in: Otto Girschner, Repetitorium der Musikgeschichte [91937], 350–414) oder den Eintrag Juden in der Musik (in: Erwin Schwarz-Reifling, Musik-ABC [1938], 224–227), die beide reine Namensauflistungen nach den einschlägigen Vorbildern darstellen. 249 Stengel/Gerigk, Lexikon der Juden in der Musik (1940), 8. 250 John, Musik und Konzentrationslager. Eine Annäherung, in: Archiv für Musikwissenschaft, 34. 251 Weissweiler sichtete 1999 die noch erhaltenen Akten der Hauptstelle Musik und verglich die Eintragungen im Lexikon der Juden in der Musik mit überlieferten Deportationslisten.
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grad [war], desto geringer die Chance, zu emigrieren und im Exil genügendes Auskommen zu finden“.252 Eine Vielzahl der in den NS-Listen Denunzierten wurde in die NS-Lager deportiert oder wählte den Selbstmord.
6.2 Historische Legitimationskonstrukte antisemitischer Musikpolitik Historische Legitimationskonstrukte Die antisemitischen Hetzschriften und pseudowissenschaftlichen Nachschlagewerke erfuhren eine Ergänzung durch propagandistische Texte, deren allgemeines Kennzeichen ein nationalsozialistischer Blick auf die Geschichte des deutschen Anti-Judaismus war. Der einfache Dualismus zwischen der ‚jüdischen Zerstörung‘ und der ‚nationalsozialistischen Neuerschaffung‘ lag auch dieser NS-Literatur zugrunde und prägte mit der Parole vom „Kampf gegen das Judentum in der deutschen Musik“253 die Versuche, die NS-Diktatur in der Musikliteratur historisch zu legitimieren. Auch in diesen, sich historisch gebenden NS-Verzerrungen wurde ‚den Juden‘ eine systematische Unterwanderung und gezielte Zerstörung der Musik unterstellt und der Antisemitismus als ausschließliche Defensive interpretiert, die planvoll und zielgerichtet im NS-Staat ihren Höhe- und Endpunkt gefunden habe. Neben diesen historischen Rechtfertigungsversuchen des antisemitischen Regimes diente eine Reduktion der Geschichte auf eine angeblich intentional ausgerichtete Entwicklung zudem der nationalistischen Überhöhung der jeweils betrachteten Personen. Diese wurden als ‚Vorkämpfer‘ einer überzeitlich hypostasierten NS-Ideologie vereinnahmt: Als wichtigstes Mittel dieser heroischen Formierung deutscher Geschichte nach der ‚Schmach‘ von Versailles diente die Identifikation des künstlerischen Ethos mit einem Heldentum, dessen Ideale den absoluten Herrschaftsanspruch der NSDAP bestärken sollten. Die Biographien deutscher Künstler, Komponisten und Staatsmänner wurden umgedeutet zu einem scheinbar überzeitlich verbindenden deutschnationalen Genietum, das ein gemeinsames Fundament der nazistischen Ideologie darstellen sollte.254
Entsprechend dieser Zielsetzung stand im NS-Musikschrifttum eine Verherrlichung von Personen der Nationalgeschichte im Vordergrund, die sich etwa in verklärenden Formulierungen über Mattheson als „geistes- und 252 Weissweiler, Ausgemerzt, 382. 253 Joseph Goebbels, Zehn Grundsätze deutschen Musikschaffens (Rede auf den Reichsmusiktagen 1938), zit. nach Mitteilungen. Düsseldorfer Reichsmusiktage, in: Die Kulturverwaltung (25.6.1938), 160f: „Der Kampf gegen das Judentum in der deutschen Musik, den Richard Wagner einmal, einsam und nur auf sich allein gestellt, aufgenommen hat, ist deshalb heute noch unsere große, niemals preiszugebende Zeitaufgabe, die allerdings jetzt >...@ von einem ganzen Volke durchgeführt wird.“ 254 Drechsler, Die Funktion der Musik im deutschen Rundfunk 1933–1945, 77.
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selenverwandten Kämpfer für deutsches Wesen“,255 über Hans Pfitzner als „Künder der deutschen Seele“256 oder über Richard Wagner als „Seher seines Volkes“257 ausdrückte. Unübersehbar bildeten die Schriften Wagners einen konstanten Fixpunkt innerhalb dieser Musikliteratur, der mit dem generell „explosiven NS-Wagner-Mythos“258 korrespondierte: Der deutsche Faschismus hat seine imperialistische Ideologie in Wagner und dessen Werke weit mehr hineinprojiziert als aus ihnen herausdestilliert und dabei auch [...] Wagners Antisemitismus ausgeschlachtet.259
Die zahlreichen Wiederveröffentlichungen und Paraphrasen des Judenthum-Artikels260 dienten der offensiven Popularisierung des Wagnerschen Antisemitismus. Auch in der schulischen Musikpädagogik galt der Text Das Judenthum in der Musik als Pflichtlektüre, da er „gegenwartsnah und lebendig [...] in unserer Zeit“ wirke.261 Neben „Richard Wagner als Künder der arischen Welt“262 wurde auch das Bayreuther Umfeld, etwa Houston Stewart Chamberlain als Vorkämpfer „um die Neugewinnung unserer alten Mythen, dem geistigen Sammelpunkt unseres Volkes, unserer Rasse“ und als „Mittler zwischen Richard Wagner und Adolf Hitler“263 apostrophiert, dem es in seinen Grundlagen des 19. Jahrhunderts schon 1899 „vorbehalten sein sollte, [...] den Marschtritt der braunen Bataillone“264 zu hören.
255 Fritz Stege, Johann Mattheson und die Musikkritik des 18. Jahrhunderts. Zur 175. Wiederkehr seines Todestages, in: Zeitschrift für Musik (April 1939), 411. 256 Erich Valentin, Künder der deutschen Seele. Ein Dankeswort zum 70. Geburtstag Hans Pfitzners, in: Zeitschrift für Musik (Mai 1939). 257 Friedrich Baser, Houston Stewart Chamberlains Kampf für Bayreuth, in: Die Musik (Juli 1934), 724. 258 Hubert Kolland, Wagner und der deutsche Faschismus, in: Heister/Klein, Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland, 126. 259 Kolland, Wagner und der deutsche Faschismus, 127. 260 Als Ausschnitt seien genannt: Moll, Richard Wagner – nationalsozialistisch gesehen, in: Die Musik (Aug. 1936); Ernst Bücken (Hg.), Richard Wagner. Die Hauptschriften (1937); Friedrich Pöschl, Richard Wagner und das Judentum, in: Deutsche Sängerbundes-Zeitung (Mai/Juni 1938); Alfred Lorenz, Worte des Sehers. Aus Richard Wagners Schriften und Briefen, in: Zeitschrift für Musik (Juli 1938); Karl Richard Ganzer, Richard Wagner und das Judentum (1938); Richard Wagner, Das Judentum in der Musik (1939); Richard Wagner, Das Judentum in der Musik, in: Musik in Jugend und Volk (1943). 261 Michael Alt, Das musikalische Schrifttum im Musikunterricht, in: Völkische Musikerziehung (Nov. 1938), 506. 262 Friedrich Baser, Richard Wagner als Künder der arischen Welt, in: Die Musik (Nov. 1933). 263 Baser, Houston Stewart Chamberlains Kampf für Bayreuth (Juli 1934), 727. 264 Baser, Houston Stewart Chamberlains Kampf für Bayreuth (Juli 1934), 726. Chamberlain, der spätere Schwiegersohn Wagners kam 1909 nach Haus Wahnfried und arbeitete hier für die Bayreuther Blätter. Zur Chamberlain-Verherrlichung nach 1933 vgl. auch: Cosima Wagner und Houston Stewart Chamberlain im Briefwechsel, in: Die Musik (Sept. 1934); Karl Blessinger, Bayreuth und die Verwaltung von Wagners Erbe, in: Zeitschrift für Musik (Juli 1933).
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Neben Chamberlain erschien auch Hans Pfitzner in den gleichgeschalteten Musikzeitschriften als „der wahre Erbe Richard Wagners“265 und seine aggressiven antisemitischen Ausfälle in der Broschüre Die Aesthetik der musikalischen Impotenz wurden als ausschließliche „Verteidigung der Kulturgüter des deutschen Volkes“ umgedeutet. Zu den bekannteren Protagonisten antisemitischer Polemik in der Musikliteratur wurden die Namen kleinerer Apologeten, wie etwa Karl Storck,266 Roderich von Mojsisovics,267 Alfred Heuß,268 Felix Draeseke oder Leopold Reichwein gestellt. Der heute fast vergessene Komponist Felix Draeseke (1835–1913), aus dem Kreis um Liszt stammend, lieferte 1906 mit Die Konfusion in der Musik. Ein Mahnruf269 die „zentrale Polemik gegen den Verismus Strausscher Prägung“, in der „die musikalische Moderne >...@ als Wegbereiter der ‚Sozialdemokraten‘“270 gewertet wurde, und trat als Komponist neben geistlichen Werken mit nationalistisch verklärenden Stoffen in die Öffentlichkeit. Nach 1933 stilisierte man Draeseke als „kulturpolitisches Genie“, als „künstlerische>n@ Wegbereiter des neuen Deutschlands“ und als den „größte>n@ Kulturpolitiker der Gegenwart“,271 dessen mangelnder künstlerischer Erfolg auf „geheime Mächte“ und „jüdische>...@ Gegner“ geschoben wurde, „die sich der Verbreitung >seiner Werke@ in den Weg stellten“.272 Da Draeseke zudem „aus seinem Antisemitismus keinen Hehl machte“,273 wurde sein Ausspruch „Im Antisemitismus liegt unser einziges Heil!“274 265 Valentin, Künder der deutschen Seele (Mai 1939), 459. 266 Vgl. Alfred Morgenroth (Karl Storck – ein deutscher Kunstpolitiker, in: Die Volksmusik [Mai 1936]), der in Storck den „geistigen Wegbereiter des nationalsozialistischen Kulturprogramms“ sah (153), da dieser angeblich „zu seiner Zeit fast der einzige gewesen >sei@, der sich von aller jüdischen Legendenbildung von Anfang an frei machte“ (158). Vgl. zu Storck das Kap. 4.2.1 Der ‚Rasse‘-Gedanke in Biographien und Musikgeschichten. 267 In diesem Sinn wurde etwa der Dirigent und Komponist Roderich von Mojsisovics (Zu seinem 65. Geburtstage, in: Die Musik [Juli 1942]) wegen seiner „bekenntnisfreudigen Gesinnung“ (323) gelobt. Vgl. zu Mojsisovics Kap. 4.2 Zur Genese des Begriffs der ‚Rasse‘ in der Musikliteratur. 268 So gedachte etwa Arnold Schering (1877–1941), der zu diesem Zeitpunkt amtierender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Musikwissenschaft war, 1934 an Heuß’ „Eintreten>...@ für Deutschtum und Sauberkeit der öffentlichen Musikpflege, als nach dem Kriege artfremde, zerstörende, gesinnungslose Elemente sich breitmachten [...]. Heuß zählte zu den wenigen, die [...] der Unmusik und ihren Vertretern die Maske abrissen“ (Alfred Heuß † am 9. Juli 1934, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft [Okt. 1934], 510f). 269 Zunächst erschienen als Artikel in der Neuen Zeitschrift für Musik, im gleichen Jahr gedruckt als eigenständige Broschüre (Stuttgart 1906). Vgl. zu Draeseke: Susanne Shigihara (Hg.), ‚Die Konfusion in der Musik‘. Felix Draesekes Kampfschrift von 1906 und ihre Folgen. 270 John, Musikbolschewismus, 22. 271 Erich Roeder, Felix Draeseke als Judengegner, in: Die Musik (März 1936), 425. 272 Roeder, Felix Draeseke als Judengegner (März 1936), 427. 273 Hermann Stephani, Felix Draeseke und seine geschichtliche Sendung, in: Die Musik (Okt. 1935), 12. 274 Roeder, Felix Draeseke als Judengegner (März 1936), 427: „Den treffendsten künstlerischen Ausdruck hat er ihr >dieser Parole@ wohl dadurch verliehen, daß er in seinem Christusmyste-
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kolportiert und als „Judengegner“ bot er zudem eine geeignete Projektionsfläche für die NS-Musikliteratur. Unter demselben Etikett eines Vorkämpfers des NS-Antisemitismus heroisierten Artikel etwa auch den Dirigenten und Komponisten Leopold Reichwein (1878–1945). Seinerzeit Generalmusikdirektor in Bochum veröffentlichte er mit vollem Titel und Funktion 1932 im Völkischen Beobachter den unverhohlen antisemitischen Artikel Die Juden in der deutschen Musik, der in Bochum zu heftigen, nicht nur publizistischen Auseinandersetzungen führte.275 In Wien kam es 1936 aufgrund Reichweins offenem Antisemitismus sogar zu einem behördlichen Auftrittsverbot, um Auseinandersetzungen zu vermeiden. Aus NS-Sicht berichteten Artikel von diesem ‚Skandal‘ und führten das Verbot auf eine Kampagne der „jüdischen Presse“276 als Reaktion auf den seinerzeit veröffentlichten Artikel zurück. Reichwein wurde in dieser ‚Verschwörung‘, die gegen ihn „wohl bedacht und auf lange Sicht“277 angelegt worden sei, zum Märtyrer stilisiert und auf eine Ebene mit Richard Wagner gehoben. Ebenso wie große Teile des Reichwein-Artikels Die Juden in der deutschen Musik eine Wagner-Paraphrase darstellen, wurde auch Wagners angebliche Begründung für die Neuauflage des Judenthum-Artikels für die NS-Glorifizierung auf Reichwein übertragen. Dieser konnte seinen Kampf gegen die „unglaubliche Verjudung des Solistenkörpers der Staatsoper“278 im Mai 1938 nach dem Anschluss Österreichs „unter erschütterndem Jubel des Publikums“279 erneut aufnehmen. Hinter derlei NS-Verherrlichungen eines ‚Behauptungskampfes‘ in der Geschichte des Antisemitismus als „Verteidigung der Kulturgüter des deutschen Volkes“,280 der sich als defensive Bewegung gegen eine angeblich jüdische Aggression wehren musste, stand offenkundig das NS-Idealbild des soldatischen Mannes, das auf die jeweiligen Autoren übertragen wurde. Mit einem Vokabular, welches sich der Verherrlichung soldatischer Eigenschaften verschrieb und das „reinste Gefühl für Wahrheit und Gerechtigkeit“,281 den rium die Auftritte der Juden durch das Satansmotiv begleitet und somit immer wieder ausspricht, daß sie die ‚Kinder des Teufels‘ sind.“ 275 Vgl. Michael Werner, ‚Die Wege des Herrn und des Journalismus sind wunderbar!‘ Die Auseinandersetzungen um Leopold Reichwein. Hier findet sich auch eine Übersicht der lokalen Presse-Reaktionen. 276 R.U., Leopold Reichwein’s, des Nationalsozialisten, Auftreten in Wien verboten!, in: Zeitschrift für Musik (Juni 1936), 281. 277 R.U., Leopold Reichwein’s, des Nationalsozialisten (Juni 1936), 282. 278 Alfred Orel, Das Wiener Musikleben im Neuaufbau, in: Die Musik (Mai 1938), 545. Orel (geb. 1889), der 1940 das Institut für Wiener Musikforschung gründete, hatte bei Guido Adler, der bekanntlich jüdischer Herkunft war, studiert. 279 Erich Valentin, Kreuz und quer, ‚Deutsch sein heißt: eine Sache um ihrer selbst willen tun‘. Ein Dankeswort an Leopold Reichwein, in: Zeitschrift für Musik (Juni 1938), 632. 280 Valentin, Künder der deutschen Seele (Mai 1939), 458. 281 Morgenroth, Karl Storck – ein deutscher Kunstpolitiker (Mai 1936), 158.
