Literaturbeziehungen im 18. Jahrhundert: Studien und Quellen zur deutsch-russischen und russisch-westeuropäischen Kommunikation [Reprint 2021 ed.] 9783112485545, 9783112485538


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Literaturbeziehungen im 18. Jahrhundert: Studien und Quellen zur deutsch-russischen und russisch-westeuropäischen Kommunikation [Reprint 2021 ed.]
 9783112485545, 9783112485538

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Literaturbeziehungen im 18. Jahrhundert

,,— Auch der Bücherumsatz mit andern Ländern wird zunehmen. Je mehrern Leuten die Produkte des hiesigen gelehrten Bodens bekannt werden, desto größer wird die Anzahl der Liebhaber; und je mehr Bücher aus dem Lande gehen, desto mehr kommen, wegen des gewöhnlichen Vertausches, wieder herein. Es wird aber hierdurch nicht bloß der Buchhandel... in bessere Aufnahme gebracht; selbst die Ausbreitung der Gelehrsamkeit wird dadurch ungemein befördert." H. L. Ch. Bacmeister, Vorwort zum 1. Bd. seiner „Russischen Bibliothek", 1772

„Die eine Quelle ist eine einheimische, die andere eine ausländische. Zuerst müssen wir unsere eigenen Schätze untersuchen und betrachten, indem wir alles das zusammen tragen müssen, was in den einheimischen Denkbüchern und Urkunden verborgen liegt . . . Hernach müssen wir uns zu der ausländischen Geschichte wenden, und von ihr alles das entlehnen, was zur Erweiterung, Beglaubigung und Zierde unserer Geschichte erfordert wird. Nicht nur unsere nächsten Nachbarn, sondern auch die von uns entfernten Deutschen, Franzosen, und so gar die Tatarn selbst, Armenier und Chineser werden uns wider Vermuthen zu Mitteln von Nachrichten dienen, welche zu dem Gebäude unserer Historie unumgänglich nötig sind, und welche alle unsere einheimischen Schriftsteller verschwiegen haben." J. K. Taubert, Vorrede zu J. B. Scherer, „Nestors älteste Jahrbücher", ¡774

„. . . die aufklärerischen Bücher und Schriften [besaßen] eine ungewöhnliche Reichweite, die sich auf alle größeren europäischen Länder gleichermaßen erstreckte. Die ökonomischen und gesellschaftspolitischen Bestrebungen der aufsteigenden Klasse gingen weit über die nationalen Grenzen hinaus, und das allgemeine Interesse für die sozialökonomischen Verhältnisse und Lebensweise der benachbarten Länder und Völker stieg sprunghaft an." H. Graßhoff, „Russische Literatur in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung",

1973

„Die deutsch-russischen wissenschaftlichen Beziehungen im 18. Jahrhundert fanden im Geist der Aufklärung ihre tiefe Begründung. Dieses Kulturerbe muß für die Gegenwart und die Zukunft fruchtbar gemacht werden." E. Winter, „Deutsch-russische Wissenschaftsbeziehungen im 18. Jahrhundert", 1981

Literaturbeziehungen im 18. Jahrhundert Studien und Quellen zur deutsch-russischen und russisch-westeuropäischen Kommunikation

Herausgegeben von Helmut Graßhoff f Mit 16 Abbildungen

Akademie-Verlag Berlin 1986

Redaktion: Jutta Harney und Annelies Graßhoff Übersetzung: Ulrich Brewing t (Beiträge von Myl'nikov, Begunov, Moiseeva, Waegemans, Cross, Kocetkova, Page) Teodolius Witkowski (Beitrag von Lichotkin) Die Einbandgestaltung erfolgte unter Verwendung eines Stichs von Ch. G. H. Geißler und eines Faksimiles von J. W. Paus. Die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung der Abbildungen erteilten — Kupferstichkabinett Dresden (Abb. 9) — Gorkij-Institut für Weltliteratur Moskau (Abb. 13, 14, 16) — Kupferstichkabinett Berlin (Abb. 15).

ISBN 3-05-000191-7

Erschienen im Akademie-Verlag Berlin, DDR-1086 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1986 Lizenznummer: 202 -100/131/1986 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: VEB Druckerei „Thomas Müntzer", 5820 Bad Langensalza Lektor: Elzbieta Mischke Einbandgestaltung: Wolfgang Janisch LSV: 8030 Bestellnummer: 754 646 5 (6957) 02800

Inhalt

Vorwort

7

Günter Mühlpfordt, DDR Deutsche über Kiev. Herbinius und seine Vorgänger

13

Aleksandr Sergeevic MyPnikov, UdSSR Braunschweig—Wolfenbüttel als Kulturzentrum und die Anfange der deutschen Slawistik. Versuch einer System- und Regionalanalyse

38

Jurij Konstantinovic Begunov, UdSSR Aleksandr Nevskij im künstlerischen und geschichtlichen Bewußtsein Rußlands bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts

81

Galina Nikolaevna Moiseeva, UdSSR Johann Werner Paus, Verfasser der „Istorija Car'gradskaja" aus dem Jahre 1711

128

Helmut Graßhoff.\ DDR Die K enntnis und Verbreitung der altrussischen Chronikliteratur im 18. Jahrhundert in Deutschland 152 Ulf Lehmann, DDR Russische Literatur der Übergangsepoche 1650—1730. Aktuelle Forschungsprobleme . . . .

190

Horst Schmidt, DDR Die russische Literatur des 18./19. Jahrhunderts als neuzeitliche Nationalliteratur. Persönlichkeits- und Nationalbewußtsein 205 Grigorij Aleksandrovic Lichotkin, UdSSR Freimaurertum und Aufklärung 221 Erich Donnert, DDR Zum russischen Buch-, Verlags- und Zeitschriftenwesen (1700—1783)

236

Emmanuel Waegemans, Belgien Ein Reisender aus Rußland in England. Zur Englandkenntnis im Rußland des 18. Jahrhunderts 261 Anthony Cross, Großbritannien Der deutsche Beitrag zur britischen Rußlandkunde im 18. Jahrhundert

271 5

Christa Fleckenstein, DDR Fonvizins Übersetzung von Paul-Jeremie Bitaubes Poem „Joseph"

285

Natasa Dmitrievna Kocetkova, Karamzin und Lomonosov

297

UdSSR

Reinhard Lauer, BRD Ein unbeachtetes Gedicht von Vasilij V. Kapnist

308

Tanya Page, USA Die Auffassung von empirischer Moral und Gesetz in Radiscevs „Zitie Fedora Vasil'evica Usakova" 318 Dietrich Freydank, DDR Die poety-radiscevcy und die deutsche Literatur

337

Heinz Pohrt, DDR August Ludwig Schlözer und die russische Sprache. Zur frühen Geschichte der Slawistik im 18. Jahrhundert 358 Gerhard Ziegengeist, DDR Aus der unveröffentlichten Korrespondenz August Ludwig Schlözers 1800—1809

375

Heinz Pohrt Bibliographie der Veröffentlichungen von Helmut Graßhoff (1956—1983)

402

Autorenverzeichnis

418

Personenregister

421

6

Vorwort

"...so tu ich mir einer, jedem Universitäts-Lehrer obliegenden Pflicht - neue wissenschaftliche Felder wo möglich anzubauen ... ein Genüge." August Ludwig Schlözer

Der Herausgeber des Bandes, Helmut Graßhoff, hat die Drucklegung nicht mehr erleben können. Seit seiner Monographie Kantemir und Westeuropa lenkte er forscherische Neugier auf die mehr als zwei Jahrhunderte verschütteten, weit verstreuten Quellen kulturellen Austausches zwischen Ost und West, auf die Vielfalt der deutsch-russischen und russischwesteuropäischen Literatur- und Wissenschaftsbeziehungen des 18. Jahrhunderts. Ein immer wieder überraschendes Netz von Vermittlungen, Vermittlerpersönlichkeiten, buchhändlerischem Austausch und neuen Distributionswegen rechtfertigte nicht nur den Blick in den reichen Fundus noch unausgewerteter Archivschätze, sondern machte ihn folgenreich für das Verständnis gesamteuropäischer Kommunikation im Zeitalter der Aufklärung . Helmut Graßhoff steht in der Reihe der Literatur- und Wissenschaftshistoriker Pavel N. Berkov, Michail P. Alekseev, Eduard Winter und anderer, die dem Begriff der "Wechselseitigkeit" in ihrem wissenschaftlichen Werk eine Dauerstellung einräumten. In dieser Wechselseitigkeit steckte das Programm einer Zeitepoche tiefgreifender Strukturveränderungen in Staat und Gesellschaft, als ein gegen feudale Zwänge und Privilegien aufbegehrendes Bürgertum das Denken in neue Bahnen lenkte und

7

Wissenschaft und Literatur in ihrer neuerkannten

gesellschaftlichen

Funktion nationalen Zwecken und Bedürfnissen dienstbar machte. Die Praxis der Literaturbeziehungen ist Widerhall und zugleich Anstoß

die-

ser Bewegung. In großer Dichte ließ sich belegen, daß der deutschen Aufklärung tragende Vermittlerrolle zwischen Ost- und Westeuropa zuerkannt

eine werden

muß. Die von Helmut Graßhoff angeregte Editionsreihe Studien zur Ge— schichte der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts, die er gemeinsam mit Ulf Lehmann herausgab, hatte v o r üahren einen Auftakt zur internationalen, interdisziplinären und

verheißungsvollen

interphilologischen

Erforschung der literarischen Wechselbeziehungen gegeben. Darin war die Internationalisierung zum methodischen Prinzip erhoben, das die n a t i o nalen Rezeptionsweisen auch aus dem übergreifenden Zusammenhang

epocha-

ler Gesetzmäßigkeiten herleitete. Nicht auf den Faktenreichtum an sich kam es an, sondern auf den hohen Informationswert des ouellenangebotes als einer noch immer zu wenig ausgeschöpften Fundgrube zur Erfassung komplexer Vorgänge im gesamteuropäischen

Kommunikationsgeschehen.

A u c h im vorliegenden Band erweist sich der nationale Blickwinkel im europäischen Zusammenhang als methodischer Schlüssel, dem V e r s t ä n d n i s für die wechselseitige Verflochtenheit von literarischer

Produktion,

Vermittlung und Rezeption einen neuen Zugang zu öffnen. Auf der Basis des Literaturbegriffs im Zeitverständnis der Aufklärung werden archivalioche Quellen, Handschriften, Briefe, Vorlesungsverzeichnisse,

Zeit-

schriften und damals im Umlauf befindliche, in unserer Zeit jedoch nur noch schwer zugängliche Bücher herangezogen, deren Studium und Lektüre lohnende Antworten versprechen. Heute ergeben sich aus den theoretischen und methodischen Ansätzen der Komparatistik, Semiotik, soziologie, der Rezeptionsästhetik und den

Literatur-

Kommunikationswissenschaften

neue Fragestellungen. Sie zwingen geradezu, auf die Hebung neuer Q u e l - • len bedacht zu sein, wie gleichfalls schon Bekanntes auf seinen A u s s a -

8

gewert hin neu zu überprüfen. Und umgekehrt finden wir in jenen Z e i t dokumenten nicht selten einen Erkenntnisgewinn, der zu neuen

theoreti-

schen Überlegungen anregt. Angesichts der im letzten Jahrzehnt auch im internationalen Rahmen eindrucksvoll gestiegenen Zahl materialreicher Spezialuntersuchungen zu den Literatur- und Kulturbeziehungen

des

18. Jahrhunderts sollten Zweifel über den Rang der Quellenforschung nicht mehr erlaubt

sein.

Die Autoren des Bandes aus sechs Ländern legen breit gefächerte

litera-

turgeschichtliche Forschungsergebnisse vor, die bisher nicht oder nur spärlich erschlossenes Quellenmaterial verfügbar machen. Es bot

sich

an, einleitend auf die fundamentalen Wandlungsprozesse bereits Ende des 17. Jahrhunderts zu verweisen, als sich in der deutschen

Kenntnisver-

mittlung über Rußland konkrete Sachinformationen gegen Gerüchte, V o r u r teile und Klischees durchzusetzen begannen. Einen neuen A n s a t z e r f o l g versprechender Erforschung der Kommunikationsverhältnisse

im lokalen

und regionalen Kontext stellt die systematisch-regionale Methode zur Diskussion. Der Durchsicht der Slavica-Bestände in den Bibliotheken

und

Archiven von Göttingen und Wolfenbüttel zugrunde gelegt, führte die Methode zu dem bemerkenswerten Ergebnis, daß künftig W o l f e n b ü t t e l neben den traditionellen Städten deutsch-slawischer

Wissenschaftsbeziehungen

wie Leipzig, Göttingen, Halle usw. als n e u e s Zentrum früher scher Studien genannt zu werden verdient. Sorgfältiger Arbeit

slawisti-

archivalischer

sind ebenfalls die Erstdrucke aufgefundener Originaltexte a u s

den noch unveröffentlichten Schriften von Johann Werner Paus, dem v i e l seitigen Anreger und Wegbereiter russischer Geschichts- und L i t e r a t u r geschichtsschreibung, und eines bisher unbekannten Gedichts des

russi-

schen Schriftstellers Kapnist zu danken. Standardwerke werden diese Textinterpretationen zu berücksichtigen haben. A u c h die detaillierten Nachweise fremdsprachiger Quellen im Schaffen russischer Poeten Ende des 18. üahrhynderts geben Anlaß, jüngste Werkausgaben zu überarbeiten

9

und zu ergänzen. Vor allem aber lassen diese Analysen vermittelter

Li-

teratur auf funktionsbestimmte Aneignungsvyeisen schließen, die noch längst nicht ausreichend untersucht sind. Diesen unbefriedigenden

For-

schungsstand gilt es auch in bezug auf lexikalische Sachverhalte zu verändern. Der Beitrag zu W o r t - und Stilproblemen in den Übersetzungen Fonvizins birgt für das historische Wörterbuch der russischen Sprache des 18. Jahrhunderts methodisch wegweisende wie inhaltlich ergiebige Ansatzpunkte. Grundmuster für die A u s w e i t u n g der literarischen nikation stellen die im 18. Jahrhundert beliebten

Kommu-

Reisebeschreibungen

und Korrespondenzen dar. Das Beispiel der britischen

Rußlandrezeption

macht die Vermittlerfunktion deutscher Publikationen und zugleich K o n stanten nationaler Rezeptionsweisen

sichtbar.

Besonderes Interesse verdienen theoretische Überlegungen zu einer d i f ferenzierten Einschätzung literarhistorischer Epochenzäsuren, die von nationalen Besonderheiten her modifiziert werden. Das Bild A l e k s a n d r Nevskijs dürfte in diesem Zusammenhang für Veränderungen in Literatur und gesellschaftlichem Bewußtsein repräsentativ sein. Ebenso werden die schon in den Studienbänden zur Geschichte der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts begonnenen Untersuchungen zu Karamzin mit

fachlicher

Kompetenz fortgeführt und neue Fragen nach dem ästhetisch produktiven Verhältnis des Dichters zu Lomonosov aufgeworfen. R a d i ^ e v s der westeuropäischen und besonders der französischen

Rezeption

Aufklärungslite-

ratur steht im Mittelpunkt einer A n a l y s e des Sit ie U^akova, das stets von neuem zum Meinungsstreit

herausfordert.

Will man den fördernden und hemmenden Faktoren literarischer und g e i stiger Kommunikation im 18. Jahrhundert auf die Spur kommen, ist es unumgänglich, auch die Tätigkeit der Freimaurer in Rußland in ein n e u e s Licht zu rücken. Vorarbeiten auf diesem Problemfeld gibt es nur wenige, sie haben aber a u s internationaler Sicht beträchtlich an Umfang gewonnen. Novikovs aufklärerische A k t i v i t ä t e n , sein florierendes V e r l a g s g e -

10

schäft mit den weit nach Westeuropa reichenden buchhändlerischen

Ver-

bindungen sollen A n r e g u n g sein, das wichtige, hochkontroverse Thema aufzugreifen, neues Quellenmaterial aufzubereiten und die Literaturgeschichtsschreibung aus Distanz und Einseitigkeit

herauszuführen.

Eine Darstellung der deutsch-russischen Literaturbeziehungen des 18. Jahrhunderts wird immer wieder den A n t e i l August Ludwig Schlözers zu würdigen wissen. Die Kontinuität der seit Eduard Winter

erfolgreich

betriebenen Schlözerforschung unterstreichen Dokumentationen Schlözers über ganz Europa verstreutem Briefnachlaß sowie

aus

Einzelanaly-

sen der Probe russischer Annalen, des Nestors und der Russischen G r a m matik , von Werken, die heutzutage nur noch in wenigen Bibliotheken zu finden sind und daher Seltenheitswert

besitzen.

So werden in dem Band von detaillierter Quellensicht aus Formen, Wege und Funktionsweisen europäischer Kommunikation im Zeitalter der A u f klärung aufgezeigt. Und da Aufklärung üffentlichkeit, Streit der M e i nungen und Kritik impliziert, lassen auch die einzelnen

Beiträge

großen Spielraum zu weiterführender Diskussion durch den Leser. Helmut Graßhoff hat mit Eifer und Hingabe notwendige

wissenschaftliche

Grundlagenforschung betrieben, angeregt und der Öffentlichkeit

vorge-

stellt. Welchen Faktenreichtum detektivische Kleinarbeit zutage

för-

derte, wird in der Bibliographie seiner Publikationen sichtbar. Es lockte das große A b e n t e u e r der Quellensuche und - e n t d e c k u n g . Der A u f wand hatte sich gelohnt, wenn es gelang, durch die Kenntnis des D e tails das V e r s t ä n d n i s übergreifender Zusammenhänge zu erleichtern

so-

wie in der Handhabung des erschlossenen Faktenmaterials - das Schlözerwort aufgreifend - "neue wissenschaftliche Felder wo möglich anzubauen" und die humanistischen Traditionen eines kommunikationsfreudigen

Jahr-

hunderts für unsere Zeit zu bewahren. In diesem hohen A n s p r u c h geschichtlicher Forschungsarbeit bleiben wir Helmut Graßhoff

dankbar

verpflichtet.

11

Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß die nachträglich eingereichten Beiträge von Reinhard Lauer und Dietrich Freydank dem Andenken Helmut Graßhoffs gewidmet sind. Die Veröffentlichung des Bandes ist der großzügigen Unterstützung des Zentralinstituts für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR zu verdanken.

In memoriam Helmut Graßhoff

Annelies Graßhoff, Oanuar 1985

12

G. Mühlpfordt

Deutsche über Kiev. Herbinius und seine Vorgänger

Die "Mutter der russischen Städte" ist von zahlreichen deutschen A u t o ren des Mittelalters und der Neuzeit beschrieben worden. Die ersten Deutschen, die nach den Stürmen der Völkerwanderung Kiev aufsuchten, waren Fernhändler, Söldner, Missionare und Gesandte. Zwei frühe d e u t sche Kenner der Dneprmetropole lebten um das Oahr 1000. Es handelt

sich

um den Staatsmann und Chronisten Thietmar, seit 1009 Bischof von M e r s e burg, und den Missionar, Diplomaten und Hagiographen Brun

von Q u e r -

furt, der im Oahr 1009 bei Bekehrungsversuchen von heidnischen A l t preußen erschlagen wurde. Beide stammten aus dem

thüringisch-ostfäli-

schen Grenzgebiet, wo man das Geschehen bei den w e s t - und ostslawischen Stämmen und die Politik der slawischen Staaten aufmerksam

verfolgte.

Merseburg und Querfurt lagen in der den Slawen benachbarten

Saalege-

gend. Sie waren neben Magdeburg und anderen Orten an Elbe und Saale Ausgangspunkte wirtschaftlicher und politischer, kirchlicher und k u l t u reller Kontakte zur Kiever Rus". Thietmar von Merseburg und Brun von Querfurt vertraten

rivalisierende

Konzeptionen deutscher Reichspolitik gegenüber den Slawen. Für Thietmar war Rußland potentieller Verbündeter gegen westslawische

Stammesbünde

und Staaten. Brun orientierte auf eine christliche Slawenpolitik. Er wünschte als Berater Kaiser Ottos III. ein Zusammengehen mit den c h r i s t lichen Slawen gegen das Heidentum. Otto III. verband sich mit

Boles^aw

I. Chrobry von Polen. A n Bolesjtaw C h r o b r y s Zug nach Kiev (1018) nahmen neben Polen, Pec£enegen und Ungarn 300 Deutsche teil, bezeugt

Thietmar.

13

Mit dem Oahr 1018 setzt Thietmars Beschreibung von Kiev ein, die am Beginn des deutschen Kiev-Bildes steht. Seine Chronik

schildert

die

"große Stadt Cuiew" in Rußland (Ruscia), die Residenz des "Königs der Russen" (rex Ruscorum), als östliches Bollwerk der christlicnen

Staa-

tenwelt. Die "stark befestigte Stadt" habe "sich bisher gegen die häufigen Angriffe der Pe^enegen behauptet und andere Feinde besiegt". Kiev weist bei Thietmar alle A t t r i b u t e eines hervorragenden

politi-

schen, ökonomischen, kirchlichen und kulturellen Z e n t r u m s auf. Es ist Sitz eines Erzbischofs und eines Klosters der heiligen Sophia, es b e sitzt "Reliquien und die übrigen Zierden" christlicher Kultur. Zweimal hebt Thietmar die Größe Kievs hervor: "In dieser großen Stadt, der Metropole jenes Reichs, gibt es über 400 Kirchen und 8 Märkte".

"Die

Menge der Einwohner" weiß er nicht anzugeben. ¿Jedenfalls war Kiev nach p seiner Darstellung dicht bevölkert.

Die sehr hoch gegriffene Zahl von

mehr als 400 Kirchen - ein nicht wörtlich zu nehmender T o p o s - schloß wohl Kapellen und Hausaltäre ein. Diese Stelle zeigt den Respekt, den Kiev als Hauptstadt des alt russischen Staates und Mittelpunkt

des

Christentums im Osten dem Merseburger Bischof und seinen Zeitgenossen einflößte. T h i e t m a r s Ausführungen über Kiev enthalten die erste Erwähnung des Sophienklosters. Seine A n g a b e , das Kloster sei zuvor von einem schweren Brand heimgesucht worden, läßt vermuten, daß es schon geraume Zeit bestand. Damit gewinnen die Mitteilungen des Merseburger C h r o n i sten auch üuellenwert

für die Geschichte

Kievs selbst.

A u c h Adam von Bremen, der aus der Gegend der

thüringisch-oberfränki-

schen Slawengrenze gebürtige V e r f a s s e r der wertvollsten Quelle zur nordeuropäischen Geschichte des 11. Jahrhunderts - der Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum - , hatte eine hohe Meinung von Kiev. Er schrieb um das Oahr 1070 und war der erste Geschichtsschreiber mit globalem Horizont. Er brachte die früheste Meldung über A m e r i k a , das "ivinland" der Wikinger und sah die alt russische Hauptstadt in i n t e r -

14

kontinentalen Dimensionen.^ Das Blickfeld des Bremer Domherrn

reichte

"von der Elbe bis zum Skythischen Meer". Seine Chronik spricht von den "unermeßlichen Weiten" des Slawenlandes (Sclavania), das sich im Süden bis Griechenland erstrecke und "in dessen Osten die Russen" wohnen.

4

(Russi)

Das Russische Reich (Russiae regnum) sei "das größte Land" der

5

Slawen.

Rußland (Russia) sei das Ostreich, merkt ein Glossator dazu

an. Es habe "an allen Gütern Ü b e r f l u ß " 6 . A d a m selbst weiß von

"Gerslef",

dem König von Rußland" (rex Russiae), zu berichten, womit er den Kiever Großfürsten Oaroslav den Weisen meint. Für Adam von Bremen steht die russische Residenzstadt am Dnepr ebenbürtig neben der Kaiserstadt Bosporus. Der Chronist des Erzbischofs von Hamburg-Bremen

am

rühmt Kiev

als Ouwel der Länder griechisch orthodoxer Kultur, das dem Sitz des Basileus und des Patriarchen, Byzanz, den Rang als Kapitale des christlichen Ostens streitig macht: "Rußlands Metropole ist Chive, die N e b e n buhlerin des Zepters von Konstantinopel, das herrlichste Kleinod der griechischen

Welt"7.

So spiegelt der früh- und hochmittelalterliche Auftakt des deutschen Kiev-Bildes das internationale Ansehen der Kiever Rus' und ihres H e r r scher- und Metropolitensitzes w i d e r . In der neueren Zeit haben Deutsche der verschiedensten Berufe über Kiev und die Ukraine berichtet. Sie lassen sich in drei Gruppen

glie-

dern: Intellektuelle, Wirtschaftler und Politiker. Die (Studien-, Forschungs-, Handlungs- und Vergnügungs-JReisenden verteilen sich auf alle drei Gruppen. Der Kreis der Intellektuellen setzte sich aus Gelehrten und Forschern, Lehrern und Geistlichen, Ärzten und Apothekern, stellern und Künstlern zusammen. Die Vertreter der Wirtschaft

Schriftwaren

Kaufleute, Handwerker, Fabrikanten, Sachverständige des Bergbaus, des Hüttenwesens, der Salzgewinnung und andere. Zu den "Staatsmännern"

(im

seinerzeitigen weiten Verständnis des Begriffs = Staatsbedienstete), in russischen, deutschen, polnischen, schwedischen oder

französischen

15

Diensten, zählten Beamte, Offiziere, Diplomaten und beauftragte dienreisende. Auch die in die Ukraine und nach Kiev gelangten

Stu-

deutschen

Vertreter des Gesundheitswesens standen großenteils im Staatsdienst (Militärärzte, Medizinalbeamte, staatliche A p o t h e k e r , Chemiker und Botaniker). Fünf Komplexe zogen vor allem die Aufmerksamkeit der Fremden auf 1. das altberühmte Höhlenkloster,

sich:

das bedeutendste K u l t u r - und B i l -

dungszentrum der Kiever Rus'; 2. die im 17. Jahrhundert

umgebaute

Sophienkathedrale, die man mit ihrer etwas jüngeren Novgoroder S c h w e ster und der Hagia Sophia von Konstantinopel verglich, sowie weitere Baudenkmale; 3. die Kiever A k a d e m i e , die oft als Rußlands erste, zweite oder dritte Universität

gewertet wurde (vor, neben oder nach der P e -

tersburger Akademie und der Universität Moskau); 4 . Kievs Wirtschaftsleben, namentlich seine Märkte; 5. seine Befestigungen. Vor allem die beiden Wahrzeichen Kievs - das Höhlenkloster mit seinen Katakomben und die dreizehnkupplige Sophienkathedrale - erweckten immer wieder B e w u n derung. A u c h die ausgedehnten Gärten der Stadt erschienen

ausländischen

Besuchern schon in früher Zeit als eine Zierde. Der Barockära mit ihrem Faible für "Merkwürdigkeiten" und

"Kuriositä-

ten" bot Kiev Stoff zu Wundergeschichten und phantasievollen A u s s c h m ü k kungen. Das größte Staunen rief das "unterirdische Kiev" mit

seinen

Mönchszellen, Grabkammern und Gängen hervor. Es wurde zu den W e l t w u n dern gezählt, über dieses Labyrinth unter der Erde waren

übertreibende

Erzählungen und verklärende Legenden im Umlauf. Seinen Ursprung

such-

ten viele in der A n t i k e . A l s Schöpfer des mysteriösen Kievs unter Tage galten manchen die Trojaner. A u ß e r d e m gewann Kiev aktuelles

tagespoli-

tisches Interesse, wenn seine staatliche Zugehörigkeit umstritten und es in Kriegen umkämpft war, was häufig vorkam, da das Kiever Gebiet einen Zankapfel zwischen der königlichen Republik der Schlachte, dem Bojaren- und Dvorjanenstaat der Zaren und den ukrainischen Kosaken dete.

16

bil-

So lenkte der Dreißigjährige Krieg die Blicke Europas wieder

stärker

auf Kiev. Vom Moskauer Rußland, von der Ukraine und den Krimtataren bis nach Portugal, Irland und Island, von Finnland und Norwegen bis zu den Südspitzen des Kontinents wurde fast der ganze Erdteil in d i e Q sen Krieg einbezogen. algischen

Kiev und das gesamte Land waren einer der

neur-

Punkte. Das polnisch-litauische Reich, in dessen V e r b a n d

sich Kiev aus dem Erbe des Großfürstentums Litauen befand, griff als Verbündeter der Habsburger schon in die erste, "böhmische" Phase des Krieges ein. Der russische Staat hingegen stellte sich im Einvernehmen mit Schweden auf die Seite der antihabsburgischen Koalition. Zwischen Rußland und Polen waren vor allein das Smolensker Land und das Kiever Land umstritten. So war die K i e v ^ i n a zweiter Brennpunkt im Smolensker Krieg von 1632 bis 1634 zwischen Rußland und P o l e n . Der für Rußland unbefriedigende Friede an der Poljanovka

(1634)^schaffte die Konflikt-

herde Smolensk und Kiev nicht aus der W e l t . Wesentlich trug im 17. ¿Jahrhundert zum steigenden Interesse an der altrussischen Hauptstadt bei, daß Kiev sich aus der Asche der Tatarenzeit zu neuer Bedeutung erhob. Trotz aller Verheerungen stieg seine

Bevölke-

rungszahl seit dem 16. Jahrhundert kontinuierlich an. Seine wirtschaftliche Bedeutung als Marktort wuchs. Von der Mitte des 16. zur Mitte des 17. Jahrhunderts versiebenfachte sich die Zahl der Höfe. Die damit g reichte Einwohnerzahl lag bei seinerzeit beachtlichen 15 0 0 0 .

er-

Daher

begegnet Kievs Namen nicht nur im Tagesschrifttum - in Zeitungen und Flugschriften mit Kriegsnachrichten - , in Rußlandbüchern,

Geschichts-

werken und Konfeesionskunden, sondern auch in wirtschaftskundlicher geographischer

und

Literatur.

Der Krieg von 30 Jahren, der die Europäer durcheinanderwirbelte, der Ungezählte als Soldaten, beim Troß, a l s Flüchtlinge, Werber, ten, Gesandte in fremde Länder führte, hatte die Reiselust

Lieferan-

verstärkt.

Umgekehrt erhöhte er aber auch die Neigung, sich nach Jahren der U n -

17

rast in abgeschiedene Stille zurückzuziehen. Beides kam der Kiev-Kunde zugute: Feldzüge und Reisen erweiterten die Informationen über die Dneprstadt; schriftstellerische Muße danach führte zu Niederschriften über die Metropole. Ein Jahrzehnt nach dem Smolensker Krieg, als der Dreißigjährige

Krieg

sich seinem Ende zuneigte, erschien der "Baedeker des 17. Jahrhunderts", 10 das Reisehandbuch

des kaiserlichen Mathematikers David Frölich

(1600-1648), eines Zipser Sachsen aus Käsmark

(Ke^marok) in der Slowa-

kei. Frölich hatte in dem Staat, zu dem Kiev gehörte, die Schule b e ll sucht (in Elbing/Elbl^g), dann an den Universitäten

Frankfurt/Oder

12 und Wittenberg

studiert und danach zwölf Jahre lang weite Teile

Europas bereist. Während seines Bildungsgangs im ostelbischen

Europa

und noch mehr auf seinen Reisen sammelte er Faktenmaterial und H e r bergsklatsch über Länder und Völker, auch über Kiev. Später zog er sich in seine Geburtsstadt am Fuße des "Schneegebirges", der Hohen Tatra, z u r ü c k . 1 ^ Er verfaßte geographische Werke, in denen er ein

umfangrei-

ches länderkundliches Schrifttum verarbeitete. Über Kiev konnte Frölich um so leichter Erkundigungen einziehen, als in seiner Heimat vielbefahrene Handelswege sich kreuzten - ein Strang der ostwestlichen Seidenstraße aus China und Mittelasien nach Westeuropa, die durch das ukrainische Wirtschaftszentrum

führte, und eine Linie der nordsüdli-

chen Bernsteinstraße von der Ostsee nach Südosteuropa und Vorderasien. Frölichs oft benutztes Handbuch griff eine Nachricht über Kiev auf, die seinerzeit Aufsehen erregte: Ein verborgener Gang führe unter der Erde von Kiev nach Smolensk (rund 500 km Luftlinie!). Bedenkt man die Überlieferung über Weitstreckentunnel im Inkareich und im europäischen Mittelalter, dann wirkt die Behauptung über einen derartig langen unterirdischen Gang von Kiev aus nicht ganz so unwahrscheinlich. Daß ein i weitgereister Mann wie Frölich dieser Kunde Glauben schenkte und sie weitergab, läßt ermessen, wie verbreitet sie war und welche Leistungen

18

man den vermeintlichen Erbauern zutraute. Es kann dies als ein Nachhall der Reputation der Kiever Rus' und des alten Kievs in Mitteleuropa gelten. Noch mehr rückte Kiev in den Brennpunkt des Geschehens, als sich 1648 die ukrainischen Kosaken und Bauern unter Chmel'nickij gegen die Schlachtaherrschaft

erhoben. Im Vertrag von Perejaslavl"

(1654) zwi-

schen Zar Aleksej, dem Vater Peters I., und den Kosaken begaben

sich

diese in den Schutz des Moskauer Staates. Dadurch kamen Kiev und die mittlere Ukraine w i e d e r an Rußland. Der Friede von A n d r u s o v o

(1667)

zwischen Rußland und Polen gab dem neuen Grenzverlauf die völkerrecht14 liehe Sanktion.

Die meisten geographischen Werke M i t t e l - und W e s t -

europas trugen dem veränderten Besitzstand jedoch nicht sogleich R e c h n u n g . Einige allgemeine Handbücher, die im Detail vielfach

unzuverläs-

sig waren - gerade in bezug auf Rußland - und nicht bei jeder A u f l a g e auf den neuesten Stand gebracht wurden, führten Kiev noch eine Z e i t lang als Hauptort der gleichnamigen polnischen

Woiwodschaft.

Nach der Wiedervereinigung des Kiever Landes mit dem Russischen erschien 1666 in Nürnberg ein Buch unter dem Titel eines

Reich

"Florus

Polonicus Indifferens". In Wirklichkeit handelte es sich nicht um einen polnischen, sondern einen deutschen Florus. Das Pseudonym Florus, nach dem römischen Geschichtsschreiber Lucius A n n a e u s Florus (um 130), dem im 17. Jahrhundert

in den Schulen meistgelesenen antiken Historiker -

der auch über das Skythenland nördlich des Schwarzen M e e r e s geschrieben hatte - , wurde von Verfassern kurzgefaßter Geschichtswerke A l s Gattungsbegriff

benutzt.

für Popularisierung der Geschichte war es ein b e -

liebter Buchtitel. So erschienen vor und nach dem Nürnberger

Florus

ein Deutscher Florus (von August Pastorius, 1659-1661), ein Florus A n q l i c u s (deutsch: Engelländischer Florus, 1660) und ein

Historischer

Florus (1673). Das beispielgebende Muster des Genres bot der Schlesier Doachim Pastorius-Hirtenberg, ein ehemaliger Antitrinitarier, mit

sei-

19

nem Florus Polonicus. Hirtenberg, auch in Deutschland und den Niederlanden viel gelesen, erwähnt das alte und das neue Kiev, auch dessen Großfürsten, Metropoliten und Woiwoden meist in Zusammenhang mit der Kriegsgeschichte.

15

Häufiger berührt er Kiev in seiner Geschichte der 1 fi

ukrainischen Erhebung unter Chmel'nickij .

Hinter der Nachahmung

sei-

nes Florus Polonicus durch einen fränkischen Pseudo-Florus scheint

sich

ein echter Florus verborgen zu haben: Lorenz Florus (1614-1680) aus Franken, ab 1633 Student der Universitäten Oena und Leipzig, dann Hauslehrer in Schweden, Livland, Kurland und Litauen, war - in Kievs polnischer Zeit - im polnischen Herrschaftsbereich tätig. Von seinen nordund osteuropäischen Wirkungsstätten kehrte er als schriftstellerisch sich betätigender Pfarrer an seinen fränkischen Geburtsort

zurück.

Der Nürnberger Florus übernahm Frölichs Mitteilung über einen unterirdischen Gang von Kiev nach Smolensk in einer ausgeschmückten Version. An seine Ausführungen über Kiev knüpfte er die Bemerkung: "Soll von hinnen ein Gang unter der Erden bis nach Smolensko/ und zwar unter dem Nipper ¿ - D n e p r _ 7 oder Dniester-Strom durchgehen/ und mit lauter gegossenem Metall inwendig gefüttert sein/ woraus die alte vorige Herrlichkeit dieses Orts abzunehmen/ und wird der Bau solches hochkostbaren verborgenen Ganges den Italienern zugeschrieben.

F r ö l i c h i u s

berichtet/ daß die Länge desselben auf 80 Meilen sich erstrecke. Darüber man billig möchte vor Verwunderung erstaunen: Zumalen weil eine — 17 Reußische Meil noch etwas größer/ weder ¿ ~ a l s _ 7 unsere Teutsche" ist. Nicht genug damit, daß der Nürnberger Florus das Gerücht über einen riesig langen Tunnel wiederholte, tischte er also auch noch die Mär auf, daß er mit Metall ausgekleidet sei. Ganz geheuer kam dem fränkischen Florus die Sache aber offenbar nicht vor. Eine leichte Skepsis spricht aus seinen Worten. Die Darlegungen des Nürnberger Florus können als später Widerschein des Ansehens der Kiever Rus' gelten. Er rief "die alte ... Herrlich-

20

keit" Kievs ins Gedächtnis. Der "hochkostbare verborgene Gang" schien dem hauptstädtischen Rang des alten Kievs zu entsprechen und von Reichtum und bautechnischem Können zu künden. Für dermaßen reich an Erzen hielt man die Kiever Rus', deren Süden im Altertum das Dorado der goldprunkenden Skythen gebildet hatte, daß man an einen Hunderte von Kilometern langen, mit Metall beschlagenen Tunnel glaubte. Wenn der Bau Italienern zugeschrieben wurde, kann das eine Reminiszenz an das Wirken italienischer Baumeister in Rußland sein. Die behauptete Strekkenführung Kiev - Smolensk mag damit zusammenhängen, daß Smolensk und Kiev die in den osteuropäischen Kriegen des 17. Jahrhunderts meistgenannten Städte waren. Jedenfalls zeigt das Nürnberger Buch von 1666, daß die "Herrlichkeit" des alten Kievs im Mitteleuropa des 17. Jahrhunderts nicht vergessen war. Seit dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts haben Aufklärer das deutsche Kiev-Bild beachtlich verändert, ihm mehr Wirklichkeitsnähe verliehen. Die Wissenschaftsrevolution des 17. Jahrhunderts, die von der barocken Voraufklärung zur rationalen Frühaufklärung

überleitete,

hat sich auch im Wandel des Kiev-Bildes niedergeschlagen. Die weltaufgeschlossene, menschheitsgeschichtlich eingestellte bürgerliche Aufklärung in Mitteleuropa wandte dem östlichen Europa und mit ihm Kiev erhöhte Aufmerksamkeit zu. Stärker als die zu Übertreibungen neigenden Verfasser des Barocks bemühten sich skeptische Aufklärer um ein den Realitäten adäquates Bild von Kievs Vergangenheit und Gegenwart. Die aufklärerischen Autoren, die über Kiev schrieben, räumten mit dem unkritischen Fabulieren ihrer Vorgänger über Kiev und sein Höhlenkloster auf. Dank dieser Entmythologisierung des Kiev-Bildes gewannen Mittelund Westeuropäer klarere Vorstellungen vom zeitgenössischen und von der Bedeutung des historischen Kievs. So entstand, als ein Ertrag der Aufklärung, seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts im Rahmen der anschwellenden deutschen Rußlandliteratur ein ausführliches Schrifttum

21

über Kiev. Es stellt einen interessanten Ausschnitt des neueren d e u t schen Rußlandbildes dar. 1675 erschien ein Buch über die Kiever Krypten, das bereits das Gepräge frühaufklärerischen Denkens trägt. In diesem Werk dringt erstmals in den Schriften über Kiev der Zweifel des Aufklärers an der Tradition durch, der Grundsatz, nichts ohne Nachprüfung

herrschenden

hinzunehmen.