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„Wille zur Tat“, das „sittliche Verantwortungsgefühl“,282 den „Einsatz“283 mit „unerschrockener Ehrlichkeit“, „Kompromißlosigkeit“ oder „Gesinnung des Ehrgefühls“284 für sich in Anspruch nahm,285 wurde das nationalsozialistische „Vorbild geistiger Zucht und Männlichkeit“286 auch im Musikschrifttum entworfen. Eine gänzlich andere Art der Geschichtsbeugung im Sinne der antisemitischen Ideologie stellen Untersuchungen dar, die anti-judaistische Akzente aus dem Bereich „Musik und Volkstum“287 zusammentrugen. Vor dem Hintergrund einer NS-Aufwertung des Volkes „als stärkste Quelle künstlerischen Schaffens“,288 der ideologischen Überfrachtung und Inanspruchnahme des gemeinschaftlichen Gesang sowie einer damit einhergehenden „organische>n@ Volkslied-Betrachtung“289 im Rahmen der ‚musikalischen Rassenkunde‘290 legte 1934 Fritz Kynass (geb. 1908) eine Dissertation mit dem Thema Der Jude im deutschen Volkslied vor. Obgleich er sich in seiner Sammlung so genannter ‚Judenspottlieder‘ und ihrer philologischen Analyse eines offenen Antisemitismus enthielt, stellte Kynass einleitend fest, dass sich durch „diese Auswahl >...@ keinerlei Gefahr für eine falsche Beurteilung der Gestalt des Juden durch das Volk“ ergäbe, „denn es gibt keine Lieder, die dem Juden freundlich gegenüberstehen“.291 In seiner Darstellung kommt er zu dem Ergebnis, dass sich „ein buntes Bild des Juden in der Volksmeinung“292 aufzeigen lässt, das sich zur Verhöhnung in Liedern vor allem alttestamentliche Bezüge und angeblich typisch ‚jüdisch klingende‘ Namen auswählte. Wesentlich aggressiver zeigten sich die zeitgenössischen Artikel zu diesem Thema. So stellte der Darmstädter Studienrat Hans von der Au (geb. 1892) in seinem Artikel Der Jude im Tanz der Landschaft Rheinfranken von 1938293 trotz anders lautendem Titel ebenfalls die ‚Judenspottlieder‘ in 282 Valentin, Künder der deutschen Seele (Mai 1939), 459. 283 Valentin, Künder der deutschen Seele (Mai 1939), 461. 284 Valentin, Künder der deutschen Seele (Mai 1939), 460. 285 Vgl. auch Erich Valentin, Hans Pfitzners ‚glücklichste Zeit‘. Eine Übersicht über seine Straßburger Jahre, in: Zeitschrift für Musik (Aug. 1940), 458: „Denn mit diesem Augenblick begann die große Tat, die gleichsam den tausendjährigen Kulturvorgang dieses deutschen Landes am Oberrhein in eins künderisch zusammenfaßte: Pfitzner errichtete das Bollwerk im Westen, das, wie einst das Mahnzeichen Wagners in Bayreuth von der Gegenwart in die Zukunft wies, auf vorgeschobenem Posten die unbeugsame Kraft des deutschen Idealismus verkörperte.“ 286 Stephani, Felix Draeseke und seine geschichtliche Sendung (Okt. 1935), 12. 287 Karl Gustav Fellerer, Musik und Volkstum, in: Zeitschrift für Musik (Aug. 1933). 288 Fellerer, Musik und Volkstum (Aug. 1933), 819. 289 Werner Danckert, ‚Entwicklungsgeschichtliche‘ und organische Volkslied-Betrachtung, in: Archiv für Musikforschung (1941). 290 Vgl. Schmidt, Volksliedforschung und ‚Rasse‘, in: dies., Politisierung der deutschen Musik, 155–173. 291 Kynass, Der Jude im deutschen Volkslied (1934), 7. 292 Kynass, Der Jude im deutschen Volkslied (1934), 131. 293 In: Volk und Scholle (Febr./März/Aug. 1938).
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den Mittelpunkt, um unter Berufung auf den „Rasse-Instinkt“294 die „innere>...@ Ablehnung, ja Mißachtung“ des „bodenverwurzelte>n@ Menschen aus dem Volke“295 nachzuweisen: Als Ausdruck dieser inneren Haltung gegenüber seinem Frongebieter, der der Jude nur allzu oft war, als Niederschlag einer herausgeforderten Gegenseitigkeit sind die Lieder zu werten >...@. Sie sind darum ein unbestechliches Zeugnis für die wirkliche Stellung unseres Volkes zum Juden. >...@ Drum hat Deutschland zum Reiche des Führers erweckt werden müssen >...@ zur wach gerüttelten Unruhe völkischen Bewußtseins.296
Unter der gleichen Intention einer „Besinnung auf die Ausmerzung des jüdischen Anteils auf sämtlichen Gebieten“297 widmeten sich Walther Wünsch und Kurt Benkel in der Zeitschrift Die Musik dem Thema Judendarstellungen in der Volkskunde. In dem Artikel Der Jude in der Volksmusik298 benutzte der Breslauer Musiker Kurt Benkel (geb. 1886) zur historischen Scheinrechtfertigung der NS-Rassenhetze Volksliedtexte, Bräuche und Kinderabzählverse. Die volksmusikalischen Quellen dienten indes einzig dem angeblichen Nachweis, dass die „Volksseele“299 bereits früh ‚den Juden‘ als „Urbild des Verräters“,300 als „feige“ und „falsch und betrügerisch“ erkannt habe:301 Der vorstehende Beitrag sollte zeigen, wie auf volksmusikalischem Gebiete durch alle Jahrhunderte hindurch die jüdische Rasse in ihrem gefährlichen Einfluß erkannt worden ist und aus Blutinstinkt heraus gesunde Abwehrkräfte des Volkes wirksam waren.302
Mit einer Vorwegnahme der deutschen Okkupationspolitik nahm Walter Wünsch (geb. 1908) seinen Artikel Der Jude im balkanslawischen Volkstum und Volksliede303 im Juni 1938 zum Anlass, die „lebhafte Bewunderung und Begeisterung“ über die „gewaltige Neugestaltung und Volkswerdung Großdeutschlands unter der Führung Adolf Hitlers“304 in den osteuropäischen Staaten zu behaupten. Obgleich der „Balkanraum“ als „Brücke zwi294 Von der Au, Der Jude im Tanz der Landschaft Rheinfranken (Febr. 1938), 45. 295 Von der Au, Der Jude im Tanz der Landschaft Rheinfranken (Febr. 1938), 41. 296 Von der Au, Der Jude im Tanz der Landschaft Rheinfranken (Febr. 1938), 41f. 297 Von der Au, Der Jude im Tanz der Landschaft Rheinfranken (Febr. 1938), 41. 298 In: Die Musik (März 1939). 299 Benkel, Der Jude in der Volksmusik (März 1939), 366. 300 Benkel, Der Jude in der Volksmusik (März 1939), 365. 301 Benkel, Der Jude in der Volksmusik (März 1939), 366: „Eingelegte Lieder in lateinischen Schulkomödien aus dem 16. und 17. Jahrhundert zeigen, wie streng man den Versuch der Rassenschande bestrafte.“ 302 Benkel, Der Jude in der Volksmusik (März 1939), 368. 303 In: Die Musik (Juni 1938). 304 Wünsch, Der Jude im balkanslawischen Volkstum (Juni 1938), 598.
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schen Orient und Okzident“305 zu gelten habe, spiele hier das „das Judentum keine besondere Rolle“.306 Dennoch spiegele sich auch hier die „Verachtung des Juden aus stolzem Rassebewußtsein heraus >...@ im balkanslawischen Volksliede wieder“.307 Zwar erschienen derlei motivgeschichtliche Untersuchungen zum Bild des Juden in der Volkskunde bereits vor dem Nationalsozialismus308 und enthielten kaum anti-judaistische Akzente. In vielen der nach 1933 publizierten Studien309 lässt sich jedoch feststellen, dass die meisten dieser Arbeiten eine offene oder subtile Legitimation der antisemitischen NS-Politik versuchten, in dem sie dieser eine historische Perspektive gaben. Die Notwendigkeit einer Defensive wurde angesichts einer ‚Verjudung‘ damit ebenso behauptet, wie eine omnipräsente Überhöhung der „tiefen Kräfte>...@, die im Volkstum verwurzelt sind“,310 intendiert wurde. Für die Kunstmusik bot der Musikpädagoge und damalige Leiter der Heindingsfeldschen Anstalt für Musikunterricht in Dresden Helmuth Sommerfeld seine Zusammenstellung Jüdisches Wesen in der musikalischen Darstellung311 an, in der er Kompositionen aufzufinden suchte, die das „Abstoßende und Wesensfremde des jüdischen Volkes charakterisieren und karikieren“.312 Neben dem bekannten ‚Juden-Quintett‘ aus Richard Strauß Oper Salome (Dresden 1905) für dessen Charakteristik Sommerfeld den tradierten Gedanken des musikalischen Mauschelns anführte,313 nannte er 305 Wünsch, Der Jude im balkanslawischen Volkstum (Juni 1938), 595. 306 Wünsch, Der Jude im balkanslawischen Volkstum (Juni 1938), 596: „Der Jude auf dem Balkan ist talmudisch, nicht weltpolitisch. Er hat weder mit den internationalen Juden der Hochfinanz Verbindung noch ist er bestimmend auf dem Gebiete der Politik und Kunst.“ 307 Wünsch, Der Jude im balkanslawischen Volkstum (Juni 1938), 597. In direktem Zusammenhang mit dem Münchener Abkommen vom 29. September 1939, dass den Anschluss des Sudetenlandes beschloss, konstruierte Wünsch im Oktober 1938 eine Sudetendeutsche Musikkultur der Gegenwart im Kampfe gegen jüdische Musikpolitik (in: Die Musik [Okt. 1938]). 308 So etwa: Herbert Carrington, Die Figur des Juden in der dramatischen Literatur des 18. Jahrhunderts (1897); Oskar Frankl, Der Jude in den deutschen Dichtungen des 15., 16. und 17. Jahrhunderts (1905); Eduard Fuchs, Die Juden in der Karikatur (1921); Raimund Zoder, Judentänze, in: Jahrbuch für Volksliedforschung (1930). 309 Hans Carl Holdschmidt, Der Jude auf dem Theater des deutschen Mittelalters (1935); Johannes Wilhelmus Henricus Stoffers, Juden und Ghetto in der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Weltkrieges (1939); Elisabeth Frenzel, Judengestalten auf der deutschen Bühne. Ein notwendiger Querschnitt durch 700 Jahre Rollengeschichte (1940). 310 Goebbels, Zehn Grundsätze deutschen Musikschaffens (1938), 160. 311 In: Musik in Jugend und Volk (1943). 312 Sommerfeld, Jüdisches Wesen in musikalischer Darstellung (1943), 63. 313 Sommerfeld, Jüdisches Wesen in musikalischer Darstellung (1943), 63f: „Die Reden der in ihrem rechthaberischen und wortklauberischen Eifer sich Ueberschreienden werden durch Orchestermotive untermalt, von denen das erste geradezu mauschelt. [...] Die Geigen fallen einander in hellem Pizzicato ins Wort, herunterschleifende Bässe heulen, die Bratschen murren in absonderlichen Tremoli.“ Richard Strauss, von 1933–1935 Präsident der Reichsmusikkammer wurde wegen seiner Zusammenarbeit mit Librettisten jüdischer Herkunft getadelt, gleichzeitig galt er jedoch im Nationalsozialismus als ‚unverzichtbar‘.
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mit offensichtlicher Häme auch Orazio Vecchis L’Amfiparnasso (Modena 1594), in dem die Parodie synagogaler Melodien und eine Verspottung des „jüdische>n@ Jargon>s@“ zeige, „wie tief schon die Renaissance die völkische Kluft zu dem Fremdvolk empfunden hat“.314 Ganz im Dienste der antisemitischen Vernichtungspolitik stellte Sommerfeld noch 1943 fest, dass nun jedoch „andere Waffen als die immerhin spielerisch-harmlosen des Witzes und der Karikatur geschmiedet werden, um diesen Feind auf politischem und kulturellem Gebiete niederzuringen“.315 Eine ähnliche Form der Erfüllung politischer Maßgaben auf dem Gebiet der Musikliteratur lieferte Richard Maar (geb. 1917) mit seiner Dissertation Über den jüdischen Einfluß auf die Wiedergabe klassischer deutscher Violinmusik von 1941. In Ergänzung der Hetzschriften seines Lehrers Karl Blessinger konstruierte Maar unter anderem anhand von Ferdinand David, Joseph Joachim, Fritz Kreisler und Carl Flesch „das Wesen des jüdischen Virtuosen“316 und „die tiefe Kluft >...@, die zwischen unserer und der jüdischen Auffassung liegt“:317 Auch auf solch kleinem Gebiet – wie dem der Violinmusik des 19. Jahrhunderts – lässt sich also die Entwicklung des jüdischen Einflusses genau verfolgen. Sie ist ein getreues Abbild der Gesamtentwicklung des europäischen Judentums in dieser Zeit. David ist der Jude, der noch am meisten seine Art erkennen lässt. >...@ Er verrät seine Schwächen hauptsächlich dadurch, daß er aus Mangel an werkmäßiger Empfindung und Auffassung planlos in den Werken herumtappt >...@. Nun folgt Joachim, dessen Anpassung >...@ so weit gediehen war, daß fast niemand mehr den Juden zu erkennen vermochte. >...@ Doch weiß auch er trotz allen Eintretens für die deutsche Kunst die Interessen des Judentums wohl zu wahren. >...@ Hat Kreisler zwar skrupellos Fälschungen veröffentlicht, >...@ so geht Flesch bereits einen gewaltigen Schritt weiter.318
Im Sinne der Verschwörungstheorie erfand Maar – wie Blessinger vor ihm in Meyerbeer, Mendelssohn, Mahler. Drei Kapitel Judentum in der Musik als Schlüssel zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts – eine angeblich zielgerichtete ‚jüdische Zerstörung‘ in der Interpretationsgeschichte, die um die gängigen anti-judaistischen Stereotype wie „Effekthascherei“,319 „Mangel an Schwergewicht und Tiefe der Empfindung“,320 „große Anpassungsgabe“,321 „Unfühlsamkeit für den Lebensrhythmus deutscher Musikwerke“,322 314 315 316 317 318 319 320 321 322
Sommerfeld, Jüdisches Wesen in musikalischer Darstellung (1943), 65. Sommerfeld, Jüdisches Wesen in musikalischer Darstellung (1943), 65. Maar, Über den jüdischen Einfluß auf die Wiedergabe (1941), 24. Maar, Über den jüdischen Einfluß auf die Wiedergabe (1941), 60. Maar, Über den jüdischen Einfluß auf die Wiedergabe (1941), 33. Maar, Über den jüdischen Einfluß auf die Wiedergabe (1941), 7. Maar, Über den jüdischen Einfluß auf die Wiedergabe (1941), 9. Maar, Über den jüdischen Einfluß auf die Wiedergabe (1941), 23. Maar, Über den jüdischen Einfluß auf die Wiedergabe (1941), 36.
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„Erweichung“,323 „pricklende Unruhe“,324 „innere>...@ Haltlosigkeit, Sentimentalität und Sinnlichkeit“325 sowie letztlich den „gefährlichen und verderblichen Einfluß“326 kreisten. Nach eigenen Angaben dem „rein Fachlichen“327 verpflichtet, dienten Maar indes als Forschungsliteratur für seine pseudowissenschaftliche Verbrämung vor allem propagandistische Texte, die von Richard Wagners Judentum-Broschüre über Eichenauers Musik und Rasse bis zum Lexikon der Juden in der Musik reichten.328 Das Erscheinen derlei vermeintlich wissenschaftlicher Untersuchungen329 zur historischen Legitimierung der NS-Politik wirft die Frage nach der Rolle der Musikwissenschaft zwischen 1933 und 1945 auf. Vor dem Hintergrund der scheinwissenschaftlichen Nachschlagewerke und der generellen Judenhetze der Zeit konnten sich auch hier weit mehr als nur antijudaistische Ressentiments niederschlagen.
6.3 Ideologische Einwirkungen auf das musikwissenschaftliche Schrifttum Musikwissenschaftliches Schrifttum Die Rolle der akademischen Musikwissenschaft im NS-Staat rückte in den letzten zwanzig Jahren in den Blickpunkt der Forschung. Während in den 80er Jahren die Verstrickung einzelner Vertreter der Disziplin im Vordergrund des Interesses stand, erschien in den 90er Jahren neben Lokalstudien zu einzelnen Universitäten330 zunehmend die übergeordnete Frage nach den 323 Maar, Über den jüdischen Einfluß auf die Wiedergabe (1941), 37. 324 Maar, Über den jüdischen Einfluß auf die Wiedergabe (1941), 53. 325 Maar, Über den jüdischen Einfluß auf die Wiedergabe (1941), 59. 326 Maar, Über den jüdischen Einfluß auf die Wiedergabe (1941), 32. 327 Maar, Über den jüdischen Einfluß auf die Wiedergabe (1941), 64. 328 Maar, Über den jüdischen Einfluß auf die Wiedergabe (1941), o.S. 329 Neben der von Maar vorgelegten Studie und der oben skizzierten Untersuchung von Fritz Kynass beschäftigte sich Anton Schaefers 1935 in einer Dissertation mit Gustav Mahlers Instrumentation (Düsseldorf 1935 >=Diss. Bonn 1933@), in der sich nur an einer Stelle ein Zugeständnis an die Zeit findet (60): „Mit Bruckner verbindet Mahler das volkstümliche Element in der Melodik. >...@ Bei Bruckner handelt es sich um ein ausgesprochen naives, österreichischem und deutschem Boden entsprungenes Naturverbundensein, ein unbewußtes Aufgehen in volkstümliche Klanglichkeit. Bei Mahler bekommt das volkstümliche Element einen stark intellektuellen und auch parodistischen Zug, der wohl auch rassenmäßig bedingt ist.“ 330 Christine Fischer-Defoy/Hochschule der Künste Berlin, Kunst Macht Politik. Die Nazifizierung der Kunst- und Musikhochschulen in Berlin (1987); John, Der Mythos vom Deutschen in der deutschen Musik. Musikwissenschaft und Nationalsozialismus, in: ders./Martin/Mück/Ott, Die Freiburger Universität in der Zeit des Nationalsozialismus (1991), 163–190; Peter Petersen, Musikwissenschaft in Hamburg 1933 bis 1945, in: Eckhart Krause/Ludwig Huber/Holger Fischer (Hg.), Hochschulalltag im ‚Dritten Reich‘. Die Hamburger Universität 1933–1945 (1991), 625– 640; Kurt Drexel, Musikwissenschaft und NS-Ideologie. Dargestellt am Beispiel der Universität Innsbruck von 1933 bis 1945 (1994).