Das Verdienst gebührt dem Magister der Universität Wittenberg Johann Herbinius.

Absolvent der Luther-Universität, trat er als nüchterner

Aufklärer gegen die unverbürgten Wundermären über Kiev und die Ukraine auf. W a s des Barockautors Florus Indifferens Erstaunen hervorrief, war dem Frühaufklärer Herbinius unglaubwürdig. Mit seinem Kiev-Buch von 1675 meldete die bürgerliche Ratio auch auf diesem Sektor ihren Einspruch gegen Ungereimtheiten der irrational-feudalen

Vorstellungswelt

an. Johann Herbinius (1633-1676) war Sohn eines Rektors im schen Städtchen Pitschen

oberschlesi-

(Byczna), das zum Herzogtum Brieg (Brzeg) ge-

hörte. Mütterlicherseits stammte er aus der Pitschener

Pastorenfamilie

18 Süßenbach.

Pitschen lag am Nordrand von Oberschlesien, nahe der p o l -

nischen Grenze. Im Herzogtum Brieg-Wohlau (Wo^6w) war 1524, am V o r abend des Bauernkriegs, die Reformation eingeführt worden. Daher wurde der junge Herbin lutherisch

erzogen.

Nach der Gepflogenheit lutherischer Lehrer- und Pastorensöhne

studierte

Herbin an Luthers Universität in Wittenberg. 1650 an der Leukorea19 immatrikuliert, promovierte er hier 1652 zum Magister (Dr. phil.). 1657 wurde an der Wittenberger Artistenfakultät mit Herbin als Präses eine von ihm selbst verfaßte wissenschaftsgeschichtliche

Abhandlung

verteidigt. Das Thema dieser Dissertation, die Frau als Gelehrte, nimmt einen besonderen Platz in der Geschichte der Frauenrechtsbewegung ein. Die Abhandlung stellt ein Plädoyer für die Gleichberechtigung der Frau in der Wissenschaft dar. 20 Darin folgte Herbin einer

22

lutherischen Tradition; denn seit Luther und üohann A g r i c o l a trat das Luthertum für bessere Bildungsmöglichkeiten der Mädchen und Frauen ein. Der Gnesiolutheraner, der sich in seinem Kiev-Buch zu den

"Lutheranern,

die bei den Russen Sachsen heißen", bekannte, hielt sich auch in dieser Frage an den Standpunkt seines "Heiligen Vaters Luther",

"unseres

21 Patriarchen Luther".

Herbin vvar aber kein engherziger

Konfessiona-

list. Er nahm freundliche Kontakte zu Orthodoxen und Linierten auf. Wissensdrang und berufliche Tätigkeit führten Herbin weit durch Europa - in die bürgerlichen Niederlande, nach Skandinavien und Osteuropa. 22 A u c h als Reiseschriftsteller über Nordeuropa gewann er einen Namen. In seinem Kiev-Buch verwertet er eigene Reiseerfahrungen von Norwegen 23 bis zum Schwarzen Meer und zur Ukraine.

Vom Lehrer stieg Herbin bald

zum Rektor auf und übte dieses Amt in Schlesien, Großpolen und Schweden aus. Zunächst Schulleiter in seiner Heimatstadt Fitschen, seit 1661 mit dem bedeutenderen Rektorat in der niederschlesischen

Residenz

Wohlau betraut, schuf er später in Großpolen eine lutherische P r o v i n zialschule, folgte dann aber einem Ruf als Rektor der deutschen Schule nach Stockholm. Am Mälarsee lehrte er bis 1672. Einer Berufung zum ersten Prediger der Gemeinde Augsburgischen

Bekennt-

nisses in Wilna (Vilnius) folgend, reiste er über Riga nach Wilna. Wie in den Anfängen der Reformation der radikale Reformator Melchior H o f 24 mann

, gelangte Herbin also auf dem Umweg über Schweden ins Baltikum.

Fortan war Herbin "Pastor der Sächsischen Kirche zu Wilna". A l s solchen führte ihn der Wilnaer Rat durch ein Beglaubigungsschreiben

in

Kiev ein, und so redete ihn der Archimandrit des Kiever Höhlenklosters 25 brieflich an.

Mit dem Namen "Sächsische Kirche" - nach ihrem U r -

sprungsgebiet - vermied man die verketzernde Bezeichnung

"lutherisch".

Herbin überwarf sich aber mit dem Kirchenvorstand seiner Gemeinde. Man bezichtigte der Ketzerei. Daraufhin ging er als lutherischer Prediger nachihn Graudenz (Grüdzi^dz) an der Weichsel. 27 Am 14. Februar

23

1676 ist Herbin gestorben - wenige Monate nach dem Erscheinen

seines

Kiev-Buches. Herbin veröffentlichte wissenschaftsgeschichtliche,

kirchengeschicht-

liche, philosophische, poetische, rhetorische und naturwissenschaftliche Schriften. Seine Abhandlung über lutherische Kirchen in Polen ist eine guelle für die Reformations- und Kulturgeschichte dieses Landes. Als Kenner des Polnischen, als der er sich auch in seinem Buch über Kiev erweist, leistete er Beiträge zum polnisch-lutherischen tum. Dem Bedürfnis des aufsteigenden Bürgertums nach

Schrift-

rational-wissen-

schaftlicher Meisterung der l/elt entsprach sein Werk zur Logik. Charak teristisch für die Aufklärung ist auch die Hinwendung zu naturwissenschaftlicher Thematik, wie z. B. über die Erdbewegung oder Wasserfälle Herbins Kiev-Buch spiegelt ebenfalls seine naturwissenschaftlichen

In-

teressen wider, so bei seinen Ausführungen zum Problem der Mumifizierung in den Katakomben des Höhlenklosters oder über die Dnepr-Stromschnellen, denen er einen besonderen Abschnitt widmete und die er mit den Trollhätta-Fällen in Schweden verglich (s. S. 6, 8f., 90ff.). Äußerer Anlaß für Herbins Reise nach Kiev war ein Nachspiel des ukrainischen Befreiungskrieges von 1648-1654. Eine alte Dame, deren Sohn sich bei Ausbruch des Aufstands in Kiev befunden hatte und seither ver schollen war, bat Herbin, an Ort und Stelle Nachforschungen len. Der Reiselustige nahm den Auftrag an. Mit

anzustel-

Empfehlungsschreiben

des Wilnaer Rates und eines Basilianerabtes an den Archimandriten Höhlenklosters und an den Erzbischof von iiernigov versehen,

des

reiste

Herbin 1674 nach Kiev ab, in nunmehr Moskauer Staatsgebiet. Er forscht nicht nur in Kiev selbst, sondern auch in der weiteren Umgebung nach dem Vermißten: "Im ganzen /"Großfürstentum_7 Litauen ¿"mit

Beloruß-

land_7 und der gesamten Ukraine, diesseits und jenseits des Dnepr, bis zum Schwarzen Meer, fragte ich in russischen Klöstern und Rathäusern nach" (S. 38f.). Die Suche blieb erfolglos. Doch Herbin benutzte die

24

Gelegenheit, Erkundigungen über das ihn fesselnde Höhlenkloster

einzu-

ziehen. So entstand sein Buch über Kiev. Im folgenden Jahr 1675, als das Kiever Land seit 21 Jahren zum Moskauer Staat gehörte, machte Herbin die üffentlichkeit mit den Ergebnissen seiner Nachforschungen bekannt. Auf 181 Seiten, dazu 7 Abbildungen, berichtete er, was er über "das unterirdische Kiev" in Erfahrung gebracht hatte. Sein Buch erschien in Jena, einem der mitteldeutschen Zentren der Rußlandkunde (neben Leipzig, Halle, Wittenberg und Gotha). Der zeitgemäß lange T i t e l zieht sich in Schwarz- und Rotdruck über das Titelblatt hin: Religiosas Kijovienses Cryptae sive Ki.jovia subterránea. Der Ausdruck "Kijovia subterránea", "Das unterirdische Kiev", im Haupttitel entsprach einer Zeitmode: "Subterraneus" war ein

Lieblingswort

der frühaufklärerischen Wissenschaftsrevolution, das in Buch— und Auf— satztiteln öfters begegnet. In ihm drückte sich der

Erkenntnisdrang

jener Fortschrittsperiode aus, die nach der Erfindung von Fernrohr und Mikroskop mit gesteigertem Elan den Rätseln des M a k r o - und Mikrokosmos nachspürte und namentlich die Geheimnisse des trdinnern

aufzudecken

suchte. Geographen, Chemiker, Physiker, Mineralogen und Metallurgen teilten diesen Drang mit abenteuerlichen Alchimisten und

Projektemachern.

Ein Jahrzehnt vor Herbins Kiev-Buch hatte 1664 A t h a n a s i u s Kircher, der große Thüringer in Rom, einer der bedeutendsten Naturforscher am Übergang von der V o r - zur Frühaufklärung, in A m s t e r d a m , der Hochburg der Frühaufklärung, seinen Mundus subterraneus herausgebracht, einen w i s senschaftlichen Bestseller der Z e i t . Sieben Jahre v,or Herbins Kiev-Buch war die 2. A u f l a g e gefolgt.

pQ

Sechs Jahre vor der Kijovia

subterránea

veröffentlichte Joachim Becher, Kameralist und zugleich Wegbereiter der wissenschaftlichen Chemie, seine Physica subterránea oder Unter-erdische 29 Naturkündigung

, die Grundlage für Georg Ernst Stahls Phlogistonlehre.

Die anorganische N a t u r , das Mineralreich, hieß das "unterirdische oder "regnum s u b t e r r a n e u m " I n

Reich"

der Zeitschrift der Akademie der

25

Naturforscher

(Leopoldina) erschien 1671 eine Arbeit zur

"unterirdi-

31 sehen" Biologie.

1672 kam ein grundlegendes Werk der H o n t a n w i s s e n -

schaft wieder heraus, Erckers Aula subterránea

... üas ist: Untererdi-

sche Hofhaltung, dem später Brückmanns Unterirdische Schatzkammer aller Länder und dessen Thesaurum subterraneum. Unterirdische Schätze

folg-

32 ten.

A u c h die politische Satire bediente sich "unterirdischer

ster". ^

Gei-

Sogar die Sozialutopie verlegte ihren Schauplatz in den Unter-

grund: A l s unter der Erde spielende "plutonische" Utopie fand Holbergs Nicolai Klimii iter subterraneum (1741), deutsch Nils Klims unterirdische Reise, in beiden Sprachen viele Leser. So stand Herbins Buch in einer langen Reihe von Schriften über

"Sub-

terránea". Das Wort "unterirdisch" wirkte wie ein Zauberschlüssel zu unergründeten Geheimnissen. Mit dem lockenden .¿ort im Titel un d der A n kündigung auf dem Titelblatt, die Mysterien des "unterirdischen

Kievs"

zu "enthüllen", verhieß auch Herbin Aufschlüsse über Verborgenes. Von Höhlenwohnungen mittelalterlicher Christen in "subterraneis

speeibus"

(Grotten), wie in Kiev, hatten schon Adam von Bremen und seine N a c h f o l 34 ger geschrieben.

A u c h der zweite Blickfang des Herbinschen

Titels, das Wort "Labyrinth", wurde bereits von Frölich

Kiev-

hervorgehoben,

der "Labyrinthen, unterirdischen Krypten und wunderbaren Höhlen" b e s o n 35 deres Augenmerk schenkte.

Dieses ..ort war Sinnbild für schweres Z u -

rechtfinden des Menschen in der ^elt, aber auch, sofern man den ..'eg durch ein Labyrinth erkundete, wie Herbin in seinem Kiev-Buch, für die Bewältigung existentieller Schwierigkeiten. Auf dem Titelblatt

ist

"LABYRINTHUS SUB TERRA" wie "SUBTERRANEA" durch Rotdruck in Majuskeln % und größerer Schrift hervorgehoben. Damit wurde das Höhlenkloster v i e l versprechend als mysteriöses "LABYRINTH UNTER DER ERDE" angekündigt, wo "die toten gräkorussischen Heiligen und Helden seit 600 üahren u n v e r west" liegen. Das war für Menschen der Aufklärungszeit

so interessant

wie für spätere die ägyptischen Pyramiden, die Mayatempel oder das minoische Labyrinth auf Kreta. A u c h der Titel auf der linken Buchseite 26

kennzeichnet das g r ö ß t e sind

dort

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Suzdal', gesetzt

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Titel-

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B. allge-

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Ruthenorum C h r o n o g r a p h u s " ,

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erklärt

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ebenfalls (Povest'

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zugeschriebe-

vremmennych

let)

-

von

27

mehreren geschrieben worden. Gesichert erscheint, daß Nestor in den achtziger Oahren des 11. Jahrhunderts die Vita des Feodosi.1. des G r ü n ders der zweiten, kleineren der beiden Kiever Krypten, schrieb. Diese Biographie stellt ein Kernstück des Kiever Paterikons d a r . ^

Die

Krypta des Feodosij ist bei Herbin auf einer Falttafel abgebildet vor allem in Kapitel 9 behandelt

und

(S. 76ff.).

Herbin geht bereits davon aus, daß Nestor nicht der alleinige A u t o r des Paterikons aus dem Höhlenkloster sein konnte. Er wertet

seine

Hauptquelle als das Werk verschiedener Generationen von Kiever Starzen. Demgemäß bezieht er sich ausdrücklich auf "die Kiever Väter in ihrem Paterikon" ("Patres Kijovienses in Pateriko suo", S. 132). Die bekanntesten der in diesem Paterikon dargestellten und im

"unterirdi-

schen Kiev" beigesetzten Persönlichkeiten - Bischöfe, Archimandriten, Igumene, Starzen, Anachoreten und Klausner, Fürsten und ihre Mannen verzeichnet eine bei Herbin abgedruckte Bestattungsliste

(s. Tafeln

in Kijovia). A n der Spitze der Liste stehen die Kryptengründer Antonij und Feodosij.

Sie enthält auch die Namen des Bischofs von Jladimir

und Suzdal' und vormaligen Mönches aus dem Hötilenkloster, Simon, und des Archimandriten von Kiev, Polikarp. Da an drittletzter (42.) Stelle "der russische Chronist Nestor" selbst registriert ist (NESTOR C h r o n o logus Ruthenus, S . 83), war für Herbin klar, daß der Pe^erski.j paterik nach Nestors Tod weitergeführt wurde. In der Gründungsgeschichte

der

Katakomben - über "die A n f ä n g e der Kiever Krypten" - , so auch in der Datierungsfrage, hält sich Herbin an das Paterikon des Höhlenklosters als einzige zuverlässige Quelle, unter Verwerfung aller anderen Hypothesen . Herbins zweite Hauptquelle ist der greise Archimandrit des Höhlenklosters, Innozenz Giesel

(Innokentij Gizel', um 1600-1683), mit dem

er Freundschaft geschlossen hatte. In einem ausführlichen

Schreiben

vom 2. März 1674 erteilte Giesel seinem "hochverehrten Freund" Herbin die erbetenen A u s k ü n f t e über das unterirdische Reich des Höhlenklosters.

28

Dabei übermittelte er ihm Abbildungen und Skizzen, die als Beigaben in Herbins Kiev-Buch eingingen (S. 43-46 und Tafeln). Auf die Autorität seines "aufrichtigen Freundes" Giesel beruft sich Herbin, um abwegige Spekulationen über das "unterirdische Kiev" zu widerlegen (S. 32). Der Archimandrit gilt ihm als Gewährsmann, um das etwas verschrobene barocke Kiev-Bild durch ein realistischeres zu verdrängen. Giesel, 9elbst Geschichtsschreiber;

zeigte sich Herbin gegenüber sehr aufge-

schlossen. Gebürtiger Deutscher aus Ostpreußen, war er zur Orthodoxie übergetreten, wurde Rektor der Kiever Akademie und, als Anhänger der russischen Orientierung - des 1656 erfolgten Anschlusses an Rußland unter Wahrung ukrainischer Eigenständigkeit -, nach der Eingliederung Kievs in den Moskauer Staat an die Spitze der Kiever Höhlen-Lavra be. 38 rufen. Herbin traf somit auf günstige persönliche Voraussetzungen für seine Kiev-Forschungen. Er rühmt Giesel über die Maßen als einen "in Sprachen und Wissenschaften aller Art, die er sich auf vielen Universitäten Europas und auf Reisen aneignete, hochgebildeten, weltkundigen Mann" (S. 35ff.). Das Verhalten des Archimandriten wird von Herbin im Lichte des Humanitätsideals gesehen. Herbin preist das große Entgegenkommen und die seltene Hilfsbereitschaft Giesels, die sein Buch erst ermöglichten (S. 35f., 42). Ober die geheimnisvollen unterirdischen Fernwege von Kiev nach Smolensk sowie nach den Höhlen von iiernigov und Pe5$era erfuhr man lediglich soviel, daß durch Erdbeben einige Gänge des Kiever Höhlenklosters verschüttet seien, so daß man nicht sagen könne, wie weit sie sich ursprünglich erstreckten. So blieb die "Tunnellegende" offen, und das gab Stoff zu neuen Gerüchten. Herbin suchte sich an Ort und Stelle Gewißheit zu verschaffen, ob zwischen den drei russischen Höhlenklöstern von Kiev, Kernigov und Pe^era eine unterirdische Verbindung bestehe, wie behauptet wurde, und reiste zu diesem Zweck nach Pe^era. Dort wurde er in der Erwartung, Höhlen und vielleicht das Ende eines riesenlangen Tunnels besichtigen zu können,

29

enttäuscht. Man wies ihn als verdächtigen Ketzer auch trotz w i e d e r h o l ter Vorstellungen a b . Da Herbin nicht dazu kam, nach Smolensk

und

Kernlgov zu reisen, mußte er auf die ihm so erwünschte Autopsie der russischen Katakombenstädte außerhalb Kievs verzichten

(S. 121, 129).

So führte Herbin mit technischen, orographischen, historischen und philologischen Argumenten einen Indizienbeweis, daß die angebliche Existenz von Tunneln zwischen Kiev, Smolensk, iiernigov und Pecera die unter dem Dnepr hätten entlangführen müssen - eine Unmöglichkeit sei. Hierzu bediente sich Herbin auch seiner umfassenden

Sprachkenntnisse.

Die für einen Wittenberger Magister obligatorische Beherrschung Lateinischen und Griechischen kam ihm bei der Kijovia

des

subterránea

doppelt zustatten: Das Buch ist in flüssigem Neulatein geschrieben, und die Partien über die orthodoxe Kirche verraten Vertrautheit mit deren byzantinischer Terminologie. Vor anderen deutschen Autoren aber z e i c h nete sich Herbin durch sein slawisches Sprachwissen aus. A l s gebürtiger Oberschlesier, der lange im polnischen Staat gewirkt hatte, war er ein souveräner Kenner des Polnischen. Manche ukrainischen,

russischen,

deutschen und belorussischen Namen transkribierte er polnisch. A u c h die lateinische Namensform "Kijovia" beruht auf der polnischen. In anderen Slawinen war er ebenfalls bewandert. Auf seine Kenntnis des in der russisch-orthodoxen Kirche gebräuchlichen Kirchenslawischen

("Slavoni-

schen") hielt er sich etwas zugute (S. 16). A l s Zögling der wittenberger Schule der Bibelorientalistik kannte er sich außerdem gut im Hebräischen aus. 100 Oahre vor Schlözer erkannte Herbin die Bedeutung der Sprache a l s • Geschichtsquelle. In seinem Kiev-Buch benutzte er die Sprachkunde

daher

als historische Hilfswissenschaft. A l l e r d i n g s verfiel er auch auf a b e n teuerliche Etymologien, eine Neigung, die er mit anderen Philologen seiner Zeit

30

teilte.