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zeitgeschichtlichen Bedingungen, die eine scheinbar problemlose Integration der relativ jungen universitären Disziplin in die NS-Diktatur ermöglichten. Grundlegende Studien lieferte Pamela M. Potter 1998 mit ihrer Dissertation Most German of the Arts. Musicology and Society from the Weimar Republic to the End of Hitler’s Reich331 und ergänzenden Aufsätzen,332 die sich innerhalb des Untersuchungszeitraums 1918–1945 mit der Beziehung zwischen der Musikwissenschaft und der deutschen Gesellschaft beschäftigen, „eine Beziehung, die andere akademische Disziplinen oft umgingen“.333 Mit Blick auf die Kontinuitäten zwischen der Weimarer Republik und dem NS-Regime werden sowohl die institutionellen und methodischen Entwicklungen des Fachs als auch die beruflichen Möglichkeiten für Musikwissenschaftler beleuchtet. Ausschließlich auf ausgebildete und lehrende Musikwissenschaftler fokussiert, bezeugen Potters Untersuchungen gleichzeitig eine fundamentale Umorientierung der Wissenschaft in den 20er und 30er Jahren. Die ökonomische Krise nach dem Ersten Weltkrieg mit hoher Arbeitslosigkeit und Inflation ebenso wie der gleichzeitige Demokratisierungsprozess der Weimarer Republik brachten innerhalb der Musikwissenschaft die Frage nach der Relevanz der Disziplin auf. Zahlreiche programmatische Artikel mit Titeln wie Die innere und äußere Krise in der Musikwissenschaft334 oder Musikwissenschaft und Kunst der Gegenwart335 lassen sich für diesen Zeitraum feststellen. Nach 1933 zeigte sich die in den 20er Jahren begonnene Auseinandersetzung um die gesellschaftliche Bedeutung und eine eventuelle inhaltliche Neuordnung des Fachs weiterhin, wenngleich unter völlig anderen Voraussetzungen. Obwohl die universitäre Musikwissenschaft in den 20er und 30er Jahren einen enormen Aufschwung nahm, der sich allein in der Tatsache zeigt, dass zwischen 1918 und 1932 an acht deutschen Universitäten Lehrstühle für Musikwissenschaft eingerichtet worden waren,336 blieben die Berufsmöglichkeiten für Musikwissenschaftler beschränkt. Neben dem forschenden und lehrenden Zweig der Universität stellte eine publizistische Tätigkeit etwa in den neugegründeten Fachorganen wie die 1918 veröffentlichte 331 Dt.: Die ‚deutscheste‘ der Künste. Musikwissenschaft und Gesellschaft von der Weimarer Republik bis zum Ende des Dritten Reichs. 332 Wissenschaftler im Zwiespalt, in: Dümling/Girth, Entartete Musik, 62–66; Die Deutsche Musikgesellschaft 1918–1938, in: Journal of Musicological Research (1991); Die Lage der jüdischen Musikwissenschaftler an den Universitäten der Weimarer Zeit, in: Weber, Musik in der Emigration 1933–1945 (1994); Musicology Under Hitler: New Sources in Context, in: Journal of the American Musicological Society (Frühjahr 1996). 333 Potter, Die ‚deutscheste‘ der Künste, 17. 334 Hans Joachim Moser, in: Die Hochschule (1920). 335 Arnold Schering, in: Bericht über den I. Musikwissenschaftlichen Kongreß der Deutschen Musikgesellschaft in Leipzig 1925 (1926). 336 Diese waren: Halle (1918), Breslau (1920), Göttingen (1920), Leipzig (1920), Heidelberg (1921), Kiel (1928), Freiburg (1929) und Köln (1932).
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Zeitschrift für Musikwissenschaft oder das im gleichen Jahr erstmalig erscheinende Archiv für Musikwissenschaft eine der wenigen fachspezifischen Erwerbsmöglichkeiten dar. Pamela M. Potter weist darauf hin, dass sich bereits in der Weimarer Republik eine Vielzahl von Musikwissenschaftlern aus ökonomischen Gründen bemühte, Veröffentlichungen in populärwissenschaftlichen Zeitschriften und der Tagespresse unterzubringen, eine Tendenz die sich auch nach 1933 feststellen lässt. Angesichts der schwierigen beruflichen Situation boten die verschiedenen neugegründeten NSKontrollorganisationen ein neues Betätigungsfeld für arbeitslose Vertreter der Disziplin. Unakademische Berufsmöglichkeiten für Musikwissenschaftler ermöglichten sowohl das Amt Rosenberg mit der Hauptstelle für Musik,337 das Propagandaministerium338 oder das SS-Ahnenerbe339 als wissenschaftlicher Zweig der Organisation unter Heinrich Himmler, die alle zudem dezidiert musikwissenschaftliche Forschungsprojekte und Publikationen finanziell unterstützten. Während die wenigen an den Universitäten lehrenden Musikwissenschaftler jüdischer Herkunft durch das ‚Berufsbeamtengesetz‘ ohne größeren Widerstand der Kollegen ihre Anstellungen verloren,340 stellte sich die Situation im April 1933 in beruflicher Hinsicht durchaus positiv für die verbliebenen Musikwissenschaftler dar. Dennoch musste sich auch diese Wissenschaft angesichts der anti-intellektuellen Grundhaltung des an ein ‚nationales Gefühl‘ und das ‚germanische Blut‘ appellierenden Regimes beweisen: Because National Socialist leaders generally mistrusted intellectuals and […] gave priority to science and technology, musicology still had to demonstrate its usefulness to the greater public good and show interest in ideologically and politically relevant subjects. As in the 1920s, musicologists used nonscholarly media […] to reach wider audience. [...] Their pre-1933 practice of writing short essays for a wide readership revealed the discipline’s ability to rationalize current political and ideological developments […] and called the attention of the government and the public to the field’s potential enrichment of Germany’s future.341
Die musikalische ‚Rassenkunde‘, schon in den 20er Jahren von Musikwissenschaftlern als ungenügende Methode abgelehnt,342 erlebte seit 1933 einen 337 Potter, Die Musikwissenschaftler als ‚Kulturwächter‘: Das Amt Rosenberg, in: dies., Die ‚deutscheste‘ der Künste, 185–199. 338 Potter, Neue Möglichkeiten im NS-Staat, in: dies., Die ‚deutscheste‘ der Künste, 168–172. 339 Potter, Musikwissenschaft im SS-‚Ahnenerbe‘, in: dies., Die ‚deutscheste‘ der Künste, 172–184. 340 Vgl. hierzu Potter, Die Lage der jüdischen Musikwissenschaftler an den Universitäten der Weimarer Zeit. Zu den bekanntesten, in die Emigration gezwungenen Musikwissenschaftlern zählten unter anderem Alfred Einstein, Curt Sachs und Erich von Hornbostel. 341 Potter, Musicology Under Hitler: New Sources in Context, 78f. 342 Vgl. Kap. 4.2.1 Der ‚Rasse‘-Gedanke in Biographien und Musikgeschichten. So auch Potter, Die ‚deutscheste‘ der Künste, 225f: „Im Sinne ernstzunehmender wissenschaftlicher Untersuchungen
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enormen Aufschwung. Vor allem auf Richard Eichenauers Buch Musik und Rasse in der zweiten Auflage von 1937 wurde neben Polyphonie – die ewige Sprache deutscher Seele ebenso wie auf Blessingers Mendelssohn, Meyerbeer, Mahler. Drei Kapitel Judentum in der Musik als Schlüssel zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts und das Lexikon der Juden in der Musik von vielen Musikwissenschaftlern verwiesen.343 Mit einer Verschiebung der sich ursprünglich wissenschaftlich gebärdenden biologistischen Systematik hin zu einer ‚Rassenseelenkunde‘ wurde nach 1938 das ‚instinktive Gefühl‘ als Klassifizierungsinstanz auch in der Musikwissenschaft zumindest offiziell eingeführt.344 jedoch war die Rassenfrage in der Musikwissenschaft bereits beantwortet – und zwar negativ –, lange bevor die Nationalsozialisten an die Macht kamen. >...@ Lachs gründliche und bestimmte Abweisung einer Korrespondenz zwischen Musik und Rasse schien das Ende einer Anwendung der Rassentheorie in ernsthafter Musikforschung eingeläutet zu haben. In den folgenden Jahren zeigte die wissenschaftliche Literatur nur wenig Neigung, sich systematisch mit der Angelegenheit zu beschäftigen. Dennoch verschwand der Begriff ‚Rasse‘ nicht aus den Diskussionen über Musik. Er wurde sogar geradezu inflationär verwendet“. 343 Eichenauer besprachen z.Bsp.: Prof. Dr. Ernst Bücken, Deutsche Musikkunde (1935), 9f; Guido Waldmann, Rasse und Musik, Rassisches Denken und Musikwissenschaft, in: Musik und Volk (Juni/Juli 1937), 256; Fritz Metzler, Rasse und Musik, Richard Eichenauer, Musik und Rasse, in: Musik in Jugend und Volk (1937/38), 30ff; Wolfgang Boetticher, Richard Eichenauer: Polyphonie, die ewige Sprache, in: Die Musik (Okt. 1938), 44f; Dr. Erich Valentin, Besprechungen, Richard Eichenauer: Polyphonie – die ewige Sprache, in: Zeitschrift für Musik (Dez. 1938), 1362f; Wilhelm Heinitz, Die Erforschung rassischer Merkmale aus der Volksmusik (1938), 5ff; Prof. Dr. Hans Engel, Die Leistungen der deutschen Musikwissenschaft, in: Geistige Arbeit. Zeitung aus der Wissenschaftlichen Welt (Febr. 1939), 8 (Fußnote); Friedrich Blume, Das Rasseproblem in der Musik (1939), u.a. 6f; Friedrich Mahling, Ideal und Wirklichkeit. Warum treiben wir Musikgeschichte? (1940), 49f (Fußnote). Zu Blessinger äußerten sich etwa: Alfred Lorenz, Musikwissenschaft und Judenfrage, in: Die Musik (Dez. 1938), 178; Gotthold Frotscher, Wir besprechen, Karl Blessinger: Mendelssohn – Meyerbeer – Mahler, in: Musik in Jugend und Volk (1943), 69. Das Lexikon der Juden in der Musik von Theo Stengel und Herbert Gerigk fand eine Resonanz in folgenden Publikationen: Prof. Dr. Willi Kahl, Neue Bücher und Musikalien, Stengel, Theo: Lexikon der Juden in der Musik, in: Zeitschrift für Musik (Jan. 1941), 31f; Richard Maar, Über den jüdischen Einfluß auf die Wiedergabe deutscher Violinmusik (1941); Gotthold Frotscher, Wir besprechen, Lexikon der Juden in der Musik, in: Musik in Jugend und Volk (1943), 68f. 344 Gleichzeitig entbrannte jedoch eine intensive Suche nach ‚rassenkundlichen‘ Methoden, die zu publizistischen Kontroversen unter den Forscher, die sich mit dem Komplex ‚Musik und Rasse‘ beschäftigten, führte. Dies bezeugt etwa die öffentliche Auseinandersetzung zwischen dem Berliner Musikwissenschaftler Fritz Metzler und Reinhold Zimmermann (vgl. Zimmermann, Dur oder Moll? Betrachtungen zur Frage der Nordischen Musik, in: Die Sonne [1937]; Metzler, Rasse und Musik, Berichterstattung, wie sie nicht sein soll, in: Musik in Jugend und Volk [1937/38]; Zimmermann, ‚Rasse und Musik‘-Forschung, wie sie nicht sein soll, in: Zeitschrift für Musik [März 1938]). Auch der ‚fachliche‘ Konflikt zwischen dem Berliner Professor für Musikwissenschaft Werner Danckert auf der einen Seite und Walter Wiora sowie Alfred Quellmalz auf der anderen Seite verweist auf derlei Debatten (vgl. Danckert, Das europäische Volkslied [1939]; Wiora, Zur Erforschung des europäischen Volksliedes, in: Archiv für Musikforschung [1940]; Danckert, ‚Entwicklungsgeschichtliche‘ und organische Volksliedbetrachtung, in: Archiv für Musikforschung [1941]; Wiora, Privatsystem und Zusammenarbeit. Zu W. Danckerts Entgegnung, in: Archiv für Musikforschung [1942]; Quellmalz, Zu W. Danckert, Entwicklungsgeschichte und organische Volksliedbetrachtung, in: Archiv für Musikforschung [1942]).