Herbins Sprachkenntnisse

befähigten ihn, Schrifttum in mehreren

Spra-

chen für sein Buch heranzuziehen. Er hat Quellen und eine umfangreiche Sekundärliteratur vor allem alt russischer, ukrainischer,

polnischer

und deutscher, aber auch italienischer und skandinavischer

Provenienz

aus dem 15. - 17. Jahrhundert verarbeitet und Kiev im weiten Umkreis Europas, A f r i k a s und A s i e n s gesehen. Diese Vorzüge - vor allem die Einmaligkeit seiner Erkundungen und E r kenntnisse über das Höhlenkloster - erklären die starke Wirkung

des

Buches auf die M i t - und Nachwelt. A u f k l ä r e r wie Gegner der A u f k l ä r u n g beriefen sich darauf und schöpften daraus ihre Kenntnis von Kiev. Einer der aufmerksamsten Leser war Leibniz, der sich für alles, was Rußland betraf, lebhaft interessierte und auch mit Giesel im Briefwechsel

stand.

In der Rußlandliteratur, in Geschichtswerken, Reisebeschreibungen, Arbeiten über die russisch-orthodoxe Kirche und anderen

in

theologisch-

hagiographisch-kirchengeschichtliehen

Studien und Kontroversen wie auch

in naturwissenschaftlichem Schrifttum

(z. B. zum Mumifizierungsproblem)

wurde immer wieder auf Herbin

zurückgegriffen.

A u c h auf seine Überlegungen zur Entstehung der Kiever Krypten ist oft Bezug genommen worden. Entgegen allen Hypothesen über einen schen, skythischen, griechischen, römischen, nomadischen,

trojani-

warägischen

oder anderen Ursprung des unterirdischen Kievs und entgegen der A n sicht, daß es sich um Naturhöhlen handle, erklärte Herbin die Krypten für das Werk alt russischer Mönche aus der Epoche der Kiever Rus', hauptsächlich zur Zeit der Christianisierung um das Oahr 1000 und im 11. Jahrhundert. Nach dem Beispiel früher Christen suchten auch a l t russische Christen in selbst gegrabenen Höhlen Schutz vor Verfolgung und vor den häufigen Einfällen der Nomaden. Parallelen, auf die Herbin nur beiläufig einging, biete die Geschichte verfolgter und gefährdeter Gemeinschaften, Ketzergruppen und Einzelpersonen anderer Länder. Herbins Auffassung fand Zustimmung und setzte sich in der Aufklärung

durch.

31

So bedeutete es einen Rückschritt, als 170 Oahre später der sonst als Autorität angesehene Rußlandkenner Haxthausen den Mönchen die Schaffung der unterirdischen Gänge des "berühmten Höhlenklosters" von Kiev 39 nicht zutraute.

Der Autor von 1675 hat gegen den von 1847 im wesent-

lichen recht behalten. Auch zum zweiten Hauptthema seines Kiev-Buches, der Mumifizierung der in den Höhlen Bestatteten, bot Herbin Lösungen an, die vielfach akzeptiert wurden. Entgegen der offiziellen orthodoxen Version, an der auch Giesel festhielt, daß es sich um göttliche Wunder handle - Gott habe die Verdienste der toten Heiligen belohnt und deshalb ihre Leiber unverweslich gemacht -, führte Herbin die Erhaltung der Leichen oder Hautskelette auf künstliche und natürliche chemische Ursachen zurück, auf konservierende Balsamierung und auf spezifische Stoffe in den Grabkammern. Zum Vergleich wies er auf die Mumien der heidnischen ägyptischen Pharaonen und weitere Fälle von Mumifizierung hin, wo von Lohn für gute Werke keine Rede sein konnte. Herbin hat sich an die Kiever Klostertradition gehalten, soweit diese durch Quellen belegt war, sie aber der legendär-mirakulösen Züge mittels frühaufklärerischer Kritik am Wunderglauben entkleidet. Gegen ihn gab es zwar später Einwände und Kritik, sogar aus dem Göttingen der Aufklärung, aber bei weitem überwog im Aufklärungsschrifttum das positive Echo. Besonders deutlich wird die Bedeutung des Buches von Herbin für das Kiev-Bild der Aufklärung in allgemeinen Nachschlagewerken. So fußt der Artikel "Kiow, Kioff" des Hübnerschen Konversationslexikons, der verbreitetsten Enzyklopädie jener Zeit, weitgehend auf Herbin. Die einzige Literaturangabe darin ist: Herbinius De Cryptis Kijoviensibus. Der anonyme Autor preist Kiev in der "Russischen Ukraine" als "schönen Ort". Es habe aber "durch die öftern Eroberungen viel von seinem Glänze verloren". Als Hauptattraktionen und «Vahrzeichen Kievs führt der Artikel ans die "schönen steinernen Kirchen", die großen Märkte, die Dneprbrücken, die Universität, das Schloß, die Festung, die beiden

32

erzbischöflichen Residenzen, die "Obst- und Weingärten" und die "unterirdischen Gänge". Ein Rest der von Herbin widerlegten

Tunnellegende

spukte dennoch w e i t e r : neben seinem Namen steht die Behauptung, daß 40 jene Gänge "etliche Heilen" lang seien. Noch im 19. und frühen 20. Oahrhundert diente Herbin russischen, ukrainischen, deutschen und anderen Autoren als Sekundärquelle für die Geschichte der alten wie der neueren Stadt Kiev. 1904 druckte der Rußlandhistoriker Leopold Karl Goetz in seinem Buch über Kiev als Kulturzentrum A l t r u ß l a n d s die Bestattungsliste des Höhlenklosters aus Herbin erneut 41 ab.

Goetz stimmte in seiner Darstellung der Anfänge des Höhlenklo-

sters unter Antonij und der zweiten Phase unter Feodosij - in der er eine "Demokratisierung" erblickte - weitgehend mit Herbin überein. So hat der kritische frühaufklärerische Interpret des

"unterirdischen

Kievs" noch ein Vierteljahrtausend seiner waren. Kiev-Reise als seine barocken Vorgänger längst nach vergessen 42

nachgewirkt,

Anmerkungen

1

Thietmari Merseburgensis Episcopi Chronicon.

Lateinisch-deutsche

A u s g a b e , Berlin / ~ 1 9 6 0 J (Ausgewählte yuellen zur deutschen G e schichte des Mittelalters, Bd. 9). 2

Ebd., Buch 7, Kap. 74 und Buch 8, Kap. 31f., S. 4 3 6 , 474.

3

Magist ri A d a m i Bremensis Gesta Hammaburgensis ecclesiae

pontificum.

3. A u f l . Hannover-Leipzig 1917; Adam von Bremen, Hamburgische

Kir-

chengeschichte. 3. A u f l . Leipzig 1926 (Geschichtsschreiber der d e u t schen Vorzeit, Bd. 4 4 ) . Vgl. über Thietmar, Brun und Adam von Bremen: E. Donnert, Studien zur Slawenkunde des deutschen

Frühmittelalters.

In: Zeitschrift der Universität Oena (GSR) 12 (1963), Heft 2/3, S . 205-211; ders.. Zur Slawenkunde des deutschen Frühmittelalters vom

33

7. bis zum beginnenden 11. Jahrhundert. In: Oahrbuch für Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas, Bd. 8, Berlin 1964, S. 334-351 (hier weitere Literaturangaben);

ders..

Zur Entwicklung der deutschen Slawenkunde im frühen Mittelalter. In: Zeitschrift für Slawistik 18 (1973), S. 257-259. - Die Werke Thietmars und A d a m s von Bremen liegen auch in sowjetischen A u s g a ben vor. 4

Adami Bremensis

Gesta, Buch 2, Kap. 21 und Buch 4 , Kap. 10

(Aus-

gabe 1917, S . 75f. und 238); (Ausgabe 1926, S. 71f., 213 f.). 5

Ebd., Buch 4 , Kap. 13, (Ausgabe 1917, S. 241); (Ausgabe 1926, S. 216).

6

Ebd., Buch 4 , Kap. 11 (Glossator; A u s g a b e 1926, S. 215).

7

"...Ruzziae. Cuius metropolis civitas est Chive, aemula

sceptri

Constantinopolitani, clarissimum decus Greciae"; ebd., Buch 2, Kap. 22, (Ausgabe 1917, S. 80; Ausgabe 1948, S . 4 4 ; Ausgabe

1926,

S. 74). 8

V g l . H . Langer, Der Dreißigjährige Krieg. Leipzig 1978, S. 11.

9

P . V . Michajlina, Vyzvol'na borot'ba trudovogo naselennja mist Ukrajlny (1569-1654). Kiev 1975, S. 14ff.

10

D . Frölich, Bibliotheca seu Cynosura peregrinantium, hoc est viatorium. Ulm 1643/44.

11

Frölich wurde 1620 als "Armer" eingeschrieben

(Matrikel Frankfurt/

Oder 1, Leipzig 1887/Osnabrück 1965, S. 636). 12

Album Academiae Vitebergensis 1602-1660. Hg. B. Weißenborn, M a g d e burg 1934, S. 311; Bartholomaeides, Memoriae Ungarorum in universitate Vitebergensi. Pest 1817, S . 130.

13

Vgl. 0 . LiptSk, Geschichte des Lyzeums Kesmark. Ke^marok S. 44, 4 6 ; 0. Feyl, Die Universität Frankfurt

(Oder) in der Bil-

dungsgeschichte des östlichen Europa. Frankfurt 24. - Dank an Othmar Feyl für seine Hinweise.

34

1933,

(Oder) 1980, S .

14

Vgl. B. F. Por^nev, Zur internationalen Situation während des ukrainischen Befreiungskrieges von 1648-1654. In: Jahrbuch für Geschichte der deutsch-slawischen Beziehungen und Geschichte Ostund Mitteleuropas. Bd. 1, Halle 1956, S. 39-62; S. yuilitzsch, Oer ukrainische Befreiungskampf im 17. Oh. In: Ebd., S. 1-38.

15

0. Pastorius ab Hirtenberg. Florus Polonicus. Leiden 1641; erweiterte Neuausgabe Amsterdam 1664; 5. Aufl. Danzig-Frankfurt

(Main)

1679. 16

Dere., Bellum Scythico-Cosazicum. Danzig 1652, passim.

17

Florus Polonicus Indifferens. Nürnberg 1666; nach M¿agister7 Johannes Herbinius, Religiosas Kijovienses Cryptae sive Kijovia subterránea. Jena 1675, S. 31-33. - Das gesamte Werk umfaßt 181 Seiten und 7 Tafeln.

18

0. Herbinius, Kijovia, S. 52.

19

Vgl. Album Academiae Vitebergensis 1602-1660, S. 488.

20

0. Herbinius, De foeminarum illustrium eruditione. Wittenberg 1657. Ober Herbinius als Vorkämpfer der Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts s.: G. Mühlpfordt, Johann Herbin - der erste Frauenrechtler der deutschen Aufklärung. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 31 (1983, Heft 4), S. 325-338; ders., Der erste Frauenrechtler der deutschen Aufklärung - ein Dozent der Leucorea (1657). Der Auftakt der neueren Frauenrechtsbestrebungen an den "sächsischen Universitäten" IVittenbet-g, Halle, Leipzig und Jena. In: Buch und Wissenschaft. Hg. W. Kaiser, Halle 1982, S. 75-90 (Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität

Halle-Wittenberg

1982/5). 21

0. Herbinius, Kijovia, S. 27f., 72, 134, S. 150: "Lutherani nostri quos illi ¿Rutheni7 Saxones ... vocant."

22

Vgl. 0. Feyl, Beiträge zur Geschichte der Universität Jena. Jena i960, S. 11.

35

23

0 . Herbinius, Kijovia, S . 39, 68 (S. A n m . 17). - Übersetzung der Zitate aus Ki.1 ovia

G'. M . Die Seitenangaben im Text beziehen

sich

auf diese A u s g a b e . 24

V g l . G . Mühlpfordt, Deutsche Täufer in östlichen Ländern. Ins Die frühbürgerliche Revolution. Berlin 1961, S. 237-240.

25

Rat zu Wilna 28. 4 . 1674; I. Giesel an 0 . Herbinius 2. 3. 1674. Ins 3 . Herbinius, Kijovia, S. 4 0 , 4 2 , 4 6 , 150.

26

Der Flacianismus, dessen man ihn zieh, galt als Neumanichäismus. V g l . C . Schlüsselburg, C a t a l o g u s haereticorum 2: Manichaeorum recentium argumenta. Frankfurt

27

(Main) 1597, S. 3ff.

V g l . Fortgesetzte Sammlung ¿ 3 e r Unschuldigen N a c h r i c h t e n 7 von altei und neuen theologischen Sachen. Leipzig 1729, S. 1 1 0 1 .

28

A . Kircher, Mundus subterraneus. Amsterdam 1664; 2. A u f l . , Bd. 1 - 2 1668; 3. erw. A u f l . , Bd. 1 - 2 , 1678.

29

0 . 0 . Becher, Physica subterranea. Frankfurt

(Main) 1669; 2. A u f l .

1680; deutsch als: C h y m i s c h e s Laboratorium, oder Unter-erdische Naturkündigung, ebd. 1680; 3 . 3 . Beccheri Physica

subterranea.

Subterraneorum genesis. Neueste A u f l . , Hg. G. E. Stahl, Leipzig 1703. 30

V g l . C . Wolff, Oeconomica 2, Halle 1755, S. 631f. E. Bartholin, Planta subterranea. In: Ephemerides

31

medico-physicae

2, 1671; 2. A u f l . , 1688, S . 268 (Nr. 170). V g l . M . V . Lomonosov, SoXinenija, Bd. 1, M . 1950, S . 4 0 4 ; Bd. 2,

32

1951, S. 284f. Historischer Florus. Frankfurt

33

A d a m i Bremensis

Gesta

(Main) 1673. A n h a n g , S. 98, 213ff.

(Ausgabe 1917, S. 273, 286; Ausgabe

1926,

S. 240f., 250). 34

D . Frölich, Bibliotheka seu Cynosura (vgl. A n m . 10), 3, Ulm 1644, S. 16, 147, 130.

35

V g l . 3 . Goldfriedrich, Geschichte des deutschen Buchhandels. Bd. 2 Leipzig 1908/Neudruck 1970, S. 131, 280, 358, 419.

36

36

37

Ausgabens Kievo-Pe^erskij paterik. Hg. D. I. Abramovi^, SPb. 1911, Kiev 1931; vgl. V. B. Kobrin, Kievo-pe^erskij paterik. Ins Sovetskaja istori^eskaja ¿nciklopedija, Bd. 7, M. 1965, S. 209f. (mit Literaturangaben).

38

Vgl. Sovetskaja isto riSe skaja enciklopedija, Bd. 4, M. 1963, S. 436f.; E. Winter, Rußland und das Papsttum. Bd. 1, Berlin 1960, S. 303 und 320; ders., Frühaufklärung. Berlin 1966, S. 327-330, 332, 347; '.V. A . Serczyk, Historia Ukralny. Wrocjaw 1979, S. 166f.

39

A . v. Haxthausen, Rußland. Bd. 2, Hannover 1847, S. 477-479.

40

Reales Staats-, Zeitungs- und Konversationslexikon, eingeleitet von 3. Hübner, 12. Aufl., Leipzig 1737, S. 980 (1. Aufl. 1704).

41

Das Buch erschien mit russischem Obertitel: L. K. Goetz, KievoPe^erskij Monastyr kak Kulturnyj ¿ " s i e J Centr Domongol'skoj Rossli. Das Kiever Höhlenkloster als Kulturzentrum des vormongolischen Rußlands. Passau 1904, S. 218-220, 14ff., 34ff., 49ff.

42

Vgl. G. Mühlpfordt, Das alte Kiev im deutschen Rußlandbild. Von Thietmar bis Herbinius (um 1000 bis 1675). In: Gesellschaft und Kultur Rußlands im frühen Mittelalter. Hg. E. Donnert, Halle 1981, S. 247-276 (Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1981/54 ¿C

21?).

37

A. S. Myi'nikov

Braunschweig - Wolfenbüttel als Kulturzentrum und die Anfänge der deutschen Slawistik. Versuch einer System- und Regionalanalyse

Als der Verfasser 1979, einer liebenswürdigen Einladung der Direktion und der Forschungsabteilung der Herzog August Bibliothek folgend, für drei Monate zu wissenschaftlicher Arbeit nach Wolfenbüttel reiste, war zunächst geplant, Material über die politischen Verbindungen zwischen dem Herzogtum Braunschweig und Rußland zu Beginn des 18. Jahrhunderts zu ermitteln. Trotz des verhältnismäßig geringen Umfangs ihrer Bestände verfügt die Wolfenbütteler Bibliothek über eine gute systematische Auswahl an Büchern und Handschriften des 16. bis 18. Jahrhunderts. In den letzten Jahren wurde sie zu einem der bedeutenden Zentren der wissenschaftlichen Information zur Geschichte der europäischen Kultur der Neuzeit. Natürlich handelt es sich vorwiegend um geschichtliche Quellen zu den verschiedensten Aspekten der deutschen Kultur. Jedoch ist im Bestand der Bibliothek auch wertvolles und in der Wissenschaft bislang unzureichend bekanntes Material zur Geschichte und Kultur der slawischen Völker, vor allem über Rußland, vorhanden. Daß es sich dort befindet, ist kein Zufall. Gerade das Herzogtum Braunschweig, dessen Residenz bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts Wolfenbüttel war, hat bei der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Rußland, das in der Epoche Peters I. die interna-, tionale Arena betrat, eine bemerkenswerte Rolle gespielt. Im Jahre 1711 vermählte sich nach Verhandlungen zwischen Petersburg und Wolfenbüttel Peters Sohn Aleksej, damals russischer Thronfolger, mit der Enkelin des regierenden Herzogs Anton Ulrich, Prinzessin Charlotte Christine Sophie, die die Mutter Peters XI., des späteren russischen Regenten

3C

(von 1727 bis 1730) wurde. Somit war das Herzogtum Braunschweig der erste in der Reihe der deutschen Staaten, die später ebenfalls dynastische Beziehungen zu Rußland hergestellt haben. 1716 verheiratete Peter I. seine Nichte Ekaterina, die Tochter seines verstorbenen

Bruders

Ivan V . , mit dem "wilden" Herzog von Mecklenburg-Schwerin Karl Leopold. Dieser Ehe entsproß 1718 Elisabeth Katharina Christina, die von 1722 an unter dem Namen A n n a Leopol'dovna in Rußland lebte. Die Tragik ihres Lebens zeigte sich einige üahre später, als sie in politische und diplomatische Verwicklungen zwischen Petersburg und Wolfenbüttel hineingezogen wurde. Im CJahre 1739 mußte sie auf Drängen der russischen Kaiserin Anna Ivanovna den Prinzen A n t o n Ulrich heiraten, den zweiten Sohn des Herzogs Ferdinand Albrecht II. von

Braunschweig-Lüne-

burg aus der Bevernschen Linie und Bruder Karls I., der den W o l f e n bütteler Thron von 1735 bis 1780 innehatte. 1740 wurde A n n a

Leopol'dovna

und A n t o n Ulrich ein Sohn geboren: Ivan A n t o n o v i X . Ihn erklärte die kinderlose Anna Ivanovna 1740, kurz vor ihrem Tode, zum Nachfolger auf dem russischen Thron. So war er im A l t e r von zwei Monaten als Ivan V I . nominell russischer Kaiser. Aber die Geschichte der russischen schaft ging andere W e g e . Anna Leopol'dovna

Regent-

(1746) und A n t o n Ulrich

(1776) starben als Verbannte in der fernen nordrussischen Stadt C h o l m o gory, 1764 wurde auf Befehl von Katharina II. der auf Lebenszeit in der Festung Schlüsselburg eingekerkerte Ivan Antonovi(£ ermordet.* Ungeachtet der nicht uninteressanten Einzelheiten zur Geschichte der Herrscherhäuser, die man durch neue und bisher völlig unbekannte D e o tails erweitern könnte , möchte der Verfasser die Verbindungen

zwischen

Petersburg und '.Volfenbüttel anhand neuer Quellpn aus der Wolfenbütteler Bibliothek und den A r c h i v vom Gesichtspunkt ihrer kulturellen Folgen im Hinblick auf Charakter und Richtung des Interesses an Rußland in der damaligen deutschen Gesellschaft

untersuchen.