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Eine ähnliche Verlagerung der Wissenschaftlichkeit zugunsten der politischen Anforderungen des Regimes zeigte sich in der Konzentration auf eine ostentativ betrachtete ‚deutsche‘ Musikgeschichte, in zahlreichen emphatischen Untersuchungen zu den als ‚deutsch‘ reklamierten Komponisten und einer auf die Hypostasierung des ‚Volkstums‘ aufgebauten neuen Bedeutung der Volksmusikforschung. Unübersehbar in den Kontinuitäten der völkisch-geprägten Musikliteratur nach der Wende zum 20. Jahrhundert beteiligten sich viele Vertreter der Disziplin an nationalistischen Positionen, die jegliche europäische Entwicklung der Musik ausschließlich auf die ‚nordisch-germanische‘ Überlegenheit zurückführten. Wesentlich geringer war bis 1938 das Engagement von Musikwissenschaftlern bei der geforderten Anwendung der musikalischen ‚Rassenkunde‘ auf Komponisten, Interpreten, Musikforscher und Musikschriftsteller jüdischer Herkunft wie Pamela Potter betont: Racial explanations of German musical talent had also predated Hitler, and those musicologists who chose to engage, even skeptically, in racial studies after 1933 directed their interests toward proving German superiority rather than ‚Jewish inferiority‘.345
1934 bis 1938 waren die Jahre, in denen publizierende Musikwissenschaftler auf die neue antisemitische Linie gebracht wurden. Um eine denunziatorische Atmosphäre unter den in Deutschland verbliebenen Musikwissenschaftlern zu schaffen, wurden Exempel an Hans Joachim Moser, Hans Mersmann und Robert Pessenlehner durch interne und öffentliche Kritik an ihren Veröffentlichungen statuiert. Mosers Musiklexikon von 1935, in dem er Komponisten jüdischer Herkunft angeblich ‚zu mild‘ betrachtete,346 brachte Verdächtigungen in Umlauf, Moser sei selbst Jude oder zumindest mit Blick auf seine ‚weltanschauliche Gesinnung‘ von ‚jüdischem Geist‘ beeinflusst.347 Die diffamierende Reaktion auf Hans Mersmanns Eine deut345 Potter, Musicology Under Hitler, 107. 346 Moser schrieb Felix Mendelssohn Bartholdy nicht aus der ‚deutschen‘ Musikgeschichte heraus und distanzierte sich deutliche vom ‚Rasse‘-Gedanken (Artikel Mendelssohn, 495): „Niemand hat ihn wärmer bewundert als Schumann, Brahms, Bülow und Reger – das sollte jenen zu denken geben, die einen M. heute wegen seiner Rasse glauben als Meister minderen Ranges herabsetzen zu dürfen.“ Gleichzeitig jedoch verfiel er in den Einträgen zu Gustav Mahler (474f), Giacomo Meyerbeer (505f), Jacques Offenbach (576f) und Arnold Schönberg (750f) in die durch die jeweilige Rezeption geprägten Schlagwörter allerdings ohne den direkten Verweis auf die jüdische Herkunft. Eine Verschärfung im Sinne der antisemitischen Anforderungen des NS-Staats sowie eine stigmatisierende Kennzeichnung der jüdischen Herkunft finden sich erst in den späteren Ausgaben des Musiklexikons (21942, 2. umgearb. Aufl. 1943). 347 Potter, Musicology Under Hitler, 94f. Pamela Potter bezieht sich hier auf Akten des SSAhnenerbes. Auf der anderen Seite findet sich eine kollegiale Besprechung zu Mosers Musiklexikon durch Joseph Müller-Blattau (in: Die Musik [April 1934], 550): „Die Fülle der biographischen Artikel und ihre gleichmäßige Güte hindern daran, einzelne besonders herauszuheben. Nur der merkwürdigen Dreiheit Mahler-Mendelssohn-Meyerbeer sei gedacht. Hier ist die Beurteilung
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sche Musikgeschichte348 von 1934 folgte im April 1936 in der vom Amt Rosenberg herausgegebenen Zeitschrift Die Musik: Wir lesen in dem neuen Werk zwar viel von soziologischer und zeitgeschichtlicher Bindung, von Kultur und geistesgeschichtlichen Zusammenhängen usw., nur die Begriffe Blut und Rasse fehlen vollständig. Bei wichtigen Fragen, wie es die nach den Ursprüngen der Musik ist, folgt Mersmann dem Juden Curt Sachs, und er verweist ausdrücklich auf dessen Arbeiten. Die Richtung der Kunstbetrachtung wird ganz deutlich bei der neueren Zeit, wo der Jude Mahler in einem eigenen Kapitel auf mehreren Seiten behandelt wird, und zwar in einer Weise, die jeden rassischen Instinkt vermissen läßt. [...] Während der Kampfzeit bezeichneten wir ein Buch dieser Art einfach als kulturbolschewistisch. Der Verfasser ist Vertreter der Musikwissenschaft an der Berliner Technischen Hochschule und Leiter des Deutschen Volksliedarchivs!349
Ein ähnlicher Fall ereignete sich 1938 als der Musikkritiker Robert Pessenlehner (1899–1985) mit seiner Publikation Vom Wesen der Deutschen Musik öffentlich angeprangert wurde.350 Äußerlich den Anforderungen einer ‚nationalsozialistischen Musikwissenschaft‘ allein schon durch den Buchtitel und eine signalkräftige Großschreibung des Adjektivs ‚deutsch‘ genügend, daneben zudem mit einem obligatorischen Kapitel Das Judentum in der Deutschen Musik ausgestattet, ging der Autor inhaltlich deutlich über besonders scharf abgewogen – ein erwünschter Beitrag zur Klärung des für die Musik besonders schwierigen Rasseproblems.“ 348 Hans Mersmann (1891–1971), von 1924 bis 1933 Schriftleiter der Zeitschrift Melos, sprach sich bereits 1920 in der Allgemeinen Musik-Zeitung in einer Auseinandersetzung mit dem Musikschriftsteller Adolf Diesterweg gegen den Begriff des ‚Musikbolschewismus‘ aus, mit dem er selbst nach 1933 gebrandmarkt wurde. Vgl. John, Deutschtum oder Bolschewismus – die ‚Aesthetik der Präpotenz des Hakenkreuzes‘, in: ders., Musikbolschewismus, 86–89 u. 360f. 349 Unsere Meinung. Was ist ‚deutsche Musikgeschichte‘?, in: Die Musik (April 1936), 524. In ähnlicher Weise kritisierte Herbert Gerigk an der Musikgeschichte Die Musik der Nationen (1937) von Ernst Bücken eine mangelnde Kennzeichnung von Musikforschern jüdischer Herkunft (in: Die Musik [März 1937], 440): „Wenn dann die Juden Gera Révész, Ernst Kurth, Hugo Goldschmidt, Felix Gatz und Paul Moos die Quellen für Tonpsychologie und Ästhetik bilden sollen, dann müssen wir aus weltanschaulichen Gründen von dem Werk abrücken. [...] Bücken empfiehlt noch weitere jüdische Literatur. Die deutschen Gelehrten haben lange genug Zeit gehabt, um sich über das zersetzende jüdische Schrifttum ihrer Fachgebiete zu unterrichten.“ 350 Robert Pessenlehner promovierte 1932 über den Komponisten und Musikkritiker Hermann Hirschbach (1812–1888) unter dem Titel Hermann Hirschbach, der Kritiker und Künstler. Ein Beitrag zur Geschichte des Schumannkreises und der musikalischen Kritik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Regensburg 1932) und widmete seine Dissertation dem Musikwissenschaftler Moritz Bauer (1857–1932), der 1905/06 Lehrer für Musikgeschichte und Ästhetik am Hochschen Konservatorium in Frankfurt, 1918 Professor und 1924 Universitätsmusikdirektor war. Wolfgang Boetticher hebt diese Widmung in seiner Besprechung des Buches Vom Wesen der deutschen Musik höhnisch hervor (‚Deutsch sein heißt unklar scheinen.‘ Bemerkungen zu einem Buch ‚Vom Wesen der Deutschen Musik‘, in: Die Musik [März 1938], 399f): „Die Arbeit ist dem Juden Moritz Bauer ‚in Dankbarkeit‘ gewidmet [...]. Hermann Hirschbach war ein kleiner jüdischer Musikkritiker um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Bezüglich des nichtarischen Nachweises sind wir Robert Pessenlehner selbst zu Dank verpflichtet.“
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die gesteckten Vorgaben der NS-Musikgeschichtsauffassung hinaus bzw. an ihnen vorbei. In seiner, im Musikschrifttum der NS-Literatur singulären Abhandlung vertrat Pessenlehner sehr eigenwillige Thesen über das „Wesen der Deutschen Musik“. Mit einem geschichtlichen Abriss stellte er zunächst einen, der nationalen Musikkultur inhärenten Hang zum „MusikInternationalismus“ und der „‚Ausländerei‘“351 in den Vordergrund, der sich laut Pessenlehner etwa bei Johann Mattheson352 oder Johann Joachim Quantz353 finden lasse. Diese Haltung ziehe sich, von wenigen Ausnahmen wie Robert Schumann oder Richard Wagner abgesehen, durch die gesamte Musikgeschichte sowohl innerhalb musikalischer Werke als auch in theoretischen Reflexionen über Musik. Während Pessenlehner mit den gängigen Schlagwörtern und Phrasen scheinbar äußerlich den agitatorischen Anforderungen des NS-Staats gerecht wurde,354 griff er jedoch auf der anderen Seite sehr viel von dem an, was von den neuen Machthabern als Teil einer ‚nationalen Revolution‘ gefeiert wurde. Mit Blick auf die Geschichte der Musikwissenschaft, in der es „Forschern versagt blieb, das nationale Element der Musik zu erkennen, ja überhaupt nur zu ahnen“,355 da „die Zersplitterung, die auch dieses Gebiet ergriff und die Vorstellung der Internationalität der Musik immer wieder in der Vordergrund rückte“,356 konstatierte Pessenlehner eine „Sphäre undeutscher Gesinnung“.357 Diese sah er auch in der zeitgenössischen Musikforschung, da „die Gegenwart [...] weder eine deutsche Haltung noch einen deutschen Musikstolz gebracht“358 habe, sondern nur einen Opportunismus, einen „unangenehmen ‚Zwang‘ [...], der mit einem vorübergehenden ‚Mitmachen‘ wieder abgetan werden“359 könne. Hier sei die Ursache zu sehen, weshalb es bislang an grundlegenden 351 Pessenlehner, Vom Wesen der Deutschen Musik (1937), 13. 352 Pessenlehner, Vom Wesen der Deutschen Musik (1937), 37f. 353 Pessenlehner, Vom Wesen der Deutschen Musik (1937), 39–45. Mit Blick auf Quantz belegte Pessenlehner dessen Charakteristik der ‚deutschen‘ Musik als ‚Vermischung des Geschmacks verschiedener Völker‘ mit dem Vorwurf „krassester Internationalismus bei Verleugnung aller Besonderheiten der eigenen Nation!“ (45). Die Synthese als positives Charakteristikum deutscher Musik wie sie Quantz 1752 beschrieb, orientierte sich – wie im Kap. 2. Exkurs: Musik als ‚deutsche‘ Kunst und ihre spezifische ‚Tiefe‘ gezeigt – an der Idee des musikalischen Stils und nicht an einer nationalen ‚Substanz‘, eine Vorstellung, die erst im 19. Jahrhundert entstand. 354 Die musikalische ‚Rassenkunde‘ wird von Pessenlehner allerdings nur am Rande erwähnt (21): „Die rassische Einwirkung vorausgesetzt – sie bleibt als Grundlage der ganzen Betrachtung weiterhin bestehen – darf die Tonsprache einer Sprachgemeinschaft: eines Volkes als ebenso unwandelbarer Faktor eingesetzt werden“. 355 Pessenlehner, Vom Wesen der Deutschen Musik (1937), 61. 356 Pessenlehner, Vom Wesen der Deutschen Musik (1937), 21. 357 Pessenlehner, Vom Wesen der Deutschen Musik (1937), 64: „In diese Sphäre undeutscher Gesinnung geriet die heranwachsende Generation der heute noch wirkenden Vertreter der Musikwissenschaft.“ 358 Pessenlehner, Vom Wesen der Deutschen Musik (1937), 104. 359 Pessenlehner, Vom Wesen der Deutschen Musik (1937), 66.
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Methodiken und wirklichen Resultaten im Bereich ‚Musik und Rasse‘ mangele: Selbst die allerjüngste Forschung, die sich eindringlich mit dem Zusammenhang von Musik und Rasse beschäftigt, kommt in ihren ernsthaften Abhandlungen anscheinend immer noch zu keinem Ergebnis [...].360
Mit dieser, sich übereifrig national gebärdenden Haltung wurde selbst die Reichsmusikkammer kritisiert, da sie es „vergaß, in ihrer ersten Veröffentlichung dem Wesentlichen der Deutschen Musik auch nur ein paar Zeilen zu widmen“,361 und es mutet erstaunlich selbstbewusst an, wenn Pessenlehner mit Blick auf die unkonkreten Begriffe innerhalb der Diskussion um das ‚Deutsche‘ in der Musik schrieb: Freilich kann es sich dabei nicht handeln um Ausdrücke wie ‚deutsche Tiefe‘, Innerlichkeit oder Tiefgründigkeit, da es notwendig ist, die Eigenschaften der Werke erst aufzuspüren, die zu solchen und ähnlichen Erklärungen führten.362
An den Forderungen der Zeit vorbei, die sich mit leeren Worthülsen begnügte, entwarf Pessenlehner drei angeblich konkrete musikalische Merkmale einer ‚deutschen‘ Musik, die er aus den Werken Johann Sebastian Bachs ableitete.363 Neben der ‚Vielstimmigkeit‘, die ein Jahr später durch Richard Eichenauers Konstruktion der Polyphonie – die ewige Sprache deutscher Seele als offizieller Bestandteil ‚deutschen‘ Musikschaffens eingeordnet wurde, listete Pessenlehner eine sehr unspezifische „deutsche Formgestaltung“364 mit einer „besondere>n@ Gestalt der deutschen Melodiebögen“ und der „herrlichen Langatmigkeit der Themen“365 auf, um schließlich in der „Synkope“ ein untrügerisches Merkmal ‚deutscher‘ Musik zu finden: Durch die Synkope scheiden sich innerhalb der deutschen Musikwelt ganz besonders arische und nichtarische Tonsetzer.366
Dass jedoch gerade die Synkope in der offiziellen NS-Musikpolitik als Merkmal des verfemten Jazz kursierte, war auch Pessenlehner bewusst: 360 Pessenlehner, Vom Wesen der Deutschen Musik (1937), 23. 361 Pessenlehner, Vom Wesen der Deutschen Musik (1937), 68. Eine ähnliche Kritik auch findet sich auch an anderer Stelle (187): „Charakter und Nationalstolz fehlen immer noch auf vielen Programmen, mitunter sogar in den Veranstaltungen der NS-Kulturgemeinde, und manch’ örtlicher Leiter einer solchen lechzt nur nach Ausländern und ausländischer Musik!“ 362 Pessenlehner, Vom Wesen der Deutschen Musik (1937), 76. 363 Pessenlehner, Vom Wesen der Deutschen Musik (1937), 77: „Die noch niemals bestrittene Abstammung Bachs, seine Ausnahmestellung unter den Meistern der Musik aller Zeiten und Völker sowie seine äußere Unabhängigkeit beim Schaffen vieler Werke gibt uns Deutschen das Recht, seine Werke vor allem als Prägung des deutschen Charakters der Musik, wenigstens für seine Zeit, anzusehen.“ 364 Pessenlehner, Vom Wesen der Deutschen Musik (1937), 172. 365 Pessenlehner, Vom Wesen der Deutschen Musik (1937), 106. 366 Pessenlehner, Vom Wesen der Deutschen Musik (1937), 104.
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Hier taucht bei allen Kleinmütigen natürlich die Frage nach der Herkunft der Jazzmusik auf [...]. Gewiß ist, daß es sich bei der Jazzmusik zum Teil um die Entartung eines Symbols der Deutschen Musik handelt. Aber so wenig die Synkopenhaftigkeit das einzige Merkmal der Jazzmusik ist, so wenig bedeuten die Synkopen etwas, wenn sie ‚regelmäßig‘ angewendet werden [...]. Der amerikanische Industriegeist machte bei der Deutschen Musik nicht Halt [...]. Aber selbst in der schauerlichen Entartungsgestalt erweist die Synkope die stete Überlegenheit der Symbole der Deutschen Musik in aller Welt.367
Die äußerst fragwürdige Theorie der ‚unregelmäßigen, deutschen‘ Synkope im Gegensatz zur ‚entarteten, regelmäßigen Synkope des Jazz‘ stand auch im Zentrum des Kapitels Das Judentum in der Deutschen Musik, in dem sehr gemäßigt von den ‚jüdischen‘ „Eindeutschungsversuche>n@“ die Rede war,368 die Pessenlehner nicht nur negativ mit Felix Mendelssohn Bartholdy illustrierte:369 Mendelssohn ist der Kronzeuge für die jüdische Musik, die erkenntlich ist am Fehlen der deutschen Symbole, vor allem der Synkope, ohne daß ihre Musik dabei Anklänge an eine außerdeutsche Nationalmusik aufweisen würde. [...] Was ihm hoch angerechnet werden darf, ist, daß er trotz dieser Beschränkung mit voller Bewußtheit in der Richtung einer deutschen Musik gearbeitet hat. Die Verschmelzung seiner jüdischen Stammesart mit deutscher Musik, der Eingang des Judentums in die deutsche Musik, blieb sein innigster Wunsch. Dafür verzichtete er auf das sonstige Streben seiner Zeit nach Internationalität.370
Die Aneignung der ‚deutschen‘ Synkope war laut Pessenlehner das Ziel des ‚Judentums in der Musik‘.371 So sei auch „Mahlers Lebenswerk [...] ein 367 Pessenlehner, Vom Wesen der Deutschen Musik (1937), 105. 368 Pessenlehner, Vom Wesen der Deutschen Musik (1937), 166: „In der Tat sind die Eindeutschungsversuche der in der deutschen Landschaft lebenden jüdischen Komponisten sehr bewußt unternommen worden. Darin verbindet sich Mendelssohn mit Mahler, Hirschbach mit Gernsheim. In unermüdlichem Streben und mit größerer Bewußtheit, als allgemein angenommen wird, ist ihnen eine Annäherung gelungen“. 369 Giacomo Meyerbeer galt Pessenlehner nicht als Künstler, sondern als „Geschäftemacher“ (162), was allerdings keineswegs eine ‚jüdische‘ Eigenart sei (173): „Das Beispiel Meyerbeers zeigt zur Genüge, daß die jüdisch-internationalen Komponisten wie die mit internationalem Ruhm liebäugelnden Komponisten aller Nationen das Geschäftsinteresse in den Vordergrund stellen.“ 370 Pessenlehner, Vom Wesen der Deutschen Musik (1937), 170. Allerdings findet sich gleichzeitig das „Fehlen eines eigenen künstlerischen Vermögens“ wie auch die daraus resultierende tradierte Unterstellung einer spezifisch ‚jüdischen‘ „Anpassungsfähigkeit“ (162) und der in der Rezeption des 19. Jahrhunderts geprägte Vorwurf einer ‚Cliquenwirtschaft‘ (165f): „Sein Erfolg [...] rief aber schon zu seinen Lebzeiten seine Stammesgenossen herbei, die seither in der schaffenden wie in der nachschaffenden Musik immer mehr Eingang in das deutsche Musikleben erhielten. Wieviele jüdische Künstler Mendelssohn selbst in Orchester- und sonstigen Stellungen ‚unterbrachte‘, ist dabei nicht einmal so wichtig als der Nimbus, der von Mendelssohn aus auf seine Stammesgenossen überfloß und ohne sein Zutun eine weitere Förderung der jüdischen Künstler in Deutschland nach sich zog.“ 371 Ganz im Sinn der NS-Ideologie unterfüttert Pessenlehner sein Kapitel immer wieder mit Zitaten aus dem einschlägigen Aufsatz Richard Wagners.
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einziges Bemühen, die Synkope zu finden“, weshalb sich „oft und unruhig die Takteinheit“ verschiebe, da bei ihm das „Verlangen nach Eindeutschung und Verdeutschung [...] freilich [...] in stärkerem Maße vorhanden [sei] als bei Mendelssohn“.372 Als kausale Fortführung dieser ‚jüdischen‘ Entwicklung innerhalb der ‚deutschen‘ Musik erschien Arnold Schönberg, der „als fast einziger den Mut“ besaß, „eine musikwissenschaftliche Theorie in eine Kompositionstheorie [...] übertragen“373 zu haben, allerdings nicht als ‚jüdischer‘ Künstler, sondern als „außerarischer“: Was sich bei Mendelssohn gelegentlich ankündigt, was noch Mahler nach verzweiflungsvollem Ringen doch nicht hindern konnte, vollzog Schönberg. In ihm beginnt die Wende der Musik nicht zum Internationalismus, wohl aber zu einer außereuropäischen Musikgestaltung, in der nichtarische Sprachgesetze ihren Ausdruck finden. Arnold Schönberg hat als erster Tonsetzer den Wechsel des urarischen Rhythmus – die Hebung und Senkung – außer Kraft gesetzt. Ist Schönberg der Künder einer künftigen semitischen Musik? Da er sich der arischen Musikelemente bedient, kann er es nicht sein. Nicht arische, also in diesem Fall semitische Musikelemente gibt es in der abendländischen Musik nicht. [...] Die allmähliche Umwandlung des arischen Rhythmusgesetzes in ein außerarisches ist ein Kennzeichen aller in der deutschen Landschaft wirkenden jüdischen Tonsetzer. [...] Ich glaube aber, daß es selbst Schönberg durchaus nicht um ein jüdisches Kunstideal zu tun ist, sondern, bei aller vermeintlichen Verneinung des Vergangenen, ebenfalls um die Eindeutschung seiner Kunst.374
Derlei Aussagen waren so weit von dem offiziellen nationalsozialistischen Feindschema und den simplifizierenden Floskeln entfernt, dass Wolfgang Boetticher in seiner Besprechung des Buchs die Frage stellte, „ob man es mit einer ernstgemeinten Darstellung zu tun hat oder ob sich der Verfasser gar in karnevalistischer ironisierender Form mit Fragen beschäftigt, die nur von höchster fachlicher und weltanschaulicher Warte aus beantwortet werden können“.375 In seinem Verriss des Buches forderte Boetticher: Da selbst der Führer für die wirren Gedanken des Buches in Anspruch genommen wird [...], kann zusammenfassend nur die Forderung erhoben werden: einstampfen!376 372 Pessenlehner, Vom Wesen der Deutschen Musik (1937), 171. 373 Pessenlehner, Vom Wesen der Deutschen Musik (1937), 176. 374 Pessenlehner, Vom Wesen der Deutschen Musik (1937), 176f. 375 Boetticher, ‚Deutsch sein heißt unklar scheinen.‘ (März 1938), 399. In der Tat mutete das der Untersuchung vorangestellte Zitat von Wagner („Was ist Deutsch? Ich geriet vor dieser Frage in immer größere Verwirrung.“) in der nationalistischen Literatur ebenso befremdlich an wie Pessenlehners Wortschöpfungen „Deutschheit“ (16), „Eindeutschung“ und „Verdeutschung“ (29) oder die in ihrer Überspitzung fast karikierend erscheinende dumpfe Wiederholung des Adjektivs ‚deutsch‘ (14): „Die Erschaffung einer spezifisch deutschen Wiedergabe der Deutschen Musik wird erst erfolgen, wenn das Wesen der Deutschen Musik erkannt ist, wenn aus den Werken die Merkmale der Deutschen Musik herausgehoben werden und wenn die deutschen Meister einer künftigen Zeit in ihrer Lebensarbeit die Züge Deutschen Wesens nicht mehr zu unterdrücken brauchen.“ 376 Boetticher, ‚Deutsch sein heißt unklar scheinen.‘ (März 1938), 404.
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Vergleichsweise gemäßigt nimmt sich dazu die Rezension in der von der NS-Organisation Kraft durch Freude377 mitherausgegebenen Zeitschrift Musik in Jugend und Volk aus,378 die jedoch berichtet, dass der linientreue Regensburger Verlag Gustav Bosse, in dem unter anderem die Veröffentlichung Musik im Dritten Reich379 des Reichsmusikkammerpräsidenten Peter Raabe erschienen war, ein Rundschreiben an die in Deutschland verbliebenen Musikwissenschaftler versendet habe, mit der Bitte um eine Stellungnahme zu Pessenlehners Buch.380 Bis 1945 erschien keine weitere Veröffentlichung von Robert Pessenlehner. Im Kontext des ‚gleichgeschalteten‘ Musikschrifttums, der öffentlichen Kritik und Denunziation mit der drohenden Anklage als ‚kulturbolschewistisch‘, ‚jüdisch versippt‘381 oder ‚jüdisch infiltriert‘ gebrandmarkt zu werden, finden sich zunächst nur vereinzelt programmatische Aufsätze von Musikwissenschaftlern, die der antisemitischen Linie auch im Bereich der Musik emphatisch folgten. Einen ersten Ansatz lieferte 1936 der Essener Musikwissenschaftler und Musikpädagoge Richard Litterscheid (geb. 1904) mit seinem Artikel Mendelssohn, Mahler und wir.382 In seiner ‚objektivsubjektiven‘ Erörterung383 über die „Beurteilung jüdischer Schöpferkraft“ stellte Litterscheid gleich zu Beginn klar, dass er zu keinem Ergebnis kom377 Die Organisation Kraft durch Freude war eine Unterabteilung der Deutschen Arbeitsfront, die sich unter anderem im laienmusikalischen Bereich engagierte. 378 Wir besprechen. Robert Pessenlehner: Vom Wesen der Deutschen Musik, in: Musik in Jugend und Volk (1937/38), 262: „Wir brauchen heute solche Bücher und sind dankbar, wenn uns hier neue Teilerkenntnisse vermittelt werden. Unsere Erwartungen waren groß, noch größer die Enttäuschung. [...] Seitdem es eine deutsche Musikwissenschaft gibt, ist ihren Vertretern nicht eine solche, besessene Anklageschrift beschert worden, wie diese in der Abhandlung Pessenlehners.“ Noch zurückhaltender etikettierte der völkische Musikschriftsteller Reinhold Zimmermann Pessenlehners Buch als „Fehlleistung“ (Rasse, Sprache und Musik, in: Die Sonne [1938], 31). 379 Kulturpolitische Reden und Aufsätze (1935). 380 Wir besprechen. Robert Pessenlehner (1937/38), 263: „Im übrigen sei vermerkt, daß der Verlag Gustav Bosse sich inzwischen in einem über Dritte auch zu uns gelangten zweiseitigen Maschinenschreiben ‚an alle ihm bekannten deutschen Musikwissenschaftler‘ mit der Bitte gewandt hat, zu Pessenlehners (in der Anlage beigefügtem) neuen Werk Stellung zu nehmen.“ 381 Bekanntestes Beispiel ist die Entlassung des Freiburger Professors Willibald Gurlitt 1937. Vgl. John, Der Mythos vom Deutschen in der deutschen Musik. 382 In: Die Musik (März 1936). Vom gleichen Autor erschien schon zwei Monate zuvor ein Artikel (Nachruf auf den Jazz [Jan. 1936]) gegen den „Jazzmarkt des internationalen Judentums“ (324): „Der Jazz wurde in den Nachkriegsjahren [...] eines der gefährlichsten Instrumente der Kulturzertrümmerung, vom internationalen Judentum bewußt und von den Mitläufern leichtfertig und leichtgläubig gehandhabt [...]. Nicht geringer war das Judentum daran beteiligt, den Jazz zu neuen Formen der Kunstmusik zu erheben. Während der jüdisch verheiratete Hindemith noch unter jüdischem Einfluß in verschiedenen Tonsätzen nur das Groteske des Jazz nutzte, wurde der Jazz bei den jüdischen Musikern des Donaueschinger Kammermusikkreises zu ihrer Hauptdomäne.“ (325f). 383 Litterscheid, Mendelssohn, Mahler und wir (März 1936), 413: „Die Objektivität der nationalsozialistischen Weltanschauung ist zugleich die höchste Subjektivität in bezug auf das Volk, aus dem sie gewachsen ist.“
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men werde, das „den Erfahrungen und der Auffassung der nationalsozialistischen Bewegung zuwiderliefe und ins Gesicht schlüge“.384 Folglich lautete seine Grundthese, dass in dem „rassisch besonders fremde[n] Judentum“385 vor allem „Anlehnung und Einfühlung“386 besonders ausgeprägt seien, die allerdings „oft leichter durch den Instinkt, als durch eine wissenschaftliche Untersuchung nachzuweisen“387 wären. Auch in seinen weiteren Ausführungen repetierte der Musikwissenschaftler die in der Mendelssohn BartholdyRezeption des 19. Jahrhunderts geformten Topoi wie etwa eine bezeichnende „Art der Anwendung der technischen Mittel“ zu einer „aalglatte[n] Musik“:388 Sie dringt nicht bis zu der letzten Einheit von harmonisch gemeisterter Form und seelischem Inhalt vor, sondern bleibt bei einem Scheingefühl, bei einem vorwiegend sentimentalen Grundausdruck haften.389
Gustav Mahler, wenngleich er „einen anderen Typ des künstlerischen Judentums als Mendelssohn“ verkörpere und beide „innerhalb ihrer Rasse trotz blutbedingter Gemeinsamkeiten geradezu als Gegenpole“ erschienen, galt Litterscheid als das „hervorstechendste Beispiel für den Wesensunterschied deutschen und jüdischen Schöpfergeistes“.390 Indem er Richard Eichenauers Behauptungen folgte und mit Berufung auf präformierte Begriffe wie ‚Tiefe‘, ‚Echtheit‘ und ‚Gefühl‘ wurde Mahlers Schaffen als Ausdruck „rassischer Bedingtheit“ disqualifiziert: Trotzdem ist er dem Geiste des deutschen Volksliedes ferngeblieben, weil es nicht Eigentum seines Blutes war. Er hat das deutsche Volkslied nicht in seinem tiefsten, echten Gefühlswert erfassen können und hat es darum im eigenen Gefühlsüberschwang mit größtem Aufwand technischer und formaler Mittel in sentimentale Sphären abgedrängt, die volksliedfremd sind.391
Neben den bekannten Etikettierungen und Bewertungsformeln offenbarte sich jedoch die ganze polemische Grundhaltung dieses Artikels durch die illustrativ abgedruckten Fotographien von Kurt Weill, Ernst Toch, Otto Klemperer und Gustav Mahler, die eine ‚jüdische Verschwörung‘ auf dem 384 Litterscheid, Mendelssohn, Mahler und wir (März 1936), 413. 385 Litterscheid, Mendelssohn, Mahler und wir (März 1936), 414. 386 Litterscheid, Mendelssohn, Mahler und wir (März 1936), 413. 387 Litterscheid, Mendelssohn, Mahler und wir (März 1936), 414. 388 Litterscheid, Mendelssohn, Mahler und wir (März 1936), 414. 389 Litterscheid, Mendelssohn, Mahler und wir (März 1936), 414. Allerdings werden hier noch nicht – wie etwa 1939 – Felix Mendelssohn Bartholdys Verdienste um die Bachsche Matthäuspassion angezweifelt (416): „Das oft mangelnde Verhältnis zu wesentlicher deutscher Musik, das sich in Mendelssohns Dirigierweise aussprach, wurde Wagner zum berechtigten Anlaß seiner Angriffe. Er hatte damit nicht weniger recht, weil etwa Mendelssohn sich der Wiederbelebung des Bachschen Werkes erfolgreich und verdienstvoll gewidmet hatte.“ 390 Litterscheid, Mendelssohn, Mahler und wir (März 1936), 414. 391 Litterscheid, Mendelssohn, Mahler und wir (März 1936), 417.
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Gebiet der Musik suggerierten. Zwei Jahre vor Erscheinen des grundlegenden Hetzwerks von Karl Blessinger392 bildete der Artikel Richard Litterscheids 1936 einen ersten Ansatz für die Integration der Musikwissenschaft in die antisemitische Grundforderung der NS-Diktatur. Das Jahr 1938 markiert in dieser Hinsicht einen fundamentalen Einschnitt und eine Verschärfung der Ansprüche gegenüber der Musikwissenschaft, sich an den politischen Geschehnissen der Zeit zu orientieren und zugleich den Antisemitismus stärker in ihren Publikationen zu akzentuieren.393 Einen Signalcharakter hatte vor allem die musikwissenschaftliche Einbindung in die im Mai 1938 stattfindenden ersten Reichsmusiktage in Düsseldorf. Zeitgleich zur nationalsozialistischen Selbstdarstellung auf dem Gebiet der Musik und der Hetzschau Entartete Musik fand vom 26. bis 28. Mai auf Goebbels Veranlassung eine Tagung der Deutschen Gesellschaft für Musikwissenschaft statt,394 die nicht nur in der von der Reichsjugendführung und Kraft durch Freude herausgegebenen Zeitschrift Musik in Jugend und Volk emphatisch begrüßt wurde: Besonders bemerkenswert an der musikwissenschaftlichen Tagung war es, daß endlich auch das Thema ‚Musik und Rasse‘ aufgegriffen wurde. Es ist bereits [...] darauf hingewiesen worden, mit welch heiliger Scheu die zünftige Musikwissenschaft – bis auf einige geringe Ausnahmen – an diesem brennenden Thema vorbeigeht und sich lediglich damit begnügt, die Forschungsergebnisse von Männern, die sich seit Jahren um die Klärung dieser wichtigsten Frage bemühen, einer Kritik zu unterziehen. In Düsseldorf wurde endlich das Thema ‚Musik und Rasse‘ auch von der ‚Zunft‘ behandelt, ja, es bildete sogar das Thema des klaren und übersichtlichen Festvortrages von Prof. Dr. Blume.395
Während sich der etablierte Musikwissenschaftler Friedrich Blume in seinem Vortrag Musik und Rasse396 zumeist jeglicher direkter antisemitischer Äußerungen enthielt,397 finden sich in den weiteren Vorträgen – soweit sie 392 Mendelssohn, Meyerbeer, Mahler (1938/39). 393 Vgl. Potter, Die ‚deutscheste‘ der Künste, 231: „1938 erhöhten sich die Anreize beträchtlich, die ideologische Frage nach der Rasse und der Rolle der Juden in der deutschen Musik in die musikwissenschaftliche Forschung einzubeziehen. Die Initiative dazu ging sowohl vom Fach als auch von den nationalsozialistischen Führern aus.“ 394 Die einzelnen Vorträge der Tagung finden sich aufgelistet unter Mitteilungen: Musikwissenschaftliche Tagung anlässlich der Reichsmusiktage 1938 (in: Archiv für Musikforschung [1938]) 395 Guido Waldmann, Bekenntnis zur deutschen Musik. Reichsmusiktage in Düsseldorf, in: Musik in Jugend und Volk (1937/38), 338. 396 Als erweiterte, gedruckte Fassungen des Vortrags erschienen: Friedrich Blume, Musik und Rasse. Grundfragen einer musikalischen Rassenforschung, in: Die Musik (Aug. 1938); ders., Das Rasseproblem in der Musik (1939). 397 Neben der vorsichtigen Erörterung eines neuen, methodischen Weges der musikalischen ‚Rassenkunde‘ suchte Blume allerdings auch einen orientalischen Einfluss auf die Gregorianik abzuschwächen (Das Rasseproblem in der Musik [1939], 49): „Aller Wahrscheinlichkeit nach aber
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in gedruckter Fassung vorliegen – vereinzelt antisemitische Passagen eingestreut.398 Ein grundlegender Beitrag von Werner Korte,399 der auf der Tagung die Arbeitsgruppe Musikforschung betreute, erschien im Juli des gleichen Jahres unter dem Titel Die Grundlagenkrisis der deutschen Musikwissenschaft.400 Hierin schlug Korte eine methodische Umorientierung der Geisteswissenschaft zu einer „neuen (völkischen) Wertwissenschaft“401 vor: Es wird verlangt, daß das gesunde Vorurteil des Völkischen zu einer völkisch ausgerichteten Wertung des wissenschaftlichen Befundes eingesetzt wird und damit der Kunstwissenschaft die lebendige Wurzel und die nationalpolitische Verpflichtung und Aufgabe im Dasein unseres Volkes wiedergegeben sein möge, die eine ‚objektiven‘ Tatsachen nachjagende liberalistische Geisteswissenschaft endgültig zerstört zu haben schien.402
In seine Abgrenzung gegen die „liberalistische Geisteswissenschaft“ mischten sich bei Korte auch antisemitische Implikationen, die er in eine Hetze gegen den international anerkannten und in die Emigration gezwungenen Berliner Professor für Vergleichende Musikwissenschaft Curt Sachs kleidete: Es ist ch>a@rakteristisch, daß sich die geisteswissenschaftliche Kunstbetrachtung immer mehr zu einer intellektuell-schöngeistigen Disziplin weiterentwickelte und dementsprechend der jüdische Prozentsatz der sie vertretenden Wissenschaftler vor 1933 ein nicht geringer gewesen ist. Auch die deutsche Musikwissenschaft hat ihre geistesgeschichtliche Neuorientierung erfahren müssen; wesentlich daran beteiligt war der Jude Kurt Sachs, und es ist aufschlußreich, seinen Ausführungen nachzugehen, [...] wenn sie auch in keiner Weise die geisteswissenschaftliche Leistung der deutschen Musikwissenschaft mitbestimmt oder gar bedeutet haben.403 wird eine zukünftige ‚Gregorianik‘-Forschung zu zeigen haben, wie dünn, ja wie überraschend dünn der Nebenschleier ist, den die Überschichtung durch übertragene artfremde Elemente und Formen über ein ursprüngliches, germanisches Singgut von vorwiegend nordischer Rasse gebreitet hat.“ 398 So etwa in dem Vortrag des Greifswalder Professors Walther Vetter Volkhafte Merkmale in Mozarts Opern (in: Zeitschrift für Musik [Aug. 1938]), in dem Vetter auch Mozarts italienische Opern für eine ‚nordisch-germanische‘ Musikgeschichtsschreibung zu reklamieren suchte (852f): „Er [Mendelssohn Bartholdy] ist Jude, und da die Musik noch mehr als jede andere Kunstgattung Ausdruck des Nationalcharakters und der Volksseele ist, so kann Mendelssohn unmöglich ein hervorragender deutscher Komponist sein. [...] Ich erinnere noch einmal an Händel und Mendelssohn: die fremdsprachlich textierte Musik braucht nicht undeutsch, die auf unsere Mutterlaute komponierte Musik nicht deutsch zu sein.“ 399 Prof. Dr. Werner Korte war zur damaligen Zeit Leiter der Musikwissenschaftlichen Abteilung der Universität Münster. 400 In: Die Musik (Juli 1938). 401 Korte, Die Grundlagenkrisis (Juli 1938), 669. Schon 1935 sprach sich Korte gegen die geistesgeschichtliche Methode aus und sah hierin „eine Gefahr, die vor allem in der Inflationszeit deutschen Geistes von fremdrassiger Geschäftigkeit in Zeitung und Zeitschrift erhöht wurde“ (Die Aufgabe der Musikwissenschaft, in: Die Musik [Febr. 1935], 340). 402 Korte, Die Grundlagenkrisis (Juli 1938), 668f. 403 Korte, Die Grundlagenkrisis (Juli 1938), 669f.