39

•er allgemein bekannte A n s t i e g des Interesses an Rußland während der ersten Hälfte des 18. ¿Jahrhunderts war gewiß nicht nur auf die dynastischen Verbindungen zweier kleiner norddeutscher Fürstentümer mit R u ß land zurückzuführen. Hingewiesen sei hier auf solche Faktoren wie Rußlands A n t e i l an der europäischen Staatenpolitik, sein

erfolgreicher

Kampf gegen die schwedische Hegemonie im Norden Europas, seine Bündnisverträge mit Polen, Österreich und Preußen sowie die Aktivierung

der

Handelsverbindungen nach der Gründung Petersburgs im Oahre 1703.^ Peter I., der mehr als einmal deutsche Staaten besucht hatte, darunter 1697 das Braunschweig benachbarte Hannover, traf im Oahre 1713 auf ner Europareise auch mit Herzog Anton Ulrich zusammen.

Nicht

sei-

unerwähnt

soll bleiben, daß in jenen Oahren Leibniz in enger Verbindung zu Hannover stand und Kontakte zu dem braunschweigischen Herzog Ulrich unterhielt, mit dem ihn unter anderem auch literarische Interessen v e r b a n den.

Eine Zeitlang war er sogar als Bibliothekar der Augustinischen

Bibliothek in Wolfenbüttel tätig. Es ist daher nicht verwunderlich, daß er von den diplomatischen Beziehungen zwischen Braunschweig und Rußland Kenntnis hatte, so auch von dem Ehevertrag Charlottes mit dem Zarewitsch A l e k s e j . Leibniz begrüßte die reformatorische

Tätigkeit

Peters I., mit dem er fünfmal persönlich zusammentraf und für den er eine Reihe von Projekten für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung Rußlands ausarbeitete.^ In vielen deutschen Städten erschienen in den ersten Oahrzehnten

des

18. Oahrhunderts Bücher und Broschüren, die wachsendes Interesse an Rußland d o k u m e n t i e r e n . 7 Die vollständigste und reichhaltigste

Sammlung

dieser Ausgaben befindet sich heute in der "Rgssica"-^bteilung

der

Staatlichen öffentlichen Bibliothek Saltykov-^Xedrin in Leningrad. Dort werden rund 30 000 Titel ausländischer Verfasser aufbewahrt, die vor 1917 über die Geschichte und Kultur Rußlands geschrieben historische Überblicksdarstellungen, Reisebeschreibungen, sche A b h a n d l u n g e n . Schon im Titel der umfangreichen

40

haben:

publizisti-

Veröffentlichung

von Friedrich Christian '.Veber Das veränderte Rußland

(Frankfurt/M.

1721, Nachauflage 1729, 1738, 1744; 1739 und 1740 durch einen zweiten und dritten Teil ergänzt) ist der neue Blick auf Rußland verdeutlicht. iVeber hielt sich von 1714 bis 1719 als hannoveranischer Resident in Rußland auf. Natürlich waren die dynastischen Kontakte von

Braunschweig-

Wolfenbüttel und Mecklenburg-Schwerin nicht nur Ursache, sondern auch Folge des zunehmenden Interesses an Rußland; dennoch ist

bemerkens-

wert, daß viele Verfasser jener frühen Nachrichten über Rußland, auch Leibniz, mit der Region Hannover-Braunschweig in Verbindung

standen.

In der vorliegenden Studie stellt der Verfasser das M a t e r i a l zusammen, anhand dessen das wachsende Interesse an Rußland und an den übrigen slawischen Völkern transparent w i r d . Eine unzureichend bekannte Seite aus den Anfängen der deutschen Slawenkunde der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird auf diese Weise in mancherlei Hinsicht neu b e l e u c h tet . A n dieser Stelle möchte der Verfasser dem Direktor der Bibliotheca A u g u s t a , P r o f . Dr. P . Raabe, dem Direktor des

Forschungsprogramms,

P r o f . Dr. Vi. Killy, und allen Mitarbeitern dieser Bibliothek sowie auch des Niedersächsischen Staatsarchivs V/olfenbüttel, besonders Herrn D r . D . Lent, die beim Heraussuchen und der Bereitstellung des n o t w e n d i gen Materials behilflich gewesen sind, seinen Dank ausdrücken.

Z u r Methode

Zu Beginn seien kurz einige Fragen begrifflichen,

historiographischen

und methodologischen Charakters aufgeworfen. W a s haben wir unter dem T e r m i n u s "Slawistik" zu verstehen? Bekanntlich wurde ihr Gegenstand zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich behandelt und interpretiert, und

41

Die Diskussionen darüber dauern bis heute an. Ohne ausführlicher auf dieses Problem eingehen zu können, wollen wir Jedoch festhalten, daß es kaum richtig sein dürfte, die Slawistik ausschließlich als slawische Philologie, auch nicht in Jenem weiten Sinne zu definieren, wie es zum Beispiel Vatroslav 3agi& getan hat. Das Studium der slawischen Sprachen ist vom Studium der Geschichte der slawischen Völker nicht zu trennen. Es erübrigt sich, nachzuweisen, daß die Entwicklung der Sprachen dieser Völker eng mit ihrer Geschichte und Kultur, mit ihren wechselseitigen Beziehungen zu anderen, insbesondere den benachbarten Ländern und Völkern verbunden ist. Das Problem der slawisch-germanischen Kontakte nimmt daher nicht zufällig einen wichtigen Platz innerhalb der slawischen Studien ein. Indem wir uns auf die slawistischen Forschungen der UdSSR sowie einer Reihe anderer Länder stützen, betrachten wir die Slawistik als einen Komplex wissenschaftlicher Disziplinen, die sich mit dem gesellschaftlichen Leben der slawischen Völker insgesamt befassen und sowohl Sprache, Kultur und Geschichte als auch das historisch entstandene System der wechselseitigen Kontakte mit ano deren Völkern berücksichtigen.

Diese Problematik bildet auch den Ge-

genstand der Geschichte der Slawistik als Wissenschaft. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, die Herausbildung der Slawistik in Deutschland insgesamt zu untersuchen. Unsere Aufgabe besteht vielmehr darin, den Ablauf dieses Prozesses anhand des Materials zu verfolgen, welches mit dem Kulturzentrum Braunschweig-VVolfenbüttel im Zusammenhang steht. Obwohl Aspekte der frühen Geschichte der deutschen Slawistik, die meist als slawische Philologie aufgefaßt wird, seit langem bearbeitet worden sind (ein bedeutender Abschnitt auf diesem Wege war die grundlegende Monographie von 3agi6, Istorija slav.1ansko.1 filologii, SPb. 1910), ist ein "Neuer Oagit" noch nicht geschaffen. Viele Forscher machten darauf aufmerksam, daß die wissenschaftliche Behandlung der slawistischen Problematik schon im 18. Jahrhundert in den Arbeiten von

42

Leibniz und von Heinrich Wilhelm Ludolf, Johann Leonhard Frisch, Michael Frenzel, in der Tätigkeit des Kreises der frühen Pietisten in Halle ihren Niederschlag gefunden hat. In unserer Zeit erfuhren viele Fragen der Entstehung der Slawistik in Deutschland eine weitere Bearbeitung. Es genügt, an die Forschungen der Wissenschaftler aus der DDR, insbesondere an E. Winter, H. Raab, E. Eichler, tv. Zeil, H. Pohrt u. a. zu erinnern, ebenso seien aus der BRD u. a. H. Rösel, H.-B. Härder, q R. Lauer, H. Schaller und H. Rothe genannt.

Die Verfasser eines neuen

Abrisses der Geschichte der deutschen Slawistik, W. Zeil und H. Pohrt, gehen davon aus, daß das Interesse an den slawischen Sprachen in Deutschland im 16. Jahrhundert erwachte und in der zweiten Hälfte des 17. sowie in der ersten Hälfte des Iß. Jahrhunderts fest umrissene Form annahm, da man zu dieser Zeit begann, neben der sorbischen

"immer

häufiger die russische, polnische und tschechische Sprache zu b e r ü c k sichtigen"10. Seinerzeit

schrieb Jagifc, "e9 ist besser, den historischen Ablauf und

die Entwicklung der Wissenschaft zu verfolgen, indem man sich auf e i n zelne herausragende Vertreter und deren Gesamttätigkeit als sich mit einem Verzeichnis verwandter Arbeiten

konzentriert,

zufriedenzugeben.

indem man sie nach ihrem Inhalt gruppiert und die persönlichen

Momente

11 beiseite läßt..."

Bereits damals forderte eine derartig

Gegenüberstellung des biographischen und

kategorische

bibliographisch-faktologischen

Verfahrens, die andere iVeoe der Erforschung ausgeschlossen hätte, zum Widerspruch heraus. Einer der bedeutenden

russischen Slawisten Anfang

des 20. Jahrhunderts, N. 1-1. Petrovskij, wandte beispielsweise

ein:

"Wahrscheinlich sind nicht alle Leser des Buches von Herrn Jagi6 mit der Zweckmäßigkeit

einer solchen Methode einverstanden, bei der die

Geschichte Gefahr läuft, sich in ein bibliographisches Lexikon zu v e r wandeln." 12

43

Bereits Ende des 19. und zu Beginn des 20. Oahrhunderts wiesen A . A . KoXubinskij und A . N . Pypin sowie später K . 3 a . Grot auf die N o t w e n digkeit hin, die Geschichte der Slawistik in engem Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Entwicklung zu untersuchen. Dieses m e t h o d o l o gische Verfahren lag den A r b e i t e n von N . S. DerMavin und anderen B e gründern der sowjetischen Slawistik zugrunde und ist auch in der K o n zeption der Geschichte der Slawistik v e r a n k e r t , an der gegenwärtig in der UdSSR gearbeitet w i r d . 1 3 Ähnliche Gedanken fanden auch in der Historiographie anderer Länder Z u s t i m m u n g . 1 4 Die Geschichte der Herausbildung der Slawistik weist eine Reihe von Besonderheiten auf, auch im Hinblick auf die Methodik der Forschung. Die Erfahrung aus Untersuchungen analoger Prozesse z. B . in Rußland, Böhmen und der Slowakei zeigt, daß die slawistischen Studien in der Regel in einzelnen Stadtzentren entstehen und sich erst später im nationalen Maßstab konstituieren. Dies verweist auf die Besonderheiten der Herausbildung der Slawistik und regt dazu an, nach einer w i s s e n schaftlichen M e t h o d e zu suchen, die den eigentlichen Mechanismus des Entstehungsprozesses der Slawistik aufzuzeigen vermag. Einer dieser möglichen Wege könnte in dem System-Regionalverfahren

zu

sehen sein: Systemanalyse, da der Entstehungsprozeß der Slawistik, in diesem Falle in Deutschland, a l s eine Gesamtheit der Fakten

gnoseolo-

gischen und gesellschaftlich-kulturellen Charakters zu untersuchen wäre; Regionalverfahren, w e i l der Kreis der. zu berücksichtigenden Quellen durch ein bestimmtes Kulturzentrum, nämlich das von B r a u n schweig-Wolfenbüttel, eingegrenzt

ist.

Verfolgt man die Entstehungsgeschichte der Slawistik unter den konkret historischen Bedingungen, so ist unschwer zu erkennen, daß die G e l e h r ten, die sich der slawistischen Thematik zuwandten, in bestimmten Städten lebten und arbeiteten und mit bestimmten

wissenschaftlichen

Institutionen verbunden w a r e n . O e d e s dieser Zentren stellte eine e i genständige Mikrostruktur dar, die sowohl die allgemeine

44

geistige

Atmosphäre als auch das wissenschaftlich-gesellschaftliche Milieu einschloß, in welchem sich die slawistischen Interessen der Wissenschaftler herausbildeten: die Einrichtungen, in denen sie wirkten oder mit denen sie auf diese oder jene Weise verbunden waren, Bibliotheken oder Archive, die sie benutzten, der Kreis der Personen, mit denen sie in Kontakt traten. Daraus folgt, daß nicht so sehr die Untersuchung der Tätigkeit "einzelner herausragender Vertreter" der Slawistik (3agi6), sondern das komplexe Studium der einzelnen Kulturzentren die Wege für die historisch zuverlässigste Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte der Slawistik

frei macht. Diese Überlegungen sind unserer Meinung nach

in dem gegebenen Fall besonders zu beachten, wenn man die politische Zersplitterung Deutschlands und die Partikularisierung des kulturellen 15 Lebens nach dem Westfälischen Frieden von 1648 in Betracht zieht.

Zum Ouellenbestand

In der uns interessierenden Region bestehen mindestens zwei bedeutende wissenschaftliche Einrichtungen, an denen der Historiker der deutschen Slawistik nicht vorübergehen kann: die Bibliotheca Augusta in Wolfenbüttel und die Universität in Helmstedt. Es gab damals auch noch andere Kulturstätten, von denen leider wenig bekannt ist, wie z. B. die Gemäldegalerie und die Büchersammlung des Staatsmannes und Premierministers Ferdinand Albrecht II., des Barons Hieronymus von Münchhausen, und die Bibliotheken von Professoren der Helmstedter Universität usw. Die 1572 gegründete Wolfenbütteler Bibliothek wurde schon unter der Schirmherrschaft des braunschweigischen Herzogs August (daher auch ihr Name), der von' 1635 bis 1666 regierte, eine der bedeutendsten deutschen Bücher- und Handschriftensammlungen. Sie galt im 17. Oahr-

45

hundert als eine der Sehenswürdigkelten der Stadt, die viele Reisende, darunter auch aus Rußland, anzog. 1 ® Die Universität Helmstedt wurde 1576 von Herzog Julius gegründet, der von 1568 bis 1589 in Wolfenbüttel residierte. 1 7 Sie war entstanden im Zuge der Reformation, gedacht als protestantisches wissenschaftliches und pädagogisches Zentrum, und bestand nach der europäischen Universitätstradition aus den vier Fakultäten: del~ theologischen, philosophischen, juristischen und medizinischen. In der Frühperiode waren unter den Professoren der Universität Gelehrte von europäischem Rang. Die Kontakte zwischen Helmstedt und Prag verdienten auch im Zusammenhang mit dem heftigen Streit in der zweiten Hälfte des 16. und während des ganzen 17. Jahrhunderts zwischen Katholiken und Protestanten eine gesonderte Behandlung. Bemerkenswert ist, daß der Professor für Geschichte und Poesie an der Universität Helmstedt, Heinrich Meibom der Ältere (1555 bis 1625), Verfasser lateinischer Gedichte geistlichen und weltlichen Inhalts, am kaiserlichen Hof Rudolfs II. 1590 in Prag als 18 "Poeta laureatus" gekrönt wurde.

Die Helmstedter Universität bestand

bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. 1810 wurde sie während der napoleonischen Besatzung geschlossen. Ihre Blütezeit als eine der besten

19

deutschen Universitäten lag in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Eine große Kostbarkeit stellte die Universitätsbibliothek dar. Obwohl ein beträchtlicher Teil des Bestandes später nach Wolfenbüttel verlagert wurde, verblieben viele Bücher, darunter auch jene zur Geschichte, 20 in Helmstedt. Das Archiv der Universität Helmstedt, das sich heute im Wolfenbütteler 21 Niedersächsischen Archiv

befindet, ist eine äußerst wichtige und bis-

lang kaum genutzte Quelle für die frühe Etappe der deutschen Slawistik. iVir haben Dokumente durchgesehen, die sich auf die Lehrtätigkeit, die wissenschaftliche und organisatorische Arbeit an der Universität von 1697 bis 1748 beziehen, Verzeichnisse der Professoren, Pläne der Vorlesungskurse und Dispute, so z. B. die Archive von 0. G. Eckhart (Nr. 371),

46

S . F . Hahn ( N r . 4 7 2 ) , P . L e y e e r ( N r . 4 7 3 ) , E . R e u s c h ( N r . 4 7 5 ) und e i n e Reihe anderer M a t e r i a l i e n . Zur R e k o n s t r u k t i o n des I n h a l t e der gen f ü r d i e Z e i t v o n 1 7 2 9 b i s 1 7 4 0 , d i e i n dem A r c h i v nicht

dargestellt

Vorlesun-

größtenteils

s i n d , Wurden d e r e n g e d r u c k t e K a t a l o g e b e n u t z t ,

eich i n der B i b l i o t h e c a Augusta

die

befinden.

Über d i e B e d e u t u n g d e r ö f f e n t l i c h e n und p r i v a t e n B i b l i o t h e k e n B e s t a n d man a u s den A u k t i o n s k a t a l o g e n

ersehen kann) a l s

(deren

geschichtliche

Q u e l l e n und K u l t u r d e n k m a l haben s o w j e t i s c h e L i t e r a t u r h i s t o r i k e r ,

unter

anderen P . N . B e r k o v , L . S . Z e r n o v a j a , N. P . K i e e l e v g e s c h r i e b e n . den P r i n z i p i e n Verfassers

vor.

Zu

e i n e r b ü c h e r k u n d l i c h e n Methode l i e g e n P u b l i k a t i o n e n

des

22

Fast a l l e M a t e r i a l i e n ,

die nachstehend einer A n a l y s e unterzogen

werden,

s i n d i n den B e s t ä n d e n d e r B i b l i o t h e c a A u g u e t a v e r t r e t e n . Außerdem werden hier Handschriften aufbewahrt, die E r e i g n i s s e

der r u s s i s c h e n ,

s c h e n und t s c h e c h i s c h e n G e s c h i c h t e b e r ü h r e n . W i r w o l l e n

polni-

insbesondere

d i e M o s k o w l t i s c h e C h r o n i k . C h r o n i c o n M u s c o v i t i c u m c o n t i n e n s r e s a morte J o h a n n i s B a s i l i d i s T i r a n n i . . . u s q u e ad annum C h r i s t i 1 6 1 2 , und d i e S c h i l d e r u n g d e r R e i s e v o n Hans Georg P a y e r l e i n den J a h r e n .1606 b i e 1608 nach Moskau ( 4 1 E x t r . ) ,

s o w i e Newe Z e i t u n g a u s M o s c o v i t e r

von K o n r a d B u s s o w ( 8 6 E x t r . )

e r w ä h n e n , e b e n s o e i n e n Sammelband,

unter der Bezeichnung R u s s i c a v a r i a matische, kartographische

Lande

sehr wertvolle s t a t i s t i s c h e ,

und a n d e r e M a t e r i a l i e n z u r G e s c h i c h t e

K u l t u r Rußlands b i s i n die d r e i ß i g e r Jahre des 18. Jahrhunderte hält

(115.1 Extr.),

der diplound ent-

s o w i e d i e anonymen K o n s p e k t e v o n V o r l e s u n g e n

d e u t s c h e r S p r a c h e z u r G e s c h i c h t e R u ß l a n d s im 1 6 . b i s 1 8 .

in

Jahrhundert

23

(238.11 E x t r . ) .