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Gegen die Geisteswissenschaft als dem „aus jüdischem Geist entsprungenen Nivellierungssystem“404 agitierte ebenfalls Alfred Lorenz, der im Dezember 1938 einen Artikel unter dem programmatischen Titel Musikwissenschaft und Judenfrage405 veröffentlichte. Kurz nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938406 erschienen, markiert der Artikel einen direkten Bezug auf die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vertreibungspolitik, ohne jedoch die landesweit organisierten Übergriffe auf deutsche Juden zu erwähnen. Beginnend bei Richard Wagner, als einem „der ersten Deutschen, die die Judenfrage erkannt hatten“, forderte Lorenz die Musikwissenschaft auf, sich stärker im Sinne des Antisemitismus zu engagieren:407 Man muß sorgfältig alle Merkmale des jüdischen Musikstiles herausschälen. Eine große Schwierigkeit liegt darin, daß in der Musik nicht leicht zu unterscheiden ist, was von innen heraus (also aus der Rassenseele des Urhebers) gewachsen und was einfache ‚Nachahmung‘ (also erlerntes Handwerk) ist. Wir können also jüdische Rassenmerkmale nur in jenen Teilen der Komposition finden, welche eine Entstellung des Nachgeahmten bedeuten.408
Indem er einen der Hauptwidersprüche antisemitischer Agitation überging – dem Aberkennen jeglicher Originalität ‚jüdischen‘ Musikschaffens bei gleichzeitiger Projektion von überzeitlichen, homogenen ‚jüdischen‘ Stilmerkmalen – versuchte Lorenz mit Berufung auf den „in der Systemzeit als fleißiger Musikforscher anerkannte[n] Rabbiner A.Z. Idelsohn“ die „Entlehnungen und Verballhornungen der Musik des Gastvolkes“409 nachzuweisen. Durch einen weiteren Verweis auf eine ‚jüdische Autorität‘, den deut404 Alfred Lorenz, Musikwissenschaft und Ahnenforschung, in: Zeitschrift für Musik (Dez. 1938), 1373. Der Münchner Professor für Musikwissenschaft schlug hier vor, eine Ahnentafel in jeder erscheinenden Künstler-Monographie zu veröffentlichen: „Das Genie [...] wird im Innern geboren durch die Kraft der Sippe. So heißt es denn: gründliche Ahnenforschung treiben, um im Leben unseres Blutes die guten Fährten unserer Kunstentwicklung verfolgen zu können. Wünschenswert aber wäre es überdies, daß solche Ahnenforschungen [...] in der übersichtlichen Form der Ahnentafel dem Leser geboten werden. [...] Man glaubt gar nicht, welche Annehmlichkeit eine solche bildhafte übersichtliche Mitteilungsart bietet. Fortan sollte keine Lebensbeschreibung von Musikern erscheinen, die nicht die Vorfahren des Künstlers bis weit in die Vergangenheit auf diese Weise in die Augen springen läßt.“ 405 In: Die Musik (Dez. 1938). 406 In der Folge wurde den deutschen Juden verboten, Kulturstätten und höhere Schulen zu besuchen sowie öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. 407 Lorenz, Musikwissenschaft und Judenfrage (Dez. 1938), 177: „Da sich seit Wagners Zeiten die jüdische Musik, sowohl was Menge wie Art betrifft, mächtig verändert hat, wäre es wünschenswert, wenn sich die Wissenschaft genauer als bisher mit diesem Problem beschäftigte.“ 408 Lorenz, Musikwissenschaft und Judenfrage (Dez. 1938), 177 409 Lorenz, Musikwissenschaft und Judenfrage (Dez. 1938), 177. Wie erwähnt markierte die Sammlung Hebräisch-Orientalischer Melodienschatz (10 Bde., Leipzig/Berlin/Wien 1914–1932) des jüdischen Musikforschers Abraham Zwi Idelsohn in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Anfänge der musikethnologischen Erforschung der jüdisch-orientalischen Musik.
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schen Philosophen Hermann Cohen (1842–1918) zog Lorenz eine direkte Linie von Felix Mendelssohn Bartholdy zu Arnold Schönberg: Hier also empfindet der Rassegenosse schon bei Mendelssohn die Merkmale des jüdischen Musikstiles, die zunächst nur verhüllt, im Laufe des Jahrhunderts aber immer deutlicher hervortreten, bis sie schließlich im Kreise um Schönberg ihre endgültige Zerstörungskraft bewiesen haben.410
Mit dem Hinweis auf einen neuen musikwissenschaftlichen Forschungsbereich schloss der Aufsatz in nationalsozialistischer Aufbruchsrhetorik: Die Stilkunde, die ja in unserer Wissenschaft sehr beliebt und fortgeschritten ist, würde damit ein reiches Feld nützlicher Betätigung finden. Also auf! ihr jungen Musikwissenschaftler, fanget an!411
Lässt sich einerseits keine dezidiert antisemitische ‚Kampfschrift‘ eines etablierten Musikwissenschaftlers, wie sie etwa von den Fachfremden Walter Trienes412 oder Karl Grunsky413 publiziert wurden, nachweisen,414 waren die Strategien, die antisemitische Ideologie des NS-Staats auch in das musikwissenschaftliche Schrifttum einzuführen, dennoch vielfältig. Die antisemitische Agitation begann bei Stigmatisierungen durch den Zusatz ‚Jude‘ bzw. dem Anbringen von Kürzeln wie ‚j.‘ oder ‚hj.‘ in Texten und Registern,415 ging über zum Verschweigen von Komponisten wie Felix Mendelssohn Bartholdy416 oder Musikwissenschaftlern wie Guido 410 Lorenz, Musikwissenschaft und Judenfrage (Dez. 1938), 178. Auch eine MeyerbeerAnekdote über gekaufte Melodien „von armen, arischen Musikern“ (178) fehlte nicht und Lorenz warnte (179): „Aus solchen Stellen der berühmten Opern dürfte man also keine jüdischen Merkmale herleiten!“ 411 Lorenz, Musikwissenschaft und Judenfrage (Dez. 1938), 179. 412 Musik in Gefahr. Selbstzeugnisse aus der Verfallszeit (1940). 413 Kampf um deutsche Musik (1933). 414 Wie skizziert, waren jedoch Karl Blessinger, Theodor Stengel und Herbert Gerigk ausgebildete und promovierte Musikwissenschaftler. 415 So z.Bsp. Erich Valentin (Hans Pfitzner. Werk und Gestalt eines Deutschen [1939], 261: „Die mit * versehenen Namen, von denen hier nur die ‚bekanntesten‘ angeführt sind, sind Namen von Nichtariern und ‚Geistesverwandten‘“) oder Hans Joachim Moser (Musiklexikon [1942], Vorwort zur zweiten Auflage: „Jüdische und halbjüdische Namen wurden als solche gekennzeichnet“). 416 So etwa Joseph Müller-Blattau (Geschichte der deutschen Musik [1938], 254: „Es ist nicht die Aufgabe einer deutschen Musikgeschichte, sich mit ihm und seinen Ouvertüren, Sinfonien und Oratorien, seinen Liedern und seiner Klaviermusik zu befassen“) oder Ernst Bücken (Musik der Deutschen [1941]), der erneut antimodernistische Akzente mit antisemitischen verband (294): „Krankhafte Erscheinungen waren die Musikrichtungen vom Expressionismus und von der Atonalität bis zum Futurismus und zum Konstruktivismus, die sich in dem durch den verlorenen Krieg erschütterten und geschwächten Kulturorganismus leichter und schneller einrichten konnten, als in normalem Zustand. ‚Erfinder‘ wie Hauptförderer dieser künstlich zu Zeitereignissen aufgeputschten Musikströmungen waren durchweg Juden, die damals ‚ihre‘ große Musikepoche anbrechen sahen. Kein deutscher Musikgenius wurde von seinen Pionieren mit solchen Fanfaren begrüßt, wie der Mischling Franz Schreker von seinem Rassegenossen Paul Bekker. Kein wirklich
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Adler417 in musikhistorischen Darstellungen und endete bei bewusster Geschichtsverzerrung. Der Artikel Der Fall Mendelssohn (Wer ist der Wiedererwecker von J.S. Bachs Matthäuspassion), im März 1939 in der Zeitschrift für Musik erschienen, und der Aufsatz Mendelssohn und Hiller im Rheinland. Zur Geschichte der Judenemanzipation im deutschen Musikleben des 19. Jahrhunderts vom Dezember des Vorjahres418 dienten beide dazu Felix Mendelssohn Bartholdy zu diskreditieren.419 Mit der These, dass Friedrich Zelter „der wahre Wiedererwecker von Johann Seb. Bachs Matthäuspassion“420 sei und Mendelssohn Bartholdy mit „ein[em] Bubenstück [...], das echt jüdisch war“421 unverdienterweise die öffentliche Anerkennung dafür erhalten habe, griff der Autor Fritz Müller422 in dem Artikel Der Fall Mendelssohn auf eine Kontroverse in den Jahren 1928 bis 1930 zurück, die zwischen den Musikwissenschaftlern Georg Schünemann und Friedrich Smend zu der Einigung geführt hatte, dass beide Vertreter der Berliner Singakademie die Aufführung gemeinsam vorbereitet hatten.423 Mit Verweis auf den ersten Aufsatz Schünemanns im Bach-Jahrbuch von 1928, welcher zu der Kontroverse geführt hatte, ignorierte Müller diesen Ausgang. Auch der Aufsatz Mendelssohn und Hiller im Rheinland von Willi Kahl424 empfahl, dass die „Geschichte der Judenemanzipation in ihren Auswirkungen auf das deutsche Musikleben [...] noch einmal geschrieben werden müsse“.425 Die Tätigkeit Mendelssohn Bartholdys bei den Niederrheinischen Musikfesten erklärte sich Kahl sowohl durch die „leichte Erregbarkeit des rheinischen Temperaments“ als auch von Seiten des Komponisten durch die „hochgesteigerte Anpassungsfähigkeit seiner Rasse“.426 Ferner großer Bahnbrecher ist so gefeiert worden, wie Arnold Schönberg nach dem Erscheinen seiner Klavierstücke op. 11“. 417 So etwa in Hans Engels Artikel Die Leistungen der deutschen Musikwissenschaft (in: Geistige Arbeit. Zeitung aus der Wissenschaft [Febr. 1939]). 418 Willi Kahl, in: Die Musik (Dez. 1938). 419 Auf Mendelssohn Bartholdys Verhältnis zu Robert Schumann fokussierten sich etwa auch Dr. Werner Korte (Robert Schumann >1937@, 86) und Wolfgang Boetticher (Robert Schumann. Einführung in Persönlichkeit und Werk >1941@, 255–261) und suchten dieses zu nivellieren. 420 Müller, Der Fall Mendelssohn (März 1939), 261. 421 Müller, Der Fall Mendelssohn (März 1939), 260. 422 Über Müller waren keinerlei biographische Daten zu ermitteln. 423 Georg Schünemann, Die Bachpflege der Berliner Singakademie, in: Bach-Jahrbuch 1928 (1929); Friedrich Smend, Zelter oder Mendelssohn?, in: Monatschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst (Juli 1929); Georg Schünemann, Zelter und Mendelssohn, Friedrich Smend, Nachwort, in: Monatschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst (April 1930), 111f u. 112–114. 424 Professor Dr. Willi Kahl arbeitet zu dieser Zeit am musikwissenschaftlichen Institut der Kölner Universität. 425 Kahl, Mendelssohn und Hiller im Rheinland (Dez. 1938), 166. 426 Kahl, Mendelssohn und Hiller im Rheinland (Dez. 1938), 169. Die „Anpassungsfähigkeit“ wurde durch stereotype Wertungsmuster wie etwa eine „eingängliche Formglätte“ und der Wagner-
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wurde Ferdinand Hillers Engagement in Köln zur ‚jüdischen‘ Verschwörung umgedeutet: Dem mutigen Vorstoß Uhligs, seinem Versuch, über den Einzelfall Meyerbeer hinaus eine brennende Zeitfrage aufzurollen, antwortete Bischoff unter dem sichtlichen Einfluß des im Rheinland bald allmächtigen Juden Hiller mit dem Geist der jüdischen Zersetzung.427
Derlei antisemitische Positionen, die einen überzeitlichen, omnipräsenten und nicht mehr nur an eine Herkunft gebundenen ‚jüdischen‘ Zerstörungswillen konstruierten, finden sich eingestreut in zahlreichen musikwissenschaftlichen Veröffentlichungen der Zeit. Wenn Werner Korte in seinem Aufsatz Krise und neue Sendung vom März 1939 in Arnold Schönbergs Kompositionstheorien das „Ahasverische dieser Zerstörung“ entwarf,428 Erich Valentin „die Fremdlinge“ als „morsch“, „faul“, „falsch“, „listig“, „feig >...@ und bequem“429 beschimpfte, Joseph Müller-Blattau die „Wortführer“ der „künstlerischen Verwesung“ und des „völkischen Niedergang“ im „Judentum“ sah430 oder Rudolf Gerber im „tschechische[n] Ghetto-Juden Gustav Mahler“ die Einleitung „eine[r] Ära des äußeren und inneren Zerfalls“431 erfand, hatte dies mit wissenschaftlich-differenziertem oder gar Paraphrase einer „‚äußerlich leidenschaftliche>n@ Geschäftigkeit‘“ im Gegensatz zu „‚echter Leidenschaft‘“ (170) ergänzt. 427 Kahl, Mendelssohn und Hiller im Rheinland (Dez. 1938), 177. Kahl bezieht sich hier auf die publizistische Auseinandersetzung zwischen dem Herausgeber der Rheinischen Musik-Zeitung Ludwig Bischoff und dem Wagner-Freund Theodor Uhlig, die im Vorfeld der Veröffentlichung des Artikels Das Judenthum in der Musik von 1850 stattfand. Vgl. Kap. 3.3 Richard Wagner, Das Judenthum in der Musik (1850). 428 Korte, Krise und neue Sendung. Ein Kapitel von ‚Geschichte und Amt der deutschen Musik‘, in: Die Musik (März 1939), 396: „Der Jude Arnold Schönberg hat es verstanden, den ‚konsequenten‘ Weg von Wagners ‚Tristan‘ zur vollkommenen Zerstörung aller harmonischen Beziehungen in seiner Musik als letzten ‚Fortschritt‘ der europäischen Musik anzupreisen; er hat jenen Sturz in den ‚Abgrund der Harmonie‘ [...] mit der ihm eigenen jüdischen Verantwortungslosigkeit, mit zynischer Rücksichtslosigkeit und drapiertem Idealismus inszeniert. Ihm war es vorbehalten, die romantische Sensualistik des Klanges auf kaltem Wege zur Dirne aller Reize zu erniedrigen und sie zu atavistischem Gestammel und schamloser Raffinesse artistischer Reflexmalerei zu gebrauche. Das Ahasverische dieser Zerstörung erreichte mit dem Zusammenbruch 1918 im ‚Pierrot lunaire‘ ihren Höhepunkt“. 429 Valentin, Ewig klingende Weise. Ein Lesebuch vom Wesen und Werden der deutschen Musik (1940), 97. 430 Müller-Blattau, Hans Pfitzner (1940), 81. 431 Gerber, Die Musik der Ostmark. Eine Wesensschau aus ihrer Geschichte, in: Zeitschrift für deutsche Geisteswissenschaft (1939/40), 77f: „Eine andere Generation bekam am Ende des vergangenen Jahrhunderts das Heft in die Hand, deren Wortführer nicht mehr die Menschen der Ostmark waren, sondern das internationale Judentum, dessen erster Hauptvertreter, der tschechische Ghetto-Jude Gustav Mahler, eine Ära des inneren und äußeren Zerfalls einleitete.“ Der Gießener Musikwissenschaftler stellte sich mit diesem Aufsatz in den Dienst deutscher Okkupationspolitik, hier der Annexion Österreichs. Vgl. auch Potter, Die Expansion während des Krieges und die neue Definition des ‚Deutschen‘, in: dies., Die ‚deutscheste‘ der Künste, 283–290.