Das Vorhandensein d i e s e r Z e u g n i s s e i n der Wolfen-

bütteler Bibliothek

k e i n Z u f a l l . Wenn w i r a u c h b e i einem T e i l

der

H a n d s c h r i f t e n b i s l a n g n o c h n i c h t w i s s e n , wann upd w i e s i e d o r t h i n

ge-

langt

sind,

so l ä ß t

ist

s i c h d a s i n bezug a u f a n d e r e mehr o d e r

genau e r m i t t e l n . S o i s t

auf B l a t t

weniger

1 d e s Sammelbandes R u s s i c a

v e r m e r k t , daß d i e s e und s i e b e n w e i t e r e h a n d s c h r i f t l i c h e

varia

Sammelbände

47

des 17. bis 18. Jahrhunderts in russischer und deutscher Sprache in folio und in quarto am 15. Ouni 1739 auf Anordnung des Herzogs Karl I. in die Bibliothek eingegangen sind. Wahrscheinlich wurden sie als Geschenk aus Petersburg im Zusammenhang mit der Eheschließung von Prinz Anton Ulrich mit Anna Leopol'dovna übersandt. Andere slawische Materialien kamen im Bestand der Blankenburger Kollektion in die Bibliotheca Augusta, insbesondere Autographen und Kopien von Dokumenten Peters I. Auch haben wir nicht wenige Bücher russischer, polnischer, tschechischer, lausitzischer und allgemeinslawischer Thematik bei der Durchsicht der Auktionskataloge der privaten Bibliotheken von den Professoren der Helmstedter Universität Polykarp Leyser und Erhard Reusch ausfindig gemacht. Wenn man die Quellen im Kontext der System- und Regionalanalyse betrachtet, muß man dem gesellschaftlich-politischen Hintergrund des Herzogtums Braunschweig und seinen diplomatischen Kontakten besondere Aufmerksamkeit widmen. Bekanntlich gehörte diese Dynastie zu dem alten Fürstengeschlecht der Weifen, welches im 11. bis 12. Oahrhundert erstarkte und Ansprüche auf die Hegemonie in Deutschland erhoben hatte. In dem zu betrachtenden Zeitraum gab es zwei Hauptlinien der Weifenhäuser: Eine beherrschte das Herzogtum Braunschweig (weswegen sie auch als Braunschweig-Wolfenbütteler Linie bezeichnet wurde), die andere das Kurfürstentum Hannover. Der hannoversche Kurfürst Georg Ludwig wurde unter dem Namen Georg I. 1714 zugleich englischer König. Dieser Umstand übte einen gewissen Einfluß auch auf das örtliche Kulturleben aus. Beispielsweise war die Universität Helmstedt, bevor der Kurfürst von Hannover und englische König Georg II. im 3ahre 1737 die Universität Göttingen gründete, die einzige Hochschuleinrichtung in den Gebieten, 24 die beiden Linien des Weifenhauses gehörte.

Da die hannoverschen

Kurfürsten größere Machtbefugnisse besaßen, zwangen sie des öfteren der Universität ihren Willen auf. Das war durchaus nicht immer günstig für die Organisation der Lehrtätigkeit und die allgemeine Atmosphäre

48

an der Universität. Unter die Obhut der braunechweigischen Herzöge gelangte die Universität Helmstedt erst 1745. Um dem hannoveranischenglischen Einfluß etwas zu entgehen, wurde 1742 unter Kacl I. in Braunschweig eine wissenschaftliche Einrichtung gegründet, die den Namen Collegium Carolinum erhielt. Hier studierte man unter anderem die deutsche, französische, lateinische, griechische und hebräische Sprache, Geschichte, Philosophie, Altertumswissenschaft, auch die 25 Künste und Regeln der höfischen Etikette. Die slawische Thematik fehlte. Aber in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die russische Geschichte von Professor Eberhard Zimmern c mann (1743-1815) am Collegium Carolinum behandelt.

Obzwar Hannover

und Wolfenbüttel in einem Wettstreit standen, der zuweilen 6ehr scharfe Formen annahm, führte die dynastische Verwandtschaft auch zu einer bestimmten Integration des kulturellen Lebens. Die Tatsache, daß Leibniz, der in den Diensten des Kurfürsten von Hannover stand, gleichzeitig Aufträge der braunschweigischen Herzöge ausführte und bei Anton Ulrich zu Beginn des 18. Jahrhunderts sogar als Bibliothekar der Wolfenbütteler Bibliothek angestellt war, mag dafür als Beispiel dienen. Ein weiterer Umstand lag in bestimmten kulturellen Folgen der Heiratspolitik Anton Ulrichs, der sich bemühte, die internationale Stellung seines kleinen Herzogtums über dynastische Verbindungen mit den euro27 päischen Mächten zu festigen.

Im Jahre 1708 verheiratete er seine

ältere Enkeltochter Elisabeth Christine mit einem österreichischen Erzherzog, dem späteren deutschen Kaiser Karl VI. Seine zweite Enkelin wurde, wie bereits erwähnt, die Gattin des russischen Thronfolgers Aleksej. Aus diesen politischen Überlegungen trat der Herzog de9 protestantischen Fürstentums, Anton Ulrich, Anfang des 18. Jahrhunderts zum Katholizismus über. Ein solcher Wechsel stieß auf Widerspruch bei einem Teil der protestantischen Geistlichkeit. In der Predigt eines protestantischen Superintendenten hieß ess "Eine Prinzessin haben wir an die Papisten abgegeben und die zweite an die Häretiker. Wenn morgen

49

op der Teufel kommt, geben wir ihm die dritte Prinzessin." Die dynastischen Bande zwischen Wolfenbüttel, Wien und Petersburg waren nicht allein auf politische Aspekte beschränkt. Anläßlich der nachfolgenden Ehekontrakte kamen genealogische Traktate und Panegyriken heraus, in denen Fragen der deutsch-russischen Kontakte erörtert sowie auch Themen allgemeinslawischen Charakters berührt wurden. Wissenschaft sbeziehungen und Bücheraustausch förderten die Entwicklung der kulturellen Information über Rußland wie auch über die Besitzungen der Habsburger, unter deren Zepter zahlreiche slawische Völker lebten. Ein zusätzlicher Stimulus für die Belebung des gesellschaftlichen Interesses an Rußland war die Ehe des Prinzen Anton Ulrich mit Anna Leopol'dovna, die als gebürtige Herzogin von Mecklenburg-Schwerin den Titel "Fürstin der Wenden" führte. Bekanntlich hatten sich die Nachkommen der alten Stämme der polabischen und pomoranischen Slawen, die im deutschen Sprachgebrauch als "Ii/enden" bezeichnet wurden, bis Anfang des 18. Oahrhunderts auf dem Territorium Deutschlands erhalten, darunter im nordöstlichen

Teil

Hannovers im Gebiet von Lüneburg. Sie stießen unmittelbar an die Westgrenze Mecklenburgs. In der Literatur wurde Anna Leopol'dovnas Vater, der Herzog Karl Leopold von Mecklenburg-Schwerin, unter anderen als "Fürst der ubodriten und Wenden" bezeichnet. Diese Symbolik, die nicht über die Grenzen der genealogischen Überlieferung hinausging, erhielt nach der Heirat Karl Leopolds mit der Nichte Peters des Großen einen neuen Sinn. Die möglichen Folgen dieses Schrittes erweckten nicht nur in der Gelehrtenwelt, sondern auch In breiteren Kreisen der Gesellschaft Interesse an einer möglichen Verwandtschaft der altslawischen Bevölkerung Mecklenburgs mit den Russen. Darauf wies Georg Friedrich Stieber (1684-1755) unmittelbar hin. 1717 schrieb er, daß von der Verwandtschaft der Russen und Wenden "zu Zeiten viel in den Gesellschaften zu hören ist, wo man sich aus diesem Grunde dafür und dagegen äußert" 29 . Obwohl vieles barocke Rhetorik war, ist doch interessant.

50

daß diese Symbolik allgemein verständlich wer und nicht nur eine "Mode" der bloßen Neugier, wie Stieber schrieb, sondern daß sie die deutsche Gelehrtenwelt zu weiteren Betrachtungen über die Geschichte und Kultur Rußlands, die Verwandtschaft des russischen Volkes mit den anderen slawischen Völkern und die slawisch-deutschen Wechselbeziehungen anregte. Neben der Verbreitung von Büchern, Broschüren und ZeltungsinformetIonen spielten die Kontakte zwischen den deutschen Wissenschaftlern eine große Rolle. In nicht geringem Maße unterstützte Leibnlz die wissenschaftliche Bearbeitung der slawistlschen Thematik in Deutschland. Unter seinen Schülern waren auch Professoren der Universität Helmstedt. Leibniz stand in enger Verbindung mit Heinrich Wilhelm Ludolf, der sich 1693 bis 1694 in Moskau und Nowgorod aufgehalten und nach der Grammatik von Smotrickij die erste deutsche Grammatik der russischen Sprache (1696) herausgegeben hatte. Ludolf unterhielt Beziehungen zu August Hermann Francke aus Halle, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts einen bedeutenden Beitrag zur Propagierung der russischen Literatur in Deutschland geleistet hatte. So entstand ein wissenschaftliches und gesellschaftlich-kulturelles System, das günstige Bedingungen für die Entwicklung der slawischen Studien im Zentrum Braunschweig-Wolfenbüttel schuf.

Die slawische Thematik an der Universität Helmstedt

Leibniz beschäftigte sich mit den Problemen der slawischen Linguistik, der Geschichte und der Vorzeit Slawen

auch der pomoranischen und polablschen

sowie der Rolle der slawischen Völker in der kulturellen Ent-

wicklung der Welt. Uber Leibniz' Bedeutung für die Entstehungsgeschichte der Slawistik ist an anderer Stelle geschrieben worden. 30

51

Dennoch ist es für die nachfolgende Darlegung unerläßlich, einige besonders charakteristische Züge seiner Wissenschaftsmethode hervorzuheben. In erster Linie sind es die Überlegungen zur Klassifikation der slawischen Sprachen und zu ihrer Stellung inmitten der anderen Völker der Welt. Die Gruppe der slawischen Sprachen - das Russische, Polnische, Tschechische (nach Leibniz das Böhmische und Mährische), das Bulgarische, das Kroatische (in seiner Terminologie das Dalmatinische und Slavonische), das Wendische (in der Lausitz, in Brandenburg und Lüneburg), die Sprachen der Slawen in Oberungarn sowie seltsamerweise das Avarische und Chazarische - betrachtete Leibniz im System der japhetitischen und aramäischen Sprachen der Völker Europas, Nordost- sowie Südostasiens und Nordafrikas, die er dann auf eine gemeinsame Ursprache zurückzuführen suchte. Für den Beginn des 18. Jahrhunderts, als die wissenschaftliche Bearbeitung der slawischen Sprachen noch unzureichend war, bedeutete diese Klassifikation auf der Grundlage sprachvergleichenden und historischen Studiums einen wichtigen Schritt vor31 wärts.

Die Probleme der slawischen Linguistik führten Leibniz zur

Beschäftigung mit dem slawischen Schrifttum und der slawischen Geschichte, der Herkunft und der ursprünglichen Ansiedlung der slawi32 sehen Stämme.

Diese Fragen verband er mit dem Studium der Geschichte

der slawisch-deutschen Beziehungen, da er bekanntlich die Meinung vertrat, von allen europäischen Sprachen stünden die slawischen und germanischen Sprachen einander am n ä c h s t e n . ^ Der Linguist, Historiker, Philologe und zum Teil auch Archäologe Leibniz nahm in diesem interdisziplinären Herangehen in vielem die weiteren Entwicklungswege der Slawenkunde vorweg. Der erste, der in Braunschweig-.Volf enbüttel den Grundstein für die Bearbeitung der russischen und der gesamt slawischen Problematik im Sinne von Leibniz legte, war Johann Georg Eckhart (1664-1V30). Im Jahre 1694 übersiedelte er nach Hannover und wurde hier mit Leibniz bekannt, der

52

seit 1685 der Geschichtsschreiber des hannoverschen Kurfürsten aus dem Braunschweig-Wolfenbüttelschen Hause der Weifen war und an einer Geschichte dieser Dynastie arbeitete (Origines Guelficae)« Eckhart wurde zusammen mit seinem Lehrer Leibniz einer der Begründer der deutschen kritischen Historiographie. Von 1706 bis 1714 arbeitete Eckhart an der Universität Helmstedt. Oer hannoversche Kurfürst Georg hatte ihn 1705 34 zum ordentlichen Professor der philosophischen Fakultät berufen. Die überlieferten Vorlesungspläne gewähren Einblick in ihren Inhalt.

35

Obzwar Eckhart sein Hauptaugenmerk auf die deutsche Geschichte lenkte berührte er auch Fragen der Geschichte Osteuropas. So hielt er im Rahmen der "Lectiones Historicae" im Herbstsemester 1708 Vorlesungen zur Geschichte des Kosakentums, zur politischen und wirtschaftlichen Lage des Moskauer Staates und zur Geschichte des russischen Herrscherhauses. 3 6 Interessant ist, daß Eckhart die Geschichte Rußlands in Vergangenheit und Gegenwart offensichtlich nicht isoliert, sondern im Kontext mit der europäischen Gesamtentwicklung betrachtete. Er sprach über die Geschichte Litauens und Finnlands, über den Beginn des Nordischen Krieges und die Wiedergewinnung des Novgoroder Landes durch Peter I., über die Gründung Petersburgs. 3 7 1711 verfaßte Eckhart eine Abhandlung über die Herkunft der russischen und braunschweigisch-wolfenbüttelschen Dynastie von dem byzantinischen Kaiser Konstantin Porphyrogennetos an. Dieses Traktat sollte der Anfang einer größeren Arbeit über die frühe Geschichte Rußlands sein. Darin schrieb er, sich auf russische und europäische Chroniken berufend, über die Abstammung Rjuriks von den Warägern und wies darauf hin, daß die Russen und Griechen die Norweger und Dänen als Waräger bezeichneten und daß er in der von ihm vorbereiteten Abhandlung über das russische Altertum ausführlicher darauf eingehen werde: "Daß aber die Norweger und Dänen von den Russen und auch Griechen Wareger geheißen worden, solches soll in meinem bald angefertigtem der Russen völlig ausgeführet werden."38 Tractate von dem Alterthum

53

,

Nach Eckhart setzte Simon Friedrich Hahn (1692-1729) die Vorlesungen über allgemeine Geschichte fort. Von 1717 bis 1724 war er ordentlicher Professor in Helmstedt, wurde aber dann ebenfalls nach Hannover berufen, um an der Abfassung der Geschichte der Uelfen mitzuarbeiten. So besagt eine Eintragung von 1725 im "Katalog der Dekane und Professoren", daß die Stelle eines Professors für allgemeine Geschichte vakant 39 sei.

Hahn hatte in seinen Vorlesungen zur politischen Geschichte vor

allem der Habsburger Dynastie Aufmerksamkeit geschenkt, da er in Helmstedt seine grundlegende Arbeit zur politischen Geschichte des Heiligen Römischen Reiches in vier Bänden vollendete. Er stützte sich auf eine breite Quellenbasis und bezog mehrfach die Annalenschreibung

über

die Slawen ein (Widukind, Thietmar, Cosmas von Prag), ebenso die G e schichtswerke der tschechischen Historiker V . Häjek z Libo^an, B. Balbln und anderer. Nicht selten fügte er diesen Hinweisen kurze Kommentare hinzu, in denen er die angeführten Tatsachen bewertete oder anderen geschichtlichen Arbeiten aus dem 16. bis 17. Jahrhundert

gegen-

40 überstellte.

In diesem Sinne kann man in Hahn einen der ersten deut-

schen Historiographep der slawischen Geschichte sehen. Es ist bemerkenswert, daß Hahn nicht nur in den

Lehrveranstaltungen,

sondern auch in öffentlichen Vorlesungen über die Geschichte der slawischen Völker referierte, wie z. B. aus dem "Plan" seiner Rede von 1718 ersichtlich ist. Darin beleuchtete er nicht nur die Politik der österreichischen Honarchen, einschließlich der deutschen Kaiser vom Ende des 17. bis Anfang des 18. Jahrhunderts, Leopolds I. und Josephs I., sondern auch die historische Entwicklung der ihnen Untertanen sowie eines Teils der angrenzenden Balkangebiete. In dem "Plan" sind insbesondere Vorlesungen zur Geschichte Ungarns, Böhmens, Dalmatiens, Kroatiens und Slawoniens, Bulgariens und Serbiens, Bosniens und der Herzegowina v e r m e r k t . 4 1 Dieser "Plan" stellt eine Kostbarkeit in der Geschichte der slawischen Studien in Deutschland dar. Abgesehen von der weitgespannten Erfassung der slawischen Völker, ist hier die G e -

54

schichte der Bulgaren als eigenständiges Thema hervorgehoben, eines Volkes also, über das in der europäischen Historiographie erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts geschrieben wird. Vor allem deshalb muß Hahn ein bedeutender Platz in der Geschichtq der Slawenkunde eingeräumt werden, da er als einer der ersten europäischen Gelehrten den Versuch unternommen hat, ein zusammenfassendes Bild der Geschichte der West- und Südslawen zu geben. Nach Hahns Berufung nach Hannover wurde 1725 die Vorlesung "Historia civilis" Professor Polykarp Leyser (169042

1728) übertragen, der 1718 aus Wittenberg nach Helmstedt gekommen war. Ober Leyser8 Vorlesungen läßt sich schwer urteilen, da er sie neben

seinen hauptsächlichen Verpflichtungen als Professor der Dichtkunst und 43

Metaphysik nur kurze Zeit hielt.

Leider konnten wir die Vorlesungs-

pläne nicht auffinden, in denen Leyser auch über die slawischen Völker gesprochen hatte. Es steht jedoch außer Zweifel, daß er die Literatur zu Fragen der Sprache und Geschichte der Slawen kannte. Im Auktionskatalog seiner Bibliothek, der nach seinem Tode veröffentlicht wurde, sind 8 158 Titel aufgeführt (mit einigen Auslassungen). Es waren Bücher und Periodica zur Philologie, Geschichte, Philosophie, Theologie, Jurisprudenz sowie auch Handschriften in persischer, türkischer, arabischer, lateinischer und griechischer Sprache. Etwa zwanzig Ausgaben bezogen sich auf die russische und slawische Sprachkunde, Quellenkunde und Geschichte, Bücher, die in Westeuropa vom 16. bis 18. Jahrhundert erschienen waren. Darunter finden wir z. B. die Grammatica Russica von Heinrich Wilhelm Ludolf (1696, Nr. 759), Kespublica Moscoviae (Luga. Bat. 1630, Nr. 760), Rerum Moscoviticarum Auetores (Frankf./M. 1600, Nr. 761), itespublica Poloniae (Lugd. Bat. 1627, Nr. 772), drei Bücher zur Geschichte Polens von Jan D^ugosz und Marcin Kromer (Nr. 774 bis 776), Helmoldi Chronica Slavorum (1556, 1581, Nr. 960 - 961), Arnoldi 44 Chronica Slavorum cum not. H. Bangerti (Lübeck 1659, Nr. 962) usw. In anderen Kursen der philosophischen Fakultät Helmstedt fehlte die slawische Thematik oder wurde nur mittelbar berührt, beispielsweise bei

55

der Darlegung antiker Quellen über die alten europäischen Stämme oder im Zusammenhang mit der späteren deutschen Geschichte. So erwähnte der ordentliche Professor der Eloquenz und Poesie Erhard Reusch

(1678-1740),

der seit 1723 in Helmstedt an der Universität tätig war, in einem B e richt zu den alten Quellen der europäischen Geschichte auch die Slawen A 5 (Tacitus, Germania. Kapitel 28). Daß Reusch überhaupt von der slawischen Geschichte Kenntnis hatte, ist aus dem Auktionskatalog seiner Bibliothek zu ersehen, der 5 816 R e g i striernummern enthielt

(unter denen bei einigen auch zwei und mehr

Bücher aufgeführt waren). 32 darin aufgeführte Titel nehmen bar auf die Sprache, Geschichte und Kultur slawischer Völker

unmittelBezug46:

unter anderen vier Arbeiten von S. 0 . Walczowski zur polnischen

Lin-

guistik: Kurtzer Beqrlf der Polnischen Sprache, Riga 1687; Polnisches Vocabularium; Polnische Gespräche. Riga 1697; Regeln zur Polnischen Sprache. Riga 1696

(Nr. 756); Wendische Grammatica G . Matthaei,

Budissin 1721 (Nr. 335); Chronica Slavorum Helmoldi et A r n o l d ! cum n o t . H . Bangerti, Lübeck 1659 (Nr. 1921); Beschreibungen Rußlands ( N r » 4 1 2 2 , 3 Bücher), Böhmens (Nr. 4 0 7 6 , 4908), P o l e n s (Nr. 3471, 4 5 4 5 , 4 5 5 9 und andere), der Lausitz (Nr. 4909, 4912) sowie Arbeiten zur Geschichte der einzelnen slawischen Völker und zur Reformationsbewegung in Polen und Böhmen, darunter die Nürnberger A u s g a b e von 1558 der Schriften von üan Hus und Hieronymus von Prag (Nr. 993 bis 994), ein Traktat

eines

der Ideologen der böhmischen antihabsburgischen Emigranten des 17. J a h r hunderts, P a v e l Stränsk^ (Paulus Stransky) De republica Bo.lema, A m s t e r dam 1713 (Nr. 3500), und Arbeiten des Führers der böhmischen P r o t e s t a n ten Oan Arnos Komensk^ (Nr. 4 2 4 4 , 4 8 4 0 ) . Obwohl in diesem

Bibliotheks-

katalog Titel über die West Slawen überwiegen, war Reusch auch mit den Arbeiten zur Geschichte Rußlands vertraut. Die Geschichte der slawischen Völker erwähnten auch andere Professoren. So wandte sich der Verfasser des Buches Historia Lltteraria

Reformatlo-

nis (Frankfurt-Leipzig 1717), Hermann von der Hardt (1660-1746), im

56

Zusammenhang mit der Geschichte der europäischen Reformation auch der Hussitenbewegung zu. Wie aus dem gedruckten Katalog der Vorlesungen von 1730 ersichtlich, benutzte er A k t e n des Baseler Konzils und n i c h t veröffentlichte Dokumente des Hussitentums: "monumentis Basiliensis", "Hussiticorum ineditorum

apparatu".