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Der Topos im NS-Musikschrifttum
analytischem Denken nichts mehr zu tun, aber viel mit den Versuchen einer ideologischen Unterstützung der NS-Vernichtungspolitik.432 Wenige Musikwissenschaftler bezogen mit ihren antisemitischen Ausfällen direkt auf Hasstiraden der einschlägigen Veröffentlichungen der Zeit. Auch historische Untermauerungsversuche etwa durch Verweise auf die im 19. Jahrhundert unter anti-judaistischen und früh-antisemitischen Akzenten stehende Rezeption von Komponisten jüdischer Herkunft erfolgte kaum. Dennoch erschienen sowohl die vorgestanzten Etikettierungen und Wertungsmuster eines gemäßigten Antisemitismus als auch die sich zunehmend verschärfende, jegliche Differenzierung ausschaltende Übertypisierung des feindlichen ‚Juden in der Musik‘ in der musikwissenschaftlichen Literatur. Die Pauschalisierung und die parteipolitisch abgesicherte, scheinbar klare Bestimmung des ‚Wertes‘ bzw. ‚Unwertes‘ eines Komponisten, Musikers, Musikschriftstellers oder Musikwissenschaftlers wirkte weit über das NS-Regime hinaus. In zahlreichen Wiederauflagen dieser Fachliteratur nach 1945 wurden die einschlägigen Passagen gestrichen und verdächtige Wörter und Kürzel weggelassen.433 Wenngleich die ideologische Wirkung dieser fachspezifischen Literatur im Unterschied zu anderen Medien durchaus geringer einzuschätzen ist, zeigt sich dennoch in der Musikliteratur und dem Tagesjournalismus nach 1945 ein Nachwirken der kanonisierten Wertungsmuster des 19. und 20. Jahrhunderts, die mit dem NS-Regime zu einem geschlossenen System der Ausgrenzung, des Verbots und der Eliminierung ausgebaut worden waren.
432 Wie eine detaillierte Sichtung der im Archiv für Musikforschung veröffentlichten Vorlesungsverzeichnisse vom Wintersemester 1935/36 bis zum Sommersemester 1943 ergeben hat, lässt sich jedoch keine Lehrveranstaltung der Zeit mit einem, im Sinne des Antisemitismus programmatischen Titel finden. 433 Bekanntestes Beispiel hierfür ist das Musiklexikon von Hans Joachim Moser, das in der ersten Auflage 1934 erschien und 1942 sowie 1943 zweimal in einer umgearbeiteten Auflage publiziert wurde. Nach 1945 erlebte es mit Auslassungen und Zitatverweisen in einer vermeintlich entschärften Fassung mehrere Auflagen. Hans-Werner Boresch weist in seiner Studie Neubeginn mit Kontinuität. Tendenzen der Musikliteratur nach 1945 (in: Brunhilde Sonntag/Hans-Werner Boresch/Detlef Gojowy [Hg.], Die dunkle Last. Musik und Nationalsozialismus, 286–317) auch auf andere Neuauflagen nach 1945 hin, wie etwa Otto Schumanns Opernbuch (Einführung in die Wort- und Tonkunst unsere Spielplanopern, Berlin/Buxtehude 1948).
7. Perspektiven: Der Topos des Juden als Stereotyp in der Musikliteratur 7. Perspektiven 7. Perspektiven Die vorliegende Untersuchung zeichnete den Prozess der anti-judaistischen Stereotypisierung in der Musikliteratur nach. Wie skizziert, finden sich im Spannungsfeld zwischen Kirchen- und Synagogalmusik bereits im 18. und 19. Jahrhundert die Zuschreibungen angelegt, die sich als Konstanten im deutschsprachigen Musikschrifttum fortsetzten. Dem ‚fremden, orientalischen‘ Klangeindruck des jüdischen Ritus wurde vor dem Hintergrund synagogaler Reformbestrebungen im frühen 19. Jahrhundert der Vorwurf einer Nachahmung der nicht-jüdischen Umwelt zur Seite gestellt. Dieses Klischee des unschöpferischen, nachahmenden Judentums tradierte sich in der deutschen Rezeption von Komponisten jüdischer Herkunft. Mit dem unterschwelligen Gedanken einer jüdischen Fremdheit, die aufgrund ‚typisch klingender‘ Namen angenommen wurde, flossen in die deutsche Meyerbeer-Rezeption der 1830er und 1840er Jahre die Stigmatisierungen einer allgemeinen zeitgenössischen anti-judaistischen Literatur ein. Als ein Kristallisationspunkt der Stereotypisierung der ‚Juden in der Musik‘ wurde Meyerbeer neben merkantilen Interessen und angeblichen Bestechungen für den Erfolg auch die internationale Ausrichtung seines Schaffens als Verrat an der nationalen Gemeinschaft vorgeworfen. Mit der Unterstellung einer unschöpferischen Nachahmung in seinen Werken, die mit einem suggerierten ‚jüdischen‘ Mangel an nationaler Substanz korrespondierte, trat hier das Denkmuster eines grundsätzlichen Unterschieds zwischen Komponisten jüdischer und deutscher Herkunft hervor. Ein auf außermusikalischen Begriffen gründendes dichotomes Wertungssystem verzahnte sich mit einer vermeintlichen Dualität aufgrund der Herkunft. In direkter Zuordnung wurden unkonkrete Vokabeln wie ‚Inhaltslosigkeit‘, ‚Äußerlichkeit‘, ‚Oberflächlichkeit‘, ‚Gefallsucht‘ und ‚Tageserfolg‘ in synonymem Gebrauch den Werken ‚jüdischer‘ Komponisten zugeschrieben. In diesem Sinn zeigt sich in der zeitgenössischen Wahrnehmung Offenbachs neben einer Übertragung der Stereotype der Meyerbeer-Rezeption eine offensichtliche Identifikation ‚des Juden‘ mit der so genannten ‚Trivialmusik‘, die zielgerichtet das Publikum verderbe und die Musik durch ‚Spott‘, ‚Karikatur‘ und ‚Erotik‘ zersetze. Innerhalb eines zweckmäßig disponierten Systems fungierte Mendelssohn Bartholdy als Antipode zu Meyerbeer, wenngleich sich neben den pejorativen Urteilen der ‚Glätte‘, ‚Weichheit‘, ‚Seichtheit‘ und ‚Senti-
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mentalität‘ auch hier der Topos der formelhaften, ausschließlich technischen Nachahmung schon in der zeitgenössischen Rezeption findet. Damit waren bereits vor 1850 die anti-judaistischen Rezeptionsfolien ausgebildet. Den nächsten Kristallisationspunkt einer Stigmatisierung des ‚Juden in der Musik‘ markieren die Diskussionen im Wagner-Umfeld um Das Judenthum in der Musik, die Wagner in seinem anonymen Aufsatz in der Neuen Zeitschrift für Musik bündelte und popularisierte. Mit der expliziten Benennung einer jeweiligen jüdischen Herkunft, der säkularisierten ‚protorassistischen‘ Ausrichtung und der offensiven Behauptung eines ‚jüdischen Unvermögens‘ in schöpferischer Originalität konstituierte sich der Topos des Juden in der Musik, der frühere, zum Teil widersprüchliche Zuschreibungen und Etikettierungen umfasste und auf den alleinigen Nenner einer jüdischen Herkunft reduzierte. Unter diesen neuen Akzenten verdichtete sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Gedanke der Herrschaft eines geheimen Judentums durch die Mittel des modernen Kapitalismus. Die jüdische Assimilation und Akkulturation wurde umgedeutet in eine ‚Verstellung‘ und ‚Täuschung‘, die als ‚international-jüdische Verschwörung‘ nicht mehr allein Komponisten fokussierte, sondern auf alle musikalischen Bereiche übertragen werden konnte. Mit dem Konstrukt der ‚Rasse‘, das sich begrifflich bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Musikliteratur finden lässt, wurde die angebliche ‚Fremdheit‘ der Juden als latent biologistisches Kontinuum zu behaupten versucht. Der zunächst synonyme Charakter des ‚Rasse‘-Begriffs mit Vokabeln wie ‚Abstammung‘, ‚Volk‘, ‚Nation‘ oder sogar ‚Religion‘ verlor sich in diesem Prozess erneut unter Einfluss der antisemitischen Agitation des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts. Die Verbreitung der Idee einer biologischen Determination sowie die Erweiterung des prä-existenten Kanons ‚jüdischer Eigenarten‘ in der Musik prägte die Musikliteratur seit der Wende zum 20. Jahrhundert. In der deutschen Rezeption Gustav Mahlers und Arnold Schönbergs erfolgte eine Verdichtung der tradierten anti-judaistischen Abwertung mit anti-modernistischen und nationalistischen Positionen. Die Implikationen, denen Mahler in der zeitgenössischen Rezeption ausgesetzt war, entsprechen hierbei den früheren Unterstellungen gegenüber Mendelssohn Bartholdy. In Anknüpfung an ihre jeweilige interpretatorische und organisatorische Tätigkeit wurde beiden unter Einbeziehung ihres Glaubenswechsels ein ‚heimliches Eindringen‘ in eine ihnen ‚fremde Kultur‘ und eine ‚Verfälschung‘ der ‚deutschen‘ Musik unterstellt. Diese Invektiven verschärften sich unter Einfluss völkischer Gedanken in der deutschen Schönberg-Rezeption. Hier konnte auf präformierte kulturpessimistische Schlagwörter wie ‚degenerative Entartung‘, ‚verweichlichende Impotenz‘, ‚revolutionärer Musikbolschewismus‘, ‚undeutscher Internatio-
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nalismus‘ und ‚zersetzender Intellektualismus‘ rekurriert und Schönberg als ‚jüdischer Revolutionär‘ und ‚Zerstörer‘ gebrandmarkt werden. Das Feindbild des Juden nach 1933 repetierte und systematisierte die völkische Hetze. Legislative Schikanen, staatliche Terrorisierungen und letztlich die physische Vernichtung bildeten die Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich die Propagandaphrasen in der NS-Musikliteratur bewegten. Als ‚artfremd‘ beschimpft, entwarf die antisemitische NS-Agitation die Juden als zerstörerisches, feindliches Prinzip. Mit der Unterstellung einer zielgerichteten, internationalen Verschwörung auch in der Musik wurde die angebliche Notwendigkeit eines nationalen Behauptungskampfs suggeriert. Verzahnt mit den anti-modernistischen, nationalistischen Ideen der 20er und 30er Jahre und ausgestattet mit einer organizistischen Sprache verschärften sich tradierte Bewertungsformeln zu einem nationalsozialistischen Feindbild, das von Komponisten des 19. Jahrhunderts über die musikalische Moderne bis zum Jazz und zur Unterhaltungsmusik reichte. Ungeachtet der Widersprüche agitierte das NS-Musikschrifttum gegen den ‚jüdischen Kapitalismus‘ und ‚Bolschewismus‘ und gegen die nach den Nürnberger Rassegesetzen vermeintlich eindeutig definierten ‚Voll-, Halb- und Vierteljuden‘ sowie unspezifisch gegen alle, die vom ‚jüdischen Geist‘ infiltriert seien. Behauptete die ‚musikalische Rassenkunde‘ eine Wissenschaftlichkeit, bemühte sie jedoch letztlich das ‚artgemäße Gefühl‘ als subjektive Entscheidungsinstanz für eine ‚rassische‘ Zugehörigkeit. Darüber hinaus widersprachen biologistisch begründete Mutmaßungen über konkrete ‚jüdische‘ Stilmerkmale der Unterstellung eines jüdischen Mangels an schöpferischen Fähigkeiten. Widersprüchlich zeigt sich auch das propagandistische Herunterspielen des Anteils der gebrandmarkten, verbotenen und ‚ausgemerzten‘ Werke und Komponisten, das sich nicht mit den NS-Phrasen von einer Herrschaft der Juden in der Musik vereinbaren lässt. Dessen ungeachtet erschienen nach 1938 neben den, auf einen praktischen Gebrauch zielenden denunziatorischen Namensauflistungen zugleich musikwissenschaftliche Publikationen, die ihre Wissenschaftlichkeit zugunsten der ideologischen Anforderungen des NS-Regimes preisgaben. Angesichts dieses skizzierten Entwicklungsprozesses von Denkmustern zu Wertungsfolien, die sich in aggressive Diffamierungen wandelten, kann es nicht verwundern, dass nach 1945 die tradierten Etikettierungen im Rahmen des Topos des Juden in der Musik fortwirkten. Wenn Meyerbeer noch in den 80er Jahren ein spezifisches „Anpassungsvermögen“ unterstellt wird, das es ihm ermöglichte, sich „die Vorzüge der jeweiligen nationalen stilistischen Eigenarten eklektisch anzueignen“,1 steht hinter derlei abwertenden Formulierung offenkundig das präformierte Schlagwort des ‚un1
Rudolf Kloiber, Handbuch der Oper (5. erw. u. bearb. Aufl. 1985), 1. Bd., 477.