Concili

47

A u c h in den Vorlesungen an der juristischen Fakultät wurden die E i n richtungen des traditionellen slawischen Rechts berührt, um so mehr, a l s nach 1648 an den deutschen protestantischen Universitäten die A u f 48 merksamkeit

für die Geschichte des Rechts erheblich zunanm.

Die

Kenntnis des slawischen Rechts gehörte zu den beruflichen V o r a u s s e t zungen der juridischen Qualifikation jener Z e i t . D a s bezeigen

zahl-

reiche Rechtsakte. Beispielsweise griff die österreichische Seite in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts während der Streitigkeiten mit dem sächsischen Kurfürsten um die rechtliche Vollmacht der deutschen Kaiser als Könige von Böhmen in einigen Gebieten der Ober- und N i e d e r lausitz, die bis zum 17. Jahrhundert zur böhmischen Krone gehört ten, ausdrücklich auf das slawische Recht

hat-

zurück.

Schließlich wurden auch einige slawische Themen an der theologischen Fakultät im Zusammenhang mit der Kirchengeschichte und dem Kampf

gegen

den Volksglauben behandelt. Der bekannteste Professor dieser Fakultät, Johann Lorenz Mosheim (1694-1755), der von 1723 bis 1747 in Helmstedt lehrte, las Ende 1713 sieben Vorlesungen, in denen die Geschichte 4des 9 Kampfes des Christentums gegen das Heidentum im Mittelpunkt stand. Es ist gleichfalls nicht verwunderlich, daß unter der reichen

Sammlung

von Handschriften an der Universität Helmstedt auch einige Handschriften zur Geschichte der polabischen und pomoranischen Slawen zu finden sind, z. B . ein Kodex aus dem 15. ¿Jahrhundert Notule brevissimae de orlgine et historia quarundam clvitatum Saxonie et Slavie, des w e i t e ren Sammelbände von Materialien über die Sektierer und die böhmischen Reformatoren des 14. bis 15. Jahrhunderts (darunter auch über Dan Hus), 50 Handschriften zum böhmischen Recht. Zwar w a r das slawische Thema für

57

die Universität Helmstedt nicht tonangebend, die angeführten Beobachtungen lassen jedoch den Schluß zu, daß einige Aspekte der slawischen Geschichte durchaus in den Vorlesungen gestreift wurden. Wichtig ist dabei, dies nicht nur dem allgemeinen Zeitgeist zuzuschreiben, sondern auch den Anregungen führender Professoren während des ersten Drittels des 18. Jahrhunderts.

Slawistische Informationen in den historisch-genealogischen Abhandlungen

Im Zusammenhang mit den im Braunschweig-Wolfenbütteler

Kulturzentrum

entstandenen Abhandlungen zur russischen und gesamt slawischen Problematik aus den Jahren 1710 bis 1730 ist Eckharts historisch-vergleichende Genealogie der herrschenden Dynastien bereits erwähnt worden. Darin suchte der Verfasser nachzuweisen, daß der Sohn Peters I. und die Enkelin des Herzogs Anton Ulrich von dem byzantinischen Kaiser Konstantin Porphyrogennetos abstammten. Zum Schluß betonte Eckhart, daß "... niemand an dieser Abstammung zweiffeit oder einigermaßen zweiffein k a n n " 5 1 . Ihrem Charakter und ihrer Form nach war Eckharts Abhandlung typisch für eine Epoche, in der genealogische Forschungen die Natürlichkeit und Zweckmäßigkeit des dynastischen Bundes aufzuzeigen hatten. Dem Inhalt nach war sie jedoch in vielem neu und für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich, da der Verfasser die historische Gesetzmäßigkeit und die politische Notwendigkeit der dynastischen Verbindung zwischen VVolfenbüttel und Petersburg, d. h. dem kleinen Herzogtum Braunschweig und dem großen osteuropäischen Staat, von dem damals nur wenig bekannt war, nachweisen wollte.

58

Darum schenkte Eckhart der Zuverlässigkeit der angeführten Beweise besondere Aufmerksamkeit. Im Titel vermerkte er: "Alles mit der bewehrtesten Autoren Zeugnissen dargestellt und belegt". Hier zeigt sich der Geist des Rationalismus und der wissenschaftlichen Kritik des LeibnizSchülers. Neben den deutschen Quellen allgemeinen und regionalen Charakters (Thietmar, Arnold, Braunschweigische Chronik und andere) stützte sich Eckhart auch auf slawische Autoren, vor allem auf O^ugosz und andere polnische Historiker des 15. bis 17. Oahrhunderts, die lange Zeit die vorrangige Informationsquelle der westeuropäischen Gelehrten 52 und Reisenden über Rußland darstellten.

Aber auch russische Quellen

waren Eckhart bekannt: "... die Russische Chronik, aus welcher denen Scriptoribus Rerum Moscovíticarum ein Auszug von der Genealogie des Groß-Czaren inseriret ist" (S. 23). Eckharts Buch bestand aus drei Teilen. Den ersten bildete die Widmung an den Zarewitsch Aleksej, in der Eckhart schrieb, daß eine Ehe mit der Wolfenbütteler Prinzessin den Ruhm des Hauses Braunschweig-Wolfenbüttel fördern werde. Oedoch war es kein Geheimnis, daß in den herrschenden Kreisen aus religiösen Gründen Vorbehalte gegen die Heiratspolitik des alten Herzogs geäußert wurden. Eckhart sucht diese Einwände zu widerlegen, indem er nicht nur die genealogischen Verbindungen der russischen Zaren mit den byzantinischen Kaisern hervorhob, sondern unterstrich, daß auch sie Vertreter der christlichen Welt seien und Feinde der "türkischen Tyrannei". Diese zusätzliche Bemerkung war außerordentlich wesentlich für das Verständnis der diplomatischen Beziehungen zu 53 Osteuropa in jener Epoche.

Außerdem hielt es Eckhart für nötig, noch-

mals auf die herausragenden persönlichen Eigenschaften Peters I. aufmerksam zu machen: "Viele haben die große Klugheit Gr. Czarischen Majestät mit verwunderten Augen angesehen und (ge)merckt, daß dieselbe wider die Gewohnheit ihrer Vorfahren, nunmero höchst weißlich anfangen ihre habende Macht mit auswärtigen gleichfalls mächtigen Bündnissen zu unterstüzen ..." (S. 5). Nach der Widmung folgt ein Gedicht, in dem

59

Eckhart Herzog A n t o n Ulrich, dessen Sohn Ludwig Rudolf, Charlottes Vater, Peter X. und den Z a r e w i t s c h Aleksej rühmt. Hier ein kurzer Auszug: So hat Fürst Ludewigs und deine Karoline In Güte mehr erlangt, als König Karl der Kühne mit dem erbosten H e e r . Oes Großen Peters Sohn, Der wohlerzogne P r i n z , baut einen hohen T h r o n . . . (S. 7). Das Gedicht stellt ein typisches Muster der gelehrten deutschen panegyrischen Dichtkunst vom 17. und frühen 18. Jahrhundert dar. Der Hauptteil der Abhandlung enthält die genealogischen Tafeln und a u s führliche Kommentare dazu. Aufmerksamkeit

erregte die Beweisführung,

daß Heiraten zwischen deutschen und slawischen Dynastien eine lange geschichtliche Tradition besäßen. Eckhart bezieht sich dabei auf Albericus Monachus Trium fontium, bei dem im Oahre 859 darauf

hinge-

wiesen wurde, dali sächsische Prinzessinen die Ehe mit Angehörigen der russischen und polnischen Dynastie eingegangen seien. Eckhart zieht bei seinen genealogischen Tabellen über die Verwandtschaft der Z a r e n familie mit den Weifen auch Daten aus der Genealogie der polnischen und böhmischen Könige und Fürsten heran. Er ist bestrebt, den p a r i t ä tischen Charakter der Beziehungen zwischen beiden

Herrscherhäusern

aufzuzeigen. Daher unterstreicht er die gemeinsame Abstammung vom byzantinischen Kaiser Konstantin Porphyrogennetos und die w e c h s e l s e i tige Verwandtschaft des Z a r e n - und des Herzogshauses. Im gleichen CJahr 1711 wurden in Helmstedt noch zwei andere

genealogi-

sche Tafeln Eckharts herausgegeben. Eine wiederholte in einer offensichtlich für ein breites Publikum gedachten Form die oben genannte Abhandlung.

54

In der zweiten T a f e l wird v e r s u c h t , nicht nur Aleksej

und Charlotte, sondern auch den österreichischen Erzherzog und deut55 sehen Kaiser Karl V I . auf Karl den Großen zurückzuführen.

Das hatte

vor allem politische Bedeutung, das braunschweigische Herzogtum mit

60

den zwei größten Mächten des damaligen Europas in Zusammenhang zu bringen. Ungeachtet der diplomatischen Gesichtspunkte haben solche Prätentionen objektiv zur Verstärkung des Interesses für die O s t - wie auch die W e s t - und Südslawen beigetragen. Im Zusammenhang mit der Eheschließung zwischen Aleksej und Charlotte veröffentlichte die U n i v e r sität Helmstedt noch mehrere Huldigungsoden sowie eine Begrüßungsrede von Oustus Christoph B ö h m e r ^ 6 , mit Lobpreisungen Kußlands: heget auch in seinen Grentzen v i e l Gutes, so in Teutschland

"Moscau fehlet:

und ist izzo bey weitem nicht mehr so wild und unangenehm, a l s es etwa in alten Zeiten mag gewesen seyn ..." Die Fortsetzung dieser Art tischer Gelegenheitsschriften aus Braunschweig-Wolfenbüttel

poli-

erfolgt

später in den dreißiger Oahren des 1 8 . Jahrhunderts. 1717 erschien Stiebers Historische Untersuchung des hohen A l t e r t h u m s . . . 57 des Groß- Czaarischen und Drl. Mecklenburgischen Hauses.

Stieber war

protestantischer Theologe, Historiker und Bibliothekar Karl Leopolds. Weder dem Ort der Niederschrift noch dem Inhalt nach schien das Buch eine unmittelbare Verbindung mit Braunschweig-lVolfenbüttel zu haben. Es war eine Polemik gegen die in Güstrow (1716)58 und Rostock erschienenen Abhandlungen von Friedrich Thomas

(1717)

. Dennoch besteht

unse-

rer Meinung nach eine solche Verbindung. Denn Stiebers Untersuchung ist zugleich eine versteckte Polemik gegen die

historisch-genealogi-

schen Konstruktionen Eckharts, obwohl er diesen ehrerbietig als b e rühmten Helmstedter Professor

bezeichnet.

Stieber überprüft die von Eckhart aufgestellten Tafeln über die V e r wandtschaft zwischen dem Zarenhaus und dem herzoglichen Haus B r a u n schweig-Lüneburg: "Da aber bey obgedachten Rußischen und M e c k l e n b u r g i schen Stamm Tafel sich ganz unterschiedene Urteile gefunden, wollen wir die historische Wahrheit in dieser Sache untersuchen." kennbar ist Stiebers Ironie, wenn er die Fragen

(S. 32). U n v e r -

formuliert:

"1. W a s man doch vor Fontes und gründliche Nachrichten haben könne, bey vorhabender Sache recht hinter die Warheit zu kommen?

61

2. Ob denn die alten Einwohner dieses Landes, neralich die Wenden, mit den Küssen einige Verwandtschaft haben, und beyde ehemals nur eine Nation oder Volk gewesen? 3. Ob auch selbst die hohen Häuser Ihro Groß-CzaaTischen Majestät und der Durchläuchtigen Herzogen von Mecklenburg von einem Stamm, neinlich von Ariberto I, 26. König der Obodriten und Wenden aus Mecklenburg herkommen?" Stieber beteuerte ständig seine Ergebenheit gegenüber der historischen Wahrheit und vermied, im Unterschied zu Eckhart, weitschweifige Widmungen und Panegyriken. Er zog es vor, sein Buch mit dem bekannten Vergleich eines geriebenen Händlers zu eröffnen, der seine Ware auf dem Markt abzusetzen versteht. Stieber stützte sich auf die Angaben deutscher und polnischer Historiker und Reisender, die sich mit Rußland beschäftigt oder dort aufgehalten hatten. Er beurteilte diese Bücher äußerst kritisch. Dem von russischer Seite - leider schreibt er nicht, von wem und wann - geäußerten Wunsch, er möge russische Quellen benutzen, stand er skeptisch gegenüber: "Allein ich besorge, man dürfte auch selbst in Moscau wenig davon finden. Denn so haben die alten Russen eben so wenig Buchstaben gehabt als die alten Wenden, daß sie also ihre Geschichte und Lands-Historie nicht haber. beschreiben." (S. 5). Nach Stieber habe erst Peter I. das Dunkel der Unwissenheit gelüftet. "Daher accurate Historie! in der Moscowitisfchen Geschichten nicht gern sich in die gar alte und entfernte Zeiten hinein wagen, weil sie wohl gesehen, es sey alles ungewiß. Auch noch die Klügsten unter den Russen, was sie von den Geschieht en ihres Vaterlandes wissen, haben sie aus der Teutschen und anderer Völker Schrifften gelernet." (S. 7). Stiebers Überlegungen spiegelten die stereotypen Meinungen vieler westeuropäischer Autoren wider, obwohl er Sigismund Herbersteins Buch über Rußland, das auf dem Material russischer Chroniken aufbaute, kannte und schätzte. In dieser Hinsicht stand Stiebers Buch in Kontrast zu Eckharts Arbeit, der August Ludwig Schlözer und anderen bedeutenden

62

deutschen Slawisten den Weg bahnte. Im zweiten Teil des Buches untersuchte Stieber die Frage der Verwandtschaft zwischen den Küssen und den Wenden. Er ging davon aus, daß sich im Verlauf der Jahrhunderte Mecklenburgs ethnische Zusammensetzung gewandelt habe: "Denn indem die Welt ein Theatrum ist, so sich offters verändert, so ist auch die Beschaffenheit dieses Landes nicht immer einerley gewesen, und Mecklenburg hat, wie auch andere Länder, nicht immer gleiche Einwohner gehabt" (S. 12). Wenn auch Stieber die Rolle der ethnischen Veränderungen bei der Herausbildung der Nationen noch fremd blieb, war diese Erkenntnis durchaus beachtenswert. Im Sinne des mechanischen Materialismus nahm er an, auf dem Territorium Mecklenburg: sei eine vollständige Ablösung der einen Völker durch andere erfolgt, folglich seien die germanischen Stämme der Vandalen im 5. Jahrhundert durch die Slawen und die letzteren im 11. bis 12. Jahrhundert durch die Deutschen abgelöst worden. Stieber sprach sich gegen eine unmittelbare Gleichsetzung der Bussen mit den polabischen und pomoranischen Slawen aus und wies darauf hin, daß die Russen, Polen, Tschechen, Bulgaren und andere Völker durch sprachliche Verwandtschaft vereint sind. Dabei zählte er irrtümlich, jedoch seiner Zeit gemäß, auch die Ungarn, Litauer, Preußen und "Livländer" zu den Slawen (S. 18f.). Nach Stieber bildeten die einzelnen slawischen Völker in gleichem Maße eine einzige slawische Nation, wie die germanischen Völker - er nannte die Sachsen, Bayern, Schwaben, Franken - die deutsche Nation bildeten. Für ihn ist diese Einheit in erster Linie ethnisch und nicht politisch. Gerade aus der sprachlichen Gemeinsamkeit der Russen und Wenden erklärte er, daß viele Bussen (er bezog sich auf die Worte des Erziehers des Zarewitsch Aleksej, Baron Huyssen) die Herkunft der mecklenburgischen Städtenamen wie Doberan und Rostock verstehen konnten.

63

Ausführlich behandelte Stieber Fragen der Herkunft des russischen

Staa-

tes und der mecklenburgischen Slawen, der "Wenden". Noch zu Zeiten Karls des Großen seien die polobischen und pomoranischen Slawen von Holstein und Mecklenburg bis nach Pommern und der Lausitz sowie bis Schlesien ein machtvolles Volk gewesen, das dem deutschen Reich nicht wenig Unannehmlichkeiten bereitet habe (S. 16f.). Stiebers Buch kann man als einen Gradmesser des zeitgenössischen .Wissensstandes zur slawischen Problematik in Deutschland betrachten. Unter den zahlreichen Veröffentlichungen in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zur deutsch-russischen iVechselseitigkeit gehört es zweifelsohne zu den bedeutendsten . Die Arbeiten aus Helmstedt und Wolfenbüttel tragen einen anderen C h a rakter. Sie knüpfen mehr oder weniger an Ereignisse an, die mit den neuen dynastischen Verbindungen während der Regierungszeit Anna nas zusammenhingen. Die erste der von uns ermittelten

Ivanov-

Veröffentlichun-

gen war von Ludwig August Faber verfaßt worden: De perpetua

amicitia

Germanicum inter et Russicum imperium. Sie enthält eine Übersicht

über

die Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen von den ältesten Zeiten an und unterstreicht die Bedeutung einer dauerhaften

Freundschaft

59 zwischen Rußland und Deutschland.

Faber benutzte eine große A n z a h l

von Quellen sowohl deutschen als auch slawischen Ursprungs. Er v e r w i e s auf die Handelsverbindungen deutscher Städte mit Kiev und Novgorod, auf deutsche Rußlandreisende des 16. bis 17. Jahrhunderts, erwähnte die Z u sammenkunft zwischen Friedrich von Holstein und dem Zaren M i c h a i l Fedorovi. l'.i

I). I . F o n v i z i n . K u p f e r s t i c h von E . O. Skotiiikov

14

V. V. K a p n i s t . L i t h o g r a p h i e v o n W . Tinnii

15

N . M. K a r a m z i n . L i t h o g r a p h i e v o n G. H i p p i u s

16

A. N. Radiscev

genoß»

14

Einige Forscher betrachten Novikovs Zugehörigkeit zum G a h e i m -

bund als einen notgedrungenen

taktischen Zug und seine Tätigkeit in den

siebziger und achtziger Oahren des 18. D a h r h u n d e r t s als Kampf gegen die reaktionäre, die sozialen und nationalen Probleme der russischen G e s e l l schaftsentwicklung außer acht lassende m y s t i s c h e Strömung des F r e i m a u rertums. W i r jedoch schließen uns ü u . M . Lotmans Auffassung a n , daß den Freimaurerkreis um Novikov "eine ihm feindliche Umwelt und das Streben nach einer harmonischen, schönen Z u k u n f t mit dem gesamten

progressiven

Lager des russischen gesellschaftlichen Denkens im 18. Jahrhundert

ver-

15 banden", S e l b s t v e r s t ä n d l i c h akzeptierte Novikov nicht v o r b e h a l t l o s a l l e s in den Logen der Freimaurer, z. 3. verhielt er sich dem theosophischen dischen System und dem System der S t r i c t e n O b s e r v a n z gegenüber

Schwezurück-

haltend, So glaubte er auch im Schwedischen System, das durch den F ü r sten A . B . Kurakin in Rußland eingeführt w o r d e n war, eine für einen

rus-

sischen Staatsbürger abträgliche politische Orientierung zu e r b l i c k e n . Novikov lehnte Systeme ab, die "politische A m b i t i o n e n v e r f o l g t e n " ,

und

neigte nach der Schilderung des Fürsten P. I. Repnin dem echten R o s e n kreuzerorden zu, dessen Lehre "einfach" sei und 16"nach der E r k e n n t n i s G o t t e s , der Natur und des eigenen Ich" strebte. Die M e h r h e i t der Forscher sieht im R o s e n k r e u z e r o r d e n eine Strömung, N . K . Piksanov z. B. hält die Rosenkreuzer teste V a r i a n t e des Freimaurertums",

reaktionäre

für die

"schlech17

für eine obskure Strömung.