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schöpferischen Juden‘, der nur aus Vorhandenem auswählt und sich der Ideen Anderer bedient. Auch in der deutschen Mendelssohn BartholdyLiteratur nach 1945 lassen sich diese Kontinuitäten aufzeigen, die um konstante Etikettierungen wie „Glätte“ und „Weichheit“2 kreisen. So findet sich in diesem Zusammenhang ein, 1984 in der Frankfurter Rundschau aus Anlass des 175. Geburtstags Mendelssohn Bartholdys erschienener Gedenkartikel ‚Der schöne Zwischenfall der Musik‘?,3 der in offenkundigem Bewusstsein einer durch anti-judaistische Akzente geprägten Rezeptionsgeschichte4 neben der „Anpassung“ und dem „Musterschülerhafte>n@“ der Formprägung auch die „Gewächshausblumen“5 der Klavierstücke ausmacht – eine Formulierung, die an das stigmatisierende Urteil der „Treibhauskultur“6 erinnert, das nach der Wende zum 20. Jahrhundert auftauchte. Für weitere Zuschreibungen des Artikels, wie etwa eine „ständige Unruhe“ der Musik mit angeblich „überhastet, fast neurasthenisch dahinhetzenden schnellen Sätzen“, in denen es „wuselt und zuckt >...@, als ob der Musikstrom verzweifelt, aber vergeblich versuche, Boden zu fassen“, und die auf eine „tief versenkte, verdrängte Lebens-Unruhe“ und „nervöse Rastlosigkeit“7 Mendelssohn Bartholdys zurückgeführt wird, scheint das Bild des ruhelos umherirrenden Ahasver die Vorlage geliefert zu haben:8 Die erschreckend gealterten Züge des kaum 35jährigen nicht weniger als der Anlehnungszwang und Übereifer seiner Musik sprechen von gebrochener Identität. >...@ Der doxologischen Indifferenz, mit der er sowohl für die protestantische wie für die katholische Kirche, ja selbst für die Synagoge komponierte, entspricht der eklektische Stilmischung und Unsicherheit seiner geistlichen Musik >...@. Seine beiden Oratorien ‚Paulus‘ und ‚Elias‘ >...@ scheitern an dem unerträglichen Kompromiß von nazarenisch geleckter Verzückung und biblischer Strenge in Gehrock und Zylinder.9
2 Hans Engel, Musik der Zeiten und Völker. Eine Geschichte der Musik von den Anfängen bis zur Gegenwart (1968), 363. 3 Uwe Schweikert, ‚Der schöne Zwischenfall der deutschen Musik‘? Rückblick auf Felix Mendelssohn-Bartholdy, in: Frankfurter Rundschau (4.2.1984). 4 Schweikert, ‚Der schöne Zwischenfall der deutschen Musik‘? (Febr. 1984), 3: „Warum also empfinden wir gerade Mendelssohns schwankende historische Stellung, gar seine politische Ausmerzung nach 1933 als ein so bezeichnendes, bedrückendes Stigma?“ 5 Schweikert, ‚Der schöne Zwischenfall der deutschen Musik‘? (Febr. 1984), 3. 6 Karl Storck, Geschichte der Musik (61926), 2. Bd., 152. 7 Schweikert, ‚Der schöne Zwischenfall der deutschen Musik‘? (Febr. 1984), 3. 8 Auch das Stereotyp der formalen Nachahmung zur Verdeckung der jüdischen Herkunft fehlt hier nicht (3): „Fast benutzt er die klassische Sonatenform als Tarnung, als Maske, um das Eigene hartnäckig zu verbergen.“ 9 Zwar kann man derlei Formulierungen dem feuilletonistischen Grundton zuschreiben, dennoch finden sich solche Etikettierungen auch in der Fachliteratur. So beschreibt etwa Rainer Riehn in seinem Artikel Das Eigene und das Fremde. Religion und Gesellschaft im Komponieren Mendelssohns (in: Felix Mendelssohn Bartholdy >1980@, 137) vor dem Hintergrund einer ‚Glätte‘ des Konfessionswechsels: „Daß sein Protestantismus Mendelssohn wohl doch nicht so sehr am
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Obgleich derlei deutliche Stigmatisierungen unter dem Etikett „nazarenisch“ als eine Ausnahme gewertet werden könnten, lässt sich für die MahlerLiteratur nach 1945 ebenfalls „en detail nachweisen, daß die antisemitische Substanz der kritischen Sprache gegenüber Mahler ungebrochen blieb, ohne daß auch nur einmal das Wort ‚Jude‘ benutzt wurde“,10 wie Jens Malte Fischer mit Blick auf den Führer Das Konzert von Rudolf Bauer11 feststellt. In den letzten Jahrzehnten zeigt sich in der Forschungsliteratur zu Felix Mendelssohn Bartholdy und Gustav Mahler eine kritische Haltung gegenüber den präformierten Stereotypen und ihren anti-judaistischen Subtexten.12 Eine ähnlich differenzierte Betrachtung der Kontinuitäten tradierter Wertungsmuster innerhalb der Meyerbeer- und Offenbach-Literatur nach 1945 wäre ein eigener rezeptionsgeschichtlicher Untersuchungsgegenstand. Hier müsste auf Grundlage einer empirischen Quellensammlung zudem differenziert werden zwischen zeitgenössischen Rezeptionsfolien des 19. Jahrhunderts und purer NS-Demagogie, um zu objektiven und objektivierbaren Kriterien der musikhistorischen Einordnung beider Komponisten zu gelangen. Grundsätzliche Aspekte im Fortwirken tradierter Denkmuster aus dem Umkreis des Antisemitismus scheinen sich darüber hinaus auch in Vorstellungen zu finden, die sich auf Spekulationen über „Machenschaften anonymer internationaler Mächte“13 auch im Musikleben berufen. Die nach wie vor in der Musikliteratur auffindbaren Unterstellungen, merkantile Interessen zu verfolgen oder allein von Claqueuren hochgelobt worden zu sein, werden als „Topoi >...@ in musikalischen Rezeptionsgeschichten“ im 20. Jahrhundert gleichfalls zur pejorativen Betrachtung einer Musik oder eines Komponisten benutzt.14 Auch antithetische Argumentationsstrukturen und Herzen lag, verrät allein schon das Steife, Zeremonielle, formalistisch Distanzierte, ja Falsche mancher seiner Kirchenkompositionen >...@. Auch das Deutschnationale bei ihm >...@ hat etwas durchaus Aufgesetztes und entspricht >...@ höchstens dem aus tiefer Angst entsprungenen Wunsch nach Integration in die Gesellschaft, in der und von der man lebt“. 10 Fischer, Gustav Mahler, 318: „Die Autoren solcher Äußerungen konnten durchaus damit rechnen, daß ihre Leserschaft, soweit sie schon im Dritten Reich Musikkritiken und Konzertführer gelesen hatte, durchaus verstand, was gemeint war, wenn Stichworte wie Eklektizismus, Trivialität, Zwiespalt zwischen Wollen und Können, Effekthascherei, Nachahmung aller Formen und Stile, Seichtigkeit, Süßlichkeit auftauchten.“ 11 Berlin/Darmstadt/Wien 1955, Neuauflage 1961. 12 So etwa Wulf Konold, Die Mendelssohn-Rezeption heute, in: ders., Felix Mendelssohn Bartholdy und seine Zeit, 303–305; Albrecht Riethmüller, Das ‚Problem Mendelssohn‘, in: Archiv für Musikwissenschaft, 210–221; Christoph Metzger, Mahler-Rezeption; Fischer, Gustav Mahler. In der Weill-Literatur hat sich schon früh dieser Blickwinkel auf die Rezeption verändert: Jürgen Engelhardt, Fragwürdiges in der Kurt-Weill-Rezeption. Zur Diskussion um einen wiederentdeckten Komponisten, in: Stern, Angewandte Musik – 20er Jahre, 118–137; Stephan Hinton, Fragwürdiges in der deutschen Weill-Rezeption, in: Kim H. Kowalke/Horst Edler (Hg.), A Stranger here myself. Kurt-Weill-Studien, 23–33. 13 John, Musikbolschewismus, 389. 14 So stellt Erik Fischer in seinem Artikel Akteure, Topoi und Innovationen in musikalischen Rezeptionsgeschichten (in: Hermann Danuser/Friedhelm Krummacher [Hg.], Rezeptionsästhetik
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„politisch-moralisch begründete>...@ Wertungsraster“15 zur Ab- oder Aufwertung wie ein „ernsthaftes, kompromißloses Engagement“ im Gegensatz zur „korrupte>n@ Anbiederung an den spätbürgerlichen Musikbetrieb“16 weisen auf „Techniken der Rhetorik“, die „komplexe Zusammenhänge auf griffige Formeln bzw. (vor allem) Antagonismen zu reduzieren“17 versuchen. Bei derlei bis heute häufig verwendeten Dualitäten als Beschreibungsstrategien innerhalb der Musikliteratur kann nur im Einzelnen geprüft werden, ob sie mit den rhetorischen Rezeptionsfolien innerhalb des Topos des Juden in der Musik korrespondieren oder sich tatsächlich jenseits eines antisemitischen Subtextes bewegen. Nur selten finden sich nach 1945 direkte antisemitische Invektiven und eine offensive Benennung ‚des Juden‘ in der Musik, wie sie etwa aus der Darstellung Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein18 des international renommierten Dirigenten Ernest Ansermet hervortreten. Primär gegen Arnold Schönberg gerichtet, suchte Ansermet den vermeintlichen Nachweis zu erbringen, dass die dodekaphone, serielle Kompositionsweise „für das Ohr nicht erfaßbar ist“19 und „daß allein die Tonalität musikalischen Sinn stifte“.20 Gleichzeitig regte die Auseinandersetzung mit Schönberg ihn zu allgemeinen Reflexionen über die „jüdische Seinsweise“21 an: Der Jude ist ein Selbst – ein ego – und spricht so, als ob er ein cognito, ein unbetontes Ich, wäre. Aus dieser Verwirrung oder Zwiespältigkeit entsteht eine zwiefache Deformation des Denkens. >...@ Die geschilderte Zwiespältigkeit des Denkens hat dem Juden das Talent für das Manipulieren der Geldangelegenheiten gegeben. >...@ Jedenfalls ist das Charakteristikum des Juden >...@ sein Talent, aus dem Geld Nutzen zu ziehen. >...@ Was wir soeben dargelegt haben, hilft uns zu begreifen, daß das geschichtliche Werden der abendländischen Musik ohne die Juden möglich gewesen wäre, >...@ man denke einmal Salomon Rossi >...@, Meyerbeer, Mendelssohn, Offenbach, Mahler weg >...@ und man wird finden, daß sich nichts Entscheidendes geändert hätte >...@. Alle haben sich den Stil ihrer Umwelt zu eigen gemacht, >...@ doch von keinem von ihnen kann man sagen, er >...@ wäre im Bereich des Stils oder der Form schöpferisch gewesen. >...@ Was zum großen schöpferischen Musiker >...@ gehört, ist das Vermögen, >...@ die eigene affektive Seinsweise zu transzendieren >...@. Diese und Rezeptionsgeschichte in der Musikwissenschaft, 318) fest, dass sich diese Unterstellungen etwa in der Rezeption Krzysztof Pendereckis auffinden lassen. 15 Fischer, Akteure, Topoi und Innovationen, 323. 16 Fischer, Akteure, Topoi und Innovationen, 321. 17 Fischer, Akteure, Topoi und Innovationen, 326. 18 1965, 31985, 51991. 19 Ansermet, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein (1965), 547. 20 Carl Dahlhaus, Ansermets Polemik gegen Schönberg, in: Neue Zeitschrift für Musik, 183. Dahlhaus’ Aufsatz stellt eine detaillierte Widerlegung der Argumentation Ansermets dar. Allerdings werden die antisemitischen Ausfälle mit keinem Wort erwähnt. 21 Ansermet, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein (1965), 408.
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Transzendenz >...@ scheint außer Reichweite der jüdischen Komponisten zu sein, weil sich der Jude nicht von sich selbst loslösen kann [...].22
Neben Mahler, der hier ebenso disqualifiziert wird wie die anderen Komponisten jüdischer Herkunft,23 fließen bei Ansermet in die Beschreibungen Schönbergs und seiner Kompositionstheorie die tradierten, antisemitischen Denkfiguren ein, wie ein ‚jüdisches Kauderwelsch‘,24 eine ‚verquere Intellektualität‘25 und „verstandesmäßige>...@ Spekulationen“,26 eine ‚Imitation‘ und ‚Verstellung‘27 sowie letztlich die ‚Verfälschung‘ und ‚Vergiftung‘.28 Derlei offenkundiger Antisemitismus weist auf einen weiteren Aspekt des Topos des Juden in der Musik, der im Rahmen der vorliegenden Arbeit unberücksichtigt bleiben musste. Als Erstfassung von 1961 unter dem französischen Titel Les Fondaments de la musique dans la conscience humaine29 erschienen, mag sich Ansermet in einer anti-judaistischen Tradition innerhalb des französischen Musikschrifttums bewegen.30 Vor allem für die 22 Ansermet, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein (1965), 408–412. 23 Ansermet, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein (1965), 412: „Mahler drückt sich einerseits durch Rückgriff auf volkstümliche Melodien >...@ aus, >...@ andererseits durch die Breite seiner symphonischen Formen; und weil er in Wahrheit über keinen persönlichen Stil verfügt, >...@ manifestiert er seine Persönlichkeit durch die Breite der Form, d.h. er weicht in die Beredsamkeit aus. >...@ Diese Musik ist keine jüdische Musik, sie ist Musik von Mahler; aber sie drückt in gängiger Sprache eine Art, Jude zu sein, aus.“ 24 Ansermet, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein (1965), 530: „Was Schönberg zur Atonalität geführt hat, ist daher >...@ sein Unvermögen, in der klaren Sprache der tonalen Musik den letzten Ausdruck dessen zu finden, was er ausdrücken wollte.“ Der „klaren“ Sprache der Tonalität wird hier Schönbergs angebliche Tendenz, „durchwegs zu viele Dinge auf einmal aussagen“ zu wollen (526), gegenübergestellt. 25 Ansermet, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein (1965), 530: „Man kann in der Tat sagen, daß er von dem Augenblick an, in welchem er in der Sekundärreflexion arbeitet und gedanklich fixiert, was ihm sein musikalisches Empfinden eingibt, die Gegebenheiten seiner musikalischen Einbildung dekomponiert, um sie sodann auf dem Papier wieder neu zu komponieren >...@. Und da es in diesem Augenblick das Denken ist, das regiert, gerät er in die Konfusion ‚abstrakt-konkret‘ – in dieses Jüdisch-‚Verquere‘, das auch den ‚Intellektuellen‘ eigen ist. (Hieraus erklärt sich auch die Tatsache, daß so viele westliche ‚Intellektuelle‘ seine Doktrin gutheißen konnte).“ 26 Ansermet, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein (1965), 555. 27 Ansermet, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein (1965), 538: „Seine Musik imitiert also die tonale Musik, und durch die dialektische Verkettung seiner melodischen Motive mimt sie die musikalische Sprache. Aber mangels einer ausreichenden Wortgrundlage (der harmonischen Kadenzbewegung) reduziert sich seine Sprache auf die Aneinanderreihung melodischer Bilder in Rhythmus und Tempo“. 28 Ansermet, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein (1965), 558: „Es bleibt festzustellen, daß die vom Theoretiker Schönberg ausgeübte Autonomie der Sekundärreflexion >...@ die Musikauffassung einer ganzen Generation von Musikern, Theoretikern und Kritikern >...@ tatsächlich vergiftet und gröblich verfälscht hat.“ 29 Neuchâtel 1961. 30 So bemerkt etwa Birgitta Maria Schmidt in ihrer Untersuchung Politisierung der deutschen Musik (2, Fußnote 2): „Es ist zu vermuten, daß während des gleichen Zeitraums solche Ideen, zumindest aber antisemitisches Gedankengut in der Musikliteratur anderer europäischer
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französische Meyerbeer- und Offenbach-Rezeption des 19. Jahrhunderts wäre die Frage nach anti-judaistischen Unterstellungen klärenswert, die möglicherweise auf deutsche Rezeptionsmuster rückwirkten oder in Wechselwirkung mit diesen traten. Darüber hinaus könnte auf der Grundlage einer Zusammenstellung judenfeindlich und antisemitisch motivierter Urteile im europäischen Kontext auch die Frage zu erörtern sein, mit welchen Motivationen derlei Abwertungen in das Schreiben über Musik eingebunden wurden, ein Aspekt, der in der vorliegenden Arbeit nur am Rande beleuchtet werden konnte. Die Verzahnung des Antisemitismus mit anderen politisch-ideologischen Strömungen wirft die Frage nach deren direkten Auswirkungen auf vermeintlich sachliche Argumentationsabläufe auch in der Musikliteratur auf und stellt ein weiteres, umfangreiches Feld der Rezeptionsforschung dar. Auf außermusikalische Topoi rekurrierende Bewertungen, die in Beziehung zu musikgeschichtlichen und musikalischen Sachverhalten gesetzt werden, zeigen nach wie vor eine deutliche Virulenz, deren Beleuchtung als Teil der musikhistorischen Forschung eine kaum zu unterschätzende Relevanz für das heutige Sprechen und Schreiben über Musik haben kann.
Länder, am wahrscheinlichsten in Frankreich, anzufinden sind.“ Eine erste, international ausgerichtete generelle Zusammenstellung polemischer Urteile im Schreiben über Musik liefert Nicolas Slonimsky mit dem Lexicon of Musical Invective. Critical Assaults on Composers Since Beethoven’s Time.
8. Literatur Literatur
8.1 Quellentexte Quellentexte
Adler, Guido: Gustav Mahler, Leipzig/Wien 111916. Alt, Michael: Das musikalische Schrifttum im Musikunterricht, in: Völkische Musikerziehung, 4. Jg., H. 11, Nov. 1938, 503–506. Ambros, August Wilhelm: Geschichte der Musik mit zahlreichen Notenbeispielen und Musikbeilagen, 1. Bd.: Die Musik des griechischen Altertums und des Orients (nach R. Westphals und F.A. Graeverts neuesten Forschungen), 3. bearb. Aufl. (hg. von B.v. Sokolowsky), Leipzig 1887. Anonym: Arteigene und artfremde Musik, in: Völkischer Beobachter vom 10.11.1931, 44. Jg., 314. Ausg., Erstes Beiblatt. – : Aufgefundene Blätter aus dem Tagebuch eines früh verstorbenen Musikers, in: Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung, 1. Teil: 4. Jg., Nr. 23, 6. Juni 1827, 177f, 2. Teil: Musikanlage der Orientalen, 5. Jg., Nr. 23, 4. Juni 1828, 179f. – : Aus der Korrespondenz des Redakteurs, in: Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung, 1. Jg., Nr. 1, 7. Jan. 1824, 4f. – : Aus Paris. Die Hugenotten, in: Neue Zeitschrift für Musik, 4. Bd., Nr. 28, 5. April 1836, 117– 119. – : Aus Wendel’s Aufzeichnungen: Das deutsche Repertorium, in: Neue Zeitschrift für Musik, 7. Bd., 2. Hj., 1. Teil: Nr. 20, 8. Sept. 1837, 77–79, 2. Teil: Nr. 21, 12. Sept. 1837, 83f, 3. Teil: Nr. 22, 15. Sept. 1837, 85–87. – : Aus Zeitschriften und Büchern, Der jüdische Schlager als Geschäftsobjekt, in: Musik in Jugend und Volk, 6. Jahr, 1943, 70f. – : Die Abstammung Georges Bizets, in: Die Musik, 30. Jg., 1. Hj., H. 4, Jan. 1938, 249. – : Die Juden in der Musik. Separat-Abdruck aus ‚Die Deutsche Wacht‘, Berlin 1881. – : Feuilleton. Berlin., in: Symphonia. Fliegende Blätter für Musiker und Musikfreunde, Nr. 2, 1866, 24. – : Fünftes Abonnement-Concert am 5. November 1846, in: Leipziger Tageblatt und Anzeiger, Nr. 311, 7. Nov. 1846, 3541f. – : Giacomo Meyerbeer, in: Allgemeine Musikalische Zeitung, Neue Folge: 2. Jg., Nr. 20, 18. Mai 1864, 345–352 – : Kleine Zeitung. Tagesgeschichte, Auszeichnungen, Beförderungen, in: Neue Zeitschrift für Musik, 62. Bd., 1. Hj., Nr. 2, 5. Jan. 1866, 15. – : Kreuz und Quer, Ein ‚Kampfbund für deutsche Kultur‘, in: Zeitschrift für Musik, 96. Jg., H. 2, Febr. 1929, 95. – : Kreuz und Quer, Zur Wertbestimmung von morgen- und abendländischer Musik, in: Zeitschrift für Musik, 98. Jg., H. 1, Jan. 1931, 55f. – : Kunst-Nachrichten, in: Berliner Musikzeitung, 6. Jg., Nr. 17, 27. April 1856, 132. – : Mitteilungen, Düsseldorfer Reichsmusiktage, in: Die Kulturverwaltung. Zeitschrift für gemeindliche Kulturpflege, 2. Jg., Nr. 6, 25.6.1938, 160f. – : Mitteilungen: Musikwissenschaftliche Tagung anlässlich der Reichsmusiktage 1938, Düsseldorf vom 26. bis 28. Mai, in: Archiv für Musikforschung, 3. Jg., H. 2, 1938, 254f. – : Nachrichten. Prag, in: Allgemeine Musikalische Zeitung, 37. Jg., Nr. 46, 18. Nov. 1835, 765–767. – : Recensionen. Sammlung hebräischer Originalmelodien, mit untergelegten Gesängen von Lord G.G. Byron und deren Uebersetzung vom Geh. Kriegs-Rath Kretzschmer, in: Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung, 1. Jg., Nr. 1, 7. Jan. 1824, 5–7.
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Literatur
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