T a t s a c h e n scheinen diese Behauptung zu b e s t ä t i g e n , XIie

bekannt,

Die stand

an der Spitze der preußischen Rosenkreuzer eine Zeitlang der B e t r ü g e r und Hochstapler 0. P. Schröpfer. In den Reihen der R o s e n k r e u z e r

betä-

tigten sich politische Abenteurer und Gegner freien Denkens w i e J. R. B i s c h o f f s w e r d e r und der spätere reaktionäre preußische M i n i s t e r ü. C h . W ö l l n e r . A u c h Findel sieht im R o s e n k r e u z e r o r d e n eine O r g a n i s a t i o n , ren Z i e l gewesen sei "die völlige Unterdrückung

de-

freien Denkens und des

gesunden M e n s c h e n v e r s t a n d e s mit Hilfe eines systematisch

organisierten

O b s k u r a n t i s m u s " . 18

225

Mehrere Fakten sprachen jedoch gegen diese Behauptung. Bei der Beurteilung des Ordens verallgemeinern einige Forscher, w a s z. B . nur für den preußischen Orden zutrifft. Dabei ist doch bekannt, daß der Illuminât A . Weishaupt eine Zeitlang Mitglied des R o s e n k r e u z e r o r dens war, Außerdem ist uns das wertvolle Zeugnis eines Zeitgenossen

er-

halten, das uns zwingt, von der nur negativen Einschätzung des R o s e n kreuzerordens abzurücken und die Frage noch der Bedeutung des O r d e n s neu zu stellen. Oieses Zeugnis stammt aus der Fader von P.-3. Maréchal (1750-1803), an dessen konsequentem Atheismus und utopisch

kommunisti-

19 sehen Ansichten heute kaum jemand zweifelt.

In seinem

Dictionnaire

des Athfees weist er im Beitrag über die "Rose Croix" darauf hin, daß viele Atheisten Mitglieder dieser Organisation w a r e n . Cr schreibt, daß diese Ordensbrüder es sogar auf sich nahmen, "als erfolglose A l c h i m i sten" angesehen zu w e r d e n . Zur Bekräftigung seiner Ausführungen stützt 20 sich Maréchal insbesondere auf den Wissenschaftler Georg Popius. Selbstverständlich war Novikov kein Atheist. Viele Forscher - so auch

21

G . P. Makogonenko

- weisen auf seine Religiosität und seinen

Idealis-

mus hin und unterstreichen, daß dieser Aufklärer "an einem Geheideweg" stand. Die Kompliziertheit von Nuvikovs philosophischen Ansichten

tritt

zutage, wenn er mit unverkennbarer Sympathie über die "einfache Lehre" der Rosenkreuzer spricht, in der sich "Gott", d. i. "die Natur", und der Mensch verbinden. Später, als sich Novikov der Oahre vor der Übersiedlung nach Moskau erinnerte, bekannte er, damals "an einem Scheideweg zwischen Voltairianertum und Religion" gestanden zu haben. Oiese W o r t e sowie sein Gespräch "unter Tränen" mit Baron Reichel über die B e deutung der verschiedenen freimaurerischen Systeme, schließlich

seine

Äußerung, daß man ihn "fast gewaltsam dazu überredet" habe, "den schwedischen Grad" anzunehmen, und zwar unter der Bedingung, daß er aus ihm austreten könne, wenn er "etwas Verdächtiges oder Zweifelhaftes" b e -

merkte 22 , machen recht gut deutlich, daß sich Novikov auf der schwieri-

226

gen Suche nach Wahrheit und nach positiven Idealen befand. A u c h in dieser Zeit verschließt er sich nicht anderen Einflüssen gegenüber. Cs g e lingt ihm, freundschaftliche Kontakte zu den Schriftstellern V . Majkov und Cheraskov herzustellen. Mitte der siebziger Oahre des 18. 3 a h r h u n derts knüpft er Beziehungen zu Radi^^evs Freund A . Kutuzov, Ober C h e r a s kov wird Novikov mit M . Murav'ev und I. Turgenev bekannt. Gemeinsam mit ihnen gibt Novikov die erste literarisch-philosophische Zeitschrift in Rußland Utrenni.1 svet heraus. Nicht in allem stimmt Utrenni.j svet mit den Auffassungen N o v i k o v s

über-

ein. Die Zeitschrift war ein kollektives Unternehmen und demzufolge eklektizistisch in ihrem Programm. Nicht unwesentlich wirkten sich die Folgen des Bauernaufstandes unter Führung Pugai$evs auf die Anschauungen der Herausgeber aus. Doch Novikovs Ideen sind - wie ein Vergleich mit den von ihm früher herausgegebenen satirischen Zeitschriften und den späteren der Moskauer Zeit von 1779 bis 1792 ergibt - unverkennbar. In der Regel stellte man bei der Analyse des Utrenni.j svet zwei Tendenzen fest: Die eine,, in der die materialistische Philosophie verurteilt und die "epikureischen Auffassungen", das "System des Helv§tius'" und der Scharfsinn Voltaires, Bayles und Lamettries einer Kritik 23 werden, führt man auf die Anschauungen Cheraskovs

unterzogen

zurück. Ideen der

Aufklärung aber schreibt man Novikov zu. In Wirklichkeit war alles j e doch viel komplizierter. Auch Cheraskovs Weltanschauung war trotz ihrer Schwächen und politischen Einseitigkeit durchaus vom

aufklärerischen

24 Ideengut geprägt.

Und Novikov konnte, da er sich hinsichtlich der

Fähigkeit des russischen Volkes, mit Riesenschritten sofort

einerharmo-

nisch eingerichteten Zukunft zuzueilen, getäuscht sah, durchaus Skepsis gegenüber der scharfen antikirchlichen Kritik Voltaires, Holbachs und Helv6tiu9' äußern. So spiegelt der Eklektizismus des Utrennij svet bis zu einem gewissen Grade auch die Schwankungen Novikovs w i d e r . Novikov9 Einfluß im Utrenni.1 svet wird dort offenbar, wo es um die S t e l lung des Menschen in Natur und Gesellschaft und um die Aufmerksamkeit

227

für das Innenleben des Menschen geht. Hierzu zählen die Originalbeiträge 0 dostolnstve Xeloveka v otno^eni.iach k boqu i miru (Nr. 1), Rassu¥deni.1e na novy.1 god (Nr. 2), Istiny (Nr. 4), 0 dobrodeteli und Zaklju^enie (Nr. 9). Ohne Zweifel auf Initiative Novikovs und möglicherweise unter seiner redaktionellen Mitwirkung erschienen aus Bacons Essays übersetzt die Aufsätze 0 strast.lach, 0 dobrodeteli. 0 skepticizme, V

V

V

0 voobrazenii. 0 peremene celoveceskich del. Sowohl in den Originalartikeln als auch in den von Novikov für die Zeitschrift ausgewählten übersetzten Arbeiten lassen sich trotz aller Widersprüchlichkeiten die für den russischen Aufklärer typischen Ideen verfolgen. Bei Bacon faszinierte ihn der Gedanke, daß der Weg der historischen Menschheitsentwicklung ein Weg des Fortschritts ist. Im Utrenni.1 svet kam aber auch Novikovs Ablehnung Rousseauscher Theorien zum Ausdruck. In Jener Zeit neigte Novikov mehr und mehr zu der Auffassung, daß das "Wort" in Wirklichkeit nur mächtig sei, wenn es durch praktische, reale gesellschaftliche Taten gestützt werde. Schon bald nach dem Beginn der Herausgabe des Utrenni.i svet (September 1777) wurden auf seine Initiative zwei Volksschulen für "arme Kinder", die Jekaterinen- und die Aleksanderschule, gegründet. In der ersten Nummer der Zeitschrift erklärten die Herausgeber, daß alle eingenommenen finanziellen Mittel der Errichtung von Volksschulen zufließen sollen. Die Zeitschrift erschien mit einem in Rußland bis dahin unbekannten Aufruf an die Leser, Geld für künftige Armenschulen zu spenden. Oer Erfolg sprach für sich. Die Auflagenhöhe der Zeitschrift wuchs schnell bis auf 1000 Exemplare« für die damalige Zeit eine hohe Abonnentenzahl. Obwohl der Preis für das Jahresabonnement 4 Rubel und 50 Kopeken betrug, zahlten viele 5, 20, 60 Rubel und noch mehr. Reiche Adlige spendeten nicht nur Geld, sondern auch Papier für den Druck, stellten für die Schüler kostenlos Wohnräume in den eigenen Häusern zur Verfügung, schenkten Möbel, Wäsche und Kleidung. In vielen russischen Provinzstädten traten freiwillige Agenten der Zeitschrift auf. Auf diese Weise besaß die Zeitschrift eine ausgedehnte

228

"Geographie"

25

, wurde die Idee der Volksschulen in immer neue Schichten

der Gesellschaft getragen. Im Jahre 1779 wurden in der Oekaterinen- und Aleksanderschule 93 Schüler unterrichtet, die Mehrheit kostenlos. Die Tätigkeit der Schulen war öffentlich: Am Jahresende druckte die Zeitschrift gewöhnlich einen Rechenschaftsbericht über die Erfolge der Schüler und eine genaue Mitteilung über die eingegangenen und ausgegebenen Gelder ab. Als im Jahr 1780 Utrenni.1 svet sein Erscheinen einstellte, wurde das Moskovskoe e¥emes.1acnoe izdanie begonnen. Gewiß war die Abhängigkeit von den Abonnenten ein weiterer Grund für den Eklektizismus des Utrennl.1 svet. Doch letztlich bestimmte Novikov über das Profil der Zeitschrift. Im Zentrum des Augenmerks Novikovs stand pc Mitte der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts der Mensch.

Daraus re-

sultierte das Hauptziel der Zeitschrift: die Entwicklung der geistigen Anlagen des Menschen, des Streben "zur Besserung des menschlichen Herzens, zur Förderung der Wohlfahrt der Menschheit und zur Entfaltung der 27 Seele und ihrer Kräfte".

Novikov hält an seiner Überzeugung vom Wert

des einzelnen unabhängig von Stand und Herkunft sowie an der gesellschaftlichen Natur des Menschsn fest, im Gegensatz zu Rousseau, der eine "schöne Abgeschiedenheit" für die eittliche Selbstvervollkommnung

für

notwendig hielt und den verderblichen Einfluß des gesellschaftlichen Lebens auf den Menschen betonte, eine Auffassung, die von der Mehrheit der Mitarbeiter des Utrenni.1 3vet geteilt wurde. Zweifellos flössen nicht aus der Feder Cheraskovs oder Kutuzovs folgende optimistischen Zeilen: "Das Gemeinschaftsleben ist schön. Was wäre das Dasein der ganzen Welt wert, wenn man in ihr allein leben müßte? Ein verwaistes Weltall ist eine Voretellung, die den Menschen beleidigt. Wie angenehm ist es doch zusammenzuleben 1 ... Ich vermag denjenigen nicht glücklich zu nennen, 28 ... der eich an dem Umgang mit Menschen nicht erfreut". Ohne das Prinzip der sittlichen Selbstvervollkommnung zu leugnen, erklärt Novikov, daß dieses Prinzip nicht die Absonderung von der Gesellschaft zur Voraussetzung haben kann. So polemisiert Novikov mit den An-

229

hängern einer beechaulichen, passiven Beziehung zur Wirklichkeit und stellt ihr die These eines nützlichen Staatsbürgers entgegen, aktiv in das gesellschaftliche Leben einzugreifen: "Jeder Mensch, in welchem Staat, in welchem Land oder in welcher Stadt er auch leben möge, muß sich selbst als Werkzeug empfinden und seinem Vaterland sowie Jedem sei29 ner Mitmenschen dienen und nützlich sein."

Diese Ansichten Novikove

eind weder mit Cheraskovs noch Kutuzovs oder anderer leitender Mitarbeiter der Zeitschrift zu identifizieren. Trotz widereprüchlicher Elemente besaß Utrenni.1 svet in der Orientierung auf die Initiative der Allgemeinheit eine einigende Basis. Das hohe staatsbürgerliche Ziel löste zum erstenmal

in der russischen Freimau-

rerbewegung aktive gesellschaftliche Tätigkeit aus. Angesichts der Erfolge Novlkovs begannen die progressiven gesellschaftlichen Kräfte an ihre Fähigkeit und an die Potenzen ihrer Bewegung zu glauben. Auch nach Novikovs Obersiedlung von Petersburg nach Moskau (1779) blieben die freimaurerischen staatsbürgerlichen Aktivitäten des ehemaligen Kreises um den Utrenni.1 svet erhalten. In Moskau sstzte Novikov seine Anstrengungen um die Lösung großer sozialer Aufgaben fort. Ein feines Gespür für die Mängel und Obel der damaligen Gesellschaft ließ ihn erkennen, worauf man in erster Linie sein Au» genmerk richten mußte, den Weg der Umgestaltung Rußlands zu beschreiten. Zu diesem Programm gehörte die Organisation eines Verlagswesens, um dis Ideen der Aufklärung, Wisssnscheft und Leitmotive der neuen sittlichen Verantwortung, Begriffe der Gerechtigkeit, des Guten und der Humanität zu verbreiten. In vielen Städten und einigen Dörfern Rußlands halfen Kommissionäre beim Vertrieb der Druckerzeugnisse. Außerdem lenkte Novikov die Aufmerksamkeit auf die Ausbildung engagierter Aufklärer, die befähigt werden sollten, einer breiteren Öffentlichkeit Kenntnisse zu vermitteln und durch Lehre und Bücher die Errungenschaften des russischen und westeuropäischen Denkens nahezubringen. Diesem Ziel dienten das 1779 eröffnete Obersetzungsseminar und das 1782 gegründete Pädagogische Semi-

230

nar sowie das "Dru^eskoe u^enoe obs^estvo" (1784). Novikov sorgte sich um die Erziehung des zukünftigen Menschen und schenkte dem Problem der heranwachsenden Generation große Aufmerksamkeit. Er schuf eine o r i g i nelle Erziehungslehre, kümmerte sich um die Herausgabe von Büchern s p e ziell für Kinder und edierte die erste russische für Kinder bestimmte Zeitschrift, Detskoe ^tenie dl.ja sordca i razuma

(1785-89).

In Moskau wurde Novikov nicht nur von Mitgliedern des

Freimaurerlcreises

unterstützt, ein Zeichen dafür, daß die Freimaurerbewegung

den Gahmen

einer streng geheimen Organisation überschritt. Das berechtigt zu der Feststellung, daß die Moskauer Rosenkreuzer, zu denen novikov gehörte, aktiv an der gesellschaftlichen Bewegung, deren Progressivität

außer

Zweifel steht, teilgenommen haben. Mit dem Namen Novikovs ist unseres Erachtens die Bildung eines "linken Flügels" innerhalb der

russischen

Freimaurer und das Entstehen einer neuen Strömung verbunden, die mit dem ausschließlichen aristokratischen Milieu brach. Leasings Gedanken über das Freimaurertum

(Gespräche für Freimaurer.

Ernst und Falk) waren im novikovschen Kreis bekannt, ebenso wußte man von der Tätigkeit der in Paris von Joseph-CJ&rome La Lande gegründeten Loge der "Neun Schwestern". Das von Novikov eingerichtete Moskauer Zentrum der russischen Aufklärung wies bis zu einem gewissen Grade G e meinsamkeiten mit dem progressiven Flügel des westeuropäischen Freiraourertums auf, das Prinzip der moralischen Selbstvervollkommnung mit der Hinwendung zu gesellschaftlich nützlichen Handlungen zu verbinden. N a türlich trifft das in erster Linie vor allem auf Novikov zu, den i n offiziellen Führer des "linken" Flügels des russischen

Freimaurertums

und ist kennzeichnend für "sein Streben nach friedlichen Mitteln, die Unzufriedenheit mit der Gegenwart und die utopische Hoffnung auf eine Veränderung der Menschheit nach brüderlichen P r i n z i p i e n " 3 0 . Da

jedoch 31

"Novikov in vielem keine Ausnahme unter den Freimaurern bildete" kann man von der Geburt einer qualitativ neuen, mit der Aufklärung verkennbar im Einklang stehenden Richtung innerhalb der

, un-

Freimaurerbe-

231

wegung in Rußland Ende der siebziger und zu 3eginn der achtziger Oahre des 18. Jahrhunderts

sprechen.

Abschließend möchten wir feststellen, daß die Entwicklung der Freimaurerbewegung

russischen

trotz nationaler Besonderheiten in gewissem fiaße die

Entwicklungsetappen der Freimaurer im Westen wiederholt und

teilweise

mit diesen übereinstimmt. Auch in Frankreich, Deutschland und Italien nahm wie in Rußland das im aristokratischen Milieu entstandene

Freimau-

rertum im Verlauf seiner Entwicklung demokratische und je nach den g e sellschaftlichen Zielen und Aufgaben nationalspezifische Züge an. In Frankreich z. 8 . war die wichtigste Aufgabe die Beseitigung des absolutistischen Herrschaftsregimes; der "linke" Flügel dor

französi-

schen Freimaurer stand dabei nicht abseits. In Amerika nahmen aktiv an der nationalen Befreiungsbewegung

und bürgerlichen

feudal-

Freimaurer

Revolution

teil. Ebenso entfalteten die italienischen Freimaurer-Carbonari

eine

zielbewußte und erfolgreiche Tätigkeit im staatlich-politischen

anti-

feudalen Befreiungskampf. Und schließlich stand die russische bewegung zur Zeit Novikovs am V o r a b e n d der

Freimaurer-

Dekabristenbewegung.

Anmerkungen

1

3. G . Findel, Geschichte der Freimaurerei. Von der Zeit ihres Entstehens bis auf die Gegenwart. Leipzig 1861. Das Buch erlebte in Deutschland 7 Neuauflagen. Titel der russischen A u s g a b e : Iosif Gabri&l' Findel' , Istorija frank-masonstva ot vozniknovenija do n a s t o j a ^ e g o vremeni. SPb. 1872. Über Findel vgl. L . Hammermayer, Zur Geschichte der europäischen Freimaurerei und der G e h e i m g e s e l l schaften im 18. Jahrhundert. Genese - Historiographie - Forschungsprobleme. Ins Beförderer der Aufklärung in M i t t e l - und Osteuropa. Freimaurer, Gesellschaften, Clubs. Hg. von E. H . Balâzs, L. H a m m e r -

232

mayer, H. Wagner, 3. Wojtowicz. Berlin 1979. (Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa. V.) S. 35 ff. 2

I. 3a. ^ i p a n o v , Fllosofija russkogo ProsveK^enija. M. 1971. S. 82.

3

Ebd., S. 87.

4

Ebd.

5

Ebd., S. 89.

6

Ebd., S. 83.

7

Vgl. Zur Geschichte der europäischen Freimaurerbewegung den materialreichen internationalen Sammelband: Beförderer der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa. Freimaurer, Gesellschaften, Clubs. Berlin 1979.

8

A. N. Pypin, Russkoe masonstvo XVIII i pervoj